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German Pages 298
Carola Bauschke-Urban Im Transit
Geschlecht & Gesellschaft Band 46 Herausgegeben von Beate Kortendiek Ilse Lenz Michiko Mae Sigrid Metz-Göckel Michael Meuser Ursula Müller Mechtild Oechsle Paula-Irene Villa Mitbegründet von Marlene Stein-Hilbers (†) Koordiniert durch Netzwerk Frauenforschung NRW, Beate Kortendiek
Geschlechterfragen sind Gesellschaftsfragen. Damit gehören sie zu den zentralen Fragen der Sozialwissenschaft; sie spielen auf der Ebene von Subjekten und Interaktionen, von Institutionen und Organisationen, von Diskursen und Policies, von Kultur und Medien sowie auf globaler wie lokaler Ebene eine prominente Rolle. Die Reihe „Geschlecht und Gesellschaft“ veröffentlicht herausragende wissenschaftliche Beiträge, in denen die Impulse der Frauenund Geschlechterforschung für die Sozial- und Kulturwissenschaften dokumentiert werden. Zu den Veröffentlichungen in der Reihe gehören neben Monografien empirischen und theoretischen Zuschnitts Hand- und Lehrbücher sowie Sammelbände. Zudem erscheinen in dieser Buchreihe zentrale Beiträge aus der internationalen Geschlechterforschung in deutschsprachiger Übersetzung.
Carola Bauschke-Urban
Im Transit Transnationalisierungsprozesse in der Wissenschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Diss. TU Dortmund 2009 Gefördert mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17082-4
Inhalt
Danksagung ..............................................................................................7 1
Überkreuzungen und Querverbindungen: Transnationalisierung in der Wissenschaft ...........................................9
2 2.1 2.2
Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume..................23 Spatial Turn: Der Raum und das Soziale .................................................24 Reflexive Modernisierung: Zwischen sozialer Erosion und kosmopolitischer Utopie......................................................27 Weltgesellschaft als globales soziales System .........................................30 Globalisierung – Ende des Raums? .........................................................33 Transnationalisierung: Globalisierung „von unten“.................................37
2.3 2.4 2.5 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Transnationale Bildungsräume ............................................................43 Ein multidimensionales Hochschulexperiment........................................43 Die Transnationalisierung von Bildungsräumen......................................46 Das transnationale Setting der ifu ............................................................49 Grenzen überschreiten und verschieben: Der Projektbereich Migration ..................................................................55 Die ifu als transnationaler Bildungsraum.................................................63
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft .............67 Transnationale Gemeinschaften im Internet ............................................69 Ein transnationales Wissenschaftsnetzwerk.............................................72 Wer webt das Netz? – Ergebnisse der Online-Befragung........................77 Eine virtuelle Gemeinschaft: Was hält die vifu zusammen?....................81 Virtualität ohne Grenzen – Gemeinschaften ohne Raum? .......................85 Zusammenfassung transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft...........................................................89
5 5.1
Nomadismus, Grenzgänge und Hybridität ..........................................93 Grenzen der Hybridität ............................................................................95
6
Differenz in Bewegung – Transnationale Mobilität und Intersektionalität .............................. 109 Intersektionalität: Die soziale Herstellung komplexer Differenzen und Ungleichheiten ........................................................... 110 Doing Gender und Doing Difference..................................................... 115
6.1 6.2
6 7 7.1 7.2 7.3 7.4 8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 9 9.1 9.2 9.3 9.4
Inhalt
Biographieforschung am bewegten Subjekt ...................................... 125 Biographien als Artikulationen von Transnationalität ........................... 125 Doing Biography: Interaktive Herstellung und narrative Reflexion von Biographie ...................................................................... 130 Implikationen für eine intersektionelle Transnationalisierungsforschung ........................................................... 137 Erhebung und Auswertung: Grounded Theory, narrative Interviews und narrationsanalytische Verfahren.................................... 142 “Migration is a male factor” – Indien, Deutschland, Indien und wieder zurück (Fallstudie Devi) .................................................. 159 Biographische Skizze Devi .................................................................... 159 Aufbruch: “Tomorrow the society is going to change” ......................... 162 Ankommen: “You really need a good colleague to retain in a place” ... 176 Dazwischen: “I always have to be on my toes“ ..................................... 183 Zusammenfassung Fallstudie Devi ........................................................ 189
9.5
Migration und Qualifikation (Fallstudie Nalan) ............................... 191 Biographische Skizze Nalan .................................................................. 191 Aufbruch: „Ich hab dann gedacht: Was soll ich hier?“ .......................... 193 Ankommen: Die Universität als intellektuelles Zuhause ....................... 207 Dazwischen: Liebe, intellektuelle Leidenschaft und akademisches Prekariat.......................................................................... 218 Zusammenfassung Fallstudie Nalan ...................................................... 228
10 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5
Auf der Flucht: Krieg und Wissenschaft (Fallstudie Mia) ............... 231 Biographische Skizze Mia ..................................................................... 231 Aufbruch: “I had a really bad passport”................................................. 233 Ankommen: “It makes you sick when you have no choice”.................. 241 Dazwischen: “I am used to changing places” ........................................ 245 Zusammenfassung Fallstudie Mia ......................................................... 251
11 11.1 11.2
Im Transit............................................................................................. 253 Transformation und Konstanz sozialer Differenz .................................. 256 Transnationale Transitionen................................................................... 263
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Zusammenfassung und Ausblick........................................................ 269 Literatur ............................................................................................... 273
Danksagung
Ich danke allen, die mich während der Arbeit an diesem Buch begleitet und unterstützt haben. An erster Stelle bedanke ich mich bei meinen Interviewpartnerinnen, ohne die diese Forschung nicht möglich gewesen wäre. Ich durfte viel von ihnen lernen. Sehr viel zu verdanken habe ich Sigrid Metz-Göckel, die eine unerschöpfliche Quelle wissenschaftlicher und menschlicher Inspiration für mich ist. Ihre unerschütterliche und anregende Begleitung hat mich und diese Arbeit sehr bereichert und immer wieder herausgefordert. Ich danke Ilse Lenz für ihre konstruktiven Kommentare und für ihre Bereitschaft, dieses Projekt von Anfang an zu unterstützen. Aylâ Neusel danke ich für ihre weitsichtigen und scharfsinnigen Anregungen in der Zeit unserer produktiven Zusammenarbeit während der ifu. Sie ist eine ganz außergewöhnliche Lehrerin. Die Hans-Böckler-Stiftung hat diese Arbeit großzügig durch ein Stipendium und einen Druckkostenvorschuss gefördert. Im Kolleg „Wissensmanagement und Selbstorganisation“ an der TU Dortmund sowie im Kolloquium von Sigrid Metz-Göckel entwickelten sich wichtige Diskussionskontexte. Kirsten Heusgen hat mich bei der Drucklegung des Buches umsichtig und zuverlässig unterstützt. Promovieren mit Kindern bedeutet, dass viele Menschen zum Gelingen beitragen. Ich bedanke mich herzlich bei Petra Onnen, Michael Hulke, Bettina und Antonia Weiß, Birgit und Linda Böhm, Shirin Lilly und Hanye Eissa (in memoriam) für die bunten und schönen Zeiten, in denen sie für meine Kinder da waren. Für die liebevolle und tatkräftige Unterstützung, die mir Raum zum Schreiben geschaffen hat und die vielen inspirierenden Momente danke ich meinem Mann Michael Urban. Unseren Töchtern Matilda und Jara Antonia – die diese Arbeit so gelassen und manchmal auch völlig zu Recht ungeduldig begleitet haben – ist dieses Buch gewidmet.
Hannover, im Oktober 2009
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Überkreuzungen und Querverbindungen: Transnationalisierung in der Wissenschaft
Im Begriff der Transnationalisierung markiert das Präfix „trans“ zwei Bedeutungen. Zum einen werden damit soziale Strukturen bezeichnet, die sich in Bewegung befinden. Es lenkt die Aufmerksamkeit jedoch zusätzlich darauf, dass sich diese Strukturen verändern. Die Beobachtung von Prozessen der Transnationalisierung in der Wissenschaft geht von diesen beiden Prämissen aus. Sie interessiert sich für die Entstehung von neuartigen Interaktionsräumen, die sich in grenzüberschreitenden Mobilitätsprozessen strukturieren. Diese zeichnen sich in der Veränderung der Biographien von Studierenden, Forschenden und Lehrenden ab, die grenzüberschreitende Lebensformen entwickeln. Schlagworte wie „Brain Circulation“ (Hunger 2003) und „multiple Mobilitäten“ in der Wissenschaft (Lanzendorf 2003) verweisen darauf, dass Entgrenzungsprozesse, wie sie von Globalisierungstheoretikern beschrieben werden (Castells 2003; Appadurai 1998) auch vor den Hochschulen nicht Halt gemacht haben. Grenzüberschreitende Mobilität von Studierenden sowie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gilt an den Hochschulen als Qualitätsmerkmal und der Wille zum Erkunden wissenschaftlicher Räume außerhalb des Herkunftslandes in Verbindung mit der Bereitschaft zu hoher Flexibilität gehört sowohl zu den Imperativen als auch zu den inzwischen üblichen Passagen für eine Karriere in der Wissenschaft.1 Seit Mitte der 1990er Jahre ist im europäischen Raum ein Internationalisierungsboom zu beobachten, der insbesondere für studentische Migrationen dokumentiert ist. Die Internationalisierung wurde im gleichen Zeitraum weltweit zu einem der tragenden Paradigmen der Hochschulentwicklung (Kehm 2008; 1
Ein Blick in die Geschichte der Hochschulen zeigt, dass die Migration als Lebensform für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht neu ist. Die „Peregrinatio Academica“ stellt im Mittelalter und in der Frühmoderne bis zum Aufbau der nationalstaatlichen Bildungssysteme in den Anfängen des 19. Jahrhunderts den Normalfall dar und räumliche Flexibilität gehörte zum Berufsweg der Forschenden in einem wesentlich größeren Umfang als heute dazu (Stichweh 2004: 346ff und Stichweh 2000: 170-184). Im Zuge der Herausbildung der Nationalstaaten und der nationalen Bildungs- und Hochschulsysteme seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts ging die Wissenschaftsmobilität deutlich zurück und beschränkte sich bis zum Beginn der 1990er Jahre auf eine kleinere Elite (Hahn 2005: 151).
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Überkreuzungen und Querverbindungen
Kehm, Teichler und Gordon 2007; Lanzendorf und Teichler 2003). Dieser Trend wurde innerhalb Europas insbesondere durch die großen europäischen Austausch- und Förderprogramme Erasmus und Sokrates beschleunigt, zusätzlich hat der Bologna-Prozess mit der Beseitigung vom Mobilitätshemmnissen dazu beigetragen, den physischen Austausch von Studierenden und Forschenden zu erleichtern (Hahn 2005: 45). Biographische Mobilität in der Wissenschaft gilt inzwischen als eine durchaus übliche Lebensform, die nicht mehr als Zusatz zu einem im Inland absolvierten Studium verstanden wird, vielmehr ist internationale Mobilität in der Wissenschaft zur biographischen Normalität geworden. Diese Flexibilisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind umfassend und werden als ein Trend zur „Veralltäglichung des Internationalen“ an den Hochschulen beschrieben (Teichler 2007). Der Trend zu wissenschaftlicher Flexibilisierung ist insbesondere im Anstieg der absoluten Zahlen international mobiler Menschen in den Wissenschaften erkennbar. Laut UNESCO gab es weltweit um 1970 noch ca. 500.000 Studierende, die in anderen als ihren Herkunftsländern studierten. Dagegen wurden Mitte der 1990er Jahre bereits 1,6 Mio. internationale Studierende weltweit in den Statistiken erfasst.2 Die Dimensionen der Mobilitätssteigerung werden in internationalen Prognosen besonders deutlich. Bis zum Jahr 2025 wird die Verdoppelung der Zahl der Wissenschaftsmigrationen erwartet. Dies bedeutet, dass ca. 5 Mio. mobile Studierende (bei insgesamt 160 Mio. Studierenden weltweit) zu erwarten sein werden (Hahn 2005: 151). Die derzeit verfügbaren Daten, mit denen eine Kartographie der internationalen Wissenschaftsmobilität skizziert werden kann, zeigen, dass weltweit allein im Zeitraum von 2004 bis 2005 die Zahl mobiler Studierender, die sich an Hochschulen außerhalb ihrer Herkunftsländer aufhalten, um 75.000 gestiegen ist und insgesamt bei 2.725.996 lag. Etwa die Hälfte der auslandsmobilen Studierenden weltweit wählen ein Studium in den USA, in Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Während in diesen drei europäischen Ländern der Anteil internationaler Studierender bei rund zehn Prozent liegt, ist ihr Anteil in den USA niedriger und liegt bei nur drei Prozent. Die Herkunftsländer, die weltweit die meisten mobilen Studierenden ins Ausland entsenden, sind China, Indien und Südkorea (HIS/DAAD 2008: 54-55). In Deutschland waren im Jahr 2007 knapp eine Viertel Million internationale Studierende eingeschrieben (246.369 Personen), wobei zwischen mobilen „Bildungausländern“ (188.436 Personen) und „Bildungsinländern“ unterschieden wird. Mit letzteren sind Studierende aus
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Diese Zahlen erschließen sich allerdings nicht vollständig ohne den Blick auf die Gesamtentwicklung der Studierendenzahlen, denn auch sie haben sich um etwa den gleichen relationalen Anteil vergrößert (Teichler 2002: 5).
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Einwandererfamilien gemeint, die keine deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, aber ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland erworben haben.3 Im Jahr 2006 hielten sich darüber hinaus 23.023 ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland auf. Die meisten kamen aus Russland, China, Indien und den USA. Der größte Teil dieser Gruppe (75%) befindet sich in der Qualifizierungsphase (Graduierte und Post-Docs), nur ein Viertel zählt zur Gruppe der Professorinnen und Professoren (HIS/DAAD 2008: 70-74). Die Daten geben allerdings keine Auskunft über den Anteil von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Migrationshintergrund.4 Grenzüberschreitende Aktivitäten in der Wissenschaft sind nicht nur quantitativ angestiegen, sie haben sich auch qualitativ verändert. Ein Verständnis von Wissenschaftsmobilität kann zunehmend nicht mehr auf einmalige Forschungsund Studienaufenthalte im Ausland reduziert werden sondern bei einem wachsenden Anteil von Wissenschaftsmigrantinnen und Wissenschaftsmigranten kann inzwischen von multiplen Mobilitäten ausgegangen werden. Dies drückt sich beispielsweise darin aus, dass eine sich kontinuierlich vergrößernde Zahl von Personen, die in die Wissenschaft eingebunden sind, im traditionellen Sinne nicht mehr über einen dauerhaften Wohnort verfügt (Lanzendorf 2003: 287ff). Grenzüberschreitende Prozesse von Akteur/inn/en in der Wissenschaft sind damit erheblich komplexer geworden. Die Hochschulen bewegen sich so in einem Spannungsfeld zwischen ihrer einerseits nationalstaatlich organisierten institutionellen Verankerung und der internationalen Ausrichtung von Wissensstrukturen und der an der Produktion von Wissen Beteiligten. Kerr (1991: 21) hat dieses Spannungsfeld als einen der Institution Hochschule inhärenten Widerspruch mit dem Begriff der „cosmopolitan nation-state university“ beschrie3
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Bei dem als „Bildungsinländer“ bezeichneten Personenkreis handelt es sich um 57.933 Männer und Frauen, die etwas stärker an Fachhochschulen als an Universitäten vertreten sind. Der Anteil von Studierenden mit einer anderen Staatsbürgerschaft als der deutschen entspricht damit einem Anteil an der Gesamtzahl von Studierenden an deutschen Hochschulen von 12,4%. Die Beteiligung von Frauen ist in diesen Gruppen in den letzten Jahren leicht gestiegen und lag im Jahr 2007 bei den „Bildungsausländern“ bei 52%, bei den „Bildungsinländern“ betrug die Frauenrate 46%. (HIS/DAAD 2008: 6-9). Die wichtigsten Herkunftsregionen der international mobilen Studierenden an deutschen Hochschulen sind Asien (32,2%) und Osteuropa (31,1%), aus anderen westeuropäischen Ländern kommen 19,2%, aus Afrika 11%, aus den USA 6% und aus Australien 0,2%. (HIS/DAAD 2008: 14-15) Für die Beteiligung der Gruppe der sog. „Bildungsinländer/innen“ an Spitzenpositionen in deutschen Hochschulen liegen bislang noch keine Daten vor. Eine dezidierte Untersuchung dieser Gruppe, die ebenfalls geschlechtsdifferenziert ist, steht noch aus. Das Thema stellt ein bemerkenswertes Forschungsdesiderat dar. Einige erste empirische Befunde zum Zusammenhang Gender, Migration und wissenschaftlicher Karriereentwicklung finden sich bei Niehoff 2008, CEWS 2008, Bakakshi-Hamm, Lind und Löther 2008 und Bakakshi-Hamm 2008.
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ben, die mit internationalem und kosmopolitischem Anspruch in einem nationalen Referenzrahmen operiert.5 Dieses Arrangement weist Bruchstellen auf, und Phänomene wie Mehrfachmigration und die Beteiligung von Studierenden und Wissenschaftler/inn/en aus Einwandererfamilien können vor dem Hintergrund extrem flexibilisierter Biographien mit einer nationalstaatlichen Perspektive nicht mehr befriedigend beschrieben werden. Der Ansatz der Transnationalisierung stellt eine analytische Perspektive dar, mit der grenzüberschreitende Prozesse akteurszentriert beobachtet werden können. Es handelt sich bei diesem Konzept, das im Kontext der Migrationsforschung entwickelt wurde (Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1992), um einen theoretischen Rahmen, der in Ergänzung zu einseitig strukturorientierten Analysen von grenzüberschreitender Mobilität konzipiert ist und soziale Räume fokussiert, die sich über nationalstaatliche Grenzen hinaus entwickeln. Bislang wurde in der Forschung über Internationalisierungsprozesse in der Wissenschaft insbesondere die Strukturierung von Hochschulorganisationen fokussiert, grenzüberschreitende Prozesse der Transnationalisierung wurden bislang ebenfalls ausschließlich auf der strukturellen Ebene unter dem Gesichtspunkt der unternehmerischen Aktivitäten auf dem Weltmarkt für akademische Bildung subsumiert (z.B. Lanzendorf 2006; Hahn und Lanzendorf 2006; Arulraj David und Wildemeersch 2006). Mit dieser Arbeit wird ein Pfad betreten, der von der dominierenden Fokussierung auf hochschulische Makrostrukturen abweicht und eine Perspektive auf Prozesse der Transnationalisierung in der Wissenschaft vorschlägt, die sich für die Ebene der individuellen Akteur/inn/en von grenzüberschreitender Mobilität in der Wissenschaft interessiert. Die Forschungsperspektive richtet sich einerseits auf biographische Verläufe von transnational Mobilen und andererseits auf transnationale virtuelle Vernetzungen sowie auf transnationalisierte Strukturen in Lehr-/Lernsettings. Grenzüberschreitende Strukturen und Mobilität in der Wissenschaft sind für die Analyse von Prozessen der Transnationalisierung ein gesellschaftlicher Bereich, der allein aufgrund seiner quantitativen Dimension eine hohe Relevanz besitzt (Pries 2008; Mau 2007; Faist 2000). Bei der Migration von wissenschaftlichen Akteur/inn/en handelt es sich um eine
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Einen ähnlichen Gedanken verfolgt auch das Konzept der „Multiversity“ (Kerr 1963). Der Ansatz bildet den Bezugspunkt einer vom neuen Institutionalismus, wie ihn Meyer (2005) geprägt hat, sowie von der Systemtheorie inspirierten Diskussion der Hochschulen, die zwischen globalen Anforderungen und nationalen Traditionen zu verorten ist (Krücken, Kosmützky und Torka 2007) und dabei insbesondere die weltweite Standardisierung von Wissenssystemen und Organisationsstrukturen in der Wissenschaft in den Blick nimmt. Die Tendenz zur weltweiten Anpassung von Hochschulstrukturen wurde bereits von Di Maggio und Powell (1983) als „mimetic isomorphism“ beschrieben.
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spezielle Form der Elitenmigration und damit um eine Gruppe, die über besonders hohe Migrationsressourcen verfügt. Mau (2007: 239) zeigt, dass zwar die Mehrzahl der Menschen weltweit direkt oder indirekt in Transnationalisierungsprozesse eingebunden ist, aber nur für eine begrenzte Zahl stellt die transnationale Migration eine individuelle Handlungsoption dar. Transnationale Migration wird in der Literatur häufig als ein Phänomen diskutiert, das überwiegend für Eliten relevant ist6 (z.B. Sklair 2001; Hannerz 1996; Mau 2007), dies spiegelt sich auch in einer Reihe von empirischen Studien über individuelle transnationale Mobilität (z.B. Nowicka 2006; Ong 2005; Kreutzer und Roth 2006; Scheibelhofer 2006). Mau (2007: 241) sowie Mau und Mewes (2008: 261ff) zeigen, dass der Anteil der Expertenklasse an der Zahl transnationaler Mobiler deshalb so hoch ist, weil diese über den besten Zugang zu Migrationsressourcen verfügt und den größten Nutzen aus grenzüberschreitender Mobilität ziehen kann. Zwischen dem Bildungsniveau und dem Transnationalisierungsgrad individueller Akteur/inn/en besteht ein signifikanter Zusammenhang, der darin begründet ist, dass die Größe der verfügbaren sozialen Netzwerke mit der Höhe des Bildungsstandards steigt. Wissenschaftsmigration spielt auch aus diesem Grund eine erhebliche Rolle für die Beobachtung von Transnationalisierungsprozessen. Dass die Transnationalisierung der Wissenschaft und der Hochschulen bereits ein sehr hohes Niveau erreicht hat, lässt sich auch daran zeigen, dass wissenschaftliche Kommunikationsstrukturen über nationale Bezugssysteme hinausweisen. Dies wurde zum Beispiel an der zunehmenden Zahl multinationaler Autorenschaften in Fachbeiträgen gezeigt (Stichweh 1999, 2000; Gerhards und Rössel 1999). Auch wenn digitale Vernetzungen inzwischen die physische Mobilität in der Wissenschaft erheblich relativiert, zeigen die quantitativen Daten, dass die Relevanz von Wissenschaftsmigration sich deutlich erhöht hat. Mit dem Begriff der Transnationalisierung der Wissenschaft wird ein Wechsel der Beobachterperspektive vorgeschlagen, der sich insofern vom Ansatz der Internationalisierung unterscheidet, als dass sich die Perspektive nicht mehr auf die Interaktion von nationalstaatlich eindeutig zu verortenden Akteurinnen und Akteuren richtet, sondern das Interesse gilt den Querverbindungen und Überkreuzungen sozialer Praktiken, die sich zwischen unterschiedlichen lokal situierten Räumen aufspannen und entfalten. Arbeiten zur transnationalen Migration (u.a. Faist 2000; Portes 2003; Pries 2008) gehen von der Prämisse aus, dass Wanderungen über nationale Grenzen hinweg transnationale Räume entfalten, die durch institutionelle Voraussetzungen beeinflusst werden. Damit
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Die Welt des internationalen akademischen Austausches und des internationalen KonferenzHoppings werden von David Lodge in seinen Romanen „Changing Places“ und „Small World“ als besonders elitäre wissenschaftliche Praktiken persifliert.
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ist die Vorstellung verbunden, dass Akteur/inn/en ihr Leben in transnational vernetzten Strukturen organisieren, die sowohl Verbindungen zu den Herkunftsgesellschaften als auch zu den Zielregionen beinhalten. Mit derartigen Prozessen verändern sich einerseits die biographischen Strukturen von individuellen wissenschaftlichen Akteur/inn/en, andererseits nehmen transnationale Erfahrungen Eingang in die Organisation von wissenschaftlichen Strukturen. Das Ziel dieser Studie ist es, Erkenntnisse über die Transnationalisierung biographischer Erfahrungen von transnational Mobilen und die Einbettung in transnational strukturierte wissenschaftliche Kommunikationsformen und Lehr-/Lernsettings zu generieren. Die empirische Erhebung umfasst eine quantitative Online-Befragung in einem transnationalen Kommunikationsnetzwerk von Nachwuchswissenschaftlerinnen sowie eine qualitative Erhebung auf der Basis biographischer Interviews mit transnational mobilen Wissenschaftlerinnen. Die Datenauswertung stützt sich auf die Grounded Theory sowie auf narrationsanalytische Verfahren (Glaser und Strauss 1997; Strauss und Corbin 1996; Lucius-Hoene und Deppermann 2004) in Kombination mit dem konstruktivistischen Ansatz des „doing biography“ (Dausien und Kelle 2005) und intersektionellen Perspektiven auf biographische Prozesse (Anthias 2003; Apitzsch 2003). Auf dieser Grundlage wurden biographische Fallstudien entwickelt, die für eine vergleichende Analyse biographischer Strukturen transnational mobiler Nachwuchswissenschaftlerinnen (Graduierte in der Promotionsphase und Postdocs) genutzt werden konnten. Die Forschungsperspektive fokussiert hierbei nicht eine nationalstaatliche Rahmung, sondern das Interesse richtet sich auf die Strukturierung von transnationalen Räumen. Die Auswahl des Samples basiert aus diesem Grund auf dem Kriterium transnationaler Wissenschaftsmobilität und ist nicht an die Herkunftsregionen der Wissenschaftlerinnen gebunden. Im Kontext der Online-Erhebung wurde ein Sample von Nachwuchswissenschaftlerinnen befragt, die sich aus über 100 Ländern in allen Kontinenten an einem virtuellen Netzwerk beteiligen. Es zeigte sich in der Befragung, dass nicht nur die virtuelle Vernetzung der beteiligten Mitglieder transnational organisiert ist. Ein zentraler Befund der Online-Studie besteht darin, dass diese Gruppe von Wissenschaftlerinnen eine sehr hohe internationale Mobilität auszeichnet. Auf Basis der Online-Befragung wurde das qualitative Sample für die biographischen Interviews mit transnational mobilen Nachwuchswissenschaftlerinnen generiert. Das Sample für die biographischen Fallstudien umfasst transnational mobile Nachwuchswissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Herkunftsländern (Indien, Ex-Jugoslawien, Deutschland/Türkei, Polen, Bangladesh und Marokko), die zum Zeitpunkt der Interviews innerhalb des europäischen Hochschulraums an unterschiedlichen Hochschulen und Forschungsinstituten arbeiteten. Ihre Biographien berühren sich darin, dass sie Mit-
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glieder in demselben transnationalen Netzwerk von Nachwuchswissenschaftlerinnen sind und mindestens einen oder mehrere temporäre Aufenthalte in einer Wissenschaftseinrichtung in Deutschland hatten. Bei den befragten Doktorandinnen und Postdoktorandinnen handelt es sich um Absolventinnen der Internationalen Frauenuniversität (ifu), die ein transnational organisiertes Forschungscurriculum für Postgraduierte bereitgestellt hat. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen für das Forschungs- und Lehrprogramm der ifu konnten aus über 100 Ländern aus allen Kontinenten rekrutiert werden.7 Die ifu stellt eine relativ kleine und zeitlich begrenzte universitäre Arena dar, die deshalb von Interesse für die Erforschung von Prozessen der Transnationalisierung in der Wissenschaft ist, weil das seit den 1990er Jahren expandierende Phänomen multipler biographischer Mobilitäten in der Wissenschaft hier in komprimierter Form vorzufinden ist. Dieses Setting bildete den Ausgangspunkt für die vorliegende Studie, in der das transnationale Potenzial dieses Samples genutzt werden konnte, um eine Perspektive auf transnationale Lebensentwürfe und Vernetzungen in der Wissenschaft entwickeln zu können. Die Frage nach subjektiven Konstruktionen biographischer Erfahrungen in transnationalen Räumen beinhaltet Fragen nach Prozessen der Inklusion und Exklusion und nach neu zu definierenden und neu zu gewinnenden Zugehörigkeiten in den Biographien von mobilen Wissenschaftlerinnen. Die Forschungsfragen der Studie fokussieren folgendes Spektrum: • Wie erzählen transnational mobile Nachwuchswissenschaftlerinnen ihr Erleben transnationaler Lebensformen? Welcher Bezug besteht zur Entwicklung transnationaler Karrieren? • Wie beschreiben die Wissenschaftlerinnen transnationale Vernetzungsformen? In welchen Lebensbereichen werden diese relevant? • Welche Rolle spielen dabei geographische und virtuelle Räume? • Mit welchen Inklusionsanforderungen sind die Wissenschaftlerinnen in unterschiedlich lokalisierten wissenschaftlichen Settings konfrontiert? Welche Prozesse führen zu Erfahrungen sozialer Exklusion?
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Die Tatsache, dass es sich in der Untersuchung um ein ausschließlich von weiblichen Personen konstituiertes Sample handelt, ist darin begründet, dass das transnationale Hochschulsetting ifu für die Analyse transnationaler Räume in der Wissenschaft besonders weit entwickelte Ansätze bietet (vergl. Kap. 3). Es wäre jedoch ein grundlegendes Missverständnis, wenn aus der hier vorliegenden Konstellation des Samples abgeleitet werden würde, dass eine Integration von Genderperspektiven und Perspektiven auf die Intersektionalität sozialer Differenzierungen in Diskussionen der Migrationsforschung sowie der Hochschulforschung auf Frauen zu beschränken ist.
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• Welche besonderen Anforderungen stellen sich im Kontext transnationaler Lebensführungen für die Herstellung von biographischer Reflexivität? Zur Beantwortung dieser Fragen strukturiert sich die Arbeit einleitend über eine Diskussion des Konzeptes der Transnationalisierung, in der dieser Ansatz in der neueren soziologischen Diskussion des Raums (Löw 2001; Schroer 2006) kontextualisiert wird, der eine Perspektiverweiterung auf Neukonfigurationen des Raums in einer globalisierten Welt eröffnet (Kapitel 2). Vergleichend werden zunächst Theorien der Reflexiven Modernisierung (Beck, Lash und Giddens 1994; Beck 1997, 1998, 2002, 2004 sowie Giddens 1995a, 2004) herangezogen, die ein Spektrum des Globalisierungsdiskurses abstecken, in dem einerseits die Erosion sozialer Räume analysiert (Giddens) und andererseits eine kosmopolitische Utopie ausformuliert wird, die sich gegen die Verengungen nationalstaatlich begrenzter Perspektiven wendet (Beck 2004). Zentrale theoretische Positionen für die Analyse globaler Prozesse wurden auch für das Spektrum unterschiedlicher Konzeptionen der Weltgesellschaft entfaltet (Wallerstein 1994; Heintz 1982a, 1982b; Meyer 2005; Luhmann 1997; Stichweh 1999), die – bei aller Unterschiedlichkeit – Gesellschaftstheorien ausformuliert haben, die sich nicht an nationalstaatlichen Grenzen orientieren, sondern weltumspannende Funktionsweisen sozialer Systeme beobachten. Im Kontext der von anthropologischen Ansätzen getragenen Diskussion der Globalisierung (Appadurai 1998; Hannerz 1996) geht ein Verständnis globaler Strukturen aus, das insbesondere die sozialen Dimensionen der Zeit und des Raums in den Mittelpunkt stellt. Eine im Zusammenhang mit der Globalisierung häufig zitierte These hat Harvey (1989) formuliert, der eine Verdichtung von Raum und Zeit (time-spacecompression) als Grundannahme für die Analyse des Sozialen in einer globalisierten Welt postuliert. In diesen Diskusionen wird insbesondere die Relevanz weltweiter kommunikativer Vernetzungen – insbesondere durch das Internet – betont (Castells 2003; Appadurai 1996; Wellmann 1999). Der Ansatz der Transnationalisierung (Glick Schiller et al. 1992; Basch et al. 1997; Guarnizo und Smith 1998; Pries 1999a, 2002, 2008; Ong 2005; Mau 2007; Mau und Mewes 2008; Faist 2000a und 2000b u.a.) unterscheidet sich von diesen Entwürfen, die von einem weltumspannenden Gesellschaftsbegriff ausgehen, insofern, als dass hier dezidiert akteurszentrierte Positionen vertreten werden und die Einbindung von individuellen Handlungen in nationalstaatliche Grenzen überschreitende Interaktionen beobachtet werden können. Damit handelt es sich beim Begriff der Transnationalisierung um eine Perspektive, die Globalisierungsprozesse „von unten“ (Guarnizo 1997) interessiert. In diesen Ansätzen wird die Bedeutung transnationaler Vernetzungen für die Herausbildung transnationaler Lebensstile hervorgehoben. Da die soziologische und anthropologi-
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sche Transnationalisierungsforschung insbesondere im Kontext der Migrationsforschung entwickelt wurde, innerhalb der sie eine konträre und ergänzende Position gegenüber assimilativen Ansätzen der Migrationssoziologie vertritt,8 wird die Bedeutung einer Konstitution transnationaler gesellschaftlicher Strukturen durch kommunikative Medien vernachlässigt. Erst in neueren Ansätzen der Transnationalisierung (Mau 2007; Mau und Mewes 2008) werden Aspekte der Grenzüberschreitung, die nicht an physische Mobilität gebunden sind, integriert. Für diese Arbeit ergeben sich aus diesem Spektrum theoretischer Perspektiven auf grenzüberschreitende Prozesse Anknüpfungspunkte, die zunächst in einer Diskussion der Transnationalisierung von Bildungsräumen in der Wissenschaft aufgegriffen werden (Kapitel 3). Das Konzept der Transnationalisierung wurde im Kontext der Bildungsforschung bislang insbesondere auf schulische (Gogolin und Pries 2004; Lutz 2004) und außerschulische Bildungsprozesse (Fürstenau 2004) angewendet. Eine Verbindung dieses Ansatzes mit hochschulischen Bildungsprozessen wurde insbesondere von Adick (2005) vorgeschlagen. Hier wurde zwischen einer institutionellen Makro-Ebene transnationaler Bildungsanbieter sowie einer Mikro-Ebene individueller transnational mobiler Akteur/inn/en in hochschulischen Bildungsprozessen unterschieden. In dieser Arbeit wird eine Perspektive auf eine dritte Ebene transnationaler Bildungräume entwickelt, die die institutionelle Meso-Ebene von Lehr-/Lernprozessen fokussiert. Dieses Konzept wird anhand eines Studienbereichs der ifu dargelegt, in dem interkulturelle Kommunikations- und Kooperationsformen sowie die Gestaltung eines transnationalen Lehr-/Lernsettings und eines global ausgerichteten Curriculums erprobt worden sind. In Kapitel 4 wird eine weitere Dimension transnationaler Wissenschaftsstrukturen am Beispiel eines virtuellen Netzwerks von Nachwuchswissenschaftlerinnen vorgestellt. Die transnationalen Kommunikationsstrukturen, in die Wissenschaftlerinnen aus aller Welt eingebunden sind, wurden auf der Grundlage einer Online-Befragung unter den Teilnehmerinnen dieses Netzwerks untersucht. Ausgehend von dem perspektivischen Spektrum, in dem auf die Bedeutung des Internets als transnationaler Sozialraum in Hinblick auf die Konstruktion von Identitäten sowie als soziale und politische Ressource Bezug genommen wird, konnte die virtuelle Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen als eine transnationale soziale Konstellation beschrieben werden. Es wurde einerseits untersucht, inwiefern ein solches Netzwerk unabhängig von raum/zeitlichen Strukturen agieren kann. Insbesondere wurde die Nutzung des Internets vor dem
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Vergl. für diese Kontroverse Bommes 2002.
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Überkreuzungen und Querverbindungen
Hintergrund der weltregionalen Herkunft der Wissenschaftlerinnen fokussiert sowie die Relevanz eines solchen Netzwerks für die Herausbildung von transnationalen Interaktionen der beteiligten Wissenschaftlerinnen analysiert. Sowohl in Kapitel 3 als auch in Kapitel 4 wird deutlich, dass in derartig global angelegten Settings weltregional strukturierte In- und Exklusionen relevant und zu reflektieren sind. Nachdem in Kapitel 3 und 4 soziale Meso-Ebenen eines transnationalen hochschulischen Lehr-/Lernsettings sowie ein weltweites virtuelles Netzwerk exploriert worden sind, wendet sich diese Arbeit der Mikro-Ebene individueller transnationaler Lebensführungen in der Wissenschaft zu. Theoretische Perspektiven zur Erschließung komplexer biographischer Strukturen in transnationalen sozialen Kontexten werden in Kapitel 5, 6 und 7 entfaltet. Die insbesondere im kulturwissenschaftlichen Kontext eröffneten Zugänge zu grenzüberschreitenden kosmopolitischen subjektiven Erfahrungsaufschichtungen bilden für ein Verständnis transnationaler Lebenswelten einen grundlegenden Kontext. Für die globale Konstellation des Samples erscheint es nicht angemessen, eine Beschränkung auf eurozentrische Perspektiven vorzunehmen, wie sie in Ansätzen der Transkulturalität (Welsch 1997, 2004), der Transdifferenz (Lösch 2004), des Nomadentums (Braidotti 1994, 1997; Deleuze und Guararri 1992) oder auch mit dem Begriff des Kosmopolitismus (Beck 2004) vorgeschlagen wurden, weil damit die grundlegende Vorstellung impliziert würde, „die europäische/westliche Entwicklung sei abgekoppelt vom ,Rest’ der Welt verlaufen und könne daher aus der Perspektive abendländischer Besonderheiten verstanden werden“ (Conrad und Randeria 2002: 10). Transnationalisierungsprozesse der Wissenschaft beinhalten jedoch – wie in Kapitel 3 und 4 dargelegt – das Potenzial für die Verflechtung und Vernetzung westlicher und nicht-westlicher Wissensstände und Lebensformen. Postkoloniale Positionen zur Entwicklung hybrider Identitäten, wie sie insbesondere von Bhabha (1997, 2000) und Hall (1994, 2000, 2004) entwickelt wurden, bilden für die Entwicklung gehaltvoller Konzeptionierungen transnationaler Identitätsbildungsprozesse ein fruchtbares Anregungs- und Irritationspotenzial. Insbesondere die von Bhabha entwickelten postkolonialen Positionen zum Begriff der Hybridität stellen die Figur des transnationalen Migranten, der transnationalen Migrantin ins Zentrum des Interesses und entwickelten Sichtweisen auf Lebensformen, die sich jenseits von nationalstaatlich fixierten Grenzen entfalten. Das Potenzial dieser theoretischen Ansätze besteht darin, dass sie eine Dekonstruktion nationalstaatlich und ethnisch bzw. kulturell fixierter Identitäten vornehmen und deren Abhängigkeit von der Position des Beobachters, der Beobachterin hervorheben. Ein weiterer gemeinsamer Nenner ist hier, dass gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse aus einer globalen Perspektive fokussiert werden, die sowohl Sichtweisen auf die Lebensverhältnisse in industrialisierten Ländern als
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auch in kolonisierten Weltregionen sowie transnationale Transformationsprozesse integriert. Das theoretische Potenzial dieser Ansätze besteht darin, dass die Entstehungsprozesse kultureller Differenz analysiert werden und eine naturalisierte Auffassung von kultureller Diversität transzendiert wird. Insbesondere Hall (2004) leistet über diese kulturwissenschaftliche Diskussion hinaus mit seinem identitätskritischen Konzept der sozialen Positionierung eine Öffnung dieser komplex angelegten theoretischen Modelle für akteurszentrierte sozialwissenschaftliche Perspektiven. Postkoloniale Hybriditätskonzepte kreuzen sich mit Positionen zu Identitätskategorien, wie sie in der Genderforschung entwickelt wurden. Während in der Genderforschung die gesellschaftliche Herstellung der Geschlechterdifferenz bzw. der Zweigeschlechtlichkeit interessiert, stellen postkoloniale Ansätze theoretische Möglichkeiten bereit, die die Beobachtung der gesellschaftlichen Konstruktion kultureller/ethnischer Differenz erlauben. Eine Integration dieser komplexen Zusammenhänge wird in den aktuellen Diskursen der Genderforschung unter dem Begriff der Intersektionalität (vergl. grundlegend z.B. Crenshaw 1989; Collins 1999; Yuval-Davis 1997, sowie u.a. Knapp 2005; Davis 2008; Winkler und Degele 2009) diskutiert. Dieses Konzept ermöglicht eine Analyse transnationaler Subjektivitäten, die sowohl die Identitätskategorien Ethnizität / Kultur als auch die Kategorie Gender berücksichtigt und deren wechselseitige Interdependenzen mit weiteren Kategorien sozialer Differenzierung wie weltregionale Herkunft und Staatsbürgerschaft, die in transnationalen Lebensformen eine hohe Relevanz besitzen. Diese theoretischen Perspektiven werden in Kapitel 6 diskutiert. Dabei wird insbesondere auf den von Fenstermaker und West (2001) entwickelten Ansatz des „doing difference“ Bezug genommen, auf dessen Basis eine akteurzentrierten Sicht biographischer Transnationalisierungsprozesse entworfen werden kann, die sich dafür interessiert, wie Faktoren wie Ortswechsel und das Leben an mehreren Orten die Konstruktion und die sozialen Wirkungen von sozialen Differenzkategorien beeinflussen. Diese Überlegungen werden in Kapitel 7 mit dem methodischen Ansatz der Biographieforschung in Beziehung gesetzt, die eine Mikroperspektive auf gesellschaftliche Strukturierungsprozesse individueller Erfahrung eröffnet. Transnationale Biographien können mit Apitzsch (2003) als diejenigen „Orte“ beschrieben werden, in denen die sozialen Effekte von Transnationalisierungsprozessen ihre unmittelbare Wirkung entfalten. Mit dem neueren Ansatz des „doing biography“ (Dausien und Kelle 2005) wird auf ein Konzept Bezug genommen, nach dem Biographien nicht etwas sind, was man „hat“, sondern das in interaktiven Herstellungsprozessen „gemacht“ wird und interaktiven sozialen Konstruktionsprozessen unterliegt. Transnationale Biographien stellen sich vor diesem Hintergrund als Artikulationen sozialer Positionierungsprozesse dar. Dieser
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Überkreuzungen und Querverbindungen
Zusammenhang wird unter Bezugnahme auf Theorien der Intersektionalität auf der Basis von narrativen biographischen Interviews mit transnationalen Wissenschaftsmigrantinnen exploriert. In Kapitel 8, 9 und 10 werden diese theoretischen und methodologischen Perspektivierungen auf das empirische Material angewendet und in biographischen Fallstudien über transnationale Wissenschaftsmigrantinnen entfaltet. Im analytischen Auswertungsprozess der empirischen Daten, der auf die Methode der Grounded Theory (Glaser und Strauss 1967; Strauss und Corbin 1996) sowie auf rekonstruktive Verfahren narrativer Identität (Lucius-Hoene und Deppermann 2004) zurückgreift, wurden drei Schlüsselkategorien entwickelt, die zentrale Figurationen transnationaler Migrationsbewegungen darstellen: Aufbruch – Ankunft – Dazwischen. Entlang dieser Schlüsselkategorien wurden die Fallstudien über biographische Artikulationen transnationaler Positionierungen von Wissenschaftsmigrantinnen entwickelt. Die Auswahl des Samples erfolgte unter dem Gesichtspunkt des kontrastiven Vergleichs, bei dem transnationale biographische Prozesse unter den Voraussetzungen von Bildungssozialisationen in Industrieländern sowie in Schwellenländern und Krisengebieten einbezogen wurden. In Kapitel 8 wird eine Fallstudie über eine transnationale Wissenschaftsmigrantin aus einem Low-Income-Land entworfen, die als Forscherin mehrfach zwischen Deutschland und Indien migriert ist. Kapitel 9 rekonstruiert eine biographische Perpektive auf eine Wissenschaftsmigrantin, die als Tochter einer türkischen Einwandererfamilie in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen ist und nach mehreren wissenschaftlichen Auslandsaufenthalten inzwischen als Forscherin in Großbritannien arbeitet. Eine weitere Fallstudie wird in Kapitel 10 entwickelt, die sich von den vorangehenden Kontexten transnationaler Wissenschaftsmigration insofern unterscheidet, als dass hier eine forcierte Migration aus den Kriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien rekonstruiert wird, die die biographische Erzählerin über Ungarn und Deutschland nach Italien führte, wo sie zum Zeitpunkt des Interviews als Forscherin arbeitete. In Kapitel 11 werden die transnationalen Dimensionen sozialer Differenz und Ungleichheit, die in den biographischen Einzelfallstudien herausgearbeitet wurden, kontrastiv vergleichend diskutiert. Dabei kann gezeigt werden, dass mit einer transnationalen Perspektive auf biographische Strukturierungsprozesse neuartige biographische Figurationen entstehen, die auf grenzüberschreitenden sozialen Erfahrungen und Vernetzungen an mehreren Orten basieren. Damit erhöht sich die Komplexität biographischer Erfahrungen und es entsteht ein äußerst heterogenes und vielfältiges Spektrum biographischer Muster in transnational angelegten wissenschaftlichen Qualifizierungswegen, die von komplexen sowie wechselnden Inklusionsanforderungen an die Akteur/inn/en gekennzeich-
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net sind. Anhand der Fallstudien wird die intersektionelle Strukturiertheit dieser transnational angelegten biographischen Positionierungsprozesse analysiert. Insbesondere wird die Komplexität unterschiedlicher sozialer Selektionierungsprozesse deutlich, die unabhängig von den wissenschaftlichen Leistungen transnational mobiler Wissenschaftlerinnen wirksam sind. Die Befunde dieser Studie verweisen darauf, dass institutionalisierte Internationalisierungsprozesse in der Wissenschaft, die im Kontext weltweiter Globalisierungsprozesse stehen, in Wechselwirkung mit der Herausbildung neuartiger Lebensformen und transnationaler biographischer Entwürfe von mobilen Akteur/inn/en in der Wissenschaft getreten ist.
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
Das Konzept der Transnationalisierung fokussiert das Verhältnis zwischen sozialen und geographischen Räumen, in denen Menschen ihr Leben führen. Das Forschungsinteresse dieses Ansatzes richtet sich auf soziale Beziehungen, die sich über nationale Grenzen hinweg aufspannen. Dabei wird das Verhältnis von Raum und Sozialem neu betrachtet und die dominante Vorstellung von Sozialräumen, die ausschließlich an einem Ort entstehen, wird relativiert. Das Neue an dieser Perspektive ist, dass nicht mehr ausschließlich nationalstaatliche Grenzen den Referenzrahmen sozialwissenschaftlicher Forschung bilden, sondern Sozialräume betrachtet werden, die sich in den Lebenswelten von Individuen und Gruppen aufspannen, die ihre sozialen Aktivitäten an mehreren Orten in unterschiedlichen Nationalstaaten entfalten. Es handelt sich dabei weniger um ein völlig neuartiges soziales Phänomen als um eine Verschiebung der Beobachtungsperspektive (Portes 2003), die den Anstieg von Qualität und Quantität transnationaler Beziehungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zu verzeichnen ist, in den Blick nimmt. In der soziologischen Theoriebildung spielt der Raum traditionell eine eher unbeachtete Nebenrolle. In der neueren Diskussion findet sich jedoch unter den Markierungen „geographische Wende“ (Berking 1998: 382) bzw. „spatial turn“ (Schroer 2006) eine Belebung raumsoziologischer Perspektiven in der Soziologie. Die vorausgesetzte Kongruenz der Strukturen von Territorialität und Sozialität, wie sie in der Entwicklung des Fachs Soziologie angelegt ist, wird von der Transnationalisierungsforschung (z.B. Glick Schiller et al. 1992; Basch et al. 1997; Faist 1997, 2000a, 2000b; Pries 1997, 1999, 2001, 2008; Mau 2007; Mau und Mewes 2008; Berger und Weiß 2008), mit der Globalisierungsdiskussion, durch Theoriemodelle der Weltgesellschaft sowie in neueren Diskussionen der Raumsoziologie (Schroer 2006; Löw 2001, 2008) in Frage gestellt. Die globale Ausdehnung von Transaktionen und Kommunikationsformen stellt mit der Fokussierung transnationalisierter Formen des Sozialen für die Entwicklung von soziologischen Forschungsperspektiven eine neue Herausforderung dar. Im Folgenden wird zunächst die neuere Raumsoziologie betrachtet, die auf der Raumtheorie Simmels und deren Diskussion in den aktuellen Ansätzen des
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
Spatial Turns basiert. Anschließend wird die Transnationalisierungsforschung skizziert, insofern sie neue Perspektiven für die Migrationssoziologie eröffnet hat. Dabei zeigt sich jedoch, dass soziologische Modelle zur Transnationalisierung gesellschaftlicher Prozesse durch eine analytische Fixierung auf Migration als physische Bewegungen im Raum nicht in der Lage sind, transnationale soziale Prozesse zu analysieren, die sich jenseits von Mobilitätsphänomenen konstituieren. Beispiele für Letztere sind die in der vorliegenden Studie thematisierten transnationalen Internet-Communities oder auch transnationale Lehr-/LernSettings an internationalisierten Hochschulen. Hier ist es aufschlussreich, einen Blick auf weitere Modelle transnationaler sozialer Beziehungen zu werfen, die die Überschreitung nationalstaatlicher Grenzen nicht auf die Beobachtung physischer Mobilität reduzieren und das Verhältnis von Gesellschaft und Raum auch für Organisationsentwicklungsprozesse und globalisierte Kommunikationsformen öffnen. Im Folgenden werden sowohl die analytischen Erträge als auch die Desiderate von modernisierungstheoretischen Perspektiven, Theorien der Weltgesellschaft sowie Globalisierungstheorien und soziologische Ansätze der Transnationalisierung skizziert. Auf dieser Basis wird eine Erweiterung der Perspektiven auf transnationale Räume vorgeschlagen, mit der einerseits transnationale biographische Mobilitätsprozesse, andererseits sowohl lokal situierte Formen als auch virtuell agierende soziale Vernetzungen, aber auch Transnationalisierungsprozesse analysiert werden können, die sich in Sozialräumen wie in internationalisierten Lehr-/Lernsettings an den Hochschulen herausbilden.
2.1
Spatial Turn: Der Raum und das Soziale
Simmel hat sich unter den Klassikern der Soziologie am intensivsten mit dem Phänomen des Raums auseinandergesetzt und seine besondere Bedeutung ist darin zu sehen, dass er sowohl die Struktur als auch die soziale Herstellung des Raums betont. In der „Soziologie des Raums“ (Simmel 1995a, Erstauflage 1903) und in seiner Abhandlung „Über räumliche Projektionen socialer Formen“ (Simmel 1995b, Erstauflage 1903) arbeitet Simmel heraus, dass es sich beim Phänomen des Raums um keine vorsoziale Kategorie handelt, sondern dass die Konfiguration des Raums auf sozialen Interaktionen basiert. Dies verdeutlicht sich sehr anschaulich an seiner Diskussion der Begrenzung des Raums, den Simmel als grundsätzlich in Einzelstücke zerlegbar beschreibt, die von sozial erzeugten Grenzen umschlossen sind. Daraus folgt für Simmel, dass sowohl die Beschaffenheit des Raums als auch die Konstitution von Grenzen keine Begebenheiten sind, die vorausgesetzt werden können, sondern dass diese durch soziale Prozesse erzeugt werden. „Die Grenze ist nicht eine räumliche
Spatial Turn: Der Raum und das Soziale
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Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“ (Simmel 1992, Erstauflage 1908: 697) Simmel betont dabei, dass erst eine Konstellation von sozialen Beziehungen die Grenzen von Räumen konstituiert: „Man macht sich selten klar, wie wunderbar hier die Extensität des Raumes der Intensität der soziologischen Beziehungen entgegenkommt, wie die Kontinuität des Raumes, gerade weil sie objektiv nirgends eine objektive Grenze enthält, eben deshalb überall gestattet, eine solche subjektiv zu legen.“ (Simmel 1992: 694-695) Die neuere Raumsoziologie hat nachdrücklich auf diesen umfassenderen Zusammenhang der Konstitution von Raum hingewiesen, der aus der Relationierung von Beziehungen in Räumen erst entsteht (Löw 2001; Schroer 2006). Grundsätzlich kann zwischen zwei Modellen von Raum unterschieden werden, wobei das eine auf der Vorstellung des Raums als territorial definierter „Container“ (z.B. in Form von Nationalstaaten) basiert und das andere als die Vorstellung von Räumen konzipiert werden kann, die diesem traditionellen Modell nicht mehr entsprechen und als grenzüberschreitende relationale Konfigurationen zu beschreiben sind (Schroer 2006: 47). Gegen das nationalstaatliche Containermodell sind vielfältige Einwände erhoben worden (z.B. Beck 1997, 1998, 2002; Zürn 1998; Albrow 1996, 1997, 1998; Sassen 2001). In diesen Ansätzen besteht Übereinstimmung in ihrer Betonung von Perspektiven auf grenzüberschreitende und globale Netzwerke und Transaktionen, die seit den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Aus dieser Perspektive werden Nationalstaaten als ein historisch zu betrachtendes Phänomen beschrieben, dessen Bedeutung als methodologischer Bezugsraum zwar nicht verschwunden ist, aber deutlich relativiert wird. Aus diesen Diskussionen ist jedoch nicht die Vorstellung einer entgrenzten Globalgesellschaft abzuleiten, da mit der Verschiebung und dem Abbau von Grenzen neue Prozesse der Grenzziehung verbunden sind (Schroer 2006: 207; Mau 2007: 26). Die Diskussion zur Neukonfiguration globaler Raumordnungen, die die Annahme einer weitgehenden Abgeschlossenheit nationaler „Container“ und die Kongruenz von staatlichen Räumen und Formen der Vergesellschaftung in Frage stellt, umfasst ein breites Spektrum unterschiedlicher theoretischer und disziplinärer Ansätze.9 Veränderungen nationalstaatlicher Ordnung werden in 9
Pries gibt einen ausgezeichneten Überblick über die Entwicklung disziplinärer Perspektiven auf Transnationalisierungsprozesse (2008: 168ff) und unterscheidet zwischen politikwissenschaftlichen Ansätzen sowie wirtschaftswissenschaftlichen Perspektiven auf transnationale Unternehmen. Weitere Transnationalisierungsmodelle wurden in den Regional- und in den Rechtswissenschaften entwickelt. Hier interessieren insbesondere soziologische Ansätze, die eng mit der anthropologischen Transnationalisierungsforschung verbunden sind sowie die disziplinär angrenzenden Diskussionen.
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
der Soziologie und in der transnationalen Migrationsforschung insbesondere als Folge von Modernisierungsprozessen, aus der Perspektive der Weltgesellschaft sowie unter dem sehr breiten Spektrum von Ansätzen diskutiert, die sich auf den Begriff der „Globalisierung“ beziehen.10 Das theoretische Modell der Transnationalisierung nimmt im Gegensatz zu diesen, im Wesentlichen an Makroprozessen interessierten Konzepten, eine handlungs- und subjektbezogene Perspektive ein, in der die Rolle sozialer Akteure für die Transformation nationalstaatlicher Ordnungen interessiert (Mau 2007: 19). Globalisierung kann als ein weltumspannender Prozess beschrieben werden, der zu einer weltweiten Ausweitung von Handlungsräumen führt und die räumliche Expansion von sozialem Austausch und allen Arten von Interaktionen beschreibt (Giddens 1995b; Albrow 1996; Held; McGrew u.a. 1999). Es handelt sich dabei um einen relativ jungen Begriff, der zum ersten Mal Anfang der 1960er Jahre aufgetaucht ist. Stärkere Verbreitung finden Konzepte der Globalisierung jedoch erst seit den 1990er Jahren (Pries 2008: 24). Mit der Globalisierungsdebatte entwickelte sich auch eine Raumperspektive, die die Bedeutung von lokalisierten sozialen Beziehungen und Lebenswelten zunächst grundsätzlich in Frage stellte und die Vorstellung entwickelte, die Welt des Sozialen löse sich in grenzenlosen „spaces of flow“ (Albrow et al. 1997: 35; Urry 2001; Appadurai 1996) und in vernetzten „Räumen der Ströme“ (Castells 2002, 2003) auf. Die Ansätze zur Erklärung von Globalisierungsprozessen sind, entsprechend der Größe ihres Gegenstandes, unübersichtlich und vielstimmig und zum Teil auch widersprüchlich. Dürrschmidt hat diese heterogenen und teilweise auseinanderdriftenden Diskussionen als „Theory in the Making“ (2002: 9) beschrieben. Während sich ein Großteil des anglo-amerikanischen Diskurses auf Cultural Theory und auf Fragen der Identität konzentriert, stützt sich eine weiterere Diskussion der Globalisierung auf unterschiedliche systemtheoretische Ansätze der Weltgesellschaft. Theorien reflexiver Modernisierung unternehmen zwischen diesen unterschiedlichen Perspektiven auf Globalisierung einen theoretischen Brückenschlag. Diesen so unterschiedlichen Diskursen über weltweite, grenzüberschreitende soziale Prozesse ist gemeinsam, dass Globalisierungsprozesse als translokale Vernetzungen beschrieben werden, die zu neuen Perspektiven auf das Verhältnis von sozialen Beziehungen und der Wahrnehmung von Raum führen.
10
Die Vielzahl der Veröffentlichungen und Ansätze haben inzwischen eine Breite und Unüberschaubarkeit erlangt, die es verlangt, hier nur die Diskussionsstränge darzulegen, die auf die Transnationalisierungsdebatte einen stärkeren Einfluss genommen haben. Ein weiteres interessantes Konzept, auf das hier nicht näher eingegangen werden kann, ist das der De-Nationalisierung (Zürn 1998).
Reflexive Modernisierung: Zwischen sozialer Erosion und kosmopolitischer Utopie
2.2
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Reflexive Modernisierung: Zwischen sozialer Erosion und kosmopolitischer Utopie
Globalisierung als Folge von Modernisierung und als Zuspitzung von Individualisierungsprozessen wird insbesondere von Beck, Lash und Giddens (1994), Beck (1997, 1998, 2002) sowie Giddens (1995b, 2004) beschrieben. Giddens betrachtet Globalisierung als einen Prozess, der soziale Beziehungen durch weltweite Vernetzungen strukturiert. Es handelt sich dabei um eine Verdichtung räumlicher Strukturen, die Giddens folgendermaßen beschreibt: „intensification of worldwide social relations which link distant localities in such a way that local happenings are shaped by events occuring many miles away and vice versa“ (1995b: 64). Giddens Theorie der Strukturierung (1995a) basiert auf den grundlegenden Parametern Raum und Zeit. Er beschreibt damit raum/zeitlich definierte Prozesse des „dis-embedding“ und „re-embedding“ sozialer Strukturen durch die Globalisierung. Das „Herausheben“ (dis-embedding) sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Zusammenhängen und deren Entfaltung in globalisierten Räumen stellt sich für Giddens in erster Linie als eine problematische und riskante Neustrukturierung des Sozialen dar, da „Entbettungs“-Prozesse aus lokalen sozialen Zusammenhängen als Risiko betrachtet werden, das die Erosion gesellschaftlicher Strukturen nach sich ziehen kann. Giddens plädiert deshalb für die „Rückbettung“ sozialer Strukturen in lokale Verankerungen, durch die der Zerfall gesellschaftlicher Strukturen, der nach seiner Auffassung durch Globalisierungsprozesse zwangsläufig entsteht, relativiert werden kann.11 Globalisierung erscheint in diesem Sinne durch die Interdependenz von lokalem Handeln und Interaktionen über größere, zunehmend auch weltumspannende Distanzen hinweg. Giddens versteht diese lokalen und globalen Transformationen als Konsequenzen der Moderne (Giddens 1995), bei denen kapitalistische Dynamiken der Weltmärkte die maßgeblichen Akteure für die Weltordnung darstellen. Die Technologien der Moderne bringen die strukturelle Entkopplung von Raum und Zeit mit sich. Globalisierung befördert damit eine Kultur des Risikos, die zugleich zu einer gesteigerten Reflexivität und zu einer Enttraditionalisierung von Gesellschaften führt. „Unter dem Einfluss von Globalisierung kommt es heute zu zwei grundlegenden Veränderungen. In den 11
Diese Perspektive wurde in Hinblick auf den Raumbegriff kritisiert. Einige neuere raumsoziologische Ansätze werfen Giddens vor, dass in seiner Theorie die Dimension der sozialen Konstruiertheit von Raum nicht einbezogen wurde (Urry 1991: 160; Löw 2001: 37ff). Dagegen arbeitet Schroer (2006: 106-132) zu Recht heraus, dass Giddens keineswegs auf ein essentialistisches Konzept von Raum zurückgreife. Giddens Haltung gegenüber der Entwicklung räumlicher Distanz und neuen Konfigurationen von sozialer An- und Abwesenheit ist jedoch im Unterschied zu den Konzepten der meisten Globalisierungstheoretiker wenig enthusiastisch.
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
westlichen Ländern werden nicht mehr allein öffentliche Institutionen, sondern auch das Alltagsleben dem Einfluss der Traditionen entzogen. Und auch die anderen, stärker der Tradition verhafteten Gesellschaften der Welt unterliegen einer Enttraditionalisierung.“ (Giddens 2001: 58) Gegen diesen Entwurf von Globalisierung als einer Folge der Moderne westlicher Industriegesellschaften, ist einzuwenden, dass diese Perspektive problematisch ist, weil Globalisierung zuvor als einen weltumspannenden Prozess konzipiert, diesen jedoch lediglich aus der Position der industrialisierten Zentren beschreibt. Es ist dem Vorschlag von Nederveen-Pieterse zuzustimmen, dass Globalisierungsansätze, die von einer Verknüpfung von Modernisierung und Globalisierung ausgehen und Kolonialisierungsprozesse ausklammern, treffender als globale „Theorien der Verwestlichung“ bezeichnet werden können. „In sämtlichen Konzepten, die den Kapitalismus oder die Moderne in den Mittelpunkt stellen, beginnt die Globalisierung in Europa bzw. im Westen und breitet sich von dort in alle Himmelrichtungen aus. Im Ergebnis entsteht so eine Verwestlichung unter anderem Namen, die all jene Schwierigkeiten reproduziert, die mit dem Eurozentrismus als historisch und kulturell einseitiger Perspektive verknüpft sind.“ (Nederveen-Pieterse 1997: 90) Ebenso wie Giddens sieht Beck in der Globalisierung eine Folge der Modernisierung. Von dessen eher globalisierungspessimistischer Sichtweise unterscheidet sich dieser Ansatz dadurch, dass Beck aus der Globalisierung einen theoretischen und politischen Imperativ ableitet, der die Beobachtung sozialer Prozesse aus nationalstaatlichen Perspektiven herauslöst und in einen „methodologischen Kosmopolitismus“ (2002, 2004)12 überführt. Die zentrale Frage, die Beck für die Globalisierungsdiskussion stellt, ist, wie der Blick für die Ambivalenzen transnationaler Lebensformen geöffnet werden kann. Seine Perspektive bezieht sich insbesondere auf innergesellschaftliche Transformationsprozesse, die durch die Globalisierung ausgelöst werden. „Globalisierung wird hier nicht mehr (…) als wachsende Interdependenzen zwischen fortexistierenden nationalstaatlichen Gesellschaftsräumen, sondern als innere Globalisierung dieser Räume selbst gedacht.“ (Beck 2002: 9, Hervorhebung im Original) Diese Perspektive basiert auf der Unterscheidung der Vorstellung von nationalstaatlich organisierten „Containern“ und transnationalen Räumen, aus der Beck (1997b: 118f) zwei Modi von Kultur ableitet, die einerseits als weitgehend in sich abgeschlossene, territorial gebundene Formen von Kultur und andererseits als Kulturen (im Plural) zu beschreiben sind, die nach außen geöffnet sind
12
Bislang ist das von Beck (2004) entwickelte Konzept des Kosmopolitismus insbesondere in der englischsprachigen Diskussion einflussreich (vergl. die Rezeptionsanalyse zum Werk Becks von Poferl (2005).
Reflexive Modernisierung: Zwischen sozialer Erosion und kosmopolitischer Utopie
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und ein „Verständnis für das Globale im Ort“ (ebd. 119) besitzen. Aus dieser Distinktion leitet Beck (1997a, 1997b, 1998 und 2004) in seinen neueren Werken zu Weltgesellschaft, Globalisierung und Kosmopolitismus sein Plädoyer für die Entwicklung eines „kosmopolitischen Blicks“ (2004) ab, dessen Leitgedanke von der Vorstellung getragen ist, dass die Kosmopolitisierung der Welt sich als irreversibler Prozess darstellt, den es sowohl theoretisch als auch politisch zu gestalten gilt. „Der Global-Lokal-Nexus erlaubt, erzwingt (..) neue analytischempirische Betrachtungsweisen translokaler Kulturen und Lebenswelten.“ (Beck 1997b: 101) Beck sieht transnationale und globale Perspektiven nicht als Gegenstück zu nationalstaatlich gebundenen Ansätzen, vielmehr stellt er die Kosmopolitisierung von Forschungsperspektiven und öffentlichen Diskursen als eine notwendige Erweiterung zur Diskussion. „Die Spannungen innerhalb nationaler Öffentlichkeiten werden durch den kosmopolitischen Blick zugleich abgepuffert und durch transnationale Identitäten und Netzwerke relativiert. Das kosmopolitische Projekt enthält das nationale Projekt und erweitert es zugleich. Aus der Perspektive transnationaler Erfahrungs- und Handlungsräume wird es möglich, Optionen und Perspektivenwechsel, die sonst durch Grenzen ausgeklammert werden, zu erproben und kombinieren. Man wählt und gewichtet verschiedene sich überschneidende Identitäten und lebt sozusagen im Zwischenraum der Kombination und der in sie eingebauten Widersprüche.“ (Beck 2004: 119, Hervorhebungen im Original) Die globalisierungstheoretischen Überlegungen von Beck unterscheiden sich von Giddens auch dadurch, dass in der Anlage seines KosmopolitismusAnsatzes eine dezentrierte Perspektive auf die Dimension der Transnationalisierung von Lebenswelten enthalten ist, die sich explizit gegen Perspektiven des „methodologischen Nationalismus“ richtet und eurozentrische Perspektiven kritisiert. Wenn auch kein grundlegendes Konstitutivum seiner Theorie, so streift er die Interdependenzen zwischen westlichen und kolonialisierten Weltregionen zumindest am Rande und nimmt in seine Programmatik auf, dass postkoloniale Kritik an eurozentrischen Diskursen die Entwicklung kosmopolitischer Perspektiven befördern kann und Einfluss auf globale Transformationsprozesse nimmt. „Wenn das ‚europäische Selbst’ derart mit den ‚exkludierten Anderen’ der kolonialisierten Welt verwoben ist, dann verändert der postkoloniale Diskurs das europäische Selbstverständnis, trägt wesentlich dazu bei, dass das nationale zu einem kosmopolitischen Europa geöffnet und erweitert werden kann.“ (Beck 2004: 109) So anschlussfähig das Konzept der Globalisierung von Beck für die Entfaltung einer Perspektive auf transnationale Räume ist, bleibt es dennoch problematisch, dass Beck seine theoretischen Entwürfe weitgehend unter Verzicht auf
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
die Heranziehung von empirischem Material entwickelt hat. Inzwischen allerdings sind ausgehend von seiner Theorie des Kosmopolitismus erste empirische Untersuchungen durchgeführt worden (z.B. Nowicka 2006). Im Kontext der Kosmopolitismus-Diskussion ist auch die grundlegende Kritik an der deutschsprachigen Migrationsforschung von Beck-Gernsheim (2004) zu verorten, die politische und wissenschaftliche Migrationsdiskurse kritisiert, da sie diese als zu stark an einem „methodologischen Nationalismus“ orientiert sieht. Der Begriff des „methodologischen Nationalismus“ ist im Kontext der anthropologischen Transnationalisierungsforschung zuerst aufgeworfen worden (Glick Schiller et al. 1992) und wurde sowohl im Kontext der transnationalen Migrationsforschung als auch des Kosmopolitismusansatzes als ein zentraler analytischer Terminus aufgegriffen. Becks modernisierungstheoretische Perspektive auf Globalisierung fokussiert die Erweiterung eines globalen und kosmopolitischen Bewusstseins, aus dem politische und soziologische Konsequenzen abzuleiten sind.
2.3
Weltgesellschaft als globales soziales System
Der Begriff der Weltgesellschaft wird vor allem in einer Reihe von systemtheoretischen Konzepten diskutiert, die unterschiedliche Dimensionen der Globalisierung von Institutionen und Systemen fokussieren. Der gemeinsame Bezugspunkt dieser sehr verschiedenen Entwürfe besteht darin, dass ein globales soziales System vorausgesetzt wird. Die Ansätze teilen die Vorstellung, dass Gesellschaft nicht an die territoriale Einheit von Nationalstaaten gebunden, sondern global organisiert ist. „Das Neue und Spezifische (..) besteht darin, dass die Weltgesellschaft als ein umfassendes soziales System aufgefasst wird, das Nationalstaaten transzendiert und sich als eigenes Koordinatensystem über diese spannt.“ (Wobbe 2000: 6) Die bekannteste Theorie der Weltgesellschaft in der marxistischen Tradition ist die Weltsystem-Theorie. Wallerstein (1974) hat in seinen ökonomischen Analysen die Dynamik des kapitalistischen Weltsystems und die Beziehung zwischen Unterentwicklung und Entwicklung analysiert. Diese Perspektive wurde in Anlehnung an die Dependenztheorie entfaltet, wobei eine ökonomische Unterscheidung von Zentrum, Semiperipherie und Peripherie getroffen wird, gegen die jedoch Einwände zu erheben sind, weil sie zu schematisch von der Hegemonie einiger weniger Länder ausgeht und länderspezifische Entwicklungen nicht hinreichend erklären kann. Trotz dieser Einschränkung, die die Begrenzungen eines marxistischen Determinismus reproduziert, macht sie die Einseitigkeit einer sich ausschließlich an kulturellen und sozialen Phänomenen
Weltgesellschaft als globales soziales System
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orientierenden Sichtweisen deutlich und stellt einen grundlegenden Beitrag zur Diskussion weltregionaler sozialer Ungleichheit dar. Anders als Wallerstein entwirft Heintz (1982a, 1982b) die Dynamiken der Ungleichheit nicht nur für das System der Ökonomie. Ausgangspunkt für den Entwurf seiner Weltgesellschaftstheorie ist eine entwicklungs- und strukturtheoretische Perspektive, die er im Kontext der lateinamerikanischen Soziologie in den 1960er Jahren entwickelt hat. Darin wird die ungleiche Verteilung von Ressourcen für soziale Strukturierungsverhältnisse in den Blick genommen, die im Kontext einer komplexen Schichtungstheorie entfaltet wird, in der die Industrieländer nicht als Entwicklungsmaßstab gesetzt werden. Vielmehr wird betont, dass Weltgesellschaft eine eigene Logik besitzt und ein neues Phänomen darstellt, in der „die Provinz, die Nation, die Region ineinander verzahnt sind und dass diese Verknüpfung über das Individuum stattfindet, das an allen Systemen direkt oder indirekt beteiligt ist“ (Wobbe 2000: 17). Heintz hat die Struktur der Weltgesellschaft als ein „Netzwerk von Mobilitätskanälen“ beschrieben, für die sowohl individuelle Mobilität die geographische Mobilität einschließt, als auch die Entwicklung von Nationalstaaten konvergierende Faktoren darstellen. Migration stellt sich aus der Perspektive dieses Theorieentwurfs als Handeln dar, das in der Weltgesellschaft situiert ist. „ [S]ie [Migranten, C.B.-U.] tun dies unter Bezug auf einen Rahmen, der sowohl über das Emigrations- als auch über das Immigrationsland hinausgeht“ (1982b: 9). Die weltgesellschaftliche Dynamik, die Heintz aufzeigt, betrachtet die Wechselwirkungen verschiedener Systemebenen als Mehrebenenanalyse. In diesem Kontext wurden weltgesellschaftliche Perspektiven für eine international vergleichende Erforschung von Institutionen und Organisationen aufgezeigt.13 Hier berührt sich dieser frühe theoretische Entwurf einer Weltgesellschaft mit den Arbeiten der Forschungsgruppe des Neuen Institutionalismus um John W. Meyer. In diesem Ansatz der Weltgesellschaft wird die Auffassung vertreten, dass es weltweite Isomorphien zwischen kulturellen, sozialen und institutionellen Normen gibt, die Prozesse weltweiter Standardisierungen in Gang gesetzt haben. Das Modell basiert auf umfangreichen komparativen empirischen Studien aus der Bildungs- und Organisationssoziologie und fokussiert die Entwicklung einer „world polity“, die Einfluss auf soziale Akteure und institutionelle Prozesse nimmt. Mit dem Begriff der Weltgesellschaft operiert Meyer (2005) dahingehend, dass er beschreibt, wie „westliche Prinzipien die Welt
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Durch den frühen Tod von Heintz wurde dieses komplex angelegte Modell von Weltgesellschaft nicht weiter entwickelt. Im Anschluss an dieses Modell ist jedoch zu Beginn der 1970er Jahre ein größerer empirischer Forschungskontext entstanden, in dem z.B. die Migrationsstudien von Hoffmann-Nowotny (1970, 1972) zu verorten sind.
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
durchdringen“ und zur weltweiten Standardisierung von Institutionen führt.14 Die Forschungsgruppe um Meyer interessiert sich damit für die Konstituierung weltgesellschaftlicher Strukturen durch kollektive Akteure und ist aufschlussreich für organisationssoziologische Überlegungen zur Transnationalisierung.15 Die Ebene individueller Akteure besitzt in diesem Ansatz keine Relevanz. Im Unterschied zu den zuvor skizzierten systemtheoretischen Modellen sieht der Begriff der Weltgesellschaft, wie er im Kontext der Systemtheorie von Luhmann entworfen wurde, weder Institutionen noch individuelle Akteure vor. Luhmann entfaltet in der Theorie sozialer Systeme eine „Gesellschaft ohne Raum“ (Schroer 2006: 132), in der Gesellschaft nicht mit Nationalstaaten gleichgesetzt ist. Damit wird ein Gesellschaftsbegriff vorgeschlagen, der die Bedeutung territorialer Grenzen vervollständigt. Soziale Systeme sind in der Luhmann’schen Systemtheorie grundsätzlich nicht im Raum begrenzt, sondern sie reproduzieren sich durch Kommunikation. Die Weltgesellschaft stellt sich in diesem systemtheoretischen Theorieentwurf als das Feld weltweiter Kommunikation dar. Die Bedingung für Weltgesellschaft ist nach Luhmann erst dadurch gegeben, dass jede Kommunikation weitere Kommunikation ermöglicht. Dieser Gesellschaftstyp konstituiert „eine reale Einheit des Welthorizonts für alle“ (Luhmann 1997: 55). Gesellschaft wird unter diesen Vorzeichen als funktional differenziert beschrieben. Sie zeichnet sich durch die Differenzierung von unterschiedlichen Teilsystemen aus, die jeweils eine spezifische Funktion für die Gesellschaft übernehmen. Stichweh (1999) hat diesen systemtheoretischen Ansatz am Beispiel des Funktionssystems Wissenschaft ausgeführt und das Unterlaufen nationaler Grenzen durch das Wissenschaftssystem zum Ausgangspunkt seiner Argumentation in einer Ausformulierung des Modells der Weltgesellschaft genommen. Anders als in den meisten soziologischen Ansätzen geht Luhmann nicht von der Vorstellung unterschiedlicher Gesellschaften aus, sondern Gesellschaft wird in dieser Variante der Systemtheorie im Singular als Weltgesellschaft beschrieben. Die These einer bereits realisierten Weltgesellschaft ist ein interessantes und reizvolles Konstrukt, wenn es theorieimmanent betrachtet wird. Es erscheint aber aus einer an der Verknüpfung von empirischen und theoretischen Perspektiven interessierten Forschung nicht hinreichend plausibel, da signifikante weltregionale Unterschiede und Ungleichheitsverhältnisse zu beobachten sind, die keineswegs auf die Existenz einer einzigen Weltgesellschaft verwei-
14 15
Einen einführenden Überblick über diesen Ansatz bieten Hasse/Krücken (1999) sowie Wobbe (2000). Vergl. dazu Kap. 3.
Globalisierung – Ende des Raums?
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sen.16 Die Konkretisierbarkeit dieser hochabstrakten Theoriekonstruktion und die Annahmen einer Beschreibung der Theorie funktionaler Differenzierung sind zumindest für eine handlungstheoretische und akteurszentrentrierte Diskussion von bedingter Reichweite. Für die hier interessierende Fragestellung nach der Konfiguration von Raum und Gesellschaft ist das Weltgesellschaftsmodell von Luhmann insbesondere deshalb bemerkenswert, weil es sich von dem Gedanken verabschiedet, Gesellschaften als territorial strukturiert zu denken.17
2.4
Globalisierung – Ende des Raums?
Die in den Sozialwissenschaften tief verankerte Vorstellung einer Überlappung der Strukturen von Territorialität, Identität und Kultur wird auch durch andere globalisierungstheoretische Perspektiven in Frage gestellt. Die Gemeinsamkeit dieser Ansätze findet sich darin, dass sie von einem Schwinden der Bedeutung des Raums ausgehen. Diese geteilte Grundannahme resultiert insbesondere daraus, dass Distanzen immer müheloser zu überwinden sind und die Möglichkeiten, die durch digitalisierte Kommunikationsmittel entstehen, die Bedeutung des Raums relativieren. Dabei ist im Zusammenhang mit Phänomen der technischen Überbrückbarkeit von Raumdistanzen vom Ende einer Relevanz des Raums die Rede: „De-territorialisierung“ (Albrow 1996; Lash und Urry 2004; Appadurai 1996), „time-space-compression“ (Harvey 1989) und das „Ende des Raums“ (Baudrillard 1986) sind zentrale Vokabeln der in sich sehr heterogenen globalisierungstheoretischen Diskussion. In diesen theoretischen Perspektiven wurde nicht nur die Bedeutung des Raums verworfen, auch soziologische Grundbegriffe wie der der Gesellschaft wurden durch die Vorstellung von „Netzwerken“ ergänzt (z.B. Pieterse 2002; Holzer 2005, 2006) oder sogar radikal ersetzt (Castells 2002, 2003; Wellmann 1999). Dabei steht die Beobachtung im Vordergrund, dass das Herauslösen sozialer Beziehungen aus regional fixierten und nationalstaatlich definierten Territorien zunehmend an globale Wissensstrukturen und Kommunikationssysteme gekoppelt ist.18
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Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Luhmann’sche Systemtheorie durchaus soziale Ungleichheit und weltregionale Unterschiede berücksichtig (z.B. 1997a: 162ff, 1996b: 227, 2000b: 390f). Vergl. für eine Diskussion der Dimension des Raums bei Luhmann die Ausführungen von Schroer (2006: 157f). Wie gezeigt, wurden derartige Prozesse bei Giddens Re-Strukturierungen sozialer Beziehungen mit dem Terminus des „dis-embedding“ beschrieben. (vergl. Kap. 2.2.)
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
Damit rückt die Möglichkeit intensivierter Interaktion im Kontext eines global vereinheitlichten raum-zeitlichen Bezugsrahmens auch über weite Distanzen hinweg in den Blickpunkt. Diese Prozesse wurden zunächst kritisch unter dem Stichwort der „McDonaldisierung“ als eine Homogenisierung in Folge von Globalisierungsprozessen diskutiert. Seit den 1990er Jahren gewinnt dagegen eine Perspektive auf die Revitalisierung von lokalen Kulturen an Bedeutung (Hannerz 1996; Robertson 1992, 1997). In dieser Diskussion werden die Bildung von kosmopolitischen bzw. hybriden Identitäten durch Globalisierungsprozesse (Hannerz 1996; Pieterse 1998, 2004) sowie die Dialektik zwischen Homogenisierungs- und Heterogenisierungsprozessen, die in der Transnationalisierung von Lebensstilen, Biographien und gesellschaftlichen Strukturen ihren Ausdruck finden, fokussiert. (Appadurai 1996; Lash und Urry 2004) Globalisierungsprozesse sind auf allen gesellschaftlichen Ebenen wirksam und können sowohl für transnationale Organisationen, für wirtschaftliche Verflechtungen, für globalisierte Medien, aber auch für Alltagsszenen wie die über große Distanzen mögliche Aufrechterhaltung von Freundschaften und Familienverbindungen durch das Telefon, Flugzeugverbindungen und das Internet beschrieben werden (Giddens 1994: 80). Die Vielstimmigkeit der Globalisierungsdiskussion wird beispielsweise in der Herausbildung von disparaten Terminologien deutlich, z. B. prägte Giddens (1994) für die komplexen Verflechtungen von Globalem und Lokalem den Begriff „time-space-distanciation“, Harvey (1989) dagegen beschrieb dieselben Prozesse nicht als Distanzierung, sondern als Verdichtung von Raum und Zeit, um die Erweiterung sozialer Beziehungen aufgrund technologischer Entwicklungen analytisch zu erfassen. Robertson (1992) betont in seiner Diskussion der Globalisierung die soziale Wirksamkeit des Imaginären und hebt hervor, dass die Welt zu einem vorgestellten einzigen Ort geworden sei und rückt damit die Konstruktion eines Bewusstseins von Globalität in den Vordergrund, durch das Globalisierung einerseits als „compression of the world“ und andererseits als „intensification of the world as a whole“ (Robertson 1992: 8) beschrieben wird. Appadurai (1996: 23) hat für diese neuartigen Formen des Sozialen herausgearbeitet, dass das Lokale und das Globale in einem eng miteinander verzahnten Wechselverhältnis stehen: Das Lokale existiert nicht isoliert von globalen Erfahrungen, es ist immer schon von Vorstellungen, Ideen und Gegebenheiten durchdrungen, die anderswo herkommen und durch Massenmedien und das Internet transportiert werden. Dies hat sowohl für die Bildung von Gemeinschaften sowie für die Entwicklung von individuellen Biographien Folgen, denn diese sozialen Beziehungen können nicht mehr ausschließlich durch Face-toFace-Beziehungen, durch physische Nähe und Formen der Alltäglichkeit im Hier und Jetzt definiert werden. Stattdessen sind raumübergreifende Bezie-
Globalisierung – Ende des Raums?
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hungsformen entstanden, die durch vielfältige Varianten transnationaler Vernetzungen und Allianzen neue, häufig medial gestützte Netzwerke entwickeln, die physische Mobilität in Form transnationaler Migrationen ebenso umfassen wie imaginierte grenzüberschreitende Gemeinschaften19 (Appadurai 1996): „There is a peculiar new force to the imagination on social life today. More persons in more parts of the world consider a wider set of possible lives than they ever did before” (ebd: 53). Bei diesen neuartigen sozialen Phänomenen handelt es sich um „translokale Praktiken“ (Hörning und Reuter 2004: 248), die als „Seismographen“ für die Herausbildung neuer Sozialräume zwischen „Hier“ und „Dort“ verortet werden. Hannerz (1996: 178) hat die globale Herausbildung von translokalen Praktiken durch Migrationen sowie durch technisch unterstützte Vernetzungen ähnlich wie Beck als „neuen Kosmopolitismus“ beschrieben, der sowohl mit als auch ohne physische Mobilität in transnationalen Räumen durch die Medien und das Internet ermöglicht wird. Das Internet ist für die Entwicklung dieser Globalisierungsdiskussionen ein zentraler Referenzbereich. Metaphern wie die der „Datenautobahn“ oder des „Global Village“20 verweisen darauf, dass das Internet selbst einen Raum darstellt, in dessen Konstruktion traditionelle Raumvorstellungen in die neuen Erfahrungen von Raum einfließen (Löw 2001: 95). Die Perspektive auf weltweite elektronische Vernetzungen in Verbindung mit der abnehmenden Bedeutung nationalstaatlich gebundener Organisationsformen bilden auch den Ausgangspunkt für die Theorie der Netzwerkgesellschaft von Castells (2002, 2003). Darin wird die Verflechtung von neuen Technologien, Global Cities und transnationalen Lebensstilen als bewegter, fluider Raum („space of flows“) beschrieben. Castells entwickelt hier ein Gesellschaftsmodell, das drei Schichten räumlicher Organisation erfasst: 1. Netzwerke der Wechselwirkung (Castells 2002: 127), die durch neue Informationstechnologien erzeugt werden; 2. Knotenpunkte der Netzwerke21 sowie periphere Orte, die von dem „space of flows“ weitgehend exkludiert sind (Castells 1994: 127) und 3. neue Lebensstile, durch die der 19
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Hier handelt es sich um eine Erweiterung des territorial entwickelten Begriffs der „Imagined Community“ von Anderson (1998), der die Konstruktion von nationaler Identität durch Kommunikationsmittel unter dem Stichwort des „Print Capitalism“ untersucht hat. Dass die „Globalisierung in den Köpfen“ nicht erst mit der Verbreitung des Internets eingesetzt hat, lässt sich am Beispiel des „Global-Village”-Konzepts von McLuhan zeigen, mit dem bereits in den 1960er Jahren auf das Verschwinden von Distanzen und Entfernungen durch elektronische Medien aufmerksam gemacht wurde. Durch die Medien, so Mc Luhan und Powers (1992), wirkten Ereignisse, die sich auf der anderen Hälfte des Erdballs abspielen, als passierten sie in unmittelbarer Nachbarschaft. Diese Zentren der Globalisierung hat Saskia Sassen mit ihrem Modell der Global Cities beschrieben (2001).
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
„space of flows“ organisiert wird, der sich durch transnationale Migrationen sowie durch die Nutzung des Internets als globales Medium konstituiert. Mit dem Internet entstehen neue Möglichkeitsräume, die eine Ressource darstellen, um globalisierte Konstruktionen der Welt sowie des Selbst in der Welt zu fabrizieren (Appadurai 1996: 3). Mit einer solchen Perspektive können transnationale Räume, die durch das Internet erzeugt werden, als Resultate von sozialen Praktiken verstanden werden. Damit bewirkt das Internet einen umfassenden Wandel des Raumverständnisses und Raum kann als eine Konstruktion verstanden werden, die durch soziale Praktiken erzeugt wird und keine festen Grenzen besitzt. Die in diesen Konzepten entwickelte radikale Vorstellung räumlicher Entgrenzung von Gesellschaft ist jedoch nicht unproblematisch, denn bei den etwas ominösen „spaces of flow“ handelt es sich um ein theoretisches Konstrukt, das die grundlegende Tatsache ignoriert, dass die Lebensführung von Menschen, ganz unabhängig davon, ob sie sesshaft oder transnational mobil sind, ob sie das Internet nutzen oder nicht, immer ganz konkret an bestimmten Orten stattfindet, von denen ihre Lebensführung nicht losgelöst ist. So interessant die Ausleuchtung der globalen Bedeutung des Internets durch diesen Strang der Globalisierungstheorien ist, für die Implikationen, die aus dem Auftauchen dieses neuen Mediums für die Konstruktion von Welt geschlossen werden, erscheint das Postulat vom Ende des Raums für die Organisation sozialer Beziehung voreilig.22 Es ist aber festzuhalten, dass mit dem Internet eine neuartige soziale Dimension des Raums entsteht und es ist zu prüfen, unter welchen Bedingungen lokale Verortungen der Nutzerinnen und Nutzer relevant sind und wann sie an Bedeutung verlieren. Interessant ist, dass sich in der Diskussion über die sozialen Effekte von Globalisierung die Einschätzungen darüber, ob es sich um ein skeptisch zu betrachtendes oder ein zu begrüßendes soziales Phänomen handelt, sehr stark polarisieren. Während Giddens vor der Gefahr der Zerstörung von sozialen Beziehungen warnt, wird auf der anderen Seite die Erosion des Raum gefeiert und als eine neuartige gesellschaftliche Strömung beschrieben, der eine (wie auch immer geartete) Subversivität unterstellt wird. Diese Entdeckungen über die Neustrukturierung des Sozialen in einer globaliserten Welt sind allerdings weitgehend losgelöst von empirisch gehaltvollen Beobachtungen. Bei allen Unterschieden, die zwischen den „spaces of flow“, der Luhmann’schen Weltgesellschaft und den kosmopolitischen Welten von Beck und Hannerz liegen, sind die globalisierten Räume, die in diesen Modellen beschrieben werden, seltsam 22
Der Zusammenhang von Virtualität und Raum wird im Kapitel 4 am empirischen Beispiel des vifu-Netzwerks diskutiert.
