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German Pages 342 Year 2006
INTERDISZIPLINÄRE PERSPEKTIVEN DER PHÄNOMENOLOGIE
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRÜNDET VON H.L. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRMHERRSCHAFT DER HUSSERL-ARCHIVE
177 DIETER LOHMAR UND DIRK FONFARA
INTERDISZIPLINÄRE PERSPEKTIVEN DER PHÄNOMENOLOGIE
Redaktionskomitee: Director: R. Bernet (Husserl-Archief, Leuven) Secretary: J. Taminiaux (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve) Members: S. IJsseling (HusserlArchief, Leuven), H. Leonardy (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-laNeuve), D. Lories (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve), U. Melle (Husserl-Archief, Leuven) Wissenschaftlicher Beirat: R. Bernasconi (Memphis State University), D. Carr (Emory University, Atlanta), E.S. Casey (State University of New York at Stony Brook), R. Cobb-Stevens (Boston College), J.F. Courtine (Archives-Husserl, Paris), F. Dastur (Université de Nice), K. Düsing (Husserl-Archiv, Köln), J. Hart (Indiana University, Bloomington), K. Held (Bergische Universität Wuppertal), K.E. Kaehler (Husserl-Archiv, Köln), D. Lohmar (Husserl-Archiv, Köln), W.R. McKenna (Miami University, Oxford, USA), J.N. Mohanty (Temple University, Philadelphia), E.W. Orth (Universität Trier), C. Sini (Università degli Studi di Milano), R. Sokolowski (Catholic University of America, Washington D.C.), B. Waldenfels (Ruhr-Universität, Bochum)
INTERDISZIPLINÄRE PERSPEKTIVEN DER PHÄNOMENOLOGIE Neue Felder der Kooperation: Cognitive Science, Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Religionswissenschaft Herausgegeben von Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (Hrsg.) Husserl-Archiv, Universität zu Köln
A C.I.P. Catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
ISBN-10 ISBN-13 ISBN-10 ISBN-13
1-4020-4730-4 (HB) 978-1-4020-4730-5 (HB) 1-4020-4731-2 (e-book) 978-1-4020-4731-2 (e-book)
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Inhalt Vorwort........................................................................................vii Thomas Bedorf: Monade, Dyade und Triade. Intersubjektivität und Ethik interdisziplinär ............................................................... 1 Christian Bermes: Anschluss verpasst? Husserls Phänomenologie und die Systemtheorie Luhmanns ................................... 18 Rudolf Bernet: Zur Phänomenologie von Trieb und Lust bei Husserl .......................................................................................... 38 Jagna Brudzinska: Die phänomenologische Erfahrung und die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen im Anschluss an Husserl und Freud ........................................................................ 54 Frank Esken: Spiegelneuronen: Die neurobiologische Antwort auf das Intersubjektivitätsproblem, die Husserl noch nicht kannte? Husserls Überlegungen zum Fremdpsychischen im Lichte der Kognitionswissenschaften .................................................................. 72 Andrzej Gniazdowski: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie des Politischen .............................................................. 108 Klaus Held: Idee einer Phänomenologie der Hoffnung .......... 126 Julia Jansen: Schnittstelle und Brennpunkt: Das ästhetische Erlebnis als Aufgabe für eine Kooperation von Phänomenologie und Neurowissenschaft ............................................................... 142 Dieter Lohmar: Wie ist Formalwissenschaft möglich? Über die Quellen der Anschaulichkeit der mathematischen Erkenntnisse bei Husserl und Kant ....................................................................... 164
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vi Christian Lotz: Psyche or Person? Husserl’s Phenomenology of Animals......................................................................................... 190 Eduard Marbach: Wie sich Bewusstsein mit Hilfe der Husserlschen Phänomenologie in die (Neuro-)Wissenschaft einbeziehen lässt ............................................................................................ 203 Henning Peucker: Vergebung und Einfühlung ...................... 235 Martina Plümacher: ‚Weltwissen‘. Ein sprachwissenschaftlicher Terminus phänomenologisch betrachtet .................................... 247 àukasz Przybylski: Kinästhesen in den Wahrnehmungsprozessen und die sensomotorische Erfahrung des Subjekts ...................... 262 Daniel A. Schmicking: Husserl und präreflektive Kognition . 279 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft: Möglichkeiten und Risiken .......................................................... 296 Namen ...................................................................................... 317
Vorwort Mit diesem Sammelband sollen die zahlreichen Bezüge der Phänomenologie zu den Nachbardisziplinen in den Geisteswissenschaften und die vielfältigen Ansätze zu einer Kooperation mit den Naturwissenschaften dargestellt und zugleich belebt werden. Auf der Seite der Naturwissenschaften und der Cognitive Science bietet sich eine Zusammenarbeit mit denjenigen Wissenschaften an, die sich in theoretischer Hinsicht mit den Möglichkeiten der Kognition beschäftigen oder die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins empirisch untersuchen. Die Phänomenologie kann hier vor allem eine methodisch kontrollierte Beschreibung des Bewusstseins und seiner wesentlichen Strukturen aus der erlebten Innenperspektive beisteuern und so Interpretationen von und Anregungen zu neuen empirischen Fragestellungen liefern. Auf diese Weise bietet sie eine deskriptive und heuristische Bereicherung. Man könnte dies szientistisch formulieren und von einer Erweiterung der untersuchten Daten sprechen; allerdings handelt es sich nicht nur um eine Verbreiterung der Datenbasis. Der bedeutendste Beitrag der Phänomenologie geht darüber hinaus, denn er umfasst auch eine Deutung der Ergebnisse, die aus der naturwissenschaftlichen Perspektive der 3. Person gewonnen werden auf dem Hintergrund der sinnhaften Dimension der erlebten Innenperspektive des Subjekts. Gerade diese Verbindung zwischen den objektivierenden Befunden der Naturwissenschaft und der subjektiven Sinndimension fehlt zur Zeit noch den Kognitions- und Neurowissenschaften. Es fehlt, so formuliert es Wolfgang Prinz, „eine übergeordnete Theorie, die die objektive Sprache, in der wir über Gehirnprozesse reden, und die subjektive Sprache der Bewusstseinsphänomene zueinander in Beziehung setzt“.1 Soll die Phänomenologie sich als Vermittlerin zwischen der erlebten Dimension des Sinnes meiner Bewusstseinserlebnisse und der objektivierenden Beobachtung der experimentellen Wissenschaften etablieren lassen, dann muss es auch für diese Deutung vii
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spezifische Anwendungen geben. Das heisst, es müssen sich Experimente finden lassen, die einen direkten Gebrauch von phänomenologischen Einsichten enthalten. Shaun Gallagher hat diese Anwendungen als „front-loaded phenomenology“ bezeichnet, bei diesen gehört die phänomenologische Deutung mit zu dem theoretischen Rahmen, innerhalb dessen die Experimente gestaltet und interpretiert werden.2 Die Phänomenologie – natürlich nicht nur die an Husserl orientierte – hat sich in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit verschiedenen Wissenschaften vielfältige fachübergreifende Anwendungs- und Forschungsfelder erschlossen: mit der Cognitive Science, den Neurowissenschaften, der Psychologie, der Soziologie, der Linguistik, der Theologie, aber auch mit den Politik- und Rechtswissenschaften. In diesem weitgefächerten Spektrum von anregenden interdisziplinären Forschungen und der aktiven Aufnahme von neuen Anbindungen zeigt sich die bleibende Lebendigkeit phänomenologischer Forschung. Jede philosophische Disziplin hat eine Art natürlicher Tendenz, sich zu einer historisierenden Disziplin zu entwickeln oder sich sogar ganz der eigenen Geschichtsschreibung zu widmen. Diese Gefahr ist im Fall der Phänomenologie Husserls nicht so ausgeprägt, da sie sich selbst von Anfang an mehr als Methode denn als dogmatische Lehre versteht. Sie will eine Methode philosophischen Forschens sein, die jedermann für eigene Arbeit offen steht, und die sich infolgedessen auch Veränderungen und Selbstkritik stellen muss. Die hier publizierten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück mit dem Thema „Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie. Husserl Arbeitstage 2004“, die im November 2004 am HusserlArchiv der Universität zu Köln mit Unterstützung durch die Fritz Thyssen Stiftung durchgeführt wurde. Der Untertitel weist darauf hin, dass es sich um eine auf die Husserlsche Phänomenologie konzentrierte Veranstaltung handelte, wenngleich sie natürlich nicht ausschließlich darauf beschränkt war. Hier konnten etablierte Wissenschaftler mit jungen Assistenten, Forschern und Doktoranden über die Grenzen vieler Fachrichtungen hinweg in einen fruchtba-
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ren Gedankenaustausch gebracht werden. Die große Zahl der Teilnehmer bestätigte einerseits, dass es ein bleibendes und lebendiges Interesse an philosophischer Arbeit im Rahmen der phänomenologischen Methode gibt. Man sieht aber auch, dass die von Husserl begründete Phänomenologie eine wandlungsfähige Disziplin der Philosophie darstellt, die sich auch auf neue Herausforderungen und Themen einstellen kann und will. Diese Tagung spiegelt auch den Wunsch wider, die große Kraftquelle und das Anregungszentrum der Phänomenologie, nämlich Edmund Husserls Werk, als bleibende und durch die Publikation von Nachlassmanuskripten immer wieder erneuerte Anregung nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Konzentration auf Husserls Werk in der Verbindung mit neuen und herausfordernden Themen ist zugleich ein Appell, Phänomenologie methodisch streng und im Sinne ernstlich erstrebter Wissenschaftlichkeit weiterzuführen, und zwar in bewusster Anknüpfung an das breite Spektrum der Disziplinen, die sich inzwischen dem Bewusstsein als Thema zugewendet haben. Für den vorliegenden Sammelband wurden die folgenden Beiträge ausgewählt, die nun kurz vorgestellt werden sollen. Thomas Bedorf sieht Husserls Theorie der Intersubjektivität an ein monadisches Ego gebunden. Im Gegensatz zu diesem monadischen Ansatz betrachten einige empirische Psychologen und Psychoanalytiker menschliche Beziehungen als grundsätzlich dyadisch. Aber auch diese dyadischen Ansätze, so Bedorf, implizieren schon eine zuschauende und zuhörende dritte Person. Erst triadische Ansätze bieten demnach eine angemessene Zugangsweise, die sich sowohl auf phänomenologische als auch auf psychoanalytische Erkenntnisse stützen kann. Bedorf will zeigen, dass Intersubjektivität, zumal wenn sie eine normative Komponente enthalten soll, nur unter Einbeziehung eines Dritten gedacht werden kann. Christian Bermes befasst sich mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns, die nicht nur in der Soziologie, sondern auch in vielen Einzelwissenschaften intensiv rezipiert worden ist. Die Bedeutung der Husserlschen Phänomenologie sieht Luhmann darin, dass sie
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eine Art Technik ist, die nicht nur dazu dient, die Funktionsweise des Bewusstseins verständlich zu machen, sondern auch verwendet werden kann, die Gesellschaft als eigenständiges Kommunikationssystem im Unterschied zum Bewusstsein zu beschreiben. Bermes skizziert den kritischen Rekurs Luhmanns auf die klassische Philosophie und die Phänomenologie, um zu erläutern, wie Husserls Ansatz in die Systemtheorie integriert wird. Der Beitrag wird mit einer Diskussion der Methodik Luhmanns und kritischen Bemerkungen zu den Grenzen der Systemtheorie abgerundet. Rudolf Bernets Beitrag zur Phänomenologie von Trieb und Lust bei Husserl diskutiert Ansätze zu einer systematischen Theorie des Triebs in dessen umfangreichen Analysen zu Wollen, Tendenzen und Streben in den Manuskripten aus den Jahren 1909-1914 zu dem geplanten Werk Studien zur Struktur des Bewusstseins. Es zeigen sich überraschende Ähnlichkeiten mit Freuds Position in Triebe und Triebschicksale (1915). So macht auch Husserl den Unterschied zwischen einem „Triebimpuls“ und einer „Triebbewegung“ und versteht letztere als „Entladung“ einer psychischen Triebspannung. Husserls Trieblehre wird auch wesentlich durch ihren Zusammenhang mit seiner Handlungstheorie und mit seinen Gemütsanalysen geprägt. Daraus ergeben sich interessante Perspektiven, die den Zusammenhang nicht nur von triebhafter Motivation und vernünftigem Willensentschluss, sondern auch von Trieblust und Akten des „Gefallens“ oder „Stimmungen“ der Freude betreffen. Husserls Ausführungen zu „Hemmung“ und „Enthemmung“ des Triebs oder zu einem sich der Verwirklichung des Triebs entgegenstellenden „Widerstand“ bewegen sich deutlich in der Tradition einer metaphysischen Trieblehre, wie z.B. bei Leibniz und Schopenhauer. Die Studien zur Struktur des Bewusstseins vermögen dem psychoanalytischen Denken auch durch ihre Differenzierung zwischen „Trieb“, „Wunsch“ und „Begehren“ sowie durch ihre Bestimmung von „Trieblust“ und „Genuss“ in Abhebung von auf (Wert-)Gegenstände bezogenen Gefühlen neue Impulse zu vermitteln. Jagna Brudzinska untersucht, ob und wie der phänomenologische Begriff der Erfahrung auch eine Thematisierung des Unbewussten
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erlaubt. Hierzu lenkt sie zunächst den Blick auf die Entwicklung des Erfahrungsbegriffs in Husserls Phänomenologie. War er zunächst noch eng an der Wahrnehmung orientiert, überwindet Husserl später die empiristisch erscheinende Bindung der Anschauung an die aktuellen, impressional fundierten Wahrnehmungen. Die grundlegende Erweiterung des Bereichs der Erfahrung gründet in seinen Analysen des inneren Zeitbewusstseins und in der Interpretation der Phantasie als einem Leistungsbewusstsein bzw. sogar als einer eigenständigen, phantasmatisch-imaginären Erfahrungs- und Wirkungsordnung. Damit wird zugleich der Weg zur Behandlung des Unbewussten als phantasmatisch-imaginäre Leistungsstruktur geebnet. Im Anschluss an Husserls Erweiterung des Erfahrungsbegriffs und Freuds dynamisches Verständnis der unbewussten Erfahrung lässt sich das Phantasmatisch-Imaginäre als ursprünglich gebendes mediales und sogar polyphonisches Repräsentationsbewusstsein deuten, dessen originäres Erfahrungsfeld der Traum ist. Der Beitrag von Frank Esken setzt sich kritisch mit Überlegungen der Neurophilosophie auseinander, die nahe legen, dass es sich bei sogenannten Spiegelneuronen um die „neuronale Basis“ für das Verstehen geistigen Verhaltens Anderer handeln könnte. Den Hintergrund dieser Überlegungen bilden Fragen nach dem Status unserer Alltagspsychologie. Ist unsere Zuschreibung mentaler Prädikate an eine Theorie gebunden (wie im sog. Theorie-Ansatz), oder sind es vielmehr nicht-theoretische, vorprädikative Fähigkeiten, die unser Verstehen geistigen Verhaltens leiten (wie im sog. SimulationsAnsatz)? Die Spiegelneuronenhypothese wird als Beitrag zum zweiten Ansatz verstanden. Der Autor will das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Erklärungsansätzen und ihr Verhältnis zu Husserls Analysen der Fremderfahrung aufzeigen. Der Artikel von Andrzej Gniazdowski behandelt die Frage, inwieweit das Politische zum Thema der Phänomenologie als Transzendentalphilosophie gemacht werden kann. Im Rückblick auf die These von Ludwig Landgrebe, dass die Phänomenologie, konsequent zu Ende gedacht, transzendentale Theorie der Geschichte ist, scheint die Phänomenologie ihre Leistungsfähigkeit erst mit einer
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transzendentalen Theorie des Politischen beweisen zu können. Ein bedeutender Beitrag hierzu ist auch Klaus Helds Projekt einer Phänomenologie der politischen Welt. Die Beziehung und der Zusammenhang der beiden Projekte werden hier kritisch erörtert. Klaus Held entwirft im folgenden Beitrag eine eigenständige Phänomenologie der Hoffnung. Nach einer phänomenologischen Öffnung und Strukturierung des Phänomens Hoffnung zeigt er, produktiv angeregt durch die existenzphilosophischen Gedanken Gabriel Marcels, die weit über das Erwarten oder das Wünschen zukünftiger Ereignisse hinausgehenden Sinndimensionen der Hoffnung auf. In Übereinstimmung mit Marcels Begriff der ‚absoluten Hoffnung’ führt Held aus, dass die Hoffnung letztlich jedes konkrete Ereignis transzendiert und insofern durch nichts enttäuscht werden kann. Held bleibt in seiner evidenten Gedankenführung stets auf einer philosophischen Ebene und deutet am Ende die Grenze zur Theologie nur an. Viele Versuche einer phänomenologischen Aufklärung des ästhetischen Erlebens sind, ebenso wie die zeitgenössische philosophische Ästhetik, an der Kunst orientiert. Auch die jüngsten Erklärungsversuche ästhetischer Erfahrung in den Neurowissenschaften engen das Phänomen des Ästhetischen gleichermaßen unangemessen ein. Dies wird in dem Beitrag von Julia Jansen anhand einer Diskussion von Ansätzen von V.S. Ramachandran, W. Hirstein und S. Zeki kritisiert. Sie schlägt stattdessen eine von solchen einengenden Voraussetzungen freie, neuansetzende phänomenologische Untersuchung der ästhetischen Erfahrung vor, die bewusst den Neurowissenschaften Forschungs- und Interpretationsansätze anbieten will und diese zugleich auch umgekehrt als Leitfaden und als empirische Bestätigung verwenden kann. Die Phänomenologie sieht den Anfang aller Gegenstandsbezüge in der sinnlichen Gegebenheit und in synthetischen Akten, in denen das sinnlich Gegebene als Gegenstand aufgefasst, d.h. wahrgenommen wird. Husserl weist aber auch synthetische Akte höherer, kategorialer Stufe auf, deren inhaltliche Erfüllung auf Deckungssynthesen zwischen fundierenden Akten beruht. Dieses Konzept lässt
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sich auf Erkenntnisse im Rahmen einer formalisierten Sprache erweitern, wenn man den Beitrag der aktiven Operationen des Geistes mit berücksichtigt. Der Beitrag von Dieter Lohmar behandelt die Frage „Warum ist mathematische (und logische) Erkenntnis überhaupt Erkenntnis?“ in erster Linie aus der Perspektive Husserls, aber zugleich im abwägenden Vergleich mit Kants kritizistischem Ansatz. Die Entstehung der Philosophischen Anthropologie, die mit den Namen Scheler, Heidegger, Plessner, Driesch, von Uexkuell und Buytendijk verbunden ist, fällt in Husserls aktivste Schaffenszeit. Der Beitrag von Christian Lotz will zeigen, dass auch die transzendentale Phänomenologie hiervon stark beeinflusst wurde. Hierzu erläutert er Husserls Ansichten über Leistung und Stellung der Tiere in der „anthropologischen Welt“ anhand der Ideen II. Dies schließt auch Husserls Ansicht ein, dass Tierbewusstsein nicht personal, sondern lediglich psychisch sei. Daneben erläutert Lotz unter Berücksichtigung von Husserls Forschungsmanuskripten den Versuch einer Einbeziehung der Tiere in die Intersubjektivität. Der Beitrag von Eduard Marbach argumentiert für eine methodologisch kontrollierte Verbindung von wissenschaftlichen, speziell auch neurowissenschaftlichen Einsichten hinsichtlich des Bewusstseins mit eidetisch-phänomenologischen, Erste-Person-Einsichten. Erforschen wir die Arbeitsweisen des Gehirns mit dem Ziel einer wissenschaftlichen Erklärung von Bewusstsein, dann benötigen wir eine klare begriffliche Vorstellung von dem zu erklärenden Gegenstand. Gerade die eidetisch-phänomenologischen Begriffe können und sollten bei neurowissenschaftlichen Experimenten – insbesondere im Hinblick auf aktuell auftretende Bewusstseinserlebnisse – als ein heuristischer Leitfaden fungieren. Am Beispiel von Kosslyns Arbeiten über mentale Vorstellungsbilder und der Suche nach deren neuronalen Korrelaten wird diese These illustriert. Henning Peucker geht der Frage nach, was es heisst, jemandem zu vergeben. Vergebung wird häufig als eine Überwindung von negativen Gefühlen wie Hass oder Zorn beschrieben, die ein Unrechtsopfer gegenüber dem Täter hegt. Vergebung bedeutet für das
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Opfer zugleich eine Bewältigung von Gefühlen, die von Niedergeschlagenheit bis hin zur Verzweiflung reichen können. In dieser Sichtweise fragt es sich, wie wir vergeben können, und ob sich für das Vergeben schlüssige Gründe oder Bedingungen (z.B. die Reue des Täters oder mein Verständnis für seine Motive) angeben lassen. Vergebung setzt so verstanden die beiderseitige Fähigkeit und Bereitschaft zur Einfühlung voraus. Da sich die genannten Gründe für das Vergeben aber nicht als zwingend erweisen lassen, schlägt Peucker einen stärkeren Begriff des Vergebens vor: Demgemäß ist das Vergeben nicht als bedingter und bilateraler Prozess zu verstehen, sondern als ein unbedingtes und unilaterales Geschehen. In der Sprachwissenschaft wird ‚Weltwissen‘ (Hintergrundwissen) zur Erklärung von Bedeutungen verwendet, die nicht explizit durch Zeichen gegeben sind. Die Klärung dieses Begriffs selbst fällt jedoch nicht in ihre Zuständigkeit. Der Beitrag von Martina Plümacher stellt einen Versuch zur inhaltlichen Füllung des Begriffs vor, der auf kognitive Schemata und mentale Skripte im Rahmen der KIForschung zurückgeht. Plümacher ruft in Erinnerung, dass die jenen zugrunde liegende Idee der ‚Rahmung‘ von Zeichenbedeutungen auf Husserl zurückgeht. Dieser behauptet allerdings nicht, dass Wissen primär durch ‚Schemata‘ organisiert ist, sondern sieht das Wissen über die Typik von Arten und Prozessen in allgemeinere Wissensstrukturen eingebunden. Daher ist eine von Husserl inspirierte Theorie des Wissens nicht genötigt, den relativ starren kognitiven Rahmen einer ‚Informationsverarbeitung‘ anzunehmen. Im Zentrum des Beitrags von Lukasz Przybylski steht Husserls Begriff der „Kinästhese“, der die Relation zwischen den ausgeführten und von mir zugleich empfundenen Leibbewegungen und der Art, in der mir der Gegenstand erscheint, beschreibt. Jedes räumliche Ding besitzt neben seiner aktuellen Auffassung auch einen breiten Horizont von möglichen weiteren Gegebenheitsweisen, die in der leiblichen Erfahrung des Subjekts (kinästhetische „Anstrengung“) realisiert werden können. Die enge Verknüpfung der Kinästhesen mit der Wahrnehmung des räumlichen Dinges bzw. der Räumlichkeit offenbart sich in der visuellen und taktuellen Moda-
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lität. Das gegenwärtig in der Kognitionswissenschaft ausführlich diskutierte Problem des Leibs und seiner Rolle in den Wahrnehmungsprozessen zeigt ebenfalls die grundlegende Bedeutung der Kinästhesen für die Konstitution des Dinges. In diesem Artikel werden Husserls Analysen mit den Thesen von Kevin O’Regan und Alva Noë verglichen. Diese Ansätze könnten als eine bereichernde Weiterentwicklung von Husserls Überlegungen zur Dingkonstitution betrachtet werden, wenn man die Wahrnehmungserfahrung als Ergebnis der wahrnehmenden, sensomotorischen Exploration der Umgebung durch das Subjekt ansieht. Präreflektive Kognition ist der Bereich, in dem sich wohl die meisten kognitiven Prozesse abspielen, und zwar ohne Beteiligung eines bewusst reflektierenden, steuernden Ichs. Der Beitrag von Daniel Schmicking erörtert zunächst den Begriff präreflektiv und seine Verwendung z.B. bei Husserl (Ideen II) und Lakoff / Johnson. Der Beitrag will zeigen, dass Husserls Phänomenologie, meist unter den Titeln „passive Intention(alität)“ bzw. „passive Konstitution und Genesis“, diesen Bereich vor der eigentlichen Ichaktivität bereits intensiv erforscht. So finden sich in Husserls Werk zahlreiche Detailstudien zu Bereichen, die heute dem kognitiven Unbewussten zugeordnet werden. Abschließend wird die Konzeption einer Arbeitsteilung von transzendentaler und empirischer (bzw. „naturalisierter“) Phänomenologie aufgezeigt als ein geeigneter Weg zu einer „empirically responsible philosophy“ (Lakoff / Johnson), die auch die präreflektive Kognition angemessen berücksichtigt. Der Ausgangspunkt des abschließenden Artikels von Dan Zahavi ist die Frage, was und auf welche Weise die Phänomenologie von der Cognitive Science lernen kann. Er nennt exemplarisch zwei wichtige Bereiche: Untersuchungen der Entwicklungspsychologie zum frühkindlichen Sozialkontakt, die ein ganz neues Licht auf die Phänomenologie des Zugangs zum Anderen werfen, und die Untersuchungen der Neuropathologie von Erinnerungsstörungen, die zeigen, dass das scheinbar so einheitliche Erscheinungsbild der Erinnerung (in den bisherigen phänomenologischen Analysen) täuscht, da es eine Reihe ganz unterschiedlicher Erinnerungsfunktionen gibt.
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Vorwort
Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit der Phänomenologie mit nichtphilosophischen, aber dennoch auf das Bewusstsein gerichteten Wissenschaften wird zugleich von der scheinbar unüberwindlichen Dichotomie empirischer und transzendentaler Forschung überschattet, die eine reduktive Naturalisierung befürchten lässt. Es kann infolgedessen wohl kein direkter, aber ein indirekter Nutzen aus den beiderseitigen Ergebnissen gezogen werden, nämlich im Sinne einer Anregung zu neuen Untersuchungen und durch eine Differenzierung der Deutungen. Die Anregung zu dieser Sammlung von Forschungsbeiträgen geht auf eine Konferenz zurück, die vom Husserl-Archiv und von dem Philosophischen Seminar der Universität zu Köln ausgerichtet und dankenswerterweise von der Fritz Thyssen Stiftung unterstützt wurde. Ein Wort des Dankes sei auch an diejenigen gerichtet, die das Entstehen dieses Bandes mit unterstützt haben: Christian Blum, Aiko Wolters, Klaus Sellge, Jana Padel und Monika Heidenreich. Wir möchten uns zudem bei den Herausgebern der Phaenomenologica, Prof. Dr. Rudolf Bernet und Prof. Dr. Ullrich Melle, für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe bedanken. Köln, im Januar 2006 Die Herausgeber
Anmerkungen: 1
W. Prinz: Neue Ideen tun Not. In: Gehirn und Geist 6 (2004), 35. Vgl. S. Gallagher: Phenomenology and Experimental Design. Toward a Phenomenologically Enlightened Experimental Science. In: Journal of Consciousness Studies 10 (2003), 85-99. 2
Monade, Dyade und Triade. Intersubjektivität und Ethik interdisziplinär Thomas Bedorf, FernUniversität in Hagen Zusammenfassung: Das Problem der Intersubjektivität findet bei Husserl seinen ersten konzeptionellen Ausdruck. Trotz aller Interpretationsbemühungen bleibt sein Ausgangspunkt an ein monadisches Ego gebunden, das Intersubjektivität nur als harmonisches Nebeneinander denken kann. Demgegenüber versuchen in jüngerer Zeit empirische Psychologen und postklassische Psychoanalytiker menschliche Beziehungen als grundsätzlich (und nicht bloß nachträglich) intersubjektive zu verstehen. Sie kommen aber über das Postulat einer ursprünglichen Dyade nicht hinaus, weil die Theoriebildung an der Gewinnung von Harmonie und Stimmigkeit orientiert ist. Platz für Konflikte und Widerstreite schafft erst ein triadischer Ansatz, der sich sowohl auf phänomenologische als auch psychoanalytische Erkenntnisse stützen kann. Es wird dafür argumentiert, dass Intersubjektivität, zumal wenn sie eine normative Komponente enthalten soll, nur unter Einbeziehung eines Dritten gedacht werden kann. Abstract: The problem of intersubjectivity finds its first conceptional expression in Husserl. Inspite of all interpretive efforts his point of departure depends on a monadic ego which cannot help to think intersubjectivity other than as a harmonic juxtaposition. Against this, empirical psychologists and post-classical psychoanalysts try to understand human relations as fundamentally (and not only accidentally) intersubjective ones. Nevertheless, these can’t get beyond the hypothesis of an originary dyad, because the formation of their theories is oriented towards a gain of harmony and atunement. Space for conflicts and differences is only given by a triadic approach which can get support from phenomenological and psychoanalytical insights. It will be argued that intersubjectivity, especially if it should contain a normative element, can only be thought by integrating the figure of the Third.
Dass Intersubjektivität in der Phänomenologie, zumal derjenigen Husserls, ihren ersten prägnanten, wenn nicht prägenden Ausdruck gefunden hat, ist in jedem philosophischen Wörterbuch nachzulesen. Ob die Wirkung, die der Begriff seitdem in der Philosophie, der Psychologie und den Sozialwissenschaften ausgeübt hat, auf diesen Ursprung zurückzuführen ist oder sich einer Mehrfacherfindung verdankt, die ein gemeinsames theoretisches Erfordernis anzeigt, kann man dahingestellt sein lassen. Unbestritten jedoch kehrt die Intersubjektivität aus diesen Wissenschaften als empiriegesättigtes Paradigma zurück in die Sozialphilosophie, in der nun sogar bisweilen von einem 1 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 1–17. © 2006 Springer.
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Thomas Bedorf: Monade, Dyade und Triade
„intersubjective turn“ gesprochen wird, wenn neuere Gesellschaftsund Handlungstheorien gemeint sind, die sich nicht mehr bewusstseinstheoretisch, sondern kommunikativ verfasst sehen. Doch solche „turns“ haben ihre Tücken. Sie suggerieren, wenn man bloß die Wendung des Denkens mitmache, sei man ganz auf der Höhe.1 Es scheint ein Denken an der Zeit zu sein, ohne dass sich dies noch an der Sache ausweisen müsste. Es lohnt sich genauer hinzusehen. Doch soll es im Folgenden nicht um eine Nachzeichnung der Geschichte der Wirkungen bzw. Ausblendungen des Husserlschen Begriffs gehen; auch nicht um eine auf Vollständigkeit bedachte Bestandsaufnahme im Felde der Sozialphilosophie, wie der Dreischritt des Titels suggerieren könnte. Ich möchte vielmehr der systematischen Frage nachgehen, was es braucht, um Intersubjektivität zu beschreiben und wo ihre Genese angesetzt werden soll. Nach einer kurzen Erinnerung an Husserls intersubjektive Monaden (I.) werde ich das in der Sozialphilosophie prominente dyadische Modell aus der Entwicklungspsychologie explizieren (II.), um abschließend (III.) zu erläutern, was triadische Intersubjektivität bedeuten kann, deren Modell sich aus Forschungen der Psychoanalyse und der Phänomenologie speist.2 I. Husserls intersubjektive Monaden Intersubjektivität wird für Husserl zunächst nicht deswegen interessant, weil er Sozialphilosophie zu betreiben oder einen Beitrag zur Genese von Normativität zu leisten beabsichtigt. Der Kontext, in dem er auf das Problem des Fremdpsychischen trifft, ist grundverschieden von jenen gegenwärtigen Diskussionen, in denen Intersubjektivität als methodisches oder anthropologisches Fundament für Handlungs- und Sozialtheorien benötigt wird. Husserl antwortet auf den Einwand, die phänomenologische Konstitutionstheorie des transzendentalen Bewusstseins münde in einen Solipsismus, mit der Einsicht, dass der Weltsinn eine Erfahrbarkeit nicht nur für mich, sondern eben auch für Andere impliziert, der für diesen konstitutiv ist. Daher vermag selbst die Fiktion der „universale[n] Pest“ (Hua I, 125), die mich als eine Art Robinson zurückgelassen hätte, an dieser Implikation nichts zu ändern.
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Die V. Cartesianische Meditation steht nun ganz im Dienste des Versuchs, die Objektivität der Robinsonschen Welt zu garantieren, insofern sie „intersubjektiv konstituiert“, d.h. für jedermann erfahrbar ist, ohne den Boden der transzendentalen Phänomenologie zu verlassen. Dabei überschreitet Husserl den bis dato durch die Einheit der Vernunftsubjekte, den dialektischen Kampf der Bewusstseine oder den bloß positivistischen Atomismus nebeneinander existierender Individuen definierten Diskurs der Objektivität der Bewusstseinsinhalte. Denn auch wenn er in Auseinandersetzung mit Theodor Lipps den Begriff der Einfühlung übernimmt, so kommt es ihm doch wesentlich darauf an, weder einer Projektion der Innenwelt auf äußere Körper noch einem Analogieschluss von meinem Ich auf die Existenz des Anderen das Wort zu reden. „Analogon meiner selbst, und doch wieder nicht Analogon“ (Hua I, 125), so lautet die unentschiedene Formulierung, die man als begriffliche Unsauberkeit, aber auch als eine Problemanzeige verstehen kann. Die „Analogie-und-nicht-Analogie“ erhält einen adäquaten Ausdruck im selbstbezüglichen Leib, der am Grunde intersubjektiver Weltkonstitution zu stehen kommt. Damit wird post-husserlianischen Phänomenologien französischer Provenienz, die den Leibbegriff nutzen, um Anteile der Andersheit für die Konstitution des Selbst verantwortlich zu machen, der Weg geebnet. Und auch Husserls paradoxe Formulierung der Zugangsweise zum Fremden als „Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ (Hua I, 144), die hier im Dienste der Konstitutionsanalyse steht, erlaubt es Bernhard Waldenfels, aus ihr die Funken einer responsiven Phänomenologie zu schlagen. Husserl lässt also hinsichtlich des Problems der Fremderfahrung Formulierungen zu, die seine bewusstseinstheoretische Fundierung zu sprengen drohen. Zumal auch die Fundierungsleistung des egologischen Fundaments durchaus zwei Deutungen zulässt. Denn die Eigenheitssphäre, von der aus die Fremderfahrung erfasst werden soll, kann sowohl als eine die Welt des Anderen noetisch mit umfassende „Originalsphäre“ oder als eine, diese ausschließende und ihr zugrunde liegende „solipsistische Sphäre“ verstanden werden (vgl. Hua I, 125, 131, Hua XV, 559 bzw. Hua I 125, 127). Im ersten Fall wäre Intersubjektivität gegenüber den Leistungen des Ichs sekundär, im zweiten Falle setzte die Abstraktion der primordialen Sphäre die Intersubjektivität als Horizont stets voraus.3
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Thomas Bedorf: Monade, Dyade und Triade
Doch grundsätzlich steht Husserl für eine Multiplizierung von Intentionalitäten, insofern das Ich als initiativ erachtet wird. Denn die Erfahrung des Fremden bleibt trotz aller Komplikation eine Erfahrung des Ichs und die Apperzeption mündet in eine „Monadengemeinschaft“, zu der eine entsprechende „Harmonie“ gehört (Hua I, 138). Nun schließt zwar der Begriff der Monade – und dies durchaus schon bei ihrem Schöpfer Leibniz – Kommunikation und Austausch keineswegs aus, doch kann man sich verkürzend der Standardlesart anschließen, dass Husserls Theorie der Intersubjektivität zwar begrifflich offene Optionen entwickelt hat, die stärker an der Alterität orientierte Theorien haben fruchtbar machen können, er selbst den Boden der Egologie jedoch nicht verlässt. Das „kann man sagen“, muss man aber nicht. So geht etwa Bernhard Waldenfels (passim) konsequent den Weg, mit Husserl gegen Husserl zu denken und unter Rückgriff auf die Nachlassschriften zur „Phänomenologie der Intersubjektivität“ in Husserl selbst die Anlagen für dissidente Lesarten zu suchen. Und so unternimmt es Dan Zahavi zu zeigen, dass die Husserlsche Philosophie ohne sie überzustrapazieren sich so interpretieren lässt, dass sie Auffassungen, die für gewöhnlich post-husserlschen Phänomenologen zugeschrieben werden, vorwegnimmt.4 Doch für meine Zwecke mag es bei der angedeuteten orthodoxen Interpretation bleiben, da es mir auf den monadischen Ausgangspunkt der Intersubjektivitätsproblematik ankommt, der zu einer expliziten dyadischen und schließlich triadischen Verfasstheit entfaltet werden kann. Dass die Phänomenologie dazu mehr zu sagen hat, hoffe ich am Ende zeigen zu können. II. Intersubjektive Dyaden als anthropologische Mitgift? Nun ist Husserl nicht der einzige, der Intersubjektivität von einem Ichpunkt ausgehen lässt. Auch Freud, der – so weit ich sehe – den Begriff selbst nicht verwendet, bemüht sich um eine Erklärung der Mechanismen und Pathologien, vermittels derer Andere und Anderes nicht nur unser Handeln, sondern auch das unbewusste Erleben und dessen Wirkungen (mit)bestimmen. Doch die Anlagen sind bereits in den Omnipotenzphantasien des kindlichen Ichs gelegt, die an der Realität zerschellen und sich durch soziale und sexuelle Zwänge bändigen lassen müssen. Intersubjektivität entsteht ausgehend von einem quasianimalischen, in jedem Fall prä-sozialen Ich, einer Art psychischem
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Robinson, der mit den Natur- und Kulturgewalten, die um ihn herum tosen, einen Kampf zu bestehen hat und dessen Ausgang mehr oder weniger neurotisch verläuft. Die inner-analytische Diskussion ist nicht bei dieser „monadischen Psyche“5 stehen geblieben. Aus der Objektbeziehungstheorie Winnicotts und Kleins, der interpersonalen Psychoanalyse, der Betonung des Beziehungscharakters der Triebe durch Loewald und Kernberg und den Beiträgen der Säuglings- und Bindungsforschung entwickelt sich eine „relationale Psychoanalyse“, die die Faktizität der sozialen Beziehungen im therapeutischen Setting und in den Krankengeschichten auch theoretisch abzubilden versucht. Intersubjektivität und Relationalität erscheinen als etwas, was nicht nur in der „wirklichen“ Welt auch noch vorkommt, sondern einen substantiellen Bestandteil der Hypothesen über die Ichwerdung und die Bildung des Unbewussten darstellt. Die psychoanalytische Theorie und Praxis wandelt sich in einem Teil ihrer methodischen Vielfalt zu einem intersubjektiv grundierten Ensemble und entfernt sich damit deutlich von den Modellen ihres Gründers. Noch von einer anderen Seite wird der Monismus ‚intersubjektiviert’. Jene Theorien, die sich unter besagtem „intersubjective“ oder „relational turn“6 versammeln lassen, greifen - wie etwa Axel Honneths Theorie der sozialen Anerkennung - die Idee einer primären Intersubjektivität auf, die sich bereits in den frühesten Interaktionen zeigt.7 Empirisch-praktische Versuche zur Bestimmung des Ursprungs und der Form der Intersubjektivität sind der Philosophie nicht äußerlich. Sie könnte in der Tat von einer Beschäftigung mit den psychologischen und psychoanalytischen Transformationen lernen, inwiefern von der theoretischen Verschiebung von der Monade zur Dyade ein deskriptiver Vorteil zu erwarten ist. Die Vorschläge sind daraufhin zu prüfen, inwieweit sich mit solchen „dyadischen“ Ansätzen das zu Explizierende – nämlich Intersubjektivität als Grundbedigung für Sozialität – angemessen darstellen lässt. Die viel diskutierten Erkenntnisse der neueren empirischen Säuglingsforschung, wie sie v. a. von Daniel Stern und seinen Mitarbeitern geleistet wurden, geben die psychologische Basis für eine Reihe der dyadischen Bemühungen ab.8 Sie streben den Nachweis eines frühen Gewahrens einer Bezugsperson und deren handlungsorientierenden und Gefühle abstimmenden Funktionen an („affect atunement“). Die aus den Experimenten mit interagierenden Mutter-Kind-Dyaden erschlossene Affektabstimmung liefert ein Beispiel dafür, was es im
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Sinne dieser Forschungen heißen soll, dass der „Kern der Intersubjektivität“ darin besteht, „kognitive und affektive Zustände mit anderen zu teilen bzw. diesen mitzuteilen“9. Damit werden Hinweise dafür geliefert, dass die Ichwerdung sich nicht als zunehmende Aneignung und Differenzierung der Außenwelt durch eine „psychische Monade“ verstehen lässt, sondern der oder die Andere bereits an dieser beteiligt sein muss. Zur Gewinnung sowohl einer Erfahrung des eigenen Selbst als auch der Grenzen, die diesem die Welt setzt, bedient sich das Kleinkind der Interaktion mit Anderen, in der die Spiegelung eigenen Verhaltens erlebt und die Möglichkeit, fremde Reaktionen hervorzurufen, genossen wird. Eine solche Theorie an Harmonisierung orientierter frühkindlicher Beziehungen geht von „einem primären Bedürfnis nach Sozialkontakt aus und nicht wie die Triebtheorie von der asozialen Natur des Menschen“10. Daraus kann die Sozialphilosophie den Schluss ziehen, dass auch die Sozialisierungsprozesse des entstehenden Selbst nicht als Negation des sich als allmächtig phantasierenden Ichs durch das Realitätsprinzip, sondern als eine „Stufe des Nebeneinanders von keimhafter Selbstabgrenzung und dazwischentretenden Fusionserlebnissen“11 zu verstehen sind. Jüngst hat die Forschergruppe um Daniel Stern aus ihren Ergebnissen die Heuristik einer Untersuchung der Interaktionen zwischen Erwachsenen gefolgert. Exemplarisch herangezogen wird dabei die Analytiker-Patienten-Beziehung. Untersucht wird, wie sich die Beziehung nicht allein auf symbolischer Ebene durch die Interventionen des Therapeuten oder die psychischen Veränderungen aufseiten des Patienten transformiert, sondern auch durch die bewussten oder unbewussten beiderseitigen Zeichen, Gesten und Verhaltensweisen in der „Splitsekundenwelt“12 des Impliziten. Der Verlauf einer analytischen Beziehung ist demnach nicht allein durch die „gleichschwebende Aufmerksamkeit“13 des Analytikers und die assoziative Mitarbeit des Analysanden geprägt, sondern auch durch die unbemerkten Anknüpfungen im Miteinander der Beteiligten, die eine gelingende Analyse befördern oder behindern. Ziel dieses Austauschprozesses als einem „biologisch verankerten Vorgang“14 ist die Gewinnung einer „Stimmigkeit“15, die eine produktive Veränderung in kooperativer Atmosphäre ermöglichen soll. Die Forscher betonen in dem durch Tonfall, Gesten und Rhythmen der Interaktion bestimmten Miteinander die Spontaneität und Unvorhersehbarkeit des Prozesses. Die Ungenauigkeit der Mikroaktivitäten und die ständig präsente Möglichkeit von
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Störungen, die nicht einfach ausgeblendet werden, sondern als produktiv für den „Impovisationsprozess“16 aufgefasst werden, scheinen einem allzu harmonischen Modell zuwiderzulaufen. Doch letztlich liegt diesen Untersuchungen eine teleologische Struktur zugrunde, die sich darin äußert, dass ein gemeinsames Gefühl für die Richtung der Beziehungsentwicklung existieren soll, die zudem normativ aufgeladen wird. Wird die Stimmigkeit erreicht, so die Überzeugung der Empiriker, so „ruft sie ein Gefühl der Vitalisierung oder ein wachsendes Wohlgefühl hervor, weil sich die Kohärenz des dyadischen Systems als ganzes verbessert hat“17, die auch von den Beteiligten als „’Verbesserung’ erlebt“18 wird. Die einen Zweifel an der Selbstverständlichkeit der Terminologie andeutenden Anführungszeichen ändern nichts an der eindeutigen, normativierenden Richtung, die die Untersuchungen trotz aller empirisch interessanter Erkenntnisse am Ende nehmen. Sowohl die Analyse der Interaktion zwischen Mutter und Kind als auch die zwischen Erwachsenen gibt wichtige Hinweise darauf, nach welchen Mechanismen Intersubjektivität funktioniert und welche Voraussetzung für eine gelingende Zweisamkeit gegeben sein müssen. Eine Kompatibilität mit philosophischen Theorien der Intersubjektivität wird zusätzlich dadurch gewährleistet, dass der Begriff des „Objekts“, der zumal von Klein und Winnicott einen prominenten Ort in der psychoanalytischen Theoriearbeit erhalten hat, zunehmend dem Begriff des „Anderen“ weicht.19 Doch die empirische Untersuchung legt noch nicht das frei, was im engeren Sinne Intersubjektivität genannt wird, d.h. die wechselseitige Gewissheit eines anderen Selbst, dessen Welt nicht die meine und doch mit ihr verbunden ist. Stephen Mitchell, der sich um eine Synthese der unterschiedlichen Traditionen intersubjektiver Modelle bemüht, unterscheidet daher vier Ebenen, auf denen Interaktion lokalisiert sein kann. Der erste Modus ist jenes nicht-reflexive Verhalten, das in der empirischen Interaktionsforschung die lokale Ebene des Impliziten genannt wurde. Sie umfasst nicht-symbolische Gesten, die der Mikroanpassung zweier Partner dient. Den zweiten Modus nennt Mitchell „affektive Durchlässigkeit“20 und subsumiert darunter Affektresonanz, emotionale Anstekkung und Einfühlungsphänomene, also jene Dimension eines „Zwischen“, die so recht keinem von beiden Subjekten zu gehören scheint. Erst mit der dritten Ebene wird eine symbolisierte Form der „SelbstAnderer-Konfiguration“21 erreicht. Der konfigurative Aspekt verweist
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darauf, dass auch hier nicht von der Intersubjektivität als elementarer Wechselseitigkeit die Rede ist, sondern von einer strukturierten Relation, in der der Andere hinsichtlich bestimmter Funktionen kontextuell auftritt (als Objekt des Begehrens, als Repräsentant eines Zwangs etc.). Die am Ende der Hierarchie angesiedelte vierte Stufe der Intersubjektivität wird bestimmt als die Anerkennung des Anderen als eines Selbst eigenen Rechts, und das heißt unabhängig von der kontextuellen Funktionalität. So hilfreich eine solche Unterscheidung für die Präzision der Rede von Intersubjektivität ist, so unklar bleibt die Verbindung der einzelnen Modi. Handelt es sich dabei um Stufen, die beim Voranschreiten zu ‚mehr’ Intersubjektivität überwunden werden? Oder sind die Ebenen auch normativ ausgezeichnet wie in Kohlbergs Moralpyramide, so dass jedes Selbst, zumal das therapierte, darauf zielen muss, die vierte Ebene zu erreichen? Oder muss man schließlich den Aufbau so verstehen, dass „Intersubjektivität“ der synthetische Begriff ist, der die vorangehenden Ebenen in sich enthält und nur so zu seiner vollen Bestimmung kommt? Mein Vorschlag wäre, dass man die analytische Trennung der Dimensionen von Intersubjektivität sinnvollerweise nur als eine Überlagerung vorreflexiver und reflexiver, imaginärer und symbolischer Strukturen verstehen kann. Das bedeutet aber, dass ein dyadisches Modell nicht hinreichend differenziert ist, um dieser Verflechtung Rechnung zu tragen. Denn die vielbeschworene „Harmonie“ und „Stimmigkeit“ der skizzierten Interaktionsmodelle lässt wenig Raum für widerstreitende Tendenzen, die sich aus der Überlagerung der Ebenen ergeben. Ein sozialphilosophischer Begriff der Intersubjektivität, der auf Sozialität übergreifen soll, ist damit kaum zu fundieren. Der Dritte könnte jene Figur sein, in dem sich die Widerstreite kristallisieren. III. Triadische Sozialität in Psychoanalyse und Phänomenologie Für die Frage, wie sich Subjektgenese, das Verhältnis zu Anderen und Sozialität zueinander verhalten, ist weniger entscheidend, ob die Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und der relationalen Psychoanalyse eine Basis für eine Philosophie der Intersubjektivität abgeben können, sondern inwiefern sich eine dyadische Struktur überhaupt für eine hinreichend präzise Beschreibung eignet. 22
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Man muss kein „Mitleid“ mit dem ausgeschlossenen Dritten haben, wie Scheler es hervorrufen konnte, 23 um zu der Auffassung zu gelangen, dass es sich lohnen könnte, neben dem monadischen und dem dyadischen Intersubjektivitätsmodell auch eine triadische Variante ins Auge zu fassen. Die von den empirischen Untersuchungen ins Visier genommene Psychoanalyse stellt Modelle zur Verfügung, die eine Überschreitung der Dyade notwendig erscheinen lassen. Bereits die ödipalen Verstrickungen und deren post-freudianische Umarbeitungen können Indizien dafür liefern, dass der Dritte nicht einfach mit dem Anderen zusammenfällt, sondern von diesem funktional zu unterscheiden ist. So haben etwa die post-freudianischen Reaktionen auf das in mehrfacher Hinsicht problematische Modell der ödipalen Konflikte mit dem von Ernest Abelin eingeführten Begriff der Triangulierung herausgearbeitet, dass sich die Relevanz eines Dritten bereits in frühen Stadien der Entwicklung nachweisen lässt. 24 Um die Beobachtung, dass zahlreiche der von Freud in Verbindung mit der Kastration, dem Objektwechsel und der affektiven bzw. aggressiven Einstellung den Elternteilen gegenüber in Anschlag gebrachten Äußerungen des Subjekts auch in prä-ödipaler Zeit auftreten, mit der Theorie in Einklang zu bringen, wird von triangulären Beziehungen gesprochen. „Die psychologische Bedeutung triangulärer Beziehungen liegt in der Repräsentation eines sozialen Netzes; die Triade verkörpert nicht allein eine dritte Person, sondern all jene, die nicht unmittelbar anwesend sind“25. Soweit die Kind-Wunschobjekt-Dyade überschritten wird, kommt nicht zwangsläufig eine konkrete dritte Person ins Spiel, sondern eine Funktion, die von unterschiedlichen Akteuren verkörpert werden kann. Die „Neubewertung der prä-ödipalen Vaterbeziehung“26 mündet darin, die Aufmerksamkeit von interagierenden Personen ab- und der Tertialität von Beziehungen zuzuwenden. Im Ödipuskomplex schließlich vollendet sich die „Inkarnation des Dritten“27 in konkreten Konstellationen, ohne dass dieser die einzige von der Triangulierung anvisierte Struktur darstellt. Der Prozess der Triangulierung erarbeitet die Fähigkeiten, Bezüge auf Abwesendes herzustellen, Differenzen einzuziehen und Grenzen des Selbst wahrzunehmen, insofern der Dritte die Mutter-Kind-Dyade aufbricht. Wenn die Triade nicht mehr allein mit der ödipalen Situation identifiziert wird, lässt sich die triadische Struktur als eine Weise begreifen, in der das werdende Selbst aus den unmittelbaren affektiven Umklammerungen gelöst wird und mit sozialen Normen wie mit
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deren Kontingenzen in Kontakt kommt. Die Kompetenzen werden darüber angeeignet, dass das Kind unterschiedliche Positionen der Triade erprobt. Hinsichtlich dieser angezielten Kompetenzen muss die Dyade als ein Rückfall gelten. Eine solche strukturale Lesart der vordem allein als ödipal verstandenen Konflikte negiert die Bedeutung der Dyade keineswegs. 28 Aber sie besteht darauf, „dass es eines Dritten bedarf, damit Beziehungen dem circulus vitiosus entrinnen können“29. Die Frage ist, was dieser Zirkel bezeichnet. Setzt die Hervorhebung des triadischen Zugs das Konzept einer symbiotischen Dualunion zwischen Kind und Mutter voraus, von der es sich zu lösen gelte? Selbst wenn Teile der angedeuteten Beiträge zur Triangulierung sich dieser Stoßrichtung verpflichtet fühlen, ist der Schluss doch keineswegs zwangsläufig. Der Bezug des Dritten auf die Dyade ist strukturell unabhängig davon, ob letztere als Verschmelzungssymbiose, zeitweilige Symbiose (wie in der empirischen Kleinkindforschung) oder Intersubjektivität angesehen wird. Es wird lediglich angenommen, dass eine Dyade, die ganz auf einen Dritten verzichtet, nur vor dem Hintergrund der Triade gedacht werden kann und das heißt, als Schrumpfform oder Rückzug betrachtet werden muss. Eine solche Form phantasmatischer Beziehungen, die aus einer „Reduktion oder Identifizierung dieser Triade“30 resultiert, weist Jacques Lacan dem Reich des Imaginären zu. Wird Intersubjektivität – wie etwa in der Theorie des generalisierten Anderen George Herbert Meads – als Relation zwischen einem Ich und dem Anderen als Hort universalisierbarer Rollen gedacht, verbleibt sie auf der Ebene des imaginären Ichs. Denn die Dimension des Symbolischen, die dem Ich in seiner Selbstbespiegelung im Anderen erst zur Artikulation verhilft, bleibt außer Betracht. „Es gibt immer einen Dritten, den großen Anderen“31. Vereinfachend lässt sich daher die Ebene des Imaginären als dyadisch, die Ebene des Symbolischen als triadisch strukturiert auffassen.32 Angewandt auf die Psychologie der kindlichen Entwicklung bedeutet dies, dass in der Erfahrungswelt des Kindes eine „normativierende Funktion“33 am Werk ist, die durch die symbolische Ordnung vertreten wird und sich nicht auf die imaginäre Wiedergewinnung der Mutter-Kind-Dyade zurückführen lässt. In den frühen Beziehungen wirkt bereits der sprachliche Code als ein Drittes, welches sich weder aus einer der beteiligten Personen noch allein aus der Relation selbst
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herstellen lässt.34 Der Begriff der symbolischen Ordnung ist Teil der Umarbeitung Freuds und insbesondere der Theorie des ödipalen Konflikts. Das Symbolische übernimmt die normativierende Funktion vom Vater, der bei Freud als der störende und gefürchtete Dritte fungierte. In Lacans strukturaler Reformulierung bleibt, ähnlich wie in den Theorien der primären Triangulierung, eine Funktion des Dritten zurück, die nicht allein an an- oder abwesende Väter gebunden ist. Der „Name-des-Vaters“ benennt zugleich den Ort des Gesetzes und die Erbschaft der freudschen Familiendramen. Eine imaginäre Beziehung (sei es die des Kindes zur Mutter oder die des Ichs zu seinem Ideal) ist somit stets schon überdeckt durch symbolische Muster, weil diese Beziehung durch die notwendige Imprägnierung durch Sprache und kulturelle Formen niemals rein zu haben ist. Die „pure“ Dyade verfällt dem Wahn. Die Ordnung der Vaterschaft existiert als solche, ob das Kind nun kindliche Schrecken durchlebt oder nicht, die ihren artikulierten Sinn nur in der intersubjektiven Vater-Kind-Beziehung annehmen, die zutiefst symbolisch organisiert ist und den subjektiven Kontext bildet, in dem das Kind seine Erfahrung entwickelt. Die Erfahrung des Kindes wird in jedem Augenblick von der intersubjektiven Beziehung erfasst und retroaktiv umgearbeitet.35
Im vorliegenden Kontext bleibt festzuhalten, dass die Ordnung des Dritten (der Vaterschaft, des Symbolischen) als diejenige bezeichnet wird, die Intersubjektivität zu erfassen in der Lage ist. Lacan geht nicht etwa von einer dyadisch verfassten Intersubjektivität aus, zu der ein Dritter hinzukommt, sondern intersubjektive Verhältnisse sind selbst bereits triadisch geformt. Nun ist es keineswegs so, dass allein Psychoanalytiker die Dimension des Dritten für die Theorie des Subjekts und der Intersubjektivität fruchtbar machen. In der Soziologie wäre auf Georg Simmel zu verweisen,36 sowie auf sich hierauf beziehende Familiensoziologien,37 in der Philosophie auf Kurt Röttgers, Michel Serres und Bernhard Waldenfels.38 Da es weniger darauf ankommt, ob eine Figur des Dritten in einer Theorie der Intersubjektivität auftritt, als darauf, welche Konturen sie erhält, rückt unter den phänomenologischen Beiträgen weniger Sartres Theorie der Objektivierung des und durch den Anderen (die den Dritten nur als Erweiterung des Anderen kennt),39 als Levinas’ Theorie elementarer Alterität in den Mittelpunkt. Allerdings stellt Levinas den Begriff der Intersubjektivität selbst in Frage, weil damit
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bereits die Existenz zweier autonomer, identischer Subjekte suggeriert wird, die er gerade zu unterlaufen beabsichtigt. Seine Philosophie gleichwohl als Theorie des Subjekts und der Intersubjektivität zu verstehen, lässt sich insofern rechtfertigen, als die Begriffe bei ihm selbst mit anderer Akzentsetzung wiederkehren. Gegen den Ausgangspunkt bei einer symmetrischen Wechselwirkung zwischen Ego und alter Ego, die auch noch bei Sartre vorherrscht,40 hält Levinas mit Emphase das asymmetrische Verhältnis eines angesprochenen Ichs zu einem vom Ich getrennten Anderen entgegen. Die Radikalität des Levinasschen Unterfangens besteht darin, am Subjekt festzuhalten, es aber als „sujétion“41, als Unterwerfung unter den Anderen zu denken. Damit ist keine Herr-Knecht-Dialektik angestoßen, sondern eine Vorgängigkeit des Anderen gedacht, die einen Appell generiert, auf den das Subjekt antwortet. Dieser Vorgängigkeit des Anderen korreliert eine Nachträglichkeit seiner Identifizierung. In einer gewissen Nähe zu Thesen Freuds und Lacans wird der Aspekt betont, dass der Andere als Anderer nie in seiner Anwesenheit zu erfassen ist, sondern nur im Rekurs auf dessen „Vergangenheit [...], die niemals Gegenwart war“42. Die Verankerung der intersubjektiven Dimension im Subjekt selbst entzieht einer Substantialisierung des Subjekts den Boden. Dies geht so weit, dass Levinas nicht allein die empirische Interaktion mit anderen Personen im Auge hat, sondern die Aussetzung an eine Andersheit, die das Selbst in seinem Innersten betrifft. Der „Andere-imSelben“43 unterminiert jede cartesianische oder transzendentale Einheit des Subjekts, indem diese Einheit zugunsten des Anspruchs des Anderen aufgegeben wird. Das Ich bei Levinas ist nicht nur wie bei Freud „spaltbar“44, sondern es ist gespalten wie Lacans Spiegel-Ich. Spaltung des ‘mysteriösen’ Kerns der ‘Innerlichkeit’ des Subjekts durch diese Vorladung zur Antwort, durch diese Vorladung, die keinen Zufluchtsort lässt, [...] nicht ein Ich, sondern ich, der Vorgeladene. Vorladung zur Identität wegen der Antwort der Verantwortung, in der man sich nicht ersetzen lassen kann, ohne schuldig zu werden.45
Die Engführung von Subjekttheorie und normativem Vokabular verweist auf die ethische Konnotation von Levinas’ asymmetrischer Intersubjektivität. Das Subjekt wird nicht nur als gespalten aufgefasst, sondern der Grund dafür ist überdies beim Anderen zu suchen. Die „Vorladung“, gemeint ist der unendliche Appell des Anderen, auf den das Ich zu antworten hat, zerbricht die Identität. Damit ist jedoch kei-
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ne Heteronomie gemeint, was an der ethischen Färbung deutlich wird, die diese Subjektstruktur aufweist. Denn, wie Levinas hinzufügt, ruft die Vorladung eine Identität hervor; die Genese der Selbstidentität geht auf den Anspruch des Anderen zurück. Damit ist zweierlei gesichert: Erstens, wenn die Alterität bereits im Ich beginnt – und die Psychoanalyse ist jenes theoretische und praktische Bemühen, das uns zahllose Beispiele für diese These liefert –, bedarf es keiner Anstrengungen, die Intersubjektivität erst an das Subjekt heranzutragen. Die Auseinandersetzung mit dem Anderen beginnt bereits im Ich. Zweitens, wenn der Appell des Anderen ein Anspruch im doppelten Sinne ist, Ansprechen und Forderung,46 dann ist die Interaktion bereits ethisch grundiert. Das Ich kann sich in der Position des Antwortenden nicht ersetzen lassen: weder durch andere Andere, noch durch universalisierbare Rollen. Normative Ansprüche kommen nicht zu einem Erkenntnisakt hinzu, sondern die epistemologische Dimension verschmilzt mit der ethischen. „Die Ethik ist eine Optik“47. Levinas’ gebrochene Ontologie ethischer Intersubjektivität, deren Grundzüge ich in Erinnerung gerufen habe, ist Phänomenologen mittlerweile wohl bekannt. Die aus ihr resultierende prä-normative Verantwortung, die sich nicht durch juridische Zuschreibungen beschränken lässt, trifft nun im sozialen Raum auf den Dritten. Der Dritte ist bei Levinas, ähnlich wie bei Lacan, eine Doppelfigur. Zum einen unterhält er, insofern er dem Ich ein Anderer sein kann, eine ebenso radikale Beziehung zum Ich wie der Andere. Das Ich steht ihm gegenüber in einer Relation unendlicher Verantwortung. Daraus folgt die Notwendigkeit eines „Gleichsetzen[s] des Nicht-Gleichen“ 48. Die in der elementarethischen Beziehung zum Anderen und zum Dritten auftretenden Ansprüche müssen verglichen werden, auch wenn sie sich ihrem Wesen nach dagegen sträuben. Zugleich repräsentiert der Dritte aber das Gesetz, die Institutionen und die symbolische Ordnung. Wie bei Lacan ist die intersubjektive Dyade ohne Rekurs auf einen Dritten nicht zu haben.49 Zusammengenommen rufen beide Momente des Dritten einen Widerstreit – im Sinne der Struktur, die von Jean-François Lyotard analysiert wurde50 – hervor, der sich nicht mit Rekurs auf eine Vernunftordnung schlichten lässt, da diese selbst erst mit dem Dritten auf den Plan tritt. Ganz wie Lacan die Bedeutung des Symbolischen für die imaginäre Dyade hervorhebt, kann sich Levinas nicht mit einer Beschränkung auf die ethische dyadische Ebene zufrieden geben. Zen-
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trale Momente dessen, was Intersubjektivität ausmacht, blieben unberücksichtigt. Erst die Figur des Dritten erlaubt es, die Konflikthaftigkeit intersubjektiver Relationen mit einer Theorie des Subjekts zu verknüpfen, ohne begriffliche Verschleifungen hinnehmen zu müssen. „Der Dritte führt einen Widerspruch in das Sagen ein, dessen Bedeutung bis dahin nur in eine einzige Richtung ging. Von selbst findet nun die Verantwortung eine Grenze, entsteht die Frage: ‘Was habe ich gerechterweise zu tun?’“51 Der Verantwortung, deren Bürde sich dem Ich in der Dyade auferlegt hat, wird vom Dritten eine Grenze gezogen. Aber diese Limitierung der Verantwortlichkeit ist nicht problemlos, weil sie Ungerechtigkeiten gegenüber dem Anderen schafft, dessen Anspruch unendlich ist. Die Gerechtigkeit ist mit Ungerechtigkeiten verknüpft, oder anders gesagt: die Frage nach Gerechtigkeit tritt gerade dort auf, wo Ungerechtigkeiten unvermeidlich sind. Normativität ist nicht durch einen rationalen Universalisierungsvorgang zu gewinnen, sondern wirft Widerstreite erst auf. Die Widerstreite, denen sich die Subjekte ausgesetzt sehen, sind mit einer Theorie des Dritten keineswegs erledigt. Aber es ist auf diese Weise eine problemgerechte Beschreibung erreicht, die sowohl Spielraum für die Aggression des Subjekts und seine Kreativität lässt, sie aber versteht als Antwort auf den Anderen. Denn auf den Anspruch des Anderen unter der Ordnung des Dritten zu antworten, heißt nicht, mit einer bestimmten Handlung zu rechnen, sondern lediglich eine Struktur anzugeben, der diese Handlung folgt. Zugleich ist das Normierungspotential des gesellschaftlichen Kontextes und der Zurichtung durch soziale Zwänge nicht ausgeblendet. Es wird lediglich behauptet, dass sie weder das Subjekt zur Gänze einzubinden in der Lage sind, noch dass umgekehrt die „reine“ Intersubjektivität von solchen gesellschaftlichen Zuschreibungen ganz frei zu halten ist. Wenn Intersubjektivität sich aus einer elementaren, asymmetrischen Konfrontation mit dem Anderen speist, lässt sich aus dieser allein keine Sozialität gewinnen, ebenso wenig wie aus einem dyadischen affect atunement oder einem relationalen Harmoniestreben. Der Bezug auf eine Andersheit, die sich dem Schema der dyadischen Gleichordnung entzieht, erlaubt jedoch ihrerseits, die Motivation und den Ansatzpunkt für Normativität überhaupt in intersubjektiven Relationen zu lokalisieren. Mit dem Dritten erschließt sich das, was Normativität, was Gerechtigkeit heißen kann, als ein Widerstreit, den es zunächst zu beschreiben und nicht gleich zu schlichten gilt.
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Versteht man Intersubjektivität als eine triadische Struktur, so geht damit eine zweifache Perspektivverschiebung einher. Einerseits lässt sich mit der strukturalen Psychoanalyse Lacans und der elementaren Ethik Levinas’ das Subjekt als eines verstehen, das nie ganz bei sich selbst ist und in dessen Kern Andersheit bereits beginnt. Identität ist dann eine nachträgliche Zuschreibung, die stets prekär bleibt und deren Hypostasierung zum Wahn tendiert. Andererseits wird die Beobachterperspektive auf Intersubjektivität aufgegeben, die den kognitivistischen Ausgangspunkten sozialwissenschaftlicher Intersubjektivitätstheorien innewohnt. Wenn „ich“ in der Vorladung durch den Anderen nicht ersetzbar bin, wie es bei Levinas geheißen hatte, so wird eine Beschreibung von außen, von der Position eines Dritten, diese Relation systematisch verfehlen. Das bedeutet, dass der Andere kein Medium zur Selbstvergewisserung des Ichs darstellt und der Dritte nicht von der intersubjektiven Dyade losgelöst, sondern selbst in diese verwickelt ist. Anmerkungen: 1
Dass damit auch eine theoretische Sackgasse gemeint sein kann, an deren Ende sich ein Wendehammer befindet, wäre eine pessimistischere Deutung. 2 Es ist der Kontingenz der Textherstellung geschuldet, aber hinsichtlich des Erkenntnisziels sicherlich bezeichnend, dass sich der Umfang der Abschnitte jeweils verdoppelt. 3 Vgl. R. Bernet, I. Kern u. E. Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. Hamburg 1989, 146-148 sowie H. B. Schmid: Subjekt, System, Diskurs. Edmund Husserls Begriff transzendentaler Subjektivität in sozialtheoretischen Bezügen. Dordrecht, Boston, London 2000, 91, 151 f., 271, 276. 4 D. Zahavi: Husserl und die transzendentale Intersubjektivität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik. Dordrecht, Boston, London 1996 sowie ders.: Husserl’s Phenomenology. Stanford 2003, 77, 106. 5 St. A. Mitchell: Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse. Übers. v. Martin Altmeyer. Gießen 2003, 24. 6 Ebd., 28. 7 Vgl. zu einer Diskussion von Honneths Theorie vor diesem Hintergrund Th. Bedorf: Zu zweit oder zu dritt? Intersubjektivität, (Anti-)Sozialität und die Whitebook-Honneth-Kontroverse. In: Psyche 58 (2004), 991-1010. 8 Zur Diskussion um das konfliktreiche Verhältnis von Entwicklungsforschung und Psychoanalyse vgl. die Doppelnummer 9/10 der Psyche 56 (2002). 9 M. Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt/M. 1993, 161. 10 Ebd. Bereits hinsichtlich dieser empirischen Erhebungen wäre zu diskutieren, inwiefern die „primäre Beziehung“ tatsächlich eine symmetrische ist. Vgl. J. Laplanche: „Ausgehend von der anthropologischen Grundsituation…“. Übers. v. P.
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Passett. In: L. Bayer u. I. Quindeau (Hg.): Die unbewußte Botschaft der Verführung. Interdisziplinäre Studien zur Verführungstheorie Jean Laplanches. Gießen 2004, 1730. 11 A. Honneth: Facetten des vorsozialen Selbst. Eine Erwiderung auf Joel Whitebook. In: Psyche 55 (2001), 790-802, hier: 800. 12 The Boston Change Process Study Group (CPSG), Nadia Bruschweiler-Stern u.a.: Das Implizite erklären: Die lokale Ebene und der Mikroprozeß der Veränderung in der analytischen Situation. In: Psyche 58 (2004), 935-952, hier: 938. 13 S. Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. In: GW VIII, 376-387, hier: 377. 14 Boston CPSG, Das Implizite erklären, 939. 15 Ebd., 937. 16 Ebd., 943. 17 Ebd., 948. 18 Ebd., 950. 19 Vgl. Mitchell, Bindung und Beziehung, 101. 20 Ebd., 105. 21 Ebd., 107. 22 Wie zu zeigen sein wird, hängt Entscheidendes davon ab, die Dyade nicht als reziproke zu denken. Ein anderer als der im folgenden mit Lacan und Levinas eingeschlagene Weg wäre jener der „Allgemeinen Verführungstheorie“ Jean Laplanches, in der der Andere nicht nur „führt“, sondern auch „verführt“, d.h. sowohl seduktiv agiert als auch die Leitung des Ichs verfehlt. Vgl. J. Laplanche: Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Übers. v. G. Gorhan. Tübingen 1988; sowie die Aufsätze in dem bereits erwähnten Band von L. Bayer u. I. Quindeau (Hg.): Die unbewußte Botschaft der Verführung. Gießen 2004. 23 Plessner berichtet in seinen Erinnerungen an Scheler, dass dieser „den Satz vom ausgeschlossenen Dritten seinen Zuhörern so nahe zu bringen wußte, dass sie mit dem Dritten geradezu Mitleid bekamen.“ H. Plessner: „Erinnerungen an Max Scheler“. In: Ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge. München 2001, 337-346, hier: 346. 24 Vgl. Th. Bedorf: Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem. München 2003, 173 ff. 25 J. Greenberg: Oedipus and Beyond: A Clinical Theory, Cambridge/Mass., London 1991, 80. 26 M. Ermann: Die Fixierung in der frühen Triangulierung. Zur Dynamik der Loslösungsprozesse bei Patienten zwischen Dyade und Ödipuskomplex. In: Forum Psychoanalyse 1 (1985), 93-110, hier: 94. 27 L. Schon: Entwicklung des Beziehungsdreiecks Vater-Mutter-Kind. Triangulierung als lebenslanger Prozeß. Stuttgart, Berlin, Köln 1995, 50. 28 Vgl. H. Lang: Im Anfang waren es drei – das Konzept der ‚strukturalen Triade’ oder der Ödipuskomplex heute. In: Ders., Strukturale Psychoanalyse. Frankfurt/M. 2000, 156-172. 29 J. Mitchell: Psychoanalyse und Feminismus. Freud, Reich, Laing und die Frauenbewegung. Übers. v. B. Stein u. H. Fliessbach. Frankfurt/M. 1976, 456. 30 J. Lacan: Le séminaire de Jacques Lacan. Livre V. Les formations de l’inconscient. 1957-1958. Texte établi par J.-A. Miller. Paris 1998, 286. 31 Ebd., 179. Es ist hilfreich, dass Lacan des öfteren Klarheit schafft, indem die Unterscheidung von imaginärem (kleinem) anderen und symbolischem (großen) Anderen terminologisch im Begriff des Dritten ihren Niederschlag findet. Vgl. etwa J. Lacan: „Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht“. Übers. v. Ch. Creusot u. N. Haas. In: Ders., Schriften II. Ausgew. u. hrsg. v. N. Haas. Weinheim 3. Aufl. 1991, 61-117, hier: 111.
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Dies wäre dahingehend zu präzisieren, dass Dyade und Triade, Imaginäres und Symbolisches sich bei Lacan vielfach überlagern (Vgl. Bedorf, Dimensionen des Dritten, 261 ff.). Doch zur Profilierung der Funktion des Dritten mag diese Verkürzung hier erlaubt sein. 33 J. Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch IV: Die Objektbeziehung. 1956-1957. Text eingerichtet durch J.-A. Miller. Übers. v. H.-D. Gondek. Wien 2003, 238. 34 Vgl. J. P. Muller: Beyond the Psychoanalytic Dyad: Developmental Semiotics in Freud, Peirce, and Lacan. New York, London 1996, 14 u. 70. 35 J. Lacan, Das Seminar von Jacques Lacan. Buch IV: Die Objektbeziehung. 1956-1957, 214. 36 Vgl. G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, Bd. II. Hrsg. v. O. Rammstedt. Frankfurt/M. 1992, 114 ff. 37 Vgl. T. Allert: Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform. Berlin, New York 1998. 38 Vgl. K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg 2002, 245 ff.; M. Serres: Der Parasit. Übers. v. M. Bischoff. Frankfurt/M. 1981, 11-45, 81-87; B. Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt/M. 1994, 293 ff. 39 Vgl. J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Übers. v. H. Schöneberg u. T. König. Reinbek 1993, 725 ff. 40 Dies gilt zumindest für die maßgeblichen Hauptwerke Sartres. Inwieweit diese Einschätzung hinsichtlich der letzten Äußerungen Sartres revidiert werden muß, habe ich an anderer Stelle untersucht (vgl. Th. Bedorf: Der blinde Philosoph des Blicks oder Ob der späte Jean-Paul Sartre als Levinasianer anzusehen sei. In: Phänomenologische Forschungen 8 (2004), 113-132). 41 E. Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Übers. v. Th. Wiemer. Freiburg, München 2. Aufl. 1998, 283. 42 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übers. v. R. Boehm. Berlin, New York 1974, 283. 43 E. Levinas, Jenseits des Seins, 282. 44 S. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: GW XV, 64. 45 E. Levinas, Jenseits des Seins, 310 f. 46 Vgl. B. Waldenfels, Antwortregister, 560. 47 E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übers. v. W. N. Krewani. Freiburg, München 1987, 23. 48 F. Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: Ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemässe Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. Berlin, New York 1980, 873-890, hier: 880. 49 Für eine ausgearbeitete sozialphilosophische Theorie des Dritten müßte die Lacansche Verschränkung von Dyade und Triade gegenüber Levinas’ Emphase der fundamentalen Alterität gestärkt werden (vgl. Bedorf, Dimensionen des Dritten, 355 ff.). Kontexthalber belasse ich es hier bei einer Skizze. 50 Vgl. Th. Bedorf: Hat der Widerstreit einen Dritten? Über Konsequenzen aus Inkommensurabilitäten. In: B. Liebsch u. J. Straub (Hg.): Lebensformen im Widerstreit. Integrations- und Identitätskonflikte in pluralen Gesellschaften. Frankfurt/M., New York 2003, 465-489. 51 E. Levinas, Jenseits des Seins, 343.
Anschluss verpasst? Husserls Phänomenologie und die Systemtheorie Luhmanns Christian Bermes, Universität Trier Zusammenfassung: Die Systemtheorie Niklas Luhmanns entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem universalen Theorieentwurf, der weit über den engeren Bereich der Soziologie hinaus seine Wirkung entfaltet hat. Die Systemtheorie kann zwischenzeitlich auf eine breite Rezeption in den Einzelwissenschaften – von der Pädagogik bis hin zur Jurisprudenz – verweisen. Bei der Entwicklung und Formierung dieser Theorie spielt die Husserlsche Phänomenologie in ihrer transzendentalen Variante eine ausgezeichnete Rolle, insofern Luhmann in der Phänomenologie eine ‚Technik’ entdeckt, die nicht nur dazu dient, die ‚Funktionsweise’ des Bewusstseins verständlich zu machen, sondern auch dazu ‚benutzt’ werden kann, die Gesellschaft als Kommunikationssystem im Unterschied zum Bewusstsein zu beschreiben. Der Beitrag skizziert den kritischen Rekurs Luhmanns auf die klassische Philosophie und seine Würdigung der Phänomenologie, um im Anschluss daran zu erläutern, wie die Husserlschen Überlegungen in die Systemtheorie integriert werden, und schließt mit einer Diskussion der Methodik Luhmanns und Ausführungen zu den Grenzen der Systemtheorie.
Mit Geld ist man anschlussfähig, ohne Geld ist man zur Reflexion verdammt. Diese These vertritt mehr oder weniger deutlich Niklas Luhmann in seinen Überlegungen zum System der Wirtschaft. Anschlussfähigkeit bedeutet im Falle der Wirtschaft schlicht, dass bei einer Geldzahlung der „Empfänger mit dem Geld etwas anfangen kann“, das Spiel also weiter geht und zukünftige Möglichkeiten im Wortsinne kalkulierbar werden. Liegt keine Zahlung vor, wird die Anschlussfähigkeit also nicht realisiert, dann ist der Befund der Nichtzahlung nach Luhmann doch nicht nichts, sondern als ein eigener Wert, nämlich als „Reflexionswert“ zu deuten: Er dient immerhin oder schließlich „zur Überprüfung der Frage, ob gezahlt werden soll oder nicht; und gegebenenfalls der Reflexion auf die Gründe für das Ausbleiben der Zahlung.“1 Bei Geldmangel, so könnte man vielleicht überspitzt sagen, wird man zum Erkenntnistheoretiker und Philosophen. Mit Luhmann ist nicht nur der Topos der Anschlussfähigkeit populär geworden, sein gesamter theoretischer Entwurf entwickelte sich in 18 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 18–37. © 2006 Springer.
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den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einem Theorieangebot, das die unterschiedlichsten Disziplinen von der Pädagogik über die Jurisprudenz bis hin zur Theologie gern aufnehmen. Die Systemtheorie Luhmanns gehört zu den wissenschaftlichen Großprojekten, die zumindest im deutschsprachigen Raum weit über die Soziologie hinaus ihre Spuren hinterlassen hat und sich anschickt, sich zu einer Universaltheorie der Wissenschaften, zumal der Human- und Geisteswissenschaften, zu entwickeln.2 In diesem Sinne artikuliert sich in der Systemtheorie eine bestimmte Haltung, Einstellung oder Optik, 3 die sich – so ein früher Aufsatztitel Luhmanns – als Soziologische Aufklärung4 darstellt. Soziologie, so heisst es dort, „ist nicht angewandte, sondern abgeklärte Aufklärung“.5 Als „Abklärung der Aufklärung“ läuft die Soziologie Luhmannscher Provenienz „auf ein Reflexivwerden des Aufklärens hinaus“, insofern sie sich auf sich selbst verpflichtet weiss, sie sich also nicht auf anderes im Sinne eines Vorurteils oder einer Ausrede stützt.6 Der Vernunftaufklärung des 18. Jahrhunderts, die noch einem Subjekt verpflichtet war, und den entlarvenden Aufklärungen des 19. und 20 Jahrhunderts, die hinter der subjektiv verankerten Vernunft immer wieder geheime und anonyme Mächte – sei es wie bei Marx die Ökonomie, bei Dilthey die Geschichte oder bei Freud der Trieb – zu entdecken meinten, folgt nun die soziologische Aufklärung, die nicht mehr anderes, sondern sich selbst aufzuklären versucht, indem sie sich zum eigenen Thema macht und bei ihrem Beobachten beobachtet. Die Soziologie, so lernt Luhmann u.a. bei Maturana und seinen Überlegungen zur Biologie der Biologie, 7 müsse endlich begreifen, dass sie sich als Soziologie der Soziologie etabliert und stabilisiert. Bei diesem Versuch nun spielt die Husserlsche Phänomenologie von Anfang an eine prominente und ausgezeichnete Rolle. Dies soll im Folgenden dargestellt werden, indem in einem ersten Abschnitt Luhmanns kritischer Rekurs auf die Philosophie und seine positive Würdigung Husserls erläutert wird. In einem zweiten Abschnitt soll anhand einiger Beispiele die Luhmannsche Aufnahme, aber auch Umdeutung phänomenologischen Gedankenguts dargestellt werden, um in einem dritten Teil zu fragen, welche Konsequenzen sich daraus für die Phänomenologie und die Philosophie ergeben. Denn die Systemtheorie scheint sich nicht nur als ein neues Paradigma der Soziologie etablieren zu wollen, sie tritt auch in Konkurrenz zur Philosophie,
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zumindest konkurriert sie mit einem bestimmten Bild oder Begriff der Philosophie. Luhmanns Kritik der Philosophie und die Würdigung Husserls In der Gesellschaft der Gesellschaft, Luhmanns letztem großen Werk, das seine Untersuchungen, die in den 60er Jahren begonnen haben, abschließt, kommt er auf den Punkt. Er wage mit seiner Theorie einen „Übergang zu einem radikal antihumanistischen, einem radikal antiregionalistischen und einem radikal konstruktivistischen Gesellschaftsbegriff“.8 Anstelle von Menschen ist von Systemen zu sprechen, im Gegensatz von Staaten und Nationen ist die Welt das Thema, und die Realität oder Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Diese Topoi können gleichsam als Eckpunkte der Systemtheorie angesehen werden. Denn es bleibe angesichts der modernen Entwicklungen nur die Möglichkeit, den Menschen jenseits aller regionalen Spezifikationen und ontologischen Vorurteile „voll und ganz, mit Leib und Seele, als Teil der Umwelt des Gesellschaftssystems anzusehen“. 9 Der Mensch ist nicht Teil der Gesellschaft, sondern Teil der Umwelt der Gesellschaft als System. Die bisherige Soziologie konnte nach Luhmann keinen Schritt vorankommen, da sie sich ihres eigenen Gegenstandes nicht sicher war. 10 Das Gesellschaftliche wurde immer wieder – zumeist über die nach Luhmann marode Brücke des Handlungsbegriffs11 – auf den Menschen als letzten Ankerpunkt bezogen. Doch die Gesellschaft ist nach Luhmann nicht die Summe der Menschen noch das Produkt, das aus dieser Summe durch Handlungen entstehen kann,12 sondern die Kommunikation, die bestimmt, was das Mensch-Sein bedeutet. In dieser Kommunikation taucht der Mensch als Mensch nicht auf, da sich die Kommunikation auf sich selbst bezieht. Die Kommunikation denkt Luhmann als eine selbstbezügliche Operation, die sich durch Unterscheidungen etabliert und stabilisiert. „Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren.“13 Luhmann empfiehlt – Husserls „Blickwendung“ bzw. Epoché durchaus verwandt – ein „Wendemanöver“14. Der Bezugspunkt der Theoriebildung, der Referenzpunkt der Systemtheorie ist nicht der Mensch (und auch nicht dessen Derivate wie das Subjekt, der Geist oder die Vernunft), sondern die Kommunikation. 15 Dies bedeutet
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nicht, dass der Mensch oder das Bewusstsein nicht als Träger der Kommunikation anerkannt würden,16 dies bedeutet auch nicht, dass die Existenz des Menschen oder der Menschheit geleugnet würde, es bedeutet vielmehr, dass der Mensch am Rande der Kommunikation, in der Umwelt des gesellschaftlichen Systems seinen Platz findet, der Bezugspunkt der Sinnbildung jedoch auf bzw. in die Kommunikation verlegt wird. Kommunizierend greift die Kommunikation auf sich selbst zurück, etabliert dadurch eine Differenz, die es erlaubt, zwischen ihr und anderem zu unterscheiden – und sozusagen das erste Andere als die Umwelt des Systems der Kommunikation ist der Mensch. Habermas hat diesen Ansatz als einen „methodischen Antihumanismus“ gekennzeichnet, dessen Vorbild der „Aktenfluss zwischen Ministerialbehörden und das monadisch eingekapselte Bewusstsein eines Robinson“ liefere.17 Die Theorie Luhmanns präsentiere sich als „die Hochform eines technokratischen Bewusstseins“.18 Doch unabhängig von dem impliziten Leitbild, das Luhmann vielleicht tatsächlich vor Augen hatte, ist die systematische These eindeutig. Die Krise der Soziologie, die Luhmann diagnostiziert, ist eine Theoriekrise, die nicht zuletzt darin besteht, dass sowohl das Subjekt als auch das Objekt der Theorie verkannt wurden, ja, dass es bislang zu keiner Theorie gekommen ist.19 Und wie es sich bei Krisendiagnostikern gehört, so wird auch hier die Therapie gleich mitgeliefert. Es ist von dem Menschen, der Menschheit oder der Gesellschaft als einem Handlungsraum in der Soziologie abzusehen,20 um das System der Kommunikation als Bezugspunkt der Theoriebildung allererst zu erkennen. Vor diesem Hintergrund ist Luhmanns Abneigung gegenüber jeder Form von ‚Subjektphilosophie’ zu begreifen. Überhaupt fällt auf, dass Luhmanns Blick auf die Philosophie in erster Linie ein substantialisiertes Ich ausmacht, das als Verhängnis gedeutet wird. Philosophie reduziert sich für und bei Luhmann im wesentlichen auf ein sich selbst verschließendes egologisches Denken, dem auch nicht durch die Einführung der Kategorie der ‚Intersubjektivität’ geholfen werden kann. 21 Die klassische Transzendentalphilosophie blockiert nach Luhmann den „autologischen Rückschluss auf sich selbst“, sie verhindert durch den Bezug auf ein transzendentales Subjekt, „dass die Bedingung der Erkenntnis durch die Ergebnisse der Erkenntnis in Frage gestellt“ wird.22 Die Transzendentalphilosophie setzt mit dem transzendentalen Subjekt sozusagen ein Stoppschild und bringt so den offen-endlosen
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Prozess der Systembildung zum Erlahmen. Der Vorwurf Luhmanns gegenüber diesen Konzepten besteht dementsprechend darin, dass sie zwar den Prozess der Erkenntnis gegenüber der ontologischen Fixierung des Erkannten in den Vordergrund gerückt haben, dass sie aber einen hohen Preis dafür bezahlen: Das Subjekt bleibt von dieser Prozessualisierung ausgenommen, es blockiert unter dem Titel ‚transzendentales Subjekt’ als einem Substanzbegriff die Anwendung der Transzendentalphilosophie auf sich selbst.23 Es ist offensichtlich, dass diese Kritik nicht neu ist, sondern in den unterschiedlichsten Philosophien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bereits durchgespielt wurde, indem das Transzendentale mehr und mehr in den weltanschaulich historischen oder subjektiv genetischen Prozess überführt wurde. Doch unabhängig davon gehört es sicherlich zu den eigentümlichsten und vielleicht auch zu den mysteriösesten Eigenheiten der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte, dass Luhmann, der sich so vehement gegen das Subjekt ausspricht, doch mit Nachdruck die Einbindung der Husserlschen Phänomenologie in sein Projekt betreibt.24 Von Beginn seiner noch tastenden Überlegungen zur Systemtheorie in den späten sechziger Jahren bis zur Ausformulierung des Projekts in den 90er-Jahren bleibt Husserl ein Gewährsmann seiner Überlegungen.25 Es ist wohlgemerkt der Husserl der Transzendentalphänomenologie, nicht der frühe, ontologisierende Husserl, den Luhmann für sein Vorhaben zu gewinnen versucht. Geradezu abwertend äussert er sich auch zu der Sozialphänomenologie, die sich etwa bei Schütz u.a. findet. Solches qualifiziert Luhmann schlicht als „flach“, von Theorie könne keine Rede sein, und wenn, dann beschränke sie sich auf den Satz: „Man hat’s gesehen und beschreibt es nun.“26 Im Gegensatz dazu ist es gerade die transzendentale Variante der Husserlschen Phänomenologie, in der Luhmann, „antihumanistische oder jedenfalls antianthropologische Tendenzen“ 27 ausfindig macht und deren Wert er nicht zuletzt darin sieht, dass sie nicht „zu letztgewissen Evidenzen“ führt, sondern zu einer „methodischen Technik“, die „alle Evidenzen in Probleme“ verwandelt.28 Es wird bereits hier deutlich, dass Luhmann erstens das Instrumentarium der transzendentalen Phänomenologie von seinem Träger, aber auch von allen Gehalten löst, um sie vom Bewusstsein auf die Kommunikation zu transferieren.29 Zweitens wird ersichtlich, dass er in der Phänomenologie keine Philosophie sieht, deren Ziel es ist, sichere Erkenntnisse zu ge-
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winnen, er erblickt darin vielmehr ein Philosophieren, das jede (vermeintliche) Erkenntnis in ein Problem verwandelt. Nicht das Erzielen von Gewissheiten, sondern das Generieren von Problemen sei das Ziel der Phänomenologie. Diese Sicht der Dinge findet sich ebenso in Luhmanns Rede Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie,30 die er am 25. Mai 1995 in Wien vorgetragen hat, also fast auf den Tag genau 60 Jahre nach Husserls Rede Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie31 vor dem Wiener Kulturbund am 7. und 10. Mai 1935. In dieser Rede, die gleichsam als Luhmanns Credo hinsichtlich der Phänomenologie angesehen werden kann, wird ersichtlich, warum die Systemtheorie auf Husserl zurückgreift und wie sie Anschluss zu finden versucht an die Transzendentalphänomenologie. 32 Mensch oder Methode – zwei Wiener Vorträge Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, den Husserlschen Vortrag aus dem Jahre 1935 en détail zu problematisieren. Im Vordergrund werden die Luhmannschen Ausführungen zu Husserl stehen müssen. Luhmann geht in seiner Husserl wiedergewinnenden, damit aber auch die Phänomenologie transformierenden Lektüre in drei Schritten vor, wobei sich zu Anfang zeigt, dass er sozusagen als der bessere Husserl aufzutreten versucht. Er beginnt mit einer Reinigung der Phänomenologie von Vorurteilen der Zeit, es folgt eine Säuberung der Phänomenologie von theorieinternen Missverständnissen, um dann den verbleibenden Rest, sozusagen die reine Phänomenologie, vom Bewusstsein auf die Kommunikation zu transferieren. Die Reinigungsstrategie besteht darin, all das, was aus der „kommunikativen Situation“ der 30er-Jahre stammt, zu entfernen. 33 Hierzu gehören erstens die politische Lage, zweitens Husserls Orientierung an der Menschheit, aber auch drittens Husserls Auffassung der Technik. Die Rede von Europa und von Nationen, wie sie bei Husserl anzutreffen ist und die ein mehr als feuilletonistisches Thema seiner Zeit aufgreift,34 könne heutzutage nicht mehr akzeptiert werden, da es zweifelhaft geworden sei, „ob der Staat, eine europäische Erfindung, überhaupt ein geeignetes Ordnungsmodell ist für Territorien, die von ethnischen, tribalen oder von religiösen Konflikten geprägt sind“.35 Zudem hätten neue Problemfelder – wie etwa die Ökonomie und
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Ökologie – die Diskussion besetzt, und es komme zu einer Auflösung traditioneller Sozialstrukturen wie der Familie. Schließlich könne die Technik nicht mehr, wie noch Husserl dachte, an dem Paradigma der Wissenschaft gemessen werden, da gezeigt werden könne, dass die „Technikentwicklung sich bei der Lösung ihrer eigenen Probleme in der Regel nicht auf eine bereits vorhandene wissenschaftliche Erkenntnis“ stützt.36 Die politische Lage, der Begriff der Menschheit und die Technik erscheinen Luhmann dementsprechend als in dem Husserlschen Text enthaltene Zeitphänomene, die man hinter sich lassen müsse. Doch Luhmann geht weiter, der Reinigung im Großen folgt eine Säuberung im Kleinen. Denn er verwirft nicht nur die vermeintlich zeitbedingten Überreste, er versucht „einige Eigentümlichkeiten“ 37 der Husserlschen Theorie herauszustellen, die einem seiner Ansicht nach antiquierten Konzept der Philosophie geschuldet sind und die Theorie als Theorie verunstalten. Hierzu gehören Husserls Eurozentrismus, sein Begriff der Kultur, aber auch seine Berufung auf die Tradition. Husserl spricht für heutige Ohren sicherlich nicht politisch korrekt, wenn er in seinem Wiener Vortrag die Frage stellt, wie die „geistige Gestalt Europas“ zu charakterisieren sei und darauf verweist, dass in diesem geistigen Sinne „offenbar die englischen Dominions, die Vereinigten Staaten usw. zu Europa gehören, nicht aber die Eskimos oder Indianer der Jahrmarktsmenagerie oder die Zigeuner“. 38 Auch zucken vielleicht einige zusammen, wenn Husserl – um klare Worte nicht verlegen – darauf aufmerksam macht, dass Europa auch für andere ein Leitbild sei, sich „zu europäisieren, während wir, wenn wir uns recht verstehen, uns zum Beispiel nie indianisieren werden“. 39 Luhmann erkennt hierin einen eingeschränkten Blick, der nicht zu sehen vermag, dass „europäische Traditionen allmählich in anders strukturierte weltgesellschaftliche Verhältnisse aufgehen könnten“. 40 Derartiges erscheint ihm „unglaubwürdig“ und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg obsolet. Auf Husserls Verweis, dass die Philosophie sich als ein Kulturphänomen artikuliert und die Kultur der Vergangenheit nicht nur übernimmt, sondern transformierend weiterträgt, reagiert Luhmann mit der Historisierung des Kulturbegriffs, insofern dieser als Erfindung des späten 18. Jahrhunderts noch sein Unwesen bei Husserl treibt und der Suche nach einer „Abschlussformel“, die Luhmann fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, Vorschub leistet. Mit derselben Strategie der
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Historisierung verwirft Luhmann Husserls Rekurs auf die Tradition und die sich in dieser Tradition artikulierende Teleologie einer Vernunftentwicklung, d.h. einer Entwicklung von der Rationalität der Lebensverhältnisse zur Rationalität der Wissenschaft (im Singular!) und deren Integrationsleistung. Hier wird der Theoretiker Luhmann doch wieder zum einfachen Soziologen, wenn er dazu bemerkt: „Das sind, wie Analysen einer historischen Semantik nachweisen können, Temporalstrukturen einer Adelsgesellschaft, die aus dem Ursprung einer Stadt oder eines Adelsgeschlechts Anforderungen an die Tugend der gegenwärtig Lebenden ableiten und deshalb die Vergangenheit nicht als entschwunden und die Zukunft nicht als offen behandeln konnte.“41 Luhmann erklärt den Geheimrat Husserl zu einem Adligen, um die Tradition aus dem Theoriegerüst der Phänomenologie zu verbannen. Nachdem Luhmann nun das Feld bereinigt und gesäubert hat, er die politische Lage, den Husserlschen Technikbegriff, seine Orientierung am Menschen, die Überlegungen Husserls zur europäischen Identität, seinen Kultur- und Traditionsbegriff in das Museum der Philosophie verbannt hat, ist zu fragen, was von Husserl eigentlich noch übrig bleibt. Die Antwort Luhmanns ist einfach: Es geht um die Theorie der Phänomenologie als einer transzendentalen Theorie42 – und um nichts anderes: „Das heißt im vorliegenden Fall: Wir müssen die eigentümliche Fusion von historischer und transzendentaler Argumentation, von Genesis und Geltung, die Husserls Spätwerk auszeichnet, wiederauflösen. Sie ist nur durch die Zeitumstände erklärbar, also durch Husserls Versuch, eine Antwort auf die Selbstgefährdung des neuzeitlichen Europa zu finden.“43 Luhmann isoliert die Phänomenologie von ihren Gehalten, und er befreit sie von dem vermeintlichen Hemmschuh des transzendentalen Subjekts. Zwar weiss auch Luhmann, dass Husserl an diesem Subjekt gelegen war, doch der Reiz der Theorie erschließe sich erst, wenn man sich dieser Selbstblockade entledige und die Grundstrukturen des Bewusstseins an und für sich betrachte. Neben der Reinigung von überflüssigen oder überkommenen Gehalten und der Säuberung von theoriefremden Bestandteilen, ist es dieser Schachzug der Selbstbefreiung der Phänomenologie vom Subjekt und des anschließenden Transfers des Theoriegerüsts vom Bewusstsein auf die Kommunikation, den Luhmann exekutiert. Wird doch die „Härte des Abschieds vom transzendentalen Subjekt“ gemildert, „wenn man überlegt, ob es möglich
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ist, das Bewusstsein als Medium der Bildung von Formen wegzulassen und trotzdem die von Husserl entdeckte Struktur beizubehalten.“ 44 Es muss von der Husserlschen Beschreibung, die auf das Bewusstsein bezogen bleibt, „abstrahiert werden“, um „in Richtung auf übergreifende Gültigkeit für personale und soziale Systeme zu abstrahieren. Das heisst: Begriffe wie Intention, Verweisung, Erwartung, Erleben, Handeln bezeichnen […] Elemente bzw. Strukturen, die sowohl zu psychischen als auch zu sozialen Systemen aufgeordnet werden“. 45 Die Begriffe wandern, sie vagabundieren. Luhmanns Theorie, so greift er Husserls Rede von den Zigeunern auf, ist eine vagabundierende Theorie, eine Theorie der Zigeuner, die keinen Aufenthaltsort kennt: „Selbstkritische Vernunft ist ironische Vernunft. Sie ist die Vernunft der ‚Zigeuner, die dauernd in Europa herumvagabundieren’“.46 Doch es ist noch einmal zu fragen, und Luhmann stellt die Frage selbst: „Aber was bleibt dann zurück?“47 Nun, es bleiben im Wesentlichen die Ausdrücke der Phänomenologie erhalten, die jedoch jetzt eine neue Bedeutungsdimension entfalten, indem sie nicht mehr nur für das Bewusstsein, sondern auch für die Kommunikation gelten. Bewusstsein und Kommunikation sind in dem Sinne autonom, dass jedes System sich unabhängig vom anderen reproduziert; Bewusstsein und Kommunikation sind jedoch nicht autark, da das Funktionieren der Kommunikation das Funktionieren des Bewusstseins voraussetzt. Luhmann also spricht über das Bewusstsein, wie Husserl gesprochen hat (zumindest meint er dies). Doch im Gegensatz zu Husserl entdeckt er gleichsam eine neue absolute Seinsregion, das System der Kommunikation, worin dieselben Funktionen angetroffen werden. 48 Im Einzelnen bedeutet dies Folgendes: Luhmann versteht etwa unter der Intention „das Setzen einer Differenz, das Treffen einer Unterscheidung“, die sich in der Kommunikation vollzieht.49 Der Husserlsche Begriff des Lebens oder Erlebens bedeutet ihm „eine rekursive Erzeugung und Reproduktion“,50 die nicht nur das Bewusstsein, sondern auch die Kommunikation auszeichnet – jedoch als getrennt voneinander prozessierende Systeme. Die Unterscheidung zwischen Noesis und Noema nutzt Luhmann, um sie in die kommunikative Unterscheidung zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz zu transformieren. Es komme dadurch „ein ständiges Oszillieren“ zwischen diesen beiden Polen zustande, welches verhindert, „dass das Bewusstsein jemals sich in der Welt verliert oder in sich selbst zur Ruhe kommt“.51
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Und unter der Epoché versteht Luhmann die Aufhebung einer „Realitätsillusion“ – Husserl sprach noch von einem ‚Realitätsglauben’ –, die mit den Konzepten des Radikalen Konstruktivismus gedeutet werden müsse und so als Aufforderung zur Anwendung der Reflexivität auf sich selbst zu verstehen sei. Bewusstsein und Kommunikation laufen in diesem Sinne nebeneinander her, sie sind in ihrem Prozessieren autonom, und sie finden ihr Wesen in der Prozessualität von Unterscheidungen, die die Wirklichkeit nicht treffen, sondern sich dadurch stabilisieren, dass sie sich gleichsam in sich selbst verstricken.52 Luhmann kennt nun nicht mehr nur das Bewusstsein, das in diesem Sinne autonom ist, es ist zugleich das System der Kommunikation (neben dem organischen Leben, zu dem er sich jedoch nicht weiter äussert), dem ein eigenes, ja absolutes Sein zugesprochen werden muss. Die Kommunikation ist die neue und absolute Seinsform der Systeme in der Systemtheorie. Luhmann oder Husserl? – Die Grenzen der Systemtheorie Hat also die Phänomenologie den Anschluss an die Systemtheorie verpasst, da Husserl nicht in der Lage war zu sehen, dass sein Instrumentarium sozusagen nur zufällig an das Bewusstsein gekoppelt ist, gleichzeitig jedoch auch, ja vielleicht sogar in erster Linie für die Kommunikation gilt? Um diese Frage zumindest deutlicher zu konturieren (eine umfassende Beantwortung müsste wesentlich weiter ausholen) sollen einige Thesen Luhmanns noch einmal vorgestellt und wenigstens im Ansatz kritisch beleuchtet werden. Der Horizont dieser Diskussion ist nun allerdings weiter zu ziehen, da nicht mehr nur die Phänomenologie, sondern die Philosophie betroffen ist. Ist es doch die Systemtheorie, die sich immer wieder über die Brücke der Phänomenologie an die Stelle der Philosophie zu setzen versucht.53 1. Begriffe ohne Widerstand Luhmanns Theorie, so die erste These, ist wortgewaltig aber sprachlos. Es wurde bereits ausgeführt, dass Luhmann Begriffe wie Intention, Verweisung, Erwartung, Erleben oder Handeln nicht mehr an den Menschen oder das Bewusstsein zurückbindet, sondern auf das
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System der Kommunikation bezieht. Luhmann geht in diesem Sinne nicht mit den Begriffen der Phänomenologie um, sondern er benutzt die Worte Husserls, um sie in einem neuen Sprachspiel, demjenigen der mehr oder weniger opak bleibenden Kommunikation, anzuwenden. Doch damit begibt er sich in die Gefahr, dass die Ausdrücke ihren Widerstand verlieren und ihre Bedeutung einbüßen. Und man ist geneigt auf Wittgenstein zu verweisen, wenn dieser in den Philosophischen Untersuchungen Disziplin im Sprachgebrauch einfordert und ausführt: „Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!“54 Es ist ein bedenkliches Unternehmen, Begriffe und Theorien beliebig von einem Gebiet ins andere zu transferieren und eine Verständlichkeit zu suggerieren, die letztlich nur als eine geborgte Verständlichkeit ihren Sinn entfaltet. Auch Merleau-Ponty hat diese ‚vagabundierende’ Wissenschaft in ihre Grenzen gewiesen. Denn diese „Handlungsfreiheit“ kann in einigen Fällen nützlich sein, doch man kommt nicht umhin, „von Zeit zu Zeit“ einen Punkt zu setzen und sich zu fragen, „warum ein Werkzeug hier funktioniert und dort versagt“.55 2. Das problematische Sein der Systeme Luhmann bemerkt lapidar, aber auch provozierend, dass seine Überlegungen davon ausgehen, „dass es Systeme gibt“. 56 Der Kommunikation kommt ein eigenes Sein zu. Doch von welchem Sein ist hier die Rede? Diese Frage beantwortet Luhmann nicht. Er entwickelt im Gegenteil seine Analysen auf die Art, dass er über Systeme spricht, wie man über Gegenstände im allgemeinen handelt. Zwischen dem Sein eines Apfels und dem Sein des Systems der Kommunikation ist kein Unterschied zu erkennen. Als Provokation, ja vielleicht sogar als Heuristik kann dies sinnvoll sein, doch im Ganzen kann ein derartiges Vorgehen nicht überzeugen, da die Untersuchungsperspektive sich unter der Hand an die Stelle der Realität setzt. Man kann dies auch pointierter ausdrücken: „Die Systemtheorie spricht, wenn sie über die Gesellschaft spricht, über sich selbst.“57 – und zwar als eine Theorie, die glaubt ihre Methode an die Stelle der Realität setzen zu können.
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3. Probleme ohne Evidenz Eine dritte Bemerkung betrifft Luhmanns Rede von der Phänomenologie als einer Technik der Problemgewinnung im Gegensatz zur Evidenzsicherung. Diese Bemerkung nun scheint mit Husserl nichts mehr gemein zu haben, der zeit seines Lebens an Gewissheiten nicht nur interessiert war, sondern sein Philosophieren auf das Aufdecken dieser Gewissheiten hin ausrichtete. Doch diese Umdeutung der Phänomenologie durch Luhmann trifft die Philosophie im Ganzen. Wird doch behauptet, dass es keine, wie Luhmann sich ausdrückt, ‚Abschlussdeutungen’ geben könne. Wer diese Position bezieht, nimmt sich selbst und die Philosophie nicht ernst. Zwar wird Luhmann vielleicht einwenden, dass ‚Abschlussdeutungen’ angesichts der empirischen und historischen Mannigfaltigkeit naiv seien. Doch die Überholung einer historischen Abschlussdeutung „war stets die Überholung eines Abschlussgedankens, der sich wieder als Abschlussgedanke verstand“. 58 „Philosophie kann auf letzte Gedanken nicht verzichten. Indem sie diese denkt, verteidigt sie den Anspruch von jedermann, seine Selbstachtung auch dann ernst zu nehmen, wenn er über ihre Funktion nachzudenken beginnt.“59 Es ist ein höchst problematisches Unterfangen, die eigene Position angesichts ihres funktionalen Kontextes nicht mehr anerkennen zu wollen. Derjenige, der einen Standpunkt einnimmt, sieht zumeist in die Ferne, er übersieht zumeist den Boden, auf dem er steht. Doch ohne dieses Fundament wäre der Blick nicht möglich. 4. Zweck vs. Rationalität Luhmann wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, den Zweckbegriff zur Beschreibung der sozialen Wirklichkeit zu benutzen. Zwecke, so bemerkt er einmal, ,verstopfen die Welt’. Wenn überhaupt, dann lässt sich der Zweckbegriff in der Systemtheorie nach Luhmann nur noch als „Funktion der Absorption von Komplexität und Veränderlichkeit denken.“60 Zwecke erscheinen Luhmann „gleichsam als Ersatzformeln für ein ihnen vorausliegendes Ungewissheitsproblem“61: Die Überlegung, dass soziales Handeln nur unter dem Gesichtspunkt einer teleologischen Perspektive verständlich werden kann, erscheint ihm als „schwach“.62
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Doch dem ist mit dem Hinweis zu begegnen, dass Luhmann schlichtweg nicht dem Phänomen gerecht wird. Es ist schlechterdings nicht möglich, die soziale Wirklichkeit ohne einen Zweckbegriff zu beschreiben. Denn wir würden eine Sozialität gar nicht erst verstehen, wenn wir nicht den Zweck verstehen würden. Wer jemandem, der das Fußballspiel noch nicht kennt, erklären möchte, was es bedeutet, Fußball zu spielen, der wird sicherlich die Regeln des Spiels erklären müssen. Doch diese Regeln können erst dann das Fußballspielen erläutern, wenn man zugleich den Witz dieses Spiels, also etwa das Gewinnen oder die Unterhaltung, erläutert. Jemand, der nicht begreift, dass es im Fußballspiel darum geht, zu gewinnen, wird auch nicht begreifen, was es heisst, Fußball zu spielen. Luhmann, so die vierte These, kann sehr wohl einen Regelmechanismus, der unter dem Topos der Systemrationalität entwickelt wird, vorstellen, um das Spiel sozialer Systeme zu erläutern. Doch diese Beschreibung ist unterbestimmt, sie übersieht, dass jedes Spiel nicht nur mit Witz gespielt wird, sondern nur begriffen werden kann, wenn die Pointe des Spiels erläutert wird. Und insofern ‚verstopfen’ Zwecke nicht etwa die Welt, sondern erschließen sie allererst. Der Zweck ist in diesem Sinne keine Ersatzformel für ‚ein vorausliegendes Ungewissheitsproblem’, er ist eher das Prinzip einer vorgängigen Verständnisevidenz. 5. Die Verabschiedung des Subjekts Luhmann, und dies wurde mehr als deutlich, kann mit dem Subjekt, besonders dem transzendentalen Subjekt, in der Soziologie nicht viel anfangen. Man kann und muss Luhmann zugestehen, dass die Beschreibung der sozialen Wirklichkeit als Systemverbund nicht auf das Subjekt zentriert werden muss. Doch daraus folgt nur die Begrenzung der Theorie auf Soziologie. Überschreitet sie diese Begrenzung, schickt sie sich also an, sich zur Universalwissenschaft der Lebenswirklichkeit des Menschen zu entwickeln, so hat sie sich missverstanden. Denn das Subjekt wird man so leicht nicht über Bord werfen können, ist es doch diejenige Instanz, die im Gegensatz zu einem System wertet und von Wert ist.63 Und insofern bildet nicht zuletzt die Frage nach der Moralität die Grenze der Systemtheorie. Man könnte in diesem Sinne Pascal als einen ersten Kritiker der Systemtheorie
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verstehen. Als Pascal darauf hinwies, dass der Mensch als Schilfrohr begriffen werden könne, „das schwächste der Natur“, er zerbrechlich und biegsam im Wind stehe und von der Natur abhängig sei, so verweist dies auf die funktionale, in oder am Rande von Systemen stehende Existenz des Menschen. Doch dieses Schilfrohr, darauf beharrt Pascal, ist ein „denkendes Schilfrohr“. Und er bemerkt dazu: „Daran müssen wir uns wieder aufrichten und nicht an Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken: Das ist die Grundlage der Moral.“64 Anmerkungen: 1
Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 31999, 244: „Das ‚Positive’ des positiven Wertes besteht darin, dass er die Anschlußfähigkeit im System sicherstellt. Wenn gezahlt wird, kann der Empfänger mit dem Geld etwas anfangen; wenn nicht, dann nicht. Zwar kann im Falle der Nichtzahlung nun der, der sein Geld behält, damit etwas anderes anfangen; aber dies nur deshalb, weil er seinerseits Empfänger gewesen ist und diese Position noch nicht aufgegeben hat. Der negative Wert ist also ohne Anschlußfähigkeit. Er dient lediglich als Reflexionswert; nämlich zur Überprüfung der Frage, ob gezahlt werden soll oder nicht; und gegebenenfalls der Reflexion auf die Gründe für das Ausbleiben von Zahlungen.“ 2 Zur Rezeption Luhmanns in den unterschiedlichen Disziplinen, von der Soziologie über die Rechtstheorie, die Pädagogik und Wirtschaftswissenschaft bis hin zur Theologie vgl. Henk de Berg, Johannes F.K. Schmidt: Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie. Frankfurt/M. 2000. 3 Vgl. hierzu die durchaus nicht unkritische Bemerkung Spaemanns: „Es ist gar nicht leicht, sich Forschungsergebnisse vorzustellen, durch die Luhmanns Entwurf falsifiziert werden könnte. Es handelt sich eher um ein Paradigma, ähnlich der Evolutionstheorie, ein Paradigma, das den gedanklichen und begrifflichen Rahmen für Forschungsunternehmen und deren Ergebnisse zu integrieren erlaubt“; Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von Niklas Luhmann anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989. Laudatio von Robert Spaemann. Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie. Frankfurt/M. 1990, 57. 4 Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung (1967). In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Köln/Opladen 1970, 66-91. 5 Ebd., 67. 6 Ebd., 86. 7 Humberto Maturana, Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlicher Erkenntnis. Übers. v. Kurt Ludewig, Bern/München 1987. Die weiteren Wurzeln der Luhmannschen Systemtheorie, also etwa der Ansatz Parsons, die Kybernetik und die Theorien des radikalen Konstruktivismus seien hier nur genannt, können jedoch an dieser Stelle nicht eigens expliziert werden. 8 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Bde. Frankfurt/M. 1998, 34f. Vgl. hierzu die instruktiven Ausführungen von Dirk Rustemeyer: Ohne Adresse. Zu Arbeiten von Niklas Luhmann. In: Philosophische Rundschau 46 (1999), 150163.