Transnationalisierung: Globalisierung „von unten“
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menschenleer. In diesen Konzepten interessiert die konkrete Ausgestaltung des Sozialen in einer globalisierten Welt nur am Rande. Sei es der idealtypische Kosmopolitismus als politisches Programm und soziologisches Forschungsparadigma, der Beck vorschwebt oder die Grenzenlosigkeit der Welt in den „spaces of flow“, in der letztlich alles Soziale verschwimmt, oder auch die funktional differenzierte Weltgesellschaft, die sich durch abstrakte Kommunikation und Funktionssysteme ohne Menschen konstituiert – die konkrete Gestaltung des Sozialen in Räumen, die quer zu nationalstaatlichen Anordnungen organisiert sind, interessiert in diesen Konzepten eher am Rande. Für eine Verbindung von empirischen Befunden und daraus abgeleiteten theoretischen Überlegungen sind die neueren Diskussionen der Transnationalisierungsforschung aufschlussreich.
2.5
Transnationalisierung: Globalisierung „von unten“
An den Konzepten der Globalisierung und der Weltgesellschaft ist zu kritisieren, dass hier weitgehend auf die Berücksichtigung von Akteuren verzichtet wurde. Globalisierung erscheint unter diesen Vorzeichen als ein Prozess, der sich ohne die aktive Beteiligung von sozial agierenden Menschen vollzieht. Der Transnationalisierungsansatz begegnet diesem perspektivischen Vakuum, indem der Alltag und die Lebenswelten von Individuen in den Blick gerückt werden, die durch ihr Handeln selbst transnationale Zusammenhänge herstellen. Mit dieser Fokussierung einer „Transnationalisierung von unten“ eröffnet sich eine akteurs- und subjektzentrierte Perspektive auf Prozesse der Transnationalisierung (Guarnizo und Smith 1998; Pries 1999a, 2002). Damit macht es sich die soziologische Transnationalisierungsforschung zur Aufgabe, die sozialen Beziehungen von Menschen, die ihr Leben an unterschiedlichen Orten in mehreren Staaten organisieren, zu erfassen. Akteurszentrierte Transnationalisierungsperspektiven wurden zunächst in anthropologischen Studien entwickelt (Glick Schiller et al.1992; Basch et al. 1997) und später von der Soziologie sowie in unterschiedlichen Varianten auch von anderen Geistes- und Sozialwissenschaften aufgenommen. Der Ausgangspunkt des Transnationalisierungsansatzes ist die qualitative soziale Transformation, „bei der sich Lebenspraxis und die Lebensprojekte der ‚Transmigranten’, also ihre sozialen Räume, zwischen verschiedenen Wohnorten und geographischen Räumen aufspannen“ (Pries 1999: 16). Die aus diesen sozialen Konstellationen entstehenden transnationalen Sozialräume können als Raumanordnungen betrachtet werden, die „relativ dauerhafte, auf mehrere Orte verteilte bzw. zwischen mehreren Flächenräumen sich aufspannende verdichtete
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
Konfigurationen von sozialen Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten [sind]. Sie sind weder de-lokalisiert noch de-territorialisiert. Vielmehr sind sie in verschiedenen Territorien bzw. locales verankert, die wiederum in anderen sozialräumlichen Einheiten – z.B. von nationalen Container-Gesellschaften – eingewoben sind“ (Pries 2008: 195, Hervorhebung im Original). Pries betont hier, dass eine neue Perspektive auf die Konstitution von sozialen Räumen entwickelt wird. Diese hebt jedoch im Unterschied zu Globalisierungstheorien die Ambivalenz sozialräumlicher Konstellationen hervor, die sich mit De-Lokalisierungsprozessen verbinden. Die transnationale Migrationsforschung interessiert sich auch für die Lokalisierung von Migranten an ihren – häufig nur temporären – Zielen und den Orten ihrer Herkunft sowie für die sozialen Räume, die sich zwischen diesen Stationen aufspannen. Damit vollzieht die Transnationalisierungsforschung einen Balanceakt zwischen der Relativierung und der Betonung der Gebundenheit an den Flächenraum. Transnationale Prozesse werden einerseits als ortsgebunden und „verwurzelt“ betrachtet, andererseits sind sie in Bewegung und verlaufen über die Grenzen von einem oder mehreren Nationalstaaten hinweg (vergl. Pries 2008: 111f). Robertson (1997) hat im Ansatz der Glokalisierung, der die Ambivalenz von globalen und lokalen Handlungen fokussiert, ein ähnliches Raumverständnis entwickelt wie es im Konzept der Transnationalisierung entfaltet wird. Im Unterschied zu den Ansätzen, die im Kontext der Globalisierungstheorien vertreten werden, betont Pries (2008: 109) völlig zu Recht auch die Bedeutung von Nationalstaaten, die in der Fokussierung von „De-Territorialisierung“ und „spaces of flow“ vernachlässigt wird. Pries (2008: 27) unterstreicht die weiterhin gültige Relevanz von Nationalstaaten als politische und rechtliche Interaktionsrahmen. „Nationalstaaten haben also als ‚Rahmensetzer’ für internationale Bewegungen von Kapital, Gütern, Menschen und Informationen und häufig auch als korporative Akteure in diesem Internationalisierungsprozess eine enorme Bedeutung.“ (Pries 2008: 27) Transnationale Mobilität und ein flexibilisierter Umgang mit Raum ist häufig begründet durch veränderte Bedingungen des Erwerbslebens und bringt neue Formen der Gestaltung der sozialen Bindungen sowie von Familien- und Partnerschaftsformen mit sich. Nowicka (2006) weist darauf hin, dass hier Anwesenheit und Abwesenheit in ein neues Verhältnis treten, durch das soziale Beziehungen in transnationalen Mobilitätsprozessen transformiert werden. Mau (2007: 130) betont, dass transnationale Lebensformen jedoch nicht nur als reaktive Handlungen im Kontext globalisierter Arbeitsmärkte zu betrachten sind, vielmehr zeigt sich „bei den neuen Wanderungsgruppen eine Erweiterung des kognitiven Horizontes, entweder durch vorgängige private Auslandserfahrungen, Erzählungen von Kollegen, eine bessere Informationslage, durch welche
Transnationalisierung: Globalisierung „von unten“
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die Arbeit im Ausland in den Bereich des Möglichen und Denkbaren rückt und in vielen Fällen dann letztlich realisiert wird.“ (Mau 2007: 130) Transnationale Lebensformen setzen damit sowohl die Bereitschaft zur Mobilität als auch die Fähigkeit und die Ressourcen voraus, Mobilität auch tatsächlich zu realisieren. Transnational mobile Akteure sind damit mit einer gestiegenen Komplexität ihrer sozialen Beziehungen konfrontiert, die zugleich anspruchsvoller, aber auch prekärer werden. Die tendenzielle Lockerung der Bindungen an Orte, Menschen und Dinge birgt damit auch ein erhöhtes Risiko. Solche „riskanten Freiheiten“, wie sie Beck (1986) und Beck und Beck-Gernsheim (1984) beschreiben, sind für Menschen, die ihr Leben transnational organisieren, besonders relevant. Prozesse der Individualisierung gewinnen in transnationalen Biographien eine eigene Dynamik und können als Zuspitzungen von individueller Flexibilisierung betrachtet werden.23 Transnationale Sozialräume sind auf der lebensweltlichen Ebene mit dynamischen Prozessen der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung zwischen unterschiedlichen nationalstaatlichen Flächenräumen verbunden, die unter Stichworten wie Hybridität, Transkulturalität, Nomadismus, Patchworkidentität oder Melange und ähnlichen Begriffen diskutiert werden und darauf verweisen, dass sich Identitätsbildungsprozesse von transnational Mobilen in sozialen Zwischenräumen an mehreren Orten in unterschiedlichen Nationalstaaten vollziehen.24 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle transnational Mobilen ihre flexibilisierte Lebensführung freiwillig wählen. Transnationale Migration kann auch als Zerstörung vorhandener lokal basierter sozialer Beziehungen erlebt werden. Dies gilt auch für transnational mobile Hochqualifizierte und Intellektuelle, die nicht per se idealisierenden Labels wie denen der „Nomaden, Vagabunden und Flaneure“25 entsprechen. Das Bild der hochmobilen „Heldenfigur der Postmoderne“ (Schroer 2006a: 116) existiert eher in theoretischen Entwürfen über die Form des nomadischen Daseins als in der Konkretion lebensweltlicher Realitäten. Die eine Seite ist die Sicht auf Mobilität als Befreiungsakt, der mit Beweglichkeit, Dynamik, Vitalität gleichgesetzt ist. Die andere Seite, die jedoch häufig übersehen wird, beinhaltet, dass durch den Imperativ der Mobilität auch neue soziale Zwänge entstehen. „Die mobile Gesellschaft konstituiert eigene Gesetze von Einschluss und Ausschluss, Inklusion und Exklusion. Wer nicht ausgeschlossen werden will, muss mobil sein oder doch zumindest Mobilität inszenieren können. Längst hat sich eine Ordnung herauskristallisiert, in der sich die Bewertung 23 24 25
Der Zusammenhang von Biographie und transnationaler Migration wird in Kapitel 7 ausführlich diskutiert. Diese Konzepte, die sehr häufig von einem rhetorischen Hauch der Subversion umweht sind, werden im Kapitel 5.1 „Die Grenzen der Hybridität“ näher betracht und diskutiert. So der Titel eines von Gebhard und Hitzler (2006) herausgegebenen Bandes.
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
von Sesshaftigkeit und Nichtsesshaftigkeit nahezu umgedreht zu haben scheint. War einst der Wanderer derjenige, der den Argwohn der Sesshaften auf sich zog, weil er als ebenso unstet wie unzuverlässig galt, so macht sich heute verdächtig, wer nicht dauernd unterwegs ist.“ (Schroer 2006a: 118) Insgesamt kann ein Trend verzeichnet werden, in dem transnationale Handlungs- und Lebensstile nicht nur selbstverständlich werden (Mau 2007: 56), sondern auch als erstrebenswertes Ziel gelten (Ong 2005). In der Wissenschaft besteht eine intensive Wechselwirkung zwischen der akademischen Wertschätzung von internationalen Erfahrungen, die Bereitstellung von Förder- und Austauschprogrammen und individuellen Mobilitätsentscheidungen. Unabhängig davon, ob transnationale Mobilität eine selbst bestimmt gewählte oder eine durch ökonomische Notwendigkeit oder Fluchtmigration erzwungene Lebensform ist, entstehen neue Formen und Konstruktionen von Identität und Subjektbildung. Es ist deshalb geboten, transnationale Formen situierter kultureller Praxis (Ong 2005) und Merkmale eines „transnationalen Habitus“, den Guarnizo (1997) unter Bezug auf Bourdieu beschreibt, empirisch weiter auszuleuchten. Eine zentrale Perspektive des Transnationalisierungsansatzes fokussiert nicht nur die Wanderung von Subjekten, sondern betont auch die Netzwerkstrukturen, die durch Migrationen entstehen (so z.B. Basch, Glick Schiller et al. 1999; Goldring 1996; Portes, Guarnizo et al. 1999; Faist 2001). Insbesondere nimmt die Transnationalisierungsforschung die Verbindungen und sozialen Strukturen in den Blick, die sich zwischen den Wanderungsregionen ergeben. Diese Netzwerke verfügen über einen mindestens doppelten Raumbezug, der sowohl auf den Ort des Aufenthalts als auch auf den Herkunftskontext gerichtet ist. Dabei hat sich gezeigt, dass Migrationsentscheidungen und -verläufe individuell sind, jedoch besitzen soziale Beziehungen innerhalb dieser Migrationsprozesse eine hohe Bedeutung (Mau 2007: 45). Insbesondere Faist (2000a) hat darauf verwiesen, welche Relevanz informelle Hilfesysteme für Migrationsprozesse besitzen. Die Konstitution dieser informellen Netzwerke wurde dort auch als ‚erweiterte Familienbeziehungen’ beschrieben. Aber auch die Bedeutung von stärker formalisierten Netzwerkstrukturen, die sich in den Bereichen der Vereinsbildung, der politischen Interessenvertretung und des sozialen und kulturellen Austausches bewegen, ist nicht zu unterschätzen. Diese Vernetzungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur für das Knüpfen sozialer Kontakte relevant und gewinnbringend sind, sondern sie bilden zugleich transnationale Sozialräume, in denen auch soziale und identitätsbezogene Bedürfnisse erfüllt werden (Mau 2007: 45). Pries (1996) hebt die Bedeutung der ökonomischen Zirkulation hervor und zeigt auf, dass inzwischen zahlreiche mexikanische Gemeinden überwiegend von transnationalen Geldtransfers von Gemeindemitgliedern, die in die USA migriert sind, ökonomisch überleben. Soziale Netzwerke
Transnationalisierung: Globalisierung „von unten“
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sind in diesem Zusammenhang eine zentrale Forschungsperspektive, da sie eine wichtige Rolle in der sozialen Integration, der wechselseitigen Unterstützung, der Handlungskoordination, der sozialen Kontrolle und der Erzeugung von Vertrauens- und Reziprozitätsnormen besitzen. Hier ist hervorzuheben, dass Face-to-Face-Kontakte für die Bildung von sozialen Netzwerkstrukturen eine besonders hohe Bedeutung besitzen (vergl. Mau 2007: 93). Der Forschungsansatz der Transnationalisierung fokussiert aus einer handlungs- und akteurszentrierten Perspektive soziale Prozesse und das Entstehen transnationaler sozialer Formationen und Sozialräume. Dabei werden alltagsweltliche Beziehungen und grenzüberschreitende Interaktionen von Subjekten und Gruppen sowie Organisationen und transnationale Institutionen betrachtet (Pries 2008: 166). Das Forschungsinteresse, das in diesem Konzept verfolgt wird, gilt in Bezug auf individuelle Handlungen ausschließlich Migrationsprozessen. Diese Perspektive auf Globalisierungsprozesse „von unten“ übersieht jedoch, dass nicht nur die Akteure, die selbst durch physische Mobilität in Bewegung geraten, in Prozesse der Transnationalisierung eingebunden sind. Auch in der Beschaffenheit sozialer Strukturen ist eine Transnationalisierung zu beobachten. Eine Perspektive auf transnationale Lebensformen ist also nicht darauf zu reduzieren, ausschließlich die Auswirkungen individueller physischer Mobilität zu betrachten. In Hinblick auf Transnationalisierungsprozesse in der Wissenschaft, die sich gegenwärtig als Folge der Internationalisierung der Hochschulen vollziehen und sich in der steigenden weltweiten Mobilität von Studierenden, Forschenden und Lehrenden dokumentieren, sind auch Perspektiven auf Meso-Ebenen der Transnationalisierung innerhalb der Wissenschaftsorganisation sowie für die veränderten transnationalen Bedingungen der Wissenschaftskommunikation zu berücksichtigen. Hier sind die Veränderung sozialer Strukturen durch die Kommunikations- und Vernetzungsoptionen, die das Internet bietet und in denen die Möglichkeit kommunikativer Anwesenheit an allen Orten der Welt besteht, in empirische Analysen einzubeziehen. In diesem Zusammenhang ist zu untersuchen, welche Bedeutung in derart organisierten transnationalen Räumen die konkreten Orte spielen, die die Ausgangspunkte für elektronische Formen transnationaler Beziehungen bilden. Es stellt sich die Frage, was derartige transnationale soziale Interaktionen für die Konstruktion von individuellen und Gruppenidentitäten bedeuten. Und was folgt daraus für Bildungsprozesse, die transnational organisiert sind? Die Hochschulforschung hat die innerinstitutionellen Folgen der Internationalisierung bislang auffällig vernachlässigt und es ist die Frauge danach zu stellen, welche Konsequenzen und welche Perspektiven sich für die Organisation von transnationalisierten Bildungsprozessen ergeben. Während
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Neuvermessungen des Sozialen – Transnationale Räume
die Modelle der Globalisierung und der Weltgesellschaft den Blick für neuartige soziale Konfigurationen im Raum theoretisch eröffnet haben, bietet der Ansatz der Transnationalisierung einen Ausgangspunkt für empirische Untersuchungen, die zu einer Neuvermessung des Sozialen beitragen können. Dabei sind sowohl Transnationalisierungsprozesse „von unten“ als auch Globalisierung und Internationalisierung sozialer Strukturen „von oben“ auf der Meso-Ebene der Organisationen und auch auf der Ebene weniger institutionalisierter transnationaler Vernetzungen einzubeziehen, um die transnationalen Dimensionen der sozialen Organisation von Wissenschaft neu zu vermessen. Dies soll im Folgenden für einen Ausschnitt einer sich transnationalisierenden Kartographie der Wissenschaft gezeigt werden, in der neuartige transnationale Konfigurationen entstehen, die durch die Internationalisierung der Hochschulen in Gang gesetzt worden sind. Mit Pries (2008: 131) ist zu betonen, dass „das Lokale, das Mikroregionale, das Nationale, das Makroregionale und das Globale“ in der Entwicklung von transnationalen Perspektiven analytisch miteinander zu kombinieren sind. Im folgenden Abschnitt werden Transnationalisierungsprozesse auf der Meso-Ebene einer Organisation am Beispiel der innerinstitutionelle Entwicklung eines transnationalen Lehr-/Lern-Settings genauer betrachtet. Anschließend wird die Konfiguration eines transnationalen virtuellen Kommunikations- und Sozialraums am Beispiel eines weltweiten Wissenschaftlerinnennetzwerks analysiert. Hier wird insbesondere das Verhältnis von deterritorialisierter Organisationsform des virtuellen Netzwerks vifu und lokal basierten Positionen der Beteiligten betrachtet. Und schließlich werden transnationale Wissenschaftsräume auf der Ebene der Biographien von transnational mobilen Nachwuchswissenschaftlerinnen als Konfigurationen transnationaler Bildungsräume „von unten“ in biographischen Fallstudien exploriert.
3
Transnationale Bildungsräume
Im Folgenden wird an die Diskussion über ‚transnationale Bildungsräume’ (Gogolin und Pries 2004; Fürstenau 2004; Lutz 2004; Adick 2005) angeknüpft, die eine neue Sicht auf die Transnationalisierung von Lehr-/Lernstrukturen ermöglicht. Ausgehend von der Diskussion transnationaler Bildungsbiographien als Mikro-Ebene transnationaler Bildungsräume (Gogolin und Pries 2004; Fürstenau 2004) sowie der organisationalen Makro-Ebene transnationaler Bildungsräume, wie sie in der Hochschulforschung sowie im Kontext des NeoInstitutionalismus empirisch beschrieben worden sind, wird ergänzend eine Perspektive auf eine innerinstitutionelle Meso-Ebene transnationaler Bildungsräume entwickelt. Am Beispiel der Internationalen Frauenuniversität ifu werden die Implikationen diskutiert, die aus einem transnationalen Hochschulsetting resultierten, an dem sich Wissenschaftlerinnen aus aller Welt beteiligten. Die ifu stellte ein multidimensionales Hochschulexperiment dar, das hier insbesondere in Hinblick auf die Transnationalisierung von Bildung anhand der exemplarischen Analyse eines Lehr-/Lernsettings in den Blick genommen wird. Dabei werden am Beispiel eines Studienbereichs der ifu interkulturelle Kommunikations- und Kooperationsformen sowie die Gestaltung eines transnationalen Lehr-Lernsettings und eines global ausgerichteten Curriculums vorgestellt und als Elemente innerinstitutioneller Entwicklung transnationaler Bildungsräume diskutiert.
3.1
Ein multidimensionales Hochschulexperiment
Die Internationale Frauenuniversität „Technik und Kultur“ (ifu) war ein temporäres Hochschulprojekt und fand für drei Monate im Sommersemester 2000 statt. Die ifu wurde als experimentelles globales Hochschulreformvorhaben konzipiert und bot für Nachwuchswissenschaftlerinnen aus 105 Ländern ein postgraduales Studienangebot in sechs interdisziplinär gestalteten Projektbereichen. Die Themen dieser Studien- und Forschungsschwerpunkte wurden sowohl interdisziplinär als auch unter Berücksichtigung transnationaler Perspektiven bearbeitet. Die Studienbereiche der ifu fanden zu den Themenschwerpunkten
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Transnationale Bildungsräume
„Arbeit“, „Information“, „Körper“, „Migration“, „Stadt“ sowie „Wasser“ statt und wurden in englischer Sprache durchgeführt. Die ifu unterschied sich nicht nur durch den interdisziplinären und internationalen Zuschnitt des Lehr- und Forschungsangebots von anderen Hochschulen in Deutschland, sondern auch durch ein außergewöhnliches transnationales Setting, das sich mit Dozentinnen und postgraduierten Nachwuchswissenschaftlerinnen als „Studentinnen“26 aus 105 Ländern aus allen Kontinenten konstituierte. Da es sich bei der ifu um ein einmaliges und zeitlich begrenztes Projekt handelte, liegt der Vergleich mit einer temporären Graduate School nahe – eine solche fand hier allerdings im Großmaßstab statt. Unter den ifu-Teilnehmerinnen befand sich neben graduierten und zum Teil bereits promovierten Nachwuchswissenschaftlerinnen ein hoher Anteil von akademisch gebildeten und gesellschaftspolitisch engagierten Mitarbeiterinnen aus Nicht-Regierungsorganisationen (NGO’s). Die ifu wurde deshalb auch mit feministischen Großereignissen wie den Weltfrauenkonferenzen verglichen und als eine Mischform aus einer reformorientierten Hochschuleinrichtung und einem internationalen genderpolitischen Forum beschrieben (Metz-Göckel 2002a: 52). Die initiierenden Wissenschaftlerinnen der Internationalen Frauenuniversität kamen sowohl aus den Bereichen der Hochschulforschung als auch aus der Genderforschung, viele von ihnen mit einer explizit transnationalen Orientierung. Sie verfolgten mit der ifu einen „maximalistischen Ansatz“ (Teichler 2002), mit dem eine Fülle von Reformaspekten innerhalb des temporären Projekts erprobt und umgesetzt werden sollte. Das Lehr- und Forschungsprogramm der ifu verfügte mit den Leitlinien „Internationalität – Interdisziplinarität – Gendersensibilität – Theorie-Praxis-Verbindung und Dialog mit der Kunst“ über eine hohe Komplexität. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die allgemeinen Strukturen der Frauenuniversität gegeben werden, um dann Prozesse innerinstitutioneller Transnationalisierung, die im Rahmen des Projekts entfaltet wurden, in den Blick zu nehmen. Hier soll deshalb der Charakter der ifu als feministisches Wissenschaftsprojekt und die damit verbundenen Implikationen für die Herstellung von mehr Geschlechtergerechtigkeit in den Hochschulen
26
Da es sich bei diesem Kreis in erster Linie um Nachwuchswissenschaftlerinnen handelte, wird die Bezeichnung „Studentinnen“ hier durch den Begriff „Teilnehmerinnen“ als Synonym für den Personenkreis verwendet, der formal als „Studentinnen“ zum ifu-Studium zugelassen wurde. Diese Akzentuierung folgt den kritischen Diskussionen unter den an der ifu beteiligten Nachwuchswissenschaftlerinnen, die sich als „Teilnehmerinnen“ bezeichneten.
Ein multidimensionales Hochschulexperiment
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nicht ins Zentrum der Diskussion gestellt werden.27 Im Selbstverständnis der ifu war das Projekt seit der Entstehungsphase auf folgende Zielsetzungen angelegt: Die ifu wollte Beiträge zur Hochschulreform (bei der Internationalisierung handelte es sich um einen Teilaspekt), zur Wissenschaftskritik und zur Frauenförderung leisten (Metz-Göckel 2002b: 14). Dazu wurde eine Fülle von neuartigen Ansätzen der Hochschulgestaltung wie ein dienstleistungsorientiertes „Service Center“ (Bülow-Schramm 2002; Bülow-Schramm und Schindler 2002; Bradatsch 2002b, Pusz 2002) entworfen sowie neuere Ansätze der Organisationsentwicklung erprobt (Neusel 2000; Bülow-Schramm 2002; Müskens und Hanft 2002; Klitzing 2000). Zusätzlich wurde der Dialog zwischen Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit gefördert (Knaup 2002) sowie ein Konzept für eine nutzerinnenorientierte, partizipative und interaktive globale virtuelle Plattform umgesetzt (Kreutzner, Schelhowe und Schelkle 2002; Kreutzner und Schelhowe 2002). Die ifu stellt eine relativ kleine und zeitlich begrenzte universitäre Arena dar, die eine Fülle von Reformimpulsen aufgegriffen hat. Zugleich kann die ifu als erstes globales Hochschulprojekt betrachtet werden, das im deutschen Kontext initiiert wurde. Für die noch relativ neue Diskussion transnationaler Bildung besitzen die bei der ifu entwickelten Ansätze in mehrfacher Hinsicht Relevanz. Im Folgenden wird insbesondere ein Ausblick auf die Entwicklung einer innerinstitutionellen Meso-Ebene transnationaler Bildungsräume gegeben.
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Für eine elaboriertere Diskussion der Internationalen Frauenuniversität als monoedukative Hochschule vergl. die Ergebnisse der ifu-Evaluation (Metz-Göckel et al. 2002a: 369-377; Metz-Göckel 2002b) sowie die gendertheoretische Debatte zur Implementation von monoedukativen Studiengängen und Hochschulen im Vorfeld der ifu (Metz-Göckel und Steck 1997; Metz-Göckel, Schmalzhaf-Larsen und Belinszki 2000; Teubner 1997; Wetterer 1996 und Neusel 2000a). Der zeitweilige Ausstieg aus dem zweigeschlechtlichen Arrangement sollte dazu führen, dass gender-basierte Typisierungsprozesse ihre Plausibilität verlieren und den wechselseitigen wie auch selbst gewählten Verortungen und Abgrenzungen im Kontext der Kategorie Gender zumindest zeitweilig ihre Macht entziehen (Teubner 1997). Die Geschlechterseparierung bildete eine organisatorische Rahmenbedingung der ifu, die mit dem Ansatz, die Genderperspektive als eines der Leitprinzipien in Lehre und Forschung zu implementieren, eng verwoben war. Das monoedukative Arrangement sollte im Wesentlichen zwei soziale Effekte hervorrufen: 1. die Implementierung von weiblichen Vorbildern in allen Rollen und Funktionen innerhalb einer Hochschule, und damit 2. das Zurücktreten des Geschlechts gegenüber anderen sozialen Differenzierungen. Mit einer konstruktivistischen Terminologie kann die ifu als ein Projekt des „Undoing Gender“ (Lorber 1999), als ein „institutionelles Paradoxon“ (MetzGöckel 2000a: 134) beschrieben werden, in dem Gender einerseits ein offensives Selektionskriterium war, um Genderdifferenzen andererseits in ihrer sozialen Wirksamkeit im Kontext dieses spezifischen Hochschulsettings außer Kraft zu setzen.
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3.2
Transnationale Bildungsräume
Die Transnationalisierung von Bildungsräumen
Sowohl der Begriff des „transnationalen Raums“ (Pries 2001, 1997) oder auch des dicht daran anschließenden Konzepts „transstaatlicher Räume“ (Faist 2000a, 2000b) bieten für eine Reflexion der Internationalen Frauenuniversität einen theoretischen Bezugspunkt, der nicht im Kontext der Hochschul- und Bildungsforschung entstanden ist, sondern zunächst in der anthropologischen Migrationsforschung entwickelt wurde (Glick Schiller, Basch und Blanc-Szanton 1997). Daran anschließend wurde eine Perspektive auf „transnationale Bildungsräume“ vorgeschlagen (Gogolin und Pries 2004). Das Transnationalisierungskonzept entwickelte sich aus einer Kritik an einem in Hinblick auf nationalstaatliche Territorien begrenzten Verständnis von Migration. Die Besonderheit neuerer Migrationstheorien besteht darin, dass Perspektiven in den Blick rücken, die quer zu nationalstaatlichen Praktiken und Organisationsformen liegen und nationalstaatliche Begrenzungen überschreiten (vergl. Kap. 2). Diese bieten für die Diskussion von Transnationalisierungsprozessen in der Bildung einen theoretischen Kontext, das bislang mit ersten empirischen Arbeiten mit Bezug auf die Diskussion der Schul- und beruflichen Ausbildung (Fürstenau 2004) insbesondere für die Erschließung der Mikro-Ebene individueller transnationaler Bildungsbiographien genutzt wurde. Das Konzept des transnationalen Bildungsraums stellt eine Verbindung zwischen Ansätzen der neueren Migrationsforschung und den interkulturellen und vergleichenden Erziehungswissenschaften her. Dieser Ansatz wurde von Adick (2005) aufgegriffen und weiterentwickelt, indem sie die Diskussion der Mikro-Ebene individueller Transnationalisierung von Bildungsbiographien durch eine Makroperspektive auf die Transnationalisierung von Bildungsorganisationen ergänzt und bislang unverbunden nebeneinander stehende Stränge der Diskussion zur Internationalisierung und Transnationalisierung von Bildung zusammen gedacht hat. Dabei werden neo-institutionalistische Ansätze und Erkenntnisse der Transnationalisierungsforschung im Kontext der Hochschulen sowie Perspektiven der Bildungs- und Erziehungswissenschaften und der neueren Migrationsforschung verbunden, die einerseits die Transnationalisierung von Hochschulen als Organisationen (Lanzendorf und Teichler 2003) und andererseits Prozesse transnationaler Sozialisation (Gogolin und Pries 2004; Fürstenau 2004) beobachten. Adick erkennt in beiden Phänomenen transnationale Bildungsräume, wobei sie die Gestaltung von Bildungsorganisationen als „Transnationalisierung von oben“ von Formen der Bildungssozialisation als „Transnationalisierung von unten“ unterscheidet. Diese Prozesse konvergieren mit transnationalen Isomorphien, wie sie im Forschungskontext des Neo-Insti-
Die Transnationalisierung von Bildungsräumen
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tutionalismus (Hasse und Krücken 1999; Wobbe 2000; Meyer 20005) beschrieben worden sind. Adicks Typologisierung transnationaler Bildungsräume ermöglicht einerseits die Analyse von Mikrostrukturen auf der Ebene transnational sozialisierter Individuen und andererseits der Makrostrukturen auf einer breiter aufgefächerten Ebene der transnationalen Organisation von Bildungsinstitutionen. Sie unterscheidet auf der Makro-Ebene transnationaler Bildungsräume drei Typen: 1. „transnational educational advocacy programs“ wie sie beispielsweise in interund transnationalen NGO’s im Bildungssektor zu finden sind, 2. „transnational education“, die außerhalb spezifischer Bildungssysteme steht und eigene Bildungssysteme formiert wie z.B. der European Council of International Schools oder korporative Institutionen wie die Daimler-Benz-Corporate University und 3. transnational operierende Bildungsunternehmen wie beispielsweise die Jones International University Ltd. oder die German University in Cairo. Die ifu ist ein Beispiel für die Transnationalisierung von Bildungsräumen sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makro-Ebene. Auf der Mikro-Ebene zeigte sich, dass die Teilnehmerinnen und Dozentinnen über ein ausgeprägtes transnationales Mobilitätsverhalten verfügten. Dies betraf ihre Bildungsprozesse ebenso wie die Entwicklung ihrer weiteren wissenschaftlichen Karrieren.28 Auf der Makro-Ebene der Organisationsstruktur kann die ifu der von Adick vorgeschlagenen Typologie nicht eindeutig zugeordnet werden. Die Organisationsstruktur weist durch ihre inhaltliche Ausrichtung und die Einbeziehung von akademisch gebildeten NGO-Aktivistinnen zwar Elemente von „transnational educational advocacy programs“ auf; jedoch sind vor allem Makro-Strukturen zu verorten, die ein eigenwilliges, zeitlich begrenztes monoedukatives und global ausgrichtetetes Hochschulbildungsprogramm formiert hat. Die rechtliche Form der Internationalen Frauenuniversität charakterisiert die ifu als eine innerhalb der internationalen Hochschullandschaft singuläre Konstruktion. Ihre Organisationsform in Gestalt einer gGmbH ist in Hinblick auf die Finanzierung eher vergleichbar mit zum Teil oder vollständig privatwirtschaftlich organisierten Neuschöpfungen transnationaler Hochschulen, wobei die Finanzierung der ifu jedoch überwiegend aus Bundes- und Ländermitteln bestritten wurde.29 28 29
Vergl. die neuere Forschung zur transnationalen Lebensführung von Hochqualifizierten z.B: Kreutzer und Roth (2006); Nowicka (2006); Bauschke-Urban (2008). Die Gesellschafter der ifu gGmbH waren das Land Niedersachsen sowie der Verein Internationale Frauenuniversität e.V., die die ursprüngliche Gründerinnen-Initiative war. Insgesamt hatte die ifu 72 unterschiedliche Förderer, die wichtigsten waren das Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF, das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), der DAAD, die Europäische Union und das Niedersächsiche Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Außerdem kooperierten mehrere Universitäten, Fachhochschulen und Stiftungen mit der ifu (Bradatsch 2002a).
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Transnationale Bildungsräume
Mit den beschriebenen Mikro- und Makro-Ebenen transnationaler Bildungsräume ist jedoch das soziale Ensemble von transnational sozialisierten Individuen in Bildungsinstitutionen, die ebenfalls transnationalen Transformationsprozessen unterliegen, noch nicht berücksichtigt. Diese Dimension kann als Meso-Ebene innerinstitutioneller Transnationalisierung von Bildungsorganisationen und von Bildungsprozessen beschrieben werden. Die Internationale Frauenuniversität, die weniger aufgrund ihrer Finanzierungstruktur als transnationaler Bildungsraum zu bezeichnen ist als durch die Tatsachen, dass die beteiligten Wissenschaftlerinnen aus allen Weltregionen gewonnen werden konnten und ein global ausgerichtetes Lehr- Lernarrangement entwickelt wurde, eröffnet die Perspektive auf diese weitere Dimension transnationaler Bildungsräume, die als innerinstitutionelle Gestaltungsprozesse analysiert werden können. Sie umfassen zum einen die Herstellung eines transnationalen Hochschulsettings durch die Herkunfts- und Mobilitätsstruktur der beteiligten Lehrenden und Lernenden, deren Ensemble über die Mikrostruktur individueller transnationaler Bildungssozialisationen hinausgeht. Zum anderen betreffen sie die Gestaltung von Kommunikations- und Kooperationsprozessen sowie die inhaltliche und didaktische Gestaltung der Lehre. Die deutschsprachige Hochschulforschung hat der innerinstitutionellen Transformation durch die Transnationalisierung und Internationalisierung von Hochschulbildung bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet und die Perspektive auf eine Neugestaltung von Lehr- und Lernprozessen bildet noch weitgehend ein Forschungsdesiderat. Hahn (2004) kritisiert in ihrem Überblickswerk zur Internationalisierung der deutschen Hochschulen zu Recht, dass die Internationalisierung der Hochschulen sich gegenwärtig auf quantitative, formale und strukturelle Aspekte beschränkt. In diesem Zusammenhang schlägt sie drei Ansatzpunkte vor, die aus dem Komplexitätsanstieg durch Internationalisierung und Transnationalisierung entstehen. Es handelt sich um die Integration von globalen Perspektiven in die Hochschuldidaktik, um die Implementation von extra-curricularen Angeboten zu interkultureller Kommunikation sowie um die Integration von globalen und interdisziplinären Curricula („global thinking“) (Hahn 2004: 319). Die ifu hat diese Komponenten innerinstitutioneller Entwicklung einer transnationalen Hochschule mit einem gut dokumentierten Erfahrungspotential ausdifferenziert.
Das transnatinale Setting der ifu
3.3
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Das transnationale Setting der ifu
Die ifu hat weltweit um die Teilnahme von Nachwuchswissenschaftlerinnen geworben und war in Hinblick auf ihre Gewinnung nach Gesichtspunkten einer hohen Pluralität der Herkunftsregionen sehr erfolgreich. Die Bewerberinnen, die ein Auswahlverfahren durchlaufen haben, bei dem sie als Mindestanforderung für die Aufnahme an der ifu einen ersten Studienabschluss sowie sehr gute Englischkenntnisse nachweisen mussten, wurden in Kooperation mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst DAAD in allen Kontinenten rekrutiert. Aus 130 Ländern gingen 1547 Bewerbungen bei der ifu ein, 673 postgraduierte Nachwuchswissenschaftlerinnen nahmen nach einem Auswahlverfahren schließlich am internationalen Studiensemester an der Frauenuniversität teil, zusätzlich verfügte die ifu über 74 Fachtutorinnen, die formal zur Gruppe der „Studentinnen“ zählten. Die an der ifu beteiligten Postgraduierten kamen aus insgesamt 105 Ländern. Nicht nur die breite Auffächerung der Herkunftsländer war ungewöhnlich, auch die weltregionale Verteilung der zugelassenen Teilnehmerinnen unterscheidet sich deutlich von anderen internationalen Kooperationen im Hochschulbereich. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen (53 Prozent) kam aus Asien, Afrika und Lateinamerika, von den übrigen Teilnehmerinnen kamen 21 Prozent aus Deutschland und 15 Prozent aus dem übrigen Westeuropa und den USA sowie 11 Prozent aus Ost- und Mitteleuropa (Maiworm und Teichler 2002c: 23). Für insgesamt 80 Prozent der ifu-Teilnehmerinnen wurden Stipendien bereitgestellt.30 Die weltregionale Herkunftsstruktur der Teilnehmerinnen war innerhalb der einzelnen Projektbereiche der ifu sehr unterschiedlich. Dies ist auf die jeweilige weltregionale Relevanz der einzelnen Studienschwerpunkte zurückzuführen. So fällt auf, dass im Projektbereich „Körper“, ein sehr hoher Anteil von Teilnehmerinnen aus deutschen Hochschulen vertreten war (34 Prozent), während die Fragestellungen des Projektbereichs „Wasser“ insbesondere von Nachwuchswissenschaftlerinnen aus Ländern mit wasserpolitischen Problemlagen nachgefragt waren. Hier kamen mehr als die Hälfte der Teilnehmerinnen aus 30
Die Datenbasis wurde im Rahmen der Evaluation der ifu erhoben, an der mehrere Hochschulforschungsinstitute beteiligt waren. Die Erst- und Endbefragung aller Studentinnen und Dozentinnen führte das Wissenschaftliche Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung (Universität Gesamthochschule Kassel) durch, die Umsetzung der Forschungs- und Lehrkonzepte in den Curricula der Projektbereiche erforschte das Hochschuldidaktische Zentrum (Universität Dortmund), das Profil des Service Centers wurde vom Interdisziplinären Zentrum für Hochschuldidaktik der Universität Hamburg evaluiert, für die Evaluation der Organisations- und Entscheidungsprozesse war die Universität Oldenburg mit dem Arbeitsbereich Weiterbildung am Institut für Pädagogik befasst. Vergl. die Dokumentation der ifu-Evaluation in: Metz-Göckel 2002b.
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Transnationale Bildungsräume
Ländern des subsaharischen Afrika sowie aus Asien (59 Prozent), während Teilnehmerinnen, die Deutschland als ihre Herkunftsland angaben, nur zu einem Anteil von acht Prozent in diesem Themenbereich vertreten waren (Lasch 2002: 31). Das Interesse an den Studienbereichen der ifu leitete sich aus den wissenschaftlichen Ausbildungen und beruflichen Werdegängen der ifu-Teilnehmerinnen ab. Auch hier wird sichtbar, dass es sich um einen sehr heterogenen Kreis handelte. Die beteiligten Nachwuchswissenschaftlerinnen brachten höchst unterschiedliche wissenschaftliche Eingansqualifikationen mit, die von einem ersten Studienabschluss auf Bachelor-Niveau bis zur Habilitation reichten. Rund ein Viertel der Teilnehmerinnen (24 Prozent) verfügte über einen Bacheloroder Licence-Abschluss, acht Prozent brachten ein Fachhochschuldiplom mit, etwas mehr als die Hälfte (54 Prozent) hatte einen Master- oder vergleichbaren Abschluss, neun Prozent hatten bereits eine Promotion abgeschlossen, fünf Prozent verfügten über eine Habilitation oder eine vergleichbare Qualifikation. Die geringsten wissenschaftlichen Qualifikationen mit nur einem ersten Studienabschluss auf BA-Niveau brachten insbesondere die Teilnehmerinnen mit, die aus Nordamerika sowie aus dem nördlichen und dem südlichen afrikanischen Kontinent und aus dem Nahen Osten kamen, während die Nachwuchswissenschaftlerinnen aus den übrigen Weltregionen (West- und Osteuropa, Asien mit Australien und Ozeanien sowie Lateinamerika) in der Regel über höhere wissenschaftliche Qualifikationen verfügten (Lasch 2002: 32; Maiworm und Teichler 2002c: 27). Die ifu verfolgte den Anspruch interdisziplinäre Fragestellungen von globaler Bedeutung zu bearbeiten und dabei wissenschaftliche Perspektiven mit berufspraktischen Fragen zu verbinden. Deshalb ist auch von Interesse, welchen Fachgruppen die Beteiligten angehörten: 57 Prozent der Teilnehmerinnen hatten geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer studiert, während 22 Prozent ausschließlich naturwissenschaftlich-technische Fächer absolviert hatten, weitere 20 Prozent konnten an interdisziplinäre Studienerfahrungen anknüpfen und hatten sowohl geistes- und sozialwissenschaftliche als auch naturwissenschaftlich-technische Abschlüsse erworben. Mit Ausnahme des Projektbereichs Wasser waren die Teilnehmerinnen mit naturwissenschaftlich-technischen Qualifikationen bei der ifu allerdings deutlich in der Minderheit (Lasch 2002: 33f; Maiworm und Teichler 2002: 28). Die Mehrheit der ifu-Teilnehmerinnen befand sich in der wissenschaftlichen Qualifikationsphase und brachte neben ihren Hochschulabschlüssen zusätzliche akademische Qualifikationen mit. Zwei Drittel der Teilnehmerinnen hatten Berufserfahrungen in Forschungsprojekten oder Forschungsinstitutionen, 39 Prozent hatten selbst bereits Lehrerfahrungen an einer Hochschule gesam-
Das transnatinale Setting der ifu
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melt, während drei Viertel der Teilnehmerinnen auf durchschnittlich fünf Jahre Berufstätigkeit in und außerhalb der Hochschulen zurückblicken konnten und damit sowohl wissenschaftliche als auch Praxiserfahrungen mitbrachten. Weltregionale Unterschiede gab es insofern, als die Teilnehmerinnen aus Asien, Lateinamerika und Afrika überwiegend bei Behörden, in Schulen und bei NGO’s berufstätig waren, während die Teilnehmerinnen aus den europäischen Ländern und aus Nordamerika sich überwiegend in der Phase wissenschaftlicher Qualifizierung befanden (Lasch 2002: 36). Für die Dynamik des ifu-Semesters war diese Ausgangslage folgenreich und erklärt unterschiedliche Lerninteressen und Erwartungshaltungen gegenüber den Studienangeboten sowie ein Dominanzgefälle im Kontext und Spannungsfeld von theoretischen und praxisnahen Studieninhalten. Als eine Besonderheit der ifu-Teilnehmerinnen kann ihr ehrenamtliches politisches und soziales Engagement, insbesondere im Frauen- und Genderbereich, betrachtet werden – dies traf für drei Viertel von ihnen zu. Die heterogene Gruppe von Teilnehmerinnen aus aller Welt verfügte trotz aller Unterschiede über einige aufschlussreiche Gemeinsamkeiten im Lebensstil. So können die ifu-Teilnehmerinnen zusätzlich als eine Gruppe weiblicher Hochqualifizierter beschrieben werden, die über ein ausgeprägtes transnationales Mobilitätsverhalten verfügen. Zwei Drittel von ihnen (hier insbesondere deutsche, westeuropäische und nordamerikanische Teilnehmerinnen) hatten vor dem ifu-Studium bereits Auslandsaufenthalte absolviert, die länger als drei Monate andauerten. Mehr als die Hälfte von ihnen sammelte diese Erfahrungen als Studentinnen oder als junge Wissenschaftlerinnen im Ausland. Auch der Umgang in internationalen Settings war für die ifu-Teilnehmerinnen schon vor Beginn der Frauenuniversität vertraut, fast zwei Drittel von ihnen gaben an, dass sie bereits häufig Erfahrungen in interkulturellen Gruppen machen konnten (Lasch 2002: 39). Auffällig an diesen Befunden sind abermals die weltregionalen Unterschiede: Mit transnationalen Erfahrungshintergründen waren nach eigenem Dafürhalten rund 90 Prozent der ifu-Teilnehmerinnen aus den westlichen Industrienationen ausgestattet, die Teilnehmerinnen aus allen anderen Weltregionen nannten diese Attribute bei der Befragung zu Beginn des ifu-Studiums deutlich seltener, allerdings gab auch hier etwas mehr als die Hälfte von ihnen an, Vertrautheit mit interkulturellen Settings zu besitzen (Maiworm und Teichler 2002: 40f). Mit den ifu-Teilnehmerinnen kam somit eine Gruppe besonders mobiler und transnational erfahrener Nachwuchswissenschaftlerinnen zusammen, deren Mobilitätsverhalten durch den Aufenthalt an der ifu sogar noch weiter stimuliert wurde. Das ifu-Arrangement nahm auch hier einen Blick auf das inzwischen diskutierte Phänomen „multipler Mobilitäten“ (Lanzendorf 2003: 290f) vorweg, das sich damit befasst, dass eine sich vergrößernde Zahl von Personen, die in die Wis-
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Transnationale Bildungsräume
senschaft eingebunden sind, im traditionellen Sinne nicht mehr über einen dauerhaften Wohnort verfügen. Dieses Phänomen wird auch unter dem Stichwort „brain circulation“ diskutiert, das die monodirektionalen Betrachtungsweisen von „brain drain“ und „brain gain“ erweitert (Hunger 2003).31 Transnational mobil, international erfahren, kosmopolitisch bewandert, politisch und sozial engagiert, beruflich innerhalb und außerhalb der Hochschule aktiv: diese Merkmale treffen auf den überwiegenden Teil der ifu-Teilnehmerinnen zu. Sie verweisen auf weitere Aspekte des Lebensstils innerhalb dieser Gruppe der bei der ifu zusammengekommenen Teilnehmerinnen, deren Altersstruktur sich ebenfalls als äußerst heterogen beschreiben lässt. Bei einem Durchschnittswert von 32 Jahren reichte das Altersspektrum der ifu- Teilnehmerinnen von 21 bis zu 59 Jahren. Anders als Nicht-Wissenschaftlerinnen dieses Altersspektrums war die überwiegende Mehrzahl der Teilnehmerinnen zum Zeitpunkt der ifu kinderlos und nicht verheiratet. Lediglich ein Viertel der Teilnehmerinnen gab an, eine Ehe geschlossen zu haben und eine etwa gleich große Gruppe hatte ein oder mehrere Kinder. Interessant sind hier abermals die weltregionalen Unterschiede zwischen den ifu-Teilnehmerinnen: Während 40 Prozent der Teilnehmerinnen aus Afrika und Asien verheiratet waren und die Hälfte der Teilnehmerinnen aus Afrika und Asien Kinder hatte, gaben dagegen lediglich zehn Prozent der Frauen aus europäischen Ländern und Nordamerika an, Kinder zu haben (Maiworm und Teichler 2002: 25). Aus diesen Befunden kann einerseits der Schluss gezogen werden, dass die ifu als transnationales Wissenschaftsprogramm besonders für flexible und mobile Wissenschaftlerinnenn mit transnationalen Erfahrungen attraktiv war. Zwischen der hohen räumlichen Mobilität und der mehrheitlichen Kinderlosigkeit der ifu-Teilnehmerinnen aus den Industrienationen besteht durchaus eine Korrelation. Auch der Erwartungshorizont der ifu orientierte sich an diesem Lebensmuster von Akademikerinnen und war auf kinderlose Wissenschaftlerinnen eingestellt. Diese Erwartungshaltung korrespondierte jedoch nicht mit den praktizierten Lebensstilen vieler ifu-Teilnehmerinnen. Erst im Verlauf des Semesters wurde nach Protesten von den Teilnehmerinnen, die ihre meist noch kleinen Kinder oder Säuglinge zum dreimonatigen Deutschlandaufenthalt mitgebracht hatten, das unzureichende Kinderbetreuungsangebot auf dem ifu-Campus ver31
Das Konzept der „brain circulation“ blendet jedoch die Tatsache aus, dass insbesondere aus den ökonomisch am wenigsten entwickelten Ländern akademisch ausgebildete Personen abgeworben werden, was eine Ursache für eine sich verfestigende Unterentwicklung der ärmsten Weltregionen darstellt. Vergl. zur Kritik am Modell der „brain circulation“ (Faist 2005: 10f). Dem Autor ist zuzustimmen, dass globale Ungleichheitsverhältnisse durch ein bislang vor allem theoretisch entfaltetes Modell der transnationalen Zirkulation von Bildungskapital nicht aufgehoben werden können.
Das transnatinale Setting der ifu
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bessert. Dieses Beispiel zeigt, dass die ifu trotz ihrer transnationalen Ausrichtung den Organisationsnormen des deutschen Hochschulalltags durchaus verhaftet war. Diese erwiesen sich im transnationalen Setting der ifu jedoch häufig als nicht kompatibel. Die ifu als transnationaler Bildungsraum, an dem eine sehr heterogene Teilnehmerinnenschaft beteiligt war, verfügte über eine zunächst überraschend große Zahl von Dozentinnen, die sich an den Lehrangeboten beteiligten. Insgesamt kamen 313 Dozentinnen aus einem Länderspektrum, das 49 Nationen umfasste. Die hohe Zahl erklärt sich vor allem dadurch, dass viele Dozentinnen nur für kurze Zeit anwesend waren und jeweils kleinere Kreise von Lehrenden die Kerncurricula konstant gestalteten, die Größe dieser Gruppen variierte jedoch in den einzelnen Projektbereichen. Insgesamt kann die Gruppe der ifuDozentinnen, die ebenfalls sehr heterogen war, unter zwei gemeinsamen Gesichtspunkten beschrieben werden: Erstens lässt sich die gesamte Gruppe der ifu-Lehrenden in noch stärkerem Ausmaß als die ifu-Teilnehmerinnen als transnational hochmobile Wissenschaftsmigrantinnen beschreiben und zweitens gab die Mehrheit der ifu-Dozentinnen ihren Wohn- und Arbeitsort in einer westlichen Industrienation an. Auch wenn Dozentinnen aus allen Kontinenten vertreten waren, stand ihre weltregionale Herkunft in einem auffälligen Kontrast zu den Teilnehmerinnen: Ein starkes Gewicht lag bei Dozentinnen aus den Industrienationen in Westeuropa sowie aus Nordamerika mit insgesamt 79 Prozent der beteiligten Wissenschaftlerinnen, wobei ein Schwerpunkt bei Lehrenden aus Deutschland lag. Dagegen kamen nur 21 Prozent der Dozentinnen aus allen übrigen Weltregionen. Auch hier erlaubt es das Setting der beteiligten Wissenschaftlerinnen nicht, klare Grenzziehungen anhand nationalstaatlicher Zugehörigkeiten zu ziehen, da die Biographien der meisten Beteiligten transnational strukturiert sind. Die transnationale Mobilität der ifu-Dozentinnen war äußerst hoch, mehr als drei Viertel der ifu-Dozentinnen hatte für einen längeren Zeitraum (mindestens drei Monate) im Ausland gelebt, 16 Prozent hatte ihren ersten Studienabschluss im Ausland erworben und ein Fünftel der Dozentinnen lebte vor Beginn der ifu nicht in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besaßen. Von Interesse ist hier ebenfalls die weltregionale Verteilung von Mobilitätsverhalten, das sich in einem fast umgekehrten Verhältnis zu den Teilnehmerinnen zeigte: Hier waren die Wissenschaftlerinnen von afrikanischen Hochschulen besonders mobil, die in ihrer Mehrzahl im Ausland studiert hatten und vor Beginn der ifu mehrheitlich auch nicht in ihren Herkunftsländern lebten. Auch die Dozentinnen, die ihren Lebensmittelpunkt in Asien und Lateinamerika hatten, verfügten im überdurchschnittlichen Maß über transnationale Erfahrungen. Ein interessanter Befund ist zudem, dass die ifu-Dozentinnen, deren Herkunftsland Deutsch-
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Transnationale Bildungsräume
land ist – wo sie in der Regel auch ihren Arbeitsschwerpunkt hatten – deutlich weniger transnational mobil waren als ihre Kolleginnen (Maiworm und Teichler 2002: 182). Das Qualifikationsprofil der ifu-Dozentinnen lässt sich folgendermaßen umreißen: Auch hier lag ein Schwerpunkt auf den Geistes- und Sozialwissenschaften mit knapp 80 Prozent, während nur ein Fünftel der ifu-Dozentinnen die Bereiche Natur- und Technikwissenschaften vertrat. Der Anteil der Professorinnen lag insgesamt bei einem Viertel, wobei die Verteilung in den einzelnen Projektbereichen sehr unterschiedlich war, insbesondere aus Deutschland waren auch Dozentinnen beteiligt, die noch nicht fest im Wissenschaftsbetrieb etabliert waren (Lasch 2002: 41f; Maiworm und Teichler 2002c: 187ff). Das Arrangement von Studierenden und Lehrenden bei der ifu bot neben einigen herausragenden wissenschaftlichen Highlights auch ein nicht geringes Potenzial an Sprengkraft, das sich insbesondere an zwei Punkten festmachen lässt: Der Kontrast in der weltregionalen Verteilung zwischen den Teilnehmerinnen, die in ihrer Mehrzahl aus ärmeren Weltregionen kamen, und den Dozentinnen, die vor allem aus Industrienationen rekrutiert wurden, führte in diesem außergewöhnlich transnationalen Wissenschaftssetting zu zahlreichen Diskussionsanlässen, bei denen die Auseinandersetzungen um eurozentristische Dominanz in den ifu-Lehrveranstaltungen kritisiert wurde. Für eine Verschärfung dieser Konflikte sorgte die nicht eindeutig verlaufende Trennlinie in den Qualifikationsprofilen der Dozentinnen und den sich zum Teil bereits selbst in der Wissenschaft etablierenden ifu-Teilnehmerinnen. Die sehr engagiert ausgetragenen Auseinandersetzungen um westliche Dominanz und Anerkennung wissenschaftlicher Qualifikation hatten mehrere Effekte. Sie führte einerseits zu einer intensiven Selbstorganisation der als Teilnehmerinnen gewonnenen Wissenschaftlerinnen, die ein „Schattencurriculum“ (Metz-Göckel et al. 2002) mit eigenen Vorträgen und eigenen Lehrveranstaltungen entwickelten. Eine weitere Folge war, dass die ifu-Teilnehmerinnen sich selbst als „participants“ (Teilnehmerinnen) bezeichneten, da sie den ihnen zugedachten Studentinnen-Status ausgerechnet an einer Hochschule, die angetreten war, um Kritik an einem hegemonialen Wissenschaftsverständnis zu üben (Neusel 2000b: 51), als Abwertung empfanden. Die ifu bot durch die Struktur der Organisation mit ihren Teilnehmerinnen und Dozentinnen weder ein Auslandsstudium im üblichen Sinne, noch ist sie mit einer deutschen Universität zu vergleichen. Sie stellte vielmehr ein Bildungsprogramm dar, das durch die sehr breit gefächerte Internationalität der Beteiligten sowie durch deren hohe transnationale Mobilität und ihre interkulturellen Erfahrungshintergründe gekennzeichnet war. Dieses transnationale Setting war eingebettet in einen wissenschaftskritischen Anspruch der ifu, der so-
Grenzen überschreiten und verschieben: Der Projektbereich Migration
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wohl eine Kritik des androzentrischen als auch des westlichen Universalismus beinhaltete und als ein „Dritter Ort“ (Neusel 2000b: 50) konzeptualisiert war. Dieser Ansatz der ifu als „Dritter Ort“ bezieht sich implizit auf das kulturtheoretische Modell des „Third Space“ Bhabhas (2000, 1990; vergl. Kap. 5), das eine radikale Rekonzeptualisierung des Kulturbegriffs als soziale Konstruktion beinhaltet. Das Modell geht nicht von einer essentiellen Diversität der Kulturen aus, sondern kulturelle Differenz entsteht nach Bhabha durch diskursive Aushandlung. „Third Space“ ist demnach ein Ort der Aushandlung von kulturellen und sozialen Bedeutungen und Symbolen, in denen etwas Neues entsteht. Diesen Ort der diskursiven Aushandlung beschreibt Bhabha als einen von Machtstrukturen, Dominanzansprüchen und Anerkennungskämpfen durchzogenen Raum. Wie sieht eine Hochschule aus, die für sich in Anspruch nimmt, ein Terrain der Aushandlung von Grenzziehungen zu sein?
3.4
Grenzen überschreiten und verschieben: Der Projektbereich Migration
Die Betonung der Internationalität des Settings der ifu ist nicht mit der innerinstitutionellen Entwicklung eines transnationalen Bildungsraums gleichzusetzen. Es hat sich vielmehr als eindimensional und empirisch unscharf erwiesen, ausschließlich die heterogenen Nationalitäten der Beteiligten als Gradmesser für die Internationalisierung des Wissenschaftsprojekts ifu zu nutzen. Eine komplexere Perspektive auf Transnationalisierungsprozesse sowohl auf der individuellen Mikro-Ebene biographischer Mobilität als auch auf der institutionellen MesoEbene erweist sich als adäquater, da im Kontext von Mobilität nicht nur die Tatsache physischer Bewegung zwischen unterschiedlichen Nationalstaaten Relevanz besitzt. Eine transnationale Perspektive ermöglicht dagegen die Beobachtung von sozialen Prozessen, die sich unter den Bedingungen von Mobilität neu formieren. Im Kontext der ifu wurde die Chance genutzt, Freiräume für transnationale Formen innerinstitutioneller Entwicklung zu schaffen, was durchaus Auseinandersetzungen, Kritik und das Ringen um Positionen einschloss. Dies setzte Offenheit und ein hohes Maß an Reflexivität für wissenschaftliche Auseinandersetzungen im Weltmaßstab voraus, um kommunikative Prozesse in den Lehr-/Lernsetting und innerhalb der global orientierten Curricula zu entwickeln. Sowohl die Dozentinnen als auch die Teilnehmerinnen führten ihre positive Gesamteinschätzung der ifu auf die Qualität der transnationalen und transkulturellen Erfahrungen bei der ifu zurück (Maiworm und Teichler 2002c: 165 ff). Hier sollen die bei der ifu erprobten Ansätze zur Entwicklung eines transnationalen Lehr-/Lernsettings anhand der konkreten Gestaltung des Lehr- und
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Transnationale Bildungsräume
Studienalltags am Beispiel des interdisziplinären Projektbereichs Migration diskutiert werden, in dem deutlich wird, dass hier eine bislang innerhalb des deutschen Hochschulalltags nicht übliche Reflexion von Transnationalisierungsprozessen sowie eine kritische Auseinandersetzung mit eurozentrischen Wissenschaftsperspektiven32 stattfand. Der Projektbereich Migration ist im Rahmen dieser Studie deshalb besonders interessant, weil mit einer Analyse des Lehr-/Lernsettings eine Beobachtung der innerinstitutionellen Ausgestaltung des transnationalen Wissenschaftssettings ifu möglich ist, das hier auf der Basis von theoretisch und methodisch über Migrations- und Mobilitätsprozesse informierten Wissenschaftspositionen gestaltet wurde. Damit war der Projektbereich Migration ein Ort der Forschung und Lehre über Transnationalisierungsprozesse, die hier jedoch nicht nur äußerlicher Gegenstand der Forschung sondern auch eine explizit reflexive Perspektive auf die Lehr-/Lernpraxis innerhalb des transnationalen Settings ermöglichte. Die Praktiken im Kontext dieses Settings basierten damit auf multidimensionalen Beobachtungsperspektiven von Prozessen der Migration und Transnationalisierung, die eine spezifische und theoretisch gehaltvolle Reflexion der Situiertheit des ifu-Wissenschaftssettings ermöglichte. Eine Analyse des Projektbereichs Migration eröffnet damit eine interdisziplinäre Verbindung von Perspektiven der Hochschulforschung mit einer gendersensiblen Transnationalisierungs- und Migrationsforschung, die sich in der Ausgestaltung des Curriculums sowie der Lehr-/Lernsettings als ein Ort der Aushandlung globalisierten Lernens, Forschens und Lehrens gestaltete. Der Projektbereich Migration verfügte über eine relativ ausgewogene weltregionale Verteilung sowohl der Teilnehmerinnen als auch der Dozentinnen, letztere jedoch mit Einschränkungen, da auch hier Dozentinnen aus westlichen Industrieländern überproportional vertreten waren, diese verfügten jedoch in einem sehr hohen Maße über transnationale biographische und wissenschaftliche Erfahrungen. In diesem Projektbereich war die Gruppe der hochmobilen Wissenschaftsmigrantinnen besonders stark vertreten und die Themen Transund Internationalität sowie Mobilität stellten thematische Schwerpunkte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung dar. Im Folgenden wird exemplarisch anhand von Selbstdarstellungen und Analysen aus dem Projektbereich Migration (Lutz und Morokvasic-Müller 2002; Morokvasic-Müller, Erel und Shinozaki 2002; Lenz, Lutz, Morokvasic-Müller et al. 2002) sowie auf Basis der Ergebnisse der ifu-Evaluation (Metz-Göckel et al. 2002; Maiworm und Teichler 2002), der Frage nachgegangen, welche Kom-
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Eine kritische Reflexion der sozialen Situiertheit von Forschungsperspektiven und Prozessen der Wissensproduktion zeichnete auch die übrigen Projektbereiche der Internationalen Frauenuniversität ifu in jeweils differenziert zu betrachtendem Maße aus.
Grenzen überschreiten und verschieben: Der Projektbereich Migration
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munikations- und Kooperationsformen im Hochschulalltag der ifu entwickelt wurden. Dabei wird zunächst die Reflexion von transnationalen Kommunikations- und Kooperationsformen diskutiert. Anschließend wird gezeigt, welche Formen des Lehrens sich als besonders fruchtbar für ein transnationales Lehr/Lernsetting wie die ifu erwiesen haben, um abschließend einen Ausblick darauf zu geben, welche globalen Perspektiven im Curriculum dieses Studienbereichs entwickelt wurden. Die Kommunikation und Kooperation im transnationalen Bildungsraum ifu stellte eine Aufgabe für alle Teile der Organisation dar, die in unterschiedlicher Intensität von den einzelnen Organisationsbereichen der ifu entwickelt wurde. Da die ifu keine Erprobungsphase besaß, forderte sie von allen Beteiligten ein sehr hohes Maß an intellektueller Flexibilität, Alltagsspontaneität und Mut zum Learning by Doing. Dies zeigte sich im interdisziplinären und transnationalen Lehr-/Lernarrangement ebenso wie in der Alltagsorganisation. Die Mitarbeiterinnen des Organisationsteams sahen sich nicht nur mit einer geradezu überwältigenden Logistik konfrontiert. Immerhin reisten 1000 Dozentinnen und Teilnehmerinnen aus aller Welt an, die kurzfristig mit Wohnraum versorgt werden mussten. Das ifu-Team war auch gefordert, immer wieder spontan adäquate Hilfe und Lösungen in Fällen von Alltagsrassismus und massiven Diskriminierungen33 anzubieten, die sich insbesondere gegen ifu-Teilnehmerinnen aus afrikanischen Ländern richteten. Dies beschränkte sich keineswegs auf wenige Einzelfälle: Über ein Fünftel der schwarzen Teilnehmerinnen berichteten von Erfahrungen ethnischer Diskriminierung und Befragte aus Nahost strichen häufig Probleme mit der Ernährung heraus (Maiworm und Teichler 2002: 106). Auf den Hochschulstandort Deutschland, der den lokalen Rahmen mit mehreren beteiligten Hochschulen im norddeutschen Raum bereitstellte, werfen diese Befunde kein positives Licht. Sie befinden sich jedoch im negativen Einklang mit anderen Befunden zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit an Hochschulen in Deutschland (Teichler 2002: 7) und betonen die hohe Bedeutung eines gut funktionierenden Gastkontextes, für dessen Herstellung Hochschulen im Internationalisierungsprozess zunehmend gefordert sind. Um Erfahrungen von Alltagsrassismus außerhalb und auf dem Campus sowie in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu reflektieren, führte der Projektbereich Migration als soziales Reflexionsinstrument wöchentliche interne Gruppen- und Evaluationstermine ein, die so genannten „Steam Offs“, die ein Forum für Kritik aller Art für die Beteiligten des Projektbereichs bot (Lutz und Morokvasic 2002). Ein vergleichbares Instrument wurde bemerkens33
Zur Kritik an subtilen und offenen Alltagsrassismen auf dem ifu-Campus und im Alltag außerhalb des Campus, vergl. Madew 2002.
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Transnationale Bildungsräume
werter Weise in keinem anderen Projektbereich der ifu eingesetzt. Dies ist auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass für die Dimension transnationaler Kommunikation als Element der Organisationsentwicklung bei der ifu relativ geringe Ressourcen bereit standen. Ein einziger gemeinsamer Workshop zur Schulung interkultureller Kompetenz für alle ifu-Mitarbeiterinnen stellte sich als Vorbereitung für ein global ausgerichtetes Hochschulprogramm als knapp bemessen heraus.34 Die Kommunikation und Kooperation im transnationalen Bildungsraum ifu stellte auch innerhalb des Projektbereichs Migration ein zentrales Thema der wissenschaftlichen Reflexion dar. Der Projektbereich leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Verortung der Teilnehmerinnen und Dozentinnen im Kontext des Lehr-/Lernsettings sowie des Campus-Alltags. Innerhalb des Projektbereichs Migration bildete die Erkenntnis, dass einfache nationale Herkunftsmuster für die Beschreibung transnationaler biographischer Strukturen nicht adäquat sind, einen zentralen Ausgangspunkt wissenschaftlicher Reflexion. Es wurde im Verlauf der ifu schnell klar, dass eine Bezugnahme auf die nationale Herkunft für die hochmobilen Teilnehmerinnen und Dozentinnen keine passende Kategorisierung darstellt, die auf die Lebenssituationen der Mehrzahl der Beteiligten zutraf. Dies wurde in der Anfangsphase des Projektbereichs Migration in einer einfachen Übung deutlich. Die Teilnehmerinnen erstellten dabei ein Migrationstableau, bei dem für jede Anwesende auf einer Weltkarte eine Stecknadel in der Region angebracht wurde, aus der sie kam. Zusätzlich spannten sie Fäden zu den Ländern, in denen sie längere Zeit gelebt hatten. Durch diese visualisierten Vernetzungen wurden auf der Weltkarte unterschiedlich starke individuelle Migrationsströme mit zahlreichen Mehrfachzuordnungen sichtbar (Metz-Göckel et al. 2002: 161). Die beteiligten Wissenschaftlerinnen entwickelten und ergänzten die Forschungsperspektiven durch eigene Migrationserfahrungen: „The experience of migration, of crossing borders and constantly shifting boundaries, has been an 34
Weitere interkulturelle Fortbildungen richteten sich an die Mitarbeiterinnen des Organisationsstabs, insbesondere an das Team des Service Centers. Hier stellte es sich als problematisch dar, dass die Logistik eines dreimonatigen global ausgerichteten Großprojekts im Bereich des Studentinnen- und Dozentinnenservices deutlich umfangreichere personelle Ressourcen benötigt hätte. Die strukturelle Ressourcenknappheit des Service-Centers, das für alle Stipendienangelegenheiten, für die Beantragung der Visa, für die Organisation erforderlicher Reisen und für die Unterbringung aller Teilnehmerinnen und Dozentinnen sowie für die Gestaltung sozialer Angebote und Aktivitäten zuständig war, führte relativ häufig zu Reibungsverlusten in den organisatorischen Abläufen, deren Verringerung für Entspannung in den Kommunikations- und Kooperationsprozessen auch im Lehr-/Lern-Arrangement der ifu hätte sorgen können (BülowSchramm und Schindler 2002). Eine kritische Diskussion des Konzepts der ifu zur Vorbereitung auf das transnationale Setting findet sich bei Kreutzner und Schöning-Kalender (2002).
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important part of our life, as it is true for many other migration scholars and students of (project area d.V.) migration. As a matter of fact most of our life was an ‚out of country’ and ‚out of language’ experience“ (Erel, Morokvasic und Shinozaki 2003: 19). Bei den Teilnehmerinnen des Projektbereichs zeigte sich Mobilität meist in Verbindung mit Studium und wissenschaftlicher Karriereentwicklung: Mehr als ein Viertel der Teilnehmerinnen hatte den höchsten akademischen Abschluss nicht im Herkunftsland erworben, fast die Hälfte von ihnen (44 Prozent) hatten mehr als drei Monate in einem anderen Land gelebt, fünf Prozent besaß eine Doppelnationalität und vier Prozent hatten die Nationalität gewechselt (Metz-Göckel et. al. 2002: 164). In diesem Projektbereich bildeten Teilnehmerinnen aus asiatischen Ländern35 die größte Gruppe mit einem Anteil an der Gesamtgruppe von einem knappen Viertel (23 Prozent), fast die Hälfte (46 Prozent) kam aus Deutschland oder einem anderen Industrieland, in denen die Debatte um Migration aus der Perspektive der Einwanderungsländer geführt wird. Die übrigen Weltregionen Afrika (8 Prozent), Lateinamerika (10 Prozent) und Naher Osten (9 Prozent) waren zu etwa gleichen Teilen schwächer vertreten, während aus Ost-europa nur vier Prozent der Wissenschaftlerinnen kamen (Metz-Göckel et al. 2002: 163). Damit war der Projektbereich Migration der Studienbereich der ifu, der zugleich die meisten mobilen und die am stärksten mit dem Aufbau ihrer wissenschaftlichen Karrieren beschäftigten Teilnehmerinnen aufwies, zugleich hatten hier die meisten Wissenschaftlerinnen ihren (zumindest temporären) Lebensmittelpunkt in einem Industrieland. Der Projektbereich Migration hatte relativ junge (durchschnittlich 31 Jahre alte), international erfahrene und transnational mobile Frauen angesprochen, die sich mehrheitlich in einem postgradualen Studium bzw. Forschungsprozess befanden. 68 Prozent von ihnen hatten einen Masterabschluss, etwas mehr als ein Viertel brachten ein Bachelor-Examen mit, während hier etwas weniger Promovierte (vier Prozent) als in den anderen Projektbereichen beteiligt waren. Insgesamt stellte sich das Qualifikationsniveau hier etwas homogener als in den anderen Bereichen der ifu dar. Auch die Erfahrungen im 35
An dieser Stelle sei auf die Unschärfe der Klassifizierung „asiatische Länder“ hingewiesen. Aufgrund der vorliegenden Daten ist jedoch keine weitere Differenzierung möglich. Die Problematik der Klassifizierung gilt grundsätzlich für alle hier genannten quantifizierenden und klassifizierenden Aussagen über weltregionale Herkünfte und nationale Zuordnungen. Es wird dennoch nicht darauf verzichtet, die vorhandenen Daten heranzuziehen, da nur auf diese Weise eine Perspektive auf die inter- und transnationale Anlage des Wissenschaftssettings der ifu möglich ist. Die Angaben werden jedoch in dem Bewusstsein gemacht, dass diese permanent Gefahr laufen, Festschreibungen zu treffen, die über die vorgebliche Eindeutigkeit, die diese Klassifizierungen implizieren, nicht verfügen. Aus einer transnationalen Perspektive sind die hier getroffenen Aussagen über nationale und weltregionale Klassifizierungen gleichzeitig dekonstruktiv zu denken (vergl. dazu Kap. 5, 6 und 7).
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Transnationale Bildungsräume
Wissenschaftsbetrieb waren relativ homogen verteilt: Mehr als zwei Drittel der Teilnehmerinnen hatten bereits erste Lehr- und Forschungserfahrungen und die Mehrzahl der Teilnehmerinnen bereitete eine Promotion vor, wobei die überwiegende Mehrheit der Teilnehmerinnen (83 Prozent) eine geistes- und sozialwissenschaftliche Ausbildung durchlaufen hatte (Metz-Göckel et al. 2002: 165). Der thematische Fokus des Projektbereichs Migration konzentrierte sich darauf, eine Verbindung zwischen Migrationsforschung und Genderforschung herzustellen. Ein Ziel des Curriculums war es demzufolge, Gender in Migrationsprozessen sichtbar zu machen und die komplexen Zusammenhänge zwischen Globalisierung und Geschlechterverhältnissen zu analysieren. Die Besonderheit in der Entwicklung des Curriculums lag insbesondere darin, zwei relativ unverbunden nebeneinander stehende akademische Arbeitsbereiche aneinander zu koppeln und eine Verbindung zwischen der Frauen- und Geschlechterforschung einerseits und der Migrations- und Ungleichheitsforschung andererseits herzustellen. Dies brachte ein Lehrkonzept hervor, das die Bearbeitung des Themas Migration multidisziplinär und transnational vergleichend gestaltete (Lutz und Morokvasic-Müller 2002: 111). Der Projektbereich Migration fächerte sich in vier Schwerpunktthemen auf: • • • •
Migration, Mobilität und Transmigrantinnen Nationalismen, Rassismen, Ethnisierungen Räume, Kulturen, Identitäten im Prozess Transnationale Geschlechterdemokratie: Gleichheit und Differenz
Anders als in den anderen Projektbereichen gab es keine festgelegten Weltregionen, die thematisch bearbeitet wurden, vielmehr entwickelte sich die Struktur des Projektbereichs entlang den Fragestellungen.36 Das Curriculum wurde wie auch die anderen Projektbereiche der ifu von einer internationalen Arbeitsgruppe entwickelt, an der insbesondere im Projektbereich Migration transnational forschende Wissenschaftlerinnen mit ausgewiesener internationaler Expertise aktiv mitwirkten.37 Die Struktur des didaktischen Konzepts für das transnationale Lehr-/Lernarrangement lässt sich in mehrere 36
37
Die Inhalte und Ergebnisse des Projektbereichs Migration wurden in dem zweibändigen Werk „Crossing Borders and Shifting Boundaries“ festgehalten. Vol. 1: Gender on the Move (Erel, Morokvasic-Müller und Shinozaki 2003) sowie Vol. II: Gender, Identities and Networks (Lenz, Lutz, Morokvasic-Müller et al. 2002). Für den Projektbereich Migration gehörten Ilse Lenz, Helma Lutz, Mirjana MorokvasicMüller, Maya Nadig und Claudia Schöning-Kalender der Curriculums-Arbeitsgruppe an. Während des ifu-Semesters waren Mirjana Morokvasic-Müller (Universität Paris V) sowie Astrid Albrecht-Heide (TU Berlin) die Dekaninnen des Projektbereichs. Insgesamt waren an der Entwicklung der sechs interdisziplinären ifu-Curricula über 40 Wissenschaftlerinnen beteiligt.
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Phasen gliedern. Während der ersten fünf Wochen fanden horizontal strukturierte Plenumsveranstaltungen statt, die jeweils eine Woche der Einführung in die Themenschwerpunkte widmeten, die erste Woche war eine allgemeine Einführungswoche. Für die thematischen Schwerpunkte standen jeweils zwei Dozentinnen je eine Woche zur Verfügung, die Dekaninnen sorgten während der gesamten Zeit für Kontinuität und Präsenz. In der Vertiefungsphase wurden zusätzliche Vorlesungen und Workshops angeboten, daran schloss sich eine Woche lang ein Dialog mit Künstlerinnen an, die im Projektbereich Migration mitwirkten. In der zweiten Hälfte des ifu-Semesters war eine Vertiefungsphase als Projektstudium vorgesehen, in dem eine ganze Reihe von kleineren Forschungsprojekten realisiert und zum Abschluss z.B. in Filmproduktionen der Teilnehmerinnen präsentiert wurden (Metz-Göckel et al. 2002: 160f). Wie für alle Projektbereiche der ifu traf eine generelle Kritik der Teilnehmerinnen am Vorlesungsstil innerhalb der Einführungswochen auch hier zu, während die Projektphase, in der die Teilnehmerinnen stärker ihre eigenen Perspektiven und Fähigkeiten einbringen konnten, insgesamt als sehr gewinnbringend und gelungen angesehen wurde. Die kritische Einstellung der Teilnehmerinnen gegenüber den dicht gedrängten Vorlesungen in den Einführungswochen war gekoppelt an eine skeptische Haltung gegenüber den gewählten Perspektiven, deren starke Orientierung an eurozentrischen Konzepten und Theorien als zu einseitig und als nicht ausreichend für die Entwicklung von transnationalen und global ausgerichteten Perspektiven kritisiert wurde. Westlichen Universalimus kritisierten die Teilnehmerinnen auch in der weltregionalen Auswahl der Lehrenden, unter denen sich im Projektbereich Migration keine einzige Dozentin aus einem afrikanischen Land befand. Die Auseinandersetzung um diese strukturellen, inhaltlichen und wissenschafts-perspektivischen Positionen stellte hier wie auch in allen Projektbereichen der ifu die gewinnbringendsten Ergebnisse der Lehr-/Lernprozesse bei der ifu dar. Die Entwicklung eines Bewusstseins darüber, welchen Einschränkungen die jeweils eigenen Perspektiven unterliegen, setzte die Bereitschaft zur Formulierung von Kritik ebenso wie die Fähigkeit zum Zuhören und Verstehen anderer Positionen voraus, die auch schmerzliche Prozesse der Entwicklung eines selbstkritischen Blicks auf Privilegien beinhaltete und ein anspruchsvolles und offenes Klima der Auseinandersetzung voraussetzte. Für diese wissenschaftlichen und auch persönlichen Kommunikationsprozesse, die Anerkennungskämpfe und kritische Positionierungen ebenso beinhalteten wie den Gewinn unerwarteter Perspektiven und sozialer Erlebnisse, boten die zu einem dicht gedrängten Curriculum gebündelten Einführungswochen zu wenig Raum, während das Projektstudium sich als gelungener Kontext sowohl für den wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs als auch für die interkulturellen
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Transnationale Bildungsräume
Kommunikationsprozesse darstellte, die bei der ifu eng aneinander geknüpft waren. Für die Lehrenden bilanzierten Lutz und Morokvasic-Müller (2002), dass der Projektbereich Migration interkulturelle Lerneffekte auf mehreren Ebenen hervorgebracht hat. Diese werden einerseits als Erwerb von „language awareness“ beschrieben, die insbesondere eine Sensibilisierung gegenüber Fremdsprachigkeit bedeutet. Für diesen quer zum Curriculum liegenden sozialen Lernprozess bot die ifu ein Setting, in dem nur wenige Wissenschaftlerinnen vertreten waren, deren Erstprache Englisch ist. Die meisten Teilnehmerinnen und Dozentinnen waren jedoch mit mindestens zwei, häufig mit mehreren Sprachen vertraut. Als weitere Komponenten interkultureller Kompetenz nennen Lutz und Morokvasic-Müller die „Sensibilisierung für Außenseiterpositionen“ sowie die komplexere Fähigkeit zur reflexiven „Konfrontation mit Fremddefinitionen“, die in der Auseinandersetzung mit Differenzen in der Eigen- und Fremdwahrnehmung besteht. Diese Elemente wurden als Voraussetzungen für die Entwicklung von „Multiperspektivität und Empathie“ genannt, die durch soziale Freiräume außerhalb der Lehrveranstaltungen und das sensible Aufgreifen dieser Erfahrungen im Seminarkontext unterstützt wurden (Lutz und MorokvasicMüller 2002: 121f). Als zentrales Ziel des global und transnational ausgerichteten Lehr-/Lernarrangements im Projektbereich Migration formulierten Lutz und Morokvasic-Müller, dass Ethnizität nicht als Merkmal von Minderheiten wahrgenommen wird, sondern in seiner Qualität als soziale Differenzlinie. Die ifu förderte so ein Bewusstsein darüber, dass „alle Anwesenden im Seminarraum (..) ‚ethnisch’ [sind] – mit dem Unterschied, dass die dominante ‚weiße’ Position als ethnische unsichtbar bleibt, während die ‚Anderen’ als ethnisch konstruiert ‚sichtbar gemacht’ werden“ (Lutz und Morokvasic-Müller 2002: 122). Die ifu bot mit ihrem spezifischen Setting die Chance, ein reflexives Verhältnis zu ethnischen und nationalen Zugehörigkeiten zu entwickeln, da es sich nicht um ein Auslandsstudium innerhalb einer nationalen Dominanzkultur handelte. Obgleich sich die Hochschule in Deutschland befand, wurden die Strukturen der Curricula überwiegend von internationalen Wissenschaftlerinnenteams mit transnationaler Expertise entwickelt. Auch wenn im Verlauf der ifu deutlich wurde, dass eine stärkere Einbeziehung von Wissenschaftlerinnen aus NichtIndustrienationen als Dozentinnen wünschenswert gewesen wäre, verfügte die ifu mit der Entwicklung der Organisation sowie ihrer inhaltlichen Gestaltung über ein außerordentlich großes internationales und transnationales Spektrum. Und schließlich bildeten die Dozentinnen und Teilnehmerinnen aus allen Kontinenten eine spezifische globale wissenschaftliche Community, innerhalb der die Leistung der Beteiligten über die Integration in ein nationales Hochschulsystem weit hinausging und als innerinstitutionelle Gestaltungsprozesse eines transnati-
Die ifu als transnationaler Bildungsraum
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onalen Bildungsraums beschrieben werden können. Es handelte sich bei der ifu um ein Setting, das eine Überschreitung national eingebundener Wissenschaftskontexte ermöglichte und in dem produktive Ansätze für eine kritische Auseinandersetzung mit eurozentrischen und US-amerikanischen Dominanzen entwickelt wurden. Mit diesem transkulturellen Lehr-/Lernsetting, das innerhalb der ifu im Projektbereich Migration am intensivsten reflektiert wurde, liegen Ansätze vor, die in der transnationalen Wissenschaftspraxis ein reflexives Verständnis von sozialen Differenzierungen und Ungleichheitsverhältnissen entwickelten. Die bei der ifu erprobten Ansätze transnationaler Kommunikation und Kooperation bilden damit ein Erfahrungspotenzial, das der Komplexität von veränderten Strukturen in internationalen und transnationalen Bildungssettings sowie dem sich zunehmend transnationalisierenden Mobilitätsverhalten von Studierenden und Lehrenden begegnet.
3.5
Die ifu als transnationaler Bildungsraum
Am empirischen Beispiel des transnationalen Settings der ifu mit Dozentinnen und Teilnehmerinnen aus aller Welt sowie anhand des Lehr-/Lernarrangements innerhalb eines Studienbereichs der ifu wurde die innerinstitutionelle MesoEbene transnationaler Bildungsräume diskutiert, die der Diskussion individueller Bildungsbiographien als Mikro-Ebene transnationaler Bildungsräume sowie der Transnationalisierung von Bildungsorganisationen wie sie von Vertretern des Neo-Institutionalismus sowie innerhalb der Hochschulforschung beschrieben worden sind, hinzugefügt werden müssen. Diese Ebene innerinstitutioneller Transnationalisierung von Bildungsräumen konnte am empirischen Beispiel der Internationalen Frauenuniversität ifu in der Gestaltung eines transnationalen Lehr-/Lernarrangements aufgezeigt werden. Die ifu bildete einen Bildungsraum, in dem die Mehrheit der Beteiligten bereits über eigene transnationale biographische und wissenschaftliche Erfahrungen verfügte oder durch den Aufenthalt bei der ifu entwickelte. Es wurde deutlich, dass ein international strukturiertes Lehr-/Lernsetting nicht zwangsläufig einen transnationalen Bildungsraum formiert, sondern dass Ansätze für die Entwicklung eines transnationalen Arrangements auf unterschiedlichen Ebenen Potentiale zur Organisationsentwicklung sowie ein hohes Maß an Reflexivität und Bereitschaft zur kommunikativen wissenschaftlichen und persönlichen Auseinandersetzung bei allen Beteiligten voraussetzt. Das Setting der ifu bot die Chance einer reflexiven Entwicklung eines transnationa-
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Transnationale Bildungsräume
len Bildungsraums, die folgende Stufen von innerinstitutioneller Reflexivität voraussetzte: • Auf der Ebene der Organisationsentwicklung: Bereitstellung von adäquaten Ressourcen für die spezifischen Alltagsbedürfnisse eines internationalen Settings (Unterbringung, praktische Hilfe bei Behördenangelegenheiten, Berücksichtigung von unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten, Ausstattung von Bibliotheken und Lehrmaterial – zumindest in englischer Sprache). • Entwicklung von „language-awareness“: Orientierung an einer gemeinsamen lingua franca, die jedoch auch innerhalb einer wissenschaftlichen Community ein Ausschlussmedium darstellen kann und für die Mehrzahl der Beteiligten nicht die Erstsprache wissenschaftlicher Kommunikation darstellt. Hier bestand die Möglichkeit und die Erfordernis, eine erhöhte Sensibilität sowie Fehlerfreundlichkeit zu entwickeln. • Sensibilisierung für Außenseiterpositionen und Entwicklung von Empathie: Das heterogene Setting der ifu bot die Möglichkeit, nicht nur heterogene Herkunftsregionen der Beteiligten zu thematisieren, sondern auch Unterschiede im Alter, der wissenschaftlichen Qualifikation, politischer Positionen, sexueller Orientierung und Unterschiede in der Lebensführung (z.B. transnational mobil/sesshaft, mit/ohne Kinder) der Beteiligten sehr komprimiert zu reflektieren und als Potenziale für die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu nutzen. • Das Arrangement der ifu bot einen Raum, in dem eine reflexive Auseinansetzung sowohl mit Eigen- und Fremddefinitionen in Bezug auf Ethnizität, nationaler Zugehörigkeit und Sexualität sowie auf andere Strukturkategorien wie Geschlecht, Alter und soziale Herkunft möglich war. • Anders als in der bildungstheoretischen Diskussion von Internationalisierung, Migration und Integration bislang üblich, bot die ifu die Möglichkeit – jenseits von kulturellen Stereotypisierungsdiskursen – Ethnizität nicht als Merkmal von Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft zu diskutieren, sondern Ethnizität als sozial konstruierte Diffenzkategorie zu verstehen. Daraus resultierte die Möglichkeit, eine global ausgerichtete Multiperspektivität in den Forschungsansätzen zu entwickeln, die als besondere Qualität der ifu gewertet werden kann. • Die Entwicklung eines global ausgerichteten Curriculums sowie Ansätze zum global teaching and learning, die das Ziel verfolgen, Asymmetrien in Frage zu stellen, die aus universalistisch orientierten Wissenschaftsverständnissen resultieren, und auf diese Weise einen Raum der Wissensproduktion für reflexive globale Perspektiven zu eröffnen.
Die ifu als transnationaler Bildungsraum
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Aus diesen Ansätzen innerinstitutioneller Organisationsentwicklung bei der ifu konnte eine innerinstitutionelle Meso-Ebene transnationaler Bildungsräume entwickelt werden. Die ifu bildete damit einen Ort der Aushandlung und Neubewertung von wissenschaftlichen Positionen innerhalb eines global gestalteten Kontextes und setzte Ansätze globaler wissenschaftlicher Auseinandersetzung im Sinne von Prozessen der Grenzverschiebung um. Hier wurde die ifu als ein empirisches Beispiel für die Diskussion und Entwicklung transnationaler Bildungsräume betrachtet. Für eine Übertragbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen auf andere Institutionen sind Übersetzungsprozesse erforderlich, da die ifu ein qualitativ neues Hochschulexperiment darstellte, das mit seiner Komplexität über Off-Shore-Universitäten und über den Kontext von wissenschaftlichen Auslandsaufenthalten hinausging. In diesem Sinne stellte die ifu einen neuartigen und experimentellen transnationalen Wissenschaftskontext dar, in dem wissenschaftliche Erkenntnisproduktion und transnationale Kommunikations- und Kooperationsprozesse nicht voneinander abgekoppelt nebeneinander standen, sondern zusammengedacht wurden. Zusätzlich zeigte sich, dass die Integration interkultureller Kommunikation als Aufgabe für alle Bereiche der Hochschule von der Lehre bis zur Verwaltung ein wesentliches Merkmal für die Entwicklung einer transnationalen Bildungsorganisation darstellt. Die Erfahrung der ifu verweist darauf, dass diese Dimension der qualitativen Organisationsentwicklung in nicht unerheblichem Umfang Ressourcen benötigt. Auf der Ebene individueller transnationaler Bildungsprozesse, die durch die Kombination der weltweiten Herkunftsstruktur der ifuBeteiligten sowie durch den hohen Anteil transnational hoch mobiler Personen beschrieben werden konnte, nahm die ifu den Perspektivenwechsel vom „ausländischen“ Studierenden/Forschenden zum „mobilen“ Studierenden/ Forschenden, der sich gegenwärtig in der Hochschulforschung vollzieht, vorweg und eröffnete darüber hinaus auch auf der innerinstitutionellen Meso-Ebene ein produktives Anregungspotenzial für die Gestaltung transnationaler Bildungsräume.
4
Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
Mit der Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien hat die Internationalisierung der Hochschulen eine neue Dimension erhalten. Die Kommunikationsmöglichkeiten des Internets sind für die Transnationalisierung von Wissensständen und Vernetzungen in der Wissenschaft ein Schlüsselfaktor. In der deutschsprachigen Diskussion wird die Virtualisierung der Wissenschaft bislang schwerpunktmäßig als eine Komponente der Reform von Studium und Lehre unter dem Stichwort e-Learning38 diskutiert. In der internationalen Hochschullandschaft zeichnet sich jedoch die Tendenz ab, dass inzwischen zunehmend transnational agierende Anbieter netzbasierte kommerzielle Lehrangebote entwickeln, die grenzüberschreitend agieren (Hahn 2004: 215f).39 Dass virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft nicht nur neue Formen von Lehr-/Lernsettings bereitstellen, sondern auch erhebliche Potenziale zur Transnationalisierung von Wissenschaftsräumen eröffnen, ist bislang ein Forschungsdesiderat. Die Globalisierungsforschung betont Perspektiven auf veränderte soziale Beziehungen durch das Internet (Appadurai 1996; Castells 2002 und 2003) und hebt dabei hervor, dass damit die Bedeutung des Raums im Schwinden begriffen sei. Ähnlich fokussiert auch die Transnationalisierungsforschung die Relevanz grenzüberschreitender Vernetzungen (Pries 2001: 51; Pries 2008; Faist 2002). Hier wurde bislang die Bedeutung des Internets für die Konstitution transnationaler Netzwerke nicht einbezogen, sondern die Diskussion transnationaler sozialer Räume beschränkt sich auf die Fokussierung von physischen Migrationsprozessen. Vernetzungsmöglichkeiten durch neue Medien werden 38
39
Einen guten Überblick über Entwicklungspotenziale der Digitalisierung von Hochschulbildung gibt ein von Kerres und Keil-Slawik (2005) herausgegebener Band, der die unterschiedlichen deutschsprachigen Diskussionsstränge zum e-Learning bündelt. Zu diesem Zweck wurde die „Global Alliance for Transnational Education“ gegründet, die jedoch wegen ihrer Nähe zu kommerziellen Anbietern umstritten ist. Die gestiegene Zahl transnationaler netzbasierter Lehrangebote, insbesondere aus Großbritannien und Australien, die zu den Marktführern in diesem Gebiet zählen, hat zu einer Ausweitung der Kommerzialisierung von Hochschulbildung geführt. Eine inhaltliche Internationalisierung und Transnationalisierung wissenschaftlicher Kommunikation ist damit jedoch bislang in der Regel nicht verbunden (vergl. Hahn 2004: 199ff).
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
zwar genannt; sie stehen jedoch nicht im Blickpunkt, sondern das Forschungsinteresse richtet sich insbesondere auf pluri-lokal gebundene Netzwerke (vergl. Kap. 2). Auch für die Konstitution transnationaler Communities in der Wissenschaft ist die Analyse internetbasierter Kommunikationsformen eine neue Forschungsperspektive. Für die Exploration dieses Zusammenhangs ist die Herstellung von Bezügen zwischen Ansätzen der Hochschulforschung sowie der Transnationalisierungsforschung und der Globalisierungsforschung fruchtbar, um eine Perspektive auf virtuelle Formen der Vernetzung in Transnationalisierungsprozessen zu entwickeln.40 Im Folgenden wird am Beispiel eines weltweiten virtuellen Wissenschaftlerinnennetzwerks die Entwicklung eines netzbasierten transnationalen Wissenschaftsraums analysiert. Bei dem hier vorgestellten empirischen Beispiel handelt es sich um das Absolventinnen-Netzwerk der ifu, virtuelle Internationale Frauenuniversität (vifu), das im Anschluss an die Präsenzphase des Hochschulentwicklungsprojekts zunächst mit einer virtuellen Kommunikationsplattform einen transnationalen Wissenschaftsraum initiierte (vergl. Schelhowe 2002; Kreutzner und Schelhowe 2003; Paulitz 2004 sowie Zorn 2004). Dieses virtuelle Netzwerk von Nachwuchswissenschaftlerinnen, das kontinentübergreifend von Absolventinnen der Internationalen Frauenuniversität geknüpft und weiterentwickelt wird, ist eine transnationale Community, deren Mitgliederstruktur auf die Teilnehmerinnen der Internationalen Frauenuniversität (ifu) zurückgeht, die schon während der Präsenzphase eine virtuelle Vernetzung über den vifu-Server realisiert haben. Nach dem Studium an der ifu haben die beteiligten Nachwuchswissenschaftlerinnen ein virtuelles Netzwerk entwickelt, das weitgehend selbst organisiert agiert und dabei Netzstrukturen nutzt, die im transnationalen Forschungskontext der Internationalen Frauenuniversität entstanden sind. Neben einer von einem Informatikerinnen-Team technisch unterstützten Internet-Konferenz sowie Lern- und Diskussionsplattformen, Netzausstellungen und einer weltweiten Expertinnendatenbank wurde auch eine transnational agierende Mailingliste initiiert, die ein nachhaltiges transnationales Vernetzungsinstrument zum wissenschaftlichen Austausch darstellt. Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen drei Fragen: • Wie kann die Struktur dieses transnationalen wissenschaftlichen Netzwerks beschrieben werden? • Welche Bedeutung hat die Mailingliste für die Herausbildung eines transnationalen Bewusstseins unter den beteiligten Akteurinnen? 40
Die Konfiguration transnationaler Räume durch das Internet stellt in der empirischen Forschung auch generell noch ein weitgehendes Desiderat dar. Erste Ansätze finden sich z.B. in den Forschungsarbeiten von Goel (2007, 2008) über ein deutsch-indisches Internetportal.
Transnationale Gemeinschaften im Internet
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• Wie können die Partizipationsbedingungen an dieser transnationalen Vernetzung von Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Weltregionen beschrieben werden? Bevor die Befunde einer Online-Befragung in Kombination mit einer teilnehmenden Beobachtung des Netzwerks diskutiert werden (Kap. 4.2.-4.6.), werden zunächst theoretische Perspektiven diskutiert, die die Einordnung der empirischen Befunde erlauben. Für die Analyse der Fallstudie zum virtuellen transnationalen Wissenschaftlerinnennetzwerk vifu ist – ergänzend zu theoretischen Perspektiven auf Prozesse der Globalisierung und der Transnationalisierung – ein Blick in einen Klassiker der Soziologie erhellend. Im Folgenden wird zunächst eine Re-Lektüre des für die soziologische Theorie grundlegenden Begriffs der Gemeinschaft vorgeschlagen, wie sie zuerst von Tönnies (1991; Org. 1908) aufgeworfen wurde, um diese für die Entwicklung einer Perspektive auf die sozialen Prozesse innerhalb transnationaler virtueller Communities fruchtbar zu machen. Das Erkenntnisinteresse liegt hier insbesondere auf einer Analyse der Qualität und der Quantität der sozialen Neukonfiguration innerhalb eines transnationalen virtuellen Raums, wie er von den Wissenschaftlerinnen des vifuNetzwerks konstituiert wird.
4.1
Transnationale Gemeinschaften im Internet
Durch das Internet ist die Welt nicht nur räumlich „geschrumpft“, auch die Dimension Zeit ist durch die Virtualisierung von Kommunikationsstrukturen verändert und mit nur wenigen Mausklicks können Informationen aus der ganzen Welt sekundenschnell abgerufen bzw. in alle Welt geschickt werden. Kommunikation kann sowohl mit Personen an ganz unterschiedlichen Orten der Welt und zeitlich relativ unabhängig voneinander stattfinden. Virtuellen Kommunikationsformen gelten als Beispiel für die von Appadurai (1996) beschriebenen „spaces of flow” (vergl. auch Kap. 2 sowie Castells 2001; Giddens 1991; Hannerz 1996). Dabei werden die Bildung von sozialen Gemeinschaften sowie die individuelle Positionierung von Akteur/inn/en in der vernetzten und globalisierten Wissensgesellschaft fokussiert. Neben weltweiten Finanzströmen und Migrationsprozessen wird die Bedeutung des Internets als ein zentraler Schlüsselfaktor für Transnationalisierungsprozesse hervorgehoben. Thematisiert wird in diesem Zusammenhang insbesondere die globale Reorganisation von raum/zeitlichen Strukturen. Castells (2001, 2002) betont, dass durch diese Neukonfiguration des Sozialen die Potenziale für die Bildung von Gemeinschaften eine Öffnung erfahren haben, die grenzüberschreitend und global sind, da sie
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
unabhängig von der lokalen Verortung der beteiligten Akteure sowie abgelöst von zeitlichen Strukturen entwickelt werden können. Globalisierungstheoretische Ansätze heben übereinstimmend die sozialen Effekte des Internets hervor. Dabei stehen die Möglichkeiten zur Konstruktion neuer sozialer Vernetzungen sowie der politischen Partizipation im Zentrum des Interesses. Innerhalb dieser neuen transnationalen Räume, die Appadurai (1996) als „Mediascapes” beschreibt, bildet die transantionale Überschreitung und Neukonfiguration von Grenzen durch das Internet eine zentrale Perspektive. In diesem Zusammenhang wird auch die Herausbildung von grenzüberschreitenden Identitätsbildungsprozessen betont (Castells 2001; Appadurai 1986; Giddens 1996), die zu Neukonfigurationen von Identitäten führen, die als „kosmopolitisch“, „hybrid“ oder „creolisiert“ beschrieben worden sind. Diese Dimension des Internets wurde bereits in den ersten Jahren seiner Verbreitung thematisiert. Haraway (1991) hat in ihren Schriften über das Internet betont, dass auch die Dekonstruktion von Gender durch die Interaktion zwischen „Mensch und Maschine“ als eine Konsequenz der Virtualisierung von Lebenswelten zu beschreiben ist. Sie hebt dabei hervor, dass die digitalisierte Informationstechnologie auch das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Technologie radikal beeinflusst und hybride sozio-technische Konstellationen hervorbringt. Ähnlich hat Turkle (1998) gezeigt, dass das Internet als ein neuartiger Sozialraum zu betrachten ist, der die beteiligten Akteure und Akteurinnen in besonders intensiver Weise dazu befähigt, virtuelle Kommunikationsräume als reflexive Orte für Identitätskonstruktionen zu nutzen, in denen Individuen flexibilisierte und veränderbare Identitäten ausbilden können (ebd.: 229-230). Eine weiterreichende Perspektive auf das Verhältnis von Technologie und Gesellschaft wurde in der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007; Belliger und Krieger 2006) entwickelt, mit der das Zusammenwirken sozialer und technischer „Aktanten“ fokussiert und einer Trennung von Gesellschaft und materieller Umwelt radikal widersprochen wird. Aus einer stärker praxeologisch orientierten Perspektive wurde die transnationale Bedeutung des Internets auch im Kontext weltweiter Frauenbewegungen hervorgehoben (z.B. Marx-Ferree 2007). In diesen Diskursen werden in der virtuellen Informationstechnologie weniger die Möglichkeiten zur Flexibilisierung und Neukonstruktion von Identitäten betrachtet, sondern hier interessiert vor allem die Relevanz des Internets als Ressource für sozialen und politischen Wandel, die in Hinblick auf das weltweite Empowerment von Frauen und die transnationale Vernetzung feministischen politischen Engagements hervorgehoben wird. „In cyperspace, women can share their experience and knowledge, reinforce their common beliefs or collective identities and actions. (..) The Internet has become a central tool for feminist groups, for developing resources,
Transnationale Gemeinschaften im Internet
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organizing collective identities, coordinating networks, producing knowledge, disseminating information, and mobilizing actors.“ (Vogt und Chen 2001: 371, zit. in: Kahlert 2004: 59) Ausgehend von diesem perspektivischen Spektrum, in dem die Bedeutung des Internets als transnationaler Sozialraum einerseits in Hinblick auf die Konstruktion von Identitäten und andererseits als soziale und politische Ressource in den Blick genommen wird, stellt sich die Frage, wie virtualisierte Gemeinschaftsbildungen, die von raum/zeitlichen Strukturierungen losgelöst sind, als soziale Formationen beschrieben werden können. Der klassische soziologische Ansatz zur Bildung von Gemeinschaften, wie er von Tönnies (1991, Org.1908) formuliert wurde, betont insbesondere die räumliche Nähe von Personen als eine zentrale Voraussetzung zur Bildung von sozialen Gemeinschaften, wie sie beispielsweise unter Familien oder Nachbarn zu finden sind. Als weitere Komponente der Gemeinschaftsbildung hebt Tönnies hervor, dass neben der räumlichen Nähe auch eine ideelle Verbindung bestehen müsse, die er als „Geist“ einer Gemeinschaft beschreibt. Auch wenn die Neukonfiguration von raum/zeitlichen Strukturen des Internets den Gedanken der räumlichen Nähe als Voraussetzung zur Bildung von Gemeinschaften hinfällig macht, ist das Konzept einer ideellen Verbindung zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft auch für die Konstitution von virtuellen Gruppen relevant. Rheingold (1993) hat als einer der Pioniere in der soziologischen Beobachtung des Internets diesen Aspekt der Gemeinschaftsbildung für virtualisierte Kommunikationsformen in seiner Analyse der „Well“-Community, der ersten virtuellen Gemeinschaft im Internet, hervorgehoben. Rheingold hat als Schlüsselkonzepte für die Bildung von virtuellen Gemeinschaften einen „shared spirit“ beschrieben, der gemeinsame soziale Werte und ein auf Reziprozität basierendes Verständnis von Geben und Nehmen sowie die Bereitschaft, für die Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen, umfasst. Auch neuere Arbeiten zur Entwicklung von Communities im Internet betonen soziale Aspekte, wie sie bereits Rheingold beschrieben hat. Duval und Welger (2005) haben im Anschluss an diese Diskussionen ein Rahmenkonzept für die Analyse virtueller Gemeinschaftsbildung entwickelt, in dem die Faktoren Emotionalität, gegenseitige Verantwortung sowie eine geteilte Vorstellung einer gemeinsamen Geschichte als Gruppe eine Schlüsselrolle spielen. Die Autorinnnen schließen daraus, dass virtuelle soziale Räume durch die Nutzerinnen und Nutzer konstruiert werden, und sie betonen, dass die Bildung virtueller Gemeinschaften Parallelen zur Konstruktion von Gemeinschaften aufweist, die außerhalb des Internets bestehen. Duval und Welger unterscheiden Handlung, Emotionalität und soziale Interaktionen als drei zentrale soziale Dimensionen virtueller Gemeinschaftsbildung. Ein gemeinsamer Handlungsrahmen wird als grund-
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
legend für die Bildung virtueller Gemeinschaften beschrieben. Hier sind soziale Komponenten wie Authentizität, gegenseitige Hilfsbereitschaft und Verantwortung ebenso wie Gemeinschaftsregeln und geteilte Reziprozitätsnormen die zentralen Elemente, mit denen der Handlungsrahmen von Internet-Communities abgesteckt wird. Für die Kontinuität netzbasierter Gemeinschaften wird Emotionalität als wesentliches Merkmal beschrieben, durch die ein Zugehörigkeitsgefühl zur Community bei den einzelnen Mitgliedern entstehen kann. Für die Entwicklung von Emotionen im Netz betonen Duval und Welger, dass sowohl wechselseitiges Vertrauen als auch Face-to-Face-Kontakte der Mitglieder virtueller Gemeinschaften wesentliche Faktoren darstellen, ohne deren Vorhandensein sich virtuelle Gemeinschaften nicht dauerhaft entwickeln können. Für die Ebene sozialer Interaktionen erachten sie es in Übereinstimmung mit Rheingold als bedeutsam, dass die Mitglieder einer virtuellen Gemeinschaft eine gemeinsame Vorstellung ihrer Geschichte, ihrer Werte und ihrer Ziele besitzen (ebd.: 240). Dieses Konzept virtueller Gemeinschaften, das den Zusammenhang zwischen Handlungsrahmen, Emotionalität und Gemeinschaftsbildung im Netz fokussiert, sowie die Dimension der (zumindest potenziellen) Transnationalität virtueller sozialer Räume eröffnen eine Perspektive darauf, wie ein so fluides soziales Arrangement wie eine selbstorganisierte virtuelle Community von Wissenschaftlerinnen aus allen Kontinenten beschrieben werden kann.
4.2
Ein transnationales Wissenschaftsnetzwerk
Die Fallstudie basiert auf der Analyse eines weltweiten virtuellen Netzwerks, das 1999 als Kommunikationsplattform für ausgewählte Wissenschaftlerinnen aus allen Kontinenten initiiert wurde. Die Nutzerinnen des virtuellen Netzwerks „vifu“ rekrutieren sich aus der Gruppe der Absolventinnen des internationalen Postgraduiertenprogramms Internationale Frauenuniversität ifu und es sind ebenfalls Wissenschaftlerinnen an der vifu beteiligt, die zum Lehrpersonal der ifu zählten. Der vifu-Server wurde bereits einige Monate vor Anlauf der Präsenzphase der ifu in Betrieb genommen und wurde zu diesem Zeitpunkt zunächst als Informationsplattform über das Lehr- und Forschungsprogramm sowie zu den Anreise- und Unterbringungsmodalitäten des internationalen Wissenschaftsprojekts genutzt. Im Zentrum dieser ersten Phase zur Initiierung des transnationalen virtuellen Wissenschaftlerinnen-Netzwerks stand die Beteiligung der Nutzerinnen an der partizipativen Ko-Konstruktion der technischen Umgebung, die mit dem Server bereitgestellt wurde. Die Integration der Nutzerinnen-Perspektiven stellte ein Schlüsselelement in der Entwicklung des virtuellen Wissenschaftlerinnen-Netzwerks dar und beinhaltete, dass die Erfahrungen
Ein transnationales Wissenschaftsnetzwerk
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und das Feedback der beteiligten Wissenschaftlerinnen in einem mehrstufigen technischen Entwicklungsverfahren in den Aufbau des Servers integriert wurden. Das vifu-Konzept basierte zudem auf unkomplizierte sowie auf unterschiedliche technische Zugangsmöglichkeiten zugeschnittene frei zugängliche Software, die die zum Teil sehr erschwerten Ausgangssbedingungen der Userinnen insbesondere aus Afrika, Lateinamerika und Südasien berücksichtigte und keine technisch hochgerüsteten Standards voraussetzte. Das partizipative Design des vifu-Servers beinhaltete ebenfalls Trainingseinheiten zum Erwerb von technischen Schlüsselkompetenzen, die auf dem Prinzip „learning by asking and doing“ basierten (vergl. Paulitz 2005, 2002; Kreutzner und Schelhowe 2002; Zorn 2004). Mit diesem integrativen Technikansatz wurde die Kompetenz der Nutzerinnen gestützt und das partizipative Konzept der vifu steht im Zusammenhang mit feministischen Ansätzen zur Demokratisierung technischer Zugangsmöglichkeiten für Frauen. Die Möglichkeit, einen virtuellen Raum für Wissenschaftlerinnen aus aller Welt zu schaffen, stellte damit sowohl für die beteiligten Entwicklerinnen als auch für die Nutzerinnen eine Herausforderung dar und insbesondere die transnationale Dimension des Projekts hatte nicht nur eine technische, sondern auch eine politische und wie sich zeigte auch eine ausgeprägte emotionale Dimension. Entsprechend euphorisch wurde die Inbetriebnahme des vifu-Servers sowohl von den Entwicklerinnen als auch den Nutzerinnen aufgenommen und die vifu war von Anfang an wegen ihres transnationalen Pilotcharakters von einer Aufbruchstimmung begleitet, die das Selbstverständnis dieser transnationalen Wissenschaftlerinnen-Community von Anfang an prägte. Das vifu-Experiment transnationaler virtueller Wissenschaftskommunikation weist wegen seines Pioniercharakters einige interessante Parallelen zur Internet-Community „Well“ auf (Rheingold 1993). „Well“ wurde als die erste virtuelle Community betrachtet; sie unterschied sich in ihrer lokalen Reichweite jedoch im Wesentlichen dadurch von der vifu-Community, dass ihre Mitglieder Menschen waren, die in ein und derselben Stadt wohnten. Durch die virtuelle Vernetzung war zwar die Bedeutung des Raums außer Kraft gesetzt, die Möglichkeiten des Internets, auch sehr weite Entfernungen kommunikativ zu überbrücken, wurden hier jedoch nicht ausgeschöpft. Die vifu war von einer sehr ähnlichen Aufbruchstimmung getragen wie sie Rheingold für das Pionierprojekt „Well“ beschreibt, weil es sich in zweierlei Hinsicht um die Bildung einer völlig neuartigen virtuellen Community handelte: Einerseits wurde die Dimension der Transnationalität nicht auf internationale Kontakte zwischen Wissenschaftlerinnen aus einigen wenigen Ländern beschränkt, sondern global aufgefasst, andererseits handelte es sich bei diesem Pilotprojekt erstmals auch um eine Vernetzung von weiblichen Forschenden und Lehrenden, die aus einer Initiative von
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
Genderforscherinnen der unterschiedlichsten Disziplinen entstanden ist (vergl. Kap. 3). Die damit verbundenen Herausforderungen und die Herausbildung eines gemeinsamen Verständnisses von einem globalen Wissenschaftsraum für weibliche Forscherinnen bildet die Basis für ein innerhalb dieser virtuellen Gemeinschaft geteiltes Verständnis der Geschichte der vifu und beförderte sowohl lebhafte Aktivitäten innerhalb der Community als auch ausgeprägte Verbindlichkeit und gegenseitige Unterstützung unter ihren Mitgliedern. Während der dreimonatigen Studien- und Forschungsphase in den lokal gebundenen Forschungsprogrammen der ifu wurde der Server als Diskussionsplattform genutzt und eine umfangreiche Expertinnen-Datenbank eingerichtet, in der Wissenschaftlerinnen und die an der ifu beteiligten Künstlerinnen41 ihre eigenen Homepages einrichteten und Studien- und Forschungsmaterial zur Verfügung stellten. Zusätzlich wurde die soziale Vernetzung unter den Wissenschaftlerinnen durch Fotogalerien unterstützt. Nach der lokal basierten Präsenzphase der ifu blieb der vifu-Server als technische Umgebung bestehen und diente der nachhaltigen transnationalen Vernetzung der Nutzerinnen. In den ersten Monaten nach der Präsenzphase diente der vifu-Server als Diskussionsforum und als Raum zur Veröffentlichung von wissenschaftlichen Aufsätzen und künstlerischen Arbeiten, die im Kontext der ifu entstanden sind. Ein Jahr nach der Präsenzphase wurde über den Server eine weltweite virtuelle Konferenz von Genderforscherinnen aus allen Kontinenten organisiert. Das Kernstück des weltweiten Netzwerks bildet jedoch eine Mailingliste, die allen an der ifu beteiligten Wissenschaftlerinnen offen stand. Mit dieser Mailingliste setzte sich nicht nur eine sehr direkte transnationale Kommunikationsform durch, es handelte sich damit zugleich auch um die technisch am einfachsten zu lösende Kommunikationsform, die auf einer selbst organisierten Basis einen dauerhaften Austausch von Wissenschaftlerinnen aus aller Welt ermöglicht, der vollkommen unabhängig von einem aufwendig gestalteten technischen Environment agiert.42 Neben dieser gemeinsamen Mailingliste wurden auch virtuelle Kommunikationszirkel von themenspezifischen Gruppen gegründet, in anderen kleineren 41
42
Die ifu richtete sich nicht ausschließlich an Wissenschaftlerinnen in sechs interdisziplinär organisierten Forschungsbereichen, sondern es gab als ein quer zu diese forschungsfokussierten postgradualen Angeboten das Artproject, in dem Künstlerinnen aus aller Welt sich mit innovativen Perspektiven auf die von den beteiligten Wissenschaftlerinnen aufgeworfenen Fragen beschäftigten (vergl. Loreck 2000, 2002). Nach der Präsenzphase der ifu konstituierte sich die Mailingliste zunächst über den vifuServer. Nach Beendigung des vifu-Projekts ereignete sich ein technischer Zusammenbruch des Servers, der auf einen Hacker-Angriff zurückgeführt wird. Anschließend organisierte sich die Mailingliste der Wissenschaftlerinnen erneut aus eigenen Ressourcen, jedoch mussten die Wissenschaftlerinnen mit ihrer Mailingliste auf den Server eines kommerziellen Anbieters ausweichen.
Ein transnationales Wissenschaftsnetzwerk
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Freundschaftsgruppen wurden so genannte kleinere “e-touch”-Netzwerke initiiert. Für die Studie wurde eine Online-Befragung in der zentralen Mailingliste durchgeführt, die auf der Kombination von quantitativen und qualitativen Fraugen basiert. Die Befragung enthielt insgesamt 14 geschlossene Fragen zu den Schwerpunkten „Networks“, „Relevance of ifu-experience“, „ifu-Studies: Personal Outcomes“, „Professional Experiences after ifu“. Ein weiterer geschlossener Fragenblock fokussierte sozialstrukturelle Angaben, Mobilitätsstrukturen sowie die wissenschaftlichen Abschlüsse der Befragten (Fach, Abschlussgrade, Hochschule). Dieser Fragenkatalog wurde durch offenen Fragen ergänzt, in denen die Befragten gebeten wurden, 1. ihre persönlichen Erfahrungen mit dem vifu Netzwerk zu beschreiben, 2. darzustellen, ob, und wenn ja, welche wissenschaftlichen Anschlüsse sich für sie aus der Teilnahme an der ifu ergeben haben (z.B. in Form von Publikationen, Forschungsprojekten und -vorhaben, Stellenangeboten und Stipendien), 3. wurde am Ende des Fragebogens um abschließende Kommentare zur Befragung gebeten. Die qualitativen Antworten auf diese offenen Fragen wurden inhaltsanalytisch ausgewertet und in Beziehung zu den quantitativen Ergebnissen der Online-Befragung gesetzt. Darüber hinaus wurden die Befunde der teilnehmenden Beobachtung hinzugezogen. Die Online-Befragung erzielte einen Rücklauf von 51 Fragebögen, dies entspricht 27 Prozent der an der Community aktiv partizipierenden Wissenschaftlerinnen. Die Beteiligung der Wissenschaftlerinnen am vifu-Netzwerk wurde auf der Basis von teilnehmenden Beobachtungen der Mailingliste ermittelt, die im Zeitraum von Juli 2002 bis Juli 2003 durchgeführt wurde. In diesem Zeitraum versendeten insgesamt 195 Wissenschaftlerinnen z.T. mehrfach und regelmäßig Beiträge an die Mailingliste. Im Untersuchungszeitraum wurden durchschnittlich zwischen vier und sechs Postings am Tag von Wissenschaftlerinnen aus aller Welt an die Mailingliste versendet. Die Stichprobe beinhaltet insofern eine Besonderheit, als dass keine klare Definition der Grundgesamtheit der beteiligten Wissenschaftlerinnen möglich ist und passive Mitgliedschaften in Mailinglisten ebenso wenig zu definieren sind wie die erzielte Erreichbarkeit der Befragten. Diese sind einerseits abhängig von technischen Voraussetzungen und andererseits vom individuellen Rezeptionsverhalten. Es ist zudem davon auszugehen, dass bei der Transaktion der Mailingliste vom ursprünglichen vifuServer zu einem kommerziellen Anbieter Teile des Netzwerks verloren gegangen sind. Nach der technischen Störung, die für einige Wochen die Kommunikationswege des Netzwerks vollständig unterbrochen hatte, erfolgte die Reorganisation der Liste auf Initiative einzelner Akteurinnen, die sich darum bemühten, die Netzwerkmitglieder abermals in die Liste zu integrieren. Auch dieser
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
Vorgang setzte die Erreichbarkeit sowie die individuelle Motivation der Beteiligten voraus. Bei der Versendung der Fragebögen im September und Oktober 2003 ist darauf verzichtet worden, aufwendige Software zu nutzen, die lange Downloadzeiten und neuere Programme voraussetzt. Stattdessen war das Dokument optional entweder im Word-Format sowie als direkt zugänglicher Text im ASCII-Format in der E-Mail verfügbar, um eine möglichst leicht zugängliche und auch mit älteren Softwares kompatible Online-Befragung durchführen zu können.43 Ziel war es, einen möglichst hohen Rücklauf zu erreichen und auch Wissenschaftlerinnen mit älteren Computern oder langsamen Internetverbindungen einzubinden, ebenso wie Teilnehmerinnen, die über keinen eigenen Internetanschluss verfügen und auf den Zugang in Internetcafes angewiesen sind. Die Befunde der Online-Befragungen wurden für eine Exploration des Zusammenhangs zwischen der Beteiligung an dem transnationalen Wissenschaftsprojekt ifu und transnationaler Mobilität der beteiligten Wissenschaftlerinnen genutzt. Im Folgenden wird in der Fallstudie des Online-Netzwerks vifu anhand der Befunde des quantitativen Teils der Befragung sowie auf Basis der offenen qualitativen Fragen der Online-Erhebung und unter Berücksichtigung der Teilnehmenden Beobachtungen der Mailingliste 1. die Struktur des Netzwerks, 2. die Bedeutung des Netzwerks für die Transnationalisierung von Einstellungen, Karriereentwicklungen und Lebensführungen sowie 3. für eine Reflexion der Partizipationsbedingungen von Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Weltregionen am Beispiel des global und transnational strukturierten Netzwerks vifu diskutiert. Zudem wurde auf Basis der Online-Erhebung ein kriteriengeleitetes qualitatives Sample für die Durchführung von biographischen Interviews mit transnational mobilen Wissenschaftlerinnen generiert (vergl. Kapitel 7.4.).
43
Ich danke Maika Büschenfeld vom Institut für Informatik der Universität Bremen für ihre technische Beratung bei der Konzeption der Online-Befragung.
Wer webt das Netz? – Ergebnisse der Online-Befragung
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Wer webt das Netz? – Ergebnisse der Online-Befragung
Die Teilnehmerinnen des virtuellen Netzwerks vifu können als eine Gruppe hochmobiler Wissenschaftlerinnen beschrieben werden, die in der überwiegenden Mehrzahl bereits einen oder mehrere längere Auslandsaufenthalte im Verlauf ihrer wissenschaftlichen Ausbildung sowie zu Lehr- und Forschungszwecken absolviert haben. Alle Beteiligten befanden sich in unterschiedlichen Stationen postgradualer wissenschaftlicher Qualifikation, wobei 74 Prozent Doktorandinnen oder Postdoktorandinnen waren. 62 Prozent der Befragten gaben an, dass sie in der Lehre beschäftigt waren. Das Alter der Wissenschaftlerinnen bewegte sich in einem relativ breiten Spektrum und lag zwischen 27 bis 50 Jahren. Die disziplinäre Zugehörigkeit der Beteiligten basierte mit einem klaren Schwerpunkt auf den Geistes- und Sozialwissenschaften (79 Prozent), aber auch Naturwissenschaftlerinnen, Medizinerinnen und Ingenieurinnen beteiligten sich an der vifu-Mailingliste. Auch die weltregionale Herkunft innerhalb der vifu-community verteilte sich über alle Kontinente, wobei jedoch im Vergleich zur Ausgangsgruppe der an der ifu-Präsenzphase beteiligten Wissenschaftlerinnen eine klare Verschiebung zugunsten von Teilnehmerinnen aus Industrieländern und zu Lasten von Wissenschaftlerinnen aus Afrika, Südasien, Lateinamerika und Osteuropa zu verzeichnen ist. Die 51 vifu-Teilnehmerinnen, die den Online-Fragebogen beantwortet haben, gaben als Land ihrer Herkunft 24 unterschiedliche Nationen an. Eine Klassifizierung der Mitglieder dieser Gruppe durch die Länder ihrer Herkunft ist jedoch inadäquat, da die Biographien der Akteurinnen in den meisten Fällen durch mehrfache Migrationsbewegungen im Verlauf ihrer akademischen Karriereentwicklungen geprägt sind. Zum Zeitpunkt der Befragung lebten 45 Prozent der beteiligten Wissenschaftlerinnen nicht in ihrem Geburtsland und alle Befragten haben mindestens einen längeren akademischen Auslandsaufenthalt angegeben. Dabei handelte es sich sowohl um Studienaufenthalte als auch um Arbeitsverhältnisse an Hochschulen in anderen Ländern. Insgesamt konnten innerhalb der Gruppe der Befragten insgesamt 99 einzelne Migrationsbewegungen festgestellt werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Mobilität der Wissenschaftlerinnen auch nach der Befragung anhielt. Sowohl in der Hochschulforschung (Lanzendorf 2003: 288f) als auch in der Transnationalisierungsforschung (Mau 2007) wurde gezeigt, dass Mobilität als akademische Lebensform sich inzwischen als Normalität etabliert hat. Akademische Mobilität hat seit Anfang der 1990er Jahre enorme Zuwächse erfahren und die Tendenz zu multiplen Migrationsprozessen in der Wissenschaft ist weiterhin steigend. Entsprechend sind innerhalb der Gruppe der Befragten beispielsweise Biographien zu finden wie die einer kenianischen Soziologin, die
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
ihren ersten Studienabschluss in ihrem Herkunftsland erworben hat, an der ifu in Deutschland teilnahm, und anschließend in Kanada eine Promotionsstelle erhielt. Ein anderes Beispiel stellt die Migration einer polnischen Anthropologin dar, die nach ihrem Studienabschluss ebenfalls an der ifu teilnahm und anschließend an einer anderen international ausgerichteten Hochschule promovierte, eine Lecturerstelle in den USA annahm und nach zwei Jahren als Anwärterin auf eine Professur nach Polen zurückkehrte. Ein weiteres Beispiel ist eine Ärztin, die ihre Herkunft als kanadisch-deutsch angibt, in Österreich, Frankreich und Deutschland studierte und zum Zeitpunkt der Befragung gerade eine Arbeitsstelle an einer französischen Hochschule angenommen hatte. Ein weiteres Beispiel für eine transnationale akademische Karriereentwicklung ist die Biographie einer Architektin, die in Österreich aufgewachsen ist, in Deutschland studierte und ihre ersten Anstellungen in Großbritannien und den USA annahm und inzwischen eine international operierende Firma in Indien gegründet hat. Die Mailingliste kann vor diesem Hintergrund als ein Kontext gesehen werden, in dem sich Wissenschaftlerinnen miteinander vernetzen, die ihre biographischen Entwicklungen in transnationalen Räumen entwickeln. Damit beschränkt sich die Transnationalität der virtuellen Community vifu nicht auf weltweite Kommunikationsprozesse zwischen Wissenschaftlerinnen, die an unterschiedlichen Orten der Welt leben, sondern es handelt sich um ein Kommunikationsforum von Wissenschaftlerinnen, die die transnationale Migration zumindest temporär als Lebensform gewählt haben. Die Kombination transnationaler biographischer Muster und die Struktur transnationaler Vernetzung, die sich in der Herausbildung der vifu-Community gezeigt hat, verdeutlicht, dass die Transnationalität dieses Wissenschaftlerinnen-Netzwerks mehrdimensional ist und sich sowohl auf die Gestaltung eines transnationalen, netzbasierten Sozialraums als auch auf die individuellen Biographien als Transnationalisierung „von unten“ erstreckt. Die vifu-community kann darüber hinaus – ebenso wie die ifu – als ein transnationaler Sozialraum beschrieben werden, in dessen Kontext die Kategorie Gender eine Bedeutungsverschiebung erfährt, da die ausschließliche Teilnahme von weiblichen Akteurinnen bereits darauf verweist, dass mit der vifu ein Kommunikationsraum geschaffen wurde, der Gender einerseits in den Vordergrund rückt und zugleich einen Möglichkeitsraum bietet, die Differenz männlich / weiblich zurückzustellen, um eine Perspektive auf die Unterschiede zu öffnen, die es zwischen Frauen gibt, selbst in einer bezogen auf den Stand der Bildung und der beruflichen Orientierung relativ homogenen Gruppe wie in der Com-
Wer webt das Netz? – Ergebnisse der Online-Befragung
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munity der an der vifu partizipierenden Wissenschaftlerinnen.44 Darüber hinaus stellte Gender den gemeinsamen Forschungsfokus der Wissenschaftlerinnen dar und bildete gleichzeitig einen politischen Handlungsrahmen, der die Akteurinnen miteinander verbindet. Zusätzlich zeigen die Antworten der vifu-Akteurinnen die hohe Bedeutung von Transnationalität. Insbesondere in den offenen Fragen der Online-Befragung wurde die Relevanz des transnationalen Netzwerks für die persönliche Lebensführung hervorgehoben. Exemplarisch kann hier eine Soziologin aus Bangladesh zitiert werden, die nach ihrer Teilnahme an der ifu-Präsenzphase für ein Jahr nach Bangladesh zurückkehrte und anschließend einen erneuten Studienaufenthalt als Doktorandin in einem Graduiertenkolleg in Deutschland hatte, bevor sie eine Stelle an einer Hochschule in Großbritannien annahm. Sie beschreibt das vifu-Netzwerk, das sie für ihre von Wissenschaftsmobilität geprägte Lebensführung als bedeutende soziale Ressource empfindet, die sie in der Entwicklung ihrer transnationalen Lebensführung unterstützt: “Both my private and academic life was incredibly influenced. In terms of practical use I could say that my living style, beliefs, thoughts and practices have changed and developed in a great extent.” (FB 31)
Hier wird deutlich, dass für diese Wissenschaftlerin der Austausch mit anderen Wissenschaftlerinnen, die einen ähnlich mobilen Lebensstil wie sie selbst führen, eine soziale Ressource für ihre berufliche und soziale Entwicklung darstellt. Die vifu-Community setzt sich damit nicht nur aus hochmobilen Wissenschaftlerinnen zusammen, sondern diese leben auch an sehr unterschiedlichen Orten und kommen aus einem breiten Spektrum von Ländern. Die Verbindung, die zwischen ihnen besteht, ist zum einen durch ihre gemeinsame Teilnahme an der Präsenzphase der ifu begründet, in der jedoch nicht alle vifu-Akteurinnen sich persönlich kennen gelernt haben, da die ifu-Projekte an unterschiedlichen Hochschulen stattfanden. Die sozialen Gemeinsamkeiten bestehen darin, dass sie als Lehrende und Forscherinnen tätig sind und ihre wissenschaftliche Arbeit überwiegend transnational organisiert ist. Hier besteht ein engerer Zusammenhang zwischen der ifu-Präsenzphase und der Mobilität der an dem Internationalisierungsprojekt beteiligten Wissenschaftlerinnen. Durch die wissenschaftlichen und sozialen Verbindungen, die während des ifu-Semesters geknüpft wurden eröffnete sich ein breiteres Spektrum von Möglichkeiten, Stipendien und For-
44
Vergl. dazu die grundlegenden Überlegungen von Wetterer (1995) zur Frauenuniversität als “paradoxe Intervention” sowie Neusel (2000) und insbesondere die Auseinandersetzung von Metz-Göckel (2000, 2002) über die sozialen Effekte für die Dekonstruktion der Kategorie Gender in homosozialen Bildungskontexten.
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
schungsgelder zu beantragen und sich weltweit auf Arbeitsplätze in der Wissenschaft zu bewerben. Eine weitere Gemeinsamkeit unter den Wissenschaftlerinnen des vifuNetzwerks besteht darin, dass sie aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven eine Nähe zu Fragen der Genderforschung besitzen und unterschiedliche Zugänge zu einer kosmopolitischen Ausrichtung ihrer Lebensführung und ihren wissenschaftlichen Fragestellungen besitzen. In der Befragung wurde deutlich, dass sowohl ein Bewusstsein für Genderfragen als auch für internationale und interkulturelle Fragestellungen von allen Interviewten als wichtig oder sogar sehr wichtig bewertet wurde. In diesem Sinne kann die vifu-Community als ein transnationaler Raum beschrieben werden, der Transnationalität in den Einstellungen, Lebensführungen und Berufswegen der beteiligten Akteurinnen spiegelt. Die vifu spannt jedoch auch einen transnationalen und zugleich beweglichen Raum zwischen den einzelnen Mitgliedern des Netzwerks auf. Eine Stadtplanerin aus Österreich, die zum Zeitpunkt der Befragung in Südasien forschte, beschreibt die virtuelle Community vifu dadurch, dass sie diese transnationale Dimension als Reflexionsraum für ihre eigene mobile Lebensführung betrachtet: “My experience at ifu helped me a lot to understand how culture works and what is important to develop cultural awareness. It makes it much easier to adapt to new situations, in general, not only to cultural changes.” (FB 43)
Die gemeinsame Vorstellung der vifu-Akteurinnen, mit anderen transnational mobilen Wissenschaftlerinnen vernetzt zu sein, korrespondiert mit dem Bild von der vifu-Community, in der Frauen aus allen Kontinenten als Teil eines Netzwerks beteiligt sind, das nicht nur transnationale Mobilität, sondern auch Globalität repräsentiert. Dieses grenzerweiterende Bewusstsein wird von einer Erziehungswissenschaftlerin aus Deutschland als eine zentrale Komponente ihres Alltags hervorgehoben, die sie als eine Form transnationaler sozialer Zugehörigkeit beschreibt: “I feel supported in my ideas and ways of life. (..) I am motivated and inspired to go international. I enjoy my day-to-day work because starting my computer offers me the whole world.” (FB 29)
In diesem Statement wird deutlich, dass der Austausch über Mobilitätsmöglichkeiten und die Erfahrung Anderer mit transnationaler Wissenschaftsmobilität einen motivierenden Effekt auf die am Netzwerk beteiligten Akteurinnen ausübt. Die Kenntnis von realisierbaren Möglichkeiten, die außerhalb der Grenzen von lokal fixierten Lebens- und Arbeitsformen liegen, führt dazu, dass die Bereitschaft zu einer mobileren Lebensführung ebenfalls steigt. Hier zeigt sich, dass eine geteilte Vorstellung von Globalität, die in engem Zusammenhang mit
Eine virtuelle Gemeinschaft: Was hält die vifu zusammen?
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der Teilnahme der vifu-Akteurinnen an der Präsenzphase der Internationalen Frauenuniversität steht, eine wechselseitige Übereinkunft über die Geschichte des Netzwerks befördert. Einen weiteren integrativen Faktor für den Zusammenhalt und die Alltagsrelevanz des virtuellen Netzwerks stellt die von den meisten Akteurinnen transnational gestaltete Lebensführung und Karriereentwicklungen als Wissenschaftlerinnen in mehreren Ländern dar.
4.4
Eine virtuelle Gemeinschaft: Was hält die vifu zusammen?
Eine gemeinsame Vorstellung über den Ursprung und das Wesen einer virtuellen Community stellt zwar eine wichtige Voraussetzung für eine aktive Community dar, diese Faktoren können jedoch nicht erklären, warum virtuelle transnationale Gemeinschaften wie die vifu sich durch ein derartig fluides Medium wie eine Mailingliste dauerhaft etablieren können. Anders als in institutionalisierten virtuellen Vernetzungen, besitzt eine Mailingliste – die zudem ohne Moderation interagiert – keine geteilte Dokumentation ihrer Geschichte. Die vifu-Akteurinnen wurden aus diesem Grund auch dazu befragt, welche Aspekte des Netzwerkes für sie relevant sind und in welchen Lebensbereichen sie von der Mailingliste profitieren. Dabei stellte sich heraus, dass der Austausch von Informationen über wissenschaftliche Konferenzen und Publikationen sowie über Calls for Papers und Stellenangeboten für eine überwiegende Mehrheit von 87 Prozent der Beteiligten auf einer 5er Skala in der höchsten Stufe als „sehr wichtig“ bewertet wurde, alle anderen Akteurinnen stuften diese Informationen als „wichtig“ ein. Ebenfalls von hoher Bedeutung sind für die Teilnehmerinnen über die Liste verbreitete internationale Stellenausschreibungen sowie Ausschreibungen für Stipendien, Wissenschaftspreise und sonstige Förderprogramme an Hochschulen. Mehr als die Hälfte der vifu-Akteurinnen erachtete diese Informationen für sich als „sehr wichtig“, die übrigen stuften die Relevanz als „wichtig“ ein. An diesen Beispielen geteilter berufsrelevanter Informationen lässt sich Rheingolds Konzept des „knowledge potlatching“45 (1993) veranschaulichen, das als ein verbindendes Element von hoher Intensivität für die Herausbildung dieser virtuellen Community von Wissenschaftlerinnen betrachtet werden muss. Dieser Wissensaustausch basiert auf dem Prinzip der Reziprozität, da die Absenderinnen solcher Informationen wechseln. Diese geteilten Informationen beinhalten nicht nur einen wechselseitigen Austausch, sondern sie stellen auch 45
Der Begriff „potlatch“ ist der Sprache der kanadischen Nootka entnommen und bezeichnet ein rituelles Fest, bei dem das Prinzip des Gebens zelebriert wird.
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
eine gegenseitige Unterstützung dar, von der die Mitglieder eines solchen Netzwerks profitieren. Neun der Befragten gaben an, dass sie durch Informationen, die sie über die Mailingliste erhalten haben, auf Arbeitsplätze oder Stipendien im Ausland aufmerksam geworden sind und dass es ihnen gelungen ist, sich erfolgreich auf diese Ausschreibungen zu bewerben. Weitere 35 Wissenschaftlerinnen gaben an, dass sie auf Basis der Forschungskontexte bei der ifu weitere Projekte entwickelt haben. Hier gaben die Befragten insgesamt 82 Buchpublikationen und Artikel in Journals und Sammelbänden an, die aus diesen Forschungen resultierten, ein Teil dieser Publikationen wurde auch über die Mailingliste bekannt gemacht. Die wechselseitige Information über die Forschungsarbeiten der beteiligten Wissenschaftlerinnen ist ein weiteres Element, das diese transnationale Community zusammenhält. Diese konkreten Fälle dokumentieren einen hohen beruflichen Nutzen, den die vifu-Akteurinnen aus dem Netzwerk beziehen. Allerdings schätzen die Befragten nicht nur diese Form des persönlichen Gewinns, sondern übereinstimmend wird betont, dass die emotionale Unterstützung, die von dem Netzwerk ausgeht, einen sehr hohen Stellenwert für die beteiligten Akteurinnen besitzt. Es wurde von allen Befragten besonders hervorgehoben, dass allein die Tatsache, mit anderen Wissenschaftlerinnen aus aller Welt in Kontakt zu stehen, als Bereicherung angesehen wird. Es ist hier jedoch zu betonen, dass die virtuelle Vernetzung der Wissenschaftlerinnen nicht getrennt von der Präsenzphase betrachtet werden kann, sondern als Fortsetzung der dort geknüpften Verbindungen von den Teilnehmerinnen gesehen werden muss. Die Effekte des Netwerkes finden sich damit auf unterschiedlichen Ebenen. Während die konkreten wissenschaftlichen Ergebnisse, die von den Akteurinnen des Netzwerkes erzielt worden sind, zwar ein wichtiger Bestandteil der virtuellen Wissenschaftlerinnengemeinschaft sind, berichten die Befragten übereinstimmend auch über den indirekteren sozialen Nutzen, den sie aus der vifuGemeinschaft ziehen. Alle Befragten gaben an, dass sie nach der Präsenzphase auf Konferenzen und in anderen wissenschaftlichen Zusammenschlüssen erneut Kontakt mit anderen Mitgliedern der vifu-Community hatten. So senden die Wissenschaftlerinnen, bevor sie beispielsweise eine Konferenz im Ausland besuchen, Anfragen für das Arrangement von Treffen mit anderen vifu-Akteurinnen über die Mailingliste. Nach einigen dieser Zusammentreffen wurden sogar im Nachhinein Berichte über diese Face-to-Face-Kontakte an die Mailingliste verschickt, um die übrigen Akteurinnen in diese Begegnungen einzubeziehen. Die Verbindlichkeit, die innerhalb der vifu-Community zwischen den einzelnen Mitgliedern besteht, wird damit aus einer Verknüpfung regelmäßiger E-MailPostings und Face-to-Face-Kontakten hergestellt. Von diesem Effekt berichten
Eine virtuelle Gemeinschaft: Was hält die vifu zusammen?
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sowohl die aktiven als auch die passiven vifu-Akteurinnen gleichermaßen und die Gruppe der stillen Leserinnen der vifu-Mailingliste ist wesentlich größer als die der aktiv an der Netzkommunikation Teilnehmenden. Diese Kombination virtueller und lokal basierter Kontakte erhält nicht nur den Wissensaustausch zwischen den Gruppenmitgliedern, sondern rekonstruiert kontinuierlich eine geteilte Vorstellung der Geschichte und der Ziele der Community. Eine Historikerin aus Israel beschreibt die Bedeutung der Face-to-Face-Kontakte als eine Ressource, um die vifu-Gemeinschaft aufrecht zu erhalten und innerhalb dieser Gruppe auch neue Kontakte zu entdecken: “I still keep contact with quite a few women, and they are extremely valuable to me. After ifu, vifu, by providing an alternative space to continue some form of interaction, has allowed not only to maintain some of the contacts, but also make new ones, as they have the chance to discover more voices which had not necessarily met during ifu.” (FB 34)
Ein weiterer interessanter Befund der Befragung ist, dass alle Interviewpartnerinnen angegeben haben, zumindest einmal nach der ifu mit anderen Community-Mitgliedern erneut persönlich zusammengetroffen zu sein. Diese Treffen werden von den Befragten als Ressource und als eine Quelle des Empowerment beschrieben. Eine Juristin aus Argentinien hebt hervor, dass gemeinsame politische Aktivitäten der Wissenschaftlerinnen eine weitere Dimension der Verbindlichkeit und Zugehörigkeit unter den vifu-Akteurinnen darstellt: “I met other ifu participants in person in the most unexpected ways. In a political protest in my own country I met a woman from Germany who had been my ‘buddy’ during the Prague protest. I also benefited from the network during an overland trip across Latin America. Some ifuities46 offered me spaces to stay, even women I did not know in person. I sometimes am too busy to write, but I still open my vifu account regularly and I like to find out what others are doing, about political events, and academic opportunities.” (FB 2)
Die gemeinsame Vorstellung der virtuellen Gemeinschaft wird durch persönliche Kontakte gestärkt und aufrecht erhalten. Die Teilnahme an der ifu kann als einer der wichtigsten Beweggründe für die Verbindungen innerhalb des virtuellen Netzwerks gewertet werden und sie stellt ein Schlüsselelement für eine gemeinsame Kommunikationsbasis in dem transnationalen Netzwerk dar. Hier zeigt sich für die Bildung dieser Gemeinschaft eine Parallele zu den „vorgestell46
Die Teilnehmerinnen der International Women’s University ifu bezeichnen sich selbst als „ifuities“.
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
ten Gemeinschaften“, wie sie Anderson (1998) für die Konstruktion von Nationalstaaten grundlegend beschrieben hat, die auf einer gemeinsamen Vorstellung vom Wesen und der eigenen Geschichte als Konstitutivum für die Herstellung von Gemeinschaften basieren. Die Präsenzphase der ifu ist in diesem Kontext ein zentrales Moment, auf das die Erinnerungen zurückgehen, die innerhalb der virtuellen Community gepflegt werden. Zusätzlich hat sich jedoch eine eigenständige Geschichte der transnationalen Community herausgebildet, die auf der Initiierung des vifu-Servers vor der Präsenzphase der ifu basiert und eine gemeinsame Auffassung von internationaler Solidarität unter den Akteurinnen spiegelt. Vor Beginn des ifu-Semesters wurde eine Kampagne von den Teilnehmerinnen des Postgraduiertenprogramms gestartet, um Wissenschaftlerinnen, die kein Stipendium für die Teilnahme erhalten hatten, durch einen Solidaritätsfonds finanziell zu unterstützen. Das Fundraising-Projekt „WOMAN“ wurde über das virtuelle Netzwerk geplant, mit dem Wissenschaftlerinnen aus Low-Income-Ländern unterstützt wurden, die ohne Stipendium nicht die Möglichkeit gehabt hätten, an der Präsenzphase der ifu teilzunehmen. Diese Solidaritätskampagne stellt eine der initiierenden Gemeinschaftsaktionen des vifuNetzwerks dar, mit der gemeinsame Werte wie internationale Solidarität, wechselseitige Unterstützung und daraus resultierend auch Freundschaften und persönliche Kontakte in der virtuellen Community von Anfang an etabliert wurden, die gleichrangig mit der Funktion des Netzwerks als Kommunikationsforum für wissenschaftliche und politische Informationen und Kontakte sind. In der Befragung gaben 77 Prozent der Interviewten an, dass für sie Freundschaften und die Aufrechterhaltung der transnationalen Kontakte sehr wichtige Komponenten der Mailingliste sind. Einen weiteren zentralen Aspekt stellt die globale Dimension der Kommunikation in der vifu-Gemeinschaft dar. Die Hälfte der Interviewten betrachtete die Gelegenheit zur politischen Diskussion in einem transnationalen Kontext als sehr wichtig für ihr dauerhaftes Interesse an dem virtuellen Netzwerk. Auf der Mailingliste sind in der Tat intensive politische Diskussionen zu beobachten, die sich um unterschiedliche weltregionale Krisenregionen wie den Irak, Afghanistan, Israel und Palästina und um die Konflikte im Kosovo ranken. Einen weiteren Diskussionspunkt bilden sehr kontrovers geführte Debatten über den Islam und islamistische Phänomene. Auch hier wird nochmals deutlich, dass es sich bei der Mailingliste um einen transnationalisierten Raum handelt, in dem die Diskussionen aus unterschiedlichen weltregionalen Perspektiven und politischen Standpunkten geführt werden. Es gab beispielsweise sehr kontroverse Debatten zu den Anschlägen des 11. September sowie zu den Terroranschlägen in Madrid. Zu letzteren nahm eine in Madrid lebende Wissenschaftlerin eine Berichterstatterinnenrolle innerhalb der Mailingliste ein und verschickte zum Teil Tage
Virtualität ohne Grenzen – Gemeinschaften ohne Raum?
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bevor diese Nachrichten durch die internationale Presse verbreitet wurden, Informationen zu den Anschlägen über die Mailingliste, die wiederum zum Ausgangspunkt für weiteren Debatten wurden. Eine Politologin aus Deutschland, die in Belgien promovierte, beschrieb diese Qualität des Netzwerks als unterstützend und gewinnbringend für ihre Arbeit als Politikberaterin: “Despite our diversity, we share the idea of empowering and supporting each other’s projects. It is where I turn first when I need information, contacts or additional expert opinions.” (FB 14)
Korrespondierend mit dem Gemeinschaftskonzept von Tönnies sowie mit den Prinzipien, die Duval und Welger für die Bildung virtueller Gemeinschaften beschrieben haben, verfügt die vifu über einen gemeinsamen „Geist“, der sich an der globalen Ausrichtung des Netzwerks orientiert und von unterschiedlichen Orten der Welt gestützt wird. Zudem basiert die Community auf dem Teilen von Wissensständen und Informationen, die auf dem Prinzip der Reziprozität beruhen. Eine weitere Dimension dieser transnationalen Gemeinschaft ist, dass die Mailingliste einen virtuellen Treffpunkt für Wissenschaftlerinnen darstellt, die ihre Lebensführung transnational organisieren. Das transnationale Netzwerk basiert auf geteilten Erfahrungen und einer gemeinsamen Geschichte, die durch regelmäßige Face-to-Face-Kontakte einzelner vifu-Akteurinnen aktualisiert werden. Durch diese Faktoren ist zu erklären, wie das nur sehr lose über eine unmoderierte Mailingliste organisierte Wissenschaftlerinnen-Netzwerk sich über mehrere Jahre verstetigen konnte.
4.5
Virtualität ohne Grenzen – Gemeinschaften ohne Raum?
Bislang wurde die Konstitution der virtuellen Community vifu unter den Aspekt der Inklusion betrachtet. Es ist jedoch erforderlich, die Beteiligung an der Mailingliste in Relation zu den Teilnehmerinnen an der Präsenzphase der Internationalen Frauenuniversität zu setzen. Ein Vergleich weist auf eine auffällige Verschiebung der weltregionalen Herkunftsorte der Beteiligung hin. Während an der ifu der überwiegende Anteil der Wissenschaftlerinnen aus Asien, Latein Amerika und Afrika kam (vergl. Neusel 2002; Metz-Göckel 2002), sind vifuAkteurinnen aus diesen Weltregionen eher die Ausnahme. Eine aktive Teilnahme an der virtuellen Gemeinschaft steht zudem in Korrespondenz mit temporären Forschungsaufenthalten in Industrieländern, nur vereinzelte Wissenschaftlerinnen, die ihren Wohnsitz zur Zeit der Befragung in einem Entwicklungsland hatten, beteiligten sich aktiv an den Kommunikationsstrukturen der Mailingliste. Auch der Fragebogenrücklauf bestätigt diese Beobachtung. Es fanden sich sich
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
insgesamt nur zehn Wissenschaftlerinnen aus ökonomisch wenig entwickelten Ländern, drei kamen aus Südasien, vier aus afrikanischen Ländern und drei weitere aus Lateinamerika. Während diese Gruppe in der virtuellen Vernetzung nur noch 20 Prozent der Beteiligten ausmacht, betrug ihr Anteil an der Präsenzphase der ifu 67 Prozent. Es handelt sich im Vergleich zwischen der ifu-Präsenzphase und der transnationalen Community vifu um eine Umkehrung des Verhältnisses der weltregionalen Herkünfte der Beteiligten, und für die vifu ist eine deutliche Schwerpunktverschiebung zugunsten einer wesentlich höheren Beteiligung von Akteurinnen, die überwiegend in Industrienationen leben, festzustellen. Weltregionale soziale Ungleichheit und geopolitische Dominanzverhältnisse waren während der Präsenzphase nicht nur im Kontext der globalen und internationalen Forschungsperspektiven von zentralem Interesse. Wie im vorangehenden Kapitel dieser Arbeit über die transnationalen Lehr-/Lernarrangements bei der ifu gezeigt, stand die reflexive Auseinandersetzung mit weltregionalen Ungleichheitsverhältnissen unter den beteiligten Wissenschaftlerinnen im Zentrum der Diskussionen. Die Verschiebung im Bezug auf die weltregionale Herkunft der an der ifuPräsenzphase und an der vifu beteiligten Wissenschaftlerinnen ermöglichen Aussagen über die transnationale Reichweite des virtuellen Netzwerks. Ein transnationales virtuelles Kommunikationsnetzwerk wie die vifu-Mailingliste ist nicht nur durch die realisierten transnationalen Interaktionen zu bewerten, sondern einer solchen Analyse ist grundlegend hinzuzufügen, auf welchen Ausschlüssen diese basieren. Die zentrale Frage ist hier, wie sich transnationale Kommunikationsstrukturen zwischen Wissenschaftlerinnen aus allen Kontinenten auf der Basis eines weitgehend selbstorganisierten Netzwerks weltregional verteilen. Dabei interessiert die Konstitution des Netzwerks selbst, noch bevor die von den privaten Schreibtischen, Arbeitszimmern in Universitätsinstituten oder aus Internetcafes versendeten und empfangenen E-Mails in aller Welt analysiert werden können. Die Teilnehmerinnenstruktur des virtuellen Netzwerks spiegelt globale Ungleichheitserhältnisse im Zugang zu Informationsmedien und die daraus resultierenden Exklusionsprozesse setzen bereits hier in der Phase der Konstitution des Netzwerkes ein. Obwohl das partizipative Konzept der vifu ausdrücklich auf die Teilnahme von Wissenschaftlerinnen aus Afrika, Lateinamerika und Asien zielte (Kreutzner und Schelhowe 2002; Zorn 2004) und trotz der transnationalen Ausrichtung der Community ist es nicht gelungen, Wissenschaftlerinnen aus diesen Weltregionen gleichermaßen anzusprechen wie es mit dem Forschungsprogramm der ifu-Präsenzphase geglückt ist. Auch unter Wissenschaftlerinnen, die in Hinblick auf den Zugang zu Informationstechnologien eine relativ privilegierte Gruppe
Virtualität ohne Grenzen – Gemeinschaften ohne Raum?
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darstellen, kommen weltregionale Ungleichheiten im Zugang zu Computern und dem Internet zum Tragen. Diese weltregionalen Ungleichheiten im Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) können weder durch ein partizipatives Design noch durch frei verfügbare Software ausgeglichen werden.47 Eine nigerianische Erziehungswissenschaftlerin, die in Deutschland und Großbritannien studiert hat, kommentierte die geringe Beteiligung von Wissenschaftlerinnen, die ihren Lebensschwerpunkt in einem afrikanischen Land haben: “There is very little contact with most of the African participants and it is frustrating because we had a strong agenda for post-ifu activities that never took off. The lack of communication on their part is due to the expense involved in keeping internet connections and this alone makes it quite clear to me that the Internet will only work well in Africa when it is accessible cheaply and easily. As of for now, this is not the case.” (FB 47)
Dieser Kommentar zeigt, dass die Vernetzung afrikanischer Wissenschaftlerinnen an unzureichendem Internetzugang sowie den hohen Kosten, die mit der regelmäßigen Teilnahme an einem virtuellen Netzwerk verbunden sind, scheiterten. Es sei hier deshalb besonders hervorgehoben, dass die Wissenschaftlerinnen, die mit der Befragung überhaupt erreicht werden konnten, zunächst die Bedingung erfüllen mussten, ausreichenden Zugang zum Internet zu besitzen. Aufgrund dieser Tatsache stellen auch die Daten, die auf dem Weg einer Online-Befragung nicht zu erheben sind, durchaus einen relevanten Befund dar. Ein exemplarischer Fall verdeutlicht dies, in dem der Fragebogen einer nigerianischen Juristin eine Odyssee durch den Cyberspace machte, bevor er vollständig an die richtige Adresse geliefert werden konnte. Einige Wochen nachdem der Fragebogen verschickt worden war, traf eine E-Mail ein, in der die Wissenschaftlerin mitteilte, dass sie bereits mehrfach versucht hatte den ausgefüllten Fragebogen zurückzusenden. Trotz des niedrigschwelligen Technikeinsatzes bei der Online-Befragung (ASCII bzw. optional Word-Dokument) entstanden aufgrund geringer Konnektivität Probleme bei der Rücksendung des Fragebogens: 47
Afrika ist nicht nur die Weltregion mit den wenigsten Internetzugängen, auch die zur Verfügung stehende Computer-Infrastruktur ist im Vergleich mit allen anderen Weltregionen am geringsten (Castells 2003: 95-98). Die Effekte dieser ungleichen Verteilung der Ressource Information sind für Südasien sowie Lateinamerika ähnlich zu beschreiben (Warschauer 2003). Ein weiterer Punkt besteht darin, dass in diesen Weltregionen der Zugang zum Internet durch unzureichende Konnektivität begrenzt und im Vergleich zu den Industrieländern um ein vielfaches teurer für die User/innen ist. Technische Ausrüstung, die sich auf dem modernsten Stand befindet, ist selbst für Wissenschaftler/inn/en häufig unerschwinglich und die Kosten für Telefoncenter und Internet Cafes sind wesentlich höher als in Industrieländern (Stein und Wahid 2008; Hacker 2007; Wambui 2002: 69).
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
Nach der ersten E-Mail Reaktion der nigerianischen Wissenschaftlerin traf einige Tage später ein erster Teil des Fragebogens ein, der mit dem Zusatz versehen war: „Sorry, closing time at the computer shop!“ (FB 50). Es folgten weitere Sendungen mit kurzen Ausschnitten des Fragebogens im Verlauf von weiteren zwei Wochen, bis schließlich der gesamte Fragebogen angekommen war. An die letzte Sendung war ein kurzes Schreiben angefügt, in dem die Absenderin erklärte, dass sie leider nur gelegentlich das Internet-Cafe aufsuchen könne und ein langer Aufenthalt sehr teuer für sie sei. Deshalb hätte sie immer nur kleine Teile des Fragebogens ausfüllen können und alles nach und nach versendet. Dieser kurze Exkurs über Grenzen globaler Kommunikation gibt einen Einblick in die Modalitäten des digitalen Informationstransfers unter der Bedingung schlechter Konnektivität, der Wissenschaftlerinnen in Entwicklungsländern in besonderer Weise betrifft, da sowohl der Zugang zu Informationen als auch die Möglichkeit der Vernetzung stark eingeschränkt sind.48 Vor diesem Hintergrund kann die vifu-Community zwar als ein transnationaler Raum der Vernetzung und des Empowerment für Wissenschaftlerinnen beschrieben werden, es ist jedoch zugleich ein transnationaler Raum, in dem sich weltweite Ungleichheitsverhältnisse und Exklusionen aus Prozessen der Wissensproduktion spiegeln. Hier findet sich ein interessanter Bruch zur politischen Auseinandersetzung, die innerhalb der vifu-Community geführt wird, in der geopolitisch begründete Dominanzverhältnisse ein konstitutives Moment für die Begründung des Netzwerks mit der WOMAN-Solidaritätsinitiative war. Weltregionale Ungleichheiten sind auch zentraler Gegenstand der Auseinandersetzung in den Diskussionen auf der Mailingliste, die sich seit dem Ende der Finanzierung des vifu-Servers im Jahr 2002 selbst organisiert konstituiert. Die Komponente der Selbstorganisation der vifu wird von einigen Community-Mitgliedern besonders geschätzt. So formuliert etwa eine Anthropologin aus Ex-Jugoslawien, kann die vifu als „second part of ifu, a ‚self-ifu’“ verstanden werden. Das Prinzip der Selbstorganisation stellt im speziellen Fall der vifu-Community jedoch auch eine ambivalente Ressource dar, weil es für die Inklusion aller potenziellen Mitglieder der vifu (alle an der Internationalen Frauenuniversität beteiligten Wissenschaftlerinnen) vorteilhaft gewesen wäre, wenn nachhaltigere virtuelle Vernetzungsstrukturen über ein dauerhaftes Angebot des Servers aufrecht erhalten worden wären. Dies hat auch die Evaluation des vifu-Projekts nahegelegt (Hanft und Schindler 2002). Entgegen dieser Empfehlung wurde der Server jedoch nur für den relativ kurzen Zeitraum von zwei Jahren Aufrecht
48
In Hinblick auf die weltweiten Ungleichheitsverhältnisse durch Einschränkungen im Zugang zum Internet liegen bislang noch keine systematischen Studien vor, die auf die wissenschaftliche Wissensproduktion fokussiert sind.
Zusammenfassung transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
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erhalten. Damit konnten die Potenziale, die ein transnationales virtuelles Vernetzungsangebot in der Wissenschaft besitzt, wie es durch die vifu eröffnet wurde, bei weitem nicht voll ausgeschöpft werden.
4.6
Zusammenfassung transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
In der Online-Studie des weltweiten virtuellen Wissenschaftlerinnen-Netzwerks vifu wurden drei zentrale Fragestellungen untersucht. Dabei interessierte 1. die Struktur des Netzwerks, 2. die Bedeutung des Netzwerks für die Transnationalisierung von Einstellungen, Karrieentwicklungen und Lebensführungen der beteiligten wissenschaftlichen Akteurinnen und 3. die Partizipationsbedingungen von Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Weltregionen.
Struktur des Netzwerks Das vifu-Netzwerk basiert auf einer Mailingliste von Wissenschaftlerinnen, die an der Präsenzphase der ifu aktiv beteiligt waren. Sie wurde initiiert durch eine virtuelle Plattform (vifu – virtuelle Internationale Frauenuniversität), die die Präsenzlehre der ifu unterstützte und ergänzte. Die vifu-Mailingliste wurde unabhängig vom Betrieb des vifu-Servers aufrechterhalten und stellt eine weltweite Kommunikationsplattform von Wissenschaftlerinnen dar, die mehrheitlich im interdisziplinären Kontext der Genderforschung forschen und lehren. Zum Zeitpunkt der Befragung waren 195 Wissenschaftlerinnen aktiv an dem Netzwerk beteiligt, der Rücklauf (N=51) erfolgte aus 24 unterschiedlichen Ländern. Die Akteurinnen befanden sich in unterschiedlichen Phasen postgradualer wissenschaftlicher Qualifikation, wobei drei Viertel von ihnen Doktorandinnen und Postdoktorandinnen waren. Das Altersspektrum war heterogen und lag zwischen 27 und 50 Jahren. Mehrheitlich waren Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen beteiligt; Naturwissenschaftlerinnen, Ingenieurinnen und Medizinerinnen befanden sich in der Minderheit. Innerhalb der Gruppe der Befragten konnte eine sehr hohe transnationale Mobilität festgestellt werden. Insgesamt wurden von allen 51 befragten vifu-Akteurinnen 99 Migrationsbewegungen angegeben, die längere akademische Auslandsaufenthalte von mindestens dreimonatiger Dauer umfassten. Bei diesem Ergebnis ist jedoch zu beachten, dass die Mobilität der
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
beteiligten Wissenschaftlerinnen auch nach der Befragung anhielt.49 Damit kann die virtuelle Community vifu als ein Netzwerk von Wissenschaftlerinnen gewertet werden, das sich nicht nur über eine transnationale Kommunikation per Mailingliste konstituiert, sondern das zugleich auf einer starken transnationalen Mobilität seiner Akteurinnen basiert.
Bedeutung des Netzwerks für die Transnationalisierung von Einstellungen, Karrieentwicklungen und Lebensführungen Im Kontext transnationaler Lebensführung in der Wissenschaft kann eine derartige Vernetzung wie die vifu als eine soziale Ressource gewertet werden, die einen Austausch mit Wissenschaftlerinnen ermöglicht, die sich zwar an anderen Orten aufhalten, aber die Erfahrungen transnationaler Lebensführung und Karriereentwicklung teilen. In diesem Zusammenhang betrachteten die vifuAkteurinnen den Austausch von Informationen über Stellenangebote, Konferenzen, Call for Papers, Förderprogramme und Publikationen als sehr bedeutsam. Eine wichtige Rolle spielte das Netzwerk für die meisten Beteiligten auch als Diskussionsforum für die Weiterentwicklung von Forschungsprojekten und transnationalen Kooperationen. Zugleich betrachteten sie das Netzwerk als soziale und emotionale Ressource. In der Befragung wurde auch deutlich, dass die Wissenschaftlerinnen dem vifu-Netzwerk eine sehr hohe Relevanz für die Herausbildung eines Alltagsbewußtseins von Globalität beimessen. Neben dem transnationalen wissenschaftlichen Informationsaustausch besitzt für die Erfahrung von Alltagsglobalität auch die transnationale virtuelle Diskussion tagespolitischer Themen sowie politische Positionierungen insbesondere im Kontext von Genderfragen im vifu-Netzwerk eine hohe Relevanz. Die inzwischen als mittelfristig bewertbare Verstetigung des transnationalen WissenschaftlerinnenNetzwerks, das weitgehend informell und ohne geregelte ModeratorinnenFunktionen organisiert ist, steht in einem engen Zusammenhang damit, dass die Wissenschaftlerinnen eine hohe Identifikation mit ihrem Netzwerk entwickelt haben, die insbesondere auf der geteilten transnationalen Erfahrung als Teilnehmerinnen der ifu basiert. Ein weiterer Befund, der die Dauerhaftigkeit des Netzwerks erklärt, ist die Tatsache, dass die Akteurinnen nicht nur virtuell interagieren, sondern regelmäßige Face-to-Face-Kontakte im Kontext ihrer mehrheitlich transnational strukturierten wissenschaftlichen Karriereentwicklungen
49
Diese Einschätzung basiert auf einer teilnehmenden Beobachtung der Liste, in der auch nach der Befragung häufig über transnationale Wissenschaftsmigrationen im Kontext neuer Stellen und Forschungsprojekte von den Akteurinnen berichtet wurde.
Zusammenfassung transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
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im Kontext von Forschungsaufenthalten, Tagungsbesuchen u.ä. initiiert werden, die innerhalb des Netzwerks intensiv gepflegt werden.
Partizipationsbedingungen von Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Weltregionen Die weltregionale Zusammensetzung des virtuellen Netzwerks vifu unterscheidet sich von der Präsenzphase der ifu insbesondere in Hinblick auf die Partizipation von Wissenschaftlerinnen aus Südasien, Lateinamerika und Afrika signifikant. Während diese Gruppe einen Anteil von zwei Dritteln der Beteiligten in der Präsenzphase der ifu einnahm, kam nur jede fünfte der befragten vifuAkteurinnen aus einer dieser Weltregionen. Dieser Befund verweist darauf, dass virtuelle Vernetzungen entgegen den Annahmen von Globalisierungstheoretikern (Albrow 1996; Lash und Urry 2004; Appadurai 1996) die Relevanz von lokalen Räumen nicht aufheben. Transnationale Ungleichheitsverhältnisse, wie sie sich in weltweiten Kommunikationsformen im Internet ausdrücken, zeigen, dass sich die räumlichen Konfigurationen von sozialen Beziehungen zwar einerseits verschieben und neue Möglichkeiten transnationaler Partizipation und Inklusion entstehen. Andererseits wird am Beispiel des weltweiten Wissenschaftlerinnen-Netzwerks vifu jedoch auch deutlich, dass transnationale virtuelle Kommunikationsformen nicht frei von weltregionalen Exklusionen sind, die in erschwerten Zugangsbedingungen zu Informationstechnologien in ökonomisch weniger entwickelten Weltregionen insbesondere in Südasien, Lateinamerika und Afrika begründet und auch für den Bereich der Wissenschaftskommunikation relevant sind.
Fazit Die Fallstudie des Wissenschaftslerinnen-Netzwerks vifu verdeutlicht, dass grenzüberschreitende virtuelle Gemeinschaften, wie sie mit der vifu-Community entstanden sind, transnationale Räume der Kommunikation, der Gemeinschaftsbildung, der Vernetzung und des Wissensaustausches eröffnen. Für die Diskussion von vernetztem Wissensaustausch wie sie in der deutschsprachigen Hochschulforschung derzeit angelegt ist, besitzt ein Modell wie das vifu-Netzwerk ein wertvolles Anregungspotenzial, um transnationale Wissenschaftskommunikation und Modelle des e-Learnings auch in Hinblick auf die darin enthaltenen Ressourcen für die Inter- und Transnationalisierung von Hochschulen und Wissenschaft zu erweitern.
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Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft
Für die sozialen Beziehungen, die sich innerhalb dieser virtuell basierten transnationalen Wissenschaftskontakte zeigen, ist die Bedeutung der Transnationalisierung des täglichen Lebens sowie der wissenschaftlichen Vernetzungspotenziale der beteiligten Akteurinnen hervorzuheben. Allerdings verlieren die Orte, die den Ausgangspunkt für diese transnationalen Kommunikationsstrukturen bilden, nicht in dem Maße an Bedeutung, wie es in Theorien der Globalisierung vermutet wurde. Vielmehr zeigt die Analyse des vifu-Netzwerks, dass erhebliche weltregionale Unterschiede für den Zugang zu transnationalen Strukturen des Wissensaustausches und der Vernetzung bestehen. Ein zentraler Befund besteht darin, dass transnationale Vernetzungsstrukturen insbesondere für Wissenschaftlerinnen von hohem Interesse sind, die in ihrer biographischen und wissenschaftlichen Karriereentwicklung ein ausgeprägtes transnationales Mobilitätsverhalten aufweisen. Für diese transnational mobilen Wissenschaftsmigrantinnen stellt ein Netzwerk wie die vifu eine Ressource für die eigene soziale Verortung sowie den Austausch mit Personen dar, mit denen sie die Erfahrung der Migration teilen (vergl. dazu auch Kap. 8). Virtuell basierte transnationale Räume können aus diesen Gründen als Transitionsräume beschrieben werden, in denen sich neuartige Formen des Sozialen herausbilden, die transnationale soziale und biographische Positionierungen beinhalten. Welche Bedeutung nomadische transnationale Lebensformen für die biographische Strukturierung von individuellen Akteurinnen in der Wissenschaft besitzen, bestimmt die Perspektive der folgenden Analysen. Dabei werden zunächst die theoretischen Implikationen für eine Reflexion transnational mobiler Lebensführungen diskutiert. Dazu werden Potenziale postkolonialer Theorien diskutiert, um die Frage zu beantworten, welche Perspektiven auf Subjektivität und Identitätsbildungsprozesse entstehen, wenn Akteur/inn/en ihre Lebensführung nicht an einen geographischen Ort binden, sondern sich in Bewegung befinden.
5
Nomadismus, Grenzgänge und Hybridität
Die Postmoderne, so konstatiert es Baumann (1997: 16), sei ein „heterophiles Zeitalter“, denn Identitäten befänden sich in ständiger Bewegung. Und nicht nur „Identitäten“ bewegen sich, auch Menschen werden mobiler und mit den gestiegenen Mobilitätsoptionen, die sich in einer transnationalisierten Welt bieten, steigt auch der Bedarf an Selbstvergewisserung. In diesem Spektrum ist eine ganze Reihe von theoretischen Konzepten entstanden, die migrantische und transnationale Lebensformen beschreiben und kulturelle Effekte von Transnationalisierungsprozessen in den Blick nehmen. Transnationale Migration stellt inzwischen weder einen gesellschaftlichen noch einen biographischen Ausnahmezustand dar. Mit diesem Konzept lassen sich Lebensformen beschreiben, die in unterschiedlichen Sozialräumen verortet sind und sich über verschiedene nationalstaatlich organisierte Gesellschaften und über mehrere Kontinente erstrecken können. Das transnationale Migrationsmodell beschreibt die Entgrenzung des Migrationsgeschehens und die Herausbildung transnationaler Sozialräume, die tendenziell die Kongruenz von Territorialstaat und Lebensraum aufheben. Begriffe wie „Global Melange“ (Neederveen Pieterse 1998, 2004), Kosmopolitismus (Beck 2004; Hannerz 1996), Kreolisierung (Hannerz 1987), Transkulturalität (Welsch 1997, 2004), Transdifferenz (Lösch 2004), Interkultur (Auernheimer 2003), Nomadismus (Braidotti 1993; Deleuze und Guattari 1992) sowie die in der postkolonialen Theoriediskussion entwickelten Konzepten der Hybridität (Bhabha 1997, 2000; Hall 1994, 2004) spiegeln Reflexionen der Globalisierung zwischen Subjekten und globalisierten Gesellschaften und haben die Position des (postkolonialen) Migranten/der (postkolonialen) Migrantin zu einer viel diskutierten Subjektposition werden lassen. Diesen Konzepten ist es auch gemeinsam, dass sie kritische Perspektiven auf die Begriffe der Nation als nationale Einheit sowie als homogene kulturelle Bezugsgröße entwickeln und daraus resultierend kulturelle Identität in den Blick nehmen. So richtet Welsch (1997, 2004) seine Kritik einerseits gegen die vermeintliche Homogenität von Nationalkulturen, die sich durch ihre transnationalen Vernetzungen zunehmend als vermischt darstellen und als kulturell hybride Konstruktionen betrachtet werden. Auf dieser Grundlage entwirft Welsch einen Begriff der Transkulturalität, der nicht mehr auf territorial gebundene Nationen zu begrenzen und mit
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Nomadismus, Grenzgänge und Hybridität
anderen nationalen Kulturen verknüpft ist und auf die Entwicklung einer neuen grenzüberschreitenden kulturellen Vielfalt verweist.50 Ein ähnlich angelegter Begriff ist der Kosmopolitismus (Beck 2004), mit dem ebenso wie im Transkulturalitätskonzept die wachsende Interdependenz zwischen Nationen hervorgehoben wird. Kosmopolitismus sieht Beck darin begründet, dass transnationale Lebensformen die sozialen Strukturen durch mobile Lebensführungen sowie durch globalisierten Konsum, Bildung sowie mediale Kommunikation und Massenkommunikation durchziehen. Beck schließt daraus, dass die Welt nicht mehr anhand nationaler Kategorien erfasst werden kann, da sie kosmopolitisch organisiert ist. Aus dieser Erkenntnis erhebt Beck für die Entwicklung wissenschaftlicher Perspektiven die Forderung nach einer Abkehr von einem „methodologischen Nationalismus“ (Beck), der durch kosmopolitische Perspektiven abzulösen sei. Sowohl im Konzept der Transkulturalität als auch im Kosmopolitismus wird die Vorstellung abgelehnt, kulturelle Differenzen könnten ausschließlich entlang nationaler Grenzlinien definiert werden. Beide betonen dem gegenüber die Herausbildung grenzüberschreitender Differenzen im Kontext von Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen. Ähnlichkeiten weist auch der Begriff des „globalen Melange“ von Pieterse (1998, 2004) auf, in dem zudem betont wird, dass es sich bei diesen Vernetzungs- und Vermischungsprozessen nicht nur um globale Konsumangleichungsprozesse im Sinne einer „McDonaldisierung“ handele, sondern „Global Melange“ führe im Gegenteil zu einer größeren kulturellen Vielfalt (vergl. Kap. 2). Korrespondenzen bestehen hier ebenfalls zum Terminus des Nomaden, den Deleuze und Guatarri (1992) in ihrer „nomadology“ entworfen haben, in dem eine nomadische Deterritorialisierung angenommen wird, aus der die Zerstörung von nationalstaatlichen Ordnungen und Normierungen folge, die durch eine in den Ländern der Peripherie organisierte Guerilla ausgeht. Parallelen bestehen hier auch zu dem feministischen Konzept der „Nomadin“ von Braidotti (1994, 1997), in dem die weibliche Grenzgängerin als polyglotte Fremde imaginiert wird.51 Eine differenziertere Sicht auf transnational mobile Lebensformen entwirft Hannerz (1996), der zwischen Kosmopoliten und Transnationalen eine Unterscheidung trifft, indem er Kosmopoliten als privilegierte „multilingual 50
51
Vergl. dazu auch Adaptionen des transkulturellen Ansatzes von Welsch im erziehungswissenschaftlichen Kontext (Datta 2005) und die kritischen Diskussionen von Saal (2007) sowie die Rezeption von Mae (2007), die eine Erweiterung des Konzepts der Transkulturalität auf die Kategorie Gender in einem interessanten theoretischen Ansatz der transkulturellen Genderforschung verdichten. Vergl. die Kritik von van der Veer an Braidottis Ansatz als romantische Variante eines privilegierten Nomadismus (van der Veer 1997: 94) Problematisch an dem von Braidotti vertretenen Ansatz ist insbesondere, dass darin weltregionale Ungleichheitsverhältnisse sowie die soziale Herkunft migrantischer Akteur/inn/en keine Berücksichtigung finden.
Grenzen der Hybridität
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gourmet tasters“ beschreibt, die im Gegensatz zu Transnationalen, die migrieren, um zu arbeiten, vor allem als Reisende und intellektuelle Weltenbummler anzutreffen sind. Die hier interessierende Gruppe transnationaler Wissenschaftsmigrantinnen lässt sich weder in das eine noch das andere dieser Extreme einordnen. Zwar handelt es sich bei der Untersuchungsgruppe um weibliche transnational mobile Intellektuelle, die durchaus mit Privilegien ausgestattet sind. Aber eine Beschreibung dieser Gruppe als hedonistische Weltenbummlerinnen wäre ebenfalls nicht zutreffend. Es handelt sich vielmehr um hoch qualifizierte Arbeitsmigrantinnen, die auf dem Weltmarkt Wissenschaft unterwegs sind und ihr Leben in transnationalen Sozialräumen aufspannen. Im Folgenden sollen insbesondere postkoloniale theoretische Auffassungen der Hybridität näher betrachtet werden. Diese Auswahl ist darin begründet, dass Ansätze wie Transkulturalität, Kosmopolitismus und Nomadismus sich darauf beschränken, kulturelle Globalisierungsprozesse ausschließlich aus einer westlichen Perspektive zu denken. Postkoloniale Theorien bilden dazu ein Korrektiv, da hier eine Dezentrierung des Westens gedacht wird und sowohl kolonisierte Weltregionen als auch die Metropolen konzeptuell berücksichtigt werden (Conrad und Randeria 2002). In neueren Studien über transnationale Lebensführungen wurde der Zusatz „hybrid“ als askriptives Merkmal für die untersuchten Gruppen transnationaler Migrant/inn/en verwendet (z.B. Goeke 2007; Saal 2007; Hein 2006; Tschernokoshewa und Pahor 2005). Diese Einordnung ist jedoch nicht unproblematisch und erfordert eine differenzierte Reflexion, die den Gehalt und die Reichweite eines solchen Konzepts kritisch hinterfragt. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden diskutiert, welcher sozialwissenschaftliche Ertrag aus einer Diskussion des Hybriditätsbegriffs gewonnen werden kann.
5.1
Grenzen der Hybritität
In postkolonialen Diskussionen steht der Begriff der Identität an prominenter Stelle, Ausgangspunkt ist die poststrukturalistische Grundannahme, dass Identität nicht als kohärente Einheit zu beschreiben ist, sondern veränderbar und zugleich umkämpft ist. Die Analyse von Identitäten basiert dabei auf der Dekonstruktion von binären Codes (z.B. männlich/weiblich; fremd/einheimisch), wobei die beiden Seiten zueinander in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen. Dabei wird das Andere der Identität als konstitutives Außen von Identitätsbildungsprozessen verstanden, als etwas, auf das die Identitätsbildung einerseits angewiesen ist und das sie zugleich ausschließen muss. Stuart Hall (1994) beschreibt diesen Prozess mit dem Bild, dass jede Identität durch das
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Nomadismus, Grenzgänge und Hybridität
„Nadelöhr des Anderen“ hindurch gehen müsse.52 Insofern wird Identität als relationales Verhältnis gedacht, das über eine individuelle Kategorie hinausgeht und abhängig von der Perspektive des Beobachtenden ist. Identität ist als Prozessbegriff angelegt, der sich immer für die Anwesenheit des Ausgeschlossenen innerhalb der Konstitution von Identitätsbildungsprozessen interessiert (Stäheli 2000: 69). Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass die für die Identitätsbildung konstituierenden und Differenz erzeugenden Grenzziehungsprozesse beweglich und von Instabilität gekennzeichnet sind. Aus diesem Grund steht eine theoretische Konstruktion der Grenze im Vordergrund des Interesses. Für die Lebensweise von transnationalen Migranten sind insbesondere Konzeptionen der Grenze (Bhabha 2000; Hall 1997) aufschlussreich, die eng verknüpft sind mit den theoretischen Entwürfen der Hybridität und des „Third Space“. Postkoloniale Hybriditätskonzepte rücken die Mehrperspektivität des postkolonialen Migranten, der postkolonialen Migrantin in den Blick, die die Brüchigkeit homogener Identitätskonstruktionen sichtbar macht. Bhabha53 (1997, 2000) und Hall54 (1994, 1997, 2004) stellen mit ihren dekonstruktiven Beschreibungen hybrider Identitäten die Ursprünglichkeit und Authentizität von Identitätsbildungsprozessen in Frage und formulieren dagegen dynamische Konzepte. Dabei steht die Dekonstruktion des Gedankens, dass kulturelle Identitäten als stabile Gebilde beschrieben werden können, im Zentrum postkolonialer Hybriditätsdiskurse. Zwischen postkolonialer Theoriebildung und Gender Studies bestehen einige bemerkenswerte Parallelen, da sie einerseits die gesellschaftliche Produktion von Differenz thematisieren, das Konzept des Subjekts dezentrieren und zugleich das westlich-universalistische Modernisierungsprojekt kritisieren. In der Genderforschung steht die gesellschaftliche Herstellung der Differenz Mann/Frau am Beispiel von Grenzgängen im konstruktivistischen Kontext von Transsexualität und Cross-Dressing sowie der De-Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit im Blickpunkt (Butler 1991; Goffmann 2001, West und Zim-
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Ein wichtiger theoretischer Bezugspunkt dieses marxistisch inspirierten Theorieansatzes ist im hier zitierten Zusammenhang die Psychoanalyse Lacans und insbesondere sein Konzept des Spiegelstadiums (1986). Für Bhabha bildet die Dekonstruktion Derridas mit dem Konzept der „différance“ sowie dem „Denken an der Grenze“ neben der Psychoanalyse Lacans, der Diskurstheorie Foucaults und der strukturalistischen Zeichentheorie Saussures die Basis seines theoretischen Denkens, das er anhand postkolonialer Literaturproduktionen von Autorinnen und Autoren wie Toni Morrison und Salman Rushdie entfaltet. Im Folgenden werden die Arbeiten von Stuart Hall, die zugleich zentrale Werke der britischen Cultural Studies sind, zu den Postcolonial Studies gezählt, da sie eine dezidiert postkoloniale Perspektive einnehmen.