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Ebd., 30. Dass diese Überlegung auch dem Faktum der gegenwärtigen Existenz des Menschen in der modernen Gesellschaft geschuldet ist, gibt Luhmann gerne zu; vgl. Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. Hrsg. v. Dirk Baecker, Heidelberg 2002, 155: „Am Ende des 20. Jahrhunderts sind wir jedoch in einer Situation, in der das [die Beschreibung der Gesellschaft aus der Sicht einer Theorie des Subjekts] nicht mehr geht, sondern in der wir die Eigendynamik des Sozialen als solchen begreifen müßten, und dies unabhängig von der Frage, was die Menschen im Sinne konkret empirischer Individuen dabei denken und bewußt erleben. Man kann auch sagen, dass die Lösung in einem radikalen Entkoppeln des Subjektbegriffs und des Individuumsbegriffs liegt.“ 11 Niklas Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: Jürgen Habermas, Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt/M. 1972, 25-100, hier: 75f.; vgl. ebenfalls Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen. Frankfurt/M. 61999, 7ff. 12 Folgende Annahmen stützen nach Luhmann das bisherige Bild der Soziologie; doch diese Annahmen führten nach Luhmanns Diagnose nicht zur Etablierung einer soziologischen Theorie, sondern zu einer Blockade der Theoriebildung: „(1) dass eine Gesellschaft aus konkreten Menschen und aus Beziehungen zwischen Menschen besteht; (2) dass Gesellschaft folglich durch Konsens der Menschen, durch Übereinstimmung ihrer Meinungen und Komplementarität ihrer Zwecksetzungen konstituiert oder doch integriert werde; (3) dass Gesellschaften regionale, territorial begrenzte Einheiten seien, so dass Brasilien eine andere Gesellschaft ist als Thailand, die USA eine andere als die Rußlands, aber dann wohl auch Uruguay eine andere als Paraguay; (4) und dass deshalb Gesellschaften wie Gruppen von Menschen oder wie Territorien von außen beobachtet werden können“, Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. A.a.O., 24f. 13 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 31998, 31. 14 Ebd., 23. 15 Niklas Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie. A.a.O., 37: „In dieser Bestimmung bleibt der Bezug der Sinnbegriffe auf ‚Bewußtsein’ erhalten – aber dies in veränderter Form. Bewußtsein wird nicht mehr angesetzt als das durch Reflexion substantialisierbare Subjekt (hypokeimenon, subiectum) von Sinn, sondern als das in seinen Potentialitäten und seinen Grenzen zu problematisierende Erleben, in bezug auf das Sinn funktional analysiert werden kann.“ 16 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. A.a.O., 565: „Selbstverständlich hat jede Kommunikation korrespondierende Bewußtseinsprozesse zur Voraussetzung, so wie das Bewußtsein seinerseits Leben voraussetzt (und weitaus mehr Leben seines eigenen Organismus, als es je wissen kann), und so wie das Leben seinerseits eine molekulare Ordnung der Materie voraussetzt. Sinnhafte Kommunikation entsteht als emergente, autopoietische Ordnung nur unter den vorgegebenen Bedingungen. In diesem Sinne sind psychische Systeme an allen wissenschaftlichen Operationen beteiligt. Das heißt aber nicht, dass Bewußtseinssysteme spezifizieren könnten, wie und in welcher Richtung ein Kommunikationssystem seine eigenen Strukturen ändert und durch eigene Operationen sich von einem Zustand in einen anderen bringt.“ 17 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt/M. 21989, 436f. – Luhmann reagiert auf solche und ähnliche Vorwürfe in bekannter Manier u.a. in Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. A.a.O., 256f.: „Die Platzierung des Menschen in der Umwelt hat nicht das ablehnende oder abwertende Moment, das oft unterstellt wird, sondern die Umweltposition ist vielleicht sogar die angenehmere, wenn man sich unsere normale kritische 10
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Einstellung gegenüber der Gesellschaft vor Augen hält. Ich selbst würde mich jedenfalls in der Umwelt der Gesellschaft wohler fühlen als in der Gesellschaft, wo dann andere Leute meine Gedanken denken und andere biologische oder chemische Reaktionen meinen Körper bewegen, mit dem ich ganz andere Dinge vorhatte. Das heißt, die Differenz von System und Umwelt bietet auch eine Möglichkeit, einen radikalen Individualismus in der Umwelt des Systems zu denken, und zwar in einer Weise, die man nicht erreichen würde, wenn man den Menschen als Teil der Gesellschaft betrachten würde und somit eine humanistische Vorstellung hätte, die den Menschen entweder zum Element oder auch zur Zielvorstellung der Gesellschaft selbst macht.“ 18 Jürgen Habermas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann. In: Jürgen Habermas, Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? A.a.O., 142-290, hier: 145. 19 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 92001, 7ff. 20 Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. A.a.O., 39: „Ohnehin ist die Gesellschaft kein möglicher Gegenstand moralischer Bewertung; und erst recht wäre es absurd, diejenigen, die die moderne Gesellschaft für gut halten, deswegen für schlecht zu halten, oder diejenigen, die die Gesellschaft kritisch ablehnen, deswegen zu achten. Das sind im Grunde nur Denkfehler, die leicht zu vermeiden sind, denn die Gesellschaft als das umfassende System aller Kommunikationen ist weder gut noch schlecht, sondern nur die Bedingung dafür, dass etwas so bezeichnet werden kann.“ 21 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. A.a.O., 501f.: „Nicht besser geht es denen, die das Wort ‚Intersubjektivität’ einsetzen, um die Lösbarkeit des Problems zu signalisieren. Nachdem Husserls transzendentale Phänomenologie an dieser Frage gescheitert ist, gehört eine beträchtliche Portion Optimismus dazu, diese Firma weiterzuführen. Das kann, wenn überhaupt, nur auf Kosten des Subjekts geschehen mit der Konsequenz, dass das ‚Inter’ seine Referenz verliert.“ 22 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. A.a.O., 13. 23 Ob dies tatsächlich auf Kants Kritik der reinen Vernunft, insbesondere den Abschnitt zur Ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption zutrifft, kann bezweifelt werden. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 131f.: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nicht sein.“ Mit einigem Geschick, aber ohne allzu große Klimmzüge ließe sich dieser Passus durchaus im Sinne der Systemtheorie interpretieren, so dass das ‚Ich denke’ als Umwelt der geistigen Erkenntnisbegriffe zu verstehen ist. Gleichwohl hätte man Kant dann noch nicht als eigentlichen Begründer der Systemtheorie etabliert, da die Kritik der reinen Vernunft nicht einfach von der Kritik der praktischen Vernunft geschieden werden kann, und hier wird das Ich nun nicht mehr klein-, sondern großgeschrieben. 24 Dies hat nicht zuletzt die Kritik von Habermas motiviert. Habermas sieht mit dem „eigentümlichen Konzept von ‚Sinn’“, das Luhmann im Anschluss an Husserl entwickelt, die Systemtheorie nicht in der Tradition der Gesellschaftstheorie, sondern in der Nachfolge einer, wie er meint, „verabschiedeten Philosophie“; Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., 426f. 25 Vgl. etwa Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung. A.a.O., 77ff.; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. A.a.O., 44ff. Vgl. ebenso Wolfgang Hagen (Hrsg.): Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gesprä-
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che mit Niklas Luhmann. Berlin 2003, 29 (u.ö.): „Meine Hauptlektüre war eigentlich Husserl“. 26 Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. A.a.O., 85: „Wenn man sich eine solche Theorieanlage [diejenige Husserls] vor Augen führt, erkennt man, wie flach im Verhältnis dazu Theorien geworden sind, die heute unter dem Titel der Sozialphänomenologie betrieben werden und eigentlich nur noch zum Ausdruck bringen: ‚Da gibt es etwas.’ Als Empirie wird gewissermaßen nur noch das Dagewesene angeboten. Man hat’s gesehen und beschreibt es nun.“ Vgl. ebenso Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. A.a.O., 1028 Fn. 270: „Der Tiefgang dieser Analyse [der Husserlschen] zeigt sich nicht zuletzt an der Flachheit der Kritiken und Reaktionen, die heute unter dem Titel einer Sozialphänomenologie laufen, die keine transzendentaltheoretischen Absichten mehr verfolgt. Man kann natürlich zeigen, dass Husserl trotzdem einiges Verständnis für Soziales aufgebracht habe oder dass er mit dem transzendentalen Duktus seiner Theorie am Problem der ‚Intersubjektivität’ gescheitert sei, bei dem es sich doch um ein letztlich unbestreitbares, gut beschreibbares Phänomen handele. Nur: Man kann die theoretische Ratlosigkeit einer auf ‚Subjekten’ bestehenden Sozialtheorie kaum dadurch beseitigen, dass man die explizite Paradoxie der ‚Inter-Subjektivität’ als Phänomen (welchen Subjekts?) bezeichnet und sie dann wie einen geläufigen Weltsachverhalt behandelt.“ 27 Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. A.a.O., 249. 28 Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung. A.a.O., 78. 29 Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung. A.a.O., 78: „Systemtheorien, die diese Problemvorgabe aufnehmen und weiterbearbeiten wollen, dürfen nicht nur strukturell-funktionale Theorien sein, die die Untersuchung mit den Systemproblemen bestimmter vorgegebener Strukturen beginnen; sie müssen funktional-strukturelle Theorien sein, welche die Funktion der Struktur vorordnen […] In den Bezugsrahmen einer solchen transzendental-phänomenologischen Problemforschung gefaßt, kann soziologische Aufklärung nicht mehr als Vorstellung richtiger oder Herstellung zweckmäßiger Sachverhalte nach Maßgabe gemeinmenschlicher Vernunft begriffen werden. Ihr Sinn liegt dann, theoretisch wie praktisch gesehen, in der Steigerung des menschlichen Potentials zur Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität durch Systembildung.“ 30 Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. Wien 21997. 31 Edmund Husserl: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. Husserliana, Bd. VI. Hrsg. v. Walter Biemel, Den Haag 21962. 32 Die Auseinandersetzung von phänomenologischer Seite mit Luhmanns Vorhaben beschränkt sich im Wesentlichen auf die frühen Versuche, Husserl vermittels seines Sinnbegriffs in die Systemtheorie zu integrieren, und die Auseinandersetzung zwischen Luhmann und Habermas. Vgl. dazu Lothar Eley: Transzendentale Phänomenologie und Systemtheorie der Gesellschaft. Zur philosophischen Propädeutik der Sozialwissenschaften. Freiburg 1972; L. Eley: Komplexität als Erscheinung. In: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Beiträge zur Habermas-LuhmannDiskussion. Hrsg. von Franz Maciejewski, Frankfurt/M. 1974, 130-153; Ludwig Landgrebe: Der Streit um die philosophischen Grundlagen der Gesellschaftstheorie. Opladen 1975; Willem van Reijen: Die Funktion des Sinnbegriffs in der Phänomenologie und in der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Ein Diskussionsbeitrag zur Wahrheitsfrage in der Phänomenologie und ihrer Transformation in der Systemtheorie. In: Kant-Studien 70 (1979), 312-323. Zu den neueren Arbeiten, die z.T. über die Phänomenologie hinausreichen vgl. u.a. Lutz Ellrich: Die Konstitution des Sozialen. Phänomenologische Motive in Niklas Luhmanns Systemtheorie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 46 (1992), 24-43; Heinrich Rombach: Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer phänomenologischen Soziologie.
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Freiburg i. Br./München 1994, 250-269; Hans Bernhard Schmid: ‚Europa’ und die ‚Weltgesellschaft’. Zur systemtheoretischen Kritik der transzendentalen Phänomenologie. In: Soziale Systeme 3 (1997), 271-288. Peter-Ulrich Merz-Benz, Gerhard Wagner (Hrsg.): Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000. Sonja Rinofner-Kreidl: Phänomenologie und Systemtheorie im Kontext kulturwissenschaftlicher Forschungsinteressen. In: Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturstudien. Hrsg. v. Elisabeth List und Erwin Fiala, Tübingen/Basel 2004, 73-97. 33 Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. A.a.O., 9. 34 Zu der Europadiskussion jener Zeit, die Husserl bekanntlich vor Augen hatte und unter die Rubrik ‚Literatenphilosophie’ subsumierte vgl. z.B.: Paul Michael Lützeler: Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt/M. 1994. 35 Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. A.a.O., 10. 36 Ebd., 14. 37 Ebd., 17. 38 Edmund Husserl: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. A.a.O., 318. 39 Ebd., 320. 40 Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. A.a.O., 18. 41 Ebd., 23. 42 Ebd., 28: „Es muß uns ja nicht um die Rettung des europäischen Menschentums gehen und vielleicht nicht einmal um Markentreue, was die Namen des transzendentalen Subjekts und der Transzendentalen Phänomenologie angeht. Selbst auf Vernunft könnte man gern verzichten, wenn man wüßte, wie das Interesse an theoretischer Reflexivität zu retten sei. Denn es gibt in diesem Jahrhundert nur wenige Beispiele eines so entschiedenen Interesses an Theorie.“ 43 Ebd., 28. 44 Ebd., 50. So hieß es schon in den Sozialen Systemen: „So kann dann Phänomenologie als strenge Wissenschaft entworfen werden, die mit der Herausarbeitung solcher Idealitäten jene Sinnfülle nachzeichnet, die dem Bewußtsein sein transzendentales Leben ermöglicht, wobei ‚Leben’ nichts anderes ist als Metapher für das, was wir Autopoiesis nennen“; Niklas Luhmann: Soziale Systeme. A.a.O., 357. 45 Ebd., 93 Fn. 3. 46 Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. A.a.O., 46. 47 Ebd., 31. 48 Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. A.a.O., 225: „Diese Schwierigkeit bringt uns, wie ich glaube, an einen Wendepunkt oder zumindest an den Punkt, wo wir uns darüber klar werden können, dass wir die Sinnkategorie auf zwei verschiedene Systemtypen – das ist jetzt meine Sprache – anwenden müssen, nämlich auf psychische Systeme, Bewußtseinssysteme, die sinnhaft erleben, und auf soziale Systeme, Kommunikationssysteme, die Sinn dadurch reproduzieren, dass er in der Kommunikation verwendet wird.“ 49 Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. A.a.O., 31. 50 Ebd., 33. 51
Ebd., 35.
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Obwohl Luhmann nicht darauf zu sprechen kommt, so kann doch eine Passage der Ideen I weiterhelfen, um die Luhmannsche Vorstellung sozusagen im Nachhinein und an dem Husserlschen Text verständlich werden zu lassen. Im § 49 – Das absolute Bewußtsein als Residuum der Weltvernichtung – spricht Husserl davon, dass zwischen Bewusstsein und Realität „ein wahrer Abgrund des Sinnes gähne“. Bewusstsein und reales Sein seien „nichts weniger als gleichgeordnete Seinsarten“, „die friedlich nebeneinander wohnen, sich gelegentlich aufeinander ‚beziehen’ oder miteinander ‚verknüpfen’“. Im Gegensatz dazu müsse das Bewusstsein „als ein für sich geschlossener Seinszusammenhang“ in seiner „Reinheit“ betrachtet werden, „als ein Zusammenhang absoluten Seins, in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann, der kein räumliches Draußen hat und in keinem räumlichzeitlichen Zusammenhange darinnen sein kann, der von keinem Dinge Kausalität erfahren und auf kein Ding Kausalität üben kann“. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Hua Bd. III/1, hrsg. v. Karl Schuhmann, Den Haag 1976, 105. – Was Husserl hier über die Differenz von Bewusstsein und Realität sagt, ließe sich ohne weiteres systemtheoretisch umformulieren. Es hieße dann: Kommunikation und Bewusstsein sind ‚nichts weniger als gleichgeordnete Seinsarten’, die friedlich nebeneinander wohnen, sich gelegentlich aufeinander ‚beziehen’ oder miteinander ‚verknüpfen’’. Es ist vielmehr nun bei Luhmann die Kommunikation, die ‚als ein für sich geschlossener Seinszusammenhang anzusehen ist’, in die ‚nichts hineindringen“, aus der „nichts entschlüpfen“ kann. Man erkennt deutlich Luhmanns vagabundierende Theoriekonstitution, die die Husserlsche Phänomenologie als eine Methode gleichsam wandern lässt: vom Bewußtsein hin zur Kommunikation. 53 Dirk Rustemeyer: Ohne Adresse. Die Gesellschaft der Gesellschaft der Systemtheorie. A.a.O., 158. 54 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe, Bd. I. Frankfurt/M. 71990, § 107. 55 Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist (1961). In: Ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hrsg. v. Christian Bermes, Hamburg 2003, S. 276. 56 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. A.a.O., 30. 57 Dirk Rustemeyer: Ohne Adresse. Die Gesellschaft der Gesellschaft der Systemtheorie. A.a.O., 163: Die Systemtheorie „wird paradoxerweise vom Schicksal des absoluten Geistes ereilt, sich mit seinem Objekt identisch setzen zu müssen, wenngleich diese Einheit stets momentanes Konstrukt bleibt und sich nicht zur Totalität vermittelt.“ 58 Robert Spaemann: Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie. A.a.O., 65. 59 Ebd., 71. 60 Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. A.a.O., 179. 61 Ebd., 190. 62 63
Ebd., 343.
Vgl. auch die Kritik der Systemtheorie von L. Landgrebe: Der Streit um die philosophischen Grundlagen der Gesellschaftstheorie. A.a.O., 38f. 64 Blaise Pascal: Gedanken über die Religion und einige andere Themen. Hrsg. v. Jean-Robert Armogathe, aus dem Französischen übers. v. Ulrich Kunzmann, Stuttgart 2002, Nr. 200/347, 140f.: „Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Das ganze Weltall braucht sich nicht zu waffnen, um ihn zu zermalmen, ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Doch wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur noch viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiß ja, dass er stirbt und welche Überlegenheit
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ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiß davon nichts. Unsere ganze Würde besteht also im Denken. Daran müssen wir uns wieder aufrichten und nicht an Raum und Zeit, die wir nicht ausfüllen können. Bemühen wir uns also, gut zu denken: Das ist die Grundlage der Moral.“
Zur Phänomenologie von Trieb und Lust bei Husserl Rudolf Bernet, Katholieke Universiteit Leuven Zusammenfassung: Man findet in Husserls Studien zur Struktur des Bewusstseins (1909-1914) Ansätze zu einer systematischen Theorie des Triebs, die überraschende Ähnlichkeiten mit Freuds Text zu Triebe und Triebschicksale (1915) aufweisen. So macht auch Husserl den Unterschied zwischen einem „Triebimpuls“ und einer „Triebbewegung“ und versteht letztere als „Entladung“ einer psychischen Triebspannung. Husserls Trieblehre wird aber, anders als bei Freud, wesentlich durch ihren Zusammenhang mit seiner Handlungstheorie einerseits und mit seinen Gemütsanalysen anderseits geprägt. Daraus ergeben sich interessante Perspektiven, die den Zusammenhang nicht nur von triebhafter Motivation und vernünftigem Willensentschluss, sondern auch von Trieblust und Akten des „Gefallens“ oder „Stimmungen“ der Freude betreffen. Husserls Ausführungen zu „Hemmung“ und „Enthemmung“ des Triebs oder zu einem sich der Verwirklichung des Triebs entgegenstellendem „Widerstand“ bewegen sich deutlich in der Tradition einer metaphysischen Trieblehre, wie man sie von Leibniz und Schopenhauer her kennt. Die Studien zur Struktur des Bewusstseins vermögen dem psychoanalytischen Denken auch durch ihre Differenzierung zwischen „Trieb“, „Wunsch“ und „Begehren“ sowie durch ihre Bestimmung von „Trieblust“ und „Genuss“ in Abhebung von auf (Wert-)Gegenstände bezogenen Gefühlen neue Impulse zu vermitteln.
In Husserls Studien zur Struktur des Bewusstseins 1 wird der „Trieb“ vor allem im Zusammenhang mit der Frage nach der Motivation eines Wollens und Handelns erörtert. Erst von daher ergibt sich dann die Frage, ob es neben dem aktiven und insbesondere neben dem vernünftigen Handeln auch noch spezifische „Triebbewegungen“ gibt, in denen man sich von unbewussten „Triebimpulsen“ treiben lässt. Husserls Sorge gilt dabei in erster Linie der Möglichkeit eines aktiven Eingreifens des Ich in das Triebgeschehen und nur sekundär der genaueren Bestimmung der Funktionsweise des Triebs sowie dessen Abhebung von den „Tendenzen“ und „Interessen“, welche die objektivierenden Akte des intentionalen Vorstellens beseelen. Mit der Frage nach dem Wesen der „Lust“ verhält es sich ähnlich. Die Bestimmung der Lust als möglichem Triebziel wird von Husserl dem Bemühen um eine klare Scheidung zwischen „sinnlicher“ Lust und einem sich auf Wertgegenstände beziehenden „Wohlgefallen“ bzw. dem sich daran anschließenden affektiven Gemütsakt der „Freude“ untergeordnet. Akte des „Begehrens“ und „Wünschens“ werden primär im Zusam38 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 38–53. © 2006 Springer.
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menhang mit den auf Werte bezogenen objektivierenden Akten des „Gefallens“ verhandelt und nur nebenbei von Triebregungen und deren Ausrichtung auf sinnliche Lust unterschieden. Obwohl Husserl in späteren Jahren seine eigene Lehre vom Trieb als „eine Vordeutung auf die ‚Freudsche‘ Psychoanalyse – mit ihren eingeklammerten Affekten, ihren ‚Verdrängungen‘ usw.“ bezeichnet hat,2 erwächst sein Interesse für Trieb und Lust somit aus einem ganz anderen sachlichen Zusammenhang als bei Freud. Ähnlich wie schon beim Aristoteliker Leibniz dient der Hinweis auf den Trieb und die Mechanismen von „Hemmung“, „Widerstand“ und „Entladung“ bei Husserl keineswegs dem Ziel einer Demütigung des ichlichen Bewusstseins durch den Beweis seiner Zweitrangigkeit oder gar Ohnmacht. Dennoch will mir scheinen, dass Husserls Trieblehre derjenigen Freuds sehr nahe steht und dass der oftmals unscharfen Begrifflichkeit der Freudschen Psychoanalyse durch Husserls genauere Deskriptionen und terminologische Unterscheidungen große Vorteile erwachsen könnten. Ich betrachte es denn auch als einen Beweis der Größe von Husserls wissenschaftlichem Ethos, dass auch Auffassungen vom menschlichen Leben, die seinem eigenen Rationalismus widersprechen, noch von seinen phänomenologischen Untersuchungen profitieren können. 1. Triebimpuls und Triebbewegung Husserls wichtigster Beitrag zur philosophischen Problematik des Triebs scheint mir darin zu liegen, dass er den Trieb generell als eine Art des Wollens und des Tuns bestimmt.3 Damit wird der aristotelischen Bestimmung des Triebs als dynamis, d.h. als Vermögen zum Übergang in eine natürlichen Bewegung oder der leibnizschen Lehre von der Substanz als vis activa und deren Hemmung durch eine resistentia ein deutlicher Stellenwert in der Theorie der menschlichen Psyche zugewiesen. Auch wenn der Trieb nicht ohne Einfluss auf theoretisches und axiologisches Verhalten ist, so gehört er nach Husserl doch ursprünglich in das Gebiet menschlicher Praxis. Diese Zuordnung des Triebs zum Tun oder zum leiblichen Bewegen wird terminologisch dadurch fixiert, dass triebmäßiges Streben zuweilen vom umfassenderen Begriff einer sich möglicherweise auch auf inten-
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Rudolf Bernet: Zur Phänomenologie von Trieb und Lust
tionale Vorstellungen (wie etwa Wahrnehmungen) beziehenden „Tendenz“ unterschieden wird.4 Die erste Aufgabe einer solchen Trieblehre besteht naturgemäß darin, passives triebmäßiges Tun und Lassen von den Formen aktiven Handelns zu unterscheiden. Echtes oder aktives Handeln beruht nach Husserl auf einem ichlichen Willensentschluss (einem „fiat“), der in der Einsicht in die praktische Möglichkeit der Handlung und in einem kontemplativen oder normativen Wertbewusstsein vernünftig motiviert ist.5 Man kann sich nach Husserl vernünftigerweise weder für eine unmögliche Handlung entscheiden noch für eine Handlung, deren beabsichtigtes Resultat unwert oder schlecht wäre. Die definitorische Scheidung von Trieb und aktivem Handeln darf jedoch nicht den Eindruck erwecken, beide blieben auch im faktischen Lebensvollzug des menschlichen Subjekts streng getrennt. Vielmehr entspringt jedes vernünftige Handeln einem motivierenden Interesse, das durchaus noch in einem triebhaften Streben fundiert sein kann6 – jedoch so, dass dieser „Triebimpuls“ durch das deliberierende Ich erst auf seine Vernünftigkeit geprüft wird, bevor das handelnde Ich ihm „nachgibt“ oder sich ihm verweigert. Da Husserl sehr an dieser aktiven Prüfung von passiven Triebimpulsen liegt, widmet er ihrer „Förderung“ oder „Hemmung“ durch das Ich recht ausführliche Untersuchungen.7 Er erwähnt dabei explizit die „Verdrängung“ und das „Entsagen“ als mögliche Formen einer solchen ichlichen Hemmung des Triebs.8 Ein Eingriff des ichlichen Bewusstseins in die Realisierung eines Triebimpulses ist aber nur dann möglich, wenn der Trieb ein psychisches und kein rein physiologisches Phänomen ist. In völliger Übereinstimmung mit Freud räumt Husserl jedoch ein, dass diese psychischen Triebreize, denen das Ich ausgesetzt ist, oft unbewusster Natur sind.9 Wie es das Bewusstseinsich anstellt, solch unbewusster Triebe Herr und Meister zu werden, ist dann allerdings eine Frage, die Husserl viel weniger zu beunruhigen scheint als Freud. Sicher ist jedenfalls, dass unbewusstes triebmäßiges Streben seinerseits schon einem die Psyche affizierenden Reiz entstammt. Wie Freud ist auch Husserl der Meinung, dass es sich dabei um einen inneren, d.h. aus dem eigenen organischen Leib stammenden Reiz handelt, der sich, wie etwa das Nahrungsbedürfnis, im Rhythmus einer natürlichen Periodizität meldet. Ob sich auch der sexuelle Trieb beim Menschen durch eine ähnliche Periodizität auszeichnet oder vielmehr, wie Freud
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meint, eine „konstante Kraft“ ausübt, lassen die Studien zur Struktur des Bewusstseins unerwähnt. Husserl meint jedoch im Gegensatz zu Freud, dass es neben diesen inneren durchaus auch äußere, d.h. von einem Objekt ausgehende Triebreize geben kann.10 Ist dies ein genügender Grund zu befürchten, dass Husserl die einleuchtende Freud’sche Lehre von einem spezifischen Triebobjekt, das noch kein Objekt einer intentionalen Vorstellung sein kann, verwirft? Keineswegs! Denn erstens findet man erst bei Lacan und nicht schon bei Freud eine befriedigende Lehre von einem Triebobjekt („objet a“), das sich, wie etwa der Blick im Falle des Schautriebs,11 prinzipiell jeder vorstellungsmäßigen Wahrnehmung entzieht. Zweitens schließt auch Freud keineswegs aus, dass das Objekt einer triebmäßigen Befriedigung (etwa die Brust für den Säugling) wahrgenommen wird. Das Entscheidende in Freuds Trieblehre ist vielmehr, dass die bloße Wahrnehmung eines Objekts weder den Triebimpuls verursachen noch ihn zu befriedigen vermag. Daher auch die von Freud betonte relative Gleichgültigkeit bzw. „Variabilität“ des Triebobjekts. Wie schon bei Schopenhauer ist auch bei Freud die Vorstellung eines Gegenstandes nicht Ursache des Triebs (bzw. des „Willens“ im Sinne von Schopenhauer), sondern die bloße „Gelegenheit“ seiner Weckung und Befriedigung. Husserls Beschreibung dieses Prozesses einer Weckung des Triebs durch einen Wahrnehmungsgegenstand verblüfft nicht nur durch ihre Präzision, sondern auch durch die genaue Übereinstimmung mit der Freudschen Theorie. Auch bei Husserl findet sich nämlich die Einsicht, dass ein Wahrnehmungsobjekt nicht unmittelbar einen Triebimpuls zu erzeugen vermag. Nach Husserl verläuft sein Einfluss auf den Trieb vielmehr über die Erregung der Erinnerung an eine vergangene Triebhandlung und die damit verbundene Lusterfahrung.12 Als entscheidenstes Wesensmoment des Triebs gilt Husserl aber nicht der Gegenstand, sondern die durch den „Triebimpuls“ ausgelöste psychische Spannung, die genau Freuds Begriff des triebmäßigen „Drangs“ entspricht.13 Als möglicher Ursprung einer derartigen Triebspannung erwähnen sowohl Freud als auch Husserl ein leibliches Bedürfnis, das als „Not“ oder als „Mangel“ erfahren wird. Was Freud eine „Bewältigung“ des Triebs nennt, muss also als ein Tun verstanden werden, das mit einer „Entspannung“ verbunden ist. Husserl unterscheidet dabei noch genauer zwischen dem Trieb als Antrieb und dessen Realisierung in einem Tun. Terminologisch wird dieser Unter-
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schied von ihm als Differenz von „Triebimpuls“ und „Triebbewegung“ (oder „Triebhandlung“) festgelegt. Die Realisierung des Triebimpulses durch eine Triebbewegung muss dabei als „Entladung“ einer Spannung verstanden werden.14 Eine solche Entladung oder Entspannung des triebmäßigen Strebens in einem Tun wird von Husserl als die Überwindung einer „Hemmung“15 bzw. eines „Widerstandes“16 charakterisiert. Husserl schreibt: Trieb, unbestimmter dunkler Trieb. Entladung des Triebes in Form einer ‚Tätigkeit‘, einer Triebbewegung, triebmäßigen Veränderung. Wir haben eine stetige Intentionalität des Triebes, die eine stetige Auswirkung des Triebimpulses ist, zu seiner Erfüllung stetig gehört . Eventuell tritt eine Hemmung ein, das ‚Es geht nicht weiter‘, ein ‚wider‘ den Trieb wirkendes Geschehen. Eventuell tritt mit der Hemmung eine neue Triebbewegung ein . So können wir uns z.B. intuitiv interpretieren die Triebbewegungen des Kindes, das strampelt, die Füße dahin und dorthin wirft, an ein ‚nicht weiter‘ kommt und dann umkehrt. Das sind ziellose Bewegungen und triebmäßige Veränderungen.17
„Widerstand“ und „Hemmung“ sind dabei nicht einerlei. 18 „Widerstand“ leistet, mit Aristoteles gesprochen, eine passive dynamis, die sich der Überführung einer aktiven Kraft in ihre Verwirklichung oder energeia entgegenstellt.19 Ein mögliches Beispiel eines Widerstandes, dem der Trieb auf dem Weg zu seiner Realisierung begegnet, ist etwa die träge Macht der Gewohnheit. Eine „Hemmung“ des Triebs dagegen verdankt sich einer aktiven Gegenkraft, die die Realisierung eines Triebimpulses in einer Triebhandlung aufhält oder verunmöglicht. Eine solche Gegenkraft zum Streben nach Triebrealisierung kann sich nicht nur durch die Einflussnahme des Ichs ergeben, sondern auch durch den Konflikt mit einem konkurrierenden Trieb.20 Typische Triebhandlungen scheinen für Husserl vor allem Leibesbewegungen zu sein, die nicht vom Bewusstseinsich initiiert werden, sondern die einem durch ein leibliches Bedürfnis angeregten „dunklen“ oder „unbewussten“ Trieb entstammen. Es handelt sich dabei entweder um mechanische Handlungen (wie etwa das „‘ich greife‘ nach meiner Zigarre“ oder „das mechanisch die Zigarette Anzünden, sie zum Mund führen etc.“21) oder aber um lustvolle, spontane, rhythmische Leibesbewegungen, die (anders als etwa das von Freud oft erwähnte kindliche “Ludeln“) von Husserl aber nicht auf den Sexualtrieb bezogen werden. Manches angeeignete und vom Ich erlernte künstliche Verhalten wird so zu einer gewohnheitsmäßigen leiblichen
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Bewegung, die von einem unbewussten Triebmechanismus gesteuert wird. Ursprüngliche, d.h. spontane Triebbewegungen dagegen betreffen unbewusstes leibliches Tun, das gleichermaßen Ausdruck und Vollzug der Lebensbewegtheit eines Lebewesens ist. Neben dem bereits erwähnten kindlichen „Strampeln“ erwähnt Husserl verschiedentlich das „Atmen“ als eine solche ursprüngliche Triebhandlung: „Triebhaftes Tun, das kein ‚willkürliches‘, kein absichtliches ist. Ich folge Tendenzen, ohne selbst überhaupt zu tun im prägnanten Sinn. Ich bin gar nicht dabei . Im dunklen Hinterhof treten Tendenzen auf, und die Tendenzen entspannen, erfüllen sich. Aber ich weiß gar nichts davon . Zum Beispiel finde ich das triebhafte Tendenziöse im Atmen: Es ist kein bloßer Vorgang, sondern im Ablauf ein SichEntspannen von Tendenzen und neu Sich-Anspannen, ein blinder Trieb .“22
Das Beispiel des Atmens bringt exemplarisch zur Geltung, dass ursprüngliche, leiblich-lebendige Triebbewegungen, wie schon Freud bemerkte, im Rhythmus eines wiederholten Aus und Ein oder Hin und Her verlaufen. Man fühlt sich dabei an die Analysen der Aristotelischen Physik erinnert, und zwar nicht nur an die Feststellung, dass natürliche Bewegungen ihren Ursprung und ihr Ende in sich selbst haben, sondern auch an die Bestimmung der Lebensbewegtheit oder genesis als einen Weg von der Physis zur Physis.23 Husserls Untersuchungen zum inneren Zeitbewusstsein könnten zweifellos viel zu einem besseren Verständnis eines solchen stetigen und zugleich durch rhythmische Wiederholungen gekennzeichneten Triebgeschehens beitragen. Es erstaunt also nicht, dass Husserls spätere Trieblehre dem inneren Zeitbewusstsein ausdrücklich ein triebhaftes Wesen zuerkannte. Überhaupt verdichtet sich in Husserls Spätwerk der schon in den früheren Analysen spürbare Zusammenhang zwischen Triebhandlung und Lebensbewegtheit.24 Andererseits ist aber nicht zu leugnen, dass Husserls Spätwerk die in seiner früheren Lehre vom Trieb mühsam erarbeiteten Distinktionen wieder zu verwischen droht. Nicht nur gelten den Studien zur Struktur des Bewusstseins einzig sinnliches Streben und Tun einer Einzelmonade als Triebphänomene, sondern der Trieb wird auch deutlich geschieden von den verwandten Phänomenen des „Wunsches“ und des „Begehrens“. Auch Freud identifizierte bekanntlich den Trieb keineswegs mit einem „Wunsch“, wie er etwa im Traumgeschehen unbewusst am Werke ist. Der Unterschied zwischen Trieb und Wunsch hängt nach
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Husserl wesentlich damit zusammen, dass der Wunsch sich im Gegensatz zum Trieb ursprünglich und wesentlich auf einen Gegenstand (bzw. Sachverhalt) bezieht und dass er somit in einer intentionalen Vorstellung fundiert ist. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen wirklichen Gegenstand, sondern vielmehr um den Gegenstand einer sog. „bloßen“, d.h. nicht eigentlich objektivierenden Vorstellung.25 Dem Wunsch eignet zwar eine eigentümliche, dem Triebimpuls nicht ganz unähnliche Dynamik des Strebens nach Befriedigung, aber die Erfüllung eines Wunsches liegt, im Gegensatz zur Erfüllung eines Triebimpulses, nicht in der Macht des Wunsches selbst.26 Der geläufige Ausdruck „Als das Wünschen noch geholfen hat“ macht deutlich, dass uns der Verzicht auf das kindliche Vertrauen in die Wirksamkeit unserer Wünsche nicht leicht gefallen ist. Auch wenn der Wunsch sich nicht selbst befriedigen kann, so vermag er doch zumindest ein ichliches Wollen und Handeln zu motivieren, das seinerseits dem Eintreten des gewünschten Zustands oder Vorgangs förderlich sein kann. Dies ist wohl auch der Grund für die häufige Verwechslung von Wunsch und Trieb. Genauer besehen ist der Wunsch jedoch nicht nur die „bloße“ Vorstellung eines zukünftigen Sachverhalts, dem es gegenwärtig noch an Wirklichkeit fehlt, sondern er ist auch eine gefühlsmäßige Antizipation dieses Sachverhalts. Husserl bezeichnet diese Gefühskomponente des Wunsches einmal treffend als „ungesättigte Freude“27, d.h. als eine Mangelerfahrung, die sich auf eine zukünftige Erfüllung durch einen wertvollen und dadurch Freude erregenden Sachverhalt bezieht. Der noch zu behandelnde Unterschied zwischen Lust und Freude liefert somit einen wichtigen Beitrag zur weiteren Differenzierung von Trieb und Wunsch. Der Ohnmacht des Wunsches, sich aus eigener Kraft zu befriedigen, kann im Übrigen nicht nur durch die Motivierung von förderlichen Handlungen begegnet werden, sondern auch, viel einfacher und unmittelbarer, durch eine Halluzination des erwünschten Sachverhalts. Anstatt sehnsüchtig das Eintreten des Erwünschten abzuwarten, erfüllt man sich die eigenen Wünsche kurzerhand durch Trugwahrnehmungen. Dies ist, wie man weiß, auch der Kern der Freudschen Lehre vom Traum als halluzinatorischer Befriedigung von unbewussten Wünschen. Das „Begehren“ wird von Husserl als eine Art von Wunsch bestimmt, in dem man weniger nach dem Eintreten eines erfreulichen Zustands oder Vorgangs verlangt, als nach dem Besitz eines Objekts.
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„Das Begehren ist ein auf das Künftige gehendes Sehnen, Langen, und zwar ein Wunsch, dass ich etwas haben, dass mir ein Angenehmes oder Gutes zukommen möge etc. Ich wünsche einem anderen Glück, ich selbst aber begehre nach Glück .“28 Dieser zugegebenermaßen feine Unterschied ist vor allem deswegen nicht unwichtig, weil das Begehren im Gegensatz zum Wünschen eine viel explizitere Triebkomponente aufweist und damit auch einen wesentlicheren Bezug zum eigenen Tun hat: „Aber bloße Begehrung steht nicht zu Wollung so wie bloße Vorstellung zu Anschauung. das Begehren motiviert das Wollen und Tun .“29 Das Begehren situiert sich demnach zwischen Trieb und Wunsch: es ist ein triebhaftes Streben nach der mit dem Besitz eines Objekts verbundenen Lust und es wird zugleich geleitet von der Vorstellung eines vermissten Gutes. 2. Lust, Wohlgefallen und Freude Jede Ausführung einer Triebbewegung ist verbunden mit einer Erfahrung von Lust. Diese Trieblust ergibt sich aus der „Entladung“ der mit dem Triebimpuls verbundenen Spannung: „Es gibt Begehren, Treiben, das sich in einem ‚Tun’ entlädt und sich darin tuend sättigt. Während des Tuns haben wir nicht nur stetige Sättigung des Begehrens (mehr oder weniger vollkommen), sondern eben Tun .“30 Das Ziel der Realisierung des Triebs wird von Husserl folglich gleichermaßen als ein Tun sowie als die damit sich einstellende Empfindung von Lust bestimmt: „Trieb von einem Unangenehmen weg, zu einem Angenehmen hin.“31 Die Triebbewegung hat somit nicht nur einen besonderen Rhythmus, sondern auch eine negative und positive Ausrichtung, die von Husserl in Übereinstimmung mit der Aristotelischen Bestimmung der „orexis“ als „pheugein“ und „diokein“32 verstanden wird. Wenn sich Lust aus der Entspannung des Triebimpulses ergibt, so darf man annehmen, dass für Husserl, gerade wie für Freud, die Unlust oder „das Unangenehme“, von dem sich die Triebbewegung abwendet, nichts anderes als die mit dem unrealisierten bzw. gehemmten Triebimpuls verbundene Spannung ist. Die mit der Triebhandlung verbundene Lust ist aber für Husserl mehr als die bloße Beseitigung einer Unlust, sie ist das Erlebnis einer Vervollkommnung (perfectio), die dem Trieb (dynamis) aus dem Übergang in eine Handlung (energeia) erwächst.
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Husserl beschreibt neben dieser Trieblust bzw. Lust an der Verwirklichung des Triebimpulses auch noch eine „Empfindungslust und Erlebnislust“.33 Er versteht darunter eine Lust, die mit dem inneren Bewusstsein von Empfindungen34 sowie von intentionalen Erlebnissen verbunden ist. So können etwa das Hören angenehmer Klänge, das Wahrnehmen einer „schönen Frauengestalt“, der Vollzug einer Phantasie oder eines Gedankens lustvoll sein. Wie auch immer diese verschiedenen Formen einer Empfindungs- oder Erlebnislust begründet sein mögen, sicher ist jedenfalls, dass sie sich in allen Fällen aus einem subjektiven Erleben ergeben und nicht aus der Vorstellung eines Gegenstandes. Die Empfindungslust unterscheidet sich somit nicht nur von der Trieblust, sondern auch, wie wir gleich noch sehen werden, von einem „Wohlgefallen“ oder einer „Freude“, die sich auf intentionale Gegenstände oder Sachverhalte beziehen. Die Trieblust ist als Lust an einer Handlung, in der eine vorgängige Spannung sich entlädt, mehr als eine bloße Empfindungs- oder Erlebnislust. Andererseits ist sie aber doch, im Gegensatz zum Wohlgefallen und zur Freude, eine Lust am Erleben der Triebhandlung, in der ein Triebimpuls sich verwirklicht. Bei der Empfindungslust und der Trieblust handelt es sich also gleichermaßen um ein sinnliches, gefühlsmäßiges Empfinden eines Inhalts des inneren Bewusstseins: „sinnliche[s] Fühlen ist also nichts anderes als inneres Bewusstsein (Zeitliches konstituierendes)“; „ Gefühlsempfindungen ‚Lust’ und ‚Unlust’ sind Empfindungen wie andere Empfindungen.“35 Als Inhalte des inneren Bewusstseins haben alle Lustempfindungen einen ursprünglichen und vorzüglichen Bezug auf das innere Zeitbewusstsein, d.h. sie sind erlebt als Impressionen mit einer gewissen zeitlichen Erstreckung, einem Rhythmus des Auftretens und Abklingens usw., und sie sind erlebt unter der Form einer protentionalen Antizipation sowie eines retentionalen Festhaltens, die über ihre impressionale Gegenwart hinausreichen. Obwohl das Lustgefühl als Empfindungsinhalt selbst wesentlich jeder objektivierenden Intentionalität entbehrt, kann es trotzdem mit intentionalen Vorstellungen verbunden und so mittelbar auf einen Gegenstand bezogen werden. Wir müssen also unterscheiden zwischen reiner Empfindungslust und Lust an einer intentionalen Vorstellung und deren Gegenstand.36 Empfindungslust kann nach Husserl überdies entweder Trieblust sein oder Lust an darstellenden Empfindungen, d.h. sie ist ein sinnliches Gefühl, das entweder mit der Ausführung
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einer leiblichen Triebhandlung oder mit dem Auftreten eines Empfindungsinhaltes verbunden ist. Lustempfindungen, die sich an kinästhetische Empfindungen heften, muss man wohl generell als Trieblust bezeichnen. Husserl unterscheidet im Weiteren das Empfinden von sinnlicher Lust von einem „Genuss“, d.h. von einer „Lust als Zustand“, in dem das Subjekt sich den eigenen Lustempfindungen ausdrücklich und reflexiv zuwendet.37 Neben den verschiedenen Formen reiner Empfindungslust gibt es nun aber noch Formen sinnlicher Lust, die aus dem Vollzug intentionaler Erlebnisse oder aus dem Rhythmus einer Tätigkeit, wie etwa der von Husserl erwähnten Forschungsarbeit38, erwachsen. Beiderseits handelt es sich dabei aber nach Husserls Auffassung um keine eigentlichen Triebhandlungen, so dass auch die daran geknüpfte Lustempfindung nicht als eine Trieblust gelten kann. Kurz zusammengefasst gibt es also zwei große Arten von sinnlichem Lustgefühl, nämlich Empfindungslust und Erlebnislust. Letztere ist eine Lust am Vollzug von intentionalen Vorstellungen, die sich dann mittels dieser Vorstellungen auch auf deren intentionale Gegenstände erstreckt. In beiden (und allen) Arten von sinnlichen Lustgefühlen handelt es sich aber um eine affektive Form des inneren Bewusstseins als Bewusstseins von immanenten (empfindungsmäßigen oder aktmäßigen) Zeitinhalten. Die erste Art von sinnlichen Lustgefühlen, nämlich die Empfindungslust, umfasst neben der Lust an Empfindungen auch noch die Trieblust. Im weiteren Sinn kann nämlich nicht nur die Lust an einer angenehmen Empfindung, sondern auch die Lust an einer triebmäßigen Entspannung als eine Empfindungslust bezeichnet werden. Die zweite Art von Lustgefühlen, die Erlebnislust, differenziert sich ihrerseits wiederum in eine Lust, die mit dem Vollzug von intentionalen Vorstellungen oder aber mit dem Vollzug von intentionalen Wertnehmungen verbunden ist. Allerdings folgt aus dem Umstand, dass der Vollzug von Wertnehmungen lustvoll sein kann, keineswegs, dass Wertgegenstände Lustobjekte sind. Die verhängnisvollen Folgen einer solchen Verwechslung sind denn wohl auch der Grund, warum sich Husserl in den Studien zur Struktur des Bewusstseins der Scheidung zwischen sinnlicher Lust und einem auf einen Gegenstandswert bezogenen „Gefallen“ oder „Wohlgefallen“ mit besonderer Sorgfalt widmet. Akte des Gefallens beziehen sich nach der von Husserl stets vertretenen Auffassung notwendig auf intentionale Gegenstände, die durch
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ein Wertprädikat ausgezeichnet sind, oder auf die allgemeinen Werte selbst. Etwas Unwertes, Wertloses oder Schlechtes kann demnach unmöglich gefallen (es sei denn, wie Husserl einmal bemerkt, man sei Luzifer). Husserl hält auch stets daran fest, dass Wertprädikate einem Gegenstand oder Sachverhalt selbst zukommen und nicht, wie etwa die doxischen Seinsprädikate (des Gewiss-, Fraglich- oder Zweifelhaftseins), nur aus der subjektiven Beziehung zum intentionalen Objekt erwachsen. Das subjektive Gefühl des Gefallens einer Werteigenschaft ist somit objektiv begründet im intentionalen Gegenstand eines Aktes der Wertnehmung,39 der wiederum auf einer intentionalen Wahrnehmung des Gegenstandes beruht. Allerdings werden Wertprädikate nicht wie sachliche Eigenschaften eines Dinges schlicht wahrgenommen, sondern aufgrund dieser Eigenschaften vom Subjekt aktiv konstituiert.40 Werteigenschaften sind für Husserl somit weder rein objektiv noch rein subjektiv und sie können aus diesem Grund geradezu als Paradebeispiel von Husserls Konstitutionsgedanken dienen. Als Gegenstände einer Wert-nehmung, die in einer sinnlichen Wahrnehmung fundiert ist, sind Werte keine rein sinnlichen Gegenstände, obwohl sie (anders als etwa die höherstufigen logisch-kategorialen Gegenstände) unmittelbar wert-genommen werden. Das „Wohlgefallen“, das eine Wertnehmung begleitet, ist das Gefühl für einen positiven Wert. Als solches Wertgefühl bezieht es sich notwendig und unmittelbar auf einen intentionalen (Wert-)Gegenstand. Als intentionales Wertgefühl unterscheidet sich das Gefallen somit ganz wesentlich von einer sinnlichen Trieb-, Empfindungs- oder Erlebnislust. (Natürlich ist damit keineswegs ausgeschlossen, dass das Gefallen als Vollzug eines intentionalen Gefühls- oder Gemütsaktes seinerseits, wie alle anderen intentionalen Akte, von einer sinnlichen Erlebnislust begleitet sein kann. Man muss ganz im Gegenteil davon ausgehen, dass Akte des Wohlgefallens normalerweise mit dem inneren Bewusstsein einer sinnlichen Lust verbunden sind.) Nach Husserl gibt es nun aber neben dem sinnlichen Gefühl der Lust (in seinen verschiedenen Arten und Abarten) und neben dem Gefallen als Gefühlskomponente einer Wertnehmung noch eine dritte Art von positivem Gefühl, nämlich die „Freude“. Im Normalfall freut man sich über etwas, das einem gefällt. Die Freude muss also als eine affektive Reaktion auf den (Wert-)Gegenstand eines Gefallens verstanden werden.41 Sie ist eine vom gefallenden und positiv gewerteten Gegenstand ausgelöste „Begeisterung“, ein „Entzücken“.42 Eine sol-
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che affektive Erregung der Freude unterscheidet sich als intentionales Gefühl in ähnlicher Weise von der sinnlichen Lust wie schon das Gefallen. Nicht nur beziehen sich sowohl das Gefallen als auch die Freude auf einen intentionalen Gegenstand, sondern man kann auch davon ausgehen, dass nur ein wirklicher werter Gegenstand zu gefallen vermag, wie man sich ebenfalls nur über die Wirklichkeit eines Gegenstandes oder Sachverhalts richtig freuen kann. Fiktive bzw. bloß mögliche Gegenstände einer „bloßen“ Vorstellung oder eines Wunsches hingegen vermögen, da man nicht an ihre Wirklichkeit glaubt, im eigentlichen Sinne weder zu gefallen noch das Gemüt zu erfreuen. Phantasien und Träume als Wunscherfüllungen erzeugen Lust, nicht Gefallen und Freude. Trotz dieser Wesensverwandtschaft sind die intentionalen Akte des Gefallens und der Freude jedoch nicht notwendigerweise miteinander verkoppelt. Es gehört zwar das Gefallen zum Wesensbestand einer Wertnehmung, aber die Freude über den gefallenden Wertgegenstand gehört nicht notwendig zum Akt eines Gefallens.43 Man kann, aber man muss nicht, sich über den Wertgegenstand des Gefallens freuen.44 Dieser Unterschied ergibt sich nach Husserl daraus, dass das Gefallen als affektive Stellungnahme notwendig zum Bewusstsein des Wertgegenstandes gehört, während die Freude eine fakultative affektive Reaktion auf den als gefällig gesetzten Gegenstand darstellt. Als affektive Reaktion auf einen gefälligen Wertgegenstand gehört zur Freude nicht nur die Möglichkeit, sich zu „steigern“, sondern auch die Möglichkeit, sich „auszubreiten“ oder „auszustrahlen“ über ihren eigentlichen Anlasse bzw. Gegenstand hinaus.45 Husserl spricht davon, wie ein Gemütszustand der Freude „sich überträgt, dass eine gute Stimmung alles in schönem Licht erscheinen lässt, geneigt macht, überall Erfreuliches zu finden .“46 Freude ist ansteckend, und Husserl versucht diesem Freudengefühl, dem es an einer präzisen Zuweisung zu einem Gegenstand fehlt, durch den Begriff der „Stimmung“ Rechnung zu tragen.47 Eine solche affektive Stimmung ist wohl am besten mit einem vorstellungsmäßigen Hintergrund- oder Horizontbewusstsein zu vergleichen. Abweichend vom wesentlich räumlich bestimmten Horizontbewusstsein hat die Ausbreitung einer Stimmung jedoch eine betont zeitliche Dimension. Stimmungen verbreiten sich nicht bloß über die Umgebung, sie dauern auch an, wenn der Anlass ihrer Erweckung längst der Vergangenheit angehört. Eine erfreuliche Nachricht bei der morgendlichen Erledigung der Korre-
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spondenz macht, wie man sagt, den ganzen Tag gut: „[D]as auf das Objekt bezogene Entzücken klingt ab, ich lebe nicht mehr in ihm. Andererseits setzt es sich fort, eventuell in einer heiteren Stimmung, die etwas Nachgewirktes ist, ein sich über den Bewusstseinsinhalt verbreitendes Gefühl, mit seinem Licht alle Objekte färbend und zugleich für jedwede Lustreize empfänglich machend (andererseits unempfänglich für Unlustreize).“48 Obwohl man sich im eigentlichen Sinne nur über einen intentionalen Gegenstand freuen kann, so haben die Freude und die freudige Stimmung doch einiges gemein mit dem Genießen einer sinnlichen Lustempfindung. Beiderseits handelt es sich nämlich um eine affektive Reaktion, d.h. um eine gefühlsmäßige Zuwendung – im einen Falle zu einem gefälligen Gegenstand, im anderen zu einer Lustempfindung. Es ist ebenfalls nicht nur denkbar, sondern auch phänomenologisch leicht zu belegen, dass der Vollzug eines intentionalen Gefühlsaktes der Freude in der Regel mit der Empfindung von Lust verbunden ist. Wenn schon der Vollzug jeder intentionalen Vorstellung lustvoll sein kann, so gilt das sicher in ganz besonderem Maß von den Akten des Gefallens und in höchstem Maß von den Akten der Freude.49 Man denke nur an die Zeugnisse der Mystiker oder etwa an Berninis Standbild der heiligen Theresa. Solche Beispiele belegen anschaulich, wie eine himmlische Freude mit einem Zustand leiblicher Verzückung verwoben sein kann. Man muss sich nur davor hüten, die Freude oder das Gefallen an einem Wertgegenstand vom Empfinden dieser sinnlichen Lust abhängig machen zu wollen. Husserls nüchterner Verstand behält also Recht, wenn er schreibt: „Die Lebhaftigkeit des Wohlgefallens ist aber etwas anderes als die Intensität, die in der Sinnlichkeit liegt.“50 Ihr Unterschied ist jedoch nicht allein in der verschiedenen Wertung von Geist und Sinnlichkeit begründet, sondern auch im Anlass dieser verschieden gelagerten Gefühle. Während es nämlich genügt, sich einem werten Gegenstand zuzuwenden, um Wohlgefallen und Freude zu erleben, entzieht sich das Auftreten von Lustempfindungen (nicht nur im Falle der Trieblust) weitgehend der Macht des Subjekts. Die Lust lässt sich, im Gegensatz zu Gefallen und Freude, schwerlich instrumentalisieren. Wenn aber das Empfinden von Lust sinnigerweise nicht das erklärte Ziel unserer Vorstellungen und Handlungen sein kann, dann liegt der Hedonismus nicht nur aus moralischen Gründen im Argen. Husserls Ethik der Wertnehmung und Wertsteigerung ist ein sicherer Weg zu menschlichem Glück, aber sie
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ist aus eben diesem Grunde auch anfälliger für utilitaristische Berechnungen. Anmerkungen: 1
Unter diesem Titel wurde eine Sammlung von Forschungsmanuskripten im Auftrag von Husserl durch seinen damaligen Assistenten L. Landgrebe angelegt und redigiert. Eine von U. Melle und Th. Vongehr besorgte kritische Edition der dieser Textsammlung zugrunde liegenden Originalmanuskripte wird voraussichtlich im Jahre 2006 in den „Husserliana“ erscheinen. Wo immer im Folgenden auf unveröffentlichte Originalmanuskripte aus den Jahren 1909-1914 verwiesen wird, handelt es sich um Texte aus diesen Manuskripten. 2 Ms. B II 3/16a (Juni 1934). 3 Ms. A VI 12 I/130a (1914): „Triebwille“; vgl. auch Ms. A VI 3/17a (1914). 4 Ms. A VI 3/7a (1914). 5 Ms. AVI 12 II/91a (1911). 6 Ms. A VI 12 I/131a f. (1914). 7 Ms. A VI 3/11; A VI 3/12; A VI 12 I/12; A VI 12 I/150 ff.; A VI 12 I/129, 131; A VI 12 I/130b (1914); Ms. B II 3/18a (1934). 8 Vgl. Ms. B II 3 (1934): „ ein sich regendes Bedürfnis, ein aufsteigendes Begehren ‚zurückdrängen‘, ‚verdrängen‘.“ (18a); „‘Entsagen‘: bedauernd, dem Trinken, dem Rauchen etc., etwa weil es Gefahr der Gesundheit bringt etc. Das ist bloß das weiter bestehende Begehren nicht in Tat umsetzen, also bloß die passive und die überlegt-handelnde Erfüllung des Begehrens durchstreichen (nicht wollen, nicht handeln). Das Begehren selbst bleibt undurchstrichen.“ (19a) 9 Ms. A VI 3/12; A VI 12 I/130b (1914). 10 Ms. A VI 12 I/131a; A VI 12 I/130b (1914). 11 Vgl. R. Bernet, „Zur Phänomenologie des Blicks bei Lacan und MerleauPonty“, in RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse, 49 (2000/III), 121-144. 12 Ms. A VI 12 I/129b, 131a (1914): „ wenn der Anblick eines Objekts als Reiz eines Triebes wirkt, eine Triebbewegung reproduktiv erregt, die in seiner Realisierung terminieren würde, und nun der Reiz ‚wirksam‘ wird, dem gemäß unmittelbar die Betätigung abläuft.“ Vgl. auch noch Ms. C 13/44a (1934): „Wenn nun das Streben über den Ausgangsstatus des Hungerns nicht hinaus kommen kann, gehemmt im Gang des Erzielens, wenn der Hunger in der Unerfülltheit sich fortsteigert zu immer leidenschaftlicherem Begehren: motiviert das nicht ein Zurücksinken in die Vergangenheit und ins anschauliche Wiedererinnern an Hunger und Erfüllung im steigenden und sättigenden Genuss ?“ 13 Ms. A VI 12 I/129, 131a (1914). 14 Ms. A VI 12 I/129a und 131a (1914). 15 Ms. A VI 12 I/129a (1914). Vgl. auch Ms. B II 3/14b (1934): „Aber liegt nicht in der Entspannung Überwindung von Hemmung? Hat nicht jeder Triebverlauf eben die wesensmäßigen Komponenten oder Seiten (untrennbare Momente) der Positivität und Negativität, der Erfüllung und Hemmung?“ 16 E. Husserl, Ideen zur einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch – Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. Von M. Biemel, M. Nijhoff, Den Haag, 1952, 258: „ ein Tun in der Überwindung eines Widerstandes, ein Tun mit einem ‚Gegen‘ . Es gibt (immer phänomenologisch) eine Gradualität des Widerstandes und der Kraft der Überwindung: der ‚aktiven‘ Kraft gegenüber der ‚trägen‘ des Widerstandes.“
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Ms. A VI 12 I/129a (1914). Vgl. auch Ms. A VI 12 I/131a. Vgl. Ms. B II 3/17a (1934): „Aber ist die Konkurrenz verschiedener Triebe ‚Hemmung‘ – in demselben Sinn wie die Auswirkung eines Triebes auf Widerstand stößt ?“ 19 Metaphysica, Theta 1, 1046 a 11-16. Vgl. dazu den Kommentar von M. Heidegger in: Aristoteles, Metaphysik Theta 1-3. Vom Wesen und Wirklichkeit der Kraft, GA 33, V. Klostermann, Frankfurt a.M., 19902, S. 103-107. 20 Ms. A VI 12 I/129a (1914): „Konkurrenz von Trieben, Hemmungen von Triebbetätigungen durch Auftauchen neuer Reize mit neuen Triebimpulsen etc.“ 21 Ideen II (op. cit.), 259 und Ms. A VI 12 I/129b (1914). 22 Ms. A VI 12 I/130b (1914). Vgl. auch Ms. A VI 3/41; A VI 12 I/150 ff. 23 Physica, B, 193b 12-13. Vgl. den Kommentar von M. Heidegger: „Vom Wesen und Begriff der Physis“, in: Wegmarken, V. Klostermann, Frankfurt a.M., 19782, S. 286-291. 24 Vgl. dazu die mit zahlreichen Textstellen aus dem Nachlass belegten Darstellungen bei Nam-In Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, Kluwer („Phaenomenologica“ 128), Dordrecht/Boston/London, 1993 sowie bei A. Montavont, De la passivité dans la phénoménologie de Husserl, Presses Universitaires de France („Epiméthée“), Paris, 1999. 25 Ms. A VI 8 II/70a (1909): „Wenn ich einen Wunsch nehme, so ist der erwünschte ‚Sachverhalt‘ doch kein wirklicher Gegenstand, kein wirklicher Sachverhalt. Dem Wünschen liegt nicht zugrunde ein unmodifizierter Akt, eine Impression, sondern eine bloße Vorstellung.“ Vgl. auch Ms. A VI 8 II/90b f. 26 Ms. A VI 30/222b, 224a (1909/10): „Wünsche richten sich auf das Sein etwa von Dingen auf das Eintreten von Vorgängen . Wollungen gehen auf Realisierung: auf den Vollzug von Leibesbewegungen etc.“ 27 Ms. A VI 7/8a (1909/10). 28 Ms. A VI 3/31a (1914). 29 Ms. A VI 12 I/131b (1914). 30 Ms. A VI 12 I/131a (1914). 31 Ms. A VI 12 I/129a (1914). „Ob man sagen kann, jeder Trieb geht auf ‚Lust’, ob in jedem Ablaufen eines Triebes Lustgefühle auftreten müssen, ob in jedem Weggetriebensein Unlust und Empfindung von Unlust liegt?“ (Ms. A VI 3/9a; vgl. auch A VI 12 I/130) 32 De anima, 432b, 30. 33 Ms. A VI 8 I/76b (1911). 34 Ms. A VI 12 II/67b (1911): „Gefühle ‚am’ Empfindungsinhalt (Lust am Wohlgeschmack, ‚am’, ‚im’)“. 35 Ms. M III 3 III I/16a; und A VI 12 II/27b (1909/10). 36 Ms. A VI 30/230a (1909): „Lust ist kein [intentionales] Bewusstsein, sondern Lust ist etwas, was erst auf das Objekt bezogen wird.“ 37 Ms. A VI 12 II/71b (1911); vgl. auch A VI 12 II/131 f. 38 Ms. A VI 12 II/135a (1911). 39 Es sei nicht verschwiegen, dass Husserl diese ursprüngliche Einheit von Wertnehmung und Gefallen gelegentlich wieder in Frage zu stellen scheint: „Ich kann aber einmal in der Apperzeption leben, in welcher der Gegenstand mit seinen Werteigenschaften konstituiert , das andere Mal lebe ich in der Gefühlsstellungnahme, in der Gefühlsspontaneität. Ich sehe eine schöne Frauengestalt. Einmal bin ich entzückt, das andere Mal lässt sie mich kalt, obwohl ich sie gleich schön finde.“ (Ms. A VI 8 I/45a (1911)) Aufgrund verwandter Passagen, wo Husserl zwischen Wertnehmung und Freude als „zwei Seiten“ eines selben Erlebnisses unterscheidet, legt sich jedoch die Vermutung nahe, dass mit der „Gefühlsstellungnahme“ im obigen Zitat nicht das „Gefallen“, sondern der vom Gegenstand wertmäßigen 18
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Gefallens erregte Zustand der „Freude“ gemeint sein dürfte: „Sind Akt und Affekt zu trennen? Oder haben wir etwa im selben Gefallensbewusstsein zwei ‚Seiten’ zu unterscheiden: das Wohlgefallen als Werthaltung und eine Komponente, der die Steigerung zukommt, die Komponente der Freude und Freudenerregung, die mit der Dauer und Zahl der Wohlgefallensakte sich (im Allgemeinen) steigert?“ (Ms. A VI 12 II/128b (1911)) 40 Ms. A VI 30/229b, A VI 12 II/34a (1910/11): „Ich vollziehe eine Wertschätzung: Die Zigarre gefällt mir, ein Gefallensakt wird vollzogen auf dem Grund jener Apperzeption. Aber die Zigarre steht nun als eine werte da. Dieses Dastehen ist aber nicht wieder ein Wahrnehmen, nicht ein Wahrnehmen zweiter Stufe. Der Wert ist ja nicht ‚gegeben’ und in keiner Weise gegeben; es ist nicht so wie beim Wahrnehmen .“ 41 Ms. A VI 12 II/127a-128a (1911): „Wir unterscheiden aber das Wohlgefallen und die Freude, die mich durchschauert etc. Das Wohlgefallen, der Akt, durchschauert mich nicht, aber er erregt Schauer der Seligkeit. Das Wohlgefallen, der Akt im eigentlichen Sinn , ist die Quelle eines Affekts der Freude, die Quelle einer Fröhlichkeit, eines Frohmuts, einer fröhlichen Stimmung.“ 42 Ms. A I 16/7b (1911). 43 Ms. A VI 12 I/132a (1911): „Ist es nicht klar, dass die Intentionalität der Freude selbst eine andere ist als die des ihr zugrunde liegenden Wertnehmens? Das Schöne erregt nicht das Schönfinden . ‚Zustände’ werden erregt, ‚Akte’ werden nicht erregt. Die Freude hat keine Modi der Stellungnahme und ist keine solche. Sie ist ein Zustand, der durch gewisse Apperzeptionen und Stellungnahmen erregt ist.“ 44 Ms. A VI 12 II/128b (1911): „Kann es nicht sein, dass wir Schätzung haben, in diesem Sinn Gefallen, ohne im geringsten in Erregung zu kommen, ohne uns zu freuen ?“ 45 Ms. A I 16/7b, 8b (1911); und A VI 12 II/71 (1911). 46 Ms. A VI 8 I/45b; A VI 12 II/72a (1911). 47 Ms. A VI 12 II/72 f. (1911); und A VI 12 II/126b; A VI 12 II/ 74b (1911). 48 Ms. A VI 8 I/50a (1911). 49 Ms. A VI 12 II/71b (1911): „Ich betrachte mit Genuss das Bild, ‚mich’ durchschauert eine Seligkeit. Mich: Durch meinen Körper geht ein Strom der Lust, ich fühle diese Seligkeit im Herzen, in der Brust, die Schauer breiten sich bis in die Zehen aus etc.“ 50 Ms. M III 3 II I/115a (1911).
Die phänomenologische Erfahrung und die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen im Anschluss an Husserl und Freud Jagna Brudzinska, Universität zu Köln Zusammenfassung: Das phänomenologische Erfahrungsverständnis knüpft an den Topos des Erscheinens und Schauens an. Husserl überwindet aber in seiner Konzeption die traditionelle, empiristisch gefärbte Bindung der Anschauung an die Bewussthabe von aktuellen, impressional fundierten Wahrnehmungen. Das Studium des inneren Zeitbewusstseins und vor allem eine starke Interpretation der Phantasie als Leistungsbewusstsein bzw. phantasmatisch-imaginäre Erfahrungs- und Wirkungsordnung, erlauben eine wesentliche Erweiterung des Erfahrungsbegriffs. Damit wird zugleich der Weg zur Behandlung des Unbewussten als phantasmatisch-imaginäre Leistungsstruktur geebnet. Im Anschluss an Husserls Erweiterung des Erfahrungsbegriffs und Freuds dynamisches Verständnis der unbewussten Erfahrung lässt es sich als ursprünglich gebendes mediales und sogar polyphonisches Repräsentationsbewusstsein deuten. Als originäres Erfahrungsfeld für die Erforschung dieses Repräsentationsbewusstseins fungiert der Traum. Abstract: The phenomenological understanding of experience resumes the topic of appearance and seeing intuition. However, Husserl overcomes the traditional, empirically colored view of intuition as being linked to the consciousness of current perceptions which are impressionally founded. The study of inner time-consciousness and above all a strong interpretation of imagination as the consciousness of intentional achievement resp. as the phantasmatic-imaginary order of experience and effectiveness allow a decisive expansion of the term of experience. This expansion makes it possible to understand the unconscious as a phantasmatic-imaginary structure of intentionality. Following Husserl’s new interpretation of experience and Freud’s dynamical understanding of unconscious experience the unconscious can be interpreted as originally giving – medial and polyphone – consciousness of re-presentation. The original research field of this issue is the dream.
Die erfahrende Subjektivität im Zugriff der Phänomenologie und der Psychoanalyse Phänomenologie und Psychoanalyse setzen bei Gegensätzlichem an. Entdeckt die Phänomenologie das Bewusstsein neu als Feld der transzendentalen, sich in unterschiedlichen Dimensionen und Struktu54 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 54–71. © 2006 Springer.
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ren realisierenden Erfahrung, so ist es das Unbewusste, das die Psychoanalyse Freuds als die originäre Subjektivität und zugleich als das Gebiet der neuen empirischen Forschung aufspürt und zu erschließen versucht. Sie beginnt bekanntlich bei klinischen Symptomen, bei Phänomenen wie Hysterie und Konversion, Hypnose oder Katharsis. Dort vollzieht sich die freudsche Entdeckung des Unbewussten als seelische Realität. Anhand der Traumanalysen, Studien der Neurosen und Fehlleistungen entwickelt Freud Modelle des seelischen Apparates bzw. der seelischen Persönlichkeit, die dem Unbewussten einen systematischen Stellenwert verleihen. Wie ist jedoch das Unbewusste als seelische Realität zu verstehen? Handelt es sich um eine Qualität des Erlebens oder um eine der äußeren Realität analoge Entität, um einen aufzeigbaren Bereich der psyché oder um eine unsichtbare Struktur des Erlebens? Ist es eine spezifische Sphäre der Erfahrung oder gerade dasjenige, was die Erfahrung übersteigt, sich ihr entzieht, sie sprengt? Im letzteren Fall würde dies vom phänomenologischen Standpunkt aus betrachtet bedeuten, dass es keine sinnvolle Weise des Umgangs mit dem Unbewussten gibt, dass es lediglich um eine spekulative Annahme geht, die vom Standpunkt der phänomenologischen Empirie aus unzulässig ist und somit keinen epistemologischen – nicht einmal einen epistemischen – Wert aufweist. Will man das Unbewusste im Rahmen der Phänomenologie zum Thema machen, muss man also zuerst die Möglichkeiten seiner – sozusagen – Phänomenologisierung befragen. Diese Phänomenologisierung will ich als Beleuchtung des erfahrungstheoretischen Sinns des Unbewussten angehen. Ich nehme damit ein Motiv auf, das innerhalb der phänomenologischen Reflexion bereits Eugen Fink mit seinem Hinweis angesprochen hat, dass das Problem des Unbewussten im Rahmen der Analytik des Bewusstseins zu lösen sei.1 In neuerer Zeit betont vor allem Rudolf Bernet, dass die „genuin freudsche Frage“ die nach dem bewusstseinsmäßigen Status des Unbewussten sei.2 In seinem Ansatz deutet er das Unbewusste aus der Konstitutionsstruktur des reproduktiven Bewusstseins der anschaulichen imaginativen Vergegenwärtigungen. Eine dieser Haltung verpflichtete Phänomenologisierung des Unbewussten gilt nicht als ein Ziel für sich. Vielmehr geht es darum, durch die Klärung des erfahrungstheoretischen Sinns dessen, was die Psychoanalyse Freuds unter dem Titel Unbewusstes meint, die psy-
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choanalytischen Thesen für die phänomenologische Reflexion zu gewinnen. Die Subjektivität ist für Freud immer die Sphäre des konkreten Erlebens realer Menschen, sie ist der Bereich ihrer Erfahrung als Erfahrung der Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit, der Bedürftigkeit und insbesondere der Sexualität. Die große Leistung der Psychoanalyse besteht dabei im Abstecken des Forschungsfeldes der subjektiven Konstitution als unbewusstem Wirkungszusammenhang, in der Auslegung ihrer wirksamen Momente (Trieb, Wunsch, Konflikt, Widerstand, Abwehr, Verdrängung) sowie in der Erfassung der Gestaltungsregel im subjektiven – bzw. intersubjektiven oder sogar transsubjektiven – Wirkungsbereich (Identifikation, Projektion, Spaltung, Verschiebung, Verkehrung ins Gegenteil, Verdichtung etc.) und in der Beschreibung der Entwicklungsstufen subjektiver Grundorganisationen (präödipale, narzistische, ödipale Strukturen), die nicht bloß im individuellen oder klinisch-psychologischen Sinne von Bedeutung sind, sondern durchaus auf ihre allgemeine, die leistende Subjektivität fundierende Rolle hin überdacht werden können. Berücksichtigt man, dass für Freud all diese Strukturen und Relationen einen triebhaften Charakter aufweisen und die Psychoanalyse die seelische Entwicklung (und somit die subjektive Genesis) als Geschichte der Triebschicksale begreift – aus diesem Grund wird ihr ja häufiger der Vorwurf einer Naturalisierung des Bewusstseins gemacht –, könnte die Absicht, die freudschen Thesen mit den Mitteln der Phänomenologie als Bewusstseinsphilosophie anzugehen, Zweifel hervorrufen. Doch eine eingehende Lektüre Husserls zeigt, dass die Phänomenologie als Subjektivitätstheorie für den Dialog mit der Psychoanalyse geradezu prädestiniert ist. Nicht zuletzt erweist sich bei Husserl der Trieb und die Triebintentionalität als Medium für die Expansion und Öffnung der subjektiven Erfahrung.3 Bereits in den 20er-Jahren hält Husserl im Rahmen seiner Intersubjektivitätsanalysen die konstitutive Bedeutung des instinktiven Trieblebens für die Fundierung der Intersubjektivität fest und weist dieses als passive Struktur der reinen Subjektivität aus. 4 In seiner späten genetischen Phänomenologie der 30er-Jahre erschließt er das Feld der affektiven bzw. triebhaft-instinktiven Genesis, spürt die affektiven und selbstaffektiven Weckungen auf, die Ursynthesen stiften, und etabliert endgültig den Trieb, der sich als Selbstaffektion transzendental realisiert, als Faktum der transzendentalen Konstituti-
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on. Als solcher spielt der Trieb in der späten Phänomenologie eine ausgezeichnete Rolle als Moment der ursprünglichen Zeitigung (vgl. z.B. Hua XV, 594 f.). Eine aufmerksame Lektüre Husserls und Freuds zeigt, dass es weitere Anhaltspunkte und systematische Verbindungslinien zwischen ihren Werken gibt: Es ist zunächst der genetische Gedanke, den die beiden Denkrichtungen in ihrer Deutung der Subjektivität entwickeln; ferner ist es die Assoziation, die von beiden Autoren neu entdeckt wird und in beiden Konzeptionen mehr oder weniger explizit (bei Husserl explizit, bei Freud eher implizit) als Prinzip der Genesis fungiert. Vor allem verbindet beide Denker jedoch die Phantasie als Feld der Subjektivitätserfahrung und -erforschung. Es sind vornehmlich Husserl und Freud, die im 20. Jahrhundert die Phantasie als einen wissenschaftlichen Forschungsbereich neu erschließen. Während Husserl um den erfahrungstheoretischen und epistemologischen Sinn des Phantasiebewusstseins ringt, gelingt es Freud, die empirischen Gesetzmäßigkeiten des Imaginären als Wirkungszusammenhang des Unbewussten zu vertiefen. Als ein weiteres verbindendes Moment kann ein struktureller Aspekt des Erfahrungsverständnisses angeführt werden, nämlich die Polarität.5 Die Phänomenologie ist als Bewusstseinsphilosophie zwischen den Methodenschwerpunkten des transzendentalen Idealismus und der Hermeneutik der Lebenswelt verankert. Aus dieser Zwischen- oder sogar Doppelstellung heraus leistet sie eine wesentliche Umwandlung des Verständnisses von transzendentaler Subjektivität: Die Transzendentalphilosophie Husserls begreift die reine Subjektivität nicht mehr als ein leibloses und zeitloses, ahistorisches und affektfreies Ich. Vielmehr wird sie als ein aktives, urteilendes und stellungnehmendes, aber zugleich auch als ein erleidendes, passiv motiviertes und rezeptives Ich vorgefunden, das in seinem Leib wurzelt und Sinnstiftung nur im Horizont seiner Geschichte und kraft eigener Affektivität leisten kann. Die reine Subjektivität wird bei Husserl als Feld der Erfahrung entdeckt, die Erfahrung indessen als ihr Ereignis, das sich in unterschiedlichen Dimensionen und Strukturen realisiert, sich auf Vergangenes wie Künftiges erstreckt und sich im Spannungsfeld von Eigenem und Fremdem als Logos und Pathos abspielt, wobei es aus dem Impressionalen und Phantasmatischen schöpft.
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Diese Erfahrung ist nicht verschlossen. Sie ist auch nicht angewiesen auf ein erbarmungsloses Hier-und-Jetzt-Sosein und auch nicht darauf, ihrer immer schon verlorenen Ursprünglichkeit hinterher zu ‚jagen’ – wie es die (post-)heideggerschen oder poststrukturalistischen Interpretationen nahe legen.6 Die Erfahrung lässt sich vielmehr als eine offene und exstatische, zudem – so meine These – mediale und sogar polyphonische deuten. Als solche zeigt sie sich als eine bipolare Wirkungsstruktur. Ihre phantasmatisch gebenden, medialen und polyphonischen Charaktere scheinen dabei die Erfahrungsweisen zu kennzeichnen, die unter Berücksichtigung der Ergebnisse Freuds als Zusammenhang des Unbewussten verständlich gemacht werden können. Das Erfahrungsbewusstsein bei Husserl und der Stellenwert des Phantasmatisch-Imaginären Die phänomenologische Erfahrung, ob als kategoriale, eidetische oder transzendentale, baut vertikal auf der empirischen bzw. schlichten sinnlichen Erfahrung auf. Auch darin unterscheidet sich die Transzendentalphänomenologie Husserls von den anderen Transzendentalphilosophien. Als Prototyp dieser ursprünglich fundierenden sinnlichen Erfahrung gilt Husserl anfänglich die perzeptiv oder impressional begründete Wahrnehmung. Doch bereits 1904/05 in seinen Studien zum Phantasiebewusstsein überdenkt Husserl dies. Neben der Anerkennung des Bewusstseins anschaulicher Vergegenwärtigungen als Imaginatives, erkennt er – nicht zuletzt veranlasst durch die Phänomene des Traumes, der Vision und Halluzination – die schlichte Phantasie als ein gegenüber der Wahrnehmung gleichberechtigtes Bewusstsein der ursprünglichen Re-Präsentation an und führt somit eine neue, und zwar horizontale Differenzierung im Begriff der sinnlichen Erfahrung ein.7 Die schlichte Phantasie wird – im Unterschied zu anschaulichen Vergegenwärtigungen des Bildbewusstseins oder der Wiedererinnerung (als reproduktives Repräsentationsbewusstsein) – als eine andere Art der ursprünglich fundierenden schlichten sinnlichen Erfahrung angesehen.8 Dabei zeichnet sich eine spezifische Struktur der ursprünglichen Bi-Valenz ab, die das subjektive Leben kennzeichnet, und zwar als solches, das sich – so meine weitere These – in zwei Ordnungen der Erfahrung bzw. in genetischer Hinsicht in zwei gleichrangigen Wirkungsordnungen vollzieht. Ich bezeichne diese Ordnun-
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gen als die impressional-apperzeptive und die phantasmatischimaginäre. Die Beziehung zwischen ihnen verstehe ich als eine Relation der Gleichrangigkeit und konstitutiven Gleichgewichtigkeit. Die Bi-Valenz der Erfahrungsordnungen Die bi-valente Erfahrungsstruktur wird von Husserl im Anschluss an die Phantasievorlesung von 1904/05 weiter entfaltet.9 Zwar verschiebt sich mit den Vorlesungen zum inneren Zeitbewusstsein von 1904/05, die der Phantasievorlesung folgen, die Aufmerksamkeit, und zwar zugunsten der Konzentration auf das Vergangenheitsbewusstsein (auf das retentionale wie auch auf das Wiedererinnerungsbewusstsein). Zum Prototyp des Repräsentationsbewusstseins wird dann die Wiedererinnerung. Dem (ur-)impressionalen Bewusstsein als Gegenwärtigung wird das modifizierte bzw. reproduktiv vergegenwärtigende gegenübergestellt. Auf diese Weise gelangen die reproduktiven Charaktere der Phantasie als Repräsentationsbewusstsein (Bewusstsein anschaulicher Vergegenwärtigungen) in den Vordergrund, während das Interesse an der Phantasie als schlichtes, ursprüngliches Vorstellungsbewusstsein insgesamt in den Hintergrund tritt. Doch damit geht der ursprüngliche Faden nicht verloren. 1917 wird die Phantasie als originär gebendes Bewusstsein von Möglichem herausgestellt – als ein Bewusstsein, das, gleichsam dem Wahrnehmungsbewusstsein, konstitutive Leistungen vollbringt. (Hua XXV, 170) Somit erhält die Konstitutions- bzw. Erkenntnisart des Phantasiebewusstseins einen Namen, und es werden zwei unterschiedliche und nicht aufeinander zurückführbare Konstitutionsordnungen anerkannt: Die Phantasie als Leistungsbewusstsein (phantasmatisch-imaginäre Wirkungsordnung), das für die Konstitution des Möglichen verantwortlich ist, und das impressionale Apperzeptionsbewusstsein (impressional-apperzeptive Wirkungsordnung), das die Konstitution des Realen verantwortet.10 Zu Beginn der 20er Jahre differenziert Husserl den Anschauungsbegriff auf entsprechende Weise weiter. Der sinnlich-impressionalen Anschauung wird diejenige der sinnlich-imaginären Anschauung bzw. der Phantasieanschauung – auch Quasi-Anschauung genannt – zur Seite gestellt.11 Hier scheint die Rede von der Bi-Valenz der Erfahrungsordnungen eine letzte erfahrungstheoretische Bestätigung zu finden. Diese spiegelt sich dann auch im Verständnis des Erfahrungs-
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subjekts und seines Lebens als eines ichlichen Lebens wider: Neben einer vertikalen Polarität zwischen dem wachen und dumpfen bzw. dem patenten und latenten Ich als Entsprechung des Spannungsverhältnisses zwischen Aktivität und Passivität im Stufenbau der Konstitution12 wird die horizontale Spannungsstruktur der egologischen Form verständlich, und zwar diejenige zwischen Ich und Quasi-Ich. Das Ich bzw. das Wahrnehmungs-Ich als Subjekt des ImpressionalApperzeptiven steht für die Konstitution des Wirklichen, das QuasiIch für die Konstitution des Möglichen.13 Eine besondere Rolle bei dieser Bestimmung spielt meines Erachtens die Differenzierung der ursprünglichen Sensualität, und zwar in deskriptiv-funktionaler, struktureller und schließlich auch genetischer Hinsicht. Vor allem die strukturelle Unterscheidung zwischen Empfindung und Phantasma offenbart den spezifischen medialen Charakter des Phantasmatisch-Imaginären. Die Medialität des Phantasmatischen Die Empfindung – als Sinnlichkeitsmodus der Gegenwärtigung (Wahrnehmung) – wird bereits in der Phantasievorlesung von 1904/05 als Stempel der Realität, als primäre, aktuelle Gegenwart (Hua XXIII, 81) zugleich als ein Festhalten am leibhaftigen Selbst erkannt. Dem Phantasma – als Sinnlichkeitsmodus der Vergegenwärtigung – wird hingegen ein transitiver, sozusagen durchlässiger und, wie mir scheint, medialer Charakter zugeschrieben. Die Medialität des Phantasmatischen kommt darin zum Ausdruck, dass es als dasjenige eingesehen wird, was „primär die Funktion hat, für etwas anderes zu gelten“ (ebd.). Als solches kann das Phantasmatische, so meine weitere These, als originäre Befähigung zum Loslassen des leibhaftigen Selbst der Empfindung und zum Erscheinen-Lassen eines Anderen verstanden werden.14 Unter dem Begriff des Anderen verstehe ich nicht bloß den Anderen. Die phantasmatische Gegebenheitsweise der anschaulichen Vergegenwärtigungen erweist sich zwar als zentral für die Konstitution der Intersubjektivität. In diesem Zusammenhang rekurriert Husserl allerdings auf die assoziativen Paarungssynthesen (Synthesen der Ähnlichkeit), die vorrangig an imaginative (nachbildende bzw. reproduzierende) Funktionen denken lassen und noch nicht den ursprünglichen Zugang zum Anderen aufzeigen müssen,
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sondern durchaus einen vermittelten Zugang zu ihm (z.B. Hua I, 141 f.). Es können aber Phänomene von ‚Andersheiten’ genannt werden, die im ursprünglichen Sinne als imaginäre und nicht nur als imaginative fungieren. Dabei geht es um das Bewusstsein der QuasiGegenwärtigung, nicht der Vergegenwärtigung. Als ein prominentes Beispiel gilt hier der Trieb, der – was insbesondere die Psychoanalyse Freuds mit ihrer Konzeption der Triebrepräsentanz zum Ausdruck bringt – immer als ein ursprünglich Anderes vorkommt, und zwar als eine ursprüngliche (Wunsch-)Vorstellung.15 Es handelt sich um ein originäres, phantasmatisch-imaginär leistendes, nicht jedoch um ein reproduktives bzw. imaginatives Repräsentationsbewusstsein. Der Trieb kann sich nicht ursprünglich imaginativ manifestieren. Denn er muss zunächst – als Körperliches – den Sprung in eine andere ontische Ordnung schaffen. Die phantasmatische Sinnlichkeit scheint dabei als Medium für diesen Sprung zu fungieren, womit ihre transzendentale Funktion zum Tragen kommt. Diese Funktion wird immer dann ausgeführt, wenn es um Erfahrungen geht, die die Ordnung des Impressional-Apperzeptiven und ihre ontische Einheitlichkeit überschreiten. Dabei ist an all das zu denken, was leicht als Fremdes oder nur Spekulatives angesehen wird: Gattungsgeschichte, Evolution, mythische und sogar religiöse Vergangenheit, oder gerade der Körper, die instinktiven Triebe und Neigungen.
Von der Medialität zur Polyphonie der phantasmatisch-imaginären Erfahrung Berücksichtigt man nun die Ergebnisse Freuds, so wird deutlich, dass das Phantasmatische nicht nur das transitiv-mediale Bewusstsein der ursprünglichen Andersheit realisiert, sondern darüber hinaus auch polyphonische Charaktere trägt. Bei seinen vorrangig aus dem Studium des Traumes resultierenden Analysen des Primärprozesses als Wirkungsordnung des Unbewussten (phänomenologisch gelesen: als phantasmatisch-imaginäre Erfahrungsordnung) zeigt Freud, dass die subjektiven Tendenzen (Neigungen, Begierden, Wünsche) nicht der Logik der Eindeutigkeit unterliegen, sondern vielmehr einer Überdeterminierung und Mehrdeutigkeit.
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Wir haben es hier mit Metamorphosen und flüssigen, unentwegt fortlaufenden Verwandlungen zu tun (die Husserl übrigens ebenfalls bemerkt und mit dem Prädikat der Proteusartigkeit des Phantasiebewusstseins zu kennzeichnen versucht16). Es ist der Wirkungsbereich von Ambivalenzen und Widersprüchen sowie gegen-, neben- und miteinander bestehenden Gegensätzen, die die unbewusste seelische Dynamik bestimmen. Das Unbewusste der Psychoanalyse Freuds zeigt sich so als eine dynamische Struktur der Mehrstimmigkeiten. Im systematischen Sinne ist es zum einen die Struktur von Trieb und Abwehr, die die unbewusste Erfahrung als Grundpolarität bestimmt, zum anderen sind es die ursprünglichen triebhaften Tendenzen selbst – Freud spricht in diesem Zusammenhang vom Kampf- und Tummelplatz entgegengesetzter Tendenzen17 –, die als multiple Botschaften aus der immanenten Konfliktlogik heraus Allianzen polyphoner Wirkungsstrukturen bilden. Die strukturelle Deutung des Phantasmatischen als ein Mediales und Polyphonisches und die folgende Analyse der Zeitstruktur des gegenwärtigenden, vergegenwärtigenden und quasi-gegenwärtigenden bzw. ursprünglich präsentierenden und ursprünglich re-präsentierenden Bewusstseins erlauben einen wesentlichen Schritt zum Verständnis des Unbewussten als Bewusstsein der ursprünglichen Andersheit. Das Unbewusste als Bewusstsein ursprünglicher Andersheit Der Begriff des medial repräsentierten, polyphonisch gegebenen Bewusstseins ursprünglicher Andersheit erlaubt meines Erachtens, das Unbewusste der freudschen Psychoanalyse in positiver Weise anzugehen, d.h. ihren erfahrungstheoretischen Sinn als imaginär-phantasmatisches Repräsentationsbewusstsein zu klären. Das Unbewusste wird dabei nicht mehr im traditionellen Sinne als bloßes Negativum des Bewusstseins verstanden, als dasjenige, das im Erscheinungsbereich nicht vorkommt, das diesen Bereich übersteigt und somit bestenfalls auf negative Weise die Grenze des Erfahrbaren markiert, nämlich als Absenz, Lücke oder Bruch des bewusstseinsmäßigen Verlaufs, als Entgleisung oder Mangel der Erfahrung. Freud hebt zwar mehrfach die Tatsache der Ausfälle, Unvollkommenheiten oder Unterbrechungen der bewussten Verläufe hervor als Beweis für die Existenz einer tieferen, unbewussten seelischen Realität. Doch es
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wird dabei nur eine Ordnung der Erfahrung berücksichtigt: die Wirkungsordnung des Impressional-Apperzeptiven. Im Rahmen des Impressional-Apperzeptiven kann tatsächlich vom Unbewussten als Phänomen des Anti-Phänomens gesprochen werden: als Erscheinen des Nicht-Erscheinens, als Manifestation der Abwesenheit im imaginativ vergegenwärtigenden Bewusstsein. Der beschreibenden Empirie scheinen dann Spuren oder Abdrücke des Abwesenden zugänglich zu sein. Den Fußstapfen des Abwesenden folgend, unternehmen Autoren, die sich der poststrukturalistischen Hermeneutik mit ihrer spezifisch ‚archäologischen’ Diktion verpflichtet sehen, Re-Konstruktionen des Abwesenden (so z.B. Foucault, Deleuze oder Derrida). Auf der Suche nach dem Unbewussten als entzogener Ursprünglichkeit erkundet insbesondere Derrida die Materie der Schrift.18 Dem Repräsentationsbewusstsein kommt dann die Funktion zu, das Abwesende, die verlorene – vergangene – Ursprünglichkeit zu reproduzieren. Es ist Aufgabe der imaginativen Stellvertretung, die vergangenen ‚Originale’ wiederzugeben – wenn auch immer nur vermittelt, verblasst und geschwächt. Das Repräsentationsbewusstsein wird hier als Bewusstsein der Modifikation ausgelegt, das lediglich reproduktive Leistungen vollbringt. Eine weitere Deutung im Rahmen des Impressional-Apperzeptiven hat Bernet vorgelegt, der das Unbewusste als ungegenwärtige Gegenwart interpretiert und das dynamische Unbewusste (Trieb) als die impressionale Selbstaffektion des subjektiven Lebens deutet. Doch auch im Rahmen dieser Deutung werden vorrangig die reproduktiven Funktionen des Repräsentationsbewusstseins betrachtet – obgleich es sich hier offenbar um ein ursprünglich Reproduktives handelt.19 Eine starke Interpretation des Repräsentationsbewusstseins und die Einsicht in die Bi-Valenz der Erfahrungsordnungen bieten meines Erachtens die Möglichkeit, noch einen Schritt weiter zu gehen. Das Unbewusste lässt sich begreifen als Manifestation einer anderen Anwesenheit, das heisst, einer anderen Gegenwart als dasjenige, was zwar den Rahmen impressional-apperzeptiver Gegebenheit sprengt, sich jedoch gleichzeitig unmittelbar als quasi-gegenwärtiges phantasmatisches Re-Präsentationsbewusstsein realisiert: in der Traumerfahrung, im Symptom, in der Fehlleistung, oder – fundiert – im symbolischen Bewusstsein. Das Unbewusste als Phantasmatisch-Imaginäres ist aber auch ständig mit dem Impressional-Apperzeptiven verzahnt,
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und zwar als durchaus polyphone Intervention in die Wahrnehmung, als phantasmatische Einschreibung bei protentionalen Weckungen, die die Erwartungsintentionen triebhaft-instinktiv bzw. wunschgeleitet mitgestalten und es somit erlauben, über die Typen hinauszugehen.20 Derartige Interventionen und Einschreibungen sind ein wichtiges Thema der Psychoanalyse. Beginnend mit der Analyse der Entstehung von Wiedererinnerung, beobachtet Freud maskierende oder chiffrierende Phantasiebeteiligungen und nimmt so implizit Stellung gegen die auch von Husserl vertretene These von der grundsätzlichen Selbsttransparenz des Subjektes, das über seine Vergangenheit verfügt.21 Ein bevorzugtes Feld für Beobachtungen phantasmatischer Interventionen im Rahmen des Impressional-Apperzeptiven bietet für Freud das klinische Symptom. Wenn es aber um die gesamte Konstitution der phantasmatisch-imaginären Wirkungsordnung geht, so gilt ihm der Traum als das eigentliche Forschungsfeld. Auch aus der phänomenologischen Perspektive ist der Traum als Prototyp des Phantasmatisch-Imaginären anzuerkennen. Der Traum als Prototyp des Phantasmatisch-Imaginären und die Teleologie der Wunscherfüllung in der Subjektivitätsgenese Der Traum wird als Quasi-Wahrnehmungsleben zu einem besonders interessanten Feld für die Beobachtung der subjektiven Konstitution und der Erfahrung, die jenseits der impressionalen Vorgegebenheit verläuft.22 Dies verdeutlichen z.B. Husserls späte Aussagen aus dem Jahr 1933 (Ms. E III 6), die das Versinken in den träumenden Schlaf als Verlassen des Koordinaten- und Zweckesystems der impressionalen Vorgegebenheit herausstellen und zugleich als Eintauchen in die andere und anders sichtbare, in die imaginärphantasmatische Quasi-Erfahrung markieren – in die Quasi-Wirklichkeit des Träumens, mit ihrer Traum-Zeitlichkeit, Traum-Räumlichkeit, ihrer besonderen Willensaktivität, Habitualität und Affektivität etc. Es wird hier deutlich, dass die beiden Erfahrungsordnungen sich nicht bloß durch die Unterschiede der subjektiven Einstellung voneinander unterscheiden – so zum Beispiel, dass in dem einen Fall das Ich in der Wirklichkeitseinstellung lebt, in dem anderen als Quasi-Ich in der Möglichkeitseinstellung. Es handelt sich hier vielmehr um eine durchweg andere Organisation der Erfahrung.
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(i) Im Unterschied zur Einheitlichkeit und relativen Eindeutigkeit des Impressional-Apperzeptiven, das in teleologischer Hinsicht auf die Konstitution der Gegenstandsidentitäten abzielt und so der Beherrschung bzw. der Kontrolle des Erfahrbaren dient, scheint die (ii) phantasmatisch-imaginäre Ordnung einer anderen Teleologie zu folgen. Zunächst fällt zwar die Ziel- und Regellosigkeit des Traumes auf: hier gilt nicht mehr der Satz vom Widerspruch; es handelt sich um ‚freie’ Verwandlungen, die nicht an das Prinzip der Gegenstandsidentität gebunden sind. Weder die physikalischen Raumgesetzlichkeiten noch die temporale Bestimmung sind verpflichtend. Wir können dort ungeachtet des Gravitationsgesetzes fliegen, auf dem Wasser gehen oder mit Verstorbenen eine aktuelle Gegenwart teilen. Dieses scheinbare Chaos des Phantasmatisch-Imaginären als Konstitutionsordnung des Möglichen darf jedoch nicht als bloße Regellosigkeit verstanden werden. Es ist gerade das Studium des Traumes, das eine spezifische Regelhaftigkeit der imaginären Erfahrung und seine eigene Teleologie offenbart: eine Teleologie der – mit Freud gesprochen – Wunscherfüllung, die an die Stelle der Identitätsbildung der Gegenstandskonstitution im Apperzeptiven tritt.23 Nach Freud ist es der Wunsch (immer als seelischer Repräsentant des Triebes bzw. der ursprünglichen Neigung), der die Verwandlungsordnung im Imaginären organisiert. Die treibende Kraft des Traumes stammt aus den subjektiven Neigungen: Trieben, Instinkten, sinnlichen Präferenzen, archaisch geprägten Passionen, die vermöge des medialen Bewusstseins als wunschbestimmte Manifestationen und Verwandlungszusammenhänge des subjektiven Lebens zu Tage treten.24 Freud ist darum bemüht, die fließende Verwandlungsstruktur des Phantasiebewusstseins systematisch auszulegen. Dabei gelingt es ihm nicht nur, sein Telos zu erfassen, sondern auch seine spezifischen Gestaltungsregeln: Verschiebungen und Verdichtungen, Projektionen und Identifikationen, Spaltungen oder Verkehrungen ins Gegenteil, die später den Titel Abwehrmechanismen erhalten. Es handelt sich hier um elementare Bewegungen des Unterscheidens und Differenzierens, die als grundlegende Gestaltungsregel der Erfahrung die subjektivobjektive Struktur hervorbringen: Bewegungen der Distanzierung, Entfremdung, Absonderung oder Angleichung, Annäherung, Einordnung, Trennung und Isolation, symbiotische Verschmelzung und Dissoziation.
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Husserl geht in seiner Traumanalyse nicht so weit. Aber sein Modell der subjektiven Genesis liefert eine subjekt- und erfahrungstheoretische Grundlage für das Verständnis dieser Prozesse. Insbesondere ist hier das Modell des affektiven Reliefs zu erwähnen, das er in den 20er Jahren im Rahmen seiner Studien der passiven Synthesis entwikkelt hat. Anhand dieses Modells wird deutlich gemacht, wie ursprüngliche subjektive Tendenzen und Interessen (Triebe, sinnliche Gefühle, Neigungen) die Strukturierung der urimpressionalen Sphäre bedingen, und zwar, indem sie sich in der Bildung der uraffizierenden Vorgegebenheiten auswirken (z.B. Hua XI, 153 ff.).25 Bedenkt man, dass die Triebe und Instinkte sich als phantasmatische – selbst-affizierende – Momente in der Bildung von Vorgegebenheiten der urimpressionalen Sphäre realisieren, so ist der systematische Ort angezeigt, an dem es zur Umsetzung des Triebes als ‚seelische Energie’ (somatischer Drang oder Libido) zur Vorstellung (Wunschvorstellung) kommt. Diese ersten, in Entwicklung befindlichen Vorgegebenheiten zeichnen sich durch Charaktere des Gewünschten oder Gewollten aus. Von ihnen gehen die Linien subjektiver Weckungen von protentionalen Erwartungsintentionen aus, die sich wiederum imaginativ-nachbildend realisieren oder originär imaginär das archaische Erbe der Menschheit bzw. den Trieb weiter tragen und so die bestehende individuelle Erfahrung sprengen, erweitern und neu prägen. Es ist zugleich der Ort des Einsatzes von freudschen Abwehrmechanismen als elementaren Gestaltungsregeln der Erfahrung. Hier kommt es zu imaginär-phantasmatischen Interventionen und Einschreibungen, zu wunschgeleiteten bzw. von Angst und Unlust – als die Kehrseite des Wunsches – bedingten Umwandlungen, Metamorphosen, Umdeutungen und Flexionen, die die freudsche Psychoanalyse als Dynamik des Unbewussten konsequent erkundet – und zwar als den Bereich der Ich-Genese. Vom phänomenologischen Standpunkt aus handelt es sich hier um die Genesis konkreter Subjektivität, die sich allmählich von der Bindung an die impressionale Vorgegebenheit emanzipiert, ihre ursprünglich leistende imaginäre Kraft entdeckt und so den Bereich ihrer Freiheit kennzeichnet. Denn gerade hier, im Imaginären, wird es möglich, mit impressionalen Vorgegebenheiten umzugehen, ohne auf sie bloß angewiesen zu sein. Es ist der Bereich phantasmatischer In-
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nerlichkeit als Sphäre des Möglichen bzw. – in der egologischen Wendung – als Sphäre motivierter Möglichkeiten des Ich. Das Ich markiert dabei einen lebendigen Erfahrungszusammenhang, der bipolar strukturiert ist und aus der Grundspannung zwischen Primär- und Sekundärprozess (Freud) bzw. zwischen PhantasmatischImaginärem und Impressional-Apperzeptivem (Husserl) heraus lebt, die jeweils als Konstitutions- bzw. Erfahrungsordnungen der ichlichen Subjektivität gelten. Das Ich als Täter und Empfänger der unbewussten Aktivität weist dabei sowohl spontane als auch rezeptive Charaktere auf. So leitet das psychoanalytische Ich beispielsweise die Verdrängung ein, um sie zugleich rezeptiv zu erleiden und damit seine eigene Individuation, seinen eigenen Habitus bzw. seine eigene Genese passiv zu stiften. Verfolgt man die Schicksale des Verdrängten, so wird ersichtlich, dass es um komplexe seelische Leistungen der passiven Ein- und Ausgliederung von Vorstellungen und Affekten geht, die einerseits unwillkürlich-spontan, anderseits pathisch-rezeptiv verlaufen und – phänomenologisch – als Figuren assoziativer Ordnungen verständlich gemacht werden können. In affektiv-ökonomischer Hinsicht handelt es sich hier um Übertragungen affektiver Gehalte, die durch Ver- oder Entlebendigung von Vorstellungsinhalten nach bestimmten Regeln verlaufen, und zugleich um Prozesse, die in der Phänomenologie der Begriff der Assoziation als Titel ichlicher Passivität zu erklären hat. Phänomenologisch muss daher hier von einer triebhaft-affektiven Wirkungsstruktur des Ich ausgegangen werden, die im Sinne der assoziativen, ichlichen Passivität die Verbindungen (und Ent-Bindungen) zwischen Vorstellungen durch die weckende Übertragung von Affektionen stiftet und somit die Ichwerdung realisiert. Wird diese primärprozesshafte, am Imaginären zu veranschaulichende assoziative Wirkungsstruktur als Bereich der Ichlichkeit anerkannt, kann sogleich im eigentlichen Sinne vom Unbewussten als der anderen Wirkungsordnung der Subjektivität gesprochen werden, und zwar so, dass es für das Verständnis der transzendentalen Subjektivitätsstruktur, wie es die phänomenologische ist, von großer Bedeutung sein muss. Denn es handelt sich um ein Leben, das sich zwar der reflexiven Behandlung zu entziehen scheint, aber dennoch als individuelles und sich kontinuierlich immer weiter individuierendes Selbstbewusstsein fungiert; es ist ein Leben, das in konstitutiver Hinsicht einer Verwandlungsgesetzlichkeit unterliegt, die durchaus strukturellen Analogien folgt, zugleich jedoch weder an ontische Einheitlichkeit
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noch an formales Identitätsbewusstsein gebunden ist, sondern sich fließend und gleitend als ein synästhetisches Ganzes realisiert. Es ist ein Leben, das sich als transzendentales seines Körpers, seines Instinktes oder auch seiner Verkettung mit dem Anderen nicht entledigen muss. Vielmehr gewinnt es seine Bestimmung als leistende Subjektivität gerade durch die (Wieder-)Aneignung seiner perzeptivpräsentierenden und vor allem phantasmatisch re-präsentierenden Sinnlichkeit, seiner ursprünglichen, jede leistende Gegenwart bestimmenden Verwicklung in den Anderen, seiner Geschichtlichkeit, die nicht nur aus der individuellen Biographie des ego schöpft, sondern aus einer ungleich mächtigeren Historie, der Gattungs- und Religionsgeschichte oder gar der mythischen Vergangenheit. Überall hier spielt das mediale Repräsentationsbewusstsein als phantasmatisch-imaginäre Erfahrungs- und Wirkungsordnung eine entscheidende Rolle. Anmerkungen: 1
„Die unter dem Titel des ‚Unbewußten’ sich meldenden Probleme sind in ihrem eigentlichen Problemcharakter erst zu begreifen und methodisch zureichend zu exponieren nach der vorgängigen Analytik der ‚Bewußtheit’ […]. Erst nach der expliziten Analytik des Bewußtseins kann das Problem des Unbewußten überhaupt gestellt werden.“ (E. Fink, in: Finks Beilage zum Problem des ‘Unbewußten’, Hua VI, 473 f.) 2 „Ausgehend von dieser Freudschen Bestimmung des Zusammenhangs von Bewußtsein und Unbewußtem sieht sich eine transzendentale Phänomenologie des Bewußtseins somit vor die Aufgabe gestellt, aufzuweisen, wie es möglich ist, daß das Bewußtsein etwas Unbewußtes, das heißt ein dem Bewußtsein Fremdes oder Abwesendes zur gegenwärtigen Erscheinung bringen kann, ohne es dadurch der bewußtseinsmäßigen Gegenwart ein- oder unterzuordnen.“ (R. Bernet: Husserls Begriff des Phantasiebewußtseins als Fundierung von Freuds Begriff des Unbewußten. In: Ch. Jamme (Hg.): Grundlinien der Vernunftkritik. Frankfurt a. M. 1997, 277 – 306, 279.) 3 Diese These, wie auch die folgenden in diesem Aufsatz zu präsentierenden Thesen habe ich in meiner Dissertation entwickelt. (J. Brudzinska: Assoziation. Imaginäres. Trieb. Phänomenologische Untersuchungen zur Subjektivitätsgenesis bei Husserl und Freud. Diss. Köln 2004. 4 „Aber schon die Passivität, das i nsti nkti ve T rieb lebe n kann intersubjektiven Zusammenhang herstellen. So ist eine Geschlechtsgemeinschaft in unterstem Grund schon hergestellt durch das geschlechtliche Instinktleben, mag es auch erst in der Erfüllung seine wesentliche Intersubjektivität enthüllen. Dabei ist zu beachten, dass auch diese Passivität in den Rahmen der reinen Subjektivität gehört und in phänomenologischer Reduktion als solche erforschbar ist.” (Hua XIV, 405) 5 Das Denken in Polaritätsstrukturen durchzieht beide Werke. In der Phänomenologie Husserls sind es Spannungsrelationen wie der noetisch-noematische Zusammenhang, Aktivität-Passivität, Aktualität-Potentialität, Spontaneität-Rezeptivität
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oder auch die Beziehung zwischen Wirklichem und Möglichem. Die Psychoanalyse Freuds hingegen, für die das Konfliktdenken bestimmend ist, operiert mit Spannungsstrukturen wie: Lust-Realitätsprinzip, Trieb-Abwehr, passiv-aktiv, männlichweiblich oder Innen-Außen. So hebt Freud beispielsweise bei der Deutung der Triebschicksale in Triebe und Triebschicksale das Polaritätsmoment differenziert hervor: „[Die] Triebschicksale bestehen im wesentlichen darin, daß die T riebregunge n d e n Einflüsse n d er dre i groß e n da s Seele nleben be herr sc henden P ol ari tä te n unt erzo ge n we rde n. Von diesen drei Polaritäten könnte man die der Aktivität-Passivität als die biolo gi sc he, die [von] Ich-Außenwelt als die real e, endlich die von Lust-Unlust als die ö ko no mi s c he bezeichnen.“ (S. Freud: Triebe und Triebschicksale. In: Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt/M. 1999, 232. Freuds Werke aus dieser Ausgabe werden im Folgenden abgekürzt als: GW, BandNr. (römisch). 6 Das Verständnis der Nachträglichkeit beherrscht insbesondere die französischen, poststrukturalistischen Deutungen, so bei J. Derrida, G. Deleuze, aber auch bei B. Waldenfels oder L. Tengelyi. Vgl. Insbesondere G. Deleuze: Differenz und Wiederholung. München 1992. 7 Diese Bestimmung wird bereits im § 20 der Phantasievorlesung eingeleitet. (Vgl. Hua XXIII, 41 ff.) 8 „Der Wahrnehmung steht also gegenüber die Phantasie, oder der Gegenwärtigung, der Präsentation, die Vergegenwärtigung, die Repräsentation. Wo irgendeine Verwechslung mit der bildlichen und der signitiven Vorstellung möglich ist, muss man genau sagen: eigentliche Vergegenwärtigung, schlichte, im Gegensatz zur bildlichen, symbolischen, signitiven, uneigentlichen. (Hua XXIII, 87) 9 Maßgeblich hierfür scheinen mehrere Texte aus Hua XXIII, z.B. 8, 9, 15, 19, sowie die Ergebnisse des Studiums der Individuation aus der Bernauer Zeit zu sein. Ferner sind es die Analysen des Phantasiebewusstseins, die im Umkreis der Bestimmung der eidetischen Methode bzw. der eidetischen Variation entstanden sind, zu deren systematischem Ort nach der transzendentalen Wende die Phantasie wird (insb. Ms. A III 11), und manche Texte aus der Ms.-Gruppe D, die vorrangig der Raumkonstitution gewidmet ist, etwa D 19. Auch die späten Arbeiten zur UrGenesis aus den 30er Jahren (die insbesondere in den C-Manuskripten zu finden sind) sind hierzu von Bedeutung, da sie die Ur-Dynamik der instinktiv-triebhaften, affektiv-assoziativen Konstitution behandeln. 10 Vgl. z.B. Husserls Aufsatz über Phänomenologie und Erkenntnistheorie von 1917: „Zum Wesen der Phantasie gehört nun auch, daß sie zwar hinsichtlich des Phantasierten nicht wirklich, sondern nur modifiziert gebend ist, also nur gleichsam gebend, daß sie aber in einer prinzipiell möglichen Einstellungsänderung in einen wirklich gebenden Akt übergeht, nämlich in den, der die „Möglichkeit“ des phantasierten Gegenständlichen erfaßt. Diese Möglichkeit ist ein Gegebenes, also als seiend Bewußtes: Auch Möglichkeiten können übrigens, was nicht zu vergessen, sein oder nicht, können fälschlich gemeint, aber auch originär gegeben und evident gegeben sein. Die Phantasie ergibt Möglichkeiten originär. […] Und damit erweitert sich unser Feld absoluter Gegebenheiten über das ganze unendliche Reich der Sphäre absolut gegebenen „möglichen“ Bewußtseins als eine Sphäre transzendental gereinigter Möglichkeiten.“ (Hua XXV, 170) 11 Diese Entwicklung wird behandelt insbesondere in Hua XXIII, 546 – 570; Ms. D 19, Bl. 109 – 120. 12 „Jedenfalls aber setzt jeder Bau der Aktivität notwendig als unterste Stufe voraus eine vorgegebene Passivität […].“ (Hua I, 112) 13 Vgl. dazu J. Brudzinska (2004), 135. 14 Vgl. ebd., 100.