Grenzen der Hybridität
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mermann 1987),55 in der postkolonialen Theoriebildung stehen Migranten als Minderheitsidentitäten im Zentrum des Interesses, die hybride Lebensformen jenseits von nationalstaatlich fixierten Identitäten entwickeln (Bhabha 2000, 1997; Hall 2004, 1994). Es handelt sich hier um theoretische Figuren der Dekonstruktion fest gefügter Kategorien (Mann/Frau, nationale Identität/Minoritätsidentität), die darauf verweisen, dass innerhalb einer einzigen biografischen Erfahrung unterschiedliche und sogar gegensätzliche Identitätskonzepte durchlaufen werden können. Damit wurde die Beobachterabhängigkeit von scheinbar kohärenten Identitätskategorien offen gelegt. Trotz aller Unterschiedlichkeit haben diese Konzepte gemeinsam, dass sie sich mit der Bedeutung von Grenzziehungsprozessen für die Bildung von Identitäten auseinandersetzen und die gesellschaftlichen Wirkungen von Differenzierungskonstruktionen problematisieren. Damit bieten postkoloniale Theorien ein ähnliches Irritationspotential für die Soziologie wie die dekonstruktive und konstruktivistische Genderforschung. Sie haben in den letzten Jahren, nachdem sie vor allem in den Kultur- und Literaturwissenschaften rezipiert worden sind in die deutschsprachige sozialwissenschaftliche Forschung Eingang gefunden.56 Postkoloniale Theorien wurden im Kontext der Philosophie, Literatur- und Kulturwissenschaft entwickelt, eine Anschlussfähigkeit für soziologische Perspektiven muss also geprüft werden und bedarf der disziplinären Übersetzung, zumal das heterogene Feld der Postcolonial Studies57 weder ein in sich geschlossenes Forschungsprogramm noch eine kohärente Methodologie bereitstellt, die eine direkte Anschlussfähigkeit für empirische Forschungsansätze besitzt. Trotz dieser Begrenzungen bieten die Postcolonial Studies eine Reihe von Potenzialen, die für die Analyse transnationaler Biographien von Interesse sind; insbesondere ist hier das Verständnis 55 56
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Vergl. Kap. 6 zu den Konzepten des „doing gender“ und „doing difference“. Anschlüsse finden sich zum Beispiel bei Stäheli 2000, Nassehi 2003, Reuter und Wiesner 2006, Supik 2005, Ha 2005 und 1999, Castro Varela und Dhawan 2005, Hörning und Reuter 2004. Einen guten Überblick über die vielfältigen Ansätze, die im Kontext der Postcolonial Studies entwickelt wurden, bieten einführend Ashcroft, Griffith und Tiffin (2006 und 2000). Im deutschsprachigen Kontext bietet die von Bronfen und Marius (1997) herausgegebene Aufsatzsammlung „Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte“ einen Überblick über unterschiedliche Ansätze der Postcolonial Studies. Dieser Band ist für die deutschsprachige Rezeption postkolonialer Theorien ein Grundlagenwerk, das jedoch eine verkürzte Lesart der hier als „Multikulturalismusdebatte“ bezeichneten Postkolonialen Theorien darstellt und für eine sozialwissenschaftliche Bezugnahme höchst problematisch ist. Eine erhellende Diskussion der Theorien von Edward Said, Homi Bhabha und Gayatri Spivak haben Castro de Varela und Dhawhan (2005) vorgelegt. Die Werke von Stuart Hall liegen in deutschsprachigen Übersetzungen vor, für die neuere deutschsprachige Diskussion seiner theoretischen Schriften vergl. Supik (2005).
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Nomadismus, Grenzgänge und Hybridität
von Kultur und kultureller Identität in den Lesarten von Bhabha und Hall aufschlussreich. Postkoloniale Kulturkonzepte identifizieren als Ort der Kultur nicht die Abgrenzung von anderen Kulturen, sondern Kultur als Ort der Grenzüberschreitung und der Verschiebung von Grenzen. Sie richten den Blick auf Migranten, die die globalisierten Neukonfigurationen des Lokalen und Globalen in ihren Biographien verkörpern. Nach Simmel (1992) sind diese Wandernden Menschen, die „heute kommen und morgen bleiben“, während transnational Mobile eher als Menschen zu beschreiben wären, die „heute kommen und morgen gehen“, deren Alltagspraxis von der Wanderung geprägt ist und deren Leben sich in Grenzgängen und Zwischenräumen abspielt. Der Blick postkolonialer Theorien ist insbesondere auf Migranten gerichtet, die ihre Erfahrungen und Perspektiven in die westlichen Metropolen tragen und sich dort in Relation zu den Mehrheitsgesellschaften in Minderheitenpositionen befinden. Problematisch ist, dass dabei kein differenzierter Blick auf Migrantinnen und Migranten entfaltet und implizit lediglich Bezug auf postkoloniale Künstler und Intellektuelle genommen wird. Auf die Unterschiede von Ungleichheitsverhältnissen in transnationalen Lebensformen komme ich noch im Einzelnen zurück und es wird deutlich werden, dass selbst in einer eingegrenzten und ähnlich strukturierten Gruppe weiblicher Wissenschaftsmigrantinnen als Angehörige einer transnationalen Bildungselite, eine große Spannbreite differenter In- und Exklusionserfahrungen zu finden ist. Ein anderer gemeinsamer Nenner postkolonialer Ansätze ist trotz aller Unterschiede, dass gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse aus einer globalen Perspektive fokussiert werden. Dabei nehmen sie die historischen Vernetzungen, die aus der Kolonisierung resultieren, nicht nur in kolonisierten Ländern, sondern auch in den Industrieländern in den Blick.58 Postkoloniale Theorien
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Der Terminus „postkolonial“ ist sehr umfassend und bezeichnet die geopolitischen Prozesse, die mit Kolonialisierungen in Gang gesetzt wurden. Hier wird „postkolonial“ als deskriptiver Begriff aufgefasst, der impliziert, dass zwischen den unterschiedlichen Formen von Kolonialisierung sowohl in kolonialisierten als auch kolonialisierenden Gesellschaften signifikante Unterschiede bestehen, die jeweils spezifisch zu betrachten sind. Hall definiert den Begriff folgendermaßen: „‚Postkolonialismus’ (..) liest vielmehr die ‚Kolonisation’ als Teil eines im Wesentlichen transnationalen und transkulturellen Prozesses neu – und bewirkt ein von Dezentrierung, Diaspora-Erfahrung oder ‚Globalität’ geprägtes Umschreiben der früheren imperialen Großgeschichten mit der Nation als Zentrum. Sein theoretischer Nutzen liegt demnach genau in seiner Ablehnung der Perspektive des ‚hier’ und ‚dort’, ‚damals’ und ‚heute’, ‚Inland’ und ‚Ausland’. ‚Global’ bedeutet hier nicht universal, doch ist es auch nicht nationen- oder gesellschaftsspezifisch zu verstehen. Es bezeichnet die Art und Weise, wie die kreuzweise quer und längs verlaufenden Wechselbeziehungen dessen, was Gilroy als ‚diasporisch’ (von Zerstreuung und Minderheitenerfahrung geprägt) bezeichnet, den Zentrum-Peripherie-Ansatz ergänzen und
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verweisen darauf, dass auch in den westlichen Metropolen die Geschichte der Kolonisierung eingeschrieben ist. Dieses Wechselverhältnis wurde in einem einprägsamen Bild von Stuart Hall beschrieben: „Menschen wie ich, die in den fünfziger Jahren nach England kamen, haben dort – symbolisch gesprochen – seit Jahrhunderten gelebt. Ich kam nach Hause. Ich bin der Zucker auf dem Boden der englischen Teetasse. Ich bin die süße Versuchung, die Zuckerplantage, die die Zähne von Generationen englischer Kinder ruinierte. Dann gibt es neben mir Tausende anderer, die der Tee in der Tasse selbst sind. Der lässt sich nämlich nicht, wie sie wissen, in Lancashire anbauen. Im vereinigten Königreich gibt es keine einzige Teeplantage. Und doch steht die Tasse Tee symbolisch für die englische Identität. Was wissen denn die Menschen überall auf der Welt schon von den Engländern, außer dass sie ohne eine Tasse Tee den Tag nicht überstehen können? Aber woher kommt der Tee? Ceylon, Sri Lanka, Indien. Das ist die ausgegrenzte Geschichte im Inneren der englischen Geschichte. Es gibt keine englische Geschichte ohne diese andere Geschichte.“ (Hall 1994: 74) Die von Bhabha und Hall entwickelten Ansätze können als postkoloniale Gegenentwürfe zur westlichen Moderne gelesen werden, deren Ausgangspunkt die Annahme ist, dass die „transnationale Dimension kultureller Transformation durch Migration, Diaspora, Verschiebung und Neuverortung“ (Castro Varela und Dhawhan 2006: 96) migrantische Lebensformen als gesellschaftlich relevante und komplexe kulturelle Prozesse in den Blick rücken. Dabei geht es – anders als beispielsweise im Konzept der Transkulturalität von Welsch – nicht um die Diversität von Kulturen, sondern um die Entstehungsprozesse von kultureller Differenz. Es handelt sich um eine Theorie, die multikulturelle Ansätze, die auf der Prämisse einer grundlegenden Verschiedenheit von Kulturen basieren, im Kern kritisiert. Hier können – trotz aller Unterschiede – Parallelen zu Konzepten der „erfundenen Traditionen (Hobsbawn und Ranger 1992) und der Analyse nationaler Gemeinschaften als „imagined communities“ von Anderson (1998) gezogen werden, die Grenzziehungsprozesse als konstitutiv für die Bildung von nationaler und kultureller Identität beschreiben. Danach handelt es sich bei den wenig trennscharfen Kategorien nationale/kulturelle Identität um naturalisierte Differenzlinien, die durch diskursive Unterscheidungspraktiken sozial hergestellt werden. Weder Ethnizität noch (National-)Kulturen verfügen über einen essentiellen Kern, vielmehr sind sie einer ständigen Bewegung und Veränderung unterworfen. Diese auf Grenzziehungsprozessen basierende Beweglichkeit von gleichzeitig ersetzen und wie das Globale und Lokale einander wechselseitig reorganisieren und umgestalten.“ (Hall 1997: 227f)
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ethnischer, kultureller und nationaler Identität ist für Bhabha der Ort, an dem Kultur als Prozess entsteht (Bhabha 2000: 50ff). Vor diesem Hintergrund sind kulturelle Identitätsbildungsprozesse als relationale Vorgänge zu verstehen. Was in der Tradition eines ethnisch geprägten Kulturbegriffs als „Kulturkonflikt“, „kulturelle Zerrissenheit“, „Identitätsverlust“ oder gar als „Clash of Civilisations“ (Huntington 1997) interpretiert wird, wird hier als Voraussetzung für die Dynamik jener Prozesse verstanden, in denen kulturelle Identität sozial produziert wird. Bis zu diesem Punkt können weitgehende Übereinstimmungen in den Ansätzen zur Diskussion der Transformation von Kultur als Hybrität bei Bhabha und Hall festgestellt werden, die beide als zentralen Punkt in ihren theoretischen Ansätzen die Verwobenheit zwischen kolonisierten und kolonisatorischen kulturellen Identitäten als hybride und von Machtbeziehungen bestimmte Konstruktionen beschreiben. Bhabha befasste sich ausführlich mit den Mechanismen kolonialer Macht, die er nicht als einseitig konstituiert versteht, sondern als Wechselverhältnis beobachtet. Hier entfaltet er ein Konzept der Nachahmung (Mimikry), in die sowohl die kulturellen Minoritäten als auch die Dominanzkulturen verwickelt werden. Bhabha beschreibt Mimikry als transformative Praxis, die er im Kontext der Kolonialisierung entwickelt (Bhabha 2000d: 132).59 Das Konzept der Mimikry überträgt Bhabha mit einem gewagten und nicht unproblematischen Zeitsprung auf die Situation von Migranten und Migrantinnen in den Metropolen, der er zwar Subversivität zuspricht, aus dieser (symbolischen) Subversivität sei jedoch nicht abzuleiten, dass der Prozess minoritärer Identitätsbildung bereits darin münde, Ungleichheitsverhältnisse zu überwinden. Bhabha begreift Mimikry als einen Prozess der Verdopplung und zugleich der Verfremdung, der in die hegemonialen Identitätsbildungsprozesse eingreift, die sich durch die Abgrenzung vom Anderen definiert. Damit wurden sowohl Mimikry als auch die daraus resultierende Hybridität als subversive Praktiken entworfen, die in dominante Kulturen und ihre Diskurse eindringen und sie verändern. „Bei Hybridität haben wir es mit einer Problematik kolonialer Repräsentation und Individuation zu tun, die die Wirkungen der kolonialistischen Verleugnung umkehrt, so dass andere ‚negierte’ Kenntnissysteme vom dominanten Diskurs Besitz ergreifen und ihn verfremden.“ (Bhabha 2000e: 168)60 59
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Im latainamerikanischen soziologischen Diskurs wurde in den 1990er Jahren ein den postkolonialen Diskursen in den Grundzügen ähnliches Konzept von Hybridität entwickelt (Canclini 1995). Die Position der Übersetzung wurde im mexikanisch-US-amerikanischen Kontext von feministischen Autorinnen wie Cherrie Moraga und Gloria Anzaldua mit ihren transnationalen feministischen Konzepten der „Mestizin“ thematisiert. Bhabha hat seinen Begriff in enger Anlehnung an die Überlegungen zur Hybridität des russischen Sprachphilosophen Mikhail Bakhtin im Rahmen seiner Theorie des Romans (1981)
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Diese Prozesse der Verfremdung dominanter Diskurse beschreibt Bhabha als Ort der Verhandlung61 und der kulturellen Produktion, in dem Bedeutungen neu belegt und reinterpretiert werden. Diesen symbolischen Ort der kulturellen Aushandlung bezeichnet Bhabha als „Third Space“, in dem das marginalisierte Andere in dominante Diskurse Eingang nimmt und auch als Verhandlung in Zwischenräumen („in-between-spaces“) zu beschreiben ist, für die Bhabha den Begriff der Verhandlung an der Grenze (liminal negotiation) geprägt hat. Bhabha bezeichnet im Anschluss daran die Grenze als einen zentralen Ort, „von wo etwas sein Wesen beginnt“ (2000a: 7, Hervorhebung im Original). Dieses Neue begreift er als einen widerständigen und subversiven Akt der Übersetzung, der im Zwischenraum der Grenze prozessiert wird und als Ort kultureller Bedeutungsproduktion zu verstehen ist. „Kulturelle Grenz-Arbeit verlangt nach einer Begegnung mit der ‚Neuheit’, die an dem Kontinuum von Gegenwart und Vergangenheit nicht teilhat. Sie erzeugt ein Verständnis des Neuen als eines aufrührerischen Aktes kultureller Übersetzung.“ (Bhabha 2000a: 10) Das Konzept des „Liminal Space“ steht damit in enger Korrespondenz zu den Begriffen des „Third Space“, der als Potenzial des subversiven Neuen sowie als Überwindung von binären Gegensatzpaaren vorgestellt wird. Der „Third Space“ ist gekennzeichnet als ein Ort der Aushandlung, in dem vielfältige Prozesse der Übersetzung wirksam werden: „Dabei ist es bezeichnend, dass die produktiven Potenziale des Dritten Raumes kolonialer oder postkolonialer Herkunft sind. Denn eine Bereitschaft, in jenes fremde Territorium (..) hinab zu steigen, könnte den Blick dafür freimachen, dass die theoretische Anerkennung der Gespaltenheit des Äußerungsraumes den Weg zur Konzeptionalisierung einer internationalen Kultur verweisen könnte, die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität von Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht. Dabei sollten wir immer daran denken, dass es das „inter“ – das Entscheidende am Übersetzen
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entwickelt und auf die postkoloniale Situation übertragen. Bhabhas Begriff der Hybridität impliziert damit eine mimetisch-verfremdende Gegenposition des kolonialen Begriffs der Hybridität, der im 19. Jahrhundert als ein Schlüsselbegriff der rassistischen Diskussion entstanden ist (vergl. zur Genese des Hybriditätsbegriffs Young 1995). „Hybridität“ kann in diesem Sinn als eine diskursive Dekonstruktion als „Selbstbastardisierung“ aufgefasst werden. Im deutschsprachigen Raum ist ein ähnliches Phänomen in Diskursen der „Kanakisierung“ zu beobachten, wie sie z.B. der in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene Schriftsteller Feridun Zaimoglu aufgeworfen hat. Die deutschen Übersetzungen des Begriffs „negotiation“ als „Verhandlung“ bzw. “Aushandlung“ besitzt eine terminologische Nähe zum Begriff der gesellschaftlichen Konstruktion, des „doing“ (difference bzw. gender) aus der ethnomethodologischen Diskussion (West und Zimmermann 1987 und Fenstermaker und West 1996) und verweist aus einer anderen theoretischen Perspektive auf die soziale Konstruktion von Kultur, Gender und anderer Differenzkategorien.
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und Verhandeln, am Raum da-zwischen – ist, das den Hauptteil kultureller Bedeutung in sich trägt.“ (Bhabha 2000b: 58, Hervorhebungen im Original) Die Intention dieses theoretischen Ansatzes ist es, kulturelle Hybridität als Konstitutivum und zugleich Veränderungsmodus von Kultur zu betrachten. Insofern beansprucht das Konzept eine Diskursivierung transnationaler und migrantischer Lebensformen und nimmt ihr Veränderungspotenzial in den Blick. Dabei ist Hybridität als ambivalent angelegter Begriff zu verstehen, der im Prozess der Aushandlung etwas anderes hervorbringt, als die Elemente, die aufeinander treffen. „[D]as doppelt eingeschriebene koloniale Spiegeln bringt keinen Spiegel hervor, in dem das Selbst sich erfasst; es ist immer die gespaltene Projektionsfläche (screen) des Selbst und seiner Verdoppelung, des Hybriden.“ (Bhabha 2000e: 168) Indem es die diskursiven Prozesse differentieller Produktion von Identitäten in einer theoretischen Feineinstellung fokussiert und globale Interaktionszusammenhänge reflektiert, die mit Kolonisierungsprozessen in Verbindung stehen, geht das postkoloniale Konzept hybrider Identitätsbildung sowohl über globalisierungstheoretische Konzepte wie Kosmopolitismus, Transkulturalität, Nomadismus und „Global Melange“ als auch über Ansätze hinaus, die auf der ‚vorgestellten Erinnerung’ als Ausgangspunkte für die Entwicklung von Kultur, Ethnizität und nationaler Identität basieren. Es ist jedoch festzuhalten, dass es sich bei diesen Analysen ausschließlich um die Dimension der Repräsentation handelt, die auf der Basis von philosophischen und literarischen Lektüren entworfen werden. Eine Perspektive auf soziale Aushandlungsprozesse findet sich in diesem von Bhabha vorgeschlagenen Entwurf von Hybridität jedoch nicht. Hall erweitert diese dekonstruktive Perspektive theoretischer Beobachtung von Herstellungsprozessen kultureller Identität und ergänzt sie durch ein Konzept der sozialen Positionierung, das er in dem theoretischen Ansatz der „new identities/new ethnicities“ (1994, 2004, insbesondere: 1994: 66-84 sowie 2004: 167-188) entfaltet. Diese Formation beschränkt sich nicht allein auf die Analyse von Identitätsbildungsprozessen, in denen die Bestimmung von kulturellen Minderheiten durch dominante Akteure ein Machtverhältnis ausdrückt. Der entscheidende Unterschied zwischen den Hybriditätskonzepten von Bhabha und Hall besteht darin, dass Hall nachdrücklich darauf hinweist, dass ethnische und kulturelle Identitätsbildungsprozesse auch eine hohe Relevanz als soziale Ressource besitzen. Mit dieser Perspektive entwickelt Hall ein theoretisch ambivalentes Konzept, das die Herstellungsprozesse von Identität zwar einerseits dekonstruiert, andererseits jedoch für die soziale Praxis nicht als irrelevant verwirft. Vielmehr entwickelt Hall daraus einen Begriff der kulturellen Identität,
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den er als „durchgestrichen“62 denkt: „Identität ist ein solcher Begriff, der als ‚durchgestrichen’ (under erasure) sich im Übergang der Bedeutung formiert, zwischen seiner Aufhebung und seinem Auftauchen; der nicht mehr in der alten Weise, und zugleich nicht ohne die bisherigen zentralen Fragen daran, gedacht werden kann.“ (Hall 2004: 168) Hall dimensioniert seine doppelt angelegte De- und Re-Konstuktion relationaler Identitität in einem globalen Kontext, der die Prozesshaftigkeit von Identitätsbildungsprozessen sowie ihre soziale Relevanz einschließt. „Identität ist zugleich im Verhältnis zu Prozessen der Globalisierung zu denken, die sich meiner Meinung nach mit ‚Modernität’ überschneiden (..) und auch im Verhältnis zu Prozessen erzwungener und ‚freier’ Migration, die zu einem globalen Phänomen der so genannten ‚postkolonialen’ Welt geworden sind. Obwohl Identitäten auf einen gemeinsamen Ursprung in der historischen Vergangenheit zurückgreifen, auf den sie sich bis heute berufen, wird der Bezug zum Gebrauch von Ressourcen der Geschichte, der Sprache und der Kultur vielmehr in einem Prozess des ‚Werdens’ denn des ‚Seins’ hergestellt wie in Fragen darüber ‚wer wir sind’ oder ‚woher wir kommen’, ‚was wir werden könnten’, ‚wie wir repräsentiert wurden’ und was dazu führt, ‚wie wir uns selbst repräsentieren würden’. Identitäten sind daher innerhalb und nicht außerhalb von Repräsentationen konstituiert. (…) Identitäten gehen aus der Narrativierung des Selbst hervor, aber die notwendige fiktionale Natur dieses Prozesses unterminiert in keiner Weise ihre diskursive, materiale und politische Effektivität.“ (Hall 2004: 170f) Hall betont damit die Bedeutung von Prozessen der kulturellen Selbstdeutung sowohl auf der zwischenmenschlichen Interaktionsebene als auch auf der Ebene der Politik und der weltregionalen Positionierung. In diesen Identifikationen sieht Hall soziale, kulturelle und ethnische Positionierungsprozesse, die die Voraussetzung für politische und soziale Interaktionen bilden, wie sie sich zum Beispiel in antirassistischen Bewegungen finden, mit denen Hall sich intensiv auseinandersetzt. Die Betrachtung dieser doppelten Struktur von Identitätsdekonstruktion und einer akteurszentrierten Erweiterung der Perspektive auf Identitätsbildungsprozesse, in der Differenzkategorien (hier diskutiert am Beispiel von Ethnizität bzw. kultureller Identifikation) auch als soziale Ressource be-
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Hall nutzt hier den Begriff „under erasure“. Ein Wort durchgestrichen zu verwenden, bedeutet im poststrukturalistischen Kontext, dass ein Wort (wie alle anderen Wörter) nur durch die Differenz von anderen Wörtern bestimmt ist und die damit transportierte Bedeutung ebenfalls nur durch die Differenz entsteht. Andererseits verweist es darauf, dass das Wort nicht passt, aber kein adäquaterer Begriff vorhanden ist. Die Durchstreichung verweist damit auf die Ambivalenz der weiterhin bestehenden Lesbarkeit eines Wortes und zugleich auf seine Dekonstruktion (vergl. Hall 2004: 185) sowie das Vorgehen Heideggers und Derridas für die Praxis der Durchstreichung, die Hall hier übernimmt.
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trachtet werden, besitzt für die Diskussion der Transnationalisierung von Biographien eine hohe Anschlussfähigkeit, da mit transnationalen Lebensformen nationalstaatlich geprägte Identitäten relativiert und differenziert werden. Die Betonung der sozialen Relevanz ethnischer und kultureller Identifizierung weist auf die soziale Funktion ethnischer und kultureller Selbstbeschreibung hin, die für transnational Mobile als Prozesse der Selbstvergewisserung besonders relevant sind.63 Problematisch wäre es jedoch, aus diesem Konzept abzuleiten, dass ethnische und kulturelle Positionierungen, die soziale Akteure in kulturellen Minderheitspositionen als Selbstbeschreibungen einnehmen, grundsätzlich als anti-rassistisch, gesellschaftskritisch und damit subversiv zu beschreiben sind, wie Hall es in seinem Konzept der „New Ethnicities“ nahe legt. Das insbesondere von Bhabha entworfene Konzept der Hybridität zeichnet sich dadurch aus, über dualistische Konzeptionen von Ethnizität und Kultur hinaus zu denken und es besitzt deshalb eine politische Dimension, weil es das Transformationspotenzial von Minderheitskulturen unterstreicht. Allerdings leitet sich daraus kein akteurszentrierter Ansatz ab. Einen solchen führt jedoch Hall mit seinem Konzept der sozialen Positionierung ein. Beide Ansätze zusammengedacht, können postkoloniale Hybriditätsbegriffe als vielschichtige Entgegnung auf den rassistischen Hybriditätsdiskus verstanden werden. Das Neue dieses theoretischen Ansatzes beruht auf der Öffnung, die Bhabha als „inbetween-space“ oder auch als „Third Space“ beschrieben hat, in dem differente Elemente aufeinander treffen und aus einem wechselseitigen Transformationsprozess als etwas Neues hervorgehen (Papastergiadis 1997: 258). Allerdings ist es für sozialwissenschaftliche Adaptionen höchst problematisch, wenn die Repräsentationsebene mit der Akteursebene in sozialen Prozessen gleichgesetzt wird. Hier muss die Frage gestellt werden, ob die postulierte Subversivität des Konzepts hinfällig wird, wenn Hybridität als ein theoretischer Begriff, der für die Ebene der Repräsentation entwickelt wurde, ohne eine solche akteurszentrierte Erweiterung, wie sie Hall mit seinem Ansatz der sozialen Positionierung vorgeschlagen hat, nicht Gefahr läuft, als beliebiger Catch-AllBegriff aufgegriffen zu werden,64 und zwar auch, wenn antirassistische und antikoloniale politische Implikationen darin angelegt sind. Insbesondere Bhabhas Hybriditätsbegriff hat zu einer ganzen Reihe von Missverständlichkeiten, insbesondere in der deutschsprachigen Rezeption, geführt. Anders als es die im deutschsprachigen Raum verbreitete Lesart des von Bhabha geprägten Hybriditätsbegriffs nahe legt (vergl. Bronfen und Marius 1997), geht es im postkolonialen Kulturkonzept Bhabhas nicht um die Vorstellung eines global angelegten 63 64
Vergl. dazu auch Kapitel 7. Vergl. zu diesem Punkt auch die Diskussion bei Werbner (1997).
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Vermischungsprozesses von Nationalkulturen oder um die Proklamation eines multikulturellen Kulturmixes.65 Diese problematische Rezeption kann am besten durch einen Blick auf die Diskussion bei Bronfen und Marius veranschaulicht werden, die Bezug auf einen Text von Salman Rushdie66 nehmen, der „[die] hybride, zusammengestoppelte, aus Sammelsurium und Mischmasch gebastelte Welt des Migranten“ (Rushdie 1991, zit. in Bronfen und Marius 1997) als „ontologische Grundsituation des postmodernen Menschen“ in der Interpretation von Bronfen und Marius (ebd.) beschreibt. In dieser Lesart verschwimmen zum einen die Unterschiede zwischen Migranten und Nicht-Migranten und postkoloniale Hybridität wird zu einer Art universellen Nomadismus stilisiert. Die postkoloniale Debatte um Hybridität erscheint unter einer solchen Lesart nicht nur als ein zirkulärer theoretischer Diskurs von privilegierten Transnationalen, der über privilegierte Transnationale geführt wird, er löst sich auch in einer Auffassung von Hybridität als einer universellen postmodernen Conditio Humana auf. Bei einer solchen Mischmasch-Euphorie dürfte weniger das Leben einer polnischen Putzfrau oder eines mexikanischen Wanderarbeiters vor Augen gestanden haben, als ein als Idealtyp imaginierter „postkolonialer“ Intellektueller. Damit laufen Hybriditätstheorien Gefahr, zwar hochkomplizierte, aber zugleich unterkomplexe Modekonzepte zu sein. Für die Diskussion globalisierter sozialer Strukturen haben postkoloniale Hybriditätsansätze, insbesondere die von Bhabha vorgeschlagene Variante, einen regelrechten Rezeptionshype (Ha: 2005) ausgelöst. So konstatiert Ha, das sich „mit der Popularisierung und Integration dieses Begriffs im sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs ein Verständnis eingebürgert, mit dem Hybridität aufgrund einer verkürzten und instrumentalisierten Rezeptionsweise oftmals als postmoderne Theorie der Vermischung der Kulturen angesehen wird, die mit zweifelhaften Implikationen einhergeht.“ (ebd.: 16) Es zeigt sich auch noch auf anderen Ebenen, dass der Begriff der Hybridität für Missverständlichkeiten geradezu prädestiniert ist und eine ganze Reihe von kritischen Einsprüchen herausfordert hat.67 So ist auch der Einwand von Castro Varela und Dhawan (2005: 100ff) berechtigt, die zu bedenken geben, dass das Konzept der Hybridität auf einer „logischen Reinheit“ basiere, denn es könne nur durch die Annahme, dass es etwas Reines, Nicht-Hybrides gibt, ent65 66 67
Vergl. dazu auch die kritischen Positionen zum „kulturellen Differenzkonsum“, die Terkessidis (1999) und Ha (2005) formuliert haben. Die Romane Rushdies stellen sowohl für Bhabha als auch für Hall eine wichtige Referenz dar. Werbner und Modood (1997) haben mit ihrem Sammelband „Debating Cultural Hybridity“ eine Debatte initiiert, die einen kritischen Impuls für die Rezeption des Konzepts darstellt. Einen guten Überblick über die kritische Diskussion des Hybriditätskonzepts von Bhabha haben Castro Varela und Dhawan (2005: 100-111) zusammengestellt.
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wickelt werden, das als Vermischungsprozess in Hybridität münde und damit Hybridität als konstitutives Merkmal von Kultur, wie es von Bhabha herausgearbeitet wurde, bereits theorieimmanent konterkariert wird. Auch die im Rassismus begründete Geschichte des von Bhabha als Gegenbegriff eingeführten Hybriditätsdiskurses fordert Irritationen heraus, da Implikationen aus der „Rassenlehre“ sowie aus der Tier- und Pflanzenzüchtung mit dem Begriff transportiert werden und bei oberflächlicher Betrachtung nahelegen, es handele sich um ein Konzept der „Rassenmischung“ bzw. um einen Ansatz, der die biologische Vermischung von Menschen unterschiedlicher Herkunft fokussiere. Diesem Einwand von Yuval-Davis (1997) ist ebenfalls zuzustimmen, denn obgleich solche Thesen von Bhabha nicht impliziert sind, bereiten die daran angehefteten Assoziationsketten einem kulturellen Essentialismus „durch die Hintertür“ einen Weg (ebd. 202). Auch innerhalb postkolonialer Diskurse ist Hybridität ein umstrittenes und unterschiedlich gefülltes Konzept. So betont Spivak (1995) zu Recht, dass die Kolonisierung nicht nur kreative Übersetzungsprozesse, sondern vor allem radikale Destruktionsprozesse hervorgebracht hat, die dazu führen, dass es zerstörte Kulturen gibt, die nicht übersetzbar sind und sich der Hybridität entziehen. Diese Position entwickelt Spivak mit ihrem – ebenfalls nicht unumstrittenen – Begriff des Subalternen (1995), mit dem nicht nur kulturelle Differenz, sondern auch die Geschlechterdifferenz und ungleiche Klassenlagen fokussiert werden und der in dieser Hinsicht über das Konzept der Hybridität von Bhabha hinausgeht. Aus einer feministischen Perspektive kritisiert McClintock (1995), dass Maskulinität als unsichtbare Norm in das Hybriditätskonzept postkolonialer Diskurse eingeschrieben ist und zudem historische und geopolitische Dimensionen in Bhabhas Diskurs verwischt werden.68 Ähnlich wie Spivak fordert McClintock, dass sowohl Unterscheidungen zwischen den Geschlechtern getroffen werden müssen sowie andere Ungleichheitsverhältnisse wie Klasse und Ethnizität wichtige Analyseebenen sind, die von Bhabha übersehen werden. Dem ist hinzuzufügen, dass in den Theorieentwürfen von Hall diese Dimensionen zwar analytisch nicht ausgeführt, aber immerhin an zahlreichen Stellen angesprochen werden. Für die empirische Analyse zeigt sich der differenztheoretische Ansatz der Intersektionalität, der im Kontext der antirassistischen Genderforschung in den USA entwickelt wurde und zahlreiche Überschneidungen mit postkolonialen Diskursen aufweist, als ein Ansatz, der in der Lage ist, gesellschaftliche Differenzkategorien und ihre sozialen Wirkungen mit einer 68
Tschernokoshewa (2005) schlägt im Anschluss an Bhabha und Hall einen erweiterten Hybriditätsbegriff vor, der auch die Kategorie Gender berücksichtigt, jedoch bleibt sie auch hier mit Bhabha auf der Repräsentationsebene und schließt weitere soziale Differenzlinien nicht in ihre theoretische Perspektive ein.
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größeren Komplexität in den Blick zu nehmen. Im Folgenden soll in Anbetracht der Missverständlichkeit sowie der historischen, geopolitischen und gleichheitstheoretischen Unschärfen nicht an den Terminus Hybridität angeknüpft werden. Aber es sollen nach dieser kritischen Sondierung die Aspekte postkolonialer Hybriditätstheorie zusammengefasst werden, die ein Anregungspotenzial für die Entwicklung transnationaler Perspektiven auf Netzwerke und Biografien von Wissenschaftsmigrantinnen besitzen: • Postkoloniale Theorien entwickeln dezentrierte globalisierungstheoretische Perspektiven, die als notwendiges Korrektiv zu westlichen Globalisierungskonzepten anzusehen sind. Damit stellen sie einen Beobachtungsraum zur Verfügung, der im deutschsprachigen Kontext außerhalb der weltregional fokussierten Area Studies bislang kaum Resonanz gefunden hat. Eine Ungleichheitsforschung, die transnationale und globale Perspektiven konsequent einbezieht, steht – insbesondere im deutschsprachigen Raum – noch in den Anfängen (vergl. diese Diskussion bei Kreckel 2008). • Postkoloniale Hybriditätstheorien fokussieren transnationalisierte migrantische Lebensverhältnisse als transformative Räume. Sie entwickeln so ein Konzept migrantischer Mehrperspektivität, in dem biographische und kulturelle Veränderungspotenziale einen zentralen Stellenwert erhalten. Sie bilden damit einen kritischen Diskurs gegenüber defizitorientierten Ansätzen zur Beobachtung von kulturellen Minderheiten. • Insbesondere die Erweiterung des Hybriditätsansatzes durch das Konzept der sozialen Positionierung von Stuart Hall lenkt schließlich den Blick darauf, dass kulturelle Identität eine Prozesskategorie ist, die Verschiebungen und Veränderungen erfährt, durch die migrantische Minderheiten dominante Diskurse irritieren und verändern können. Damit werden Transformationsprozesse von Identitätskategorien als Kern transnationaler Lebensweisen fokussiert. Die empirische Anschlussfähigkeit dieser theoretischen Ansätze bleibt jenseits dieses Anregungspotenzials problematisch, nicht zuletzt, weil offen bleibt, wie sich diese Transformationspotenziale in transnationalen Lebensformen äußern und es ist erforderlich, ihre jeweiligen Konstitutionsbedingungen sowie die Auswirkungen auf Subjekte und gesellschaftliche Prozesse kontextabhängig zu betrachten. Unklar ist ebenfalls, auf welche Weise unterschiedliche Differenzkategorien wie die sozial konstruierte Differenz der Geschlechter vor dem Hintergrund des Hybriditätskonzepts zu füllen wären. An dieser Stelle kann an Konzepte der intersektionalen Analyse angeknüpft werden, die auf Diskussionen in der Genderforschung (und inzwischen auch darüber hinaus) seit Ende der 1980er Jahre starken Einfluss genommen haben. Das Spektrum dieses sehr offen
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Nomadismus, Grenzgänge und Hybridität
angelegten Theoriekonzepts (Davis 2008) bietet sowohl Raum für die Analyse von Differenzkategorien als sozial konstruierte Identitätskategorien als auch für deren kontextabhängige sozialen Wirkungen. Das Konzept der Intersektionalität wird im Folgenden zunächst theoriegeschichtlich entfaltet und anschließend unter Bezug auf den Ansatz des „doing difference“ (Fenstermaker und West 2001) in Hinblick auf ihr Potenzial für die Analyse transnationaler Biographien diskutiert.
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Differenz in Bewegung – Transnationale Mobilität und Intersektionalität
In der Genderforschung wird die Komplexität gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse neuerdings unter dem Stichwort „Intersektionalität“ diskutiert. Unter dem Paradigma der Intersektionalität wird eine Vielzahl von theoretischen und politischen Ansätzen subsumiert, die die klassischen Felder der sozialen Ungleichheitsforschung Gender, „Rasse“/Ethnizität und Klasse zusammenführen. Diese Erweiterung der Perspektiven trägt der „doppelten Erschütterung“ (Lenz 2000: 229) Rechnung, die die bisherigen diskursiven Grenzziehungen einerseits durch Prozesse der Globalisierung sowie durch den Wandel der Geschlechterverhältnisse erfahren hat. Das Aufbrechen nationaler Rahmen erfordert es, eine verdichtete Perspektive auf soziale Ungleichheitsverhältnisse zu entwickeln. Damit rücken eine Vielfalt von unterschiedlichen Differenzkategorien und daraus resultierende Ungleichheitsverhältnisse in den Blick, die sowohl von der Genderforschung als auch in globalisierungstheoretischen Ansätzen aufgenommen werden (z.B. Nassehi 2003; Castells 2002; Kreckel 2004; 2008). Anknüpfungspunkte ergeben sich auch für den Kontext der neueren Migrationsforschung, die aus einer transnationalen bzw. transstaatlichen Perspektive diskutiert werden (Pries 1998, 2001; Faist 2000; Glick Schiller, Bash und Szanton Blanc 1997). Unter dem Schlagwort „Intersektionalität“ verbirgt sich weder eine einheitliche theoretische Perspektive, noch beschreibt der Begriff ein Forschungsgebiet, das ebenso neu ist wie das sich darüber befindliche Schlagwort. Auch wenn der Begriff Intersektionalität im deutschsprachigen Raum erst seit kurzem verwendet wird (Lutz 2004 b; Knapp 2005; Knapp und Klinger 2005; Rommelspacher 2006; Gutierrez-Rodriguez 2006; Walgenbach 2006; Gildemeister 2006, Winker und Degele 2009), gibt es Forschungsstränge, die im Kontext der antirassistischen Genderforschung entwickelt wurden, die sich mit Migrationsund Globalisierungsphänomenen beschäftigen und Perspektiven für eine inter-
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Differenz in Bewegung – Transnationale Mobilität und Intersektionalität
sektionelle Analyse verfolgt haben, ohne dabei den Begriff Intersektionalität zu verwenden.69 Im Folgenden wird für die Diskussion des Intersektionalitätsbegriffs zunächst ein kurzer theoriegeschichtlicher Exkurs unternommen. Dabei werden insbesondere die deutschsprachige Gender- und Migrationsforschung und ethnomethodologische Ansätze des „doing difference“ (West und Fenstermaker 1996; Fenstermaker und West 2001) berücksichtigt. Das Konzept des „doing difference“ bietet eine ganze Reihe von erweiterten theoretischen Perspektiven, die die Möglichkeit bieten, Differenzkategorien und die daraus resultierenden komplexen gesellschaftlich konstruierten Ungleichheitsverhältnisse in den Blick zu nehmen.
6.1
Intersektionalität: Die soziale Herstellung komplexer Differenzen und Ungleichheiten
Der Begriff Intersektionalität bzw. „intersectional analysis“, der für eine programmatische Neuorientierung der Genderforschung steht, wurde von der amerikanischen Juristin Kimberley Crenshaw geprägt (Crenshaw 1989; vergl. auch Collins und Andersen 1995; Collins 1999; Chow et al. 1996). Crenshaw beschrieb Intersektionalität mit der Metapher einer Verkehrskreuzung, an der sich Differenzlinien (Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Klasse) überschneiden, kreuzen und überlagern und in unterschiedlicher Weise soziale Ungleichheit determinieren. Die theoretischen Implikationen, die sich aus dieser Vorstellung ergeben, stellen einerseits eine sehr komplexe Herangehensweise an die Analyse gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse dar, sie sind aber auch nicht unproblematisch. Der Ansatz beschreibt den Zusammenhang von sozialer Differenzkonstruktion und der Produktion gesellschaftlicher Ungleichheit und geht auf die Diskussion von „Race, Class und Gender“ in den 1970er Jahren durch den Black Feminism in den USA zurück. Das Combahee River Collective, ein politischer Zusammenschluss von schwarzen lesbischen Frauen, die in ihren Texten das Zusammenwirken unterschiedlicher Unterdrückungsformen diskutierten, war ein wichtiger Ausgangspunkt für die Intersektionalitätsdiskussion, die zunächst vor allem in der internationalen Frauenrechtspolitik Bedeutung erhalten hat (Crenshaw 1989, 1995). Crenshaw entwickelte den Begriff in einem Papier für 69
Grundlegend für die Diskussion sind hier insbesondere: Anthias undYuval-Davis (1992), Brah (1993, 1996), Hill-Collins (1990), Lutz (2001), Lutz, Phoenix und Yuval-Davis (1995), Phoenix (1998) und Yuval-Davis (1997).
Intersektionalität: Die soziale Herstellung komplexer Differenzen und Ungleichheiten
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den United Nations Development Fond for Women (UNIFEM), inzwischen beziehen sich zahlreiche UNO-Institutionen und internationale NGO’s auf das Konzept der Intersektionalität (Knapp 2005b: 71). Intersektionalität stellt somit nicht nur eine Erweiterung gendertheoretischer Ansätze dar, deren theoretische und forschungspraktische Entwicklung noch in den Anfängen steckt, das Konzept ist bislang in erster Linie ein gewichtiges internationales rechtspolitisches Handlungsparadigma, mit dem die feministische Forschung in einer Wechselbeziehung steht. Neben den in den Sozialwissenschaften als zentral etablierten Ungleichheitskategorien Gender, Klasse und Ethnizität werden mit dem Intersektionalitätsansatz auch andere Differenzkategorien diskutiert. Die Diskussionen und forschungspraktischen sowie politischen Umsetzungen sind vielfältig, hier sei auf den Katalog von 14 sozialen Differenzlinien verwiesen, die Lutz70 (2001) entwickelt hat. Sie umfassen: Gender, Sexualität, „Rasse“/Hautfarbe, Ethnizität, Nation/Staat, Klasse, Kultur, Behinderung, Alter, Sesshaftigkeit, Wohlstand, Nord/Süd, Religion, Stufe der sozialen Entwicklung. Es stellt sich angesichts dieser Vielfalt von Differenzlinien die Frage, ob allen Kategorien gesellschaftlich die gleiche Relevanz zukommt wie den drei klassischen Ungleichheitskategorien. Auch wenn eine binäre Strukturierung beispielsweise von „Behinderung“ in Lebensbedingungen aufgespalten werden kann, die von Behinderung bzw. „Nicht-Behinderung“ geprägt sind, erhält diese Kategorie doch lediglich in Kontexten eine Bedeutung, in denen diese Thematik berührt wird und zu Ungleichheitsverhältnissen führt. Für die Forschungspraxis kann die Einbeziehung weiterer sozial konstruierter Differenzkategorien fruchtbar sein, deren Einführung ist jedoch kontextabhängig. Der Differenz-Katalog von Lutz stellt einerseits eine sehr differenzierte Auflistung von sozialen Ungleichheitskategorien dar, für die in der Genderforschung meist nur ein „etc.“ zur Auflistung von „race“, „class“, Gender hinzugefügt wird,71 anderseits erhebt dieser Katalog keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist ergänzbar.
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Dazu führen Lutz und Leiprecht (2006) aus, dass es sich bei „race“, „class“ und Gender um Minimalstandards intersektionaler Analyse handele. Butler (1991: 210) formulierte zu dieser Diskussion folgenden Einwand: „Auch die Theorien feministischer Identität, die eine Reihe von Prädikaten wie Farbe, Sexualität, Ethnie, Klasse und Gesundheit ausarbeiten, setzen stets ein verlegenes ‚usw.’ an das Ende ihrer Liste. (…) Tatsächlich ist es ebenso ein Zeichen der Erschöpfung wie ein Zeichen für den unbegrenzbaren Bezeichnungsprozess selbst.“ Knapp (2005a: 69, 2005b) entgegnet auf diesen Kommentar, dass die intersektionale Analyse nicht wie Butler es vorschlägt, bei der Dekonstruktion von Differenz stehen bleiben darf, sondern eine Analyse von komplexen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen von Ungleichheitsverhältnissen einzubeziehen ist. Ähnliche Positionen wie Knapp formulieren auch Fraser (1997) und Yuval-Davis (2002, 2006).
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Differenz in Bewegung – Transnationale Mobilität und Intersektionalität
Yuval-Davis (2006: 203) entwirft ein Modell von Intersektionalität, in dem vier Differenzlinien, nämlich Gender, Phase des Lebenszyklus (Alter), Ethnizität und Klasse sind für das Leben der meisten Menschen von grundlegender Bedeutung, während andere Differenzlinien für die jeweils betroffenen Individuen ebenfalls relevant sein können, jedoch keine globale Wirksamkeit besitzen. Die forschungspraktische Fokussierung von Differenzlinien und den daraus resultierenden Ungleichheitsverhältnissen ist demnach doppelt strukturiert. Sie ist einerseits kontextgebunden und andererseits abhängig von der Beobachtungsperspektive der Forschenden. Für die hier entwickelten empirischen Perspektiven auf Biographien transnational mobiler Nachwuchswissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Weltregionen stellen sowohl die weltregionale Herkunft als auch Staatsbürgerschaft, Ethnizität und Gender zentrale Unterscheidungskategorien dar. Während das Konzept der Intersectionality für die empirische Forschungspraxis einen erheblichen Komplexitätsanstieg bedeutete, zeigte sich in der politischen Praxis jedoch auch, dass die Vielstimmigkeit der berücksichtigten Differenzlinien nicht nur als eine Bereicherung wahrgenommen wurde, sondern zugleich Verwirrung stiftet. Zinn (1996) sowie Alexander und Mohanty (1997) wiesen kritisch darauf hin, dass mit dem Intersektionalitätsbegriff auch ein beliebiges Nebeneinander aller möglichen Differenzlinien und Unterschiede entstanden ist, das dazu führt, Machtverhältnisse eher zu verschleiern, anstatt sie sichtbar zu machen. Walgenbach (2006) weist darauf hin, dass das Problem der Intersektionalität so alt ist wie die Frauenbewegungen selbst: Schon mit den Anfängen der weißen Frauenbewegung in den USA forderten schwarze Frauen zeitgleich ihre Rechte ein. Truth kritisierte 1851 auf einer Frauenversammlung mit ihrer berühmt gewordenen Frage „Ain’t I a woman?“ Rassismus und Klassenherrschaft in der weißen Frauenbewegung (Walgenbach 2006; Davis 1982; hooks 1981; Mohanty 1988). Und in Deutschland war die bürgerliche Frauenbewegung zeitgleich mit ihrem Entstehen der Kritik der proletarischen Frauenbewegung ausgesetzt (Walgenbach 2006), ebenso sind Auseinandersetzungen um Geschlecht, Klasse, „Rasse“/Ethnizität mit unterschiedlichen Akzentuierungen in Frauenbewegungungen weltweit schon in ihren Anfängen zu finden (Lenz 2000). In der deutschsprachigen Geschlechterforschung gewann seit Anfang der 1980er Jahre die Perspektive auf Unterschiede zwischen Frauen durch soziale Herkunft und Klassenzugehörigkeit mit dem Konzept der „doppelten Vergesellschaftung – doppelten Unterdrückung“ (Becker-Schmidt 1980, 1987, 1996, 2004) an Raum. Dieses Konzept wurde im Zusammenhang einer empirischen Studie unter Fabrikarbeiterinnen „Nicht wir haben die Minuten, sondern die Minuten haben uns“ entwickelt (Becker-Schmidt u.a. 1982), in dem die Ver-
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knüpfungen zwischen der Vergesellschaftung von Frauen in ihren Familien und als Arbeiterinnen analysiert wurden. Interessanterweise handelte es sich bei dem Untersuchungssample bei vielen der Interviewpartnerinnen um Migrantinnen. Die Ebene der sozialen Ungleichheit, die die Fabrikarbeiterinnen als Migrantinnen erfuhren, wurde im Rahmen der empirischen Analysen allerdings nicht als Gegenstand betrachtet, dem ein Erkenntnisinteresse beizumessen gewesen wäre. Diese interessante Auslassung spiegelt, dass die feministische Forschung Anfang der 1980er Jahre noch kaum Notiz davon genommen hatte, dass Deutschland zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland war. Gegenüber den Ungleichheitsverhältnissen, die an die Differenzkategorie Ethnizität geknüpft sind, ist in der deutschsprachigen Geschlechterforschung eine lang anhaltende Reflexions- und Rezeptionssperre zu beobachten. Die ersten – wenigen – wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Migrantinnen entstanden Ende der 1970er Jahre im Kontext der Sozialpädagogik und widmeten sich einerseits der Sichtbarmachung von Frauen in der Migration sowie ihren spezifischen Migrationserfahrungen (Lutz 2004a: 479). In diesen Untersuchungen standen vor allem die spezifischen Lebenssituationen von Migrantinnen im Vordergrund; die Ko-Konstruktion von Geschlecht und Ethnizität und daraus resultierenden Ungleichheitsverhältnisse waren jedoch kein Thema. Diese nach wie vor marginale Diskussion begann im Vergleich zu den USA und anderen westeuropäischen Ländern erst mit einer erheblichen Verzögerung Anfang der 1990er Jahre mit einem Paradigmenwechsel innerhalb der Geschlechterforschung, mit dem eine Hinwendung zur Analyse von Differenzen zwischen Frauen eingeleitet wurde (Knapp und Wetterer 1995) und mit Arbeiten aus den anti-rassistischen und anti-kolonialen feministischen Bewegungen wie den FeMigras, einem Zusammenschluss von Feministinnen mit Migrations-, Exil- und Diaspora-Hintergrund, die in ihrem Aufsatz „Wir, die Seiltänzerinnen“ (1994) über die Gleichzeitigkeit von sozialen Unterdrückungsverhältnissen reflektierten. Mitte der 1990er Jahre entstand eine systematische globalisierungstheoretische Erweiterung des Ansatzes der „doppelten Vergesellschaftung“. Lenz (1995) zeigte mit ihrem Konzept der „dreifachen Vergesellschaftung“, in dem sie das konfigurative Zusammenwirken von 1. Familie/Haushalt, 2. Kapitalverhältnissen sowie 3. Vergesellschaftung von Frauen in den Nationalstaaten der Moderne herausarbeitete, dass das Prinzip der Nationalstaatlichkeit ebenfalls die Differenzlinien Staatsbürgerschaft und Ethnizität nach sich zieht: „In dieser Vergesellschaftung überkreuzen sich Geschlecht und nationale Mitgliedschaft; bei pluralen Gesellschaften mit mehreren Ethnien oder Einwanderergesellschaften tritt die ethnische Zuschreibung als weiterer Faktor in diesem Spannungsfeld hinzu.“ (Lenz 1995: 35) Bemerkenswert am Modell der „dreifachen Vergesell-
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schaftung“ sind zwei weitere Punkte: Lenz verdeutlicht einerseits, dass die von ihr aufgezeigten Differenzlinien nicht additiv im Sinne einer „dreifachen Unterdrückung“ vorzustellen sind, sondern als simultane Prozesse, die permanent miteinander in Wechselwirkung treten. Zudem weist sie darauf hin, dass ethnische Identität ebenso wie die Kategorie Gender sozial konstruiert ist. Erst Ende der 1990er Jahre begann eine Diskussion des „feministischen Ethnozentrismus“ (Gümen 2001: 139).72 Gümen stellte heraus, dass Migration und damit verbunden die Konstruktion von Ethnizität von der Geschlechterforschung als ein Sonderphänomen behandelt wird, das nur für Migrantinnen und Migranten Gültigkeit besitzt (Gümen 1998: 147). In ihrem Aufsatz „Das Soziale des Geschlechts“ stellt sie fest, dass „race“ als „askriptives Merkmal“ (Gümen 1998: 189) neben Geschlecht und Klasse zwar genannt wird, jedoch ebenso wie „Ethnizität“ eine unreflektierte Kategorie. Zugleich weist sie auf die Notwendigkeit hin, dass Ethnizität und „race“ nicht als naturalisierte Differenzlinien gedacht werden können, sondern als soziale Konstruktionsprozesse zu analysieren sind. Dieser Ansatz findet sich auch in zeitlich anschließenden Arbeiten, die im Kontext einer ganzen Reihe von neueren Forschungen stehen, die keineswegs ausschließlich, aber verstärkt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorangetrieben werden, die selbst einen Migrationshintergrund besitzen.73 Anders als in Großbritannien und den USA steht die Verbindung zwischen Migrations- und Geschlechterforschung noch in den Anfängen.74 Im deutschsprachigen Diskurs der Geschlechterforschung ist bis Mitte der 1990er Jahre ein weitgehend unreflektierter Ethnozentrismus erkennbar, der sich auch in der bemerkenswerten Rezeptionssperre von feministischen Diskursen zu „race“/Ethnizität, Klasse und Gender in den USA und Großbritannien zeigt. Ein Grund mag darin liegen, dass sich die Diskussion der Differenzlinie „race“ für eine deutschsprachige Reflexion schwierig darstellt. Knapp (2005a, 2005b) weist auf die vielfältigen Übersetzungsprobleme der Terminologie „race-classgender“ in der Intersektionalitätsdebatte hin. So merkt sie auch an, dass auch der Begriff der „Klasse“ sich einer direkten Übersetzbarkeit in deutschsprachige Diskurse sperrt und unter postsozialistischen Vorzeichen durchaus eine nicht unproblematische Rezeption nach sich zieht, da theoretisch das Anknüpfen an
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Der Aufsatz erschien zuerst 1998 in der Zeitschrift „Das Argument“ 224, S. 187-202. Z.B. die Arbeiten von Badawia 2002, Gutierrez Rodriguez 1999, Mecheril 2003a und 2003b, Terkessidis 1998 und 2004, Tahereh 1997, Ha 1999, Castro de Varela 2007 und viele andere. Intersektionelle Perspektiven entwickeln z.B. Apitzsch und Jansen 2003, Benarz-Braun und Heß-Meining 2004, Gutierrez-Rudriguez 1999, Gümen 1998; Hess und Lenz 2001, Knapp 2005a und 2005 b, Knapp und Klinger 2005, Lenz 1995, Lenz, Lutz, Morokvasic-Müller u.a. 2002, Lutz 2001 und 2004b, Morokvasic-Müller, Erel und Shinozaki 2003, Räthzel 1997 und 2004 sowie Rommelspacher 1995 und 2002.
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Begriffe wie Millieu oder Schicht näher liegt. Knapp verweist auch darauf, dass „Klasse“ in der Genderforschung häufig lediglich als askriptiver Zusatz verwendet wird. Als schwierig stellen sich auch die Übersetzungsschwierigkeiten für den Begriff der „Rasse“, dar. Aufgrund der Rolle, die der Antisemitismus im deutschen Nationalsozialismus gespielt hat, und dieser wiederum für das politische Selbstverständnis in Deutschland, werden Antisemitismus und Rassismus oft gleichgesetzt. Im öffentlichen Diskurs ist beispielsweise erst in jüngerer Zeit und noch selten im Zusammenhang mit rechtsradikalen Überfällen auf Schwarze in Ostdeutschland von „Rassismus“ die Rede; überwiegend werden Bezeichnungen wie „Fremdenfeindlichkeit“ bzw. „Ausländerfeindlichkeit“ benutzt (Räthzel 2004: 249). Ein anderer Grund für die getrennt voneinander entwickelten Ungleichheitsdiskurse liegt in den weitgehend isolierten Wissenschaftsbereichen der Genderforschung und der Migrationsforschung. Lutz (2004b) weist darauf hin, dass dies den Effekt hat, dass Forschung über Migrantinnen innerhalb der Migrationsforschung bislang in der Regel als „genderspezifisch“ betrachtet wird, während sie in der Genderforschung als „ethnizitätsspezifisch“ eingeordnet wird.75 Die Diskussion um Intersektionalität verweist hier auf ein weiteres perspektivisches Vakuum.
6.2
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Die theoretischen Debatten zum Zusammenhang von Rasse, Klasse und Geschlecht erhielten Ende der 1980er Jahre neue Impulse durch einen Aufsatz von Candace West und Sarah Fenstermaker mit dem Titel „doing differerence“ (1996), der eine kritische Erweiterung des „doing gender“-Ansatzes (West und Zimmermann: 1987) darstellt. „Doing gender“ stellte eine kritische Auseinandersetzung mit biologischen, universalistischen und essentialistischen Konzepten, die Geschlecht primär als statische und ahistorische Größe betrachteten und führte zur Konzeption eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes, der auf vorangehende ethnomethodologische Studien von Garfinkel (1967), Goffmann (1977) sowie Kessler und McKenna (1978) Bezug nahm. „doing gender“ wurde innerhalb der sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung zunächst in den USA und mit einiger Verzögerung auch in Deutschland (vergl. Gildemeister und Wetterer 1992; Hagemann-White 1993) zu einem viel diskutierten 75
Mahler und Pessar (2006) arbeiteten in einer international angelegten bibliographischen Studie heraus, dass Gender als Analysekategorie in der Migrationsforschung deutlich unterrepräsentiert ist.
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Forschungsparadigma. Geschlecht stellt sich mit dem „doing gender“-Ansatz als ein durch soziale Situationen erzeugtes Unterscheidungsmerkmal dar und verabschiedet die Vorstellung, dass Geschlecht eine individuelle und naturalisierte Eigenschaft sei. Vielmehr werden alltägliche Interaktionsprozesse, aber auch das Handeln von Akteuren in Institutionen als konstitutiv für die Ausgestaltung von Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern gesehen. Geschlecht stellt sich im „doing gender“-Ansatz als Ergebnis komplexer sozialer Prozesse dar und nicht mehr als naturhafter Ausgangspunkt für Unterscheidungen im menschlichen Handeln, Verhalten und Erleben. Zentral für das „doing gender“-Konzept ist die Feststellung, dass es nicht möglich ist, sich der gesellschaftlichen Herstellung von Vergeschlechtlichung zu entziehen. Aus dieser Erkenntnis leiteten West und Zimmermann die Omnirelevanz der Kategorie Gender ab und beantworteten ihre programmatische Eingansfrage zu ihrem Aufsatz: „Can we ever not do gender?“ mit der Feststellung, dass es nicht möglich sei, sich außerhalb der gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von Gender zu bewegen. Durch die theoretische Wende, die der „doing gender“-Ansatz für die Frauenund Geschlechterforschung nach sich zog, wurden Perspektiven für andere relationale gesellschaftlich konstruierte Differenzlinien geöffnet. West und Fenstermaker entwickelten „doing gender“ zu einem erweiterten Ansatz, der die Komplexität der Differenzkategorien Gender, Klasse und Ethnizität berücksichtigt. Sie knüpften mit dieser Erweiterung an die US-amerikanischen Debatten zur Intersektionalität an und entwickelten eine theoretische Grundlage, die sich der Frage widmete, wie ethnische, klassen- und geschlechtsspezifische Ungleichheiten in sozialen Interaktionen hervorgebracht werden (West und Fenstermaker 1996; Fenstermaker und West 2001). Der ursprünglich gendertheoretisch fokussierte Sozialkonstruktionsansatz fand mit dem „doing difference“-Ansatz (1996, 2001) auch Eingang in andere Bereiche der Ungleichheitsforschung, vor allem in die (gender-fokussierte) Migrationsforschung (Lutz 2004a, 2004b, 2005). Fenstermaker und West (2001: 236) nahmen zunächst einen theoretisch kritischen Bezug auf kursierende und vielstimmige Konzepte der Intersektionalität und Konzepte der „interlocking systems“ (ineinander verschachtelte Systeme), in denen sie immanente Probleme der Ansätze aufzeigten und konzipierten eine theoretische Verknüpfung von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, die in Interaktionsprozessen simultan erzeugt werden. In diesen Herstellungsprozessen erkennen sie die Grundlage für soziale Ungleichheit, Unterdrückung und Herrschaftsverhältnisse. Im Zentrum des „doing difference“-Konzepts steht zunächst jedoch auch eine theorieimmanente Kritik am vorhergehenden Ansatz des „doing gender“, denn die zuvor postulierte Omnirelevanz des Geschlechts in
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seinen sozialen Herstellungsverhältnissen wurde nicht nur um die Kategorien Ethnizität und Klasse erweitert, sondern auch in Frage gestellt. An Stelle der Omnirelevanz des Geschlechts rückt mit „doing difference“ die Omnirelevanz der gesellschaftlichen Produktion von Differenzlinien, aus denen Ungleichheitsverhältnisse erwachsen: “No person can experience gender without simultaneously experiencing race and class. As Anderson and Collins (1992) put it, ‘While race, class and gender can be seen as different axes of social structure, individual persons experience them simultaneously.’ ” (West und Fenstermaker 1996: 362). Zur Entwicklung dieses erweiterten Omnirelevanz-Paradigmas stellten West und Fenstermaker einen kritischen Bezug zu Intersektionalitäts-Diskussionen her. Ihr Einwand gegen diese Konzepte richtete sich insbesondere gegen naturalisierte und essentialistische Vorstellungen der Kategorien Ethnizität bzw. „race“ und Gender und die Autorinnen problematisierten additive Konzeptualisierungen von „doppelter“ oder „dreifacher“ Unterdrückung. Sie problematisierten, dass damit die Besonderheiten der jeweiligen Unterdrückungsformen aus dem Blick geraten. Dagegen stellten sie einen Ansatz, der betont, dass Menschen immer nur in der Komplexität sozial hergestellter Differenzen gedacht werden können (ebd. 357-363). Eine additive Vorstellung der Differenzkategorien impliziert dagegen, dass beispielsweise eine weiße Managerin situativ nur als Frau und nicht zugleich als Weiße und simultan als Angehörige der wirtschaftlichen Elite wahrgenommen werden kann. Im „doing difference“-Ansatz wird dagegen hervorgehoben, dass die soziale Bedeutung der Differenzkategorien situativ immer wieder neu hergestellt wird. Dies führt dazu, dass jeweils kontextabhängig die Bedeutung der Differenzlinien stärker hervortritt oder im Hintergrund bleibt. Die Implikationen für ein Verständnis der Relationalität zwischen den Differenzlinien beschreiben West und Fenstermaker als komplexes Verhältnis zwischen den Kategorien Ethnizität, Geschlecht und Klasse, die omnirelevant sind, aber deren Relevanz erst kontextabhängig wirksam wird. „While sex category, race category, and class category are potentially omnirelevant to social life, individuals inhabit different identities, and these may be stressed or muted, depending on the situation.“ (West und Fenstermaker 1996: 377) Vor diesem Hintergrund kritisieren sie auch die im Intersektionalitätsansatz entwickelte Vorstellung, soziale Differenzkategorien ließen sich als Linien beschreiben, die sich in Form von Überkreuzungen (wie an einer Straßenkreuzung) treffen, partiell überschneiden oder eben parallel nebeneinander her verlaufen. Die „Straßenkreuzungs“-Metapher ist jedoch lediglich in der Lage, punktuelle Überlagerungen in den Blick zu nehmen. West und Fenstermaker betonen dagegen – auch gegen den von West und Zimmermann entwickelten
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„doing gender“-Ansatz –, dass die Kategorie Gender in ihrer Gleichzeitigkeit mit Ethnie und Klasse (und anderen Differenzlinien) zu denken ist. Auch an anderer Stelle wurde der „doing gender“-Ansatz unter den Vorzeichen einer „undoing gender“76 Perspektive (Hirschauer 1996, 2001) kritisch diskutiert. Hirschauer legt damit die Prognose zugrunde, dass die interaktive Herstellung von Gender im Schwinden begriffen sei. Vielmehr sei Gender kontextuell kontingent und jeweils auf seine konkrete Relevantsetzung in Interaktionen in bestimmten Kontexten unter der Bedingung unterschiedlicher kultureller Konfigurationen und institutioneller Arrangements zu untersuchen. Auch im „doing difference“-Ansatz wird betont, dass die Herstellungsmodalitäten von Gender, Ethnizität und Klasse flexibel sind und die Bedeutung der einzelnen Kategorien je nach Kontext variiert. Sie werden jedoch, so West und Fenstermaker (1996: 238), „durch die selben Interaktionsmechanismen hervorgebracht.“ Als zentrales Prinzip nennen sie hier das „verständlich machen“, die „accountability“ des Handelns auf der Basis von klassen-, ethnien- und geschlechtsspezifischen Erwartungen in Gruppen, Institutionen und Beziehungen. Diese Erwartungen verorten West und Fenstermaker in dem Wissen und den Erfahrungen aus vorangegangenen Interaktionen, „die sich zu einer historischen und institutionellen Praxis verdichtet haben.“ (ebd.) Die Effekte dieses mit dem ethnomethodologischen Begriff der „accountability“ umrissenen Prozesses beschreiben West und Fenstermaker als die aktive Herstellung und Naturalisierung von sozialen Differenzkategorien und zugleich als die Naturalisierung der daraus resultierenden Legitimierungen von sozialer Ungleichheit: „Letztlich werden auf diese Weise nicht nur ‚natürliche’ Unterschiede zwischen Menschen hergestellt, sondern auch darauf beruhende soziale Ungleichheiten gewissermaßen ‚naturalisiert’ und reproduziert. Klasse, Geschlecht und Ethnie sind eng miteinander verknüpfte Hervorbringungen: Sie sind dynamisch, anpassungsfähig und grundsätzlich veränderbar und sie erhalten ihre konkrete Bedeutung ausschließlich durch soziale Interaktion.“ (West und Fenstermaker 2001: 238) Damit haben die Konzepte des „doing gender“, „undoing gender“ und „doing difference“ gemeinsam, dass sie soziale und kulturelle Phänomene nicht als Produkt von psychischen und kognitiven Strukturen, sozialen Systemen oder Diskursen begreifen, sondern als Handlungsprozesse. Dem liegt die gemeinsa-
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Unter dem Schlagwort „undoing gender“ finden sich auch repräsentationstheoretische Ansätze (Butler 2004) sowie der sozialkonstruktivistisch-dekonstruktive Ansatz von Lorber (2003), die das „Vergessen des Geschlechts“ (Hirschauer 2001) als politisches Ziel formulieren. Im Unterschied zu Hirschauer, der vom Zurücktreten der Relevanz von Gender ebenso ausgeht, wie z.B. Heintz und Nadai 1998, ist Lorber weniger optimistisch und formuliert „undoing gender“ noch nicht als gesellschaftlichen Status quo, sondern als politisches Ziel (Lorber 2003).
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me sozialkonstruktivistische Annahme zugrunde, dass soziale und kulturelle Phänomene interaktiv hergestellt werden. Auch gegen den Sozialkonstruktionsansatz von Differenz gab es eine Reihe von Einwänden. Kritisiert wurde einerseits, dass die Bedeutung von Interaktion für die Herstellung von Herrschaftsverhältnissen überbetont und soziale Unterschiede zwischen den agierenden Akteuren unterschätzt und ausgeblendet wurden. Weiterhin wurde als Schwäche des Konzepts betrachtet, dass das Verhältnis zwischen Sozialstruktur und Individuum (Makro-/ Mikro-Ebene) nicht deutlich genug herausgearbeitet sei (West und Fenstermaker 2001: 241, Gottschall 1998). Die Forderung nach einer Erweiterung der empirischen und analytischen Perspektiven von der bislang in der Intersektionalitätsforschung am häufigsten gewählten Perspektive auf Mikro- und Meso-Ebenen steht auch im Blick neuerer Diskussionen von Intersektionalität (McCall 2005; Knapp 2005a, 2005b; Klinger und Knapp 2005). So fordert Knapp eine Erweiterung der bisherigen empirischen und theoretischen Perspektiven und weist auf die Notwendigkeit hin, auch die gesellschaftliche Makro-Perspektiveeinzubeziehen, um „das Problem der Intersektionalität gesellschaftstheoretisch zu präzisieren“ (Knapp 2005a: 75). Damit schließt Knapp eng an den Aufsatz von McCall „The Complexity of Intersectionality“ (2005) an, in dem unterschiedliche Ebenen der Intersektionalitätsforschung aufgeschlüsselt werden. McCall nennt drei methodologische Ansätze, die unterschiedliche Strategien zur Bewältigung der aus intersektionalen Perspektiven entstehenden Komplexität entwickelt haben. Damit benennt sie 1. „anti-kategoriale“ Ansätze, 2. „intra-kategoriale“ Ansätze, denen gemeinsam ist, dass die empirische Basis dieser Analysen in erster Linie auf qualitativen Daten beruhen und schlägt 3. die methodologische Erweiterung „inter-kategorialer“ hoch komplexer quantitativer Forschungen zu den Verschränkungen von Ungleichheitskategorien auf der Makro-Ebene vor.77 McCall zeigt auf, dass es sich mit dem Intersektionalitätsansatz um eine hochgradige Verdichtung von empirischer und theoretischer Komplexität handelt, die eine Reihe von neuen methodologischen Fragen aufwirft. McCall beschreibt den Ertrag der „antikategorialen“ poststrukturalistisch inspirierten Ansätze damit, dass sie Differenzkategorien als soziale Fiktionen dekonstruieren; sie kritisiert jedoch, dass die „anti-kategorialen“ Ansätze die Dekonstruktion der Fabrikationsprozesse von Differenz mit der Analyse gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse gleichsetze. In der intersektionalen Forschungspraxis beobachtet sie jedoch, dass vor allem eine Verschränkung von anti- und intra77
Für die vorliegende Arbeit ist die Bezugnahme auf die anti-kategoriale sowie die intrakategoriale Ebene relevant, während eine Bearbeitung des Themas transnationale Wissenschaftsmigration aus einer intersektionalen Analyseperspektive auf der Makro-Ebene der Hochschulorganisation für die Entwicklung weiterer Forschungsperspektiven von Interesse ist.
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kategorialen Ansätzen konstatiert werden kann, durch die einerseits eine Dekonstruktion naturalisierter Kategorien sowie die kritische Analyse von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen zusammengedacht werden. Intra-kategoriale Ansätze arbeiten mit Fallstudien oder bearbeiten spezifische Gruppen und fokussieren hier die Perspektiven auf ausgewählte Aspekte von Intersektionalität. Es kann also festgehalten werden, dass die Dekonstruktion von Differenzkategorien einen zentralen Bezugspunkt für intersektionale Analysen bildet, dieser jedoch durch die empirische Analyse und Kritik von Ungleichheitsverhältnissen, die auf einem naturalisierten Verständnis von Differenzkategorien beruhen, erweitert werden muss. Es handelt sich beim Intersektionalitätsansatz somit um ein theoretisches Konzept, das komplexe Analysen des Zusammenhangs von sozialer Ungleichheit und der Konstruktion von Differenz als symbolische und materielle Konstruktion von Differenz und sozialer Ungleichheit fokussiert. Auch die dritte von McCall eingeführte „inter-kategoriale“, makro-perspektivische Herangehensweise an Intersektionalität zieht letztlich eine Dekonstruktion naturalisierter Differenzkategorien nach sich: Auch wenn der „inter-kategoriale“ Ansatz in der Erhebung hochkomplexer quantitativer empirischer Datensätze seinen Ausgangspunkt im Aufgreifen der Differenzkategorien nimmt und sozialstrukturell verankerte Ungleichheitsverhältnisse an Männern und Frauen, Schwarzen und Weißen vergleicht, führten erste Studien durchaus zu dekonstruktiven Ergebnissen, die zeigten, dass die Indikatoren für Ungleichheitsverhältnisse sich nicht konsistent als valide gezeigt haben und je nach Kontext empirisch erheblich variieren (McCall 2005: 1792). Das Problem der Fixierung auf die Analyse der Mikro-Ebene in ethnomethodologischen Ansätzen diskutieren West und Fenstermaker in ihrer Replik „Doing Difference Revisited“ (2001). Sie betonen hier, dass „situatives Handeln und soziale Struktur ständig ineinander greifen“ und die soziale Konstruktion von Geschlecht wie auch von Ethnie und Klasse „sowohl von früheren Erfahrungen sowie von normativen Erwartungen im gegenwärtigen Kontext abhängig ist“. Sie heben vor allem die Perspektive hervor, dass „das Handeln der Akteure im Wechselspiel mit den aggregierten Folgen früherer Entscheidungen und ihrer institutionellen Praktiken betrachtet“ werden muss (West und Fenstermaker 2001: 242, Hervorhebung im Original) und damit sehr wohl auch die Meso- und Makro-Ebene gesellschaftlicher Institutionen umfasst: „Die Missverständnisse bezogen sich vor allem auf unsere These, dass soziale Ungleichheit das Ergebnis von Interaktionsprozessen ist. Akteure – also auch wir – fungieren in sozialen Interaktionen nicht nur als Individuen, sondern auch als Vermittler institutioneller Praxis.“ (Fenstermaker und West 2001: 239)
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Der „doing difference“-Ansatz umfasst demnach folgende Ebenen gesellschaftlicher Interaktion: 1. die Ebene der Repräsentation, 2. Interaktionen auf der Mikro-Ebene und auf der Makro-Ebene 3. soziale Strukturen, die sich im Verlauf dieser Interaktionen erst verwirklichen können und voraussetzen, dass soziale Strukturen und situatives Handeln ineinander greifen. Vielmehr stellen sich individuelle Handlungen und soziale Strukturen lediglich als unterschiedliche Aspekte der „alltäglichen und oftmals unbemerkten sozialen Hervorbringung von Ethnie, Klasse und Geschlecht“ dar, zwischen denen Wechselwirkungen bestehen (Fenstermaker und West 2001: 243).78 Die Relevanz und Zentralität der Frage nach dem Wissen darüber, wie soziale Ungleichheit erzeugt wird und welche Rolle Interaktionen dabei spielen, wirft die weitere Frage auf, wie in diesen Interaktionssystemen gesellschaftliche Prozesse entstehen können, innerhalb derer nicht nur eine endlose Wiederholung von festgeschriebenen binären Zuschreibungsprozessen zu beobachten ist, sondern auch deren Dekonstruktion und Veränderung. Fenstermaker und West beziehen sich hier auf ein dynamisches und reziprokes Konzept sozialer Strukturen, die zwar einerseits Beständigkeit aufweisen, aber durch das individuelle Handeln von Akteuren auch die Möglichkeit der Transformation beinhalten (Fenstermaker und West 2001: 244). Dabei betonen sie die jeweilige Kontextabhängigkeit für die Hervorbringung von Differenzkategorien. Als Determinanten für den Kontext nennen sie drei strukturierende Merkmale: Ort, Zeit und die jeweiligen Akteure, die für den Ablauf und die Folgen von „doing difference“ je nach Situation ganz unterschiedlich ausfallen können. Dieser Aspekt ist für die Analyse von transnationalen Lebensformen besonders interessant und es ergeben sich folgende Fragen: • Wie beeinflussen Faktoren wie Ortswechsel und Leben an mehreren Orten die Konstruktion von sozialen Differenzkategorien? • Wie wirken sich zeit- und ortsunabhängige Kommunikationsstrukturen auf die Konstruktion von Ethnizität, Kultur, Gender und Klasse aus? • Wie lässt sich das Wirken von wechselnden und sehr unterschiedlichen Akteur/inn/en und Interaktionsfeldern im Rahmen von transnationalen Mobilitätsprozessen für die Konstruktion von Differenzkategorien beschreiben? Der ethnomethodologische Ansatz des „doing gender“ hat soziale Herstellungsprozesse von Geschlecht in den Blick gerückt, die das Verschwimmen von Geschlechtergrenzen nach sich ziehen, während postkoloniale Hybriditätstheorien 78
Das Ineinandergreifen der interaktiven Herstellung von Gender in Mikro-, Meso- und Makrostrukturen wurde unter Bezug auf das „doing gender“-Konzept zum Beispiel von Acker (1999) und Lorber (2003) gezeigt.
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den Blick auf das Konstruktionspotenzial kultureller Bedeutungen sowie auf die Verflüssigung kultureller Zugehörigkeit und kultureller Eindeutigkeit richtet. Der Ansatz des „doing difference“ ermöglicht es, die Komplexität dieser Perspektiven zusammenzuführen, zu erweitern und für die empirische Analyse transnationaler Lebensformen fruchtbar zu machen. Die Möglichkeiten intersektioneller Analyse umfassen ein weites Feld und bieten einen noch sehr offenen theoretischen Rahmen, mit dem einerseits Ansätze verfolgt werden können, die sich für die Konstruktion von Differenz interessieren. Andererseits kann mit dem Intersektionalitätskonzept eine theoretische Synchronisierung zur Analyse der materiellen Effekte und von unterschiedlichen Ungleichheitsverhältnissen erzielt werden, die aus den Interaktionen zwischen sozialen, institutionellen und subjektiven Konstruktionen von Differenz entstehen. Davis (2008) diskutiert dieses offene Spektrum des Ansatzes aus einer wissenssoziologischen Perspektive unter dem Stichwort „Intersectionality as buzzword“ und sie zeigt, dass mit dem Ansatz sowohl die Analyse von Identitätskategorien vorangetrieben werden kann (Staunaes 2003; Buitelaar 2006; Prins 2006) als auch die sozialstrukturellen Dimensionen von Ungleichheitsverhältnissen fokussiert werden können (Yuval-Davis 2006; Klinger 2008; Knapp 2005). Mit dem „doing difference“-Ansatz wurde deutlich, dass Differenz auf naturalisierten Diskursen basiert, die eine legitimatorische und konstitutive Wirkung für materialisierte gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse besitzen. Die Gemeinsamkeit von Differenzlinien besteht darin, sich nach den Prinzipien von Inklusion/Exklusion zu formieren. Allerdings leistet der Ansatz es nicht, diese basalen Konstruktionsprozesse zu präzisieren, da jede Differenz eine spezifische Bedeutungs- und Wirkungssphäre besitzt. Yuval-Davis hat diese Dimension von Intersektionalität ausgeführt und verdeutlicht, dass Differenz in ihren jeweiligen Kontexten analysiert werden muss: „All social divisions share some features and are concretely constructed and intermeshed with each other, it is important to note that they are not reducible to each other.” (Yuval-Davis 2006: 200) Jede Differenz besitzt demnach eine Autonomie (ebd. 201), woraus die Notwendigkeit entsteht, die gesellschaftlichen Verhältnisse für die jeweils einzelnen Differenzkategorien zunächst getrennt voneinander in den Blick zu nehmen. Dies bedeutet, dass „Klasse“ ein Ungleichheitsverhältnis ausdrückt, das sich in den ökonomischen Produktions- und Konsumprozessen sowie im Ausschluss aus diesen Prozessen ausdrückt. Für „Gender“ gilt, dass es sich hier um eine Differenz handelt, die mit Subjekten verbunden ist, deren soziale Positionen durch ihre biologische Differenz definiert werden. Die Differenz „Sexualität“ ist eine mit Gender eng verbundene Differenz, die auf Konstruktionen von
Doing Gender und Doing Difference
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Körper und sexueller Lust basiert. Die Differenz „Alter“ repräsentiert die Dimension von Zeit innerhalb von Lebenszyklen, an der deutlich erkannt werden kann, dass soziale Grenzziehungen in der Herausbildung von Differenz beweglich sind und ihre Bedeutung in unterschiedlichen historischen Kontexten individuell und sozial sehr stark variieren kann. „Behinderung“ stellt einen sehr heterogenen Diskurs dar, der einen Normalitätsdiskurs beinhaltet, von dem Menschen mit einer Behinderung in unterschiedlicher Weise abweichen. Für die Differenzlinie „Ethnizität“ und „race“ gilt gemeinsam, dass sie mit kollektiven Diskursen verbunden sind, die auf dem Prinzip der Inklusion/Exklusion basieren. Diese Grenzziehungen sind häufig um Mythen eines kollektiven Ursprungs organisiert.79 Intersektionalität bietet einen komplexen Ansatz für die Analyse sozialer Exklusion. Saharso (2002), Burman (2003) sowie Lutz und Davis (2005) schlagen zusätzlich vor, Intersektionalität auch für die Analyse von Ressourcen zu nutzen. Ausgehend von einem Fokus auf die Autonomie der unterschiedlichen Differenzen, erweitert Yuval-Davis (2006) intersektionale Analysen vom ursprünglichen Kontext der Lebensverhältnisse von schwarzen Frauen auf alle gesellschaftlichen Gruppen und berücksichtigt dabei sowohl Inklusions- als auch Exklusionsprozesse. Für die intersektionale Analyse transnationaler Biographien von Wissenschaftsmigrantinnen ist diese Öffnung eine fruchtbare Perspektive, denn es zeigt sich, dass Differenzkategorien und ihre sich in transnationalen Migrationsprozessen verändernden sozialen Effekte in transnationalen Biographien sowohl Exklusionskriterien als auch Inklusionsressourcen darstellen, die aus jeweils spezifischen sozialen und lokalen Konstellationen resultieren.
79
Vergl. Kapitel 5 sowie Yuval-Davis 2006: 201
7
Biographieforschung am bewegten Subjekt
7.1
Biographien als Artikulationen von Transnationalität
Transnationalisierung und Globalisierung ist nicht nur auf der Ebene der Transformation von Nationalgesellschaften sowie im gesellschaftlichen Meso-Bereich von Institutionen und Organisationen relevant, sie führt ebenfalls zu einer Globalisierung und Transnationalisierung von individuellen Biographien (Beck 1997: 129; Hannerz 1995: 81; Lutz und Schwalgin 2006). Die „Globalisierung der Biograpie“ (Lutz und Schwalgin 2006: 100) ist nicht zwangsläufig mit grenzüberschreitender Migration verbunden, denn Lebensentwürfe sind nicht mehr an einen spezifischen Ort gebunden, sondern werden durch die zunehmende Mobilität von „Menschen, Waren, Gütern, Medien und Imaginationen“ (Castells 2001) konstruiert. Mit Appadurai (1996, 1997) muss das globalisierte Subjekt lediglich seine Imaginationen und Erfahrungswelten in Bewegung setzen, um Globalisierungsprozesse als biographische Erfahrung zu antizipieren. Migration als physische Mobilität ist jedoch ohne eine „Globalisierung der Biographie“ nicht möglich (Lutz und Schwalgin 2006). Die in der Modernisierungstheorie beobachtete Erosion traditioneller Lebenswelten, des Zusammenbruchs der klassischen Milieus und das Verschwinden der „Normalbiographie“, die eine Gleichzeitigkeit mit der ebenfalls beobachteten „Kosmopolitisierung“ der Lebenswelten (Beck 2004) besitzen, führen dazu, dass Individuen zum „biographischen Planungsbüro“ (Beck) ihrer selbst werden. Termini wie „biographische Jongleure“, „Patchworkbiographien“, „jeder ist sein eigener Regisseur“ und „Bastel-Biographien“ verweisen auf diese mikrosoziologische Dimension reflexiver Modernisierung, die eingebettet in Globalisierungsprozesse ist. Mit diesen bruchstückhaften Subjektbegriffen wird der allgegenwärtige Entscheidungszwang von Individuen in individualisierten und funktional differenzierten Gesellschaften beschrieben, der ein hohes Maß an Selbstreflexivität in Bezug auf individuelle Positionierungen im Alltag und in Hinblick auf die eigene Lebensgestaltung fordert. „Individualisierung rückt das Selbstgestaltungspotenzial, das individuelle Tun ins Zentrum. Auf eine Formel gebracht: Die Gestaltung der vorgegebenen Biographie wird zur Aufgabe des Individuums, zum Projekt. (…) Individualisierung ‚verflüssigt’ die ‚Sozialstruktur’ der modernen Gesellschaft. Zentrale Institutionen wie (zivile, politische und
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
soziale) Grundrechte sind an das Individuum adressiert, gerade nicht an Kollektive oder Gruppen. Das Bildungssystem, die Arbeitsmarktdynamik, Karrieremuster, ja Mobilität und Märkte ganz allgemein haben individualisierende Konsequenzen. Flexibilisierung der Erwerbsarbeit bedeutet Individualisierung von Risiken und Lebenszusammenhängen. (…) Die Lebensbedingungen der Individuen werden ihnen selbst zugerechnet; und dies in einer Welt, die sich fast vollständig dem Zugriff der Individuen verschließt. Auf diese Weise wird das ‚eigene Leben’ zur biographischen Lösung systemischer Widersprüche“ (Beck 2001: 3, Hervorhebungen im Original) Mit der Individualisierungsthese stellt die Produktion von „Biographie“ eine selbstreferentielle Verarbeitung einer Vergesellschaftung dar, die unter systemtheoretischen Vorzeichen als funktionale Differenzierung beschrieben wird und Reflexivität in Bezug auf unterschiedliche und häufig auch widersprüchliche Inklusionsanforderungen und gesellschaftliche Exklusionen fordert. Eine Bezugnahme auf die Biographieforschung ermöglicht es, die mikrosoziologischen Auswirkungen makrosoziologischer Umbrüche in den Blick zu nehmen, die zunehmend durch die sich globalisierenden und transnationalisierenden Meso-Bereiche der Institutionen vermittelt werden, wie es im Fall der Internationalisierung und Transnationalisierung der Hochschulen deutlich wird. (vergl. Kapitel 3). Für die Entwicklung einer Selbstreflexivität von Organisationen ist die Generierung von Wissen über die individuelle Mikro-Ebene von Transnationalisierungsprozessen notwendig, da sie zunehmend die Funktion von „Biographiegeneratoren“ (Hahn 1988) und „biographischen Stichwortgebern“ (Alheit 2000) erhalten. Diesen Zusammenhang betont Alheit in seinem von Modernisierungs- und Systemtheorien beeinflussten Konzept der Biographizität: „Die makrosozialen Umbrüche der Moderne (..) verändern die Mikrosozialität, also das biographische Bewusstsein moderner Individuen, nicht nur deshalb, weil sich beträchtliche Anteile der äußeren Abläufe sozusagen „nach innen“ verlagern. Die „schleichende Revolution“ der Moderne findet vielmehr in der Grauzone zwischen Makro- und Mikro-Ebene statt, im Meso-Bereich der Institutionen (…), die sich unübersehbar in „Biographiegeneratoren“ verwandeln.“ (Alheit 2000: 160) Die Perspektive der Biographieforschung beschränkt sich damit also keineswegs auf die individuelle Mikro-Ebene der Gesellschaft, sondern ihr Forschungsfokus richtet sich auf das Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlichen Strukturen und subjektiven Sinnkonstruktionen. (Fischer-Rosenthal 1990; Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Dausien 2002; Alheit 1995; Fischer 2002; Goblirsch 2007; Griese und Griesehop 2007). Damit bietet die Biographieforschung ein Instrumentarium, um die soziale Verflechtung und Verregelung von Individuen in sozialen Prozessen zu analysieren (Lamnek 2005: 672ff). Die
Biographien als Artikulationen von Transnationalität
127
enge Verwobenheit individueller Lebensläufe mit gesellschaftlichen Prozessen als Dialektik von Handeln und gesellschaftlicher Struktur betont Giddens im Kontext der Strukturierungstheorie, in der die Notwendigkeit der Reflexivität von Individuen in Bezug auf gesellschaftliche Prozesse und deren Rückwirkung auf die Gesellschaft hervorgehoben werden (Giddens 1995b). Mit der Strukturierungstheorie werden folgende Fragen aufgeworfen: In welchem Maße werden Individuen von klassifikatorischen Systemen überformt, die gesellschaftlich geprägt sind? Und in welchem Maße strukturieren Individuen ihre Welt durch Handlungen? Diese beiden Pole verstärken sich gegenseitig: Je stärker Individuen durch soziale Strukturierungen geformt sind, desto geringer ist der Einfluss des Individuums auf die gesellschaftlichen Strukturen und je geringer die gesellschaftliche Strukturierung von Individuen ist, desto größer sind dessen Chancen, gesellschaftliche Strukturen selbst zu beeinflussen. Bourdieu (1976, 1983) hat diesen Zusammenhang als Ressourcenabhängigkeit von sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital beschrieben. Die Beziehung zwischen Struktur und Handlung, die Giddens beschreibt, hat Bourdieu mit den Konzepten des „Habitus“ und des „sozialen Feldes“ ausdifferenziert, mit denen herausgearbeitet wurde, dass Individuen innerhalb „sozialer Felder“ agieren und die darin enthaltenen Strukturen formen und ihrerseits von den Strukturen der jeweiligen sozialen Felder strukturiert werden. Die individuelle Handlungsmacht ist abhängig von den verfügbaren Resourcen (soziales, ökonomisches und kulturelles Kapital), die für ihren Status innerhalb der sozialen Felder und ihre Stellung gegenüber anderen Individuen bestimmend ist (Bourdieu 1976). Fischer (2002, 2006) und darauf Bezug nehmend Goblirsch (2007) haben diese Zusammenhänge zwischen individueller und gesellschaftlicher Strukturierung als „biographische Strukturierung“ beschrieben. Subjektive Lebensgeschichten werden von der Biographieforschung vor dem Hintergrund fokussiert, dass in der „Konkretheit des individuellen Falls Allgemeingültiges (…) verborgen“ (Alheit 1992: 20) ist und Spuren des gesellschaftlichen Allgemeinen in den einzelnen Biographien aufzufinden sind. Dabei wird eine Dialektik von Individuellem und Gesellschaftlichem vorausgesetzt, denn Biographieforschung analysiert das Zusammenspiel von sozialer Struktur und kollektivem Regelsystem einerseits und individuellen Sinnkonstruktionen in einer je spezifischen (Forschungs-) Situation andererseits. Die Biographieforschung fragt demgemäß nach den individuellen Aneignungs- und Verarbeitungsmustern gesellschaftlicher und milieuspezifischer Bedingungen zu einem je spezifischen historischen Zeitpunkt und nach deren Re-Aktualisierung im Forschungssetting. Es handelt sich bei modernen Biographien um eine Art der Wahrnehmung der sozialen Welt, die als biographische Reflexivität bezeichnet werden kann.
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
Diese Reflexivität resultiert jedoch wohlgemerkt nicht nur aus einer Selbstbezogenheit der Individuen, sondern dieser Selbstbezug wird durch soziale Instanzen provoziert: „Die vielfältige Einbezogenheit der Individuen (…), die es unmöglich macht, aus der einfachen Zugehörigkeit zu einem Teilsystem der modernen Gesellschaft Identität zu gewinnen, zwingt das Individuum zu ununterbrochener Selbstbeobachtung und Selbstreflexion, d.h. zur selbstreferentiellen Verarbeitung sozialer Erfahrung.“ (Alheit 2000: 157f)80 Die Notwendigkeit biographischer Reflexivität erhöht sich für Menschen, die lokal und/oder sozial mobil sind. Im Kontext von Migrationsbiographien nimmt Reflexivität einen ganz zentralen Stellenwert ein (Apitzsch 1999: 7ff) und für die Erforschung von Migrationsthemen stellt die Biographieforschung eine häufig genutzte Methode dar (Bukow und Heimel 2004; Bukow und Spindler 2006).81 Diese Fokussierung trägt der Tatsache Rechnung, dass migrantische Lebensformen und multiple Verortungen Spannungsfelder bilden, in denen sich Menschen permanent neu positionieren müssen und ihre „Biographisierungen der Lebensführung“ (Fuchs-Heinritz 2005) können als individuelle Verortungen im globalisierten Alltag beschrieben werden.
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81
Das Konzept der Biographisierung als selbstreferentielle Verarbeitung funktionaler Differenzierung trägt die Spuren widersprüchlicher Inklusionsanforderungen. Exklusion lässt sich jedoch durch Biographisierung nicht kompensieren. Alheit deutet das Konzept des „Institutionalisierten Lebenslaufs“ (Kohli 1985) als zunehmend misslingenden Versuch der Gesellschaft, soziale Inklusion zu organisieren. Der Entstehungskontext der Biographieforschung ist in den migrationssoziologischen Studien aus dem Umkreis des Symbolischen Interaktionismus der Chicagoer Schule zu verorten und wurde insbesondere mit dem Werk „The Polish Peasant“ von Thomas und Znaniecki (1958, Original 1918-1920) bekannt. In dessen umfangreicher „methodological note“, die der 2000 Seiten umfassenden Studie vorangestellt ist, wird herausgearbeitet, „dass Handlungen nicht aus dem Zusammentreffen von bedeutungshaltigen Objekten und (überdauernden) individuellen Handlungstendenzen ableitbar sind, sondern dass beides von Individuen in der aktuellen Situation in einem kognitiven Prozess spezifisch aufeinander bezogen wird.“ (Kohli 1981: 277). Damit wenden sich Thomas und Znaniecki sowohl gegen eine psychologische Konzeption, in der Gesellschaft aus psychischen Eigenschaften abgeleitet gedacht wird als auch (und vor allem) gegen eine Soziologie, in der das Individuum als Handlungsträger nicht vorkommt. Unter dem Einfluss von Alfred Schütz, Florian Znaniecki und William I. Thomas hat sich Biographieforschung im Laufe der 1920er Jahre im Wissenschaftskontext etabliert. Die theoriebildende Methodologie der Biographieforschung, die sich einer Trennung von Theorie und Empirie entgegenstellt, bildete bereits in den frühen Forschungsarbeiten der Chicago School die zentrale Forschungsperspektive. Bis heute stellen diese Arbeiten eine wichtige Grundlage für den rekonstruktiven, empirisch fundierten Ansatz der Biographieforschung dar. Vor diesem Hintergrund entwickelte in Deutschland v.a. Fritz Schütze (1983, 1987) mit Bezug auf den Symbolischen Interaktionismus und die Phänomenologie sowie unter dem Einfluss sprachsoziologischer Ansätze ein Verfahren, Narrationen im Interview zu produzieren und anschließend zu analysieren (vergl. Apitzsch und Inowlocki 2000).
Biographien als Artikulationen von Transnationalität
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Lutz und Schwalgin (2006) konstatieren, dass sowohl die Biographie- als auch die Migrationsforschung sich unter einem „Mobilitätsdruck“ befindet, die beide Forschungsbereiche zu einer Neuausrichtung herausfordert. „Biographieund Migrationsforschung haben vieles gemeinsam. Beide bezeichnen wissenschaftliche Forschungstraditionen, die interdisziplinär waren und sind. Beide waren und sind von den gleichen Paradigmenwechseln in den Geistes- und Sozialwissenschaften berührt. Und beide sind gegenwärtig unter ‚Mobilitätsdruck’ geraten. Denn Prozesse der Globalisierung und Internationalisierung haben Lebensläufe diversifiziert und Wanderungsbewegungen beschleunigt. So sind beide interdisziplinären Forschungstraditionen heute vor die Aufgabe gestellt, ihre theoretischen Modelle und methodischen Zugänge daraufhin zu modifizieren, dass sie den empirischen Befunden ‚mobilisierter’ Biographien und Wanderungsbewegungen gerecht werden.“ (Lutz und Schwalgin 2006: 99) Ein wichtiger Impuls für diese Neuausrichtung stellt das von Apitzsch (2003) entwickelte biographietheoretische Konzept transnationaler Räume dar, in das die Entstehung transkultureller, transnationaler und transstaatlicher Räume einbezogen wird. Als empirisch konkretisierbare Ergänzung zu den innerhalb dieser migrationstheoretischen Ansätze postulierten Vorstellungen des „sozialen Raums“ (Bourdieu) bzw. des abstrakten „Stapelraums“ (Pries) schlägt Apitzsch vor, Migrationsbiographien als „Orte transnationaler Räume“ zu beschreiben, und kritisiert an den migrationssoziologischen Ansätzen zur Erforschung transnationaler bzw. transstaatlicher Räume einen unzureichenden Bezug auf die Biographisierungen von Migranten: „Der Aspekt des „TransKulturellen“ oder „Trans-Staatlichen“ ist (..) keine Eigenschaft geographischer Orte (auch nicht so genannter ‚multikultureller Räume’, sondern eine Relation, die nur in Bezug auf Subjekte einerseits, soziale Prozesse andererseits einen Sinn gibt.“ (Apitzsch 2003: 71) Folgt man Apitzsch darin, dass sich „transnationale Räume“ in der Struktur von Migrationsbiographien konkretisieren, gerät insbesondere die Relationalität von sozialen und individuellen Prozessen, aus deren Ensemble „transnationale Räume“ als soziales Phänomen entstehen, in den Blickpunkt. Ein biographietheoretischer Zugang zur Transnationalisierung von Lebensformen ermöglicht es, transnationalisierte Meso- und Makrostrukturen als biographiegenerierende Faktoren in ein Wechselverhältnis mit biographischen Narrationen von transnational Mobilen zu setzen. Der biographietheoretische Ansatz zur Verortung transnationaler Räume von Apitzsch bietet eine Anschlussfähigkeit für die analytische Einbeziehung intersektioneller Diskurse. Apitzsch betont, dass Migrationsbiographien in hegemoniale Verhältnisse eingebettet sind, in denen Gender-Beziehungen einerseits konstitutiv sind und in denen sich Gender andererseits ständig neu konfiguriert
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
(Apitzsch 2003: 65). Für die Analyse von Differenzkonstruktionen im Kontext biographischer Narrationen heben auch Phoenix (1998) sowie Lutz und Schwalgin (2006) hervor, dass die Herstellungsprozesse von Differenz nicht losgelöst von Machtverhältnissen zu analysieren sind, die aus Differenzierungsprozessen entstehen und deren Legitimation sie dienen. Im Anschluss an die konstruktivistische Diskussion des „doing biography“ sowie unter Einbeziehung der konstruktivistischen Raum-Debatte (Schroer 2006; Löw 2001) ist der Ansatz der biographischen Narrative als „Orte transnationaler Räume“ (Hervorhebung C.B.-U.) zu modifizieren. Biographien stellen nicht die Herstellung imaginärer „Orte“ dar, die transnationale Lebenswirklichkeiten abbilden, sondern es handelt sich um die Beobachtung derselben durch die biographischen Erzähler/innen. Lutz und Schwalgin (2006) haben diese Prozesse als diskursive „Artikulationen“ von Transnationalität beschrieben, die durch interaktive Herstellungsprozesse sozialer Wirklichkeit produziert werden. Diese Akzentverschiebung verweist auf eine theoretische Transformation innerhalb der neueren theoretischen Diskussion der Biographieforschung, die unter dem Stichwort „doing biography“ diskutiert wird.
7.2
Doing Biography: Interaktive Herstellung und narrative Reflexion von Biographie
Biographie ist nicht etwas, das man „hat“, sondern Biographien werden in interaktiven Herstellungsprozessen „gemacht“ (Dausien und Kelle 2005) – diese für die traditionelle Biographieforschung provokante These bildet den Ausgangspunkt für die neueren Debatten zur methodologischen Entwicklung in der Biographieforschung. Damit rückt eine biographietheoretische Perspektive in den Blick, die die Existenz von Biographien als authentische Ereignisse relativiert und mit der betont wird, dass biographische Narrative Produkte diskursiver Regelsysteme sind (Koller 2006). Zugleich sind biographische Erfahrungen und Entscheidungen nicht allein auf gesellschaftliche Umweltfaktoren reduzierbar, sondern sie sind immer auch subjektiv (Marotzki 2003: 177). Erklärtes Ziel der Biographieforschung ist es, dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nachzuspüren, wobei biographischen Erzählungen zugleich Allgemeinheit und Spezifität zugesprochen wird. Gegen die Biographieforschung, wie sie insbesondere durch Schütze (1983, 1987) im Anschluss an die Chicagoer Schule entwickelt worden ist, hat es seit Mitte der 1990er Jahre eine Reihe von Einwänden und Weiterentwicklungen gegeben. Hier sollen vor allem die Diskurse vorgestellt werden, die einerseits aus einer systemtheoretischen Perspektive entwickelt wurden (Nassehi 1994,
Doing Biography: Interaktive Herstellung und narrative Reflexion von Biographie
131
2003) und andererseits unter dem Stichwort „doing biography“ diskutiert werden und in der neueren methodologischen Entwicklung der Biographieforschung eine wachsende Rolle spielen (Dausien und Kelle 2005; Völter, Dausien, Lutz und Rosenthal 2005; Apitzsch, Fischer, Koller und Zinn 2006; Bukow, Ottersbach, Tuider und Yildiz 2006). Das Konzept des „doing biography“ ist sowohl für modernisierungstheoretische Ansätze in der Biographieforschung (Zinn 2006) als auch für eine intersektionale transantionale Migrations- und Mobilitätsforschung anschlussfähig ist. Das terminologisch und theoretisch an die konstruktivistische Debatte des „doing gender“ (West und Zimmermann) angelehnte Konzept, das Dausien und Kelle (2005) in einer Verknüpfung von Ethnographie- und Biographieforschung entwickelt haben, stellt „doing biography“ als einen Prozess dar, in dem Biographien situativ konstruiert werden. Biographische Reflexivität stellt sich in der „doing biography“-Diskussion als interaktiver Konstruktionsprozess dar (Dausien und Kelle 2005: 192). Diese systemtheoretischen und ethnomethodologischen Perspektiven kritisieren Ansätze der Biographieforschung, die in der narrativen Repräsentation individueller Erfahrungsgeschichten nach subjektiven „inneren Wahrheiten“ suchen. Ausgangspunkt der traditionellen Biographieforschung ist ein komplexes soziologisches Modell biographischer Erzähltheorie. Ein zentrales Forschungspostulat war es hier, in die Perspektiven der Biographieträger hineinzugehen („getting inside the actors perspective“) wobei das Ziel der Forschung darin gefasst wurde, herauszufinden, „wie es wirklich war“. Umstritten ist nicht nur die Suche nach inneren subjektiven Wahrheiten als Forschungsziel der Biographieforschung. Ebenso wurde die erzähltheoretische Grundthese, die von einer Strukturhomologie zwischen Text und biographischem Verlauf (Schütze 1983, 1984, 1989, 1994) ausgeht, auf dem die in der Biographieforschung fest etablierten Auswertungsmethoden der sequentiellen biographischen Fallrekonstruktionen82 beruhen, in Frage gestellt und im Konzept des „doing biography“ nicht Aufrecht erhalten. Die kritische Diskussion der Biographieforschung hat eine ganze Reihe von Vorgängerinnen. Bereits die Entwicklung einer Unterscheidung zwischen „erlebter“ und „erzählter“ Lebensgeschichte von Rosenthal (1995) beinhaltet den Hinweis darauf, dass zwischen dem biographischen Erleben und seiner narrativen Reproduktion eine Kluft liegt, die durch zusätzliche Erhebungen über
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An dieser Stelle sei auf die beiden Analyseverfahren verwiesen, die im Kontext der Biographieforschung am meisten verbreitet sind. Dies sind zum einen die Sequenzanalyse von Fritz Schütze sowie die Objektive Hermeneutik, die von Ulrich Oevermann entwickelt wurde.
132
Biographieforschung am bewegten Subjekt
die tatsächlichen Lebensverläufe geschlossen werden müsse.83 Biographische Forschung basiert auf der Annahme, dass den Erzählungen generative Strukturen „in einer gemeinsam geteilten Wirklichkeit“ (Rosenthal und FischerRosenthal 2003: 457) zugrunde liegen, die in der Interaktion zwischen Forschenden und Erzählenden belebt, aufgedeckt und wissenschaftlich rekonstruiert werden können. Dieses Prinzip basiert auf zwei Annahmen: 1. geht die Biographieforschung davon aus, dass Erzählungen über biographische Ereignisse und Erfahrungen des erzählenden Subjekts Auskunft geben und dass die in den Narrationen generierte soziale Wirklichkeit den Status von Repräsentationen besitzt und 2. wird die biographische Narration als kommunikative Praxis betrachtet, durch die Subjekte ihre individuell-biographische und ihre gemeinsame soziale Wirklichkeit konstruieren (Dausien 2001: 58). Gegen diese Prinzipien der Biographieforschung wurde ein grundsätzlicher Einwand von Bourdieu (1990) formuliert, der auf der These beruht, dass sich sowohl Lebensgeschichten als auch Alltagsgeschichten den Logiken der gesellschaftlichen Interpretation nicht entziehen können. Die Vorstellung einer Selbstkonstitution von Biographie als soziale Wirklichkeit führe allenfalls zu einer „Illusio“ der Biographie, die die gesellschaftliche Konstitution biographischer Herstellungsprozesse ignoriere. Biographieforschung leiste deshalb nicht mehr als die Produktion von Artefakten,84 die eine Reflektion der gesellschaftlichen Verankerung von Biographie-Produktion nicht beinhaltet85: „Den Versuch zu unternehmen, ein Leben als einzigartige und für sich selbst ausreichende Abfolge aufeinander folgender Ereignisse zu begreifen (…), ist beinahe so absurd, wie zu versuchen, eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Rechnung zu stellen.“ (Bourdieu 1990: 80) Nassehi (1994, 2003) fordert eine grundlegende Neuausrichtung der Biographieforschung aus einer systemtheoretischen Perspektive und schlägt vor, auf die Suche nach einer "authentischen biographischen Struktur" gänzlich zu verzichten. Folgt man Nassehi in seiner Argumentation, ist diese jedoch nicht mit der Forderung misszuverstehen, dass auf die Analyse der Manifestierungen 83
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Rosenthal plädiert für die Berücksichtigung weiterer Quellen wie Archivmaterial, Arztberichte oder Akten (Rosenthal und Fischer-Rosenthal 2003: 464) und sie fordert zusätzlich eine sorgfältige Kontextualisierung des biographischen Erlebens (Rosenthal 2005: 48) Vergl. dazu auch die Entgegnung von Apitzsch (2006) auf die Kritik von Bourdieu sowie die ähnlich gelagerten, jedoch nicht auf Bourdieu rekurrierenden Einwände gegen die Biographieforschung von Welzer (2000) im Kontext der Erinnerungsforschung. Im deutschsprachigen Raum hat Steffanie Engler (2001) mit ihrem Bezug auf Bourdieus Konzept der „Illusio der Biographie“ in Wissenschaftskarrieren einen interessanten methodologischen Akzent gesetzt, indem sie die traditionelle Biographieforschung dahingehend kritisierte, das Verstehen von Biographie sei „blind“, orientiere sich an naturalisierten Auffassungen von Biographie und basiere auf mangelnder Reflexivität (Engler 2001: 106-109).
Doing Biography: Interaktive Herstellung und narrative Reflexion von Biographie
133
gesellschaftlicher Strukturen in den biographischen Erzählungen verzichtet werden sollte. Die Annahme der Biographieforschung, dass soziale Prozesse in berechenbare Prozessabfolgen eingebettet sind, erscheint vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Prozesse im Kontext von Modernisierung, Transnationalisierung und Globalisierung jedoch zunehmend als problematisch, denn hier lassen sich weder Kohärenz noch Eindeutigkeit als gesellschaftliche Merkmale beschreiben und in der Methode etablierte Verfahren wie das von Rosenthal (1998) geforderte Auffüllen von Plausibilitätslücken durch weiteres empirisches Material in biographischen Erzählungen erscheint damit äußerst problematisch. Ohne die Biographieforschung vollständig zu verwerfen, weist Nassehi die Vorstellung einer Strukturhomologie zwischen biographischem Text und biographischem Verlauf zurück und lenkt stattdessen die Perspektive darauf, dass die Selbstbeschreibungen von Individuen neue soziale Wirklichkeiten hervorbringen. Damit stellt Biographie aus systemtheoretischer Perspektive einen Kommunikationsakt dar, der innerhalb sozialer Systeme verortet ist. Die psychische Erfahrung sozialer Prozesse durch Individuen, so insistiert Nassehi, könne – entgegen der Annahme der traditionellen Biographieforschung – aufgrund der Autopoiesis und der operativen Geschlossenheit von Systemen mit dem Verfahren der Biographieforschung gar nicht exploriert werden.86 Anders als Bourdieu, dessen Kritik die Biographieforschung gänzlich ablehnt, da sie Artefakte produziere, sieht Nassehi gerade in der Beobachtung des Produktionsprozesses von „Biographie“ eine gewinnbringende Forschungsperspektive. Damit wird der Kommunikationsakt der biographischen Narration selbst, nämlich den Vorgang, wie Biographie kommuniziert wird, zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung (Nassehi 1994: 46-64). Mit einer solchen Perspektive ist zugleich der Verzicht einer Suche nach authentischen biographischen Strukturen verbunden und Nassehi schlägt vor, die Suche nach „erlebter Lebensgeschichte“ durch eine Forschungsperspektive auf biographische Narrationen als „Biographien zweiter Ordnung“ zu ersetzen. An die Stelle der Rekonstruktion von Biographie rückt damit die Beobachtung biographischer Kommunikation, die durch den im Forschungsprozess zugleich provozierten und generierten Akt der Erzählung entsteht und auf diese Weise einer doppelten Kontingenz unterworfen ist (Nassehi 2003). Auch für den Kontext der biographischen Migrationsforschung bilanzieren Bukow, Ottersbach et al. (2006: 10), dass das Ziel der Biographieforschung nicht die Rekonstruktion der Wirklichkeit sei, sondern das Forschungsinteresse
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Damit geht ebenfalls eine Kritik am Konzept von „Identität“ einher, dessen Quintessenz auf dem differenztheoretischen Ansatz der Systemtheorie beruht und zeigt, dass Identitäten durch Unterscheidungen erzeugt werden.
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
richtet sich auf die Modalitäten, mit denen Biographien „gemacht“ werden. Eine konstruktivistische Biographieforschung fokussiert damit die Form der Biographie und wie sie durch permanente Entscheidungszwänge sowie das selbstreflexive Denken in Hinblick auf die eigene Lebensgestaltung (z.B. lokaler und sozialer Mobilität) in funktional differenzierten und radikal individualisierten Gesellschaften erzeugt wird. Mit dem Terminus „doing biography“ sind somit gesellschaftliche Positionierungen umschrieben, die im Kontext der narrativen Reflexion von In- und Exklusionen reflexive Momentaufnahmen individueller Positionierungen produzieren, deren Entstehung an den biographischen Forschungsprozess gekoppelt ist. „Außerhalb der Biographie gibt es weder eine Lebensgeschichte noch eine Biographie noch eine biographische Forschung. Das Format erzeugt erst die Realität, die es wiederum formatiert.“ (Bukow, Ottersbach et al. 2006: 10). Eine ähnliche Akzentuierung setzt auch Zinn (2006), der aus einer modernisierungstheoretischen Perspektive argumentiert und für die Biographieforschung fordert, sich vom Postulat der schlüssigsten sequentiellen Rekonstruktion des biographischen Materials zu lösen und stattdessen die Bedeutung, die diese Rekonstruktionen für den wissenschaftlichen Beobachter haben, stärker in den Forschungsprozess einzubeziehen (Zinn 2006: 58). Dadurch stellt sich die traditionelle Perspektive der Biographieforschung auf das „meistern“ oder „erleiden“ von individuellen und kollektiven Verlaufskurven (Schütze) als Verengung des Forschungsrahmens dar. Vielmehr erfordert auch eine modernisierungstheoretische Perspektive auf die Prozesse des „doing biography“, die Erosion fester Subjektgrenzen,87 aus denen individuell äußerst heterogene Identitätsbildungsprozesse resultieren. Deren methodologische Reflexion zieht eine Perspektivenverschiebung der Biographieforschung auf die unterschiedlichen Herstellungsprozesse biographischer Deutungen nach sich. Für die Entwicklung des methodologischen Rahmens einer Biographieforschung, die die Herstellungsprozesse von Biographie in den Blick nimmt, kamen wichtige Impulse aus der konstruktivistischen Genderforschung sowie aus der Ethnographieforschung. Ohne auf die systemtheoretische Kritik an der Biographieforschung zu rekurrieren, verfolgt die ethnomethodologisch-biographieanalytische Fusion des „doing biography“ mit der Fokussierung der Fabrikationsprozesse von „Biographie“ parallele Grundgedanken und stellt einen wichtigen Impuls für die Weiterentwicklung des theoretischen Forschungsrahmens der
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Zinn verweist darauf, dass individuelle Identitäten keineswegs mehr auf der Basis der Übernahme kollektiver Muster hergestellt werden, wie auch in der modernisierungstheoretischen Hypothese des „Quasi-Subjekts“ (Beck, Bonß und Lau 2001; Zinn 2006) dargelegt wurde.
Doing Biography: Interaktive Herstellung und narrative Reflexion von Biographie
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Biographieforschung dar.88 Während die ethnographische Methode im Kern eine Forschungshaltung ist, handelt es sich bei der Biographieforschung um ein konkretes Verfahren. Eine Fusion dieser beiden methodologischen Herangehensweisen erzeugt einen grundlegend veränderten Blick auf Biographie: „Das Konzept des „doing biography“ hebt den Aspekt des interaktiven Tuns heraus: sowohl den konkreten Vollzug biographischer Kommunikationspraxis als auch die konstruktivistische Basisannahme, dass man eine ‚Biographie’ (ebenso wenig wie ein ‚Geschlecht’ oder einen sozialen Status) nicht einfach ‚hat’, sondern sie immer erst interaktiv ‚herstellt’.“ (Dausien und Kelle 2005: 207) Damit erscheinen Biographien nicht mehr als etwas, was Personen als vereigenschaftlichte Attribute „haben“, sondern Biographie wird als situativ konstruierte biographische Verständigungen aufgefasst, in deren Kontext biographische Selbstverständigung und Reflexivität produziert wird (Dausien und Kelle 2005: 192). Ebenso wie die systemtheoretischen Auffassungen beruht der Ansatz des „doing biography“ auf einer Theorie der Unterscheidung: Die interaktiven Herstellungsprozesse von Biographie in biographischen Narrationen äußern sich als Selbst- und Fremdtypisierungen sowie als Reflexion von sozialen Inund Exklusionen. Zusätzlich erhält die Biographieforschung eine weitere Dimension durch die perspektivische Öffnung zum Forschungsprozess, da nicht nur die in biographischen Interviews generierten Narrationen, sondern auch die ihrer interaktiven Produktion in die Logik der jeweiligen Interaktionssituation einbezogen werden muss. Bei Nassehi findet sich die Fokussierung dieses Zusammenhangs in der Beschreibung der „doppelten Kontingenz“, der die Biographieforschung unterliegt. Dausien und Kelle heben die Bedeutung der Fokussierung der Interaktion, die im Forschungsprozess bei der Generierung des narrativen Interviews entsteht, als bedeutsam hervor: „Für die Biographieforschung, die üblicherweise den ‚Text’ einer individuellen Lebensgeschichte in den Mittelpunkt stellt und damit ein anderes Text-Kontext-Verhältnis konstruiert, bedeutet diese Sicht durchaus eine Provokation. Biographische Thematisierungen – auch solche, die im Interview produziert werden – könnten u.U. weniger mit der individuellen Sinnkonstruktion einer Lebensgeschichte zu tun haben als mit interaktiven Regeln und biographischen Typisierungen, die ihren Sinn aus der 88
Innerhalb der deutschsprachigen Biographieforschung wurde in den letzten Jahren eine methodologische Krise konstatiert. Sie wurde beispielsweise im Sonderheft „Doing Biographical Research“ der Online-Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung fokussiert. Vergl: Riemann, Gerhard (2003, September). A Joint Project against the Backdrop of a Research Tradition: An Introduction to „Doing Biographical Research“. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 4(3), Art. 18. http://www.qualitative-research.net/fqstexte/3-03/3-03hrsg-e.htm (October 2007). In der englischsprachigen Diskussion wurde dagegen ein „Turn to biographical methods“ beschrieben (Chamberlaine, Bornat und Wengraf 2000).
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
Vollzugslogik der jeweiligen Interaktionssituation (..) beziehen.“ (Dausien und Kelle 2005: 200) Folgt man Dausien und Kelle in ihrer Argumentation, dass die These des interaktiven „doing biography“ dazu auffordert, die Analyse biographischer Konstruktionsprozesse systematisch nicht nur in der Dimension individueller Erfahrung, sondern auch in ihrer interaktiven Dimension als Handlungen in die Biographieforschung zu integrieren, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, weitere gesellschaftliche Produktionsprozesse von Sinnzusammenhängen wie z.B. Transnationalität mit diesem Ansatz zu untersuchen. Dabei wird die Fokussierung auf soziale Handlungen durch die Ethnographie in Ergänzung zum erfahrungsreflexiven Zugang der Biographieforschung vorgeschlagen, die ein vertieftes Verständnis für die generativen Strukturen zur Herstellung von Biographie hervorbringen sollen.89 Für das in dieser Studie gewählte empirische Design einer Methoden-Kombination aus Online-Befragung und teilnehmender Beobachtung eines transnationalen virtuellen Wissenschaftlerinnen-Netzwerks sowie narrativen Interviews über biographische Erfahrungen von Transnationalität durch international mobile Nachwuchswissenschaftlerinnen kann an die im „doing-biography“-Ansatz vorgeschlagene handlungsfokussierte Erweiterung der Biographieforschung anschließen. Im Fall der hier vorliegenden biographischen Interviews war die methodische Verknüpfung mit den vorausgehenden Online-Interviews im globalen Wissenschaftlerinnen-Netzwerk vifu sowie die gemeinsame Kontextualisierung der Befragten als Teilnehmerinnen des transnationalen Lehr- und Forschungssettings der Internationalen Frauenuniversität ein zentraler Handlungs- und Reflexionskontext, vor dessen Hintergrund die in den Interviews generierten biographischen Narrationen entstanden sind. Für ihre jeweils spezifischen Situierungen sind sowohl der Kontext der Online-Befragung sowie die jeweiligen reflexiven Positionierungen in der vifu und während der Präsenzphase der Internationalen Frauenuniversität zu berücksichtigen. Der gewählte empirische Zugang eröffnet die Möglichkeit, auch den interaktiven Kontext der vifu und damit längerfristige Prozesse der sozialen Ko-Konstruktion von Transnationalität und die Vernetzung von Lebensgeschichten in die Forschungsperspektive
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Mit diesem Vorschlag rekurrieren Dausien und Kelle auch auf das Konzept der „Biographizität“ (Alheit 2003). Biographizität stellt sich als „innerer Erfahrungscode“ dar, der als selektive Synthese vorgängig verarbeiteter Erfahrungen beschrieben werden kann. Gerade deshalb handelt es sich nicht um eine isolierte Struktur, die ausschließlich im Individuum zu verorten ist, sondern Biographizität ist die vom Individuum geleistete Verarbeitung und Transformation intersubjektiven Wissens. Damit handelt sich mit dem Konzept der Biographizät um die Beschreibung der „Fähigkeit und Ressource von Individuen, soziale Wirklichkeit herzustellen“ (Alheit 2003: 25).
Implikationen für eine intersektionelle Transnationalisierungsforschung
137
einzubeziehen. Mit dem Konzept des „doing biography“ kann das theoretische Anregungspotenzial der ethnographischen Befremdung des forschenden Blicks für die Analyse transnationaler biographischer Erfahrung, die sowohl in sozialen Ordnungen wie dem virtuellen Netzwerk vifu als auch in biographischen Ordnungen situiert sind, genutzt werden. Damit wird nicht nur die Perspektive auf die biographischen Narrationen erweitert, sondern auch die in der OnlineForschung entwickelte Analyse von Handlungs- und Einstellungsmustern sowie der Interaktionen innerhalb des transnationalen Wissenschaftlerinnen-Netzwerks durch die Einbeziehung einer reflexiven Binnenperspektive auf die Biographien von transnationalen Nachwuchswissenschaftlerinnen ergänzt.
7.3
Implikationen für eine intersektionelle Transnationalisierungsforschung
Zwischen der Geschlechterforschung und der Biographieforschung besteht eine enge Verbindung, die zunächst das gemeinsame Ziel verfolgt, weibliche Lebenserfahrung im Unterschied zur männlichen „Normalbiographie“ sichtbar zu machen (Kraul 1999). Die Biographieforschung nimmt für sich in Anspruch, sowohl die Aneignung und Konstruktion von Gesellschaft als auch die gesellschaftliche Konstruktion von Subjektivität analytisch fassen zu können. Insbesondere im Kontext der Genderforschung gibt es hierzu eine Vielzahl von Korrespondenzen; auch ist die Biographieforschung ein häufig erprobtes Forschungsinstrumentarium in der Genderforschung (Becker-Schmidt 1994; Dausien 1994, 1996, 2000; Lutz und Davis 2005). In den neueren Diskussionen innerhalb dieser beiden interdisziplinär angelegten Ansätze haben sich die Forschungsperspektiven erheblich verschoben und anstatt Phänomene wie Heterogenität im Sinne ‚sozialer Tatsachen’ (Durkheim) ins Zentrum des Forschungsinteresses zu stellen, rücken die Herstellungspraktiken von Unterscheidungen in den Blick (Dausien 2004). Wichtige theoretische und methodische Anleihen entspringen hier in beiden Forschungsrichtungen der Ethnomethodologie und den hier entfalteten konstruktivistischen Ansätzen zur Analyse gesellschaftlicher Herstellungsprozesse von Identität („doing gender“; „doing biography“) (vergl. Kap. 7.2.). Allerdings bezieht sich der „doing gender“-Ansatz auf längerfristige Prozesse der sozialen Konstruktion von Geschlecht, während es sich bei „doing biography“ um ein retrospektives Verfahren handelt, das nicht auf soziale Interaktionen im Alltag abzielt, sondern sich auf Wissen und Reflexion über den Alltag bezieht. „Doing biography“ kann damit, ebenfalls analog zu „doing gender“ als Kontextualisierungsverfahren beschrieben werden (Bukow und Spindler 2006: 31f). Die Genderforschung unterzieht sich durch die Debatte um
138
Biographieforschung am bewegten Subjekt
Intersektionalität inzwischen auch in der deutschsprachigen Diskussion einer weiteren gravierenden Revision (vergl. Kap. 6), in der das Primat der Omnirelevanz von Gender durch die Relevanz der intersektionalen Verknüpfung von Gender mit der gesellschaftlichen Herstellung anderer Differenzkategorien relativiert wird. Die ethnomethodologische Erweiterung der Biographieforschung im „doing biography“-Ansatz basiert theoretisch auf denselben Ansätzen wie sie für die Exploration von Intersektionalität in den ethnomethodologisch fundierten Konzepten des „doing gender“ (West und Zimmermann 1986) und seiner Weiterentwicklung im Ansatz des „doing difference“ (Fenstermaker und West 1994) vorgeschlagen wurde. Daraus ergeben sich eine ganze Reihe von Implikationen über die Reichweite, aber auch die Grenzen der Biographieforschung für die Erforschung von Intersektionalität. Bislang liegen nur relativ wenige empirische Arbeiten aus dem Kontext der Biographieforschung vor, die sich auf das Intersektionalitätskonzept beziehen. (z.B. Lutz und Schwalgin 2006; Davis und Lutz 2005; Ludvig 2006; Ruokonnen-Engler 2006) Eine theoretisch-methodologische Verbindung zwischen den Konzeptionen der Intersektionalität und der Biographieforschung wurde bislang nur in Ansätzen entfaltet. Mit dem biographietheoretischen Ansatz der „Erzählung von Zugehörigkeit“ hat Athias (1998, 2002, 2003) eine empirisch fundierte Analyse darüber entwickelt, wie in biographischen Erzählungen gesellschaftliche Positionierungen entlang von Differenzkategorien erzeugt und zugleich von den erzählenden Individuen reflektiert werden. Mit ihrem Konzept der sozialen Positionierung durch sozialwissenschaftlich generierte „Erzählungen über Zugehörigkeit“ bzw. „Verortungen“ verfolgt Anthias ein anti-statisches Plädoyer gegen die naturalisierte Festschreibung von Identitäten durch Differenzkategorien.90 Darin setzt sie dem Begriff der „Identität“ den als Prozessbegriff angelegten Terminus der „Positionierung“ entgegen. Mit dem Begriff der sozialen Positionierung fasst Anthias die Prozesse, die in die Herstellungsprozesse von sozialen Interaktionen und in ihre (narrative) Reflexion einfließen. Dazu zählt sie Unterscheidungspraktiken, die sich auf Individuen beziehen sowie die daraus resultierenden sozialen Hierarchisierungsprozesse, die nicht als kohärente Konzepte von „Identität“ zu beschreiben seien. „Indem wir Erzählungen über die Zugehörigkeit und die Positionalität fokussieren, wird es möglich, die Prozesshaftigkeit in den Blick zu bekommen und demzufolge den epistemologischen und ontologischen Status der Identität zu problematisieren (..).“ (Anthias 2003: 21)
90
Hierin besteht eine offenkundige Analogie zum ethnomethodologischen Ansatz des „doing difference“, auf den Anthias jedoch nicht explizit Bezug nimmt.
Implikationen für eine intersektionelle Transnationalisierungsforschung
139
Anthias schließt hier an das im Kontext der Cultural Studies insbesondere von Hall (2000, 2004) in Abgrenzung zum Identitätsbegriff entfaltete Verständnis von Subjektpositionierung (Hall 1999: 398, vergl. auch Kap. 5) als ein „NieAnkommen“ und „Immer-in-Bewegung-Sein“ an. Hall definiert Identitäten als Knotenpunkte, an denen subjektivierende Diskurse und Praktiken mit Selbstsituierungen zusammentreffen, in denen sich das Subjekt prozesshaft durch Vernetzung, Situierungen und Verortungen konstituiert. Anthias schließt ihr biographietheoretisches Konzept der „Erzählungen über Zugehörigkeit“ (Anthias 2003: 21) an, in denen die Vorstellung von „Identitäten“ verworfen wird und stattdessen die Beschreibungen von Individuen über ihre Positionierungen in der sozialen Ordnung in den Blick rücken. Dieser Ansatz bietet für die Analyse transnationaler Migrationsprozesse, die Ortswechsel und komplexe Verschiebungen von Prozessen der Selbstverortung auf der Mikro-, Makro- und MesoEbene umfassen, ein anschlussfähiges Konzept, da die Berücksichtigung von lokalen (und wechselnden) Kontextualisierungen sowie die Prozesshaftigkeit und Situiertheit sozialer Positionierungen in den „Erzählungen von Zugehörigkeit“ von zentraler Bedeutung sind. Bukow und Spindler (2006) heben für den Zusammenhang zwischen Kontextualisierung und Deutung hervor: „Deutung meint Kontextualisierung. Kontingente lebensgeschichtliche Befunde werden unter einem bestimmten Kontext beleuchtet, und kontingente Kontexte werden von lebensgeschichtlichen Befunden aus relevant. Es gibt also keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Lebensgeschichte und einem Kontext, sondern nur ein hermeneutisches Aushandeln. Deshalb ist auch keine biographische Identität zu erwarten, sondern je nach dem Hier und Heute eine ad-hoc Biographizität.“ (ebd.: 32) Die Autor/innen beschreiben damit die Kontextualisierungen lebensgeschichtlichen Materials und dessen Einbettung in immer wieder wechselnde Kontexte. Sie hebt dabei hervor, dass genauere Kontextkenntnisse erforderlich sind, um eine Biographie zu entwerfen und es ist ergänzend zu betonen, dass diese Kenntnisse auch für die Interpretation biographischer Narrationen erforderlich sind. Die angemessene Berücksichtigung lokaler Positionierungen stellt eine besondere Herausforderung in der Analyse transnationaler Erzählungen über Zugehörigkeit dar, da in diesen sehr unterschiedlichen Erzählungen vielschichtige Kontextabhängigkeiten zum Ausdruck kommen. Ähnlich wie im „doing biography“-Ansatz versteht Anthias biographische Narrationen mit Bezug auf die Erzähltheorie Ricoeurs (1991) als sozial hergestellte Identitäten – Ricoeur nutzte hier den Begriff der „performed identity“, der sowohl das Moment sozialer Performanz als auch die gesellschaftlichen Herstellungspraktiken von Identität umfasst. Die Herstellungsmodi von Positionierungen und Selbstverortungen basieren auf Unterscheidungspraktiken. An-
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
thias beobachtete in ihren empirischen Arbeiten über Identitätsbildungsprozesse griechisch-zypriotischer Jugendlicher, die in London aufwachsen (Anthias 2002, 2003), dass Erzählungen über Zugehörigkeit durch Verweigerungen strukturiert sind und sich eher durch die Abgrenzung von etwas, was jemand nicht ist als durch klare Beschreibungen dessen, was jemand ist, erfassen lassen (Anthias 2003: 24). „Solche Erzählungen beinhalten imaginäre Vorstellungen von Kollektiven und davon, wie Grenzen konstruiert werden. Imaginationen von Grenzen können Gebiete/Geographien/Räume der Zugehörigkeit mit sich bringen, kulturelle Bestandteile, körperliche Aspekte, in Opposition zu der Gruppe, von der die Person nicht Teil ist, durch das Negative strukturierend. Geschichten werden in diesem Sinne zweipolig erzählt: positiv und negativ, teilweise umrahmt durch die Beziehung ‚zu wem’ und ‚für was’ und im Falle der Forschung durch den Interviewprozess.“ (Anthias 2003: 24) Dabei betont Anthias, dass die Analyse narrativer Verortungen als Positionierungsprozesse nicht nur die Dekonstruktion von Identitätskonzepten beinhaltet, sondern ebenso die daran anschließenden gesellschaftlich wirksamen Formen sozialer Ungleichheit in die Analyse einbeziehen muss. Ähnlich wie im Ansatz des „doing difference“ (Fenstermaker und West 2001) wird im Konzept der „Erzählung über Zugehörigkeit“ die intersubjektive Wirksamkeit binär organisierter sozialer Differenzierungen besonders hervorgehoben. Soziale Differenz wird also nicht nur im Kontext von sozialen Institutionen von Individuen erlebt, Institutionen sind zugleich soziale Räume, in denen die Herstellung von Differenz ausagiert wird (in der ethnomethodologischen Terminologie werden diese Differenzierungen als interaktive Herstellungsprozesse von sozialer Differenz beschrieben) und Institutionen wirken als „Räume, die in intersubjektive Verhältnisse hineinreichen“ (Anthias 2003: 26, Hervorhebung im Original). Auch das von Anthias vorgeschlagene Verständnis der biographischen Erzählung ist für die unter dem Stichwort „doing biography“ entworfene Neukonzeptionierung der Biographieforschung sehr anschlussfähig. Zum einen wird zwischen der Erzählung und ihrem Gegenstand unterschieden und Erzählungen über Zugehörigkeit leisten es andererseits, einen Einblick in die subjektiven und gesellschaftlichen Prozesse sozialer Differenzierung aus dem Blickpunkt der Erzählenden zu geben. Narrationen über Zugehörigkeit werden durch den Forschungsprozess hervorgebracht. Daraus folgt jedoch nicht, dass sie als Artefakte zu behandeln sind, sie versetzen vielmehr die Forscherin und den Forscher in die Lage, „die Weisen zu verstehen, die die Erzählerin befähigen, an diesem spezifischen Punkt in Zeit und Raum Sinn herzustellen und ihre Platzierung in der sozialen Ordnung zu artikulieren. Dies meint jedoch auch, die Erzählung als eine Handlung, bzw. als eine Performance anzuerkennen.“ (Anthias 2003: 26, Hervorhebungen im Original) Damit stellen sich Zugehörigkeitsnarrationen als
Implikationen für eine intersektionelle Transnationalisierungsforschung
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intersubjektiv dar, weil sie einerseits ein Produkt von subjektiver Erfahrung in ihren vielfältigen institutionellen Wechselwirkungen auf der institutionellen Meso- und der transnationalen Makro-Ebene sind. In diesem Sinne sind die biographischen Erzählungen als Herstellungsakte und zugleich als Repräsentationen von biographischen Positionierungen zu verstehen. Die Interviews sind Prozesse narrativer Positionierungen, in denen sich die autobiographische Darstellung von Positionierung mit der performativen und interaktiven Produktion von sozialer Verortung ihres subjektiven Erlebens vollzieht. Dabei ist die Frage nach der Validität biografischen Erinnerns und der Authentizität biografischer Selbstdarstellung zu vernachlässigen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004: 10f; Nassehi 1996, 2003). Auf diese Weise rücken die reflexiven Herstellungsprozesse der sozialen Positionierungen in den Blick. Ausgehend von einer strikt empirischen und textbezogenen Auffassung sind die vorliegenden Narrationen biographische Handlungen und stellen sich mit Lucius-Hoene und Deppermann (2004) in Verbindung mit dem identitätskritischen Ansatz von Anthias (2003, 2002, 1998) und dem Ansatz des „doing gender“ (Dausien und Kelle 2005) als interaktive und lebensgeschichtlich situierte kommunikative Konstrukte dar. Sie ermöglichen einen Zugang zu den sozialen Positionierungen im Kontext der globalisierten Biographien der Interviewpartnerinnen. Bukow und Schindler (2006) verorten die in biographischen Narrationen vorgenommenen Kontextualisierungen als Ordnungsverfahren, mit denen die Zusammenhänge zwischen Globalisierung und gelebtem Alltag hergestellt werden. Diese Ordnungsverfahren sind jedoch keineswegs stabil, sondern sie sind jederzeit und an jedem Ort veränderbar: „So entsteht das Bild des biographischen Jongleurs, der sich mal familial, mal formal, und mal global gibt. Allerdings geschieht dieses Jonglieren sehr absichtsvoll, es dient der Absicherung im Hier und Jetzt bzw. der immer neuen Akkomodation der eigenen Existenzweise. Nicht der Standort ist entscheidendes Objekt des Jonglierens – wie man zunächst annehmen könnte –, sondern es wird mit den Beschreibungen und ihren Kontexten jongliert. (..) Biographieforschung kann dazu dienen, das, was sich heute in der Weltgesellschaft abzeichnet, besser verstehen zu lernen, um zu begreifen, was sie hier und jetzt, was sie im konkreten Alltag ausmacht, zusammenhält und auseinander bringt.“ (Bukow und Spindler 2006, Hervorhebung im Original)
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
7.4
Erhebung und Auswertung: Grounded Theory, narrative Interviews und narrationsanalytische Verfahren
In der vorliegenden Studie wurde zur Analyse des Zusammenhangs von biographischen Konstellationen und Transnationalität der Forschungsstil der Grounded Theory mit narrativen Interviews und narrationsanalytischen Auswertungsverfahren kombiniert. Der Analyse biographischer Erzählungen liegen Prinzipien zugrunde, die mit anderen qualitativen Ansätzen der Sozialforschung geteilt werden. Dies ist in erster Linie das Prinzip der Offenheit im Forschungs- und Erhebungsprozess wie auch in der interpretativen Textanalyse. Das Offenheitsprinzip beinhaltet einerseits, dass eine Hypothesenbildung ex ante nicht vorgenommen wird und es bezieht sich andererseits auf eine offene Grundhaltung gegenüber dem gesamten Forschungsprozess. Anders als in quantitativen Erhebungen setzen qualitative Ansätze ein Fremdheitspostulat gegenüber den generierten Daten voraus, mit dem die Selbstverständlichkeit der Möglichkeiten des Verstehens in Frage gestellt werden können. Dies gilt auch für Identitätskonzepte wie die eigene oder eine fremde „Kultur“, „Ethnizität“ oder das „Geschlecht“. Für die Analyse qualitativer Daten gilt, dass die Kontextualität und Prozesse der Ko-Konstruktion in der Genese der Daten zu berücksichtigen sind. Damit stellt die Analyse der Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten ein reflexionsbedürftiges Element des Verstehensprozesses dar.
Erhebung Mit der Forschungsfrage nach der narrativen Konstruktion von biographischen Positionierungen transnational hochmobiler Nachwuchswissenschaftlerinnen in wechselnden geographischen und sozialen Räumen entsteht eine besondere Anforderung an die Analyse des Prozesscharakters, dem diese Positionierungsnarrationen unterliegen. Sie legen die Anwendung eines explorativen Verfahrens, wie es die Grounded Theory-Methodologie darstellt, nahe. Im Folgenden wird insbesondere auf die von Strauss und Corbin (1996) sowie auf die von Strauss (1994) entwickelten Ansätze rekurriert.91 Die Grounded Theory wurde als methodisches Verfahren zur Erhebung und Interpretation der unterschied-
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Innerhalb der Grounded Theory haben sich, basierend auf das von Glaser und Strauss (1967) entwickelte Forschungskonzept unterschiedliche Strömungen entwickelt. Der pragmatischere Zweig (Strauss und Corbin 1996) wird in der deutschsprachigen Diskussion breiter rezipiert und angewendet. In der neueren Diskussion wird der empiristischere Ansatz von Glaser überwiegend kritisch wahrgenommen (vergl. Strübing 2007; Kelle 2007).
Grounded Theory, narrative Interviews und narrationsanalytische Verfahren
143
lichsten qualitativen Daten konzipiert. Darüber hinaus stellt die Grounded Theory jedoch auch einen spezifischen Forschungsstil dar (Strauss und Corbin 1996; Mey und Mruck 2007), der sich durch drei zentrale Prinzipien auszeichnet: • Methodisch festgelegte Modi zur Zusammenstellung des Samples (theoretisches Sampling) • Art des Umgangs mit dem Datenmaterial (theoretisches Kodieren) • Prinzip des permanenten Vergleichs Strauss (2007) hat diese zentralen methodischen Elemente der Grounded Theory wie folgt zusammengefasst: „Das Kodieren ist theoretisch, es dient also nicht bloß der Klassifikation oder Beschreibung der Phänomene. Es werden theoretische Konzepte gebildet, die einen Erklärungswert für die untersuchten Phänomene besitzen. Das zweite ist das theoretische Sampling (…) (d.h.), dass es darauf ankommt, schon nach dem ersten Interview mit der Auswertung zu beginnen, Memos zu schreiben und Hypothesen zu formulieren, die dann die Auswahl der nächsten Interviewpartner nahe legen. Und das Dritte sind die Vergleiche, die zwischen den Phänomenen und Kontexten gezogen werden und aus denen erst die theoretischen Konzepte erwachsen.“ (Anselm Strauss im Interview mit Heiner Legewie und Barbara Schwervier-Legewie 2007: 75) Charakteristisch für ein methodisches Vorgehen nach der Grounded Theory ist damit zunächst der Prozesscharakter, in dem sich Erhebung und Analyse der Daten überlappen. Dieser Vorgang wird unter dem Begriff des „Theoretical Sampling“ gefasst. Dabei ist die qualitative Stichprobengröße vorab nicht definiert und das Sampling ist erst dann beendet, wenn eine theoretische Sättigung im Kontext des qualitativen Forschungsprozesses erreicht ist. Von diesem Prinzip, das für eine forschungspraktische Umsetzung durchaus nicht unproblematisch ist,92 wurde in dieser Studie insofern abgewichen, als dass auf Basis der zuvor durchgeführten quantitativen Online-Erhebung im vifu-Netzwerk ein kriteriengeleitetes Sampling möglich war. Folgende vergleichbare Strukturen der Fälle wurden vor Beginn der qualitativen Erhebung festgelegt: • Mehrfache transnationale Migrationsprozesse im Verlauf der Karriereentwicklung als Wissenschaftlerin • Wissenschaftlerinnen in der ersten bzw. zweiten postgradualen Qualifikationsphase (Doktorandinnen und Postdoktorandinnen) • Teilnehmerinnen der ifu und des virtuellen Netzwerks vifu 92
Das schwierige Verhältnis zwischen Methodologie und Forschungspraxis im Prozess des Theoretical Sampling wird in Hinblick auf zeitliche und finanzielle Ressourcenbegrenzung insbesondere für den Kontext von Qualifikationsarbeiten in neueren Diskussionen der Grounded Theory sehr kritisch diskutiert (vergl. Truschkat, Kaiser-Belz und Reinhartz 2007).
144
Biographieforschung am bewegten Subjekt
Im Prozess des Samplings, das sich auf die Befunde der Online-Erhebung (N=51) stützte und eine Reihe von weiteren kurzen Online-Interviews mit Wissenschaftlerinnen umfasste (N=17), konnten die Vergleichsstrukturen weiter präzisiert werden. In diesem Schritt des Samplings trafen für alle transnationalen Wissenschaftlerinnen folgende zusätzliche Vergleichskriterien zu: • die transnationalen Migrationsprozesse verliefen tendenziell (mit Ausnahme kürzerer Forschungsaufenthalte oder Rückkehrmigrationen) in Richtung Industrienationen (d.h. aus ärmeren Weltregionen in Industrieländer, aus Industrieländern in andere Industrieländer) • soziale Herkunft aus Mittelschichtfamilien • das Alter der Interviewpartnerinnen lag zwischen 28 und 38 Jahren • die transnational mobilen Wissenschaftlerinnen hatten alle keine Kinder Nach diesem Schritt der Kontaktaufnahme und der Sondierung des qualitativen Samples schloss sich die Erhebung biographischer Interviews mit transnational mobilen Wissenschaftlerinnen an, die in Anlehnung an die Qualifikationsprofile der ifu-Absolventinnen vier Doktorandinnen und zwei Postdocs (N=6) berücksichtigte, von denen zwei Interviewte aus südasiatischen Ländern (Indien, Bangladesh) mehrfache Wissenschaftsmigrationen in unterschiedliche Länder Westeuropas (Deutschland, Großbritannien) unternahmen. Eine Doktorandin aus einem nordafrikanischen Land (Marrokko) lebte für die Dauer mehrerer längerer Forschungsaufenthalte in Westeuropa (Spanien, Frankreich, Deutschland). Eine weitere Doktorandin kam aus einem Krisengebiet (Ex-Jugoslawien), ihre Stationen als transnationale Wissenschaftsmigrantin waren Ungarn, Deutschland und Italien. Eine transnationale Postdoktorandin aus Polen hatte zwei längere Forschungsaufenthalte als Doktorandin in Deutschland verbracht, ging nach Abschluss ihrer Doktorarbeit für ein Jahr als Research-Fellow an eine Hochschule in den USA und kehrte dann an eine polnische Universität zurück. Eine weitere promovierte transnationale Wissenschaftlerin, die als Senior Researcher in Großbritannien forschte und lehrte, war als Tochter einer transnationalen türkischen Migrantenfamilie in Deutschland aufgewachsen und hatte im Verlauf ihrer wissenschaftlichen Karriereentwicklung mehrfache Migrationen in folgende Regionen zurückgelegt: Naher Osten, Großbritannien und abermals Deutschland. Bei der Datenerhebung der biographischen Interviews wurde auf die Methode des narrativen Interviews zurückgegriffen. Narrative Interviews als Erhebungsform qualitativer Daten sind in den letzten Jahren zur bevorzugten Methode von biographisch orientierten, an subjektiven Erfahrungen und Identitätsformationen interessierten Forschungen avanciert. Chase (2003) zeigt für den internationalen
Grounded Theory, narrative Interviews und narrationsanalytische Verfahren
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Kontext das vielfältige Spektrum narrativer Methoden auf, die ein wesentlich größeres Repertoire an Interviewformen und Anwendungsgebieten umfassen, als sie derzeit im deutschsprachigen Raum überwiegend praktiziert werden. Hier findet die Erhebung biographischer Interviews nach der von Schütze (1977, 1987) entwickelten Methode des narrativen Interviews eine sehr breite Anwendung93 und zahlreiche empirische und theoretische Texte nehmen das narrationsstrukturelle Konzept und die Erhebungs- und Auswertungsmethodik nach Schütze zum Ausgangspunkt oder knüpfen mit eigenen Weiterentwicklungen daran an.94 Das Grundprinzip dieser Form des narrativen Interviews besteht darin, dass ein erlebter Kontext in einer aus dem Stegreif entwickelten Geschichte zusammenhängend erzählt wird. Die neuere qualitative Biographieforschung stützt sich auf die Annahme, dass biografische Narrationen soziale Konstrukte sind, die in der Forschungssituation selbst hervorgebracht werden. Die Attraktivität des Verfahrens für die Biographieforschung begründet sich darin, dass narrative Interviews einen Zugang zur biographischen Selbstdeutung der Interviewpartnerinnen eröffnen und die Möglichkeit zur Setzung persönlicher Relevanzen und Schwerpunkte in den Erzählungen gibt. Die Erhebung narrativer Interviews gliedert sich in fünf Phasen: • Rekrutierung der Interviewpartnerinnen • Einstiegsphase vor dem Interview (small talk, Erläuterung der Forschungsperspektive, Erklärungen zur Form des narrativen Interviews und zur Aufnahme, Zusicherung der Anonymisierung der Daten) • erzählgenerierende Eingangsfrage zur Stimulierung der Stegreiferzählung • erzählgenerierende Nachfragen • Bilanzierungsphase (Hermanns 2000: 360ff; Griese und Griesehoop 2007: 26)95 Bei der Erhebung der narrativen Interviews wurde das Prinzip der Offenheit für die biographischen Interviews zwar als zentrales Gestaltungsmotiv genutzt, allerdings wurde bei der Eingangsfrage nicht auf eine thematische Fokussierung 93
94
95
Gute Überblicke zum Stellenwert des narrativen Interviews in der qualitativen Sozialforschung finden sich bei Kohli und Robert (1984), bei Marotzki (1999), Flick (2004), Flick, Kardorff und Steinke (2000) sowie bei Lucius-Hoene und Deppermann (2004). Zur Umsetzung in der Forschungspraxis vergl. Fischer-Rosenthal und Rosenthal (1997a und b), Hermanns (1995, 2005), Glinka (1998), Wengraf (2001), Lucius-Hoene und Deppermann (2002) sowie Griese und Griesehop (2007). Von anderen Autorinnen wird die Erhebung auch in drei Phasen (Schütze 1983: 285) oder als vier Phasenprozess beschrieben (Hopf 2000: 355ff; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 414; Lucius-Hoene und Deppermann 2004: 77ff; Fuchs-Heinritz 2005: 265ff).
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verzichtet und unterscheidet sich deshalb vom Vorgehen, wie es in der deutschsprachigen Biographieforschung überwiegend praktiziert wird, die mit einem neutralen Narrationsimpuls beginnen (z.B.: Erzählen Sie mir Ihre Lebensgeschichte). In der vorliegenden Studie wurde der Narrationsimpuls auf die Migrationsprozesse in den Biographien der Interviewpartnerinnen fokussiert und es wurde danach gefragt, wie es gekommen ist, dass die Interviewpartnerinnen eine transnationale Lebensform als Wissenschaftlerin gewählt haben. (Could you please tell me the story how you came as a scientist to this place? // Könntest Du/Könnten Sie mir erzählen, wie es gekommen ist, dass Sie/Du als Wissenschaftlerin hier an diesen Ort gekommen sind/bist?) Im Anschluss an die Erhebung der narrativen Interviews (N=6), deren Dauer zwischen zwei und sechs Stunden variierte (in einem Fall wurde noch ein zweites Interview geführt), wurden Nachfragen gestellt, die sich einerseits auf die Inhalte der Interviews bezogen, andererseits wurde nach Sachverhalten gefragt, die in den biographischen Narrationen noch nicht angesprochen worden sind. Daran schloss eine Bilanzierungsphase an, mit der erste Reflexionen auf die erzählten Biographien angeregt wurden. Mit allen Interviewpartnerinnen wurde vorab ein Online-Interview (fragebogen-basiert im Kontext der vifu-Befragung) geführt und im Anschluss einige E-Mails ausgetauscht, um ein narratives Face-to-Face-Interview zu vereinbaren. Die Erhebung wurde mit fünf Wissenschaftlerinnen in englischer Sprache und einer Wissenschaftlerin in deutscher Sprache an unterschiedlichen Orten in Europa durchgeführt96 und im Vorfeld sowie anschließend mit reflexiven Memos begleitet. Die Interviews wurden transkribiert und in einer Methodenkombination im Forschungsstil der Grounded Theory und nach den Prinzipien der Rekonstruktion narrativer Identität (Lucius-Hoene und Deppermann 2004) ausgewertet.
Fallauswahl Die Auswahl der Fälle basiert auf dem Prinzip des kontrastiven Vergleichs, das ein zentrales Element der Grounded Theory-Methodologie darstellt (Glaser und Strauss 1967: 39). Kontinuierliche Vergleichsoperationen beziehen sich auf das gesamte methodische Verfahren und damit sowohl auf die Auswahl der Fälle bis 96
Diese räumliche Begrenzung ist darin begründet, dass die Teilnehmerinnen der vifumailingliste aus Afrika, Asien und Lateinamerika, Südasien sowie Osteuropa im virtuellen Netzwerk wesentlich schwächer vertreten waren als während der Präsenzphase der ifu (vergl. Kap. 4). Diejenigen, die weiterhin aktiv kommunizierten, waren häufig transnational hochmobile ifu-Absolventinnen, die sich während der vorliegenden Erhebung in Europa aufhielten.
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hin zu den einzelnen Schritten im Kodierprozess. Die narrativen Interviews wurden sowohl mit Nachwuchswissenschaftlerinnen geführt, die ihren Promotionsprozess bereits abgeschlossen hatten, als auch mit Forscherinnen, die sich im laufenden Promotionsprozess befanden. Bei einigen war die Promotion mit einem Fachwechsel verbunden, andere wählten eine Promotion in ihrem grundständig studierten Fach. Bei einigen Interviewpartnerinnen stellte sich der Migrationsprozess als Erfolgsgeschichte dar, während für andere die Migration als Reaktion auf soziale Instabilitäten der unterschiedlichsten Art reflektiert wurde. Von den Interviewpartnerinnen lebten einige in lesbischen, andere in heterosexuellen Partnerschaften, einige waren zum Zeitpunkt des Interviews ohne Partner bzw. Partnerin. Eine Vergleichsmöglichkeit mit kinderlosen Lebensformen und transnationaler Mobilität von Nachwuchswissenschaftlerinnen mit Kindern war aufgrund der Beschaffenheit des Ausgangssamples aus der Online-Befragung des vifu-Netzwerks nicht möglich, da keine der transnational hochmobilen Nachwuchswissenschaftlerinnen zum Zeitpunkt der Erhebung Kinder hatte. Dieser Befund verweist darauf, dass familiäre Gebundenheit durch zu versorgende Kinder für transnationale Migration in der Wissenschaft ein Hindernis darstellt.97 Die Auswahl der drei biographischen Fallstudien, die in dieser Arbeit rekonstruiert wurden, war von der Intention geleitet, mit den biographischen Analysen einen maximalen kontrastiven Vergleich unterschiedlicher transnationaler Migrationswege und Migrationsvoraussetzungen von Wissenschaftlerinnen auszudifferenzieren. Das Spektrum der dargestellten Fallstudien repräsentiert grundlegende Unterschiede in der Lebensführung sowie in der weltregionalen Herkunft der Interviewpartnerinnen. Die zentralen Kriterien, die für die Auswahl der Falldarstellungen aufgestellt wurden und die für den konkreten Verlauf der transnationalen Migrationswege der befragten Wissenschaftlerinnen als relevant herausgearbeitet werden konnten, lauten: • breites Spektrum weltregionaler Herkünfte: aus einer europäischen Krisenregion (Ex-Jugoslawien), aus einem Low-Income-Land (Indien), aus Deutschland (vor einem bereits bestehenden familiären transnationalen Migrationshintergrund aus der Türkei)
97
Um diesen Kontext jedoch näher zu bestimmen, sind weitere Forschungen erforderlich, die z.B. explorieren, unter welchen Umständen transnationale Mobilität für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Kindern als Lebensform gewählt wird. Welche institutionellen Bedingungen erweisen sich als günstig, bzw. ungünstig? Gibt es genderabhängige Unterschiede in der Bereitschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Kindern, transnational mobil zu sein?
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• breites Spektrum in der Wahl der Lebensformen in Partnerschaften (heteround homosexuelle Partnerschaftswahlen, transnationale Führung der Partnerschaften an unterschiedlichen Lebensorten, gemeinsame transnationale Organisation der Partnerschaften am selben Lebensort, transnationale Lebensführung ohne Partnerschaft) • Das Sampling der entwickelten biographischen Fallstudien berücksichtigt darüber hinaus eine Differenzierung nach freiwilligen Migrationsmotivationen und erzwungener Mobilität (hier am Beispiel einer Kriegsflucht aus ExJugoslawien), die für die biographische Konstruktion von transnationaler Lebensführung eine zentrale Kategorie darstellt. Die Exploration dieses Zusammenhangs eröffnet für die Analyse transnationaler Elitenmigration eine neue Forschungsperspektive und wurde bislang nahezu ausschließlich für Migrationsforschungen in den Blick genommen, die sich mit der Migration von Menschen befasst, die in weniger qualifizierten Berufsfeldern arbeiten (wie beispielsweise im Carework-Sektor).
Auswertung Die Grounded Theory-Methodologie stellt ein empirisches Vorgehen dar, mit dem die Entdeckung neuer sozialer Phänomene methodisch kontrolliert für die Entwicklung theoretischer Konzepte genutzt werden kann. Durch eine gegenstandsorientierte biographische Forschung kann die Prozesshaftigkeit und auch die Widersprüchlichkeit in der Herstellung und narrativen Reflexion von sozialen Positionierungen in transnationalen biographischen Narrationen ins Zentrum des empirischen Forschungsprozesses gerückt werden. Sie bildet damit eine geeignete methodische Grundlage, soziale Positionierungen im Kontext transnationaler Migrationsprozesse von Wissenschaftsmigrantinnen empirisch zu explorieren. Beispielsweise kann Alltagswissen über soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, „race“, Klasse, Staatsbürgerschaft und weltregionale Herkunft in Frage gestellt und am Forschungsmaterial unter Bezugnahme auf eine transnationale Perspektive dekonstruiert werden. Nach Strauss und Corbin kann die Grounded Theory-Methodologie als qualitative Forschungsmethode beschrieben werden, die systematisch eine Reihe von Verfahren nutzt, um eine gegenstandsverankerte „grounded“ Theorie über ein soziales Phänomen zu entwickeln (Strauss und Corbin 1996: 8). Dabei unterliegt die Grounded Theory einer abduktiven Forschungslogik. Kelle (1996; 1998) hat in seiner systematischen Aufarbeitung der Grounded Theory-Methodologie gezeigt, dass es sich bei der Forderung nach einem rein induktiven Vorgehen, wie es Glaser und Strauss (1967) in ihrer Abhandlung
Grounded Theory, narrative Interviews und narrationsanalytische Verfahren
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„The Discovery of Grounded Theory“ entwickelt haben, um ein „induktivistisches Selbstmißverständnis“ handelt, das zum Gesamtkonzept der Methodologie einerseits im Widerspruch steht und andererseits insbesondere deshalb Verbreitung in der Rezeption des Verfahrens gefunden hat, da es von qualitativen Forschenden durchaus bereitwillig und unkritisch aufgegriffen wurde.98 Ein Vorgehen nach der Grounded Theory ist jedoch nicht mit einer theorielosen Forschung gleichzusetzen. Gegenstandsbegründete theoretische Konzepte sind nicht rein induktiv aus dem empirischen Material zu gewinnen, sondern theoretische Kontextualisierungen spielen von Anfang an eine zentrale Rolle im Forschungsprozess. Bereits vor der Exploration des empirischen Feldes liegen theoretische Vorannahmen vor und werden für dessen Erschließung genutzt. Strauss und Corbin (1996: 25ff) sowie Glaser (1978) haben – entgegen dem „induktivistischen Selbstmißverständnis“ – die Nutzung theoretischer Konzepte im qualitativen Forschungsprozess mit dem Begriff der „theoretischen Sensibilität“ eingeführt. Dazu zählen u.a. theoretische und empirische Literaturkenntnisse, berufliche oder/und persönliche Erfahrung sowie Forschungserfahrung,99 die es erlauben, ein konzeptionell dichtes und gut integriertes datenbasiertes theoretisches Modell zu entwickeln (Strauss und Corbin 1996: 25). „Theoretische Sensibilität bedeutet die Verfügbarkeit brauchbarer heuristischer Konzepte, die die Identifizierung theoretisch relevanter Kategorien im Datenmaterial und die Herstellung von Zusammenhängen zwischen diesen Kategorien (..) ermöglicht.“ (Kelle 1997: 312) Der zentrale Interpretationsvorgang im Vorgehen am empirischen Material nach der Grounded Theory-Methodologie ist ein theoriebildender Kodierprozess. Ziel des Kodierens ist es, ein theoretisches Modell eines sozialen Phänomens zu entwickeln. Aus der Empirie werden – theoretisch sensibel – Kodes und deren Eigenschaften extrahiert. Die so gewonnenen Kodes werden in einem weiteren Auswertungsprozess abermals am empirischen Material überprüft. Mit fortschreitender Entwicklung eines gegenstandsbegründeten theoretischen Modells werden nicht nur Textstellen mit Kodes versehen (offenes Kodieren), sondern die Kodes selbst werden miteinander verknüpft und zu übergeordneten Kategorien zusammen gefasst (axiales Kodieren). Diese Kategorien werden schließlich am Textmaterial überprüft und extrahiert (selektives Kodieren). 98
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Kelle (1998) kritisiert völlig zu Recht, dass die induktivistische Interpretation des Grounded Theory-Ansatzes in der Forschungspraxis zu einer „impressionistischen“ Generierung von Theorie führt. Ein anderes Risiko besteht auch darin, dass ein theoriefreies Herangehen an das empirische Material dazu verleitet, beliebig viele und immer neue Begriffe und Zusammenhänge willkürlich herauszugreifen. Jede Art von Vorwissen beinhaltet jedoch auch das Risiko, geschlossene Perspektiven zu entwickeln und für andere Phänomene im Forschungsprozess „blind“ zu sein.
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
Diese drei zentralen interpretativen Schritte, die ineinander verschränkt sind und sich im Auswertungsprozess zum Teil überkreuzen, dienen als Bausteine für ein empirisch aus den Daten entwickeltes theoretisches Modell. Der Vorgang des Kodierens, wie er am Material vorgenommen wurde, lässt sich folgendermaßen beschreiben: Zunächst wurden die Interviews Zeile für Zeile analysiert und mit theorieangeleiteten100 Kodes versehen (offenes Kodieren). Dieser Kodiervorgang wurde nicht durch ein vorab definiertes Kategorienschema entwickelt, sondern in einem offenen Prozess empirisch aus dem Datenmaterial abgeleitet. Er unterscheidet sich damit von einer beschreibenden Verdoppelung der Textaussagen durch Paraphrasierungen insofern grundlegend, als dass es darum geht, vom empirischen Material zu einer theoretischen Verdichtung zu kommen. Im Verlauf des vorangeschrittenen offenen Kodierens wurden Beziehungen zwischen den Kategorien hergestellt. Strauss (1991: 101ff) hat diesen Arbeitsschritt als „axiales Kodieren“ beschrieben. In diesem Prozess wurden die generierten Kategorien abermals verdichtet und unter zentrale gemeinsame Konzepte gefasst, die für die transnational mobilen Biographien von Nachwuchswissenschaftlerinnen wesentliche Aspekte von Mobilität beinhalten. Dieser Interpretationsprozess wurde abermals komprimiert und in drei zentrale Kategorien gefasst, die die biografischen Selbstkonstruktionen von Wissenschaftlerinnen in transnationalen Räumen reflektieren. Sie stehen in Beziehung zu Konzepten der Bewegung und Positionierung in lokal verankerten und virtuellen transnationalen Räumen, die nicht als unilinear beobachtet wurden, sondern sie stellten sich als mehrdirektionale transnationale Mobilitätsprozesse dar. Die Generierung solcher verdichteter Kodes bezeichnen Strauss und Corbin als „Schlüsselkategorien“. Mit den in dieser Studie entwickelten Schlüsselkategorien kommt zum Ausdruck, dass es sich bei transnationaler Mobilität um einen Prozess handelt, in dem sowohl die Herkunfts- als auch die Ankunftstationen und die sozialen Räume, die sich zwischen unterschiedlichen geographischen Räumen aufspannen, von zentraler Bedeutung für transnational mobile Personen sind. Die Schlüsselkategorien wurden in den narrativen Interviews mit transnationalen Wissenschaftsmigrantinnen unter folgenden übergreifenden Konzepten gefasst:
100 Dausien (1995: 100) expliziert die Verknüpfung von Theorie und Empirie im Kodierprozess nach der Grounded Theory-Methodologie sehr anschaulich: „Dem Anliegen der Grounded Theory zufolge geht es (..) nicht um die Reproduktion einer bereits zuvor bestehenden Theorie, die mithilfe der Daten lediglich illustriert würde. Konkret: Die Formulierung von ‚Codes’ [sic! C.B.-U.] und deren Ordnungen sind zwar theoretisch angeleitet, sie werden aber nicht unmittelbar aus den Theorien abgeleitet.“ (Hervorhebungen im Original)
Grounded Theory, narrative Interviews und narrationsanalytische Verfahren
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• Aufbruch • Ankommen • Dazwischen Die Schlüsselkategorien fassen als integratives Moment die verschiedenen Dimensionen von Mobilität und darin spiegeln sich die Zentralität der räumlichen und medial vermittelten transnationalen Mobilität und die daraus resultierenden biographischen Prozesse. Strauss und Corbin (1996: 94) beschreiben den Prozess der Ausdifferenzierung der Schlüsselkategorien als „selektives Kodieren“, der ein systematisches In-Beziehung-Setzen der Schlüsselkategorien mit anderen Kategorien beinhaltet. Diese Vernetzung der Kategorien ist ein weiterer Schritt zur Verfeinerung und Weiterentwicklung der Kodes, die zu einem gemeinsamen zentralen Phänomen zusammengefasst wurden, in das alle anderen Kategorien als Komponenten von Mobilitätsprozessen integriert sind. Die Schlüsselkategorien bezeichnen demnach die zentralen Phänomene, die den Forschungskontext transnationaler Mobilität von Nachwuchswissenschaftlerinnen kennzeichnen. In die Schlüsselkategorie „Aufbruch“ wurde die Verdichtung von folgenden übergeifenden Konzepten integriert, die aus den Kodes entwickelt worden sind: • • • •
Entdeckerinnen familiäre/soziale Motivation für den Aufbruch Mobilität fördert Mobilität Traumorte und Zwangsreisen
In der Kategorie „Ankommen“ sind Konzepte gebündelt, die Dimensionen der In- und Exklusion in Beziehung zu lokalen und translokalen Faktoren beinhalten: • • • •
neue Ufer Wissenschaft als transnationale Lebensform neue und alte Bekannte Anerkennung und Ausgrenzung
Mit der Kategorie des „Dazwischen“ wird die biographische Herstellungspraxis von transnationalen sozialen Beziehungen gefasst. Sie manifestieren sich darin, dass die biographischen Verortungen der Wissenschaftlerinnen sich in Lebenslagen zwischen unterschiedlichen lokalen Orten aufspannen. Die folgenden Kodes beinhalten Faktoren, die für die Beobachtung dieser spezifischen Komponente transnationaler narrativer Biographiekonstruktionen zentral sind:
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
transnationale Vernetzungen prekäre Lebenslagen transnationale Liebesbeziehungen transnationale Selbstbilder
Die Grounded Theory wird im Kontext der Biographieforschung häufig eingesetzt (z.B. Dausien 1996; Lutz und Davis 2005; Gutierrez-Rodriguez 1999; Silkenbeumer 2007), sie stellt aber keine spezifische Methode zur Analyse narrativer Interviews dar und wird häufig mit narrationsanalytischen Ansätzen kombiniert. Vor allem auf das von Rosenthal (1995) entwickelte Vorgehen zur Rekonstruktion biographischer Erzählungen wird innerhalb der deutschsprachigen Biographieforschung sehr breit zurückgegriffen. Im Folgenden wird kurz auf dieses Verfahren eingegangen, um die wesentlichen Abweichungen von dieser sehr verbreiteten Auswertungsstrategie darzulegen und zu begründen. Nach Fischer-Rosenthal und Rosenthal (1997) umfasst die Analyse biographischer Erzählungen folgende Schritte: 1. Analyse der biographischen Daten (Ereignisdaten), 2. Text- und thematische Feldanalyse (sequenzielle Analyse der Textsegmente des Interviews; Selbstpräsentation), 3. Rekonstruktion der Fallgeschichte, 4. Feinanalyse einzelner Textstellen, 5. Kontrastierung der erzählten und der erlebten Lebensgeschichte. Insbesondere im zentralen Punkt des Ansatzes, nämlich der Kontrastierung von erzählter und erlebter Lebensgeschichte (Punkt 5) wird in dieser Arbeit im Anschluss an den „doing biography“-Ansatz vom Vorschlag Fischer-Rosenthals und Rosenthals abgewichen, da sich die Forschungsperspektive auf die narrative Konstruktion von intersektionellen Differenzierungsprozessen in transnational mobilen Wissenschaftlerinnenbiographien richtet. Für die Konstruktion biographischer Identität im kommunikativen Akt des Interviews ist die Validierung von Diskrepanzen zwischen „erlebtem“ und “erzähltem“ Leben zu vernachlässigen. Vielmehr rücken die unterschiedlichen Ebenen der Kontextualisierungen biographischer Narrationen in den Blickpunkt. Das Rekonstruktionsmodell Fischer-Rosenthals und Rosenthals basiert auf hermeneutischen (Oevermann 1993) und thematischen Feldanalysen (Fischer 1982; Fischer-Rosenthal und Rosenthal 2003: 460) sowie auf textanalytischen Verfahren (Schütze 1983). Schütze schlägt für die Analyse biographischer Interviews im Wesentlichen drei Analyseschritte vor: 1. Unterscheidung zwischen Argumentation, Bericht und Erzählung; 2. formale Textanalyse: Segmentierung, um Ereignisabläufe und Motivstrukturen sowie Teilgeschichten zu identifizieren; 3. Typenbildung (vergl. Fuchs-Heinritz 2005: 310-318). Die Abweichung vom Verfahren, das von Schütze vorgeschlagen wurde, lässt sich insbesondere am ersten Punkt verdeutlichen, der die unterschiedliche Bewertung und analyti-
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sche Behandlung von Texttypen enthält. Eine Trennung von Argumentation und Narration einschließlich der im Anschluss an Schütze durchzuführenden Konsequenz der Verwerfung der argumentativen Passagen, die als Rationalisierungsversuche, Selbsttäuschungen und Erklärungen klassifiziert werden und gegenüber einer ausschließlichen Analyse der narrativen Passagen zurückgestellt werden sollen, muss als Vorgehen betrachtet werden, das die Perspektiven auf narrative Daten verengt. Die Tendenz, dem Erzählen gegenüber dem Argumentieren einen direkteren Bezug zur subjektiven und lebensgeschichtlichen Wirklichkeit zuzuschreiben, ist in der biographischen Erzählanalyse zwar weit verbreitet (z.B. Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997; Glinka 1998: 165ff), es erscheint insbesondere im Kontext dieser Arbeit jedoch nicht als sinnvoll, denn die Vielfalt der Funktionen, die Narration und Argumentation im Verlauf lebensgeschichtlicher Erzählungen einnehmen, kann auf diese Weise nicht berücksichtigt werden.101 Da biographische Erzählungen als kommunikative und kontextualisierte Prozesse der Konstruktion von Biographie betrachtet werden, sind ausdrücklich auch die argumentativen Passagen als gehaltvolles empirisches Material zu behandeln gewesen. Im Kontext der durchgeführten Forschung stellt die Tatsache, dass die Interviews mit Wissenschaftlerinnen ein sehr hohes Maß an (sozial)-wissenschaftlicher Selbstreflexivität besitzen, eine interessante Eigenart dar, die analytisch berücksichtigt wurde und für die Interpretation der Fallstudien ein gehaltvolles Anregungspotenzial besitzt. Im weiteren Verlauf des Auswertungsprozess erwies sich jedoch eine Methodenkombination der Grounded Theory mit einem Interpretationsverfahren, das speziell auf die Auswertung narrativer Interviews zugeschnitten ist und sowohl linguistische als auch psychologische Erkenntnisse der Erzählforschung in das Analyseinstrumentarium einbezieht, als sehr fruchtbar. Es bot den Vorteil, spezifische Bedeutungskonstellationen, die sich aus dem Einsatz von narrativen Interviews ergeben, der Datenform entsprechend zu kontextualisieren. Die Verknüpfung der Grounded Theory mit einem narrationsanalytischen Verfahren wird als ergänzender Zugang betrachtet, um eine höhere analytische Dichte der Dateninterpretation zu erreichen. Hier wurde das Modell der narrationsstrukturellen Analyse in Ergänzung zur Grounded Theorie genutzt, das Lucius-Hoene und Deppermann (2004) skizziert haben und mit der eine komplexe Klassifikation narrativer Daten in Ergänzung zur fein- und grobstrukturellen Analyse der biographischen Interviews mit der Grounded Theory möglich ist. Die Erkenntnismöglichkeiten für narrative biographische Daten wurden von Lucius-Hoene und Deppermann (2004: 92) als komplexe Äußerungsformen 101 Vergl. zu dieser Frage auch die Diskussion bei Lucius-Hoene und Deppermann 2004: 169ff sowie 248ff.
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
narrativer Identität beschrieben. Dabei wird der Vorgang des autobiographischen Erzählens als eine spezifische Form diskursiver Praxis verstanden, „durch die die sprachliche Darstellung von Zeiterfahrung, ihre Kohärenzstiftung und ihr Re-Inszenierungspotenzial besondere Möglichkeiten der diskursiven Herstellung und Verhandlung von Identität eröffnet“ (ebd.: 53). Autobiographische Erzählungen stellen somit ein kommunikatives Konstrukt dar, in dem Menschen ihr Erleben wiedergeben. Der Ansatz zur Rekonstruktion narrativer Identität von Lucius-Hoene und Deppermann lässt sich in folgende Erkenntnisbereiche aufschlüsseln: • Es handelt sich bei qualitativen Daten, die mit der Methode des narrativen Interviews erhoben wurden, um aktuell hergestellte interaktive Verhandlungen des Selbstverständnisses. Sie beinhalten komplexe Informationen darüber, wie biographische Erzählerinnen von ihren Interviewpartnerinnen verstanden werden wollen. • Autobiographische Erzählungen stellen narrative Akte der Selbstvergewisserung und der Biographieherstellung dar (in diesem Sinne kann auch der Narrationsprozess selbst, der durch das Interview provoziert wird, als „Biographiegenerator“ (Fuchs-Heinritz 2005) verstanden werden. • Narrative Interviews enthalten biographische und identitätsbezogene Thematiken, die die Erzählerin als subjektiv bedeutsam oder verhandlungswürdig erachtet. • Sie stellen Auseinandersetzungen mit vermuteten Erwartungen, Gegenpositionen und Fremdsichten dar, mit denen sich die Erzählerin auseinandersetzt. Diese Annahmen, die einen Ausgangspunkt des Sprechens darstellen, werden jedoch in der Regel nicht verbalisiert. • Die Erzählungen sind Wirklichkeitskonstruktionen der dargestellten Weltausschnitte, insbesondere von problematischen Lebenslagen, Ereignissen, Erfahrungen und Konflikten: Die Erzählungen dienen der narrativen biographischen Sinnstiftung und Identitätskonstruktion. • Sie enthalten diskursive Strategien und Wissensbestände der Erzählerinnen, die auf kulturell vermittelten biographischen und narrativen Schemata beruhen. Die grobstrukturelle Analyse narrativer Interviews gliedert sich nach dem Vorschlag von Lucius-Hoene und Deppermann in folgende formale Schritte: 1. Materialaufbereitung, 2. Erarbeitung der Grobstruktur des Interviews und Segmentierung des Gesamttextes, 3. Sequentielle Feinanalyse einzelner Textpassagen unter Berücksichtigung der klassischen „W“-Fragestellungen zur Texterschlie-
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ßung (Lucius-Hoene und Deppermann 2004: 195)102. Dieser Interpretationsprozess, der durch eine Analyse der spezifischen Eigenschaften einzelner Textelemente in Verbindung mit einer Analyse des Kontextes, den Folgeerwartungen sowie den interaktiven Konsequenzen bestimmt ist, wurde als Analyseschritt in Verknüpfung mit dem offenen line-by-line-Kodieren nach der Grounded Theory-Methodologie und dem axialen Verknüpfen von Kodes genutzt. Hier kam den Strukturierungen der Lebensgeschichten und der Beziehungen zwischen lebensgeschichtlichen Themen und Etappen eine besondere Bedeutung zu, die sich u.a. durch die Analyse von biographischen Leitthemen sowie Themenwechseln und -abbrüchen erschließen. In der narrationsstrukturellen Feinanalyse wurden insbesondere die Erzähleröffnung sowie die Schlüsselerzählungen berücksichtigt (Lucius-Hoene und Deppermann 2004: 135). Für die Konstruktion der biographischen Fallstudien wurde auf die zentralen Elemente der Grounded Theory-Methodologie – offenes, axiales und selektives Kodieren, theoretisches Sampling und das Prinzip des permanenten Vergleichs – zurückgegriffen und mit dem narrationsstrukturellen Vorgehen kombiniert. Die Auswertung stützt sich damit auf ein regelgeleitetes methodisches Verfahren, um die Güte des qualitativen Forschungsprozesses sicherzustellen. Der Auswertungsprozess orientierte sich darüber hinaus an den von Steinke (2000) sowie Kelle (1997)103 aufgestellten Kriterien zur Feststellung von Validität und Güte empirischer Analysen, die sowohl empirische als auch theoretische und intersubjektive Gütekriterien umfassen: • In die datenbasierte Entwicklung von theoretischen Perspektiven und Modellen zum Phänomen transnationaler Migration von Nachwuchswissenschaftlerinnen und ihre Eingebundenheit in transnationale Netzwerke wurden verschiedene Datenarten (narrative Interviews, fragebogenbasierte Online-Erhebung sowie online-basierte teilnehmende Beobachtungen) einbezogen. • Zur Auswertung der narrativen Interviews wurde neben der Grounded Theory ein auf diese spezifische Interviewform zugeschnittenes narrationsstrukturelles Auswertungsverfahren (Lucius-Hoene und Deppermann 2004) genutzt.
102 Was/wie/wozu wird etwas dargestellt? Wozu wird es (jetzt) und so (und nicht anders) dargestellt? 103 „Das Vorgehen qualitativer Analyse muss transparent gemacht werden, indem methodologische Regeln der empirisch fundierten Theoriebildung formuliert werden, die die Systematisierung der Datensammlung, -kodierung und -analyse ermöglichen. Nur diese Kodifizierung und Explizierung von Forschungsmethoden, die es dem Leser erlaubt, die Schlussfolgerungen des Untersuchers, seinen Weg von den Daten zur Theorie, nachzuvollziehen, können die Glaubwürdigkeit empirisch begründeter Theorien sicherstellen.“ (Kelle 1997: 288)
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Biographieforschung am bewegten Subjekt
• Die Nachvollziehbarkeit der Dateninterpretation wird durch die Dokumentation und Diskussion des theoretischen Vorverständnisses, des Erhebungskontextes, einer Reflexion der Methodenwahl und der Methodenverwendung gestützt. • Die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der konkreten Datenauswertung und Analyse wurde unter Heranziehung des empirischen Materials in unterschiedlichen Stadien des Forschungsprozesses in mehreren Forschungskontexten104 konsensuell und argumentativ validiert.105
Struktur der Fallstudien Auf Basis dieses analytischen Vorgehens wurden die Fallstrukturen entwickelt. Die Struktur der biographischen Fallstudien gliedert sich anhand der im Auswertungsprozess generierten Schlüsselkategorien. Bei den Kategorien „Aufbruch“, „Ankunft“ und „Dazwischen“ handelt es sich um einen Ansatz zur empirischen Exploration von dynamischen Konstruktionsprozessen transnationaler biographischer Räume von Wissenschaftsmigrantinnen. Diese Kategorien sind zu unterscheiden von chronologischen Abfolgen und ortsgebundenen Raumkategorien und nehmen in den Blick, welche Dimensionen sozialer Erfahrung in den Herstellungsprozessen transnationaler Räume relevant sind und in welcher Beziehung sie zu lokalisierbaren Orten und Ortswechseln stehen. Dabei ist die forschungsleitende Frage, ob es sich bei der Transnationalisierung von Biographien um Prozesse handelt, in denen die Erfahrung von Raum einen Bedeutungswandel für die transnational Wandernden hat. Daraus ergibt sich die Frage danach, welche Effekte sich für die Konstruktionen von Selbstbildern und sozialen Positionierungen als Wandernde ergeben und welche Verschiebungen und Verfestigungen sozialer Ungleichheitskategorien durch transnationale Migrationsprozesse im Kontext biographischer Erzählungen beobachtet werden können. 104 Ich danke den Lehrenden sowie den Kollegiatinnen und Kollegiaten des Promotionskollegs „Wissensmanagement und Selbstorganisation“ der Universität Dortmund sowie Sigrid MetzGöckel und ihrem Doktorandinnenkolloquium am Hochschuldidaktischen Zentrum der Universität Dortmund für intensive und anregende Diskussionsbeiträge zu den Interviews. Für weitere interessante Diskussionen des Materials danke ich Fritz Schütze und Lena Inowlocki im Kontext ihrer Methodenworkshops an der Universität Magdeburg und an der Universität Frankfurt. 105 Der Begriff der „konsensuellen Validierung“ (Validierung in Forschungsgruppen) entstammt dem Begriff der „Dialog-Konsens-Validierung“ nach Scheele und Groeben (2002). Bortz und Döring (2006) verweisen zudem auf das Konzept der „argumentativen Validierung“ mit externen Expertinnen und Experten.