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Unter der Repräsentation des Triebes werden unbewusste Wünsche verstanden; als solche erweisen sie sich als intentionale Vorstellungen (affektiv besetzte Vorstellungen und Vorstellungskomplexionen), die vor allem in Träumen und in der Phantasie zum Vorschein kommen. Freud gewinnt 1915 eine entscheidende Einsicht in das Wesen des Triebes als Vorstellungsrepräsentanz. Dabei wird sowohl die somatische als auch die seelische Seite des Triebes berücksichtigt: „[So] erscheint uns der 'Trieb' als ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize [...].“ (GW X, 214). Freud identifiziert in diesem Zusammenhang vier konstitutive Momente des Triebes: sein Ziel, seine Quelle, seinen Drang und sein Objekt. Somatisch wird die Quelle ausgelegt, seelisch das Ziel, das “allemal die Befriedigung“ bedeute. Das Ziel wird dabei in eine Relation zum Objekt – dem am Trieb variabelsten Moment – gesetzt, das mit ihm ursprünglich nicht verknüpft ist, dessen es aber zu seiner Befriedigung bedarf. Als allgemeine Eigenschaft des Triebes wird sein Drang nach Erfüllung, Entspannung oder Befriedigung angesehen, die sich an wechselnden (Vorstellungs-)Objekten vollziehen. (Vgl. GW X, 214 f.) 16 Husserl bedient sich der Metapher des griechischen weissagenden Meeresgottes Proteus, der die Fähigkeit hatte, sich in alle Gestalten zu verwandeln, um die Eigenart des Phantasiebewusstseins, als ein Verwandlungszusammenhang zu fungieren, zu verdeutlichen. Dabei grenzt er die flüssige Verwandlungsstruktur der Phantasie von der „fest geordneten“ Struktur des perzeptiven Bewusstseins (Wahrnehmung, Bildbewusstsein) ab. Vgl. Hua XXIII, 60 f. 17 „Es ist wichtig, daß man rechtzeitig beginne mit der Tatsache zu rechnen, das Seelenleben sei ein Kampf- und Tummelplatz entgegengesetzter Tendenzen, oder nicht dynamisch ausgedrückt, es bestehe aus Widersprüchen und Gegensatzpaaren. Der Nachweis einer bestimmten Tendenz leistet nichts für den Ausschluß einer ihr gegensätzlichen; es ist Raum für beide vorhanden.“ (S. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: GW XI, 72.) 18 Vgl. dazu Brudzinska (2004), 219. 19 Im Kontext der Diskussion von Brentanos Verständnis des Unbewussten als innerlich unwahrgenommenes Bewusstsein entwirft Bernet die phänomenologische Deutung des Unbewussten als „Gegenwart des Ungegenwärtigen“, das er in erster Linie aus der zeitlichen Struktur des Bewusstseins verständlich machen will, und betont dabei: „Allerdings kann das Wesen des Unbewußten dann nicht mehr aufgrund der bloßen Abwesenheit eines inneren Wahrnehmungsbewußtseins verstanden werden, sondern seine Erscheinung und somit sein phänomenologisch bestimmtes Wesen ergeben sich aus der Möglichkeit einer anderen, nämlich reproduktiven Form des inneren (Zeit-)Bewußtseins.“ (Bernet (1997), 281 f.) 20 Zum Stellenwert des Typus im Erfahrungsprozess verweise ich v.a. auf D. Lohmar: Erfahrung und kategoriales Denken. Hume, Kant und Husserl über vorprädikative Erfahrung und prädikative Erkenntnis. Dordrecht 1998, 205-273. 21 Freud hält bereits 1897 in einem Manuskript fest, dass Erinnerungen immer lückenhaft zu Tage treten bzw. mit Phantasien angereichert werden, die ihre Quelle vorzugsweise im Gehörten haben: „Die Phantasien entstehen durch unbewußte Zusammenfügung von Erlebnissen und Gehörtem nach gewissen Tendenzen. Diese Tendenzen sind, die Erinnerung unzugänglich zu machen, aus der Symptome entstanden sind oder entstehen können. […] Die erste Art der Entstellung ist nämlich die Erinnerungsfälschung durch Zerteilung, wobei gerade die zeitlichen Verhältnisse vernachlässigt werden. […] Das eine Teilstück der gesehenen Szene wird dann mit einem Teilstück der gehörten zur Phantasie vereinigt, während das frei gewordene eine andere Verbindung angeht. Damit ist der ursprüngliche Zusammenhang unauffindbar gemacht.“ (S. Freud: Briefe-Abhandlungen-Notizen. In: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1962, 176). Im Laufe der psychoanalytischen
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Theoriebildung werden die Momente der Anreicherung der Erinnerungen mit imaginärem Stoff als Ansatz des dynamischen Unbewussten gedeutet. Insbesondere aufschlussreich ist hierzu die Analyse des Wolfsmannes (S. Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. In: GW XII, 27-157). 22 Husserl sagt: „Im Träumen ist das träumende Ich in den Traum verloren, es wird das Ich im Traum, quasi-Subjekt der quasi-Erfahrung.“ (Hua XXIII, 548) 23 Zu Freuds Wunscherfüllungsthese in seiner Deutung des Traumgeschehens vgl. v.a. S. Freud: GW II/III, 555 ff. 24 „Der Traum entstünde nicht, wenn der vorbewußte Wunsch sich nicht eine Verstärkung von anderswoher zu holen wüßte. […] Aus dem Unbewußten nämlich.“ (S. Freud: GW II/III (1900), 558). „Ich s te lle mir vo r, daß d er be wußt e Wunsc h nur da nn z u m T rau merre ger wi rd, we nn e s ihm gelingt, ei ne n gle ic hl a ut e nde n unbe wußt e n z u we c ke n, d ur c h de n er si c h ver s tär k t. Diese unbewußten Wünsche betrachte ich, nach den Andeutungen aus der Psychoanalyse der Neurosen, als immer rege, jederzeit bereit, sich Ausdruck zu verschaffen, wenn sich ihnen Gelegenheit bietet, sich mit einer Regung aus dem Bewußtsein zu alliieren, ihre große Intensität auf deren geringere zu übertragen. […].“ (Ebd.) 25 Vgl. Brudzinska (2004), 154 ff.
Spiegelneuronen: Die neurobiologische Antwort auf das Intersubjektivitätsproblem, die Husserl noch nicht kannte? Husserls Überlegungen zum Fremdpsychischen im Lichte der Kognitionswissenschaften Frank Esken, Osnabrück Zusammenfassung: In meinem Beitrag setze ich mich kritisch mit Überlegungen aus dem Bereich der Neurophilosophie auseinander, die nahe legen, dass es sich bei sogenannten Spiegelneuronen um die "neuronale" Basis des Verstehens geistigen Verhaltens handeln könnte. Der Hintergrund dieser Überlegungen wird von Fragen nach dem Status unserer Alltagspsychologie gebildet: Ist unsere Zuschreibung mentaler Prädikate an eine Theorie gebunden (sog. Theorie-Ansatz) oder sind es vielmehr nicht-theoretische Prinzipien (vorprädikative Fähigkeiten), die unser Verstehen geistigen Verhaltens leiten (sog. Simulationsansatz)? Die Spiegelneuronenhypothese versteht sich als Beitrag zum zweiten Ansatz. Die Ausleuchtung des Spannungsverhältnisses zwischen den beiden Erklärungsansätzen und ihr Verhältnis zu Husserls Analysen der Fremderfahrung stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages.
Die Frage nach unserem Zugang zu anderen Menschen als psychischen Subjekten hat Husserl vor mehr als 70 Jahren als ernst zu nehmendes philosophisches Problem etabliert. Ist heute in den Kognitionswissenschaften und der Philosophie des Geistes von sogenannten mindreading-Fähigkeiten die Rede, geht es um nichts anderes als um die Beschäftigung mit der Verstehensfrage bzw. der Intersubjektivitätsfrage in neuen, vielleicht neumodischen Kleidern. Im ersten Teil dieses Beitrages versuchen wir, Husserls Überlegungen zur, wie es bei ihm heißt, Konstitution von Fremderfahrung mit der aktuellen „mindreading“-Debatte in den Kognitionswissenschaften in Beziehung zu setzen. Wir argumentieren dafür, dass sich Husserls Position, auch wenn dies in den aktuellen Diskussionen keine Erwähnung findet, als geschichtliche Vorläuferposition zur sogenannten Simulationsauffassung verstehen lässt. „Simulationstheoretiker“ postulieren ein, in Husserlscher Terminologie ausgedrückt, vorbegriffliches bzw. vorprädikates Verstehen psychischer Vorgänge und sehen sich als „Gegenspieler“ zur sogenannten Theorie-Auffassung, in der das Verstehen geistiger Vorgänge als eine an begrifflich vermittelte Zusammenhänge gebundene Leistung bestimmt wird. Im zweiten Teil 72 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 72–107. © 2006 Springer.
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beschäftigen wir uns mit der von einigen Neurophilosophen aufgebrachten Spekulation, dass sogenannte Spiegelneuronen die „neurobiologische Basis“ des Verstehens psychischer Vorgänge bilden und dass diese Entdeckung den „Simulationsansatz“ naturwissenschaftlich unterfüttert. Im dritten Teil werden wir einige Basisbegriffe des Simulationsansatzes wie auch die Husserlschen Thesen zur Fremderfahrung kritisch hinterfragen und dafür argumentieren, dass der Streit zwischen „Theorie“- und „Simulationsauffassung“ noch nicht entschieden ist. 1. Die aktuelle „mindreading“-Debatte1 und Husserls Thesen zur Fremderfahrung aus heutiger Sicht 1.1. „Mindreading“-Fähigkeiten und kognitionswissenschaftliche Versuche ihrer Erklärung „Mindreading“-Fähigkeiten bestehen darin, sich selbst und anderen mentale Zustände (angefangen bei Empfindungen wie etwa Schmerzen bis hin zu hochstufigen Überzeugungen wie „X glaubt, dass y hofft, dass z wünscht, dass p“) zuzuschreiben. „Mindreading“ ist ein anderer Ausdruck für „alltagspsychologische Kompetenzen“ bzw. für das, was als „Alltagspsychologie“ bzw. für das, was als das Verfügen über eine „Theorie des Geistes“2 bezeichnet wird. All diese Ausdrücke stehen für unsere Fähigkeit, (Behavioristen würden sagen: für unsere Manie), uns und andere als psychische / geistbegabte Subjekte zu verstehen. „Mindreading“ ist eine sehr stabile menschliche Fähigkeit: Computeranimationen, in denen Objekte zielgerichtet über den Bildschirm fliegen, interpretieren die meisten von uns unwillkürlich mit alltagspsychologischen Mitteln („das verdammte Ding will dorthin“); als Kinder interpretieren wir in der sogenannten animistischen Phase sogar alles und jedes mit diesen Mitteln („das Auto hat Aua, weil Lampe kaputt“, „der Fahrstuhl sehr müde, weil er so stöhnt“). Alltagspsychologische Erklärungen bilden für die Spezies Mensch einen wichtigen Zugang zur Welt, einen Zugang, den wir, allem Anschein nach, nicht zufällig wählen. Zur Erklärung von „mindreading“-Fähigkeiten werden in den Kognitionswissenschaften zwei konkurrierende Erklärungsansätze diskutiert:
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1.1.1. Der „Theorie“-Ansatz Vertreter des sogenannten „Theorie“-Ansatzes argumentieren dafür, dass unsere alltagspsychologischen Kompetenzen eine „Theorie“Struktur besitzen bzw. theorieartig strukturiert sind.3 Zu unterscheiden sind empirische „Theorie“- von normativen „Theorie“-Annahmen. 4 Empirische „Theorie“-Annahmen charakterisieren unsere Alltagspsychologie als Menge gesetzesartiger Verallgemeinerungen, die auf deskriptiv spezifizierbaren Zusammenhängen beruhen und im Laufe der Theorieentwicklung mit theoretischen Termen, die mentale Zustände und andere, nicht beobachtbare, sondern postulierte theoretische Entitäten bezeichnen, angereichert werden. Alltagspsychologische Generalisierungen, wie sie diesem Ansatz vorschweben, bilden typischerweise Konditionalsätze der Form: „Wenn x in diese Richtung schaut [deskriptiv spezifizierbarer Zusammenhang], dann [ceteris paribus] wird x das und das sehen [nicht deskriptiv spezifizierbarer Zusammenhang]“. „Wenn x sich so und so verhält [deskriptiv spezifizierbar], dann [ceteris paribus] wird x Schmerzen haben [nicht deskriptiv spezifizierbar]“. Eine höherstufige Verallgemeinerung, in der auch der erste Teil des Konditionals nicht mehr deskriptiv zu spezifizieren ist, wäre zum Beispiel: „Wenn x glaubt, dass p, dann [ceteris paribus] wird x hoffen, dass y“. Durch die Einführung weiterer theoretischer Terme werden die Vorhersagen und Verallgemeinerungen zunehmend „theoretischer“ (durch die Aufnahme des Verursachungsbegriffs etwa werden beobachtbare Korrelationszusammenhänge als Verursachungszusammenhänge gedeutet). Vorbildfunktion für die empirische „Theorie“-Annahme haben naturwissenschaftliche Theorien wie die Physik oder Geologie. 5 Der normative „Theorie“-Ansatz unterscheidet sich von der empirischen Variante dadurch, dass seine Vertreter nicht davon ausgehen, dass es sich bei unserer Alltagspsychologie um eine empirische, d.h. auf Beobachtungszusammenhängen beruhende Theorie handelt; ihnen zufolge handelt es sich bei unseren alltagspsychologischen Kompetenzen vielmehr um normative Interpretationszusammenhänge, die wesentlich an Rationalitätszuschreibungen gebunden sind und nur in einer sozialen Sprachgemeinschaft wie der unseren ausgebildet werden können. Nicht-sprachbegabte Lebewesen können, diesem Ansatz zufolge, eine solche Theorie nicht entwickeln und verfügen demnach ebenso wenig wie Kleinkinder oder Menschen, die nie mit anderen
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Menschen in Kontakt traten, über alltagspsychologische Kompetenzen.6 1.1.2. Der „Simulations“-Ansatz Der „Simulations“-Ansatz bildet innerhalb der kognitionswissenschaftlichen „mindreading“-Debatte seit einigen Jahren das „new game in town“, das den „Theorie“-Ansatz grundsätzlich in Frage stellt. „Simulations“-Anhängern zufolge handelt es sich bei unseren alltagspsychologischen Kompetenzen um nicht-theoretische Fähigkeiten, über die schon Neugeborene verfügen und die wir im Laufe unseres Lebens lediglich weiterentwickeln: Simulationstheoretiker bieten eine Erklärung der alltagspsychologischen Fähigkeiten, die vielen der gegen die Theorie-Theorie sprechenden Intuitionen [...] nicht ausgesetzt ist: der Tatsache etwa, daß niemand davon weiß, eine solche Theorie zu besitzen, und der auf den ersten Blick befremdlichen Vorstellung, schon ein Kleinkind hantiere, wenn auch unbewußt, wie ein Wissenschaftler mit korrekturbedürftigen Theorien. Zudem, so ein immer wieder formuliertes Argument der Simulationstheoretiker, sei nicht das Ausbilden einer Theorie kognitiv ökonomisch, sondern vielmehr das Ausweiten einer Fähigkeit, über die schon Neugeborene verfügen: nämlich die Fähigkeit, Zustände des anderen unmittelbar wahrzunehmen und darauf zu reagieren. (Lenzen 2005, 61)
Unter „Simulation“ ist demnach die „Fähigkeit, Zustände des Anderen unmittelbar wahrzunehmen und darauf zu reagieren“, zu verstehen.7 Fragt man sich, was damit genau gemeint ist, stößt man in der Literatur häufig auf die metaphorische Beschreibung des „sich in die Lage eines anderen zu versetzen“. Die Auslegung dieser Metaphorik hat mittlerweile, ähnlich wie beim „Theorie“-Ansatz, zu verschiedenen Unter-Theorien des „Simulations“-Ansatzes geführt, die sich grob in zwei Gruppen einteilen lassen: a. Die „Analogie“-Auffassung: Sie charakterisiert den Simulationsprozess als „Übertragung“ (Analogisierung) der mentalen Erfahrungen des „Simulierenden“ auf das „simulierte“ Subjekt: From your perceptual situation, I infer that you have certain perceptual experiences or beliefs, the same ones I would have in your situation. I may also assume that you have the same basic linkings that I have: for food, love, warmth, and so on. (Goldman 1992, 170)
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Ich versuche, den Anderen aus meiner Perspektive zu verstehen, indem ich mich (d.h. mein psychologisches, epistemisches, emotionales Profil) an die Stelle des Anderen setze und mich frage, was ich in der Situation, in der er sich befindet, tun würde, was ich fühlen, wünschen, wahrnehmen, erwarten usw. würde.8 Der Kern des Simulationsprozesses besteht der „Analogie“- Auffassung zufolge darin, dass der Simulierende selbst mentale Prozesse durchläuft, die denen des Simulierten ähnlich sind.9 b. Die „Empathie“-Auffassung10: Sie hebt sich von der „Analogie“Auffassung dadurch ab, dass sie betont, dass eine „Analogisierung“ meiner Perspektive nicht als Simulation der Perspektive des Anderen verstanden werden kann, da ich ja vielmehr mich simuliere, wenn ich mich an seine Stelle setzte. Anhänger der „Empathie“-Auffassung betonen demgegenüber, dass ich mich in den Anderen als Anderen hineinversetzen kann, und stützen sich zur Bezeichnung einer nichttheoretischen Fähigkeit der „Imagination“ anderer mentaler Perspektiven auf den Begriff der Empathie.11 „Empathie“ wird von den Simulationstheoretikern allerdings in unterschiedlich weiten Bedeutungen verwendet, wodurch ein Verständnis dieses Ansatzes nicht erleichtert wird: In einer engen Bedeutung meint „Empathie“ die Imagination des Anderen und seiner mentalen Zustände. In einer weiten Bedeutung wird dieser Ausdruck von den „Simulations“-Anhängern jedoch zur Bezeichnung bestimmter affektiver Reaktionen wie etwa sogenannter frühkindlicher „Gefühlsansteckungen“ verwendet. Verwirrend ist: Während die Bedeutung des Ausdrucks „Simulation“ mit Hilfe des engen Begriffs von „Empathie“ bestimmt wird, werden Simulationsfähigkeiten anhand von Beispielen erläutert, die unter die weite Verwendung von „Empathie“ fallen.12 Beide „Simulations“-Ansätze kommen darin überein, dass sie das Verstehen geistiger / psychischer Prozesse als eine nicht-theoriegeleitete Fähigkeit charakterisieren. Worin diese Fähigkeit genau besteht, ist aus dem bisher Gesagten jedoch noch nicht deutlich geworden. Metaphorische Beschreibungen wie „Ich versetze mich in den Anderen“ sowie die Verwendung von Begriffen wie „Empathie“ in unterschiedlich weiten Bedeutungen erleichtern das Verständnis dieser Ansätze nicht. Klar ist: Mit dem Ausdruck „Simulation“ muss etwas anderes gemeint sein als die explizite begriffliche Zuschreibung mentaler Zustände: Schreibe ich jemandem (x) explizit die Überzeugung y zu, dann ist damit eine Zuschreibung der Form „x glaubt y“ gemeint.
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Derartige Zuschreibungen enthalten notwendig explizit mentale Begriffe. Da diese Begriffe theoretische Entitäten bezeichnen, ist ein Verständnis ihrer Bedeutung, so sollte man meinen, an die Kenntnis theorieartig strukturierter Zusammenhänge gebunden. Simulationstheoretiker stimmen dieser Schlussfolgerung jedoch nicht zu und argumentieren gegen diesen Schluss wie folgt: Wir behaupten nicht, dass sich Menschen in ihrer ontogenetischen Entwicklung niemals eine alltagspsychologische Theorie aneignen; wogegen wir uns wenden, ist vielmehr, dass unsere alltagspsychologischen Kompetenzen theoretische Kompetenzen sind. Die Fähigkeit des Verstehens geistiger / psychischer Vorgänge mündet bei uns Menschen in der Aneignung einer alltagspsychologischen Theorie, dieses Verstehen beruht jedoch nicht auf theorieartig strukturierten begrifflichen Kompetenzen, sondern auf nicht-theoretischen Simulationsfähigkeiten, ohne die es zu keiner Ausbildung einer alltagspsychologischen Theorie käme. Die Bedeutung mentaler Begriffe, so unsere Argumentation gegen die „Theorie“-Auffassung, wird nicht durch die Position, die diese Begriffe in einer Theorie einnehmen, festgelegt, „sondern durch die Erfahrung der Menschen mit den mentalen Zuständen, die sie selbst erleben.“ (Lenzen 2005, 68). 1.1.3. Das Für und Wider beider Ansätze Zum „Theorie“-Ansatz: Befragte man seine Mitmenschen nach ihrer Theorie für Psychisch / Geistiges, werden die meisten eine solche Frage höchst seltsam finden. Dem „Theorie“-Ansatz mangelt es in beiden seiner vorgestellten Varianten an common sense-Plausibilität. Common sense-Plausibilitäten bilden für unsere wie für viele andere theoretische Fragestellungen jedoch kein tragfähiges Argumentationsgerüst: Zwar ist es sicher richtig, dass der „Theorie“-Ansatz insbesondere für die sogenannte Erste-Person-Perspektive seltsam anmutende Konsequenzen nahe legt: Erschließen wir unsere eigenen mentalen Zustände tatsächlich aus Beobachtungsdaten, wie dies aus dem empirischen „Theorie“-Ansatz zu folgen scheint? Ist es nicht vielmehr so, dass wir einen unmittelbaren (d.h. nicht-inferentiellen) Zugang zu unseren eigenen mentalen Zuständen besitzen? Ist dieser unvermittelte Zugang nicht gerade das charakteristische Merkmal der Kenntnis mentaler Zustände aus der
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Erste-Person-Perspektive, wodurch sich diese Kenntnis von der Kenntnis beobachtbarer Umweltmerkmale unterscheidet? Im Fall von Umweltmerkmalen schließe ich von bestimmten Beobachtungen auf bestimmte Sachverhalte; schließe ich jedoch von meinen Verhaltensweisen auf meine mentalen Zustände? Common sense-Einwände dieser Art besitzen einen hohen Grad an intuitiver Plausibilität; es handelt sich allerdings um ad hoc-Plausibilitäten, die sich durchaus in Frage stellen lassen und die in der Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes seit einigen Jahrzehnten unter dem Schlagwort des „Mythos des Gegebenen“ in Frage gestellt werden. Richtig ist, dass die empirische „Theorie“-Variante erhebliche Schwächen aufweist: Empirisch fundierte Verallgemeinerungen der Form „Immer wenn A beobachtbar, dann ist auch B beobachtbar“ bilden noch keine Theorie des Geistes. Die entscheidenden Bestandteile einer solchen Theorie werden in der empirischen Variante nachträglich als theoretische Größen eingeführt, wodurch nicht mehr klar ist, was diese „Theorie“-Variante als empirische auszeichnet und wodurch sie sich von dem normativen Ansatz unterscheidet. Ein weiterer wichtiger Einwand gegen den „Theorie“-Ansatz lautet: Wie anspruchsvoll darf eine solche Theorie sein? Legt man einen zu anspruchsvollen Begriff von „Theorie“ zugrunde, wird die Annahme, dass alle Menschen ab einem bestimmten Alter über eine Theorie verfügen, unplausibel; weitet man den Theoriebegriff andererseits etwa so weit aus, dass jede Art von wahrnehmungsgeleiteter Abstraktion als „theoriegeleitet“ charakterisiert wird, verliert der Theoriebegriff seine Bedeutungskonturen. Auch diese Kritik trifft jedoch in erster Linie die empirische „Theorie“-Variante, da der normative „Theorie“-Ansatz keine wissenschaftlichen Theoriezusammenhänge unterstellt, sondern alltagspsychologische Zuschreibungen als sozial tradierte, an eine Sprechergemeinschaft gebundene normative Interpretationszusammenhänge charakterisiert. Ein letzter Einwand betrifft die von uns nicht thematisierte Idee sogenannter angeborener bzw. „impliziter“ Theorien: Besitzt der Singvogel, der ohne „weitere Erfahrung“ den arteigenen Gesang anstimmt, eine „Theorie“ dieses Gesanges? Besitzt das zwei Tage alte Baby eine Theorie des Geistes, da es ohne „weitere Erfahrung“ auf bestimmte Mimiken der Mutter reagiert? Auch diese Redeweisen weichen den Theoriebegriff bis zur Unkenntlichkeit auf.
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Zum „Simulations“-Ansatz: Der „Simulations“-Ansatz greift die am Ende des 19. Jahrhunderts geführte und bis heute nicht abgeschlossene „Verstehen“-versus„Erklären“-Debatte wieder auf. Die philosophische Ausarbeitung der These, dass sich psychisch / geistiges Verhalten nicht mit denselben Mitteln erklären lässt wie „unbeseelte Naturzusammenhänge“, sondern die Fähigkeit des „innerlichen Nacherlebens“ erfordert, ist untrennbar mit der philosophischen Schule der Hermeneutik und dem Namen Wilhelm Dilthey verbunden.13 Zwar werden diese historischen Bezüge in der aktuellen kognitionswissenschaftlichen Debatte weder erwähnt, noch ist klar, ob sie bekannt sind, doch beziehen die Basisbegriffe des Simulationsansatzes ihre Bedeutung aus dieser Tradition. Ausdrücke wie „Nacherleben“, „Einfühlung“ und „Empathie“ besitzen eine hohe common sense-Plausibilität; unklar in unserer bisherigen Betrachtung ist allerdings, worin der Erklärungsanspruch besteht, den Simulationstheoretiker mit diesen Ausdrücken verbinden. Eine wichtige Schlüsselfunktion in der aktuellen „Simulations“-Debatte spielt die Entdeckung sogenannter Spiegelneuronen, die von einigen Neurophilosophen und Kognitionswissenschaftlern als neurobiologisches Fundament von „Simulationsleistungen“ angesehen werden. Was unter „Simulation“ zu verstehen ist, werden wir möglicherweise besser verstehen, nachdem wir uns im übernächsten Abschnitt mit der Spiegelneuronen-Hypothese beschäftigt haben, die maßgeblich für die derzeitige Renaissance der Diltheyschen Überlegungen zum Verstehen psychisch / geistiger Vorgänge in Form des „Simulations“Ansatzes verantwortlich ist. Ein bisher noch nicht angesprochener wichtiger Unterschied zwischen den „Theorie“- und „Simulations“-Ansätzen betrifft deren Überlegungen zum Verhältnis von Selbst- und Fremdzuschreibung mentaler Zustände: In der aktuellen „Simulations“-Debatte kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ginge es bei dem Thema „mindreading“ ausschließlich um Fremdzuschreibungen mentaler Zustände, und als werde die Selbstzuschreibung mentaler Eigenschaften als schon „gegeben“ vorausgesetzt. Simulationstheoretiker der Analogisierungsvariante wie etwa A. Goldman nehmen an, dass die Fähigkeit der Selbstzuschreibung mentaler Zustände zeitlich vor der der Fremdzuschreibung auftritt. Die Fähigkeit, die eigenen mentalen Zustände introspektiv zu erfassen, ist hier Bedingung dafür, anderen solche Zustände zuzuschreiben. Wie diese Selbstzuschreibungen vonstatten
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gehen, wird allerdings nicht thematisiert. Der „Theorie“-Ansatz dagegen argumentiert gegen ein zeitliches Auseinanderdriften von Fremdund Selbstzuschreibungen, da es sich ihm zufolge bei „mindreading“Fähigkeiten um begriffliche Kompetenzen handelt, die für Selbst- und Fremdzuschreibungen mentaler Zustände als gleichermaßen konstitutiv angesehen werden.14 Ein abschließendes Wort zur Struktur der gegenwärtigen „mindreading“-Debatte: Eine ähnliche Aufspaltung in zwei Theorie-Lager wie in der gegenwärtigen „mindreading“-Debatte findet sich in den Diskussionen zur Frage nach dem Erwerb von Begriffen (concepts): „Theorie“-Anhänger argumentieren für theorie-geleitete Begriffserwerbskompetenzen (Schlagworte sind hier: Begriffe erwirbt man nie einzeln, sondern in „Bündeln“, um einen Begriff zu meistern, muss man die mit ihm in Verbindung stehenden Begriffe beherrschen usw.), während in sogenannten ähnlichkeitsbasierten Ansätzen die These vertreten wird, dass Begriffsgebrauch auf dem Erkennen nichtbegrifflicher perzeptueller Merkmalsähnlichkeiten beruht (sogenannte Prototypentheorien).15 Interessant für unseren Zusammenhang ist, dass der Begriff der perzeptuellen Ähnlichkeit, wie er in der Prototypentheorie verwendet wird, eine ähnlich wichtige Rolle innerhalb des Analogisierungsansatzes der Simulationstheoretiker und, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, auch innerhalb der Husserlschen Überlegungen zum Fremdpsychischen spielt. 1.2. Husserl als Simulationstheoretiker Husserls Überlegungen zum Fremdpsychischen sind mit einem transzendentalphilosophischen Anspruch verbunden: Es geht ihm nicht um eine Analyse unseres schon entwickelten alltagsüblichen Verständnisses einer intersubjektiven Welt, sondern um die Konstitution dieses Verständnisses innerhalb der Bewusstseinsleistungen des einzelnen Subjekts. Die ihn interessierende Frage lautet: Wie stellt sich der Andere in den von mir vollzogenen intentionalen Leistungen als Anderer dar? Husserl beginnt diese Untersuchungen, wie auch andere seiner Intentionalitätsanalysen, mit einer „Einklammerung“ (einer sogenannten transzendentalen Reduktion bzw. Epoché) unseres alltagsüblichen Verständnisses von Intersubjektivität:
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Wir schalten alles jetzt Fragliche vorerst aus dem thematischen Felde aus, das ist, wir sehen von allen konstitutiven Leistungen der auf fremde Subjektivität unmittelbar oder mittelbar bezogenen Intentionalität ab und umgrenzen zunächst den Gesamtzusammenhang derjenigen Intentionalität, der aktuellen und potentiellen, in der sich das ego in seiner Eigenheit konstituiert und in der es von ihr unabtrennbare, also selbst ihrer Eigenheit zuzurechnende synthetische Einheiten konstituiert. (Hua I, 124).
Mittels dieser Einklammerung, die Husserl als „Reduktion auf meine transzendentale Eigensphäre oder mein transzendentales konkretes Ich-selbst“ bezeichnet,16 soll eine methodologisch reflektierte Forschungsebene erreicht werden, auf der sich die Konstitutionsleistungen des intentionalen Bewusstseins frei von nicht hinterfragten empirischen Setzungen untersuchen lassen. Die von Husserl auch als Primordialsphäre des transzendentalen Ego bezeichnete Untersuchungsebene der „denkbar ursprünglichsten Selbstgegebenheit“ (Hua I, 133) bildet den Ausgangspunkt seiner Fremderfahrungsanalysen: Nehmen wir nun an, es tritt ein anderer Mensch in unseren Wahrnehmungsbereich, so heißt das, primordinal reduziert: es tritt im Wahrnehmungsbereich meiner primordinalen Natur ein Körper auf, der als primordinaler natürlich bloß Bestimmungsstück meiner selbst (immanente Transzendenz) ist. Da in dieser Natur und Welt mein Leib der einzige Körper ist, der als Leib (fungierendes Organ) ursprünglich konstituiert ist und konstituiert sein kann, so muß der Körper dort, der als Leib doch aufgefaßt ist, diesen Sinn von einer apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her haben, und dann in einer Weise, die eine wirklich direkte und somit primordinale Ausweisung der Prädikate der spezifischen Leiblichkeit, eine Ausweisung durch eigentliche Wahrnehmung, ausschließt. Es ist von vornherein klar, daß nur eine innerhalb meiner Primordinalsphäre jenen Körper dort mit meinem Körper verbindende Ähnlichkeit das Motivationsfundament für die analogisierende Auffassung des ersteren als anderen Leib abgeben kann. (Hua I, 140)
Der für Husserl wichtige Schritt in der Konstitution von Erfahrungszusammenhängen, die von anderen Körpern als anderen psychischen Lebewesen handeln, besteht demnach in der Auffassung (Apperzeption) eines anderen Körpers als Leib eines Anderen. Unter dem, was Husserl „analogisierende Auffassung“ nennt, versteht er keine inferentiellen, begrifflichen Auffassungsleistungen, sondern nichtbegriffliche, sinnliche Assoziationen, die von ihm als Paarungsassoziationen bezeichnet werden:
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Frank Esken: Spiegelneuronen In dem uns besonders angehenden Fall der Assoziation und Apperzeption des alter ego durch das ego kommt es erst zur Paarung, wenn der Andere in mein Wahrnehmungsfeld tritt. [...] Tritt nun ein Körper in meiner primordinalen Sphäre abgehoben auf, der dem meinen ähnlich ist, d.h. so beschaffen ist, daß er mit dem meinen eine phänomenale Paarung eingehen muss, so scheint nun ohne weiteres klar, daß er in der Sinnesüberschiebung alsbald den Sinn Leib von dem meinen her übernehmen muß. (Hua I, 143)
„Paarungsassoziationen“ werden motiviert durch die Wahrnehmung bestimmter (wiederum sinnlich gegebener) Ähnlichkeiten zwischen meinem Leib und in meinem Wahrnehmungsfeld auftauchenden fremden, mir äußerlich ähnlichen Körpern. Ich fasse, so Husserls Argumentation, einen äußeren Körper aufgrund seiner Ähnlichkeit mit meinem Leib als auch „innerlich“ meinem Körper ähnlich auf (d.h. als wahrnehmenden, empfindenden, sehenden usw. Körper auf, d.h. ich fasse diesen Körper als Leib auf). Zu fragen ist an dieser Stelle, wie es laut Husserl möglich sein soll, in sinnlichen Wahrnehmungen (Wahrnehmungsassoziationen) Erfahrungen von etwas zu gewinnen, das nicht selbst sinnlich wahrnehmbar ist, nämlich Erfahrungen von psychischen / geistigen Zuständen, die mit dem anderen Körper verbunden sind. Fassen wir die beiden Analyseschritte Husserls zusammen: 1. Schritt: Ich werde durch das Gebaren des anderen Körpers an meinen eigenen Körper erinnert. Die Ähnlichkeit dieses Gebarens motiviert die analogisierende Auffassung. 2. Schritt: In der analogisierenden Auffassung erfasse ich den anderen Körper als anderen Leib. Unsere Frage lautet: Wie ist Schritt 2 möglich? Wie ist es möglich, in der Wahrnehmung eines Körpers diesen Körper als Leib sinnlich wahrzunehmen? Husserls Argumentation für die analogisierende Auffassung lässt sich in zwei Unterschritte gliedern: Schritt 2.1: Ich besitze von meinem Körper, vor aller Fremderfahrung, ein nicht-begriffliches (bei Husserl: „vorprädikatives“, „vorgegenständliches“) Bewusstsein als Leib, welches auf kinästhetischen Wahrnehmungen und Empfindungen beruht. Unter den eigenheitlich gefaßten Körpern dieser Natur finde ich dann in einziger Auszeichnung meinen Leib, nämlich als den einzigen, der nicht bloßer Körper ist, sondern eben Leib, das einzige Objekt inner-
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halb meiner abstraktiven Weltschicht, dem ich erfahrungsgemäß Empfindungsfelder zurechne, [...] das einzige, in dem ich unmittelbar schalte und walte [...]. Ich nehme, mit den Händen kinästhetisch tastend, mit den Augen ebenso sehend usw., wahr und kann jederzeit so wahrnehmen, wobei diese Kinästhesen der Organe im Ich tue verlaufen und meinem Ich kann unterstehen; ferner kann ich, diese Kinästhesen ins Spiel setzend, stoßen, schieben usw. und dadurch unmittelbar und dann mittelbar leiblich handeln. (Hua I, 45; Hervorhebungen im Original)
Schritt 2.2: Ich werde durch den anderen Körper an meinen Leib erinnert und assoziiere in der analogisierenden Auffassung den fremden Körper als Leib. Bewegt sich dieser Leib etwa auf ein Hindernis zu, erfasse ich in der Wahrnehmung dieser Bewegung (d.h. „appräsentativ“), dass er das Hindernis sieht, vor ihm ausweichen will usw. Ich assoziiere mit dem fremden Körper Erlebnisse, „wie wenn ich dort wäre“ (Hua I, 147). Den ersten bestimmten Gehalt [sc. der Fremdapperzeption; Einfügung von mir] muß offenbar das Verstehen der Leiblichkeit des Anderen und seines spezifisch leiblichen Gehabens bilden: das Verstehen der Glieder [als] tastend oder auch stoßend fungierende Hände, als gehend fungierende Füße, als sehend fungierende Augen usw., wobei das Ich zunächst nur als leiblich waltendes bestimmt ist [...]. In weiterer Folge kommt es begreiflicherweise zur Einfühlung von bestimmten Gehalten der höheren psychischen Sphäre. Auch sie indizieren sich leiblich und im außenweltlichen Gehaben der Leiblichkeit, z.B. als äußeres Gehaben des Zornigen, des Fröhlichen etc. – wohl verständlich von meinem eigenen Gehaben her unter ähnlichen Umständen. (Hua I, 46)
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Fremderfahrung ist für Husserl fundiert in sinnlichen Wahrnehmungs- und Assoziationsleistungen.17 Unter der sogenannten analogisierenden Auffassung, in der ich den Anderen als psychisch / geistiges Lebewesen erfahre, versteht Husserl kein theoretisches Schlussprinzip, sondern eine vorprädikative Assoziationsleistung. Es gibt bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen den Thesen zur Fremderfahrung, die Husserl vor mehr als 70 Jahren vertrat, und dem Analogisierungs-Ansatz innerhalb der aktuellen Simulationstheorie, wie er von A. Goldman vertreten wird. Husserl spricht vom Anderen als „modifizierte ‘Wiederholung’ meines Ich“ (Hua I, 239) bzw. von ihm als der „Spiegelung meines selbst“ und dem „Analogon meiner selbst“ (Hua I, 125). Ähnlich wie die „Analogie“-Verfechter vertritt auch Husserl ein zeitliches Auseinanderklap-
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pen von Selbst- und Fremdzuschreibungen mentaler Zustände und setzt das fremderfahrende Subjekt schon als „fertiges“, introspektiv selbstbewusstes Lebewesen voraus. Wie sich Menschen dieses introspektive Selbstbewusstsein aneignen, bleibt ebenso wie innerhalb des Simulationsansatzes unerläutert. Ich habe mich in meiner Wiedergabe der Husserlschen Thesen auf Überlegungen aus den Cartesianischen Meditationen (Hua I) beschränkt, man findet diese Thesen jedoch auch in anderen Werken Husserls zur Intersubjektivitätsproblematik bestätigt. 18 2. „Spiegelneuronen“.19 Die neurobiologische Fundierung des „Simulations“-Ansatzes und der Husserlschen „Paarungsassoziationen“? Im prämotorischen Cortex, Areal V 5 (dieses Areal ist beteiligt an der Steuerung motorischer Aktivitäten, die mit den Händen ausgeführt werden) von Makaken-Affen wurden vor einigen Jahren Neuronengruppen lokalisiert, die hochselektiv nur auf zielgerichtete Bewegungen reagieren, die das Tier in Interaktionen mit Gegenständen ausführt (etwa: das Greifen nach einem Stock) und die auch dann aktiv werden, wenn das Versuchstier selbst keine motorische Bewegung ausführt, sondern eine auf ein Objekt gerichtete Bewegung bei anderen Lebewesen (Artgenossen und Menschen) beobachtet. Einige „Spiegelneuronen“-Gruppen bei Makaken gelten als gespenstisch hochspezialisiert: Sie reagieren weder auf zielloses Greifen (Herumfuchteln) noch auf den zu greifenden Gegenstand allein, sondern ausschließlich auf objektbezogene zielgerichtete Bewegungen. 20 Beim Menschen gelten „Spiegelneuronen“ u.a. im Broca-Areal als nachgewiesen, welches als phylogenetische Weiterentwicklung des Areals V 5 von nicht-menschlichen Primaten angesehen wird. Die menschlichen „Spiegelneuronen“ scheinen allerdings nicht so hoch spezialisiert zu sein wie die der Makaken; so reagieren sie etwa auch auf intransitive (nicht auf einen Gegenstand gerichtete) Bewegungen.21 Aktuelle neurobiologische Untersuchungen legen nahe, dass es neuronale „Spiegel“-Mechanismen auch für bestimmte, mit beobachtbaren Körperregungen einhergehende Emotionen gibt: Bestimmte Neuronenverbände der „Insula“-Region im sekundären somatosensorischen Cortex bei Makaken reagieren sowohl auf für das Verhaltenssubjekt unangenehme (mit Ekel verbundene) olfaktorische und gusta-
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torische Eindrücke als auch auf von dem Lebewesen wahrgenommene Gesichtsausdrücke anderer Primaten, die Ekel oder starke Abneigung ausdrücken.22 „Spiegelneuronen“, die Bewegungen detektieren, reagieren „auf Beziehungen zwischen dem Handelnden und dem Objekt der Handlung“.23 Oder neutraler ausgedrückt, da es sich bei den ausgeführten Bewegungen nicht um Handlungen, sondern lediglich um zielgerichtete Bewegungen handeln muss: Sie reagieren auf zielgerichtete Bewegungen eines Verhaltenssubjekts, die auf ein wahrnehmbares Objekt gerichtet sind. 2.1. Die „Spiegelneuronen“-Hypothese. Einige Autoren und die Entdecker dieser Neuronengruppen selbst gehen in ihren Folgerungen bezüglich der möglichen Funktion von „Spiegelneuronen“ allerdings wesentlich weiter und bringen diese Neuronen mit „mindreading“-Fähigkeiten in Verbindung: Intentionality – the directedness of mental states toward an object – is something that may or may not exist in the objective world-order. What we want to draw attention to is that there is good evidence that at least the brain’s own functional ontology assumes that something like intentional acts in the classical sense of Brentano and Husserl actually do exist, because there are certain kinds of information which are specifically and exclusively coded under a distinct type of internal neural representation involving dynamic subject-object relations. We think that these results should lead to a deep rethinking of what lies at the roots of intentional behavior. (Gallese u. Metzinger 2003, 367)
Die Thesen, die in der aktuellen Literatur zur sogenannten Spiegelneuronenhypothese zusammengefasst werden, lauten im einzelnen: 1. Bei „Spiegelneuronen“ handelt es sich um „Intentionalitätsdetektoren“. Umschreibungen hierfür sind etwa: „[Sie] repräsentieren die mit der Bewegung verbundene Absicht.“ (Ayan 2004, 70, Hervorhebung von mir). „[Sie] ermöglichen uns, die Intentionen anderer Menschen nachzuvollziehen“ (Gallese, zitiert nach Ayan, ebd., 70). In etwas abgemilderter Form wird die These vertreten, dass „Spiegelneuronen einen biologischen Hinweis darauf geben, dass es ein „kognitives Kontinuum“ von nicht-menschlichen Primaten und Menschen hinsichtlich
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ihrer „mindreading“-Fähigkeiten gibt („Spiegelneuronen“ als Wegbereiter für „mindreading“-Fähigkeiten). 24 2. Die Aktivität von „Spiegelneuronen“ ermöglicht es uns, uns in Andere einzufühlen: [...] In our brain, there are neural mechanisms (mirror mechanisms) that allow us to directly understand the meaning of the actions and emotions of others by internally replicating (‘simulatsimulating’) them without any explicit reflective mediation. Conceptual reasoning is not necessary for this understanding. As human beings, of course, we are able to reason about others and to use this capacity to understand other people’s minds at the conceptual, declarative level. [...] We argue, however, that the fundamental mechanism that allows us a direct experiental grasp of the mind of others is not conceptual reasoning but direct simulation of the observed events through the mirror mechanisms. (Gallese, Keysers u. Rizzolatti 2004, 396)
Diese zweite These beinhaltet, dass die Aktivität von „Spiegelneuronen“ einhergeht mit der Generierung nicht-begrifflicher Bewusstseinsinhalte, die demjenigen, der eine auf ein Objekt gerichtete Bewegung beobachtet, den „Eindruck“ verschaffen, als würde er die beobachtete Bewegung selbst vollziehen. Die Aktivität von Spiegelneuronen vermittelt uns, so legt es das obige Zitat nahe, ein nichtbegriffliches Verstehen der „Innenperspektive“ anderer Subjekte. 3. Verhaltensweisen sogenannter sozialer Kognitionen werden mit psychischen / geistigen Leistungen identifiziert: What makes social interactions so different from our perception of the inanimate world is that we witness the actions and emotions of others, but we also carry out similar actions and we experience similar emotions. There is something shared between our first- and third-person experience of these phenomena: the observer and the observed are both individuals endowed with a similar brain-body system. A crucial element of social cognition is the brain’s capacity to directly link the first- and third-person experiences of these phenomena (i.e. link ‘I do and I feel’ with ‘he does and he feels’). We will define this mechanism ‘simulation’. (Gallese, Keysers u. Rizzolatti 2004, 396)
Ähnlich wie Simulationstheoretiker mit unterschiedlich weiten Begriffen von Empathie operieren, benutzen Verfechter der Spiegelneuronenhypothese den in der Ethologie sehr weit gefassten Begriff der sozialen Kognition in einem engeren Sinne, in dem er mit psychisch /
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geistigen Leistungen in Zusammenhang gebracht wird. Der Zusammenhang beider Verwendungen wird nicht expliziert, aber es wird suggeriert, dass „Spiegelneuronen“ als mögliche neurobiologische Korrelate bestimmter Formen sozialer Kognition (in der weiten Bedeutung dieses Ausdrucks) das neurobiologische Korrelat von „mindreading“-Fähigkeiten (als Formen sozialer Kognition in der engen Bedeutung) bilden könnten. Kurz: Verhaltensweisen sogenannter sozialer Kognitionen werden von diesen Autoren sehr eng mit mentalen Leistungen verknüpft, und über diese begriffliche Verknüpfung wiederum wird das Thema „mindreading“ mit der Spiegelneuronenhypothese in einen Zusammenhang gebracht. [...] The understanding of basic aspects of social cognition depends on activation of neural structures normally involved in our own personally experienced actions or emotions. By means of this activation, a bridge is created between others and ourselves. With this mechanism we do not just ‘see’ or ‘hear’ an action or an emotion. Side by side with the sensory description of the observed social stimuli, internal representations of the state associated with these actions or emotions are evoked in the observer, ‘as if’ they were performing a similar action or experiencing a similar emotion. (Gallese, Keysers u. Rizzolatti 2004, 400)
und auch: Social cognition is not only thinking about the contents of someone else’s mind. Our brains, and those of other primates, appear to have developed a basic functional mechanism, a mirror mechanism, which gives us an experiental insight into other minds. This mechanism could provide the first unifying perspective of the neural basis of social cognition. Gallese, Keysers u. Rizzolatti 2004, 401)
3. Fragen an den „Simulations“-Ansatz und die „Spiegelneuronenhypothese“ 3.1. Das Elend des Begriffssalats in den Kognitionswissenschaften Viele Debatten in den Kognitionswissenschaften kranken daran, dass die Basisbegriffe dieser interdisziplinären Forschungsrichtung alles andere als klar definiert sind. Selbst auf die Frage, was unter „kognitivem Verhalten“ zu verstehen ist, d.h. wie es sich von anderen
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Verhaltensweisen abgrenzt, gibt es bisher keine einheitliche „kognitionswissenschaftliche“ Antwort. Ein Philosoph beispielsweise, der „kognitives“ Verhalten in einen engen Zusammenhang mit sprachlichen Fähigkeiten bringen möchte, wird Schwierigkeiten haben zu verstehen, was sein Kollege aus der Ethologie unter „Kognitionen bei Tintenfischen“ versteht. Ein Neurobiologe, der bestimmte Neuronenverbände im menschlichen Gehirn als „Kognitionssysteme“ charakterisiert, wird an einem Psychologen, der nur Lebewesen, nicht aber deren Subsystemen (z.B. Gehirnen) Kognitionsfähigkeiten zuschreibt, vorbeireden, und ein Vertreter der Künstlichen Intelligenzforschung wird möglicherweise Philosophen und Biologen, die seine computationalen Parkplatzsuchsysteme nicht als „kognitive Systeme“ bezeichnen möchten, für antiquierte Zeitgenossen halten. Dieser Begriffssalat macht auch die „mindreading“-Debatte ärgerlich unübersichtlich. Begriffe wie Empathie, psychologisches Verstehen, Einfühlung, aber auch der Begriff der sozialen Kognition werden in dieser Debatte, je nach favorisiertem Erklärungsansatz, in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Um die Relevanz der „Spiegelneuronen“-Hypothese für das Thema „mindreading“ besser beurteilen zu können, werden wir im Folgenden kurz auf den Begriff der sozialen Kognition im Zusammenhang mit „mindreading“-Fähigkeiten bei Tieren und auf einige entwicklungspsychologische Untersuchungen zum Verstehen geistiger / psychischer Vorgänge bei Kleinkindern eingehen, bevor wir abschließend ein kritisches Resümee sowohl zur Reichweite des „Simulations“-Ansatzes als auch zur Tragfähigkeit der Husserlschen Fremderfahrungsanalysen ziehen. 3.2. Der Begriff der sozialen Kognition und „mindreading“Fähigkeiten bei Tieren In unserer Alltagspsychologie scheint die Meinung fest verankert zu sein, dass soziale Kompetenz psychologische Kompetenz voraussetzt: Lebewesen, die zu sozialen Verhaltensweisen fähig sind, verfügen über Fähigkeiten der Einfühlung und des Verstehens anderer als psychisch / geistige Lebewesen. In der Ethologie dagegen wird dieser Begriff in einer viel weiteren Bedeutung verwendet. Hier gilt jede Art der Interaktion zwischen Lebewesen, die in einer Gemeinschaft leben, als Form sozialer Kognition. Für unseren Zusammenhang ist es wich-
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tig festzuhalten, dass die Erklärung auch höherstufiger Formen sozialer Kognition, für die wir als Alltagspsychologen „mindreading“Fähigkeiten verantwortlich machen, grundsätzlich auch auf einem Wege möglich ist, der ohne die Unterstellung dieser Fähigkeiten auskommt: Nehmen wir an, wir beobachten folgendes Szenarium: Affe A stößt einen Schrei in Richtung Affe B aus, woraufhin Affe B die Flucht ergreift. Vorausgesetzt, dass es sich bei dem Verhalten von A nicht um einen angeborenen Reflex handelt, so bleiben zwei Erklärungsmöglichkeiten dieses Verhaltens gleichberechtigt im Spiel: 1. Affe A will bewirken, dass Affe B von ihm fernbleibt. A hat aus Erfahrung (oder auch durch Konditionierungsvorgänge) gelernt, dass ein bestimmter Schrei diese Wirkung erzeugt. A schreit, um die bekannte Reaktion hervorzurufen. 2. A will, dass B fernbleibt, und glaubt, dass B zu der Überzeugung kommt, dass A möchte, dass er sich entfernt, wenn A einen Schrei ausstößt. Die zweite Erklärung unterstellt „mindreading“-Fähigkeiten, während die erste Erklärung sich lediglich auf Verhaltensbeobachtungen aus der Vergangenheit stützt und ohne die Unterstellung von „mindreading“-Fähigkeiten auskommt. 3.2.1. „Mindreading“ bei Tieren: Verstehen Schimpansen visuelle Wahrnehmungen? In der freien Wildbahn richten Schimpansen ihre Gesten bevorzugt an Artgenossen, die ihnen zugewandt sind, d.h. die sie sehen können; sie folgen den Blicken anderer, reagieren sogar auf deren Augenbewegungen.25 Im Rahmen unserer Alltagspsychologie deuten wir diese Befunde als Hinweise darauf, dass diese Tiere das Prädikat „sehen“ in seiner mentalen Bedeutung verstehen. „Sehen“ besitzt neben seiner mentalen Lesart jedoch auch eine behaviorale Lesart, in der dieses Prädikat beobachtbare Manifestationen von Sehvorgängen bezeichnet. Die behaviorale Lesart kommt ohne eine „geistige“ Unterfütterung des Prädikats „sehen“ aus. Reagieren Schimpansen auf Augenbewegungen anderer Lebewesen, gibt es einen großen Spielraum für unterschiedliche Erklärungen dieser sozialen Kompetenz:
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1. Möglichkeit: Die Reaktion beruht auf einem angeborenen Detektionsmechanismus. 2. Möglichkeit: Die Reaktion beruht auf generalisierten Verhaltensbeobachtungen („Immer wenn die Augen von A in diese Richtung gerichtet sind, dann passiert p“). 3. Möglichkeit: Es handelt sich um eine Reaktion, die auf Verhaltensbeobachtungen und auf der Unterstellung mentaler Zustände beruht („Immer wenn die Augen ..., dann p“ und „Immer wenn die Augen ..., dann sieht A ...“). Als „eingefleischte“ Alltagspsychologen favorisieren wir die 3. Option. Um zu zeigen, dass nicht sprachbegabte Lebewesen über die mentale Lesart des Prädikats „sehen“ verfügen, müsste sich zeigen lassen, dass eine geforderte Reaktion r dem Tier A nur möglich ist, wenn es Lebewesen B mentale Zustände unterstellt. Wie schwierig die Überprüfung einer solchen Unterstellung ist, lässt sich an dem folgenden Szenarium verdeutlichen: Ein Schimpanse wird mit zwei Personen konfrontiert, von denen eine eine Augenbinde trägt. Angenommen, der Schimpanse würde nur in Richtung der Person gestikulieren, die keine Augenbinde trägt, wäre unsere alltagspsychologische Interpretation wohl die folgende: Der Schimpanse hat verstanden, dass nur Lebewesen, die ihn sehen können (in der mentalen Bedeutung dieses Prädikats), auf seine Gesten reagieren können. Die oben angeführte zweite Erklärungsart kommt dagegen ohne die Unterstellung eines mentalen Verständnisses des Prädikats „sehen“ aus: Der Schimpanse hat gelernt, dass nur Lebewesen, deren geöffnete Augen sichtbar sind, auf Gesten reagieren. Die besondere Schwierigkeit der Untersuchung von „mindreading“Fähigkeiten bei nicht sprachbegabten Lebewesen besteht darin, dass auch für den Fall, dass etwa Schimpansen diese geistigen Fähigkeiten besäßen, sie, um diese Fähigkeiten ausüben zu können, ebenfalls die behavioralen Verallgemeinerungen (die die zweite Erklärungsvariante in Anschlag bringt) bewerkstelligt haben müssten. Die „mindreading“Erklärungsvariante (behaviorale Verallgemeinerungen plus mentale Unterstellungen) impliziert die behaviorale Erklärungsvariante: Nur wenn der Schimpanse die Augen seines Artgenossen beobachtet, kann er auf etwas Nichtbeobachtbares wie den mentalen Vorgang des Sehens schließen. Um das Verständnis von Sehvorgängen als geistige Vorgänge bei Schimpansen zu testen, wurden in der jüngsten Zeit Experimente ent-
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wickelt, die „romantischerweise“ auf einen introspektiven Zugang ihrer Probanden zu den eigenen mentalen Zuständen setzen. Eines dieser Experimente sei kurz geschildert: Ein Schimpanse spielt mit einem blauen und einem roten Eimer, die von aussen betrachtet beide undurchsichtig aussehen; setzt er sich den blauen Eimer auf den Kopf, genießt der Proband allerdings, anders als bei der „Anprobe“ des roten Eimers, klare „Durchsicht“. Sollte nun, so die romantische Idee der Experimentatoren, der Schimpanse, der beide Eimer aus der „Innenperspektive“ kennen gelernt hat, Sehvorgänge in ihrer mentalen Bedeutung erfasst haben, dann würde er diese Erfahrung auf andere Artgenossen übertragen können und folglich lediglich zu Artgenossen mit einem blauen Eimer auf dem Kopf, nicht jedoch zu solchen mit einem roten Eimer, visuellen Kontakt (etwa über Zeigegesten) aufnehmen, da er ja verstanden hat, dass die roten Eimer“träger“ ihn nicht sehen (in der mentalen Lesart) können.26 Der „Introspektions-Test“ setzt hochstufige intellektuelle Kompetenzen voraus, und die Frage ist nahe liegend, in welchem Alter Kleinkinder ihn wohl erstmals bestehen. (Die Schimpansen haben den Test leider nicht bestanden). Festzuhalten bleibt: Für soziales Verhalten (in der weiten Bedeutung von „sozial“) sind verschiedene Erklärungsebenen zu unterscheiden: a. Dem Verhalten liegen Detektionsmechanismen zugrunde (es besitzt eine angeborene / konditionierte Grundlage). b. Das Lebewesen hat gelernt, bestimmte Beobachtungszusammenhänge zu verallgemeinern („Immer wenn A beobachtbar, dann B“). c. Das Lebewesen verfügt über „mindreading“-Fähigkeiten. Auf der alltagspsychologischen Erklärungsebene favorisieren wir für soziale Verhaltensweisen Erklärungen der Gruppe c; einschlägig sind diese jedoch nur für soziales Verhalten in seiner engen Bedeutung.27 3.2.2. Entwicklungspsychologische Untersuchungen zu „vorprädikativen“ sozialen Fähigkeiten Neuere entwicklungspsychologische Studien zeigen, dass Babys schon wenige Minuten nach der Geburt bestimmte Gesichtsausdrücke
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„imitieren“.28 Sie reagieren schon in den ersten Lebensmonaten „emotional“29 auf Gefühlsäußerungen ihrer Bezugspersonen (freundlicher Gesichtsausdruck und freundliche Stimme der Mutter, Ausdrücke der Freude beim Baby usw.).30 Ab dem dritten bis vierten Lebensmonat lernen Kleinkinder zwischen Dingen, die sich aus eigener „Kraft“ bewegen, und solchen, die dies nicht können, zu unterscheiden.31 Ab diesem Alter ist ausserdem beobachtbar, dass Kleinkinder in der Gegenwart anderer Menschen häufiger lachen, mehr Laute von sich geben und stärker gestikulieren als in der Umgebung nicht menschlicher Lebewesen und unbelebter Objekte. Sie fixieren bevorzugt Menschen und favorisieren diese auch in ihren motorischen Interaktionen gegenüber Tieren und menschenähnlichen Artefakten.32 Simulationstheoretiker vertreten die These, dass sich „mindreading“-Fähigkeiten ontogenetisch kontinuierlich entwickeln, und charakterisieren die gerade beschriebenen frühkindlichen Verhaltensweisen als Vorstufen alltagspsychologischer Kompetenzen. Genuine „mindreading“-Fähigkeiten liegen „Simulations“-Anhängern zufolge bereits den Verhaltensweisen, die als „joint attention“ bezeichnet werden, zugrunde, die Kinder ab dem 9. Lebensmonat ausbilden: From the point of view of later phenomena of intentional communication and language during the second year of life and beyond, joint attention represents [...] a beginning point. Joint attentional interactions with other persons represent the initial ‘meeting of minds’ that provides the foundation for all subsequent acts of communication. (Carpenter, Nagell u. Tomasello 1998, 2) All the specific joint attentional behaviors in which infants share, follow, or direct adult attention and behavior are simply different manifestations of this underlying understanding of other persons as intentional agents. (Carpenter, Nagell u. Tomasello 1998, 4)
„Joint attention“ ist ein Sammelbegriff, unter den verschiedene Aufmerksamkeitsleistungen von Kleinkindern gegenüber ihren Bezugspersonen subsumiert werden. Zu ihnen gehören: 1.
das Prüfen bzw. Feststellen der „Aufmerksamkeit“ bei anderen Personen (z.B. Hochblicken zum Erwachsenen). Dieses Verhalten bilden Kleinkinder zwischen dem 9. und 12. Monat aus. 2. das Verfolgen der „Aufmerksamkeit“ bei anderen (z.B. Blickfolgebewegungen).
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3. das Lenken der „Aufmerksamkeit“ anderer auf einen Gegenstand (z.B. mittels deiktischer Gesten andere auf einen Gegenstand hinweisen). Dieses Verhalten wird zwischen dem 13. und 15. Lebensmonat ausgebildet.33 Wie wir im letzten Abschnitt erläutert haben, gibt es für soziale Verhaltensweisen unterschiedliche Erklärungsmöglichkeiten. Dass es derzeit keinesfalls als ausgemacht gelten kann, dass sich „joint attention“-Verhaltensweisen ausschließlich als „mindreading“-Fähigkeiten im Sinne der Simulationstheorie erklären lassen, soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden. 3.2.2.1. Verstehen Hunde geistiges Verhalten? Hunde verfügen über „joint attention“-Fähigkeiten; jedenfalls zeigen sie die beobachtbaren Verhaltensweisen, die bei Kleinkindern als „joint attention“-Verhalten bezeichnet werden – und andere Indizien als die beobachtbaren, nämlich des offenen Verhaltens, stehen uns im Fall der Kleinkinder ja ebenfalls nicht zur Verfügung. Hunde suchen den Blickkontakt zu Menschen (ist ihnen etwa der Zugang zu ihren Fressnäpfen versperrt, suchen sie den Blickkontakt zu ihren menschlichen „Helfern“). Von Menschen aufgezogene Wölfe dagegen ignorieren die Anwesenheit von Menschen (selbst dann, wenn sie von Geburt an an sie gewöhnt wurden).34 Hunde „verstehen“ deiktische Gesten (z.B.: Tippt „Herrchen“ auf einen Behälter oder zeigt mit dem Finger auf ein Objekt) – sogar dann, wenn es sich um komplizierte Zeigegesten, wie etwa einen Wink mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die gegenüberliegende Körperseite handelt.35 Sie reagieren auf Augensignale und folgen Blickbewegungen. Verbote (etwa zum Fressnapf zu laufen) missachten sie nicht nur in Fällen, in denen sie sich allein in einem Raum befinden, sondern auch dann, wenn die Bezugsperson ihnen den Rücken zuwendet oder abgelenkt erscheint. Einzig der Blickkontakt der Bezugsperson hindert sie daran, das Verbot zu missachten. Neuen Untersuchungen zufolge differenzieren Hunde sogar zwischen geöffneten und geschlossenen Augen (sie missachten das Futterverbot, wenn die Bezugsperson zwar in ihre Richtung schaut, jedoch die Augen verdeckt oder geschlossen hat).36 Schimpansen und Gorillas bestehen diese Tests nicht. Als Alltagspsychologen
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interpretieren wir das Hundeverhalten mittels der anspruchsvollen Erklärungsvariante c (nicht umsonst gelten Hunde aufgrund ihrer „alltagspsychologischen Kompetenz“ als des Menschen treuester Freund!). Die angemessene Erklärung ist jedoch wohl eher in der Variante a bzw. in einer Mischung aus Variante a und b zu suchen: Selbst Hundewelpen, die nie mit Menschen zusammengelebt haben, verstehen einfache deiktische Gesten, während der frühe menschliche Kontakt von Wölfen die Lernfähigkeit für menschliche Kommunikationssignale nur bis zu einem gewissen Grad verbessert. Diese Unterschiede sind wohl nicht anders zu erklären, als dass es sich bei den Hundeleistungen um Domestizierungsresultate handelt. 37 3.2.2.2. Autismus und „joint attention“-Fähigkeiten Neuere Untersuchungen legen nahe, dass Menschen, bei denen eine autistische Erkrankung diagnostiziert wird, als Kleinkinder keine bzw. nur stark verkümmerte „joint attention“-Verhaltensweisen ausbildeten.38 Zu den charakteristischen Symptomen von Autismus gehören die tiefgreifende Beeinträchtigung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie massive Einschränkungen der Kommunikationsfähigkeit, Verarmung der Phantasie und die Fixierung auf ungewöhnlich monotone Verhaltensweisen.39 Autisten gelten als Menschen, denen ein Verständnis für psychisch / geistiges Verhalten fehlt: Autistische Kinder sind Behavioristen. Sie erwarten nicht, dass Menschen freundlich oder grausam sind. Sie nehmen das Verhalten wie es ist. Deshalb werden sie durch Intentionen, die die Bedeutung des Verhaltens ändern – wie Täuschung, Schmeichelei, Überredung und Ironie –, vor schwierige Interpretationsprobleme gestellt. [...] Dass Menschen manchmal unaufrichtig sind oder andere gerne mal ‘auf den Arm nehmen’ und dennoch so tun, als meinten sie es ernst, ist für autistische Menschen eine Gefahr und stellt sie vor sinnlose Rätsel. (Frith 1992, 181)
Das Fehlen von „joint attention“-Aktivitäten bei Kleinkindern, bei denen später eine autistische Erkrankung diagnostiziert wird, interpretieren Simulationstheoretiker als wichtigen Hinweis darauf, dass es sich bei „joint attention“ um eine frühe Form der vorbegrifflichen Zuschreibung geistiger Zustände handelt. Sie argumentieren folgendermaßen: Handelte es sich bei „joint attention“-Aktivitäten nicht um eine frühe Form von „mindreading“, wäre nicht verständlich zu ma-
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chen, warum das Fehlen dieser Aktivitäten Einfluss auf die Ausbildung einer vollentwickelten begrifflichen Theorie des Geistes haben sollte. Anders ausgedrückt: Wären „mindreading“-Fähigkeiten theoriegeleitete Errungenschaften, dürften entwicklungspsychologische Störungen innerhalb der Ausbildung nicht-theoriegeleiteter Fähigkeiten wie die des „joint attention“ für die Ausbildung von „mindreading“-Fähigkeiten keine Rolle spielen. Oder pointiert: Wäre unsere Alltagspsychologie eine Theorie, dann würden auch Autisten über sie verfügen. So schreibt etwa der Autismusforscher Peter Hobson: Wir begreifen also, was Bewusstsein ist – was Gedanken, Gefühle, Absichten, Überzeugungen sind –, indem wir auf direktem Wege erfassen, dass hinter dem Verhalten einer Person eine subjektive Dimension steht. [...] Das Kind geht nicht so vor, dass es zuerst das Verhalten von Menschen beobachtet und dann zu dem Schluss kommt, dass sie ein Bewusstsein haben. Es hat keine ‘Theorie’, dass ein Mensch ein Bewusstsein hat, denn es braucht keine. (Hobson 2003, 228)
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass von Geburt an blinde Kinder ab dem zweiten Lebensjahr ebenfalls häufig autistische Symptome zeigen bzw. bei nicht wenigen dieser Kinder die ganze Bandbreite des Syndroms Autismus diagnostiziert wird.40 „Simulationstheoretiker“ erklären diese Parallelen gerne folgendermaßen: Während nun aber das blinde Kind nicht sehen kann, welche Haltung ein Gegenüber zur Welt einnimmt, kann das sehende autistische Kind die anderen zwar sehen, aber ihre Haltung nicht erkennen. Das blinde Kind kann nicht sehen, wie die anderen die Aufmerksamkeit auf dieselbe Welt richten wie es selbst, und nicht mit Hilfe der Augen nachvollziehen, dass Menschen die Welt auf ihre je eigene Weise erfassen. Das sehende autistische Kind ist offenbar ausserstande, Menschen als Wesen mit Gefühlen wahrzunehmen. Es reagiert auf ihre Gefühle nicht mit eigenen Gefühlen und identifiziert sich nicht mit ihren Haltungen, die sich auf Objekte und Ereignisse richten. (Hobson 2003, 182, Hervorhebungen im Original.)
Diese Argumentation setzt allerdings voraus, was erst zu zeigen wäre: Gezeigt werden müsste, dass Autisten ein Erkennen geistiger Zustände fehlt und dass sie sich dadurch von blinden Kindern unterscheiden. Zeigen lässt sich jedoch lediglich, dass beide Gruppen ähnliche Wahrnehmungsdefizite aufweisen: Blinde Kinder können das, was sie sehen sollen, nicht sehen; autistische Kinder dagegen achten nicht auf das, was sie vielleicht sehen (oder sehen könnten).
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Eine Alternativerklärung für die wenigstens streckenweise ähnlichen Defizite blinder und autistischer Kinder könnte Folgendes vorschlagen: Es könnte ebenfalls möglich sein, dass „joint attention“Aktivitäten ein Detektionsmechanismus – ähnlich wie dies bei unseren liebsten nicht-menschlichen Kumpanen, den Hunden, anzunehmen ist – zugrunde liegt, der unsere Wahrnehmung und Aufmerksamkeit auf Augenbewegungen und Zeigegesten lenkt, wodurch in der späteren sprachlichen Entwicklung des Kindes der Bezug auf mentale Zustände als theoretische Entitäten erleichtert wird. Simulationstheoretiker favorisieren zur Stützung ihrer Theorie meist entwicklungspsychologische Untersuchungen, die die frühkindliche Entwicklung des ersten Lebensjahres betreffen. Ein neben der Einübung von „joint attention“-Aktivitäten zweiter wichtiger Schritt auf dem Weg zur Ausbildung von „mindreading“-Fähigkeiten wird in der Entwicklungspsychologie in der innerhalb des Spracherwerbs stattfindenden fortschreitenden Entwicklung eines Verständnisses von „Perspektiven“ gesehen. Hierzu abschließend nur wenige Hinweise: Nachdem Kleinkinder gelernt haben, Gegenstände mit bestimmten Etiketten in Verbindung zu bringen (etwa einen Gegenstand „Löffel“ zu nennen), lernen sie als Zweijährige in sogenannten „Als-ob-Spielen“, diese Etiketten von den Gegenständen wieder abzulösen. Ein Beispiel: Das zweijährige Kind hält seiner Bezugsperson einen Gegenstand entgegen, von dem es gelernt hat, ihn als „Löffel“ zu etikettieren, und ruft, während es den Löffel hochhält und auf ihn schaut, laut „Auto“. Es lernt in diesen Spielen, die Etiketten von ihren Gegenständen abzulösen und gewinnt ein allmähliches Verständnis davon, dass die Etiketten für bestimmte Gegenstände stehen: Es lernt Ausdrücke, indem es lernt, Etiketten von ihren Gegenständen zu lösen und nicht mehr nur situativ zu verwenden. Die Möglichkeit des Stehenkönnens einer Sache (des Etiketts) für etwas anderes (den Gegenstand) ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem Verständnis mentaler Perspektiven: Durch sprachliche Missverständnisse lernt das Kind, dass andere Menschen Gegenstände und Sachverhalte anders bewerten als es selbst, und es gewinnt so, nach und nach, ein Verständnis davon, dass es selbst eine Perspektive auf die Dinge seiner Umgebung einnimmt, die von den Perspektiven anderer abweichen kann (auch hierfür ein Beispiel: Das Kind hört ein Gespräch, in dem A behauptet, dass x der Fall ist, während B behauptet, dass x nicht der Fall sei. Oder: Die Äußerung des Kindes wird von einem Erwachsenen in einer
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Weise aufgefasst, in der sie vom Kind nicht „gemeint“ war, bzw. der Erwachsene versteht die Äußerung nicht und bittet das Kind um weitere Klärung. Das Kind versucht nun zu verstehen, warum es nicht verstanden wird).41 Ein Verständnis davon zu gewinnen, dass etwas für etwas anderes stehen kann, erscheint wesentlich an sprachliche Entwicklungen gebunden zu sein (mir jedenfalls ist unklar, wie man ein solches Verständnis ausserhalb von Sprache aufbauen können sollte). 3.3. Zusammenfassung der empirischen Resultate und ein philosophisches Resümee Erst im Alter zwischen drei und vier Jahren beginnen Kinder zu lernen, dass ein Objekt als etwas erscheinen kann, was es in Wirklichkeit nicht ist (etwa dass ein Stein wie ein Schwamm aussehen kann, aber trotzdem ein Stein ist).42 Erst ab dem vierten bis fünften Lebensjahr beginnen wir, sogenannte false belief-Tests43 zu bestehen.44 Ein explizites Verständnis von anderen und sich selbst als geistige / psychische Subjekte ist an ein Verständnis davon gebunden, dass man selbst und andere eine subjektive Perspektive besitzen. Ein solches Verständnis setzt Erscheinungs-Realitäts-Unterscheidungen notwendig voraus, und diese Unterscheidungen wiederum scheinen wesentlich an Prozesse der Sprachentwicklung gebunden zu sein. Was also genau meint Husserl, wenn er vom Verstehen des Anderen in vorprädikativen „analogisierenden Auffassungen“ spricht, und was genau meinen die heutigen „Simulations“-Theoretiker, wenn sie von dem Verstehen psychischer / geistiger Prozesse als „dem Ausweiten einer Fähigkeit, über die schon Neugeborene verfügen“ sprechen? Unser Resümee fällt sehr kritisch aus: Wir halten die „Simulationstheorie“ wie auch die Husserlschen Thesen zur Fremderfahrung für nicht überzeugend. Wir haben bisher weder verstanden, was unter der nicht-begrifflichen „Simulation“ psychischer / geistiger Vorgänge zu verstehen ist, noch haben wir verstanden, was genau die „analogisierende Auffassung“ zu einem Akt des Verstehens des Anderen als Anderen (als eines anderen geistigen / psychischen Subjekts) macht. Anhänger der „Simulationstheorie“ argumentieren dafür, dass es Vorstufen für „mindreading“-Fähigkeiten geben muss, da wir sonst keinen psychischen Zugang zur „alltagspsychologischen Sphäre“ fin-
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den würden. So schreibt etwa Lenzen: „Wenn [Kinder] nicht schon von Anfang an etwa über den Begriff der Intention verfügen, wie können sie dann erkennen, wann Menschen zielgerichtet etwas tun und wann sie sich nur absichtslos bewegen?“45 Diese Art von Argumentation ist leider typisch für Simulationstheoretiker: Behauptet wird, dass man etwas sehr Anspruchsvolles braucht (das Wissen um geistige Phänomene wie Intentionen), um etwas viel Anspruchsloseres (zielgerichtetes Verhalten) zu erklären. Die Zunge des Frosches, die zielgerichtet nach einer Fliege schnappt, besitzt sicher keine Intentionen. Ähnlich ergeht es Ausdrücken wie Empathie oder Imitation: Behauptet wird, dass nicht zu bestreiten ist, dass „Empathie“ eine „mindreading“-Fähigkeit bezeichne. Dem werden Verwender von „Empathie“ (in der engen Bedeutung dieses Ausdrucks) zustimmen. Diese Zustimmung motiviert den „Simulationstheoretiker“ zu seinem kleinen Zaubertrick: Er verkündet, dass es sich auch bei frühkindlichen Formen sogenannter motorischer Mimikry, wie etwa der Nachahmung von Gesichtszügen oder affektiven Reaktionen wie die des „anstekkenden Lächelns“, um Verhaltensweisen handle, die auf Empathie (nun in der weiten Bedeutung) beruhen.46 „Theorie“-Anhänger sind nicht auf die These festgelegt, dass es für „mindreading“-Fähigkeiten keine Vorstufen gibt oder geben könnte; sie argumentieren lediglich dafür, dass nicht-begriffliche Wahrnehmungsfähigkeiten, auch wenn sie „Vorstufen“ von „mindreading“Fähigkeiten bilden, keine „mindreading“-Fähigkeiten sind. Eine ontogenetische Vorstufe dafür, dass ich sehen kann, besteht in der Ausbildung meines visuellen Cortex, der sich wiederum ontogenetisch aus primitiveren Hirnarealen, wie dem Stammhirn, entwickelt. Die Entwicklung meines Stammhirns lässt sich demnach im allerweitesten Sinn als „Vorstufe“ für die Entwicklung der Fähigkeit des Sehens bezeichnen, das Stammhirn aber ist nicht diese Fähigkeit. 3.3.1. Resümee zu den von „Simulationstheoretikern“ zur Stützung ihrer Theorie herangezogenen empirischen Befunde Die entwicklungspsychologischen Befunde: a. Zu den frühkindlichen Formen sozialer Präferenz: Wenige Minuten alte Babys reagieren „emotional“ auf menschliche Gesichter, 18
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Stunden alte Babys „imitieren“ bestimmte Gesichtszüge. 47 In diesem Alter verfügen Babys über keinerlei visuelle Wahrnehmungsleistungen, die es ihnen erlauben würden, Gesichter zu sehen. Die cortikalen Bereiche der Umsetzung visueller in motorische Signale sind noch nicht ausgebildet; es handelt sich um subcortikale Detektionsmechanismen. Babys besitzen angeborene Mechanismen für die „Präferenz“ von Artgenossen, Gesichtern und zielgerichteten Bewegungen. b. Zu den „joint attention“-Verhaltensweisen: Kinder folgen ab dem neunten Monat Blickbewegungen und Zeigegesten. Sie interpretieren ab diesem Alter auch bestimmte Bewegungen als zielgerichtet (z.B.: „der Ball springt über die Abgrenzung, um das Ziel zu erreichen“). D.h., sie schreiben bestimmten sich bewegenden Objekten Ziele zu,48 aber sie schreiben sich und anderen noch keine geistigen / psychischen Fähigkeiten zu. Die „Spiegelneuronenhypothese“: Worin bestehen die in dieser Hypothese unterstellten Zusammenhänge zwischen „mindreading“-Fähigkeiten und der Aktivität von „Spiegelneuronen“? Die Spiegelneuronenhypothese beinhaltet, dass die Aktivität von „Spiegelneuronen“ demjenigen, der eine auf ein Objekt gerichtete Bewegung beobachtet, durch die Generierung einer „motorischen off-line Kopie“ dieser Bewegung ein „nicht-begriffliches Verständnis“ der wahrgenommenen Bewegung vermittelt.49 Philosophen trieb schon immer die Frage um, was ‘verstehen’ eigentlich bedeutet. Wie kommt das Wissen darüber, was ein anderer mit seinen Worten und Gesten meint, in meinen Kopf? Die Antwort könnte lauten: Ich verstehe dann, wenn in meinem Kopf Spiegelneurone aktiv werden – also dann, wenn ich beobachte, wie jemand eine Handlung einleitet. Dann wird das gleiche motorische Programm wie beim Gegenüber aufgerufen – wobei die tatsächliche Handlung unterdrückt wird – und ich kann die Handlung im Kopf beenden. (Jäger 2003, 42)
„Spiegelneuronen“ detektieren Greifbewegungen und möglicherweise bestimmte Gesichtsausdrücke. Nur ein geringer Teil dieser Verhaltensweisen betrifft „intentional verursachtes“ Verhalten. Was möglicherweise von „Spiegelneuronen“ detektiert wird, sind Bewegungen bzw. Mimiken, aber keine Intentionen, auch wenn dies immer wieder behauptet wird: „Sie [die Spiegelneuronen; F.E.] stellen [...]
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die Basis einer Wahrnehmungsfähigkeit dar, die es ermöglicht, dem anderen anzusehen, dass er z.B. im nächsten Moment nach seinen Zigaretten greifen wird.“50 „Spiegelneuronen“ detektieren in „Echtzeit“, d.h. sie reagieren auf Bewegungen in ihrer Ausführung, nicht auf diesen Ausführungen vorausgehende, nicht beobachtbare Ereignisse. „Spiegelneuronen“ detektieren nicht „andere intentional handelnde Wesen“ (Lenzen, 159), und sie erfassen auch nicht „den Zweck einfacher Handbewegungen wie etwa Greifbewegungen“ (Lenzen ebd.); den Charakterisierungen dieser Neuronen als Intentionalitätsdetektoren liegt eine Vermischung unterschiedlicher (personaler und subpersonaler) Beschreibungsebenen zu Grunde. Dass die „Aktivität“ von „Spiegelneuronen“ eine geistig / psychische Dimension besitzt, wird mittlerweile selbst von denen, die diese These in Umlauf gebracht haben, wenn auch kleinlaut, zurückgenommen.51 Die Verfechter der „Spiegelneuronenhypothese“ gebrauchen die Ausdrücke „intentional verursachte Bewegung“ und „zielgerichtete Bewegung“ synonym, wodurch sie (ähnlich wie Simulationstheoretiker hinsichtlich des Empathiebegriffs) zu einer unangemessen weiten Bedeutung des Intentionsbegriffs gelangen. Sie sprechen von „motor intentions“ und meinen motorisch kontrollierte zielgerichtete Bewegungen.52 „Handlungsintentionen“ in der engen Bedeutung von „Intention“ bezeichnen sogenannte vorausgehende Intentionen bzw. Absichten („prior intentions“). „Handlungsintentionen“ (in der engen Bedeutung dieses Ausdrucks) sind nicht beobachtbar und können nicht durch die Detektion zielgerichteter Bewegungen „erkannt“ werden. „Spiegelneuronen“ bilden nicht das „neuronale Korrelat“ geistiger Verstehensprozesse, sondern sind (möglicherweise) Detektionsmechanismen für zielgerichtete Bewegungen (ähnlich den Augenbewegungsdetektoren, über die viele Tierarten verfügen). Ihnen mag möglicherweise eine wichtige Funktion innerhalb der Generierung motorischer Nachahmungen von Bewegungen zukommen. Die „Simulation“ einer beobachteten Bewegung ist weder hinreichend für das Verstehen von Intentionen noch ist sie notwendig für ein solches Verstehen: Wir schreiben als Kleinkinder auch unbelebten Dingen Intentionen zu.53
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3.3.2. Philosophisches Resümee Nichts spricht dafür, dass psychische / geistige Einstellungen sinnlich (d.h. ohne begriffliche Vermittlung) wahrnehmbar sind. Einige dieser Einstellungen (wie etwa visuelle Wahrnehmungen oder bestimmte Gefühle und Emotionen) gehen einher mit beobachtbaren Bewegungen (Augenbewegungen, Gesichtsmimiken), für die sich möglicherweise innerhalb der phylogenetischen Evolution sozialer Verhaltensweisen (in der weiten Bedeutung des Ausdrucks) Detektionsmechanismen herausgebildet haben, denen eine wichtige Funktion innerhalb vieler sozialer Interaktionen von Tieren und auch innerhalb unserer eigenen frühkindlichen Entwicklungsphase zukommt. Um abschließend auf den erwähnten Vorwurf an die Verfechter eines „Theorie“-Ansatzes zurückzukommen, dass eine Alltagspsychologie als begriffliche Theorie so etwas sei wie, metaphorisch gesprochen, ein Knochen ohne Fleisch. Dem ist zu erwidern: Bevor wir im Alter von 5-7 Jahren eine begriffliche Theorie des Geistes entwickeln, waren wir keine Automaten: Wir haben unsere Umgebung sinnlich wahrgenommen, wir haben induktive Schlüsse aus Beobachtungszusammenhängen gezogen, wir haben Sprache entwickelt. Wir haben nicht gewusst, dass wir dies tun, aber diese Fähigkeiten sind nicht auf ein Wissen über diese Dinge angewiesen. Verstehen wir in sprachlichen Zusammenhängen etwa, was „sehen“ bedeutet, lernen wir etwas, was wir vorher schon konnten, von dem wir aber noch nicht wussten, dass wir es können. Wir lernen in der „Theorie“ also nicht etwas, womit wir nichts anfangen können. Aber: Wir lernen durch die „Theorie“, dass wir vorher schon sehen konnten; wir lernen allerdings nicht, dass wir vorher schon geistige / psychische Vorgänge auf nichtbegriffliche Weise verstanden haben. Literatur: Astington, J.W. u. Olson, D.R. (1995): „The cognitive revolution in children’s understanding of mind“. In: Human Development, No. 38, 179-189. Ayon, S. L. (2004): „Spieglein, Spieglein macht Verstand“. In: Gehirn & Geist, Nr. 2, 2004, 69-71. Baron-Cohen, S. (1995): Mindblindness. An essay on autism and theory of mind. Cambridge, MA: MIT Press.
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Anmerkungen: 1
Für den Ausdruck „mindreading“ gibt es keine passende Übersetzung ins Deutsche („Geistlesen“ oder „Gedankenlesen“ legen spirituelle Konnotationen nahe, die von der gegenwärtigen Debatte nicht abgedeckt werden), weshalb der Ausdruck hier weiter unübersetzt verwendet wird. 2 „Theorie des Geistes“ wird in der aktuellen Literatur meist synonym mit „mindreading“ benutzt und dient nicht, wie man meinen könnte, zur Bezeichnung einer Theorie über Geistiges. Der synonyme Gebrauch ist irreführend, da sich die gegenwärtige Diskussion darum dreht, ob das Verstehen psychischer / geistiger Vorgänge eine Theoriestruktur besitzt oder ohne Theorie-Elemente auskommt. „Theorie des Geistes“ in seiner weiten Verwendung kümmert sich um diese Unterscheidung
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nicht, sondern dient zur Bezeichnung unserer Fähigkeit, uns und andere als geistige / psychische Subjekte zu verstehen, unabhängig davon, wie dieses Verständnis erklärt wird. Der Ausdruck geht auf Premack u. Woodruff zurück, die Schimpansen für das Lösen bestimmter Aufgaben alltagspsychologische Kompetenzen unterstellten und für das Verfügen über diese Kompetenzen den heute verbreiteten Begriff einer Theorie des Geistes („theory of mind“) prägten (vgl. Premack & Woodruff 1978). 3 Die hier unter dem Label „Theorie“-Ansatz zusammengefassten Erklärungsversuche werden in der englischsprachigen Literatur meist unter der Bezeichnung „Theorie-Theorie“-Ansatz („theory-theory“-approach) zusammengefasst, da die Verfechter dieses Ansatzes behaupten, dass unsere „Theorie des Geistes“ („theory of mind“) eine Theoriestruktur besitzt (vgl. hierzu Anm. 1). Um den Text nicht mit Ausdrücken anzufüllen, die sich komplizierter anhören, als sie sind, werden wir im Folgenden weiterhin vom „Theorie“-Ansatz sprechen. 4 Als dritte Untergruppe des „Theorie“-Ansatzes wird in der Literatur häufig der sogenannte Modulansatz angeführt. Vertreter dieses Ansatzes argumentieren dafür, dass es bestimmte angeborene Grundlagen für „mindreading“-Fähigkeiten gibt. In der Rezeption dieses Ansatzes wird häufig verkürzend von einem „mindreading“Modul gesprochen und behauptet, dass Modultheoretiker die Auffassung vertreten, dass eine „Theorie des Geistes“ angeboren sei. Dank der Verwendung von „Theorie des Geistes“ in der geschilderten weiten Verwendung kommt es hier wieder zu allerhand Konfusionen. Die führenden Vertreter des Modulansatzes behaupten weder, dass unsere „mindreading“-Fähigkeiten angeboren seien, noch dass wir über eine angeborene „Theorie des Geistes“ (in der engen Verwendung dieses Ausdrucks) verfügen. Modultheoretiker sind nicht auf den „Theorie“-Ansatz festgelegt, sondern können auch für den „Simulations“-Ansatz argumentieren (vgl. Vertreter des Modulansatzes: Baron-Cohen 1995 sowie Leslie 1994). 5 Vertreter des empirischen „Theorie“-Ansatzes sind etwa P.M. Churchland (vgl. Churchland 1991) sowie A. Gopnik und H.M. Wellman (vgl. Gopnik u. Wellman 1992). 6 Der normative „Theorie“-Ansatz wird in den kognitionswissenschaftlichen Diskussionen erstaunlich wenig berücksichtigt (man stützt sich einseitig auf den „empirischen“-Ansatz; dies geschieht wohl auch deshalb, weil letzterer von Vertretern aus den eigenen Reihen propagiert wird). Aus Sicht der Philosophie handelt es sich bei der „normativen“ Variante um den „klassischen“ und gut ausgearbeiteten „Theorie“Ansatz. Er hat seine Wurzeln in der Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes. Locus classicus ist hier W. Sellars Empiricism and the philosophy of mind (vgl. Sellars 1963), weitere wichtige philosophische Vertreter sind D. Davidson (vgl. etwa Davidson 1993 und 1993a) sowie R. Brandom (vgl. Brandom 1994). Vgl. zu beiden „Theorie“- Ansätzen auch Scholz 1999. 7 Als wichtige Wegbereiter des Simulationsansatzes innerhalb der cognitive science community gelten R. Gordon, J. Heal und A.I. Goldman (vgl. etwa Gordon 1986, Heal 1986 sowie Goldman 1989 und 1993). 8 Eine solche Auffassung von Simulation vertritt etwa A. Goldman (vgl. Goldman 1993). 9 Vgl. Lenzen 2005, 70. 10 Im Englischen wird dieser Ansatz auch als „radical simulation“ bzw. „egocentric shift simulation“ bezeichnet (vgl. z.B. Gordon 1995 u. 1996). 11 Vgl. Gordon 1995 als prominenten Vertreter dieser Auffassung. 12 Ein solcher verwirrender Gebrauch liegt etwa bei Goldman vor, wenn er schreibt: „Central cases of empathy may arise from simulation, that is, from imaginatively adopting the perspective of another. [...] Although perspective-taking is the standard way by which vicarious or resonant emotions are generated, there may be
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Frank Esken: Spiegelneuronen
resonance phenomena not preceded by perspective-taking. These cases can also be considered as cases of empathy in a wide sense.“ (Goldman 1993, 197) 13 „In der äußeren Natur wird Zusammenhang in einer Verbindung abstrakter Begriffe den Erscheinungen unterlegt. Dagegen der Zusammenhang in der geistigen Welt wird erlebt und nachverstanden. Der Zusammenhang der Natur ist abstrakt, der seelische und geschichtliche aber ist lebendig, lebengesättigt.“ (Dilthey 1981, 142) 14 Empirische Studien legen nahe, dass Selbst- und Fremdzuschreibung gemeinsam auftreten (vgl. Tomasello 2002 sowie Stich u. Nichols 1995, 97). 15 Vgl. zu dieser Debatte etwa Gärdenfors 2000. 16 Vgl. Hua I, 125. 17 Dies wird auch von wesentlich besser bewanderten Husserl-Interpreten als ich es bin, so gesehen. Vgl. E. Ströker: „Daß ich anderes menschliches Ich stets als leibliches Ich erfahre, und zwar dergestalt, daß mir sein Leib je schon als Ausdrucksfeld seines Seelischen erscheint, ist auch von Husserl stets gesehen und in mehreren treffenden Wendungen umschrieben worden.“ (Ströker 1987, 141) und M. Sommer: „Fremderfahrung besagt für Husserl: Ich nehme einen Körper wahr, der meinem eigenen Körper ähnlich ist, und diese Ähnlichkeit veranlaßt mich zu einem Akt der Einlegung eines Analogons meines eigenen Bewußtseins in jenen Körper dort, der eben dadurch zum Leib des Anderen wird“ (Sommer 1982, 8). 18 Als Beispiele: „Was in der Als-ob-Vergegenwärtigung abgewandelt wird, bin ich als leibkörperliche Wirklichkeit: der Körper dort verhält sich, wie ich mich verhalten würde, wenn ich dort wäre; ich werde so auf die Annahme geführt, dass er ein Mensch ist“ (Hua XV, 356). „Ich bin mir einer Welt bewußt. [...] Durch Sehen, Tasten, Hören [...] sind körperliche Dinge in irgendeiner räumlichen Verteilung einfach für mich da. [...] Auch animalische Wesen, etwa Menschen, sind unmittelbar für mich da: Ich blicke auf sie, ich sehe sie, ich höre ihr Herankommen, ich fasse sie bei der Hand, mit ihnen sprechend verstehe ich unmittelbar, was sie vorstellen und denken, was für Gefühle sich in ihnen regen, was sie wünschen oder wollen“ (Hua V, 57). 19 Der Ausdruck „Spiegelneuronen“ wird hier in Anführungszeichen verwendet, da die an diese Neuronen herangetragene Funktion der Spiegelung von zielgerichteten Bewegungen auf ein Objekt hin nicht von allen Neurowissenschaftlern, die sich mit diesem Thema beschäftigen, geteilt wird. 20 Vgl. Gallese 2001. 21 Vgl. Gallese, Keysers u. Rizzolatti 2004, 397. 22 Vgl. Gallese, Keysers u. Rizzolatti 2004, 399. 23 Vgl. Gallese u. Metzinger 2003, 367. 24 Gallese u. Goldman 1998, 500. 25 Vgl. Povinelli & Eddy 1996 und Tomasello et al. 1998. 26 Vgl. Povinelli u. Vonk 2003, 160. 27 Selbst für soziales Verhalten im engeren Sinn (moralisch / empathetisch motiviertes Verhalten), wie etwa Nächstenliebe, ist es nicht zwingend notwendig „mindreading“-Fähigkeiten zu besitzen; die „Resultate“ der Nächstenliebe lassen sich auch erreichen, wenn man nach der Maxime verfährt: „Tue mir nichts Böses, dann tue auch ich Dir nichts Böses“; und zu dieser Maxime muss man nicht zwingend durch moralische Erwägungen gelangen, sondern sie lässt sich auch aus Verallgemeinerungen von Beobachtungszusammenhängen (Erklärungsebene b für soziales Verhalten) ableiten; die Maxime wäre dann eben nur nicht moralisch, sondern pragmatisch motiviert. 28 Vgl. Hobson 2003, 44. Auch „Imitation“ wird in der „mindreading“-Debatte in unterschiedlich weiten Bedeutungen verwendet, weshalb wir es hier in Anführungszeichen setzen. 29 Vgl. Anm. 28.
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Vgl. Hobson 2003, 55. Vgl. Tomasello 2002, 74. 32 Vgl. Johnson 2004, 221. 33 Vgl. Tomasello 2002, 81. 34 Vgl. Wilhelm 2003, 29. 35 Vgl. Wilhelm 2003, 30. 36 Mündliche Mittteilung, J. Kaminski, MPI evolutionäre Anthropologie. 37 Vgl. Miklósi ebd. 38 Vgl. hierzu Hobson 2003, 59 u. 101. Die Diagnose „Autismus“ wird meist erst bei Kindern nach dem 2. Lebensjahr gestellt. Die Untersuchungen zum Fehlen von „joint attention“-Fähigkeiten im 8.-12. Lebensmonat beruhen auf Befragungen der Eltern autistischer Kinder. 39 Vgl. Hobson 2003, 21. 40 Vgl. Hobson 2003,182. 41 Vgl. Tomasello 2002. 42 Vgl. Tomasello 2002. 43 Der klassische „false belief“-Test ist der sogenannte Maxi-Test: Maxi steckt ein Stück Schokolade in einen blauen Schrank und verlässt dann das Zimmer. Seine Mutter versteckt die Schokolade anschließend in einem grünen Schrank. Ein anderes Kind hat den gesamten Vorgang beobachtet und wird gefragt, wo Maxi, wenn er in das Zimmer zurückkommt, nach der Schokolade suchen wird. Mit vier Jahren beginnen Kinder, diesen Test zu bestehen (vorher antworten sie, dass Maxi in dem grünen Schrank nach der Schokolade suchen wird), im Alter von fünf Jahren bestehen diesen Test 90 %, mit sechs Jahren haben ihn alle der in der Studie getesteten Kinder bestanden (vgl. Perner et al. 1987). 44 Mittlerweile gibt es Tests, die zeigen sollen, dass „false belief“-Tests implizit wesentlich früher (ab dem 15. Monat) bestanden werden (vgl. Onishi u. Baillargeon 2005). Ob in den Tests jedoch tatsächlich „beliefs“ und nicht vielmehr Wahrnehmungsgeneralisierungen getestet werden, ist äusserst strittig. 45 Lenzen 2005, 142. 46 Vgl. etwa Goldman 1992. 47 Vgl. Meltzoff u. Decety 2004, 110. 48 Vgl. Csibra 2004, 42. 49 „In particular, the activity of the mirror system [...] provides an observer with the understanding of a perceived action by means of the motor simulation of the agent’s observed movements.“ (Jacob & Jeannerod 2005, 21) 50 Lenzen 2005, 158. 51 So schreibt etwa V. Gallese neuerdings, dass es sich bei „Spiegelneuronen“Aktivitäten um „automatische und unbewußte Simulationen“ handelt (vgl. Gallese 2004, 175). 52 Vgl. Jacob & Jeannerod 2005, 21. 53 Vgl. hierzu auch Jacob & Jeannerod 2005, 21. 31
Die Phänomenologie als transzendentale Theorie des Politischen Andrzej Gniazdowski, Warschau Zusammenfassung: Das zentrale Problem meines Beitrags ist die Frage, inwieweit das Politische zum Thema der Phänomenologie als Transzendentalphilosophie werden kann. In Anknüpfung an die These von Ludwig Landgrebe, dass, wenn die Phänomenologie Transzendentalphilosophie sein soll, sie dann – konsequent zu Ende gedacht – transzendentale Theorie der Geschichte ist, wird hier gefragt, ob der Sinn des phänomenologischen Transzendentalismus nicht vielmehr erst dann mit allen in ihm enthaltenen Möglichkeiten zu Ende gedacht wird, wenn die Phänomenologie ihre Leistungsfähigkeit als eine transzendentale Theorie des Politischen beweist. Um die kritische Frage nach der Möglichkeit einer phänomenologischen Thematisierung des Politischen zu beantworten, wird in diesem Beitrag Landgrebes These mit dem von Klaus Held entwickelten Projekt der Phänomenologie der politischen Welt zusammengestellt. Es werden hier in Bezug auf den gegenseitigen Zusammenhang der beiden Projekte zwei Fragen gestellt, zum Ersten: Inwieweit kommt das Problem des Politischen für die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte überhaupt in Frage? Und: Inwieweit kann die Phänomenologie der politischen Welt als eine transzendentale Theorie des Politischen verstanden werden? Abstract: The main problem of this paper is to what extent the political can become a subject of phenomenology as a transcendental philosophy. Its starting point is a thesis of Ludwig Landgrebe that if phenomenology is to be a transcendental philosophy, it is – consistently thought out to an end – a transcendental theory of history. Referring to this thesis the author poses the question: would the meaning of phenomenological transcendentalism not be consistently thought out to an end only if phenomenology proved its capacity as a transcendental theory of the political? In order to answer this critical question Landgrebe’s thesis is interpreted from the perspective of Klaus Held’s project of a „phenomenology of the political world”. The author of this paper analyses the categorial relationship between both projects and poses two questions in this context: To what extent does the problem of the political fall within the scope of phenomenology as a transcendental theory of history and how far can the phenomenology of the political world be understood as a transcendental theory of the political?
Wenngleich Husserl selbst sowie seine direkten Nachfolger die Frage nach dem Sinn der Politik, nach ihrem „Apriori”, nie systematisch analysierten und keine phänomenologische Philosophie des Politischen entwickelten, die zu einer starken Strömung in der gegenwärti108 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 108–125. © 2006 Springer.
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gen politischen Theorie geworden wäre, ist heute die Möglichkeit einer Phänomenologie des Politischen im Husserlschen Sinne kein unerforschtes Thema mehr. Die jüngsten phänomenologischen Forschungen zu diesem Thema erbringen eine Reihe von detaillierten und tiefgreifenden Analysen, welche die im Husserlschen Projekt enthaltenen potentiellen Möglichkeiten weiterentwickeln. 1 Zwar geht, wie es scheint, auch in diesem Fall - mit Husserl gesprochen – das „ich bewege” dem „ich kann” voraus. In Anbetracht dessen liegt sogar die Frage nahe, ob die auf diese Weise zustande kommende sachbezogene Forschung nicht der einzig mögliche Weg der Phänomenologie ist, wenn sie sich je neben der analytischen Philosophie, kritischen Theorie, Systemtheorie, dem Funktionalismus, Poststrukturalismus usw. als eine mindestens gleichberechtigte, methodologisch selbstbewusste Zugangsweise im Rahmen der gegenwärtigen politischen Theorie behaupten will. In meinem Beitrag möchte ich mich dennoch auf ein Problem konzentrieren, welches eine jede Phänomenologie, die als politische Theorie wird auftreten können, immer schwer belasten wird: Ich meine hier die Frage, inwieweit das Politische zum Thema der Phänomenologie als Transzendentalphilosophie werden kann. Um die Konsequenzen der voreiligen Verleugnung jeder Möglichkeit der transzendentalphänomenologischen Thematisierung des Politischen einsichtig zu machen, wird an dieser Stelle in erster Linie versucht, den Sinn der genannten Frage zu verdeutlichen. Zu diesem Zweck werden zwei phänomenologische Projekte zusammengestellt, die in diesem Kontext nicht ohne Bedeutung zu sein scheinen, und es wird nach ihrem gegenseitigen, kategorialen Zusammenhang gefragt. Als Ausgangspunkt möchte ich an die von Ludwig Landgrebe in seinem Aufsatz Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte aufgestellte These anknüpfen, dass, wenn die Phänomenologie Transzendentalphilosophie sein soll, sie dann – konsequent zu Ende gedacht – transzendentale Theorie der Geschichte ist. 2 Mit Landgrebe bleibt auch in diesem Beitrag die Frage, „ob die Phänomenologie transzendentale Phänomenologie sein soll oder sein muss” zunächst dahingestellt.3 Im Hinblick darauf, dass Landgrebe in einem anderen Kontext die Politik als „den Inbegriff derjenigen Handlungen” definiert, „in denen die Geschichte geschieht” (bzw. „gemacht wird”),4 wird in diesem Beitrag die Ausgangsthese Landgrebes unter dem Gesichtspunkt ihrer „Radikalität“ untersucht: Soll die Phänome-
110 A. Gniazdowski: Phänomenologie als Theorie des Politischen nologie – als Transzendentalphilosophie verstanden – angesichts der genannten „Tat-sache“ nicht eher die transzendentale Theorie des Politischen sein? Weil die Geschichte in ihrer vollen Konkretion genommen auch für Husserl – auf Grund des von ihm in der Krisis vertretenen TeleologieGedankens, der „archontischen“ Funktion der Phänomenologie (Hua VI, 336)5 und insbesondere seines Weltbegriffs – von „Anfang“ an bis zu ihrem „Ende” als die politische Weltgeschichte gedeutet werden könnte,6 soll in diesem Beitrag die These Landgrebes aus der Perspektive des von Klaus Held entwickelten Projekts der Phänomenologie der politischen Welt gelesen werden. Das Projekt von Klaus Held, das auf der Deutung der „politischen Welt“ als einer konstituiertkonstituierenden Vermittlung zwischen der Welt der natürlichen und der der theoretischen Einstellung basiert und das auf diese Weise der phänomenologischen Fragestellung innerhalb der politischen Theorie zum ersten Mal die feste kategoriale Basis liefert, 7 wird seinerseits in seinem Verhältnis zum Transzendentalismus der phänomenologischen Theorie der Geschichte untersucht. In Bezug auf den gegenseitigen Zusammenhang der beiden Projekte werden dementsprechend zwei Fragen gestellt, zum Ersten: Inwieweit kommt das Problem des Politischen für die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte überhaupt in Frage? und zum Zweiten: Inwieweit kann die Phänomenologie der politischen Welt als eine transzendentale Theorie der politischen Weltgeschichte verstanden werden? * 1. In seinem oben erwähnten Aufsatz stellt sich Ludwig Landgrebe die Aufgabe, die transzendental-philosophische Position Husserls „zu Ende” zu denken. Mit dem Ende des phänomenologischen Transzendentalismus sind hier die Grenzen der Möglichkeit der transzendentalphilosophischen Reflexion gemeint, über welche nur mit einem anderen Verfahren hinausgegangen werden kann.8 Um diese Grenzen einsichtig zu machen, verfährt Landgrebe selbst in seinem Aufsatz „transzendental”, worunter ein Weg zu verstehen ist, „der es ermöglicht, sich selbst seine Grenzen zu setzen.”9 Diesen transzendentalen Weg bestimmt er als einen antidogmatischen, kritischen Weg, als „Kritik des ungeprüften Gebrauchs aller überkommenen philosophischen Begriffe”, als Kritik sowohl der „bloßen” Theorien der Welterklärung als
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auch der Prinzipien des Handelns, die aus ihnen folgen.10 Als eine solche, absolut ursprüngliche Reflexion bestimmt Landgrebe diese Kritik mit Husserl als „Kritik des Lebens”.11 Wie kommt es dazu, dass die so bestimmte Kritik zur transzendentalen Theorie der Geschichte wird, bzw. werden soll? Die als Kritik des Lebens verstandene transzendentalphilosophische Reflexion kommt nach Landgrebe auf dem Wege der Auseinandersetzung mit den sowohl ausdrücklich metaphysischen als auch den sich als „antimetaphysisch”, „empirisch” präsentierenden Theorien der Welterklärung zustande. Indem sie eine radikale Kritik ihrer impliziten, metaphysischen Prämissen ist, erweist sie sich für Landgrebe selbst als eine Theorie, die ihrerseits als eine „kritische” bzw. „transzendentale” Theorie bestimmt werden kann.12 Wenn es um ihren Bezug auf die „Geschichte” geht, soll dementsprechend die Phänomenologie als ihre „transzendentale Theorie” nicht auf die Theorie der Geschichte im Sinne einer historia rerum gestarum beschränkt werden und eine bloße Theorie der Geisteswissenschaften bzw. der wissenschaftlichen Erkenntnis der Geschichte sein. Sie soll ihren Gegenstand radikaler ins Auge fassen: „Transzendentale Phänomenologie” – so Ludwig Landgrebe – „hat es vorab mit der Frage zu tun «Was ist Geschichte?» bzw. was sind die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit, dass es für uns so etwas wie Geschichte gibt, die dann auch Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung werden kann?”13 Im Unterschied zur phänomenologischen „Metaphysik”, die nach dem „Telos” der Geschichte als Bereich absoluter Faktizität fragt, stellt somit die Phänomenologie als ihre transzendentale Theorie die Frage nach dem „Apriori der Geschichte”, das in der Auffassung Landgrebes „gänzlich eigener Art ist”. In ihrer Fragestellung soll sie auf diese Weise nicht nur „statische” Analyse der Geschichte sein. Als eine radikale Kritik – wie Landgrebe feststellt – hat „die transzendentale Phänomenologie erst als genetische Phänomenologie ihren vollen Begriff gewonnen”, und daher kann sie als transzendentale Theorie der Geschichte nur genetische Phänomenologie sein. In der eigentlich genetischen Phänomenologie soll es somit nicht mehr darum gehen, die „fertigen Korrelationssysteme zu analysieren, sondern nach ihrer Genesis zu fragen.”14 Als solche wird die genetische Phänomenologie von Husserl als „Ursprungsforschung” bezeichnet, deren Ergebnisse auch für die Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis von Bedeutung sein sollen.15
112 A. Gniazdowski: Phänomenologie als Theorie des Politischen 2. Wie kommt es aber dazu, dass die Geschichte überhaupt zum Thema ihrer so verstandenen „transzendentalen Theorie” wird? Handelt es sich hier bloß darum, dass es für die konstitutive Phänomenologie – mit Husserl gesprochen – „kein erdenkliches sinnvolles Problem der bisherigen Philosophie und kein erdenkliches Seinsproblem überhaupt gibt, das nicht die transzendentale Phänomenologie auf ihrem Wege einmal erreichen müsste” (Hua VI, 192)? Die in Hinsicht auf diese Frage ergänzte These Landgrebes lautet: „Die transzendentale genetische Phänomenologie ist als solche (Hervorh. A.G.) transzendentale Theorie der Geschichte”. 16 Es seien an dieser Stelle die Prämissen dieses Satzes kurz besprochen. Um die genannte These zu begründen, analysiert Landgrebe die gegenseitige Zugehörigkeit der Gedanken Husserls über das transzendentale weltkonstituierende Ego als „absolute Tatsache” im Sinne einer „Monade” und seiner These über die Geschichte als „das große Faktum des absoluten Seins”.17 Im „Absoluten”, von dem in beiden Thesen die Rede ist, soll die transzendentale Phänomenologie auf ihre eigenen, von ihr selbst kritisch evident gemachten Grenzen stoßen, ohne jedoch in eine spekulative Metaphysik überzugehen. Erst die Aufweisung der Verträglichkeit der beiden Thesen kann aber den Sinn der Rede Husserls über das Absolute und das transzendental-phänomenologische Problem der Geschichte verständlich machen. Warum aber sollten diese Thesen miteinander unverträglich sein? Das Problem der Verträglichkeit der These von der Absolutheit des weltkonstituierenden transzendentalen Ego in seiner Faktizität als einer Monade mit der These von der Geschichte als Faktum des absoluten Seins betrifft den Konstitutionszusammenhang zwischen dem absoluten, monadischen Sein des transzendentalen Ego und der von Husserl in Betracht gezogenen Absolutheit der Geschichte. Das Problem besteht also in der Frage nach dem letzten Ursprung der Konstitution und kann wie folgt formuliert werden: Einerseits gehört zum Begriff der Geschichte, dass sie in der Individualität und Einmaligkeit all dessen, was geschichtlich ist, als in ihrem „Apriori” begründet ist. Für die Möglichkeit der Geschichte als einer „Weltgeschichte der Menschheit” ist das Konstitutive, dass sie auf das in-dividuelle, d.h. in der jeweiligen apodiktischen Selbstgewissheit gegebene, aller weiteren Kritik standhaltende und in diesem Sinne absolute Sein der vermenschlichten und vergemeinschaftlichten Monaden als sie konstituierende Subjektivität verweist.18 Wie Landgrebe an
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anderer Stelle betont, handelt es sich hier nicht um „eine metaphysische Behauptung über den letzten Grund des geschichtlichen Geschehens”, sondern um das „heuristische Prinzip”, das im Einklang mit dem neuzeitlichen Verständnis der Geschichte steht, d.h. „als desjenigen Weltgeschehens, das ausschließlich auf das Verhalten und Handeln von Menschen zurückzuführen ist.”19 Zum Ersten gibt somit dieses Prinzip der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte die Anweisung, „jeden Versuch der Aufklärung geschichtlicher Vorgänge durch den Rekurs auf eine Einwirkung transzendenter Mächte abzuweisen,”20 worunter „Gott”, aber auch „Schicksal” (Geschick), „Natur” usw. zu verstehen sind. Zum Zweiten kann nur unter der Bedingung dieses absoluten „Urfaktums” der Individualität in ihrer inneren Geschichtlichkeit auch die Rede von einer „Wahrheit” der Geschichte sein, die nicht zum Relativismus führen würde und sich nicht in dem erschöpfte, „was davon für die Interessen der jeweiligen Gegenwart als bedeutsam gilt.”21 Es soll hier im Voraus hervorgehoben werden, dass sich nach Landgrebe nur mit dieser Deutung des Zusammenhangs, in dem die Geschichte zu der sie konstituierenden Intersubjektivität steht, zugleich die Gefahr einer „politischen Historie” und damit des Endes der Historie als Wissenschaft beseitigen lässt. Andererseits: Worauf Landgrebe verweist, legt dennoch in diesem Kontext die Frage nahe, ob der genannte Konstitutionszusammenhang in Anbetracht der These Husserls von der Geschichte als „das große Faktum des absoluten Seins” nicht umgekehrt gedeutet werden muss. Nach dieser Deutung sei die Geschichte die apriorische Voraussetzung der inneren Geschichtlichkeit jedes einzelnen Ichsubjekts, und die „Monade” finde sich schon vorab im Zusammenhang der Geschichte.22 Die innere Geschichtlichkeit wäre dann nichts anderes als die „Internalisierung” der Geschichte: demzufolge wäre auch der „Begriff der Einzigkeit und Einmaligkeit und in diesem Sinne Absolutheit eines jeden menschlichen, und d.h. mit Denk- und Reflexionsvermögen ausgestattenen Wesens” bei dieser Deutung nur unter ganz bestimmten geschichtlichen Bedingungen möglich. Dem Gedanken der Individualität der Monaden in ihrer Pluralität käme demgemäß – so bemerkt Landgrebe – über den Bereich abendländischer Kultur hinaus keinerlei Verbindlichkeit zu: Er wäre als Resultat einer ganz bestimmten europäischen Kulturentwicklung zu deuten, z.B. – mit Michel Foucault gesprochen – als ein Artefakt der durch die Machtverhältnisse bedingten „Subjektivierungsprozesse” und „Technologies of the Self”. 23
114 A. Gniazdowski: Phänomenologie als Theorie des Politischen Nach Foucault soll dabei insbesondere der moderne westliche Staat in einem bislang unerreichten Maß „subjektive Techniken der Individualisierung” und „objektive Prozeduren der Totalisierung” integrieren.24 Das transzendentale Ego in seiner vollen Konkretion genommen kann aus dieser Perspektive nicht als die durch Kritik evident gemachte Grenze bzw. als das „Ende” der transzendentalphänomenologischen Reflexion fungieren: Es erweist sich nicht als die „absolute”, sondern als „kontingente” Tat-sache. Die Frage nach der Deutung des Verhältnisses der Absolutheit des transzendentalen Ego als Monade zur Geschichte präsentiert sich auf diese Weise nach Landgrebe als die wesentlichste Aufgabe der transzendentalen genetischen Phänomenologie, weil sie mit einem Schlag die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit betrifft.25 Für die Phänomenologie als eine transzendentale Theorie – wenn sie den relativistischen Konsequenzen ihrer oben genannten Deutung entkommen will – verbietet sich jedoch die metaphysische Begründung des „Urfaktums” der Individualität der Monaden und ihrer Pluralität durch die Verweisung auf ihre Geschaffenheit von Gott. Insofern Leibniz die Monaden für absolut in dem Sinne hält, dass sie von nichts als von Gott abhängen und deswegen in sich abgeschlossen, „ohne Fenster” sind, muss die transzendentale genetische Phänomeno-logie die Individualität und Absolutheit der Monaden auf eine andere Weise begründen. Und insofern die Kommunikation der Monaden, ihr commercium, für sie auf keinen Fall durch eine prästabilierte Harmonie gewährleistet werden kann, ist es also nach Landgrebe die nächste Aufgabe der phänomenologischen Analyse, „den Punkt zu finden, an dem die «Fenster» zu suchen sind.”26 3. Wo sind also diese „Fenster”, diese „Öffnungen” der vermenschlichten Monaden nicht für den Gott, sondern füreinander, zu suchen? Bevor ich zum Verhältnis dieser genetischen Fragestellung zur Phänomenologie der politischen Welt von Klaus Held übergehe, wo diese Öffnung eingehend thematisiert wird, seien an dieser Stelle noch nähere Angaben gemacht bezüglich des Weges, auf dem Landgrebe selbst den genannten „Punkt” sucht und dadurch auf das Problem des Politischen stößt. Für die Möglichkeit der Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte ist von entscheidender Bedeutung zu zeigen, wie die beiden Thesen Husserls über das „Absolute” zusammengehören
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und sich gegenseitig ergänzen.27 Der Gang der entsprechenden Ursprungsforschung hat somit die Möglichkeit der genannten „Öffnung” durch den reflexiven Rekurs auf das „ich bin” in seiner geschichtlichen Bedingtheit aufzuweisen. Landgrebe sieht den letzten Grund der apodiktischen Gewissheit der transzendental meditierenden Monade als lebendiger Funktionsgegenwart – in Anknüpfung an Klaus Held und im Gegensatz zu Hegels „dialektischer Position“ – in ihrem undurchstreichbaren „Da”.28 Dieser Grund, in den nach Landgrebe jedes (Hervorh. A. G.) Ich-Subjekt „geworfen” wird, wird erfahren als die Grenze, „auf die die transzendentale Reflexion stößt und an der sie sich bricht”. Weil in dieser Erfahrung bereits die Verweisung auf die Lebensgeschichte der Monade beschlossen sein soll, erweist sich auch ihre „innere Geschichtlichkeit” als auffindbar auf dem Wege der genetischen Rückfrage: Sie wird gefunden als die Geschichtlichkeit des je-eigenen Lebens.29 Die Frage betrifft jetzt die Öffnung, durch welche die Anderen in die je-eigene innere Geschichtlichkeit hineinkommen und die auf diesem „kommunikativen Grund” als Apriori der Geschichte in Anspruch genommen werden könnte. Und sie muss nach Landgrebe als solche auch nicht als erschlossene und – sei es „heuristisch“ – postulierte, sondern als von vornherein erfahrene nachweisbar sein. Die transzendentale genetische Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte setzt auf diese Weise eine ausreichende, genetische Theorie der Intersubjektivität voraus, die der Weg zur Einsicht in das sein soll, „was wir alle, ein jedes Glied der «Menschheit»” als das letzte Subjekt der Geschichte sind.30 Indem Landgrebe mit seiner genetischen Rückfrage immer tiefer nach den Bedingungen der Möglichkeit der dieses gemeinsame Subjekt konstituierenden Öffnung zurückfragt, findet er sie letzten Endes im radikal vor-ichlichen Geschlechtstrieb, der als instinktive UrIntentionalität der Vergemeinschaftung die Öffnung auf die Ur-Zeitigung der Anderen ermöglichen soll. Diese Öffnung der vermenschlichten Monaden ist dementsprechend für ihn nicht „erst oben” in der Apperzeption bzw. in der assoziativen Analogisierung zu suchen, sondern „unten”, in der „absoluten Erfahrung” der vorgängigen Einigkeit und gleichwohl absoluten Getrenntheit im Vollzug des Strebens zum Anderen. Die Folge der Erfüllung jenes „Urtriebes” kann die Geburt eines neuen Menschen mit seiner ihm dann eigenen – wenn auch durch das Erbe seiner Vorfahren weitgehend bestimmten – Geschichte
116 A. Gniazdowski: Phänomenologie als Theorie des Politischen sein. „So sind Zeugung und Geburt – schreibt Landgrebe – nicht bloß Themen der Biologie, sondern von transzendentalphilosophischer Bedeutung als Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte”. Erst auf Grund dieser „absoluten Erfahrungen“, die allen übrigen res gestae vorangehen, soll die Geschichte absolute Tat-sache sein und sich die „gemeinsame Geschichte, einer Familie, eines Volkes, einer Epoche“ bilden.31 Es drängt sich jedoch an dieser Stelle unausweichlich die Frage auf: Haben wir es wirklich auf dieser untersten Stufe der Konstitution der Intersubjektivität mit dem „Fenster” bzw. mit einer Öffnung zu tun? Handelt es sich hier nicht höchstens um – mit Leibniz gesprochen – die miteinander „schlafenden” Monaden?32 Das Problem verschärft sich, wenn Landgrebe das durch die transzendentale, genetische Rückfrage als ihre Grenze auf diese Weise erfahrene „Apriori der Geschichte” in einem Sprung auf die Deutung der Weltgeschichte anwendet und einige praktische Konsequenzen daraus ziehen will. Indem er die These aufstellt, dass „die Faktizität der Geschichte an der Faktizität des Da der jeweils vereinzelten individuellen Existenz hängt“, wird durch diese „radikale Kritik des Lebens” die Einsicht zum obersten Prinzip der Lebensführung erhoben, dass, wenn es für die „in ihr Da auf der «Erde» gebannte Menschheit eine Zukunft geben und ihre Geschichte nicht am Ende sein soll, [...] die Bedingung dafür nicht nur die Anerkennung aller «unseresgleichen» eben als gleicher, sondern zugleich als absolut individuell verschiedener [ist]”. Erst in dieser Anerkennung soll es begründet sein, dass „die Hinnahme der eigenen Faktizität nicht die Unterwerfung unter ein undurchschaubares Geschick (Hervorh. A.G.) bedeutet, sondern die Möglichkeit einer menschlichen Welt.”33 4. Die kritische Frage, die in diesem Zusammenhang nahe liegt, kann wie folgt formuliert werden: Wie kommt diese von Landgrebe hier nicht weiter thematisierte Öffnung für die Anderen als unseresgleichen zustande? Wird diese Gleichheit als solche erfahren oder nach der Postulatenlehre im Sinne Kants nur anerkannt? Worin gründete dann die „unbedingt-allgemein verbindliche Forderung“, die auf der „Anerkennung und der Achtung vor der jeweils eigenen individuellen Existenz eines jeden «unseresgleichen» und der historisch gewordenen Gruppen, Völker, Stämme, Nationen in ihrer «kollektiven» Individualität“34 beruhen soll? Aus welcher Sprache stammen die hier
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in Anführungsstriche gesetzten Adjektive „unseresgleichen“ und „kollektiv“? Die transzendentalphilosophische Reflexion scheint hier bei Landgrebe ihre Grenze zu erreichen. Einerseits gehört die Anerkennung aller „unseresgleichen” eben als Gleiche zum Apriori der (Welt-)Geschichte: denn „wenn wir vom Menschen und von Menschheit sprechen, so hat dieses Wort nur einen verstehbaren Sinn, wenn wir die so genannten Wesen als «unseresgleichen» verstehen. Nur mit unseresgleichen können wir durch eine gemeinsame Geschichte verbunden sein und nur in Bezug auf sie hat die Rede von einer Geschichte der Menschheit überhaupt einen Sinn.”35 Andererseits stößt aber zugleich die genetische Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte mit der Frage nach der „Gleichheit” – mit Michael Theunissen gesprochen: nach der „Gleichursprünglichkeit” der vermenschlichten Monaden36 – auf den Inbegriff des Politischen. Muss sie an ihm auch brechen? Muss auch die Unseresgleichheit der Anderen als Apriori der Geschichte im Sinne einer transzendendental weiter nicht hinterfragbaren, „absoluten Tatsache“ verstanden werden? Alles spricht dagegen, dass die Gleichursprünglichkeit der Monaden durch eine genetische Rückfrage je evident gemacht werden könnte. 37 Sonst täte sich dennoch zwischen dem durch die transzendentale Ursprungsforschung in der „Tatsache der Individuation“ gefundenen „Apriori” der Geschichte und ihrer Vernunftsteleologie als der Weltgeschichte der Menschheit eine Kluft auf. Wie ist es möglich, „phänomenologisch” über diese Kluft zu springen? In seinem Aufsatz Meditation über Husserls Wort „Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins”, der die Möglichkeit der phänomenologischen Metaphysik der Geschichte zum Thema hat und die Frage stellt, wie die Phänomenologie das Subjekt der Geschichte und die Möglichkeit der Einheit der Geschichte bestimmen kann, begründet Landgrebe den Gleichheits-Gedanken durch die Entdeckung in einer „Reflexion höherer Stufe”, dass die „Fähigkeit der Reflexion das ist, was alle Menschen verbindet.”38 Es handelt sich hier um das Kantianische „Faktum des Ich-denke”, darum, dass „es für den Menschen schlechthin (Hervorh. A.G.) konstitutiv ist, dass er nicht nur Bewusstsein von seiner Welt, sondern darin zugleich Bewusstsein von sich selbst hat”,39 anders gesagt: dass die Menschen-Monaden nicht nur für die Welt, sondern auch für sich selbst jeweils offen sind.
118 A. Gniazdowski: Phänomenologie als Theorie des Politischen Um den Sinn der „Entdeckung” dieses Faktums in der „Reflexion höherer Stufe” verständlich zu machen, knüpft Landgrebe an die Analyse des „konkreten historischen Apriori” an, von welchem Husserl in der Abhandlung Ursprung der Geometrie spricht (Hua VI, 380). Die Reflexion überhaupt ist für Landgrebe – wie oben gesagt wurde – „primär immer Rückwendung auf das, was wir vermögen”40 – sie ist in dem Sinne für den Menschen konstitutiv, dass sie ihn im Unterschied zum Tier fähig macht, nicht nur als „Zentrum der Bewegung” selbstverständlich zu fungieren, sondern auch sich als solches zu „wissen”. Diese Fähigkeit der Reflexion selbst bestimmt aber Landgrebe auch als ein „Vermögen”, d.h. als eine Art des „Sichbewegenkönnens”, das erst in seiner „Betätigung” erfahren wird. Als solche gehört nach Landgrebe die Möglichkeit der über das „Menschensein” des Menschen entscheidenden Reflexion zur Monade, wenn sie auch latent bleiben mag und erst in der Geschichte entfaltet wird. Dass es die Wesen gibt, die wir als „unseresgleichen” in dieser Hinsicht verstehen, ist für Landgrebe ein „Faktum”, aber „dass es überhaupt dieses Faktum ist, beruht auf seinem Wesen”. Dieses Wesen ist nach Landgrebe nicht übergeschichtlich, „weil es nur in der Geschichte und nicht außerhalb ihrer verwirklicht ist.”41 Und wie steht es nun mit dem Vermögen der „Reflexion höherer Stufe”, die als eine „absolute Tatsache” enthüllt, dass dieses Vermögen es ist, „das allen Menschen gemeinsam ist”, und dass auf ihm ”die Möglichkeit aller menschlichen Kommunikation” beruht? „Der Gedanke dieses Apriori” – schreibt Landgrebe – wird auch „erst in der Geschichte entwickelt”. Es ist etwas anderes – betont Landgrebe –, Reflexion zu vollziehen (sich auf sich selbst zu öffnen) und „in einer Reflexion höherer Stufe zu entdecken, dass diese Fähigkeit der Reflexion das ist, was alle Menschen verbindet” (sich auf die Anderen als unseresgleichen zu öffnen). Diese Entwicklung will er dabei eben als eine Entdeckung und nicht als eine Erfindung, nicht als ein „Artefakt” verstehen. Dieses Apriori soll das „konkrete historische Apriori” der Geschichte sein, das – mit Husserl gesprochen – „alles Seiende im historischen Gewordensein und Werden oder in seinem wesensmäßigen Sein als Tradition und Tradierendes umgreift” (Hua VI, 380). Wie ist aber die Entdeckung dieses Apriori – die „Reflexion höherer Stufe” als eine Handlung, in welcher die Geschichte in ihrem ursprünglichsten Sinne als Geschichte „gemacht” wird – überhaupt möglich gewe-
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sen? Woher nimmt diese – als in einer „Entdeckung” gegründet keineswegs „kontingente” – Tradition ihren Ursprung?42 5. Um die transzendentale Position Husserls als eine radikale Kritik des Lebens „zu Ende” zu denken, erweist es sich in diesem Kontext als besonders vielversprechend, die Frage nach der latenten GleichReflexionsfähigkeit der pluralen Menschen-Monaden sowie nach der Möglichkeit der Entfaltung dieses Gedankens in der Geschichte aus der Sicht der „Phänomenologie der politischen Welt” von Klaus Held zu stellen. Für Held, der die genannte Kluft mit dem phänomenologischen kategorialen Instrumentarium zu überbrücken versucht, entscheidet über die bisherige Blindheit der transzendentalen Phänomenologie gegenüber dem Problem des Politischen das Ausbleiben der Reflexion über eine besondere Art der Öffnung für die Welt, die mit dem Phänomen der „Öffentlichkeit” verbunden ist.43 Um diese Öffnung zu thematisieren und das „Apriori des Politischen“ zu enthüllen, soll nach Held zum (wenn auch von ihm nicht so genannten) „transzendentalen Leitfaden” der phänomenologischen Analyse des Politischen die griechische polis bzw. die mit ihr „wesensstrukturell“ verwandte, von Cicero zum philosophischen Begriff erhobene, res publica werden.44 Obwohl Held ihre konstitutive Analyse nicht als „transzendental” bestimmt (und – mit Heidegger – nicht bestimmen will), wird von ihm diese neuartige, in Athen zum ersten Mal entdeckte (bzw. als solche geltende) Form der Gemeinsamkeit als ein spezifisches, geschichtliches Konstitutionsgebilde gedacht, das durch isegoria, durch die Gleichheit im Öffentlich-Reden konstituiert wird. Sie konstituiert sich durch eine Öffnung der pluralen, partikulären Horizonte der interessenbedingten Meinungen der „verbürgerlichten” Monaden auf dem einen, gemeinsamen politischen Horizont, der diese Horizonte in ihrer Pluralität als Pluralität miteinander verbindet.45 Als solche zeichnet sich die zu diesem Gebilde reduzierte und entgegenständlichte polis bzw. res publica durch ihre eigene Phänomenalität aus und kann aus diesem Grund auch als eine Welt – eben als die politische Welt – verstanden werden. Die politische Welt erweist sich aus dieser Perspektive als das Korrelat der vielen sich für den gemeinsamen Lebensraum öffnenden Meinungen: sie ist auf diese Weise nicht „An sich” da, „sondern tritt erst im Beredetwerden durch die vielen auf sie bezogenen Meinungen
120 A. Gniazdowski: Phänomenologie als Theorie des Politischen in Erscheinung.“46 Die Öffnung für die politische Welt, die von Held als die Vorstufe der Öffnung für die Welt als die Urvorgegebenheit der Episteme angesehen wird, erweist sich damit als das Vermittelnde zwischen der natürlichen, in der Sonderwelt befangenen Einstellung und der philosophischen Einstellung. Und erst in diesem präzisen, phänomenologisch aufgeklärten Sinne soll sie zum Thema der politischen Phänomenologie werden, die Held als den wesentlichen und notwendigen Bestandteil der Phänomenologie als solcher bezeichnet. Die politische Welt als der so bestimmte Gegenstand der phänomenologischen Untersuchung eröffnet der konstitutiven Phänomenologie die zahlreichen Problemfelder der konkreten, sachbezogenen Forschung, die den Rahmen dieses Beitrags sprengen würden.47 An dieser Stelle soll zum Schluss nur die einleitende Frage wieder gestellt werden: inwieweit dieses Projekt als eine transzendentale Theorie des Politischen verstanden werden kann bzw. werden soll – d.h. als eine Theorie, die die Perspektive des genetischen Rückfragens nach dem Apriori des Politischen mit der Perspektive der phänomenologischen Metaphysik in Einklang brächte und auch das letzte Telos der Politik als das einer geschichtlichen – und die Geschichte als Geschichte konstituierenden – Praxis thematisierte. In Anbetracht dieser Frage scheint es wichtig zu sein, zumindest die folgenden Punkte hervorzuheben: Die von Landgrebe gesuchten „Fenster” bzw. die Öffnung der Monaden füreinander erweisen sich aus der Sicht der Phänomenologie der politischen Welt als durch die Öffentlichkeit vermittelt. Weiterhin: Erst durch die Öffnung für die politische Welt konstituiert sich nicht nur diese Welt, sondern konstituieren sich auch die Monaden in ihrem Selbst-da als die gleichvernünftigen bzw. – um die Kategorie von Klaus Held aufzugreifen – gleich-rechenschaftsfähigen politischen Subjekte.48 Zum eigentlichen Fenster der Monaden wird auf diese Weise ihre Fähigkeit zu dem, was Kant eine „erweiterte Denkungsart” nennt.49 Sie soll in bestimmten, kinästhetischen Sprechakten gründen und als eine spezifische, politische Urteilskraft die Öffnung für die Horizonte der Anderen ermöglichen. Es drängt sich in diesem Problemzusammenhang die schon im Kontext einer möglichen Deutung der „Absolutheit“ der Geschichte gestellte Frage auf, ob die erweiterte Denkungsart, die in der Phänomenologie der politischen Welt als eine „Vorstufe” der Öffnung für die universale Welt betrachtet wird, nicht nur als eine solche –, son-
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dern auch als für diese epistemische und in der weiteren Folge „transzendentale“ Öffnung für die Welt als „Horizont der Horizonte” – als konstitutiv und grundlegend verstanden werden soll. Dann wäre aber auch die Phänomenologie der politischen Welt nicht nur als die „Phänomenologie des Politischen“ im Sinne seiner „reinen“ bzw. „kritischen“ Theorie im Sinne Landgrebes, sondern auch als eine politische Phänomenologie zu verstehen, d.h. im Sinne einer „transzendentalen Praxis“. Um diese Konsequenz kritisch beurteilen zu können, scheint es nötig zu sein, auf das von Landgrebe formulierte Dilemma zurückzukommen und nach dem Verhältnis der politischen Welt zur Geschichte als Bereich der absoluten Faktizität zu fragen. Die politische Welt als ein geschichtliches Konstitutionsgebilde würde dadurch zum Thema der transzendental-genetischen Phänomenologie, die den Sinn ihrer Urstiftung nicht nur als Sache der historischen, sondern auch der transzendentalen Genese betrachtete. Nur auf diesem Wege, nur in der „Betätigung“ dieses theoretischen „Könnens“ scheint die Phänomenologie – als eine transzendentale Theorie der politischen Weltgeschichte verstanden – die Fähigkeit bzw. das „Vermögen“ erwerben zu können, Rechenschaft vom „absoluten“ und nicht nur „kontingenten“ Charakter des Demokratie-Gedankens zu geben. Die entsprechenden, im Rahmen der Phänomenologie der politischen Welt durchgeführten Analysen weisen, als auf den Grund ihrer Urstiftung, auf das demokratische Ethos (Tradition) hin, das als eine „sekundäre Passivität” bzw. die „zweite Natur” in der vorpolitischen Lebenswelt der Familie erworben werden und allen großen Kulturen innewohnen soll.50 Diese Berücksichtigung der „Naturseite” der politischen Welt konfrontiert ihrerseits die Phänomenologie des Politischen mit dem von Kant formulierten teleologischen Gedanken, nach dem die Natur selbst unwiderstehlich will, dass das – die politische Welt im Sinne einer „Weltrepublik“ zu stiftende – Recht zuletzt die Obergewalt erhalte: „Wenn man nun hier verabsäumt zu thun, das macht sich zuletzt selbst.”51 Darf sich die transzendentale Phänomenologie auf diese Hoffnung verlassen? Wenn man die von Heidegger an Kants und Husserls Geschichtsteleologiebegriff geübte Kritik bedenkt, erweist es sich als nötig, bei der Erforschung des Verhältnisses zwischen Politik und Geschichte noch eine weitere Dimension zu berücksichtigen. Insbesondere die Bezugnahme auf die Kritik von Karl Löwith, die auch die Heideggersche „seinsgeschichtliche” Position in Frage stellt und den
122 A. Gniazdowski: Phänomenologie als Theorie des Politischen Gedanken der Weltgeschichte auf die jüdisch-christliche Idee des Heilsgeschehens zurückführt,52 veranlasst, neben dem „Apriori der Politik” und dem „Apriori der Geschichte” zugleich nach dem „religiösen Apriori” zu fragen. Die transzendental-genetische Theorie der politischen Weltgeschichte sollte dann – „zu Ende gedacht” – in eine Art transzendentalphänomenologische „politische Theologie” überführt werden. Das ist aber schon eine ganz andere „Geschichte”. Anmerkungen: 1
Als erste Versuche zu einer solchen Analyse sind die Arbeiten von L. Landgrebe und A. Pazanin anzusehen, vgl. L. Landgrebe: Über einige Grundfragen der Philosophie der Politik. Köln/Opladen 1969, und A. Pazanin: Über die Möglichkeit einer phänomenologischen Philosophie der Politik. In: E. W. Orth (hrsg.): Phänomenologie und Praxis (Phänomenologische Forschungen, Bd. 3). Freiburg/München 1976, 120-151, vgl. auch: K. Schuhmann: Husserls Staats-philosophie. Freiburg/München 1988; W. Schnell: Phänomenologie des Politischen. München 1995; K. Thompson, L. Embree [Hrsg.]: Phenomenology of the Political. Den Haag 2000, insbesondere aber die zahlreichen, eingehenden Aufsätze von Klaus Held, z.B. Eigentliche Existenz und politische Welt, in: K. Held und J. Hennigfeld (Hrsg.): Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke. Würzburg 1993, 218-286; Civic Prudence in Macchiavelli: Toward the Paradigm Transformation in Philosophy in Transition to Modernity. In: R. Lilly (Hrsg.): The Ancients and the Moderns, Indiana University Press 1996, 115-129; The Ethos of Demokracy from a Phenomenological Point of View, In: D. Zahavi (Hrsg.): Self-awareness, Temporality and Alterity. Central Topics in Phenomenology, Dordrecht/Boston/London 1998, 193-207, u.a. 2 Vgl. L. Landgrebe: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte. In: E. W. Orth (Hrsg.): Phänomenologie und Praxis (Phänomenologische Forschungen, Bd. 3), Freiburg/München 1976, 19. 3 Landgrebe selbst spricht von ihrer „Einklammerung”, vgl. ebd. 4 L. Landgrebe: Über einige Grundfragen der Philosophie der Politik, 9. Es muss hier betont werden, dass Landgrebe diese Formulierung durch einen Vorbehalt einschränkt: sie darf „nur im Sinne eines heuristischen Prinzips und nicht im Sinne einer metaphysischen Behauptung [...] verstanden werden.” 5 Zu diesem Thema vgl. K. Schuhmann: Husserls Staatsphilosophie, 161 ff. 6 In dem Vortrag Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie weist Husserl ganz offen darauf hin, dass die Herausstellung des „Standes“ der Philosophen, der als „das berufene Organ für die Fortpflanzung des Geistes der Vernunft in die Kreise der «Laien»” wirkt (vgl. Hua XXVII, 54), eine peinliche, innere Spaltung der „ursprünglichen Einheit“ der Menschheit nach sich zieht. Husserl sagt voraus, dass „die in der Tradition konservativ Befriedigten und der philosophische Menschenkreis“ einander bekämpfen werden, und „sicherlich wird der Kampf sich in der politischen Machtsphäre abspielen“ (vgl. Hua VI, 335). Dieses Thema, das ich hier nur andeuten kann – und das damit verbundene Problem der „politischen Naivität” der Husserlschen Phänomenologie – bespreche ich näher in meinem Artikel Phänomenologie als Kritik der politischen Erfahrung. In: Textbeiträge vom XIX. Deutschen Kongress für Philosophie "Grenzen und Grenzüberschreitungen", hrsg. von W. Hogrebe, Bonn 2002 (erweiterte polnische Fassung: Fenomenologia jako
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NU\W\NDSROLW\F]QHJRGRĞZLDGF]HQLD. In: Fenomenologia 1 (2003), sowie im Aufsatz Krieg, Front, Feind. Jan Patocka und das Problem des Politischen, in: Focus Pragensis 4 (2004), 91-114. 7 Vgl. K. Held: Phänomenologie der politischen Welt. Vorlesungen im Rahmen der Sommerschule 2001 des Department of Philosophy der European Humanities University in Minsk, Weißrußland. Manuskript (polnische Übersetzung: K. Held: )HQRPHQRORJLD ĞZLDWD SROLW\F]QHJR. Übersetzt von A. Gniazdowski. Warszawa 2003). 8 L. Landgrebe: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte, 19. 9 Ebd. 10 Zur phänomenologischen praktischen Philosophie im Kontext des Problems der phänomenologischen Philosophie des Politischen vgl. K. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie (s. Anm. 1), und A. Pazanin, Über die Möglichkeit einer phänomenologischen Philosophie der Politik (s. Anm. 1). 11 L. Landgrebe: Die Phänomenologie (s. Anm. 2), 20. 12 Zum Begriff der „transzendentalen Theorie der Praxis” vgl. H. R. Sepp: Praxis und Theorie. Husserls transzendentalphänomenologische Rekonstruktion des Lebens. München 1997, 97-124. 13 L. Landgrebe: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte (s. Anm. 2), 21. 14 Die genetische Phänomenologie ist ihrerseits nicht mehr die „Phänomenologie der ontologischen Leitfäden und Erlebnisse”, die ihre Gegenständlichkeiten der Lebenswelt und ihren historisch etablierten Wissenschaften entnimmt und Sinn und Geltung dieser Gegenstände „im Rückgang auf ihre Bekundungs- oder Ausweisungssysteme im ursprünglich gebenden Bewußtsein aufzuklären” versucht, vgl. R. Bernet, I. Kern, E. Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. Hamburg 1989, 183. 15 L. Landgrebe: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte (s. Anm. 2), 22. Zum Thema der Geschichtswissenschaftstheorie in Husserls Phänomenologie vgl. K.-H. Lembeck: Gegenstand Geschichte. Dordrecht/ Boston/London 1988. 16 L. Landgrebe: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte (s. Anm. 2), 22. 17 Ebd., 24. Landgrebe bezieht sich hier auf die Formulierung Husserls aus dem Text „Phänomenologische Reduktion und absolute Rechtfertigung”, Hua VIII, Beilage XXXII, 497-506. 18 Mit Husserl gesprochen: Die Welt ist eine geschichtliche nur „durch die innere Geschichtlichkeit jedes einzelnen und als einzelne in ihrer inneren Geschichtlichkeit mit der anderer vergemeinschafteten Personen” (Hua VI, Beilage III, 381). 19 L. Landgrebe: Über einige Grundfragen der Philosophie der Politik (s. Anm. 2), 9. 20 Ebd. 21 Ders.: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte (s. Anm. 2), 27. 22 Ebd., 31. 23 „One has to dispense with the constituent subject, to get rid of the subject itself, that’s to say, to arrive at an analysis which can account for the constitution of the subject within a historical framework”, M. Foucault: Truth and Power. In: C. Gordon (ed.): Power/Knowledge. New York 1980, 117. Zu diesem Thema vgl. B. Seitz: Constituting the political subject, using Foucault. In: Man and World 26 (1993), 443-455.
124 A. Gniazdowski: Phänomenologie als Theorie des Politischen 24
Zu diesem Thema vgl. G. Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002, 15. 25 Es handelt sich hier um das Problem, das sich auch Husserl selbst im KrisisWerk gestellt hat und das von ihm in seiner Schrift über den Ursprung der Geometrie eingehend untersucht wurde, vgl. auch J. Derrida: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der „Krisis”. Übersetzt von R. Hentschel und A. Knop. München 1987. 26 L. Landgrebe: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte (s. Anm. 2), 29. 27 Ebd., S. 26. 28 Im genetischen Suchen nach der „Tiefenschicht” der passiven Vorkonstitution dieser Öffnung, das Landgrebe „Rückwendung auf das, was wir vermögen” nennt, verweist er auf die kinästhetischen Funktionen des Sichbewegenkönnens als auf die elementarste Form der Spontaneität, die sowohl der Zeitkonstitution als auch den Sprechakten und der Gegenüberstellung von Ich und Du genetisch vorangeht (ebd., 33 ff.). Und eben in der Erfahrung dieses betätigten Könnens „erschließt sich je mein oder je des Anderen unaufhebliches Da als apodiktische Gewißheit lebendiger Gegenwart”, das der leiblichen Individuation vorangeht und von welchem der Begriff des absoluten Faktums erst seinen Sinn gewinnt: „das Ich stößt gleichsam auf dieses «Da», das es selbst ist”, vgl. K. Held: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik. Den Haag 1966, 141. 29 Das Können, in dem das „Da”-seiende Ego sich erfährt, „ist erfahren als ein gewordenes durch die Geschichte seiner Erfahrung, in der es dieses sein Können ausgebildet hat”. Vgl. L. Landgrebe: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte (s. Anm. 2), 38. 30 Ebd., 30. 31 Ebd., 42. 32 Landgrebe selbst bemerkt an anderer Stelle: „Man könnte freilich fragen, ob diese Art vorsprachlicher Bekanntschaft mit sich selbst als Zentrum spontanen Sichbewegenkönnens etwas spezifisch Menschliches und nicht vielmehr auch dem Tier zuzusprechen ist. [...] Es würde zu weit führen, dieses Problem hier weiter zu erörtern”, ebd., 34. 33 Ebd., 46. 34 Ebd. 35 L. Landgrebe: Meditation über Husserls Wort „Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins”, in: Ders.: Faktizität und Individuation. Hamburg 1982, 49. 36 M. Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin 1965, 151 ff. 37 Die Stellung der Idee der „Gleichwertigkeit” der Ich-Subjekte innerhalb der Phänomenologie Edmund Husserls bespreche ich näher im Aufsatz: Der Andere als Meinesgleichen. In: I. Copoeru, M. Diaconu, D. Popa (Hrsg.): Person, Community and Identity. Cluj-Napoca 2003, 76-86. 38 L. Landgrebe, Meditation über Husserls Wort (s. Anm. 35), 49. 39 Ebd., 41. 40 L. Landgrebe: Die Phänomenologie als transzendentale Theorie der Geschichte (s. Anm. 2), 33. 41 Ebd., 49. 42 Zum Begriff der Tradition bei Husserl vgl. A. Ponsetto: Die Tradition in der Phänomenologie Husserls: ihre Bedeutung für die Entwicklung der Philosophiegeschichte. Meisenheim am Glan 1978.
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Vgl. K. Held: Eigentliche Existenz und politische Welt. In: Ders./J. Hennigfeld (Hrsg.): Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke. Würzburg 1993, 218-286. 44 K. Held: )HQRPHQRORJLD ĞZLDWD SROLW\F]QHJR (s. Anm. 7), 11. „Während ich alle meine Einfühlungen in methodischer Weise, in einer Art Epoché in der Epoché, außer Geltung setzte” – schreibt Husserl – „treten dann hervor die Probleme der durch die Einfühlung hergestellten Allgemeinschaft und ihrer wesensmäßigen Sonderformen – eben dieselben, die in der natürlichen Weltbetrachtung als objektivierte auftreten, nämlich als Familie, Volk, Völkergemeinschaft, und von da aus als Wesensstrukturen der menschlichen Geschichtlichkeit; hier aber reduziert, ergeben sie die Wesensstrukturen der absoluten Geschichtlichkeit, nämlich diejenigen einer transzendentalen Subjektgemeinschaft” (Hua VI, 262). 45 Ebd. Vgl. auch K. Held: Die griechische Entdeckung der Welt als Ursprung Europas (englische Version in: Epoché 7, Nr. 1 (2002), 81-105. 46 K. Held: )HQRPHQRORJLDĞZLDWDSROLW\F]QHJR (s. Anm. 7), 32. 47 Einige Voraussetzungen und Perspektiven der Phänomenologie der politischen Welt bespreche ich näher im Aufsatz Die Konstitution des politischen Subjekts als Problem der Phänomenologie. In: P. Dybel/H. J. Sandkühler (Hrsg.): Der Begriff des Subjekts in der modernen und postmodernen Philosophie. Frankfurt am Main 2004, 82-97. 48 Vgl. K. Held: Die Zweideutigkeit der Doxa und die Verwirklichung des modernen Rechtsstaats. In: J. Schwartländer und D. Willoweit (Hrsg.): Meinungsfreiheit. Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA, Kehl a. Rh. 1986, 9-29. 49 Held bezieht sich in dieser Hinsicht auf Hannah Arendt, die erkannt hat, dass „Kants Bestimmung der erweiterten Denkungsart, die sich in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft auf das Geschmacksurteil bezieht, zur Grundlage der Interpretation der politischen Urteilskraft und des «Gemeinsinns» im politischen Sinne gemacht werden kann”, sowie auf die Arbeiten von Ernst Vollrath, der sich als Aufgabe gestellt hat, von diesem Ansatz her die Grundzüge einer neuen philosophischen Theorie des Politischen zu entwerfen, vgl. ebd. 50 K. Held: )HQRPHQRORJLDĞZLDWDSROLW\F]QHJR (s. Anm. 7),116. 51 Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900, AA VIII, 367. Vgl. auch L. Bernd: Will die Natur unwiderstehlich die Republik? Einige Reflexionen anläßlich einer rätselhaften Textpassage in Kants Friedensschrift. In: Kant-Studien 88 (1997), 218237. 52 „Wir haben gelernt, zu warten ohne zu hoffen”, vgl. K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie. In: Sämtliche Schriften II, Stuttgart 1983, 13. Es ist bemerkenswert, dass Landgrebe die Kritik Löwiths mit dem Verweis auf Kants Schrift Das Ende aller Dinge ablehnt und schreibt, dass die Frage nach dem Sinn des geschichtlichen Geschehens keineswegs nur auf Grund des judeochristlichen eschatologischen Glaubens stattfindet und mit ihm auch untergeht, sondern – mit Kant gesprochen – „mit der allgemeinen Menschenvernunft auf wunderbare Weise verwoben” ist, vgl. L. Landgrebe: Das Problem der Teleologie und der Leiblichkeit in der Phänomenologie und im Marxismus. In: B. Waldenfels, J. M. Broeckman, A. Pazanin (Hrsg.): Phänomenologie und Marxismus, Bd. 1: Konzepte und Methoden, Frankfurt am Main 1977, 71-104.
Idee einer Phänomenologie der Hoffnung1 Klaus Held, Bergische Universität Wuppertal Zusammenfassung: Auf Beobachtungen von Gabriel Marcel aufbauend entwirft der Aufsatz den systematischen Umriß einer Phänomenologie der Hoffnung. Die in westlichen und östlichen Religionen implizierten Urteile über das Sein des Erhofften werden in phänomenologischer Epoché eingeklammert. Phänomenologisch ist die Hoffnung eine Einheit von intentional gerichtetem Gefühl und welterschließender Stimmung. Ihre traditionelle Definition als Erwartung eines kommenden Guten und ihre Gleichsetzung mit dem Optimismus erweisen sich als nicht haltbar, obwohl sie Wahrheitsmomente enthalten. Die Hoffnung unterscheidet sich sowohl von der stoischen Apathie als auch von der tätigen Revolte (Albert Camus), weil sie zwei Gesichter hat: In ihrem originären Gehalt als radikal überraschungsoffene Gegenstimmung zur Verzweiflung transzendiert sie die Bindung an jedes eine bestimmte Erfüllung bringende Vorkommnis in der Welt und entzieht sich der Kraft unseres Willens. Sie enthält aber auch ein Gefühl des Urvertrauens in den Fortbestand der Welt, die uns immer wieder neue Erfüllungen anbietet, die wir mit der Kraft unserer Vermöglichkeiten aufgreifen können. Als „Tugend“ speist sich die Hoffnung aus einer Kraftquelle, die dem einzelnen Menschen „innerlicher“ ist als seine eigene Kraft.
Zum Thema „Hoffnung“ gibt es in der Philosophie und christlichen Theologie des 20. Jahrhunderts zwar bekannt gewordene Schriften wie „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch aus dem Jahre 1954 und die „Theologie der Hoffnung“ von Jürgen Moltmann von 1964. Aber die großen Klassiker der Phänomenologie sind dem sehr schwer zu fassenden Phänomen der Hoffnung ausgewichen. Allerdings hat Gabriel Marcel, ein Denker, der gemeinhin nicht zu jenen Klassikern gezählt wird, 1942 einen Vortrag mit dem Titel „Entwurf einer Phänomenologie und Metaphysik der Hoffnung“2 gehalten, der unverkennbar einige Züge trägt, die der phänomenologischen Methode, so wie Husserl sie eingeführt hat, entsprechen und die Marcel auch selbst in den kurzen methodischen Vorüberlegungen seines Textes auf seine Weise zur Sprache gebracht hat. Der erste bei Marcel anklingende Zug ist der Versuch, alles, was mir begegnen kann, alles mir „Erscheinende“ ausschließlich so zu beschreiben, wie es sich jeweils mir in meinem Erleben darbietet. Die durch solche Reflexion gewonnene „Innenansicht“ vom Erscheinenden kann nur in der ersten Person expliziert werden; der Standpunkt von jemandem, der die Sachlage von außen beurteilt, muss außer Be126 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 126–141. © 2006 Springer.
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tracht bleiben. Dabei ist für jedes Verstehen des Erscheinenden die Verweisung auf solche Arten des Erscheinens grundlegend, an denen das Verstehen seinen ersten Anhalt findet, das Erscheinen in seiner ursprünglichen, „originären“ Gestalt. Der zweite Zug der phänomenologischen Methode ist die Rückfrage nach dem originären Erscheinen. Diese Rückfrage ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht vorentschieden ist, worin solches Erscheinen konkret besteht. Die phänomenologische Forschung hat die Aufgabe, nach den Arten originären Erscheinens zu suchen und sich allein durch solches Erscheinen, die recht verstandene „Evidenz“, zu legitimieren, die allererst durch eben diese Suche zutage tritt. Die Phänomenologie stößt dabei auf tief eingewurzelte Vorurteile des Alltagslebens, aber auch der Wissenschaft einschließlich der Philosophie, die uns zunächst hindern, das originäre Erscheinen so anzuerkennen, wie wir es in der Innenansicht vorfinden, und es nicht mit vorgängigen Deutungen zu verstellen. Weil wir diese Deutungen zumeist nicht einmal bemerken, bedürfen wir, um unbefangen auf das Erscheinen zu reflektieren, einer radikalen Änderung unserer „natürlichen“ Einstellung, die wir bis zu ihrer phänomenologischen Infragestellung in undurchschauter Fraglosigkeit einnehmen. Diese Einstellung besteht darin, dass uns das Erscheinende als etwas begegnet, was für uns in irgendeinem Sinne „ist“. Der dritte Zug der phänomenologischen Methode liegt darin, dass wir bei der Reflexion auf das Erscheinen mit allen Stellungnahmen zum Sein des uns Begegnenden „innehalten“, also zur methodischen Haltung der Epoché übergehen. Um nun zum Thema „Hoffnung“ zu kommen, so möchte ich zwar einige von Marcels unsystematisch vorgetragenen Beobachtungen aufgreifen, aber versuchen, einer Phänomenologie der Hoffnung in einem ersten Umriss eine systematischere Gestalt zu geben. Die zuletzt erwähnte Haltung der Epoché verschafft uns in der Tat die Chance, das Phänomen der Hoffnung weniger vorurteilsfrei als in der Tradition zu betrachten. Wir enthalten uns als Erstes jeder Seinsstellungnahme zu dem, worauf sich menschliches Hoffen richten kann. Die gängigen Meinungen über das Sein des Erhofften lassen wir auf sich beruhen, beispielsweise das in der griechischen Antike vorherrschende , Urteil, dass uns die Hoffnung, ελ π ι′ ς , grundsätzlich täuscht, weil sich am Ende immer herausstellt, dass alles, dessen Sein wir erhofften, nur Produkt unserer illusorischen Wünsche war. Auch den Inhalt traditionell weitverbreiteter religiöser Überzeugungen unterwerfen wir der
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Epoché, so die jüdische Erwartung des Messias, die christliche Hoffnung darauf, dass es, wie die Apokalypse des Johannes verspricht, am Ende der Zeiten „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ geben wird, oder die Überzeugung in gewissen Mahayana-buddhistischen Schulen, dass demjenigen, der zur Erleuchtung gelangt, das „reine Land im Westen“ verheißen ist. Als Zweites versuchen wir, in der durch die Epoché ermöglichten Innenansicht zur originären Gestalt des Phänomens „Hoffnung“ vorzudringen und bemerken dabei sogleich, dass sich uns von vornherein Interpretationen philosophischen Ursprungs aufdrängen, die den Eindruck fragloser Selbstverständlichkeit erwecken. Die älteste und geläufigste Interpretation dieser Art ist die Definition der Hoffnung als Erwartung eines kommenden Guten, – eine Definition, der die Bestimmung der Angst als Erwartung eines kommenden Übels entspricht. Die Definition hat eine gewisse Überzeugungskraft, die sie aus der Beobachtung bezieht, dass die Hoffnung sich generell nur auf Gutes und nicht auf Schlechtes richten kann. Man könnte einwenden, dass auch die Erwartung von Schlechtem von der Hoffnung begleitet sein kann, eine Angelegenheit, beispielsweise ein geplanter Diebstahl, werde „gut ausgehen“. Der Einwand setzt voraus, dass sich objektiv Schlechtes von objektiv Gutem unterscheiden lässt. Aber als jemand, der in der Haltung der Epoché reflektiert, weiß ich nichts von einem „objektiv Guten“, d.h. einem Guten für alle Menschen schlechthin, sondern nur von dem Guten oder Schlechten, wie es mir, dem Hoffenden, erscheint. Ich als Hoffender kann vom „Ziel“ meiner Hoffnung, sofern es den Gegenstand meiner Hoffnung bildet, nicht sagen, es sei etwas Schlechtes, und zwar deswegen nicht, weil ich das, was ich erhoffe, in jedem Falle für „besser“ halte als die gegenwärtige Situation, über die ich mit meiner Hoffnung hinausstrebe. Obwohl die klassische Definition der Hoffnung sich auf diese Beobachtung stützt, tut sie der Hoffnung doch Gewalt an, und zwar mit der Subsumtion unter den Oberbegriff „Erwartung“. Die Erwartung fungiert hier als ein gleichsam neutraler Bezug zur Zukunft, der dann – je nach der subjektiven Befindlichkeit desjenigen, der etwas erwartet – mit bestimmten Gefühlen eingefärbt wird. Durch die Hoffnung wird die Erwartung sozusagen affektiv imprägniert mit der Ausrichtung auf ein positives Ziel – im Kontrast zur negativen Imprägnierung bei Angst oder Verzweiflung. Aber diese Beschreibung der Hoffnung
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wäre nur dann akzeptabel, wenn die Sinnverweisung, deren wir beim Bezug auf das jeweils Erhoffte bewusst sind, tatsächlich ihren ersten, originären Anhalt daran fände, dass wir zunächst etwas erwarten und dieser Erwartung dann zusätzlich eine gewisse affektive Färbung verleihen. Bei unbefangener Beschreibung der Hoffnung, wie sie sich mir in meiner Innenansicht originär darbietet, zeigt sich genau das Umgekehrte: Das erste Sinngebende der Hoffnung ist keine neutrale Erwartung, sondern gerade ein Gefühl. Die Zukunft, auf die sich meine Hoffnung bezieht, steht mir nicht vorab zu diesem Gefühl schon in einer Erwartung offen, sondern es gibt sie ursprünglich nur als eine Dimension meines Lebens, die sich mir durch meine emotionale Lage eröffnet. Wenn ich von dieser Dimension so spreche, als sei sie auch ohne die affektive Imprägnierung schon für mich da, dann kann ich das nur, weil ich vorab, ohne dies zu bemerken, von dem originär emotionalen Bezug der Hoffnung auf die Zukunft abstrahiert habe. Demnach müssen wir bei allen weiteren Kennzeichnungen der Hoffnung ausgehen von ihrer primären Beschaffenheit, ein Gefühl zu sein. Mit dieser grundlegenden Bestimmung der Hoffnung wird der Sache nach bereits ein weiteres Vorurteil ausgeräumt, nämlich die Verwechslung der Hoffnung mit dem Optimismus, eine Verwechslung, der die Gleichsetzung der Verzweiflung mit dem Pessimismus korrespondiert. Pessimismus und Optimismus entsprechen den alten Definitionen von Furcht und Hoffnung als Erwartungen eines in der Zukunft liegenden Übels bzw. Guten; sie sind die generalisierte Gestalt dieser Erwartungen. Als das sind sie in ihrer Wurzel keine Gefühle, sondern allgemeine Urteile über die Zukunft. Diese Urteile besagen: „Am Ende wird alles schlecht – bzw. gut – ausgehen.“ Weil nicht-triviale Urteile als solche der Rechtfertigung bedürfen, müssen sich der Optimist und der Pessimist, ob sie sich das eingestehen oder nicht, dem Anspruch stellen, ihre Einstellung zur Zukunft mit Argumenten zu verteidigen. Die Hoffnung aber bedarf als Gefühl keiner Argumente. Die Bestimmung der Hoffnung als Gefühl lässt uns noch auf ein anderes Vorurteil stoßen, weil Gefühle traditionell als Weisen von Bewusstsein angesehen werden, die den primären Zugang zur Welt, den uns – wie man selbstverständlich annimmt – das Erkennen eröffnet, verstellen oder verzerren. In diesem Sinne gelten sie als das „Irrationale“, von dessen Einfluss wir uns frei machen müssen. Damit aber
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wird von vornherein die Möglichkeit abgeschnitten, dass eine ursprünglich emotionale Beziehung zu etwas ihre eigene Art von Vernünftigkeit, d.h. von aufschließender Kraft bezüglich dessen, worauf sie sich bezieht, haben könnte. Pascal hat diese Möglichkeit mit dem bekannten Satz anerkannt: „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point“,3 „Das Herz hat seine Vernunftgründe, welche die Vernunft nicht kennt.“ Die erwähnten Definitionen von Hoffnung und Angst sind blind für diese Sachlage, weil der primär neutrale, noch nicht affektiv imprägnierte Zukunftsbezug, den sie voraussetzen, nur ein Vorblick in die Zukunft sein kann, den wir einem Erkennen verdanken. Nun stellt sich allerdings die kritische Frage, ob es wirklich das Pascalsche „Herz“ mit seinen Gefühlen ist, das uns die Gründe für unser Hoffen liefert. Was immer hier „Herz“ bedeuten mag, gewiss ist damit nicht die leibliche Natur gemeint, mit der wir als Lebewesen ausgestattet sind. Aber handelt es sich bei der Hoffnung nicht doch einfach um eine Art von Gefühl, die aus dem Überlebenstrieb des Lebewesens Mensch erwächst? Die Frage klingt plausibel, und doch zielt sie von vornherein an der Hoffnung vorbei, weil sie unphänomenologisch von Dritten gestellt wird, die von außen über mein Hoffen urteilen. In der Innenansicht erfahre ich meine Hoffnung nicht als einen naturhaften, dem Essens- oder Schlafbedürfnis vergleichbaren Drang, auf erträgliche Weise weiterzuleben. Trotzdem lässt sich nicht verkennen, dass die Frage sich aufdrängt, weil die Hoffnung auch in der Innenansicht nicht von der Zuversicht zu trennen ist, dass das Leben erträglich weitergeht. Deshalb stellt sich als nächstes die Aufgabe, diese Zuversicht phänomenologisch sachgerecht zu beschreiben. Nach Husserl vollzieht sich unser Leben konkret in den intentionalen Beziehungen zu den Vorkommnissen, auf die wir uns mit den mannigfaltigen Weisen unseres Verhaltens beziehen; es ist in diesem Sinne „intentionales Leben“. Alle Vorkommnisse dieses Lebens erscheinen uns in Horizonten, und diese wiederum gehören in die Welt als den Horizont, der uns ungegenständlich als der alles umfassende Verweisungszusammenhang vertraut ist. Die Zuversicht, dass das Leben erträglich weitergeht, ist deshalb konkret in einem Urvertrauen darauf verankert, dass die so verstandene Welt auch in Zukunft weiterbestehen wird. Dieses Urvertrauen stützt sich darauf, dass alle überhaupt erdenklichen Fortsetzungen des intentionalen Lebens nur in den Bahnen irgendwelcher vorgezeichneten Möglichkeiten verlaufen kön-
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nen; sie müssen sich dem Erwartungshorizont einfügen, den diese Möglichkeiten eröffnen. In diesem Sinne kann es für jede Vorzeichnung eine „Erfüllung“ geben. Es kann allerdings sein, dass eine wirklich eintretende Fortsetzung des intentionalen Lebens den jeweils einschlägigen Vorzeichnungen widerspricht. Wir durchleben zwar unvermeidlich immer wieder so verstandene „Enttäuschungen“, aber jede Enttäuschung kann nur vor dem Hintergrund von bestimmten Verweisungsbezügen des Horizontbewusstseins als Enttäuschung erfahren werden. In diesen Verweisungsbezügen wiederum zeichnen sich neue Möglichkeiten von Erfüllung ab. Deshalb kann – das ist eine von Husserls bahnbrechenden Entdeckungen – grundsätzlich niemals ein solcher Verlust an „Einstimmigkeit“ zwischen jeweiliger Vorzeichnung und faktischer Erfahrung eintreten, dass das alles umfassende Verweisungsgeschehen der „Welt“ abbricht, weil sich keine positiven Erfüllungsmöglichkeiten mehr anbieten. Aus diesem Grund ist das intentionale Leben von dem Urvertrauen getragen, dass die Welt als das, was alle Enttäuschungen durch immer neue positive Erfüllungsmöglichkeiten gleichsam kompensiert, auch in Zukunft weiterbestehen wird und uns vor negativen Überraschungen bewahrt, aus denen es keinen Ausweg mehr gäbe. Nur dieses Urvertrauen kann uns Menschen überhaupt auf die Idee bringen, wir dürften die berechtigte Zuversicht hegen, dass das Leben erträglich weitergeht. Insoweit bildet dieses Urvertrauen – in Husserls Sprache ausgedrückt – das Motivationsfundament der Hoffnung. In allen Verweisungsbezügen sind entsprechende Möglichkeiten von Erfüllung vorgezeichnet, aber diese Möglichkeiten bestehen nicht „an sich“; es gibt sie nicht unabhängig von meinen intentionalen Vollzügen, sondern nur deshalb, weil ich das Bewusstsein habe: „Ich kann durch Verweisungen vorgezeichnete Erfüllungsmöglichkeiten ergreifen.“ Weil die Möglichkeiten in diesem meinem „ich kann“, also meinem Können, meinem Vermögen angesiedelt sind, bezeichnet Husserl sie mit dem geglückten Neologismus „Vermöglichkeiten“. Mein Können, dessen ich in den Vermöglichkeiten inne bin, die mein Weltvertrauen tragen, setzt aber wie jedes Können Kraft voraus. Das Gefühl dieses Kraftbesitzes lässt sich als die vitale Kraft interpretieren, die der Mensch als Lebewesen besitzt, und das kann den erwähnten Eindruck erwecken, die Hoffnung sei ein Gefühl, das aus unserer animalischen leiblichen Natur erwächst. Aber mit einem solchen Naturalis-
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mus wird dem Urvertrauen in das unverbrüchliche Weiterbestehen eines Erfüllungen bereithaltenden Welthorizonts eine Deutung übergestülpt, die durch die phänomenologische Innenansicht nicht gedeckt ist. Gleichwohl ist diese naturalistische Deutung nicht vollkommen verfehlt, sofern sie spürbar werden lässt, dass die Hoffnung als Gefühl die Erfahrung einer Kraft voraussetzt, von der das Weltvertrauen getragen ist. Dann bleibt aber die Frage, wie wir in der Innenansicht diese Kraft sachgerecht beschreiben können. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Kraft meine horizont-eröffnenden Vermöglichkeiten – also mein Können – trägt, erklärt sich daraus die Verwechslung der Hoffnung mit dem Optimismus. Das positive Urteil des Optimisten über die Zukunft besagt, auf eine einfache Formel gebracht: „Es wird gut ausgehen“. Diese generalisierende Aussage stützt sich in gleichsam vorwissenschaftlicher Induktion darauf, dass mein „ich kann“ mir immer wieder neue Vermöglichkeiten der Erfüllung eröffnet. Trotzdem entspricht es nicht der Innenansicht der Hoffnung, sie mit diesem Optimismus des „ich kann“ gleichzusetzen. Die Gleichsetzung setzt nämlich voraus, dass dasjenige, worauf sich die Hoffnung originär bezieht, einzelne, positive Erfüllung bringende zukünftige Vorkommnisse unseres Lebens sind, auf die wir jeweils durch intentionale Vermöglichkeiten verwiesen werden. Es gibt aber eine Hoffnung, die jegliche intentionale Einzelerfüllung transzendiert. Marcel charakterisiert sie so, dass für sie das erhoffte Gute nur noch in dem Kontrast zu einem Unheil besteht, aus dem die Verzweiflung keinerlei Ausweg sieht. Dieses Unheil besteht im Abgeschnittensein von jeglicher Erfüllungsmöglichkeit überhaupt. Die horizonthaften Verweisungen – also auch die Verweisungen auf positive Erfüllungsmöglichkeiten – ermöglichen die Verstehbarkeit der uns erscheinenden Vorkommnisse, also die Erfahrung von Sinn. Horizonte sind Dimensionen des Verstehens; sie eröffnen unserem Verhalten Spielräume, in denen es sich bewegen kann, weil sie durch das Verstehen der Verweisungszusammenhänge in eine gewisse Helligkeit getaucht sind. In diesem Sinne verdammt uns das Abgeschnittensein von jeglicher Erfüllungsmöglichkeit in der Verzweiflung zu Dunkel und Unbeweglichkeit, also zu einer Situiertheit, die wir konkret als Nacht oder Finsternis und als Fesselung oder Gefängnis kennen.
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Man muss mit Marcel das Phänomen anerkennen, dass es ein absolutes Hoffen gibt, das nichts anderes ist als das Gegenteil von Verzweiflung, – eine Sachlage, die sich in Marcels Muttersprache darin bekundet, dass die Verzweiflung als désespoir, also als Negation von espoir, „Hoffnung“, bezeichnet wird. Marcel behauptet, solches absolute Hoffen sei die eigentliche Hoffnung, also – in Husserlscher Begrifflichkeit – ihre originäre Gestalt. Marcel macht sich selbst den Einwand, dass es für die Hoffnung in manchen Fällen nicht bloß die schroffe Alternative von „Gefangenschaft und Finsternis“ einerseits und „Freiheit und Licht“ andererseits gibt; denn die Hoffnung kann sich auch darauf richten, dass sich ein Glück vollendet, das sich schon in der Gegenwart abzeichnet. Ein Beispiel dafür ist die Schwangere, die – wie das Deutsche so schön sagt – „guter Hoffnung“ ist. Es scheint, als werde in solchen Fällen nur die Steigerung einer schon angebahnten positiven Erfüllungsmöglichkeit erhofft, der sozusagen nur noch die letzte Abrundung fehlt. Aber das Gute, auf das sich die gerade erwähnte „gute Hoffnung“ richtet, besteht – sagt Marcel mit Recht – nicht bloß darin, dass ein Rest von Mangelhaftigkeit in einem schon begonnenen Erfüllungsprozess überwunden wird. Die Folie der „guten Hoffnung“ ist vielmehr – um bei dem Beispiel der Schwangeren zu bleiben – die prinzipiell unüberwindbare Gefährdung von Mutter und Kind durch ihre unkalkulierbare Verletzlichkeit und letztlich Sterblichkeit. Eine solche Gefährdung des Menschen besteht aber immer und überall, weil jeder Mensch in seiner faktischen Lage unvermeidlichen und zugleich unvorhersehbaren Bedrohungen ausgesetzt ist. Mit Bezug hierauf sprach man in der französischen Literatur zu Marcels Zeit von der condition humaine. Zur condition humaine als solcher gehören auch beim scheinbar glücklichsten Menschen Züge von Finsternis oder Gefangenschaft, die sich nicht beseitigen lassen. Deshalb sind auch die Hoffnungen, in denen es nur um die Vollendung einer schon anhebenden Erfüllung zu gehen scheint, letztlich allein dadurch „Hoffnungen“, dass sie sich von der Verzweiflung über die unaufhebbare Finsternis und Gefangenschaft abheben, die zur condition humaine gehört. In diesem Sinne kann man mit Marcel sagen, dass die Hoffnung in ihrem originären Gehalt die Gegenstimmung zu jener Verzweiflung ist. Ich habe gerade den Begriff „Stimmung“ benutzt, weil wir uns nun eine Unterscheidungsmöglichkeit der deutschen Sprache zunutze machen können. Sofern sich ein emotionaler Bezug originär auf einen
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„Gegenstand“ im weitesten Sinne, d.h. einen identischen Pol meines intentionalen Bewusstseins richtet, dürfte es am angemessensten sein, von einem „Gefühl“ zu sprechen. Es kann aber auch sein, dass ich durch eine emotionale Befindlichkeit meiner Lebenssituation im ganzen inne werde. Dafür aber scheint mir das deutsche Wort „Stimmung“ die passendste Bezeichnung. Durch den letzten Gedankenschritt hat sich herausgestellt, dass die Hoffnung in ihrer originären Gestalt letztlich die Bindung an jedes eine bestimmte Erfüllung bringende Weltvorkommnis transzendiert. Die Hoffnung als Stimmung kann bestehen bleiben, auch wenn jedes erwartbare, gegenständlich fassbare Vorkommnis ausbleibt. Durch diesen Zug unterscheidet sich im übrigen das originäre Hoffen vom Wünschen; denn dieser Bezug auf die Zukunft ist an die Vorkommnisse gebunden, die ihm Erfüllung bringen. Ein jegliches Gewünschte transzendierendes Wünschen wäre kein Wünschen mehr, während ein alles transzendierendes Hoffen gerade die originäre Gestalt der Hoffnung bildet. Die Kraft der originär erfahrenen Hoffnung hängt nicht davon ab, ob irgendeine der Erfüllungen, die ich konkret intentional erhoffe, wirklich eintritt. Unter den unberechenbaren Bedingungen der condition humaine bliebe die Hoffnung mit solcher Abhängigkeit letztlich der Verzweiflung ausgeliefert. Die reine Stimmung der Hoffnung besteht in der Enttäuschungsfestigkeit, mit der sie jegliches Misslingen einzelner erwarteter Erfüllungen transzendiert. Aber die Frage ist nun: Kann dies bedeuten, dass eine Hoffnung möglich wäre, der jede intentionale Ausrichtung auf ein Erfüllung bringendes Vorkommnis fehlen würde? Ist die „Reinheit“ der originär erfahrenen Hoffnung im Sinne solcher Objektlosigkeit zu verstehen? Bei Marcel klingt es manchmal so, aber es wird der Innenansicht der Hoffnung nicht gerecht; denn zur Hoffnung gehört Kraft, und nur dieser Kraftcharakter kann einen anderen Zug der Hoffnung erklären, den ich noch nicht erwähnt habe: Offenbar gehört es zu meinen Möglichkeiten, die Einübung, Erhaltung und Stärkung der Hoffnung zum Gegenstand meiner Vorsätze zu machen, damit sie mir zur guten Gewohnheit wird. So betrachtet erscheint die Hoffnung als eine Haltung oder Tugend im Sinne der von Aristoteles gestifteten ethischen Tradition. Nur deshalb konnte die Scholastik die Hoffnung zu den Tugenden zählen. Allerdings gehörte diese Tugend nicht zu den vier aus der vorchristlichen Antike stammenden Kardinaltugenden, sondern zu den drei „theologischen Tu-
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genden“, also Tugenden, die nur unter den Voraussetzungen christlicher Offenbarung als solche anerkannt werden konnten. Diese Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe – galten als Geschenke, die der Mensch dem Erlösungsgeschehen verdankt. Hinter diesem theologischen Gedanken stand aber eine philosophische Einsicht: Die Transformation eines Gefühls wie der Hoffnung in eine Tugend, um die wir uns willentlich bemühen und die wir aktiv einüben, hat daran ihre Grenze, dass ein Gefühl als „Affektion“ mir widerfährt; ich erleide es, und willentliches Tun ist das kontradiktorische Gegenteil solcher Passivität. Das Gefühl kann nur insoweit in Tugend transformiert werden, als diese den Charakter von Gewohnheit hat; denn auch eine Gewohnheit stellt sich passiv ein; ein Willensentschluss kann nur die Bereitschaft für die Entstehung einer Gewohnheit wecken, aber sie nicht aktiv hervorbringen. Würde die Hoffnung den Widerfahrnis-Charakter, den sie als Gefühl hat, bei der Transformation in eine Tugend vollständig verlieren, wäre sie keine Hoffnung mehr. Noch deutlicher zeigt sich der Widerfahrnis-Charakter der Hoffnung, wenn wir sie nicht bloß als ein Gefühl betrachten, das mit der intentionalen Ausrichtung auf bestimmte Erfüllung-bringende Vorkommnisse in der Welt verknüpft ist, sondern sie in ihrer originären, reinen Gestalt als Stimmung würdigen, die alle solche gegenständlichen Ausrichtungen transzendiert. Wenn uns Stimmungen überkommen, entzieht sich das fast gänzlich unserem aktiv ausgeübten Einfluss. Und in der Tat, der Umschwung von einer Stimmungslage, in der wir uns der Dunkelheit und Gefangenschaft der condition humaine gänzlich ausgeliefert und von Verzweiflung bedroht fühlen, zu einer emotionalen Befindlichkeit, die uns den Mut zur Hoffnung verleiht, entzieht sich den Möglichkeiten unseres Willens. In einer verzweiflungsvollen Stimmungslage meldet sich das Ganze des Welthorizonts. Ein Umschlagen der Stimmungslage von drohender Verzweiflung in Zuversicht bedeutet deshalb, dass die Welt selbst im ganzen sich auf einen Schlag verwandelt. Eine solche Befreiung aus meiner gegenwärtigen unheilvollen Gesamtlage, in der die Welt selbst eine andere wird, übersteigt die Kraft meines Willens, weil sie in keiner Vorzeichnung von Zügen einzelner Weltvorkommnisse intentional antizipiert werden kann. Der Welthorizont im ganzen kann nur auf eine im voraus schlechthin unvorstellbare Weise ein anderer werden. In diesem Sinne ist die Hoffnung als Stimmung eine Offen-
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heit für Überraschungen, die sich keinem Erwartungshorizont einfügen und so den erwartbaren Gang der Ereignisse radikal unterbrechen. Dieser Aspekt der Hoffnung bildet das Motivationsfundament dafür, dass Menschen es für sinnvoll halten können, „wider alle Hoffnung zu hoffen“. Wir sind damit bei der Gegenüberstellung zweier Gesichter der Hoffnung angelangt, die zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Auf der einen Seite erscheint die Hoffnung als tiefe, radikal überraschungsoffene Stimmung, die sich als Widerfahrnis der Kraft unseres Willens entzieht. Auf der anderen Seite stellt sie sich dar als ein Gefühl des Urvertrauens in den Fortbestand eines intentionalen Erwartungshorizonts, der uns kompensatorisch immer wieder neue positive Erfüllungen anbietet, die wir mit der Kraft unserer Vermöglichkeiten aufgreifen können. Aber gegen eine Trennung dieser beiden Seiten spricht eine merkwürdige Beobachtung: Obwohl wir einer Stimmungslage, in der die Verzweiflung droht, aus eigener Kraft nicht entkommen können, gibt es doch die Möglichkeit, dass ich – oder jemand anderer – mich ermahne, die Hoffnung nicht fahren zu lassen, und so an meine Kraft appelliere. Das kann uns nur deshalb als eine sinnvolle Verhaltensmöglichkeit erscheinen, weil es zwischen der reinen, nicht intentional gerichteten Stimmung der Hoffnung und der Hoffnung als Gefühl mit einer intentionalen Ausrichtung auf positive Erfüllungen eine Brücke gibt. Dies ist der zu beiden gehörige Bezug auf den zukünftigen Fortbestand der Welt. Die Hoffnung als Gefühl braucht wegen ihres intentionalen Charakters die Beziehung zu bestimmten Vorkommnissen in der Welt, an denen sie sich entzündet, und steht dadurch in einem Verhältnis zur Welt. Und ebenso steht die reine, originäre Hoffnung im Verhältnis zur Welt, weil es ihr um deren unerwartbare Verwandlung geht. Aber auch eine ganz und gar überraschend verwandelte Welt ist immer noch eine Welt, und als das kann sie sich nur zeigen, indem sie als horizonthafte Umgebung einzelner intentional bewusster Vorkommnisse erfahren wird. Deshalb braucht die Hoffnung auch als Stimmung, die für eine „ganz andere“, neue Welt offen ist, die Ausrichtung auf konkret erwartete Vorkommnisse, an denen sie sich entzündet. Konkret ist „hoffen“, wie Marcel formuliert, immer ein „hoffen, dass ...“, d.h. ein Hoffen auf Lebenserfüllung durch bestimmte in der Welt erscheinende Vorkommnisse.
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Es gibt die klassische Unterscheidung der christlichen Theologie zwischen fides qua creditur und fides quae creditur, dem Glauben als Einstellung, „durch die“ ein Mensch glaubt, und dem Glauben als Glaubensinhalt, der „geglaubt wird“. In Analogie zu dieser Unterscheidung könnten wir zwischen der spes qua und der spes quae speratur unterscheiden, der Hoffnung als tiefer Stimmung, durch die wir hoffen, und der Hoffnung als Gegenstand des intentional gerichteten Gefühls der Hoffnung, so wie jemand etwa sagen kann: „Das Gelingen der Herzoperation ist meine Hoffnung“ – Hoffnung als Erhofftes. Hoffnung hat beide Seiten und kann deshalb nur als eine Beweglichkeit zwischen spes quae und spes qua stattfinden. Die Dimension dieser Beweglichkeit liegt zwischen zwei Haltungen: Die eine Haltung bewährt sich aktiv an der Entfaltung der eigenen Kraft in den Vermöglichkeiten, mit denen wir uns auf das Erscheinen hoffnungspendender Vorkommnisse in Verweisungszusammenhängen einlassen. In der anderen Haltung überlassen wir uns der Ausgeliefertheit an die von unserer Kraft unabhängige Stimmung. Weil es fast unmöglich scheint, diese beiden einander diametral entgegengesetzten Haltungen in einer einzigen, sich zwischen beiden Polen bewegenden Haltung zu vereinigen, lassen sich in der europäischen Tradition Tugendvorstellungen finden, in denen jeweils nur einer der beiden Aspekte der Hoffnung zum Zuge kommt. Aus der Ausgeliefertheit an die Welt, wie wir sie in der Stimmung erfahren, hat die Stoa eine radikale Konsequenz gezogen. ,Die unheilvollen , , ˆ Weltsituationen liegen außerhalb dessen, was εϕ ηµιν ist, d.h. des Bereichs, der in unserer Macht steht. Deshalb gilt es für den stoischen Weisen, sich durch beständige Vergegenwärtigung dieses Gedankens von der Stimmung zu befreien, in der wir die unheilvollen Weltsitua′ ς – erfahren und demtionen, das Fatum als Widerfahrnis – als παθο ′ gemäß vom Leiden – auch das heißt auf Griechisch παθο ς – an diesen Situationen gequält werden. Vor der Verzweiflung, in die uns die so verstandene pathische Verfassung unserer Existenz treiben kann, kann uns in den Augen der Stoiker nur der Versuch retten, die pathische Komponente unserer Existenz zu eliminieren. Die Befreiung von jeg′ ′ lichem παθο ς, auch, dem παθο ς der Hoffnung, die Einübung der Pa′ thoslosigkeit, der απα θεια , kann uns gegen die Schicksalsschläge immunisieren, mit denen uns die unheilvollen Weltsituationen treffen. , Mit der απα′ θεια verzichtet die Stoa auf die Bereitschaft, den Schicksalsschlägen des Fatum zu widerstehen, sie kann gegenüber
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diesen Schlägen nur dazu mahnen, sie mit Geduld hinzunehmen. In solcher Geduld zeigt sich etwas von dem einen der beiden Pole, zwischen denen sich die Hoffnung bewegt, der Haltung, in der wir uns der Ausgeliefertheit an die von unserer Kraft unabhängige Stimmung überlassen. Die Einnahme dieser geduldigen Haltung hat aber in der Stoa den Preis, dass die Apathie jegliche Gefühle abtötet, die uns intentional an die Vorkommnisse der Welt binden. Dazu gehört auch das Mitleid mit dem Leid der Mitmenschen. Weil der Stoiker es sich versagen muss, sich solches Leid „zu Herzen gehen“ zu lassen, bleibt er in sich verschlossen, seine Haltung strahlt nicht aus. Die stoische Strategie, das Fatum zu entwaffnen, indem man sich von ihm innerlich nicht berühren lässt, hat an diesem Menschlichkeitsdefizit ihre Grenze. Das ist der schon von Thomas von Aquin4 vorgetragene stärkste christliche Einwand gegen die stoische Apathie, den auch Marcel wieder aufnimmt. Die Alternative zur Apathie ist eine Einstellung, die das genannte Defizit durch aktiven Einsatz für die Anderen zu vermeiden sucht. Der Stoiker geht der Niederlage durch das Fatum aus dem Wege, indem er seine Unvermeidlichkeit hinnimmt und es in diesem Sinne akzeptiert; er kapituliert. Das Gegenteil solcher Kapitulation ist ein für die Mitmenschen engagierter Kampf, der an die Stelle der stoischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Unheil tritt. Dieses Konzept hat am überzeugendsten Albert Camus vertreten und in seinem JahrhundertRoman „Die Pest“ am Einsatz des Arztes Dr. Rieux im Kampf gegen die Epidemie lebendig dargestellt. Der Arzt lässt sich affektiv von der Absurdität berühren, mit der das Unheil unvermeidlich über unsere Existenz hereinbricht; er setzt sich der Verletzlichkeit durch das Fatum aus, und doch verzweifelt er nicht, weil er aktiv gegen die Absurdität des Fatums revoltiert. Auch mit der tätigen Revolte wird eine der beiden Haltungen aufgenommen, zwischen denen sich die Hoffnung bewegt, nämlich die Bereitschaft zur aktiven Entfaltung der eigenen Kraft. Aber auch hier stellt sich die Hoffnung ebenso wie in der stoischen Apathie nur in einer Einseitigkeit dar; einer der beiden Pole ihrer Beweglichkeit wird vernachlässigt: Der aktive Widerstand gegen die Sinnlosigkeit des Fatum kann sich keine Nachgiebigkeit gegenüber einer Stimmung erlauben, in der wir uns mit Geduld der Ausgeliefertheit an das durch unsere Kraft nicht besiegbare Fatum überlassen. Weil der Sinn der menschlichen Existenz nur durch den Kampf gegen jene Sinnlosigkeit
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gewahrt wird, kennzeichnet die Revolte eine Unflexibilität, mit der sie verbissen das Unheil negiert, – eine Verhärtung oder sogar Verkrampfung, die daher rühren, dass es außerhalb des Widerstands gegen das Absurde keinen Sinn gibt. Marcel hat treffend beobachtet, dass im Vergleich mit einer solchen Haltung die Hoffnung in ihrer originären Gestalt dem Unheil mit einer eigentümlichen Entspanntheit begegnet. Als Hoffender widerstehe ich dem Unheil kraftvoll und kapituliere nicht davor. Aber dieser Widerstand vollzieht sich nicht als Negation des Unheils in Gestalt eines aktiven Aufbegehrens, sondern als positive stimmungshafte Offenheit dafür, dass sich die gegenwärtige Lebenssituation im ganzen auf völlig unerwartbare Weise zum Besseren wenden kann. In diesem Sinne sagt Marcel, dass sich der Hoffende „geschmeidig“ in der dafür erforderlichen Geduld übt, und kennzeichnet seine Haltung mit dem Oxymoron der „positiven NichtHinnahme“. Der Hoffende lebt aktiv, aber flexibel einem Sieg über das Unheil entgegen, der nicht in seiner Macht liegt, und zeigt damit eine von Demut durchtränkte Stärke. Diese Demut verbietet ihm im übrigen, von sich selbst zu sprechen. Deshalb gehört zur Hoffnung, wie Marcel abermals treffend beobachtet, eine Unscheinbarkeit des hoffenden „Ich“, das Gegenteil des stoischen Tugendstolzes. Aber wie kann es dem Hoffenden gelingen, sich einerseits demütig, geduldig und flexibel dem Widerfahrnis einer von seiner Kraft unabhängigen Stimmung zu überlassen, die für das schlechthin Unerwartbare der Zukunft offen ist, und andererseits doch aktiv Kraft für den Kampf gegen das Unheil aufzuwenden? Jene Offenheit ist nur unter folgenden beiden Bedingungen mit dem Krafteinsatz für eine solche Zukunft vereinbar: Erstens, im Widerfahrnis der Stimmung meldet sich eine andere Kraft als die meine, eine Kraft, die mich nur deshalb zuverlässig vor der Verzweiflung bewahren kann, weil sie meiner menschlichen Kraft überlegen ist und in diesem Sinne eine „übermenschliche“ Hilfe darstellt. Aber das darf – zweitens – nicht bedeuten, dass diese Kraft sich „außerhalb“ meiner eigenen Kraft befinden und mit dieser konkurrieren würde; denn dann würden Stimmungswiderfahrnis und Erfahrung der eigenen Kraft auseinander fallen. Eine Einheit können sie nur dann bilden, wenn die überlegene, übermenschliche Kraft, die sich im Widerfahrnis meldet, sich in gewisser Weise nicht von meiner eigenen Kraft unterscheidet. Es muss sich um eine Kraftquelle innerhalb meiner eigenen Kraft handeln, die mir paradoxerweise noch mehr zu eigen ist als diese meine Kraft.
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Eine solche Art von übermenschlicher Kraft hat die christliche Theologie der europäischen Tradition in der Gnade des unendlich machtvollen Gottes der biblischen Offenbarung gefunden und auf der Grundlage des Glaubens an seine Heilszusage von der „theologischen Tugend“ der Hoffnung gesprochen. Aber es ist auch eine Hoffnung denkbar, die ihre Kraft aus anderem übermenschlichen Beistand bezieht. Ein Beispiel dafür ist im Mahayana-Buddhismus die Hoffnung auf die übermenschliche Hilfe des Boddhisattva Maitreya. Die Ambivalenz der hoffnungverleihenden Kraft kehrt im japanischen Buddhismus in der Auseinandersetzung seiner klassischen Schulen darüber wieder, ob sich die Buddhawerdung („Erleuchtung“) jiriki („aus eigener Kraft“) oder tariki („aus fremder Kraft“) einstellt. Die methodische Enthaltung von allen Seinsstellungnahmen in der Epoché verbietet es dem Phänomenologen, ein Urteil darüber zu fällen, ob es die ambivalente Haltung der Hoffnung irgendwo faktisch unter Menschen gibt und ob es im Blick darauf aussichtsreich ist, die Stimmung der Hoffnung in einer entsprechenden Tugendhaltung zu habitualisieren. Aber der Phänomenologe kann eine Antwort auf die hypothetische Frage versuchen, auf welche Weise das Gelingen einer solchen Haltung zustande kommen müsste, gesetzt, dass es sie gäbe. Eine solche Antwort habe ich zuletzt versucht, und sie hat an die Grenze zur Theologie geführt. Anmerkungen: 1
Eine Gedankenlinie der vorliegenden Überlegungen habe ich im Sommersemester 2004 in der Philosophisch-Theologischen Sozietät des Fachbereichs A der Bergischen Universität Wuppertal als Skizze vorgetragen. Den Kollegen bin ich für ihre kritischen Fragen dankbar, die mir sehr geholfen haben, meine Überlegungen nunmehr in die jetzige Gestalt zu bringen. – Außerdem danke ich den Teilnehmern des Wuppertaler Phänomenologischen Kolloquiums im Sommersemester 2003 für die Anregungen, die ich durch das Gespräch mit ihnen für eine konsequent phänomenologische Lektüre des Marcelschen Textes empfangen habe. 2 „Esquisse d’une phénoménologie et métaphysique de l’espérance“. Erste deutsche Übersetzung in: Gabriel Marcel: Philosophie der Hoffnung, List-Taschenbuch München 1957, zweite, stellenweise verbesserte (gelegentlich aber auch falsch korrigierte) Übersetzung in: ders.: Hoffnung in einer zerbrochenen Welt? Vorlesungen und Aufsätze (Werkauswahl Bd. 1), Paderborn 1992. 3 Blaise Pascal: Pensées, Fragment 277, erster Satz (Zählung von L. Brunschvicg und F. Strowski).
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Ich stütze mich hier auf die glänzende Vergegenwärtigung der Lehre des Thomas von Aquin von der Hoffnung durch Josef Piepers Traktat Die Hoffnung, 1. Aufl. Leipzig 1935.
Schnittstelle und Brennpunkt: Das ästhetische Erlebnis als Aufgabe für eine Kooperation von Phänomenologie und Neurowissenschaft Julia Jansen, University College Cork Zusammenfassung: Die jüngsten Erklärungsversuche ästhetischer Erfahrung in den Neurowissenschaften machen unbegründet von einer Gleichsetzung ästhetischer Erfahrung mit Kunsterfahrung Gebrauch, die ich für offensichtlich unzulässig halte. In diesem Artikel spreche ich mich gegen diese Gleichsetzung, die auch in der zeitgenössischen philosophischen Ästhetik dominiert, und damit gegen eine unnötige Einengung des Spektrums genuin ästhetischer Fragen und Phänomene aus. Eine von solchen Voraussetzungen und Vorurteilen befreite Phänomenologie ist dringend erforderlich, um den Neurowissenschaften Forschungs- und Interpretationsansätze anbieten zu können. Umgekehrt können neurowissenschaftliche Beobachtungen und Ergebnisse von der Phänomenologie als Leitfaden und empirische Bestätigung herangezogen werden. Problematisches Ziel ist eine interdisziplinäre Aufklärung, die jenseits und unterhalb der Komplexitätsstufen von Kunst und Schönheit versucht, die unterschiedlichen Momente ästhetischen Erlebens zu differenzieren und verständlich zu machen. Abstract: In this paper I argue that recent neuroscientific attempts at an explanation of aesthetic experience make illegitimate use of an equivocation between aesthetic experience and experience of art. I object to this equivocation, which currently dominates most of philosophical aesthetics as well, and I reject the unnecessary limitation of the full spectrum of aesthetic questions and phenomena. I propose instead a phenomenological analysis that is freed of such presuppositions and prejudices and that is able to provide neuro-aesthetics with research hypotheses and hermeneutic principles. Conversely, phenomenology can make use of neuroscientific findings and observations as guidelines and perhaps empirical confirmations. The aim, however problematic, is an interdisciplinary clarification and differentiation of the diverse moments of aesthetic experience that take place beyond and beneath the high level phenomena of art and beauty.
Einleitung: Über eine mögliche Zusammenarbeit von Phänomenologie und Neurowissenschaft wird spätestens seit den Vorstößen von Hubert Dreyfus, Eduard Marbach, Jaakko Hintikka, Francisco Varela und 142 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 142–163. © 2006 Springer.
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Shaun Gallagher (um nur einige zu nennen) öffentlich nachgedacht und diskutiert. In diesem Artikel möchte ich das Potential einer solchen Zusammenarbeit von Phänomenologie und Neurowissenschaft im Bereich der Ästhetik prüfen. Dabei werde ich auf die bekannten Grundsatzfragen des Sinnes oder Unsinnes einer Kooperation von Phänomenologie und Neurowissenschaften im Allgemeinen nicht ausführlich eingehen. Stattdessen gehe ich hier von der prinzipiellen Möglichkeit solch einer interdisziplinären Arbeit aus, um meine Überlegungen dann auf spezifische Fragen der Ästhetik zu konzentrieren. Anlass zu den hier dargestellten Reflexionen gaben im Wesentlichen die folgenden Beobachtungen: Unlängst haben neurowissenschaftliche Beiträge zu einer Aufklärung ästhetischer Erfahrung für Aufsehen gesorgt. Im ersten Abschnitt dieses Artikels werde ich die beiden prominentesten Beiträge – die der Hirnforscher V.S. Ramachandran und William Hirstein und des Neurobiologen Semir Zeki – rekonstruieren. Meine Rekonstruktion lässt die Selbstverständlichkeit, mit der hier die Ästhetik ausschließlich als Wissenschaft von Kunst und Kunsterfahrung verstanden wird, offen zu Tage treten. Ich werde deshalb versuchen, die Unzulässigkeit dieser Gleichsetzung, die auch in der zeitgenössischen philosophischen Ästhetik dominiert, zu begründen. Stattdessen werde ich mich – wie auch schon Gernot Böhme, Martin Seel und Wolfgang Welsch – gegen eine solche „künstliche“ Einengung des Spektrums genuin ästhetischer Fragen und Phänomene aussprechen. Aber die neurowissenschaftliche Erforschung ästhetischer Erfahrung verdeutlicht noch eine weitere Einengung, zumindest der analytischen, philosophischen Ästhetik: nämlich ihre vorherrschende Selbstbeschränkung auf ontologische Fragen wie „Was ist Kunst (und was nicht)?“ oder „Was sind ästhetische Objekteigenschaften (im Gegensatz etwa zu gewöhnlich perzeptiven)?“ – Fragen, die den Aspekt der ästhetischen Erfahrung weitgehend außer acht lassen. Obwohl, wie ich zeigen werde, die neurowissenschaftliche Forschung in ihren Interpretationen auch solche ontologischen Tendenzen erkennen lässt, betont sie doch die Frage der Erfahrung, eine Ausrichtung, die sie – trotz der sonst so weit auseinander gehenden Ansätze – mit der Phänomenologie teilt. Im einem zweiten Abschnitt möchte ich deswegen auf mögliche Schnittstellen zu sprechen kommen, an denen eine phänomenologische Aufklärung ästhetischer Erfahrung der neurowissenschaftlichen
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Erforschung des Phänomens bei der Deutung von Befunden und bei der generellen Versuchseinrichtung assistieren kann, während es andersherum für die Phänomenologie möglich ist, die neurowissenschaftliche Forschung zur empirischen Bestätigung ihrer Reflektionen heranzuziehen. In einer kurzen Schlussbetrachtung werde ich schließlich auf einige Probleme hindeuten, die meiner Meinung die Aufklärung ästhetischer Erfahrung prinzipiell erschweren. Letztlich stoßen hier sowohl neurowissenschaftliche Ansätze als auch die phänomenologische Methode an die Grenzen dessen, was sie zu leisten vermögen. Neuroästhetik: Naturwissenschaft des (Kunst)Schönen Schon 1934 beanstandete John Dewey die Isolierung des Ästhetischen in einer von der Alltagswelt abgeschotteten Kunstwelt. In Art as Experience beobachtete er kritisch: “Art is remitted to a separate realm, where it is cut off from that association with the materials and aim of every other form of human effort, undergoing, and achievement.”1 Anders als physikalische, psychologische, neurologische und sogar soziale Phänomene, deren Gesetze und Prinzipien wir in den entsprechenden Wissenschaften routinemäßig aufweisen, gilt „das Ästhetische“ vielen immer noch als besondere geistige Leistung oder spirituelles Phänomen. Wie Adorno in seiner Ästhetischen Theorie ausführlich erläutert, von der „Autonomie“ des Ästhetischen zu sprechen, heißt, es auch in seiner Opposition zur empirischen Welt verstehen.2 Das Ästhetische gilt im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn als „unberechenbar“. So betrachtet ist es wohl nicht verwunderlich, dass die Naturwissenschaften, insbesondere die Psychologie und die Neurowissenschaften, einem Projekt der Erforschung des Ästhetischen immer sehr zögerlich gegenüber standen. Hinzu kommt ein anthropologisch und soziologisch interessantes Phänomen eines gewissen Unbehagens, das ein Projekt der wissenschaftlichen Erklärung des Ästhetischen erzeugen kann – ganz als ob eine solche Erklärung erneut die „Aura“ verschwinden lassen könne, die laut Walter Benjamin schon durch unseren Eintritt in das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit verloren gegangen war.3 Umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet die
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Neurowissenschaften sich neuerdings an einer Erforschung ästhetischer Erfahrung versuchen. Ramachandran und Hirstein4 sind überzeugt, dass „zumindest ein Teil ästhetischer Erfahrung, wie gering auch immer, Gesetzen folgt“, die mit neurowissenschaftlichen Methoden analysiert werden können. 5 Diese „ästhetischen Gesetze“ basieren auf Prinzipien gewöhnlicher Wahrnehmung. Ich werde hier nur den so genannten „Peak-ShiftEffect“ und das Prinzip des „grouping und binding“ als Beispiele anführen. Der „Peak-Shift-Effekt“ geht auf Experimente zurück, die mit Ratten durchgeführt werden. Wenn eine Ratte mit entsprechenden Belohnungen darauf trainiert wird, ein Quadrat von einem Rechteck zu unterscheiden, dann reagiert sie innerhalb kurzer Zeit stärker auf Rechtecke als auf Quadrate. Der „Peak-Shift-Effect“ bezeichnet den Effekt, dass die Ratte dabei je stärker auf ein Rechteck reagiert, desto mehr es sich von einem Quadrat unterscheidet. Sie reagiert z.B. stärker auf ein Rechteck mit einem Seitenverhältnis von 4:1 als auf ein Rechteck mit einem Seitenverhältnis von 3:2. Wissenschaftler interpretieren dieses Phänomen als Evidenz dafür, dass Ratten nicht lernen, auf ein bestimmtes Rechteck, sondern auf die Regel der „Rechteckigkeit“ zu reagieren. Das für die ‚ästhetische Erfahrung’ relevante Moment ist hier der höhere neurologische Selbstbelohnungseffekt, der bei der Wahrnehmung eines ‚rechteckigeren’ Gegenstandes eintritt. Das zweite hier relevante Wahrnehmungsprinzip ist das des „grouping and binding“. Wenn wir unseren Blick z.B. auf eine Ansammlung von Punkten richten, die wir schnell als eine Darstellung eines Dalmatiner Hundes erkennen, dann ist es uns infolge dieses „grouping and binding“ unmöglich, den Dalmatiner nicht mehr zu sehen. Obwohl die Anzahl möglicher Verbindungen zwischen den Punkten in einer solchen Darstellung unüberschaubar hoch ist, verbindet das visuelle neuronale System eine bestimmte Untermenge dieser Punkte und lässt so ein Bild entstehen. Dann schicken die Vision-Module in unserem Gehirn sofort ein Signal zum so genannten „limbischen System“, das für affektive Reaktionen verantwortlich ist. Wir werden mit einer angenehmen Empfindung für unser erfolgreiches „grouping“ belohnt, die uns ermuntert, bei dem auf diese Art und Weise „gebundenen“ Bild zu bleiben. Ramachandran und Hirstein begreifen diese Prozesse als „universal rules or principles“,6 die sowohl in der so genannten „gewöhnlichen“
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als auch in der ästhetischen Wahrnehmung eine Rolle spielen. Sie sind der Meinung, dass Künstler „entweder bewusst oder unbewusst solche Prinzipen nutzen, um die visuellen Bereiche des Gehirns zu reizen.“ 7 Der Künstler, so die beiden Neurowissenschaftler, „versucht wesentliche Aspekte eines Gegenstandes in seiner Repräsentation überzogen darzustellen, um so verstärkt dieselben neuronalen Mechanismen zu aktivieren, die beim Originalobjekt ausgelöst werden würden.“ 8 Aufgrund dieser verstärkten Aktivierung, fällt auch die „Belohnung“ vom limbischen System stärker aus. Die verstärkte Belohnung kommt bei uns als Genuss an und wird, so Ramachandran und Hirstein, als ästhetische Erfahrung interpretiert: Wir finden den Kunstgegenstand schön.9 Natürlich muss eine kritische und philosophisch relevante Rekonstruktion solcher wissenschaftlicher Beiträge über eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse hinausgehen. Zum Beispiel ist es wichtig, tatsächliches Ergebnis von Deutung und Erklärungsanspruch zu trennen. Im Fall von Ramachandran und Hirstein ist dazu klar zu sagen: Der Anspruch, dass es sich hier um die Anfänge einer neurowissenschaftlichen Erforschung ästhetischer Erfahrung handele, übertrifft das tatsächliche Ergebnis bei weitem. Zum einen beschränken sich Ramachandrans und Hirsteins Untersuchungen auf unsere KunstWahrnehmung, noch spezifischer: auf unsere Wahrnehmung visueller darstellender Kunst, und da auf Beispiele, in denen die Prinzipien der Gegenstandswahrnehmung übertrieben dargestellt sind. Das heißt, die Interpretation ihrer Befunde basiert auf der impliziten, aber nicht weiter begründeten Annahme, dass der besondere Erfahrungstypus der ‚ästhetischen Erfahrung’ von dem besonderen Gegenstandstypus des ‚ästhetischen Gegenstandes’ hervorgerufen wird – nämlich von Kunstwerken, die gewöhnliche Wahrnehmungsprinzipien überbetonen. Als eine neurowissenschaftliche Erklärung ästhetischer Erfahrung schlechthin, kann dieser Befund wohl kaum gelten. Das heisst aber keineswegs, dass die von Ramachandran und Hirstein geleistete Forschungsarbeit philosophisch wertlos oder uninteressant wäre. Ihre Versuchsergebnisse sind ein Hinweis darauf, dass uns wahrscheinlich in bestimmten Fällen Kunstwerke besonders ansprechen, weil sie durch die Anwendung übersteigerter Wahrnehmungsprinzipien verstärkte Belohnungssignale in unseren Gehirnen hervorrufen. Dies kann, denke ich, sehr wohl als eine partielle empirische Erklärung für die viel zitierte ‚ästhetische Lust’ an manchen Gegenständen gelten
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und möglicherweise auch als Beginn eines empirischen Verständnisses der schon von Kant beschworenen ‚ästhetischen Form’ dienen. 10 Es ist außerdem denkbar, dass weitere Forschung auf diesem Gebiet unter Umständen unsere unterschiedlichen Reaktionen auf spezifische Kunststile verständlich machen kann.11 Ein weiterer neurowissenschaftlicher Beitrag zur Ästhetik wurde vom Neurobiologen Semir Zeki vorgelegt. Er erklärt seinen Forschungsansatz folgendermaßen: Meine Herangehensweise an das Thema ist von dem Grundgedanken geleitet, dass alles menschliche Handeln durch die Gesetzlichkeiten des Gehirns und die Art, wie es organisiert ist, bestimmt ist und dass es keine wirkliche Theorie der Kunst und Ästhetik geben kann, die nicht auf den Erkenntnissen der Neurobiologie aufbaut.12
„Aesthetics“, schreibt Zeki, “like all other human activities must obey the rules of the brain of whose activity it is a product.“ 13 Und genau wie seine Kollegen identifiziert Zeki in seiner „Neuroästhetik“14 ästhetische Wahrnehmung mit Kunstwahrnehmung. Kunst, so Zeki, aktiviert dieselben neuronalen Prozesse, die wir auch in gewöhnlicher Wahrnehmung finden. Denn „Kunst ist Wissen“,15 d.h. eine der vielen Aktivitäten, mit denen das Gehirn versucht, Wissen über die Welt zu sammeln. Kunstwerke zeichnen sich gegenüber gewöhnlichen Gegenständen dadurch aus, dass sie allgemeine neuronale Wahrnehmungsprinzipien manipulieren und intensivieren. Als wichtigstes dieser Prinzipien führt Zeki das Prinzip der Abstraktion an, das uns bei unserer Suche nach konstanten und wesentlichen Elementen in unseren Wahrnehmungen hilft. Künstler, so Zeki, sind wie Neurowissenschaftler, insofern sie – obwohl zumeist ohne es zu wissen – mit unterschiedlichen Regionen des menschlichen Gehirns experimentieren und in ihrer Kunst verschiedene Abstraktionsmechanismen konkretisieren. So manipulierten zum Bespiel die Fauvisten (u.a. Henri Matisse) unsere Farbwahrnehmung, während kinetische Künstler (u.a. George Rickey) mit unserer Bewegungswahrnehmung spielen. Und tatsächlich: Farbwahrnehmung und Bewegungswahrnehmung korrelieren mit zwei unterschiedlichen Regionen im menschlichen Gehirn, nämlich mit den Bereichen V 4 und V 5 im visuellen Kortex. Als ein Versuch, offen zu legen, wie unterschiedliche Kunststile bestimmte Elemente unserer Wahrnehmung manipulieren und intensivieren, ist Zekis Forschung höchst interessant und richtungsweisend. Allerdings kann auch Zeki die ästhetische Erfahrung als solche wohl
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kaum erklären. Offensichtlich machen die von ihm beschriebenen Abstraktionsprozesse nur einen Teil dessen aus, was sich in ästhetischer Erfahrung ereignet. Außerdem erklären diese Prozesse ja gerade das, was ästhetische Erfahrung und so genannte ‚gewöhnliche’ Wahrnehmung gemeinsam haben, und nicht, was sie voneinander unterscheidet. Also ist auch in Zekis Ansatz die Diskrepanz zwischen tatsächlichem Forschungsergebnis und Interpretations- und Relevanzanspruch klar zu erkennen. Zekis Behauptung, „dass es keine wirkliche Theorie der Kunst und Ästhetik geben kann, die nicht auf den Erkenntnissen der Neurobiologie aufbaut“, ist nicht nur vermessen. Es ist zudem auch unverständlich, wie es überhaupt möglich sein soll, eine Ästhetik auf der Neurobiologie, sozusagen „bottom up“ aufzubauen, ohne Interpretationstheorien und Annahmen über das Wesen der ästhetischen Erfahrung in Anspruch zu nehmen. Gerade in Zekis Forschung, der gerne aus der philosophischen Ideengeschichte zitiert, wird offensichtlich, dass neurobiologische Forschung nicht ohne Deutungsansätze auskommt. Sein implizites aber unbegründetes Verständnis von Kunst als einer unter vielen menschlichen Aktivitäten auf der Suche nach Wissen und Wahrheit ist weit davon entfernt, tatsächlich auf neurobiologischer Forschung zu basieren. Vielmehr bestimmt andersherum Zekis Kunstverständnis sowohl seine experimentelle Forschung (nämlich hinsichtlich der Selektion der als relevant erklärten Phänomene) als auch deren Deutung (als Beginn einer allgemeinen neurobiologischen Ästhetik).16 Zeki macht demzufolge mindestens zwei unzulässige Annahmen: erstens, dass die allgemeinen Abstraktionsprozesse, die er in Kunstwerken identifiziert, das an der Kunst greifen, was unsere Erfahrung von Kunst zur genuin ästhetischen machen kann; zweitens, wie auch Ramachandran und Hirstein, dass ästhetische Erfahrung notwendigerweise als Kunsterfahrung zu verstehen ist. Und damit einher geht eine weitere unnötige Einengung des zu untersuchenden Phänomens, nämlich die Identifizierung vom „Erlebnis des Schönen“ mit „ästhetischer Erfahrung.“17 Dabei ist es doch durchaus denkbar, dass ästhetisches Erleben auch die Phänomene des Hässlichen,18 des Ekels, des Schaurig-Schönen, vielleicht sogar des Lächerlichen 19 usw. umgreift. Eine kritische philosophische Hinterfragung all dieser Annahmen ist also dringend geboten.