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Im Anschluss an die Entwicklung der Fallstrukturen von drei biographischen Interviews mit transnationalen Wissenschaftsmigrantinnen („Nalan“, „Devi“ und „Mia“) entlang der Schlüsselkategorien „Aufbruch“, „Ankunft“, „Dazwischen“ wurden die Ergebnisse der Fallrekonstruktionen zusammengeführt und theoriegeleitet diskutiert. Dabei wurden vergleichend die Strukturen der einzelnen Fälle herausgearbeitet sowie kontrastive Unterschiede diskutiert und vor dem Hintergrund der zuvor entfalteten theoretischen Ansätze zu Transnationalität, Hybridität, Intersektionalität und Biographie reflektiert (Kap. 11 „Im Transit“). Die einzelnen Fallstudien sind so strukturiert, dass sie einleitend 1. eine Zusammenfassung der biographischen Eckdaten sowie eine Reflexion der Interviewsituation skizzieren. Anschließend wird 2. im Kontext der Schlüsselkategorie „Aufbruch“ analysiert, welche biographischen Faktoren dazu geführt haben, dass die jeweilige Interviewpartnerin zu einer transnational mobil agierenden Wissenschaftlerin wurde. Unter der Kategorie „Ankommen“ wird 3. analysiert, welche Elemente in den transnational bewegten Lebensführungen der Wissenschaftlerinnen dazu führen, ein Verständnis des „Ankommens“ zu entwickeln, das Dimensionen der Zugehörigkeit, der Anerkennung und Ausgrenzung sowie des „Zuhause-Sein“ beleuchtet. Darüberhinaus interessierte insbesondere die Frage danach, welche Faktoren in transnationalen Lebensführungen ein „Ankommen“ behindern und welche Rolle eine Anbindung an bzw. eine Abkopplung von lokalen Orten dabei spielt. Unter der Kategorie des „Dazwischen“ wird 4. entfaltet, welche Transformationen sozialräumliche Beziehungen in biographischen Reflexionen unter den Bedingungen von Transnationalität durchlaufen und welche Konsequenzen diese Transformationen für die transnationalen Lebensführungen der Wissenschaftlerinnen haben. Abschließend werden 5. die Befunde der Fallstudien jeweils einzeln zusammengefasst.
8
“Migration is a male factor” Indien, Deutschland, Indien und wieder zurück (Fallstudie Devi)
8.1
Biographische Skizze Devi
Devi106 ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt und Doktorandin an einem interdisziplinären Hochschulinstitut an der Universität Grünberg, einer mittelgroßen Stadt in Deutschland. Sie ist in unterschiedlichen Regionen Indiens aufgewachsen und studierte an einer großen indischen Universität Soziologie. Das Studium hatte sie zunächst mit einem BA und dann mit einem MphilAbschluss beendet. Anschließend war Devi wissenschaftliche Mitarbeiterin in mehreren Forschungsprojekten an einer indischen Hochschule und hat bereits eine sehr ansehnliche Liste von eigenen Publikationen vorzuweisen. Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf Prozesse sozialer Ungleichheit, insbesondere auf das Problem der Gewalt gegen Frauen und Kinder in indischen Slums, in denen sie nicht nur als Wissenschaftlerin geforscht, sondern auch im Kontext von NGO’s und verschiedenen Frauennetzwerken gearbeitet hat.107 Als Devi sich um einen Studienplatz an der Internationalen Frauenuniversität bewarb, befand sich ihre Doktorarbeit in der Planungsphase und sie nutzte das Studium an der ifu zur Entwicklung ihrer Forschungsfragen sowie zur internationalen Vernetzung mit anderen Wissenschaftlerinnen. Das ifu-Studium stellte zugleich Devis ersten längeren Auslandsaufenthalt dar, der für die Entwicklung ihrer weiteren wissenschaftlichen Laufbahn ein wichtiger Bezugspunkt wird. Nach der ifu kehrte sie zunächst an die Universität Sumwai in Indien zurück, wo sie weiterhin als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt war. Angeregt durch 106 Alle Namen und Ortsangaben sind anonymisierte Fantasienamen. Der Name „Devi“ wurde auf Wunsch meiner Interviewpartnerin gewählt. Um eine weltregionale Orientierung zu geben, entspricht die Angabe „Indien“ Devis tatsächlichem Geburtsland, ebenso wurden die Stationen ihrer transnationalen Migrationsaufenthalte durch die Ländernamen eingegrenzt. 107 Mit diesen Voraussetzungen, die ein genderpolitisches wissenschaftliches Engagement mit einer starken Anbindung an gesellschaftliche Praxis umfasst, steht Devi zugleich für das von der ifu angestrebte Profil ihrer international rekrutierten Studentinnen, die für das interdisziplinäre, transnational und genderorientierte Lehr-/Lernsetting gewonnen werden sollten.
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Migration is a male factor (Devi)
die ifu entwickelte Devi ein international konzipiertes Dissertationsprojekt, das sie an einem interdisziplinär ausgerichteten Institut an der deutschen Universität Grünberg durchführen möchte. Es gelingt ihr, die Leiterin des Instituts, die sie an der ifu kennen gelernt hatte, als Betreuerin ihrer Arbeit zu gewinnen und ein Start-Up-Stipendium einzuwerben, auf dessen Basis sie die Reisekosten sowie die ersten Monate ihrer Forschung finanzieren kann. Entgegen ihrer Hoffnung auf eine Verlängerung der Anschubfinanzierung konnte Devi zum Zeitpunkt des Interviews noch kein anschließendes Stipendium einwerben und sie befand sich in einer finanziell prekären Phase der Antragstellung. In dieser riskanten Lebenssituation ist sie besonders auf die Unterstützung von Freunden und Netzwerken angewiesen. Sie hat in dieser Zeit Unterschlupf in der Wohnung einer Gruppe männlicher indischer Doktoranden gefunden, zusätzlich wurde ihr an dem interdisziplinären Institut an der Universität Grünberg ein Arbeitsraum zur Verfügung gestellt, den sie sich allerdings mit mehren Kolleginnen und Kollegen teilt. Devi ist in einer wohlhabenden und akademisch gebildeten indischen Familie aufgewachsen, ihr Vater arbeitete als Manager einer großen europäischen Firma, die Mutter besitzt ein Teppichunternehmen und arbeitete in Devis Kindheit als Sozialarbeiterin in den Slums einer indischen Großstadt. Devi hat durch häufige berufliche Ortswechsel ihres Vaters eine von zahlreichen Migrationen innerhalb des Subkontinents Indien geprägte Kindheit erlebt, die sie selbst als kosmopolitisch beschreibt und die von einer westlich orientierten Erziehung in englischsprachigen Bildungsinstitutionen geprägt ist. Devi hat eine Schwester, die in Indien lebt und verheiratet ist, während Devi zum Zeitpunkt unseres Interviews keine Partnerschaft führt. Ein einschneidendes Lebensereignis widerfuhr ihr, als einige Wochen vor dem Interview ihr Vater überraschend stirbt. Wegen ihrer sehr begrenzten finanziellen Ressourcen war es ihr nicht möglich, nach Indien zu reisen, um ihren schwer erkrankten Vater, zu dem sie eine enge emotionale Bindung hatte, noch einmal vor seinem Tod zu sehen und sein Sterben gemeinsam mit ihrer Familie zu begleiten. Unter dieser Erfahrung leidet Devi zum Zeitpunkt des Interviews und sie hofft, ihre Doktorarbeit schnellstmöglich abzuschließen und zu ihrer Mutter zurückzukehren, für deren Versorgung sie sich in der Verantwortung sieht. Das Interview mit Devi fand in ihrem Büro an der Universität Grünberg statt. Sie hatte zuvor an der Online-Befragung von ifu-Absolventinnen im virtuellen Netzwerk vifu teilgenommen und die Verabredung für das biographische Interview war per E-Mail getroffen worden. Devi zeigte sich im Interview sehr aufgeschlossen und interessiert und sie sorgte für eine gastliche und freund-
Biographische Skizze Devi
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liche Atmosphäre.108 Das Gespräch fand in englischer Sprache statt, was für Devi und Interviewerin eine zwar vertraute, aber dennoch jeweils fremde Sprache ist, die sie mit unterschiedlichen Akzenten sprechen. Devis Muttersprache ist Bengali, sie hat jedoch schon als Kleinkind Englisch als Zweitsprache genutzt, zusätzlich spricht sie drei weitere indische Sprachen sowie etwas Deutsch, das sie gut versteht. Sie fühlt sich aber nach ihrer eigenen Einschätzung nicht sicher genug, um ein Interview in deutscher Sprache zu führen. In der Interaktion des Gesprächs wirft Devi allerdings gelegentlich deutsche Wörter und Sätze ein, die sich meist als persönliche Kommentare an die Interviewerin richten. Bei Devis Büro handelt es sich um ein recht kleines Durchgangszimmer, das über insgesamt drei Türen verfügt. Sie teilt sich diesen Arbeitsraum mit zwei weiteren Kolleginnen. Devi verfügt zwar über einen Schreibtisch, der ihr zur Nutzung zur Verfügung gestellt wurde, jedoch nicht über einen eigenen Computer. Sie hat sich mit den Kolleginnen darauf geeinigt, dass sie deren Computer immer dann nutzen darf, wenn niemand anderes den Arbeitsplatz benötigt. Diese Praxis führt dazu, dass Devi sich zum Erledigen ihrer eigenen Arbeit in ständiger Warteposition befindet und erst nach Feierabend ihrer Kolleginnen beginnen kann, an ihrer Dissertation zu arbeiten. Während des Interviews ist der Raum weitgehend ungestört, es kommt jedoch zu zwei Anrufen von einer Kollegin Devis, von der sich überraschend herausstellt, dass es sich um eine gemeinsame Bekannte handelt, die für Devi eine ganz zentrale Bezugsperson in Deutschland ist. Die bereits vor dieser Entdeckung sehr offene und gelöste Stimmung wird durch die geteilte Zuneigung zu dieser Bekannten noch verstärkt und führt zu einem vertraulicheren und freundschaftlichen Interaktionskontext, der für das Interview bestimmend wird.
108 Sie hat beispielsweise eine Packung Kekse gekauft, die sie anbietet. Im Verlauf des Interviews wird deutlich, dass Devi sich in einer derart prekären finanziellen Situation befindet, dass schon der Kauf einer Packung Kekse eine nicht unerhebliche Ausgabe für sie bedeutet haben muss.
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8.2
Migration is a male factor (Devi)
Aufbruch: “Tomorrow the society is going to change”
Der Aufbruch zur transnationalen Lebensform ist bei Devi von drei biographischen Entwicklungsverläufen bestimmt. Zum einen entwirft sie ein sehr zielgerichtetes Bild ihres beruflichen Werdegangs als Soziologin, den sie mit ihrem frühen Interesse an dörflichen Gemeinschaften sowie an den Bewohnern der Slums indischer Großstädte begründet. Dieses Interesse für die Lebensbedingungen von Marginalisierten rückt Devi als ein bestimmendes Element für ihre berufliche Entwicklung in den Blick und sie betont, dass Idealismus und soziales Engagement für ihre Berufswahl ganz entscheidend sind. Zusätzlich stellt sie heraus, dass für ihre transnationale Mobilität internationale Kontakte von Bedeutung sind, die sie zum Teil bereits während ihres Studiums in Indien knüpfte. Hier betont sie nicht nur die Perspektivenerweiterung, die sie internationalen Kontexten zuschreibt, sondern sie stellt auch die Aufwertung besonders heraus, die Wissenschaftskarrieren in Indien durch internationale Mobilität erhalten.109 Schließlich entwickelt Devi ihren zwischen Indien und Deutschland aufgespannten transnationalen Lebensstil vor dem Hintergrund ihrer familiären Sozialisation. Devi hebt dabei die Rolle ihrer Eltern hervor, die sie zur Migration ermutigt haben. Einen großen Einfluss übte dabei besonders ihr Vater auf sie aus, der selbst ein Studium in Großbritannien abgeschlossen hatte und für Devis Zukunft einen ähnlichen internationalen Karriereweg wünschte. In ihrer biographischen Narration entwirft sie ein Selbstbild, das von Zielgerichtetheit bestimmt ist und sie umschreibt ihre bisherige Karriere mit der Metapher eines „Stroms“ (D: 98), in dessen Verlauf ihre biographischen Entscheidungen eine Folgerichtigkeit besitzen, die mit ihren eigenen, schon als Kind entwickelten Zukunftsvorstellungen korrespondieren. Dies gilt besonders für das Einschlagen ihrer wissenschaftlichen Karriere als Soziologin, die sie auf einen frühen Berufswunsch zurückführt. I used to say I am going to be a village-school-teacher, you know. We get education so easily. The accessibility and when we go for excursions, we really know what the difficulty is. The idea of the village school teacher was a very crude form of the community development work,110 which I understand right now. And, hm, when it started growing in me, and as a child, I always wanted to do this.
109 Indien zählt zu den Ländern, für deren Eliten ein Studium oder ein Auslandsaufenthalt für die weitere Karriereentwicklung geradezu obligatorisch ist (vergl. Hahn 2005a). 110 Devis Forschungsfokus richtet sich auf eine international angelegte Implementationsforschung zur Prävention von Gewalt, die sich gegen Frauen richtet.
Tomorrow the society is going to change
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I mean there was, you know, peer-group competition of becoming doctors and engineers, which was very common in my community. But it was very strange, when I used to tell people that I wanted to be a village school teacher. But that was the very prominent figure in my mind. (D: 55-72)
Ebenso wie ihre sozial engagierte Haltung fällt in dieser Sequenz auf, dass Devi schon als Schülerin einen klaren akademischen Berufswunsch hegte, der in Indien für ein Mädchen der akademisch gebildeten Mittelklasse aus ihrer Generation nicht als selbstverständlich einzuordnen ist, da der Verheiratung (die die selbstständige Verfolgung eines akademischen Berufs für Frauen in der Regel ausschließt) als weibliches Lebensziel bis heute ein hoher Stellenwert beigemessen wird (Meenakshi 2007). Devis akademische Ambitionen orientieren sich an dieser Vorgabe und sind politisch und sozial hoch motiviert. Allerdings handelt es sich bei ihrem Ziel, Dorfschullehrerin zu werden, um einen akademisch eher bescheidenen Berufswunsch,111 der jedoch das politische und soziale Engagement Devis, das sie in Kontinuität mit ihrer Forschungsarbeit stellt, verdeutlicht. Devi verortet in dieser Erzählsequenz ihren Kindheitswunsch, Dorfschullehrerin zu werden, als Ausgangspunkt für ihr späteres soziologisches Forschungsinteresse im Bereich des Community Development. Zugleich stellt sie damit eine Kontinuität zur früheren Arbeit ihrer Mutter her, die für Hilfsorganisationen des Ordens von Mutter Theresa in Armutsgebieten arbeitete und durch die Devi, selbst in einer wohlhabenden Umgebung aufgewachsen, dieses für sie fremde Milieu der Slums und marginalisierten Wohnviertel kennengelernt hat. Durch die narrative Herstellung einer beruflichen Identität, die bis in die Kindheit zurückverfolgt werden kann, entwirft Devi ein Bild von ihrer Berufswahl, die sich treffender als Berufung bezeichnen lässt. Eine strukturelle Parallele zur christlich motivierten Sozialarbeit, wie sie in Indien im großen Stil von den Organisationen von Mutter Theresa betrieben wird (Rai 2005), ist hier offenkundig. Devis eigene Bildungsgeschichte ist einerseits geprägt von englischsprachigen Einrichtungen sowie vom Besuch einer von christlichen Nonnen geleiteten Klosterschule, die sich der Armenhilfe widmet. The nuns used to take us to the surrounding villages. You know, there were floods those times. They were collecting grains, food grains and they were collecting clothes and things like that. And in our convent, we were very close. This work was distributed and we students were handed over this kind of work. In class 8 or class 7, we were very closely associated with this kind of work, and secondly, my mothers association with these social 111 Das Ausbildungsniveau für Lehrer und Lehrerinnen gilt in Indien als besonders niedrig (Chanana 2000).
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Migration is a male factor (Devi)
working groups. You know, missionary authority always worked with the poor. (…) It always attracted me. (D: 2219-2216)
Die Wahl einer solchen Schule steht deutlich in Kontinuität zum sozialen Engagement ihrer Mutter, die für die Entwicklung von Devis Persönlichkeit und ihre spätere Berufsorientierung einen Vorbildcharakter hat. Dabei unterstreicht Devi die Freiwilligkeit, auf der ihr Entschluss, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten, basierte. My mother never told me: “You have to do social work like I am doing.” But I used to see her very willingly. She used to do a lot of things, very willingly. There was the missionary of charity, it was, what she used to look after was after these homeless children. So, you know, their food, their clothing. I have seen that since childhood. So, I think that has affected me a lot. (D: 2257-2272)
Devi hebt hervor, dass es sich bei ihrem Berufswunsch innerhalb ihres wohlhabenden Freundeskreises um einen höchst ungewöhnlichen Weg handelt. Nur beiläufig erwähnt sie, dass ihre engagierte Mutter aus einer besonders wohlhabenden Familie kommt (D: 1477-1489) und auch deren Werdegang als Sozialarbeiterin ist für eine Tochter aus reicher Familie außergewöhnlich. Bemerkenswert für Devis eigene Entwicklung sind ganz unterschiedliche Dimensionen ihres reflexiven Zugangs zu Bildung, mit dem sie sich rückblickend sehr früh über ihre Privilegien bewusst wird, die sie als Tochter einer Familie der oberen Mittelschicht hat. Ihr früher Wunsch, Dorfschullehrerin zu werden, ist aber auch vor dem Hintergrund des indischen Bildungssystems zu verstehen, in dem Mädchen in den ländlichen Gebieten Indiens nach wie vor gravierende Benachteiligungen erfahren. Als eine der Ursachen wird in der neueren auf Indien bezogenen Bildungsforschung die Tatsache genannt, dass in Indien der Lehrerberuf nach wie vor hauptsächlich von Männern ausgeübt wird. Devi hatte mit ihrem Berufswunsch demzufolge nicht nur die Überbrückung von Normen für übliche Berufsorientierungen für Kinder aus der akademisch gebildeten Mittelschichten zu leisten, sie nahm sich damit auch vor, einen Platz in einer überwiegend männlich besetzten Berufsdomäne zu erobern.112 Auch wenn sie diesen 112 Als Ursachen für den erschwerten Zugang zu Schulbildung für indische Mädchen werden unterschiedliche Faktoren diskutiert, wobei unzureichende sanitäre Anlagen und ein Mangel an Lehrerinnen sowie ein damit verbundener curricularer Gender Bias zentral sind. Die Alphabethisierungsrate von Frauen ist in Indien in den letzten Jahren zwar graduell gestiegen, aber sie ist noch immer deutlich geringer als die männliche Alphabethisierungsrate. Mädchen werden seltener in Schulen angemeldet als Jungen und sie haben zugleich eine höhere Drop-OutRate. Diese Ungleichheiten in der Schulbildung für Jungen und Mädchen gelten vor allem für ländliche Regionen Indiens, während in den Großstädten das Bildungsniveau von Jungen und
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Wunsch nicht realisierte und ein Berufsziel anstrebte, das eine deutlich höhere Qualifikation beinhaltete, engagierte sie sich für Marginalisierte in Armutssiedlungen und begründet diese Motivation mit ihrem Wunsch, politische und soziale Veränderungen zu bewirken: „You get mentally very upset if you continuously work there.“ (D: 2287-2289) Devi entschied sich schließlich für ein Soziologiestudium113 und begann Feldforschungen über von Gewalt betroffene Mädchen und Frauen in den Slums, für deren besonders schwierige Lebenslagen Devi von Anfang an sensibilisiert war (D: 182-185). So, basically, I am a sociologist. And women in society were one of the major topics under which I did my work. The first research which I took up was to look at the girls child labour in the slums. So I was staying there to see how they work and how they live and to see their daily life. (D: 162167)
Für ihre Arbeit als Soziologin ist Devi der Feldkontakt besonders wichtig. Für sie bedeutet diese empirische Orientierung, die sie mit sozialem Engagement verbindet, dass sie über mehrere Monate unter sehr schwierigen und ärmlichen Bedingungen Feldforschungen in den Slums durchführt. I was there, but I lived with them, it was like, you know, being in family. I had to give up a lot of things to be with them. Were water was so appalling, water was dirty, well – they did not have proper sanitaries, there were so many other things. But the thing was, the satisfaction was, that I could do a little bit for them. (D: 172-180)
In dieser Erzählsequenz wird deutlich, dass Devis Selbstverständnis als Soziologin eng mit ihrem sozialen Engagement verbunden ist. Diese Kontinuität zur sozialen Arbeit der Mutter ist eng verknüpft mit Devis sozialem und politischen Idealismus, der jedoch weniger vom Gedanken christlicher Nächstenliebe getraMädchen angeglichen wurde. Der indische Zensus von 2001 beziffert die Alphabetisierungsrate für die Gesamtbevölkerung mit 65,38 Prozent. Aufgrund der gestiegenen Einschulungsraten ist auch die Alphabetisierungsrate bei Kindern angewachsen. Es gibt jedoch gravierende Unterschiede zwischen dem Alphabetisierungsniveau in ländlichen und städtischen Gebieten sowie zwischen den Geschlechtern. Vergl. Mukherjee (2007) sowie Census of India (2001). 113 Der Besuch höherer Schulen und Universitäten ist in Indien höchst abhängig vom sozialen und ökonomischen Status. Während im Jahr 2000 annähernd die Hälfte der wohlhabenderen Bevölkerung die Hochschulreife erlangte (und von diesen wiederum fast die Hälfte ein Studium aufnahm), waren es bei der als Adivasi bezeichneten benachteiligten Ursprungsbevölkerung und den unteren Kastengruppen nur 9 bzw. 14 Prozent. Die Spitzenuniversitäten mit ihren hochgradig selektiven Auswahlverfahren bleiben für Jugendliche aus ökonomisch schwachen Familien verschlossen, weil schon der obligate private Zusatzunterricht zur Vorbereitung auf die Aufnahmetests der Universitäten nicht finanziert werden kann.
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gen ist als von einer wissenschaftlichen Reflexion sozialer Ungleichheitsverhältnisse, wie sie in den postkolonialen sozialphilosophischen Ansätzen Gayatri Spivaks mit der Forderung danach, „Privilegien zu verlernen“ (to unlearn priviledge) gefordert werden.114 Für Devis wissenschaftliches Engagement gewinnt die Forschung und Kooperation mit NGO’s der indischen Frauenbewegungen und ihr damit verbundener politischer Enthusiasmus einen hohen Stellenwert. Devi verortet ihr Lebensgefühl zum Ende ihres Studiums und zu Beginn ihrer Forschungsaktivitäten in Indien in einer politischen Aufbruchstimmung, die von einer Aktivitätswelle der Frauenbewegungen in Indien zu Beginn der 1990er Jahre getragen und beeinflusst wurde. Devi beschreibt diesen selbstreflexiven und gegen unterschiedliche Dimensionen sozialer Ungleichheit und Exklusion engagierten Kontext der indischen Frauenbewegungen als Inspiration für ihren Entschluss, sich wissenschaftlich weiter zu qualifizieren. But then, still, that thing of community work was growing very prominent within me, you know. I couldn’t give up that part. So one event when I was in college, that was in graduations, in the early 90s, that was 93, 94, 95, there were gender-related movements in the city of Madivia. I was living in the eastern part of India at that time, and a lot of awareness-movements where there. So I directly could take part in those movements. (…) And I related my entire thing with academics and higher education and the focus was getting really narrow. And this was exactly what I wanted. (D: 106-129)
114 Spivak hat mit ihrem Grundlagenaufsatz postkolonialer feministischer Theoriebildung „Can the subaltern speak?“ (Spivak 1988) die Kategorie „Frau“ problematisiert und diesen um den postkolonialen Begriff der „Subalternität“ erweitert. Dabei entwickelt Spivak einen kritischen Blick auf Praktiken der Repräsentation. Die Pointe dieses Textes, der zu den Klassikern feministischer Theoriebildung zu zählen ist, meint nicht, wie der Titel suggeriert und in der Rezeption häufig missverstanden wurde, dass die subalterne Frau nicht sprechen kann, sondern dass die Entwicklung eines Verständnisses für dieses Sprechen sich in einem inadäquaten Zustand befindet. Eine politische Schlussfolgerung, die Spivak aus diesem grundlegenden sozialen Ungleichheitsverhältnis zieht, das sie insbesondere für die Ebene der Repräsentation ausarbeitete, ist ihre Forderung danach, Privilegien zu verlernen. Das „Verlernen von Privilegien“ umfasst im Konzept Spivaks nicht nur die Geschlechterverhältnisse, sondern auch Klassenverhältnisse und – aus der Perspektive der postkolonialen Kritik ganz zentral – globale Ungleichheitsverhältnisse. In Indien werden die Texte von Spivak, die als Philosophin und Literaturwissenschaftlerin in den USA lehrt und sich zugleich in Praxisprojekten in Indien über Jahrzehnte politisch und als wissenschaftliche Lehrerin engagiert hat, breit rezipiert. Devi hat in einem Gespräch im Anschluss an das narrative Interview die Bedeutung der Texte Spivaks für ihre eigene Arbeit hervorgehoben und deutlich gemacht, dass postkoloniale feministische Theorieansätze im Kontext ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeit einen zentralen Stellenwert besitzen.
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Durch ihr Studium gelang es Devi einerseits, ihr Interesse und Engagement für sozial marginalisierte Frauen in den Slums und in den ländlichen Regionen Indiens in wissenschaftliche Fragestellungen zu übersetzen. Devi bewegte sich dabei in einem akademischen Spektrum, das Gewaltverhältnisse gegen Frauen in Indien kritisiert und wissenschaftliche Strategien zur Veränderung der Geschlechterverhältnisse in Indien entwickelt. Dabei wird deutlich, dass die unterschiedlichen Stränge der Frauenbewegungen in Indien zwar durch die Kategorie „Geschlecht“ eine wichtige Gemeinsamkeit aufweisen, zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen von Frauen bestehen jedoch in Hinblick auf den sozialen Status und Bildung sehr große Unterschiede. Die akademische Frauenbewegung in Indien, zu der sich Devi zählt, entwickelt – häufig in enger Kooperation mit NGO’s – praxisorientierte Forschungen für marginalisierte Frauen und Mädchen, die eng mit politischen Zielsetzungen verknüpft sind.115 So, associating with all these movements, I think that the entire idea of really doing more vivid research on this status of women in India, or the status of women. What they are and how much they are you know, what is their status in the family, the oppression of women and the role of patriarchy which is very prominent in our societies. So, going deep into how our movements would really help them or not. You know, such questions were very prominent. There were a lot of movements, there were a lot of writings, there were a lot of graffiti and, you know, as a student, we did all this. It was such a new thing to us. We thought that; O.K., today I write this graffiti and tomorrow the society is going to change, you know. This kind of attitude, this kind of spirit we were having. (D: 129-150)
Ihr Studium gewinnt damit eine Bedeutung als Ressource sowohl für ihre akademische als auch ihre politische Entwicklung. Devi beschreibt ihre Studienzeit als inspirierenden Aufbruch, in dem politische Aktionen und der Wille, Ungleichheitsverhältnisse zwischen den Geschlechtern zu verändern, eine große Rolle spielten. Devi entwickelte im Kontext der Frauenbewegungen eigene Forschungsprojekte, die sie in den Slums durchführte. Dabei wurde sie während einer Feldphase besonders auf das Problem häuslicher Gewalt gegen Frauen aufmerksam (D: 165-180). Zur Vorbereitung ihrer Implementationsforschung eines Frauenhauses in den Slums einer indischen Großstadt, engagierte Devi sich für die Vernetzung von feministischen NGO’s und knüpft ihre Forschungs115 Vergl. zur indischen Frauenbewegung den Sammelband von Khullar und Taehakkoy (2005) sowie Aguihotri und Mazumdar (2005) und Butulla (2005). Zur deutschsprachigen Literatur zu weltweiten Frauenbewegungen siehe Lenz, Mae und Klose (2000) sowie Lenz, Szypulsky und Mosich (1999).
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arbeit in Deutschland an diesen Kontext der indischen Frauenbewegung. Das Netzwerk feministischer NGO’s, mit denen sie in Indien zusammenarbeitete, bildet für ihre Forschungsarbeit in Deutschland einen transnationalen Bezugsraum, der als berufliches und soziales Netzwerk einen wichtigen Ankerpunkt für ihre Rückkehr nach Indien bildet. And there is a network of organisations, political, social and centreassociates who work with building for the urban under-class. There are NGO’s who work on domestic violence in that particular area. So I have created a network there. On behalf of this entire network, I am here to do the project. (D: 212-218)
Mit der Gründung dieses Netzwerkes hat Devi sich selbst eine Ausgangsbasis für ihren erneuten Forschungsaufenthalt in Deutschland und ihre anschließende Rückkehr nach Indien geschaffen und zugleich einen institutionellen Kontext für ihre Implementationsforschung und die Gründung eines Frauenhauses in Indien hergestellt, dem sie sich mit ihrer Forschung in Deutschland verpflichtet fühlt. Ihre Arbeit ist dennoch nicht ausschließlich als wissenschaftlicher Qualifikationsschritt zu sehen, sondern ihre Arbeit ist auch explizit politisch situiert. Damit kreiert Devi einen regional lokalisierten Rahmen für ihre transnational ausgerichtete Forschung zwischen Indien und Deutschland, durch den sie sich sowohl als akademische Aktivistin der Frauenbewegung in Indien als auch als Wissenschaftlerin in Deutschland verorten kann (D: 219-227). Durch die Verbindung von Forschungsräumen in Südasien und Westeuropa stellt Devi eine Transnationalität her, durch die ein neuartiger Ansatz für die Entwicklung von Communities in den Armutsvierteln Indiens entsteht. Die Implementationsforschung Devis stellt für den regionalen Kontext Indiens einen Ansatz dar, mit dem erstmals der Aufbau eines Frauenhauses in den Slums ermöglicht wird. Mit dem Modell westlicher Frauenhäuser vergleichbare Modelle existieren zwar bereits in Indien, allerdings richten sich die bestehenden Einrichtungen nicht an marginalisierte Frauen in den Armutsvierteln, sondern sie stehen Frauen aus wohlhabenderen Schichten offen, die für ihren Aufenthalt bezahlen müssen. For middle-class-women, there are short-stay-homes in big cities. And you can pay for them. These women, they can afford it. But, you know, these women, who are domestic servants in the neighbourhoods or who are in a very temporary framework of job. And who are not sure of their tomorrow. You know, to give them shelter, it becomes a major question. (D: 260-269)
Für die Entwicklung ihrer Forschungsperspektiven sind für Devi nicht nur ihre eigenen Feldforschungen in den Slums, sondern auch internationale Kontakte bedeutsam. Auf Forschung in internationalen Kontexten war sie bereits neugie-
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rig geworden, als sie am internationalen Zentrum ihrer Hochschule arbeitete und Kontakt mit Studierenden und Lehrenden aus Kanada und Europa hatte. Auch für Devis Aufbruch zeigt sich, dass das Kennenlernen von internationalen Perspektiven und das Erschließen eigener Möglichkeiten in transnationalen Kontexten eine initiierende Wirkung für das Mobilitätsverhalten besitzt. In diesem Kontext wird Devi auch auf die Ausschreibung der Internationalen Frauenuniversität aufmerksam, die an ihrer Hochschule für ihr Programm warb. Für Devis Bewerbung ist die Unterstützung durch ihre Professorin besonders wichtig, die sie dazu ermunterte, sich an dem Studienprogramm zu beteiligen. Why don’t you apply? You have been working on slums and cities for so long and it exactly suits the type of course you have been looking for, you know, she told me, why don’t you gather some experience of studying abroad? (D: 435-447)
Für Devis Mobilitätsentschluss ist diese Aufforderung durch ihre Lehrerin für eine ifu-Bewerbung von besonderer Bedeutung, weil der Gedanke, allein ins Ausland zu gehen, sich in erster Linie mit Ängsten vor Einsamkeit und vor unbekannten Situationen verbindet. Der Entschluss nach Deutschland zu gehen, liegt für Devi vor allem wegen der Sprache, die ihr nicht vertraut ist, zunächst nicht nahe. Die Entscheidung für ein ifu-Studium fällt ihr jedoch leichter, als sie feststellt, dass das gesamte Material der ifu in englischer Sprache verfügbar ist. Für Devi ist das Studium an der ifu der erste längere Auslandsaufenthalt zu dem sie allein aufbricht, obwohl sich ihre Europakenntnisse zu dem Zeitpunkt auf das Land der ehemaligen indischen Kolonialherren, Großbritannien, begrenzen. Devis Entschluss für einen Studienaufenthalt in Deutschland stellt damit einen Aufbruch in ein weitgehend unbekanntes Land dar und weicht vom Mobilitätsverhalten der Mehrheit indischer Auslandsstudierender ab.116 And then, it was a different feeling altogether because that was the first time I was coming abroad to study. So, it was very exciting rather and in school we had world history wherein we read a lot about European history and, you know, witnessing some of the kings. You know, it was a different experience altogether. (D: 465-473)
116 Die Zahlen aus der DAAD/HIS-Erhebung über die wichtigsten Herkunftsländer internationaler Gastwissenschaftler/innen zeigen, dass die Gruppe indischer Wissenschaftsmigrant/inn/en nach mobilen Wissenschaftlern aus der Russischen Föderation und aus China die drittgrößte Gruppe in Deutschland darstellt. Im Jahr 2006 wurden 1.282 indische Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler gezählt, allerdings ist hier lediglich die Gruppe der Geförderten berücksichtigt (DAAD/HIS 2008: 70f).
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Die ifu als Hochschulentwicklungsprojekt und Pilotvorhaben zur Förderung des internationalen weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchses stellt für Devi eine neuartige Option zur Gestaltung transnationaler Mobilität dar und führt dazu, dass sie als Wissenschaftsmigrantin schließlich ein Land auswählt, das zuvor nicht in ihren Plänen für ihre wissenschaftliche Karriereentwicklung aufgetaucht ist. Mit dem ifu-Programm bietet sich die Möglichkeit für einen ersten eigenen wissenschaftlichen Auslandsaufenthalt, in dem sie ihre bisherige Forschung in einem internationalen Kontext weiter entwickeln kann. Angesichts der Unterschiede zwischen Indien und Deutschland gewinnt die Suche und das Auffinden von vertrauten Menschen und Strukturen für Devi eine überraschend große Bedeutung. Schon mit Beginn der ersten Erzählsequenz über die ifu berichtet sie, dass sie dort auf Wissenschaftlerinnen trifft, die aus der gleichen indischen Stadt kommen wie sie. Auch für ihre Entscheidung, nach ihrer Rückkehr nach Indien ein zweites Mal nach Deutschland aufzubrechen, ist es besonders wichtig, dass sie durch die ifu bereits Orte und Menschen kannte (D: 475ff). Eine Aufbruchstimmung, die von Neugierde und Spannung bestimmt ist, beschreibt sie jedoch auch in diesem Fall nicht. Devi schildert dagegen sehr ausführlich, dass beide Wissenschaftsmigrationen, die sie von Indien nach Deutschland und zurück führten, davon bestimmt waren, dass sie sich vor Fremdheitsgefühlen fürchtet. Die Suche nach bekannten Menschen und Fixpunkten bildet für Devis transnationale Lebensführung ein Koordinatensystem, in dem sie sich orientiert und zurechtfindet. I had a phobia of getting lost in big unknown places. So, it must be psychological that I wanted to come back to Grünberg and I had a lot of friends who were studying in Grünberg from India in the technical school. In the engineering department there are a lot of boys who are coming from my community. So, the city was known to me. (D: 512-519)
Devis Wunsch, sich als mobile Wissenschaftsmigrantin nicht zu fremd zu fühlen, führt sie auch auf gemeinschaftsorientierte Lebensformen zurück, an die sie aus Indien gewohnt ist. Dabei spielen familiäre Bindungen eine besonders große Rolle und Devi ist unsicher, wie sie sich mit der Situation arrangieren wird, von ihren Verwandten getrennt zu sein. Devi führt diese Ängste auf kulturelle Traditionen und Zugehörigkeiten zurück, und sie beschreibt familiäre Verbindungen als eine für Indien typische Lebensweise, die ihr selbst viel bedeutet. In India, since we live in joined families, or within the family, it’s not very easy for us to understand what will happen if we live alone in a faraway
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place, with, you know, no relatives, no people whom we know. And probably, we don’t even speak the language. (D: 1351-1358)
Der englischsprachige internationale Studien- und Forschungsalltag der ifu ist für Devi ein transnationaler Kontext, bei dem sprachliche Probleme für ihren Campusalltag nur eine geringe Bedeutung besitzen und sie erlebt die ifu als Sprungbrett für ihren nächsten Auslandsaufenthalt. Bei der ifu lernt sie andere Nachwuchswissenschaftlerinnen kennen, die ebenfalls ihre Promotionen vorbereiteten. Sie nimmt sowohl zu ihrer späteren Betreuerin als auch zu weiteren Personen, die für ihre Forschung relevant sind, Kontakt auf und es ist ihr wichtig, auch einige Bekannte in Grünberg zu haben, um eine Basis für eine spätere Rückkehr in die Stadt zu haben. It was made possible through ifu, so I mean that through coming to ifu, I made a lot of contacts here. I feel now, it’s very important. (D: 2497-2499)
Ebenso wie für ihren Aufbruch aus Indien die Ermunterung durch eine Professorin wichtig ist, stellt der Kontakt mit ihrer späteren PhD-Betreuerin, die sie bei der ifu kennenlernte, einen wichtigen Bezugskontext dar, auf dessen Basis es ihr erst möglich wurde, ihr PhD-Forschungsprojekt zu entwickeln und den erneuten Forschungsaufenthalt in Deutschland vorzubereiten. Sie sucht das Gespräch mit der gewünschten Betreuerin für ihre Doktorarbeit und es gelingt ihr auf Anhieb, sie für ihre Idee zu interessieren und auf der Basis dieses Kontakts ihr Forschungsprojekt zu entwickeln. Bei der Wahl ihrer Betreuerin handelt es sich nicht um eine Soziologin, sondern um eine Professorin aus einer Nachbardisziplin. Für Devi bedeutet diese Entscheidung zusätzlich, dass sie nicht nur in einem ihr unbekannten kulturellen Kontext ihre Forschung durchführen wird, sondern auch einen disziplinären Brückenschlag zu bewältigen hat. Dies hält sie aber nicht davon ab, ihren Entschluss für einen Auslandsaufenthalt während der Promotionsphase in die Tat umzusetzen. Then I had a short discussion with Professor Hörster. And so she said “You can go back home and send me a proposal. Give me an idea what you want to do for your PhD. If it is appropriate, you could come back and do your PhD”. So I did that. (D: 535-545)
Die Entschlossenheit, die Devi aus diesem Signal für sich ableitet, führt dazu, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Indien in kurzer Zeit ihre Examen abschließt, eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin erhält und von dort aus eine Projektskizze für ihre international vergleichende PhD-Forschung schreibt. Eine weitere Grundlage für die Entwicklung ihres PhD-Projekts bildet der Kontakt zu einer weiteren Professorin in Deutschland, die die Arbeit von Devi unterstützt.
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In diesem Fall wird deutlich, dass die Beziehung weniger von einem Austausch auf der fachlichen Ebene getragen wird als auf der Ebene des Networking stattfindet. Diese Professorin ist eingebunden in ein Freundschaftsnetzwerk (D: 2464-2472), zu dem Devi durch die ifu ebenfalls Zugang findet und die Professorin stellt sich als Gutachterin zur Verfügung, die Devi bei der Beantragung eines Stipendiums unterstützt. She really was an important factor. She is and she has been another motivating person. Well, I did not discuss much of my work with her, but the possibility of continuing my PhD-work here. What are the possibilities? She has been very informative about that. (D: 2415-2428)
In diesen Erzählsequenzen zeigt sich die Bedeutung, die direkte Kontakte für die Entwicklung transnationaler Wissenschaftsmobilität besitzen und dass die lokale Ausrichtung der Mobilitätsaktivitäten sich an den vorhandenen Kontakten und Mobilitätsmöglichkeiten orientieren. Devis Selbstkonzept für ihre Karriereentwicklung als Wissenschaftlerin schloss ursprünglich keinen Aufenthalt in Deutschland ein. Aber das Studienangebot der ifu, das eine hohe Anschlussfähigkeit für ihre bisherige Forschung besitzt, korrespondiert mit ihren eigenen Mobilitätswünschen, die sie schon vor ihrem Studienaufenthalt bei der ifu entwickelt hat. Mit internationaler Mobilität verbinden sich für Devi und ihre Familie in erster Linie bessere Möglichkeiten für den Karriereaufstieg in Indien, wo ein Auslandsstudium als Eintrittskarte zu Führungspositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen gilt. Auch für Devis Familie ist eine internationale Ausbildung eine Vorstellung, die sie mit der Zukunftsplanung für die Tochter verbindet. Der Lebensstil von Devis Familie orientiert sich dabei nicht an den Gendernormen, die für gebildete wohlhabende indische Familien die Regel darstellen und in denen einer eigenständigen Karriereentwicklung von Frauen kein Raum zur Verfügung steht (Radhakrishnan 2008). Für Devi ist ihre berufliche Unabhängigkeit eine Selbstverständlichkeit, die sie aus dem Lebensstil ihrer Familie ableiten kann. Die Berufswege beider Eltern sind für sie dabei ein Vorbild. Während das soziale Engagement der Mutter als Sozialarbeiterin in den Slums die Entwicklung ihrer Forschungen inhaltlich inspiriert, wird das Auslandstudium ihres Vaters zum Gestaltungsmodell ihrer eigenen Mobilität als Wissenschaftlerin. He did his management from the UK, the engineering from there. So, he had the vision in the mind, daughters should also have the western education. So, since I was an academic, he always pushed and encouraged me: “You should, you know. I studied there and you should also do it”. So, it was perhaps also a big support. (D: 1331-1343)
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In Devis Familiengeschichte spielt die Tatsache, dass sie sowohl vom Vater als auch von der Mutter in ihrem Bildungsweg sehr stark unterstützt wird, eine große Rolle. Das Auslandsstudium des Vaters wird für Devi zum Modell ihrer eigenen Wissenschaftsmobilität und sie erfüllt damit die Erwartungen und Zukunftsvorstellungen, die er für seine Tochter entwickelt (D: 1358-1368). Dabei ist seine Haltung in Bezug auf Devi durchaus ungewöhnlich und entspricht nicht den Gendernormen, denn üblicherweise werden auch in wohlhabenden indischen Familien insbesondere die Söhne in ihrer Karriereentwicklung gefördert. Devi selbst führt ihre familiäre Unterstützung nicht ausschließlich auf den fortschrittlichen Geist ihres Vaters zurück, sondern auch auf die Tatsache, dass in ihrer Familie keine Söhne geboren wurden und sie als Tochter an Stelle eines Sohnes eine ausgezeichnete Bildung erhält und ihre wissenschaftliche Karriere entwickeln kann. I don’t have a brother. So we are two sisters, so. Fortunately we got to go to good schools and good colleges and good universities. But he always wanted to get us once to study abroad. He thought that staying and living out of house, gathering your own experience, it is very important in life. (D: 1344-1354)
Devi beschreibt ihre familiäre Gender-Position, die sie an Stelle eines männlichen Nachkommen einnimmt, im indischen Kontext als außergewöhnlich und Devi macht die Erfahrung, dass ihre Familie sie fördert, nicht obwohl, sondern weil sie eine Frau ist. Devi und ihre Schwester werden von ihren Eltern nicht als defizitär betrachtet, sondern sie fördern sie in ihren Bildungsprozessen besonders intensiv. Devi betont, dass es in der Familie eine sehr hohe Wertschätzung für Bildung und die Entwicklung von akademischen Karrieren gibt, die sie als Ressource nutzen kann. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich, als sie von ihrer Schwester erzählt, die sich nach ihrem Architekturstudium gegen die Karrierevorstellungen, die ihre Eltern für sie hegen, für ein traditionelles Eheleben entscheidet. Devi findet hier für ihren Narrationsstil ungewöhnlich direkte Worte, mit denen sie den Entschluss der Schwester beschreibt, ihre akademische Karriere zu beenden und zu heiraten: „my sister opted out“.117 Diese Formulierung ist bemerkenswert, denn dies ist zugleich die einzige Sequenz im gesamten Interview, in der Devi eine vergleichsweise konfrontative Bemerkung macht und die Schwester offen kritisiert. Im restlichen Interview erweist Devi sich in
117 Seit Anfang der 2000er Jahre wird in der medialen Diskussion in den USA unter dem Stichwort „opting out“ das Phänomen diskutiert, dass hoch qualifizierte Frauen sich gegen eine Karriere entscheiden, sobald sie Kinder bekommen haben. Eine empirisch informierte Aufarbeitung dieser Diskussion findet sich bei Stone (2007).
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ihrem Erzählverhalten als eine Meisterin der Diplomatie, die sehr viel Sorgfalt darauf verwendet, keine direkte Kritik an Personen und ihrem Handeln oder auch an institutionellen Settings zu äußern. An dieser Stelle zeigt sich, dass Devi anders als die Schwester den Weg einer eigenständigen wissenschaftlichen Karriere wählt, die noch dazu temporäre Forschungsmigrationen ins Ausland beinhaltet. Für Devi bedeutet dies zum Zeitpunkt des Interviews auch, sich für ein Leben als Single entschieden zu haben. Ihre Eltern bleiben für sie die wichtigste Quelle emotionaler Unterstützung, die ihr die Freiheit und die Sicherheit für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Karriere geben, ohne sie zu einer Heirat zu drängen. It was a support. I never felt it as a pressure, you know. Maybe it wouldn’t have been possible as my sister opted out. She wanted to be something else and that was O.K. with them. So, they never stopped me. “If you want to do something, it should be your decision.” You know, there was no barrier from them. Like, you can’t do this, you can’t do that, or you have to get married, things like that. You have to have a house for yourself. Like those pressures I never had. You know, marriage is very important for us in India. (D: 2534-2548)
Deutlich wird an dieser Stelle aber auch, dass sie ihre kulturelle Zugehörigkeit (for us in India), die sich auch durch die Orientierung an Gendernormen konstituiert (marriage is very important) und die wirtschaftlich abhängige Verheiratung von Frauen beinhaltet, in einem widersprüchlichen Verhältnis zu ihrem eigenen Geschlechterrollenverständnis sieht, das sie selbst anders definiert als mehrheitlich in der Kultur üblich, der sie sich zugehörig sieht. Dieses Spannungsverhältnis drückt sich auch darin aus, dass Devi für ihren an familiären Gendernormen orientierten Lebensweg, der mehr weibliche Freiheiten beinhaltet als sie Frauen aus Mittelschichtfamilien in Indien üblicherweise zugestanden werden (Radhakrishnan 2008; Ganguly-Scrase 2003; Sharma-Brymer und Fox 2008),118 zugleich eine Ausschließlichkeit von Familie, Kinderwunsch und Berufstätigkeit als Wissenschaftlerin formuliert.
118 In der neueren Diskussion wird zunehmend eine Veränderung weiblicher Lebensentwürfe indischer Frauen in den Blick genommen, die der Mittelschicht angehören und als „neue indische Frau“ zelebriert wird, die zwischen westlich orientiertem Modeverständnis, sexuell unabhängigen Weiblichkeitsentwürfen und der Karriereentwicklung von Frauen oszillieren. Dabei werden sowohl mediale Diskurse als auch der Einfluss von Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen als wichtige Faktoren wahrgenommen. Es ist allerdings zu betonen, dass alternative Genderrollen nicht unabhängig von der sozialen Schicht und ethnischer Zugehörigkeit zu betrachten sind und die Diskurse über die „neue indische Frau“ zu differenzieren sind, da sie altersabhängig und an die soziale Herkunft gebunden sind.
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I can handle one thing at a time. It’s difficult as a researcher to have a family. I always feel that. (D: 2553-2560)
Für Devi stellt sich ihre familiäre Situierung als eine Position des „undoing gender“dar, in der sie als Tochter unabhängig von ihrem Geschlecht an dieselbe Stelle rückt wie es für einen Sohn üblicherweise vorgesehen gewesen wäre. Die Exzeptionalität, die sie durch die besondere Zuwendung und Förderung durch ihre Eltern erfährt, hebt sie an zahlreichen Stellen des Interviews hervor und sie betont, dass sich ihr durch diese Erfahrung Türen öffnen, die für andere indische Frauen nicht im Bereich des Möglichen liegen. Vor allem ihre Mobilität als Wissenschaftlerin, die sich am Wunsch und Vorbild des Vaters orientiert, steht quer zu den gesellschaftlich üblichen biographischen Mustern, die für Wissenschaftlerinnen gelten. Für Devi sind damit zwei Aspekte in der Beziehung mit ihren Eltern besonders wichtig. Zum einen erlebt sie deren konstante Unterstützung zur Selbstständigkeit als Ermutigung, zum anderen kann sie sehr selbstbewusst nicht-konforme Genderpraktiken entwickeln, weil die Eltern ihr spiegeln, dass ihre Lebensform von ihnen geschätzt und gefördert wird und keinerlei familiäre Auflagen zur Erfüllung von gesellschaftlich konformen Gendernormen eingefordert werden. Devi erfährt dies als ganz außergewöhnliches Privileg, das sie gegenüber anderen gebildeten Frauen in Indien besitzt und ihr ermöglicht, ihre Forschung im Ausland durchzuführen. Wissenchaftsmigration ist in Indien unter männlichen Studierenden und Promovierenden zwar weit verbreitet, aber für Frauen stellt dies keineswegs eine übliche Option dar. Devi hebt im Verlauf des Interviews immer wieder hervor, dass ihre transnationale Lebensführung durch mehrere unterstützende Kontexte ermöglicht wurde. I had a very encouraging atmosphere. That: “O.K., if you want, you decide it. If you want to do this, then go away.” But this is not a very common phenomenon. (D: 1395-1399)
Devi beschreibt, dass sie als transnationale Wissenschaftsmigrantin in der Aufbruchsituation in Indien zwar sowohl von ihrer Professorin als auch von ihren Eltern unterstützt wurde. Auf diese Weise war es ihr möglich, damit eine für Frauen ganz ungewöhnliche gesellschaftliche Position zu erobern. Auch hier hebt Devi in mehreren Interviewsequenzen hervor, dass sie von ihren Eltern besonders unterstützt wird. Für ihre Mutter ist die Außergewöhnlichkeit des Karrierewegs ihrer Tochter ein zusätzlicher Ansporn für ihre Unterstützung. It’s not very common. But this was a push-factor for my mother. They all encouraged me. And there was a lot of support from them. Without it, it is not possible. (D: 1412-1416)
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Modern urban educated families in India would rather not allow a person by herself to study, because our society system is very different. But THIS is what I never faced. (D: 1421-1425) In most of the cases, migration of the students is mostly a very male factor for us. (D: 1380-1382)
Es wird deutlich, dass die Unterstützung der Eltern für Devi ein entscheidendes biographisches Moment ist. Diese Muster familiärer Unterstützung sowohl durch den Vater als auch durch die Mutter ermöglichen es Devi entgegen geltender Gender-Normen, die Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Karriere als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Und es gelingt ihr auch auf der institutionellen Ebene der Hochschule, weiterhin Unterstützung zu erhalten. Sie entwickelt vor diesem Hintergrund einen mehrdimensionalen Zugang zu Gender, der im Rückblick auf ihre Kindheit und die wissenschaftliche Ausbildung von Devi als Ressource reflektiert wird. So hebt sie immer wieder hervor, dass sie selbst keine Nachteile aufgrund ihres Geschlechts erfahren hat. Im Gegenteil, ihre Eltern seien besonders stolz auf ihre Erfolge, gerade weil sie eine Frau ist. Vor diesem Hintergrund, in dem sie Gender als widerständige soziale Ressource erlebt, entwickelt Devi eine sehr hohe Sensibilität für soziale Ungleichheitsverhältnisse zwischen den Geschlechtern und sozialen Schichten und widmet diesen Zusammenhängen auch ihre Forschung.
8.3
Ankommen: “You really need a good colleague to retain in a place”
Devis Entscheidung, nach der ifu abermals und dieses Mal für einen längeren Forschungsaufenthalt nach Deutschland zu gehen, orientiert sich vor allem an der Vorstellung, dass ihr die Stadt und die Hochschule, an die sie zurückkehrt, durch ihren ersten Auslandsaufenthalt bereits vertraut ist. Sie kann auf ihre wissenschaftlichen Beziehungen zur Betreuerin ihres Promotionsprojekts und zu einer weiteren Professorin bauen. Auch zu den Mitarbeiterinnen des Frauenhauses hat sie bereits erste Kontakte geknüpft. Es ist ihr besonders wichtig, dass sie den Ort Grünberg und seine lokalen Eigenheiten bereits kennt und sie hat dort emotionale und soziale Bindungen aufgebaut, die sie während der Rückkehrphase nach Indien pflegt und Aufrecht erhält. I made a lot of friends who were not connected anywhere with the ifu. (…) There were many people from other disciplines, (..) from the university. So, it was // I still have got them, within two years that I was back, so, / we
You really need a good colleague to retain in a place
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were still interacting. And then I never knew that I was coming back. I knew that I wanted to but I didn’t know whether this would get accepted here. So, it was so nice to see them back again. You know. And then, I NEVER feel that I don’t know this place. When I tell this to my professor, she tells me, there is time to live in Grünberg, if you like the place so much. (LACHEN) So, it is NOT that, but I feel, I feel so very, very much at HOME here, maybe because of the known places. This second time when I came here, that anxiety was not there in me, you know. That, what happened? I know the Bahnhof, I know the Hauptbahnhof. I know the Straßenbahn. I know the sounds of the Halt-Stations, and, you know, everything seems very similar. So that was very nice. I felt very good the day I came back again. (D: 1795-1814)
Devi beschreibt hier die starke lokale Bindung, die sie für die Stadt empfindet, in die sie abermals migriert. Diese Bedeutungen des lokalen Raums macht sie nicht nur an visuellen, sondern auch an akustischen Eindrücken fest, die für sie die Wahrnehmung dieser Stadt bestimmen.119 Die Tatsache, dass sie in eine bereits bekannte Umgebung zurückkehren kann, ist für die Entwicklung eines Gefühls von „Ankommen“ und „Zuhause-Sein“, das sie ganz konkret anspricht und für sie mit der Empfindung von Glück verbunden ist. Sie tritt ihren zweiten und dieses Mal für zwei bis drei Jahre geplanten Forschungsaufenthalt nicht mit Ängsten vor Fremdheitserfahrungen an und sie kehrt in ein soziales und wissenschaftliches Netzwerk zurück, das sie sich während ihres ersten Aufenthalts in Grünberg aufgebaut und in der ersten Pendelphase auch von Indien aus gepflegt hatte. Durch diesen Hintergrund erscheint Devi die deutsche Stadt nicht mehr fremd und die damit verknüpfte starke lokale Bindung ist ein Synonym für die Möglichkeit, sich zuhause zu fühlen, obgleich Devi von ihrer Familie, deren Bedeutung sie im Interview immer wieder unterstreicht, für einen langen Zeitraum getrennt ist. Die Vorstellung, sich in Grünberg vorübergehend zuhause zu fühlen, basiert vor allem darauf, dass sie hier bereits eine erste kürzere und sehr positive Erfahrung während ihres ifu-Aufenthalts gemacht hat. Perhaps, if I never came to ifu, I would never have wanted to do a collaborative project with a western country. I don’t think I would have thought for it. But, you know, coming here, the experience was in FACT good, that’s
119 Dieser Befund steht im Gegensatz zur These der De-Lokalisierung und des „Verschwindens“ von Raum in Globalisierungsprozessen (Harvey) und zeigt, dass Raum in transnationalen Lebensweisen durchaus eine Bedeutung besitzt. Vergl. die korrespondierenden Ergebnisse von Nowicka (2006) sowie die raumsozioloischen Debatten bei Löw (2001, 2008) und Schroer (2006, 2008)
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why I thought of coming back. If the experience was not good, rather I wouldn’t have come. (D: 1755-1762)
Die positiven Eindrücke beflügelten Devis Idee, ein Forschungsprojekt in Deutschland durchzuführen und die Finanzierung durch Antragstellungen zu sichern. Es gelingt ihr, ein Dissertationsstipendium für ihren Forschungsaufenthalt in Deutschland zu bekommen. Allerdings erhielt sie zunächst nur eine Zusage für ein Start-up-Stipendium mit einer Laufzeit über einen Zeitraum von drei Monaten. Devi berichtet, dass ihr von der bewilligenden Institution – einer privaten Stiftung der Industrie – die Verlängerung ihres Stipendiums in Aussicht gestellt worden ist. Zu ihrem Erstaunen realisiert sich diese Hoffnung jedoch nicht, da die Kriterien zur Vergabe von Stipendien kurzfristig verändert wurden. Als Devi ihren Folgeantrag nach Beginn der Feldforschungen von Deutschland aus stellt, erhält sie die Antwort, dass nunmehr ausschließlich Projekte mit einem Technikbezug in den Förderpool aufgenommen werden. I got my initial funding from X-foundation. And that stopped after three month, because they decided to fund some technical projects. But then I was left in the blue. (D: 1844-1848)
Damit bleibt nicht nur die Finanzierung von Devis Lebensunterhalt aus, als sie sich bereits in Deutschland aufhält und auf das Stipendium dringend angewiesen ist; auch ihre Forschung, die sich explizit einem Genderthema widmet, gerät gegenüber der überwiegend von männlichen indischen Nachwuchswissenschaftlern betriebenen Forschung in den Natur- und Ingenieurwissenschaften ins Hintertreffen. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Devi in der sehr prekären Phase der Antragstellung für ein Promotionsstipendium bei deutschen Stiftungen und sie lebt bereits mehrere Monate ohne Stipendium in Grünberg.120 Der Weg bis zur erfolgreichen Einwerbung eines Stipendiums erweist sich als steinig und Devis Phase des Ankommens ist in diesem Migrationsprozess, der sie zum zweiten Mal von Indien nach Deutschland führt, gravierend von sozialen Ungleichheitsverhältnissen geprägt. Zum einen ist die Tatsache, dass Devis Herkunft aus einem im Internationalisierungsjargon als „Low-Income-Country“ bezeichneten Land, ein Grund für die erheblichen Probleme, mit denen sie sich nach dem überraschenden Ausbleiben ihres Stipendiums auseinandersetzen muss. Und zum anderen erweist es sich als problematisch, dass die Internationalisierung der Hochschulstrukturen in Grünberg nicht auf „Fälle“ wie Devi eingerichtet ist und ihre Erlebnisse auf eine ganze Reihe von Desideraten der Hochschulentwicklung im praktischen Internationalisierungsprozess verweisen. 120 Es stellte sich einige Wochen nach dem Interview heraus, dass es Devi letztlich geglückt ist, ein Dissertationsstipendium von einer deutschen Stiftung zu erhalten.
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Das Einkommengefälle zwischen einem Land wie Indien und einem Land wie der Bundesrepublik ist so groß, dass auch relativ wohlhabende Familien wie die Herkunftsfamilie Devis in der Regel nicht in der Lage sind, ihre im westlichen Ausland studierenden oder sich wissenschaftlich qualifizierenden Töchter und Söhne bei der Bestreitung ihres Lebensunterhalts zu unterstützen. Diese Situation gilt für die meisten Wissenschaftsmigrant/inn/en aus sogenannten Low-Income-Ländern aus allen Weltregionen. Damit gewinnt der weltregionale Ort der Herkunft für transnationale Migrationsprozesse als Exklusionskategorie eine zentrale Relevanz. Dieser Umstand wird von der Hochschulforschung sowie in der Hochschulentwicklung bislang nicht angemessen berücksichtigt.121 Die Verteilung der materiellen Lebenschancen weltweit wird zum weitaus größten Teil durch die sozioökonomische Situation des geographischen Orts auf der Welt bestimmt, an dem Menschen geboren werden. Die Abstände zwischen armen und reichen Ländern sind, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, eklatant. In der neueren Forschungsliteratur besteht Übereinstimmung darüber, dass transnationale Ungleichheitsverhältnisse wesentlich dadurch bestimmt werden, dass etwa 75 Prozent der Einkommensungleichheit in der Welt international bedingt ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass gegenwärtig etwa ein Sechstel der Weltbevölkerung insbesondere in Afrika und Südost-Asien in absoluter Armut lebt (Kreckel 2008: 24-25). Auch die Tatsache, dass Devi aus einer relativ wohlhabenden indischen Familie kommt, kann das drastische Einkommensgefälle zwischen Indien und Deutschland nicht überbrücken. Die wenigen bislang vorliegenden empirischen Befunde aus deutschsprachigen Studien über mobile Studierende aus LowIncome-Ländern (Aits 2008 und Kokemohr et al. 2006) stimmen darin überein, dass das Leben dieser Hochqualifizierten im Wissenschaftsbetrieb in Deutschland durch globale Machtdifferenzen und Ungleichheiten in den Einkommensverhältnissen bestimmt sind.122 Die deutschsprachige und auf Deutschland bezogene quantitative Datenlage zur Erfassung der Mobilität von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erlaubt derzeit folgende Angaben: Mehr als ein
121 Die ifu wurde von der finanziellen Bedürftigkeit ihrer Teilnehmerinnen aus allen Weltregionen ebenfalls überrascht und es mussten sehr kurzfristig Strategien entwickelt werden, um alle Nachwuchswissenschaftlerinnen aus Ländern mit einem niedrigen Einkommensstandard, die sich für das ifu-Studiumqualifiziert hatten, tatsächlich gewinnen zu können. Es mussten sehr kurzfristig eine große Anzahl von zusätzlichen Stipendien eingeworben werden. Insgesamt erhielten achtzig Prozent der ifu-Teilnehmerinnen ein Stipendium. 122 Sowohl die qualitative als auch die quantitative Datenlage zur Mobilität von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Low-Income-Ländern ist gegenwärtig noch wenig fundiert und stellt im Kontext der weltweiten Internationalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse der Hochschulen ein Forschungsdesiderat dar.
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Viertel der geförderten mobilen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen123 in Deutschland kommen aus Asien (28 Prozent), dabei stellt die Gruppe von Wissenschaftlern aus Ostasien die stärkste Gruppe, zugleich ist die kleinere Gruppe von mobilen Forschenden und Lehrenden aus den armen Weltregionen Süd- und Vorderasiens, die sich in Deutschland aufhalten, am stärksten angewachsen. Der Anteil aus Afrika ist demgegenüber wesentlich geringer, er liegt bei 5,8 Prozent, aus „Amerika“124, so die HIS-Studie (2008), kommt ein Anteil von 15,4 Prozent. Diese Zahlen umfassen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus allen Qualifikationsphasen nach dem ersten Hochschulabschluss, wobei es sich bei etwas mehr als der Hälfte dieser Personengruppe um Doktorandinnen und Doktoranden handelt und die Mobilität von höher qualifizierten Wissenschaftler/inne/n in der Regel deutlich geringer und zugleich auch kürzer ist (HIS/DAAD 2008: 66-69).125 Der Anteil von Personen in der ersten Qualifikationsphase bildet jedoch die nennenswerteste Gruppe mobiler Forschender und Lehrender in Deutschland.126 Auch wenn die vorhandenen statistischen Daten keine direkten Rückschlüsse auf den Anteil männlicher und weiblicher Wissenschaftsmigranten zulassen, kann die Tendenz angenommen werden, dass unter den mobilen Forschenden und Lehrenden überwiegend Männer zu finden sind, denn die mehrheitlich von männlichen Wissenschaftlern vertretenen Fachrichtungen Mathematik und Naturwissenschaften bilden bei der Gesamtzahl der geförderten mobilen Wissenschaftler, die sich in Deutschland aufhalten, mit 52 Prozent den Löwenanteil, während sich jeweils deutlich kleinere Anteile auf alle übrigen Fachrichtungen verteilen (HIS/DAAD 2008: 72f). 123 Die vorliegenden Daten sind auch deshalb unscharf, weil sie nicht nach Geschlecht differenzieren. 124 Ein weiteres Problem ergibt sich aus diesen auf Deutschland bezogenen Daten daraus, dass die innerkontinentalen Differenzierungen z.B. zwischen den USA sowie meso- und südamerikanischen Ländern nicht getroffen werden. Auf dieser Basis ist es derzeit nicht möglich, die Anzahl von Forschenden und Lehrenden aus Low-Income-Ländern, die sich gegenwärtig in Deutschland aufhalten, zu quantifizieren. 125 Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass in der Internationalisierungsstatistik nicht nach der Dauer von Mobilitätsaktivitäten differenziert wird. So werden beispielsweise kurzzeitige Tagungsbesuche im Ausland in den vorliegenden Statistiken gleichwertig abgebildet wie mehrjährige Forschungsaufenthalte (HIS/DAAD 2008). 126 Kreckel (2008) diskutiert das Phänomen der Transnationalisierung sozialer Ungleichheit unter dem Aspekt, dass diese Debatte einen fehlenden Resonanzboden habe, da die Verhandlungsund Verteilungsebene sozialer Ungleichheit nach wie vor in erster Linie der Nationalstaat sei. Diese Beobachtung ist jedoch dahingehend zu ergänzen, dass die Porosität nationaler Grenzziehungen, die sich mit der Internationalisierung der Hochschulen allein im Bereich der Wissenschaft durch die Internationalisierung der Hochschulen zuspitzen, zunehmend zu einem transnationalen Raum wird, in dem globale Ungleichheiten zum Tragen kommen, auch wenn sie von den Mehrheitsgesellschaften der gastgebenden Länder weitgehend unbemerkt bleiben.
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Für Devis Situation ist die Segregation indischer mobiler Forschender nach dem Geschlecht ein zentrales Moment und sie befindet sich nach ihrer Ankunft an ihrer gastgebenden deutschen Hochschule in einer mehrdimensionalen Fremdheitssituation, die sich durch ihre weltregionale Herkunft, ihre kulturelle Zugehörigkeit sowie durch eine singuläre Stellung als einzige weibliche Nachwuchswissenschaftlerin aus Indien an der gastgebenden Hochschule auszeichnet. Devi beschreibt ihr Hochschulleben unter sechzig männlichen Doktoranden aus Indien als singulär. Zugleich bilden diese Wissenschaftler für sie eine wichtige soziale Bezugsgruppe.127 Anders als die männlichen Doktoranden aus Indien arbeitet Devi als einzige mit einem gesellschaftswissenschaftlichen Bezug. Und auch wenn noch zwei weitere indische ingenieurwissenschaftliche Diplom-Studentinnen in Grünberg leben, bleibt Devi die einzige Nachwuchswissenschaftlerin aus Indien an dieser Hochschule. In Grünberg university the Indian students128, there are three girls in a ratio of 60 boys from India, three girls out of sixty. Out of those three girls, I am the only one who is doing PhD. There are two diploma and they were doing it in engineering. And all 60 of them, the boys, I mean, they are in engineering. (D: 1400-1409)
Devis Ankommen in Deutschland ist aufgrund der Situation, die sie als weibliche Wissenschaftlerin aus einem Low-Income-Land für die Finanzierung ihres Forschungsaufenthalts vorfindet, nur unter äußerst schwierigen Bedingungen möglich. Dass es ihr letztlich gelungen ist, für ihre Forschung doch noch ein anschließendes Stipendium zu bekommen, kann nicht ausschließlich auf Devis wissenschaftliche Qualifikation und auf die Qualität ihres Forschungsvorhabens zurückgeführt werden. Es brauchte zusätzlich eine ganze Reihe von glücklichen Zufällen, um ihr Forschungsprojekt nach mehreren äußerst prekären Monaten finanziell abzusichern. Dabei konnte Devi auf keinerlei institutionell geregelte Unterstützung zählen, da deutsche Hochschulen auf die Bedürfnisse mobiler Forschender (und Studierender) aus Low-Income-Ländern bislang noch nicht hinreichend eingestellt sind. Als Devis Start-Up-Stipendium überraschend nicht verlängert wird, kommt ihr unverhofft eine deutsche Kollegin zur Hilfe, die für die Situation sensibilisiert ist, weil sie Auslandserfahrung in Weltregionen mit ähnlich niedrigen durchschnittlichen Einkommen wie Indien gemacht hatte. Diese Kollegin über127 Die wichtige Bedeutung der indischen Doktoranden an der Gastgeberuniversität für Devis transnationale Mobilität wird im folgenden Abschnitt (Kosmopolitismus als Gratwanderung „Dazwischen“) ausführlicher beleuchtet. 128 Devi bezeichnet sich selbst und andere Doktorand/inn/en als „students“, mit „girls“ und „boys“ sind hier Erwachsene gemeint.
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nimmt aus freundschaftlichem Interesse eine ganze Reihe von überlebensnotwendigen Hilfestellungen, die es Devi ermöglichen, ihren Forschungsaufenthalt in Deutschland weiter zu führen. In dieser Situation hat Devi zunächst keine Kenntnisse darüber, welche Möglichkeiten es gibt, in Deutschland ein Stipendium zu beantragen. Sie kennt weder die Stiftungen noch verfügt sie über ausreichende Deutschkenntnisse, um selbst einen Antrag in deutscher Sprache stellen zu können. Hier erhält sie wichtige Beratungen von ihrer Kollegin, die sie über Stiftungen informiert und sie vor allem darin unterstützt, ihren Forschungsantrag zu übersetzen und in eine Form zu bringen, die den landesüblichen formalen Erwartungen entspricht. She has really been a major support for me. And the major that I got from her is my proposal, which was in English and I had to send it to different organisations. She by herself translated it into German with putting in the terminology of the planning department like what you exactly need. Two days she just worked on my proposal. And I just, you know, at that time, I was helpless, I, because I was, I don’t know. I don’t write deutsch. (D: 1139-1137)
Devi ist in dieser Notlage vollkommen auf die freiwillige und in diesem Fall auch zufällig zur Verfügung stehende Hilfe ihrer Kollegin angewiesen, die sie freundlich und mit einem sehr hohen Zeitaufwand unterstützt. Da Devis schriftliche Deutschkenntnisse für die aussichtsreiche Beantragung einer Promotionsförderung nicht ausreichen, benötigt sie eine Übersetzerin, um mit ihren Anträgen eine Aussicht auf Erfolg haben zu können. An ihrer Hochschule werden keine entsprechenden Unterstützungsangebote für mobile Forscherinnen und Forscher eingerichtet und auch von der Betreuerin ihrer Dissertation erhält Devi offenbar keine Hilfe. Auch wenn Devi ihre Forschungsarbeit in englischer Sprache verfassen kann, stößt sie bei allen weiteren Interaktionen, die erforderlich sind, um ihren Forschungsprozess finanziell abzusichern, an die Grenzen einer normativen Monolingualität, die selbst für Förderinstitutionen gilt, die explizit einschließen, internationalen wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern. Neben dem Selektionskriterium Sprache, das als Grenzlinie die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft durchzieht, findet Devi auch im Zugang zur wissenschaftlichen Infrastruktur Grenzen vor. Beispielsweise verfügt sie über keinen eigenen Computer. I didn’t have my computer. I was using her computer. I was using her printer at that time. And, there was nothing. She never used to question me, she used to tell me: “I would not be here at so and so time, so you have work. You can do that.” (D: 1154-1159)
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Der Arbeitsrhythmus von Devi orientiert sich damit notgedrungen an den Bürozeiten ihrer Kollegin. An einer anderen Stelle des Interviews erzählt Devi, dass sie dennoch bereits morgens an die Hochschule kommt, weil sie zu dem Zeitpunkt keine eigene Wohnung hat und bei indischen Freunden nur behelfsweise untergekommen ist. Ihr schlecht ausgestatteter Arbeitsplatz ist damit zugleich der Ort, an dem sie sich sowohl tagsüber als auch abends aufhält. Von der wissenschaftlichen Infrastruktur abgeschnitten ist Devi noch in einem weiteren ganz zentralen Bereich. Als ausländische Doktorandin erhält sie keine Leihkarte für die Universitätbibliothek und hat damit keinen freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur. Auch hier bietet ihr die Hochschule keinen strukturierten Zugang zur Bibliotheksnutzung, sondern sie ist abermals darauf angewiesen, dass sich eine informelle Lösung findet. Erneut springt die Kollegin ein und Devi darf sich mit ihrer Karte die Literatur, die sie für ihre Forschung benötigt, entleihen. I was using her library card, because here, for foreign students, if you don’t have a continued fellowship, I am not given a permanent library card. Because the question is, if I loose a book, how do I replace it? So, I was using her card, which had no limits. (D: 1161-1167)
Für Devi ist die Hilfe ihrer Kollegin für das Ankommen an der Hochschule in Grünberg zentral und ihr Fazit zu ihrer Position an der deutschen Hochschule ist deshalb: “You really need a good colleague to retain in a place.” (D: 1242-1247) In Devis Fall spielt die Kollegin vor allem in der Anfangsphase in Deutschland eine unverzichtbare Rolle. She has put me into the flow, you know. So now, that I can catch up by myself. But the initial thing was very important, to get started. That is very difficult, I think. (D: 1305-1310)
Devi beschreibt diesen Vorgang damit, dass sie durch die Kollegin eine Starthilfe erhalten habe, die es ihr ermöglicht, nun selbst in ihrem temporären wissenschaftlichen Zuhause zurechtzukommen. Damit übernimmt sie auch die Rolle derjenigen, der es gelingt, Devi auf informellen Wegen dabei zu helfen, ihre Arbeit in Deutschland aufzunehmen und ihr eine Umgebung zu schaffen, in der sie ihre Forschung letztlich realisieren kann.
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Dazwischen: “I always have to be on my toes”
Zwischen den Stationen des Aufbruchs und des Ankommens spannt sich in Devis Erzählung die Dimension eines transnationalen Zwischenraums, der in
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Kontinuität mit der narrativen Konstruktion ihrer Kindheit steht. Devi beschreibt ihre Kindheit wie bereits oben dargestellt als „kosmopolitisch“, die von den zahlreichen Umzügen innerhalb des indischen Subkontinents geprägt ist und die sich an den Anstellungen ihres Vaters orientiert haben. Devi beschreibt Mobilität als einen Lebenszustand, der für sie von Kindheit an vertraut ist. Das ständige Unterwegssein brachte es für Devi auch mit sich, als Schülerin einer Klosterschule eine christliche und an britischen Normen orientierte Erziehung erhalten zu haben. Der Lebensstil ihrer Familie gewinnt in ihrer biographischen Erzählung mit den Motiven der kulturellen Übersetzung und der Brückenfunktion eine pointierte Position. Das Motiv des Weltenverbindens und der Herstellung von Vernetzungen zwischen ihrem Leben „hier“ an der Universität in Grünberg und „da“ bei ihrer Familie in Indien für ihre Arbeit an der Hochschule und ihre Feldforschung in den Slums eine tragende Bedeutung. In Grünberg bilden das Migrationsnetzwerk indischer Wissenschaftler sowie die Beziehung zu ihrer Kollegin, die sich nicht nur als Anker in der Situation des Ankommens als bedeutsam erweist, sondern es ihr auch ermöglicht, einen kulturellen Brückenschlag zwischen indischen und deutschen Lebensgewohnheiten zu meistern, wichtige Komponenten des transnationalen sozialen Raums, in dem Devi lebt. Für ihre Vorstellung eines globalen Lebensgefühls ist auch das virtuelle Absolventinnennetzwerk der ifu eine Instanz, die es ihr ermöglicht, sich als Mitglied einer weltweiten Gemeinschaft von Wissenschaftlerinnen zu sehen, der sie sich fachlich und persönlich verbunden fühlt. Damit zeigt sich einerseits, dass diese transnationalen Positionierungsprozesse zwar eine Erweiterung ihrer Möglichkeiten und Perspektiven bedeuten, andererseits erweist sich das Leben zwischen Indien und Deutschland auch als riskante Gratwanderung, die prekäre Lebenslagen mit sich bringt und hohe emotionale Anforderungen an Devi stellt. Insbesondere im Zusammenhang mit der persönlichen Ausnahmesituation, in der Devi sich befindet, nachdem ihr Vater kurz nach ihrer Abreise aus Indien schwer erkrankt und schon nach kurzer Zeit verstirbt, erzählt sie von der Belastung, die die räumliche Trennung von ihrer Familie mit sich bringt. Ihre finanzielle Situation erlaubt es selbst in dieser besonderen Lebenslage nicht, ihren todkranken Vater noch einmal zu besuchen. Der Tod des Vaters löst bei Devi eine schwere Krise aus, die sie daran zweifeln lässt, ob sie weiterhin ihre Forschungsarbeit verfolgen oder ob sie nach Indien zurückkehren soll, um ihre Mutter zu unterstützen. Sie entschließt sich jedoch dazu, ihre Arbeit in Deutschland fortzuführen. Hierin wird sie auch von der Mutter bestärkt, die sie darin unterstützt, ihre Doktorarbeit wie geplant abzuschließen, obwohl sie sich zum Zeitpunkt des Interviews in einer schwierigen finanziellen Lage befindet. In diesem Zusammenhang spielt die Kollegin abermals eine wichtige Rolle. Devi berichtet, dass für sie ein Fastenritual zum
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Ausdruck von Trauer sehr bedeutsam ist, das beinhaltet, dass Trauernde nur ungekochte Speisen zu sich nehmen dürfen. Sie erzählt eine Episode aus ihrer Beziehung zu ihrer Kollegin, die verdeutlicht, dass sie nicht nur eine einfühlsame Helferin, sondern auch eine informierte interkulturelle Vermittlerin ist. SHE was my major source of moral support here. I don’t think I would have LASTED here if she was not there in the office. And maybe at times, you know, I don’t know if you know of this. In our, in our tradition, if there is a death of a parent, we are not supposed to eat cooked food. We can eat cooked food once, but that should be without oil or anything else. We just can boil it. And I was maintaining although I was here, because I couldn’t do anything else for him, when he was ailing. So, she, I don’t know from where she knew about this, we never spoke about this. She made at that point, she used to get fruits for me, everyday. Because, to be very frank, here, I am in such a position, I have a fixed amount of money now, which I know what exactly I can buy. I can’t make elaborate spending for that. And she has really really been a major support for me. (D: 1095-1118)
In dieser Sequenz zeigt sich, dass Devi durch die Geste ihrer Kollegin, die sie täglich mit frischem Obst versorgt als Trauernde wahrnimmt und sie in der Einhaltung eines für sie wichtigen Rituals unterstützt, eine Anerkennung als Person erfährt, die auch durch die transnationalen Erfahrungen der Kollegin möglich waren. In dieser Sequenz wird aber auch deutlich, wie prekär Devis Lebenssituation ist, als sie darauf hinweist, dass ihr der Kauf von frischem Obst nicht möglich ist. Im Anschluss an das Interview wird sie im Gespräch noch expliziter und berichtet davon, dass sie sich zum Zeitpunkt des Interviews, dass schon seit einigen Monaten ausschließlich von gekochtem Reis ernährt, da sie nicht genügend Geld hat, um sich andere Nahrungsmittel zu kaufen. In dieser schwierigen finanziellen Situation bildet der Kreis mobiler indischer Wissenschaftler für sie ein Netzwerk, das sie nicht nur emotional unterstützt, sondern durch das ihr der weitere Aufenthalt in Deutschland überhaupt erst möglich wird.129 Da sie kein Geld für eine eigene Unterkunft hat, bietet ihr eine Gruppe männlicher indischer Wissenschaftler, die gemeinsam eine Wohnung in Grünberg angemietet haben, die Möglichkeit, in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa zu übernachten. Devi hebt hervor, dass das Netzwerk für sie die materielle Grundlage ist, sich als praktisch Mittellose in Deutschland aufhalten zu können. Ein sehr wichtiger Aspekt ist hier, dass ihre Mitbewohner sowohl die Lebensumstände in Indien als auch die Forschungsbedingungen in Deutsch129 Vergl. die Studie über maghrebinische Studierende in Deutschland (Aits 2008), in der die Bedeutung von Netzwerken, die das Überleben in Deutschland sichern, ebenfalls zentral ist.
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land kennen, weil sie selbst transnational mobil sind. Durch dieses Wissen können sie Devi eine engmaschige Unterstützung bieten, damit sie ihre Doktorarbeit in Deutschland beenden kann. If these people were not here, I would have had to leave. But these boys, they decided, because they know the situation back home, if I go half done, they just told me: “You have an office. You somehow finish the work and you don’t leave it half done.” (D: 1939-1944)
Die praktische Hilfe und auch die emotionale Unterstützung, die sie von diesem Netzwerk erhält, korrespondiert mit der Unerschütterlichkeit, mit der ihre Eltern sie immer gefördert haben und, weil sie die „Situation zuhause“ aus eigener Erfahrung kennen, bieten sie ihr einen Unterschlupf. Diese Konstallation kann mit Faist (2002) als ein transnationales erweitertes Familiennetzwerk beschrieben werden. Devi erwähnt in ihrer Erzählung nicht, dass diese Form des Zusammenwohnens für sie in Indien nicht in Frage gekommen wäre. Im Gesamtkontext der Interviewsituation wird jedoch durch ihre Gestik und Mimik sehr deutlich, dass eine heterosoziale Wohnform unter unverheirateten Männern und Frauen, die in Deutschland ganz unauffällig als gemischte WG durchgeht, für Devi mit Scham verbunden ist und einen erklärungsbedürftigen Zustand darstellt. And most of the time, they are not at home. So, for me, there is enough space and everything. But you know, it is still, I don’t feel comfortable, I always have to be on my toes, and I can’t relax. So, my relaxation is here.130 (D: 1944-1951)
Devi macht hier einerseits deutlich, dass sie sich mit ihrer Wohnsituation nicht wohl fühlt und immer darauf achtet, dass sie niemandem zur Last fällt und beschreibt dieses Gefühl mit dem Bild, dass sie sich wie auf Zehenspitzen und immer auf der Hut durch ihr Leben bewegt. In dieser Metapher drückt sich ihre Anspannung und Anstrengung aus, mit der sich ihr transnationaler Lebensstil zum Zeitpunkt des Interviews für sie darstellt. Devi beschreibt, dass sie sich in der Wohnung nicht entspannen kann und dass der kleine Schreibtisch, über den sie verfügt, nicht nur ihr Arbeitsplatz, sondern auch ihr Ort des Rückzugs ist. Diese besonders fragile Situation, in der Devi sich befindet, ist vor allem durch die enormen Einkommensunterschiede zwischen Indien und Deutschland begründet, die es nicht ermöglichen, dass ihre Familie sie unterstützt. Durch den Tod des Vaters hat sich diese Situation zugespitzt.
130 Mit „here“ meint Devi ihren Schreibtisch.
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You know, there is NO source of income now. And my family cannot support me, because my father has expired. And the pension my mother is getting, it is NOT possible for her to send it in change in Euro and supporting her daughter who is studying abroad, because it becomes a very little amount then. Because the difference of the currency is like one Euro is 50 Indian rupees. So, it gets divided 50 times, when it comes here. (D: 19541964)
Die gemeinsame Erfahrung der indischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Grünberg, dass das Leben in Deutschland für sie sehr teuer ist, erfordert nicht nur ein soziales, sondern auch ein enges materielles Netzwerk. Für Devi ist neben der lebenspraktischen Unterstützung, die sie durch ihre indischen Freunde und durch ihre Kollegin in Grünberg erhält sowie neben den sozialen Kontakten zu ihrer Familie und zu ihren Kooperationspartnerinnen in Indien auch das Netzwerk der ifu-Absolventinnen ein wichtiger Bezugspunkt im Alltag. Devi erzählt, dass die Nachrichten aus dem Netzwerk zu ihrem Tagesrhythmus dazu gehören. I exPECT (LACHEN) mails every morning of the ifu girls. I am not a very regular writer in vifu, I mean. Some people are very regular. I am not a very regular writer, but I READ the mails every day. (D: 1694-1702)
Auch als passive Teilnehmerin des Netzwerks, die selten selbst eine E-Mail an alle Teilnehmerinnen verschickt, zählt die vifu-Community ganz selbstverständlich zu Devis Alltagserfahrung. Dabei erzählt sie, dass sie im regelmäßigen Kontakt mit einzelnen ifu-Absolventinnen steht. Sie berichtet dabei sowohl von der wissenschaftlichen und von der persönlichen Relevanz dieses transnationalen virtuellen Netzwerks. Devi hebt dabei eine Episode über eine emotionale Verbindung mit einer transnationalen Wissenschaftsmigrantin, die sie bei der ifu kennen gelernt hatte, besonders hervor. Die Kollegin und Devi teilen das Schicksal, ihren Vater verloren zu haben, während sie sich als Forscherin im Ausland befanden. Für Devi entsteht durch diesen geteilten transnationalen Erfahrungshintergrund eine besondere emotionale Nähe zu dieser Wissenschaftlerin. There is a lot of networking, personal as well as professional networking. And, I go through the mails just every day. I just don’t delete them without reading. Some mails, they really touch, I mean, you know, I mean, it was very sad of one girl who was in my project group, she is from Eritrea. And after we finished ifu and we went back, she lost her father. And, you know, then she was not at home. And, now, the other day, I had her mails with
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me, so I was just going through, you know. So that I can also cope up things like she had done and so, it’s very important. (D: 1675-1690)
Für Devi bedeutet das Netzwerk jedoch nicht nur emotionale Verbundenheit, sondern vor allem durch die Diskussionen, die während der ifu-Präsenzphase entstanden sind, sieht sie in den beteiligten Wissenschaftlerinnen im vifuNetzwerk eine Gruppe von Peers, die sie als Diskussionspartnerinnen schätzt. Sie profitiert bei der Planung ihrer Dissertation von den Anregungen von erfahreneren Wissenschaftlerinnen aus dem ifu-Netzwerk. Aus den Diskussionen bei der ifu entstand schließlich auch ihr Plan, eine Implementationsforschung für ein Frauenhaus in Kooperation mit einem westlichen Land durchzuführen (D: 1755-1758). They really MEAN a lot. When somebody is expressing some view. And it’s very interesting. Because some of the women who participated, they were already in a position in the universities or in research institutes. They told us about the problems that one has to face. (D: 1720-1728)
Devi berichtet, dass sie sich mit dem ifu-Netzwerk noch immer sehr verbunden fühlt. Dies begründetet sie mit ihren emotionalen Beziehungen zu einzelnen Mitgliedern und mit ihrem Interesse an den wissenschaftlichen Impulsen, die sie vor allem durch ältere und erfahrene Forscherinnen erhält. Eine weitere Komponente ist, dass Mobilität für Devis soziale Beziehungen ein wichtiger Faktor ist. Viele Freundinnen und Freunde von ihr zählen ebenfalls zur Gruppe der hochmobilen Wissenschaftler/innen. Devi nutzt das Netzwerk nicht nur zur Aufrechterhaltung eines Status Quo bestehender Kontakte, sondern auch, um neue Vernetzungen herzustellen. Sie erzählt beispielsweise in einer Sequenz, dass ein Freund einen Vortrag auf einer Konferenz in Seoul hält und dort eine Unterkunft benötigt, die sie ihm durch einen ifu-Kontakt vermitteln kann. Sie berichtet, dass sie hier eine Wissenschaftlerin aus Korea, die sie bei der ifu kennen gelernt hatte, um Hilfe bitten konnte. Durch direkten E-Mail-Kontakt zwischen den einzelnen Mitgliedern des vifu-Netzwerks sowie durch Aufrufe auf der Mailingliste ist die virtuelle Herstellung von Face-to-Face-Kontakten und neuen Vernetzungen eine im vifu-Netzwerk sehr übliche Kommunikationsform. Mit diesen transnationalen Kontakten entstehen neue Formen transnationaler Mobilität und Vernetzungen. I STILL am very much connected to this ifu-network. Because, many friends, sometimes they travel in different countries. And the only connection I find to connect them is through ifu. (D: 1640-1644)
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Vernetzung und Verbindung sind biographische Motive, die mit Devis Selbstbild als Brückenbauerin zwischen den Welten korrespondieren. In der Anlage ihres wissenschaftlichen Engagements ist dieses biographische Selbstverständnis zentral. Ihre Arbeit in den Slums widmet sich zunächst der Aufgabe, die enorme soziale Differenz zwischen ihrem eigenen privilegierten Leben in Indien und den sozialen Problemlagen exkludierter Gruppen zu überwinden. Diese Dimension erweitert sie schließlich durch die transnationale Anlage ihrer Forschung, indem sie ein funktionierendes westliches Frauenhausmodell auf die indische Situation übertragen will. Dabei richtet sie ihr Augenmerk darauf, dass die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und insbesondere die sozialen Ungleichheiten, die ökonomische Marginalisierung und Exklusion nach sich ziehen, weltweite Parallelen aufweisen, indem sie immer wieder betont, dass sie dies als „similar problems throughout the world“ (D: 1174) betrachtet. Dabei stellt sie ihr eigenes Forschungsprojekt in den Zusammenhang einer „global culture“, die ihr bereits durch ihre kosmopolitische Ausbildung und den Besuch eines „cosmopolitan college” vertraut sind. Devi sieht sich selbst und ihre Forschungsperspektiven inmitten einer globalen Kultur, die sie zumindest strukturell in jeder Gesellschaft entdeckt: “It is the same culture in every world citiy, you see.” (D: 1510-1511) Vor diesem Hintergrund zeichnet Devi ein Selbstbild von sich, das von Mobilität und Kosmopolitismus geprägt ist und die bereits in ihrer Kindheit eine zentrale Erfahrung für sie sind. I FEEL that there we equipped us with all these things and to adopt with changes, because I have seen a lot of changes in life. (D: 1548-1551)
Diese Vorstellung schließt ein, dass Devi aus dieser Position die Verbindung unterschiedlicher Welten zum Ziel hat. Ihr Wunsch basiert auf ihrer grundlegenden biographischen Erfahrung von translokalen Lebensformen, die durch die Mobilität, die ihrer Lebensweise seit der Kindheit inhärent ist, erzeugt wird. Für Devi stellt sich die Herstellung transnationaler Kontinuitäten damit als eine Strategie dar, um sich zwischen den Exklusionserfahrungen und den unterschiedlichen Inklusionsanforderungen, die mit ihrer transnationalen Migration nach Deutschland verbunden sind, zu orientieren und transnationale Verbindungen aufzubauen.