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In einem erst kürzlich in der Zeitschrift Gehirn und Geist veröffentlichen Manifest zum derzeitigen Stand und zur Zukunft der Hirnforschung beschreibt Wolfgang Prinz, Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, den Bedarf für eine kritische übergeordnete Theoriebildung. Prinz glaubt nicht daran, dass mehr Wissen automatisch zu mehr Verstehen führt. Was hier nämlich fehlt, ist eine übergeordnete Theorie, die die objektive Sprache, in der wir über Gehirnprozesse reden, und die subjektive Sprache der Bewusstseinsphänomene zueinander in Beziehung setzt und im Rahmen eines einheitlichen Systems den objektiven und subjektiven Sachverhalten ihren Platz zuweist. Bisher haben wir das weitgehend den Philosophen überlassen – mit mäßigem Erfolg.20
„Neue Ideen tun Not“ schreibt Prinz, aber die Philosophie scheint nicht willens oder fähig, den Neurowissenschaften in dieser Not zu helfen. Dabei machen gerade die ersten neurowissenschaftlichen Versuche, die ich eben geschildert habe, die Mechanismen und Prozesse ästhetischer Erfahrung darzulegen, die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer solchen philosophischen Kritik deutlich. An dieser Stelle ist, wie ich meine, eine Alternative zu „bottom-up“ und „top-down“ Verfahren gefragt. In einem Satz: Die neuesten neurowissenschaftlichen Vorstöße in das Reich des Ästhetischen, verlangen eine erneute phänomenologische Aufklärung ästhetischer Erfahrung. Phänomenologische Ästhetik: Beschreibungswissenschaft ästhetischen Erlebens Um aber ästhetische Erfahrung als Phänomen freizulegen und einer phänomenologischen Untersuchung zugänglich zu machen, müssen wir als allererstes die Annahmen und Vorurteile ‚einklammern’, die die philosophische Ästhetik derzeit bestimmen. Allen voran das Vorurteil, dass ästhetische Erfahrung notwendigerweise mit Kunst verknüpft sei und deswegen eine Untersuchung ästhetischen Erlebens eine Erforschung von Kunsterfahrung nicht nur erfordere, sondern sich sogar mit ihr begnügen könne.21 Allerdings hilft schon ein Blick auf die Kunst selbst, die historische Bedingtheit der Verknüpfung von Kunst und ästhetischer Erfahrung zu verstehen. Denn spätestens seit der „an-aesthesia“ von Marcel
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Duchamps ‚Readymades’ kann es wohl als offensichtlich gelten, dass das Ästhetische im Sinne eines besonderen sinnlichen Erlebnisses zumindest nicht notwendigerweise mit Kunst einhergeht. 22 Dies zu sagen heisst nicht, moderner oder zeitgenössischer Kunst einen Vorwurf zu machen oder ihren Wert in Frage zu stellen – im Gegenteil. Gerade im 20. Jahrhundert hat sich die Kunst andere Aufgaben gesetzt, als ästhetischen Idealen zu genügen und ästhetischen Genuss zu fördern. Zunehmend uninteressiert an der Produktion des Ästhetischen wurde Kunst im 20. Jahrhundert verstärkt politisch, selbst-reflexiv, selbst-kritisch und – wie Thierry de Duve,23 Joseph Kossuth24 und andere bemerkten – philosophisch. Mit anderen Worten, die künstlerische Praxis kümmert sich schon lange nicht mehr um ihre angeblich notwendige Verknüpfung mit dem Ästhetischen (obwohl Künstler selbstverständlich immer noch an ästhetischen Erlebnissen interessiert sein können).25 So halten einflussreiche kunsttheoretische Positionen – die institutionale Kunsttheorie George Dickies 26 zum Beispiel – die These, dass sich Kunst durch ästhetische Qualitäten von Alltagsgegenständen abgrenzen lässt, für völlig fehlgeleitet. Es sei nichts Besonderes an so genannten „Kunstwerken“, außer dass sie eben in Museen und Galerien ausgestellt und auf diesem Wege zu Kunst deklariert würden. Aber unabhängig davon, welcher Kunsttheorie man sich nun verschreibt: ästhetische Erfahrung ist ohne Kunst, und Kunst ist ohne ästhetische Erfahrung möglich. Zum Beispiel kann der wunderschöne Blick auf eine Landschaft, der Klang einer Stimme oder ein perfekt geformter Kieselstein eine solche Erfahrung hervorrufen. Ebenso ist es möglich, sehr viel Zeit in Galerien und Museen verbringen, ohne je andere als alltägliche Objekterfahrungen von vielleicht interessanten, aber eigentlich un-ästhetischen Gegenständen zu erleben. Schon 1934 hat John Dewey die Identifizierung des Ästhetischen mit dem Künstlerischen als ein Vorurteil entblößt. So schreibt er über Theorien, die das Ästhetische in eine so genannte „Kunstwelt“ (die ihrerseits streng von der Alltagswelt getrennt wird) abschieben und damit isolieren: [These theories] are not inherent in the subject-matter but arise because of specifiable extraneous conditions. Embedded as they are in institutions and in habits of life, these conditions operate effectively because they work so unconsciously. Then the theorist assumes they are embedded in the nature of things.27
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Siebzig Jahre nach Deweys Warnung läuft, wie ich oben versucht habe zu zeigen, die Neurowissenschaft Gefahr, diesen Fehler zu wiederholen; während ein Großteil der Ästhetik in der analytischen Philosophie, aber auch in der Phänomenologie28 denselben Fehler nie wirklich ausgeräumt hat. Die Ästhetik – sowohl in der empirischen Forschung der ‚Neuroästhetik’ als auch in der philosophischen Betrachtung – muss endlich als zwar zu Fragen der Kunst in Beziehung stehend, aber doch als wesentlich von ihr unabhängig eingesehen werden. Wenn wir aber die sicheren Grenzen und Leitfäden, die die Kunst uns an die Hand gibt, verlieren, weitet sich das Phänomen der ästhetischen Erfahrung leicht auf eine beängstigende Art und Weise aus. Eine Rückbesinnung auf „die Sache selbst“ scheint extrem schwierig. Ich werde hier nicht mehr als einen Anfang machen können, der insbesondere die Schwierigkeiten, die mit einem solchen Projekt verbunden sind, hervorheben soll. Wenn ich dabei von einer phänomenologischen Ästhetik spreche, schließe ich Überlegungen der Philosophen, die sich nicht als Phänomenologen verstehen oder verstanden haben, keineswegs aus. So geben Kants Beschreibungen ästhetischer Erfahrung wertvolle Hinweise auf eine phänomenologische Aufklärung, die sich nicht nur an der Kunst orientiert (ohne dass wir deswegen seine Theorie übernehmen müssten). Unlängst haben in der deutschsprachigen Philosophie Gernot Böhme, Martin Seel und Wolfgang Welsch Beiträge zu einer Ästhetik vorgelegt, die sich bewusst gegen eine Gleichsetzung von ästhetischer Erfahrung und Kunsterfahrung wehrt. Stattdessen soll die Ästhetik als allgemeine „Aisthetik“ 29 (Böhme), „Ästhetik des Erscheinens“30 (Seel) oder „Aesthetics Beyond Aesthetics“31 (Welsch) eine Befreiung von alten Einschränkungen erfahren. Meiner Meinung nach ist es an dieser Stelle sinnvoll, die Diskussion um das Phänomen ästhetischer Erfahrung neu zu eröffnen. Um den wie immer schwierigen Anfang zu machen, schlage ich vor, die uns bereits zur Verfügung stehenden Beschreibungen in einem vorläufigen und offenen Katalog zu sammeln und auf ihre Eignung zum Dialog mit den Neurowissenschaften zu prüfen. Detaillierte Beschreibungen, wie wir sie zum Beispiel bei Merleau-Ponty, Dufrenne und Ingarden, aber auch in der zeitgenössischen Philosophie finden, gehen natürlich weit über dieses Ziel hinaus. Es soll hier ja auf keinen Fall von einer Reduktion der Phänomenologie die Rede sein, etwa auf diejenigen Momente, die zur Interdisziplinarität taugen! Um aber ei-
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nen Dialog zwischen den beiden Disziplinen auf dem Gebiet der Ästhetik zu beginnen, ist es erst einmal zweckmäßig, allgemeine Aspekte phänomenologischer Beschreibungen aufzulisten. Welche dieser Aspekte mit Hilfe von neurowissenschaftlichen Versuchen untersucht werden können, ist dann eine Frage, die nur Neurowissenschaftler beantworten können. Hier sind einige Beispiele: Dem Moment der ästhetischen Lust, schon von Kant ins Spiel gebracht, haben Neurowissenschaftler bisher die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Das hat u.a. damit zu tun, dass die Forschung am limbischen System, das für emotionale Färbungen unserer Erlebnisse verantwortlich ist, wegen seiner Relevanz für Depressionen, Alzheimer und Suchtverhalten relativ weit fortgeschritten ist. Ramachandrans und Zekis Beiträge sind Beispiele dafür, was hier zurzeit möglich ist. Einen weiteren Versuch, menschliches Lustempfinden zu untersuchen, finden wir in Anne Bloods und Robert J. Zatorres Experimenten, die zum Beispiel nachgewiesen haben, dass Musik, die wir als besonders schön oder angenehm empfinden, uns wortwörtlich ‚erschaudern’ lässt.32 Aber ästhetische Lust ist nur ein mögliches ästhetisches Erleben. In diesem Zusammenhang ist es denkbar, Versuche auf andere Phänomene auszuweiten, wie z.B. unsere Reaktionen auf das Hässliche. Genauso ist es auch denkbar, unsere Reaktionen auf Gegenstände außerhalb von Musik und bildenden Künsten zu prüfen. Böhmes Rede vom „Atmosphärischen“33, einer affektiven Dimension der Wahrnehmung, und dessen noetischem Korrelativ der „Befindlichkeit“, ist auffällig gut mit der neurowissenschaftlichen Rede von emotionaler „Färbung“ des Erlebens vereinbar. Die Frage wäre dann nicht so sehr, welche Objekte (z.B. Kunstwerke) auf welche Art und Weise in uns Gefühle der Lust oder Unlust auslösen. Im Sinne des Kantischen Reflexionsmoments wäre z.B. nach Seel die Frage eher, wie Gegenstände (im Gegensatz zu ihrem „sinnlichen Sosein“) sich uns in ihrem „ästhetischen Erscheinen“ geben.34 Der Aspekt des Wechsels zur ‚ästhetischen Einstellung’ ist in diesem Kontext relevant. Ingarden ruft hier die Parallele zur phänomenologischen Reduktion in Erinnerung, die auch schon von Husserl mit der ästhetischen Einstellung in Verbindung gebracht wurde.35 Durch die Ursprungsemotion wird die in der natürlichen Einstellung enthaltene ursprüngliche Überzeugung von der Existenz der realen Welt gedämpft, und zugleich richtet sich das Interesse des Erlebenden nicht mehr auf reale Dinge und Tatbestände, sondern auf das rein
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Qualitative als solches. Nicht die reale Tatsache, sondern das Was und Wie, das rein qualitative Gebilde ist es, auf dessen Konstituierung das ästhetische Erlebnis hindrängt und auf welches der Erlebende als auf das Objekt der ästhetischen Erfassung eingestellt ist. Infolge der Einstellungsveränderung wird das Setzungsmoment des Wahrnehmungsaktes, vermöge dessen das mit der erregenden Qualität behaftete Ding gegeben ist, im Husserlschen Sinne „neutralisiert“, ohne dass dadurch das ästhetische Erlebnis selbst „neutralisiert“ worden wäre.36
Ingarden beschreibt hier ein Moment ästhetischen Erlebens, das schon mit Kants „interesselosem Wohlgefallen“ 37 Einzug in die Ästhetik hielt. Dabei stellt das Interesse „auf das rein Qualitative als solches“ ein potentielles Problem für die neurowissenschaftliche Forschung dar. Allerdings nur insofern, als eine einfache Korrelationsbestimmung zwischen bestimmten Objekten und ästhetischer Erfahrung (wie sie insbesondere Ramachandran versucht) nicht möglich ist. Der Versuchsansatz von Blood und Zatorre, die die Wahl der als schön empfundenen Musikstücke den Versuchsteilnehmern selbst überließen, ist da viel versprechender. Erst nach ausgiebiger Erforschung des Erlebens von ästhetischer Erfahrung scheint eine objektiv ausgerichtete Untersuchung, z.B. typischerweise als „schön“, „hässlich“ oder „Ekel erregend“ empfundener Gegenstände möglich. Relevante Fragen ästhetischen Erlebens sind u.a.: Ist zum Beispiel eine andere Art oder ein höherer Grad von Aufmerksamkeit zu messen? Welche Auskunft können z.B. eye-tracking Experimente, in denen Augenbewegungen aufgezeichnet werden können, über das ‚Verweilen am Gegenstande’ und die in ästhetischem Erleben so wichtige sich selbst erhaltende Faszination geben? Ist eine Intensivierung der neuronalen Prozesse zu messen? usw. Von einer solchen Intensivierung des Erlebens spricht auch HansJoachim Pieper in seiner 2001 vorgelegten und beeindruckenden Untersuchung mit dem Untertitel „zur Grundlegung transzendentalphilosophischer Ästhetik bei Kant und ein Entwurf zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung.“38 Er identifiziert die Rede von „Neutralisierung“ (Ingarden) oder „Interesselosigkeit“ (Kant) als unangemessene Beschreibungen: Ästhetisch zu erleben, so Pieper, das besagt eine Belebung sämtlicher subjektiven Kräfte, aber gleichsam in der Klammer, in der Klammer, aber nicht nur „unbeteiligt“ und „uninteressiert“ – was allerdings auch eine Spielart ästhetischen Erlebens sein mag –, sondern hochgradig „intensiv“ und „schöpferisch“, intellektuell bewegt, moralisch engagiert, emotional erregt in jedem
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Auf die Einschränkung, die Kants Beschreibung ästhetischer Erfahrung als „interesselosem Wohlgefallen“ vorgenommen hat und die von den ästhetischen Diskursen um Kunst weitergeführt wurde, macht auch Konrad Paul Liessmann aufmerksam. 41 Dabei ist es wichtig zu erinnern, dass es Kant nicht so sehr um ästhetische Erfahrung als um ein ästhetisches Urteil geht. Als Reflexionsurteil – im Unterschied zum bloßen ästhetischen Sinnesurteil – kann das reine ästhetische Urteil für Kant nicht auf Empfindungen, auf „Reiz und Rührung“ allein beruhen. Der Kant’sche Unterschied zwischen ästhetischem Sinnesurteil und ästhetischem Reflexionsurteil ist – ähnlich wie der Unterschied zwischen allgemeiner Ästhetik und Kunsttheorie – weitgehend verloren gegangen. Dies führt zu Missverständnissen, wie wir sie in den Interpretationen der neurowissenschaftlichen Forschung finden. Diese Forschung zielt bisher weitgehend auf Empfindungen ab, die Kant als dem Sinnesurteil zugehörig verstanden hätte, interpretiert aber eigene Befunde mit Bruchstücken von Kants Beschreibung des Reflexionsurteils. An dieser Stelle brauchen wir eine Phänomenologie, die auf diese Unterschiede zwischen ästhetischer Empfindung und ästhetischem Urteil (im Sinne des Geschmacksurteils) aufmerksam macht. Für eine Zusammenarbeit mit den Neurowissenschaften ist eine sorgfältige Differenzierung unterschiedlicher Ebenen von unterschiedlicher Komplexität unbedingt notwendig. Nicht nur sind auf neurowissenschaftlicher Seite, neuronale Prozesse unterschiedlicher Komplexität zu unterscheiden. Es ist in der Deutung der geleisteten Forschung auch wichtig, Phänomene unterschiedlicher Ebenen nicht miteinander zu verwechseln. So ist zum Beispiel das Registrieren von erhöhter Aufmerksamkeit oder erhöhter Aktivität des limbischen Systems nicht ohne weiteres auf ein Phänomen höherer Ebene (wie z.B. der Kunst) zu übertragen. Umgekehrt sind Interpretationen höherer Ebene, wie zum Beispiel der Reflexion und des Geschmacks, der Bedeutung des Kontexts und Umfeldes oder sogar der Kultur und Moral, nicht ein-
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fach auf weit weniger komplexe Korrelationen von Erregtheit und erlebter Lust zu projizieren. Ausserdem ist es gut möglich, dass in diesen Unterschieden auch der Schlüssel zu einer Grenzbestimmung zwischen Kunsterfahrung und allgemeiner ästhetischer Erfahrung zu finden ist. Phänomenologisch gesprochen betrifft die Kunsterfahrung höhere Stufen der Fundierung und Leistung, auf denen wahrscheinlich kulturelle, historische und soziale Einflüsse im Vordergrund stehen. Die Differenzierung von unterschiedlichen Konstitutionsstufen oder -ebenen heißt dann auch, dass eine Untersuchung ästhetischer Erfahrung, die sich nicht auf Kunsterfahrung konzentriert, den Unterschied von Kunst- und so genannter „Alltagserfahrung“ nicht aufgeben muss.42 Schließlich ist es ohne weiteres denkbar, dass Kunsterfahrung zwar auf einer Ebene viel mit sonstigen ästhetischen Erfahrungen gemeinsam hat, aber sich auf einer anderen Ebene deutlich von diesen unterscheidet. Neben unterschiedlichen Konstitutionsebenen von niedrigerer und höherer Komplexität sind auch noch weitere typische Differenzierungen denkbar, die helfen können, erlebte Unterschiede zwischen ästhetischen Erfahrungen zu erklären. Gábor Paál differenziert z.B. zwischen so genannten „O-, S- und K-Werten“. Diese Werte verkörpern, so Paál, verschiedene Gruppen von ästhetischen Eigenschaften. „OWerte sind formale Eigenschaften von Objekten bzw. Mustern. SWerte charakterisieren eine Beziehung zwischen einem Selbst und einem Objekt. K-Werte sind Eigenschaften von Handlungen.“43 Dabei können wir Paáls Werte nicht nur als Eigenschaften von Objekten, Beziehungen und Handlungen verstehen, sondern auch als unterschiedliche Typen ästhetischer Erfahrung. So sind manche ästhetische Erfahrungen am besten mit Hinblick auf ein als besonders stimmig, interessant, schön oder hässlich wahrgenommenes „Muster“, d.h. eine bestimmte raum-zeitliche oder konzeptionelle inter- oder intra-objektive Anordnung, zu verstehen (Kants Begriff der „ästhetischen Form“ geht in diese Richtung). Bei andersartigen ästhetischen Erfahrungen mag das Moment des subjektiven Erlebens im Vordergrund stehen. Zum Beispiel Böhmes Dimension der „Befindlichkeit“ aber auch alle anderen Versuche, Kants Begriff des Gefühls „der Lust und Unlust, wodurch gar nichts im Objekte bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt … sich selbst fühlt“44, neu zu bestimmen, konzentrieren sich auf diesen Aspekt. Wieder andere ästhetische Erfahrungen sind vor allem dadurch zu fassen, dass eine
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bestimmte Handlung, z.B. das Lesen eines Gedichtes, das Malen eines Bildes, das Kochen eines Gerichtes, als anregend, faszinierend usw. empfunden wird. Paál versteht Handlungen „mit K-Wert“ (z.B. Handlungen des „Gestaltens“ und „Ergründens“) als anregende, neuartige, komplexe Handlungen, die eine gewisse Spannung bergen und als kreativ erlebt werden.45 Kant scheint an etwas Ähnliches gedacht zu haben, wenn er darauf hinwies, dass alles „Steif-Regelmäßige“ das „Geschmackswidrige“ an sich hat, weil „es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung desselben gewährt, sondern … lange Weile macht. Dagegen ist das, womit Einbildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns jederzeit neu…“46 Paáls Unterscheidungen können dann mit unterschiedlichen Konstitutionsebenen zusammengebracht werden, so dass in jeder seiner Kategorien Erfahrungen von niedrigerer und höherer Komplexität zu finden sind. So kann auf einer relativ niedrigen Stufe eine bestimmte räumliche Anordnung als „O-Wert“ verstanden werden (z.B. im Sinne von Ramachandrans „ästhetischen“ Objekten, die bestimmte Proportionen und Längenverhältnisse betonen). Allerdings kann man so auch ein hochstufiges konzeptionelles Muster behandeln, in das auch historische oder kulturelle Momente einfließen. Ähnliche Unterscheidungen sind in Bezug auf „S-Werte“ und „K-Werte“ vorzunehmen. Ich möchte Paáls Kategorisierungen hier nicht einfach als korrekt und vollständig übernehmen. Sie sollen lediglich als Beispiel dafür dienen, auf welche Art und Weise wir das Phänomen der ästhetischen Erfahrung ausdifferenzieren können und müssen. Lange hat sich die phänomenologische Ästhetik auf die Beschreibung nur einer bestimmten Art von Erfahrung, nämlich der Kunsterfahrung beschränkt. Und, Kants spezifisches Interesse am ästhetischen Reflexionsurteil als solches vergessend, hat sie sich unter seiner Leitung eine weitere Selbsteinschränkung auferlegt. Es ist wichtig, sich zu erinnern, dass Erlebnisse „auf niedriger Stufe“, z.B. auf der Ebene von Empfindung, Reiz und Rührung, durchaus legitime Phänomene philosophischer Ästhetik sind. Im Kontext der neueren Forschung in den Neurowissenschaften ist die Beschreibung und Aufklärung dieser Erlebnisse besonders gefordert.
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Schlussbetrachtung: Die herkömmliche Orientierung der Ästhetik auf Kunst und Kunsterfahrung ist insofern verständlich, als dass sie einen greifbaren Fokus in einem sonst fast unbestimmbar oder unbeschreibbar scheinenden Geflecht von unterschiedlichen Momenten und Aspekten ästhetischer Erfahrung verspricht. Zuallererst ist da die Frage nach einem ästhetischen Gegenstand. Sowohl im Rahmen einer phänomenologischen Intentionalitätsanalyse als auch im Rahmen eines neurowissenschaftlichen Experimentes stellt sich die Frage: Auf was richtet sich eigentlich ein ästhetisches Erlebnis? Eine noematische Analyse, wie sie auch Ingarden und Dufrenne versucht haben, ist mit der Befreiung des Ästhetischen von der Kunst ungleich schwieriger geworden. Die Rede von der ästhetischen (Objekt-)Erfahrung sollte daher erst einmal durch die Rede vom „ästhetischen Erlebnis“ ersetzt werden. Dieses ästhetische Erlebnis beschreibt Ingarden nun folgendermaßen: Das ästhetische Erlebnis fängt an, wenn auf dem Hintergrund eines wahrgenommenen oder phantasiemäßig vorgestellten realen Gegenstandes eine besondere Qualität … zur Erscheinung gelangt, die den Erlebenden … in einen eigentümlichen Erregungszustand versetzt. Die durch sie hervorgerufene Erregung nennen wir die ‚ästhetische Ursprungsemotion’… Reich an verschiedenen Momenten, zeichnet sie sich vor allem aus durch ein aus Erregung und gewisser Verwunderung entspringendes Verlangen nach anschaulichem Haben und Besitzen der erregenden Qualität, die zunächst in ihrem quale nicht erfasst wird. So führt die Ursprungsemotion vor allem zur Hinwendung auf die erregende Qualität, womit einerseits eine neue Phase des ästhetischen Erlebnisses einsetzt, andererseits aber die erregende Qualität zu einem Kristallisationszentrum des im Werden begriffenen ästhetischen Gegenstandes wird.47
Welchen aufklärerischen Nutzen uns hier die Rede von einem „ästhetischen Gegenstand“ erweist, ist mir nicht klar, wenn es doch, wie Ingarden selbst sagt, um ein „rein qualitatives Gebilde“ geht. Und so muss die Phänomenologie das subjektive Erleben selbst beschreiben, was sich allerdings ebenso als äußerst schwierig erweist. Pieper spricht hier von der „Plastizität“ ästhetischen Erlebens. Zu dieser Plastizität gehört auch, dass ästhetisches Erleben von verschiedenen Personen oder von ein und derselben Person in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich beschrieben wird. Ästhetische Erlebnisse
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werden in ungleichen Kontexten von ungleichen Erfahrungen ausgelöst und in ungleichen Graden der Intensität erlebt. Sie können sogar gegensätzliche Momente enthalten. Zum Beispiel empfindet der eine im ästhetischen Erlebnis eine besondere Nähe zu seinen Mitmenschen. Genauso kann aber ein anderer auf sich selbst zurückgeworfen werden, sich seiner Umgebung enthoben fühlen und sich innerlich von seinen Mitmenschen entfernen. Das heisst, ein ästhetisches Erlebnis kann uns verbinden und zu einem stark empfundenen Mitfühlen mit anderen anregen – ein Phänomen, auf das Kant mit seinem Begriff des „sensus communis“ trifft. Dabei kann das Erlebnis stark intellektuell besetzt sein und theoretische Reflexion oder sogar praktisches Handeln zur Folge haben. Es kann aber auch ein Eintauchen in das sinnliche Erlebnis selbst und ein Sichzurückziehen beinhalten. Pieper behauptet deswegen, dass Beschreibungen ästhetischen Erlebens „immer nur als Beispiele bestimmter Typen des ästhetischen Erlebens gelten, und es ist fraglich, ob es einen Fall gibt, der das ästhetische Erlebnis überhaupt zu repräsentieren vermag.“48 Und schließlich ist da noch ein Aspekt ästhetischen Erlebens, den ich noch gar nicht erwähnt habe: seine oft zitierte Unaussprechlichkeit. Vielen fällt es schwer, ein ästhetisches Erlebnis vollständig in Worte zu fassen. Es bleibt das Gefühl, dass nicht alles, was erlebt wird, wirklich erfassbar ist. Die gesteigerte Affektivität und Intensität eines ästhetischen Erlebnisses scheint oft „jeder Beschreibung zu spotten“. Das ist nicht gerade ermutigend für die Phänomenologie, die ja die Möglichkeit der Beschreibung und sprachlichen Fassung der von ihr aufzuklärenden Phänomene als Voraussetzung ihrer eigenen Möglichkeit annehmen muss. So kommt es, dass, obwohl man denken möchte, die Phänomenologie wäre geradezu prädestiniert für eine Untersuchung ästhetischer Fragen – schließlich heisst es, das Ästhetische würde dem objektiven Auge anderer Methoden und Theorien verschlossen bleiben, während doch die Phänomenologie so etwas wie eine „Wissenschaft des Subjektiven“ sein will – der Widerstand, den das ästhetische Erleben Versuchen der trans-subjektiven Beschreibung und sprachlichen Fassung leistet, also nicht nur neurowissenschaftliche, sondern auch phänomenologische Untersuchungen an die Grenzen dessen bringt, was sie zu leisten vermögen. Wegen ihres extrem selbst-kritischen Anspruchs wird vor allem die Phänomenologie durch das Phänomen ästhetischen Erlebens gezwungen, ihre eigenen Grenzen deutlich zu machen. Denn die Untersu-
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chung ästhetischen Erlebens streut Salz in altbekannte Wunden der Phänomenologie. Da ist der immer drohende Solipsismusvorwurf; die Gefahr, von individuellem Erleben auf allgemeine Wesensgesetze der Erfahrung zu schließen; und die fundamentale Frage, wie eine sprachlich verfasste Beschreibung jemals ein erlebtes Phänomen ohne sprachliche Verfälschungen und Verzerrungen darzustellen vermag. So gesehen kann die Beschäftigung mit der Ästhetik der Phänomenologie auch als Brennpunkt der prinzipiell von ihr geforderten Selbstkritik dienen. Für ein Projekt interdisziplinärer Zusammenarbeit können solch eine Selbstkritik und das damit einhergehende Bewusstsein der eigenen Leistungsgrenzen nur von Nutzen sein. Bibliographische Angaben: Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt 1970. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). In: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt/M. 1977, 136-169. Biemel, Walter: Gesammelte Schriften Bd. 2. Schriften zur Kunst. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. Blood, Anne J. und Robert J. Zatorre: Intensely pleasurable responses to music correlate with activity in brain regions implicated in reward and emotion. In: PNAS, vol. 98, no. 20, 2001, 11818-11823. Bohrer, Karl Heinz: Die Grenzen des Ästhetischen. In: Wolfgang Welsch (Hrsg.), Die Aktualität des Ästhetischen. München 2003, 48-64. Böhme, Gernot: Aisthetik. München 2001. Brough, John: Some Husserlian Comments on Depiction and Art. In: American Catholic Philosophical Quarterly, 66 (1992) 241-159. De Duve, Thierry: Kant after Duchamps. Cambridge, MA 1996. Dewey, John: Art as Experience (orig. 1934). New York: 1980. Dickie, George: Art and the Aesthetic: An Institutional Analysis. Ithaca, NY 1974. Duchamp, Marchel: Apropos of ‘Readymades’ (1961). In: The Writings of Marcel Duchamps. Oxford 1973, 141-42. Dufrenne, Mikel : Phénoménologie de l'expérience esthétique. Paris 1954. Guyer, Paul: Kant on the Purity of the Ugly. In: Michael Pauen, Heiner F. Klemme, and Mary-Luise Raters (Hgg.), Im Schatten des Schönen (im Druck); vorveröffentlicht in Kant e-Prints – Vol. 3, n. 3, 2004. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes (1935-6). In: ders. Holzwege. Frankfurt a.M. 22003. Hudson, Hud: The Significance of an Analytic of the Ugly in Kant’s Deduction of Pure Judgments of Taste. In: Ralf Meerbote und Hud Hudson (Hgg.), Kant’s Aesthetics, North American Kant Society Studies in Philosophy, vol. 1. Atascadero 1991, 87-103. Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana 1), hg. S. Strasser. Den Haag 1973.
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ders.: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwartigungen. Texte aus dem Nachlass (1898-1925). (Husserliana 23), hg. Eduard Marbach. The Hague 1980. Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes. Tübingen 1968. ders.: Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937-1967. Tübingen 1969. Ione, Amy: Examining Semir Zeki’s ‘Neural concept formation and art: Dante, Michelangelo, Wagner. In: Journal of Consciousness Studies, 10 (2), 2003, 58-66. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: ders. Werke, hg. Norbert Miller und Gustav Lohmann. München 1959-63, 102 ff. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Darmstadt 1983. Kawabata, Hideaki / Semir Zeki: Neural correlates of beauty. In: Journal of Neurophysiology 91 (2004) 1699–1705. Kossuth, Joseph: Art after Philosophy (1969). In: Conceptual Art: A Critical Anthology, hg. Alexander Alberro und Blake Stimson. Cambridge, MA 1999, 164-177. Liessmann, Konrad Paul: Reiz und Rührung. Über ästhetische Empfindungen. Wien 2004. Lohmar, Dieter: Das Geschmacksurteil über das faszinierend Hässliche. In: Herman Parret (Hg.), Kants Ästhetic – Kant’s Aesthetics – L’esthétique de Kant. Berlin 1998, 498-512. McMahon, Jennifer: Perceptual Principles as the Basis for Genuine Judgments of Beauty. In: Journal of Consciousness Studies, 7, No. 8-9, 2000, 29-35. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare (1968), aus dem Französischen von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 21994. Paál, Gábor: Was ist schön? Ästhetik und Erkenntnis. Würzburg 2003. Pieper, Hans-Joachim: Geschmacksurteil und ästhetische Einstellung. Würzburg 2001. Prinz, Wolfgang: Neue Ideen tun Not. In: Gehirn und Geist 6 (2004) 35. Ramachandran, Vilayanur S. / William Hirstein: The Science of Art. In: Journal of Consciousness Studies 6, No. 6-7, 1999, 15-51. Romano, C. Justin: The Mind’s Eye: Neuroscience, Synestheia, and Art. In: Neurology Review, Vol. 10, No. 7. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt 22003. Strube, Christian: Das Häßliche und die ‘Kritik der ästhetischen Urteilskraft’: Überlegungen zu einer systematischen Lücke. In: Kant-Studien 80 (1989) 416-46. Welsch, Wolfgang: Aesthetics Beyond Aesthetics. In: Proceedings of the XIIIth International Congress of Aesthetics, Lahti 1995, Vol. III: Practical Aesthetics in Practice and Theory, hg. Martti Honkanen, Helsinki 1997, 18-37. ders.: Undoing Aesthetics. London 1997. Wenzel, Christian: Kant Finds Nothing Ugly? In: British Journal of Aesthetics 39 (1999) 416-22. Zeki, Semir: Dante, Michelangelo und Wagner. Das Gehirn als Konstrukteur genialer Kunstwerke. In: Christa Maar und Hubert Burda (Hgg.), Iconic Turn. Köln 2004, 77-102. (Zuerst auf Englisch erschienen als Zeki, S.: Neural concept formation and art: Dante, Michelangelo, Wagner. In: Journal of Consciousness Studies 9 (3), 2002, 53–76). ders.: Inner Vision. Oxford 1999. ders.: Art and the Brain. In: Journal of Consciousness Studies, 6, No. 6-7, 1999, 76-96.
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Anmerkungen: 1
John Dewey: Art as Experience. New York 1980 (orig. 1934), 3. Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt 1970. 3 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt/M. 1977, 136-169. 4 Vilayanur S. Ramachandran / William Hirstein, The Science of Art. In: Journal of Consciousness Studies, 6, No. 6-7, 1999, 15-51. 5 Ibid. 17. 6 Ibid. 15. Vgl. auch C. Justin Romano: The Mind’s Eye: Neuroscience, Synestheia, and Art. In: Neurology Review, Vol. 10, No. 7. 7 Ramachandran / Hirstein, 17. 8 Ibid. 9 Nur als Randbemerkung: Obwohl Ramachandran und Hirstein wegen ihrer Auswahl nicht-westlicher Beispiele zu loben sind, stellt die nahezu ausschließliche Verwendung übertrieben erotischer Frauenfiguren vielleicht doch den Allgemeinheitsanspruch ihrer Befunde in Frage. 10 Interessanterweise würde eine solche empirische Erklärung der Behauptung Kants, dass ästhetische Form nichts am Gegenstand sei, nicht unbedingt widersprechen. Die von Ramachandran und Hirstein als überzogen beschriebenen Attribute sind schließlich nicht ‚an sich’ übertrieben, sondern werden als solche empfunden (z.B. im Vergleich zu als ‚normal’ oder ‚gewöhnlich’ erlebten Wahrnehmungen). 11 Vgl. Jennifer McMahon: Perceptual Principles as the Basis for Genuine Judgments of Beauty. In: Journal of Consciousness Studies, 7, No. 8-9, 2000, 29-35; hier 33. 12 Semir Zeki: Dante, Michelangelo und Wagner. Das Gehirn als Konstrukteur genialer Kunstwerke. In: Christa Maar und Hubert Burda (Hgg.), Iconic Turn. Köln 2004, 77-102; hier: 78. Zuerst auf Englisch erschienen als Zeki, S. (2002), Neural concept formation and art: Dante, Michelangelo, Wagner. In: Journal of Consciousness Studies, 9 (3), 2002, 53–76. Vgl. auch ders.: Inner Vision. Oxford 1999. 13 Semir Zeki: Art and the Brain. In: Journal of Consciousness Studies, 6, No. 67, 1999, 76-96. 14 Semir Zeki (2004), 77. 15 Ibid. 16 Für eine ausführliche Kritik siehe Amy Ione: Examining Semir Zeki’s ‘Neural concept formation and art: Dante, Michelangelo, Wagner’. In: Journal of Consciousness Studies, 10 (2), 2003, 58-66. 17 Diese Gleichsetzung ist besonders offensichtlich in Hideaki Kawabata und Semir Zeki: Neural correlates of beauty. In: Journal of Neurophysiology 91 (2004), 1699–1705. 18 Das Hässliche hat via Kants Kritik der Urteilskraft in den letzten Jahren endlich das Interesse der Forschung gefunden. Siehe z.B. Christian Strube, Das Häßliche und die ‘Kritik der ästhetischen Urteilskraft’: Überlegungen zu einer systematischen Lücke. In: Kant-Studien 80 (1989), 416-46. Hud Hudson: The Significance of an Analytic of the Ugly in Kant’s Deduction of Pure Judgments of Taste. In: Ralf Meerbote und Hud Hudson (Hgg.), Kant’s Aesthetics, North American Kant Society Studies in Philosophy, vol. 1. Atascadero 1991, 87-103. Christian Wenzel, Kant Finds Nothing Ugly? In: British Journal of Aesthetics 39 (1999), 416-22. Dieter Lohmar: Das Geschmacksurteil über das faszinierend Hässliche. In: Herman Parret (Hg.), Kants Ästhetik – Kant’s Aesthetics – L’esthétique de Kant. Berlin 1998, 498512. Paul Guyer, Kant on the Purity of the Ugly. In: Michael Pauen, Heiner F. 2
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Klemme und Mary-Luise Raters (Hgg.), Im Schatten des Schönen (im Druck); vorveröffentlicht in Kant e-Prints – Vol. 3, n. 3, 2004. 19 Jean Paul zum Beispiel versucht sich an einer Theorie des Lächerlichen in seiner Vorschule der Ästhetik, in ders. Werke, hg. Norbert Miller und Gustav Lohmann (München 1959-63), 102 ff. 20 Wolfgang Prinz, Neue Ideen tun Not. In: Gehirn und Geist 6 (2004), 35. 21 In den Veröffentlichungen und Veranstaltungen der American Society for Aesthetics zum Beispiel, oder der Britisch Society for Aesthetics ist wie selbstverständlich immer und ausschließlich von Kunst die Rede. 22 Marcel Duchamps behauptete, die Readymades auszusuchen „on a reaction of visual indifference with at the same time a total absence of good or bad taste…in fact a complete anaesthesia.“ – Marchel Duchamps, Apropos of ‘Readymades’ (1961), in: The Writings of Marcel Duchamps. Oxford 1973, 141-42. 23 Thierry de Duve, Kant after Duchamps. Cambridge 1996. 24 Joseph Kossuth, Art after Philosophy (1969), in: Conceptual Art: A Critical Anthology, hg. Alexander Alberro und Blake Stimson. Cambridge, MA 1999), 164177. 25 Die Videokunst Bill Violas oder die Lichtinstallationen Olafur Eliassons sind nur zwei Beispiele für solche an ästhetischer Erfahrung interessierte Gegenwartskunst. 26 George Dickie, Art and the Aesthetic: An Institutional Analysis. Ithaca, NY 1974. 27 John Dewey (1980), 10. 28 Husserl machte den Anfang mit seinen Ausführungen zum Bildbewusstsein (Hua XXIII). Es folgten Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes (Tübingen, 1968); Das ästhetische Erlebnis. In: ders. Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937-1967. Tübingen 1969, 3-7; Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes (1935-6). In: Holzwege. Frankfurt a.M. 22003; Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare (1968), aus dem Französischen von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 21994; Mikel Dufrenne: Phénoménologie de l'expérience esthétique. Paris 1954; Walter Biemel: Gesammelte Schriften Bd. 2. Schriften zur Kunst. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996; und – in den letzten Jahren – John Brough: Some Husserlian Comments on Depiction and Art. In: American Catholic Philosophical Quarterly, 66 (1992), 241-159, um nur einige zu nennen. Jeder dieser Versuche einer phänomenologischen Ästhetik orientiert sich wie selbstverständlich an der Kunsterfahrung. 29 Gernot Böhme: Aisthetik. München 2001. 30 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt 22003. 31 Wolfgang Welsch: Aesthetics Beyond Aesthetics. In: Proceedings of the XIIIth International Congress of Aesthetics, Lahti 1995, Vol. III: Practical Aesthetics in Practice and Theory, ed. Martti Honkanen, Helsinki 1997, 18-37. Siehe auch ders., Undoing Aesthetics. London 1997. 32 Anne J. Blood and Robert J. Zatorre: Intensely pleasurable responses to music correlate with activity in brain regions implicated in reward and emotion. In: PNAS, vol. 98, no. 20, 2001, 11818-11823. 33 Vgl. Böhme (2001), Kapitel IV und V. 34 Vgl. Seel (2003), 47. 35 Z.B. Hua I, 73. 36 Ingarden (1969), 4 und vgl. ders. (1968), 202. 37 Vgl. z. B. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft AA V, 211. 38 Hans-Joachim Pieper: Geschmacksurteil und ästhetische Einstellung. Würzburg 2001. 39 Vgl. Adorno (1970).
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Pieper (2001), 333. Siehe Konrad Paul Liessmann: Reiz und Rührung. Über ästhetische Empfindungen. Wien 2004, 27 ff. 42 Diese Frage beschäftigt vor allem Karl Heinz Bohrer Die Grenzen des Ästhetischen. In: Wolfgang Welsch (Hrsg.), Die Aktualität des Ästhetischen. München 1993, 48-64 und Martin Seel (2003). Siehe auch Böhme (2001), 8 f. und Liesmann (2004), 14 f. 43 Gábor Paál: Was ist schön? Ästhetik und Erkenntnis. Würzburg 2003, 46. 44 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft AA V, 204. 45 Paál (2003), 83-99. 46 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft AA V, 242 f. 47 Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes (1968), § 24. 48 Pieper (2001), 346. 41
Wie ist Formalwissenschaft möglich? Über die Quellen der Anschaulichkeit der mathematischen Erkenntnisse bei Husserl und bei Kant. Dieter Lohmar, Universität Köln Zusammenfassung: Kann man mathematische und logische Erkenntnis im Rahmen der Phänomenologie Husserls überhaupt als Erkenntnis verstehen? Diese Frage stellt sich, weil die sinnliche Anschauung, auf die alle Evidenzfragen in der Phänomenologie zurückzugehen scheinen, in den Formalwissenschaften nur eine unbedeutende Funktion hat. Um sie zu beantworten, diskutiere ich Husserls Analysen zum Erkenntnischarakter von Mathematik und Logik sowie zum Vergleich Kants Konzeption, für den die Sinnlichkeit in der Form der ‚reinen Anschauung‘ auch für mathematische Erkenntnis grundlegend war.
Die Phänomenologie ist eine an der Sinnlichkeit orientierte Philosophie. Sie sieht den Anfang aller Gegenstandsbezüge in der sinnlichen Wahrnehmung. Auch die alltäglichen Erkenntnisse müssen sich auf die Sinnlichkeit zurückführen lassen. In einem solchen, eher empiristisch orientierten Ansatz stellt sich die Frage nach der Möglichkeit der Formalwissenschaften zunächst in der Form: Wie kann man mathematische und logische Erkenntnis überhaupt als Erkenntnis verstehen? Die Sinnlichkeit hat in den Formalwissenschaften, vor allem in der formal-axiomatischen Form doch nur eine unbedeutende Funktion. Um diese Frage zu beantworten, diskutiere ich Husserls Analysen zum Erkenntnischarakter von Mathematik und Logik sowie Kants Konzeption, für den die Sinnlichkeit in der Form der ‚reinen Anschauung‘ auch für die mathematische Erkenntnis grundlegend war. Husserls Phänomenologie will eine Beschreibung der Bewusstseinsvollzüge und ihrer wesentlichen Strukturen geben, die unsere alltäglichen Wahrnehmungen und die verschiedenen Formen unserer Erkenntnisse möglich machen. Grundlegend für diese Untersuchungsrichtung ist die Überzeugung, dass jede Intention auf einen Gegenstand einem bestimmten Aktvollzug entspringt, in dem der Gegenstand konstituiert wird. Nur durch diesen Aktvollzug ist also die gegenständliche Intention möglich. Husserl behauptet damit eine univer164 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 164–189. © 2006 Springer.
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sale Korrelation von konstituierendem Akt und konstituiertem Gegenstand. Dies gilt auch für mathematische Gegenstände und Erkenntnisse. Auch sie erscheinen für uns nur dadurch, dass wir sie in subjektiven Akten konstituieren. Der Sinn der Konstitution entfaltet sich darin, dass die konstituierende Aktivität eine der notwendigen Bedingungen für das Erscheinen des Gegenstandes oder der Erkenntnis ist. Dennoch kann man das Konstituieren nicht mit einem willkürlichen und in seinem Ergebnis freien Erzeugen gleichsetzen. Ob und wie sich in den aktiven Vollzügen des Bewusstseins Gegenstände und ihre Eigenschaften zeigen, hängt nicht allein vom bloßen Vollzug der Bewusstseinsakte selbst ab. Dies sieht man bereits in der sinnlichen Wahrnehmung. Das Wahrgenommene bleibt, bei aller Aktivität des Bewusstseins, doch von dem sinnlich Gegebenen abhängig, denn ich kann nicht ein grünes Buch sehen, wenn dort ein rotes Fahrrad steht. Allein im Hinblick auf die Aktivität des Bewusstseins im Prozess des ‚Sehens‘ unterscheiden sich Wahrnehmung und Wahrnehmungsirrtum jedoch nicht. Die sinnliche Anschauung ist also einerseits die Quelle der Berechtigung für eine bestimmte Setzung, aber sie begrenzt zugleich auch die Freiheit meiner Wahrnehmungssetzungen. Dasselbe gilt in modifizierter Form auch für mathematische Gegenstände, d.h. sowohl die Berechtigung als auch die Abweisung unberechtigter Erkenntnisentwürfe muss von der Anschauungsseite der Erkenntnis her begründet werden. Der Ansatz der Phänomenologie versucht zudem, der besonderen Geltungsweise der mathematischen und logischen Erkenntnisse gerecht zu werden. Sie erscheinen uns so, als ob ein Ergebnis, z.B. der Satz des Phytagoras, schon gegolten hat, bevor ich seine Gültigkeit entdeckte. Also steht – bei aller Abhängigkeit des Sich-Zeigens der mathematischen Einsichten von der Aktivität des Subjekts – doch fest, dass dasjenige, was sich in dieser Aktivität als Erkenntnis einstellt, d.h. der Inhalt der Erkenntnis, nicht von mir willkürlich bestimmt werden kann. In dieser Hinsicht ‚finden‘ wir mathematische Erkenntnisse vor. Der Anspruch, dass mathematische Sätze nicht von der Zeit oder sogar dem Zeitpunkt ihrer Entdeckung abhängen, wird also als sinnvoll und angemessen gedeutet. Husserl interpretiert den besonderen zeitlichen Charakter der mathematischen und logischen Einsichten als ‚Allzeitlichkeit‘ ihrer Geltung. 1 Husserl war selbst Fachmathematiker, er studierte in Berlin bei Weierstrass und Kronecker. Seine Sicht der Mathematik ist bereits an
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der axiomatisch-deduktiven Reformulierung der mathematischen Disziplinen und an der englischen algebraischen Logik des 19. Jahrhunderts orientiert. Er bestimmt den Sinn der formal-axiomatischen Mathematik, indem er die Formalwissenschaften als eine universale formale Wissenschaftslehre interpretiert.2 Formale Mathematik ist eine ‚Theorie möglicher Theorieformen‘ im Sinne einer abstrakten Strukturtheorie, die alle möglichen Axiomensysteme und die aus ihnen ableitbaren Disziplinen umfasst. Mein Beitrag beginnt mit der Frage, warum mathematische und logische Erkenntnis den Anspruch erheben darf, Erkenntnis zu sein. Dazu stelle ich im 1. Kapitel die wesentlichen Ansatzpunkte der phänomenologischen Theorie der Erkenntnis dar. Im Anschluss daran prüfe ich die Überzeugung des Alltags und der philosophischen Tradition, dass Mathematik eine Form der Erkenntnis sei mit Hilfe der phänomenologischen Theorie der Erkenntnis. Dabei wird sich auch herausstellen, warum beides Erkenntnis genannt werden darf. Im 2. Kapitel untersuche ich die Schwierigkeit der Interpretation des richtigen Sinnes der ‚Operationen des Geistes‘, die eine der Quellen der Anschaulichkeit in der Mathematik bilden. Im 3. Kapitel werde ich Husserls Unterscheidung von materialer und formaler Mathematik diskutieren. Im 4. Kapitel soll Kants Theorie der mathematischen Erkenntnis kurz dargestellt und mit Husserls Ansatz verglichen werden.3 1. Phänomenologische Theorie der alltäglichen und mathematischen Erkenntnis Der Nachweis, dass Mathematik Erkenntnis ist, ist nicht einfach, denn die Phänomenologie ist eine an der Sinnlichkeit orientierte Philosophie der Erkenntnis. Diesen Ausgangspunkt teilt sie mit dem britischen Empirismus und zum Teil auch mit Kants Kritizismus. Die Phänomenologie sieht den Anfang aller Gegenstandsbezüge in der sinnlichen Gegebenheit und in der Aktivität des Denkens. So wird z.B. in der Wahrnehmung das sinnlich Gegebene in einem synthetischen Akt als Gegenstand aufgefasst, d.h. interpretiert, bzw. gedeutet. In diesem synthetischen Akt, den Husserl ‚Auffassung‘ nennt, intendieren wir den Gegenstand ‚als etwas‘. Dieses Etwas lässt sich in weiteren Wahrnehmungs- oder Erkenntnisakten wieder als dasselbe erkennen. Dennoch geht schon die sinnliche Wahrnehmung eines Ge-
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genstands in ihrem Inhalt weit über das hinaus, was die Sinnlichkeit uns wirklich gibt. Ich erinnere hierzu an ein bekanntes Beispiel von John Locke: Wenn ich eine rote Billardkugel sehe, dann habe ich wirklich ‚sinnlich gegeben‘ nur einen kreisförmigen, unterschiedlich rötlich gefärbten Ausschnitt unseres visuellen Feldes. Dennoch nehme ich aber eine Kugel wahr, mit einer dreidimensionalen Ausdehnung und einer gleichmäßigen roten Färbung. Ich sehe also sozusagen über die Glanzlichter auf der Kugel und den Schatten ‚hinweg‘. Ähnliches geschieht mit der räumlichen Gestalt der Kugel, die sich aus dem visuellen Feld allein nicht ergibt: Ich deute sie hinzu. Insofern geht schon die Wahrnehmung immer über die sinnliche Gegebenheit hinaus. Die Sinnlichkeit ist der Boden und das Material für die intentionale Auffassung. Sinnlichkeit ist das, was Vorstellungen zu berechtigten Intentionen macht. Durch sie erhalten Intentionen eine bestimmte und immer nur eine graduelle Evidenz. Ein Gegenstand ist evident gegeben, wenn wir ihn nicht nur leer intendieren, so wie wir jetzt z.B. an eine ‚Blattschneiderameise‘ denken könnten, sondern wenn die Sinnlichkeit zugleich dasjenige ‚erfüllt‘ (‚wahrmacht‘), was wir intentional meinen. Die Frage nach demjenigen, was die Intention erfüllt, muss man auch bei der Erkenntnis stellen, die wir in Urteilen ausdrücken. Ich beginne mit einer Analyse der alltäglichen Erkenntnis. In der Erfüllung von solchen Erkenntnissen spielt die Sinnlichkeit eine wichtige Rolle, aber sie kann die Erfüllung nicht alleine leisten. Husserl entdeckt in seinen Analysen der komplexen Erkenntnisakte neben der sinnlichen Anschauung noch die sogenannten „Deckungssynthesen“ zwischen Partialintentionen als eine weitere Quelle der Anschauung. Was ist hiermit gemeint? Ich sehe z.B. ein grünes Buch. Diese Wahrnehmung nennt Husserl Gesamtwahrnehmung und in ihr sind implizit alle Sinnelemente dieses Gegenstandes mitgemeint (intendiert), jedoch nicht ausdrücklich bemerkt. Wende ich mich dann z.B. explizit der Farbe des Buchs zu, dann nehme ich immer noch das Buch wahr. Man könnte sagen, ich sehe das Buch jetzt ‚durch’ die explizit bemerkte Farbe hindurch. Aber im Übergang zwischen diesen beiden Akten, d.h. der Gesamtwahrnehmung und der pointierten Sonderwahrnehmung, stellt sich eine Deckung ein, die eine Deckung hinsichtlich des intendierten Sinnes ist. Die Deckung entsteht zwischen der Intention auf das zuvor nur implizit intendierte Grünmoment des Buches
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und der jetzt explizit und willentlich bemerkten grünen Farbe. Beide Intentionen richten sich in gewisser Hinsicht auf ‚dasselbe‘, sie haben aber einen unterschiedlichen Charakter. Die eine Intention ist implizit, unbemerkt und eher beiläufig vollzogen, die andere ist aktiv (und willentlich) vollzogen, explizit und gezielt auf ein einzelnes Sinnelement des Ganzen. Wir können dennoch bemerken, dass beide inhaltlich auf dasselbe zielen, d.h., dass beide dasselbe meinen. Diese Fähigkeit des menschlichen Geistes, solche Selbigkeit der Intention bemerken zu können, will Husserl mit dem Begriff der Deckungssynthesen bezeichnen. Deckungssynthesen sind eine passive Gegebenheit innerhalb einer Bewusstseinsaktivität, sie sind zwar willentlich inszeniert, aber sie können dennoch nicht willkürlich herbeigeführt werden, d.h. sie stellen sich in der Aktivität ein oder sie stellen sich nicht ein. Wie im Fall des grünen Buchs hängt dies mehr von dem sinnlich wirklich gegebenen Gegenstand ab und weniger von unserer Aktivität. Bereits für die alltäglichen Erkenntnisse bildet die Sinnlichkeit zusammen mit den Deckungssynthesen den anschaulichen Grund. Man könnte nun einwenden, dass wir doch bereits in der ersten Gesamtwahrnehmung sozusagen schon ‚gewusst haben’, dass das Buch grün war, weil wir es als solches intendierten bzw. wahrgenommen haben. Jedoch war es ein implizites und damit verborgenenes ‚Wissen‘, das erst durch die pointierte Hervorhebung und die anschließende Auffassung als bestehender Sachverhalt für uns ausdrücklich und anschaulich einsichtig wird. Genau diese Leistung macht aber den Unterschied aus zwischen denjenigen Merkmalen, die in einer Wahrnehmung nur beiläufig wahrgenommen und mitgedacht werden und denen, die ausdrücklich erkannt werden. Ich habe hier die Deckungssynthesen in den Vordergrund gestellt, um auch die mathematischen Erkenntnisse als ‚echte Erkenntnis‘ mit einer eigenen Quelle der Anschaulichkeit, die in manchen Fällen auch unabhängig von der Sinnlichkeit sein kann, herausarbeiten zu können. Es zeigt sich jedoch bereits bei der alltäglichen Erkenntnis, dass wir schon hierin über Formen der Erkenntnis verfügen, die weitgehend ohne die sinnliche Anschauung auskommen. Ich denke dabei vor allem an die Schlussfolgerungen aus Erkenntnissen, die in der neuen Erkenntnissituation nicht wieder aktuell verlebendigt werden müssen. Die sinnliche Anschauung bleibt aber dennoch von entscheidender
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Bedeutung bei Erkenntnissen, die Eigenschaften realer Gegenstände betreffen. Wie passt beides zusammen? Sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung mit Gegenständen und Personen bleibt in der Form von Erinnerungen in uns lebendig, denn Erinnerungen können wir wieder verlebendigen. Dabei gibt es einen wichtigen Sinnbestandteil der Akte, den Husserl in den Logischen Untersuchungen die Setzungsqualität nennt. Es handelt sich dabei um die Art und Weise, in der ein bestimmtes Ereignis gesetzt wird, d.h. als ‚wirklich‘ oder ‚wahrscheinlich‘, als ‚möglich‘ oder ‚unmöglich‘. Es handelt sich dabei also um so etwas wie die Modalität des vorgestellten Gegenstandes oder des Urteils. Hinsichtlich der Zuweisung der Setzungsqualität des wahrgenommenen Gegenstandes sind wir nicht frei. Wir können einem Gegenstand oder einem Ereignis das ‚wirklich‘ nur in dem Falle wirklich anschaulich selbst gegebener Gegenstände zusprechen.4 Natürlich gibt es auch Erkenntnisse und Intentionen im Kontext von umfangreichen Fiktionen wie z.B. in Romanen; hier liegt die Sache wiederum komplizierter, aber es geht uns jetzt in erster Linie um Erkenntnisse an wirklichen Gegenständen. Vielleicht hilft zur Erläuterung ein Beispiel: Wenn ich eine Person A und ihre Gewohnheiten schon gut kenne, wenn ich zum Beispiel weiß, dass derjenige keinen Spinat mag, dann kann ich, und zwar ohne dass die Person selbst anwesend ist und ohne ihre Abneigung noch einmal zu erleben, dennoch weitergehende Erkenntnisse gewinnen. Nehmen wir an, es ist ein gemeinsames Essen mit vielen Gästen geplant und die Person A ist eingeladen. Es soll Spinat geben. Es kann nun passieren, dass ich über das geplante Essen nachdenke und dabei plötzlich einsehe: A soll auch kommen, und er mag doch keinen Spinat, also muss ich noch ein anderes Gericht kochen. Diese Erkenntnis findet in Abwesenheit von sinnlicher Anschauung statt, sie stützt sich nur auf die Informationen, die ich bereits über die eingeladenen Personen besitze, ich muss mich nur an sie erinnern und sie mit anderen Erkenntnissen in eine entsprechende Konstellation bringen, dann stellt sich die neue Erkenntnis ein: Es wird ein Problem mit A geben und ich kann dies nur lösen, wenn ich ein weiteres Gericht anbiete oder die Einladung zurückziehe. Man könnte dies ein Sherlock-HolmesArgument nennen, denn es ist auch in dem Kontext von Informationen möglich, die ich alle nicht selbst gemacht habe, die ich z.B. lediglich in der Times gelesen habe. Dennoch ist auch diese Art von Erkenntnis nur auf der Grundlage möglich, dass meine Intentionen („A mag kei-
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nen Spinat“, „Professor Moriarti ist in der Stadt gesehen worden“) auf meiner wirklichen Erfahrung oder der eines Anderen beruht. Die Modalitäten des ‚wirklich‘ oder ‚sehr wahrscheinlich‘ fungieren hier sozusagen als Ersatz der wirklichen eigenen Anschauung, die die ‚Wirklichkeit‘ belegt und bewährt. Mit einer bloßen Phantasie, einer Annahme oder einer reinen Denkmöglichkeit kommen wir nur zu neuen hypothetischen Erkenntnissen. Aber zu den Einsichten über wirkliche Gegenstände und Personen kommen wir nur mit Hilfe von vorausgesetzten Erkenntnissen, die rechtmäßig als ‚wirklich‘ gesetzt sind. Daher kommen wir in einem Kontext, in dem es ausschließlich ‚angenommene‘ Urteile gibt, wie z.B. in den axiomatischen Wissenschaften, immer nur zu hypothetisch-deduktiven Folgerungen. Die Wirklichkeits-Setzung bleibt von der sinnlichen Anschauung abhängig. Um nun zu erfassen, in welcher Hinsicht sowohl alltägliche Erkenntnis als auch mathematische Erkenntnis beides Formen von Erkenntnis sind, hilft uns vor allem die Einsicht, dass es schon bei der alltäglichen Erkenntnis Deckungssynthesen zwischen Partialintentionen sind, die die eigentlichen Erkenntnisintentionen erfüllen und nicht allein die Sinnlichkeit. Im Fall des grünen Buches handelt es sich um Deckungssynthesen zwischen Partialintentionen von Wahrnehmungen. Hier ist die Erkenntnis also noch auf sinnlicher Anschauung gegründet. Wahrnehmungen werden direkt und nur durch sinnliche Anschauung erfüllt. Erkenntnis wird dagegen nur indirekt durch Sinnlichkeit erfüllt und nicht nur durch sie, sondern auch durch die nicht-sinnlichen Deckungssynthesen. In der mathematischen Erkenntnis gibt es die Seite der sinnlichen Erfüllung nicht bzw. sie stellt ein eher zufälliges Anhängsel der signitiven Intentionen auf die Gegenstände dar, weil diese nur mit der Hilfe von Zeichen gemeint sind. Dennoch kann es auch innerhalb eines solchen Kontextes, der nur mit der Hilfe von Zeichen seine Gegenstände meint (d.h. in signitiver Intention), Erkenntnis geben, denn Deckungssynthesen von Partialintentionen sind auch hier möglich. Hierin liegt die entscheidende Verbindung zwischen den Charakteristika der Erkenntnis im allgemeinen und der Erkenntnis in den Formalwissenschaften. Die Gemeinsamkeit liegt in der erfüllenden Funktion der Deckungssynthesen. Obwohl sich Husserls Analyse zuerst an der Erkenntnis von sinnlich gegebenen, realen Gegenständen orientiert, trifft sie doch auch auf Gegenstände zu, die weitgehend nicht in sinnlicher
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Weise gegeben sind, und auch nicht so gegeben sein können. Um diese Möglichkeit noch genauer zu verstehen, müssen wir die besonderen Gegenstände der Mathematik kurz zum Thema machen. Ebenso wie im Fall der realen Gegenstände gibt es auch in der Mathematik den Unterschied zwischen leerer Intention und erfüllter Gegebenheit. Dies sieht man schon im Fall der elementaren Arithmetik, bei der wir mittels der Zahlzeichen auf Gegenstände gerichtet sind, die ihrerseits nicht sinnlich erscheinen können: die Zahlen. Anzahlen sind strukturelle Eigenschaften von Mengen. Mengen sind Gegenstände, von denen wir glauben, dass sie manchmal in der Sinnlichkeit erscheinen können, z.B. als die Menge der Gegenstände auf meinem Schreibtisch. Ich werde weiter unten zeigen, dass die Intention auf eine Menge aber nicht ausschließlich in der sinnlichen Wahrnehmung erfüllt werden kann. In der Arithmetik sind wir meistens auf die Zahlen und die Operationen mit ihnen als Gegenstände gerichtet, ohne dass sie wirklich selbstgegeben sind. Wir meinen sie meistens bloß mit der Hilfe von Zahlzeichen (oder sogar nur mittels Variablenzeichen, aber hierzu komme ich erst später). Die Anzahlen bilden dabei die grundlegende Klasse von Zahlen, die meisten weiteren Arten von Zahlen (rationale, reelle, irrationale, usw.) lassen sich bekanntlich algebraisch auf Operationen mit dieser grundlegenden Art von Zahlen aufbauen. Anzahlen sind aber noch in einer weiteren Hinsicht grundlegend: Wir können Anzahlen anschaulich selbstgegeben haben. Dies geschieht, indem wir eine komplexe Operation ausführen, d.h. indem wir die Elemente einer Menge zählen. Die eigentliche Erfüllung der Intention auf eine Anzahl geschieht also im Vollzug der Operation des Zählens. Wir erfassen im Zählen ein Formmoment an Mengen, das verschiedene Mengen mit unterschiedlichen Elementen gemeinsam haben können. Also hängt auch die Gegebenheit der Zahl nicht von den sinnlich gegebenen Elementen der Menge ab, denn diese können sehr verschieden sein obwohl ihre Anzahl dieselbe bleibt. Das Zählen ist die ursprüngliche Weise, in der die Anzahlen selbst gegeben sind. Dies zeigt uns, dass in der Mathematik auch die Operation, d.h. der geregelte Vollzug von Handlungen des Bewusstseins, zu dem Bereich dessen gehört, was die Erfüllung der Intention ermöglicht.5 Es gibt für die Formalwissenschaften also neben den Deckungssynthesen zwischen Partialintentionen noch eine weitere Quelle der Anschauung in dem Vollzug von Operationen. Diesen Aspekt der Er-
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füllung von mathematischen Erkenntnissen hat bereits Kant hervorgehoben, der die Anschauungsseite der Mathematik in Konstruktionshandlungen in reiner Anschauung sah. Doch ich bleibe zunächst innerhalb der phänomenologischen Analyse. Diagramm 1: Sinnliche Anschauung
Wahrnehmung
Deckungssynthesen
alltägliche Erkenntnis
Operationen
mathematische Erkenntnis
Es handelt sich hier allerdings nur um einen ersten Versuch einer Charakterisierung. Festgehalten wird hierin, dass sowohl alltägliche als auch mathematische Erkenntnisse notwendigerweise auf Dekkungssynthesen beruhen. Zur Erfüllung mathematischer Erkenntnis gehört dann noch der Vollzug von Operationen. Fraglich bleibt bei dieser ersten heuristischen Diagnose jedoch, ob nicht einige elementare mathematische Bildungen wie z.B. die von Mengen und von Anzahlen auch in den Bereich alltäglicher Erkenntnisse gehören. Was hier also noch nicht berücksichtigt wird, ist der Unterschied von mathematischen Disziplinen, die ganz unabhängig von der sinnlichen Anschauung sind, wie z.B. die axiomatischen Disziplinen und solchen Disziplinen, die noch im unmittelbaren Kontakt mit den sinnlich gegebenen Gegenständen stehen, wie z.B. die anschauliche Geometrie und die elementare Arithmetik. Die letzteren, d.h. die materialen mathematischen Disziplinen, enthalten einen Beitrag der Sinnlichkeit, die rein axiomatischen Disziplinen dagegen nicht. Auf diesen Unterschied gehe ich später noch ein. Zunächst möchte ich eine kurze allgemeine Überlegung einfügen: Nennen wir die Gegenstände, die nicht allein in der Wahrnehmung gegeben werden können, kategoriale Gegenstände (oder Verstandesgegenstände). Alltägliche Erkenntnisse (‚Die Sonne scheint.‘) sind also kategoriale Gegenstände, und wir wissen, dass in der Erkenntnis Deckungssynthesen eine erfüllende Funktion haben. Es gibt aber auch
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solche kategorialen Gegenstände, die weder durch Deckungssynthesen noch durch sinnliche Anschauung erfüllt werden können. Diese besonderen kategorialen Gegenstände verlangen Operationen als Anschauungsgrundlage und zu ihnen gehören einige der wichtigsten Grundbegriffe von Mathematik und Logik. Als Beispiel nehme ich die Vorstellung einer Menge, die im einfachsten Fall aus der Zusammenstellung von zwei Elementen zu einem neuen Ganzen besteht. Diese Lampe und der Tisch, Herr Schmitz und Herr Meier. Im einfachsten Fall könnte es uns so scheinen, als ob beide Gegenstände nur anschaulich gegeben sein müssten, damit ich die Menge schon anschaulich erfüllt habe, d.h. im bloßen Durchlaufen bzw. allein im Nacheinander-Wahrnehmen. Aber die Sache ist nicht so einfach, denn die erfüllte Intention auf eine Menge ist nicht dasselbe wie die zufällig nacheinander vor sich gehende Wahrnehmung ihrer Elemente. Ein solches Nacheinander-Wahrnehmen kann auch in alltäglichen Kontexten geschehen, in denen ich die Intention auf die Verbindung in einem neuen Ganzen überhaupt nicht habe. Es kommt also im Falle der Mengenintention (Kollektiva) eine Intention hinzu, die über die Sinnlichkeit hinausgeht, nämlich die Intention auf die ‚Verbindung‘ beider Elemente in einem neuen Ganzen, d.h. das ‚und‘. Diese Intention lässt sich in der Sinnlichkeit allein nicht erfüllen. Für das ‚und‘ der Verbindung ‚Herr Schmitz und Herr Müller‘ lässt sich in der Sinnlichkeit nichts finden, was sie erfüllt, obwohl die einzelnen Intentionen auf den einen oder den anderen der beiden Herren in der Sinnlichkeit erfüllt werden kann. Also: Die Erfüllung der Mengenintention geht nicht in der sinnlichen Erfüllung der einzelnen Intentionen auf die Elemente der Menge auf. Die Intention auf die Menge geht über die einzelnen Intentionen auf ihre Elemente hinaus und sie kann nur dadurch erfüllt werden, dass die spezifisch kolligierende Intention, d.h. das ‚und‘, hinzukommt. Die Operation selbst leistet in diesem Fall die Erfüllung und sie ist eine spezifisch ‚verbindende‘ Intention. Man könnte also den erfüllten Vollzug der Intention ‚und‘, d.h. den wirklich im Durchlaufen der Elemente bewusst vollzogenen (und durchgehaltenen) Vollzug der verbindenden Intention, als dasjenige ansehen, was die Intention auf das ‚Zusammen‘ in der Menge eigentlich erfüllt. Dieser Inhalt ist kein sinnlicher Inhalt und auch keine Deckungssynthese. 6 Andererseits ist diese spezifische zusammen-haltende Intention, d.h. das ‚und‘, nicht schon erfüllt, wenn sie leer vollzogen wird, d.h. ohne dass jedes
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der einzelnen Elemente wirklich für sich intendiert wird (und auch ImGriff gehalten wird), sondern nur dann, wenn auch die zusammengemeinten Gegenstände gegeben sind. Hier müssen wir allerdings zwischen Mengen von realen Gegenständen und solchen von nicht realen Gegenständen unterscheiden. Doch was sind ‚nicht-reale Gegenstände‘? In unserem Kontext bieten sich als Beispiel die Anzahlen an, oder die Sachverhalte (wie z.B. ‚Das Buch ist rot‘). Wir hatten bereits festgestellt, dass sie zwar Gegenstände des Denkens und Erkennens sind, dass sie aber keineswegs reale Gegenstände sind, wie das Buch oder reale Elemente von Mengen. Mengen von nicht realen Gegenständen können aber ihrerseits wieder gezählt werden, z.B. die Menge der Anzahlen von 2 bis 8, die Menge der Sachverhalte, die ich über einen Gegenstand erkannt habe usw. Dennoch bedeutet dies nicht, dass die Elemente einer Menge, deren Eigenschaften wir bestimmen, auch sinnlich gegeben sein müssen. Wenn das so wäre, könnten wir nur über sinnlich anschauliche Mengen etwas aussagen. Das ist aber nicht der Fall. Denn: Betrachten wir eine Menge von Anzahlen, dann kann sie ebenso erfüllt gegeben sein, wie eine Menge realer Gegenstände und wir können ihre Elemente zählen. Wir bemerken hierbei, dass es im Fall der Menge vor allem die Operation der Mengenbildung im Zusammen-Meinen ist, die die Erfüllungsfunktion hat. Für die Selbstgegebenheit einer Menge ist nur vorausgesetzt, dass die Elemente der Menge wirklich im einzelnen Zugriff und mit der durchgehaltenen Zusammen-Meinung durchlaufen worden sind und bis zum Abschluss des Aktes als solche festgehalten werden. Die Elemente solcher selbstgegebenen Mengen kann man wieder zählen und so ihre Anzahl selbstgegeben haben. Man kann in unserem bisherigen Vorgehen eine fortschreitende Abstraktion bemerken: Zuerst betrachten wir Mengen aus realen Elementen, dann solche aus nicht-realen Gegenständen (Verstandesgegenstände). Es bleibt allerdings noch ein Schritt zu tun, nämlich der Schritt zu Mengen, deren einzelne Elemente nicht wirklich im jeweiligen Zugriff erfüllt gegeben sind, sondern nur ‚leer intendiert‘ sind. Man könnte diese Art der Intention schon in einer Mengenbestimmung durch eine Bedingung erfüllt sehen, z.B. in {n ε N | 5 < n < 8 }. Diese Art der Intention ist signitiv vermittelt und sie fordert zu ihrer Erfüllung den Vollzug von Rechenoperationen. Aber diese Re-
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chenoperationen können allein mit der Formulierung der Mengendefinition noch nicht als vollzogen angesehen werden. Die ‚n‘, auf die die Intention in der Mengendefinition gerichtet sind, sind nicht als individuelle Gegenstände gemeint, sondern als ‚Anzahlüberhaupt‘. Dies ist ein weiterer Schritt der Formalisierung. Es kann also sein, dass wir eine Menge intendieren, die nur aus solchen ‚Gegenständen-überhaupt‘ zusammengesetzt ist, d.h. aus Gegenständen, denen jede inhaltliche Bestimmung fehlt, ausser der, dass sie Anzahlen sind (und dass sie verschieden sein müssen). Aber dennoch ist die Intention auf eine Menge auch in einem solchen rein formalen Kontext möglich und sinnvoll. Allerdings ist es keine anschaulich erfüllte Intention. Zur Erfüllung verlangt sie die Ausführung der Rechenoperationen. Und, worauf es in diesem Zusammenhang besonders ankommt: Es ist dennoch möglich, in solchen Kontexten Erkenntnisse zu gewinnen. Wir können feststellen, welche Anzahlen die gestellte Bedingung erfüllen und wir können die Zahl der Mengenglieder der Lösungsmenge zählen. Auf dieser höheren Stufe von Erkenntnis ist dann also wieder erfüllte Anschauung des Sachverhalts in vollständig formalisierten Kontexten möglich (z.B. bei der Gleichheit der Anzahl der Lösungen). An diesen wenigen Hinweisen sehen wir schon, wie in dem eher empiristisch orientierten Ansatz der Phänomenologie dennoch verständlich werden kann, welchen besonderen Charakter die Gegenstände der Formalwissenschaften haben und wie auch innerhalb rein formaler Kontexte Erkenntnis möglich ist. Die Möglichkeit der Erkenntnis in formalisierten Kontexten in Mathematik und Logik ist auf der besonderen Weise der Anschauung bei kategorialen Gegenständen (d.h. der spezifischen Erkenntnisgegenstände) begründet: Es ist nicht die sinnliche Anschauung dieses oder jenes konkreten realen Gegenstandes, sondern die Anschaulichkeit von Erkenntnisgegenständen beruht von Anfang an auf der Gegebenheit und der Leistung von ‚Operationen des Geistes‘ und von Dekkungssynthesen zwischen Partialintentionen. Die Operationen des Geistes lassen sich aber mit sinnlich gegebenen Gegenständen ebensogut vollziehen wie mit den Variablen, d.h. den ohne bestimmten Inhalt gedachten ‚Gegenständen überhaupt‘ (‚Mengen-überhaupt‘, ‚Zahlen-überhaupt‘), und: Deckungssynthesen von Partialintentionen gibt es hier ebenfalls. Daher ist aus dem Gesichtspunkt der Phänome-
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nologie Erkenntnis auch in der formalisierten Mathematik und Logik möglich. 2. Die Schwierigkeit der Interpretation des Sinnes von ‚Operationen des Geistes‘ und der Formalisierung Ich möchte jetzt kurz auf einige Detailprobleme der Konzeption der ‚Operationen des Geistes‘ als eine Quelle der Anschauung in der Mathematik eingehen. Die Operationen des Geistes, wie z.B. der Vollzug des synthetischen Zusammen-Meinens (‚und‘) oder das geregelte Zählen, sind sicher eine der Quellen der Anschauung. Es ist jedoch noch nicht klar, auf welche Weise die Operationen als Anschauungsquelle dienen, denn es bieten sich folgende Alternativen: (1) Sie sind entweder selbst, d.h. psychologisch betrachtet, und zwar als Akt in der sogenannten inneren Sinnlichkeit anschaulich, oder (2) ihre synthetische Intention als solche, d.h. als Intention, kann zur Erfüllung von höherstufigen Intentionen beitragen, so wie wir es im Falle des ‚und‘ fanden, oder (3) ihre Leistung bzw. das Resultat der Operation im Sinne der durch gezielte synthetische Aktion hergestellten Deckungssynthesen wird in die Funktion der Anschauungs-Gebung aufgenommen, oder (4) gemeint ist das Produkt der Operationen in der Anschauung oder eventuell sogar in der reinen Anschauung, wie bei Kant. Insbesondere die erste, psychologische Sichtweise der Operationen als Quelle der Anschaulichkeit ist problematisch, denn sie provoziert Fehlinterpretationen in verschiedenen Richtungen. Die erste Möglichkeit der fehlgehenden Interpretation ist die Annahme, dass es nur auf den Vollzug des Bewusstseinsaktes (hier: der Operation) ankommt, damit die kategoriale Intention erfüllt wird. Eine solche Situation liegt bei der Kollektion, d.h. der Menge unter der Verbindung ‚und‘, wirklich vor. Hier können wir wirklich jeden beliebigen Gegenstand mit jedem anderen in einer neuen Menge verbinden. Für die Erfüllung der Intention genügt in diesem speziellen Fall der Vollzug der Operation allein. Das trifft allerdings nur auf wenige Formen der kategorialen Anschauung zu. Schon bei der Erkenntnis ‚Dieses Buch ist grün‘ waren wir bei aller willentlich inszenierten Aktivität, die nötig ist, um z.B. das Buch und dessen Farbe zum Wahrnehmungsgegenstand machen zu können, dennoch davon abhängig, ob das Buch wirklich grün
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ist.7 Wenn der Vollzug der Operation allein schon für die Erfüllung aller Formen von Erkenntnis ausreichen würde, dann könnten wir beliebige Meinungen über die Welt (sinnlich belegte und unberechtigte) jederzeit auch als erfüllte Erkenntnisse haben. Dies geht bei der Erkenntnis über reale Gegenstände nicht und es geht in Mathematik und Logik ebensowenig. Es gibt also in den meisten Fällen kategorialer Intentionen über den bloßen Vollzug einer Bewusstseinshandlung hinaus noch weitere Gegebenheiten, die vorliegen müssen, damit wir erkennen und nicht bloß phantasieren. Hier liegt der entscheidende Beitrag der Deckungssynthesen zur Differenzierung und Genauerbestimmung der Rolle der Operationen im mathematischen Erkennen. Operationen des Geistes und Deckungssynthesen zwischen Intentionen bilden also die Grundlage der Anschaulichkeit von höherstufigen kategorialen Gegenständen. Für die Erkenntnis in der Mathematik bedeutet dies, dass Formalisierung nicht nur möglich ist, sondern dass wir in dem Resultat der Formalisierung dennoch Erkenntnisse gewinnen können. In der Formalisierung wird der Bezug auf bestimmte, konkret bekannte einzelne Gegenstände der Anschauung oder des Denkens durch eine Variable ersetzt, welche lediglich noch Gegenstände eines bestimmten Typs intendiert. So kann die Formulierung für die Operationsgesetze für Zahlen sich nur auf Zahlen-überhaupt beziehen: a+b=b+a. Der konkrete Bezug auf ein individuell Einzelnes, das bestimmte sinnlich gegebene Eigenschaften hat, ist für die anschauliche Erfüllung, z.B. mathematischer Erkenntnisse nicht notwendig. Es sind die Operationen mit Gegenständen-überhaupt, die als Resultat der Formalisierung übrig bleiben. Sie sind der eigentliche Gegenstand und die Quelle der Anschaulichkeit im Rahmen mathematischer und logischer Erkenntnis. Die phänomenologische Erkenntnistheorie macht auf diese Weise einsichtig, warum Formalisierung keine ‚Sackgasse‘ der Erkenntnisgewinnung ist, d.h. warum man mit dem Resultat der Formalisierung noch genügend ‚Gegebenheiten‘, d.h. noch ‚Quellen der Anschauung‘ zur Verfügung hat, um Erkenntnisse gewinnen zu können. Es wäre durchaus vorstellbar, dass unser Erkenntnisvermögen so beschaffen wäre, dass wir zwar aufgrund von Sinnlichkeit Gegenstände hätten (d.h. wahrnehmen können) und auch darüber Erkenntnisse gewinnen könnten (‚Diese Banane ist größer als jene Banane‘)8, aber nur solange, wie die Sinnlichkeit auch die Quelle der Anschauung bliebe. Es
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wäre weiterhin durchaus denkbar, dass Menschen durchaus formalisieren könnten, dass wir aber mit dem Resultat der Formalisierung, d.h. den Aussagen über ein Etwas-überhaupt nichts weiter ‚anfangen‘ könnten. Es ist aber nicht so und der Grund dafür, dass wir auch in formalisierten Kontexten noch erkennen können, liegt darin, dass die beiden Anschauungsquellen, d.h. die der ‚Operationen des Geistes‘ (wie z.B. im Falle des ‚und‘) und auch die der Deckungssynthesen zwischen Partialintentionen auch bei formal ‚verarmten‘ Gegenständen immer noch funktionieren. 3. Husserls Unterscheidung von materialer und formaler Mathematik Husserl ist aber nicht nur ein Philosoph der formal-axiomatischen Mathematik obwohl ich hier einige seine größten Verdienste sehe. Husserl stellt den axiomatisch-deduktiven mathematischen Disziplinen solche gegenüber, die von Grundgebilden ausgehen, die noch nicht in Axiome, algebraische Symbole und formale Verwendungsregeln aufgelöst sind. Er nennt sie materiale mathematische Disziplinen. Die euklidische Geometrie und die elementare Arithmetik sind seine bevorzugten Beispiele hierfür.9 Körper, Fläche, Linie, Punkt, Winkel, Anzahl, Menge, Größenzahl, Ordnung usw. sind unreduzierbare Grundgebilde der Geometrie, die auch anschaulich gegeben sein können.10 Als materiale mathematische Disziplin angesehen, behandelt z.B. die Geometrie apriorische Strukturen des Raums. Die Methode der Erkenntnis von solchen apriorischen Beziehungen ist für Husserl die ideierende Abstraktion bzw. Wesensschau, die er in den Logischen Untersuchungen einführt und die seine Phänomenologie grundlegend von einer empirischen Untersuchung des Bewusstseins unterscheidet. Der Begriff der Wesensschau ist meiner Meinung nach jedoch ein irreführender, terminologischer Fehlgriff Husserls, da er suggeriert, es handele sich bei Husserls Phänomenologie um eine Variante der platonischen Ideenlehre. Dies ist nicht der Fall, denn Husserl hypostasiert nicht die Gegenstände der Wesensschau zu Realitäten eines eigenen Seinsbereichs und er sieht auch nicht die Wesen als ‚realer‘ an als die alltägliche Wirklichkeit. Die alltägliche Welt ist die einzige Realität, die mathematischen Gegenstände und alle anderen idealen Gegenstände sind Gegenstände des Denkens und um von uns verstanden und erkannt werden zu können, müssen sie auf irgend
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eine Weise an der einzigen Realität teilhaben, weil sie zumindest mit der Hilfe von Zeichen intendiert werden müssen. Husserl stellt also das Realitätsgefälle, das bei Platon von den Ideen (Wesen) zur sinnlichen Welt abfällt, buchstäblich auf den Kopf: Wesen sind von der realen Welt und der Anschauung abhängige, ideale Erkenntnisgegenstände, die aber keine eigene Art der Realität haben. Die Methode der Wesensforschung, die Husserl später eidetische Variation nennt, bestimmt den phänomenologischen Begriff des apriori (vgl. FTL, 255, Anm. 1). Dieser kann nicht mit Kants Begriff des apriori gleichgesetzt werden. Kant nennt ein Wissen apriorisch, wenn es unabhängig von aller Erfahrung gemacht werden kann und daher auch vor aller Erfahrung gilt. Im Gegensatz dazu geht die Wesensschau (eidetische Variation) von einem in der Erfahrung gegebenen Gegenstand aus, der willentlich in der Phantasie variiert wird und bei dem wir im Verlauf dieser beliebigen Variation auf die gleichbleibenden Eigenschaften achtgeben. Es sind also Deckungssynthesen zwischen diesen Varianten, die dazu geeigent sind, die Intention auf dasjenige zu erfüllen, das bei allen denkbaren Variationen des Gegenstandes gleich bleibt. Das Verfahren der eidetischen Variation ist daher ein Fall von Erkenntnis, selbst wenn es zu einem großen Teil auf Phantasieakten beruht. Denn: Ob und welche Deckungssynthesen sich in diesem Verfahren einstellen, lässt sich nicht ohne den tatsächlichen Vollzug des Verfahrens erraten. Das phänomenologische apriori gilt somit zwar für jede Erfahrung, es geht ihr aber nicht als Erkenntnis voran, denn um es zu gewinnen, muss man erst die Form der Selbstgegebenheit der entsprechenden Gegenstände aufsuchen. Bezogen auf die besonderen Gegenstände der Geometrie ist die Methode der Wesensschau z.B. an der Aussage ‚Zwei Geraden in einer Ebene, die nicht zueinander parallel verlaufen, schneiden sich in einem Punkt‘ zu veranschaulichen. Was wir tun müssen, um die Einsicht in die Richtigkeit des ersten Satzes zu gewinnen, ist eine beliebige Variation der Art und Weise, in der die beiden gedachten Geraden zueinander stehen. Die begrenzende Bedingung ist dabei, dass die Entfernung der beiden Geraden nach jeder endlichen Strecke abnimmt oder zunimmt, d.h. dass sie nicht parallel verlaufen dürfen. Wenn man aber in jedem solchen vorstellbaren Fall eine ‚Bewegung‘ auf die andere Gerade hin anschaulich feststellen kann, dann kann man auch sicher sein, dass es einen Punkt gibt, an dem sich beide Geraden schneiden.11 Dies gilt – wie gesagt – in jedem vorstellbaren Fall, also
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notwendig bzw. apriori im Sinne des Husserlschen Begriffs. Es handelt sich hier um eine Methode der anschaulichen Ausweisung von Ergebnissen der euklidischen Geometrie. Wir müssen also das schon oben gebotene Diagramm der anschaulichen Quellen und der möglichen Resultate im Sinne der Wahrnehmung und der verschiedenen möglichen Formen von Erkenntnis noch um eine Unterscheidung bereichern: Diagramm 2: Sinnliche Anschauung
Wahrnehmung
Deckungssynthesen
alltägliche Erkenntnis
materiale Mathematik Geometrie Arithmetik
Operationen
axiomatische Mathematik
Dieser Ausgangspunkt bei den apriorischen Eigenschaften von Raumgebilden (und Zeitgebilden) lässt sich einerseits von dem historischen Standort Husserls aus verständlich machen, er lässt sich aber auch von seinem systematischen Standpunkt aus begründen. Historisch gesehen hatte Husserl in seiner mathematischen Ausbildung die Auseinandersetzungen und Neuansätze erlebt, die mit der Umwandlung der klassischen mathematischen Disziplinen einer Wissenschaft von Maß und Zahl in Bereiche einer formalen Mathematik einher gingen. Er gehört zu der Generation von Forschern, für die die mit diesem Übergang verbundenen philosophischen Fragen naheliegen. Von seinem systematischen Ausgangspunkt, d.h. von der Phänomenologie her, steht für ihn ebenfalls fest, dass nicht allein die formal reformulierten Disziplinen Geltung beanspruchen können. Sein Konzept des Erkennens als kategoriale Anschauung und die ideierende Abstraktion als eine Möglichkeit, auch Gesetzmäßigkeiten anschaulich einzusehen, zeigte ihm, dass gerade die material zusammenhängenden Wis-
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senschaften einen eigenen Rechtsgrund in der Anschauung haben. Die formalisierende Reformulierung dieser Disziplin stellt dagegen nur ‚wenn-dann‘-Beziehungen zwischen angenommenen formalen Regeln und daraus abgeleiteten Sätzen her. Aber auch hier kann es Erkenntnis geben. In der materialen Mathematik ist also die Art der Erkenntnis an die anschauliche Gegebenheit der Gegenstände gebunden und an die eidetische Methode der Erkenntnis dieser Gegenstände. Es könnte also sein, dass J.N. Mohanty mit seiner These Recht hat, dass Husserl eine Art ‚doppelter Lösung‘ im Hinblick auf den Charakter der mathematischen Methoden vorschlägt: In den Disziplinen der sogenannten materialen Mathematik, z.B. in der Geometrie und der elementaren Zahlentheorie bevorzugt er intuitionistische, konstruktive Methoden. Im Hinblick auf die Philosophie der formal-axiomatischen Disziplinen scheint dagegen Husserl in Formale und transzendentale Logik (1929) eher zu einem Formalismus zu tendieren, d.h. zu der These, dass (formal-axiomatische) Mathematik in rein formalen Kontexten ihre Erkenntnisziele und -mittel findet.12 Diese Ansicht impliziert, dass man die eidetische Methode, die Husserl im Hinblick auf das Apriori regionaler Ontologien zur Erweiterung unserer Erkenntnisse anwendet, als eine intuitionistische, d.h. konstruktive Methode interpretiert. Das scheint mir jedoch aus verschiedenen Gründen fraglich zu sein. Man hätte zu fragen: Werden die Gegenstände der materialen mathematischen Disziplinen wirklich durch das handelnde Zusammenfügen erst erzeugt? Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Die eidetische Methode beinhaltet wohl eine zielgerichtete Aktivität der größtmöglichen Variation, aber sie ‚erzeugt‘ ihre Gegenstände nicht auf diese Weise und sie kann ihre Eigenschaften auch nicht bestimmen. In meiner Sicht ist die wichtigste Einsicht Husserls bezüglich der Evidenz mathematischer Gegenstände, dass es in beiden Arten der Mathematik, d.h. in den materialen Disziplinen und in den formalen Disziplinen, Evidenzen und berechtigte Erkenntnisse gibt. Dieses Resultat scheint mir im Fall der formalen Kontexte wichtiger und auch innovativer als im Gebiet der materialen mathematischen Disziplinen zu sein. In den materialen Disziplinen ist der Erkenntnisbeitrag konstruktiver Methoden schon durch Kant gewürdigt worden.
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4. Kants Theorie des mathematischen Erkennens im Vergleich Daher gehe ich jetzt kurz auf Kants Theorie der mathematischen Erkenntnis ein. Kants Theorie der Erkenntnis beruht auf dem Grundmuster der Verbindung von Anschauung und Begriff. Im Fall der empirischen Erkenntnis ist die empirische Anschauung in der Form wirklicher Empfindungen die Grundlage der synthetischen Aktivität des Erkennens. Dasjenige, was die Sinnlichkeit mir als ‚Material‘ anbietet, verbinde ich mit der Hilfe eines empirischen Begriffs, z.B. dem Begriff des Hundes, zu einer anschaulichen Darstellung eines Hundes. Gelingt mir diese Verbindung, dann erkenne ich den Gegenstand meines Denkens als wirklichen Hund. Der Begriff, d.h. der Begriff Hund, fungiert hierbei als eine Art Regel. Diese Regel bestimmt, was aus der wirklich gegebenen Sinnlichkeit zur Darstellung des Hundes verwendet werden darf und wie es genau verwendet werden soll. Die Regel schließt auch dasjenige aus der Sinnlichkeit aus, was nicht verwendet werden kann: Beleuchtungseffekte, meine Zahnschmerzen, die Erinnerung an meinen verstorbenen Onkel, denn alles das kann durchaus zugleich in meiner Anschauung und in meinem Geist als Vorstellung auftauchen, aber es kann und darf nicht als Darstellung des Hundes interpretiert werden. Der empirische Begriff fungiert somit hier als eine Regel, die bestimmt, was aus der Sinnlichkeit und auf welche Weise zur Herstellung einer Darstellung des gemeinten empririschen Gegenstandes verwendet werden darf. Er ist sozusagen eine Konstruktionsvorschrift für die Collage aus dem Materialien meiner Anschauung, welche den Hund darstellen soll. Diagramm 3: empirische Anschauung
empirischer Begriff empirische Erkenntnis
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Dasselbe Modell der Verbindung von Anschauung und Begriff findet sich im Fall der mathematischen Erkenntnis. Allerdings ist es jetzt die reine Anschauung, die mit Hilfe des reinen Begriffs verbunden wird und dann etwas darstellt, das dem Begriff entspricht. In diesem Fall nimmt das Subjekt nicht nur die anschaulichen Gegebenheiten auf und versucht aus ihnen durch geeignete Zusammenstellung einen Gegenstand anschaulich zusammenzufügen, sondern die Anschauung des Gegenstandes wird von der Einbildungskraft gemäß dem reinen Begriff erzeugt. Die Herstellung der anschaulichen Seite ist allerdings durch den reinen Begriff streng geregelt, z.B. in der Konstruktion eines Dreiecks gemäß dem Begriff des Dreiecks, der als eine Konstruktionsvorschrift interpretiert wird. Diagramm 4: Kants Modell der mathematischen Erkenntnis reine Anschauung
reiner Begriff mathematische Erkenntnis
Wenn man mit Kant die einzige Quelle der Anschaulichkeit in Logik und Mathematik in den Operationen des menschlichen Geistes erblickt, dann könnte man meinen, dass Husserl keinen neuen Beitrag zur Aufklärung der Möglichkeit von mathematischer Erkenntnis geleistet hat. Schon Kant hat, den Vorgaben seiner empiristischen Vorgänger Locke und Hume folgend, den wichtigen Schritt getan, auch die Operationen als Quelle der Anschauung anzuerkennen. Die Konstruktion ist für Kant das Medium der mathematischen Erkenntnis. Die Konstruktion in der reinen räumlichen Anschauung ist Grundlage der Geometrie, die Konstruktion in der reinen zeitlichen Anschauung die Grundlage der Arithmetik. Raum und Zeit sind bei Kant in erster Linie Formen der sinnlichen Anschauung, die wir vor allem als empirische Anschauung z.B. in der alltäglichen Wahrnehmung kennen. Raum und Zeit können jedoch auch noch in der Weise einer reinen Anschauung selbst anschaulich werden. Die These des Anschauungscharakters von Raum und Zeit
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ermöglicht es Kant, ein Problem zu lösen, das für jeden Versuch einer Theorie der Erkenntnis einen entscheidenden Prüfstein darstellt: Die Erkenntnis in den Formalwissenschaften, Mathematik und Logik muss nämlich als ein Fall von ‚Erkenntnis überhaupt‘ verständlich gemacht werden, d.h. sie muss denselben Mustern der notwendigen Voraussetzungen und Leistungen folgen, wie die empirische Erkenntnis. Was reine Anschauung ist, lässt sich gut im Gegensatz zur ‚empirischen Anschauung‘ verdeutlichen. ‚Empirische Anschauung‘ ist eine Anschauung, die uns zugleich mit dem Gegenstand immer auch unsere Sinnesorgane anschaulich und in der Empfindung gibt. In dieser Hinsicht gibt es zwischen den Sinnen eine Abstufung: Der Tastsinn lässt uns immer zugleich mit dem Ding auch das Tastorgan selbst empfinden. Der Sehsinn und der Hörsinn kommen der Vorstellung einer reinen Anschauung schon näher, obwohl die Empfindungen der Augenbewegung und des Akkomodierens (Scharfstellen) uns unsere Sinnesorgane immer noch empfinden lassen.13 Mit ‚reiner Anschauung‘ ist also eine Form der Anschauung gemeint, in der keines unserer Sinnesorgane in der Weise der empirischen Empfindung affiziert wird. Dennoch ist in ihr etwas sinnlich-anschaulich gegeben. Wie kann das möglich sein? Kant behauptet, dass die Konstruktion in reiner Anschauung das Erkenntnismedium der reinen Mathematik ist: Der Raum für die Geometrie, die Zeit für die Arithmetik. Im Fall des Raums ist Kants Argument dafür, dass Begriff und Anschauung zusammen erst Erkenntnis möglich machen, einleuchtend: Damit geometrische Erkenntnis möglich ist, muss es einen Begriff geben, wie z.B. den der Streckenhalbierung oder des Innenkreises eines Dreiecks – und es muss etwas Anschauliches gegeben sein, das diesen Begriff in der Anschauung darstellt. Dieses anschaulich Gegebene kann aber nicht die real ausgeführte, empirische Konstruktion mit Bleistift und Kreide sein. Die reale Konstruktion mit Bleistift und Kreide ist auch in der empirischen Anschauung sichtbar, d. h. wir haben sie in empirischer Anschauung. Aber wir wissen natürlich, dass die Striche, die wir mit einem solchen Zeichenmittel zeichnen, nie ganz gerade werden und viel zu dick sind, um den richtigen Punkt am Dreieck sicher zu treffen. Gemeint ist daher keine reale, empirische Konstruktion, sondern die Konstruktion in der reinen Anschauung. Diese Konstruktion in reiner Anschauung, die sich an einem Begriff orientiert, wie z.B. dem des
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Dreiecks, ermöglicht erst die konkret ausgeführte, empirische Konstruktion mit Zirkel, Lineal und Kreide und sie geht dieser vorher. Im geometrischen Beweisen denken wir uns die empirisch anschaulichen Striche immer als unvollkommene Verkörperungen von unendlich feinen Linien, die selbst keine Breite mehr besitzen. Dennoch ist es so, dass wir beim Zeichnen oft den Eindruck haben, wir könnten diese ‚gedachten Linien‘ fast schon sehen. Denn bei geometrischen Konstruktionen müssen wir immer genau wissen, in welche Richtung und mit welchem Zeichenhilfsmittel wir weiter konstruieren wollen. Das bedeutet: Diese ‚gedachte Linie‘ geht vor der ausgeführten Zeichnung mit unserem realen Zeichenmittel gleichsam ‚vorher‘ und dieser gedachten Linie folgt unser Stift. Das Besondere dabei ist, dass diese gedachte Linie in der reinen Anschauung nicht nur inhaltsleer gedacht ist, sondern sie ist bereits ‚fast‘ sichtbar. Die gedachte Linie ist sozusagen stets ‚im Übergang zur Sichtbarkeit‘ und auf diese Weise bereits anschaulich. Die gedachten Linien sind ein sinnlich-anschauliches Produkt der Einbildungskraft, welches die noch nicht fertig ausgeführte geometrische Konstruktion ‚weiterführt‘, so dass die empirische Konstruktion ihr folgen kann. Der empirischen Konstruktion mit sichtbaren Linien kommt hierbei nur eine Hilfsfunktion zu, denn die reine Anschauung trägt die entscheidende, erkenntnis-ermöglichende Funktion. Dies sieht man in den Fällen, in denen die empirische Konstruktion so ungenau ist, dass Linien, die sich in einem Punkt schneiden, dies de facto, d.h. wegen der Unvollkommenheit der Zeichnung, nicht tun. Hieraus ergibt sich aber kein Problem für die geometrische Erkenntnis, denn wir wissen, dass eigentlich die gedachten Linien gemeint sind, und dass diese sich im richtigen Punkt schneiden, kann man auch algebraisch beweisen. Wir können z.B. bei einer Winkelhalbierung beweisen, dass die durch die Schnittpunkte zweier Kreise entstandenen Dreiecke kongruent sind und deshalb auch die Höhen in ihnen, die mit den zwei Hälften der zu halbierenden Strecke zusammenfallen. Diese Tatsache des algebraischen Beweisen-Könnens von Eigenschaften der gedachten Linien zeigt zweierlei. Einerseits wird klar, dass der Erfolg der synthetischen Handlung der reinen Konstruktion nicht von dem faktischen Erfolg oder Misserfolg der empirischen Konstruktion abhängt. Es wird aber auch klar, dass es Elemente im geometrischen Beweisen gibt, die überhaupt nicht auf dem Boden anschaulicher Belege beweisen, und zwar weder auf empirischer An-
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schauung noch auf der Grundlage reiner Anschauung. Hier wird eine weitere Grenze von Kants Konzeption deutlich. Kant hat den Aspekt der notwendigen Begrenzung der mathematischen Erkenntnis durch anschauliche Gegebenheiten in seiner Theorie der Konstruktion in reiner Anschauung zu berücksichtigen versucht. Hier könnte man im Hinblick auf die notwendige Beschränkung der Erkenntnis sagen: Es ist nicht jede Konstruktion in reiner Anschauung möglich. Allerdings bleibt Kants Lösung damit auch an die reine Anschauung gebunden, d.h. letztlich immer noch an Anschauung, und daher ist sie nur begrenzt dafür geeignet, Erkenntnisse in rein formalen Kontexten verständlich zu machen. Schon die zeitgenössische Algebra stellt ein kaum zu überwindendes Hindernis für Kants Konzeption des Erkennens in den Formalwissenschaften dar. Die axiomatisch-deduktive Form der Mathematik, so wie wir sie am Ende des 19. Jahrhunderts haben, bleibt für Kants Art des Zugangs zur mathematischen Erkenntnis unzugänglich. In vollkommen formalisierten Kontexten hat die sinnlich Anschauung keine erfüllende Funktion mehr. Sie ist lediglich ein Hilfsmittel für den Vollzug der gegenständlichen Intention, denn die Gegenstände müssen mit der Hilfe von Zeichen intendiert werden und diese Zeichen müssen sinnlich gegeben sein. Dieser negativen Konsequenz könnte man natürlich ausweichen wollen, und zwar indem man versucht, das Verfahren der Konstruktion in reiner Anschauung auch für die anschauungsfernen axiomatischen Disziplinen zu verwenden. Man könnte z.B. die Anschaulichkeit der Zeichen selbst als eine Verbindung zwischen Sinnlichkeit und der gemeinten Sache der axiomatischen Mathematik sehen. Einen Versuch in dieser Richtung kann man in den ersten Ansätzen von Hilberts Metamathematik sehen, der die effektive finite Metamathematik auf Operationen mit den anschaulich gegebenen Zeichen aufbauen will.14 Es gibt eine weitere Alternative, die darauf hinausläuft, dass ein Analogon, z.B. ein bildliches Analogon der mathematischen Gegenstände und der Operationen gewählt wird (z.B. geometrische Gebilde, Handlungen mit Gegenständen, Farben, Töne, moralische Werte ...), welches dann die Verbindung zur sinnlichen Anschauung bietet. Auch dieser Weg scheint mir nicht erfolgversprechend, denn es besteht grundsätzlich eine gewisse Wahlfreiheit bezüglich des gewählten Analogons und damit ist dann eine Variationsbreite der möglichen Ergebnisse unausweichlich.
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Worin liegt also der Fortschritt oder der neue Beitrag von Husserls Phänomenologie zur Beantwortung der Frage der Möglichkeit von mathematischer Erkenntnis? Er liegt einerseits in dem Hinweis auf die zentrale Funktion der Deckungssynthesen bei der Erkenntnisgewinnung im Alltag und ebenso für die mathematische Erkenntnis, aber auch in einer neuen Interpretation des Beitrags der Operationen des Geistes zur Konstitution mathematischer Gegenstände. Der wichtige Punkt ist hier, dass es nicht die psychischen Akte selbst sind, die den Erfüllungsbeitrag liefern. Das ist zunächst nicht einfach zu verstehen, sahen wir doch am Beispiel des ‚und‘, dass es gerade dieses Zusammen-Meinen ist, welches über die sinnliche Gegebenheit der Elemente hinausgeht und die kategoriale Form erfüllt. Aber es ist wichtig zu betonen, dass es sich hier nicht um das psychologische Ereignis in unserem Bewusstsein handelt, das den Beitrag liefert, sondern nur um die Intention und die spezifischen intentionalen Produkte der Akte. Dasselbe gilt im Falle der Erkenntnis von den Deckungssynthesen zwischen Partialintentionen. Deckungssynthesen sind Produkte von Aktivitäten des Bewusstseins, aber sie sind nicht mit diesen Akten identisch und daher auch nicht mit ihnen als Ereignissen in der objektiven Zeit zu identifizieren. Die verkehrte Psychologisierung der Mathematik durch einige Intuitionisten wird also unmöglich gemacht.15 Sowohl Kants als auch Husserls Interpretation der mathematischen Erkenntnis steht in dem Rahmen eines komplexen Gesamtansatzes, der die Leistungen der Wahrnehmung und der Erkenntnis verständlich machen soll. Husserl strebt jedoch von vornherein eine weit differenziertere deskriptive Analyse der Bewusstseinsvorgänge an als Kant. So entdeckt Husserl den Unterschied von schlichten und kategorialen Intentionen im Sinne von einfältigen und nicht fundierten Akten auf der einen Seite und fundierten und komplex aufgebauten Akten auf der kategorialen Seite. Bei den kategorialen Akten haben schon im Bereich der alltäglichen Erkenntnis die Deckungssynthesen zwischen Partialintentionen die entscheidende Rolle der Erfüllung. Diese Einsicht erweist sich bei der Analyse der mathematischen Erkenntnis in ihrer heute vorliegenden formal-axiomatischen Form, in der der Bezug zur Sinnlichkeit nicht mehr aufzuweisen ist, als die entscheidende Zugangsweise. Mathematische und logische Erkenntnis in axiomatischen Zusammenhängen ist deshalb Erkenntnis, weil sie durch Dekkungssynthesen zwischen Partialintentionen und durch die – ebenfalls unsinnlichen – Beiträge der Operationen des menschlichen Geistes
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erfüllt wird. In einer wichtigen Hinsicht ist sie daher auch mit der alltäglichen Erkenntnis gleich, die immer auch auf sinnlicher Gegebenheit beruht. Anmerkungen: 1
Vgl. hierzu D. Lohmar: Über die Zeit in der Mathematik. Überzeitlichkeit, Allzeitlichkeit oder Unzeitlichkeit der mathematischen Gegenstände? In: Alter 1 (1993), S. 403-421. 2 Vgl. Hua XVII, §§ 47-52. Vgl. hierzu auch die Darstellung in D. Lohmar: Edmund Husserls ‚Formale und transzendentale Logik‘. Werkinterpretation, Darmstadt 2000. 3 Natürlich kann hier Husserls Philosophie der Mathematik nicht umfassend behandelt werden. Dies betrifft z.B. Husserls Interpretation der formalen Mathematik als eine ‚Theorie möglicher Theorieformen‘ im Sinne einer abstrakten Strukturtheorie, die alle möglichen Axiomensysteme und die aus ihnen ableitbaren Disziplinen umfasst, vgl. hierzu Formale und transzendentale Logik (1929), Hua XVII, Kap. I, 3, R. Sokolowski: Husserlian Meditations. Evanston 1974, 271-289 und D. Lohmar: Phänomenologie der Mathematik. Dordrecht 1989, Kap. II, 10. 4 Die Setzungsqualität ‚wirklich‘ erfordert über die anschauliche Gegebenheit hinaus noch weitere Bedingungen, z.B. so das normale Fungieren meiner Kinästhesen, den motivierten Vorgriff auf ein weiteres Ich-Kann in dem Sinne einer in vorangegangenen Erfahrungen motivierten Sicherheit, den Gegenstand wieder wahrnehmen zu können und seine Eigenschaften weiter kennenzulernen. 5 Im Fall des Zählens ist dies eine komplexe, geregelte Operation, vgl. D. Lohmar: Phänomenologie der Mathematik. Dordrecht 1989, Kap. II, 4. 6 Kollektiva sind daher keine eigentlichen Erkenntnisintentionen. Husserl bemerkt die Andersartigkeit der Kollektiva als Gegenstände und weist ihnen nicht eine gleichartige Selbständigkeit zu, wie die eigentliche Erkenntnis, die durch die Dekkungssynthesen erfüllt wird. Vgl. E. Husserl: Erfahrung und Urteil. Hamburg 1973, S. 254, 297, 223 und 135. 7 Diese fehlerhafte Übertragung der Charakteristika des ‚und‘ auf alle Formen der kategorialen Anschauung führte zur Husserls Selbstkritik an seiner Theorie des kategorialen Repräsentanten in der 1.Auflage der Logischen Untersuchungen, vgl. meinen Beitrag: Wo lag der Fehler der kategorialen Repräsentation? Zu Sinn und Reichweite einer Selbstkritik Husserls. In: Husserl-Studies 7 (1990), 179-197. 8 Man könnte vermuten, dass Tiere solche Erkenntnissubjekte seien. Dies will ich hiermit nicht behaupten. 9 Vgl. Formale und transzendentale Logik, Hua XVII, 53, 84 und 89, sowie Ideen I, Hua III/1, 150 ff. 10 Man muss hierfür natürlich eine mitgeleistete Idealisierung annehmen, die verhindert, dass man die wirklich gezeichneten Gebilde auf dem Papier und auf der Tafel für die gemeinten Gegenstände hält: Natürlich ist ein Absehen von den Unfertigkeiten und Ungenauigkeiten der Zeichnung mitgedacht, wenn hier von Anschauung die Rede ist. Diese Art der Interpretation der Anschauung konvergiert schon auf Kants Konzeption der reinen Anschauung hin. 11 Es geht hierbei nicht um die genaue numerische Bestimmung des Wachsens oder Abnehmens der Entfernung mit einer linearen Gleichung, mit deren Hilfe man
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dann auch den genauen Schnittpunkt berechnen könnte. Das Verfahren bleibt im Bereich der Anschauung. 12 Vgl. J. N. Mohanty: Husserl’s thoughts on the foundations of logic. [Husserl‘s Formalism], in: Logic, Truth and the Modalities: From a Phenomenological Perspective (Dordrecht: Kluwer 1999), 39. Im ersten Teil von Formale und transzendentale Logik arbeitet Husserl aus, wie es im Rahmen formaler Systeme Evidenzen verschiedener Art geben kann, vgl. auch D. Lohmar: Phänomenologie der Mathematik. A.a.O., Kap. II, 9 und ders.: Edmund Husserls ‚Formale und transzendentale Logik‘. Werkinterpretation, Darmstadt 2000, 144. 13 Vgl. hierzu Kants Ausführung in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie Ausgabe Bd. 7, 156. 14 Der Hilbertsche Grundansatz verweist für die Anschaulichkeit der inhaltlichen Metamathematik auf Verhältnisse an sinnlich gegebenen Zeichen und beweist somit analogisch. Vgl. D. Hilbert: Neubegründung der Mathematik. In: Hilbertiana, Darmstadt 1964, 12-32, S. 18 f. und P. Bernays: Über Hilberts Gedanken zur Grundlegung der Arithmetik. In: Jahresberichte DMV 31 (1922), S.10-18. Vergleichbare Ansätze finden sich bei Ch. Parsons (Mathematical Intuition. In: Proceedings of the Aristotelian Society 80 (1979-1980), 145-168, hier 153 ff.) und bei Kurt Wuchterl (Die phänomenologischen Grundlagen mathematischer Strukturen. In: Philosophia Naturalis 11 (1969), 218-246, besonders S. 225-231). 15 Ich denke hierbei nicht an L.E.J. Brouwer, sondern an A. Heytings These, dass ein mathematischer Gegenstand (z.B. ein Satz) erst ab dem Zeitpunkt seiner Entdekkung gültig ist. Vgl. A. Heyting: Intuitionism. Amsterdam 1956.
Psyche or Person? Husserl’s Phenomenology of Animals. Christian Lotz, Michigan State University Abstract: Husserl was confronted with the revival of anthropology through thinkers such as Scheler, Heidegger, Plessner, Driesch, von Uexkuell and Buytendijk. This historic network affected his thinking more than we are able to see if we only examine the surface of transcendental phenomenology. In my paper I shall elucidate Husserl’s claims about animals and the “anthropological world.” To do this, I shall first consider Husserl’s Ideas II, since in my view not only is the current research on this text misguided, but when we attend to it closely, we find much to work in it with regarding the “animal question,” including Husserl’s claim that animal consciousness is not personal but psychic. Second, I will briefly explore Husserl’s “intersubjective approach” to animals, which is found in some of his as yet untranslated manuscripts. I will conclude with the thesis that the intersubjective approach to the problematic shifts us back, ultimately, to Husserl’s considerations in his Ideas II.
Introduction As is well known, the ontological as well as the moral status of nonhuman animals1 has been a philosophical problem from the start of western philosophical thinking.2 Animals somehow speak, and yet somehow they do not; somehow they communicate, somehow they do not; somehow they are social creatures, somehow they are not. We can be amused by them, though we are often afraid of them. We can use them for therapies, as well as try to love and even punish them. For indeed, some animals become treasured members of human families. Despite the status of the “problem of animals” within philosophy, it seems to be quite unusual to connect Husserl’s philosophy with such a problem. Husserl’s theory, which is often still conceived as an abstract and methodological philosophy, seems to be inappropriate for a demanding approach to the consideration of animals. On the one hand, this view is correct: we can quickly discover that Husserl is unable to contribute to current philosophical debates and research about animals, given that these battlefields became quite complex during the 190 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 190–202. © 2006 Springer.