8.5 Zusammenfassung Fallstudie Devi Devis Weg als transnationale Wissenschaftsmigrantin ist davon inspiriert, dass sie sich als Genderforscherin, die durch ihren familiären Hintergrund Gender als biographische Ressource erleben konnte, gegen soziale Ungleichheit von Frauen
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wissenschaftlich und politisch engagiert. Aufgewachsen in einer wohlhabenden und gebildeten indischen Familie, die sich ständig in translokalen Bewegungsprozessen befand, und eingebunden in Bildungsprozesse nach britischem Muster, beschreibt Devi ihre Kindheit als eingebettet in kosmopolitische Zusammenhänge. Die Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Karriere und ihr Entschluss, ihre Forschungsprozesse transnational zu organisieren, werden von ihrer Familie unterstützt. Sie folgt mit ihrer transnationalen Lebensführung sowohl dem Vorbild ihres Vaters, der in Großbritannien studiert hatte als auch dem gesellschaftlichen Engagement ihrer Mutter in indischen Slums. Dabei erlebt Devi ihre Position als eine transnational mobile Wissenschaftlerin aus Indien als exzeptionell, was sich beispielsweise darin ausdrückt, dass sie die einzige weibliche Doktorandin unter zahlreichen männlichen Wissenschaftlern aus Indien an ihrer Gasthochschule in Deutschland ist. Ihr Forschungsaufenthalt bei der ifu regt Devi zu einer Promotionsforschung an, die sie zum Zeitpunkt des Interviews in Deutschland durchführt. Zuvor kehrte sie nach Indien zurück und baute dort ein politisches Netzwerk von Frauen auf. In diese NGO ist der Praxisbezug ihrer Forschungsarbeit eingebunden. Zudem warb sie ein Forschungsstipendium ein, das jedoch bereits nach ihrer Ankunft in Deutschland entgegen den in Indien getroffenen Zusagen bald endete. Dieses Ereignis versetzte sie in eine äußerst prekäre Situation, in der sie über Monate mittellos und ohne eigene Wohnung in Deutschland lebte. Diese Lebenslage wurde zusätzlich durch eine völlig unzureichende Ausstattung ihres Arbeitsplatzes an der gastgebenden deutschen Universität verschärft. In dieser Situation kann Devi auf die Ressource eines transnationalen Netzwerks von indischen Wissenschaftlern zurückgreifen, in deren Wohnung sie behelfsmäßig lebt. Zusätzlich erhält sie Unterstützung von einer Kollegin, die ihr Ressourcen zur Verfügung stellt und ihr bei Übersetzungsarbeiten für die Beantragung eines Promotionsstipendiums bei einer deutschen Stiftung behilflich ist, da die Promotionsförderung in Deutschland auch für Anträge von Internationalen weitgehend monolingual strukturiert ist. Für die Fallstudie „Devi“ kann festgehalten werden, dass eine strukturelle Einbindung von transnationalen Wissenschaftler/inn/en insbesondere aus LowIncome-Ländern im deutschen Wissenschaftssystem noch nicht in ausreichendem Maß vorhanden ist. Für Devi stellte sich ihre weltregionale Herkunft im transnationalen Migrationsprozess in vielfältiger Weise als Exklusionskriterium dar. Diesen Bedingungen konnte sie mit kreativen Lösungen und mit der Unterstützung ihrer transnationalen Netzwerke begegnen.
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Migration und Qualifikation (Fallstudie Nalan)
9.1
Biographische Skizze Nalan
Nalan ist in Deutschland aufgewachsen und hat dort Abitur gemacht. Ihre Eltern sind Migranten aus der Türkei, die sich in Deutschland niedergelassen haben. Beide haben eine akademische Ausbildung und führen ein unkonventionelles Lebensmodell: Nalans Mutter arbeitet als Ärztin, ihr Vater war zum Zeitpunkt des Interviews Hausmann. Nalan hat zwei jüngere Schwestern, von denen eine zur Schule geht, die andere Schwester studiert. Sie ist 31 Jahre alt und hat zwei Jahre zuvor an einer Universität in England promoviert. Seit einem Jahr arbeitet sie an einem Forschungsinstitut einer Universität in Großbritannien und lebt mit ihrer Partnerin in derselben Stadt. Als Nalan nach dem Abitur ein Studium begann, war sie unzufrieden mit ihrer Studiensituation in Deutschland. Nach einigen Fachwechseln absolvierte sie ein Auslandssemester an einer Universität im Nahen Osten. Anschließend kehrte sie nach Deutschland zurück und bereitete sich auf ein Studium in Großbritannien vor. Dort legte sie ein Master-Examen ab, anschließend erhielt sie ein PhD-Stipendium und promovierte. Während der Promotionsphase kehrte sie für einen längeren Aufenthalt nach Deutschland zurück. Sie nahm zunächst an der Internationalen Frauenuniversität teil und lebte dann für einige Monate bei ihren Eltern, wo sie ihre Doktorarbeit beendete. Dies war zugleich der erste längere Aufenthalt bei ihren Eltern seit ihrem Auszug als 16jährige und die erste längere Rückkehr nach Deutschland seit Beginn ihres Studiums in England. Sie verfolgte in dieser Phase unterschiedliche wissenschaftliche Projekte, und arbeitete für eine Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Hochschule in Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt erfährt Nalans Leben einen entscheidenden Wendepunkt131: Während sie ihre Dissertation abschließt, stirbt eine enge Freundin an Krebs. Ungefähr zeitgleich verliebt sie sich in ihre jetzige Partnerin, die in Großbritannien lebt. Zugleich erhält Nalan ein attraktives Stellenangebot an 131 Zur Bedeutung biographischer Wendepunkte vergl. Rosenthal 1995.
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Migration und Qualifikation (Nalan)
einer deutschen Universität, das sie zunächst annimmt, aber nach sechs Monaten kündigt, um zu ihrer Freundin zu ziehen. Dort begibt sie sich optimistisch auf Stellensuche, ist dann aber für sie selbst überraschend und unerwartet fast ein ganzes Jahr lang arbeitslos. Schließlich findet sie jedoch eine Stelle an einem Forschungsinstitut, das in der Stadt angesiedelt ist, in der sie mit ihrer Partnerin lebt. Zum Zeitpunkt des Interviews hat Nalan ihren Lebensmittelpunkt seit ihrer Rückkehr aus Deutschland seit zwei Jahren wieder in Großbritannien arbeitet an einer britischen Universität. Während des Interviews, das in ihrer Wohnung stattfand, ist Nalan sehr zurückhaltend und begründet dies mit einer Skepsis gegenüber Fremdzuschreibungen, die sie zu Beginn des Treffens äußert: Wir [gemeint sind Migrantinnen und Migranten, C.B-U.] werden immer wieder, natürlich, in diese, ne, Position gebracht, das zu beantworten. „Woher kommst du? Und so weiter.“ Uns zu rechtfertigen bei solchen Fragen. „Woher kommst du? Wie fühlst du dich? Bist du eher deutsch oder eher türkisch?” (N: 172-178)
Die offenkundige Zurückhaltung Nalans in der Erzählung privater Erlebnisse zugunsten einer großzügigen und reflexiven Erzählung ihrer transnationalen Lebensweise als Wissenschaftlerin führte zu einem Interview, das sich grundlegend von den autobiographischen Erzählungen in den anderen Interviews unterschied, da diese von der ausführlichen Darstellung persönlicher Erlebnisse in Familie und Partnerschaft getragen werden. Die Relevanz der Daten ist durch den spezifischen Verlauf dieses narrativen Interviews jedoch nicht geschmälert. Die hier verfolgte Forschungsperspektive konzentriert sich auf biographische Konstruktionen transnationaler Mobilität einer Nachwuchswissenschaftlerin, die als Migrantin der zweiten Generation in Deutschland aufgewachsen ist und als Migrantin der ersten Generation nach mehreren zeitlich begrenzten Migrationen im Kontext ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und Karriereentwicklung derzeit in Großbritannien lebt. Im vorliegenden Forschungskontext steht die Frage danach im Mittelpunkt, wie die Interviewten sich in ihren autobiographischen Narrationen darstellen und kontextualisieren („doing biography“).132 Für die Analyse dieses Zusammenhangs stellt die transnationale Mobilitätsgeschichte von Nalan eine Quelle dar, in der transnationale Wissenschaftsmobilität aus der Perspektive einer jungen Wissenschaftlerin erzählt wird, die in Deutschland in einer Familie mit Migrationshintergrund aufgewachsen ist und im Verlauf ihrer wissenschaftlichen Entwicklung abermals migrierte. 132 Die Rekonstruktion biographischer Daten im Sinne eines Dualismus von erlebter/erzählter Lebensgeschichte (Rosenthal 1995) ist wie in Kap. 8 dargelegt, zu vernachlässigen.
Ich hab dann gedacht: Was soll ich hier?
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Neben ihrer Selbstdarstellung als Wissenschaftlerin steht während des gesamten Interviews auch Nalans eigene politische Verortung als kritische feministische Intellektuelle mit Migrationshintergrund im Mittelpunkt. Für die Rekonstruktion der Fallstruktur bilden Nalans Bildungssozialisation als Migrantin der zweiten Generation in Deutschland und ihre Erfahrungen als Migrantin der ersten Generation in ihrer weiteren wissenschaftlichen und beruflichen Karriereentwicklung unterschiedliche und komplexe Dimensionen transnationaler Erfahrung.
9.2
Aufbruch: „Ich hab dann gedacht: Was soll ich hier?“
Der Ausgangspunkt für ihren Aufbruch als transnationale Migrantin im Migrationsweg Deutschland – Naher Osten – Großbritannien – Deutschland – Großbritannien ist für Nalan ihre Erfahrung als türkische Migrantin der zweiten Generation, die im Deutschland der frühen 1990er Jahre Abitur macht und ein Studium beginnt. Nalan beschreibt sich selbst nach der Schulzeit als noch unentschlossen und ziellos in Bezug auf ihre Berufswahl. Die ersten Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre fallen mit Nalans Übergang von der Schule zur Hochschule zusammen. Sie erfährt diesen Lebensabschnitt als gekennzeichnet von politischen Konflikten. Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmen ihre Wahrnehmung und sie beschreibt sie zugleich als Erfahrungskontext, der in ihr persönliches Leben und ihre Selbstwahrnehmung hereinbricht. Die komplexen Prozesse gesellschaftlicher Abgrenzungen und Ausgrenzungen von Zuwanderern, die sich in rassistischen Gewaltausbrüchen und sich nationalisierenden öffentlichen Diskursen ausdrücken,133 konfrontieren Nalan mit ethnischen Zuschreibungen und Exklusionen. Diese Einwirkungen beeinflussen Nalans biographischen Weg grundlegend. Nalan wird als türkische Migrantin der zweiten Generation in der Übergangsphase von der Schule zur Hochschule und zu Beginn ihres Studiums nicht nur mit der Frage nach ihrer 133 Einige Ereignisse dieser historischen Epoche seien an dieser Stelle in Erinnerung gerufen: Im Jahr 1988/89 zogen verstärkt rechtsextreme Parteien in die Landesparlamente der damaligen Bundesrepublik ein. Im Sommer 1990 bestimmte eine Debatte gegen „Scheinasylanten“ die politischen und publizistischen Diskurse im Deutschland der Wiedervereinigung, nur wenige Monate nach der Zusammenführung von DDR und BRD. Diese öffentlichen Diskurse gingen in den darauf folgenden Jahren in langlebige Debatten über Ausländerkriminalität und Islamismus über. Diese Diskurse sind Teil eines politischen Klimas, das sich in einer Vielzahl von gewalttätigen Ausschreitungen gegen Migranten und Migrantinnen vergegenständlicht. Anfang der 1990er Jahre traten rassistische Gewalttaten besonders drastisch in Erscheinung: Im November 1992 und im Mai 1993 kam es zu rassistisch motivierten Morden bei Brandstiftungen in Mölln und Solingen, rassistische Ausschreitungen in Hoyerswerda (1991) und Rostock (1992) wurden von applaudierenden Bürgern bejubelt und angeheizt (Yüksel 2008).
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Migration und Qualifikation (Nalan)
eigenen ethnischen Identität konfrontiert. Sie leitet aus den öffentlichen Diskursen um Zuwanderung Handlungsmuster ab, die sich in ihrem politischen Engagement zeigen, vor allem entwickelt sie vor diesem Hintergrund ihre Studienentscheidung. Und zwar, ich hab 1991, hab ich meine Schule beendet. Das war das Jahr des Irak-Kriegs, das Jahr des Jugoslawien-Kriegs und ich hatte bis zu dem Zeitpunkt eigentlich nicht so ne klare Idee, was ich machen möchte, Hm? Was ich studieren möchte. Und zu dem Zeitpunkt hatte ich aber beschlossen, ich möchte Ethnologie studieren, weil ich gedacht hab’, das ist etwas Wichtiges. Die ethnischen Konflikte, das war was, das war damals was, was viele Leute beschäftigt hat. – Wie kann das sein? – Und vor allem diese neue, die neue Form von Islamophobie, das hat mich natürlich auch interessiert, das zu verstehen. Das hat mich dazu gebracht, Ethnologie zu studieren. (N: 95-110)
Es fällt auf, dass für Nalan die Entscheidung für ihr Studium mit einer Entscheidung dafür, etwas Nützliches und Relevantes zu tun, verknüpft ist („weil ich gedacht hab’, das ist etwas wichtiges / das war damals was, was viele Leute beschäftigt hat“). Damit rekurriert sie bei ihrer Berufswahl auf eine politische Kontextualisierung und ihr eigenes politisches Engagement in anti-rassistischen Gruppen, in denen sie schon als Schülerin aktiv war (N: 195-198). Sie bezieht ihren Studienwunsch damit auf die politischen Umstände, die sie durch Ethnizitätskonflikte gekennzeichnet sieht. Diese Konflikte verortet sie einerseits international (Irakkrieg, Jugoslawien-Krieg), andererseits bezieht sie sie auch auf ihre eigene Herkunft als türkische Migrantin der zweiten Generation, die sie im globalen Kontext verortet, („die neue Form von Islamophobie“). Nalan stellt sich als eine junge Frau dar, die politische Kontextbedingungen aktiv wahrnimmt und reflektiert und als politisch Handelnde einen Zusammenhang zu ihrem eigenen Leben herstellt. Damit verknüpft sie ihre politisch motivierten eigenen Fragen schließlich sogar mit ihrem Berufswunsch und beginnt ein sozialwissenschaftliches Studium. Nalan möchte zum Zeitpunkt des Studienbeginns zunächst an bekannte Strukturen anschließen. Sie entscheidet sich dafür, ihr Studium in der deutschen Großstadt aufzunehmen, in der ihre Eltern leben und in der sie auch aufgewachsen ist. In Neustadt134 fühlt Nalan sich nach dem Abitur so weit verankert, dass sie keineswegs größere Ortswechsel plant; im Gegenteil, sie möchte in Neustadt bleiben und wählt die dortige Universität für ihr Studium.
134 Die Namen der Orte sind ebenso wie alle Personennamen anonymisiert.
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Ich bin in Neustadt den großen Teil meiner Kindheit aufgewachsen und ich wollte nicht nur weg aus Neustadt, und hab ja dann dort studiert und mich schon eingeschrieben. (N: 114-119)
Zusätzlich zur räumlichen und sozialen Vertrautheit, die ihr die Wahl ihres Studienortes bietet, verbindet sich für Nalan mit dem Studienbeginn auch die Hoffnung, sich an der Hochschule wohl zu fühlen und entwickeln zu können. Da hab ich gedacht, da bin ich wahrscheinlich GUT AUFgehoben. (N: 110-112)
Es fällt auf, dass Nalan ausgerechnet im Studium einen Ort des Zuhauseseins sucht, an dem sie sich, wie ein behütetes Kind in einer Familie „gut aufgehoben“ (N: 112) fühlen möchte. Dieser Wunsch, der sich für Nalan mit ihrer akademischen Ausbildung verknüpft, verweist einerseits darauf, dass es für sie als Tochter aus einer akademisch gebildeten Familie durchaus eine vertraute Vorstellung ist, sich innerhalb eines Studiums zuhause zu fühlen. Zugleich wählt sie, obschon mit 16 Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen, die räumliche Nähe zu ihrer Familie und dem Freundeskreis aus der Schulzeit. Nalans Studienbeginn deutet zunächst keineswegs auf einen Aufbruch und eine spätere eigene transnationale Mobilität hin. Ihre biographische Erzählung verweist zunächst darauf, dass Nalan an mehrere Kontinuitäten in ihrem Leben anknüpfen kann, die für sie von zentraler Bedeutung sind. Sie bleibt mit der Wahl ihres Studienfachs sowohl ihrem politischen Engagement treu, das für sie schon während der Schulzeit wichtig war und rückt es nun sogar ins Zentrum ihrer akademischen Entwicklung. Ebenso geht sie damit nach dem Auszug aus dem Elternhaus keine neuen Risiken bei der Wahl ihres Studienortes ein. Sie bleibt einfach da, wo sie ist und studiert die am Wohnort vorhandenen Fächer, die sich ihr bieten und für die sie Interesse aufbringt. Nalan geht zu Beginn ihres Studiums davon aus, dass sie mit der akademischen Atmosphäre und den Möglichkeiten gesellschaftlicher Reflexion, die sie sich von ihrem Fach erhofft, an ihr bisheriges Leben anknüpfen zu können und „gut aufgehoben“ zu sein. Dieser Wunsch kann mit Nalans eigenen Vorstellungen über ihre Zugehörigkeit in Verbindung gebracht werden. Sie sieht sich als Teil einer migrantischen Bildungselite („viele von uns, die, naja, so was wie Bildungserfolg hatten“) (N: 160-161), erweitert diese Zugehörigkeit dann jedoch nochmals auf die gesamte gesellschaftliche Gruppe der Migrantinnen und Migranten, die sie jedoch auch generationell (zweite Generation) (N: 150-153) differenziert. Insbesondere für die Gruppe der zweiten Migrationsgeneration – hier zählt Nalan zu der relativ kleinen Gruppe der bildungserfolgreichen Migrantinnen
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und Migranten sie zählt,135 – beschreibt sie einen gesellschaftlichen Zwang zur ethnischen Positionierung, den sie als gewaltförmig erlebt. Sie führt diese Prozesse auf die Entstehung einer „kompliziertere(n) Form“ (N: 148-149) von Nationalismus in Deutschland zurück. Diese sich neu entwickelnde Form eines deutschen Nationalismus stellt Nalan in einen Zusammenhang mit der „so genannten Wiedervereinigung“ (N: 143), in der sich auch die „rassistischen Angriffe gehäuft“ (N: 149-151) haben. Die politischen Rahmenbedingungen beschreibt Nalan als Ausgangspunkt für einen gesellschaftlichen Zwang, ethnische Zuschreibungen zu erdulden und sich angesichts dieser Zuschreibungen selbst ethnisch zu positionieren. Sie beschreibt diese Interferenzen der politischen Makroebene als bedeutsam für ihr subjektives Erleben von Zugehörigkeit. Die rassistischen Angriffe haben sich gehäuft. Und das hat sich sehr sehr stark ausgewirkt. Auf viele von uns, vor allem auf die, die zweite Generation von Migrant/inn/en waren. Und die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr viel auseinandergesetzt unbedingt hatten in ihrer, mit ihrer Positionierung in dieser Gesellschaft, in der deutschen Gesellschaft. In ihrer Positionierung im Sinne von ethnischer Positionierung. Nicht so stark. Viele von uns, die, na ja, so was wie Bildungserfolg hatten und so weiter. So, für uns hat sich das noch mal neu gestellt, die Frage. Diese Positionierung hat sich noch mal neu, auch sehr akut, auch gestellt. Und auch für mich hat sich das akut gestellt. (N: 150-167)
135 Für den Abiturjahrgang 1991 liegen keine aufgeschlüsselten Daten über den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund an deutschen Gymnasien vor. Lediglich über den Anteil migrantischer Schüler/innen an Real-, Gesamtschulen und Gymnasien kann eine recht allgemeine Aussage getroffen werden. Sie betrug zusammengenommen 20 Prozent (Herwartz-Emden 2007: 8). Es ist davon auszugehen, dass der hier interessierende Anteil an Migrant/inn/en unter den Abiturientinnen und Abiturienten an deutschen Gymnasien 1991 gering war. Seit der internationalen Schulvergleichsstudie Pisa wird die Marginalisierung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in Deutschland als eines der zentralen Ungleichheitsprobleme im deutschen Bildungssystem kritisiert. Für das Schuljahr 2006/07 wurde der Anteil „ausländischer“ Schülerinnen und Schüler an der Schüler/innen/schaft an deutschen Gymnasien mit lediglich 4,3 Prozent beziffert (Statistisches Bundesamt 2008). Auch diese Angabe ist in ihrer Aussagekraft nicht unproblematisch, da sie keine direkten Rückschlüsse auf die Zahl der Schülerinnen und Schüler „mit Migrationshintergrund“, einer sehr heterogenen Gruppe, zulässt und die gegenwärtig angelegten statistischen Erhebungskriterien eine differenziertere Erfassung nicht erlauben. Für eine ausführliche Diskussion der empirischen Probleme zur statistischen Erfassung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund vergl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (2007) sowie Söhn/Özcan (2007). Dieser Zusammenhang kann hier nur angedeutet, aber nicht weiter vertieft werden, es sei jedoch darauf verwiesen, dass Analogien zur statistischen Erfassung von internationalen Studierenden bestehen (vergl. Kap. 3 sowie Bauschke-Urban 2006).
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Nalan beschreibt, dass die rassistischen Angriffe und das damit verbundene politische Klima, das zu Beginn ihres Studiums herrschte, für sie selbst eine Konfrontation mit ihrer eigenen ethnischen Identität auslöste („Und auch für mich hat sich das akut gestellt“ (N: 166-167). Nalan betont, dass es an diesem Punkt eine Veränderung in ihrer Selbstwahrnehmung gab, denn zuvor hatte sich die Frage nach ethnischer Zugehörigkeit für sie gar nicht gestellt. Bis dahin hatte sie sich keine Gedanken über ihre ethnische Positionierung machen müssen, sie war vielmehr davon überzeugt, dass sie eine ethnische oder nationale Identifizierung „nicht braucht“ (N: 170). Die Erzählung Nalans lässt den Schluss zu, dass die politischen Makro-Diskurse für sie eine massive Wechselwirkung mit ihrer gesellschaftlichen Position als Individuum besaßen, denn diese war durch rassistische Angriffe auf andere Migrant/inn/en plötzlich als „ethnisch“ markiert, da sie erkannte, dass die rassistischen Übergriffe sich gegen Migrant/inn/en als Nicht-Deutsche richtete. Damit erlebte sie sich selbst als ein potenzielles Angriffsziel für rassistische Übergriffe – auch wenn Nalan nicht von direkten Übergriffen auf ihre Person berichtete. Nalans Zugehörigkeit zur Gruppe der Migrant/inn/en begründete sich für sie selbst dadurch, dass sie mit anderen Migrant/inn/en die Gemeinsamkeit teilte, potentielle Ziele für rassistische Angriffe zu sein. Damit erfuhr sie die Markierung „ethnisch Fremde/Migrantin“ zu sein als relativ plötzlich in ihr Leben hereinbrechende Fremdzuschreibung. Die gesellschaftliche Fabrikation dieser Zuschreibungs- und Aneignungsprozesse zeigt sich in der folgenden Erzählsequenz sehr deutlich, in der Nalan beschreibt, dass sie sich selbst zuvor als frei von einer „ethnischen Identität“ erlebt hat. Noch bis zu dem Zeitpunkt hatte ich gerne mich gesehen als jemanden, die ehm, die ja eigentlich so ne ethnische Identifizierung nicht braucht, oder auch so ne nationale Identifizierung. Aber das war nicht so leicht. Man musste sich identifizieren. (N: 167-173)
Für Nalan als Tochter einer Akademikerfamilie, die sich bis dahin ohne für sie selbst nennenswerte ethnisch begründete Exklusionen erfahren zu haben durch das deutsche Bildungssystem bis zum Abschluss des Abiturs und der Aufnahme eines Studiums gearbeitet hatte, galt bis dahin eine Strategie des „noch als Deutsche durchzugehen“, das sie selbst mit dem englischen Wort „Passing“ bezeichnet. Also, das war das Passing, was es natürlich im Deutschen so natürlich nicht gibt, ja? So einfach durchzugehen, noch als Deutsche durchzugehen und nicht sich zu rechtfertigen. Na ja, so war das, damals. (N: 189-194)
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In der Art, wie Nalan über das „Passing“ erzählt, erhält es einen doppelten Sinn, wenn sie erläutert „was es (..) im Deutschen (..) nicht gibt“ (N: 190). Einerseits beschreibt sie, dass es für den Begriff „im Deutschen“ keine sprachliche Entsprechung gibt, andererseits steckt darin die doppeldeutige Feststellung, dass auch das Phänomen „einfach durchzugehen (..) und nicht sich zu rechtfertigen“ für sie selbst keine soziale Option mehr darstellte. Nalan erzählt von ihrem Erleben ethnischer Zuschreibungen, das im krassen Gegensatz zu ihrer Selbstwahrnehmung als jemand steht, „die ja eigentlich so ne ethnische Identifizierung nicht braucht“. Bis zu diesem Punkt in ihrem Leben gab es zwar eine Auseinandersetzung mit ethnischer Positionierung „Diese Positionierung hat sich noch mal neu, auch sehr akut, auch gestellt. Und auch für mich hat sich das akut gestellt.“ Ihre eigene Position jenseits von Fremdzuweisungen war für Nalan bis dahin jedoch anders: Aber meine Antwort war eigentlich so für mich selbst immer: „Ich brauch nicht, ich brauch mich nicht zu definieren. Nationale Identität hat für mich keine Bedeutung.“ Natürlich, so habe ich das zu diesem Zeitpunkt beantwortet. (N: 181-186)
Umso problematischer erlebt Nalan die Rechtfertigungszwänge, in die sie sich durch gesellschaftliche Fremdzuschreibungen gedrängt fühlt. „Man kann damit nicht umgehen. Naja, umgehen schon. (N: 180-181) Aber das war nicht so leicht. Man musste sich identifizieren (N: 187-188)“. Damit beschreibt Nalan rückblickend den deutschen gesellschaftlichen Kontext für Migrantinnen und Migranten Anfang der 1990er Jahre als ethnischen Identifizierungszwang. Als besonders relevant sieht sie diese Frage für die Gruppe der bildungserfolgreichen zweiten Migrationsgeneration. Dieser Zusammenhang wurde von Inowlocki, Lutz und Gümen (2003) auf der diskursiven Makroebene als gesellschaftlicher „Problemkonsens“ gegenüber türkischen Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik analysiert, der als eine Geschichte der Vorstellung von „den Anderen“ beschrieben werden kann, in der Unterschiede betont und Ähnlichkeiten ignoriert werden. Während seit den 1970er Jahren eine diskursive Orientalisierung von Migrantinnen und Migranten stattfand, verwandelte sich diese Debatte in einen Diskurs, der Migrant/inn/en pauschal mit „Türk/inn/en“ gleichsetzt (Lutz 1991). Diese Vorstellung wurde von einer ganzen Reihe von Zuschreibungen begleitet, die mit den Stichworten „traditionell“, „ungebildet“, „religiös“ (wohlmöglich Kopftuch tragend) holzschnittartig ergänzt werden kann. Nalan bediente diese Stereotypen jedoch ganz und gar nicht. In den 1980er Jahren gewann das Paradigma kultureller Differenz, das auch in der Multikulturalismus-Debatte einen zentralen Bezugspunkt darstellt,
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weiter an Raum und findet als dominantes Paradigma sowohl in den öffentlichen Diskursen als auch in der deutschsprachigen Migrationsforschung bis heute eine breite Anwendung. In Bezug auf die „zweite Generation“ von Migrantinnen und Migranten (die inzwischen bereits durch differenziertere Analysen auf die dritte und vierte Generation zu erweitern ist) bildet die Annahme, dass diese zweiten Generation sich in einem kulturellen Konflikt zwischen ihren traditionell orientierten Herkunftsfamilien und der Moderne der Einwanderungsländer befindet, ein ebenso wirksames Stereotyp wie die Annahme, dass die erste Generation von Migrant/inn/en in starren Traditionen verharrt. In den Migrationsdiskursen werden insbesondere die Töchter der zweiten Migrantengeneration als Leidtragende der als anti-modern und traditionalistisch klassifizierten kulturellen Differenzen betrachtet.136 An dieser gesamten Sequenz des Interviews fällt auf, dass Nalan sich als Angehörige der zweiten Migrationsgeneration präsentiert, sie nimmt jedoch keinerlei Bezug auf ihre gesellschaftliche Positionierung als Frau. Weder erzählt sie von Fremdzuschreibungen in Bezug auf eine Verknüpfung von Ethnizität und Gender, noch berichtet sie von Zwängen, sich als „Frau“ innerhalb ethnischer Zuschreibungszwänge zu verorten. Diese Nicht-Thematisierung von Gender in Nalans Selbstbeschreibung kann mit Bezug auf den Ansatz des „doing difference“ (West und Fenstermaker 1996; Fenstermaker und West 2001) kontextualisiert werden. Im „doing difference“-Ansatz wird hervorgehoben, dass die soziale Bedeutung der Differenzkategorien situativ immer wieder neu hergestellt wird. Dies führt dazu, dass jeweils kontextabhängig ihre Bedeutung stärker hervortritt oder im Hintergrund bleibt. Die Implikationen für ein Verständnis der Relationalität zwischen den Differenzlinien beschreiben West und Fenstermaker als komplexes Verhältnis zwischen den Kategorien Ethnizität, Geschlecht und Klasse. (West und Fenstermaker 1996: 377) Die umfassende Identitätszuweisung, die Nalan durch diskursive gesellschaftliche Ausgrenzungen für ihr Erleben als Migrantin der zweiten Generation beschreibt und die sie als Zwang zu einer eigenen ethnischen Positionierung erlebt, hat den Effekt, dass Gender an dieser Stelle der biographischen Selbstdeutung Nalans als Differenzlinie hinter die Bedeutung ethnischer Positionierung zurück tritt. Sie stellt in ihrer biographischen Narration heraus, dass sie sich sozialen Zwängen zur ethnischen Positionierung in einer Weise ausgesetzt fühlt, die ihre Vorstel-
136 Seit den späten 1980er und frühen 1990er Jahren werden diese Stereotype in der wissenschaftlichen Reflexion als gesellschaftliche Herstellung von Ethnisierung kritisiert (z.B. Bukow und Llaryora 1988; Gümen 1994; Lutz 1996, vergl. auch das Kapitel 6 zur Intersektionalität. Kritische Reflexionen finden sich u.a. bei Lutz und Hildebrandt (1998), Calloni und Lutz (2000), Nökel (2002) und Beck-Gernsheim (2004).
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lung eines migrantischen „Wir“, das in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft vorgestellt wird, durch ethnische Fremdzuschreibungsprozesse entstehen ließ. Nalan thematisiert in Verbindung mit ihrer Reflexion ethnischer Zuschreibungspraktiken ihr Geschlecht weder durch direkte reflexive narrative Passagen noch indirekt durch die Beschreibung von vergeschlechtlichten Formen des Handelns und des Erlebens. In Nalans Erzählung taucht Gender als Identitätskategorie nur in sehr wenigen Erzählsequenzen auf. Ihre Zugehörigkeit zu einer akademisch gebildeten Familie, die von der Türkei nach Deutschland migriert ist, erwähnt sie ebenfalls nur kurz und dies erst am Schluss des Interviews. Anders als die große Mehrheit der Arbeitsmigrantinnen- und migranten zählen Nalan und ihre Familie zu der akademisch gebildeten Mittelklasse und ihr Beispiel verweist auf die große Heterogenität der unterschiedlichen Gruppen von eingewanderten Menschen und ihren Familien, die keineswegs ausschließlich durch ethnische Differenzierungen oder nach nationaler Herkunft zu unterscheiden sind, sondern ebenso nach Klassenzugehörigkeit und Bildung sowie nach Geschlecht, Alter, Gesundheit und anderen Differenzkategorien. Die imaginierte Gemeinsamkeit von Migrantinnen und Migranten konstituiert sich erst entlang der sozialen Konstruktion der Differenzachse gesellschaftlicher Ethnisierungen, die sich in Fremd- und Selbstzuschreibungszwängen ausdrücken und naturalisierte Bilder der Andersartigkeit von Migrantinn und Migranten ebenso erzeugen wie die Vorstellung einer homogenen Mehrheitsgesellschaft. Sowohl die Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum als auch die Geschlechtsrollen, die Nalan aus ihrer Familie vertraut sind, werden von ihr, anders als die Konstruktionen nationalstaatlicher und ethnischer Zugehörigkeiten, nicht als Markierungen der Marginalisierung beschrieben. Im Gegenteil, sie weist darauf hin, dass sie durch diese Aspekte ihrer Herkunft Privilegierungen erfährt. Nalan beschreibt ihre Familie als gebildet und erfolgreich, dabei hebt sie besonders die Vorbildfunktion, die die Großmutter in der Familie einnimmt, heraus. Sie würdigt vor allem den akademischen Erfolg und „die Anstrengung“ (N: 1976), die die Großmutter durch ihr spätes Studium auf sich nahm, als sie bereits Kinder hatte. Für die Bildungsgeschichte ihrer Großmutter kontextualisiert Nalan, dass ihr spätes Studium in eine Zugehörigkeit zur „Mittelklasse“ (N: 1965) eingebettet ist und ermöglicht wurde. Meine Eltern sind beide Akademiker, meine Mutter kommt aus so `ner Mittelklasse, wie soll ich das kurz skizzieren, ne, die Eltern von meiner Mutter haben auch studiert. Meine Großmutter war Lehrerin, das war damals, ohne dass ich das jetzt gewählt sagen kann, aber, von ihren Lebensumständen her, also, sie hat als Erwachsene ihre Ausbildung gemacht, nachdem sie schon ihre Kinder hatte. Das ist natürlich auch ne sehr große Anstrengung
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gewesen für sie. Aber von daher ist also Bildung, ja Bildung und ganz besonders, wir sind drei Schwestern in meiner Familie, das ist immer ein ganz wichtiges Thema gewesen und das war immer klar, dass wir auf ALLE Fälle einen Beruf brauchen, ne. Auch, ja, so. Und von meines Vaters Seite, er ist, also er kommt vom Dorf, aus `ner, kann man nicht sagen, aus `ner, doch, relativ armen, auch bäuerlichen Familie. Und er war der erste, der studiert hat, sein jüngerer Bruder hat studiert, keine von den beiden Schwestern hat studiert und keine von den beiden Schwestern hat das geschafft, ne. Also, Bildung war sehr wichtig für meine Eltern. (N: 19661993)
Interessanterweise beschreibt Nalan ihre eigene Gender-Positionierung als Frau der zweiten türkischen Migrantengeneration nicht als etwas Besonderes. Dabei stellt sie ihre Familiengeschichte als Geschichte weiblichen Bildungserfolgs so dar, dass deutlich wird, es handelt sich für Nalan um eine Selbstverständlichkeit, wenn Frauen erfolgreiche Bildungsbiographien haben. Auch die Exzeptionalität der Bildungsgeschichte ihrer Großmutter streicht sie dabei nicht heraus, diese Information findet sich in Nalans Erzählung zwischen den Zeilen versteckt: „das war damals//(…)von ihren Lebensumständen her, also, sie hat als Erwachsene ihre Ausbildung, nachdem sie schon ihre Kinder hatte.“ (N: 1970-1979) Während die Großmutter ein Studium aufnahm, als sie selbst bereits Kinder hatte, was „von ihren Lebensumständen“ her als Angehörige einer wohlhabenden Mittelklasse-Familie – auch wenn es persönliche Anstrengungen erforderte – offenbar möglich wurde, beschreibt Nalan für die Familie ihres Vaters eine andere Bildungsgeschichte. Das Studium ihres Vaters (und das seines Bruders) schildert Nalan als akademische Aufstiegsgeschichte, denn sie stammen aus einer relativ armen, bäuerlichen Familie, in der sie die ersten Akademiker sind. Auch in dieser kurzen Erzählsequenz thematisiert Nalan die Kategorie Geschlecht, mit der der Bildungsaufstieg der männlichen Familienmitglieder gelingen konnte. Dass keine der Schwestern ihres Vaters studiert hat, erklärt Nalan damit, dass ihnen aufgrund einer innerfamilialen Bildungsdifferenzierung nach Geschlecht ein Studium nicht offen stand. Nalan beschreibt die Tatsache, dass beide Tanten im Gegensatz zu ihren Brüdern, selbst nicht studiert haben, jedoch nur in einer sehr knappen Sequenz: „keine von den beiden Schwestern hat studiert und keine von den beiden Schwestern hat das geschafft“ (N: 189-192). Ihre eigene akademische Entwicklung bringt Nalan ebenfalls nur am Rande mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit in Verbindung. Sie reflektiert, dass die Offenheit und unterstützende Haltung ihrer Familie zu ihrem akademischen Bildungsweg als Privileg zu betrachten ist, das sie von der Situation vieler anderer Frauen unterscheidet.
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Nalan ist sich bewusst, dass die Bildungsbezogenheit ihrer Familie und insbesondere die akademischen Ausbildungen ihrer Großmutter als Lehrerin und ihrer Mutter als Ärztin (N: 2048-2050), für ihre eigene Entwicklung ein Privileg darstellt, das sie im Vergleich mit anderen Menschen, insbesondere im Vergleich mit anderen Frauen begünstigt: Also, das ist schon mal ne generelle Sache, das hat nicht jeder, ne. Will mal sagen, nicht jedE vor allem, ja, also (LACHEN). Das war also ne ganz große Selbstverständlichkeit, dass ich, ehm, studieren würde, ich denke, das ist ne ganz wichtige Sache. (N: 1960-1966)
Die Haltung ihrer Familie, die ein Studium für Nalan nicht nur unterstützt, sondern als „ganz große Selbstverständlichkeit“ (N: 1964) betrachtet, wirft mehrere Schlaglichter: Es handelt sich hier um einen Bildungsprozess, in dem Gender durch die Vorbildfunktionen der akademisch gebildeten Großmutter und der Mutter, die beruflich – und für die Mutter gilt dies auch für den Bereich ihrer Partnerschaft – stereotype Geschlechtsrollen hinter sich gelassen haben. Nalan, die in die Fußstapfen dieser beiden weiblichen Vorreiterinnen treten kann, befindet sich in einer familiären Situation, in der ihr Studium eine einfache „Selbstverständlichkeit“ darstellt und ihre Geschlechtszugehörigkeit spielt für ihr Studium in ihrer biographischen Narration keine Rolle. Das familiäre Arrangement bildet für Nalan die Möglichkeit, ihre eigenen Bildungsprozesse als frei von Kategorisierungen nach Geschlecht zu erleben. Hirschauer hat dieses Phänomen einer Irrelevanz der Kategorie Gender mit seinem Ansatz des „undoing gender“ (1996 und 2001) beschrieben und die Prognose gestellt, dass die interaktive Herstellung von Gender kontextuell kontingent und im Schwinden begriffen sei.137 In ihrer biographischen Narration wird deutlich, dass Nalan aus der familiären Ressource akademischer Ausbildungen der Eltern (und der Großmutter) schöpfen kann und mit selbstbewusster und kritischer Haltung ihr Studium beginnt. Andererseits erklärt sich aus dieser Perspektive, weshalb Nalan vom Studium erwartet, dass sie dort einen Ort findet, an dem sie – wie in einer Familie – „gut aufgehoben“ (N: 112) sein würde. Im Gegensatz zu diesem für Migrantinnen und Migranten repressiven Klima in Deutschland, das Nalan in der Phase vom Übergang von der Schule zum Studium wahrnimmt, ist sie überzeugt davon, dass „mein Studium (…) für gesellschaftliche Dinge nützlich ist.“ (N 201) Dabei rekurriert Nalan auf eine wichtige – familiäre – Ressource, die sie im Verlauf des Interviews mehrfach als ihren subjektiven Ankerpunkt hervorhebt: Vertrauen „in die Macht des Intellektuellen“. (N 204) Dabei bleibt 137 Ähnlich auch Heintz und Nadai (1998) sowie in ihrer kritischen Replik Wetterer (2006).
Ich hab dann gedacht: Was soll ich hier?
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Nalan in einer Metaphorik der familialen Geborgenheit („Vertrauen“), die sich in der Geborgenheit durch ihre Familie spiegelt, die ihr den Rücken für ihre akademische Entwicklung stärkt. Aus dieser Position präsentiert sie sich als junge Frau, die voller Selbstbewusstsein, Vertrauen und Elan ein Studium beginnt: Ich hab ein großes Vertrauen gehabt, eigentlich. Eigentlich, sozusagen in die Macht des Intellektuellen, also nicht des intellektuellen Menschen, sondern in die Macht des Denkens, der Theorie. (N: 197-202)
Entsprechend sind Nalans Erwartungen, die sie an ihr Studium knüpft, sehr hoch. Schnell ist sie jedoch enttäuscht (N: 119-121), da sich die Hochschule, an der sie resignierend schließlich neben der Ethnologie mehrere Nebenfächer ausprobiert, als ausgesprochen unwirtlich und für ihre intellektuelle Entwicklung nicht stimulierend zeigt. Nalan beschreibt für den Verlauf ihres Studiums in Deutschland als voller Hindernisse und Barrieren, die dazu führen, dass sie sich trotz ihres Elans, an der Universität etwas zu lernen, verzettelt hat: „Irgendwann hab ich mich ´n bisschen aufgehalten“ (N: 224-225). Das Klima in ihren Studiengängen nimmt Nalan als feindselig wahr, sie fühlt sich fremd und der Studienkontext passt nicht zu ihr: „Also ich hab da irgendwie gar nicht reingepasst.“ (N: 703-704) Auch die Vorstellung, dass ihre Ideen aufgenommen und gefördert würden, wird enttäuscht. Statt „gut aufgehoben“ zu sein beschreibt sie sich als abgelehnt und ignoriert: „Da, da wurde man ja eigentlich abgewürgt. Oder ich wurde abgewürgt.“ (N: 727-729) Als sie versucht, etwas an dieser Lage zu verändern und um Resonanz bittet, macht Nalan die negative Erfahrung, dass sie kein inhaltliches Feedback erhält, sondern lediglich formale Korrekturen zur Interpunktion in einer Hausarbeit als Rückmeldung bekommt (N: 764-771). Insgesamt konstatiert sie für ihr Ethnologie-Studium, das sie als „exotisierend“ (N: 133) kritisiert, dass sie nicht vorfindet, wonach sie gesucht hat „Theorie ist etwas für die höheren Semester“ (N: 126-127) und sich von dem Studium unterfordert sieht: „Ich war auch nicht gerade ne gute Studentin. Oder sagen wir, vielleicht ne gute, aber keine fleißige Studentin.“ (N: 134-139) Auch die Wahl ihrer Nebenfächer ist für Nalan enttäuschend (N: 220-228). Sie entscheidet sich zunächst für ein Türkisch-Studium und belegt zusätzlich Veranstaltungen in Soziologie. Während die Wahl eines Türkisch-Studiums in einer Kontinuität mit Nalans Auseinandersetzung mit ihrer eigenen ethnischen Zugehörigkeit einzuordnen ist, erhofft sie sich vom Soziologie-Studium eine stärkere Auseinandersetzung mit Theorien. Vom Türkisch-Studium ist Nalan nicht nur inhaltlich enttäuscht (N: 237-240), sondern sie vergleicht den Ressourcenmangel, der in diesem Fach herrschte – „Das war da irgendwie son kleines
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Kellerloch, wo das da so unterrichtet wurde“ (N: 142-144) – mit anderen Sprachstudiengängen und leitet daraus eine Analogie zur gesellschaftlichen Ausgrenzung türkischer Migrant/inn/en ab: Zweimal die Woche gab es da also Sprachunterricht. Und in den anderen Fächern, in anderen Sprachen hätte man solche Zustände ja einfach gar nicht für MÖGlich gehalten. (N: 252-256)
Auf andere Art fühlt Nalan sich in der Soziologie unwohl, im Gegensatz zu ihren beiden eher kleinen Studiengängen studiert sie damit ein Massenfach, das sie als mechanistisch und unreflektiert empfindet und sie erinnert sich, dass sie damals auf manche Dinge „besonders empfindlich reagiert“ hat. Im Verlauf einer Veranstaltung kommt es zu einer Konfrontation mit einem Professor, die für Nalan ein Schlüsselerlebnis darstellt. Ich erinnere mich an diesen einen Ausspruch von diesem einen SoziologieProfessor. Es ging um Gemeinschaft, denk ich mir. Und dann, dann sagte er doch zu uns: „Wir haben ja alle unsere Muttersprache mit der Muttermilch eingesogen.“ Ja, das hat er gesagt. Mit der Muttermilch. (..) Ich hab mich dann auch gemeldet und gesagt: „Nee, nicht alle von uns.“ Und da hat er gesagt: „Ja, ja, gut.“ Na ja, ich hab ja kein so besonders instrumentuelles Verhältnis dazu, es hat dann nur, es hat mich gestört. Nee, aber ich hab dann gedacht: „Was soll ich hier? (N: 293-324)
An dieser Stelle hat sich für Nalan eine umfassende Frustration mit ihrem Studium verfestigt. Weder inhaltlich noch atmosphärisch fühlt sie sich von den gewählten Studienfächern angeregt und gefördert. Sie beschließt, abermals an ihre politischen Aktivitäten anzuknüpfen und ein Arabisch-Studium zu beginnen. Deshalb bewirbt sich Nalan als Gaststudentin an einer Universität im Nahen Osten und lernt dort Studierende aus anderen Ländern, insbesondere aus England kennen, mit denen sie sich über ihre Studienprobleme in Deutschland austauscht. Dabei gewinnt Nalan im Vergleich mit den Möglichkeiten, die sich ihr in anderen Ländern, insbesondere in Großbritannien bieten, neue Perspektiven auf ihr Studium (N: 440-456). Einerseits ist sie begeistert, dass sie dort die Themen Gender und Ethnizität im Studium vertiefen kann, denn entsprechende Studiengänge kennt Nalan bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Besonders wichtig ist ihr vor allem die Tatsache, dass es in Großbritannien möglich ist, sehr viel zügiger zu studieren als in Deutschland. Da war ich dann Feuer und Flamme. Und dann hab ich gehört von dem Uni-System, was hier anders ist, nicht mit dem BA und MA, und dann hab
Ich hab dann gedacht: Was soll ich hier?
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ich gehört, man kann innerhalb von EINEM Jahr einen Master machen. Ich hab gedacht: DAS mach ich! (N: 494-499)
Nalan begeistert sich damit nicht nur inhaltlich über die Aussicht, ihr Studium in Großbritannien abzuschließen. Es lockt sie vor allem, aus dem Zustand der Stagnation, den sie im Studium in Deutschland erlebt, herauszutreten und zügig zu studieren. Hier kristallisiert sich für ihre wissenschaftliche Entwicklung ein ganz entscheidender Wendepunkt, denn sie beschreibt, wie sie nun sehr zielgerichtet auf einen Abschluss hinarbeitet. Ich hab bis hierhin so chaotisch studiert, ich hab mir hier nicht so schrecklich viele Gedanken drüber gemacht. Ich wollte was LERNEN und nicht unbedingt was nur abschließen, bis zu dem Zeitpunkt, ne. Und dann hab ich das, wie gesagt, das n bisschen disziplinierter begonnen. (N: 502-509)
Sie schließt nach ihrer Rückkehr aus dem Nahen Osten sehr rasch ihr Grundstudium ab, arbeitet nebenher und legt Geld zurück, um die Studiengebühren in England bezahlen zu können und bewirbt sich erfolgreich um einen Studienplatz. Der Aufbruch nach Großbritannien, der für Nalan zugleich aus der Geborgenheit der vertrauten Umgebung führt, in der sie aufgewachsen ist, wird von ihrer Familie nicht nur begrüßt, sondern auch sehr intensiv emotional unterstützt. Dies geschieht in einer Kontinuität zu Nalans Erfahrung, dass für ihre Familie Bildung einen sehr hohen Stellenwert besitzt und dass ihre Familie sie in der Entfaltung ihrer Fähigkeiten unterstützt. Damit beschreibt Nalan eine emotionale Ressource, die auch durch eine räumliche Trennung von ihren Eltern nicht geschmälert wird. Im Gegenteil, sie erfährt von ihrer Familie eine besondere Ermutigung, ihr Studium in England aufzunehmen, da ihre Eltern davon überzeugt sind, dass Nalan ihre Begabung dort besser entfalten kann als in Deutschland. Sie haben mich SEHR unterstützt, wie gesagt, immer dieses Gefühl vermittelt, was immer du willst, das kannst du machen, zuweilen (LACHEN) mehr, hatten die mehr Vertrauen in mich als ich selbst, muss ich sagen. Uuund, ehm, als ich nach England ging, muss ich sagen, das war in dem Jahr 95, ich hab erzählt von der, von einem sich ausbreitenden Rassismus, und natürlich, was ich auch nicht wusste, artikuliert. Und dann die Angst eben AUCH in dieser älteren Generation, ich hab vorhin über diese zweite Generation gesprochen, aber die haben gesagt, bleib nicht in diesem Land, ne. Geh bloß weg! Sogar die Älteren selbst, ja ja, die wollten, also sie wussten, man ist sehr eingeschränkt in Deutschland, und das ist etwas, was ich sowieso sagen wollte. Du hast ehm, du bist sehr eingeschränkt, du wirst
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ehm, auf bestimmte Bereiche festgelegt und man traut dir nichts anderes zu, man gibt dir keine anderen Jobs und so weiter und so ist das auch immer noch zum großen Teil. Uuund sie wollten, hm, dass ich eben meine Fähigkeiten entfalten kann. So. (LACHEN) Und aus dem Grund wollten sie gerne, dass ich nach England komme. (N: 1994-2018)
In dieser Sequenz beschreibt Nalan für ihren Bildungsweg nicht nur die starke intergenerationale Unterstützung durch ihre Eltern, die für sie eine wichtige emotionale Ressource darstellt. Die schützende Funktion dieses Verhältnisses wird vor dem Hintergrund der familiären Außenwelt besonders wirksam, über deren Wahrnehmung eine verbindende intergenerationale Übereinkunft besteht. Das Leben in Deutschland wird innerhalb der Familie als einschränkend bewertet: „du wirst auf bestimmte Bereiche festgelegt und man traut dir nichts anderes zu, man gibt dir keine anderen Jobs“ (N: 2009-2012). Das Vertrauen der Eltern in Nalans Fähigkeiten erhält durch diese außerfamiliäre soziale Kontextualisierung eine besonders verbindende Funktion für die Beziehung zwischen Tochter und Eltern. Diese emotionale Bindung wird durch Nalans transnationale Lebensführung und die Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes in ein anderes Land nicht gelockert, sondern verstärkt. Der Aufbruch nach Großbritannien stellt für Nalan zwar einen biographischen Bruch auf der Ebene der Lokalisierung dar, in der Beziehung zu ihren Eltern bleibt Nalans eigene Migration nach Großbritannien jedoch ein Kontinuum. Einerseits erfüllt sie damit die Erwartungen, die die Eltern in Bezug auf ihre intellektuelle Entwicklung an sie haben, andererseits wird sie – ebenso wie ihre Eltern – zu einer Migrantin der ersten Generation, die eine Lebenssituation, die sie als nicht förderlich für sich selbst erkennt , durch den Aufbruch in ein anderes Land zu verbessern sucht. Nalan hat im Verlauf des Interviews nicht über die Beweggründe ihrer Eltern für ihre Migration nach Deutschland gesprochen. Deutlich wird jedoch, dass Nalan ihre Eltern als kritische Intellektuelle beschreibt, die ihre Tochter einerseits aus Gründen einer tiefen emotionalen Verbundenheit unterstützen. Andererseits bringt Nalan selbst in ihrer biographischen Erzählung die kritische Haltung ihrer Eltern zur Mehrheitsgesellschaft, die Migrantinnen und Migranten die Anerkennung verweigert, und die Unterstützung ihrer eigenen intellektuellen Entwicklung in einen engen Zusammenhang. Dadurch erhält diese im außerfamilialen Kontext auch den Charakter einer politischen Handlung, die eine starke Verbindung zwischen Eltern und Tochter herstellt. Für Nalan verbindet sich damit zugleich der Auftrag, sich intellektuell weiterzuentwickeln und diese Entwicklung einem Nutzen zu widmen.138 Sie formuliert dies in der Schilderung 138 Lutz (2000) hat für derartige intergenerationalen Verbindungen von Migrationsgeschichten zwischen Eltern und Kindern des Begriff „Migration als soziales Erbe“ geprägt.
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ihrer ersten eigenständigen Migrationserfahrung als Gaststudentin einer Universität im Nahen Osten, wo sie sich entschloss, ihr Studium in einem anderen Land als in Deutschland fortzuführen: „Ich hab gedacht: ich will auf alle Fälle was Nützliches LERNEN.“ (N: 424-425) Es zeigt sich im Verlauf der weiteren biographischen Narration, dass Nalan ihre Eltern mit ihrem Studium in Großbritannien nicht enttäuschte, sondern die Erwartungen an ihren intellektuellen Erfolg erfüllte und zumindest ihre eigenen Vorstellungen von ihrer akademischen Entwicklung sogar noch übertraf.
9.3
Ankommen: Die Universität als intellektuelles Zuhause
In Nalans biographischer Erzählung fächern sich Schilderungen, die die Dimension eines Zuhause beinhalten, in drei Lebensbereiche auf: Sie schildert einerseits das Ankommen in einem Wissenschaftsbetrieb, in dem sie sich intellektuell herausgefordert und persönlich gefördert fühlt, sowie die Bedeutung eines intellektuellen Freundschaftsnetzwerks und die Unterstützung durch ihre Familie während der Promotionsphase. In Nalans biographischer Narration erfüllt die Beschreibung des Studiums und des akademischen Alltags in England eine auffällig komplementäre Stellung zu ihren überwiegend als negativ beschriebenen Erfahrungen, die sie im deutschen Hochschulsystem machte. Während sie sich in Deutschland mit verengten Perspektiven auf ihre Person und einschränkenden Bildungssettings für die Entwicklung ihrer intellektuellen Möglichkeiten konfrontiert sieht, findet sie in Großbritannien gute Entwicklungsmöglichkeiten vor: ein kurzes, abschlussorientiertes Studium und inhaltliche Schwerpunkte, die sie interessieren und nach denen sie in Deutschland vergeblich gesucht hatte: Sie resümiert ihre Migration nach Großbritannien als erfolgreiche Suche nach intellektueller Entfaltung, die sie in Deutschland nicht finden konnte: Dass man sich an der Uni wohl fühlen kann, also dass es so was überhaupt gibt, das hab ich erst hier gelernt. (N: 229-231)
Wie oben schon gezeigt wurde, steht die Aufnahme ihres Studiums in einem Kontinuum mit dem Wunsch ihrer Eltern, dass sie eine gute Bildung erhält und ihre intellektuellen Fähigkeiten entwickeln kann. Auch für ihre damalige Liebesbeziehung mit einem Kommilitonen stellt ihr Auslandsstudium keinen Bruch dar, sondern Nalan geht diesen Schritt gemeinsam mit ihrem Freund. Ihre Verbundenheit wird dadurch noch unterstrichen, dass beide während des gemeinsamen Auslandstudiums sogar die gleichen Veranstaltungen belegen (N: 614-616). Im Interview legt Nalan jedoch Wert darauf, zu betonen, dass die Idee und die Initiative für die Migration nach Großbritannien ihre eigene war und sie
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es war, die Initiative für den Schritt ins Ausland unternommen hat und sie ihn als nachreisenden Partner betrachtet. Nalan erzählt, dass ihr Freund „mitgekommen“ sei und scherzt darüber, dass sie ihn „importiert“ habe. Und dann, bin dann nach England gekommen, das war im September 95. Ehm, mit meinem damaligen boyfriend. Ehm, also er ist also mitgekommen. I: Du hast ihn mitgebracht? N: Ja,ja. Ich hab ihn importiert aus Neustadt, direkt. I: Aha. Ehm. (Lachen) Hatte er hier nichts anderes zu tun, als dich zu begleiten? N: Nein, er hat das auch studiert. Ich hab zu ihm gesagt, „weißt du“ – also, er war n bisschen schockiert, als ich gesagt hab, ich möchte nach England gehen, da war er traurig. Da hab ich gesagt, na ja, niemand hält dich davon ab, mitzukommen. (N: 555-570)
Nalan schildert den Beweggrund für die Migration ihres ehemaligen Freundes zunächst als Festhalten an der räumlichen Kontinuität ihrer Liebesbeziehung, während sie selbst für die Gestaltung ihrer eigenen wissenschaftlichen Entwicklung eine aktive Rolle ergriffen hat. Sie vergleicht die damalige Lebenssituation ihres Freundes mit ihrer eigenen Unzufriedenheit mit dem Studium. Seine Orientierungslosigkeit im Studium nennt sie auch als Grund dafür, dass er ihren Impuls, das Studium im Ausland fortzusetzen, aufnahm. Dabei sieht Nalan sich innerhalb der Beziehung in einer fürsorglichen Rolle: Er war auch Student, wie ich damals. Und er hat auch so ein bisschen wie ich eigentlich, na ja, er hat, sagen wir mal, nicht unbedingt so ganz zielgerichtet studiert. Und da hab ich gesagt; „Guck mal, kannst du auch kommen. Es gibt hier viele interessante Sachen, die man machen kann.” Und letztlich hat er sich dann auch dafür entschieden, diesen Studiengang zu machen. (N: 571-578)
Das Auslandsstudium, das Nalan zunächst lediglich für den Zeitraum eines Jahres geplant hatte (N: 629-631) löste für die Beendigung ihres Studiums sowohl einen Energieschub als auch Euphorie für das gewählte Studienfach aus. Durch das kostspielige Auslandsstudium in Großbritannien, das sie ohne Stipendium aufnimmt und für das sie – für den deutschen Kontext, in dem sie zuvor studierte, zu diesem Zeitpunkt noch unvertraut – sogar Studiengebühren zahlt, gerät Nalan in eine finanzielle Situation, die sie dazu zwingt, sehr zielgerichtet zu studieren. „Ich möchte auf alle Fälle das Beste draus machen. Diesmal
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werde ich ALLes nutzen, was ich nutzen kann.“ (N: 625-626) Das Leben in Großbritannien ist teuer, die Ersparnisse mussten für die Studiengebühren aufgewendet werden und die Zeit war begrenzt. Dabei richtete sich Nalans Ehrgeiz vor allem darauf, nach einem Jahr erfolgreich nach Deutschland zurückzukehren und es dann allen zu zeigen, indem sie der Kritik an ihrem Studium durch einen erfolgreichen Abschluss nach nur einem Jahr mehr Gewicht verleihen wollte. Dabei spielt für Nalan die Vorstellung einer politischen Mission, die sie in Deutschland als transnationale intellektuelle Migrantin artikulieren will, eine besonders exponierte Rolle: Und meine Idee war ja auch eben, dass das ein Jahr sein würde, und ich dann (räuspert sich) ich dann zurückgehen würde. Ich hab das so wie ne Entwicklungshilfe auch gesehen, muss ich sagen. Ne Entwicklungshilfe auch für Deutschland, ja? Dass ich hier herkomme und was lerne, was für Deutschland auch interessant und wichtig ist. (N: 627-636)
Nalans Vorstellung einer „Entwicklungshilfe“, die sie durch ihr Auslandsstudium in Deutschland leisten möchte, beinhaltet nicht nur eine politische Kritik an fehlenden kritischen Perspektiven auf Ethnizität und Gender in deutschen Hochschulen. In Nalans „Entwicklungshilfe“-Idee ist für die Konstruktion ihrer eigenen Biographie zugleich der Wusch nach einem gründlichen Rollenwechsel verbunden, der sie aus der mit defizitären Zuschreibungen belasteten Rolle als türkische Migrantentochter, gegen die sie sich wehrt und die sie sich nicht zu Eigen machen will, in eine Position einer transnational bewanderten intellektuellen Migrantin im deutschen Wissenschaftssystem führt, die über eine Form von reflexivem Wissen über die soziale Konstruktion von Ethnizität verfügt, das in deutschen Hochschulen ein Wissensdefizit darstellt. Durch das Auslandsstudium im Nahen Osten kann Nalan eine Außenperspektive auf ihr Studium entwickeln. Ganz besonders profitiert die Transnationalisierung ihrer Perspektive auf ihre eigene Hochschulsituation durch „n paar englische Sichtweisen“ (N: 443), die sie an der Universität im Austausch mit anderen internationalen Studierenden gewonnen hat. Als sie dort ihren englischen Kommilitonen von ihrem Studium in Deutschland berichtet, reagieren sie erstaunt auf die Frustration Nalans darüber, dass Geschlecht und Ethnizität Themen sind, die Nalan als Leerstelle in ihrem Studium beschreibt („das ist etwas, das ich hier gar nicht machen kann“). Hier beginnt die kontrastive Gegenüberstellung ihrer Erfahrungen an deutschen und britischen Hochschulen. Nalan beschreibt letztere als Orte produktiver kritischer Intellektualität, während sich für sie die akademische Kultur in Deutschland als zurückgeblieben und von latenten Rassismen belastet darstellt. England wird von Nalan als neues akademisches Zuhause beschrieben, das sich
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in Form eines intellektuellen Exils in Abgrenzung zu den negativen Erfahrungen in Deutschland konstituiert. Hier beschreibt Nalan die aus ihrer Perspektive besonders schwerwiegenden Defizite innerhalb ihres Ethnologiestudiums, in denen bereits angeführte Differenzierung zwischen „Sex“ und „Gender“ zu einer Auseinandersetzung geführt hat, in der Nalan sich allein gelassen fühlte, denn ihre Professorin „hat das einfach geschehen lassen“. Also, da habe ich ein Referat gehalten, über Geschlecht. In der Ethnologie, also, das war in einem ethnologischen Kurs über Schamanismus. Ich hatte was gehalten über Geschlechterwechsel. Na also, und ich hatte unter anderem so ne Differenzierung benannt, wie ne Differenzierung zwischen Sex und Gender, und das hat, (lacht) das hat zu einem Eklat geführt. Ja, das hat ne viertel Stunde zwischen Diskussion und Nichtdiskussion und Geschrei ausgelöst zwischen meinen Mitstudenten und meine Professorin hat das einfach geschehen lassen, hat sich da, also hm, ja, na ja. Also, diese Sachen, die waren einfach sehr traurig für mich. Ich wusste, es gibt so ne weite WELT da draußen, wo so viele interessante Sachen passieren, wo man so viele interessante neue Dinge lernen kann, ABER innerhalb von diesem deutschen (lacht) Uni-System bin ich davon ausgeschlossen. (N: 456-478)
Durch die fehlende positive Resonanz auf ihre Arbeiten erlebt Nalan sich innerhalb ihres Studiums in Deutschland als isoliert und abgeschnitten von der „weiten Welt da draußen“. Im Kontakt mit britischen Studierenden, die sie im Nahen Osten kennen gelernt hat, öffnen sich für sie ganz neue und viel versprechende Studienperspektiven. Hier erfuhr sie zum ersten Mal von den Studienangeboten der Cultural Studies in Großbritannien, mit denen sie bis zu diesem Zeitpunkt durch ihr Studium in Deutschland noch nicht in Berührung gekommen war und sie staunte, dass ihre eigenen thematischen Interessen „Gender“ und „Ethnizität“ durch den Kontext dieser theoretischen Schule zu einem Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzung in Großbritannien zählte, der bereits eine breite Rezeption gefunden hatte. Und die haben zu mir gesagt: Ach, wirklich? Bei uns gibt’s Kurse, wo man so was studieren kann, die sind richtig drauf spezialisiert. Hab ich gesagt: Wie bitte? Und das, das hat mich interessiert, da war ich dann Feuer und Flamme. (N: 484-490)
Nalan war nicht nur „Feuer und Flamme“ für die verlockenden akademischen Perspektiven, die sie in Großbritannien erkunden wollte, sie war auch begeistert von der Möglichkeit, ihr Studium sehr zügig zu beenden. Ganz anders als ihre
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stagnierende Studiensituation in Deutschland, deren Ende für sie nicht absehbar war, bestand für Nalan eine besondere Attraktivität des Auslandsstudiums in Großbritannien in der Tatsache, dass sie dort in nur einem Jahr einen MasterAbschluss erwerben konnte. Diese Herausforderung erlebte sie für sich als besonders stimulierend (N: 490-494). Die Vorstellung, dass ein Abschluss nicht in einer unbestimmten weiten, nicht absehbaren Ferne winkt (wie in Deutschland) sondern effizient und zielstrebig in einem klar definierten Zeitraum erworben werden kann (wie in England), hat dazu geführt, dass Nalan ein disziplinierteres Arbeitsverhalten entwickelte, um den Aufbruch in ihr neues akademisches Zuhause zu meistern: Wie gesagt, ich hab bis hierhin so chaotisch studiert, ich hab mir hier nicht so schrecklich viele Gedanken drüber gemacht. Ich wollte was LERNEN und nicht unbedingt was nur abschließen, bis zu dem Zeitpunkt, ne. Und dann hab ich das, wie gesagt, das ein bisschen disziplinierter begonnen. (N: 442-509)
Diese Sequenz stellt zugleich einen erneuten Wendepunkt in der Erzählung Nalans dar, die auch den Übergang zwischen den Kernkategorien „Aufbruch“ und „Ankunft“ kennzeichnet. Ihre Migration nach Großbritannien stellt Nalan in ihrer biographischen Erzählung als Zäsur in ihrer eigenen akademischen Entwicklung dar: Sie streift damit die Zwänge und Barrieren eines einengenden Hochschulsystems (des deutschen) ab und begibt sich in die „weite Welt“ (Großbritannien), in der sie sich entfalten kann und sich zu einer zielstrebigen und zügig arbeitenden kritischen Intellektuellen entwickelt. In England kann sie eine Leidenschaft für die Wissenschaft entwickeln, was sie als sehr beflügelnd erlebt: N: Ich hab mich sehr auf dieses Studium konzentriert und ich hab sehr viel gelesen und gelernt und ich war begeistert. Das muss man auch dazu sagen. Das war für mich ne sehr schöne Erfahrung, sowohl mit meinen Studienkolleginnen, aber auch eben mit den Professorinnen und, mit den Lehrenden `n gemeinsames Framework zu haben, in dem du denkst und siehst. I: Hm. N: Die Welt, nicht die Welt siehst, aber zumindest diskutierst, kann man sagen, ja. Und das war richtig beflügelnd für mich in sehr vieler Hinsicht. Wirklich beflügelnd. Das war auch sehr schön. (N: 640-658)
Im Gegensatz zu ihrer als vereinzelt empfundenen Studiensituation in Deutschland, in der sie sich angegriffen und allein gelassen fühlte, ist Nalan nun eingebettet in ein intellektuelles Netzwerk aus Professorinnen und Professoren und
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auch in die Kontakte mit anderen Studierenden, die ihre Perspektiven und ihre Fragen an die Wissenschaft teilen, unterstützen und fördern. Es ist interessant, dass Nalan weniger den Anschluss an britische Studierende sucht, sondern sie schließt sich mit anderen internationalen Studierenden (N: 659-660) zusammen, die wie sie und ihr Partner in Großbritannien ein Auslandsstudium absolvierten. Damit gestaltet sie ihre transnationale Lebensweise nicht als einen Prozess der Eingliederung und Assimilation in das britische Hochschulleben, vielmehr sucht sie dort nach Menschen, die einen ähnlichen biographischen Erfahrungshintergrund besitzen wie sie selbst. In dieser Atmosphäre des intellektuellen Austausches erlebt Nalan eine Studieneuphorie, die sie an deutschen Hochschulen nicht kennen gelernt hat.139 Auch hier unterstreicht Nalan die positive Bedeutung ihres Studiums in Großbritannien vor dem Hintergrund der Negativ-Folie ihres Studiums in Deutschland – während sie sich in Deutschland gegängelt und in einschränkende Konventionen gepresst sieht, fühlt sie sich in Großbritannien gefördert, anerkannt und gewürdigt. Aber, ich hab was anderes gelernt. Ich denke, ne Auseinandersetzung hab ich gelernt. Ja, ich hab mehr gelesen, ich sag, viel interessantere Sachen (Lachen), für mich viel interessantere Sachen gelesen, ne. Und, hm, und das war das erste Mal, dass für mich auch konzeptuelles und theoretisches Denken hm, ANerkannt, gewürdigt und gefördert wurde. Das wurde sehr gefördert. Ich wurde sehr gefördert, ja. Mir wurden neue Fragen, wenn ich kritische Fragen gestellt hab, dann haben sie nicht gesagt „na ja, das ist nicht wissenschaftlich genug“ (Lachen) oder (Lachen) ja ja, aha (kurzes Lachen) so. Was man in Deutschland eigentlich im Prinzip so: „Aha. Hm.“ Da, da wurde man ja eigentlich abgewürgt. Oder ich wurde abgewürgt. Sondern, die haben mir andere Fragen gestellt: „Gut, dann denk noch mal an, denk noch mal entlang DIEser Linie, denk noch mal an DIEser Fragestellung. Also! Das Fragen stellen, das wurde ermutigt. (N: 711-734))
Während Nalan auf ihre kritische fragende Haltung im Studium in Deutschland Resonanzen beschreibt, in denen sie als defizitär abgetan wird, führt eben diese Haltung in Großbritannien dazu, dass ihre Lehrer sie bei der Entwicklung ihrer Fragen und ihrer eigenen Perspektiven unterstützen. Diese Erfahrungen stehen im krassen Gegensatz zu ihrem Erleben ihrer Studiensituation in Deutschland, wo sie ihre Ideen erstickt, „abgewürgt“ und nicht gefördert findet. Die Förde139 Diese euphorische Stimmung, die Nalan zu Beginn ihres Auslandsstudiums empfindet, deckt sich mit den Befunden von Teichler und Opper (1988) sowie Opper, Teichler und Carlson (1990), die dies als eine typische Erscheinung zu Beginn eines Auslandsstudiums beschrieben haben. Allerdings ebbt diese Euphorie in der Regel nach einigen Wochen wieder ab.
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rung von Nalans Arbeit konkretisiert sich nach ihrem Studienabschluss und die Gespräche mit ihren Lehrerinnen eröffnen ihr eine neue Perspektive auf die Entwicklung ihrer weiteren Möglichkeiten, die Nalan nach ihren Studienerfahrungen in Deutschland für sich selbst gar nicht in Betracht gezogen hatte, denn sie wird ermutigt, eine Doktorarbeit zu schreiben. Und ich hab auch gemerkt, ich hatte ganz großes Glück, ich hatte sehr engagierte Lehrerinnen und die haben mich dann irgendwann gefragt: „Möchtest du nicht ne Doktorarbeit machen?“ Da hab ich gesagt: „Doktorarbeit? – Ich?“ (N: 739-743)
In dieser Sequenz wird deutlich, welche Rolle für Nalans Entwicklung Anerkennung und Ermutigung durch die Lehrenden spielt. Beaufaÿs (2003, 2007) hat den Zusammenhang der sozialen Herstellung von wissenschaftlicher Leistung durch Zuschreibungs- und Anerkennungsprozesse ausführlich diskutiert und dabei die soziale Dimension von Leistung herausgearbeitet, die nicht einfach von Personen „erbracht“ werden, die mit einem „Potenzial“ dazu ausgestattet sind. Leistung entstehe vielmehr in sozialen Prozessen von Zuschreibung und Anerkennung. Auch wissenschaftliche Leistungen, so Beaufaÿs, sei deshalb niemals frei von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen (Beaufaÿs 2007: 147). In Großbritannien geling es Nalan, wissenschaftlich erfolgreich zu sein, weil sie im Kontext von Anerkennungsprozessen situiert ist. In Deutschland blieb ihr zuvor die Entwicklung einer eigenen Vorstellung von ihren wissenschaftlichen Potenzialen versperrt. So wird die Selbsteinschätzung Nalans, die durch ihre negativen Erfahrungen im deutschen Hochschulsystem beeinflusst ist, als sozialer Zuschreibungsprozess besonders deutlich, wenn ihr im Kontext der britischen Hochschulen eine ermutigende und fördernde Haltung entgegengebracht wird. Während sie für sich selbst im biographischen Rückblick als Studentin in Deutschland nur wenig Selbstbewusstsein für ihre eigene wissenschaftliche Karriereentwicklung entwickelt hatte, gelingt es ihr durch die Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen sich selbst mehr zuzutrauen und sich schließlich für ein PhD-Stipendium zu bewerben. Und die haben gesagt: „Nein, das kannst du doch“. Und dann hab ich sie gefragt: „Meint ihr, dass ich so was machen könnte? Ich muss sagen, das war auch so, dass ich nicht unbedingt ein großes Selbstvertrauen hatte in dieser Hinsicht, ne. Ich meine, ich war schon interessiert, und alles, aber das war auch etwas, wo ich niemals Feedback gekriegt hab in Deutschland. Ich denke, damit bin ich nicht allein. (N: 753-764)
Nalan thematisiert damit ihre eigene Erfahrung fehlender wissenschaftlicher Anerkennung im deutschen Hochschulsystem. Die Exklusionsprozesse, die
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durch den selbstreproduktiven Charakter von Eliten entstehen, werden insbesondere im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung intensiv diskutiert.140 Während hier insbesondere die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und – deutlich weniger im Fokus – auch die soziale Ungleichheit im Wissenschaftssystem durch die soziale Herkunft thematisiert wurde, handelt es sich im Fall von Nalan um Ausschlussprozesse, die mit Ethnisierungsprozessen verbunden sind. Dabei ist Nalan, anders als die meisten Kinder von Einwanderern in Deutschland, durch den akademischen Hintergrund ihrer Eltern mit akademischen Bildungsprozessen vertraut. Diese Position ermöglicht es ihr auch, mit relativer Leichtigkeit eine kritische Distanz zum vorgefundenen Studienangebot in Deutschland einzunehmen und sich auf die Suche nach besseren Studienbedingungen zu begeben.141 Ein weiteres gewichtiges Exklusionsmoment im deutschen Wissenschaftssystem stellt – in vielschichtiger Art und Weise – das Alter dar. Während die hochschulpolitischen Diskurse sowie die Diskurse im Kontext der Hochschulforschung die Senkung des Alters in wissenschaftlichen Qualifikationsphasen fordern, liegt das Promotionsalter im europäischen Vergleich in Deutschland besonders hoch (vergl. Wissenschaftsrat 2000).142 Nalan entwickelte analog zu den damit verknüpften Diskursen während ihrer Studienzeit Anfang bis Mitte der 1990er Jahre die Vorstellung, dass Promotionen nicht für jüngere Nachwuchswissenschaftlerinnen in Frage komme, da die damit verbundenen akademischen Würden auch an das fortgeschrittenere Alter von Promovierten gebunden sei. Nalans Vorstellung davon, dass eine Promotion es erfordert, „alt und weise“ zu sein, korrespondiert durchaus mit der empirischen Evidenz des tatsächlichen Promotionsalter in Deutschland, das durchschnittlich deutlich über 30 140 Vergl. dazu Wetterer (1995), Beaufaÿs (2003, 2007), Metz-Göckel (2000, 2004, 2007), Dackweiler (2007), Krais (2000) sowie Zimmermann (2002). 141 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Erforschung sozialer Ungleichheit im Wissenschaftssystem durch ethnische Zuschreibungsprozesse bzw. durch die Überschneidung von Zuschreibungsprozessen nach Geschlecht, sozialer Herkunft, Alter und Ethnizität in der Wissenschaft derzeit noch an den Anfängen steht. Ein interessantes Phänomen ist es derzeit auch, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einem migrantischen oder transnationalen biographischen Erfahrungshintergrund häufig in einem (weitgefaßten) Forschungsbezug zum Thema Migration aktiv sind. Auch dies stellt eine Parallele zur Genderforschung dar, die zunächst als von Frauen vorangetriebene Frauen- und später dann Geschlechterforschung und als Genderforschung entwickelt wurde und – trotz vereinzelter männlicher Genderforscher – nach wie vor eine Forschungsdomäne darstellt, die überwiegend von Wissenschaftlerinnen bearbeitet wird. 142 Das durchschnittliche Promotionsalter in Deutschland ist in den neunziger Jahren kontinuierlich gestiegen. Lag dieser Wert 1993 noch bei 32,1 Jahren, so stieg er bis zum Jahr 2000 auf 33 Jahre. Vergl. Wissenschaftsrat 2000: 9.
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Jahre liegt.143 Nalan, die diese Diskurse über die sozialen Koordinaten kannte, mit denen das wissenschaftliche Ambiente abgesteckt wird, leitete daraus für sich eine Selbstbeschränkung ab, da sie sich in der sozialen Kategorie „Alter“ ausgeschlossen sah, dies paradoxerweise aber nicht, weil sie sich zu alt, sondern weil sie sich zu jung fühlte. Sie zog eine Promotion für sich deshalb zunächst nicht in Betracht, da sie sich mit Mitte zwanzig als zu jung für eine Promotion einschätzte. Diese sozialen Exklusionsprozesse, die durch Diskurse und das Sammeln von persönlichen Erfahrungswerten (Promovierende sind mindestens Mitte 30), mangelnde Förderung und eine fehlende Anerkennungskultur kumulieren, beschreibt Nalan ihr Selbstbild rückblickend auf ihre eigenen akademischen Zukunfts- und Karrierevisionen am Ende ihres Studiums so: Na ja, IRGENDwann, wenn ich alt und weise bin, hab ich gedacht. Na ja, ich dachte, bin ich vielleicht so, mit Mitte 30 bin ich vielleicht alt und weise. In der Zukunft, also, das war dann meine (Lachen) Hoffnung. Ich weiß nicht, na ja, so alt bin ich noch nicht, ich weiß nicht, ob es sich dann bewahrheiten wird, aber, jedenfalls, ich hab gedacht, wenn ich alt und weise bin, dann kann ich so was mal probieren. (N: 744-753)
Als besonders stimulierend und abermals im krassen Gegensatz zu ihren Erfahrungen in Deutschland stehend, beschreibt Nalan ihre positiven Erfahrungen der akademischen Anerkennung und Ermutigung, die sie als Studentin in Großbritannien kennen gelernt hat. Während in Deutschland eine Erfahrung der Gleichgültigkeit gegenüber ihren Ideen dominierte, aus der sie sich zu befreien suchte, indem sie um Feedback auf ihre Arbeiten bat, führten die anerkennenden und unterstützenden Gespräche mit ihren Hochschullehrerinnen in Großbritannien dazu, dass Nalan diese Impulse im Rückblick als ganz zentrale Momente ihrer Entwicklung beschreibt („das hat mir geholfen, mich auch selbst einzuschätzen, anders einzuschätzen. Oder überhaupt einzuschätzen“ (N: 774-776). Der Blick ihrer Lehrerinnen, die ihren Fähigkeiten eine Bedeutung beimessen, ermöglichen es Nalan schließlich, den Mut aufzubringen, ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Sie stellt diese positive Erfahrung abermals in Kontrast zu ihren Erfahrungen während ihres Studiums in Deutschland: Also, Feedback ist etwas, was es ehm, ja, ich hab irgendwann mal angefangen, die Leute dann doch danach zu bitten, mir Feedback zu geben und dann hab ich von der einen Dozentin, die hat mir meine Arbeit wiedergegeben mit ehm, wo sie Punkt- und Kommasetzung korrigiert hat. Ja. Das war
143 Vergl. zu diesem Zusammenhang auch Fiedler und Hebecker (2006), Stock, Pieper und Molitor (2006) sowie Koepernick, Moes und Tiefel (2006).
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Migration und Qualifikation (Nalan)
natürlich n bisschen ne Enttäuschung für mich. Na ja. (Lachen.) Also, von daher, das war für mich ne neue Erfahrung, dieses Feedback zu kriegen und es hat mir geholfen, mich auch selbst einzuschätzen, anders einzuschätzen. Oder überhaupt einzuschätzen, sag ich mal, ja? So, und sie haben gesagt, das wär doch ne schöne Sache, bewirb dich. (N: 764-778)
Obwohl das Bewerbungsverfahren für ein PhD-Studium nicht reibungslos verlief – Nalan bewarb sich etwas verspätet –, gelang es ihr dennoch, ein Stipendium einer Universität zu erhalten. Sie findet sich damit in einer rundum aufnehmenden und zufriedenstellenden Position wieder. Sie selbst führt zur Beschreibung dieses Zustandes des Angekommen-Seins eine Metapher ein, die üblicherweise zur Beschreibung von (Säuglings-)Nahrung oder auch zur Beschreibung der mütterlichen Brust genutzt wird: „Nurturing“. Das OnlineWörterbuch Leo bietet zur Übersetzung des Terminus „nurturing“ das semantische Feld „nährend“, „pflegend“, „fürsorglich“ an. Die Nutzung dieser Metapher korrespondiert einerseits mit Nalans ursprünglichem Wunsch, in der Wissenschaft „aufgehoben zu sein“, in der sie sich selbst ebenso wie ihre Vorstellung, dass eine Umgebung „nurturing“ ist, in einer Position einer zu Umsorgenden, Bedürftigen imaginiert, wie es beispielsweise ein Kind in einer Familie ist. Die familiär-aufgehobene Situation bietet sich Nalan sowohl auf der Ebene eines Freundschaftsnetzwerks, das sie gemeinsam mit anderen Intellektuellen, die als akademische Migranten in Großbritannien leben, einen politischen Leseund Diskussionskreis initiiert. Die andere Situation, in der sie sich aufgehoben fühlt, ist die wissenschaftliche Betreuungssituation ihrer PhD-Arbeit. In beiden Kontexten überlappen intellektuelle Tätigkeit und persönliche Freundschaften. Einerseits wird Nalans soziales Leben von einem akademisch-politisch fokussierten Freundesnetzwerk bestimmt, andererseits erhält auch ihre akademische Betreuungssituation eine ausgesprochen persönliche, „nährende“ Bedeutung, die sie emotional und intellektuell als stimulierend und unterstützend erlebt. N: Das war etwas sehr Wichtiges für mich, ich hab hier ein sehr starkes, produktives Netzwerk auch gefunden, von Leuten, mit denen ich mich ausgetauscht hab, ne. Wo wir gegenseitig alles, was wir geschrieben haben, lesen, kommentieren, diskutieren konnten, das war was sehr wichtiges, das ist ne Art des Arbeitens, die mir hier ermöglicht worden ist. Das hat auch viel zu tun mit meiner Betreuung beispielsweise, das ich da von Charles (Nalans Doktorvater, C.B.-U.), beispielsweise, der hat das ganz phantastisch gemacht, wirklich, ne. Also, ich hab mich, es gibt so etwas, es gibt so etwas, na ja, es gibt so was, aber ich weiß nicht dieses Wort, das war richtig nurturing, kann man sagen, ja.
Die Universität als intellektuelles Zuhause
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I: (lacht leise). Hm, Hm. Nurturing? N: Doch, doch, das kann man sagen, in jeder Hinsicht. Also, sowohl, eh, ehm, provokativ, aber gleichzeitig nurturing. Und das ist eine Sache, die findet man nicht leicht. (N: 1299-1321)
Nalans Promotionszeit verläuft trotz dieser Unterstützung nicht reibungslos, da sie zwischen ihrem neuen Studienort und ihrem einige hundert Kilometer entfernten bisherigen Wohnort hin- und herpendelt. Diese Zeit beschreibt sie für sich auch als persönlich sehr bewegt: Ihre Partnerschaft endet und sie geht anschließend für mehrere Monate nach Deutschland zurück, um zunächst bei der ifu zu arbeiten und anschließend, bei ihren Eltern lebend, ihre Doktorarbeit abzuschließen, da ihr Promotionsstipendium ausgelaufen war. In dieser bewegten Zeit findet Nalan bei ihren Eltern eine Zuwendung, die es ihr ermöglicht, ihre Dissertation zu beenden. Dabei kommt ihrer Rückkehr ins Elternhaus eine große Bedeutung zu, da sie mit 16 Jahren bereits ausgezogen war. Sie beschreibt ihre Lebenssituation als privilegiert und überaus umsorgt und schwelgt in ihrem Rückblick in der Erinnerung an diese Situation. Also, es war ein Abenteuer. Und es war ein wunderschönes Abenteuer, muss ich sagen, das hat mir sehr viel gegeben. Die haben mich verwöhnt. Von A bis Z verwöhnt. Und ich hab gemerkt, ja ehm, die warn gerade umgezogen, sie hatten ein Haus mit einem Garten und ich hab, man, ich hab gedacht, so muss es den großen Dichtern und Denkern gegangen sein, ne, im letzten Jahrhundert, das warn auch alles bourgeoise Leute, die ham wahrscheinlich nicht gewusst, wie man ein Küchenhandtuch in der Hand hält, wie man irgendwie abwäscht oder so was, da bist du natürlich ganz frei da, in deinem Garten zu lustwandeln und dich ehm verschiedenen Überlegungen hinzugeben, ja. Das ist eine großartige Sache und ich hab diesen Luxus also sehr sehr genossen und hab dann mich sehr eingeigelt, hab die Arbeit dann da zu Ende geführt. (N: 1130-1150)
Auch in dieser Erzählsequenz zeigt sich, dass Anerkennung und Unterstützung für Nalan ganz zentrale Erfahrungsmomente sind, auf deren Basis sie sich wissenschaftlich entfalten konnte. Trotz einer schwierigen persönlichen Situation nach der Trennung von ihrem Partner und finanziell mittellos, gelingt es ihr, im Haus ihrer Eltern eine geborgene Atmosphäre zu finden, in der sie schließlich ihre Arbeit beenden kann. Damit verfügt Nalan nicht nur über Anerkennungsstrukturen und Netzwerke in ihrem akademischen Umfeld und durch ihre Freunde. Indem ihre Eltern ihr eine Arbeitsbedingung schaffen, in der sie sich vollständig zurückziehen kann und die erforderliche Konzentration zum Abschluss ihrer Arbeit findet, unterstützen sie sie nicht nur emotional, sondern
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Migration und Qualifikation (Nalan)
auch finanziell und ideell in ihrer akademischen Entwicklung. In diesem Punkt liegt eine interessante Parallele in Nalans Erzählungen von ihren Erfahrungen des „Aufgehoben-Seins“: Sowohl während ihres PhD-Studiums in Großbritannien als auch in der Geborgenheit und Umsorgtheit in ihrem Elternhaus wird ihrer intellektuellen Entwicklung eine zentrale Bedeutung beigemessen und sie findet Anerkennung, Unterstützung und Ermutigung. Dabei zeigt sich, dass diese Prozesse für Nalan nicht an einen einzigen geographischen Raum gebunden sind, sondern sich durch soziale und emotional unterstützende Netzwerke über mehrere Länder erstreckt und dadurch die Bedeutung eines „Ankommens“ hat, das nicht an einen geographischen Ort gebunden ist: „Ankommen“ heißt für Nalan vielmehr, sich intellektuell entfalten zu können, was eng mit sozialen Anerkennungsprozessen für ihre Arbeit durch ihre Hochschullehrer/innen, ihren Freundeskreis und ihre Familie verbunden ist.