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last decade and the arguments are therefore presented on a very high level.3 On the other hand, Husserl wrote more on “concrete phenomena” than most (non-Husserlian) scholars know; especially since in the English speaking world scholars tend only to be familiar with Husserl’s main published works. Thus, although we can find many manuscripts, in which Husserl deals with animals, it will probably not be very successful to push Husserl into current research on animals nor into the ethical debate about them. Nevertheless, it does seem to be reasonable to consider Husserl’s reflections on the status of animals within his own theoretical framework, which is the primary intention of this essay.4 By doing this, we not only shift our attention to some unexplored sides of Husserl’s thinking, but we also give ourselves the opportunity to shake some of our fundamentally “mistaken” conceptions about the founder of phenomenology, especially since our consideration will force us to rethink the general distinctions that we draw between eidetic, pure and ontological concepts. For “the” animal seems to be located somewhere in between these distinctions, the consequence of which is that Husserl implicitly rethinks his fundamental conceptual decision through his reflections on what we both are and are not, namely animals. As many scholars know, Husserl was confronted with the “revival” of anthropology through thinkers such as Scheler, Plessner, Driesch, von Uexkuell and later on through Buytendijk and Gehlen. He was also confronted with this revival through Heidegger’s lecture on The Fundamental Concepts of Metaphysics, since in this text Heidegger talked about animals (1929/30).5 This historic network, which consisted of anti-Husserlian clusters, affected Husserl’s thinking more than we are able to see if we restrict ourselves to examining only the surface of transcendental phenomenology.6 If we follow Husserl in his “manuscript jungle” we quickly recognize that he shifts his own theory towards the question of the anthropological world and the question of man and animal in his later period. Implicitly, anthropological considerations become a central focus in all of Husserl’s later writings.7 For instance, in Cartesian Meditations Husserl uses mainly the word “human beings,” which indicates a change in his “normal” philosophical vocabulary, and in the context of the Crisis, Husserl reflects explicitly on the question of how human beings as human beings are constituted within the transcendental dimension. Moreover, the additional volume on the Crisis, which ap-
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peared in publication a few years ago, is focused on this question. Husserl states in 1933: “Mankind itself belongs to the world, to interpret world ontologically means to interpret mankind’s whole and concrete structure.” (Hua XV, 617).8 I shall develop my reconstruction of Husserl’s considerations about animals in two steps. As a first step, I shall refer to Husserl’s Ideas II, with the intention of elucidating his reflections about animated nature as expressed in this book, since in my view this text is still not adequately considered in the current research. 9 In a second step, I will point out Husserl’s later “intersubjective approach” to animals, after which I will conclude with the thesis that the later problem through which Husserl tries to conceive animals as “alien others” shifts us back, ultimately, to the earlier – ontological – problematic. The discussion of animals, therefore, can help in clarifying basic Husserlian distinctions, such as the distinction between person and psyche. What I shall not consider, however, are the cultural, historical or even generative aspects of phenomenology,10 for this issue is better handled within the cultural sciences, especially as animals are inscribed through language, metaphors and symbols in our everyday cultural patterns and historically accumulated experience. Animals are part of our intersubjective life-world and constitute parts of its sense. This is endured by the fact that for some people animals became “friends” and in some cultures animals are part of human daily life and routine. They enter the life-world as intersubjectively constituted beings and extend its horizons. In an additional sense, animals are inscribed in our language, used as symbols and needed for analogies and descriptions. The whole development of modern technology, in fact, refers itself to an analogy with animated nature. Let me give two examples: the fact that we developed airplanes that can “fly” (although they do not fly in the sense of a self-activity), refers to the observation of birds, in such a way that the full meaning of what we call an “airplane” would include animal references to, if we would analyze it as an object of our life-world. Put differently, we would not understand what it means “to fly” without reference to animals that fly. Likewise, we often describe ourselves or our athletic achievements through analogies that refer to animals (“He is as strong as an elephant,” “Her movements are cat-like”). And through various forms of media, including television, radio and storybooks, animals are presented as part of our everyday world. In other words, animals are pre-
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sent in our world because of its historical development, which includes them as a necessary part of the understanding of our world. Husserl observes in some manuscripts the foothills of those cultural developments and patterns, that is to say, the consequence that the animal became part of our modern homeworld. The animal was humanized, and now is deeply sedimented as a “home comrade” within our historic experience and everyday life.11 Nevertheless, those historical and genetic questions lead us back to the question about the eidetic structure of our “animal experience,” especially since before we can ask about the genesis and history of an object, we must have discovered its ontological structure. Ontology, as Husserl puts it, functions as a “guiding thread for questioning back” (further inquiry) [Leitfaden der Rückfrage] (Hua XV, 617), which is the basis for any form of genetic phenomenology. Therefore, ontology in the Husserlian sense, is methodologically prior to any form of genetic question. The Ontological Problem In Ideas II Husserl differentiates various kinds of regions of being that are based in his general theory of reason and acts. According to this theory we have to distinguish between three classes of acts: (1) theoretical acts, which refer ideally to being(s), (2) practical-willing acts, which refer, ideally, to purposes, and (3) emotional acts, which refer ideally to values.12 It is rather interesting that, according to Husserl, we must distinguish between different ontological regions. The first region we can discover is called “material nature,” the second region “animated nature,” and a third region is referred to as the “historic, cultural or social surrounding world” [Umwelt]. On the basis of these different regions, respectively, Husserl draws the distinction between nature, soul or consciousness, and person.13 At the beginning of his reflections about animated nature in Ideas II, Husserl surprises his readers, because he identifies the soul of human beings and the soul of animals. Both appear, according to Husserl, in connection with “material bodies” [materiale Leiber] (Hua IV, 33), by which he means localized spatial characteristics and qualities of things that are constituted through causal circumstances. Although Husserl speaks afterwards only about the human being and
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no longer about the animal, we nevertheless are led to suppose that Husserl does not make any distinction between his concept of man and his concept of animal at this level of the problem. Instead, both animal and man belong to the “sense layer” of our world that Husserl calls in Ideas II “nature,” and in his later works “anthropological world,” both of which are constituted within the transcendental dimension. In general, Husserl conceives the phenomenon “animal” as being exactly the kind of sense (Sinn) that is constituted whenever we describe consciousness with the prospect of and regarding its natural and causal circumstances, as well as regarding its lived body. In other words, we find the sense (Sinn) layer called “psyche” or “animal” if we conceive pure consciousness from a specific perspective that we take up towards it. Whenever we interpret consciousness as natural, that is to say, within and in relation to its causal circumstances, we find a psyche and a body. To put it still in other words, the discovery of soul and nature is dependent on another attitude. In anticipation of our further explanations, we can add that the anthropological world and the animal emerge whenever we abstract from the historic dimension of consciousness as well as when we refer to a consciousness through its features, its qualities and their intuitive fulfillment. However, in this first case we do not conceive consciousness as an individuated development. For Husserl, psyche or soul can be described in analogy to things. In other words, if we conceive consciousness as something that has qualities or certain features, we describe it as if it would be a thing. For example: if I describe myself as something that can be either friendly or unfriendly, I have already interpreted myself as something that has two qualities, namely “friendliness” and “unfriendliness.” In the flow of our experiences, those qualities can either be fulfilled in the Husserlian sense of intuition or they can remain unfulfilled. According to Husserlian principles, we are still on the level of the animated soul and within the realm of nature. Souls are like things. I shall clarify this position next. [A] The phenomenon “psyche” – which is consciousness that is understood by itself as psyche – turns up through indications of intellectual or sensual dispositions, psychic faculties or characteristics. The psyche has to be understood as a unity and substrate of those faculties, under which Husserl subsumes, firstly, intelligence, such as calculating; secondly, bodily movements or sensual faculties, such as vision
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or taste; and thirdly, psychic features, such as “aggression” or “friendliness” (Hua IV, 122). The psyche, conceived as a unity of sense, indicates itself through its features. It can be fulfilled as a unity in the process of experience and can be ascribed to animated beings. From this it follows that Husserl ascribes to animals exactly the same psychic characteristics that he ascribes to human beings. In a first glance, Husserl’s thesis sounds problematic, because one could ask whether the mice who frolic through the backyard of my house, or whether the spiders who live under my carpets, can be described as “shrewd,” “friendly” or “intelligent.” However, for Husserl the crucial point is not whether we can ascribe specific characteristics to animals; rather, what is crucial is the more central fact that we understand animal psyches in principle as a unity of qualities that can be fulfilled or negated in some way or another. In other words, the mouse that I observe in my backyard, displaying certain characteristics, usually acts in a typical and ruled manner. I understand the mouse because she has qualities such as being “funny,” “nervous” or “aggressive,” and those characteristics always re-appear when I observe the mouse under specific circumstances, that is to say, within her natural environment. For instance, when the mouse sees me, she might run away in a funny manner. Obviously, in this case I understand the mouse as a sort of “system” with typical “behaviors,” that is to say, as a substrate with certain indicated properties (characteristics) to be fulfilled in our experience and expressed through the lived body. The mouse behaves in a typical manner within similar situations through which the indications are fulfilled, the consequence of which is that the general mouse becomes a specific mouse for the observer. In other words, I can refer to my mouse as something that has a character. [B] “Psychic properties,” as Husserl puts it in Ideas II, “are unities of manifestation” (Hua IV, 121).14 Let us take an example: if I get a new cat, she enters my world as an unfamiliar object that has just a few features. This unfamiliarity will change into familiarity after some time. In this sense I get to know my cat, and after some time I know what my cat is typically doing. Nevertheless, from the start I have understood my cat as something that has yet unexplored (but indicated) properties, which can be possibly fulfilled in the future. Someone could raise the objection that Husserl’s view that we usually get to know only animals that we have already integrated into our homeworlds is too restrictive. I.e., are we able to make such a claim
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about animals in general? Dogs and cats are part of our culture and can be conceived through the process of fulfillment as characters. For instance, dog owners can identify their dogs immediately in a group of similar looking dogs. They are able to do so because for them their dogs are constituted as characters over time. But what am I able to say about pigeons, or about the mice that live in the bushes behind my house? After a closer look, we can see that, following Husserl, it is possible that I could get to know my mice, especially if I invested enough time and the right instruments to observe these creatures. After some time, I would even learn to differentiate my mice. Where other people would only see two “mice,” without any possibility of making a difference between them, I would be able to see two different psyches with different behaviors, and I would be able to identify them even within thousands of other mice. Even if I don’t have the right instruments to observe them and my attempt to differentiate failed, I presuppose that I am in principle able to get to know them and their different characters. In other words, according to the Ideas II, a character is dependent on the attitude towards animated beings and the result of becoming familiar with animated beings and their properties. [C] At the next level of Husserl’s considerations, we discover that the psyche is just one specific self-interpretation, constituted by transcendental consciousness. According to Husserl’s Ideas II, we must draw a distinction between psyche and person. Husserl’s remarks are rather difficult to accept, however, because one must understand that person and psyche are just two different ways of interpreting the same (transcendental) consciousness. They are not substantially different from each other. Nevertheless, we can see that Husserl does think that animals lack the constitutive layer of personality and spirit [Geist], namely for two reasons. First, animals lack individuality because individuality is opposed to typical behavior and constituted throughout its own history. Second, animals lack individuality because we do not have any chance to conceive animals independently from their natural circumstances, that is to say, in regard to their bodies.15 In Husserlian words, animals cannot be conceived within the personalistic attitude. Animals have a necessary connection to their bodily appearance (because they are just psyches), persons have not.16 Husserl writes: That is to say, if we could eliminate all spirits from the world, then that is the end of nature. But if we eliminate nature, 'true', Objective-
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intersubjective existence, there always still remains something […]. (Hua IV, 297)17
In addition, we must come to the conclusion that the psychic character of my cat is not an individual one in the strong sense of the word, because the psyche is constituted only through typical features and properties. “It must not be forgotten here,” as Husserl puts it, “that individuality in the spiritual sense is something quite different from individuality in nature” (Hua IV, 298). The so-called individuality of my cat is at best only a natural individuality; any “spiritual” or “personal” individuality, however, is an illusion. According to Husserl, if another cat comes into my world that has exactly the same typical bodily characteristics and behaviors, that is to say, the same movements, the same facial expression, etc., it would be impossible to differentiate both cats as conscious individuals or persons, since I have no chance to find characteristics of the cats that are not connected to natural circumstances. Indeed, according to Husserl, the spiritual and personal constitution of consciousness comes to pass because we do not need to conceive consciousness within its typical circumstances (Geist). Rather, personality is constituted in terms of its history, in the sense of what the Germans call “Bildung.” A person forms herself through her own experiences, her own will, decisions and valuations, her own freedom. Consequently a person is, according to Husserl, a “bearer of its habituality, and that implies that it has its individual history“ (Hua IV, 300). To give an example: a person can become “older” in the strict sense of the word. She can learn and become “wise,” because her personal formation is connected to “reason” [Vernunft] and to a normative basis of consciousness.18 A Husserlian cat can only become older in connection to her bodily appearance, but she is unable to develop her character throughout temporal self-constitution, that is, Bildung. She can neither become a “better” person nor transform into an evil one. “Animal excellence” in the moral sense is not an intrinsic possibility of my cat. In other words, she lacks non-psychic time. The spiritual level is auto-constituted and therefore it does not have to be conceived in terms of bodily schemas. In his Crisis Husserl writes: “It is the person that is becoming in its life. Its being is continually becoming.“ (Hua VI, 272).19 According to Husserl, we can understand animals as if they make decisions, but those decisions are conceived as qualities or features of a substrate, and they are not conceived as
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historical formations on their own, through which a personality characterized by features, such as dignity, values, decisions and other experiences, is formed. My cat can have awful experiences, but she is unable to experience destiny, dramas or tragedies, because those experiences are built upon self-formation and an autoconstituted selfrelated history of its own. All the dead mice and dead birds that my cat brought into my house are part of her character; they belong to her psychic experience, but according to Husserl, those experiences do not form a substantial personality. Nothing is built up through intrinsic learning and reason.20 I would like to turn now, in a last step, to Husserl’s later considerations about animals, because – as Husserl puts it – we have to “conceive static layers […] and their ongoing constitution of surrounding worlds as individual genesis” (Hua XV, 611), which forces us to take the problem of intersubjectivity into consideration.21 The Intersubjective Problem The introduction of the intersubjective problem of animals is not really a new dimension within Husserl’s thinking. The heart of the matter can be seen in Husserl’s attempt to understand animals in the context of his theory of the constitution of space and body through intersubjectivity, and the constitution of another’s psyche through empathy.22 Below, I sketch his main thought. [A] First, according to the later Husserl, we constitute through intersubjectivity an objective world that he calls “nature.” Nature, seen from this point of view, is the ideal correlate of all subjective references to the world. In order to identify things as things we have to presuppose intersubjective processes of unification. To grab things, to point at things, or even to look at things in the world, implies relations to others. The first level of this intersubjective constitution is the objective world, which can be described as an ideal correlate that lacks any sense of purpose and value, that is to say, the objective world is a world that has no reference to will and emotions. It is a pure spatial and bodily world, which we all have to acknowledge when we begin to interact, and animals are part of this intersubjective process. For example, when I see my cat running around a tree, then I am only able to understand her because I think that she sees the tree as
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well. The tree is, in this situation, an intersubjective thing within a world that I share with my cat. If I observe my cat looking out of the window, then her and my look together constitute the world. In this situation, the world is our world, and the animal other in this basic sense is already inscribed in my experience. [B] Second, the constitution of the objective world is a bodily process. In his later thought, Husserl anticipates Merleau-Ponty’s consideration of animals in his lectures about nature. Our movements and body schemata bring forth a world of “flesh” that is shared with animals. Movements of horses, as Husserl puts it, are only understandable because I experience the movements of the horse as if I would stretch and move myself in the way that a horse does. These empathic processes are constituted through bodily associations. [C] Third, psychic faculties of animals are constituted through the modification [Abwandlung] of my own faculties. Even if I ask myself what it is like to be a bat, and what it is like to use sonar, I am only able to understand my considerations because I imply that the bat has a better hearing than me. In this sense the animal is just another other who is related to my Ego. Every modification of my experience through an animal is still a modification of my own Ego. For instance, tentacles are understood because they are like my fingers. This anthropomorphism is, according to Husserl, a necessary part of our experience, and it leads us to the point at which we realize that we must define the animal as an a-normal experience of our own experience, given that as we encounter in interaction with animals our own experience in other possibilities.23 Interestingly, since the animal belongs only to the intersubjective constitution of nature, without even recognizing this move, Husserl pushes the problematic back to the level of the Ideas II, insofar as he maintains that animals are not part of a shared world that is constituted through will and emotions, that is to say, through purpose and value. By focusing on nature, the animal problem leads Husserl back to his earlier theory of personality. According to this thesis, animals are not “bearers of a historic world” [Träger einer historischen Welt] (Hua XV, 180), and therefore they do not have a “historic time” (Hua XV, 181). This is to say that they do not grasp themselves in a coherent connection between generations and their history. No knowledge is transported or accumulated throughout history for animals. In other words, animals do not belong to the world of the spirit; they are
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not constituted, as Husserl puts it in a late manuscript, within “an individual genesis” (Hua XV, 611). Thus, while it seems to be the case that even the theory of intersubjectivity fails to bring out a new point in Husserl’s theory, his theory does attempt to explain why the world of our “animal others” is still only a shared world of nature. Although animals became our “homecomrads” in modern times, they are unable to share our world of moral claims, and values. Neither can they share our moral recognitions and negations. Thus, at least if one wants to follow in Husserl’s footsteps, the talk of “animal others”24 in phenomenology should be reconsidered. Notes: 1
For simplicity’s sake I shall refer hereafter to non-human animals as “animals.” I would like to thank Dieter Lohmar for his comments on an earlier version of this paper as well as Corinne Painter for her critique, advice and corrections of other versions of this manuscript. According to Husserl’s Ideas II both human and nonhuman animals belong to the animated world, which is characterized through the natural interpretation of body and psyche, as well as through their connection. 3 See especially these new contributions to the debate about the moral and ontological status of animals: Scruton, Roger, Animal Rights and Wrongs, London: Metro Books 2000; Cavalieri, Paola, The Animal Question: Why Non-human Animals Deserve Human Rights, tr. Catherine Woollard, Oxford University Press 2001; DeGrazia, David, Taking Animals Seriously: Mental Life and Moral Status, Cambridge University Press 1996; Scully, Matthew, Dominion: The Power of Man, the Suffering of Animals, and the Call to Mercy, New York: St. Martin's 2002. The classical text is still Singer, Peter, Animal Liberation, reissued with a new preface, Ecco (HarperCollins) 2002. 4 So far there has been little research done on this question. See especially the special edition of Alter, which includes the following articles. Beck, Philippe, “Question de projection animale,” in: Alter 3 (1995), 27-37, and Cabestan, Philippe, “La constitution de l'animal dans les Ideen,” in: ibid., 39-79; Depraz, Natalie, “Qu'est-ce que l'animalité transcendantale?,” in: ibid., 81-114; Houillon, Vincent, “Pauvrement habite l'animal ...,” in: ibid., 115-150; Soysal, Ahmet, “Immanence et animalité,” in: ibid., 151-165; and – for general anthropological considerations – see Kühn, Rolf, “Animalität, Sexualität und ‘Urkind’,” in: ibid., 345-381. General considerations on animals within the tradition of continental philosophy can be found in Steeves, Peter (Ed.), Animal Others, On Ethics, Ontology, and Animal Life, New York: State University of New York Press 2000. 5 See especially McNeill, William, “Life beyond the Organism: Animal Being in Heidegger’s Freiburg Lectures. 1929-30,” in Peter Steeves (Ed.), Animal Others, On Ethics, Ontology, and Animal Life, New York: State University of New York Press 2000, 197-249. McNeill tries to push Heidegger’s considerations into the French debate about “Ecopolitics.” The difference between Husserl and Heidegger must be seen in Husserl’s lack of a broader analysis of the concept of environment; for Husserl conceives environment primarily as a problem of the constitution of space and the other’s body. 2
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Husserl’s personal comments about his historic environment and the anthropological atmosphere he was working in are rare. Even in his letters, he seldomly refers in detail to other positions, although in 1930 Husserl refers implicitly to Scheler and Heidegger in a lecture entitled “Phenomenology and Anthropology” that was delivered for the Kant Society. However, while Husserl mentions anthropology in the lecture title, he does not talk about anthropology at all. Nevertheless, besides Husserl’s reflection on the animated world in Ideas II, anthropological considerations can be found in Hua IX, XIII-XV as well as in the second Crisis volume. 7 For Husserl’s references to cultural anthropology see San Martin, Javier, “Husserl and cultural anthropology, Commentary on Husserl's letter to Levy-Bruhl,” in: Recherches Husserliennes 7 (1997), 87-115. And for a systematic approach to the problem see Richir, Marc, “Métaphysique et phénoménologie: Prolégomènes pour une anthropologie phénoménologique,” in: Éliane Escoubas; Bernhard Waldenfels (Eds.): Phénoménologie française et phénoménologie allemande - Deutsche und französische Phänomenologie, Paris: L'Harmattan 2000 (Cahiers de philosophie de l'Université de Paris XII - Val de Marne; 4), 103-128. 8 All translations in this paper, except the references to Husserl’s Ideas II, are my own. [“Und die Menschheit gehört selbst zur Welt, Welt ontologisch auslegen ist Menschheit darin auslegen in ihrer gesamten und konkreten Struktur“]. 9 Most of the current debates focus on the problem of the body, without taking into account that Husserl’s phenomenology of the body has its place within a broader ontological conception of the connection between psyche, body and person. A very good overview of research on the Ideas II can be found in: Nenon, Thomas, Embree, Lester (Eds.), Issues in Husserl's Ideas II, Dordrecht: Kluwer 1996 (Contributions to phenomenology; 24), 135-160. See especially Ullrich Melle’s contribution “Nature and Spirit,” in: ibid., 15-35. 10 See especially Steinbock, Anthony, Home and Beyond. Generative Phenomenology after Husserl. Evanston: Northwestern University Press 1995. 11 An example of a detailed analysis of the animal as comrade can be found in Elisabeth Behnke’s reflections on the possibility of an “intercorporeal/interspecies body of peace.” See Behnke, Elisabeth, “From Merleau-Ponty’s Concept of Nature to an Interspecies Practice of Peace,” in: Steeves, Peter (Ed.), Animal Others, On Ethics, Ontology, and Animal Life, New York: State University of New York Press, 93-116. 12 The origin of this theory within the post-idealistic German philosophy of the th 19 century, especially through Herbart, will not be explored in this essay. For a general overview of the historical background see Wolfhart Henckmann’s introduction to Herbart, Johann F., Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, Hamburg: Meiner1993. For an overview of the distinctions that Husserl draws see Melle, Ullrich, “Objektivierende und nicht-objektivierende Akte,“ in Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung, ed. Samuel Ijsseling, Dordrecht: Kluwer 1990, 35-49. 13 Because sciences are built upon these ontological distinctions, Husserl introduces a phenomenology of the science of nature, of psychology and of the humanities [Geisteswissenschaften]. However, I do not have to go into detail about this here, inasmuch as I am only concerned with showing at which point Husserl begins to introduce his concept of the animal. 14 „Seelische Eigenschaften sind … Einheiten der Bekundung“. 15 See Hua IV, 124: „Die Seele (bzw. das seelische Subjekt) verhält sich unter den zugehörigen Umständen und in geregelter Weise.“ In other words, the constitution of a psyche is always dependent on its circumstances and is ruled by them. 16 Husserl holds the position that animals cannot think theoretically (see Hua IV, 134), which is Scheler’s opinion as well. Scheler remarks that animals are unable to
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have eidetic, that is to say conceptual, insights. See Scheler, Max, Gesammelte Werke IX, Bern 1954 ff., 40. 17 „Nämlich, streichen wir alle Geister aus der Welt, so ist keine Natur mehr. Streichen wir aber die Natur, das ‚wahre’, objektiv-intersubjektive Dasein, so bleibt noch immer etwas übrig [...]“. 18 The consequence of Husserl’s consideration is the thesis that animals do not have „culture“ since culture is constituted through human actions and the creation of purposes (see Hua XV, 180), and see Hua XV, 181: „A bee does not act.” For an overview of Husserl’s conception of spirit in Ideas II see especially Drummond, John J., “The 'spiritual' world: The personal, the social, and the communal,” in: Thomas Nenon / Lester Embree (Eds.): Issues in Husserl's Ideas II. Dordrecht: Kluwer, 1996 (Contributions to phenomenology; 24), 237-254. 19 „Das in diesem Leben Werdende ist die Person selbst. Ihr Sein ist immerfort Werden“ (Hua VI, 272). 20 Husserl writes: „Menschliche Person, die ihre geistige Individualität hat, ihre intellektuellen, praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, ihren Charakter, ihre Sinnesart“ (Hua IV, 139). 21 „die statischen Schichtungen [...] letztlich wie ihre aufsteigende Umweltkonstitution als individuelle Genesis anzusehen“. 22 See the interesting contribution from Natalie Depraz, “The Husserlian Theory of Intersubjectivity as Alterology: Emergent Theories and Wisdom Traditions in the Light of Genetic Phenomenology,” in: Journal of Consciousness Studies 8 (5-7) (2001), 169-178. 23 See especially appendix X and text 35 in Hua XV. 24 See note 3.
Wie sich Bewusstsein mit Hilfe der Husserlschen Phänomenologie in die (Neuro-)Wissenschaft einbeziehen lässt Eduard Marbach, Universität Bern Zusammenfassung: Der Vortrag argumentiert für eine methodologisch kontrollierte Integration wissenschaftlicher, speziell neurowissenschaftlicher Daten bezüglich Bewusstsein und phänomenologischer, Erste-Person-Daten, die mittels Reflexion auf Bewusstseinserlebnisse und deren eidetischer Beschreibung gewonnen werden. Leitend ist der Gedanke, dass für Wissenschaftler, die die Arbeitsweisen des Gehirns mit dem Ziel einer wissenschaftlichen Erklärung von Bewusstsein erforschen, eine klare begriffliche Vorstellung von dem zu erklärenden Gegenstand unerlässlich ist. Zur Diskussion gestellt wird die These, dass gerade phänomenologische Begriffe, in denen das zu bestimmen gesucht wird, was Bewusstseinserlebnisse ihrer Möglichkeit nach ausmacht, eine heuristische Leitfadenfunktion bei neurowissenschaftlichen Experimenten bezüglich aktuell auftretender Bewusstseinserlebnisse ausüben sollten. Am Beispiel von Arbeiten über mentale Vorstellungsbilder und der Suche nach deren neuronalen Korrelaten wird die These näher illustriert und abschließend auf einige methodologische Vorteile dieser Weise der Integration hingewiesen. Abstract: The paper argues in favor of a methodologically controlled integration of scientific, especially neuroscientific, data concerning consciousness and phenomenological, first-person data that are gathered with the help of reflection upon conscious experiences and their eidetic description. The main idea is that for scientists, when they study the workings of the brain with the aim of looking for a scientific explanation of consciousness, a clear conception of what they are seeking is requisite. The paper proposes that phenomenological concepts by which one seeks to determine that which makes up conscious experiences according to their possibility in principle, should precisely play a heuristic role in neuroscientific experiments concerned with actually occurring conscious experiences. The thesis is illustrated in more detail with regard to work on mental imagery and the search for the neural foundations of imagery. In conclusion some methodological assets of the present proposal for integrating third-person, neuroscientific data and first-person phenomenological data are highlighted.
I. Einleitende Bemerkungen In ihrem Buch A universe of consciousness. How matter becomes imagination beschreiben die Neurowissenschaftler Gerald M. Edel203 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 203–234. © 2006 Springer.
204 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? man und Giulio Tononi (2000) gleich zu Beginn die Methodologie für Untersuchungen zum Bewusstsein in einer Weise, die meinem eigenen Verständnis der Sache zu entsprechen scheint. Sie schreiben, dass es um das Bewusstsein ganz besonders bestellt sei, dass „there is something special about consciousness“. Hiermit lenken sie die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass bewusste Erfahrung sich als Ergebnis der Arbeitsweise in jedem individuellen Gehirn ergibt und dass sie nicht in direkter Beobachtung geteilt werden kann, wie es die Gegenstände des Physikers können. Sie sprechen von einem „merkwürdigen Dilemma“ in folgendem Sinn: „Introspektion allein ist wissenschaftlich nicht befriedigend, und obwohl die Berichte der Leute über ihr eigenes Bewusstsein nützlich sind, können sie doch die zugrunde liegende Arbeitsweise des Gehirns nicht aufdecken. Zugleich können aber Untersuchungen des Gehirns selbst, für sich genommen, nicht vermitteln, wie es ist, bewusst zu sein. Diese Beschränkungen legen nahe, dass man auf besondere Weise vorgehen muss, um Bewusstsein in das Haus der Wissenschaft zu bringen („ ... to bring consciousness into the house of science“, p. xi, meine Hervorh.). Der Titel meines Beitrags deutet an, wofür ich im Folgenden argumentieren möchte. Ich gehe davon aus, dass es zu den Hauptzielen der Wissenschaft gehört, Theorien zu konstruieren und gutgeplante Experimente durchzuführen. Wenn es nun wahr ist, dass man experimentell nur das untersuchen kann, wovon man Begriffe hat, und wenn der Untersuchungsgegenstand Bewusstsein ist, dann – so will ich argumentieren – hilft Husserlsche Phänomenologie bei der Bildung von differenzierten Begriffen, die Bewusstseinserlebnisse betreffen. Freilich, selbst alltägliche Begriffe können im Dienst experimenteller Forschung über Bewusstseinserlebnisse ihren Dienst leisten. Wenn es sich aber darum handelt, die feineren Details der Bewusstseinserlebnisse zu erforschen, wie es klarerweise mit den neuen bildgebenden Verfahren der Gehirnforschung der Fall ist, dann können alltägliche mentale Begriffe nicht länger genügen, die experimentelle Arbeit in den Neurowissenschaften des Bewusstseins zu leiten. Meiner Ansicht nach sollte es die Norm sein, auf phänomenologisch geklärte Begriffe zurückzugreifen, wenn Bewusstseinserlebnisse den Untersuchungsgegenstand bilden. Um diese Behauptungen plausibel zu machen, ist es wichtig, sich deutlich zu machen, dass Phänomenologie keine Spielart einer mehr oder weniger willkürlichen persönlichen Introspektion, Retrospektion oder Selbst-Beobachtung ist. Vielmehr wird phänome-
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nologische Reflexion auf Bewusstseinserlebnisse mit dem Ziel durchgeführt, Begriffe davon herauszuarbeiten, was es der Möglichkeit nach ist, dieses oder jenes auf diese oder jene Weise zu erleben. Solche phänomenologischen Begriffe bringen gewisse Auflagen (constraints) hervor hinsichtlich möglicher Erklärungen der Strukturen von Bewusstseinserlebnissen und gesetzmäßiger Abhängigkeiten unter ihnen. Sie wären deshalb gut geeignet, in der wissenschaftlichen Erforschung neuronaler Korrelate des Bewusstseins eine heuristische Funktion zu spielen, wie ich anhand einiger neuer neurowissenschaftlicher Arbeiten zeigen möchte. Der Titel meines Beitrag sollte also als Anzeige meiner Absicht genommen werden, für eine methodologisch kontrollierte Art der Integration wissenschaftlicher, objektiver, Dritte-Person-Daten bezüglich Bewusstsein und phänomenologischer, subjektiver, Erste-PersonDaten betreffend Bewusstseinserlebnissen zu argumentieren. Eine solche integrative Sicht scheint je länger je mehr akzeptabel zu werden. So spricht sich z.B. der einflussreiche Philosoph David J. Chalmers in seinem jüngst erschienenen Beitrag „How can we construct a science of consciousness?“, in welchem er „an overview of the agenda“ gibt, klar für eine solche Integration zweier Klassen von Daten in einen wissenschaftlichen Rahmen aus. 1 Er hält sogar fest, dass „eine befriedigende Wissenschaft vom Bewusstsein beide Arten von Daten zulassen muss und dass sie eine erklärende Verknüpfung zwischen ihnen erstellen muss“. Für mein jetziges Anliegen ist es ermutigend festzustellen, dass Chalmers sich im Zusammenhang seiner Diskussion „unserer Methoden zur Gewinnung von Erste-Person-Daten“ explizit auf „die Tradition von Husserl“ bezieht. Er erwähnt im Besonderen die Forschungsstrategie der „Neurophänomenologie“ des kürzlich verstorbenen Francisco Varela und seiner Kollegen. Wie ich die Dinge sehe, sollte von phänomenologischen Philosophen die Gelegenheit in der Tat ergriffen werden, ihre Erkenntnisse über Bewusstsein philosophisch gesinnten Neurowissenschaftlern und Psychologen anzubieten, mit dem Ziel, eine echte Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Erforschung der Arbeitsweise des bewussten Geistes (the workings of the conscious mind) zu begründen. Es trifft sich, dass, als ich vor gut einem Jahr den Gedanken dieses Beitrags kontinuierlicher nachzugehen begann, auch der Philosoph und Kognitionswissenschaftler Shaun Gallagher gerade einen Aufsatz mit dem Titel „Phenomenology and Experimental Design. Toward a
206 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? Phenomenologically Enlightened Experimental Science” veröffentlichte.2 Sein Beitrag hat einen engen Bezug zu meinem gegenwärtigen Zweck und ist sehr hilfreich; denn Gallagher stellt gleich eingangs die Frage: „How can phenomenology contribute to the experimental cognitive neurosciences?“ Er gibt einen Überblick über drei unterschiedliche Antworten darauf. Zuerst diskutiert er den neurophänomenologischen Ansatz von Varela und Kollegen, auf den auch Chalmers hinwies; danach, was bisweilen „indirekte Phänomenologie“ genannt wird, die im allgemeinen nach dem Experiment bei kritischen oder kreativen Interpretationen der wissenschaftlichen Befunde zur Anwendung kommt; schließlich diskutiert er, was er „’front-loaded’ phenomenology“ nennt. Damit ist ein Ansatz gemeint, der „direkten Gebrauch von der Phänomenologie“ macht, in dem Sinne, „dass die Ergebnisse der phänomenologischen Untersuchungen für die Planung der empirischen gebraucht werden können“ (teils meine Hervorh.). Dieser letztgenannte Vorschlag von Gallagher ist der interessanteste für meine Absicht. Was ich entwickeln möchte, kann als eine weitere Darstellung betrachtet werden, wie guter direkter Gebrauch der Phänomenologie im Dienste neurowissenschaftlicher Untersuchungen über neuronale Prozesse, die Bewusstsein einschließen, zu machen sei. II. Phänomenologische Daten als eidetische Daten und als ErstePerson-Daten Zu Beginn möchte ich etwas über das Wort ‚Bewusstsein’ sagen. Wenn es darum geht, Bewusstsein als einen Gegenstand der Wissenschaft und speziell für neurowissenschaftliche Untersuchungen festzulegen, ist es klarerweise nicht hilfreich, das Wort in der einen oder anderen der folgenden metaphorischen Bedeutungen zu gebrauchen, die sich allerdings häufig in der Literatur finden und die oft von den Computerwissenschaften her bezogen werden: - Bewusstsein als ein spezielles Modul oder als eine Schaltstufe im Flussdiagramm, das eine Hierarchie der Informationsverarbeitung darstellt, - Bewusstsein im Sinne eines Flaschenhalses mit begrenztem Fassungsvermögen bei unserem mentalen Funktionieren,
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- Bewusstsein als zentrales Exekutivsystem oder als Operationssystem, - Bewusstsein als vereinheitlichte Stufe, Szene oder Theater, wo Information von vielfältigen Quellen zwecks Kontrolle des Verhaltens integriert wird. Wie Edelman und Tononi (2000) selbst betonen, können „solche Metaphern nicht ein echtes wissenschaftliches Verständnis von Bewusstsein ersetzen“ (7). Während nun ein wissenschaftliches Verständnis ganz allgemein gesprochen zweifellos auf objektiven, Dritte-Person-Daten gründet, spielen beim Bewusstsein als explanandum (als Gegenstand) der wissenschaftlichen Untersuchung subjektive, Erste-Person-Daten eine unentbehrliche Rolle in der Beschreibung. Wie ich die Sachlage einschätze, ist die vielversprechendste Weise, Bewusstsein in das Haus der Wissenschaft zu bringen, die, den Terminus ‚Bewusstsein’ zu gebrauchen, um auf Erlebnisse dieser oder jener Art Bezug zu nehmen, wobei die verschiedenen Arten von Erlebnissen nicht bloß in Begriffen phänomenaler oder qualitativer Zustände zu klären sind, sondern vielmehr durch Gliederung ihrer jeweiligen inneren Strukturen mittels phänomenologischer Methoden. Bei diesem Vorgehen ist es allerdings, wie bereits kurz angedeutet, entscheidend, den Rückgang auf Phänomenologie nicht mit einem Verfahren gleichzusetzen, das sich auf sogenannte introspektive, persönliche (gar idiosynkratische) Befunde stützen würde. Es muss diesbezüglich betont werden, dass es einfach ein Fehler ist – pace Daniel Dennett, z.B. - , die Husserlsche Phänomenologie der einen oder anderen Form individueller Introspektion (oder Retrospektion) anzugleichen. Weshalb ist es wichtig, Husserlsche Phänomenologie nicht als eine Spielart psychologischer Introspektion aufzufassen? Zunächst ist daran zu erinnern, dass Husserl selbst sich wiederholt über eine Angleichung der Phänomenologie an eine Spielart der psychologischen Introspektion oder inneren Beobachtung beklagte. In einem Text von 1912 spricht er z.B. von der ganz verkehrten Ansicht, es handle sich bei seiner Phänomenologie um eine Restitution der Methode innerer Beobachtung oder überhaupt direkter innerer Erfahrung (Hua V, 38). Woran hat Husserl gedacht, wenn er es so entschieden von sich wies, sein Verfahren mit der Praxis einer Methode der Introspektion oder inneren Beobachtung zu verbinden? Wie ich den Streit verstehe, ist der Hauptpunkt, an den es zu erinnern gilt, der, dass Husserl die phä-
208 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? nomenologische Analyse der Bewusstseinserlebnisse in einem mathematischen Geist auffasste, als eine auf Reflexion basierte Herausstellung von Strukturen oder Formen der Erlebnisse gemäß ihren Möglichkeiten, d.h. unbekümmert um die empirische Tatsächlichkeit der zur Untersuchung stehenden Phänomene selbst (z.B. Hua V, § 8; Hua XXV, 79f., 233-246, 266; Hua XXVII, 13-20). Diese Haltung kommt sehr schön in den Vorlesungen von 1907 über „Ding und Raum“ zum Ausdruck: Die Bedingungen der „Möglichkeit der Erfahrung“ sind das erste. Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung bedeutet hier aber nichts anderes und darf nichts anderes bedeuten als das alles, was immanent im Wesen der Erfahrung, in ihrer essentia, liegt und somit unaufhebbar zu ihr gehört. Die Essenz der Erfahrung, die die phänomenologische Erfahrungsanalyse erforscht, ist dasselbe wie die Möglichkeit der Erfahrung, und alles im Wesen, in der Möglichkeit der Erfahrung Festgestellte ist eo ipso Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung (Hua XVI, 141f.).
Diese Betonung der Bedingungen der Möglichkeit der Bewusstseinserlebnisse nehme ich sehr ernst. Der Sachverhalt kann auch so ausgedrückt werden: „eidetische Daten“, d.h. Daten, die dasjenige betreffen, ‚was es ist’, etwas auf die eine oder andere Weise zu erleben, sind entscheidend, besonders auch im jetzigen Zusammenhang, in welchem ich es als eine plausible, ja eine erstrebenswerte Angelegenheit darstellen möchte, phänomenologische Befunde mit all den anderen Ergebnissen zusammen zu schließen, welche neurowissenschaftliche und psychologische Untersuchungen über Bewusstseinsphänomene beizubringen vermögen. Husserls Interesse war also die philosophische Analyse der Möglichkeiten von Bewusstseinserlebnissen von etwas als solchen und des Systems möglicher Modifikationen solcher Erlebnisse, anstatt dieser Erlebnisse und ihrer intentionalen Korrelate als konkreten Tatsachen. Ein Interesse für empirische Tatsachen ist den Wissenschaften eigentümlich, und dies völlig zu Recht. Der empirischen Arbeit geht jedoch logisch stets die Frage voraus, worin ein Bewusstseinserlebnis einer gewissen Art bestehe, etwa ein Erlebnis der Art, die in neurowissenschaftlichen Begriffen zu erklären ist. Allerdings liefert auch in der Phänomenologie ein gegebenes Bewusstseinserlebnis von etwas die Erfahrungsgrundlage für die Beschreibung seiner Struktur oder Form gemäß seiner Möglichkeit oder
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seines Wesens. Jedoch ist das faktisch gewählte Erlebnis als ein willkürliches Beispiel, als bloßer Ausgangspunkt für die Analyse zu betrachten. Bezüglich dieses methodologischen Schrittes wies Husserl gerne auf das mathematische Verfahren hin, Analysen mit einem „es gibt....“ (diese oder jene Zahl, geometrische Figur etc.) zu beginnen (Hua V, § 8, 47; Erfahrung und Urteil, § 96, 450). Die Irrelevanz der psychologischen Tatsache dieses oder jenes gewählten Erlebnisses als solchen für die in der Phänomenologie verfolgte Zielsetzung kann auch daran erkannt werden, dass man sich bei der Bestimmung der Bedingungen der Möglichkeit dieser oder jener Erlebnisart auf einen Prozess der Variation bezüglich der Bedingungen einlassen muss, damit man diejenigen unter ihnen bestimmen kann, die ausnahmslos oder eben wesentlich erforderlich sind, um das Erlebnis zu ermöglichen, gegenüber solchen, die verändert werden können, ohne die wesentliche Struktur des Erlebnisses umzuändern. Die phänomenologische Analyse ist also nur an den wirklich konstitutiven Komponenten oder Eigenschaften interessiert, die in der Reflexion unterschieden werden können als zum Bewusstseinserlebnis in seinem eigenen Wesen oder seiner Natur gehörig, d.h. in Übereinstimmung mit den Bedingungen der Möglichkeit seines Auftretens, und nicht der aktuellen Wirklichkeit in ihrer Veränderlichkeit als psychologische Tatsache. Diese Auffassung hat nun auch wichtige Konsequenzen bezüglich der Frage von Fehlern und der wissenschaftlich unentbehrlichen Möglichkeit der Kontrolle phänomenologischer Ergebnisse. Da die auf de facto durch mich vollzogene Reflexion gestützte Beschreibung nicht an das faktische Erlebnis als dieses gebunden ist, kann jederzeit eine andere Person ausser mir selbst aufgrund eines Beispiels der fraglichen Erlebnisart die Angemessenheit einer vorliegenden reflexiven Beschreibung der Struktur überprüfen, indem sie auf das achtet, was der Möglichkeit nach das Erlebnis als eines der fraglichen Art ausmacht. Freilich sind hier, wie in jeder wissenschaftlichen Untersuchung, im Prinzip immer auch falsche Hypothesen möglich; sie sind aber eben, wie andernorts auch, durch zusätzliche Erforschung zu korrigieren, worauf ja auch Husserl selbst mehrfach hingewiesen hatte (Hua III/1, § 87; Hua XXV, 246ff.: Die ‚Unfehlbarkeit’ der Wesensanschauung). Für die Zielsetzung dieses Beitrags ist noch ein weiterer methodologischer Punkt bezüglich der phänomenologischen Analyse selbst zur
210 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? Sprache zu bringen. Er hängt mit dem Umstand zusammen, dass phänomenologische Daten über Bewusstseinserlebnisse als Erste-PersonDaten zu verstehen sind, auch dann, wenn sie als eidetische Daten betrachtet werden. Auf den ersten Blick könnte es ja so scheinen, als wären eidetische Daten bezüglich Strukturen oder Formen von Bewusstseinserlebnissen und deren intentionalen Korrelaten selbst irgendwie objektiviert und gar nicht länger mehr Erste-Person-Daten, werden sie doch nicht als faktisch meine gesammelt. Während es nun zutrifft, wie ich denke, dass Phänomenologie sich mit Bewusstsein überhaupt befasst, und nicht, zum Beispiel, mit Bewusstsein als meinem oder Ihrem oder irgend jemandes im besonderen, muss dennoch auf die ganz besondere Weise geachtet werden, in der Bewusstseinsphänomene überhaupt vorkommen. Bewusstseinsphänomene werden zu allererst einmal durchlebt; in diesem Sinne sind sie erlebnismäßig, das heisst vorgängig jeder Reflexion, jemandem gegeben. Als Tatsache trifft es zu, dass sie von mir oder Ihnen, etc. durchlebt werden oder erlebnismäßig gegeben sind; sie sind nicht gegenständlich dort draussen, um von jemandem reflektiert zu werden, der sich für sie interessiert. Es stellt sich nun eine entscheidende Asymmetrie ein bezüglich des Zugangs zu den Erlebnissen, die der Phänomenologin oder dem Phänomenologen als Grundlage dienen für die reflexiv-beschreibende Analyse dessen, worin ein Erlebnis einer bestimmten Art besteht. Ich meine die Asymmetrie zwischen originalem und nicht-originalem (indirektem oder analogem) Zugang, die, wie ich es verstehe, gerade mit der besonderen Weise zusammenhängt, mit der Bewusstseinsphänomene zu allererst bei jemandem erlebnismäßig vorkommen. Zum Beispiel, unter den Vergegenwärtigungen (Phantasien, Erinnerungen etc.) von Erlebnissen im Hinblick auf deren reflexive Analyse habe ich selbst originalen Zugang zu jenen Erlebnissen, von denen es möglich ist zu sagen, dass sie mir erlebnismäßig gegeben sein können oder könnten, nämlich vorgängig der Reflexion, und nur ich allein habe solchen Zugang zu ihnen. Demgegenüber habe ich unter meinen Vergegenwärtigungen von Erlebnissen nur einen nicht-originalen (indirekten) Zugang zu jenen Erlebnissen, die ich anderen Personen oder Wesen dort draussen als ihnen erlebnismäßig (also für sie, und nur für sie, original) gegeben zuschreibe. Wenn ich nun bestimmen will, wie es der Möglichkeit nach ist, bewusstseinsmäßig etwas auf die eine oder andere Weise zu erleben,
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dann werde ich zuerst auf Erlebnisse reflektieren, die möglicherweise meine sind. Erlebnismäßig gegebene Beispielfälle sind aber gerade der ersten Person oder subjektiv gegebene Erlebnisse. Sie werden implizit gerade jene Bewusstseinsunterschiede enthalten, deren ich vorreflexiv inne bin. Die Phänomenologie zielt dann darauf ab, diese Unterschiede als zu den möglichen Erlebnissen dieser oder jener Art als solchen gehörige explizit zu machen, sie also als eidetische Daten auszuweisen. Wie ich die Verbindung zwischen phänomenologischen Daten als eidetischen Daten und als Erste-Person-Daten verstehe, muss man zu würdigen wissen, dass die Beschreibungen der Strukturen von Bewusstseinserlebnissen überhaupt – d.h. der Strukturen, die aufgrund von jemandes Reflexion auf irgendein vergegenwärtigtes Beispiel der fraglichen Art eidetisch bestimmt werden – als Beschreibungen von solchen Strukturen von Bewusstseinserlebnissen nur für jemanden einsichtig werden, der oder die wirklich selbst Reflexion auf ein Beispiel der fraglichen Art durchführt und damit eine kognitive Leistung mit Bezug auf etwas nur von innen, d.h. von seiner oder ihrer Erste-Person-Perspektive, Zugängliches vollbringt. Solche Explikationen dessen, was implizit im natürlichen, vorreflexiven Bewusstsein enthalten ist, sind dazu angetan, das zu liefern, was ich phänomenologische Auflagen (constraints) nennen möchte, denen bei jeder experimentellen Untersuchung und wissenschaftlichen Erklärung von Bewusstseinsphänomenen Rechnung zu tragen ist. Bevor ich diesen Schritt meiner Erörterung näher veranschauliche, möchte ich ohne weitere Umschweife einige neurowissenschaftliche Untersuchungen kurz vorstellen, auf die ich gestoßen bin und die mir besonders interessant erscheinen, um zu erläutern, wie Husserlsche Phänomenologie als heuristisches Instrument bei der Planung von verfeinerten Experimenten bezüglich Bewusstseinserlebnissen dienen sollte. III. Einige neue neurowissenschaftliche Untersuchungen über Bewusstseinserlebnisse In diesem Abschnitt stelle ich einfach kurz drei Forschungsbereiche vor, die mit der Suche nach den neuronalen Korrelaten besonders von Erlebnissen des Erinnerns und des Phantasierens verbunden sind.
212 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? 1) Die umfassenden und inzwischen ‚klassischen’ Arbeiten von Endel Tulving und Mitarbeitern, die sich um eine stets verfeinerte Theorie des episodischen Gedächtnisses oder episodischen Erinnerns drehen. 2) Die eindrücklichen Arbeiten über mentale Bilder (mental imagery), die sich über etwa dreißig Jahre Forschungsarbeit in der nachbehavioristischen Tradition erstrecken, vorab jene von Stephen M. Kosslyn und Mitarbeitern. 3) Das in jüngerer Zeit von Martin A. Conway und Mitarbeitern begonnene große Projekt, das sich mit neurophysiologischen Eigentümlichkeiten des autobiographischen Gedächtnisses befasst. Jeder dieser Forschungsbereiche würde natürlich eine ausführliche Diskussion verdienen. Im Rahmen dieses Beitrags stelle ich hier lediglich einige Fragen, die mir als Phänomenologe bezüglich der Bewusstseinserlebnisse, die diese Forschung betrifft, weiterer Klärung bedürftig erscheinen. In Abschnitt IV werde ich dann paradigmatisch einige reflexiv beschreibbare Strukturen von einigen der Bewusstseinserlebnisse, die in den neurowissenschaftlichen Arbeiten betroffen sind, etwas detaillierter herausstellen. Dabei verfolge ich das Ziel, eine Integration dieser reflektiv gewonnenen Erste-Person-Daten mit Dritte-Person-Daten bezüglich Bewusstsein, wie sie von den passend angelegten neurowissenschaftlichen Forschungen beigebracht werden müssen, vorzubereiten. Bezüglich der Erste-Person-Daten werde ich eine einfache Notation zu Hilfe nehmen, um die feineren strukturellen Unterschiede der zur Untersuchung stehenden Erlebnisse für die weitere Diskussion sozusagen „sichtbar“ und auf empirische Befunde beziehbar zu machen. Zu 1): In ihrem lehrreichen und philosophisch ansprechenden Übersichtsartikel „Toward a Theory of Episodic Memory: The Frontal Lobes and Autonoetic Consciousness“ beschreiben Mark A. Wheeler, Donald T. Stuss und Endel Tulving3 das hauptsächliche Unterscheidungsmerkmal des episodischen Gedächtnisses, verstanden als „eine besondere Art von Fähigkeit und Leistung des Gehirns“, also verstanden als „ein eigenes neurokognitives System“ (332). Die Autoren stellen die Hypothese auf, dass dieses System sich in den Frontallappen oder, anders und wohl etwas genauer gesagt, im präfrontalen Cortex befinde, wobei sie klarstellen, „dass die Funktionen dieses (Hirn-)Areals in seiner Verknüpfung mit weiter hinten liegenden Hirnregionen repräsentiert sind“ (334). Das Unterscheidungsmerkmal des
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episodischen Gedächtnisses besteht in seiner „Abhängigkeit von einer besonderen Art des Gewahrseins (awareness), die alle gesunden menschlichen Erwachsenen identifizieren können“. Es ist, wie die Autoren schreiben, „der Typ von Gewahrsein, der erlebt wird, wenn man an einen spezifischen Moment in seiner persönlichen Vergangenheit zurückdenkt und bewusst irgendeine frühere Episode oder einen Zustand sich ins Gedächtnis zurückruft, wie er zuvor erlebt wurde“. 4 Wie die Autoren bemerken, meinen sie das, worauf William James als „remembering“ (Wiedererinnern) Bezug nahm (333). Sie bezeichnen den Typ von Gewahrsein, der mit episodischem Abrufen (episodic retrieval) verknüpft ist, als „autonoetisches Gewahrsein“ (autonoetic, self-knowing, awareness), und sie unterscheiden es vom „noetischen Gewahrsein“ (noetic, knowing, awareness), das mit dem semantischen Abrufen verknüpft ist (333).5 Um einer eventuellen Verwirrung im weiteren Gebrauch der Termini zuvorzukommen, sei erwähnt, dass die Autoren die Termini ‚Bewusstsein’ (‚consciousness’) und ‚Gewahrsein’ (‚awareness’) nicht einfach – wie ich selbst und andere es zu tun geneigt sein mögen – als Synonyme verwenden. Sie schlagen vor, mit ‚Bewusstsein’ (‚consciousness’) „eine allgemeine Fähigkeit, die ein Individuum für besondere Arten von mentalen Repräsentationen und subjektiven Erlebnissen besitzt“, zu bezeichnen (335). In diesem Sinne ist autonoetisches Bewusstsein „die Fähigkeit, die erwachsenen Menschen erlaubt, ihre über die subjektive Zeit erstreckte Existenz mental zu repräsentieren und ihrer gewahr zu werden“. Autonoetisches Bewusstsein ist somit „nicht auf die Vergangenheit“ beschränkt, vielmehr „umfasst es die Fähigkeit, die Erlebnisse des Selbst (the self’s experiences) in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu repräsentieren“. ‚Gewahrsein’ (‚awareness’) andererseits, wie die Autoren den Terminus gebrauchen, bezieht sich auf eine besondere Äußerung oder einen besonderen Ausdruck der allgemeinen Bewusstseinsfähigkeit. Die Autoren drücken den Sachverhalt in einer Weise aus, welche Phänomenologen und manche Philosophen des Geistes an Formulierungen erinnert, die die Intentionalität des Bewusstseins oder Gewahrseins kennzeichnen: „Gewahrsein hat immer einen Gegenstand; es ist immer von etwas“ („Awareness always has an object; it is always of something“), während in ihrer Redeweise „Bewusstsein, wie andere Fähigkeiten von lebendigen Systemen, keinen Gegenstand hat; es ist nicht auf irgend etwas gerichtet“. Dementsprechend gilt: Wenn ein Individuum
214 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? autonoetisch gewahr ist, kann sie oder er „die Aufmerksamkeit direkt auf ihre oder seine eigenen subjektiven Erlebnisse richten“ (335). Auf der Grundlage der Unterscheidungen zwischen autonoetischem gegenüber noetischem Bewusstsein und Gewahrsein einerseits und zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis andererseits entwickeln die Autoren eine Theorie des episodischen Wiedererinnerns (episodic recollection), die mir in ihrem Geiste ganz phänomenologisch vorkommt. Sie beobachten, ich denke überzeugend, dass es für eine Person möglich ist zu wissen, dass sie oder er bei einem Ereignis zugegen war, ohne bewusst das Ereignis wieder erinnern zu können. Solches Wissen ist möglich aufgrund des Abrufens (retrieval) aus dem semantischen Gedächtnis, getragen von noetischem Bewusstsein. Im Kontrast dazu schließt Wiedererinnerung (recollection) von episodischer Information im eigentlichen Sinn ein „Wiedererinnern mittels Wieder-erleben und geistig in der Zeit Zurückreisen“ ein (349) („... remembering by re-experiencing and mentally traveling back in time“). Die Autoren schreiben bezüglich solchen Wiedererinnerns: Sein Wesen liegt im subjektiven Gefühl, dass man im gegenwärtigen Erlebnis etwas wieder-erlebt, das in seinem (ihrem) Leben zuvor stattgefunden hat. Es wurzelt in autonoetischem Gewahrsein und im Glauben, dass das Selbst, das das Erleben jetzt vollzieht, dasselbe Selbst ist, das es ursprünglich tat.6
In diesem Sinne geht das Wiedererinnern (recollection) eines Ereignisses als erlebtes (as experienced) über semantisches Ereignisgedächtnis (semantic event memory) hinaus. Zusätzlich dazu, dass es einer sich erinnernden Person möglich ist, von vergangenen Erlebnissen Gebrauch zu machen – wie es bei einfacher Ereignis-Erinnerung (simple event recall) der Fall ist –, ermöglicht das eigentliche Wiedererinnern eines Ereignisses als erlebtes ein „Gewahrsein von Tatsachen und Ereignissen, die persönlich, subjektiv und mit der Vergangenheit des Selbst verschmolzen sind und der Zukunft des Selbst Leitung verschaffen. Dieses Wissen über subjektiv erlebte Ereignisse ist vom autonoetischen Bewusstsein getragen“ (349). Was die neuronalen Korrelate betrifft, die im besonderen dem episodischen Gedächtnis zugrunde liegen, haben bildgebende Verfahren und Läsionsstudien Belege dafür geliefert, dass der präfrontale Cortex eine wichtige Rolle spielt (349). Nicht unähnlich nahe verwandten anderen geistigen Fähigkeiten und Leistungen höherer Ordnung, die den Autoren zufolge „wesentlich, einzigartig menschlich“ sind („es-
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sentially, uniquely human“, 349), erfordert episodisches Wiedererinnern eine höhere Kontrollstufe, und es hängt von weitverteilten cortikalen und subcortikalen Netzwerken ab, von denen der präfrontale Cortex einen zentralen Teil ausmacht. Interessanterweise, wie ich die Sache verstehe, stellen die Autoren heraus, dass das „autonoetische Bewusstsein selbst“, wie auch andere frontale Phänomene, inhaltslos ist (contentless). „Inhalte werden im hinteren Cortex repräsentiert“; sie können mittels autonoetischem Gewahrsein durchdrungen werden, so z.B. in Fällen erfolgreicher Abrufe (retrievals) – Tulving’s Wort dafür ist ‚ecphory’; vgl. 349; 340). In dieser verfeinerten Theorie des episodischen Erinnerns von Tulving und Mitarbeitern sind also der präfrontale Cortex und autonoetisches Bewusstsein klar verknüpft. „Beim autonoetischen Bewusstsein reguliert und leitet der präfrontale Cortex die Eigentümlichkeiten des Gewahrseins, das zu jeder gegebenen Zeit von einem Individuum erlebt wird, in Verbindung mit Stimulation aus internen und externen Quellen“ (349). Die wichtigsten Fragen, die mir vom Gesichtspunkt der phänomenologischen Analyse von Bewusstseinserlebnissen aus in diesem Forschungsbereich einer näheren Klärung bedürftig zu sein scheinen, betreffen hauptsächlich zwei Aspekte der Theorie von Tulving et al. Zum einen sollte der Begriff des „inhaltslosen autonoetischen Bewusstseins“ einsichtiger gemacht werden, als es die Benennung „ein psychologisches Konstrukt“ (349) erlaubt. Der Begriff scheint mir eine gewisse Reflexivität bezüglich der Erlebnisse eines Selbst anzuzeigen. Vermutlich wäre eine begriffliche Klärung im Rückgang auf den phänomenologisch geklärten Begriff des Vergegenwärtigungsbewusstseins erreichbar. Dabei würde solches Bewusstsein als Teil der mentalen Wirklichkeit, nicht als bloßes Konstrukt, aufgefasst, d.h. als etwas Erlebbares und deshalb einer direkteren Kontrolle und intersubjektiven Bestätigung oder Falsifizierung gegenüber offen. Überdies müsste die Beziehung zwischen jenem psychologischen Konstrukt des inhaltslosen autonoetischen Bewusstseins selbst und des zu irgendeiner Zeit gegebenen autonoetischen Gewahrens näher angesprochen werden. Wenn die Autoren festhalten, dass beim autonoetischen Bewusstsein der präfrontale Cortex die Eigentümlichkeiten (characteristics) des Gewahrseins, das vom Individuum zu irgendeiner Zeit erlebt wird, reguliert und lenkt, dann wäre wiederum Phänomenologie erforderlich, um die feineren Details jener Eigentümlich-
216 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? keiten herauszuarbeiten. Zum anderen müsste im Detail gezeigt werden, wie es möglich ist, deutlicher unter den Arten des autonoetischen Gewahrens selbst zu differenzieren. Dies könnte getan werden mit Hilfe der phänomenologischen Analyse des autonoetischen Gewahrens in Begriffen von so und so vielen Arten des intentional auf etwas Bezugnehmens dank vergegenwärtigendem Bewusstsein, das in sich selbst Modifikationen von Erlebnissen enthält. Zu 2): Ich wende mich nun den Arbeiten über mentale Bildvorstellung (mental imagery) und die neuronalen Grundlagen der mentalen Bildvorstellung zu. Besonders Stephen M. Kosslyn und seine Mitarbeiter sind der Meinung, dass bis vor kurzem das Thema der mentalen Bildvorstellung in die Zuständigkeit der Philosophie und der kognitiven Psychologie gehört habe. In einem vor etwa drei Jahren veröffentlichten Aufsatz „Neural foundations of imagery“ 7 äußern sie sich dahingehend, dass diese beiden Disziplinen zwar „wichtige Fragen über mentale Bildvorstellung (imagery) gestellt, aber keine substantiellen Fortschritte in deren Beantwortung gemacht haben“. „Mit dem Aufkommen der kognitiven Neurowissenschaft“ jedoch „sind diese Fragen empirisch fügsam geworden“. Neue bildgebende Technologien – speziell „Positronen Emissionstomographie“ (PET) und „funktionelle Magnetresonanztomographie“ (fMRT; englisch fMRI) – verhelfen dazu, relative Veränderungen im Metabolismus des Gehirns und im Blutfluss mit großer räumlicher Genauigkeit zu erfassen, was es erlaubt, Theorien der mentalen Bildvorstellung bei Menschen objektiv zu prüfen (2001, 635; auch Edelman und Tononi, 52). Unter Ausnutzung dieser Entwicklungen und bereits auch zusätzlicher Technologien, wie die auf Laser gestützte „diffuse optical tomography“ (DOT) (641f.), haben die Forscher gezeigt, „dass mentale Bildvorstellung von ungefähr demselben neuronalen Mechanismus wie die Wahrnehmung in derselben Modalität Gebrauch macht“ (635) („that mental imagery draws on much the same neural machinery as perception in the same modality“). Tatsächlich wurde herausgefunden, dass ungefähr zwei Drittel all derjenigen Gehirnareale, die während der Wahrnehmung und während der mentalen Bildvorstellung aktiviert werden, in beiden Fällen aktiviert werden (2001, 636; auch Kosslyn et al., 1997). Diese und andere Befunde – z.B. fMRI Studien von O’Craven und Kanwisher (2000) – zeigen an, dass (mentale) Bildvorstellung und Wahrnehmung sehr spezifische, spezialisierte Mechanismen teilen. Jedoch ma-
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chen die beiden, Bildvorstellung und Wahrnehmung, nicht von identischen Prozessen Gebrauch. Kosslyn et al. äußern sich dazu wie folgt: Obwohl Gestalt, Lage und Oberflächeneigenschaften auf ähnliche Weisen während beiden Funktionen repräsentiert und interpretiert werden, unterscheiden sich die zwei in entscheidenden Weisen (in key ways): mentale Bildvorstellung, ungleich der Wahrnehmung, erfordert nicht tief-stufige Organisationsverarbeitung, während Wahrnehmung, ungleich der mentalen Bildvorstellung, nicht erfordert, dass wir Information im Gedächtnis aktivieren, wenn der Erreger nicht gegenwärtig ist (2001, 636, meine Hervorh.).
Forscher über mentale Bildvorstellung wie Kosslyn et al. schließen daraus, dass „mentale Bilder (images) tatsächlich interne Repräsentationen sind“ (641), „welche Information abbilden, nicht sie beschreiben“ („depict information, not describe it“). Sie fassen dies auf als „Beleg dafür, dass mentale Bildvorstellung auf eigentlichen Bildern beruht“ („evidence that mental imagery relies on actual images“, 639), ein Beleg, der hauptsächlich von der Aktivierung des primären visuellen Cortex (V1, V2) gewonnen zu sein scheint (in etwa Brodmanns Arealen 17 und 18 entsprechend, die ersten, die die Eingangsinformation von den Augen her empfangen (vgl. 639)) und der recht solide von zahlreichen bildgebenden Untersuchungen (v.a. mittels fMRT und PET, vgl. 640) unterstützt wird. Wie ich jedoch die Arbeiten zur mentalen Bildvorstellung wahrnehme, bleibe ich als Phänomenologe weiterhin nicht zufrieden gestellt, was das Verständnis oder eher den Mangel an Verständnis für fundamental verschieden strukturierte Weisen intentionalen Bezugnehmens auf etwas mittels mentaler Bildvorstellungen betrifft. Ein solcher Mangel scheint mir offenkundig, wenn Kosslyn et al. in ihrem Übersichtsbeitrag über die Arbeiten zur mentalen Bildvorstellung berichten, dass z.B. einen Gegenstand zu visualisieren (visualizing), ungefähr dieselben Wirkungen auf den Körper habe wie ein tatsächliches Sehen (actually seeing) des Gegenstandes, oder wenn Versuchspersonen Bilder von den zur Untersuchung stehenden Gegenständen betrachten (view pictures), z.B. bedrohliche Gegenstände. Wiederum, sagen die Autoren, kommen ungefähr dieselben Wirkungen (much the same effects) auf dem Körper vor, wie Ableitungen von Einzelzellen im menschlichen Gehirn gezeigt haben, „während Versuchspersonen Bilder gezeigt wurden oder sie mentale Vorstellungsbilder von diesen selben Bildern gebildet haben“ (641).
218 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? Wie ich all dies verstehe, vermute ich folgendes: Wenn die Befunde von spezifischen, sich deckenden cortikalen Arealen in der Wahrnehmung und der mentalen Bildvorstellung isoliert betrachtet werden, bekräftigen sie in der Tat die Auffassung einer inneren Verbindung zwischen der Wahrnehmung und Formen der Phantasie und Bildvorstellung, indem sie „ungefähr dieselben Wirkungen“ zeigen. Unsere Bewusstseinserlebnisse treten jedoch als einheitliche Erlebnisse auf, die in sich selbst eine unterschiedliche Mannigfaltigkeit von Momenten oder Komponenten enthalten, wovon nur einige Teile sich zu dekken scheinen, während die konkreten Erlebnisse, als die Ganzen, die sie sind, mit einem deutlich unterschiedenen Bewusstsein von den Gegenständen, die in ihrer Gegenwart oder Abwesenheit gegeben sind, durchlebt werden. Und bezüglich dieses Aspekts des Untersuchungsgegenstandes, nämlich die Bewusstseinsmodi betreffend, mit denen die mentalen Bildvorstellungen verbunden sind, bedarf es einer entwickelteren Phänomenologie, wie ich im Abschnitt IV zu zeigen versuche. Zu 3): Das in mehreren Hinsichten faszinierendste Beispiel neurowissenschaftlicher Untersuchungen über Bewusstsein, von dem ich Kenntnis habe, ist Martin A. Conway und Mitarbeitern zu verdanken. Zu denken ist vor allem an das Paper „Neurophysiological correlates of memory for experienced and imagined events“ (2003) und an Conways „Sensory-perceptual episodic memory and its context: autobiographical memory“ (2001).8 Ich finde diese Art von neurowissenschaftlichen Studien besonders fesselnd und denke, dass gerade für solche Untersuchungen Husserlsche Phänomenologie dazu verhelfen könnte, sie noch spannender zu machen, soweit eben Feinheiten der Bewusstseinserlebnisse des Erinnerns und Phantasierens selbst und ihrer Kombinationen betroffen sind. Dieses im erforderlichen Detail zu zeigen, würde die Grenzen dieses Beitrags übersteigen. Immerhin mag einiges von dem, was ich im Abschnitt IV entwickeln werde, wenigstens die Richtung anzeigen, in die eine ausführlichere Diskussion zu gehen hätte. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass für Conway et al. der Ausdruck ‚autobiographisches Gedächtnis’ (oder autobiographische Erinnerung) sich nicht nur auf „das Gedächtnis (memory) für die Erlebnisse im Leben einer Person (episodische Erinnerungen; episodic memories9)“ bezieht, sondern ebenso „auch auf abstrakteres, begriffliches autobiographisches Wissen (knowledge) wie das von Namen von
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Freunden und Kollegen, Orten, wo man gearbeitet, Städte, in denen man gelebt, Schulen, die man besucht, Ziele, die man erreichte oder aufgegeben hat, etc.“ Dieses „autobiographische Wissen liefert einen Kontext für sensorisch-perzeptive episodische Erinnerungen, und die Kombination beider in einem Akt des Erinnerns (in an act of remembering) konstituiert eine spezifische autobiographische Erinnerung“ (2003, 334). In der im Jahre 2003 veröffentlichten Arbeit interessieren sich die Autoren (Conway et al.) für neurophysiologische Unterschiede, die „zwischen falschen aber plausiblen ‚Erinnerungen’ – Erinnerungen für phantasierte Ereignisse – und autobiographischen Erinnerungen an erlebte Ereignisse“ (334) auftreten. Dies ist eine besonders dringliche und wichtige Frage, eine, die auch von praktischer Bedeutung im Leben von uns Menschen ist. Besonders auch angesichts der Tatsache, die auch von den Autoren betont wird, dass „selbst in unversehrten Erinnerungssystemen die konstruierte Beschaffenheit autobiographischer Erinnerungen (the constructed nature of autobiographical memories) bedeutet, dass sie intrinsisch anfällig für Irrtum sind und in extremen Fällen, nämlich bei der Konfabulation, völlig falsch sein können“ (334).10 Ich sollte erwähnen, dass die Autoren für die Fälle, die explizit Phantasie (imagination) einschließen, abwechselnd, deshalb aber auch, wenigstens meines Erachtens, etwas verwirrend, verschiedene Ausdrücke gebrauchen, wie die folgenden (die ich hier auf Englisch zitiere): - “memories for/of imagined events“ - “the imagined/imaginary memories” - “memories of imagined experiences” - “confabulated memories of imagined events” (also eine besonders starke Variante von Phantasiegebrauch in der Erinnerung, s.o.) - „false but plausible ‚memories’“ - “generation of plausible but false autobiographical memories” - “generation of mental representations of imagined events” - “actual retrieval of imagined memories”. Ferner lautet die Instruktion für die Versuchspersonen einfach, entweder mit “real memory” oder „imagined memory“ zu antworten, und die Autoren sprechen mit Bezug auf die „imagined memory“-Instruktion von einem „memory for imagined trials“.
220 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? Im Hinblick auf das übergeordnete Forschungsprojekt, das die neurophysiologischen Eigentümlichkeiten des autobiographischen Erinnerns (Gedächtnisses, memory) betrifft, denke ich, dass auf jede Instruktion mit dem Wort ‚memory’ hin Akte des Erinnerns den Ausgangspunkt bilden, oder, vielleicht besser ausgedrückt, dass Akte des Erinnerns die mentale Tätigkeit sind, die von den Versuchspersonen in Gang zu bringen ist, jedenfalls in den Fällen von Erinnerung an „experienced events“. Bei der Instruktion „imagined memory“ jedoch liegen die Dinge komplizierter, als es zunächst den Anschein haben mag. Es ist hilfreich, dass die Autoren diesbezüglich folgende Erklärung beifügen: „die phantasierten Erinnerungen (imagined memories) mussten (als Erinnerungen) von wirklichen Personen, Orten, Zielen etc. konstruiert werden und dabei so konstruiert werden, dass sie plausibel wären, wenn sie der nahen Familie oder Freunden beschrieben würden“ (2003, 335). Die Versuchspersonen wurden auch gebeten sicherzustellen, dass alle Erinnerungen, „whether experienced or imagined“, mit einem Schlüsselwort verknüpft werden – z.B. ‚Foto-Kamera’ bei einem Gegenstand oder ‚Museum’ bei einem Ort – und dass die Ereignisse wenigstens sechs Monate vergangen sind (335). So scheint mir eine naheliegende Ausführung der Instruktion „imagined memory“ so etwas zu sein wie: Denke dir, oder stelle dir vor (think of, or imagine ...) eine Episode in deinem Leben, die wenigstens sechs Monate zurück liegt, und die plausiblerweise hätte der Fall sein können, es jedoch nicht wirklich war. Eine solche Lesart der Instruktion ist aber mit mehreren mentalen Verwirklichungen kompatibel, wovon jede bewusstseinsmäßig unterschiedlich erlebt würde und also, vermutlich, auf verschiedene neurophysiologische Korrelate verweisen würde. All diese möglichen Verwirklichungen erfordern meines Erachtens eine phänomenologische Prüfung der Situationen, die sich ergeben könnten. Nicht zuletzt würde eine solche nähere Prüfung auch dahin führen festzustellen, ob eine der untersuchten mentalen Tätigkeiten als eine bloß „anschauliche“ (wie Husserl sagen würde) vollzogen wird, oder ob sie mit Akten des „bloßen Sich-Denkens“, dass das und das der Fall sei oder hätte sein können, vermischt vollzogen wird. Dieser Unterschied müsste in einer tiefergehenden Diskussion von Conway et al.’s Beispielen, für die der Platz hier fehlt, im Auge behalten werden.
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Wie Sie an dieser Stelle erwarten mögen, ist der allgemeine Punkt, den ich bezüglich aller drei kurz vorgestellten Gebiete der neurowissenschaftlichen Forschung betonen möchte, der: Wissen darüber, was möglicherweise bei einem Bewusstseinserlebnis zum einen oder anderen Zeitpunkt der Fall ist, sollte bei der experimentellen Untersuchung, die Bewusstsein in einer aktuell wirklichen Situation einschließt, mit in Betracht gezogen werden. Idealerweise sollte solches Wissen von Möglichkeiten bewusster Erlebnisse bei der Gestaltung von neurowissenschaftlichen Experimenten eine gewichtige Rolle spielen. IV. Integration neurowissenschaftlicher Dritte-Person-Daten und phänomenologischer Erste-Person-Daten Um nun weiter zu klären, worin einige der Bewusstseinserlebnisse, die bei den eben kurz vorgestellten neurowissenschaftlichen Untersuchungen im Spiel zu sein scheinen, möglicherweise bestehen und wie sie gesetzmäßig zueinander in Beziehung stehen mögen, möchte ich mich jetzt wieder der Husserlschen Phänomenologie zuwenden. Ich werde die Aufmerksamkeit besonders auf Phänomene der intentionalen Implikation und Modifikation von Erlebnissen lenken, die innerhalb der einheitlichen vergegenwärtigenden Erlebnisse des Erinnerns, Phantasierens, Bildvorstellens und deren Kombinationen vorfindbar sind. Wie ich die einschlägige neurowissenschaftliche Forschung verstehe, ist einer der bedeutendsten Aspekte bei der Suche nach den neuronalen Korrelaten der, dass solche Korrelate auf die Frage des sog. „Bündelungs-Problems“ (binding problem) Antwort geben sollten. Ich bin der Meinung, dass phänomenologische Klärungen von Bewusstseinserlebnissen, insofern sie darauf abzielen, gesetzmäßige innere Verbindungen derjenigen Komponenten, die jene Erlebnisse bilden, explizit zu machen, besonders geeignet sein müssten, Licht auf die Frage des Bündelns durch synchronisiertes neuronales Feuern zu werfen und deshalb eine heuristische Rolle bei der Planung neurowissenschaftlicher Forschung, die sich mit neuronalen Korrelaten von Bewusstsein befasst, spielen müssten. Ich werde von einer einfachen phänomenologischen Notation Gebrauch machen, um die Komponenten und strukturellen Beziehungen, die besonders den vergegenwärtigenden Bewusstseinserlebnissen ei-
222 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? gen sind, zu bezeichnen, und ich erhoffe mir davon, meine Überlegungen zugunsten einer „front-loaded phenomenology“ (s.o.) durchsichtiger und einer gezielten Diskussion zugänglicher zu machen. Natürlich werde ich im Anschluss an eine Formel die bezeichnete Bewusstseinsstruktur oder -form in phänomenologischer Sprache (hier auf deutsch) beschreiben. Ich möchte dazu gleich betonen, dass die Formeln der Notation, die dazu gedacht sind, die Struktur oder Form eines Bewusstseinserlebnisses der einen oder anderen Art zu spiegeln, eben vom phänomenologischen Gesichtspunkt der Reflexion auf mentale Tätigkeiten und ihre intentionalen Korrelate aus der ErstePerson-Perspektive gelesen und interpretiert werden müssen. 11 Lassen Sie mich nun genauer werden. Im Rahmen dieses Beitrags schränke ich die Diskussion auf einige Aspekte der Arbeiten über mentale Bildvorstellung von Kosslyn et al., die im Abschnitt III angeführt wurden, ein. Zuerst schlage ich vor, von einer Anzahl phänomenologisch deutlicher Unterscheidungen Kenntnis zu nehmen, die von Erste-Person-Daten bezüglich unseres Gebrauchs von bildlichen Vorstellungen stammen. Die Integration von Wissen über solche Unterscheidungen in ihre Forschungen sollte es den Neurowissenschaftlern ermöglichen, den feineren Details unserer bewussten Erlebnisse des Vergegenwärtigens von etwas gerecht zu werden, wenn sie diese aus der Dritten-Person-Perspektive untersuchen. Mit Hilfe der Notation versuche ich zu zeigen, dass phänomenologische Erste-Person-Daten einerseits durchaus so gesehen werden können, dass sie die wissenschaftlich gut gestützte Hypothese einer inneren Verbindung zwischen Wahrnehmung und Formen von Phantasie und Bildvorstellung bekräftigen. Andererseits jedoch, und das scheint mir von entscheidender Bedeutung, macht die phänomenologische Analyse der entsprechenden vergegenwärtigenden Erlebnisse darüber hinaus explizit, dass deutlich unterscheidbare Weisen intentionaler Bezugnahme auf irgendeinen vergegenwärtigten Gegenstand beim Gebrauch von bildlicher Vorstellung und/oder von Bildern verwirklicht werden – dem neurowissenschaftlich gestützten Befund von ungefähr denselben Wirkungen auf den Körper zum Trotz, wie sie in der Wahrnehmung und beim Gebrauch von mentaler Bildvorstellung und/oder von Bildern gemessen werden (vgl. Abschnitt III). Betrachten Sie nacheinander gemäß den Arbeiten, die in Kosslyn et al. besprochen werden, folgende Fälle:
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(1) einfach aktuelles Sehen – ‚PER’ – eines Gegenstandes, x, dort drüben; (2) visuelles Vorstellen – ‚IMA’; visualizing – des Gegenstandes durch Gebrauch bildlicher Vorstellung (imagery); (3) Sehen eines Bildes – ‚PIC’ – vom selben Gegenstand x; (4) Phantasieren (oder Erinnern) des Bildes – ‚IMA PIC’, oder ‚REM PIC’ –, das denselben Gegenstand darstellt. Wenn wir diese Fälle phänomenologisch untersuchen, ist es hilfreich, sich zu fragen: Wie ist der Gegenstand, x, in jedem dieser Erlebnisse intentionaler Bezugnahme auf x gegeben? Oder sich zu fragen: Was ist es, was ich tue, damit ich x gegeben habe? Indem wir auf diese Weise reflexiv vorgehen, sozusagen „rückwärts“, vom intendierten Gegenstand x „dort draussen“ (in der wirklichen Welt oder in irgendeinem fiktionalen Schauplatz) zu den Gegebenheitsweisen dieses Gegenstandes in meinen Bewusstseinserlebnissen, erhalten wir die folgenden vier strukturell klar unterschiedenen Formeln für die phänomenologischen Formen dieser Erlebnisse: (1) aktuell den Gegenstand x einfach sehen, ergibt reflexiv: (PER) x d.h. x ist gegeben mittels eines aktuellen Wahrnehmens von x. (2) visuelles Vorstellen des Gegenstandes x, ergibt: (IMA) x – weiter analysiert: i ______ (REP – [PER] ) -− / |− x (PRE)s d.h. irgendein fiktionaler oder realer Gegenstand, x, ist mir gegeben in meinem aktuell x Vergegenwärtigen mittels eines neutralisiert vergegenwärtigten [nicht-aktuellen] Wahrnehmens von x, während ich gleichzeitig meine gegenwärtige Umgebung s präsentiere. Anders, mit Husserl zu sprechen, noetisch-orientiert ausgedrückt: Ich (das Subjekt des Erlebnisses), während ich in der Präsentation meiner aktuellen Umgebung s gründe, vergegenwärtige einen fiktionalen oder realen Gegenstand, x, mittels eines Vergegenwärtigens eines neutralisierten Wahrnehmens von x. (3) ein Bild vom Gegenstand x sehen, ergibt reflexiv: (PIC) x – weiter analysiert:
224 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? i _______ (REP −[PER] x ) |− / − x (PRE) s (PER) y d.h. irgendein realer oder fiktionaler Gegenstand, x, ist mir gegeben oder erscheint mir, in meinem aktuellen Vergegenwärtigen von x mittels eines neutralisiert vergegenwärtigten [nicht-aktuellen] Wahrnehmens von x, insoweit als x im Bild y erscheint, welches ich aktuell wahrnehme. Oder wiederum noetisch-orientiert ausgedrückt: Ich, gestützt auf die Präsentation meiner aktuellen Umgebung, s, vergegenwärtige ein reales oder fiktionales x mittels eines Vergegenwärtigens eines neutralisierten Wahrnehmens von x, insoweit als x im Bild y erscheint, das ich aktuell wahrnehme. Was die komplexere Formel für das Erlebnis der Phantasie von einem Bild, welches x darstellt, betrifft, (4) IMA PIC x, gehe ich in drei Schritten vor, um die reflexive Analyse durchsichtiger zu machen: (4) Phantasieren, den Gegenstand x im Bild zu sehen; oder mit Kosslyn et al.’s Ausdrücken: „forming a mental image of a picture of object x“: (IMA PIC) x, ergibt weiter analysiert: (4a)
i _______ (REP − [REP … ] ) |− / − x (PRE) s
d.h. irgendein realer oder fiktionaler Gegenstand, x, ist mir gegeben in meinem aktuellen Vergegenwärtigen von x mittels eines neutralisiert vergegenwärtigten [nicht-aktuellen] Vergegenwärtigens von x, während ich gleichzeitig meine aktuelle Umgebung s präsentiere. (4b)
i _______ (REP − [REP −[PER] x ] ) |− / − x (PRE) s −[PER] y
d.h. irgendein realer oder fiktionaler Gegenstand, x, ist mir gegeben in meinem aktuellen Vergegenwärtigen von x mittels eines neutralisiert vergegenwärtigten [nicht-aktuellen] Vergegenwärtigens von x, derart dass ein neutralisiertes [nicht-aktuelles] Wahrnehmen von x vergegenwärtigt wird, insoweit x im Bild y erscheint, das mir gegeben ist mittels eines neutralisiert vergegenwärtigten [nicht-aktuellen] Wahrnehmens von y, während gleichzeitig meine aktuelle Umgebung, s, in meiner Präsentation gegeben ist.
Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie (4c)
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i _______ (REP − [ _______ REP −[PER] x ] ) |− / − x (PRE) s − [PRE] s −[PER] y
d.h. irgendein realer oder fiktionaler Gegenstand, x, ist mir gegeben in meinem aktuellen Vergegenwärtigen von x mittels eines neutralisiert vergegenwärtigten [nicht-aktuellen] Vergegenwärtigens von x, derart dass, gleichsam gestützt in einer neutralisiert vergegenwärtigten [nicht-aktuellen] Präsentation einer Umgebung, s, ein neutralisiertes [nicht-aktuelles] Wahrnehmen von x vergegenwärtigt ist, insoweit als x im Bild y erscheint, welches mir gegeben ist mittels eines neutralisiert vergegenwärtigten [nicht-aktuellen] Wahrnehmens von y, während gleichzeitig meine aktuelle Umgebung, s, in meiner Präsentation gegeben ist. Auch diese Formel ließe sich noetisch-orientiert beschreiben – doch lassen wir das! Wie angedeutet, sollte einerseits aus den Formeln (1), (2), (3) und (4c) ersichtlich sein, dass der Ausdruck ‚PER’, der hier eine Tätigkeit des visuellen Wahrnehmens bezeichnet, jedes Mal wiederkehrt. In (1) als Bezeichnung einer aktuell vollzogenen Wahrnehmungstätigkeit bezüglich Gegenstand x; dies wird angezeigt durch die runden Klammern ‚(....)’. In (2), (3) und (4c) erscheint der Ausdruck ‚PER’ innerhalb eckiger Klammern, ‚[....]’, die auf der oberen Zeile der Formeln enthalten sind; dadurch wird angezeigt, dass die Tätigkeit des Wahrnehmens bloß vergegenwärtigt wird und nicht mehr als aktuell vollzogen erlebt ist. Mit anderen Worten, Wahrnehmen ist als intentional impliziert oder modifiziert innerhalb der bewusst erlebten Einheit aktuellen intentionalen Bezugnehmens auf den vergegenwärtigten Gegenstand x enthalten. Also, obwohl es in gewissem Sinne „dieselbe“ Wahrnehmungstätigkeit mit „demselben“ objektiven phänomenalen Gehalt (Erscheinungsgehalt) ist – z.B. ein Gegenstand x, ein Baum etc., in seiner Umgebung, der in den und den Formen und Farben erscheint –, die in jemandes aktuellem Sehen von x vorkommt, wie auch in jemandes visuellem Vergegenwärtigen von x in der einen oder anderen Weise – ist es klar, dass erlebnismäßig, vom Gesichtspunkt unserer Bewusstseinserlebnisse, die intentionale Bezugnahme auf den Gegenstand x ganz unterschiedlich charakterisiert ist, wenn ich x aktuell sehe gegenüber einem bloßen Vergegenwärtigen (Vorstellen) eines Sehens von x auf die eine oder andere Weise. Und hier liegen viel schärfere Unterschiede zwischen Wahrnehmen und bildlichem
226 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? Vorstellen vor als die von Kosslyn et al. selbst herausgestellten Unterschiede bezüglich Aspekten der organisierenden Verarbeitung und Aktivierung von Information (s.o., Abschnitt III). Die Unterschiede, die ich im Auge habe, sind dagegen epistemischer Natur; sie sind entscheidend mit Rücksicht zum einen darauf, wie mir ein gegebener Gegenstand gilt, oder als was er mir gilt, als wie ich den Gegenstand zu sein auffasse: z.B. als real, fiktional, in der Vergangenheit, in einer bloß phantasierten Welt, als im Bild und nicht als er selbst erscheinend etc. Und zum anderen sind die Unterschiede entscheidend mit Rücksicht darauf, wie ich eine vergegenwärtigte (bloß vorgestellte, nicht-aktuelle) wahrnehmende (oder irgendeine andere) Tätigkeit zu sein auffasse: z.B. im (evtl. einer Täuschung unterliegenden) Glauben, dass sie in der Vergangenheit tatsächlich stattgefunden hatte, oder die Tätigkeit bloß phantasierend, ohne Glauben oder Unglauben, sondern eben dahingestellt sein lassend, neutralisiert etc. Die unterschiedlichen Formeln erlauben es, prägnant anzuzeigen, dass neben der Komponente ‚PER’ noch vieles mehr in der mentalen Tätigkeit beschlossen ist, was ein Erlebnis eines einfachen Sehens eines Gegenstandes deutlich von jedem Erlebnis eines vergegenwärtigenden Bezugnehmens auf denselben Gegenstand unterscheidet und die eine Art von vergegenwärtigendem Erlebnis deutlich von einer anderen Art unterscheidet. Um diese auf Reflexion gestützten Bemerkungen abzurunden, möchte ich noch die Komponente des einheitlichen Erlebnisses erwähnen, die mit ‘______’ (PRE)s bezeichnet wird und die in den Formeln (2), (3) und (4) ersichtlich ist. Alle drei bezeichnen Formen von vergegenwärtigenden Erlebnissen, die sozusagen sich von der Boden gebenden Tätigkeit des Präsentierens der aktuellen Umgebung, s, ‚erheben’ und auf einen bloß vergegenwärtigten Gegenstand intentional Bezug nehmen. Wie ich die Sachlage verstehe, bildet dieser Kontrast zwischen einer gegenwärtigenden und einer gleichzeitig vorkommenden vergegenwärtigenden Tätigkeit innerhalb eines einheitlichen Erlebnisses des Vergegenwärtigungsbewusstseins von etwas ein entscheidendes phänomenologisches Datum aus der Erste-Person-Perspektive. Diesen Kontrast finden wir in (4) in wiederholter Weise, was jenes Erlebnis visuellen Bezugnehmens auf den Gegenstand x in seiner Struktur um so ver-
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schachtelter macht, im Gegensatz zu den anderen Erlebnissen, deren Formeln in (2) und (3) gezeigt werden. Schließlich, und nicht zum Geringsten, betrifft ein weiteres phänomenologisches Erste-Person-Datum den Unterschied zwischen (2) – Kosslyn et al.’s ‚visualizing’ – und (3) bzw. (4), die beide eine Bezugnahme auf Bilder enthalten; ein Unterschied, der den Formeln entnommen werden kann, wenn darauf geachtet wird, dass in (3) und (4) der Bezugsgegenstand nicht der Gegenstand x gleichsam selbst ist, wie dies in (2) der Fall ist, sondern die komplexe „doppelte Gegenständlichkeit“ von ‚x/y) |− / − x’, d.h. der Gegenstand x (der abgebildete Gegenstand der realen oder fiktionalen Welt) gerade insoweit, als er im Bild y, das ich aktuell sehe oder mir bloß zu sehen vorstelle, zur Erscheinung kommt. Nun möchte ich nahe legen, dass diese und andere reflexive Befunde, die uns Erste-Person-Daten liefern, systematisch mit neurowissenschaftlichen Dritte-Person-Daten bezüglich Bewusstseinserlebnissen, in denen sogenanntes bildliches Vorstellen auf die eine oder andere Weise vorkommt, integriert werden. Die Erste-Person-Daten der Phänomenologie, verstanden als eidetische Daten, die Einsicht in Strukturen oder Formen von Bewusstseinserlebnissen überhaupt verschaffen (im oben, Abschnitt II, erläuterten Sinne), bilden die Grundlage für phänomenologische Begriffe, welche die Phänomene zu beschreiben ermöglichen, die wissenschaftlich mit Hilfe neurowissenschaftlicher Experimente erklärt werden sollen. Ich würde erwarten, dass die phänomenologischen Daten besonders wertvolle Dienste bei der Suche nach denjenigen neuronalen Grundlagen der bildlichen Vorstellung (neural foundations of imagery) leisten müssten, von denen plausiblerweise soll angenommen werden können, dass sie Fällen von einheitlichen Erlebnissen der einen oder anderen Art bildlichen Vorstellens zugrunde liegen. Genauer gesprochen: Die phänomenologisch begrifflich gefassten Daten sollten von heuristischem Gebrauch sein bei der detaillierteren Bestimmung, welche synchronen neuronalen Feuerungsabläufe beim Gebrauch bildlicher Vorstellung (imagery) mittels eines auf die eine oder andere Weise Vergegenwärtigens eines Wahrnehmens eines Gegenstandes im Spiele sind; denn das Bündelungsproblem (dieser Feuerungsvorgänge) ist offensichtlich nicht auf die Sphäre des perzeptiv-phänomenalen Bewusstseins beim aktuellen Wahrnehmen begrenzt.
228 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? Also, um noch etwas mehr dazu beizufügen, was ich bezüglich der Integration von Erste-Person-Daten und Dritte-Person-Daten im Auge habe, betrachten Sie die folgenden phänomenologischen Auflagen (constraints), die bei der experimentellen Arbeit in Rechnung zu stellen sind. In einem Fall einfachen visuellen Vorstellens eines Gegenstandes x (‚visualizing’, Formel (2)) sollte mit Hilfe von DrittePerson-Daten neuronale Aktivität identifizierbar sein, die in Entsprechung steht zum bewusstseinsmäßig modifizierten Erlebnis des gleichsam Sehens, das in der Bezugnahme auf den Gegenstand x impliziert ist, derart, dass das Muster nicht bloß ein gegenständliches Überlappen mit einem Muster eines aktuellen Sehens von x (vgl. Formel (1)) aufweist, sagen wir, bezüglich Daten, die den Formen und der Farbe von x entsprechen. Vielmehr müsste das Muster der neuronalen Feuerungsaktivität in seiner Gesamtgestalt klar unterscheidbar sein angesichts der für eine Versuchsperson phänomenologisch entscheidenden Differenz zwischen einem aktuell etwas mit Bezug auf den Gegenstand x Erleben gegenüber einem nur gleichsam etwas Erleben mit Bezug auf denselben Gegenstand x, wenn der Gegenstand visuell phantasiert wird, während gleichzeitig etwas mit Bezug auf die gegenwärtige Umgebung erlebt wird. Wiederum ähnlich, jedoch mit einigen zusätzlichen Komplikationen, wenn wir den Fall eines visuell den Gegenstand x Vorstellens (Formel (2)) und den Fall, in dem ein mentales Bild von einer Darstellung des Gegenstandes x in einem Bilde (Formel (4c)) kontrastieren würden. Die entsprechenden Muster neuronaler Feuerungsaktivität müssten radikal voneinander verschieden sein angesichts der radikal verschiedenen subjektiven Erlebnisse, die ich oben mit Hilfe phänomenologischer Begriffe beschrieben habe. V. Schlussbemerkung: einige methodologische Punkte Abschließend möchte ich einige methodologische Vorzüge bezüglich des hier zur Diskussion gestellten Vorschlags zur Integration von neurowissenschaftlichen Dritte-Person-Daten und phänomenologischen Erste-Person-Daten herausheben. Es ist sicher wahr, wie Chalmers (2004) festhält, dass die bei weitem üblichste Art, Daten über bewusste Erlebnisse anderer Subjekte zu gewinnen, diejenige sei, sich auf ihre verbalen Berichte zu stützen. Wichtig dabei sei es, dass diese Daten nicht einfach als Dritte-Person-Daten zu behandeln seien, wie
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es ein Behaviorist tun würde, der das Gegebene darauf begrenzt, dass eine Versuchsperson ein gewisses Geräusch von sich gegeben habe. Vielmehr gehe es darum, den Bericht als Bericht von Erste-PersonDaten, die der Person zugänglich sind, zu behandeln. Zuverlässige Erste-Person-Daten bezüglich bewusster Erlebnisse als solcher zu gewinnen, ist nun allerdings kein so glatt verlaufendes Verfahren. Denn das, wofür ich bisher zu argumentieren versuchte, kann auch so ausgedrückt werden: Um die Idee einer „front-loaded“-Phänomenologie im Sinne eines direkten Gebrauchs der Phänomenologie bei der Konzeption von neurowissenschaftlichen Experimenten zu unterstützen (Gallagher, 2003; vgl. Abschnitt I), ist es entscheidend, dass die verbalen Berichte reflexiv gewonnene deskriptive Berichte von eidetischen Bewusstseinsstrukturen sind. Solche Berichte oder Beschreibungen sind vor einem Experiment auszuarbeiten. Idealerweise müsste ein methodologisch versierter Phänomenologe zu einem Forschungsteam gehören, der einem Experiment voraus die relevanten strukturellen Erste-Person-Daten bezüglich möglicher bewusster Erlebnisse verschafft. Forscher könnten dann den die eine oder andere Art von bewussten Erlebnissen beschreibenden Bericht des Phänomenologen als heuristischen Leitfaden übernehmen, um Experimente zu planen, die die feineren Details eines Erlebnisses entdecken, bezüglich welchem man, gestützt auf eine passende Anweisung an eine Versuchsperson, gute Gründe hätte zu glauben, dass es einen Einzelfall von dieser oder jener Art von Erlebnis darstelle, welches die Versuchsperson in der experimentellen Situation aktuell durchlebt. Die phänomenologischen Beschreibungen liefern begrifflich fundierte Auflagen (constraints) für die empirische Arbeit, indem sie dasjenige im Voraus explizit machen, was bloß implizit im vorreflexiven natürlichen Bewusstsein von Versuchspersonen ist. Wahrscheinlich der hauptsächliche Vorzug dieses Ansatzes ist darin zu sehen, dass man sich unter Beizug aller verfügbaren Dritte-Person-Methoden an detaillierte Forschungsfragen bezüglich deutlich unterschiedlicher Bewusstseinsweisen machen kann, ohne dabei mit der Leistung von Versuchspersonen oder dem Gewinnen von Dritte-Person-Daten selbst in Kollision zu geraten. Bemerken Sie den entscheidenden Unterschied zwischen einem aktiven in ein Bewusstseinserlebnis dieser oder jener Art Hineingezogensein einer Versuchsperson auf der einen Seite – also zum Beispiel in ein Betrachten eines Bildes vom Gegenstand x (Formel (3)) oder in ein bildliches Vorstellen von einem Bild
230 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? des Gegenstandes x – und, auf der anderen Seite, einem reflexiven Beschreiben genau der Strukur eines solchen Erlebnisses mittels des methodologischen Rüstzeugs des Phänomenologen. Während die Arbeit des Phänomenologen vor und genau gesagt auch ganz unabhängig von einer gegebenen experimentellen Situation durchgeführt werden kann, werden die Bewusstseinserlebnisse der Versuchsperson aktuell durchlebt, aber nicht reflektiert sein, während sie gleichzeitig überwacht und gemessen werden mit Hilfe von Dritte-PersonMethoden der Bildgebung via fMRI- und PET-Technologien, Einzelzellableitungen durch Einführen von Elektroden, Oberflächenmessungen mittels EEG und MEG etc. Ein weiterer Vorzug des vorliegenden Vorschlags, neben demjenigen, dass störende Interferenzen mit den Leistungen der Versuchspersonen und mit der Datengewinnung vermieden werden, scheint mir darin zu bestehen, dass er ohne weiteres Replikationen von experimentellen Situationen zulässt. Überdies können sich, vielleicht im Zusammenhang von Wiederholungen, neue Fragen bezüglich weiterer Details und Verfeinerungen eines Bewusstseinserlebnisses einstellen. Zum Beispiel bezüglich Aufmerksamkeitswechseln bei Versuchspersonen, die auf eine passende Anweisung hin in ihren intentionalen Bezugnahmen anstatt auf den abgebildeten Gegenstand x auf seine Erscheinungsweise im Bild achten; oder bezüglich bewusst von den Versuchspersonen zu vollziehenden Abwandlungen ihrer Einstellung vom Glauben zum bloßen Phantasieren von etwas etc. Des Weiteren sollte das strukturelle Wissen über Bewusstsein aufgrund von ErstePerson-Daten, welches die Husserlsche Phänomenologie zur Verfügung stellen kann, verfeinertere Dritte-Person-Daten, die an Ebenen geknüpft sind, liefern, wie sie bei gewissen vergegenwärtigenden Erlebnissen von Versuchspersonen und bei ihren gesetzmäßigen Abhängigkeiten gegeben sind (z.B. Ebene erster Ordnung, zweiter Ordnung etc. bei Bezugnahmen auf Bilder und Bilder von Bildern). Schließlich, und nicht zum mindesten, sollten die phänomenologischen Klärungen und begrifflichen Auflagen (constraints), die sich von mehr oder weniger persönlichen Berichten über Erlebnisse so sehr unterscheiden, natürlich mit anderen verfügbaren Methoden und Maßen kombiniert werden, also sicherlich auch mit retrospektiven Berichten von Versuchspersonen darüber, was sie während einer experimentellen Situation getan hatten. Jedenfalls, der Versuch, Bewusstsein in das Haus der Wissenschaft einzubeziehen, sollte nicht mehr länger
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ohne Rücksicht auf die Husserlsche Phänomenologie unternommen werden. Mit ihrer Hilfe gibt es eine reelle Chance, dass das „große Programm für die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts“, das Chris Frith (2002) zur Sprache brachte, seiner Verwirklichung näher kommt, „zu entdecken, wie ein Erlebnis in einen Bericht übersetzt werden kann, somit unseren Erlebnissen ermöglichend, geteilt zu werden“.12 Anhang: Kurzer Überblick über die Elemente der phänomenologischen Notation - An englischen Ausdrücken orientierte Kürzel von drei Großbuchstaben dienen zur Bezeichnung von mentalen Tätigkeiten; so ‚PER’ für ‚Wahrnehmen’, ‚REM’ für ‚Erinnern’, ‚IMA’ für ‚Phantasieren’ (‚Vorstellen’), ‚PIC’ für ‚Bildanschauen’, ‚PRE’ für ‚Präsentieren’ (‚Gegenwärtigen’), ‚REP’ für ‚Re-präsentieren’ (‚Vergegenwärtigen’). - Kleinbuchstaben (‚x’, ‚y’, ‚s’) bezeichnen intentionale Gegenstände, d.h. Gegenstände reflexiv betrachtet als Korrelate von mentalen Tätigkeiten. Im jetzigen Kontext handelt es sich um raumzeitlich lokalisierte Einzelgegenstände, Situationen, Ereignisse, stets betrachtet als Korrelat entsprechender mentaler Tätigkeiten. - Ein Paar runder Klammern, ‚(....)’ wird benutzt, um die intentionale Korrelation zwischen einer aktuell vollzogenen mentalen Tätigkeit und ihrem Gegenstand anzuzeigen; so bezeichnen z.B. Ausdrücke wie ‚(PER)x’, ‚(IMA)x’, etc. ein aktuell vollzogenes Wahrnehmen, Phantasieren etc. insoweit, als die Tätigkeit etwas als ihren intentionalen Gegenstand oder ihr Korrelat hat. Diese Tätigkeiten gilt es, reflexiv als Formen oder Strukturen des Präsentierens und Re-präsentierens (Vergegenwärtigens) von intentionalen Gegenständen zu analysieren. - Paare von eckigen Klammern, ‚[....]’, die Ausdrücke für mentale Tätigkeiten umschließen und die innerhalb von Ausdrücken, die von runden Klammern umfasst werden, gesetzt werden, bezeichnen den reflexiven Befund einer intentionalen Implikation oder Modifikation einer mentalen Tätigkeit, die in einer anderen Tätigkeit enthalten ist. Entscheidend dabei ist, dass der Ausdruck einer Tätigkeit, der durch solche eckigen Klammern umschlossen ist, den Umstand anzeigen soll, dass eine solche intentional implizierte Tätigkeit nicht mehr aktuell vollzogen ist, sondern gerade erlebt wird als bloß auf die eine oder andere Weise vergegenwärtigte, eben [nicht-aktuelle] Tätigkeit, in einem aktuellen vergegenwärtigenden Bezugnehmen auf einen intentionalen Gegenstand. Also, der Ausdruck ‘(REP [PER])x’ bezeichnet den reflexiven Befund, dass die aktuell vollzogene vergegenwärtigende Tätigkeit in ihrer intentionalen Bezugnahme auf den Gegenstand x in sich selbst eine nicht-aktuelle Tätigkeit des Wahrnehmens impliziert. Formen von vergegenwärtigenden Erlebnissen, (REP)x, die im jetzigen Kontext relevant sind, sind IMA, REM, PIC und deren Kombinationen; sie alle implizieren intentional eine oder mehrere Tätigkeiten des Wahrnehmens in Weisen, die weiter zu spezifizieren sind.
232 Eduard Marbach: Bewusstsein in der (Neuro)Wissenschaft? - Ein horizontaler Strich, ‘______’, sozusagen der ‚Grundlagen-Strich’, dient dazu, dem reflexiven Befund Rechnung zu tragen, dass alle vergegenwärtigenden Erlebnisse ein gleichzeitig vollzogenes präsentierendes Erlebnis erfordern, auf dessen Grundlage und im Kontrast mit ihm jemandes intentionales Bezugnehmen auf etwas Vergegenwärtigtes stattfindet; der zusammengesetzte Ausdruck wird tiefgestellt: ‘______’ (PRE)s - Zusätzlich dient dieser Strich auch in Fällen, wo ein vergegenwärtigendes Erlebnis einen gleichzeitig physisch gegenwärtigen oder vergegenwärtigten Träger oder eine Grundlage für die vergegenwärtigende Funktion erfordert, wie es in Fällen von etwas im Bilde Sehen vorkommt. Also, ein Ausdruck wie ‘(REP – [PER] x) x’ (PER) y bezeichnet einen Teil der Form einer mentalen Tätigkeit des einen Gegenstand x im Bilde Vergegenwärtigens, die in einem gleichzeitigen Wahrnehmen des Bildes (Trägers) y, in welchem x erscheint, gegründet ist. - Ein Zeichen von der Form ‚|- ´, genannt ‚Glaubens-Strich’ (belief-stroke), dient dazu, den Umstand auszudrücken, dass eine gegebene mentale Tätigkeit, ob aktuell vollzogen ‚(....)’ oder nur vergegenwärtigt, ‚[....]’, die Kraft des „Glaubens“ („Überzeugtseins“) oder des „Setzens“ (Positionalität) hat und dass ihr intentionales Korrelat für wirklich gilt. - Andererseits dient ein Zeichen von der Form ‚-´, genannt „Neutralitätsstrich“, dazu, eine Bewusstseinsoperation des ‚Neutralisierens’, d.h. des Dahingestelltseinlassens des Glaubens anzuzeigen, entweder bezüglich einer Tätigkeit oder eines intentionalen Gegenstandes. - Wo erforderlich, wird der Buchstabe ‚i’ ganz zu Beginn einer Formel geschrieben, um das Ichbewusstsein zu bezeichnen, das in einem Erlebnis beschlossen ist.
Bibliographie A. Baddeley, M. A. Conway & J. Aggleton, (eds.): Episodic Memory. New directions in research. The Royal Society, Oxford University Press, Oxford 2002. D. J. Chalmers: How Can We Construct a Science of Consciousness? In: M. Gazzaniga (ed.), The Cognitive Neurosciences III. The MIT Press, Cambridge, Mass. 2004, section X, ch. 79. M. A. Conway: Sensory-perceptual episodic memory and its context: autobiographical memory. In: Phil. Trans. R. Soc. Lond. B (2001) 356, 1375-1384. M. A. Conway, C. W. Pleydell-Pearce, S. E. Whitecorss, H. Sharpe: Neurophysiological correlates of memory for experienced and imagined events. In: Neuropsychologia 41 (2003), 334-340. G. M. Edelman u. G. Tononi: A Universe of Consciousness. How Matter Becomes Imagination. Basic Books, New York 2000. C. Frith: How can we share experiences. In: TRENDS in Cognitive Science 6 no. 9, September 2002, 374. S. Gallagher: Phenomenology and Experimental Design. Toward a Phenomenologically Enlightened Experimental Science. In: Journal of Consciousness Studies 10, No. 9-10, 2003, 85-99.
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J. M. Gardiner: Episodic memory and autonoetic consciousness: a first-person approach. In: Baddeley, Conway, Aggleton (eds.), 2002, 11-30. St. M. Kosslyn: Neural Foundations of Imagery. In: Nature Reviews/ Neuroscience, Vol. 2, (2001), 635-642. E. Marbach: Mental Representation and Consciousness. Towards a Phenomenological Theory of Representation and Reference. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 1993. K. M. O’Craven u. N. Kanwisher: Mental Imagery of Faces and Places Activates Corresponding Stimulus-Specific Brain Regions. In: Journal of Cognitive Neuroscience 12 (2000); 1013-1023. E. Tulving: Episodic and semantic memory. In: Organization of Memory (ed. E. Tulving and W. Donaldson), Academic Press, New York 1972, 382-403. E. Tulving: Elements of episodic memory. Clarendon Press, Oxford 1983. E. Tulving: Memory and Consciousness. In: Can. Psychology 26 (1985), 1-12. E. Tulving: Episodic memory and common sense: how far apart? In: Baddeley, Conway, Aggleton (eds.), 2002, 269-287. M. A. Wheeler/D. T. Stuss/E. Tulving: Toward a Theory of Episodic Memory: The Frontal Lobes and Autonoetic Consciousness. In: Psychological Bulletin 121 (1997), no. 3, 331-354.
Anmerkungen: 1
Vgl. M. Gazzaniga (ed.), The Cognitive Neurosciences III, MIT Press 2004, section X, ch. 79 – vgl. Chalmers’ homepage http://consc.net/papers.html. 2 Journal of Consciousness Studies 10, No. 9-10, 2003. 3 Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich Seitenangaben in den folgenden Absätzen auf diesen Text. 4 „…the type of awareness experienced when one thinks back to a specific moment in one’s personal past and consciously recollects some prior episode or state as it was previously experienced“ (333). 5 Siehe auch z.B. Gardiner (2002), der ausdrücklich einen Erste-Person-Ansatz zum episodischen Gedächtnis und Bewusstsein vorschlägt, in welchem episodisches Gedächtnis mit autonoetischem Gewahrsein identifiziert und mittels ‚remember’Antworten gemessen wird, während das semantische Gedächtnis mit noetischem Gewahrsein identifiziert und mittels ‚know’-Antworten gemessen wird. 6 „Its essence lies in the subjective feeling that, in the present experience, one is re-experiencing something that has happened before in one’s life. It is rooted in autonoetic awareness and in the belief that the self doing the experiencing now is the same self that did it originally.” (349) 7 Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben, falls nicht anders vermerkt, auf diesen Text. 8 Der zweitgenannte Artikel findet sich auch in Baddeley, Conway, Aggleton (eds.) (2002), 53-70. 9 Nebenbei sei erwähnt, dass Conways Begriff von ‘episodic memory’ ein “reworking” darstellt oder “a revision of the ‘episodic memory’ concept as this was originally proposed by Tulving (1972) and later elaborated (Tulving 1983, 1985; Wheeler et al. 1997)” (1375). Vgl. auch Tulving (2002), besonders 271: “Conway’s proposal is wide in scope and rich in detail. It should generate a lively debate in the future”. Ich kann im Rahmen dieses Beitrags jedoch nicht weiter auf diesen besonderen Aspekt in den Arbeiten von Conway eingehen.
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Siehe auch z.B. Tulving (2002): “Scientific research has clearly established that it is not always possible to determine what happened in the past on the basis of a person’s recollection, regardless of whom the person is, and regardless of how strongly – and genuinely – the person believes that he or she is telling the truth. This research shows that it is perfectly possible for even completely sane, intelligent and honest people to clearly remember and strongly believe something that never happened. Such ‘false memories’ or ‘memory illusions’ do not happen all the time, of course. Usually what we remember is true to a larger or smaller extent. Memory can also be absolutely veridical – think of all the memorized poems, speeches, dates, addresses, phone numbers and passwords that we can recall (most of the time). Nevertheless, a good part of the activity of memory consists not in reproduction, or even in reconstruction, but in sheer construction. And constructed memories do not always correspond to reality.” (273, m. H.) 11 Ein kurzer Überblick über die Elemente der Notation findet sich hier im Anhang. Für eine ausführlichere Präsentation der Idee einer phänomenologischen Notation und ihrer Elemente siehe Marbach (1993), ch. 1. 12 Ich danke Doris Eckstein, Susanne Jaeggi, Beat Meier und Iso Kern für fruchtbare Diskussionen einiger Ideen, die ich hier entwickelt habe. Es versteht sich von selbst, dass verbleibende Unklarheiten ganz mir selbst zuzuschreiben sind.
Vergebung und Einfühlung Henning Peucker, Köln Zusammenfassung: Was heisst es, jemandem zu vergeben? In der Literatur hierzu wird Vergebung als eine Überwindung von negativen Gefühlen wie Hass oder Zorn beschrieben, die ein Unrechtsopfer denjenigen gegenüber hegt, die ihm oder ihr Leid zugefügt haben. Zugleich geht mit dem Vergeben auf Seiten des Unrechtsopfers eine Bewältigung von Gefühlen einher, die von Verzweiflung bis zu Niedergeschlagenheit reichen können. Der Aufsatz fragt zunächst, wie wir vergeben können, und ob sich für das Vergeben schlüssige Gründe oder Bedingungen angeben lassen. Als solche Bedingungen sind etwa die Reue des Übeltäters, dessen deutliches Bemühen um Schadensausgleich oder dessen Bitte um Vergebung zu nennen. Ausserdem kann das Vergeben erleichtert werden, wenn die Geschädigten die motivierenden Tatumstände des Täters verstehen können. All dies setzt beiderseitige Einfühlung voraus; insofern können die Grenzen der Einfühlungsbereitschaft auch Grenzen des Vergebens setzen. Da sich die genannten Gründe für ein Verständnis des Vergebens aber nicht als zwingend erweisen, schlägt der abschließende Teil des Aufsatzes einen stärkeren Begriff des Vergebens vor: Demgemäß ist das Vergeben nicht als bedingter und bilateraler Prozess zu verstehen, sondern als ein unbedingtes und unilaterales Geschehen.
Nelson Mandela verbrachte 27 Jahre seines Lebens im Gefängnis. Zuvor war er für seinen politischen Kampf zu lebenslanger Haft verurteilt worden. In den ersten Jahren der Gefangenschaft musste er – ungeschützt in der glühenden Sonne – Steinbruchsarbeiten verrichten. Sein Augenlicht nahm Schaden. Lange Zeit wurde er isoliert, konnte keine Nachrichten empfangen, kaum Briefe schreiben und empfangen. Der Apartheidsstaat, gegen den er kämpfte, tat alles, um seine Widerstandskraft zu brechen. Auch seine Frau wurde schikaniert, mehrfach interniert und in der Gefangenschaft abscheulichen Demütigungen ausgesetzt.1 All den Brutalitäten und Demütigungen zum Trotz verlässt Mandela 1990 das Gefängnis aber nicht mit Bitterkeit und Hass gegenüber seinen Peinigern, sondern mit einer versöhnenden Botschaft von Toleranz und Hoffnung. In seiner Autobiographie berichtet er sogar, dass er im Nachhinein bedauert habe, sich von seinen Gefängniswärtern nicht mehr eigentlich verabschiedet zu haben. 2 Sein Einsatz im Freiheitskampf scheint in aller Konsequenz geradezu ein idealtypischer Fall vorbildlichen, weil friedfertigen und menschenfreundlichen Verhaltens zu sein. 235 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 235–246. © 2006 Springer.
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Trotz aller berechtigten Skepsis gegenüber der Funktion von Beispielen in der Moralphilosophie, bekundet sich in diesem Verhalten ein Muster eines höchst rätselhaften Phänomens: Wie ist es möglich, als Opfer erlittenen Unrechts den dafür Verantwortlichen zu vergeben? Was heisst es überhaupt, „zu vergeben“? Gibt es Gründe für solches Vergeben, die es schlüssig verständlich machen können? Was meinen wir damit, wenn wir sagen, wir hätten jemandem vergeben? Die Klärung dieser Fragen ist nicht nur in politischen Kontexten der Unrechtsaufarbeitung von Bedeutung, wie zum Beispiel im Zusammenhang mit der nach dem Niedergang des Apartheidsregimes erstmals in Südafrika praktizierten Form der Unrechtsaufarbeitung in sogenannten Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Mit Versuchen zu einer Institutionalisierung von Vergebung haben wir es auch bei juristischen Bemühungen zur Aufarbeitung von Kleinkriminalität zu tun; ausserdem bei Konflikten, die in den Bereich des Familienrechts fallen, und überhaupt kann Vergebung in allen denkbaren Fällen der Ausräumung zwischenmenschlicher Konflikte eine zentrale Rolle spielen. Was also ist Vergebung? In formaler Hinsicht ist von „Vergebung“ in der Regel dort die Rede, wo ein Unrechtsopfer seinem Übeltäter das begangene Unrecht vergibt. Hier besteht eine direkte Relation zwischen zwei Personen: dem Opfer und dem Täter – die Problematik dieser vereinfachenden Kategorien lasse ich hier beiseite, obwohl ich sie im Folgenden ständig benutzen werde. Formal betrachtet, sind zusätzlich noch drei weitere Relationen des Vergebens möglich: Wir können Erstens uns selbst vergeben, wenn wir gegenüber einem von uns begangenen Fehler nachsichtig sind und uns deswegen nicht weiterhin mit selbstquälerischen Überlegungen plagen. Zweitens gibt es den interessanten Fall, bei dem einem Täter nicht von seinem Opfer, sondern von einem an der Unrechtsausübung nicht direkt beteiligten Dritten vergeben wird. Diese Relation mit mindestens drei Beteiligten liegt z.B. in der Beichte vor, bei der ein Priester beansprucht, einem Täter vergeben zu können, ohne dafür das Unrechtsopfer eigens um Zustimmung befragen zu müssen – eine Konstellation, die sich übrigens in ähnlicher Weise auch in den Wahrheits- und Versöhnungskommissionen findet, da hier eine Kommission Amnestien erlässt, ohne dass deswegen auch die direkt betroffenen Unrechtsopfer den amnestierten Tätern vergeben müssen. Drittens schließlich sprechen wir davon, dass Gruppen einander vergeben können – z.B. die Polen den Deutschen, die Korea-
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ner den Japanern, die Albaner den Serben usw. Wie und ob dies gelingen kann, führt zu besonderen Problemen, die ich hier nicht weiter untersuchen werde. Ich werde im Folgenden stattdessen meine Suche nach einem Verständnis des Vergebens auf den zuerst genannten Standardfall beschränken, bei dem ein Opfer seinem direkten Übeltäter vergibt. Dieser Fall bildet wohl auch die Grundlage jeder Vergebung von Gruppen, denn wer, wenn nicht jeweils Einzelne, hätte hierbei die Vergebung zu leisten. Aber was ist in inhaltlicher Hinsicht damit gemeint, wenn wir sagen, wir hätten jemandem vergeben? In der in den letzten Jahren immer umfangreicher werdenden Literatur zu diesem Thema wird „Vergebung“ als „a change of heart“ beschrieben.3 Vergebung ist eine Haltungsänderung des Unrechtsopfers gegenüber dem Übeltäter, die vor allem durch die Überwindung von negativen Gefühlen charakterisiert ist – jenen negativen Gefühlen, die man als Folgen eines erlittenen Unrechts hegt.4 Diese Gefühle richten sich einerseits gegen den Täter: Wir reagieren mit Wut, Ärger und Zorn auf die Zufügung von Unrecht, und diese Gefühle können sich zu einem bitteren Groll, ja schließlich bis zu einem abgründigen Hass gegenüber dem Täter steigern, der auf dessen Vernichtung zielt.5 Andererseits wird der Verletzte die Tat als eine Demütigung empfinden; mehr noch: die durch die Tat vollzogene Erniedrigung und Missachtung der eigenen Person kann tief gehende Folgen haben und Gefühlszustände wie Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit oder eine lähmende Antrieblosigkeit nach sich ziehen, die allesamt selbstzerstörerische und traumatische Züge annehmen können. Beide Arten von Gefühlen, diejenigen, die sich gegen den Täter, und diejenigen, die sich gegen das Opfer selbst richten, sind ohne Zweifel in dem Sinne „negativ“, dass sie eine optimistische, menschenfreundliche und freie Entwicklung der eigenen Person nachhaltig belasten. Ihre Überwindung im Vergeben hat daher sicher auch einen therapeutischen Effekt. Die Überwindung dieser negativen Gefühle geschieht – wenn überhaupt – zumeist nur in einem sehr mühsamen Prozess, der viel Geduld und also Zeit braucht. Der Einstieg in einen solchen Vergebensprozess liegt unmittelbar nach der Unrechtserfahrung alles andere als nahe. Vielmehr sind die durchaus angemessenen Reaktionen auf die Unrechtserfahrung Wut, Ärger und Zorn gegen den verantwortlichen Übeltäter, da wir uns dessen Tat nicht ohne weiteres bieten lassen. Wer Opfer einer mutwilligen Verletzung geworden ist, wird darauf
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drängen, es – wie man sagt – dem Täter „heimzuzahlen“. Und wer ein Unrecht begangen hat, muss – so die allgemein gültige Überzeugung – dafür auch büßen. Er hat eine Strafe verdient, deren Höhe sich nach der Schwere seines Verbrechens bemessen soll. Der Wunsch nach Vergeltung oder irgend einer Form von Revanche ist demgemäß das bestimmende Motiv nach einer Unrechtserfahrung. Dem Recht auf Vergeltung (ius talionis) nach dem Maß des begangenen Unrechts – also Auge um Auge und Zahn um Zahn – zufolge hieße dies konkret, dass Mörder hinzurichten, notorische Brandstifter zu verbrennen und Sexualtäter zu entmannen wären. Obwohl uns solche Praktiken des Strafens als unmenschlich und atavistisch gelten, würden wir an einem Grundgedanken des vergeltenden Strafens natürlich festhalten und darauf drängen, dass Straftätern eine angemessene Bestrafung zukommen muss. Auch könnte die durch die Bestrafung des Täters erfolgte Sühnung von dessen Unrechtstat eventuell dazu beitragen, den Opfern eine gewisse Befriedigung zu verschaffen und deren Verlangen nach Vergeltung zu stillen. Einem begangen Unrecht anders als mit irgendeiner Form von Vergeltung zu begegnen, ist unüblich und alles andere als naheliegend. Wie auf Unrechtserfahrungen daher mit Vergebung reagiert werden kann, ist in hohem Maße verwunderlich und erklärungsbedürftig, denn es ist nicht ohne weiteres einzusehen, wie und warum ein Unrechtsopfer sein Bestreben nach einer Bestrafung der Täter überwinden, und dem Täter vergeben kann. Ich will nun einen ersten Versuch zur Klärung des Rätsels der Vergebung unternehmen, indem ich vier Gründe nenne, die zunächst geeignet scheinen, zu erklären, wie und warum Vergebung möglich ist.6 Die folgenden Gründe können das Vergeben motivieren und eventuell sogar Bedingungen dafür sein, dass es zum Vergeben kommt. Insofern scheinen sie zunächst geeignet zu sein, den rätselhaften Prozess des Vergebens besser zu verstehen: Eine erste Bedingung wäre, dass sich der Täter überhaupt zu seiner Tat bekennt und einsieht, dass er ein Unrecht begangen hat. Es dürfte einem Opfer extrem schwer fallen, demjenigen zu vergeben, der sich nicht einmal so weit in die Lage des von ihm Geschädigten zu versetzen vermag, wie nötig ist, um einzusehen, dass er ein Unrecht begangen hat. Wer dies nicht kann oder will, ist gleichsam blind, borniert oder extrem abgestumpft, zeigt also nur geringe Spuren elementarer Menschlichkeit. Wo ein Täter hingegen die Verantwortung für sein Tun übernimmt, macht er einen ersten Schritt auf das Opfer zu, denn
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er akzeptiert damit zumindest, dass durch sein Tun ein Anderer zu Schaden gekommen ist und somit beide in einer problematischen Relation stehen. Die zweite, und vielleicht entscheidende Bedingung für das Vergeben ist, dass der Täter nach seiner Tat Zeichen von Reue bekundet. Ein Reuiger wird anders als ein bloß brutaler Täter wahrgenommen. Er markiert durch die Reue eine gewisse Distanz zu dem von ihm Verschuldeten, wodurch er sich als jemand zeigt, der eben nicht nur verbrecherisch agiert. Die Reue basiert auf einem Schuldbewusstsein, das nur derjenige hat, der moralisch nicht vollends korrumpiert ist, sondern zumindest eine Spur von moralischem Sinn hat. Ausserdem zeigt die Reue eine Fähigkeit zum Mitgefühl. Wo Täter keinerlei Reue zeigen, dürfte es ihren Opfern kaum möglich sein, zu jenem „change of heart“ gegenüber dem Täter zu kommen, der für das Vergeben charakteristisch ist, denn wo die Reue fehlt, gibt es kaum Anlass, den Täter anderes als eine bloße Verbrecherperson wahrzunehmen. Über die Reue hinaus, bekundet sich die Einsicht des Täters in die Fehlerhaftigkeit seines Handelns in seinem konkreten Bemühen, den von ihm zu verantwortenden Schaden nach Kräften wieder auszugleichen. Einem Täter ist leichter zu vergeben, wenn er seinem Opfer Hilfe zur Überwindung der Tatfolgen anbietet. Solch ein Schadensausgleich kann materiell durch angebotene Reparationszahlungen oder Schmerzensgeld erwirkt werden. Sie dienen dem, was das deutsche Wort „Wiedergutmachung“ ausdrücken soll. Täter mit dem Bemühen um Schadensausgleich schützen nicht nur Reue vor, sondern haben den konstruktiven Willen, die von ihnen verantworteten Unrechtsfolgen möglichst gering zu halten. Dieses konstruktive Bemühen kann es dem Opfer sicher erleichtern, den Täter anders als zuerst zu erfahren, also die Einstellung ihm gegenüber positiv zu verändern. Bittet ein Täter über all dies hinaus schließlich sein Opfer auch noch um Vergebung, dürfte dies ein weiterer Grund für das Opfer sein, zu vergeben. Die aufrichtige Bitte um Vergebung zeigt, dass der Täter ein tiefes Bedürfnis daran hat, sich von der moralischen Last des von ihm zu verantwortenden Unrechts zu befreien. Möglicherweise leidet er selbst unter dem, was er verschuldet hat, hat also Gewissensbisse oder sogar einen Selbsthass, den er nur mit Hilfe des Opfers glaubt überwinden zu können. Die Bitte um Vergebung ist eine Bitte um Hilfeleistung, die an das Opfer gerichtet wird. Die vom Täter durch seine Tat einst vollzogene Degradierung und Missachtung der
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Persönlichkeit des Opfers wird durch diese Bitte tendenziell rückgängig gemacht, denn nun sieht und schätzt der Täter sein früheres Opfer als jemanden, der die Macht hat, ihm Hilfe zu gewähren. 7 Diesen vier Gründen, die den Prozess des Vergebens motivieren können, ist gemeinsam, dass sich in ihnen der Täter nach der Tat in unterschiedlichem Maße auf das Opfer zubewegt. Er nähert sich ihm nicht mehr als brutaler Unrechtstäter, sondern als mitfühlendes Gegenüber. Täter und Opfer müssen einander näherkommen, wenn es zu einer Versöhnung durch Vergebung kommen soll, da die Vergebung nicht von einem unbeteiligten Dritten erwirkt werden kann, sondern nur von dem verletzten Tatopfer selbst. Wenn dies seinen Peiniger nicht nur als rücksichtslosen Übeltäter, sondern als einen Verantwortung und Mitgefühl zeigenden Menschen erlebt, kann damit ein erster Schritt hin zu einer Versöhnung gemacht sein. Auf jeden Fall kann die Vergebung nicht von einem richtenden Dritten inszeniert werden – es gibt, anders als beim Gericht, keinen thronenden Richter, der Vergebung veranlasst, sondern sie muss vom geschundenen Opfer selbst ausgehen und direkt auf den Täter gerichtet sein. All den genannten Gründen ist gemeinsam, dass sie dem Opfer helfen können, den Täter als Person nicht einzig und allein von seiner Unrechtstat her zu beurteilen. Solange die Opfer-Täter-Beziehung ausschließlich vom Erlebnis der Tat bestimmt ist, stehen sich beide primär unversöhnlich als Gegner gegenüber. Eine Annäherung von Mensch zu Mensch kann erst gelingen, wenn die Täterperson von ihrer Unrechtstat in irgendeiner Weise distanziert wird. Eben dies geschieht, wenn sie Mitgefühl zeigt, Reue bekundet, um Vergebung bittet, oder auf andere Weise eine menschliche Beziehung zum Opfer hat. Damit es zu dieser für den Vergebensprozess erforderlichen Annäherung kommt und sich Täter und Opfer auf eine neue Weise begegnen können, ist wechselseitige Einfühlung erforderlich. Mit „Einfühlung“ meine ich hier ein konkretes mundanes Geschehen, durch das eine oder einer ihr oder sein Gegenüber zu verstehen sucht. Verstehen des Anderen heisst dann, die Motive und Ziele seines Handelns in die Auffassung und Beurteilung der anderen Person einzubeziehen. Hierzu ist unter anderem die Berücksichtigung seines lebensgeschichtlichen und kulturellen Hintergrundes nötig. Solch konkretes Verstehen des Anderen in der Einfühlung setzt das immer schon voraus, was Husserls transzendentale Theorie der Einfühlung erklären will: die
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grundsätzliche Konstitution des Anderen als eines anderen psychischen Wesens, das sich in etwa analog zu mir verhält, d.h. ähnliche leibliche Bewegungen und Gebärden macht, die mich wiederum dazu veranlassen, ihm ein ähnlich reich strukturiertes psychisches Leben einzulegen (Introjektion), wie ich es von mir her kenne. Obwohl Husserls Analysen in erster Linie der transzendentalen Leistung der Einfühlung als prinzipieller Konstitution anderer Subjektivität gewidmet sind, bieten sie genug Material, um wichtige Einsichten in jenes mundane Einfühlungsgeschehen zu gewinnen, das in den Vergebensprozess eingebunden ist. Eine solche Einsicht, auf die es mir hier besonders ankommt, besteht darin, dass das Nachverstehen des Anderen stets von dem ausgeht, was mir von mir selbst her – aus meiner Primordialsphäre – vertraut ist. Das Eigene oder, genauer, das Ich, fungiert in der Konstitution des Anderen als „Urmonade“8, ja als „Urnorm“9; es setzt den Maßstab für das Normale und ermöglicht die Bestimmung des Abnormalen als eine Abwandlung dieses Normalen. Diese Theorie Husserls ist vor allem durch die vielfach an ihr geäusserte Kritik an ihrer angeblichen Ichzentriertheit bekannt geworden, auf die ich hier aber nicht weiter eingehen möchte. Statt Husserls Theorie der Konstitution des Anderen zu kritisieren, will ich vielmehr ihre Eignung betonen, uns unsere Grenzen bei der Einfühlung in Andere verständlich zu machen: Kann, wie Husserl meint, der Andere nur im Ausgang vom Urbild des Eigenen her verstanden werden, so ist die Reichweite meiner Fähigkeit zur Einfühlung zunächst an den Horizont des mir Bekannten gebunden und insofern beschränkt. Was über diesen Horizont hinausgeht, wird als Fremdes apperzipiert, d.h. als etwas, was mir zunächst in keiner Weise vertraut oder ähnlich ist. Das Fremde hat in den gegenwärtigen Diskussionen der Philosophie Konjunktur und meist einen sehr guten Ruf: man will es nicht ausgrenzen, sondern tolerant oder pluralistisch sein, um es zu seinem Recht kommen zu lassen. Was aber geschieht, wenn sich dieses Fremde gerade in der Gestalt des Grausamen oder Verbrecherischen bekundet, wenn es also in brutalen Erfahrungen von Unrecht erlebt wird, die gerade deswegen so bestürzend und unfassbar sind, weil sie unseren Normbegriff des Menschlichen sprengen? Verbrechen, wie sie etwa in den südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen zur Sprache kamen, liegen ausserhalb dessen, was uns noch als menschlich gilt – wir nennen sie daher auch „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Täter, die
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sie verüben, agieren gewissermaßen wie Zombies in Menschengestalt, d.h. als Wesen, die zwar in biologischer Hinsicht der Spezies Mensch zugehören, aber durch ihr monströses Verhalten ein psychisches Leben bekunden, das ausserhalb unseres Normbegriffs des Menschlichen liegt. Ihre Taten erregen Abscheu, also einen Affekt, der genau jener Annäherung durch Einfühlung entgegenwirkt, die für einen Vergebensprozess erforderlich ist. Hier gelingt keine Einfühlung in die Psyche der Täter, und ihre Unrechtstaten gelten als unmenschlich und unvergebbar. Die Grenzen der Einfühlung setzen so auch Grenzen des Vergebens, denn wo die Einfühlung scheitert, kann es auch nicht zur Vergebung kommen! Ziehen wir an dieser Stelle eine Zwischenbilanz: Ich habe versucht, das Rätsel des Vergebens zu lösen, indem ich Gründe genannt habe, die einem Opfer das Vergeben erleichtern können: Das Tatbekenntnis, die Reue, das Bemühen um Schadensausgleich und die Bitte um Vergebung seitens des Täters. Durch diese Bedingungen kann eine Annäherung von Täter und Opfer gefördert werden, so dass es zu einer Beziehung kommt, die nicht mehr ausschließlich von der Unrechtstat her bestimmt ist. Diese Annäherung basiert auf wechselseitiger Einfühlung und wo die Einfühlung nicht gelingt, weil die Tat unseren Begriff des Menschlichen überschreitet, kann – so die These des letzten Absatzes – auch keine Versöhnung durch Vergebung gelingen. Das Unrecht bliebe dann unvergebbar. Ich möchte nun meinen gesamten Versuch zur Klärung des Rätsels der Vergebung noch einer grundsätzlichen Kritik unterziehen und dadurch einen anderen Begriff des Vergebens einführen – einen Begriff des Vergebens, der nicht durch einen mehrfach bedingten und bilateralen Prozess geprägt ist, sondern der unbedingt und unilateral ist. Meine Bedenken gegen den bisherigen Versuch, das Vergeben als bedingtes und bilaterales Geschehen zu fassen, gehen auf die folgenden drei Überlegungen gegen das bisher Dargestellte zurück: Das erste Bedenken lässt sich nur in Form einer Frage formulieren, die ich nicht recht zu beantworten weiß: Wir können fragen, ob wir Toten ihre Taten vergeben können. Nehmen wir an, jemand habe enorme Schuld auf sich gezogen, bevor er starb. Nehmen wir weiter an, dass er zu Lebzeiten kein solches Verhalten gezeigt habe, das irgendeinen Grund dafür abgeben könnte, ihm zu vergeben. Ist es dann schlechthin ausgeschlossen, ihm zu vergeben? Wenn das bisher entwickelte Verständnis des Vergebens als eines bedingten und bilatera-
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len Geschehens gültig ist, müsste das folgen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob es auch tatsächlich so ist, dass einem solchen Toten nicht vergeben werden kann. Sollte hier aber ein Vergeben möglich sein, dann ist jedenfalls klar, dass es nicht auf einem bilateralen Prozess basieren kann. Das zweite Bedenken, das einen anderen Begriff des Vergebens nahelegt, geht im Unterschied zum ersten Bedenken davon aus, dass alle genannten Gründe für das Vergeben erfüllt sein können, ohne dass deswegen das Vergeben folgen muss. Wir können ohne weiteres eine Situation konzipieren, in der ein Täter alle genannten Bemühungen unternimmt, die das Opfer ausreichend motivieren müssten, um ihm zu vergeben. Gleichwohl muss es dann keineswegs zur Vergebung kommen. Es gibt kein Recht des Täters auf Vergebung, das irgendwie eingefordert werden könnte. Wo Vergebung gewährt wird, geht sie offenbar noch über das hinaus, was durch die oben genannten Bedingungen erklärt werden sollte. Wenn die Bedingungen also im Idealfall alle erfüllt sind, ohne dass das Opfer Vergebung gewähren muss, so sind die Bedingungen m.a.W. auf keinen Fall hinreichend, um den Akt des Vergebens zu erklären. Ich möchte darüber hinaus behaupten, dass sie auch keine notwendigen Bedingungen sind, aber diese Behauptung kann erst verständlich werden, wenn wir einen anderen Begriff des Vergebens gewonnen haben. Zuvor sei noch das dritte Bedenken gegen die bisherige Analyse des Vergebens skizziert. Dazu nehmen wir wieder an, dass die Bedingungen für den Vergebensprozess alle erfüllt seien: Der Täter zeige Reue, tue alles in seiner Macht stehende, um einen Schadensausgleich zu entrichten, bitte um Vergebung, leide unter dem, was er verschuldet hat, usw. Der Täter ist dann von seiner Tat ohne weiteres zu distanzieren und kann kaum noch als ein sozusagen „schlechter Mensch“ aufgefasst werden. Wenn nun das Opfer vergibt, so kann man fragen, was und wem denn hier überhaupt noch vergeben werden kann. Was gibt es noch zu vergeben, wenn der Täter reuig ist und ein großzügiger Schadensausgleich vorliegt? Das, was sich durch solche Kompensationen nachträglich gutmachen lässt, muss doch wohl kaum noch vergeben werden. Und an wen sollte sich die Vergebung richten, wenn sich die Person des Täters bereits gewandelt hat und selbst alles getan hat, um sich von ihrer Unrechtstat zu distanzieren? Diese Fragen und Bedenken legen es nahe, dass die eigentliche Radikalität und Rätselhaftigkeit des Vergebens noch gar nicht erfasst ist,
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wenn es nur als ein durch die genannten Bedingungen erklärbares Geschehen begriffen wird. Und auch die Besonderheit und Größe des eingangs skizzierten Verhaltens von Mandela ist überhaupt nicht verständlich, wenn man es mittels der aufgeführten Bedingungen verstehen wollte, weil sie in diesem Fall offenbar nicht erfüllt waren. Abschließend soll daher hier ein anderer Begriff des Vergebens skizziert werden, den ich „unbedingt“ und „unilateral“, oder auch „reines Vergeben“ nennen möchte: Jacques Derrida formuliert ihn mit seiner typischen Liebe für paradoxe Wendungen so: „Vergebung vergibt nur das Unvergebbare“,10 und: „es gibt nur Vergebung, wenn es sie überhaupt gibt, wo das Unvergebbare ist.“11 Was bereits im gängigen Sinne durch irgendwelche aushandelbaren Leistungen mehr oder weniger wieder auszugleichen ist, bedarf der Vergebung nicht. Das eigentliche Vergeben, so würde wohl auch Derrida meinen, steht über dem, was durch ein Geben und Nehmen mit quasi-ökonomischen Kategorien eines Schadensausgleichs beschreibbar ist. Wer es gewährt, verzichtet auf jede Form von Vergeltung und auch auf seinen Anspruch, Recht haben zu wollen. Er verzichtet auf Schuldzuweisungen und sein Recht auf Kompensation, also Schadensausgleich. Wer nur in Kategorien der Macht oder der Ökonomie denkt und agiert, wird daher ein solches Vergeben kaum leisten können. Unbedingtes und unilaterales Vergeben hat auch nicht das primäre Ziel einer therapeutisch motivierten Selbstreinigung oder Selbstbefreiung von den Belastungen der Vergangenheit. Es ist überhaupt nicht irgendwie strategisch oder instrumentell angelegt und hat daher nicht mit dem zu tun, was zum Beispiel Interessenvertreter oder Staatsführer tun, wenn sie dazu aufrufen, den Blick von vergangenen Feindseligkeiten oder Verletzungen abzuwenden, um in der Zukunft wieder bessere Beziehungen zum ehemaligen Feind zu haben. Solch absolutes oder reines Vergeben dürfte an die Grenzen dessen gehen, was Menschen in moralischer Hinsicht vermögen. Es ist daher in der Praxis äusserst selten und wohl eine absolute Ausnahme. 12 Dennoch hat der Begriff des unbedingten und unilateralen Vergebens eine wichtige Bedeutung. Er ist, kantisch gesprochen, so etwas wie ein Ideal, d.h. ein Begriff, der in der Anschauung oder Empirie nicht realisiert werden kann, aber in ihr gleichwohl eine Funktion erfüllt. Denn jener Akt der Freiheit, der sich in jedem faktisch vorkommenden Vergeben vollzieht, wäre kaum erklär- und denkbar, wenn er nicht irgendwie rückgebunden wäre an ein solches leitendes Ideal des Verge-
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bens. Das Vergeben, so haben wir gesehen, geht letztlich über das hinaus, was sich durch irgendwelche Bedingungen erklären lässt – es ist mehr als das, was eintreten muss, wenn Bedingungen erfüllt sind. Wenn etwas gewissermaßen als Möglichkeitsgrund hinter dem freien Akt des Vergebens steht, kann es vielleicht nur durch den Begriff eines reinen Vergebens beschrieben werden. Dieses Ideal wäre dann so etwas wie eine transzendentale Bedingung der Möglichkeit des konkreten Vergebens, das auch in den Institutionen der Arbeit von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen die konkrete Versöhnungsarbeit leitet. Wie aber genau die Beziehung des Begriffs eines reinen Vergebens zu dem eines bedingten Vergeben zu denken ist, muss noch weiter ausgelotet werden. Somit bleibt hier am Ende einiges von der Rätselhaftigkeit des Vergebens bestehen, die ich ergründen wollte. Anmerkungen: 1
Winnie Mandela war 1969/70 17 Monate in Isolationshaft. Vgl. Mandela, Winnie (1984): Ein Stück meiner Seele ging mit ihm. Hrsg. von Anne Benjamin. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, S. 143 ff. 2 Siehe Govier, Trudy (2002): Forgiveness and Revenge. London/New York, Routledge, S. 66. Vgl. auch Falk, Rainer (1986): Nelson Mandela. Biographisches Portrait mit Selbstzeugnissen. Köln, Pahl-Rugenstein und Winnie Mandela (1984) a.a.O. 3 Vgl. Murphy, Jeffrie G. (2003): Getting Even. Forgiveness and its Limits. Oxford, Oxford Uni. Pr.; Calhoun, Cheshire (1992): Changing One´s Heart. In: Ethics, Vol. 103, S. 76-96; Roberts, Robert C. (1995): Forgivingness. In: American Philosophical Quaterly, Vol. 33, S. 289-307. 4 Zur Bestimmung von Vergebung als Überwindung negativer Gefühle, siehe z.B. Govier, Trudy (2002): Forgiveness and Revenge. London/New York, Routledge, S. VIII, und Murphy, Jeffrie G. (2003): Getting Even. Forgiveness and its Limits. Oxford, Oxford Univ. Pr. Gemäß Murphy geht diese Bestimmung auf Bischof Butler zurück. Vgl. auch Roberts, Robert C. (1995): Forgivingness. In: American Philosophical Quaterly, Vol. 33, S. 289-307. 5 Eine noch immer ausgezeichnete Quelle für eine Phänomenologie von Zorn und Hass ist Aristoteles, Rhetorik, Buch II. 6 Ähnliche, noch ausfühlichere Auflistungen von Gründen für das Vergeben wie die hier vorgestellte finden sich in, Murphy, Jeffrie G. and Hampton, Jean (1998): Forgiveness and Mercy. Cambridge UK, Cambridge Univ. Press, first published 1988, S. 24, und bei Lang, Berel (1994): Forgiveness. In: American Philosophical Quaterly, Vol. 31, S. 105-118. 7 Die aufrichtige Bitte um Vergebung setzt sowohl ein Schuldeingeständnis als auch eine reuige Einstellung zum geschehenen Unrecht voraus. Ihr liegt ausserdem – wie jeder Bitte – eine Haltung zugrunde, die jeder Art von Hochmut vollkommen
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entgegengesetzt ist. Vgl. hierzu auch Hildebrand, Dietrich von (1980): Moralia. Nachgelassenes Werk. Gesammelte Werke Band IX, Regensburg, Habbel, S. 336 ff. 8 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, (Husserliana I); Hrsg. Stephan Strasser, Den Haag 2. Aufl. 1973, S. 157. 9 Ebd., S. 154. 10 Jacques Derrida (2001): On Cosmopolitanism and Forgiveness, London/ New York, Routledge, S. 32. – meine Übersetzung von: „Forgiveness forgives only the unforgivable“. Vgl. hierzu auch: Jacques Derrida, Elisabeth Roudinesco: Woraus wird Morgen gemacht sein? Ein Dialog. Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Dieter Gondek; Stuttgart, Klett-Cotta, 2006, S. 265ff. 11 Ebd., S. 32 f. „there is only forgiveness, if there is any, where there is the unforgivable“ vgl. S. 48. 12 Vgl. ebd., S. 45, S. 47, wo Derrida davon spricht, dass das eigentliche Vergeben eine „absolute Ausnahme“ ist.
‚Weltwissen‘ Ein sprachwissenschaftlicher Terminus phänomenologisch betrachtet Martina Plümacher, Bremen Zusammenfassung: ,Weltwissen‘ (auch so genanntes Hintergrundwissen) ist in der Sprachwissenschaft, insbesondere in Pragmatik und Textlinguistik, ein instrumentalisierter Terminus, der zur Erklärung von Bedeutungen verwendet wird, die nicht explizit durch Zeichen gegeben sind. Da die Sprachwissenschaft sich nicht der Erforschung von Wissensstrukturen zuwendet, fällt auch die Klärung des Begriffs nicht in ihre Zuständigkeit. Ein Angebot zu seiner inhaltlichen Füllung geht von den in den 1970er Jahren im Rahmen der KI-Forschung entwickelten Theorien zu kognitiven Schemata und mentalen Skripten aus. In Vergessenheit geraten ist, dass die ihnen zugrunde liegende Idee der ‚Rahmung‘ von Zeichenbedeutungen auf Husserl zurückgeht. Husserl behauptete allerdings nicht, dass Wissen primär durch ‚Schemata‘ organisiert ist. Wissen über die Typik von Arten und Prozessen ist ihm zufolge in allgemeinere Wissensstrukturen eingebunden. Letzteren entspringt der menschliche Sinn für Stabilität und mögliche Dynamik. Daher ist eine durch Husserl inspirierte Theorie des Wissens nicht genötigt, den relativ starren kognitiven Rahmen einer ‚Informationsverarbeitung‘ anzunehmen. Abstract: ‚World knowledge‘ (or so-called background knowledge) is an instrumental term used in linguistics, especially in pragmatics and text linguistics, to explain meaning that is not explicitly conveyed by signs. Since linguistics is not concerned with research into structures of knowledge, it is not the proper authority for explicating this term. An interpretation was offered by theories about cognitive schemata and mental scripts that emerged in the 1970s, within research on artificial intelligence. It has fallen into oblivion that their idea of ‘frames’ of meaning was developed by Husserl. Husserl, however, did not state that knowledge is primarily organized by ‘schemata’. According to him, knowledge about characteristics of species and processes is embedded in more general structures of knowledge. The human sense of stability and possibility of dynamics has its source in the latter. Therefore a theory on knowledge inspired by Husserl is not forced to assume relatively inflexible cognitive frames of ‘information processing’.
247 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 247–261. © 2006 Springer.
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Martina Plümacher: ‚Weltwissen‘
1. ‚Weltwissen‘ – ein nicht analysierter Terminus in der Sprachwissenschaft Der Terminus ‚Weltwissen‘ ist in der Sprachwissenschaft spätestens seit den 1980er Jahren gebräuchlich geworden. In nahezu synonymer Verwendung ist auch vom ‚Wissenshintergrund‘ oder dem ‚enzyklopädischen‘ und ‚kulturellen Wissen‘ die Rede. Bezug genommen wird stets auf das gemeinsame Wissen der Gesprächspartner, das ihre Sprach- und Zeichenprozesse trägt. Seit Ende der 1960er Jahre ist in verschiedensten Arbeiten der Sprachphilosophie, der Psycholinguistik und der linguistischen Informatik auf die Rolle impliziter Bedeutungsgehalte von Sätzen und Texten aufmerksam gemacht worden. David Lewis etwa thematisierte in Convention (1969) als Basis gelingender Kommunikation das wechselseitige Wissen der Gesprächspartner um Sprach- und Handlungskonventionen. Wechselseitiges Wissen der Kommunizierenden wurde vor allem für die durch Paul Grices Theorie kommunikativer Kooperationsprinzipien beflügelte sprachwissenschaftliche Pragmatik relevant, weil es zu erklären galt, weshalb sich mangelnde Explizitheit und unkonventioneller Sprachgebrauch im pragmatischen Kontext keinesfalls kommunikationsstörend auswirken. Ein Satz wie Das Sandwich drüben möchte zahlen hat – trotz des semantischen Kategorienfehlers – im Restaurantkontext einen exakten pragmatischen Sinn. Vor allem die Textrezeptionsforschung der 1970er Jahre stellte die Rolle des Wissenshintergrunds für die Konstitution von Bedeutungen heraus. Sie machte deutlich, dass kein Text „alle Hinweise enthalten [kann], die zum Verstehen seines Inhaltes durch einen Hörer bzw. Leser nötig sind. Wenn wir einen Text verstehen, dann beziehen wir die einzelnen Textelemente auf unseren Wissenshintergrund, d.h. wir fügen einiges zu dem vorgegebenen Text hinzu und gelangen so zu einer Vorstellung von der Bedeutung des Textes. Ein Text wird daher erst zu einem zusammenhängenden Ganzen, wenn wir ihn auf der Grundlage der einzelnen Textelemente und unserem Verständnis der Welt verstehen.“ (Spooren 1999: 187) Die explizit durch Textelemente gegebene Information wird ergänzt um Aspekte, die typischerweise als mitgegeben betrachtet werden können. Beispielsweise ist im Text Er war im Wasser, trocknete sich schnell ab und rannte dann zum Strandhotel hoch nicht von einem Handtuch die Rede. Dieses ist jedoch im Verb ‚abtrocknen‘ impliziert,
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weil diese Handlung ohne Handtuch (oder etwas ihm funktional Entsprechendes) auf die Schnelle nicht möglich wäre. Der Text kann an späterer Stelle daher ohne jede Irritation der Leser auf ein am Strand vergessenes Handtuch zu sprechen kommen. Hintergrundwissen ergänzt nicht nur eine explizit gegebene Information, sondern ist auch für die Bedeutung der Textelemente verantwortlich, etwa zum Verständnis anaphorischer Pronomina: Mona brachte Jim zum Kinderarzt. Er gab ihm eine Spritze in die Schulter, und jetzt sollte er wieder in Ordnung sein.1 Dass das Pronomen ‚er‘ sich im zweiten Satz auf den Arzt bezieht und im dritten auf Jim, ist auf Wissen um Szenarien ärztlicher Behandlung zurückzuführen. Auch die Verknüpfung von Sätzen, die keinen expliziten Hinweis einer Bezugnahme aufeinander enthalten, ist durch Hintergrundwissen zu erklären. Beispielsweise ist es unproblematisch, die folgenden Äusserungen einer Person als zusammengehörig zu deuten: Weihnachten feiere ich zu Hause. Den Baum schmücke ich am Morgen.2 In Kulturen, in denen zum Weihnachtsfest ein Weihnachtsbaum gehört, der geschmückt wird, können die Sätze einen Zusammenhang bilden, wobei ‚Baum‘ als ‚Weihnachtsbaum‘ gedeutet wird. An diesem Beispiel wird deutlich, weshalb von einem ‚kulturellen Wissen‘ gesprochen wird. Jemand, der die deutsche Sprache beherrscht, aber nicht in die Kultur der Feste eingeweiht ist, dürfte Probleme haben, die beiden Sätze aufeinander zu beziehen und ‚Baum‘ mit einer Tanne im Zimmer zu assoziieren. Kulturelles Wissen kann, wie dieses Beispiel zeigt, Referenz bestimmen. Die semantische Textrezeptionsforschung betont daher, dass es nicht einen Textinhalt an sich gibt, sondern dieser von den Lesern bzw. Hörern bei der Verarbeitung des Textes konstruiert wird, und zwar mittels semantischer Inferenzen. Verschiedene theoretische Ansätze unterscheiden sich darin, welchen Anteil sie dem so genannten Weltwissen einräumen. Vertreter einer minimalistischen Theorie sind der Auffassung, dass Inferenzen nur dann gebildet werden, wenn sie zur Kohärenzherstellung benötigt werden. Vertreter einer maximalistischen Theorie verstehen Inferenzen als Ausdruck übergreifender repräsentationaler Einheiten wie Skripts, Szenarios und mentale Modelle (Rickheit und Strohner 1993: 228 f.). Mit ‚Skript‘, ‚Szenario‘, ‚mentalem Modell‘ oder auch ‚Schema‘ ist ein Wissen um Typik bezeichnet, etwa um typische Handlungsabläufe, Szenarien sowie Charakteristika von Dingen oder Lebewesen. Es wird angenommen, dass es
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durch geeignete Zeichenkonstellationen aktiviert wird und im unbewussten kognitiven Hintergrund Interpretationsprozesse lenkt. Skript-, Szenario- und Schematatheorien wurden in den 1970er Jahren im Kontext der Forschung zur Künstlichen Intelligenz entwickelt und gelangten von dort in die Sprachwissenschaft. Einer der Wegbereiter dieser Theorien mentaler Modelle, Marvin Minsky, sprach von einer Rahmen-Struktur des Wissens (Minsky 1992).3 Ein ‚Rahmen‘ sei eine „Datenstruktur“, mittels derer stereotype Situationen mental repräsentiert werden können: Die ‚Daten‘ lassen gerichtete Erwartungen und Vorannahmen entstehen, womit sie Orientierungswerte für Handlungen geben. Beispielsweise aktiviert eine Einladung zur Geburtstagsfeier das Stereotyp ‚Geburtstagsfeier‘. Dies ist Wissen um das kulturelle Reglement eines speziellen sozialen Handlungszusammenhangs, in dem es Festlegungen mit bestimmten Optionen gibt: Festgelegt ist z.B., dass ein Geschenk mitzubringen ist, wobei in der Bestimmung der Art des Geschenks verschiedene Optionen offen stehen. Roger Schank und Robert P. Abelson (1977) zogen es vor, von Skripten zu sprechen. Ihnen zufolge existieren Skripte für viele durch soziale Rollen geprägte Handlungen, wie z.B. für den Restaurantbesuch. Sie sind gedacht als ‚mentale Drehbücher‘ für Handlungsabläufe, und zwar nur für stereotype Abläufe, die Akteure im Wesentlichen einhalten. Dem Skript zufolge kann man im Restaurant an einem Tisch Essen bestellen und verzehren, nicht aber Schuhe reparieren lassen; nicht zum Skript gehört schon die Bitte an den Kellner, eine Verpflegungstüte für eine Busfahrt zusammenzustellen. Da jedoch die Sprachwissenschaft selbst nicht Wissensstrukturen erforscht, fällt die Frage, was genau unter ‚Weltwissen‘ zu verstehen ist, nicht mehr in ihren Arbeitsbereich. In ihr ist ‚Weltwissen‘ ein instrumentalisierter Begriff, der am konkreten Beispiel mit Inhalt gefüllt wird und, soweit er überhaupt theoretisch gefasst wird, mit dem Begriff des ‚Stereotyp‘ im Rahmen von Skript- und Schema-Theorien zusammenfällt. In Vergessenheit geraten ist, dass die Idee der Rahmung von Bedeutungen, die den Skript- und Schematheorien zugrunde liegt, auf Husserl zurückgeht. In seiner Konzeption des Wissens ist Wissen um Typik von Arten und Prozessen, wozu auch das ‚Sich-verstehen auf soziales Reglement‘ gehört, nicht als relativ unflexibler Rahmen des Verstehens und Handelns gedacht. Es ist eingebettet in allgemeinere Wissensstrukturen, durch die sich nicht nur ein Sinn für die Stabilität
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gewisser Aspekte einer Typik, sondern auch deren mögliche Dynamik ausprägt.4 Seine Konzeption einer ‚Rahmung von Sinn‘5 stützt sich nicht auf habitualisiertes Erkennen und Befolgen von Mustern. Von Husserl ist zu lernen, dass eine Theorie des Hintergrundwissens, die sich mit der Konstatierung eines Wissens um die Typik verschiedener Arten von Dingen, Prozessen und Situationen begnügt, zu kurz greift. 2. Phänomenologie der Wirklichkeitserfahrung Dass Wahrnehmung von einem impliziten, nicht-sprachlichen Wissen um Typisches begleitet ist, hatte Husserl bereits 1893 im Rahmen seiner Analysen zur Wahrnehmung von Musik entdeckt, als er sich mit dem erstaunlichen Befund befasste, dass Hörer den Abbruch einer Musik als Abbruch auch dann wahrnehmen, wenn ihnen das Musikstück zuvor nicht bekannt war. „Woher wissen wir“, fragte Husserl, „daß überhaupt etwas folgen sollte, daß etwas an der Ganzheit der Melodie fehlt?“ (Hua XXII: 271) Damals bereits stellte er heraus, dass in der Wahrnehmung des Besonderen und Konkreten ein nicht bewusstes Wissen um allgemeine Strukturen dieses Besonderen mitschwingt, welches vor allem dann zu Bewusstsein gelangt – daher auch entdeckt werden kann –, wenn sich die Struktur verändert, z.B. ein Musikstück einer bestimmten Art nicht den artspezifischen Abschluss findet. Die Existenz dieses Hintergrundwissens zeigt sich in Enttäuschungen, Irritationen und dgl. Den nicht bewussten Wissenselementen, die als Rahmung der Erfahrung fungieren, wandte sich Husserl in verschiedensten Analysen zu; es entstand allerdings keine gesonderte Abhandlung, die sämtliche diesbezüglichen Erkenntnisse zusammenfasst. Interessanterweise blieb Husserl nicht bei der Feststellung stehen, die Erfahrung des Konkreten werde ergänzt um ein Wissen um Typisches, oder mit anderen Worten, die ‚Wissen‘ konstituierende Erfahrung bestehe in der Erfassung des Art-Typischen, in der Bildung von (nicht notwendigerweise sprachlich verfassten) Konzepten der Art und der Gattung. In den Cartesianischen Meditationen findet sich die wichtige Bemerkung, dass sich eine Theorie transzendentaler Subjektivität nicht mit der These begnügen dürfe, Erfahrungsstrukturen seien im Kern durch Wissen um Typik geprägt: „Die transzendentale Subjektivität ist nicht ein Chaos intentionaler Erlebnisse. Sie ist aber auch nicht ein Chaos
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von konstitutiven Typen, deren jeder in sich organisiert ist durch Beziehung auf eine Art oder Form intentionaler Gegenstände. [...] Das deutet vor auf eine universale konstitutive Synthesis, in der alle Synthesen in bestimmt geordneter Weise zusammen fungieren und in der also alle wirklichen und möglichen Gegenständlichkeiten als solche für das transzendentale Ego und korrelativ alle ihre wirklichen und möglichen Bewußtseinsweisen umspannt sind.“ (Hua I: 90) Die hier formulierte Idee begreift ‚Erfahrung‘ als eine epistemische Struktur, in der Konkretes auf Art-Typisches und Art-Typisches auf eine weitaus allgemeinere ‚Rahmung‘ bezogen wird in der Art, dass sich ein geordneter epistemischer Zusammenhang bilden kann, der für ‚Welt‘ im Facettenreichtum der Möglichkeiten offen ist und, sofern gefordert, ‚Weltausschnitte‘ zu repräsentieren vermag.6 Einer solchen Überlegung zum geordneten Zusammenhang der Erfahrung scheint Husserl bereits früher gefolgt zu sein; bestimmte Passagen in den Logischen Untersuchungen lassen sich bereits hierzu in Beziehung setzen.7 Deutlich hat er in den Ideen einen Ansatz zu einer komplexeren, zusammenhängenden Wissensstruktur vorgestellt. Danach ist jedes gegenstandsbezogene Wissen nicht nur Wissen um eine Gegenstandsart, sondern auch Wissen um die Spezifik von Gegenstandsgattungen und um die Gegenstandserkenntnis selbst. Letzteres schließt Kenntnis der Logik, Wissen um Möglichkeiten und Bedingungen der Sprache und anderer Medien der Gegenstandserkenntnis ein. Dabei hatte Husserl nicht eine taxonomische Betrachtung im Blick, wie sie in Sprachwissenschaft und Semantik geläufig ist. Denn die taxonomische Einordnung eines Gegenstands kann variieren – ein Hund beispielsweise kann unter die Rubriken ‚Haustier‘, ‚Raubtier‘, ‚Säugetier‘ und dgl. gebracht werden. Husserl aber betont: „Jede konkrete empirische Gegenständlichkeit ordnet sich mit ihrem materialen Wesen einer obersten materialen Gattung, einer ‚Region‘ von empirischen Gegenständen ein.“ (Hua III: 23) ‚Region‘ meint „die gesamte zu einem Konkretum gehörige oberste Gattungseinheit“ (Hua III: 36), z.B. ‚Natur‘ als Kategorie,8 in die sich alle Naturgegenstände, belebte wie unbelebte, eingliedern. So ist der sehr allgemeine Gattungsbegriff ‚Lebewesen‘ epistemisch nicht unabhängig, sondern gehört zur Kategorie ‚belebte Natur‘. Von der formalen Seite her ist Husserl zufolge Gegenstandserkenntnis durch die „Formen aller möglichen Ontologien“ (Hua III: 26) bestimmt, wozu logische Kategorien wie Identität, Relation, Ding,
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Eigenschaft, Teil-Ganzes und dgl. sowie die formalen, den sprachlichen Ausdruck betreffenden Kategorien, wie Satz, Satzglieder, Satzformen, Grammatik also, gehören. Letztere nennt er ‚Bedeutungskategorien‘ (Hua III: 27). Linguisten könnten geltend machen, dass ein möglicher Gesamtzusammenhang des Wissens in den Prozessen des Textverstehens nicht abgerufen werden muss, weil zur Spezifizierung von Bedeutungen und dem Verstehen von Sprecherintentionen die Aktivierung der jeweils thematisch relevanten Wissensdimensionen genüge. Ist z.B. von einem konkreten Hund die Rede, genügt demzufolge die Aktivierung eines Stereotyps ‚Hund‘, das unter Umständen ergänzt wird durch konkrete Erfahrung mit dem bestimmten Hund und dem Hundebesitzer. Mit Bezug auf Husserls Konzept der Rahmung von Sinn lässt sich jedoch zeigen, dass dies eine Fehleinschätzung ist. Husserl dachte nicht wie Minsky an eine ‚Datenstruktur‘, die Einsatzstellen für Variablen bereitstellt und zum Einsatz kommt, sobald eine Situation als ein ihr entsprechender Situationstyp erkannt wird. Zwar beinhaltet ‚Rahmung‘ von Sinn Husserl zufolge auch Aktivierung des Wissens um Typisches und sein Modell epistemischer Prozesse sieht ebenfalls eine auf Thematiken beschränkte Aktivierung des Hintergrundwissens vor. Im Unterschied zu Minsky und anderen Anhängern einer Schemata- oder Skripttheorie behauptet er jedoch nicht, intentionalen Prozessen seien ‚Schemata‘ und ‚Prototypen‘ als Orientierungswerte vorgegeben. Dies könnte zunächst so scheinen, denn er betont in Erfahrung und Urteil, dass neue Erfahrung stets im Lichte des bereits Bekannten erfolge und schon die Begegnung mit einem Individuum seiner Art zur ‚bleibenden Vorzeichnung‘ eines Gegenstandstypus führen könne (EU: 34 f.; 399). Doch greift eine Interpretation, die diese Aussagen nur als Hinweis auf die erkenntnisleitende Rolle der Typizität und Prototypizität versteht, zu kurz. Typizität ist in Husserls Theorie des Wissens nur eine Dimension des kategorialen Wissenshintergrunds, die Rahmung von Sinn in Prozessen des Verstehens insofern leistet, als sie bestimmte Anhaltspunkte für Mögliches und Wahrscheinliches gibt. Doch findet sich in ihr kein Grund, weshalb etwas als notwendig begriffen oder als unmöglich ausgeschlossen werden kann. Will man prüfen, wie Wissen um Typik mit globaleren Dimensionen des Wissens interagiert, sind Fälle zu analysieren, in denen eine Berufung auf gewohnte ‚Schemata‘ versagt. Dass über die Aktivie-
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rung des Wissens um Typisches hinausgehend allgemeineres ‚Welt‘Wissen in der Konstitution von Sinn zum Zuge kommt, wird beispielsweise in der Beurteilung von Texten deutlich, die sich auf der Grenze zwischen real Möglichem und Fiktivem bewegen. Eine Erzählung etwa, die von einem Hund berichtet, der auf einen Baum hinauf springt, gerät unter Fiktionsverdacht. Zur Erklärung dieses Verdachts reicht es nicht aus, darauf zu verweisen, der Typ ‚Hund‘ sehe nicht die Möglichkeit vor, dass Hunde auf Bäume springen. Wissen um das für Hunde Typische konstituiert sich durch HundeErfahrungen. Durch sie allein kann nicht ausgeschlossen werden, dass es eine besondere Sorte Hunde gibt, die zwei oder drei Meter hoch springen kann. Was diese Möglichkeit ausschließt, ist Wissen um Voraussetzungen der Möglichkeit höchster Sprünge: Erfahrungswissen zur eigenen Sprungkraft, zu entsprechenden Fähigkeiten anderer Lebewesen, aber auch naturwissenschaftliches und technisches Wissen um Schwerkraft kommen mit ins Spiel. Wissen um Bedingungen der Realisierung von Sprungkraft ist allgemeiner als Wissen um eine artspezifische Typik, weil es für verschiedenste Arten Geltung beansprucht. Überlegungen zum Ineinandergreifen verschiedener Dimensionen des Erfahrungswissens scheinen ein Hintergrund für Husserls Reflexionen zum Aufbau der Erfahrung im zweiten Band der Ideen gewesen zu sein. Er zeigt dort auf, wie die für menschliches Leben relevanten ontologischen Unterschiede sich in kategorialen Unterscheidungen niederschlagen. Wohlgemerkt vertrat Husserl keinen Determinismus und Kausalismus der Art, dass ontologische Strukturen kategoriale Differenzierung und damit Begriffe – d.h. die bewusst gewordene und sprachlich reflektierte Differenzierung – erzwingen. „Alle Begriffe“, erklärte er, „stammen aus Erfahrung, die allgemeinen wie die besonderen, und ihre Brauchbarkeit muß sich im Fortgang weiterer Erfahrung bewähren. Wir müssen immer bereit sein, ihr gemäß sie zu ändern.“ (Hua V: 26) Bestimmte begriffliche bzw. kategoriale Unterscheidungen allerdings erweisen sich als besonders stabil, insofern sie in der Architektur kategorialer Ordnung der Erfahrung eine tragende Rolle spielen. Interessanterweise versuchte Husserl nicht, Basiskategorien zu definieren, d.h. inhaltlich exakt zu füllen. Damit hätte er sich in den Streit um Grundbegriffe in den verschiedenen Wissenschaften begeben. Er zeigte vielmehr, dass durch Gegenstandserfahrung bestimmte epi-
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stemische Distinktionen nahegelegt werden, die bei aller inhaltlich unterschiedlichen Auslegung der entsprechenden Kategorien in der Geistesgeschichte erhalten bleiben. Dazu gehören z.B. die Unterscheidung zwischen unbelebter und belebter sowie animalischer Natur; die Unterscheidung zwischen Ich und Alter Ego; zwischen Menschen und Tieren; selbstverantworteter Freiheit und nicht-willentlich beeinflusstem Geschehen (vgl. Hua IV: 257 ff.). Auch Unterschiede in der Auffassungsart der Gegenstände – Husserl spricht hier von ‚Einstellungen‘ – bedingen kategoriale Differenzierungen, so die Unterscheidung zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer personalistischen bzw. geisteswissenschaftlichen Reflexion auf Lebewesen (vgl. Hua IV: 210). Husserl argumentierte ferner, dass Kausalitätserfahrungen, d.h. Erfahrungen eines ‚wenn – so‘ oder ‚weil – so‘ (Hua IV: 57), ein Fundament aller Ausdifferenzierung des Wissens bilden. Als Aspekt dieser Erfahrung betrachtete er die Herausbildung eines Gegenstandsverständnisses, für das Gegenstände identische Substrate mit identischen – unter bestimmten Bedingungen in bestimmter Weise sich wandelnden – Eigenschaften sind (Hua IV: 75 f., 136 f.). Diese formale Idee gilt sowohl für Wesen der belebten wie unbelebten Natur. Zu den wesentlichen, in der Entwicklung des Wissens stabilen Unterscheidungen gehören desweiteren die Unterscheidung zwischen der Kausalität im Nichtanimalischen und der Motiviertheit oder Intentionalität der animalischen Natur und speziell der menschlichen (Hua IV: 132, 189, 212 ff.) sowie die Unterscheidung zwischen Gegenständen, die Geschichte haben und solchen, denen sie fehlt. ‚Geschichte haben‘ fasst Husserl sehr allgemein auf: Es bedeutet, im Wandel der Umstände und im Wandel der Zeit prinzipiell nicht wieder in denselben Gesamtzustand verfallen zu können (Hua IV: 137). Diese Bestimmung umfasst alle organischen Körper; im Nichtorganischen betrifft sie Gegenstandskomplexe, z.B. geographische Landschaft. In Bezug auf den Menschen bereichert sich der Begriff ‚Geschichte‘ durch die durch Kultur vermittelten geistigen Entwicklungen der Person. Wissen um Notwendiges, Unmögliches, Mögliches und Wahrscheinliches ist Husserl zufolge nicht primär durch artspezifische Typizität bestimmt, sondern durch Rückbezug auf Verallgemeinerungen – ‚Synthesen‘ – generellerer Art, die durch die kategoriale Architektur des Wissens gerahmt sind. Dies rührt vor allem daher, dass konkrete Erfahrung mit Bezug auf eine oberste Gattungseinheit hin generalisiert
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werden kann. Die Erfahrung beispielsweise, dass eine wild lebende Löwin sich um ein Antilopenjunges sorgt, erweitert nicht nur den Möglichkeitsspielraum des Typus ‚Löwe‘, sondern kann als Indiz gewertet werden, dass unter bestimmten Bedingungen die allgemeine Regel, dass Säugetiere sich nur um ihren Nachwuchs kümmern, ausser Kraft tritt. Folglich ist nicht als unmöglich auszuschließen, dass sich höher entwickelte Tiere eines artfremden Nachwuchses annehmen. Wichtig zu erkennen ist hier, dass Generalisierungen mit Bezug auf eine Gattung von Einzelfällen ausgehen können – verlangt ist kein Nachweis gleichartiger Phänomene bei verschiedensten Arten als logischer Zwischenschritt der Generalisierung. Auch die wissenschaftliche Überprüfung von Verallgemeinerungen dieser Art begnügt sich nicht mit dem Aufweis eines Phänomens in verschiedensten Bereichen, sondern richtet sich auf die genaue Bestimmung der Bedingungen der Abweichung von einer Regel. Aus allgemeineren Ebenen des Wissens lassen sich Möglichkeiten sowie Grenzen der Wandlung dessen ableiten, was als typisch für eine Gegenstandsart erkannt ist. Es ist dieser Aspekt, der in den in der Sprachwissenschaft verwendeten Schema- und Skripttheorien unterbelichtet bleibt. Dass Husserl die Rahmung von Sinn nicht auf Typik beschränkte, zeigt auch seine Konzeption ‚intentionaler Horizonte‘. Die frühe Formulierung dieser Idee in den Logischen Untersuchungen (Hua XIX: 572 f.) kann noch auf Typik bezogen werden. Im ersten Band der Ideen und in den Cartesianischen Meditationen bestimmte er ‚Horizonte‘ als reine Potentialität des Bewusstseins, die das aktuell Bewusste ‚umgibt‘ (Hua I: 82). Husserls Rede von einem ‚zeitlichen‘ oder ‚räumlichen‘, einem ‚mathematischen Horizont‘, einem ‚thematischen Horizont‘ und dgl. macht deutlich, dass Horizonte durch die Thematik, der das jeweils Bewusste angehört, bestimmt und begrenzt sind. ‚Thematiken‘ können als kategorial umgrenzte Sinndimensionen bestimmt werden, die mit disziplinären bzw. perspektivischen Ordnungen des Wissens korrelieren. Für ‚Thematiken‘ ist charakteristisch, dass der Kreis des Relevanten begrenzt wird. Gilt es beispielsweise eine bestimmte gegenständliche Konstellation in ihrer zeitlichen Dimension zu bestimmen, regiert die Kategorie ‚Zeit’ insofern Bewusstseinsprozesse, als zur Lösung dieser Aufgabe allein die Rekonstruktion bzw. Antizipation der zeitlichen Folge der Ereignisse relevant ist. Die dabei ins Spiel kommenden Raumdimensionen sind auf den ge-
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wählten Gegenstandsbereich begrenzt. Dessen räumliche Beziehungen zu anderen Gegenständen zu explizieren, wäre eine andere Aufgabe oder ‚Thematik‘; sie würde Dimensionen der Entwicklung in der Zeit ausblenden bzw. diese an Raumaspekte binden. Mit Bezug auf disziplinäre Perspektivierungen, wie z.B. physiologische oder psychologische Bestimmung der Lebewesen, sprach Husserl auch von der „‘Einstellung‘ des thematischen Blickes [...], der als theoretischer das theoretische Thema bestimmt“ (Hua V: 3). ‚Horizont‘ steht somit für den Kreis des jeweils thematisch Relevanten und für die in diesem Rahmen mögliche Näherbestimmung des je aktuell Bewussten. Die mögliche nähere Bestimmung eines gegenständlichen Sinns ist Husserl zufolge ‚vorgezeichnet‘. Wichtig ist hier zu sehen, dass seine Bestimmung, die Vorzeichnung sei zwar unvollkommen, aber „in ihrer Unbestimmtheit doch von einer Struktur der Bestimmtheit“ (Hua I: 82), auf Wissensstrukturen anspielt, die den Bereich der möglichen Gegenstandsbestimmung begrenzen. Die Bestimmtheit, von der hier die Rede ist, liegt zum einen darin, dass mit jeder Identifikation eines etwas als eines Bestimmten eine gewisse Spannbreite der möglichen näheren Erfahrung vorgegeben ist. Sie ist begrenzt durch das, was als unmöglich auszuschließen ist. Zum anderen liegt eine ‚Struktur der Bestimmtheit‘ darin, dass jede nähere Bestimmung von Gegenständen auf der Basis und in den Bahnen eines bereits erworbenen Wissens erfolgt. Rahmung von Sinn in ‚Horizonten‘ meint also, dass das jeweils Bewusste stets noch näher bestimmt werden kann, wobei die Bestimmung gerahmt ist einerseits durch die Thematik, die den Bereich des Relevanten umgrenzt und Nichtrelevantes ausschließt, andererseits durch das Wissen der Grenzen des Möglichen, welches das Unmögliche ausschließt. Weil diese Konzeption der Rahmung von Sinn sich nicht auf kulturell bedingte Stereotype und Handlungsschemata stützt, sondern ‚Verstehen‘ als Prozess der Aktivierung auch globaler Wissensebenen interpretiert, kann sie Phänomene der Interpretation erklären, die als ‚Füllung eines Schemas‘ – einer ‚Datenstruktur‘ – nicht zu begreifen sind, wie etwa den Transfer spezifischer Erkenntnisse auf andere Gegenstandsbereiche durch globalisierende Verallgemeinerung oder Einschätzungen zu ‚real Möglichem und Unmöglichem‘ über das bereits Bekannte und schematisch Repräsentierte hinaus. Dem Bezug auf Mögliches insbesondere aber entspringt der Sinn für Entwicklun-
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gen und Transformationen von Schemata, der gerade in allen neuen, kreativ zu bewältigenden Handlungssituationen benötigt wird. Im Folgenden soll kurz gezeigt werden, wie sich mit Husserls Konzeption der Rahmung von Sinn auch die Akzente in der Behandlung von Problemen interkultureller Verständigung verschieben. Universalien als Bezugspunkte der Verständigung sind dieser Konzeption zufolge nicht primär auf der Ebene der Konzepte noch in einer allgemein menschlichen Physiologie, sondern in formalen Kategorien zu suchen, die als Bedingung der Möglichkeit der Kategorisierung, der Sprache und Erkenntnis zu betrachten sind. 3. Kulturalität und Universalität der Konzeptualisierung Seit Benjamin Lee Whorf auf der Basis seiner Studien zu Sprache und Kategorisierung der Hopi-Indianer 1940 den Begriff der linguistischen Relativität prägte,9 sind Sprachwissenschaftler vorsichtig in Bezug auf die Postulierung universeller, d.h. allen Kulturen gemeinsamer kategorialer Strukturen geworden. Das Projekt der interkulturell vergleichenden Sprachforschung widmet sich der Erforschung der kulturellen Prägung der Konzepte, wie z.B. sprachlichen Konzeptualisierungen des Raums, der Farben, der Emotionen etc. 10 Die aufgedeckte kulturelle Diversität der Konzepte ist enorm. Nach den Studien zu Farbkonzepten von Berlin und Kay (1969) wird jedoch auch nach universellen basalen Distinktionen und Konzepten sowie einer Begründung für diese gesucht. Einerseits wird als Grund die Funktionalität bestimmter Distinktionen in allen Kulturen angeführt, andererseits eine allgemein menschliche Physiologie als ursächlich vermutet und als Bezugspunkt des Sprachenvergleichs herangezogen. Husserls Diktum ‚alle Begriffe stammen aus Erfahrung‘, das sich paraphrasieren lässt mit ‚Begriffe sind Funktionen der Ordnung der Erfahrung‘, gibt einer kulturellen Erklärung der Konzeptualisierung den Vorzug, wenn ‚Erfahrung‘ als kulturell geprägte kognitive Aktivität verstanden wird. Konzepte markieren Aspekte und setzen Differenzierungen, die im kulturellen Leben als relevant und ‚einer Ordnung würdig‘ erscheinen. Allerdings ist es wichtig zu sehen, dass für Husserl Erkenntnis auch wesentlich Einsicht in Regularität ist und diese sich in Konzepten spiegelt. Mit Kant und dem Neukantianismus verbindet ihn die Betonung formaler Kategorien als Bedingung der
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Möglichkeit der Erkenntnis von Regularität, Klassifizierung von Erscheinungen, Gegenstandskonstitution, Kategorisierung und sprachlicher Begriffsbildung. Formale Kategorien wie Identität, EinheitVielheit, Ding-Eigenschaft, Teil-Ganzes, Kausalität etc. sind als Regulative menschlicher Kognition und Sprache anzunehmen. Daher kann davon ausgegangen werden – und Sprachwissenschaftler tun dies selbstverständlich, dass sich die konzeptuelle Funktion der Gliederung des Phänomenalen, begriffliche Identität, Denotation und Referenz von Zeichen in allen menschlichen Kulturen finden. In ihnen liegt eine Form der Universalität, die jedoch nicht notwendig eine Gleichheit der Konzepte hervorbringt. Diese Universalität ist bei jedem Versuch der vergleichenden Bestimmung von Referenz und Denotation der Termini unterschiedlicher Sprachkulturen vorausgesetzt. Farbplättchen, physiologische Messungen, Verhaltensbeschreibungen und dgl., die als Vergleichsbasis im interkulturellen Sprachenvergleich herangezogen werden, sind keine konzeptuell ‚neutralen‘ Phänomene. 11 Sie können Anhaltspunkte zur Bestimmung einer Kulturdifferenz sein, ersetzen aber nicht das genaue linguistische Studium der Sprachen. Husserls Überlegungen zur Architektur des Wissens legt allerdings auch gewisse kulturübergreifende Gemeinsamkeiten in kategorialen Distinktionen nahe, die durch anthropologische Gemeinsamkeiten der Kulturen bedingt sind, so die Bedeutung der Unterscheidung von Belebtem und Unbelebtem, von Tag und Nacht, Jahreszeiten, Reifung und Faulung von Nahrungsmitteln, Geburt und Tod etc. Übereinstimmende Distinktion muss sich jedoch, wie gesagt, nicht in begrifflicher Gleichheit niederschlagen. Literatur: Berlin, B. and Kay, P.: Basic Color Terms: Their Universality and Evolution. Berkeley, Los Angeles 1969. Goffman, E.: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen (11974). Frankfurt a.M. 1977. Grice, P.: Logic and Conversation (1967, 1987). In: P. Grice: Studies in the Way of Words. Cambridge (Mass.), London 1989, 22-57. Husserl, E., Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik (1939). Hg. von L. Landgrebe. Hamburg 1948. Husserl, E., Cartesianische Meditationen (1929). In: Husserliana Bd. 1. Hg. von S. Strasser. Den Haag 1963, 43-183. Husserl, E.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. In: Husserliana Bd. 3. Hg. von K. Schuhmann. Den Haag 1976.
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Husserl, E.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. In: Husserliana Bd. 4. Hg. von M. Biemel. Den Haag 1952. Husserl, E.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. In: Husserliana Bd. 5. Hg. von M. Biemel. Den Haag 1952. Husserl, E.: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (1901). In: Husserliana 19. Hg. von U. Panzer. Den Haag 1984. Husserl, E.: Anschauung und Repräsentation, Intention und Erfüllung (1893). In: Husserliana Bd. 22. Hg. von B. Rang. Den Haag 1979, 269-302. Lehmann, B.: ROT ist nicht ‚rot‘ ist nicht [rot]. Eine Bilanz und Neuinterpretation der linguistischen Relativitätstheorie. Tübingen 1998. Levinson, S. and Meira, S.: ‚Natural concepts‘ in the spatial topological domain – adpositional meanings in crosslinguistic perspective: an exercise in semantic topology. In: Language 79 (2003), 485-516. Lewis, D.: Convention. A Philosophical Study. Cambridge (Mass.) 1969. Minsky, M.: Eine Rahmenstruktur für die Wissensrepräsentation ( 11975). In: Kognitionswissenschaft: Grundlagen, Probleme, Perspektiven. Hg. von D. Münch. Frankfurt a.M. 1992, 92-133. Plümacher, M.: Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewußtseins. Berlin 2004. Rickheit, G. und Strohner, H.: Grundlagen der kognitiven Sprachverarbeitung. Modelle, Methoden, Ergebnisse. Tübingen, Basel 1993. Schank, R.C. and Abelson, R.P.: Scripts, Plans, Goals and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures. Hillsdale (NJ) 1977. Schwarz, M. und Chur, J.: Semantik. Ein Arbeitsbuch. Tübingen 32001. Spooren, W.: Texte strukturieren: Textlinguistik. In: Sprache und Sprachwissenschaft. Eine kognitiv orientierte Einführung. Hg. von R. Pörings und U. Schmitz. Tübingen 1999, 187-210. Harkins, J. and Wierzbicka, A. (eds.): Emotions in crosslinguistic perspective. Berlin, New York 2001.
Anmerkungen: 1
Dieser Beispielsatz ist, leicht abgewandelt, entnommen aus: Schwarz und Chur (2001: 99). 2 Das Beispiel geht zurück auf Schwarz und Chur (2001: 101). 3 Ein Jahr vor Minskys Aufsatz A framework for representing knowledge (1975) erschien auch Erving Goffmans Buch Frame Analysis. An Essay on the Organisation of Experience (1974), das ebenfalls die ‚Rahmung‘ von Erfahrung und Handlung betont. Im Unterschied zu den in Linguistik und Kognitionswissenschaft verhandelten ‚Rahmen‘- und ‚Schemata‘-Theorien gibt sich Goffmans soziologischer Ansatz nicht mit der Feststellung der Rahmung von Handlung durch sozial verfestigte Schemata zufrieden, sondern analysiert Modulationen und Transformationen dieser ‚Rahmen‘, womit er eine dynamische Perspektive ins Spiel bringt. 4 Obwohl Goffman in phänomenologischer Tradition steht (Goffman 1977: 11 ff.), übergeht auch er die Husserlsche Frage nach den Strukturen der Erfahrung, die den Sinn für Stabilität und Dynamik prägen. Als Soziologe beschränkt er sich auf die Analyse von Rahmungen sozialer Handlung; die Frage nach Strukturen des Wis-
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sens liegt ausserhalb seines Arbeitsfeldes. Auch wenn er die Verletzbarkeit und Veränderbarkeit sozialer Regeln und Schemata betont, bleiben doch sozial verfestigte Schemata Bezugspunkt seiner Analysen. 5 In Erfahrung und Urteil (im Folgenden mit EU abgekürzt) spricht Husserl von ‚Sinnrahmen‘ (EU: 141). 6 Repräsentation ist bei Husserl als ausschnitthaft, perspektivisch gedacht, nämlich bezogen auf das je bewusst thematisch Fixierte wie z.B. eine Wahrnehmung, ein Gedanke etc. Das, was hier ‚Wissen‘ bzw. ‚Hintergrundwissen‘ genannt wird, ist nichts, was im Ganzen bewusst werden könnte (ausführlicher dazu: Plümacher 2004). 7 Im zweiten Band der Logischen Untersuchungen wies Husserl auf Schranken der Begriffs- und Theoriebildung hin, die aufgrund kategorialer Formen entstehen, welche „Möglichkeiten und Unmöglichkeiten regeln“ – d.h. vor allem durch Kategorien der Logik und die Kategorie ‚Gegenstand‘ (vgl. Hua XIX: 717 f., 728). 8 ‚Kategorie‘ wird von Husserl nicht im Kantischen Sinn verwendet, sondern als ‚kognitive Form der Ordnung der Erfahrung‘. Die Kantischen Kategorien gehören für ihn zu den „kategorialen Formen in specie“ (Hua XIX: 717). 9 Wichtig wurde sein Aufsatz Science and Linguistics in der Technology Review des Massachusetts Institute of Technology. 10 Siehe z.B. Levinson und Meira 2003; Harkins und Wierzbicka 2001. 11 Die Kritik an Studien in der Tradition von Berlin und Kay zeigte die Probleme detailliert auf (vgl. etwa Lehmann 1998).
Kinästhesen in den Wahrnehmungsprozessen und die sensomotorische Erfahrung des Subjekts Lukasz Przybylski, Adam Mickiewicz Universität, Poznan Zusammenfassung: Husserls Begriff der „Kinästhese“ beschreibt die Relation zwischen der durchgeführten Bewegung und der Art, in der Gegenstände dem wahrnehmenden Subjekt erscheinen. Die Berücksichtigung der Kinästhesen ist eine wichtige Zäsur für die Konstitutionsanalyse des Dinges. Jedes räumliche Ding besitzt neben seiner aktuellen Auffassung auch einen breiten Horizont von möglichen weiteren Auffassungen, die in der Erfahrung des Subjekts (kinästhetische „Anstrengung“) realisiert werden können. Die enge Verknüpfung der Kinästhesen mit der Wahrnehmung des räumlichen Dinges bzw. der Räumlichkeit offenbart sich in der visuellen und taktuellen Modalität. Das gegenwärtig in der Kognitionswissenschaft breit diskutierte Problem des Leibes und seiner Rolle in den Wahrnehmungsprozessen zeigt ebenfalls die grundlegende Bedeutung der Kinästhesen für die Konstitution des Dinges. In diesem Artikel werden Husserls Analysen mit den Thesen von O’Regan und Noë (2001) verglichen. Diese Thesen könnten als eine bereichernde Weiterentwicklung der Feststellungen Husserls über die Konstitution des Dinges betrachtet werden, wenn man die Wahrnehmungserfahrung als Ergebnis der wahrnehmenden Exploration der Umgebung durch das Subjekt in seiner sensomotorischen Aktivität ansieht. Abstract: Husserl’s concept of ‘kinaesthesia’ describes the relation between my bodily movements and the way in which the objects appear to me. Thus taking kinaesthetic sensations into account marked an important caesura for the constitutional analysis of things. Beside the current apperception in which every spatial thing is perceived, there is also a wide scope of further possible apperceptions to be realised in the kinaesthetic effort of the subject. There is a strong connection between kinaesthetic sensations and the perception of spatial things disclosed in visual and haptic modalities. The issue of the lived body and its role in the process of perception shows Husserl's profound intuition of the fundamental relevance of kinaesthesia in the constitution of things. In this essay I compare Husserl’s analyses with the theses of O'Regan and Noë (2001). The propositions of O'Regan and Noë can be interpreted as a creative development of Husserl's concept. Perception is viewed as a result of an exploration realized by senso-motoric activity of the subject.
262 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 262–278. © 2006 Springer.
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Einführung Das Nebeneinanderstellen von zwei zeitlich so entfernten Konzeptionen wie Husserls Kinästhesentheorie und der Theorie der sensomotorischen Perzeptionserfahrung könnte an sich als etwas Unangebrachtes oder gar Merkwürdiges angesehen werden. Ich sehe aber eine große Ähnlichkeit beider Vorschläge. Sie beziehen sich auf die fundamentale Bedeutung des Leibes unter besonderer Berücksichtigung seiner motorischen Funktionen und seiner Rolle bei den Perzeptionsprozessen. Die breit diskutierte Problematik des Leibes und seiner Bewegung hat jedoch meines Erachtens nach wie vor keine richtige Konzeptualisierung gefunden. Sowohl die Phänomenologie als auch die Kognitiven Wissenschaften nehmen die Reflexion über den Körper und seine Erkenntnisfunktion auf. Können sich diese Überlegungen gegenseitig befruchten? Die Problemskizze, die ich hier in Angriff nehme, soll einen Versuch der Weiterentwicklung von Husserlschen Vorschlägen darstellen. Sie soll auch zur Anregung weiterer detaillierter phänomenologischer Analysen dienen, die gegenwärtige Forschungsergebnisse über den Verlauf von Erkenntnisprozessen berücksichtigen. Gerade die Sprache und die Methode der Phänomenologie prädestinieren sie zu einem solchen Versuch. Um der Klarheit willen habe ich den Beitrag in zwei Teile geteilt. Im ersten Teil wird die Husserlsche Kinästhesentheorie besprochen, und im zweiten werde ich sie auf den Vorschlag von Noë und O’Regan beziehen, indem ich zu zeigen versuche, in welchem Sinn dieser Vorschlag eine Weiterentwicklung von Husserls Bestimmungen ist. Die Einführung des Begriffs Kinästhese in die phänomenologische Terminologie wurde zu einer wichtigen Zäsur für alle Analysen zur Gegenstandskonstitution. Leider wurden selbst auf dem Boden der Phänomenologie die Ergebnisse der Husserlschen Forschung nicht richtig erkannt und berücksichtigt. Viele, auch gegenwärtige, phänomenologische Bearbeitungen und Analysen lassen das Problem der Kinästhesen und ihre Rolle in der Wahrnehmung außer Acht. Und doch spielt die besprochene Frage in Husserls Auffassung eine fundamentale Rolle in der phänomenologischen Wahrnehmungstheorie. Ich bin der Meinung, dass die Berücksichtigung der Husserlschen Überlegungen zur Kinästhese nicht nur die Phänomenologie der Wahrnehmung wesentlich bereichert, sondern auch einige gegenwärtige Ansät-
264 Lukasz Przybylski: Kinästhesen und sensomotorische Erfahrung ze aus dem Kreis der Kognitionswissenschaften vorwegnimmt. Es ist die Thematik des Leibes und seiner Rolle in den Perzeptionsprozessen, die auf eine tief reichende Erkenntnisintuition Husserls und eine fundamentale Bedeutung der kinästhetischen Empfindungen bei der Konstitution des wahrgenommenen Objekts hindeutet. 1. Teil: Räumlichkeit. Phänomenologische Annäherung Bei der Aufnahme der Bewegungsfrage knüpft Husserl an phänomenologische Räumlichkeitsanalysen an. Der Raum besitzt in der Phänomenologie zwei wesentliche Komponenten. Er ist ausgefüllt. Die phänomenologische Wahrnehmungsanalyse kann nicht auf dem Begriff des Leerraumes, der einen physischen Ursprung hat, aufbauen. Der Leerraum, also der sogenannte geometrische Raum, ist ein Ergebnis der Idealisierung des körperlichen Raums, und die Anwendung dieses Begriffs des geometrischen Raumes auf die Naturwelt war ein Resultat der Entstehung mathematisierender Naturwissenschaften. Er ist egozentrisch. Dieses Sinnelement des Raumes besitzt zwei Aspekte: Orientierung und kinästhetische Determinierung. Im ersten Fall geht es darum, dass Objekte im Raum immer auf das Subjekt hin orientiert sind, das so zum Zentrum aller räumlichen Beziehungen wird. Die kinästhetische Determinierung bezieht sich dagegen auf die Körpermotorik des Subjekts selbst, welches in einer Bewegungsabfolge, also indem es eine bestimmte kinästhetische Anstrengung macht, räumliche Beziehungen erkennt. Die oben genannten Sinnbestandteile des Raumes samt der den Objekten zustehenden Ausdehnung erlauben im Rahmen der Räumlichkeit zwei wichtige Prozeduren zu unterscheiden: die Verformung und den Lagewechsel. Die Verformung determiniert die Klasse der wegen der physischen Objekteigenschaften möglichen Formen. Der Lagewechsel determiniert die Klasse der Bewegungen. Die Möglichkeit des Lagewechsels ist ein Ausgangspunkt für Analysen, die die Rolle der Kinästhese in Perzeptionsprozessen untersuchen.
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Die Funktion der Räumlichkeit in Perzeptionsakten Die Relation zwischen dem Räumlichen (bezogen auf Gegenstände) und dem Motorischen (bezogen auf das Subjekt) ist wechselseitig. Denn einerseits kann die Motorik des Subjektkörpers nur wegen der zuvor unterschiedenen Raumaspekte realisiert werden. Andererseits wird im Rahmen von Erkenntnisprozessen die Räumlichkeit durch Bewegung erkannt und folglich auch konstituiert. Der Raum ist immer durch Bewegung gegeben. Er bedingt die Möglichkeit, die Ausdehnung der Objekte wahrzunehmen. Die Verwicklung der Perzeptionsakte in Räumlichkeit ermöglicht es, dank der Einführung von Bewegungsprozeduren sowohl auf der Seite des Subjekts wie auch des Objekts die für die Konstitution des Gegenstandes wichtigen Eigenschaften zu erfassen. Es sind neben den Ausdehnungseigenschaften Merkmale wie Farbe, thermische und Geruchseigenschaften oder andere mit verschiedenartigen Perzeptionsmodalitäten zusammenhängende Kennzeichen. Die Wahrnehmung ist also in der Räumlichkeit fundiert. Sie bezieht sich auf alle Perzeptionsmodalitäten, obgleich Sehen und Tasten einen Vorrang haben. Es kann von Perzeptionsschemata gesprochen werden, in denen eine Sache in der Wahrnehmung gegeben ist: Wir haben das Seh-, Tast-, Gehörschema etc. Diese Schemata ergänzen sich, und auf höheren Stufen des Perzeptionsprozesses werden sie zu einem unifizierten wahrgenommenen Gegenstand vereint. Diese Schemata betreffen grundsätzlich alle Perzeptionsarten, und obwohl die Wahl der führenden Modalität von der Objektart abhängen kann, determiniert sie nur im beschränkten Sinn das Ganze. In Bezug auf Kinästhesen lassen sich zwei Grundmodalitäten unterscheiden: Seh- und Tastmodalität. Sie bilden im Bereich der Perzeptionsakte eine Art spezifischen Räumlichkeitssinn. Trotz einer so engen Korrelation besitzt die Tastsphäre eine besondere Eigenschaft, die verursacht, dass wir es hier – so Husserl – mit einer Doppelauffassung zu tun haben. Denn die Tastempfindung bezieht sich sowohl auf die Eigenschaften des äußeren Objekts als auch auf den eigenen Leib als Objekt, und sie konstituiert damit den eigenen Körper des Subjekts mit. Ob und in welchem Maße die anderen Modalitäten an der Konstitution des Körpers des Subjekts mitbeteiligt sind, ist meines Erachtens eine interessante Fragestellung, sie wurde jedoch von Husserl nicht detailliert untersucht. Vom Standpunkt der hier durchgeführten Analyse her ist es wichtiger, die spezi-
266 Lukasz Przybylski: Kinästhesen und sensomotorische Erfahrung fische Aktivität des Seh- und Tastschemas in der Bewegungsmöglichkeit zu fundieren. Die Struktur des Wahrnehmungsfeldes Die Strukturierung des Wahrnehmungsfeldes ist am besten aufgrund der Sehdaten durchzuführen, dazu wird das Wahrnehmungsfeld auf das Sehfeld reduziert. Hauptsächlich in diesem Zusammenhang führt Husserl in seinen Vorlesungen über das Ding Analysen von Kinästhesen durch. Der Begriff des räumlichen Wahrnehmungsfeldes kann jedoch, wie ich meine, auch auf die übrigen Modalitäten bezogen werden. In jedem Fall stützt sich die Konstruktion eines solchen Feldes auf folgende drei Hauptelemente: orientierter Raum, Ganzes versus Teil, und Identifikationsprozesse. Der Begriff des orientierten Raumes wurde schon ansatzweise charakterisiert. Erinnern wir uns, dass er die Lage des Gegenstandes im Raum betrifft. Diese Lage ist allerdings spezifisch zu verstehen: Es handelt sich hier nicht um die Lage als solche, die übrigens in den phänomenologischen Überlegungen vom epistemologischen Gesichtspunkt aus unwesentlich ist, sondern um die Lage des Objekts gegenüber dem wahrnehmenden Subjekt. Gemeint ist die sogenannte Orientierung des Objekts zum leiblichen, wahrnehmenden Ich. Das nächste Element, das ein Wahrnehmungsfeld strukturiert, ist die in der formal-ontologischen Charakteristik der Teil-Ganzes-Beziehungen fundierte Ordnung. Die auf den materiellen Raum bezogene Teil-Ganzes-Relation kommt in der Möglichkeit zum Vorschein, den Raum zu zerstücken (genauer gesagt: die ausgesonderten Objekte, also Bereiche dieses Raumes, denn wie wir wissen, ist der Raum immer ausgefüllt). Die einheitliche Fundierung wird durch den Rahmen des zugänglichen Sehfeldes bestimmt. Und die Zerstückung dieses Feldes, dieses räumlichen Ganzen, wird dann die Menge der Inhalte sein, deren gegenseitige Beziehungen, z.B. Entfernungen, man festlegen kann. Erst auf ein so strukturiertes Wahrnehmungsfeld können die Identifikationsprozeduren angewandt werden, die in jedem Fall zweigleisig verlaufen sollen: bezogen auf das Ganze des Wahrnehmungsfeldes und bezogen auf seine Einzelteile.
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Perzeptive Bewegungsmodelle Indem man jede Bewegung innerhalb des räumlichen Wahrnehmungsfeldes situiert, kann man eine Klassifikation verschiedener Bewegungsmodelle vornehmen, die im Rahmen räumlicher Beziehungen zwischen dem Subjekt und dem Objekt vollzogen werden: Erstens, die Situation, in der das wahrnehmende Subjekt im Ruhezustand bleibt, seine Augen, sein Kopf und der ganze Leib bleiben völlig unbeweglich. Dann sind zwei Erfassungstypen möglich: Das Objektfeld und das Objekt bleiben im Stillstand – es wird keine Veränderung innerhalb des Wahrnehmungsfeldes registriert, und der andere Fall: Das Objektfeld ist in Bewegung, das Subjekt registriert eine Veränderung innerhalb des Feldes. Wegen der Strukturierung des Feldraumes kann die Veränderung ein Einzelobjekt oder alle Objekte des Feldes betreffen. Die Veränderung wird also in Bezug auf einen Teil oder auf das Ganze des in der Wahrnehmung erfassten Perzeptionsfeldes registriert. Zweitens, die Situation, in der das wahrnehmende Subjekt sich bewegt. Die Eigenkörperbewegung des Subjekts kann innerhalb verschiedener Bewegungssysteme beobachtet werden, die nach Husserl meistens unabhängige Systeme sind. Solche Systeme wären folglich Augen-, Kopf-, Rumpfbewegungen etc. In der Perspektive der Evolution ist jedoch eine weitere umfassende Klasse von Bewegungen zu berücksichtigen, welche koordinierte Fusionen von Kinästhesen aus verschiedenen Systemen sind. Zu solchen Verhaltensweisen, die wahrscheinlich Anpassungsbedeutung haben, sollen koordinierte Kinästhesen des Kopfes und der Augen, des Kopfes und des oberen Teiles des Oberkörpers und der oberen Extremitäten und des Kopfes gerechnet werden. Kinästhese. Definitionsversuch Die Kinästhese ist ein Begriff, der sich auf eine Abhängigkeit zwischen der subjektiv vollzogenen Bewegung und der Erscheinungsweise der Gegenstände bezieht. Die Gegenstandsbewegung im Sehfeld ist daher, zumindest aus der Sicht der Kinästhese, sekundär gegenüber der Körperbewegung des Perzeptors.
268 Lukasz Przybylski: Kinästhesen und sensomotorische Erfahrung Den Begriff der Kinästhese führt Husserl im Kontext der Erwägungen über die Konstitution des Raumes und des räumlichen Dinges ein. Der grundsätzliche Rahmen, in den Husserl die Wahrnehmung des räumlichen Dinges setzt, ist der Prozess des Dingerfassens in der Verschiedenheit seiner Aspekte, in denen es dem Subjekt gegeben ist. Eine Schlüsselbedeutung für das Verstehen der Rolle, welche die Kinästhese in den Wahrnehmungsprozessen spielt, hat die ungewöhnlich starke Korrelation der gegebenen „Aspekte“ des Dinges und seiner „Orientierung“. Jedes räumliche Ding enthält ausser seinem aktuellen Gegebensein, d.h. der Erfassung (bzw. Auffassung), in der es vom Subjekt aktuell wahrgenommen wird, auch einen weiten Horizont an Erfassungsmöglichkeiten, der mit dem räumlichen Charakter des Dinges in Verbindung steht. Der Horizont kann – mit den Begriffen der Wahrnehmungsphänomenologie gesprochen – durch die Erfahrung des Subjekts „ausgefüllt“ sein. Da z.B. ein Ding nie als Ganzes gegeben ist, vermutet das Subjekt, wie auch bei anderen Wahrnehmungsakten, auch hier nur die aufgrund seiner Erfahrung erwarteten Aspekte des Objekts. Wir können hier von einer eigenartigen Spannung zwischen dem Gegebenen und dem in der Vermutung des Subjekts quasi Geschaffenen sprechen, das zur vollen Realisierung den Ausfüllungsakt erfordert. Diese Spannung entsteht eben auf der Linie der Verschiedenheit der Aspekte und der Möglichkeiten ihrer Ausfüllung dank der spezifischen räumlichen Subjekt-Objekt-Beziehungen durch die Orientierung des wahrnehmenden Ich. Durch diese Beziehung kann das Subjekt, indem die Eigenkörpermotorik aktiviert wird, infolge der aufgenommenen Bewegung neue Aspekte des räumlichen Dinges erfassen. Das aktuell vom Subjekt Aufgefasste ist nie alles, was in der Wahrnehmung gegeben werden kann. Daher kommt der Möglichkeit neuer Erfassungen, weiterer Dingaspekte, eine so große Bedeutung zu. Eben diese in der räumlichen Orientierung fundierte Funktion des Subjekts lokalisiert Husserl in einem speziellen Rahmen, der Kinästhese genannt wird. Kinästhese ist dem ganzen Konstitutionsmechanismus des räumlichen Dinges stark eingeschrieben, d.h. sie ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Konstitution. Sie verweist uns auf die motorische Anstrengung des Subjekts selbst, in der das Subjekt nicht nur den Raum konstituiert, z.B. in seiner Objektauffüllung, sondern auch neben der Ausdehnung noch andere Aspekte des Dinges erfasst. Die Kinästhesen sind folglich besondere Wahrnehmungsumstände, die gegenüber der Wahrnehmung primär sind. Husserl positioniert sehr
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deutlich die Kinästhesen in den Perzeptionsprozessen und unterstreicht so ihre aktive Funktion bei der Herstellung der Wahrnehmungsperspektive. Wir haben also erstens Eindrücke, die in gegebenen Aussehensarten die Merkmale der Dinge bestimmen, z.B. ihre Eigenschaften wie Ausdehnung, die diese Ausdehnung ausfüllende Farbe, oder in der Tastsphäre: Glattheit vs. Rauheit, thermische Eindrücke am getasteten Ding etc. Alle diese Eindrücke werden von Kinästhesen, wie z.B. Bewegungen des Eigenkörpers des Subjekts, begleitet, die zugleich im Charakter von Empfindungen erfahren werden. Der kinästhetische Rahmen bedingt die Eigenschaftserfassung der wahrgenommenen Dinge so stark, dass häufig die Körperbewegung in den Objekteigenschaften mit „kodiert“ ist. Wenn wir beispielsweise hören, dass jemand ein Objekt sich bewegen sieht, dann mutmaßen wir stillschweigend, dass er eine Zeitlang die Bewegungen des Objekts verfolgt hat. Wenn man sagt, dass der Gegenstand sehr klein ist, dann geht man davon aus, dass man das Auge dem Objekt „nähern“ muss, um es wahrzunehmen. Es wird ersichtlich, dass Änderungen des kinästhetischen Eindrucks gewöhnlich von Änderungen des Eigenschaftseindrucks begleitet werden. Reihen von kinästhetischen Empfindungen verursachen spontan ein Auftreten einer Reihe von Eigenschaftseindrücken. Kinästhesen nehmen nicht immer die Gestalt von gesteuerten und willkürlichen Akten an. Im Gegenteil, wenn ich eine Kopf- oder Augenbewegung mache, dann denke ich häufig nicht daran, und obwohl solche Bewegungen zweifellos einen subjektiven Charakter haben, werden sie nicht unbedingt aufmerksam und bewusst vom Subjekt vollzogen. Man kann natürlich eine Kinästhesenreihe unterbrechen, indem man regungslos wird, oder, bezogen auf die Augenbewegungen, kann man die Augen schließen, ohne z.B. das Auftreten von Sakkaden unmöglich zu machen. Ich kann aber nicht bewirken, dass Kinästhesen keine neuen Erfassungen des wahrgenommenen Dinges hervorrufen. Das bestimmt ihren wesentlich produktiven Charakter. Der funktionale Zusammenhang der Kinästhesen mit der Perzeption in der Sehmodalität Wegen des ausgeprägten Zusammenhangs der Kinästhesen mit der Wahrnehmung räumlicher Dinge und des Raumes überhaupt kommt
270 Lukasz Przybylski: Kinästhesen und sensomotorische Erfahrung der besondere Charakter dieses Zusammenhangs vor allem in der Sehund Tastmodalität zum Vorschein, die zusammen mit den sie begleitenden kinästhetischen Reihen im höchsten Grad über die Räumlichkeitswahrnehmung entscheiden. Jede von diesen Modalitäten kann man bei Berücksichtigung der Husserlschen Bestimmungen entsprechend auf die Perzeption des räumlichen Dinges beziehen und in den Kontext der sie begleitenden Kinästhesen setzen. Der Zusammenhang der Kinästhese mit dem Sehen scheint am offensichtlichsten zu sein. In diesem Kontext ist eine durch Gibson durchgeführte Differenzierung interessant. Gibson erkannte, dass der Bewegungsfall im Sehfeld sich radikal von dem Fall unterscheidet, in dem sich der Beobachter bewegt. Im letzten Fall ist von Lokomotion zu sprechen, und die vom Beobachter empfangenen Daten werden aus dem optischen Fluss (optic flow) gewonnen. Ein Objekt, dessen Bild sich dem Subjekt in einer Reihe von Kinästhesen offenbart, die die Auffassung dieses Objekts motivieren, enthüllt auch seinen Typus (sein Wesen). Dies ist eine konstante Charakteristik des räumlichen Dinges, aber nicht als eines besonderen Falls, sondern eben als eines Typus. Jedes unbewegliche Ding, das in einer Reihe seiner Bilder erfasst wird, besitzt eigentümliche Eigenschaften, die mit seiner Größe, Ausrichtung etc. in Verbindung stehen. Durch die Aktualisierung dieser Eigenschaften „realisiert“ das Objekt seinen Typus, sein Wesen. So offenbart sich zum Beispiel ein Moment des allgemeinen Typus des unbeweglichen Dinges darin, dass sein Bild vergrößert wird, wenn sich das Subjekt dem Ding nähert, und kleiner ausfällt, wenn sich das Subjekt entfernt. Analoges geschieht bei einem bewegten Ding; auch dieses besitzt seinen allgemeinen Typus, der in konkreten Wahrnehmungsfällen realisiert wird. Die Analyse der Typen des räumlichen Dinges erfordert sicherlich viele Details. Denn eine Objektbildreihe ist im Sehfeld bei einer verkürzten Perspektive anders gerichtet als bei einer verlängerten, z.B. wegen der Erscheinung der Bewegungsparallaxe. Die Kinästhesen erlauben jedoch dann, entsprechende Bilder in Bezug auf einen bestimmten Typus des räumlichen Dinges zu antizipieren. Der funktionale Zusammenhang der Kinästhesen mit der Sehwahrnehmung kommt vor allem in der Tiefengestaltung der wahrgenommenen Objekte zum Vorschein. Wir beobachten hierbei zweidimensionale Entsprechungen, in denen den Augenbewegungen vom Typ Oben-Unten, Links-Rechts auf dem Niveau der Dingkonstitution die
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Zweidimensionalität des Bildes entspricht, in der das Subjekt das wahrgenommene Ding erfasst. Die dritte Dimension, also die eigentliche Tiefe, ist erst im Zusammenhang mit der Kinästhese des Gehens möglich. Es kommt hier zum zweiten Konstitutionsschritt des Raumes und des räumlichen Dinges durch das Phänomen des Sich-Entfernens und Sich-Annäherns an das Objekt und durch den Prozess, den wir als Umgang bezeichnen. Husserl weist auf die wesentliche Bedeutung hin, welche für diesen Schritt die wechselseitige Aufeinanderfolge dieser Prozeduren hat. Durch das Hingehen, Weggehen und Umgehen des Gegenstands, unter der Bildung der entsprechenden kinästhetischen Reihen, wird dem Subjekt die Tiefe der sich räumlich darstellenden Bilder gegeben. Der in diesem Fall auftretende funktionale Zusammenhang von visuellen und kinästhetischen Daten ist offensichtlich. Er illustriert auch die Art und Weise, wie wir auf der Ebene des Individuums die Tiefe wahrnehmen lernen. Ein kleines Kind lernt noch in der Krabbelphase, indem es durch das Sehen das Bild der sich gegenseitig verdeckenden Objekte im Sehfeld wahrnimmt, durch die Aktivierung der Eigenkörpermotorik, Spalten zwischen den visuell verdeckten Objekten zu finden. Als Ergebnis erwirbt sein Nervensystem die Kompetenzen, die es ihm erlauben, effektiv die räumliche Tiefe in den ursprünglich nur visuell gegebenen Schatten und Verhüllungen zu erkennen. Die Einschließung des ganzen Subjektkörpers in den Bildungsprozess der perzeptiv effektiven Bilder lässt aufs Neue die Frage nach der Funktion des Tastsinns bei der Konstitution des räumlichen Dinges aufkommen. Die Tastsphäre bestimmt in direktester Weise das aktuelle Wahrnehmungsfeld, in dem die für das Subjekt bedeutsamen räumlichen Beziehungen mit den Objekten enthalten sind. Dieser Bereich ist in zwei Pole, Null und Unendlichkeit, polarisiert, wobei die Null die für das Subjekt „zum Greifen nahen“ Objekte bestimmt, also die Objekte, bei denen die Kinästhese nicht nur einen Bildwechsel bewirkt, sondern auch ermöglicht, durch Tasten das wahrgenommene Objekt zu erfassen. Die Unendlichkeit bestimmt den Gegenpol, also die Grenzen der perzeptiven Einwirkung des Subjekts innerhalb der Tastsphäre. Zwischen diesen Polen kann das Subjekt effektiv die Entfernungsbeziehungen festlegen, den Raum und die ihn auffüllenden Gegenstände aneinander orientieren. Je entfernter das Subjekt und das Objekt voneinander sind, umso geringer werden die Chancen der effektiven Auffüllung. Bei einer solchen Erfassung wäre das Tasten eine
272 Lukasz Przybylski: Kinästhesen und sensomotorische Erfahrung vollkommen ursprüngliche Ebene für die Raumkonstitution, und die Kinästhesen würden letztlich – wegen der Möglichkeit zum direkten Kontakt des Subjekts mit dem Objekt – in der Tastmodalität realisiert. Die Verkürzung der Entfernung zwischen dem Objekt und dem Leib des Subjekts auf das Minimale wäre dann ein Modell für alle Wahrnehmungsakte, in denen wir das räumliche Ding erfassen. 2. Teil: Körperbewegung und Perzeption nach Noë und O’Regan Der ursprüngliche Rahmen, welchen die Kinästhese für die Wahrnehmung darstellt, bezieht sich auf den Begriff des Körperschemas, der übrigens nicht nur in der phänomenologischen Literatur diskutiert wird. Vielleicht sollte deshalb hier über perzeptive Körperschemata innerhalb der einzelnen Sinnesmodalitäten gesprochen werden. Wir hätten dann z.B. ein visuelles, ein auditives, ein taktiles Körperschema etc. Meines Erachtens ließe sich erst mit solchen detaillierten Analysen ein adäquates Leibmodell aufstellen und die Rolle des Leibes bei den Erkenntnisprozessen genau bestimmen. Ein Versuch, die Sinnesmodalitäten und die Typen der Perzeptionserfahrungen zu unterscheiden, kann aufgrund der von Noë und O’Regan vorgeschlagenen Konzeption durchgeführt werden. Diese Konzeption korrespondiert meines Erachtens sehr gut mit den Feststellungen von Husserl und stellt eine wichtige Weiterentwicklung seiner Kinästhesentheorie dar. Vor allem bezieht sie die Körperbewegung auf die Perzeptionserfahrung und macht dadurch die Bewegung zum konstitutiven Bestandteil der Erfahrung selbst. Diese These wird übrigens noch stärker formuliert. Die Perzeptionserfahrung ist nicht ein Typ eines Dinges, das vom Gehirn erzeugt wird, also etwas, was sich ereignet. Im Gegenteil – sie ist etwas, was wir machen, sie ist Aktivität, Handeln des wahrnehmenden Ich, obwohl sie natürlich von einer bestimmten Gehirnaktivität begleitet wird. Diese Aktivität untersteht jedoch sehr wichtigen Gesetzen, die es erlauben, wirksam die Eigenkörpermotorik wie auch die Bewegungen des Objekts gegenüber dem Perzeptor zu nutzen. Das wahrnehmende Subjekt besitzt eine eigentümliche Geläufigkeit beim Beachten dieser Gesetze sowohl in Bezug auf das Objekt als auch auf den eigenen Leib. Diese Gesetze steuern die Relation, die zwischen dem möglichen Handeln (darunter die Bewegung) und der
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Information besteht, die an das Subjekt in einer bestimmten perzeptiven Erfahrung gelangt. Sie beschreiben also den ganzen Beziehungsreichtum zwischen der Subjektaktivität und dem, was das Subjekt durch diese Aktivität im Wahrnehmungsprozess erreicht. Mehr noch, sie beziehen sich auch darauf, wie die zufließende Information infolge bestimmter Änderungen, z.B. innerhalb der Eigenkörpermotorik, modifiziert wird. Auf dem Boden dieser Theorie lässt sich nun der Husserlsche Begriff der Kinästhese einführen. Die Einteilung der Kinästhesen im Hinblick auf die Theorie von Noë und O’Regan Wenn man versucht, Husserls Theorie der Kinästhesen auf den Ansatz der sensomotorischen Theorie der Perzeptionserfahrung zu beziehen, könnte man in der letztgenannten meiner Meinung nach eine Detailbetrachtung und Klassifizierung der im Hinblick auf Perzeptionsprozesse wichtigen Bewegungen sehen. Das Handeln bzw. die Aktivität, über die die Autoren dieser Theorie schreiben, ist wahrscheinlich etwas mehr als nur eine motorische Aktivität, obwohl diese Komponente zweifellos wesentlich ist. Die Umwelterkundung durch das wahrnehmende Subjekt erfolgt weitgehend durch die Aktivierung der Sinnesmodalitäten unter Einsatz der Körpermotorik. Das betrifft, wie wir wissen, die einzelnen Modalitäten in verschiedenem Grad. Die Rolle der Leibes- und Körperbewegungen des Perzeptors bei solchen Modalitäten wie Sehen, Hören oder Tasten ist jedoch nicht zu bezweifeln und auch im Hinblick auf die Entwicklung bedeutungsvoll. Aufgrund der Konzeption von Noë und O’Regan lassen sich zwei Grundtypen von Kinästhesen unterscheiden: 1. die sich aus den Möglichkeiten des Körpers oder eines Organs selbst ergebenden Kinästhesen, 2. die sich aus dem Charakter des wahrgenommenen Objekts ergebenden Kinästhesen. Der erste Typ wird durch motorische und morphologische Charakteristika des Körpers selbst reguliert, d.h. durch die des Organs, mit dem wir „wahrnehmen“. Mit anderen Worten: Es ist unser Leibesorgan, das in einer gewissen Weise die Körpermotorik beschränkt. Wir können zum Beispiel das Auge nicht beliebig frei bewegen, sondern nur so, wie es die Muskeln zulassen, welche für die Bewegung des Augapfels zuständig sind. Hieraus ergibt sich der Unterschied von
274 Lukasz Przybylski: Kinästhesen und sensomotorische Erfahrung zentralem und peripherem Sehen, ferner der Beleuchtungswechsel des wahrgenommenen Objekts und der damit einhergehende Farbwechsel. Ähnliche Analysen wären für das Hören und Tasten durchzuführen. Bei allen diesen Modalitäten betreffen die durch die leiblichen Möglichkeiten bedingten Kinästhesen einerseits das ausführende Organ, in diesem Falle das Auge, das Ohr, die Hand, andererseits die motorischen Möglichkeiten des ganzen Körpers. Es ist hier also die Rede von dem, was wir als ein gegenseitiges Durchdringen und Ergänzen von Kinästhesen aus verschiedenen Schemen bezeichnen können. Für visuelle und auditive Wahrnehmungen sind Bewegungen des Kopfes und der oberen Körperregion samt den Händen von besonderer Bedeutung, worauf schon Husserl aufmerksam machte. Mit Kinästhesen diesen Typs verbinden die Autoren ferner das Problem der Situierung von wahrgenommenen Objekten im dreidimensionalen Raum. Es ist vor allem beim Sehen von beträchtlicher Bedeutung. Betrachtet man den dreidimensionalen Raum als etwas, das sich in der Orientierungsrelation auf der Linie Subjekt-Objekt konstituiert, dann böte sich auch eine interessante Anknüpfung an die Husserlsche Raumtheorie an. Der zweite Typ von Kinästhesen sind solche, die durch die Charakteristik des Wahrnehmungsobjekts selbst bedingt sind. Noë und O’Regan schreiben, dass die Beziehung zwischen der Aktivität des Subjekts und der Information, welche wir durch sie von dem Objekt erhalten, auch von den Eigenschaften dieses Objekts abhängig ist. In einem gewissen Sinn handelt es sich in dieser Theorie um die Frage nach den Objekttypen, die Husserl in seinen Vorlesungen über das Ding erwähnte. Jedes Ding, das zum Beispiel visuell wahrgenommen wird, besitzt seine Eigenart des Erscheinens in der Wahrnehmung. So vertritt beispielsweise das Teeglas einen Dingtyp und der Krug einen anderen. Wenn wir diese beiden Gegenstände in der Hand umdrehen oder um sie herumgehen, werden wir im Falle des Teeglases weitgehend stets das gleiche Bild vor Augen haben, anders aber im Falle des Kruges, der einmal mit dem Henkel und einmal ohne den Henkel in Erscheinung tritt. Eine ähnliche Charakteristik kann in Hinblick auf andere, viel komplexere Objekte durchgeführt werden. Es ist wahrscheinlich, obwohl gerade das Gegenstand weiterer Analysen werden müsste, dass sich eine analoge Typologie in Bezug auf Hör- und Tastobjekte aufstellen lässt. Dies ist jedoch ein ernstes phänomenologisches Unterfangen, das ich hier nur andeuten kann.
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Es gibt jedoch eine weitere wichtige Differenzierung, die in den durch die Objekteigenschaften bedingten Kinästhesen durchzuführen ist. Sie betrifft die einzelnen Sinnesmodalitäten. Das wahrnehmende Subjekt wird einen anderen Typ von Kinästhesen bei der Wahrnehmung des Kruges einsetzen, wenn es ihn visuell erfährt, als wenn es ihn z.B. taktil erfährt. Gegenstände provozieren, mit Gibson gesprochen, in einem gewissen Sinn bestimmte motorische Verhaltensweisen, je nachdem, in welcher Modalität sie wahrgenommen werden, obwohl wir eventuell die gleichen Merkmale des Objekts dabei erkennen. Wir können beispielsweise die Form ebenso gut erkennen, indem wir die taktile oder die visuelle Modalität einsetzen, obwohl es jeweils eine völlig andere Art der Exploration erfordert, und, was damit verbunden ist, einen anderen Typ der motorischen Aktivierung. Abstimmung Der Organismus bzw. sein Gehirn besitzt die Fähigkeit, sich auf Veränderungen in der Information abzustimmen (bzw. sich darauf einzustellen), die sich beim Perzeptor infolge einer bestimmten Bewegungsaktivität einstellen. Diese Einstellung hat den Charakter eines praktischen Wissens nach dem Know-how-Prinzip. Das macht auf den aktual-gegenwärtigen Charakter der Abstimmung aufmerksam. Das Gehirn findet sich gewissermaßen wirksam in einer konkreten, zeitlichen Situation wieder. Das Sehen, Hören, Tasten würde nach einer solchen Auffassung durch das aktuelle Sich-Abstimmen des Organismus (Gehirns) auf Veränderungen konstituiert, die durch bestimmte Aktivitäten eintreten können. Deswegen ist die Perzeption u.a. durch Beständigkeit gekennzeichnet, obwohl z.B. die durch die Eigentümlichkeit des konkreten Organs bedingten Kinästhesen lokale Störungen im Perzeptionsprozess verursachen können, z.B. ermöglicht die Abstimmung, dass der Organismus weiß, wie sich der Charakter der sinnlichen Daten über ein Objekt sich verändern wird, das vom zentralen Sehfeld in die Peripherie verschoben wird. Der Organismus weiß, wie sich infolge einer solchen motorisch herbeigeführten Veränderung Daten wie Farbe, Gestalt und Schärfe des gesehenen Objekts verändern werden.
276 Lukasz Przybylski: Kinästhesen und sensomotorische Erfahrung Die Welt als Außengedächtnis So verstanden, fordert die Welt keine Repräsentation im Geist. Wir besitzen einen Zugang zur Welt dank unserer „Geläufigkeit“ im Beachten, d.h. weil uns die sensomotorischen Aktivitätsgesetze und Relationen geläufig sind, welche unsere leibliche Aktivität mit der Erscheinungsweise des wahrgenommenen Objekts oder – weiter gefasst – mit der Welt verbindet. Die Autoren der sensomotorischen Theorie der perzeptiven Erfahrung sprechen sogar über das Aussengedächtnis, auf das wir ständigen Zugriff haben, dank dessen wir die Aussenwelt kontrollieren können, indem wir sie quasi an den „Fingerspitzen“ haben. Es erlaubt uns, die Aussenwelt jederzeit in perzeptiver Erfahrung herbeizurufen. Diese Suggestion, die ernste Folgen für die Philosophie des Geistes hat, beruft sich in gewissem Sinn auch auf etwas, was als das kinästhetische Gedächtnis bezeichnet wird. Charakteristische motorische Schemata, die wir bei der Perzeption einsetzen und mit denen zu operieren uns immer geläufiger wird, erfüllen eine ähnliche Funktion. McKays Große Hand Die Perzeption in der sensomotorischen Auffassung erinnert an McKays „Große Hand“ – einen Vorschlag, nach dem alle Perzeptionsprozesse sich mit der Metapher einer riesigen Hand beschreiben lassen, die taktil die Gegenstände erforscht und dank ihrer Aktivität, d.h. ihrer ständig arrangierten motorischen Bemühungen, die Eigenschaften des Objekts erkennt. Eine fixierte Hand hätte es schwerer, selbst solche Grundmerkmale eines Objekts wie seine Form zu erkennen. Wir wissen darum nicht nur aus zahlreichen Experimenten, sondern auch aus den alltäglichen Lebensaktivitäten. Die Perzeption in ihrer dynamischen Auffassung von Noë und O’Regan ist nichts anderes als die Funktion einer solchen riesigen Hand. Die Aktivität des Subjekts, die in bestimmten kinästhetischen Schemata realisiert wird, besteht in einem ständigen Erproben der Umwelt. Die Perzeption ist in der Aktivität des Subjekts vermittelt. Das Subjekt beachtet zwei grundsätzliche Gesetze, welche seine Kinästhesen regieren, indem es seine „Geläufigkeit“ in der Relation erkennt, die zwischen dem Verhalten (darunter der Bewegung) und den Veränderungen innerhalb der hierdurch
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hervorgerufenen Wahrnehmungen besteht. Diese Gesetze beziehen sich 1. auf die Kinästhesen, die durch motorische Möglichkeiten des Organismus selbst bedingt sind, und 2. auf die durch die Charakteristik der wahrgenommenen Objekte bedingten Kinästhesen. Eine andere wichtige Funktion der so verstandenen Aktivität des explorierenden Subjekts ist sein Einverstanden-Sein mit verschiedenartigen Erschwernissen im Wahrnehmungsprozess, die in einer unmittelbaren Verbindung mit dem Bau oder dem Funktionieren der Körperorgane stehen. Als Beispiel sei hier die Hand angeführt, die wegen der Spalten zwischen den Fingern sowie wegen einer ungleichmäßigen Verteilung der Fühlrezeptoren kein einheitlich sensibles Empfindungsfeld besitzt. Analog ist es im Falle des blinden Flecks bei der Sehwahrnehmung, der dennoch keine ernsten Wahrnehmungsstörungen verursacht. Dies bestätigt die These über die Abstimmung des Organismus, der die Möglichkeit solcher Wahrnehmungsschwierigkeiten gleichsam voraussieht und sie im Verlauf der Wahrnehmung berücksichtigt. Die Erschwernisse dieser Art sind auch ein Grund, warum der Organismus das Erkunden der Umwelt aktiv vornimmt. Aber die Metapher der großen Hand hat, besonders in Bezug auf Husserl, eine weitere Dimension. Denn sie betont die fundamentale Funktion des Tastens bei der Perzeption und seine Evolutions- und Entwicklungsbedeutung beim Sich-Formen der perzeptiven Erfahrung. Die von mir im ersten Teil erwähnte effektive Auffüllung wird gegenüber denjenigen Objekten realisiert, die sozusagen zum Greifen nahe sind, also gegenüber Objekten, an denen der Organismus (das Subjekt) eine wirksame Exploration unternehmen kann. Resümee Der von mir dargestellte Versuch, Husserls Theorie der Kinästhesen aufgrund der sensomotorischen Konzeption der perzeptiven Erfahrung zu entwickeln, ist erst eine Vorskizze des Problems. Noë und O’Regan untermauern ihre Thesen mit umfangreichen empirischen Belegen, die hier, auch abgekürzt, nicht zu zitieren sind. Sicherlich gibt es auch viele andere, nicht minder interessante Fragen, die man erwägen könnte: etwa das Substitutionsproblem innerhalb verschiedener Sinnesmodalitäten oder aber das hier nur angedeutete Problem der Repräsentation.
278 Lukasz Przybylski: Kinästhesen und sensomotorische Erfahrung Zweifellos verträgt sich jedoch der Vorschlag von Noë und O’Regan ausgezeichnet mit Husserls Funktionsbestimmung der Kinästhesen in der Wahrnehmung. Ich glaube, dass der Vorschlag eine Inspiration zu detaillierten phänomenologischen Analysen über den Körper, seine Motorik, Leib- und Körperschemata und ihre fundamentale Bedeutung in der Perzeption werden könnte. Bibliographie: R. Bernet / I. Kern / E. Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. Hamburg 1996 J. J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception. Boston 1979. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Den Haag 1952. E. Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil. Den Haag 1973. E. Husserl: Ding und Raum. Hamburg 1991 J. Kevin O’Regan /Alva Noë: A sensorimotor account of vision and visual consciousness. In: Behavioral and brain sciences 24 (2001), 939-1031. J. Kevin O’Regan / Alva Noë: What it is like to see: A sensorimotor theory of perceptual experience. In: Synthese 129 (2001), 79-103.
Husserl und präreflektive Kognition1 Daniel A. Schmicking, Universität Mainz Zusammenfassung: Unbewusste oder präreflektive Kognition ist von den Kognitionswissenschaften als von überragender Bedeutung erwiesen worden, als Bereich, in dem sich wohl die meisten kognitiven Prozesse, ohne Beteiligung eines bewusst reflektierenden, steuernden Ichs, abspielen. Nach einer Erörterung des Begriffs präreflektiv, seiner Verwendung bei Husserl und Lakoff / Johnson (1999) ist es Hauptziel des Beitrags zu zeigen, dass Husserls Phänomenologie, meist unter den Titeln „passive Intention(alität)“ bzw. „passive Konstitution und Genesis“, diesen Bereich vor eigentlicher Ichaktivität bereits intensiv erforscht. So finden sich in Husserls Werk zahlreiche Detailstudien zu Bereichen, die heute dem kognitiven Unbewussten zugeordnet werden. Ein vorläufiger ,Katalog‘ dieser Untersuchungsbereiche wird vorgestellt. Abschließend wird dafür argumentiert, dass eine Arbeitsteilung in transzendentale und empirische (naturalisierte) Phänomenologie ein geeigneter Weg ist zu einer empirisch verantwortungsvollen Philosophie, wie sie von Lakoff und Johnson (1999) gefordert wird, und die die präreflektive Kognition angemessen berücksichtigt.
Der Bereich präreflektiver Kognition erweist sich als einer philosophischen Untersuchung und zufriedenstellenden Definition ähnlich schwer zugänglich wie das Bewusstsein oder das Unbewusste. Im Folgenden soll nicht versucht werden, eine vollständige Abgrenzung, Taxonomie und Definition präreflektiver intentionaler Leistungen zu liefern. Ebenso wenig sollen die verschiedenen historischen Stationen und Erklärungsversuche dargestellt werden. Vielmehr soll ein erster Schritt zur Klärung der Frage getan werden, ob dieser Bereich in Husserls Phänomenologie bereits Berücksichtigung gefunden hat und in ihrem Rahmen weiter erforscht werden kann. Wenn Husserls Phänomenologie immer wieder noch als Fortsetzung der Cartesianischen Tradition bzw. der neuzeitlichen transzendentalen Subjektphilosophie betrachtet wird, dann wird ihr damit teils implizit, teils ungewollt, teils aber auch explizit unterstellt, apodiktischen Anspruch auf einen Zugang zu einem vollkommen transparenten Bewusstsein zu erheben.2 Aber Husserl vertritt nicht eine Cartesianische Auffassung totaler Selbsttransparenz und Evidenz des Mentalen, sondern Husserl, und sicher die große Mehrheit der Phänomenologen, bezweifelt nicht, dass es neben der Sphäre bewusst gesteuerter, eigentlicher Akte einerseits Bereiche gibt, wie etwa physiologi279 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 279–295. © 2006 Springer.
280 Daniel A. Schmicking: Husserl und präreflektive Kognition sche Prozesse, die der Reflexion prinzipiell verschlossen bleiben, da sie nicht bewusstseinsfähig sind, aber andererseits auch einen weiten Bereich mentaler Zustände und Prozesse, der ,unbewusst‘ oder vielmehr ,präreflektiv‘ ist und der zumindest teilweise durch entsprechende Reflexion oder experimentelle Verfahren bewusst gemacht werden kann. Die kognitionswissenschaftliche Forschung hat den Bereich, in dem sich sogar die meisten kognitiven Prozesse ohne Beteiligung eines reflektierenden, steuernden Ichs abspielen, als von umfassender Bedeutung für die menschliche Kognition erwiesen.3 Hierbei handelt es sich nicht etwa nur um simple mechanische Prozesse, sondern durchaus auch um flexible intelligente Leistungen. Je nach Bestimmung des zugrunde gelegten Begriffs von „kognitiv unbewusst“ oder „unbewusster Intelligenz“ zählen hierzu etwa unterschwellige Wahrnehmung, Voraktivierung (priming), blindsight, die Verfügbarkeit automatisierter motorischer Fertigkeiten, unbewusstes bzw. implizites Gedächtnis, das unbewusste Lernen sprachlicher wie sozialer Regeln und die Kenntnis dieser komplexen Regeln selbst.4 Der Linguist George Lakoff und der Philosoph Mark Johnson haben im Rahmen ihrer Theorie des kognitiven Unbewussten und ihrer darauf aufbauenden Kritik grundlegender Begriffe und Annahmen der westlichen Philosophie eine neue, empirisch verantwortungsvolle Philosophie gefordert.5 Diese soll sich auf ein kognitionswissenschaftliches Verständnis des kognitiven Unbewussten stützen. Während auch Lakoff und Johnson die Idee eines sich selbst vollkommen transparenten Geistes als eine Fiktion zurückweisen, erkennen sie die Möglichkeit an, durch phänomenologische Reflexion viele der präreflektiven Strukturen zu untersuchen, die unterhalb der Ebene reflexiver, bewusster Erfahrung liegen. „Phenomenological reflection even allows us to examine many of the background prereflective structures that lie beneath our conscious experience.“6 Der Bereich präreflektiver Kognition ist damit also, wie bereits im Hinblick auf Husserl angedeutet, von Bereichen des Unbewussten unterschieden, die jeder Reflexion versperrt sind. Es stellt sich daher die für die Phänomenologie interessante, wichtige Frage, wieweit ihre Methode diesen Bereich zu erfassen erlaubt, und – mit Blick auf Lakoffs und Johnsons Forderung – die weitere Frage, ob Phänomenologie als eine empirisch verantwortungsvolle Philosophie betrieben werden kann. Ziel der vorliegenden Überlegungen ist es, zu zeigen, dass die Husserlsche Phänomenologie bereits eine Vielzahl sogenannter passi-
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ver Prozesse kennt, die heute dem Bereich des kognitiv Unbewussten zuzurechnen sind. Dazu werden in einem ersten Teil Überlegungen zu den Termini „präreflektiv“ und „kognitiv unbewusst“ vorangeschickt. Daraufhin ist zu zeigen, dass Husserl neben einem präreflektiven Selbstbewusstsein auch einer Schicht präreflektiver bzw. präobjektiver Gegenstandserkenntnis einen festen Platz in der menschlichen Kognition zuweist. Exemplarisch werden solche präreflektiven Leistungen vorgestellt. Abschließend wird die Frage nach der Möglichkeit einer empirisch verantwortungsvollen Phänomenologie beantwortet. I. Terminologische Vorüberlegungen Wie bereits angedeutet, ist zunächst zu bemerken, dass die Termini „präreflektive Kognition“, „unbewusste Intelligenz“ und „kognitives Unbewusstes“, beziehungsweise deren englische und französische Pendants, zwar häufig koextensiv verwendet zu werden scheinen. Aber der Literatur wie auch dem Internet konnte ich bisher keine hinreichende Information darüber entnehmen, wie die einzelnen Autoren diese Termini jeweils definieren. Im Rahmen dieses Aufsatzes soll der Begriff der präreflektiven Kognition soweit geklärt werden, dass damit unter phänomenologischen Vorzeichen vorläufig zu arbeiten ist. Dies soll keine umfassende Begriffsklärung ersetzen. Dazu müsste auch die Geschichte dieses Begriffs und der Termini, unter denen er in die Literatur eingeführt worden ist, aufgearbeitet werden, was hier nur angedeutet wird. Vor allem aber müsste auch umfassend das Verhältnis des Begriffs des präreflektiven Bewusstseins zu dem des Hintergrundbewusstseins, des Randbewusstseins und des Unbewussten (im psychoanalytischen Sinn) untersucht werden.7 Wer die gängigen Wörterbücher und Enzyklopädien zur Philosophie, auch spezieller zur Philosophie des Geistes oder der Phänomenologie konsultiert, um nach dem Begriff des Präreflektiven zu fahnden, wird enttäuscht. Abgesehen von einer Ausnahme8 tauchen die Termini „präreflektiv“, „prereflective“, „préréflexif“ nicht als Lemma oder im Index auf. Allgemein dürfte das französische „préréflexif“ zuerst durch Sartres L’être et le néant (1943) eine gewisse Verbreitung gefunden haben. Bemerkenswert ist aber, dass Husserl von „unreflektierte[m] Bewußtsein“ (Hua IV, 248) und einer „vorreflektiven Sphäre“ (Hua IV, 252) in den Ideen II spricht, d.h. einige Jahre vor
282 Daniel A. Schmicking: Husserl und präreflektive Kognition der Veröffentlichung von Sartres L’être et le néant.9 Ferner weist Spiegelberg darauf hin, dass Sartres ,neuer‘ Bewusstseinstyp neben Husserls Ideen I (Hua III/1, § 77) auch in den Schriften Pfänders und Geigers Vorläufer findet.10 In diesem Zusammenhang ist auch auf Husserls Verwendung von „präempirisch“ und „präphänomenal“ in den Vorlesungen von 1907 (Hua XVI, 69, 71, 144, 146 et passim) hinzuweisen sowie auf die Beilage X zu den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, die auf dem Manuskript der Vorlesungen von 1907 basiert. (Vgl. Hua X, 120 Fn. 1.) Husserl unterscheidet in diesen Vorlesungsmanuskripten die dingliche, objektivierte Zeit von der „präphänomenale[n] oder transzendentale[n] Zeitlichkeit“ (Hua XVI, 62), den objektiven Zeitpunkt von der „präempirische[n] Zeitstelle“ (Hua X, 121) und analog den objektiven räumlichen Gegenstand von den raumfüllenden Empfindungsgehalten oder Sinnesdata, die die Form „präphänomenaler“ Räumlichkeit haben (Hua XVI, 69). Im Zusammenhang seiner phänomenologischen Erklärung dessen, was in der Wahrnehmungspsychologie „Wahrnehmungskonstanzen“ genannt wird (die Tendenz der menschlichen Wahrnehmung, objektiv unveränderte Gegenstände auch unter stark variierenden Wahrnehmungsbedingungen als konstant ihre Eigenschaften behaltend wahrzunehmen), spricht Husserl von „sinnlich-präempirische[n] Data“ und „präphänomenale[m] dabile“ (vgl. Hua XVI, 146 u.ö.), in denen die Gegenstände zur Erscheinung kommen, sich abschatten. Husserl verweist hierbei auf den Einstellungswechsel, der mit der Erfassung der eigentlichen Erscheinung, d.h. der „präempirischen Daten“ verbunden ist. Entscheidend für unsere Thematik ist, dass nur durch einen Einstellungswechsel die präempirischen Daten auch Objekt werden, sonst aber, wie in der den Gegenständen geradehin zugewandten Wahrnehmung, Erlebnis bleiben. (Vgl. Hua XVI, 146f.) Hier ist bereits die Unterscheidung der Ideen I (Hua III/1, § 77) von Erleben und Erfassen vollzogen (s.u.). Mit dem Erleben ist ein nicht-gegenständliches, präreflektives Bewusstsein verbunden, das vom thematischen objektintentionalen Bewusstsein zu unterscheiden ist. Auch etwa in Beilage XII zu den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins unterscheidet Husserl explizit „das präphänomenale Sein der Erlebnisse, ihr Sein vor der reflektiven Zuwendung auf sie, und ihr Sein als Phänomen.“ (X, 129) Zumindest die Tendenz, systematisch durch ein Präfix (vor- oder prä-) diese Ebene auch terminologisch zu unterscheiden, zeichnet sich
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somit in diesen unveröffentlichten Texten Husserls ab, so in den Ideen II („gegeben“ vs. „vorgegeben“, „reflektiv“ vs. „vorreflektiv“) und den Manuskripten zur Vorlesung von 1907. Auf ein grundsätzliches terminologisches Problem wird nach weiteren sachlichen Erörterungen unten noch einzugehen sein. Wie verhält es sich mit den Termini „unconscious intelligence“ und „cognitive unconscious“? Hier soll der Begriff der Intelligenz nicht weiter verwendet oder besprochen werden. Durch ihn würden Konnotationen und auf noch entfernteren Schauplätzen geführte Debatten anklingen, als dies bereits der Fall ist mit dem Begriff des Unbewussten. Was bedeutet dann „kognitives Unbewusstes“, und was “präreflektive Kognition” im Rahmen der Kognitionswissenschaften? Der Begriff des kognitiv Unbewussten findet sich bei George Lakoff und Mark Johnson. In ihrem eingangs erwähnten Buch Philosophy in the Flesh nimmt dieser Begriff eine zentrale Stellung ein, indem das kognitive Unbewusste zur Erklärung der weit überwiegenden Zahl kognitiver Leistungen des Menschen herangezogen wird. Johnson und Lakoff verwenden aber auch den Terminus „prereflective“. Das Verhältnis der beiden Termini zueinander lässt sich aus dem Text nicht ganz eindeutig bestimmen. Mark Johnson hat daher in einer persönlichen Mitteilung die zwei wichtigen Bedeutungen, unter denen dieser Terminus verwendet wird, und die für das vorliegende Projekt eines phänomenologischen Verständnisses präreflektiver Kognition eine entscheidende Rolle spielen, präzisiert. […] One way we use the term [prereflective] (our most consistent use of it) is to cover any cognitive process that operates without the need for reflective awareness of its operation, [...] we are using the term in this sense as coextensive with the cognitive unconscious. [...] this can include propositional structures, image schemas, frames, conceptual metaphor, and metonymies. However, in my book The Body in the Mind[11] I used the term in a more restricted sense to capture aspects of understanding that weren’t propositional. I was thinking more of the kinds of preconceptual structures that Merleau-Ponty (and perhaps Husserl) described, and I was contrasting these dimensions with propositional, reflective modes of thinking.12
„prereflective“ wird also in zwei Bedeutungen verwendet. In einer ersten, um alle kognitiven Prozesse zu bezeichnen, die keines reflexiven Bewusstseins bedürfen, um ausgeführt werden zu können, was nicht heisst, dass sich reflexives Bewusstsein prinzipiell nicht darauf richten kann (Husserls Einstellungswechsel). In diesem Sinne ist La-
284 Daniel A. Schmicking: Husserl und präreflektive Kognition koff und Johnsons Verwendung des Terminus „prereflective“ koextensiv mit „cognitive unconscious“. Dieser weite Begriff von präreflektiver bzw. unbewusster Kognition umfasst damit neben vorprädikativen auch propositionale, prädikative Strukturen. Davon lässt sich ein engerer Begriff präreflektiver Kognition unterscheiden, der ausschließlich nichtpropositionale, vorbegriffliche kognitive Leistungen bezeichnet.13 Für die folgenden Überlegungen wird zwar die zweite, engere Bedeutung des Terminus „präreflektive Kognition“ leitend sein, aber auch der weitere Umfang, der propositional gegliederte und konzeptuelle Operationen umfasst, ist im Auge zu behalten, denn auch im Rahmen der Husserlschen Phänomenologie ist es möglich und wichtig, diese präreflektiven Leistungen im weiteren Sinne zu untersuchen, wie etwa ritualisierte Sprechakte der Alltagskommunikation, die nicht von einem reflektiven, aktiven Ich gesteuert werden. Nach diesen terminologischen Erwägungen ist nun zu fragen, ob – abgesehen von Husserls wohl eher temporärer Verwendung der Termini „vorreflektiv“, „präempirisch“ etc., die zumindest in den zu Lebzeiten veröffentlichten Werken keine Rolle spielen – Husserl schon über wesentliche Einsichten in präreflektive Kognition verfügt bzw. über eine (implizite oder ansatzweise entwickelte) phänomenologische Theorie dieses Bereichs. Um diese Frage zu beantworten, kann hier ein Quereinstieg, nämlich von Sartres Begriff des präreflektiven Cogito aus, Klärendes beitragen. II. Elemente einer Husserlschen Theorie präreflektiver Kognition Die gerade auch ausserhalb der Phänomenologie am häufigsten rezipierte Theorie des Selbstbewusstseins ist diejenige Sartres in L’être et le néant.14 Das Axiom, das alle Phänomenologen zumindest dem Wortlaut nach verbindet, nämlich dass Bewusstsein intentional ist, d.h. Bewusstsein von etwas ist, erklärt Sartre folgendermaßen: Um Bewusstsein von etwas zu sein, muss es notwendigerweise Bewusstsein von sich selbst als diese Erkenntnis seiend sein, „[...] c’est qu’elle soit conscience d’elle-même comme étant cette connaissance.“ 15 Dieses Bewusstsein von Bewusstsein ist nicht seinerseits setzendes Bewusstsein. Dies würde in einen infiniten Regress führen, da mit dem setzenden Bewusstsein unentrinnbar die Subjekt-Objekt-Dichotomie
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einhergeht und man damit ein Bewusstsein von Bewusstsein eines Bewusstseins von Bewusstsein usw. ansetzen müsste. Dieses nichtsetzende, nicht-reflektive Bewusstsein bildet die Bedingung eines jeden möglichen, auf ein Objekt gerichteten, intentionalen Bewusstseins. Sartre nennt es u.a. cogito préréflexif. Dieses präreflektive Selbstbewusstsein ist Sartre zufolge überhaupt der einzige mögliche Existenzmodus für das gegenständliche Bewusstsein; es ist nicht etwa wie eine Qualität zu denken, die zum setzenden Bewusstsein hinzukommt. „L’être de l’intention ne peut être que conscience, sinon l’intention serait chose dans la conscience.“16 Entgegen älterer Lesarten der Husserlschen Philosophie, oder solchen, die vorwiegend ausserhalb der Phänomenologie noch dominieren, weist Husserls Philosophie eine Theorie des präreflektiven Selbstbewusstseins auf, die in Teilen bereits detailliert ausgearbeitet ist, wenn sie auch nicht unter diesem Terminus als eine solche Theorie von Husserl eigens (und zusammenhängend) dargestellt worden ist. Es ist sicher vornehmlich das Verdienst Dan Zahavis, in den letzten Jahren Material hierzu aus Husserls Schriften und vor allem aus veröffentlichten wie unveröffentlichten Forschungsmanuskripten zusammengetragen und weiterentwickelt zu haben und die zentrale theoretische Bedeutung der Husserlschen Konzeption des präreflektiven Selbstbewusstseins aufgewiesen zu haben.17 Wenn Husserl von „innerer Wahrnehmung“ oder „innerem Bewusstsein“ spricht, ist dies nicht als eine der Gattung Gegenstandsbewusstsein zugehörige Art auf sich selbst zurückgewendeter gegenständlicher Wahrnehmung zu missdeuten. Zahavi erklärt den Unterschied zwischen reflexivem und präreflektivem Selbstbewusstsein dadurch, dass reflexives Selbstbewusstsein solches ist, das eben als Ergebnis einer expliziten, thematischen, objektifizierenden Reflexion zustande kommt, präreflektives hingegen implizit ist, alle bewussten Akte begleitet (characterizes) und eine Bedingung der Möglichkeit reflexiven Selbstbewusstseins ist, ein unmittelbares, nichtinferentielles Gewahrsein der eigenen Erlebnisse. Damit ist reflexives Selbstbewusstsein auf zweifache Weise fundiert: Zum einen setzt es als explizites das vorausliegende implizite, präreflektive Selbstbewusstsein voraus; zum anderen setzt es die Objektintentionalität voraus, denn was dem Selbstbewusstsein transparent wird, ist das auf transzendente Objekte gerichtete Selbst, ein Selbst, das sozusagen ausser sich ist. 18
286 Daniel A. Schmicking: Husserl und präreflektive Kognition Diese Unterscheidung ist der Sache nach in den Ideen I und Texten zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins und zur Phänomenologie der Intersubjektivität (Hua III/1, X, XIV, XV) zu finden. Terminologisch gekennzeichnet wird sie in den Ideen I durch die Verwendung von “erleben” im Gegensatz zu “erfassen” und „im Blick haben“: Jedes Ich erlebt seine Erlebnisse [...]. Es erlebt sie, das besagt nicht, es hat sie und das in ihnen reell Beschlossene ,im Blicke‘ und erfaßt sie in der Weise immanenter Erfahrung oder einer sonstigen immanenten Anschauung und Vorstellung. Jedes Erlebnis, das nicht im Blicke ist, kann nach idealer Möglichkeit zum ,erblickten‘ werden, eine Reflexion des Ich richtet sich darauf, es wird nun zum Objekt für das Ich. (Hua III/1, 162, Hervorheb. im Orig.)
In den Ideen II findet sich, wie oben bereits gezeigt, der Terminus „vorreflektive Sphäre“. In den §§ 57f. behandelt Husserl das persönliche Ich als „Objekt der reflexiven Selbstapperzeption“ (Hua IV, 247), das durch eine vorreflektive Genesis vorkonstituiert ist. Entscheidend für die nachfolgenden Überlegungen ist Husserls Hinweis auf „Ähnliches“ in der Dingkonstitution im folgenden Passus: Muß ich in reflektiver Erfahrung meine Verhaltensweisen durchlaufen, damit das persönliche Ich als Einheit derselben bewußt werden kann oder kann es schon ,bewußt‘ sein in der Vorgegebenheit, ehe es ursprünglich gegeben war durch solche identifizierenden und realisierenden Erfahrungsreihen, die als Reflexionen auf die Cogitationen, auf das Verhalten mit Beziehung auf Umstände hinsehen? Was organisiert sich dann aber in der vorreflektiven Sphäre? Sicherlich, ,Assoziationen‘ bilden sich, Hin- und Rückweise entwickeln sich so wie bei den unbeachteten sinnlichen und dinglichen ,Hintergründen‘. Also ein Bestand ist schon da, und in der nachträglichen Reflexion, in der Erinnerung, kann ich und muß ich etwas Gestaltetes vorfinden. Das ist die Voraussetzung für [...] diejenige Identifikation des Ich mit Beziehung auf ihm zugehörige Umstände, in welcher das Ich als persönlichreale Einheit sich ,eigentlich‘ konstituiert. (Es fragt sich, ob nicht Ähnliches auch für die Dingkonstitution statthat, was ich in der Tat in der Transzendentalen Logik nachgewiesen habe.) (Hua IV, 251f.)
Einen „Nachweis“ der vorreflektiven Dingkonstitution bietet FTL kaum. Husserl bezieht sich offenbar auf seine eher programmatischen Skizzen im zweiten Abschnitt, etwa im 4. Kap., in dem er mit der „Sinnesgenesis der Urteile“ und der „Evidenz der vorprädikativen Erfahrung“ (Hua XVII, §§ 85, 86) beschäftigt ist, oder später im 6.
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Kap. mit der Bewusstseinskonstitution und der Natur phänomenologischer konstitutiver Untersuchungen überhaupt (vgl. Hua XVII, §§ 97, 98). Was aber entscheidend ist: Husserls Verweis auf „Ähnliches“, das für die Dingkonstitution statthat, weist uns den Weg zur passiven, präreflektiven Sphäre der Objektintentionalität. Zahavi folgend lassen sich mit Husserl unterscheiden: (1) präreflektives Selbstbewusstsein, (2) reflexives Selbstbewusstsein und (3) intentionales Objektbewusstsein. Aber Husserls Analysen liegt, der Unterscheidung in präreflektives und reflexives Selbstbewusstsein entsprechend, auch eine Unterscheidung in präreflektives und reflexives Objektbewusstsein zugrunde. Dies zeigt sich u.a. am Material in Husserls unveröffentlichten Texten. Als ein weiteres Beispiel, neben den aus Hua XVI oben zitierten, sei auf folgende Beobachtung zu auditiven Wahrnehmungskonstanzen, in diesem Fall der Lautheitskonstanz und der Positionskonstanz19, in den schon oben herangezogenen Vorlesungen von 1907 verwiesen. Höre ich den gleichmäßig gedehnten Pfiff einer Dampfpfeife, so sage ich, mich annähernd, es derselbe und immerfort gleichmäßige Pfiff; das ist der Gegenstand. Achte ich aber auf das phänomenologisch Gegebene, so finde ich für jedes Zeitstück des Erscheinenden eine wesentlich andere Erscheinung; dieses Quale ist nicht dasselbe. Ich sondere also Erscheinung und Erscheinendes, und in der Erscheinung, in der der Dampfmaschinenpfiff erscheint, finde ich ein sinnliches Quale, das prä sinnliche Datum. (Hua XVI, 144)
Das heisst, ich bin urteilsmäßig, in einem vollbewussten, prädikativen Akt auf den Gegenstand gerichtet („Der Pfiff ist derselbe und immerfort gleichmäßig bzw. unverändert“). Dieser Gegenstand ist präempirisch als ein Kontinuum zunehmender Lautstärke und variierender lokaler Orientierung gegeben. Letzteres wird im ,naiven‘ Wahrnehmungsleben meist nicht thematischer Gegenstand, die hyletischen Abschattungen bleiben vor-reflektiv, sind ein „präphänomenale[s] dabile“ (Hua XVI, 146), wobei es möglich ist, sich reflexiv das Vorliegen und die Eigenschaften solcher Abschattungskontinuen bewusst zu machen. (Wahrnehmungskonstanzen treten in allen Sinnesmodalitäten auf, entsprechend die hyletischen Kontinuen.) Hier im Bereich der Wahrnehmungsintentionalität liegt also ein präreflektives Objektbewusstsein vor. Die hier und oben in (I) angeführten Textstellen belegen bereits, dass Husserl intentionale Leistungen ohne reflexives Bewusstsein
288 Daniel A. Schmicking: Husserl und präreflektive Kognition berücksichtigt und beschrieben hat. Im Folgenden soll dazu ein Katalog wichtiger Typen präreflektiver Leistungen aus Husserls Untersuchungen vor allem zur passiven Synthesis zusammengestellt werden, wodurch der Begriff der präreflektiven Kognition aus phänomenologischer Perspektive weitere Einzeichnungen erhalten wird. Bevor wir uns jedoch diesem Aspekt zuwenden, ist hier, wie bereits angekündigt, noch eine terminologische Überlegung einzuschieben. Wenn die Parallelität der Unterscheidungen zwischen präreflektivem und reflexivem Selbstbewusstsein einerseits und präreflektivem und reflexivem Objektbewusstsein andererseits sachlich auch triftig ist, so bringt sie doch eine gewisse begriffliche Asymmetrie mit sich, die sich aus der Bedeutung des Begriffs der Reflexion primär als eines Selbstbezugs des erkennenden Subjekts ergibt. So charakterisiert auch Husserl Reflexion als „sich Richten des Ich auf seine Erlebnisse und in eins damit das Vollziehen von Akten des cogito [...], ,in‘ denen sich das Ich auf seine Erlebnisse richtet“. (Hua III/1, 168) Die Zusammensetzung „präreflektives Gegenstandsbewusstsein“ klingt daher fast wie eine contradictio in adiecto, indem Gegenstandsbewusstsein per definitionem nicht auf das Erleben, den intentionalen Erlebnisstrom gerichtet ist. Dieser Widerspruch lässt sich auflösen, indem entweder der Terminus „präreflektiv“ in einer erweiterten Bedeutung verstanden wird (wie dies mit der Verwendung des englischen Terminus geschieht und auch bisher in diesem Text), oder indem man auf den Terminus „präreflektiv“ im Zusammenhang von Objektbewusstsein verzichtet und ihn durch einen anderen ersetzt. Naheliegend ist hier „präobjektiv“. Dieser Terminus ist analog zu „präreflektiv“ gebildet und weist bereits auf seine Extension hin, ohne das Verständnis in eine falsche Richtung zu lenken. Ausserdem ist er bereits innerhalb der phänomenologischen Forschung in einer eng verwandten Bedeutung verwendet worden: Merleau-Ponty bezeichnet Reflex und Wahrnehmung als Weisen einer vue préobjective, insofern diese ein nicht durch ein cogito gesteuertes Sich-Öffnen oder Eingebettet-Sein des Organismus in eine Situation sind.20 Ich schlage daher vor, das unreflektierte Dingbewusstsein als „präobjektives“ zu bezeichnen; „präreflektive(s) Kognition / Bewusstsein / Intentionalität“ können dann weiterhin als Oberbegriff dienen, präobjektives Bewusstsein und präreflektives Selbstbewusstsein umfassend.21
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III. Ein Katalog präreflektiver Leistungen innerhalb der Reichweite phänomenologischer Deskription In diesem Augenblick, in dem Sie vielleicht nur auf das hier Gesagte konzentriert sind in nachverstehendem, das Gemeinte zu adäquater Evidenz bringendem – und kritisch wertendem – Urteilen (eine Stufe ichlicher Aktivitäten), vollbringen Sie eine ganze Reihe passiver, präobjektiver Leistungen. Mindestens sind darunter: a. das Aufrechthalten und Ausbalancieren des Körpers auf einem Stuhl oder Möbel, von Zeit zu Zeit das Einnehmen und Stabilisieren einer neuen Position, Umblättern der Seiten, b. innerhalb des Gesamtkomplexes des sprachlichen Verstehens das in sekundärer Passivität bewerkstelligte visuelle Wahrnehmen der Buchstabengestalten, aber auch eine Vielzahl grammatischer, semantischer und pragmatischer Verständnisprozesse innerhalb des Nachverstehens bzw. Miturteilens und Beurteilens der Aussagen dieses Textes, c. das unwillkürliche Erinnern von Informationen, die im Zusammenhang des Gelesenen relevant sind (soweit diese Information ihren eigenen Bewusstseinsstrom betrifft, sind hier präreflektive Leistungen beteiligt), d. eventuell sog. mental images. Im Falle des Hörens mündlicher Äußerungen kommt hinzu das ebenfalls überwiegend passive Wahrnehmen und Verstehen der Körpersprache, der Mimik und der suprasegmentellen Eigenschaften der vokalen Gesten der Sprecherin und die großenteils passiv geleistete auditive Sprachperzeption. Dies gibt einen ersten Eindruck von der Menge präobjektiver, teils komplexer perzeptiver, motorischer und höherer kognitiver Leistungen, die wir in den meisten Situationen unseres Alltags gleichzeitig vollbringen. In diese Aufzählung sind bewusst auch propositionale Leistungen aufgenommen (im weiten Sinne von prereflective). Explizit erklärt Husserl in den Analysen zur passiven Synthesis bereits eine passive Intention als ein Gerichtetsein, das aber nicht der Ichaktivität entspringt (Hua XI, 76), so auch alle Synthesen von Leervorstellungen und Wahrnehmungen (Hua XI, 75f.), und allgemein hat die Wahrnehmung „ihre eigene Intentionalität, die noch nichts von dem aktiven Verhalten des Ich und von dessen konstitutiver Leistung in sich birgt.“ (Hua XI, 54). Entgegen aller Vorstellungen von Intentionalität als einem aktiven Erfassen durch ein zentrales, steuerndes
290 Daniel A. Schmicking: Husserl und präreflektive Kognition Ich bilden für Husserl Meinung und Intention schon ohne Ichbeteiligung intentionale Erlebnisse in diesem weiten Sinne (vgl. Hua XI, 85). Die in den Analysen zur passiven Synthesis (wie auch in Erfahrung und Urteil) entwickelte Auffassung passiver Wahrnehmungsintentionalität ist damit eine phänomenologische Theorie präobjektiven Bewusstseins. Hier sei eine Reihe weiterer Leistungen präreflektiver Kognition angeführt, die sich v.a. hinter den Titeln „Assoziation“ und „Unbewusstes“ verbergen, so - die Struktur und Operationsweise des inneren Zeitbewusstseins, - die zeitliche und räumliche Organisation des Wahrnehmungsfeldes (der phänomenologische Begriff Assoziation umfasst auch die „sinnliche Konfiguration in Koexistenz und Sukzession“ (Hua I, § 39), was der Sache nach heute als perceptual organization und Szenenanalyse explizierbar ist; hierher gehört auch eine „Phänomenologie der Sinnesfelder“, deren Forschungsprogramm Husserl für das Sehfeld andeutend skizziert (vgl. Hua XI, § 31)), - die Wahrnehmungskonstanzen (nicht unter diesem Terminus, aber der Sache nach dort, wo Husserl mit der Unterscheidung in Erscheinung / Erscheinendes, Gegenstand / Abschattungen beschäftigt ist), - die kinästhetische Motivation, - der passive Wahrnehmungsglaube (Urdoxa) sowie dessen passive Modalisierungen, - weitere Themen der „Phänomenologie des Unbewussten“, so die Affektion und reproduktive und antizipierende Weckung (vgl. Hua XI, 154), - die aller Intersubjektivität genetisch zugrunde liegende assoziative Synthesis (die Synthesen zwischen meinem Körper und demjenigen des Anderen „in purer Passivität“ (Hua I, § 51). Diese Reihe von Leistungen aus dem Bereich der passiven Synthesis wäre noch fortzusetzen und ihre Klassifikation zu präzisieren. Sowohl die Sichtung der Texte Husserls als auch neue phänomenologische Feldforschung (Lembeck) würde diesen Bereich als noch umfangreicher erweisen.22 Aber bereits diese Liste zeigt, dass Husserl unter Titeln wie „passive Synthesis“, „transzendentale Ästhetik“ oder „Assoziation“ umfangreiche Untersuchungen zum Gebiet präreflektiver Kognition vorangetrieben hat.
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IV. Ausblick: empirisch verantwortungsvolle Phänomenologie Wie eingangs bemerkt, fordern Lakoff und Johnson eine neue, empirisch verantwortungsvolle Philosophie, die auf einem kognitionswissenschaftlichen Verständnis des kognitiv Unbewussten gründet, das den Bereich präreflektiver Kognition einschließt. Lakoff und Johnson sehen in Merleau-Ponty und Dewey Vorbilder dieser Weise philosophischen Denkens und werben für einen Dialog zwischen Philosophie und Kognitionswissenschaften. „Ideally, they should co-evolve and mutually enrich each other.“23 Dabei sei philosophische Reflexion notwendig, um die Wissenschaftler dabei zu unterstützen, sich darüber klar zu werden, wo apriorische philosophische Annahmen ihrer Forschungen liegen; umgekehrt sei es notwendig, dass Philosophen nicht mehr Theorien des Geistes, der Sprache und anderer kognitiver Bereiche entwickeln, ohne die Masse relevanter wissenschaftlicher Forschungen dazu zu berücksichtigen. Können sich Kognitionswissenschaftler und Philosophen dem heute noch verschließen? Die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit einer empirisch verantwortungsvollen Philosophie kann hier nicht diskutiert werden. Immerhin verfolgt bereits eine wachsende Zahl von Philosophen, darunter auch Phänomenologen, dieses Ziel. Stellt sich also nicht vielleicht die drängendere Frage: wie? Verlangt empirisch verantwortliches Philosophieren eine Naturalisierung der Phänomenologie? Ich denke, nein. Eher ist an eine Arbeitsteilung in transzendentale und empirische (und damit immer noch nicht notwendig bzw. durchgängig zu naturalisierende) Phänomenologie zu denken, in etwa vergleichbar der Arbeitsteilung in mathematische Konstruktion und philosophische Reflexion, die Husserl hinsichtlich der Logik empfohlen hat (vgl. Hua XVIII, § 71). Allerdings ist hierbei auf einen engen Austausch zwischen denjenigen Phänomenologen, die sich vornehmlich an den Schnittstellen zu den empirischen Disziplinen bewegen, und denjenigen, die „reine“ transzendentale Phänomenologie betreiben, zu achten, bzw. diese zwei Perspektiven könnten idealerweise sogar in der Forschung ein und derselben Person nebeneinander und miteinander fungieren. Eine vollkommene Trennung beider Bereiche wäre dem Ziel einer umfassend weiterzuentwickelnden Phänomenologie sicher ebenso wenig zuträglich wie die vollständige Trennung etwa in die Entwicklung formalisierter Theorien der Logik und Grammatik einerseits und in phänomenologische Reflexion andererseits.24
292 Daniel A. Schmicking: Husserl und präreflektive Kognition Shaun Gallagher hat jüngst drei Möglichkeiten diskutiert, Phänomenologie in den experimentellen kognitiven Neurowissenschaften nutzbar zu machen, und führt hierzu Ergebnisse an, die auf die Integration phänomenologischer Erkenntnisse bei der Planung und Durchführung von Experimenten zurückgehen. Im Fall der Neurophänomenologie und dem Verfahren, das Gallagher „front-loaded phenomenology“ nennt, wird die Phänomenologie dabei Teil des theoretischen Rahmens, innerhalb dessen die experimentellen Daten dann interpretiert werden.25 Aber auch rein transzendental betrieben kann Phänomenologie meines Erachtens als Heuristik für Experimente und Theorien dienen, ähnlich der Funktion, die traditionelle Grammatiken für die formale Linguistik haben. Chomsky weist auf das heuristische Verfahren hin, das generative Grammatiktheorien anwenden, indem sie mit einer sorgfältigen Analyse der Information beginnen, die traditionelle Grammatiken bieten.26 Ähnlich können Neurowissenschaftler heute die phänomenologische Morphologie des Bewusstseins heuristisch nutzen. Es ist auch nicht der Fall, dass alle Kognitionswissenschaftler eine Naturalisierung der Phänomenologie erwarten, um mit ihr ins Gespräch kommen zu können. Forscher wie Jonathan Cole oder Vittorio Gallese schätzen die wertvollen Einsichten der klassischen Phänomenologie etwa auf dem Gebiet der Intersubjektivität, gerade auch im vorprädikativen, präreflektiven Bereich. Der späte Francisco Varela betrachtete Phänomenologie und Neurowissenschaften als gleichberechtigte Partner. Lebendige Erfahrung und biologische Basis dieser Erfahrung seien durch gegenseitige constraints miteinander verbunden, die ihre jeweiligen Beschreibungsperspektiven liefern.27 Die Funktion der Phänomenologie ist hierbei mehr als nur heuristisch, wenn Varela von gegenseitigen constraints spricht. Denkt man schließlich an die Auseinandersetzung Merleau-Pontys mit der Psychologie und Neurowissenschaft seiner Zeit, die meines Erachtens zu einer Vertiefung und Entfaltung Husserlscher Einsichten in die präreflektive, vorpersonale, inkarnierte Wahrnehmung führt, dann ist hier bereits ein Weg in der Phänomenologie beschritten, der empirisch verantwortungsvoll ist, ohne sich von einer Naturalisierung vereinnahmen zu lassen. Dieser Weg ist inzwischen von Phänomenologen und Kognitionswissenschaftlern wieder aufgenommen worden.28 Heute lässt sich vorsichtig resümieren, dass sowohl die Phänomenologie als auch die Kognitionswissenschaften von ihrer beginnenden
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„Koevolution“ profitieren und dies in Zukunft durch einen vorurteilsfreien Dialog und intensivere Zusammenarbeit noch verstärkt werden tun können. Die angedeutete Art der Arbeitsteilung – und damit empirisch verantwortliche Philosophie – findet also bereits in der Phänomenologie statt. Ich denke, dass dieser Weg, den eine zunehmende Zahl von Phänomenologen einschlägt, nicht nur ein der Zeit angemessener ist, sondern zudem auch ein lohnender. Anmerkungen: 1
Der vorliegende Text basiert auf meinem im Rahmen der Husserl-Arbeitstage 2004: Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, am 6. November 2004 an der Universität zu Köln gehaltenen Vortrag „Husserl und das kognitive Unbewusste. Zur Reichweite phänomenologischer Reflexion“. Ich danke den Diskussionsteilnehmern (v.a. Dan Zahavi, der auf den widersprüchlichen Charakter des Ausdrucks ,präreflektive Objektintentionalität‘ hingewiesen hat), deren Reaktionen nicht zuletzt den Anstoß gegeben haben, nach einer geeigneteren Terminologie zu suchen. 2 Paradigmatisch hat Gilbert Ryle die Kritik am „twofold Privileged Access“ formuliert, der davon ausgehe, dass 1. der menschliche Geist sich kontinuierlich aller seiner privaten Zustände gewahr ist, und 2. dieses Bewusstsein seiner Zustände und ihre introspektive Untersuchung irrtumsfrei sind. Vgl. G. Ryle: The Concept of Mind. London 1949, Kap. VI. Ohne dass Ryle hier Husserl erwähnt, ist dies ein bis heute verbreiteter Vorwurf gegen (traditionelle) Subjekt- und Transzendentalphilosophien, denen auch Husserls Phänomenologie in diesem Punkt noch zugerechnet wird. 3 Mindestens 95% der Kognition bleibe unbewusst, besagt die Daumenregel der Kognitionswissenschaftler. Vgl. G. Lakoff / M. Johnson: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought. New York 1999, 13. 4 Vgl. dazu R. Allen / A. S. Reber: Unconscious intelligence. In: W: Bechtel / G. Graham (eds.): A Companion to Cognitive Science. Oxford 1998, 314-323. 5 Vgl. Lakoff / Johnson 1999, 15. 6 Lakoff / Johnson 1999, 12. 7 Zum Verhältnis Husserls zum psychoanalytischen Begriff des Unbewussten sei verwiesen auf D. Zahavi: Self-Awareness and Alterity. A Phenomenological Investigation. Evanston 1999, Appendix und ferner auf Th. M. Seebohm: The preconscious, the unconscious, and the subconscious. A phenomenological explication. In: Man and World 25 (1992), 505-520. 8 J.-M. Muglioni: préréflexif. In: Les notions philosophiques. Dictionnaire. Tome 2. Dirigè par S. Auroux. Paris 1990, 2003 (Encyclopédie philosophique universelle. II). 9 Das Manuskript des dritten Abschnitts der Ideen II, in denen diese Termini auftauchen, stammt ursprünglich aus dem Jahre 1913 und ist von Husserl zwischen 1918 und 1924/25 überarbeitet worden. (Vgl. dazu Hua IV, Einleitung, bes. xvxviii.) 10 Vgl. H. Spiegelberg: The Phenomenological Movement. A Historical Introduction. 3rd revised and enlarged edition. With the Collaboration of K. Schuhmann. Dordrecht / Boston / London 1994, 504.
294 Daniel A. Schmicking: Husserl und präreflektive Kognition 11
M. Johnson: The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason. Chicago, London 1987. 12 Mark Johnson, E-mail vom 25.2.2004. 13 Hier besteht ferner eine Überschneidung mit Husserls Begriff der präprädikativen Erfahrung, die eine große Zahl unterschiedlicher Typen von passiven wie aktiven (rezeptiven) intentionalen Leistungen umfasst. Mark Johnson bezeichnet solche Typen präprädikativer Kognition in seinem früheren Werk (Johnson 1987), als nonpropositional, preconceptual (embodied) structures of experience. Wie Johnson dort selbst sagt, könne sein Verfahren auch als eine Form deskriptiver oder empirischer Phänomenologie bezeichnet werden (a.a.O., xxxvii). 14 Vgl. etwa Zahavi 1999, 52. 15 J.-P. Sartre: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris 1943, 18. 16 Sartre 1943, 20. 17 Siehe dazu Zahavi 1999, ferner ders.: Husserl und das Problem des vorreflexiven Selbstbewußtseins. In: H. Hüni / P. Trawny (Hrsg.): Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held. Berlin 2002, 697-724; ders.: Husserl’s Phenomenology. Stanford 2003a; ders.: Inner Time-Consciousness and Pre-Reflective SelfAwareness. In: D. Welton (ed.): The New Husserl. A Critical Reader. Bloomington / Indianapolis 2003b, 157-180. 18 Vgl. Zahavi 2003a, 87, 88. 19 Vgl. hierzu D. Schmicking: Hören und Klang. Empirisch phänomenologische Untersuchungen. Würzburg 2003, § 8, bes. 54-56, und § 29. 20 Vgl. M. Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception. Paris 1945, 94, 95. 21 Bezüglich der Intersubjektivität und ihrer spezifischen Formen der Intentionalität könnte man Bezeichnungen wie „präobjektive Einfühlung“ gegenüber einen Einwand machen, der dem gegen „präreflektive Objektintentionalität“ analog ist. Es wäre daher zu erwägen, ob nicht der ,präreflektiven‘ Wahrnehmung anderer Lebewesen ein eigener Terminus, etwa „präpersonal“, zuzuweisen wäre. Der Terminus „präreflektiv“ könnte weiterhin als Oberbegriff dienen; um aber jede Äquivokation zu vermeiden, könnte auch hier ein anderer Terminus gewählt werden, etwa „vorbewusst“, der dann „präobjektiv“, „präreflektiv“ und „präpersonal“ umfassen würde. 22 Im Kölner Vortrag habe ich andeutungsweise auch auf die Mittel hingewiesen, die der Phänomenologie zur Verfügung stehen, um Bereiche präreflektiver Kognition bzw. präreflektiven Bewusstseins deskriptiv zu erfassen, und auf die sie sich berufen kann gegen mögliche Einwände (keinen oder nur ,introspektiven‘ Zugang zu präreflektiven Bereichen zu haben), die von Seiten der Kognitionswissenschaften, experimentellen Psychologie und analytischen Philosophie immer wieder gegen sie vorgebracht werden. Diese methodologischen Überlegungen sollen in zukünftigen Arbeiten ausgearbeitet werden. 23 Lakoff / Johnson 1999, 552. 24 Bereits die formale Ontologie, eine Kerndisziplin der Phänomenologie, kann nicht vom Bereich formaler Sprachen und der in ihnen zur Gegebenheit kommenden Gegenstände absehen, und damit auch nicht vom Arbeiten mit formalen Sprachen. Hierauf hat wiederholt Thomas M. Seebohm hingewiesen. Vgl. etwa ders.: Kategoriale Anschauung. In: Logik, Anschaulichkeit und Transparenz. Studien zu Husserl, Heidegger und der französischen Phänomenologiekritik. (Phänomenologische Forschungen 23), Freiburg 1990, 9-47. 25 S. Gallagher: Phenomenology and Experimental Design. Toward a Phenomenologically Enlightened Experimental Science. In: Journal of Consciousness Studies 10 (2003). 26 Vgl. N. Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge 1965, 63.
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Vgl. F. J. Varela: The Specious Present. A Neurophenomenology of Time Consciousness. In: J. Petitot / F. Varela / B. Pachoud / J.-M. Roy (eds.): Naturalizing Phenomenology. Issues in Contemporary Phenomenology and Cognitive Science. Stanford 1999, 266-314. 28 Explizit knüpfen an das von Merleau-Ponty begründete Forschungsprogramm an: F. J. Varela / E. Thompson / E. Rosch: The Embodied Mind. Cognitive Science and Human Experience. Cambridge, London 1991. Hier ist auch etwa auf Shaun Gallaghers Arbeiten zu verweisen. S. ders.: How the Body Shapes the Mind. Oxford 2005.
Phänomenologie und Kognitionswissenschaft: Möglichkeiten und Risiken Dan Zahavi, Die Nationale Forschungsstiftung Dänemarks: Zentrum für Subjektivitätsforschung, Universität Kopenhagen Abstract: Many scientists have until recently considered consciousness to be unsuitable for scientific research. Prompted by technological developments as well as conceptual changes, this attitude has changed within the last decade or so, and an explanation of consciousness is currently seen by many as one of the few remaining major unsolved problems of modern science. How should phenomenology respond to this development? In my paper, I will on the one hand argue that phenomenology can profit from a closer collaboration with cognitive science, both directly and indirectly. On the other hand, however, I will claim that phenomenology and empirical science are ultimately pursuing different agendas, and that this difference is one that we need to retain.
Während des 20. Jahrhunderts sahen viele Wissenschaftler die Untersuchung des Bewusstseins aufgrund seines subjektiven Charakters als inhärent unzuverlässig an und daher auch als ungeeignet für die wissenschaftliche Forschung; einige gingen sogar so weit, seine Existenz abzustreiten. So schrieb Watson 1924: From the time of Wundt on, consciousness becomes the keynote of psychology. It is the keynote of all psychologies except behaviorism. It is a plain assumption just as unprovable, just as unapproachable as the old concept of the soul. And to the behaviorist the two terms are essentially identical, so far as concerns their metaphysical implications. … In his first efforts to get uniformity in subject matter and in methods the behaviorist began his own formulation of the problem of psychology by sweeping aside all medieval conceptions. He dropped from his scientific vocabulary all subjective terms such as sensations, perception, image, desire, purpose, and even thinking and emotion as they were subjectively defined (Watson 1924, 5-6).
Diese Auffassung wurde später von Skinner übernommen und verteidigt. Dieser schrieb 1953: … the mind and ideas, together with their special characteristics, are being invented on the spot to provide spurious explanations. A science of behavior can hope to gain very little from so cavalier a practice. Since mental or psychical events are asserted to lack the dimensions of 296 Dieter Lohmar und Dirk Fonfara (eds.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, 296–315. © 2006 Springer.
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physical science, we have an additional reason for rejecting them (Skinner 1953, 30-31).
Der Behaviorismus hat den Großteil des 20. Jahrhunderts beherrscht und geprägt. Selbst nach seinem offiziellen Niedergang setzte sich sein Einfluss fort. In einem Artikel von 1991 vergleicht Rey den Glauben an die Existenz von Bewusstsein mit der religiösen Zuversicht eines Gläubigen in die Existenz Gottes: Why in the world should one believe in such a God? Why should one believe in such a consciousness? In both cases, of course, people have been tempted to say, ‘Because I have direct access to it.’ But such firstperson breast beating begs the question…the challenge… is to come up with some non-question-begging reason to believe consciousness exists. I doubt there is any to be had (Rey 1991, 692).
Sogar heute stellt man bei einem Blick auf die Website der American Psychological Association fest, dass deren Definition von Psychologie keinen Verweis auf Bewusstsein beinhaltet. Im Gegenteil, dort heißt es: „’the understanding of behavior’ is the enterprise of psychologists.“1 Generell betrachtet hat sich während des vergangenen Jahrzehnts jedoch ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Eine Reihe neuer Zeitschriften, die sich der Erforschung des Bewusstseins widmen, sind gegründet worden, und gegenwärtig erachten viele Wissenschaftler die Erklärung des Bewusstseins als eines der wenigen verbleibenden ungelösten Probleme moderner Wissenschaft, die von Bedeutung sind. Es ist üblich geworden, diesen Wandel mit dem Begriff eines anhaltenden „Bewusstseins-Booms“ zu beschreiben. Nach einer langen Periode des neo-behavioristischen Funktionalismus ist den meisten Forschern deutlich geworden, dass sich eine befriedigende Darstellung des Bewusstseins nicht allein in der funktionalen Analyse intentionalen Verhaltens erschöpfen kann. Sie muss ebenso die subjektive oder Erste-Person-Dimension ernst nehmen, da ein bedeutendes Merkmal des Bewusstseins darin besteht, wie dieses vom Subjekt erfahren wird. Selbst Verfechter einer stark reduktionistischen Herangehensweise an das Bewusstsein haben zugegeben, dass eine plausible Theorie des Geistes phänomenologisch adäquat sein muss und dass Subjektivität und Erleben Themen von philosophischer Relevanz sind. Dementsprechend steht der kognitionswissenschaftliche Mainstream phänomenologischen Ideen und Analysen aufgeschlossener gegenüber, als dies lange Zeit der Fall war. Ich denke, dass diese Entwicklung der
298 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft Phänomenologie und phänomenologisch-orientierten Philosophen sowohl Chancen als auch Herausforderungen bietet. Im Folgenden möchte ich einige Reflexionen darüber präsentieren, was die Phänomenologie sowohl direkt als auch indirekt von den Kognitionswissenschaften lernen kann. Angesichts meiner Leser scheint mir dieses Thema bedeutender zu sein als die Frage, was die Phänomenologie den Kognitionswissenschaften beibringen könne, da ich annehme, dass die meisten von uns den Standpunkt teilen, die Phänomenologie habe den Kognitionswissenschaften und der Bewusstseinsforschung in der Tat sehr viel zu bieten. Um jegliche Missverständnisse zu vermeiden, lassen Sie mich noch einmal hervorheben: Ich bin absolut davon überzeugt, dass die Phänomenologie von entscheidender Sachdienlichkeit für die Kognitionswissenschaften sein kann, und ich habe versucht, dies in einer Reihe von Artikeln und Büchern zu zeigen;2 in diesem Aufsatz werde ich mich jedoch auf den entgegengesetzten Einfluss konzentrieren. Ich möchte als letzte einleitende Anmerkung noch einmal betonen, dass ich mich, wenn ich von Kognitionswissenschaften spreche, speziell auf die empirische Forschung in der Kognitionspsychologie, Entwicklungspsychologie, Kognitiven Neurowissenschaft etc. beziehe. Somit werde ich nicht die Beziehung zwischen Phänomenologie und analytischer Philosophie des Geistes diskutieren, da dies meiner Ansicht nach einige etwas andere Erwägungen erfordern würde. 1. Empirische Befunde Das phänomenologische Credo: Zu den Sachen selbst ruft uns dazu auf, unsere Theorien von unseren Erfahrungen bestimmen zu lassen. Wir sollen der Art und Weise, in der uns Realität in der Erfahrung gegeben ist, Beachtung schenken. Kognitionswissenschaftler mögen der formalen Struktur der Phänomenalität nicht viel Aufmerksamkeit widmen, aber als empirische Wissenschaftler schenken sie konkreten empirischen Phänomenen in der Tat viel Beachtung. Das Wissen und die Informationen, welche sie hinsichtlich dieser Phänomene besitzen, sind häufig detaillierter als die irgendeines Philosophen (selbst eines phänomenologischen Philosophen). Obwohl die Phänomenologie letzten Endes andere Anliegen haben mag als Wissenschaft und obwohl philosophische und wissenschaftliche Fragen sich im Grunde
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radikal voneinander unterscheiden mögen (auf diese Frage werde ich später zurückkommen), denke ich nicht, dass es sich eine phänomenologische Untersuchung des Bewusstseins erlauben kann, einfach die empirische Bewussteinsforschung zu ignorieren. Im Folgenden werde ich kurz einige neuere empirische Befunde durchgehen, die auf verschiedene Weise phänomenologische Behauptungen entweder bestätigen oder herausfordern. Lassen Sie mich mit einigen Ergebnissen der Entwicklungspsychologie beginnen. In jüngerer Zeit hat man dort viel Aufmerksamkeit auf das Verständnis der frühen sozialen Interaktion verwandt. Inzwischen ist gut gesichert, dass Augenkontakt und Gesichtsausdrücke von höchster Bedeutung für den Säugling sind, der bereits kurz nach der Geburt in der Lage ist, das Gesicht seiner Mutter von dem eines Fremden zu unterscheiden. Der Säugling kann seine eigene Fortbewegung anfänglich kaum zielgerichtet steuern, aber er besitzt eine fast vollständig entwickelte Kontrolle über seine Augenbewegungen und kann durch seinen Blick als Sozialpartner fungieren. Indem er die Richtung des eigenen Blickes kontrolliert, ist er in der Lage, Grad und Umfang der sozialen Stimulation zu regulieren. Vermittels solcher Arten des Blickverhaltens wie Abwenden des Blickes, Schließen der Augen, An-Jemandem-Vorbeistarren, glasig Blicken etc. kann er in großem Umfang sozialen Kontakt initiieren, aufrecht erhalten oder vermeiden (Stern 1985, 21). Ein zwei bis drei Monate alter Säugling wird an „Protokonversationen“ mit anderen Menschen teilnehmen, indem er sie anblickt, lächelt und Laute äußert und dabei die Fähigkeit demonstriert, Timing und Intensität der Kommunikation mit seinem Partner zu variieren. Der Zweck dieser frühen Interaktion scheint die Interaktion selbst zu sein und die Möglichkeit, die diese bietet, basale Emotionen auszudrücken und zu teilen. Wenn sich die Affekte des Kindes im Ausdruck der Mutter widerspiegeln, wird das Kind dies erwidern und sich aufmerksam gegenüber dieser mimischen Reaktion verhalten (Fivaz et al. 2004). In der Tat erwarten Kinder von anderen Menschen, dass diese mit ihnen in wechselseitigen Interaktionen von Angesicht zu Angesicht kommunizieren und daran arbeiten, die Kommunikation aufrecht zu erhalten und zu regulieren. Wenn die Mutter unbeweglich und teilnahmslos bleibt, wird das Kind aufhören zu lächeln, Anzeichen von Unzufriedenheit zeigen und versuchen, ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.
300 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft Säuglinge sind nicht nur in der Lage, Informationen über ihre Gesprächspartner aufzunehmen, die es ihnen ermöglichen, adäquat und kohärent zu reagieren; wie zahlreiche Experimente gezeigt haben, sind sie auch ausgesprochen empfindlich gegenüber dem Charakter der Interaktion selbst. In einer Experiment-Anordnung wurden beispielsweise Mütter und ihre sechs bis zwölf Wochen alten Säuglinge in getrennten Räumen platziert, allerdings mit der Möglichkeit, über zwei Fernsehbildschirme mit geschlossenem Kreislauf Kontakt zu halten. Auf diese Weise sah und hörte jeder Partner ein lebensgroßes Videobild des anderen, das das gesamte Gesicht abbildete. Solange die Video-Präsentation „live“ stattfand, verlief die Interaktion normal. Allerdings wurde die erste Minute der Interaktion auf Band aufgezeichnet und im Anschluss die Aufzeichnung der Mutter auf dem Bildschirm des Kindes wiederholt. Obwohl die Kinder dieselbe Mutter, dieselben Gesten und dieselben Anzeichen der Zuneigung sahen, die sie eine Minute zuvor gesehen hatten, veränderte sich ihr Verhalten dramatisch. Während die Säuglinge während der ursprünglichen Echtzeit-Interaktion fröhlich und aktiv beteiligt gewesen waren, zeigten sie jetzt Anzeichen von Kummer und drehten sich vom Bild der Mutter weg, wobei sie die Stirn runzelten, grimassierten etc. Die Unzufriedenheit der Säuglinge während der Video-Wiederholung kam offensichtlich durch eine Art Unstimmigkeit zwischen den Reaktionen ihrer Mütter und ihren eigenen zustande, d.h. die Säuglinge waren in der Lage festzustellen, dass die Interaktion disharmonisch verlief (Neisser 1993, 17). Um das Alter von neun Monaten herum findet nach allgemeiner Auffassung ein dramatischer Wandel statt. Während die frühe dyadische Interaktion, die keinen anderen Gegenstand als die Interaktion selbst hatte, primäre Intersubjektivität genannt wurde, haben wir es nun mit einer sekundären Intersubjektivität zu tun, die eine Triangulation beinhaltet. Die Interaktionen der Kinder mit anderen Personen beginnen, sich auf die Welt um sie herum zu beziehen, auf Objekte und Ereignisse, die geteilt werden können. Neun Monate alte Säuglinge können dem Blick oder dem Zeigefinger einer anderen Person folgen, und wenn sie dies tun, schauen sie häufig zu der entsprechenden Person zurück und scheinen das Feedback aus seinem oder ihrem Gesicht zu nutzen, um zu bestätigen, dass sie tatsächlich das richtige Ziel erreicht haben. Gleichsam zeigen sie anderen Personen Objekte, wobei sie ihrem Gegenüber in die Augen
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sehen, um zu prüfen, ob er oder sie aufmerksam ist. Neue Formen der affektiven Übereinstimmung können ebenfalls festgestellt werden. Ein deutliches Beispiel hierfür ist das berühmte Visual Cliff Experiment. Säuglinge im Alter von zwölf Monaten werden auf der einen Seite einer „optischen Kluft“, d.h. einem scheinbaren plötzlichen Abgrund unter einer transparenten Oberfläche, platziert. Auf der anderen Seite der „Kluft“ befinden sich die Mutter des Kindes und ein attraktives Spielzeug. Wenn das Kind den Abgrund bemerkt, wird es normalerweise spontan zur Mutter hinübersehen. Falls die Mutter einen fröhlichen Gesichtsausdruck zeigt, werden sich die meisten Säuglinge zur anderen Seite hinüberbewegen; falls die Mutter ein ängstliches Gesicht macht, werden die Säuglinge stehen bleiben oder sogar aktiv zurückweichen. Es ist bemerkenswert, dass die bloße Gegenwart der Mutter allein nicht ausreicht, um das Kind zu einem bestimmten Verhalten zu motivieren. Vielmehr hat ihre emotionale Reaktion, die über ihren Gesichtsausdruck und ihr Verhalten aufgefasst wird, entscheidenden Einfluss (Hobson 1991, 47). Mit anderen Worten, der Säugling scheint zu erkennen, dass der Gesichtsausdruck einer anderen Person eine Bedeutung hinsichtlich einer Umwelt besitzt, die beiden gemein ist. Der Säugling lebt in keiner solipsistischen Welt, deren Bedeutungsgehalt bloß dadurch entsteht, wie diese vom Säugling aufgefasst wird. Vielmehr hat seine Welt auch Bedeutung für andere; und die Bedeutung, die sie für diese Personen besitzt, beeinflusst die Bedeutung, die sie für den Säugling hat. Somit werden die Gesten und Äußerungen der Bezugsperson sowohl als emotional ausdrucksvoll als auch als auf etwas in der Welt des Säuglings gerichtet wahrgenommen (Hobson 1993, 38, 140-141; 2002, 73). Dies veranlasste den britischen Entwicklungs-Psychopathologen Peter Hobson dazu, in Bezug auf Säuglinge zu schlussfolgern: „they have direct perception of and natural engagement with person-related meanings that are apprehended in the expressions and behavior of other persons. It is only gradually, and with considerable input from adults, that they eventually come to conceive of ‘bodies’ on the one hand, and ‘minds’ on the other” (Hobson 1993, 117). Die Relevanz solcher Beobachtungen für ein phänomenologisches Verständnis von Intersubjektivität sollte, so denke ich, offensichtlich sein. Lassen Sie mich nun zu einem anderen Bereich kommen, der für die Phänomenologie interessante Entdeckungen beinhalten könnte – die Gedächtnisforschung. Diese untersucht, wie die Vergangenheit die
302 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft Gegenwart formt. Die Gedächtnisforschung ist naturgemäß interdisziplinär und umfasst zahlreiche verschiedene Disziplinen, darunter Kognitionspsychologie, Kognitive Neurowissenschaft und Neuropathologie. Eine ihrer Hauptentdeckungen ist, dass das Gedächtnis kein einzelnes Vermögen des Geistes ist. Es setzt sich vielmehr aus einer großen Anzahl verschiedener und dissoziativer Prozesse zusammen. Das Gedächtnis spielt eine Rolle, wann immer wir in der Lage sind, Informationen über kurze Zeiträume hinweg zu speichern, wenn wir Fähigkeiten erlernen oder uns Gewohnheiten aneignen, wenn wir alltägliche Objekte erkennen und wenn wir begriffliche Informationen behalten. Natürlich ist das Gedächtnis auch miteinbezogen, wenn wir uns bestimmter Ereignisse aus der Vergangenheit erinnern (Schacter 1996, 5). Die Standardlehrbücher unterscheiden zwischen episodischem Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis, prozeduralem Gedächtnis und semantischem Gedächtnis, d.h. sie unterscheiden z.B. zwischen unserer Erinnerung an einen vergangenen Sommerurlaub, unserer Fähigkeit eine achtstellige Telefonnummer zu lesen und lang genug zu behalten, um die Tasten auf dem Telefon zu drücken, sowie zwischen unserer Erinnerung ans Fahrradfahren (eine Fähigkeit, die wir uns einmal aneignet haben) und dem Namen des aktuellen UN-Generalsekretärs (ein Name, den wir einmal gelernt haben). Während das episodische Gedächtnis die Erfahrung beinhaltet, die Vergangenheit wiederzubesuchen, verbindet das prozedurale Gedächtnis und das semantische Gedächtnis uns mit der Vergangenheit, allerdings ohne die Erfahrung der Zeitreise. Wie ist die Unterscheidung verschiedener Gedächtnistypen motiviert? Ich denke, dass diese Differenzierung sowohl begrifflich als auch phänomenologisch begründet sein könnte. Allerdings wird in der Standardliteratur zumeist auf die Neuropathologie und auf die Ergebnisse verschiedener „brain imaging techniques“ Bezug genommen. Wenn man die Gehirne von Menschen, die aufgefordert werden, sich unterschiedlichen Gedächtnistests zu unterziehen, untersucht, scheinen unterschiedliche Partien ihrer Gehirne besonders aktiv zu sein, und zwar in Abhängigkeit davon, welche Tests sie gerade absolvieren. Interessanter sind möglicherweise pathologische Befunde, bei denen Menschen mit unterschiedlichen Hirnschäden einen Gedächtnistyp verlieren, während sie die übrigen behalten. Dergestalt haben manche Patienten ein gut funktionierendes Arbeitsgedächtnis, aber ihnen fehlt
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die Fähigkeit, bleibende Erinnerungen zu bilden und sich ins Gedächtnis zu rufen. Andere können Langzeiterinnerungen bilden, allerdings keine Zahlenreihe behalten und wiedergeben (Schacter 1996, 43). Es gibt eine Anzahl berühmter Fallgeschichten, die diese Dissoziationen veranschaulichen. Im Jahre 1911 machte der schweizer Psychologe Claparède die folgende Beobachtung bei einer Amnesiepatientin. Nach einem Handschlag, bei dem er sie mit einer Nadel gestochen hatte, die er in seiner Hand versteckt hatte, weigerte sich die Patientin, ihm noch einmal die Hand zu schütteln. Als sie allerdings gebeten wurde, ihre Weigerung zu erklären, sagte sie Dinge wie „manchmal sind Nadeln in den Händen von Menschen versteckt“ und hatte offenbar keinerlei Erinnerung an das vergangene Geschehen (Clapadère 1911). Eine andere berühmte Fallgeschichte betrifft den Patienten H.M. Er litt an schwerer Epilepsie, weswegen man entschied, die vorderen zwei Drittel seines Hippocampus sowie die Amygdala zu entfernen. Als H.M. nach der Operation erwachte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was während der vergangenen zwei Jahre geschehen war (zu diesem Zeitpunkt war er 27 Jahre alt). Sein Gedächtnis reichte bis zu der Zeit, als er ungefähr 25 Jahre alt gewesen war, aber nicht darüber hinaus. Allerdings konnte sich H.M. nicht nur an seine unmittelbare Vergangenheit nicht erinnern, alles, was er nach seiner Operation erlebte, blieb nur für einige wenige Minuten in seinem Gedächtnis und verschwand danach wieder.3 Somit war H.M. de facto in einer kleinen Zeitkapsel gefangen. Sein persönliches Leben endete, als er 25 war. Wenn er nach seinem Alter gefragt wurde, antwortete er, dass er ein junger Mann sei. Er sprach über Freunde und Familienmitglieder, die bereits lange tot waren, als ob sie noch am Leben seien. Wenn man ihm einen Spiegel reichte, war er entsetzt, dass ihn aus dem Spiegelbild ein alter Mann anblickte. Sein einziger Trost bestand darin, bereits nach wenigen Minuten alles vergessen zu haben, was er gesehen hatte. Jedes Mal, wenn er eine Person traf, war es für ihn wie das erste Mal. Er beschwerte sich nie darüber, dass er langweilige psychologische Tests durchführen musste, weil sie für ihn alle neu waren. Allerdings behielt H.M. sein prozedurales Gedächtnis. Er war in der Lage, sich neue motorische Fähigkeiten anzueignen. So lernte er, neue Melodien auf dem Klavier zu spielen, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, sie jemals gelernt zu haben (Schacter 1996, 137-139, 164).
304 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft Eine verwandte Fallgeschichte betrifft einen Patienten mit schwerer retrograder und anterograder Amnesie. Dieser verfügte über kein episodisches Gedächtnis, war jedoch ein begeisterter Golfspieler und behielt nicht nur sein semantisches Gedächtnis, das es ihm erlaubte, technische Begriffe wie „Par,“ „Birdie“ und „Wedge“ zu verwenden, sondern auch sein prozedurales Gedächtnis und damit die Fähigkeiten und Kenntnisse, um gut zu spielen. Allerdings war er aufgrund seines Mangels an episodischem Erinnerungsvermögen nicht in der Lage, den Ball zu finden, wenn sich die Suche verzögerte. Er vergaß einfach, wo dieser gelandet war (Schacter 1996, 135). Kognitionswissenschaftler drängen uns im allgemeinen dazu, den Mythos aufzugeben, Erinnerungen seien passive oder wahrheitsgetreue Aufzeichnungen der Wirklichkeit. Sie ähneln nicht – wie Daniel Schacter feststellt – „a series of family pictures stored in the photo album of the mind“ (Schacter 1996, 116-117). Vielmehr ist offensichtlich, dass unsere Erinnerungen verzerrt sein können. Unser Wissen von vergangenen Situationen und Ereignissen wird kontinuierlich und ohne unser eigenes Zutun aktiviert, und es ist möglich, dass wir uns Schlussfolgerungen, die auf diesem Wissen basieren und die sich in unsere Erinnerungen schleichen und diese verzerren, überhaupt nicht bewusst werden. Eine andere Fehlerursache besteht in dem, was als Impaired Source Memory bekannt ist. Man kann mit seiner Erinnerung an etwas, das man gesehen, gehört oder erfahren hat, richtig liegen, aber sich hinsichtlich der Quelle dieser Erinnerung täuschen. So liest man z.B. in einem dubiosen Magazin im Supermarkt eine Schlagzeile über eine bekannte Person. Monate später diskutiert man über die Ehrlichkeit dieser Person und erinnert sich an den negativen Bericht über sie, allerdings nicht mehr daran, was die Quelle des Berichts gewesen war. Die Tatsache, dass man vergessen hat, dass dieser einer fragwürdigen Quelle entstammte, macht uns stärker geneigt, dem Bericht zu glauben. Auf diese Weise können Fehler im Quellen-Gedächtnis der Bildung ungerechtfertigter Meinungen Tür und Tor öffnen (Schacter 1996, 116-117). Lassen Sie mich kurz zum Thema Entwicklungspsychologie zurückkommen, da der Wahrheitsgehalt der Erinnerungen von Kindern ebenfalls untersucht worden ist. Eines der durchgeführten Experimente ist das folgende: Ein Fremder besucht für zwei Minuten einen Klassenraum und wird dabei vom Lehrer vorgestellt. In anschließenden Interviews werden den Kindern eine Reihe irreführender Fragen
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über den Fremden gestellt: Sie werden befragt, ob sie sich daran erinnern können, dass dieser den weißen Teddybären mit Schokolade beschmiert habe, und sie werden befragt, ob er dies absichtlich getan habe oder ob es ein Unfall gewesen sei. Zehn Wochen später bestätigten über 50% der drei- bis vierjährigen Kinder bei einer Befragung, dass der Besucher Schokolade auf dem weißen Teddybären verschmiert habe. 30% von ihnen behaupteten, dass sie ihn sogar dabei beobachtet hätten. Diese Befunde legen deutlich nahe, dass ein kleines Kind, wenn der Untersucher ihm irreführende oder falsche Informationen mitteilt, sich möglicherweise nicht mehr korrekt an das erinnern kann, was geschehen ist. Die Fehler der Kinder lassen sich möglicherweise in den Begriffen der Impaired Source Memory erklären. Allerdings sollte hierbei berücksichtigt werden, dass die Erinnerungen kleiner Kinder relativ exakt sein können, solange keine derart suggestive Befragung erfolgt (Schacter 1996, 128). Die Differenzierung zwischen verschiedenen Gedächtnisformen zieht den Erklärungsumfang des Husserlschen Modells in Zweifel, welches hauptsächlich darauf abzuzielen scheint, episodisches Gedächtnis zu explizieren. Allerdings könnte Husserls Beschreibung des Sedimentierungs-Prozesses als Antizipation der gegenwärtigen Fokussierung auf das implizite Gedächtnis aufgefasst werden, z.B. im Falle derjenigen Situationen, in denen Personen von vergangenen Erinnerungen beeinflusst werden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Beenden wir diesen kurzen Überblick mit einigen Verweisen auf neuropathologische Erkenntnisse. Man hat gelegentlich angenommen, dass kinästhetische Empfindungen uns ein Körperbewusstsein vermitteln, das es erlaubt, das Ich vom Nicht-Ich deutlich abzugrenzen. Wenn ich mir meiner Bewegungen oder Handlungen aus der ErstePerson-Perspektive bewusst bin, wenn ich mir auf kinästhetischem Wege meines Leibes bewusst bin, dann besitzen meine Bewegungen und Handlungen eine bestimmte Qualität der Zu-Mir-Gehörigkeit, eine bestimmte Qualität der Anstrengung und der Willentlichkeit, die verdeutlicht, wer es ist, der da handelt oder sich bewegt. In der Neuropathologie finden wir hingegen bestimmte Formen körperlicher Selbstentfremdung, die solche grundsätzlichen Annahmen in Frage stellen. Bei dem Anarchic Hand Syndrom vollzieht je eine Hand der Patienten komplexe, offenbar zielgerichtete Bewegungen, die die Patienten nicht unterdrücken können. Diese häufig ungewollten und gesell-
306 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft schaftlich inakzeptablen Handlungen umfassen z.B., das eigene Hemd wieder aufzuknöpfen, nachdem die andere Hand es gerade zugeknöpft hatte, rohe Eier mit Schale oder ungeschälte Zwiebeln in die Bratpfanne zu werfen oder Reste vom Teller des Nachbarn aufzulesen. Obwohl sich der Patient der Bewegungen der Hand kinästhetisch bewusst ist und sich die Hand für ihn auch wie seine eigene Hand anfühlt, erfährt er die Bewegungen und Handlungen, die sie ausführt, ausdrücklich nicht als seine eigenen. Das Anarchic Hand Syndrom zeigt auf diese Weise, dass es möglich ist, sich von einer inneren, Erste-Person-Perspektive aus zielgerichteter Bewegungen bewusst zu sein, ohne dass man sich dieser Handlungen als seiner eigenen bewusst ist. Ein vielleicht noch merkwürdigeres Beispiel für körperliche Selbstentfremdung ist ein Zustand, der als anosognosia for hemiplegia bekannt ist. Viele Patienten, die einen Schlaganfall in der rechten Hemisphäre erlitten haben, leugnen ihre linksseitige Lähmung, und zwar typischerweise trotz offensichtlicher Beweise für die Lähmung. In einem Fall behauptete eine linksseitig gelähmte Patientin, laufen, klatschen und mit der linken Hand die Nase des Arztes berühren zu können, obwohl sie dabei nur Bewegungen mit ihrer rechten Hand vollführte (Ramachandran & Blakeslee 1998). Wenn diese Patienten unter Druck geraten, ihren Zustand zugeben zu müssen, lassen sie die Wirklichkeit bisweilen weit hinter sich, nur um ihre Behauptung, sie könnten sich bewegen, zu verteidigen. So erklären sie z.B., dass das gelähmte Bein jemand anderem gehöre oder dass es überhaupt kein Bein sei. In einem berühmten Fall behauptete ein Patient, seine gelähmte Hand gehöre dem Arzt. Als der Mediziner dem Patienten seine eigenen zwei Hände zeigte und fragte, wie es denn sein könne, dass er drei Hände habe, antwortete der Patient ruhig: "A hand is the extremity of an arm. Since you have three arms, it follows that you must have three hands" (Bisiach 1988, 469). Ein Schlaganfall in der rechten Hemisphäre des Gehirns kann auch zu einem Zustand führen, der als Unilateral Neglect (Einseitige Nichtbeachtung bzw. Vernachlässigung) bezeichnet wird. Hierbei reagiert der Patient weder auf Stimuli der rechten Körperhälfte noch auf Objekte oder sogar Personen, die sich auf seiner rechten Seite befinden. So nehmen die Patienten, wenn ihnen Essen serviert wird, nur das Essen auf der rechten Seite des Tellers zu sich und beschweren sich hernach, dass das Krankenhaus sie verhungern lasse und nicht
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ausreichend koche. Wenn man die Patienten bittet, ein Bild nachzumalen, malen sie stets nur die eine Hälfte des Bildes etc. Des Weiteren wurde vor kurzem entdeckt, dass dieser Defekt nicht nur das visuelle Wahrnehmungsvermögen betrifft, sondern auch die Vorstellungskraft und das Erinnerungsvermögen, wobei die komplizierte Wechselwirkung zwischen diesen verschiedenen Formen der Intentionalität betont wird.4 Bei einem Experiment sollten Patienten während eines Zeitraums von zwei Minuten alle französischen Städte aufzählen, an die sie sich erinnern konnten. Als diese Städte nachträglich auf einer Karte markiert wurden, stellte man fest, dass alle aufgezählten Städte im Osten Frankreichs lagen. Die Patienten hatten keine Städte im Westen (oder auf der linken Seite) Frankreichs erwähnt. In einem anderen Experiment forderte man Patienten aus Mailand auf, an die Piazza del Duomo zu denken, einen Platz, den sie sehr gut kannten. Die Patienten sollten sich vorstellen, auf den Treppen der Kathedrale zu stehen und von ihr wegzuschauen, dann wurden sie befragt, was genau sie sich bildlich vorstellten. Hierbei beschrieben sie nur die rechte Seite des Platzes. Im Anschluss daran forderte man die Patienten auf, sich gedanklich auf die entgegengesetzte Seite der Piazza zu begeben. Als man sie fragte, was sie sich nun vorstellten, beschrieben sie immer noch lediglich die rechte Seite des Platzes. Aber natürlich bedeutete das in diesem Falle, dass sie nunmehr diejenige Seite des Platzes beschrieben, die sie einen Moment zuvor noch „vergessen“ hatten, wohingegen sie an den Teil des Platzes, den sie zuvor noch beschrieben hatten, keine Erinnerungen mehr besaßen (Bisiach & Luzzatti 1978). Die vielen Verweise auf die Pathologie heben die wichtige Einsicht hervor, dass die zentralen Charakteristika der Subjektivität durch eine Untersuchung ihrer pathologischen Störungen deutlich herausgestellt werden können. Pathologische Fälle haben die Funktion eines heuristischen Instruments, das einem schlagartig und drastisch zum Bewusstsein bringt, was man gewöhnlich als selbstverständlich hinnimmt. Sie können ein Mittel sein, sich von Vertrautem zu distanzieren, um es auf diese Weise besser erklären zu können. Aber dabei handelt es sich natürlich um eine Vorgehensweise, auf die die Phänomenologie seit langem insistiert hat. Sowohl Heidegger als auch Merleau-Ponty haben sich dafür ausgesprochen, dass es eine der Aufgaben der Philosophie sei, diejenigen fundamentalen Aspekte der Existenz und der Realität in den Blick zu nehmen und aufzuklären, die so häufig als selbstverständlich angenommen werden, dass ihre wahre Be-
308 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft deutung verkannt oder sogar ignoriert wird. Grenzsituationen und phänomene können ausgesprochen erhellend sein. Es ist kein bloßer Zufall, dass besonders der klinischen Psychopathologie viel Aufmerksamkeit seitens der Phänomenologen geschenkt wurde und dass es in Frankreich und Deutschland eine lange Tradition phänomenologischer Psychiatrie gibt. Zu den bedeutenden Persönlichkeiten dieser Tradition zählen Minkowski, Binswanger, Tatossian, Tellenbach und Blankenburg. Es sollte jedoch betont werden, dass pathologische Phänomene und andere empirische Befunde interpretationsoffen sind. Ihre Deutung hängt für gewöhnlich von dem Interpretationsrahmen ab, mit dem man arbeitet. Daher lassen sich die theoretischen Auswirkungen eines empirischen Falles auch nicht notwendigerweise leicht bestimmen. Die Phänomenologie sollte empirischen Befunden Aufmerksamkeit schenken, aber die (metaphysischen und epistemologischen) Interpretationen seitens der Kognitionswissenschaften nicht unbedingt akzeptieren. 2. Phänomenologische Psychologie und Transzendentale Phänomenologie Bis jetzt habe ich diskutiert, inwiefern die Phänomenologie von einer näheren Untersuchung der empirischen Erkenntnisse der Kognitionswissenschaften profitieren könnte. Es muss nicht erwähnt werden, dass eine derartige Bezugnahme bereits Vorläufer hat. Das berühmteste Beispiel ist sicher Merleau-Pontys Verwendung von Goldsteins und Gelbs Untersuchung von Schneider.5 Aber bedeutet das, dass es keine Probleme gibt? Dass lediglich Chancen bestehen und keine Gefahren? Dass die Phänomenologie gar nicht erst überlegen sollte, bevor sie sich auf die Kognitionswissenschaften einlässt? Natürlich ist die Sachlage hier komplizierter. In einem Manuskript von 1917, das mit Phänomenologie und Psychologie betitelt ist, stellt Husserl folgende Frage: Warum sollte man eine neue Wissenschaft namens Phänomenologie einführen, wenn es bereits eine etablierte, leistungsfähige Wissenschaft gibt, die sich mit dem psychischen Leben von Menschen und Tieren beschäftigt, nämlich die Psychologie. Genauer betrachtet ist die Psychologie eine Wissenschaft des naturalisierten Bewusstseins. Könnte man nun nicht
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dafür argumentieren, dass eine bloße Erfahrungsbeschreibung – was möglicherweise alles ist, was die Phänomenologie zu bieten hat – keine eigenständige Alternative zur Psychologie darstellt, sondern bloß eine – vielleicht unabdingbare – Vorbereitung einer wirklich wissenschaftlichen Untersuchung des Geistes (Hua XXV, 102). Wie Husserl feststellt, war dieser Gedankengang so überzeugend, dass der Begriff „phänomenologisch“ in verschiedensten Typen philosophischer und psychologischer Arbeiten verwandt wurde, die eine direkte Beschreibung von Bewusstsein auf der Basis von Introspektion zum Gegenstand hatten (Hua XXV, 103). Die Parallele zum gegenwärtigen Diskurs ist bestechend. Derzeit wird der Begriff „Phänomenologie“ auch verstärkt von Kognitionswissenschaftlern genutzt, um eine ErstePerson-Perspektive darauf „wie es ist“, eine bestimmte Erfahrung zu machen, auszuzeichnen. Vor diesem Hintergrund könnte es Schwierigkeiten bereiten zu verstehen, warum die Phänomenologie nicht einfach eine bestimmte Form der Psychologie darstellt oder sogar einen Introspektionismus. Die Phänomenologie hat unleugbare Affinitäten zur Psychologie, insofern beide Disziplinen ein Interesse am Bewusstsein teilen. Aber – so stellt Husserl heraus – obwohl die Unterscheidung zwischen einer phänomenologischen und einer psychologischen Untersuchung des Bewusstseins schwer zu treffen ist und auf den ersten Blick wie eine unnötig subtile Differenzierung erscheint, haben wir es letztlich mit einem feinen, aber entscheidenden Unterschied zu tun, der grundlegend für die Möglichkeit ist, überhaupt Philosophie zu betreiben (Hua XXIV, 211). In seinem langen Essay Philosophie als strenge Wissenschaft von 1911 kontrastiert Husserl mit aller Deutlichkeit seine eigene phänomenologische Untersuchung des Bewusstseins mit der naturwissenschaftlichen Herangehensweise und kommt zu dem Schluss, dass der Versuch, das Bewusstsein zu naturalisieren, nicht nur fehlgeschlagen ist, sondern grundsätzlich fehlerbehaftet ist. Dass Husserl entschiedene Ansichten zu diesem Thema hatte, kommt in folgendem Brief an den Neukantianer Heinrich Rickert von 1914 zum Ausdruck: So fühle ich mich im letzten Jahrzehnt mit den Führern der deutschen idealistischen Schulen eng verbunden, wir kämpfen als Bundesgenossen gegen den Naturalismus unserer Zeit als unseren gemeinsamen Feind. Wir dienen, jeder in seiner Art, denselben Göttern u. da uns allen dieser Dienst eine ernste u. heilige Sache ist, auf die wir unser ganzes Leben
310 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft gestellt haben, so wird eben jede solche Art ihre Notwendigkeiten in sich tragen und für den Fortschritt der Philosophie unentbehrlich sein (Husserl 1994, 5/178).
Husserls Kritik am Naturalismus gibt uns einen Hinweis auf den tatsächlichen Unterschied zwischen Phänomenologie und Psychologie, denn das Hauptproblem des Naturalismus ist nach Husserl, dass dieser der Erkenntnis der transzendentalen Subjektivität im Wege steht. Die psychologische Reflexion oder Introspektion präsentiert uns ein konstituiertes, objektiviertes und naturalisiertes Subjekt. Aber sie vermittelt uns keinen Zugang zur konstitutiven, transzendentalen Dimension der Subjektivität (Hua XVII, 290, VIII, 71, VII, 269, VI, 255, 264). Die Aufgabe der Phänomenologie besteht nicht darin, ihre Objekte so präzise und akribisch wie möglich zu beschreiben, und sie muss sich auch nicht damit befassen, die Phänomene in ihrer ganzen ontischen Vielfalt zu analysieren. Vielmehr ist es ihre wirkliche Aufgabe, die Dimension der Erscheinung oder der Gegebenheit zu untersuchen sowie deren interne Struktur und Bedingung der Möglichkeit aufzudecken. Es bedarf eines reflexiven Standpunktes, der sich von dem der positiven Wissenschaft klar unterscheidet, um die Objekte unter den Kriterien ihrer Gegebenheit, Gültigkeit und Intelligibilität zu thematisieren. Dies ist natürlich einer der Gründe, weswegen die phänomenologische Herangehensweise immer wieder als unnatürliche Denkungsart bezeichnet worden ist (vgl. Hua XIX, 14). Wenn man die Phänomenologie als unnatürlich betrachtet, zieht dies allerdings die Konsequenz nach sich, dass man keine direkte und unmittelbare Kontinuität zwischen ihr und positiven Wissenschaften wie der Psychologie zugesteht. Obwohl es wichtig ist, zur Zusammenarbeit zwischen der Philosophie und den empirischen Wissenschaften zu ermutigen, sollte uns die Aussicht auf eine fruchtbare Kooperation nicht dazu verleiten, einfach über die Unterschiede hinwegzusehen. Husserl würde darauf bestehen, dass, obwohl eine beachtliche Überschneidung zwischen dem Gehalt transzendentaler und empirischer Wissenschaft vorliegen mag – er spricht sogar von einer Parallelität –, ein entscheidender Unterschied in der Herangehensweise besteht. Phänomenologie und Psychologie untersuchen beide das Bewusstsein, richten sich dabei jedoch nach sehr verschiedenen Agenden, und es würde wohl ebenso wenig Sinn machen, die transzendentale Bewusstseinsanalyse eines Phänomeno-
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logen mit einer psychologischen Untersuchung gleichzusetzen, wie z.B. Wittgensteins oder Davidsons sprachphilosophische Betrachtungen mit denen der Phonetik oder Linguistik. Mit anderen Worten, die Gefahr, die besteht, wenn man sich zu sehr in die Zusammenarbeit mit empirischen Wissenschaftlern vertieft, ist, dass man den Blick für die übergreifenden philosophischen Themen verliert. Viele Kognitionswissenschaftler (allerdings nicht alle, wie betont werden sollte) hängen einer Form des metaphysischen Realismus an. Die meisten sind Objektivisten, und nur sehr wenige sind für die Auffassung empfänglich, dass Subjektivität eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung, Wahrheit und Objektivität ist. An genau dieser Dimension ist die Phänomenologie natürlich interessiert. Aus diesem Grund hebt Husserl fortwährend die Bedeutung der Reduktion hervor. Für ihn bleibt der Unterschied zwischen empirischem und philosophischem Standpunkt sowie zwischen weltlicher und transzendentaler Herangehensweise essentiell. Indem er auf dieser Differenz beharrte, konnte Husserl die Behauptung aufrecht erhalten, dass die Philosophie der Wissenschaft einen eigenständigen kognitiven Zugang zu bieten hat. 3. Konklusion Im Lichte dieser Reflexionen erscheint es mir sinnvoll, die zwei folgenden Auffassungen von der Beziehung zwischen Phänomenologie und empirischer Wissenschaft klar voneinander zu unterscheiden (wobei diese Aufzählung keinesfalls vollständig sein soll): Eine Möglichkeit besteht darin, zwei Formen der Phänomenologie auszumachen – eine reine, transzendentale Version und eine weltliche, psychologische Version. Durch eine Veränderung des Standpunktes können wir zwischen den beiden Ebenen hin und herwechseln. Was die psychologische Version betrifft, so profitiert diese von der empirischen Forschung und kann mit der positiven Wissenschaft in einen Diskurs eintreten, der auf Voraussetzungen beruht, die von beiden geteilt werden. Die transzendentale Phänomenologie bleibt hingegen unberührt von dem, was sozusagen auf der niedrigeren Ebene vor sich geht, und kann ihre eigene Aufgabe vollkommen isoliert weiterverfolgen. Es gibt allerdings auch eine andere Option. Das letzte Unterkapitel von Merleau-Pontys La Structure de Comportement trägt die Über-
312 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft schrift „Gibt es keine Wahrheit im Naturalismus?“. Es beinhaltet eine Kritik an der Kantischen Transzendentalphilosophie, und auf der letzten Seite des Buches ruft Merleau-Ponty zu einer Neudefinition der Transzendentalphilosophie auf, die der realen Welt Rechnung tragen soll (Merleau-Ponty 1942, 241). Damit stellt uns Merleau-Ponty nicht vor die Wahl zwischen einer externen wissenschaftlichen Erklärung und einer internen phänomenologischen Erklärung – eine Wahl, die in seinen Augen die lebendige Beziehung zwischen Bewusstsein und Natur zerstören würde –, sondern er fordert uns auf, gerade das Entgegengesetzte zu tun und nach einer Dimension zu suchen, die jenseits von Subjektivismus und Objektivismus liegt. Interessant und wichtig ist hierbei allerdings, dass Merleau-Ponty die Beziehung zwischen transzendentaler Phänomenologie und positiver Wissenschaft nicht vor dem Hintergrund der Frage auffasst, wie bereits etablierte phänomenologische Einsichten auf empirische Themen angewandt werden können. Die Frage lautet demnach auch nicht, inwieweit die Phänomenologie die positive Wissenschaft restringieren solle. Ganz im Gegenteil ist Merleau-Ponty der Ansicht, dass die Phänomenologie selbst infolge des Dialoges mit den empirischen Disziplinen verändert und modifiziert werden könne. In der Tat bedarf die Phänomenologie dieser Konfrontation, um sich adäquat zu entwickeln. Und bedenken Sie, Merleau-Ponty vertritt diese Auffassung, ohne die Phänomenologie dabei nur auf eine weitere positive Wissenschaft zu reduzieren und ohne sie ihrer transzendentalphilosophischen Natur zu berauben. Somit bestünde diese zweite Option darin, dafür zu argumentieren, dass die transzendentale Philosophie selbst in einen fruchtbaren Austausch mit der empirischen Wissenschaft treten kann. Möglicherweise könnte sie sogar naturalisiert werden, und zwar im Sinne von „zum Projekt der Naturalisierung beitragen“. Allerdings sollte man, wenn man diese Ansicht vertritt, berücksichtigen, dass eine derartige Naturalisierung nicht nur zur Modifikation der transzendentalen Phänomenologie führen wird, sondern zugleich unser gesamtes Naturverständnis verändern wird und ebenso den Begriff der Naturalisierung selbst. Unabhängig davon, ob man sich für die erste oder zweite Option entscheidet, ist es in jedem Fall wichtig einzusehen, dass die Phänomenologie nicht nur direkt von Erkenntnissen der empirischen Forschung über psychopathologische oder neuropathologische Störungen, über die soziale Interaktion von Kindern oder über die Gedächtnisleistungen profitiert. Die Phänomenologie kann auch indirekt von dem
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problemorientierten Forschungsansatz profitieren, der den Kognitionswissenschaften zugrunde liegt. Die bloße Bemühung darum, in einen Dialog mit den Kognitionswissenschaften einzutreten, könnte in der Phänomenologie eine stärkere Problemorientierung zur Folge haben und damit einer ihrer größten Schwächen entgegenwirken: der übermäßigen Beschäftigung mit der Exegese. Natürlich streite ich nicht ab, dass man noch immer viel von Autoren wie Husserl, Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty, Lévinas und anderen lernen kann. Allerdings glaube ich, dass sich die Phänomenologie in viel größerem Umfang in den kritischen Dialog nicht nur mit den empirischen Wissenschaften, sondern auch mit anderen philosophischen Traditionen begeben sollte. Vor allem indem sie alternative Forschungsansätze konfrontiert, diskutiert und kritisiert, kann die Phänomenologie ihre Vitalität und ihre Relevanz für die Gegenwart unter Beweis stellen. (Übersetzt aus dem Englischen von Christian Blum) Literatur: Bisiach, E. (1988), Language without Thought. In L. Weiskrantz (ed.): Thought Without Language (464-484). Oxford. Bisiach, E., Luzzatti, C. (1978), Unilateral Neglect of Representational Space. In: Cortex 14, 129-133. Claparède, E. (1911), Recognition and ‘me-ness’. In: D. Rapaport (ed.): Organization and pathology of thought: Selected Sources. New York 1951. Fivaz-Depeursinge, E., Favez, N., Frascarolo, F. (2004), Threesome intersubjectivity in infancy. In: D. Zahavi, T. Grünbaum & J. Parnas (eds.): The structure and development of self-consciousness: Interdisciplinary perspectives (221-234). Amsterdam. Gallagher, S. (2005), How the body shapes the mind. Oxford. Hobson, R. P. (1991), Against the theory of ‘Theory of Mind’. In: British Journal of Developmental Psychology 9, 33-51. Hobson, R. P. (1993), Autism and the development of mind. Hove. Hobson, R. P. (2002), The cradle of thought. London. Husserl, E. (1954), Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana VI. Den Haag. Husserl, E. (1956), Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil. Kritische Ideengeschichte, Husserliana VII. Den Haag. Husserl, E. (1959), Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion, Husserliana VIII. Den Haag. Husserl, E. (1974), Formale und Transzendentale Logik, Husserliana XVII. Den Haag. Husserl, E. (1984a), Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie, Husserliana XXIV. Den Haag.
314 Dan Zahavi: Phänomenologie und Kognitionswissenschaft Husserl, E. (1984b), Logische Untersuchungen II, Husserliana XIX/1-2. Den Haag. Husserl, E. (1987), Aufsätze und Vorträge (1911-1921), Husserliana XXV. Dordrecht. Husserl, E. (1994), Briefwechsel, Husserliana Dokumente III/1-10. Dordrecht. Merleau-Ponty, M. (1942), La structure du comportement. Paris. Neisser, U. (1993), The self perceived. In: U. Neisser (ed.), The perceived self: Ecological and interpersonal sources of self-knowledge (3-21). New York. Parnas, J., Zahavi, D. (2002), The role of phenomenology in psychiatric diagnosis and classification. In: Mario Maj et al. (eds.): Psychiatric Diagnosis and Classification (137-162). Parnas, J., Bovet, P., Zahavi, D. (2002), Schizophrenic Autism. Clinical Phenomenology and Pathogenetic Implications. World Psychiatry 1/3, 131-136. Ramachandran, V. S. & Blakeslee, S. (1998), Phantoms in the Brain: Probing the Mysteries of the Human Mind. New York. Rey, G. (1991), Reasons for doubting the existence of even epiphenomenal consciousness. Behavioral and Brain Sciences 14/4, 691-692. Schacter, D. L. (1996), Searching for memory: The Brain, the mind, and the past. New York. Skinner, B. F. (1953), Science and Human Behavior. New York. Stern, D. N. (1985), The interpersonal world of the infant. New York. Tatossian, A. (1979/1997), La phénoménologie des psychoses. Paris. Watson, J. B. (1924), Behaviourism. New York. Zahavi, D. (1999), Self-awareness and Alterity. A Phenomenological Investigation. Evanston. Zahavi, D. (ed.) (2000), Exploring the Self: Philosophical and Psychopathological Perspectives on Self-experience. Amsterdam-Philadelphia. Zahavi, D. (2002), First-person thoughts and embodied self-awareness. Some reflections on the relation between recent analytical philosophy and phenomenology. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 1, 7-26. Zahavi, D. (2003), Phenomenology of self. In: T. Kircher & A. David (eds.): The Self in Neuroscience and Psychiatry. Cambridge, 56-75. Zahavi, D. (2004a), The embodied self-awareness of the infant: A challenge to the theory-theory of mind? In: D. Zahavi, T. Grünbaum, J. Parnas (eds.): The structure and development of self-consciousness: Interdisciplinary perspectives (35-63). Amsterdam-Philadelphia. Zahavi, D. (2004b), Back to Brentano? In: Journal of Consciousness Studies 11, 66-87. Zahavi, D. (2004c), Phenomenology and the project of naturalization. In: Phenomenology and the cognitive sciences 3/4, 331-347. Zahavi, D. (ed.) (2004d), Hidden Resources. Classical perspectives on subjectivity. Imprint Academic. Exeter 2004 Zahavi, D. (2005), Subjectivity and Selfhood: Investigating the first-person perspective. Cambridge, MA. Zahavi, D., Grünbaum, T. & Parnas, J. (eds.) (2004), The structure and development of self-consciousness: Interdisciplinary perspectives. Amsterdam-Philadelphia. Zahavi, D, Parnas, J. (1998), Phenomenal consciousness and self-awareness. A phenomenological critique of representational theory. In: Journal of Consciousness Studies 5, 687-705. Zahavi, D., Parnas, J. (2003), Conceptual problems in infantile autism research: Why cognitive science needs phenomenology. In: Journal of Consciousness Studies 10, 53-71.
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Anmerkungen: 1
Vgl. http://www.apa.org/about/ Zahavi 1999, 2000, 2002, 2003, 2004a, 2004b, 2004c, 2004d, 2005, Zahavi & Parnas 1998, 2003, Parnas & Zahavi 2002, Parnas, Bovet & Zahavi 2002, Zahavi, Grünbaum & Parnas 2004. 3 Die gleichen Symptome treten bei massiven cerebralen Tumoren auf und beim sog. Korsakov-Syndrom (einer schwerwiegenden Zerstörung von Neuronen aufgrund exzessiven Alkoholkonsums). 4 Die Neurowissenschaft könnte auch Husserls These stützen, wonach die episodische Erinnerung ein Nacherleben vergangener Wahrnehmung beinhaltet. Wie Gallagher feststellt – wobei er Damasio zitiert – ereignet sich die neuronale Aktivität, die mit dem Gedächtnis zusammenhängt, in den gleichen frühen sensorischen Cortices, wo das ursprüngliche Feuerungsmuster auftrat, das mit der Wahrnehmungsrepräsentation verknüpft war (Gallagher 2005, 136). 5 Merleau-Ponty’s Beschäftigung mit empirischer Wissenschaft wurde allerdings nicht nur zustimmend aufgenommen. Im Jahre 1979 kritisierte der französische Psychiater Tatossian Merleau-Ponty dafür, dass er empirische Forschung auf eine spekulative Art und Weise nutzte: “S’il veut atteindre l’expérience proprement phénoménologique du malade mental, il ne peut s’enfermer avec le philosophe transcendental dans sa tour d’ivoire. Au travail spéculatif sur la littérature spécialisée qui a été la méthode de Merleau-Ponty et de bien d’autres, il doit préférer obligatoirement le commerce direct avec ce qui est en question: la folie et le fou. C’est là le ‘vrai positivisme’ dont parlait Husserl parce que c’est la véritable expérience psychiatrique” (Tatossian 1979/1997, 12). 2
Namen Calhoun, Ch. 245 Camus, A. 138 Carpenter, M. 92 Cavalieri, P. 200 Chalmers, D. J. 204 f., 227, 233 Chomsky, N. 292, 294 Churchland, P. M. 105 Claparède, E. 303 Cole, J. 292 Conway, M. A. 211, 217219, 233 Csibra, G. 107 Damasio, A. R. 315 Davidson, D. 105, 311 De Berg, H. 31 Decety, J. 107 De Duve, T. 150, 162 DeGrazia, D. 200 Deleuze, G. 63, 69 Dennett, D. 206 Depraz, N. 200, 202 Derrida, J. 63, 69, 124, 244, 246 Descartes, R. 191, 279 Dewey, J. xi, 144, 150 f., 161 f., 291 Dickie, G. 150, 162 Dilthey, W. 19, 79, 105 Dornes, M. 15 Dreyfus, H. 142 Driesch, H. xi, 190 f. Drummand, J. J. 202 Duchamps, M. 149 f., 162 Dufrenne, M. 151, 157, 162 Eckstein, D. 234 Eddy, T. J. 106 Edelman, G. M. 203 f., 206, 215 Eley, L. 34 Ellrich, L. 34 Ermann, M. 16
Abelin, E. 9 Abelson, R. P. 250 Adorno, Th. W. 144, 161 f. Agamben, G. 125 Aggleton, J. 233 Allen, R. 293 Allert, T. 17 Arendt, H. 125 Aristoteles 42 f., 52 Ayan, S. L. 85, 101 Baddeley, A. 233 Baillargeon, R. 107 Baron-Cohen, S. 105 Beck, Ph. 200 Bedorf, Th. vii, 15 ff. Behnke, E. 201 Benjamin, W. 144, 161 Berlin, B. 260 Bermes, Ch. vii f. Bernays, P. 189 Bernd, L. 125 Bernet, R. viii, xiv, 15, 51, 55, 63, 68, 70, 123 Bernini 50 Binswanger, L. 308 Bisiach, E. 306 f. Blakeslee, S. 306 Blankenburg, W. 308 Bloch, E. 126 Blood, A. J. 152 f., 162 Böhme, G. 143, 151 f., 155, 162 f. Bohrer, K. H. 163 Bovet, P. 315 Brandom, R. 105 Brentano, F. 70, 85 Brough, J. 162 Brouwer, L. E. J. 189 Brudzinska, J. viii, 68-71 Bruschweiler-Stern, N. 16 Buytendijk, F. F. J. xi, 190 f. Cabestan, Ph. 200 317
318 Esken, F. ix Falk, R. 245 Fink, E. 55, 68 Fivaz-Depeursinge, E. 299 Foucault, M. 63, 114, 123 Freud, S. viii f., 9, 11 f., 16 f., 19, 38-44, 54-67, 69 ff. Frith, C. 94, 229 Gärdenfors, P. 106 Gallagher, S. vi, 143, 204 f., 228, 292, 294 f., 315 Gallese, V. 85 ff., 99, 106 f., 292 Gardiner, J. M. 233 Gehlen, A. 191 Gelb, A. 308 Gibson, J. J. 270, 275 Gniazdowski, A. ix Goffman, E. 260 Goldman, A. I. 75, 79, 83, 105 ff. Goldstein, K. 308 Gopnik, A. 105 Gordon, R. 105 Govier, T. 245 Greenberg, J. 16 Grice, P. 248 Grünbaum, T. 315 Guyer, P. 161 Habermas, J. 21, 32 f. Hampton, J. 245 Heal, J. 105 Heidegger, M. xi, 52, 119, 121 f., 162, 190 f., 200 f., 307, 313 Held, K. x, 108, 110, 114 f., 119 f. Henckmann, W. 201 Herbart, J. F. 201 Heyting, A. 189 Hilbert, D. 186, 189 Hintikka, J. 142 Hirstein, W. x, 143, 145 f., 148, 161 Hobson, R. P. 95, 106 f., 301 Hokanen, M. 162 Honneth, A. 5, 15 f.
Houillon, V. 200 Hudson, H. 161 Hume, D. 183 Ingarden, R. 151 ff., 157, 162 f. Ione, A. 161 Jacob, P. 107 Jäger, L. 99 Jaeggi, S. 234 James, W. 212 Jansen, J. x Jeannerod, M. 107 Jean Paul 160, 162 Johnson, M. xiii, 279 f., 283 f., 291, 293 f. Johnson, S. C. 106 Kaminski, J. 107 Kant, I. xi, 33, 116 f., 121, 125, 147, 151-159, 161, 163 f., 166, 172, 176, 179-187, 189, 259, 312 Kanwisher, N. 215 Kawabata, H. 161 Kay, P. 260 Kern, I. 15, 123, 234 Kernberg, O. 5 Keysers, C. 86 f., 106 Klein, M. 5, 7 Kohlberg, L. 8 Kosslyn, M. St. xi, 211, 215 f., 221, 226 Kossuth, J. 150, 162 Kronecker, L. 165 Kühn, R. 200 Lacan, J. 10-13, 15 ff., 41 Lakoff, G. xiii, 279 f., 283 f., 291, 293 f. Landgrebe, L. ix, 34, 36, 51, 108-118, 120, 122 Lang, B. 245 Lang, H. 16 Laplanche, J. 15 f. Lee, N.-I. 52 Lehmann, B. 260 Leibniz, G. W. viii, 4, 38 f., 114, 116 Lembeck, K.-H. 123, 290
319 Lenzen, M. 75, 77, 97, 100, 105, 107 Leslie, A. 104 Levinas, E. 11 ff., 15 ff., 313 Levinson, S. 260 Lewis, D. 248 Liessmann, K. P. 154, 163 Lipps, Th. 3 Locke, J. 167, 183 Loewald, H. 5 Löwith, K. 123, 125 Lohmar, D. xi, 70, 161, 188, 200 Lotz, Ch. xi Lützeler, P. M. 35 Luhmann, N. iii, vii, 18-36 Luzzatti, C. 307 Lyotard, J.-F. 13 Mandela, N. 235, 244 Mandela, W. 245 Marbach, E. xi, 15, 123, 142, 234, 278 Marcel, G. x, 126 f., 132 ff., 136, 138 ff. Marx, K. 19 Matisse, H. 147 Maturana, H. R. 19, 31 McKay 276 McMahon, J. 161 McNeill, W. 200 Mead, G. H. 10 Meier, B. 234 Meira, S. 260 Melle, U. xiv, 51, 201 Meltzoff, A. N. 107 Merleau-Ponty, M. 17, 28, 36, 151, 162, 199, 283, 288, 291 f., 294, 307 f., 311 ff., 315 Metzinger, Th. 85, 106 Mickiewicz, A. 262 Miklósi, A. 107 Minkowski, H. 308 Minsky, M. 250, 253, 260 Mitchell, St. A. 7, 15 f. Mohanty, J. N. 181, 189 Moltmann, J. 126
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