9.4
Dazwischen: Liebe, intellektuelle Leidenschaft und akademisches Prekariat
Nach dem Abschluss ihrer Promotion erhält die Transnationalisierung von Nalans Biographie eine neue Dimension, in der sie das Auseinanderdriften ihrer unterschiedlichen lokal gebundenen Lebenswelten noch weiter verfestigt. Dabei bewegt sich Nalan zwischen einer neuen Liebesbeziehung und einer neuen Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer deutschen Universität, die in mehrfacher Hinsicht ihre Vorstellungen von einer erfolgreich verlaufenden wissenschaftlichen Karriereentwicklung erfüllt. Dabei sieht sich Nalan im Rückblick in einer Situation, die die Simultanität ihres Lebens in unterschiedlichen lokalen Kontexten verdeutlicht – hier eine interessante Arbeitsstelle – dort die neue Liebesbeziehung. Dann hab ich mich verliebt, dann hab ich gleichzeitig ein Jobangebot gekriegt, in Deutschland, und das war natürlich, tja, das passiert eben, wenn man so in unterschiedlichen Kontexten ein Leben führt, ja, dass nicht alles gleichzeitig am gleichen Ort ist. (N: 1225-1231)
Bis zu diesem Zeitpunkt besaßen Nalans Auslandsstudium und auch die Promotion in Großbritannien einen unbestimmten temporären und experimentellen Charakter und während des Studiums pendelte sie regelmäßig zu ihren Eltern nach Neustadt (N: 2019-2024). Nalan sieht in diesen häufigen Besuchen ein Zeichen für die Temporalität ihres Auslandsstudiums. Dass sie ihr Leben dauerhaft in ein anderes Land verlagern würde, war von Nalan nicht geplant, sondern orientierte sich an der Bedeutung, die sie ihrer neuen Liebesbeziehung in ihrem
Liebe, intellektuelle Leidenschaft und akademisches Prekariat
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Leben einräumte. Nur en passant erwähnt Nalan im Interview, dass ihre Liebe diesmal einer Frau gilt. In der Art und Weise, wie sie diese neue Partnerschaft jedoch kontextualisiert, wird deutlich, dass Nalan rückblickend den Zeitpunkt ihres Kennenlernens und Verliebens als einen erneuten und emotional tief greifenden biographischen Wendepunkt beschreibt. Als Nalan sich wieder verliebt, stirbt etwa zeitgleich eine sehr enge Freundin aus Neustadt kurz nach Abschluss ihrer Promotion an einer schweren Krebserkrankung. Nalan beschreibt diese Freundschaft als eine Beziehung, in der sie und ihre verstorbene Freundin Parallelen in ihren akademischen und politischen Entwicklungswegen hatten, die ihr so viel bedeuteten, dass sie diese Freundin als eine emotionale Heimat beschreibt. Sie war ihr nicht nur eine „Weggefährtin“, sondern auch eine wichtige Person, die ihr dabei geholfen hatte, sich in Neustadt „einzufinden“. Ja, sie war eine politische Weggefährtin, eine akademische, ja, es war uns gemeinsam, sag ich mal, dass wir uns akademisch oder intellektuell entwickelt haben und die auch hier mir eigentlich ein Zuhause gemacht hat, irgendwie. Die mir sehr geholfen hat, mich hier einzufinden. (N: 11561163)
An dieser Stelle gibt Nalan eine konkrete Beschreibung ihres Begriffs von „Zuhause“, den sie durch emotionale Bindung, intellektuelle und politische Übereinstimmung in einer Freundschaft definiert. Dabei wird deutlich, dass ein „Zuhause“ für sie losgelöst von einem lokalisierbaren Raum existiert und als soziale Bindung erfahrbar wird. In dieser Situation, in der sie ihre enge Freundin verliert, die ihr ein emotionales „Zuhause“ ist, verliebt sie sich in eine Freundin der Verstorbenen. Das Zusammentreffen der Erfahrung vom Tod einer nahen Freundin und dem Entflammen ihrer Liebe für eine Frau, die sie mit der Verstorbenen weiterhin eng verbindet, beschreibt Nalan nur knapp, obwohl aus den nachfolgenden Erzählungen deutlich wird, dass die neue Partnerin für Nalan sehr wichtig wird. Uund, ja, es eigentlich war das so, dass ich, hm, da jemanden kennen gelernt habe. Das war eine gemeinsame Freundin von uns. Und, für die ich mich sehr interessiert hab, wir haben uns wahrscheinlich gegenseitig füreinander interessiert. Aber, ich glaube, weil es so viele andere Sachen noch gab, da haben wir das nicht so einander deutlich machen können. Und, jedenfalls hatte dann zu diesem Zeitpunkt auch diese Liebesgeschichte angefangen. Das waren sehr dramatische paar Wochen. (N: 1199-1211)
Nalan macht mit ihrem Erzählhabitus deutlich, dass die Tatsache, dass sie eine Liebesbeziehung mit einer Frau beginnt, für ihr eigenes Erleben eine ähnliche
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Migration und Qualifikation (Nalan)
Normalität besitzt wie die an gesellschaftlichen Normen gemessen außergewöhnliche Bildungsgeschichte ihrer Großmutter. Der Beginn dieser Liebe ist in Nalans Rückblick in eine biographische Umbruchsituation eingebettet, die sie als tumultartig beschreibt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Nalan gerade die Schreibphase ihrer Dissertation abgeschlossen, in der sie in ihrem Elternhaus ein sozial sehr abgekapseltes und ruhiges Leben geführt hatte. (Nachdem ich mich da ein Jahr lang eingeigelt hatte (N: 1215/6)/ (war) meine Welt (..) sehr klein geworden (N: 1224). Direkt im Anschluss an diese Rückzugsphase verändert sich ihr Leben grundlegend durch das Zusammentreffen einer ganzen Reihe von unvorhergesehenen Ereignissen, die einerseits ihre berufliche Entwicklung und andererseits ihr Privatleben betreffen. Zeitgleich mit ihrer neuen Liebesbeziehung ist damit eine Dynamik in Nalans Leben gekommen, durch die sie in eine Position des Hin- und Herwanderns zwischen zwei Orten geraten ist, die zwischen ihrem neuen Arbeitsort an einer Hochschule in Deutschland und dem Wohnort ihrer neuen Liebe in Großbritannien einen transnationalen Raum aufspannte, in dem Nalan zwischen unterschiedlichen geographischen Räumen hin- und herpendelte. Die Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt, die Nalan angenommen hatte, erfüllte in mehreren Punkten ihre Vorstellungen von akademischer Arbeit, die sie in Deutschland leisten wollte. Diese Stelle wies zudem einen engen Bezug zu ihrer Forschungsarbeit auf, die sie mit ihrer Dissertation verfolgt hatte. Ein weiterer Pluspunkt war für Nalan, dass sie in der Leiterin des Projekts eine interessante Diskussionspartnerin fand, die sie sehr schätzt. Vor allem aber bot ihr diese Stelle die Möglichkeit, ihren Vorsatz für die Rückkehr nach Deutschland als „Entwicklungshelferin“ in der Wissenschaft, den sie mit ihrem Auslandsstudium eng verknüpft hatte, in die Realität umzusetzen. Dieses Ziel hatte Nalan nicht aus den Augen verloren und das damit verbundene politische Commitment durchzieht die Argumentationen in ihrer biographischen Erzählung wie ein roter Faden. Hm, ich hatte ja am Anfang auch gesagt, ich hatte das ein bisschen als Entwicklungshilfe auch gesehen. Na ja, dass ich jetzt vieles, was ich hier gelernt hab, dort einbringen kann, weil ich auch weiß, wie stark das marginalisiert ist dort. Und jetzt mit `ner anderen Position zurückkommen kann, hm? (N: 1567-1577)
Die Stelle bedeutete für Nalan also durchaus nicht nur einen akademischen Anschluss für die Entwicklung ihrer Karriere als Wissenschaftlerin, sondern sie bot ihr auch die Möglichkeit, ihr in Großbritannien entwickeltes Wissen weiterzugeben und zumindest in ihrem Möglichkeitsrahmen in das Wissenschaftssystem in Deutschland einzubringen. Eng damit verknüpft ist die Aufwärtsbe-
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wegung ihrer eigenen Position in der akademischen Hierarchie von der Studentin zur wissenschaftlichen Mitarbeiterin. Auch wenn Nalan konstatiert, dass in diesen Punkten ihre persönlichen Zielsetzungen erfüllt waren, stört sie sich weiterhin an der akademischen Kultur, die sie – diesmal an einer anderen – deutschen Hochschule vorfindet (N: 1588-1594ff). Nalan hält es für ein halbes Jahr in Großberg, bevor sie sich entschließt, zugunsten ihrer neuen Beziehung die Stelle in dem Forschungsprojekt wieder aufzugeben. Diesen Zeitraum, den sie im Spagat zwischen ihrem akademischen Engagement, intellektueller Leidenschaft und ihrer neuen Liebe verbringt, bedeutet auch für ihre bereits fast fertig gestellte Doktorarbeit eine Stagnation, in der sie die Textabgabe für mehrere Monate hinauszögerte, weil sie ihre Freizeit nicht in die Korrektur ihrer Dissertation fließen lassen wollte, stattdessen entschied sie sich dafür, sich ihrer neuen Liebesbeziehung zu widmen: Aber das war dann so, dass ich dann eben gerade diese neue Liebe erlebt hab. Das war eine Distanzbeziehung und dann war das für mich wichtiger, mit meiner Freundin Zeit zu verbringen. Wir sind dann zusammen in die Türkei gefahren anstelle dass ich da dran gearbeitet habe, also so hat sich das alles hingezögert. (N: 1677-1685)
Nalans Prioritäten verdichten sich im Kontext ihrer transnationalen Lebensführung zunehmend. Die Freundin besitzt für sie zu Beginn ihrer Beziehung eine deutlich größere Bedeutung als der Abschluss ihrer Doktorarbeit, für die sie keine Zeit und Energie mehr aufbringen kann. Diese Haltung Nalans im Verlauf ihrer Promotionsphase erstaunt, da sie hier ein ganz anderes Bild von sich als Wissenschaftlerin zeichnet, als sie es in der Beschreibung ihres Studiums in Großbritannien getan hatte, in der sie sich als begeisterte, zielstrebige und erfolgreiche Studentin darstellt. Nalan stellt diesen Ermüdungsprozess am Ende ihrer Promotionsphase in einen Zusammenhang mit ihrer transnationalen Lebensführung. Sie beschreibt, dass es ihr im Prozess des Lebens an mehreren Orten besonders bewusst wurde, wie entbehrungsreich das Leben während der Promotionsphase für sie war (N: 1685-1690) und sie entschließt sich für eine umfassende Veränderung ihres Lebensstils als einer ambitionierten Nachwuchswissenschaftlerin in der Qualifikationsphase. Nalan zieht angesichts der Bedeutung, die ihre neue Freundin für sie bekommen hat, die Entwicklung ihres Privatlebens gegenüber ihrer Karriereentwicklung vor und kündigt ihre Stelle in Deutschland. Ganz anders als in der Beschreibung ihrer vorangegangenen Beziehung mit ihrem Kommilitonen, mit dem sie zusammen das Auslandsstudium in Großbritannien aufgenommen hatte, spricht Nalan im Falle ihrer neuen Freundin von einem eindeutigen Entschluss für die Liebe, die in der Konsequenz dazu führte, zu ihrer Partnerin nach Bloomston zu ziehen.
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Und das war für mich eine Frage, soll ich etwa so weiter leben und ich hab beschlossen, nein. Das will ich nicht und hab dann schweren Herzens gekündigt, so, in Großberg, und hab dann beschlossen, nach Bloomston zu kommen, weil das für meine Freundin nicht so möglich war, nach Deutschland zu kommen. (N: 1690-1697)
Die Bedeutung, die Nalan damit ihrer Beziehung gibt, steht für ein emotionales als auch ein ortsgebundenes Ankommen bei ihrer Partnerin. Diese Entscheidung forderte im Kontext ihrer transnationalen Lebensweise zugleich das Opfer, ihre Arbeit aufzugeben und auf ihre Stelle in Großberg zu verzichten und sich gleichzeitig mit dem privaten Ankommen abermals in einer beruflichen Aufbruch-Situation zu befinden. Nalans Entschluss war dabei jedoch nicht von einer Entscheidung zwischen Privatleben und beruflicher Entwicklung geprägt, sondern sie hatte zum Ziel, diese beiden Komponenten ihres Lebens besser miteinander zu vereinbaren. Dabei war ihr Entschluss von einem großen Optimismus getragen, schnell eine neue Stelle in Großbritannien zu finden: Hm, na ja, bin ich dann hierher gekommen. Astrid [die Leiterin des Forschungsprojekts, C.B.-U.] war bisschen enttäuscht, kann man auch verstehen, aber na ja, so war das. Und ich war sehr optimistisch, ich hab gedacht, ach, ich find hier schon einen Job. Ich hatte auch Bewerbungen, und beim ersten Mal bin ich eingeladen worden schon, und das ist, also in England zählt das viel, dass man zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wird. Ich hab den Job nicht gekriegt, aber na ja, dann war ich eigentlich sehr optimistisch. (N: 1697-1708)
Nalans Betonung, dass sie voller Optimismus war, rasch eine neue Stelle zu finden, zeichnet in ihrem Rückblick nach, dass sie die Gefahr, sich durch ihre Kündigung in eine beruflich prekäre Situation begeben zu haben, in ihrem Entscheidungsprozess zurückgestellt hatte. Nach ihrem Umzug nach Bloomston schließt Nalan zunächst die Korrekturen an ihrer PhD-Thesis ab, wobei sie betont, dass diese Arbeiten nur wenige Tage in Anspruch nahmen (N: 17091714). Nach Abgabe ihrer Doktorarbeit gab es für Nalan jedoch nicht, wie erhofft, einen beruflichen Anschluss an ihre Stelle in Großberg. Zu ihrer Verwunderung bewarb sie sich vergeblich, obgleich sie die Bedingungen für eine Bewerbung in Großbritannien als durchlässiger und positiver einschätzt als in Deutschland. Ich hab letztendlich sehr viele Bewerbungen geschrieben und keine Angebote gekriegt. Ich denke, dass es, dass das akademische System hier offener ist, dadurch dass es sehr viel mehr zeitlich begrenzte Verträge gibt, gibt es
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mehr Öffnung, mehr Stellenangebote, sehr viel mehr als in Deutschland. Was ich mir immer gedacht hab, hm, das stimmt auch so, dass es auch sonst offener ist, es gibt eben diese Equal Opportunities Policies, wo dann Stellen ausgeschrieben werden müssen, das allein du das ERFÄHRST, dass es Stellen gibt, was in Deutschland ja nicht immer der Fall ist. Und in Deutschland kommst du ohne Beziehungen nirgendwo eine Stelle, nirgends eine, das kann man vergessen. Hm, und hier werden die Stellen alle ausgeschrieben, aber trotz allem hab ich eben keine gefunden. (N: 1719-1736)
In dieser Sequenz setzt Nalan zuversichtlich ihre Vorstellung eines sozial gerechteren Hochschulsystems in Großbritannien fort. An dieser Stelle zeigt sich jedoch für Nalans Stellensuche, dass es auch in Großbritannien Inklusionsbeschränkungen in Hinblick auf die Arbeitsplatzressourcen an den Hochschulen gibt, die zu prekären Lebenslagen des wissenschaftlichen Nachwuchses führen.144 Nalan erzählt rückblickend, dass sie selbst in einer mangelnden Qualifizierung keinen Grund für ihre erfolglosen Bewerbungen sieht, schließlich hatte sie mit noch nicht einmal 30 Jahren zu diesem Zeitpunkt bereits eine abgeschlossene Dissertation, eine längere Publikationsliste, ein wenig Erfahrungen in der Lehre und war Mitherausgeberin einer für ihr Fachgebiet sehr einschlägigen internationalen Publikation. Nalan betont, dass sie selbst keinen Grund sah, an ihrer Qualifikation zu zweifeln. Auch rückblickend betrachtet sie die Phase ihrer Stellensuche ziemlich ratlos und ihr Wechsel in einen lauteren Tonfall zeigt, dass in ihrer Erzählung über den schwierigen Zugang zu einer Stelle an einer englischen Hochschule auch in der biographisch-reflexiven Auseinandersetzung mit dieser Lebensphase sowohl Ärger als auch Hilflosigkeit gespiegelt wird, die sich mit einem plakativ anmutenden beruflichen Selbstbewusstsein treffen: Ich konnte mir das nicht vorstellen, dass es so viele Leute gibt, die besser qualifiziert sein sollen. Das, na ja (wird deutlich lauter), ICH KONNTE MIR DAS NICHT VORSTELLEN, nicht dass ich sagen will, ich wäre die Beste für jeden dieser Jobs gewesen, aber doch auch. Es hat nicht geklappt. Lange Rede, kurzer Sinn, ich war dann ungefähr, ja, ich bin im April gekommen, und war dann bis Februar 2003 arbeitslos. Das war ne sehr schwierige Zeit. (N: 1744-1754)
144 Für die deutschsprachige Diskussion über die Prekarisierung von Nachwuchswissenschaftler/innen vergl. Janson, Schomburg und Teichler (2006), Weber (2007) und Stumberger (2006).
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Migration und Qualifikation (Nalan)
Die lange und über zehn Monate erfolglose Suche nach einer Stelle offenbart das Phänomen, dass die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen von Nachwuchswissenschaftlerinnen keineswegs ein national beschränktes Problem darstellt.145 Vielmehr stellte Nalans Entschluss, zu ihrer Partnerin zu ziehen und ihre Stelle in Deutschland aufzugeben, ein beträchtliches Risiko für ihre Entwicklung als Wissenschaftlerin dar, dessen Nalan sich zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung jedoch nicht bewusst ist. Dass die Gefahr einer Prekarisierung der Lebensverhältnisse von Nachwuchswissenschaftlern und Nachwuchswissenschaftlerinnen nicht an nationalen Grenzen Halt macht, wird auch in den Beschreibungen von Nalans Stellenangeboten deutlich. Wie im Rückblick auf andere Lebenssituationen, berichtet sie auch an diesem Punkt von einem plötzlichen biographischen Umschlagpunkt nach einer längeren Phase der Stagnation. Nachdem sie zehn Monate lang erfolglos Bewerbungen verschickt hatte, erhält sie plötzlich vier Stellenangebote gleichzeitig, zwischen denen sie nun eine Stelle auswählen kann. Unter diesen Angeboten befand sich jedoch nur eine einzige Stelle, die eine direkte Anschlussfähigkeit an ihre bisherige Forschung besaß. Dieses Stellenangebot übte auf Nalan einen besonders starken Reiz aus und stellte ihre eindeutige Präferenz dar. Dennoch hat sie dieses Angebot nicht angenommen, da die Bezahlung so gering war, dass sie davon ihren Lebensunterhalt nicht hätte bestreiten können. Hier zeigt sich neben dem erschwerten Zugang zur Ressource Arbeit in der Wissenschaft, unzureichende Bezahlung als weiterer Faktor, der zur Prekarisierung der Lebensverhältnisse des wissenschaftlichen Nachwuchses beiträgt.146 Nalan kommentiert das für ihre eigenen Forschungsperspektiven interessanteste Angebot ausführlich (N: 1787-1799) und es wird deutlich, dass sie für diese Stelle eine ähnliche Begeisterung entwickelte wie für ihre Forschung in Großberg, von der sie zuvor ebenfalls mit leidenschaftlichem Engagement erzählt. An dieser Stelle kollidiert Nalans wissenschaftliche Leidenschaft mit der Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt bestreiten zu müssen. Sie resümiert schließlich, dass sie zu den finanziellen Bedingungen, die sich ihr im Zusammenhang mit dieser Stelle boten, nicht in der Lage ist, ihr Leben zu finanzieren. 145 Eine international vergleichende Perspektive auf Elitenbildungsprozesse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in mehreren europäischen Ländern nimmt Hartmann (2007) ein, der aufzeigt, dass der Zugang zu Eliten zwar länderspezifisch zum Teil divergiert, dass aber im Kontext Europas eine starke Tendenz der Selbstreproduktivität von Eliten durch soziale Zugehörigkeiten konstatiert werden muss, für die auch das Hochschulsystem in Großbritannien keine Ausnahme bildet. 146 Dies ist insbesondere in der Lehre durch prekär bezahlte Lehraufträge und unbezahlte Lehrtätigkeit durch Privatdozenten, aber auch in der Besetzung von zeitlich zum Teil sehr kurz befristeten und geteilten Stellen in Forschungsprojekten ein verbreitetes Phänomen (Weber 2007; Stumberger 2006).
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Ich hätte das SEHR gerne gemacht, ausgesprochen gerne gemacht, auch weil ich gerne mit ihr (der Leiterin dieses Forschungsprojekts, C.B.-U.) gearbeitet hätte, weil ich wusste, da würde ich viel lernen. Da würde ich interessante Auseinandersetzungen haben und so weiter, das konnte ich mir aber leider nicht, leider nicht leisten. Na ja, so ist das. (N: 1799-1805)
Nalan verdeutlicht die Dimension prekärer Bezahlung, indem sie vorrechnet, dass sie von dem angebotenen Gehalt sich zwar als Studentin gerade so über Wasser halten konnte, aber als wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Präsenzpflichten am Arbeitsplatz hätte sie es sich noch nicht einmal leisten können, die erforderlichen Fahrkarten zu kaufen. Ich hätte aber letztlich immer nur 10.000 (engl. Pfund p.a. C.B.-U.) gekriegt. Und damit kann man nicht LEBEN, damit kann man also, im Grunde NICHT leben. Denn wenn du arbeitest, hast du auch andere Ausgaben, als wenn du studierst, nicht, als Studentin hab ich auch so Phasen, da bin ich nicht raus gegangen aus der Wohnung, weil ich keine Fahrkarte bezahlen konnte, nicht, aber wenn du arbeitest, musst du ne Fahrkarte bezahlen. Ne, so war es für mich diese Wahl, ja. Ich meine, das war auch nicht schön gewesen, irgendwie nur zu Hause zu sitzen, aber es war machbar. Und wenn du arbeitest, ist das nicht machbar. (N: 1769-1783)
Da diese Stelle unterhalb des Existenzminimums dotiert war, entschied sich Nalan für die Mitarbeit in einem größeren Forschungsprojekt, das für sie weniger wegen des inhaltlichen Kontextes attraktiv war als durch die gute Erreichbarkeit und durch die Tatsache, dass sie dort in ein größeres Team eingebunden ist, was sie nach der Phase relativ einsamer Forschungsarbeit im Kontext ihrer Dissertation für sich selbst als vorteilhaft empfand. Aber auch hier bieten sich Nalan prekäre Arbeitsbedingungen, die sich zunächst in einer zeitlichen Befristung einer halben Stelle und dann in einer Mehrfachauslastung durch die parallele Arbeit in mehreren Forschungsprojekten ausdrückt. In ihrer Erzählung ist Nalan jedoch im Rückblick auf ihr erstes Arbeitsjahr zufrieden, da ihr die Stelle unerwartete Entwicklungsmöglichkeiten bietet, die sie für sich nutzen kann. Es gelingt ihr, durch das Einwerben von Drittmitteln schon in den ersten Monaten ihrer Anstellung die Befristung ihres Vertrags auf 18 Monate deutlich zu verlängern. Nalan beantragt drei Drittmittelprojekte, von denen zwei finanziert werden und sie verteilt ihre Arbeitszeit, die inzwischen zu einer vollen Stelle ausgeweitet wurden, auf die Forschung in dem Projekt, für das sie ursprünglich eingestellt worden ist und auf die beiden neuen Forschungsvorhaben, wobei sie einschränkt, dass sie zum Teil „in beratender Funktion“ ist und nicht „so viel ‚hands on’ Forschung“ macht (N: 1849-1651). Zwischen Faszination für ihre
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Entwicklungsmöglichkeiten, die sich durch die Einwerbung von Drittmitteln ergeben haben und Bedauern, dass sie ihre eigenen Forschungsinteressen zu diesem Zeitpunkt nicht weiter verfolgen kann, beschreibt Nalan ihr neues Forschungsgebiet als einen drittmittelintensiven, relativ gut geförderten Bereich, in dem nach ihrer Einschätzung die Einwerbung von Projekten wesentlich leichter ist als in ihrem ursprünglichen Interessenfeld. Das ganze ist für mich von der Spezialisierung her sehr neu, das ist auch ganz schön, was Neues zu machen. Und ganz interessant, sehe ich natürlich, dass es auf jeden Fall auch LEICHTER ist, in diesem Bereich auch Forschungsförderung zu kriegen, hm. In diesem Bereich, ich muss sagen, diese ganzen Proposals, die ich geschrieben, Forschungsförderungsanträge, wie soll ich das jetzt sagen, ich will nicht sagen, dass die SCHLECHT sind, ja, aber ich denke mir, ICH denke mir, dass die natürlich bisschen weniger fundiert sind als die Anträge, die ich vorher geschrieben hab, als ich arbeitslos war, hab ich auch mich für verschiedene Post-Docs beworben mit, mit Projekten, und ich denke, die waren natürlich fundierter, allein dass ich mich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt hab. Die sind nicht durchgekommen und ich denke, das liegt natürlich auch an dem Thema, ne. (N: 1863-1882)
Nalans Erfahrung, keinen unmittelbaren Anschluss an eigene Forschungsinteressen nach der Promotionsphase zu finden und Phasen der Arbeitslosigkeit zu durchleben oder in schlecht bezahlten prekäre Beschäftigungsverhältnissen zu arbeiten, ist keine singuläre Erfahrung für den wissenschaftlichen Nachwuchs, insbesondere gilt dies für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Mit diesen strukturell problematischen Arbeitsbedingungen ist auch eine Veränderung der klassischen Aufgabenfelder in der Wissenschaft verknüpft, die eine Verlagerung der Arbeitsschwerpunkte auf die Einwerbung von Drittmitteln richtet. Nalan beschreibt ihre neuen Aufgabenfelder, die stärker das Management von Forschungsprojekten und die Einwerbung von Forschungsgeldern fokussiert und zeigt sich im Gegensatz zu ihrem Enthusiasmus vor ihrer abermaligen Übersiedlung nach Bloomston wesentlich desillusionierter und vorsichtiger: Diese organisatorischen Arbeiten, Forschungsgelder zu bekommen, dass das ein sehr wichtiger Teil geworden ist, nicht, inzwischen, in der akademischen Arbeit (N: 1890-1894) Heutzutage kann man froh sein, Verträge zu kriegen. (N: 1904-1905)
In diese Einschätzung, die Nalan aufgrund ihrer Erfahrungen im Arbeitsmarkt Wissenschaft gemacht hat, verändert ihre zuvor so optimistische Haltung und
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ihren Idealismus für ihre eigenen Themenpräferenzen sowie ihren „Glauben an die Macht des Intellektuellen“. Ihre Berufserfahrung, die sie zum Zeitpunkt des Interviews gesammelt hat, lässt sie ihre weiteren Entwicklungsmöglichkeiten viel vorsichtiger bewerten als zum Zeitpunkt ihres Entschlusses, die Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Großberg kurzer Hand zu kündigen, um zu ihrer Partnerin zu ziehen. Zum Zeitpunkt des Interviews sind Nalans Zukunftspläne eher vage und orientieren sich an der zeitlich befristeten Stelle, die sie zu diesem Zeitpunkt hat. Auch ihr Enthusiasmus für weitere Migrationen ist zum Zeitpunkt des Interviews verglichen mit ihren hoffnungsvollen Aufbruchstimmungen verhalten. Dies verweist darauf, dass transnationale Mobilität von wissenschaftlichem Nachwuchs mit den strukturell schwierigen Arbeitsbedingungen wissenschaftlicher Arbeitsmärkte verknüpft ist und häufig ein Risiko für die berufliche Entwicklung in der Wissenschaft darstellt.147 Nalan leitet für sich daraus die Konsequenz ab, zumindest mittelfristig in Bloomston bleiben zu wollen, da für sie das Arbeitsmarktrisiko in der Wissenschaft durch ihre zehnmonatige Arbeitslosigkeit sehr präsent ist. Die Erzählung ihrer transnationalen Migrationsgeschichte endet in einer Erzählkoda, die im Zusammenhang mit dem Gesamtinterview zunächst überrascht, weil sie auf Einschränkungen und nicht auf die Öffnung von Grenzen in der Wissenschaft verweist, die durch transnationale Migrationsprozesse von Nachwuchswissenschaftlerinnen erreicht werden können. Nalan konstatiert am Ende des Interviews über ihre Zukunftspläne: Erstmal bin ich hier und die Möglichkeiten sind ja auch sehr eingeschränkt, das ist wahr, und durch die Uni, es wird alles eingespart. (N: 2032–2035)
Mit der Schlüsselkategorie des „Dazwischen“ kann in der Fallstudie „Nalan“ betont werden, dass transnationale Lebensformen für wissenschaftlichen Nachwuchs in der Qualifizierungsphase ein beträchtliches biographisches Risiko darstellen – sei es in Hinblick auf riskante Verläufe sozialer und familiärer Bindungen (wie im Fall von Devi) oder sei es in Hinblick auf berufsbiographische Risiken wie im Fall von Nalan. Ihre Entscheidung, eine interessante und für ihre Entwicklung als Wissenschaftlerin viel versprechende Stelle zugunsten ihrer Partnerschaft aufzugeben, hat dazu geführt, dass sie in eine in vielfältigen Aspekten prekäre berufliche Situation geraten ist, in der ihre eigenen wissenschaftlichen Präferenzen gegenüber den Zugzwängen zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts zurücktreten mussten. Im Zuge ihrer mehrfachen Wanderungs147 Vergl. dazu auch die korrespondierenden Befunde von Scheibelhöfer (2006), die zeigen, dass Wissenschaftsmigration mit prekären Arbeitsbedingungen in den Zielländern eng verknüpft ist und dass darüber hinaus prekäre Arbeitsbedingungen als Push-Faktor für Wissenschaftsmigration identifiziert werden können.
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Migration und Qualifikation (Nalan)
bewegungen als Studentin und während der Promotionsphase zeigt sich jedoch nicht nur der Aspekt, dass ihr Leben zwischen mehreren Orten hin- und her gerissen ist. Zugleich hat Nalans bewegter Lebensstil neue soziale Strukturen hervorgebracht, die für ihr Leben als Wissenschaftsmigrantin von Bedeutung sind. Mit ihrem Entschluss, abermals ihren Lebensschwerpunkt nach Großbritannien zu verlegen, verschwindet für sie einerseits die räumliche Trennung von ihrer Partnerin im Alltag, zugleich verfestigt sich aber ihr transnationaler Lebensstil in einem dauerhafteren Lebensmodell, das die an unterschiedliche Orte und an verschiedene Räume gebundenen sozialen Beziehungen Nalans durch intensive virtuelle und telefonische Kontakte miteinander verbindet. Sie betont, dass ihre Beziehungen zu Freunden und zu ihrer Familie weiterhin sehr wichtig für sie sind und ein regelmäßiger Kontakt besteht. Diesen auf diese Weise konstruierten transnationalen sozialen Räumen schreibt Nalan eine sehr hohe Bedeutung zu: Die Leute sind immer nur nicht an einem Ort, viel passiert inzwischen übers Telefon und E-Mail, aber das ist etwas, was mir sehr wichtig ist und was ich denke, was, ja, eigentlich nicht genug berücksichtigt wird. (N: 1339-1344)
Hier verdeutlicht sich, dass Nalans Leben sowohl an unterschiedlichen Orten als auch in einem durch technische Unterstützung hergestellten transnationalen Raum lebt, der ihr die Aufrechterhaltung und Pflege ihrer sozialen und beruflichen Beziehungen, die in mehreren Ländern lokalisiert sind, ermöglicht. Auch wenn Nalan nach einer bewegten Migrationsgeschichte zum Zeitpunkt des Interviews zumindest temporär sesshaft geworden ist, zeigt sich, dass sie durch ihre Wanderungen als Nachwuchswissenschaftlerin einen transnationalen biographischen Raum konstituiert hat, der für ihr Alltagshandeln und ihre wissenschaftlichen Projekte von dauerhafter Relevanz sind.
9.5
Zusammenfassung Fallstudie Nalan
Nalans transnationale Migrationsbiographie besitzt eine doppelte Dimension. Aufgewachsen als Tochter einer türkischen Migrantenfamilie in der zweiten Generation in Deutschland verfügt Nalan über einen transnationalen familiären Hintergrund, zudem entschließt sie sich zu weiteren eigenen Migrationen im Verlauf ihrer wissenschaftlichen Qualifikation, die sie über den Nahen Osten nach Großbritannien, abermals nach Deutschland und wieder zurück nach Großbritannien führen. Nach dem Abitur beschließt sie, ein Studium an einer
Zusammenfassung Fallstudie Nalan
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deutschen Universität aufzunehmen, wo sie sich trotz einer zu Beginn des Studiums sehr hohen Bildungsmotivation – wie sie sagt – „aufgehalten“ hat und darunter leidet, dass sie keine Anerkennung erhält. Nalan erlebt diese Phase ihres Studiums als eine Ausgrenzung, die sie im gesellschaftlichen Kontext von sich zuspitzenden Ethnisierungsprozessen verortet. Unterstützt von ihrer Familie, in der die akademische Bildung der Tochter eine Selbstverständlichkeit ist – Nalans Eltern sowie ihre Großmutter, die in der Türkei lebt, haben ein Studium abgeschlossen – entschließt Nalan sich zu einem Studienaufenthalt im Nahen Osten. Dort lernt sie andere internationale Studierende kennen, die ihr von den Möglichkeiten an den Hochschulen in anderen Ländern berichten. Diese Erfahrung erlebt sie als Anregungspotenzial, die Umstände ihres Studiums zu ändern um aus den Ausgrenzungsprozessen, mit denen sie sich im deutschen Hochschulsystem konfrontiert sieht, herauszutreten. Sie nimmt ein Studium in Großbritannien auf und schließt dort innerhalb eines Jahres ein Master-Studium ab. Anschließend schlagen ihre Professorinnen vor, dass sie promovieren sollte. Sie erhält ein Stipendium und erlebt das Studium und die Promotion in Großbritannien als eingebettet in ein grundlegend anderes Wissenschaftsklima als sie es in Deutschland kennengelernt hatte. Hier erfährt sie einerseits die Möglichkeit, ihre wissenschaftlichen Interessen zu entfalten, in dem ihre Forschungsperspektiven anerkannt und unterstützt werden. Einen wichtigen sozialen Kontext findet Nalan hier auch in einer transnational zusammengesetzten politischen Gruppe, in der sie sich engagiert und die für sie sowohl eine soziale als auch eine intellektuelle Ressource darstellt. Mit ihrem Aufbruch nach Großbritannien erreicht Nalan eine biographische Transformation von ethnischen Zuschreibungsprozessen, durch die sie sich in Deutschland ausgegrenzt sah und sie wählt in Großbritannien ganz bewusst einen Wissenschaftskontext, in dem sie ein anregendes intellektuelles Klima findet, das eine reflexive und kritische Auseinandersetzung mit sozialen Differenzkategorien ermöglicht. Nalan kehrt nach einigen Jahren zunächst für einen kürzeren Zeitraum nach Deutschland zurück, um an der ifu teilzunehmen und um im Haus ihrer Eltern an ihrer Dissertation zu arbeiten. In dieser Zeit erhält sie ein attraktives Stellenangebot an einer deutschen Hochschule, das sie auch annimmt. Zeitgleich verliebt sie sich in eine Frau, die in Großbritannien lebt und sie beschließt nach einigen Monaten, zu ihrer Freundin zu ziehen und kündigt ihre Stelle an der deutschen Universität. Dieser Entschluss führt Nalan von ihr selbst unerwartet in eine beruflich prekäre Situation und sie findet nicht so rasch wie erhofft einen beruflichen Anschluss in Großbritannien. Hier wird deutlich, dass transnationale Lebensführungen und wissenschaftliche Karriereentwicklungen Dilemmata in der Wahl des Lebensortes mit sich bringen können, die mit hohen beruflichen
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Migration und Qualifikation (Nalan)
Risiken verbunden sind. Ihre mehrfachen Migrationen führen jedoch auch dazu, dass Nalan sowohl über transnationale wissenschaftliche als auch über politische und soziale Kontakte in mehreren Ländern verfügt, die dauerhaft relevant sind und für sie wichtige Ressourcen darstellen.
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Auf der Flucht: Krieg und Wissenschaft (Fallstudie Mia)
10.1 Biographische Skizze Mia Mia148 ist zum Zeitpunkt des Interviews 38 Jahre alt und wurde in Roved Lan, einer größeren Stadt in Jugoslawien in der Region des heutigen BosnienHerzegowina geboren. Dort schloss sie ein Anglistik-Studium ab und floh nach Ausbruch des Krieges in die etwas kleinere Universitätsstadt Zadnar, die im heutigen Serbien liegt. Dort hat sie eine Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Anglistik und schließt zeitgleich ein postgraduales gesellschaftswissenschaftliches Studium ab. Zusätzlich gibt sie wegen der Wirtschaftskrise auch an einigen Privateinrichtungen Englischunterricht, da ihr Universitätsgehalt nicht ausreicht, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 1999 beginnt die Nato mit ihren Luftangriffen auf Städte im ehemaligen Jugoslawien, darunter befindet sich auch Zadnar. Wenige Tage nachdem die ersten Bomben auf Zadnar fallen, wird Mia, die seit Beginn des Kriegs als „Bosnierin“ gilt, wegen Landesverrats beschuldigt und verliert ihre Stelle an der Universität. Daraufhin flüchtet sie nach Neolovi, einer Stadt in Ungarn. Da ihr Mann zur ungarischen Minderheit im ehemaligen Jugoslawien zählt, gelingt es dem Ehepaar, ein Visum zu bekommen. Mias ursprünglicher Plan, gemeinsam mit ihrem Mann nach Kanada auszuwandern, scheitert deshalb, weil sie keine Einreiseerlaubnis erhalten. Im ungarischen Neolovi arbeitet Mia ebenfalls als Englisch-Lehrerin, jedoch nicht mehr an der Universität, sondern an privaten Sprachschulen. In dieser Zeit erfährt sie von der ifu, bei der sie sich um ein Stipendium bewirbt. Nach dem Deutschlandaufenthalt während der ifuPräsensphase kehrt sie zunächst für einige Monate nach Ungarn zurück. Als Kriegsflüchtling aus dem ehemaligen Jugoslawien fühlt sie sich dort wegen der starken nationalistischen Ressentiments, die ihr entgegengebracht werden, ausgesprochen unwohl. Es gelingt ihr auch nicht, eine Stelle in der Wissenschaft zu finden und sie lebt von Honoraren, die sie als Fremdsprachenlehrerin an 148 Alle Namen und Ortsnamen wurden durch Fantasienamen ersetzt, lediglich die Angaben zur regionalen Lage von Orten sind zur besseren Kontextualisierung an einigen Stellen der Fallstudie genannt.
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Auf der Flucht: Krieg und Wissenschaft (Mia)
privaten Sprachschulen bekommt. Mia entwickelt im Anschluss an das ifuStudium eine Forschungsidee für eine Promotion, um ihre durch den Krieg unterbrochene wissenschaftliche Laufbahn wieder aufzunehmen und sie bewirbt sich in unterschiedlichen Ländern um ein Stipendium. Hier ist Mia sehr erfolgreich und sie erhält gleich mehrere Angebote für geförderte Promotionsstudien. Allerdings kann sie die meisten dieser Optionen nicht annehmen, weil sie keine Reisepapiere erhält. Es gelingt ihr schließlich, ein Visum für Italien zu bekommen und beginnt an der Universität von Gianno Citta ein Doktoratsstudium, das durch ein Stipendium gefördert wird. Mia plant zum Zeitpunkt des Interviews, nach Abschluss der Doktorarbeit erneut Anlauf zu nehmen und ein Einreisevisum für Kanada zu beantragen. Eine Rückkehr nach Ex-Jugoslawien kommt für sie nicht in Frage, auch wenn Teile ihrer Familie in unterschiedlichen Gebieten des ehemaligen Jugoslawien leben. Mias Mutter lebt seit Beginn des Kriegs allein in Roved Lan, das inzwischen zu Bosnien-Herzegowina zählt. Vor dem Krieg hatte sie ein Geschäft betrieben. Mias Vater lehrte vor seinem Tod als Professor an der Universität von Roved Lan. Er verstirbt während des Kriegs an einer Krankheit. Mia ist ohne Geschwister aufgewachsen und zieht im Interview die Bilanz, dass mit dem Krieg nicht nur die Gesellschaft, zu der sie sich zugehörig fühlte, sondern auch ihre Familie zerbrochen ist. Dieser kurze biographische Abriss verdeutlicht, wie stark die berufliche Entwicklung Mias als Wissenschaftlerin durch den Krieg beeinträchtigt wurde. Durch die Wirtschaftskrise während der Balkankriege war es ihr zunächst nicht möglich, ihren Lebensunterhalt mit ihrem Hochschulgehalt zu bestreiten und sie ist gezwungen, weitere Anstellungen anzunehmen. Dadurch verzögert sich ihr postgraduales Studium erheblich, auch weil die Arbeitsbedingungen in Lehre und Forschung während des Kriegs stark eingeschränkt sind. Die Verfolgung kritischer Intellektueller durch das Miloševi-Regime führt schließlich dazu, dass Mia ihre Stelle an der Universität verliert. Ihre Versuche, im Ausland einen wissenschaftlichen Anschluss zu finden, gelingen ihr zwar über einige Umwege, aber die eingeschränkten Reisemöglichkeiten, die Mia als Staatsangehörige aus einem Land des ehemaligen Jugoslawien besitzt, verhindern, dass sie alle Möglichkeiten ausschöpfen kann, die ihr zur Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Karriere angeboten werden. Vor dem Interview mit Mia, das im Anschluss an die Online-Befragung der Teilnehmerinnen des vifu-Netzwerks verabredet wurde, findet zunächst ein gemeinsames Essen in der Mensa der Hochschule von Gianno Citta statt. An dieser Begegnung nimmt auch ihr Ehemann teil, der Schriftsteller ist und in Deutschland Germanistik studiert hat. Auch Mia erzählt, dass sie nicht nur wissenschaftlich arbeitet, sondern ebenfalls Gedichte und Prosa schreibt. Mia
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und ihr Mann finanzieren ihren gemeinsamen Lebensunterhalt zum Zeitpunkt des Interviews durch das Stipendium, das Mia erhält. Sie leben in einem Einzimmerapartment am Stadtrand von Gianno Citta. Weil die Wohnung sehr klein ist, möchte Mia das Interview lieber an der Hochschule führen als bei sich zuhause. Allerdings steht ihr dort kein eigener Arbeitsraum zur Verfügung und die Cafeteria, die sie für das Interview vorschlägt, ist sehr gut besucht und dementsprechend unruhig. Das Interview findet in einem Erker am Rande der Cafeteria statt, der trotz des Betriebs ein ausreichendes Maß an Abgeschiedenheit bietet. Die biographischen Erzählungen Mias sind häufig durch Hintergrundgeräusche, aber vor allem durch ihre eigenen Erzählpausen unterbrochen. Es wird bereits im Vorgespräch deutlich, dass Mia unter Traumatisierungen leidet, die mit dem Kriegsgeschehen und ihrer Lebenssituation im Exil im Zusammenhang stehen. Während des Interviews ist sie an einigen Punkten den Tränen nahe, die sie immer wieder durch Lachen und ironische Bemerkungen zu unterdrücken versucht. Nach dem Interview fand ein weiteres Gespräch, das nicht aufgezeichnet wurde, statt.
10.2 Aufbruch: “I had a really bad passport” Anders als die transnationalen Wissenschaftsmigrationen von Devi und Nalan, die sich freiwillig für einen Ortswechsel entschieden haben, wird die Migration von Mia durch das Kriegsgeschehen im ehemaligen Jugoslawien forciert. Wie viele Intellektuelle aus dieser Krisenregion entschließt sie sich, das Land zu verlassen. Während des Krieges lebt sie in Zadnar, einer Stadt im heutigen Serbien, an deren Universität sie eine Stelle als Nachwuchswissenschaftlerin hat. Als gegen sie ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird, in dem sie als „Verräterin“ beschuldigt wird, verliert sie ihre Stelle. An diesem Punkt entschließt sie sich von einem Tag auf den anderen, ins Exil zu gehen. Mia macht in ihrer biographischen Narration deutlich, dass sie ihr Land zu diesem Zeitpunkt nicht freiwillig verlässt, sondern dass es sich um eine Reaktion auf die politischen Repressionen durch die serbische Regierung handelt. Als unerträglich empfindet sie ihre Situation schließlich, als etwa zeitgleich mit dem politischen Kesseltreiben gegen kritische Intellektuelle das Nato-Bombardement auf die Gebiete des ehemaligen Jugoslawien einsetzt. Statt der erhofften politischen Unterstützung sieht sich die Opposition bei diesen Bombenangriffen, die Zadnar besonders heftig betreffen, vom Ausland im Stich gelassen. Die Stadt Zadnar zählt, wie auch einige andere Orte, die von der Nato bombardiert werden, zu einer der Hochburgen des Widerstands gegen das Miloševi-Regime. Das Bombardement durch die Nato auf Städte und Dörfer
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Auf der Flucht: Krieg und Wissenschaft (Mia)
im ehemaligen Jugoslawien hat für die kritischen Intellektuellen, die sich während des Kriegs gegen das Milosevic-Regime engagiert haben, insofern eine besonders traumatisierende Wirkung, als dass sie sich zwischen den nationalistischen Fronten und den militärischen Angriffen durch die Nato zerrieben sehen. Statt, wie erhofft, politische Unterstützung zu erhalten, sehen auch sie sich als Zielscheiben für das anhaltende Bombardement durch die Nato. Etwa zeitgleich kulminiert eine regelrechte Hexenjagd auf kritische Intellektuelle (Blagojevic 2007). Wie auch Mia und ihr Mann verlassen die meisten noch im Land gebliebenen Intellektuellen und Künstler spätestens nach Beginn der Nato-Angriffe resigniert das Land und gehen ins Exil (Robelli 2008; Gordic 1999). Für Mia ist die überstürzte Ausreise aus dem ehemaligen Jugoslawien ein traumatisches Erlebnis und sie bemüht sich sichtlich darum, dieses Ereignis in ihrer Erzählung zu relativieren. Während des gesamten Interviews legt sie großen Wert darauf, ihre Autonomie hervorzuheben, die sie sich auch angesichts des Krieges, der für sie auch mit politischen Repressionen verbunden ist, und angesichts ihrer eingeschränkten Reisemöglichkeiten bewahrt hat. Damit verweigert sie sich einer Stigmatisierung und Stereotypisierung als weibliches Kriegsopfer aus Bosnien und sie entwickelt eine Erzählung ihrer Biographie, die davon getragen ist, ihre Autonomie zu betonen. Mia hebt in ihrer Erzählung hervor, dass ihr die Vorstellung, ihr Land eines Tages zu verlassen, prinzipiell auch vor Beginn des Kriegs nicht fremd gewesen ist, da Auslandsaufenthalte durchaus zu ihren Zukunftsvorstellungen als Wissenschaftlerin passten. Mit einem solchen Lebenskonzept, so hebt sie hervor, habe sie es leichter als andere Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien gehabt. Anders als viele andere befindet sie sich nach ihrer Kündigung zwar in einer prekären beruflichen Situation, aber sie zählt nicht zur Gruppe derjenigen Flüchtlinge, die von ihren Wohnorten gewaltsam vertrieben wurden. Ihr Schritt, das vom Krieg zerrüttete Land zu verlassen, stellt im Kontext dieser gewaltförmigen Verhältnisse im Vergleich mit der Situation anderer Flüchtlinge aus den Gebieten des ehemaligen Jugoslawien einen – relativ – selbst bestimmten Entschluss dar. I wanted to leave. So, it was not, *149 so bad, I was not forced to leave like many other refugees. But, I suffered a lot and, even today, I mean, they all were, I guess, the more painful it is, the whole thing. But I functionalized it like that, I had success and I functioned, and the later it comes, (Lachen), so, for me, the most shocking thing was just reality. That it’s possible to happen. But as, for my choice, I have always wanted to learn more and I
149 Die mit * gekennzeichneten Textpassagen kennzeichnen Sprechpausen (1 * = 1 Sekunde).
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could have imagined myself abroad, even when I was doing my B.A.studies in Roved Lan. But, war affected my life in that way that I had to postpone that, that it was financially impossible, that I had a bad passport, the country was under sanctions, so, I couldn’t go anyway and I kept/, I didn’t have money to go to the neighbouring city (Lachen) let alone anywhere else. (M: 192-209)
An der biographischen Narration von Mia ist auffällig, dass der Erzählfluss von zahlreichen Brüchen und Unterbrechungen gekennzeichnet ist. Dieser Rhythmus zieht sich als überwiegende Erzählmelodie durch die meisten Passagen des Interviews. Eine Korrespondenz besteht auch zum Narrationsmotiv des „Funktionierens“, das Mia an vielen Stellen des Interviews anspricht. Immer wieder betont sie, dass sie im Krieg und als Konsequenz des Kriegs im Exil nur mehr „funktioniere“. In dieser Metaphorik wird deutlich, dass Mia ihre Biographie als zerbrochen erfährt. Im Kontext der sozialen Anomie als Folge der Kriegsereignisse beschreibt sie, dass ihr Leben zwar weitergeht, aber sie erlebt dies als mechanisches Funktionieren. Im weiteren Verlauf des Interviews stellen Brüche nicht nur ein strukturelles Erzählmerkmal dar, sondern sie werden auch zum Gegenstand von Mias Erzählung. Die Brüche, die durch den Krieg entstanden sind, werden auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar und haben Konsequenzen für ihre wissenschaftliche Karriere und für die Beziehung zu ihren Eltern. So, it caused a break. Because the break has been a couple of years break. And, because, my family was dispersed, because of the war my mother was in Roved Lan, all the time and my father by chance could leave two month before, so he couldn’t go back. And he was living at my grandmother’s house at the very most of the country in a village. So we were all in different parts of the **, the family was just destroyed in a way. You know, we were scattered, with very little communication with the mother, and violent/ we had financial problems. I was working in Zadnar. It was a perfect job. I mean, it was a really nice job. But it was impossible to live on that. So I always worked at two other places, like private schools, private language schools. And this is war’s effect, material effect of the war. And I, emotionally, I will never recover it (Worte sehr stark zusammengezogen). (M: 214–234)
Während einerseits die Rekonstruktion biographischer Brüche in Mias Narration dominiert und die Artikulation der emotionalen Effekte des Krieges immer wieder im Zentrum des Interviews steht, stellt die Herstellung von Kohärenz ein weiteres Erzählmotiv dar, dass sich insbesondere in Mias Darstellung ihrer wissenschaftlichen Ambitionen und Vorstellungen spiegelt. Dabei spielt einer-
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Auf der Flucht: Krieg und Wissenschaft (Mia)
seits die Retrospektive auf ihre schon früh gehegte Zukunftsvorstellung als Wissenschaftlerin eine Rolle, andererseits ihre Aussage, dass sie eine Arbeit als „Reisende“ und „Lernende“ schon immer im Bereich ihrer Möglichkeiten gesehen habe. Interessanterweise stellt Mia, deren Vater Professor war, keinerlei Bezug zu einem ihr schon als Kind vertrauten wissenschaftlichen Ambiente her. Ebenso thematisiert sie während des gesamten Interviews in keiner Weise eine Kontinuität zum Beruf ihres Vaters, die sie mit ihrer Entscheidung für eine wissenschaftliche Biographie trifft. Vielmehr stellt sich Mias Narration vor allem als Anstrengung dar, trotz der erlebten Brüche an ihren beruflichen Plänen festzuhalten. Then I thought: O.K., this is it. So, you have to somehow to think that you live with this and how to keep your ways. You know, I was a little bit late in my education compared to, you know, other people, but this was it, so that’s me with my experience and with my life. So, I know there are some things I gained, maybe some things, but other things I couldn’t. ******* (8 Sek. Pause) I mean, it was definitely that I COULD see myself in academia SOMEtime, (2 Worte unverständlich) to built a career, ANY job where you could travel or learn or meet people, so, ********* (10 Sek. Pause) (M: 235-247)
Hier stellt Mia sehr deutlich heraus, dass sie zwar durchaus auf berufliche Erfolge zurückblicken kann, zugleich betont sie, dass sie nicht alles, was sie sich vorgenommen hatte, realisieren konnte. Dies ist einerseits durch den Krieg bedingt, aber dazu zählt auch, dass es ihr nicht gelang, mit Beginn ihres Studiums eine Emanzipation von ihren Eltern zu erreichen. Die Beziehung zu ihren Eltern, bei denen sie, wie es im ehemaligen Jugoslawien üblich war, während ihres Studiums wohnte, beschreibt sie in einer Form, die verdeutlicht, dass Mia die räumliche Nähe zu ihnen als beengend erlebt hat. Ihr ursprünglicher Wunsch war es, ein Studium in einer anderen Stadt aufzunehmen, aber ihre Eltern drängten sie, in Roved Lan zu bleiben: „They said, well you have everything here, it’s a university city, why should you go anywhere else to study. So I had to wait for four more years.” (M: 1424-1427) Anders als bei Devi und Nalan bleiben Mias Eltern für ihren Entschluss, das Land zu verlassen, nahezu ohne Bedeutung. Sie erwähnt weder, dass sie von ihren Eltern sozial oder emotional unterstützt wurde, noch erzählt sie detailliert davon, dass sie die Trennung von ihrer Mutter besonders schmerzt. Vielmehr macht Mia deutlich, dass sie bereits sehr früh den Wunsch hatte, räumlich auf Distanz zu ihren Eltern zu gehen und in einer anderen Stadt zu leben.
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Till secondary school, I know always that I really didn’t want to stay in Roved Lan, that I would go somewhere else, which doesn’t mean that the fact that it is so destroying in my life, it didn’t hurt so much. It did. But, still, I always wanted to leave. I left shortly before the war. (M: 84-90)
Als Mia schließlich aus ihrem Elternhaus ausgezogen war, veränderten sich die Verhältnisse bald grundlegend, denn der Krieg hatte begonnen. Aufgewachsen im Gebiet des heutigen Bosnien-Herzegowina, zieht sie in das heutige Serbien, wo sie nach Beginn des Krieges als Fremde angesehen wird. Obwohl ihr die Arbeit an der Universität von Zadnar sehr gut gefällt, hat Mia während des Kriegs keinen leichten Stand an ihrer Arbeitsstelle, da sie als „Bosnierin“ und Fremde kategorisiert wird und wenig Anerkennung für ihre Arbeit erhält. Diese schwierige Position, in der sie sich als sehr junge Nachwuchswissenschaftlerin befindet, spitzt sich nach mehreren Kriegsjahren derart zu, dass sie unter dem Verdacht steht, eine „Verräterin“ zu sein und ihre Arbeitsstelle verliert. Dieser Vorgang orientiert sich nicht an ihren wissenschaftlichen Leistungen, sondern ist eine Folge der nationalistischen Politik in Serbien, in der Ethnizität nicht nur als affirmatives Exklusionskriterium definiert wurde, sondern auch als Begründung für Massenmorde und Vergewaltigungen herangezogen wurde. Die Tatsache, dass ihre Stelle, in der sie sich sehr engagierte, gekündigt wird, kränkt Mia zutiefst. I was an outsider at that university and I was the other, because I was not from there. I was born in Roved Lan, so everybody had each other, so I was (Lachen) ** the other ** there. Hm, and as the other I was usually given no word of thanks, and I was too young to, I was not in the position to complain much about that. And the fact that I was fired was even, even worse. It didn’t strengthen that I was fired as a traitor - I mean - I couldn’t care less about that. But the fact, that I was FIRED! Come on! I was doing my job fine! (M: 295-309)
Auch wenn es Mia gelingt, im Anschluss an ihr Studium eine Anstellung als Wissenschaftlerin zu finden, wird sehr deutlich, dass ihre Arbeitsbedingungen im Kriegskontext für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Karriere äußerst schwierig sind. Mia berichtet, dass sie in Zadnar mit Arbeit überhäuft wird und kaum Zeit für ihr Graduiertenstudium findet. Schließlich benötigt sie wesentlich länger als vorgesehen, um ihre M.A.-Prüfungen abzulegen. Während des Krieges hat sie kaum die Gelegenheit, ihre Vorlesungen zu besuchen. Deshalb bereitet sie sich im Selbststudium auf ihre Prüfungen vor. In dieser Zeit unterrichtet sie vierzig Stunden pro Woche und sie muss in einer Situation leben, in der tägliche Stromsperren den Alltag prägen und die wissenschaftliche Arbeit
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Auf der Flucht: Krieg und Wissenschaft (Mia)
praktisch unmöglich machen. Kurze Zeit nachdem Mia ihre Examen gemacht hat, verlässt sie mit ihrem Mann das Land und sie gehen zunächst nach Ungarn. Seitdem lebt das Paar in einer permanenten Aufbruchsituation, in der sie versuchen, ein Visum für Kanada zu bekommen. We were thinking WHERE ELSE we can go. We tried to go to Canada, but it didn’t work. And we were trying, until now, we tried, and it didn’t work. (M: 508-523)
Ihr Zielland Kanada zu erreichen stellt nicht den einzigen Versuch dar, Ungarn wieder zu verlassen, das für die Flucht aus dem ehemaligen Jugoslawien für Mia nur eine Durchgangsstation darstellt. Ihr Leben ist seit ihrer Flucht davon geprägt, dass sie sich zwar in einer permanenten Situation des Aufbruchs befindet, es ihr aber durch die Begrenzung ihrer Reisefreiheit nicht gelingt, ihr Ziel zu erreichen. Deshalb ist Mia auf der Suche nach weiteren – besseren – Durchgangsstationen und Passagen, die sie zur Wissenschaft zurück und zum Aufenthaltsland ihrer Wünsche hinführen. Ihr Mann erhält nach einigen Monaten ein kurzzeitiges Stipendium als Schriftsteller in Deutschland, wo Mia ihn besuchte. Hier erfährt sie auch von der Ausschreibung der Studienplätze an der Internationalen Frauenuniversität. Mia bewirbt sich und nutzt diesen transnationalen Wissenschaftskontext sehr gezielt, um Kontakte zu knüpfen und nach Möglichkeiten zu suchen, ein Stipendium für ein PhD-Programm in einem anderen Land zu erhalten. My husband got this writer’s scholarship for Berlin during the summer and on the way back I found this advertisement, so next summer I went to ifu. **** And hm, I was researching, well at ifu I was researching, where I could go for my PhD. I was at ifu in 2000, summer and then, September 2001, I started my studies here. And I think that ifu helped, because as references and as a proof that I also studied abroad. So I also had needed some experience. This was very important, I think. **** I am SURE, because I know the criteria now, how they choose. It’s not only a programme, but they also, it is also, if you have to need some international experience. So I was lucky to be selected for ifu. (M: 135-167)
Ähnlich wie für Devi und Nalan wirkte sich das Studienprogramm der ifu als stimulierend für die Entwicklung weiterer Wissenschaftsmobilität für Mia aus. Mia kann bei ihren Bewerbungen vor allem auf Erfahrungen aufbauen, die sie im Kontext der ifu gemacht hat. Im Anschluss an die Präsenzphase der ifu gelingt es ihr jedoch nicht so nahtlos wie Nalan und Devi auf direkte wissenschaftliche Kontakte zurückzugreifen, die sie bei der ifu geknüpft hat. Die ifu bildet für Mia damit einerseits einen Erfahrungskontext, in dem sie auf andere
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Wissenschaftlerinnen trifft, die ebenfalls mobile Lebensstile entwerfen und wo sie Optionen für ihre eigene Entwicklung entdecken kann. Diese Dimensionen sind für Mia zwar wichtig, durch ihre besondere Situation als Fluchtmigrantin sind die Lebensentwürfe anderer transnationaler Wissenschaftsmigrantinnen nur bedingt mit ihrer eigenen Lebenssituation vergleichbar. Während die ifu ihr einen transnationalen Erfahrungsraum als Wissenschaftlerin bietet, wird das Kennen lernen transnationaler Lebensstile durch andere Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien für Mia bereits vor ihrer Teilnahme an der ifu relevant. Schon im Rahmen einer Arbeit als Englischlehrerin für Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina, die nach Kanada und in die USA auswandern wollten, kommt sie intensiv mit der Möglichkeit transnationaler Mobilität in Berührung, die auch für sie selbst motivierend ist. There were programmes “how to look for jobs”, * there *. So I was inspired as well. I mean, because it was a new system, it’s a different market, you know, so you have to learn new things. So this helped me later. (M: 334-338)
Mias Geschichte des Aufbruchs ist zugleich eine Geschichte der Verhinderung von Aufbrüchen. Die Staatsangehörigkeit Mias stellt für ihre Migrationsgeschichte eine Ausgangslage dar, durch die es für sie unmöglich ist, das gewünschte Land ihres Aufenthalts frei zu wählen, anders als es beispielsweise einer Wissenschaftlerin aus einem EU-Land oder aus den USA möglich ist. Durch diese Situation ist Mia gezwungen, einen großen Teil ihrer Energie für die Beantragung von Visa zu verwenden. Diese Bemühungen sind jedoch unabhängig von ihren wissenschaftlichen Leistungen häufig vergeblich, weil sie an den Staatsgrenzen scheitert. Obwohl sie bei ihren Bewerbungen um ein PhDStipendium gleich in mehreren Ländern erfolgreich ist, kann sie nicht alle Einladungen zu Vorstellungsgesprächen wahrnehmen, weil sie nicht rechtzeitig ein Visum erhält. Für ein Stipendium, das ihr in Großbritannien angeboten wird, gelingt es ihr beispielsweise erst sechs Wochen nach dem Termin, zu dem das Vorstellungsgespräch angesetzt ist, ein Einreisevisum zu bekommen (M: 650654). Mias Alltag ist auf diese Weise vom Warten in der Botschaft bestimmt, wo sie immer wieder abgewiesen wird. Sie erzählt, dass sie diese Situation, die sie in ihren Entfaltungsmöglichkeiten derart einschränkt, an den Rand ihrer Kräfte führt. I was at the point of giving up, like: “I just don’t want to queue any more in front of the embassy, so if it works, it works, and if I don’t go there, O.K., I’ll go somewhere else.” (M: 655-659)
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Anders als transnational mobile Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren Migrationsprozesse vor allem von den Arbeitsangeboten abhängig sind, werden Mias Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Perspektiven durch die Undurchlässigkeit von Staatsgrenzen eingeschränkt. Damit wird ihr Aufenthaltsort nicht durch die Wahl der besten Arbeitsbedingungen bestimmt, sondern durch ihre begrenzten Möglichkeiten, Staatsgrenzen zu passieren. Die Episoden, die sie von ihren Erfahrungen auf den Botschaften oder bei der Überquerung von Staatsgrenzen erzählt, muten geradezu kafkaesk an. Als sie in Ungarn versucht, ein Einreisevisum für Italien zu erhalten, wird sie an der Botschaft mehrfach abgewiesen. Die Tatsache, dass das Visum für ihre akademische Laufbahn äußerst wichtig ist, spielt auf der Behörde jedoch überhaupt keine Rolle. I think that I queued five times. First I thought to ask what I needed for a visa and I explained why and that I had an invitation at the place here and I had a work-permit in Hungary and all the documents settled. And then they have told me what I needed, so then I came back with that and I have thought that this is it, you know. Yes, but it’s NOT how you do it. Once you get there at the counter, they discover that you need something else as well. And then send you back and then, and then, they have probably trained to set you back as many times as possible. (M: 665-676)
Die Vorgänge bei der Beantragung eines Visums erlebt Mia als Schikane, die sie darauf stößt, wie begrenzt ihre Möglichkeiten mit einem Reisepass aus dem ehemaligen Jugoslawien sind. Sie ist der Willkür von Botschaftsangehörigen ausgesetzt, deren Arbeitsweise sie so beschreibt, dass ihr Erfolg von einer möglichst hohen Zahl von Zurückweisungen der vorgebrachten Reisegesuche abhängig ist. Mia beschreibt ihr Empfinden während dieser Vorgänge als ambivalente Mischung, die von Hilflosigkeit und Ärger bis hin zu körperlichem Ekel geprägt sind. “I remember his really ugly fingers. He was just lachend **fingering my papers**, “could you please?” – And he said: “Why? Don’t you want a visa?” He was really playing foul games. And, he, he took one of my documents, saying that I didn’t have that. “You don’t speak Hungarian?” – And I said: “No. I don’t”. And he was checking papers here and there and then put it in the drawer, you know, this drawer, where you slight the documents through. So, he put something into it and: “You DO have the work-permit?” – So I said: “Yes, I do, it’s in your drawer.” So, in the end when I talked to him: “Please give me back the papers!” –
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“O.K., if you do not want a visa.” “I DO want a visa, but you don’t want to give it to me, this is what is clear.” (M: 684-699)
Mia schildert derartige Begegnungen mehrfach und ihre Reisen sind immer wieder durch das Scheitern an Staatsgrenzen gekennzeichnet. Dabei ist Mia der Willkür von Grenzposten und Konsulatsmitarbeitern ausgesetzt, insbesondere, wenn sie in die EU einreisen oder sie verlassen will, und sie resümiert: “This is my experience when I travel. (...) I usually have an adventure.” (M: 724-730) Ihre Staatsbürgerschaft wird auf diese Weise im Kontext transnationaler Mobilität zur zentralen Identitätskategorie, die sich jedoch als eine negative Identifikationsfolie abbildet: Als Intellektuelle, die im ehemaligen Jugoslawien aufgewachsen ist und ihre ersten Berufserfahrungen als Wissenschaftlerin dort sammelte, sieht sie sich im Verlauf des Kriegs dazu gezwungen, das Land zu verlassen. Dies setzt zugleich den Anfangpunkt für ihre transnationale Lebensführung als Wissenschaftlerin und konfrontiert sie damit, ihre Arbeit in Ungarn, der ersten Station ihres Exils, nicht weiterführen zu können. Staatsbürgerschaft ist für Mia vor allem eine begrenzende Kategorie, durch die sie gezwungen ist, eine transnationale Lebensführung zu entwickeln, um als Wissenschaftlerin arbeiten zu können. Diese Lebensform stößt jedoch immer wieder auf behördliche Limitierungen und lässt sich nur unter sehr erschwerten Bedingungen realisieren.
10.3 Ankommen: “It makes you sick when you have no choice” Der erzwungene Aufbruch Mias führt dazu, dass sie im Verlauf ihrer transnationalen Migration bis zum Zeitpunkt des Interviews vier Jahre nach ihrer Flucht aus dem ehemaligen Jugoslawien keine Erfahrung des „Ankommens“ entwickeln kann. Auch hier ist ihre Geschichte davon bestimmt, dass eine Ankunft für Mia deshalb unmöglich ist, weil sie nur eine begrenzte Auswahl von Möglichkeiten besitzt, die ihr diesen Prozess erlauben. Die zweite Dimension, die Mia daran hindert, in ihren Migrationsstationen Orte zu erkennen, an denen sie sich zuhause fühlt, ist die Traumatisierung, die sie durch die Zerstörung der lokal gebundenen sozialen Beziehungen mit ihrer Familie sowie mit ihren Freunden im ehemaligen Jugoslawien erlitten hat. Diese Region existiert zwar weiter als geographischer Ort, die sozialen und politischen Konstellationen, die Mia damit verbindet, sind jedoch zerstört. Das, was Mia als ihr Zuhause und als Ausgangslage ihrer sozialen Interaktionen einschließlich ihrer beruflichen
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Entwicklung betrachtet hatte, existiert nicht mehr.150 Hinzu kommt, dass ihr geographisches Ziel Kanada unerreichbar bleibt. Mia befindet sich damit zum Zeitpunkt des Interviews in einer Situation, in der sie sich damit abfinden muss, dass sie nur über begrenzte Reisemöglichkeiten verfügt. Diesen Zustand beschreibt Mia als ebenso kränkend wie die Willkürakte der Einreisebehörden und Grenzposten, mit denen sie konfrontiert wird und sie konstatiert schon zu Beginn des Interviews: „It makes you sick when you have no choice“ (M: 361362). Diese Umstände führen dazu, dass Mia kein Zuhause im Sinne eines lokalisierbaren Ortes hat, da die sozialen Strukturen, die sie damit verbindet, nicht mehr vorhanden sind. I demand to something that actually doesn’t exist anymore. (lachend) O.K. THE country, THE ideology not in the terms of the social use of socialism, but the case with multiculturalism and, hm, tolerance, this was it. It’s gone. ** It’s gone. (M: 929-935)
Sie berichtet von ihren Freunden, die fast alle das Territorium des ehemaligen Jugoslawien verlassen haben. Hier handelt es sich um Intellektuelle, die aus ganz unterschiedlichen religiösen und ethnischen Kontexten zusammengekommen sind und deren Interaktionen sich nationalistische Setzungen von sozialen Differenzlinien widersetzen. Vielen ihrer Freunde ist es gelungen, nach Kanada zu gehen, wonach sich auch Mia sehnt. Im ehemaligen Jugoslawien sind ihre Freunde und Bekannten jedoch verschwunden: Most of our friends are there (in Kanada; C.B.-U.) Most of my friends, I would say, anyway. Very very few stayed in Roved Lan. (M: 516-517)
Mia beschreibt die Atmosphäre im Roved Lan ihrer Kindheit und Studienzeit als sehr weltoffen und multikulturell. Sie fühlt sich zugehörig zu einer intellektuellen Mittelklasse, die das kulturelle Leben im ehemaligen sozialistischen Jugoslawien prägte. Dieses soziale Klima wurde durch den Nationalismus und durch
150 Mia befindet sich mit den oppositionellen Intellektuellen, die das ehemalige Jugoslawien verlassen haben, in einer Lebenssituation, die Ähnlichkeit besitzt mit den Migrationsgeschichten von Intellektuellen, die das faschistische Deutschland verlassen haben. Für viele stellte sich das Exil sowie die vorangegangenen sozialen Katastrophen als derartig traumatisch dar, dass es ihnen nicht gelungen ist, an den Orten ihrer Ankunft Fuß zu fassen und sich dort wissenschaftlich und sozial erneut zu etablieren. Diesen Zustand des Nicht-Ankommens haben Erika und Klaus Mann sehr eindringlich in ihren beiden Exilromanen „Escape to Life. Deutsche Kultur im Exil“ (1939) und in „The Other Germany“ (1940) beschrieben. Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die Geschichte der Begründer der Kritischen Theorie im amerikanischen Exil, die Wiggershaus (1988: 147-479) am Beispiel der Geschichte der Frankfurter Schule nachgezeichnet hat.
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die daraus resultierenden Kriege und Ethnozide in den Gebieten des früheren Jugoslawien zerstört. I think that almost ninety per cent of people were from mixed marriages, the point was to be smart, to be, you know, have you seen how many times have you seen Kurosawa? That was the point that we were interested in and not whether you are practicing your religion or not. * So, ** these values are of course, (laut vernehmliches Ausatmen), gone. Very educated people just left if they could, most of them. *** (M: 1042-1052)
Die Zerstörung des Sozialen und der Verlust ihrer Zugehörigkeit werden auch in der folgenden Schilderung Mias deutlich, in der sie ihren ersten Besuch in Roved Lan nach dem Krieg im Jahr 2001 schildert. Sie erzählt, wie sie ihre frühere Lieblingsbuchhandlung betritt, die nach dem Krieg jedoch nur noch wenige literarische Werke im Sortiment hat, darunter auch eine Prosasammlung, die einer ihrer Freunde geschrieben hat: I picked up a book written by a friend of mine who is now a famous writer. I just picked up some short stories, and I opened it and I found a story about our common friend who got killed in a car accident one year before the war. This writer friend says about this friend of mine he was the only one who stayed in Roved Lan. And he was the only one who ignored that there was the war. (M: 1061-1076)
In dieser Episode verdichtet sich die Retrospektive Mias auf ihre eigene Vergangenheit, die ebenso unweigerlich tot ist wie der junge Mann, der als einziger in Roved Lan zurückblieb, weil er den Krieg nicht mehr erlebte. Mia dagegen hat Roved Lan und dem ehemaligen Jugoslawien den Rücken gekehrt. Sie sieht in ihrer Migrationsgeschichte auch eine Flucht nach vorn, mit der sie sich aus der Destruktion retten kann, die der Krieg bewirkt hat. Gleichzeitig verabschiedet sie damit jegliche Hoffnung auf eine politische Perspektive für das ehemalige Jugoslawien. I don’t have next 15 years to *** spent ** (lachend) hoping that things will change. We have been stolen already those 10 years, so, it sounds very cruel, but this is it. This is it. (M: 963-965)
Diese desillusionierte Sicht nährt sich auch durch den Besuch ihrer Kusine, die sie in Ungarn aufsucht und von den Verhältnissen in Roved Lan berichtet. One of the first things that she told me was, yes, people like you and me, don’t exist *** anymore *** (lachend) there. (M: 987-989)
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Auch die Beziehung zu ihrer Mutter, die nach dem Tod ihres Vaters allein in Roved Lan lebt, kann ihr nicht das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln, das sie verloren hat. Mia beschreibt das Verhältnis mit der Mutter, die nach dem Säuglingstod eines zweiten Kindes an Depressionen erkrankt ist, als schwierig. Sie findet in der Mutter-Tochter-Beziehung vor allem eine Herausforderung, sich von der Mutter abzugrenzen. Deren Depressivität und körperliche Leiden sind für Mia eine Negativfolie und sie sagt, dass sie selbst keinesfalls Ähnlichkeit mit ihrer Mutter haben wolle und beschwört ihre eigene Contenance: She is VERY emotional, fragile. So, that’s what I try not to be (lachend). Well, I try to keep the form. (M: 1366-1368)
Auch wenn Mia erzählt, dass es für sie nicht leicht ist, ihre Mutter allein zurückzulassen, betont sie vor allem, dass sie selbst nicht mehr in Roved Lan leben kann. Auch die Besuche im ehemaligen Jugoslawien fallen Mia zunehmend schwer, weil sie sich als Fremde fühlt und die politischen Veränderungen und die Zerstörung der sozialen Strukturen nicht ertragen kann. Zwar ist die Reise nach Roved Lan zum Zeitpunkt des Interviews formal bereits relativ unproblematisch möglich, aber in Kroatien, wo ihre Großmutter lebte, ist Mia nicht mehr willkommen. I used to go every summer at my grandmother’s there, it’s a part of my culture as well and why should I be foreign? *** I belong to travel across cultures like that. I don’t want to *** be foreigner *** (lachend) there. (M: 1024-1028)
Mia setzt hier ihre Kindheitserfahrungen in einer multikulturellen und weltoffenen Gesellschaft als Gegenpunkt zur veränderten sozialen Realität in den Nachkriegsstaaten des ehemaligen Jugoslawien. Dabei trauert sie vor allem den offenen sozialen Konstellationen nach, die sie als eine „Reise durch die Kulturen hindurch“ bezeichnet. Eine solches von Durchlässigkeit und Transformationsprozesse gekennzeichnetes kulturelles Klima zählt für Mias biographische Narration zu den zentralen Motiven ihrer eigenen Geschichte und ihres Selbstkonzepts als kritische Intellektuelle, für dessen Identitätserzählung eine kosmopolitische Orientierung konstitutiv ist. Mia verortet diesen Kosmopolitismus im zerstörten ehemaligen Jugoslawien und sie begibt sich mit ihrer Entscheidung für das Verlassen des Landes erneut auf die Suche danach.
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10.4 Dazwischen: “I am used to changing places” Für die Migrationsgeschichte von Mia besitzt die Kategorie der Passage, des „Dazwischen“ einen besonders hohen Stellenwert, gerade weil sich in ihrer biographischen Erzählung kein Motiv des Ankommens findet. Mit der Kategorie des „Dazwischen“ kann einerseits ihre Sehnsucht nach der multikulturell geprägten sozialen Struktur, in der sie aufgewachsen ist, gefasst werden, andererseits haben die geographischen Stationen ihrer Flucht aus dem ehemaligen Jugoslawien eine besondere Relevanz, da sie nicht über die Möglichkeit verfügt, über den Ort, an dem sie leben möchte, selbst zu bestimmen. Hier spielt zunächst Ungarn als erste Zwischenstation eine Rolle, das sie als unwirtlich und nationalistisch beschreibt. Ihr kurzer Aufenthalt in Deutschland während der ifu-Präsenzphase erhält für Mia die Bedeutung einer Instanz des sozialen Empowerments sowie einer wissenschaftlichen Neuorientierung, die sie als Doktorandin in Italien fortführt. Diese lokal gebundenen Kontexte sind für Mias Erleben gleichermaßen von ihren sozialen Vernetzungen mit anderen Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien geprägt. Die regelmäßigen und intensiven Kontakte bestehen vor allem durch das Internet.151 Damit ist es Mia möglich, ihr Alltagserleben trotz Einschränkung ihrer Reisefreiheit grenzüberschreitend zu gestalten und zu erleben. Mia erzählt, dass ihre Freunde und Bekannten aus der Schule und dem Studium, die sie in Roved Lan kannte, inzwischen in der ganzen Welt verstreut leben. Einige halten sich ebenfalls in Italien auf, viele sind in Kanada, andere in Australien, in Deutschland und in Großbritannien. Trotz dieser räumlichen Distanz sieht Mia einen starken sozialen Zusammenhalt zwischen sich und ihren alten Freundinnen und Freunden, mit denen sie nicht nur die Vergangenheit in Roved Lan teilt, sondern auch die durch die Kriegsrepressionen erzwungene mobile Lebensform und die daraus resultierende transnationalisierte Organisation des Alltags. The only good thing is the Internet, e-mail, because we are always in touch. I am in touch with most of my friends. My secondary class, whose network is still very alive on the net. Wherein we aren’t the war didn’t exist for us in
151 Die Befunde von Mau und Mewes (2008) sowie von Mau (2007), in denen für die Transnationalisierung des Sozialen dargelegt wird, korrespondieren mit der Kommunikationspraxis der Exilantinnen und Exilanten aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die Autoren zeigen, dass das Internet und hier insbesondere E-Mail-Korrespondenz und zunehmend auch Skype-Kommunikation zur wichtigsten transnationalen Kommunikationsform zählt, auf deren Basis relativ stabile transnationale Vernetzungen von Personen entstehen, die sich bereits vor der Etablierung dieser virtuellen sozialen Interaktionen kannten.
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terms of any kind of I don’t know, (****** 10 Sekunden Pause) it is amazing and really nice, really nice. (M: 1099-1106)
Mia beschreibt, dass es die virtuelle Form der Kommunikation dem Freundeskreis nicht nur erlaubt, regelmäßig in Kontakt zu stehen, sondern auch, ihre Freundschaften losgelöst von der Erfahrung des Kriegs zu erleben und an ihr früheres Leben anzuknüpfen. It’s just the same Roved Lan as it used to be, ** but ** (lachend) it’s virtual. (Lachen). It’s really virtual. **** Crazy. (15 Sekunden Pause) (M: 1114-1117)
Durch diese Form der sozialen Vernetzung wird Mias Erfahrung des biographischen Bruchs, der durch das Kriegsgeschehen ausgelöst wurde, wenn auch nicht aufgehoben, so aber doch relativiert. Sie findet in der Kommunikation innerhalb ihres Freundschaftsnetzwerks von Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien die Möglichkeit, an ihr früheres Leben anzuknüpfen und diese sozialen Kontakte in ihren Alltag einzubeziehen. Mia betont hier ganz besonders den Aspekt der Herstellung von biographischer Kontinuität, die eine wichtige Ressource für ihr Leben als transnationale Migrantin ist. Hier findet sich eine interessante Parallele zu den Erzählungen von Nalan und Devi, die eine solche biographische Kontinuität jedoch nicht ausschließlich in Freundschaftsnetzwerken finden, sondern auch und vor allem im Kontext ihrer familiären Bindungen. Dagegen betont Mia für die familiäre Dimension von Bindung das Auseinanderbrechen der sozialen Strukturen durch den Krieg. Diese Brüche betonen den Stellenwert, den sie den virtuellen Kontakten mit ihren Freunden aus dem ehemaligen Jugoslawien in ihrer biographischen Narration einräumt. Es stellt die soziale Instanz dar, mit der sie eine biographische Kontinuität herstellen kann, die Bezug auf die lokal verorteten Sozialräume vor Ausbruch des Kriegs nimmt. Dabei spielt die Referenz auf den gemeinsamen Schulbesuch und das Studium in Roved Lan eine wichtige Rolle, ebenso wie die geteilten Erfahrungen des Kriegs und der Migration. You need contact with your previous life, because it’s another part of your identity. You can re-create yourself in another place, in another culture, but still, I lived 24 years in Roved Lan, and if I meet somebody even on the Net, from that period of my life, I feel alive, I feel like I existed somewhere before as well, so it’s part of my identity as well. So, I develop other aspects of my identity, but I need that one as well and I think it’s similar with them. (M: 1124-1134)
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Mit dem virtuellen Freundschaftsnetzwerk zeigt sich, dass Mias Vergangenheit nicht nur der Zerstörung zum Opfer gefallen ist, sondern dass sie an einer virtuellen Gemeinschaft Teil hat, deren Mitglieder ihre Peers aus dem Roved Lan ihrer Schul- und Studienzeit sind. Auch in der virtuell vernetzten Sozialstruktur, die die Exilantinnen und Exilanten untereinander herstellen, bleibt diese Peergruppenfunktion erhalten, denn die virtuellen Akteurinnen und Akteure teilen die Erfahrung der forcierten Migration, wenn auch an unterschiedlichen Orten der Welt. Dieses Netzwerk existiert gerade weil die Beteiligten in alle Welt versprengt sind, und es ist losgelöst von ihren aktuellen geographischen Aufenthaltsräumen. Diese virtuelle Vernetzung ermöglicht Mia die Vorstellung, dass ihr früheres Leben auch gute Seiten hatte, die den Krieg unbeschadet überstanden haben. Diese biographische Konstruktion erlaubt es Mia, das erlebte Trauma des Krieges und das Auseinanderbrechen der sozialen Strukturen, die sie als konstitutiv für ihr Leben begriffen hat, auf der Basis virtueller Restrukturierung erneut als positiven Teil ihrer Identität zu verstehen. Die internetbasierten informellen sozialen Strukturen, die sich vor allem durch regen E-Mail-Austausch unter den in alle Welt versprengten Freundinnen und Freunden ausdrücken, beruhen ebenso wie das E-Mail-Netzwerk vifu auf dem Prinzip der Reziprozität, weil alle Beteiligten den Kontakt mit den sozialen Netzwerken aus dem ehemaligen Jugoslawien für ihren eigenen Umgang mit den Kriegserfahrungen und für die Entwicklung ihrer jeweils sehr unterschiedlichen Migrationsprozesse benötigen. Für die Herstellung dieser Strukturen stellen sie ihre aktive Kommunikation zur Verfügung und profitieren von den kommunikativen Handlungen ihrer virtuellen Interaktionspartnerinnen und -partner. Mia betont in diesem Zusammenhang auch, dass das Überdauern des Freundschaftsnetzwerks einen klaren Kontrast zu den sozialen Destruktionsprozessen auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien darstellt. Something nice remained, after that folly and disaster and this craziness, something moral still remained and somehow clean. It didn’t get polluted somehow. It’s still alive. It’s good I think, because it was good. ****** (6 Seunden Pause) So, not everything was totally destroyed. It is comforting, actually, you know, so many things were just too bad. A little piece somehow remained of normality. ********** (10 Sekunden Pause) I think it works quite well. It exists. (M: 1150–1170)
Diese Erfahrung einer Freundschaftsstruktur, die das Teilen der Erfahrung unterschiedlicher Lebensführungen im Exil an ganz verschiedenen Orten der Welt konstituiert, stellt eine soziale Struktur dar, die von den lokal basierten biographischen Erfahrungen Mias in ihren unterschiedlichen Migrationspassagen nicht zu trennen ist. Sie durchläuft nach dem Verlassen des ehemaligen
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Jugoslawien die geographischen Passagen Ungarn, den Studienaufenthalt an der ifu in Deutschland sowie ihr PhD-Studium in Italien. Mias Aufenthalt in Ungarn stellt zunächst die einzige Möglichkeit für sie und ihren Mann dar, Jugoslawien zu verlassen. Es bietet sich dort jedoch für sie keine Möglichkeit, an ihre Arbeit als Wissenschaftlerin anzuknüpfen, und sie leidet unter der nationalistischen Atmosphäre, die sie in Ungarn erlebt. Mia beschreibt ihr Scheitern, in Ungarn Fuß zu fassen, vor allem auf der emotionalen Ebene: I didn’t think I would feel, ** feel so * isolated. (M: 427-429) Zusätzlich leidet Mia darunter, dass sie permanent von den Behörden kontrolliert wird und dass es für sie als Flüchtling aus Ex-Jugoslawien nicht möglich ist, eine feste Arbeitsstelle zu finden. Für ihre persönliche Entwicklung sieht Mia vor allem eine Stagnation „I was a bit stuck“ (M: 407) und sie betont, dass Neolovi für sie von Anfang an eine Durchgangsstation ist. I mean, it was not a solution. It‘s I mean a transition, fine. I mean, you’re in-between and see what else you can do, but, for us, I mean, at least with our profession, this was not a good place. Somehow we were not able to find something better. (M: 420-425)
Sie berichtet davon, dass sie als Flüchtling aus dem ehemaligen Jugoslawien keine Stelle an der Universität bekommen konnte und darauf ausweichen musste, als Englischlehrerin an Privatschulen zu arbeiten. Hier war sie jedoch dazu gezwungen, von ihren Ad-hoc-Honoraren an Privatschulen zu leben, weil sie als Flüchtling nirgends einen Arbeitsvertrag von Dauer bekam. Mias Entwicklung als Wissenschaftlerin ist nach dem Verlassen des ehemaligen Jugoslawien auf Eis gelegt, und es bietet sich ihr zunächst keine Chance, an ihre wissenschaftliche Arbeit anzuknüpfen. Ungarn als erste Station ihrer Migrationsgeschichte ist jedoch nicht nur in beruflicher Hinsicht eine Enttäuschung für Mia. Es stört sie vor allem, dass sie auch dort mit nationalistischen Diskursen konfrontiert ist, die sie als sehr einschränkend beschreibt und in ihrem Erleben eine Kontinuität zu ihren Erlebnissen im ehemaligen Jugoslawien bilden, in denen die Differnezlinien nationalstaatliche Zugehörigkeit und Ethnizität zum Exklusions- und Destruktionskriterium wurden. I was annoyed in Hungary by a very strong nationalist discourse, I just run away *** from that ** (lachen). I found very few people with whom you could openly talk. You had to be polite and you had to be careful not to insult the nation or the state. I have found it very *** limiting. You can’t express what you think. (M: 447-459)
Mias Aufenthalt in Deutschland als Teilnehmerin der ifu verändert ihre desolate Situation als Fluchtmigrantin in Ungarn grundlegend und sie beginnt, eine neue
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Perspektive für ihre wissenschaftliche Karriere zu entwerfen. Das ifu-Studium hat für sie die Bedeutung eines Sprungbretts und es gelingt ihr nach dem Aufbruch aus Ex-Jugoslawien, erneut einen Einstieg in die Wissenschaft zu finden. Bei der ifu ist es ihr möglich, Kontakte zu knüpfen, ein Thema für ihre Dissertation zu entwickeln sowie Know How für die Bewerbung auf ein PhDStipendium zu generieren. Die Rückkehr in ein wissenschaftliches Forschungsund Lernsetting wirkt sich auf das Befinden Mias positiv aus und sie erzählt, dass die Teilnahme an der ifu nicht nur wissenschaftlich stimulierend ist, sondern ihr auch einen emotionalen Rückhalt gibt. When I was there, I just felt enormously big. I felt like – it was something more familiar and more open and I felt more secure, I mean, I felt good at that, I thought, **** here something happens. I felt different. Maybe, it was also because I was in some interesting project, so you have different ** you feel different things. I don’t know, but I did feel different. (M: 433-446)
Sie kann bei der ifu an ihren Studienschwerpunkt Genderstudies anknüpfen und findet für ihr Dissertationsprojekt, mit dem sie sich auch politisch mit der Genderordnung im ehemaligen Jugoslawien auseinandersetzt – „for me, it’s a revenge to Balkan patriarchy“ (M: 817) – in den Diskussionen mit den ifuWissenschaftlerinnen inhaltliche Anregungen und soziale Unterstützung durch die weiblichen Peers. Mia vergleicht das Wissenschaftssetting an der italienischen Hochschule, an der sie promoviert, mit dem Lehr-/Lernsetting der ifu. Sie berichtet, dass es an der Universität von Gianno Citta nicht einfach sei, als Genderforscherin zu arbeiten, da Genderperspektiven im Wissenschaftsdiskurs ihrer Hochschule nicht ernst genommen werden. Mia führt diese Ignoranz auch darauf zurück, dass die Lehrenden ausschließlich ältere männliche Professoren sind. I didn’t feel very easy in terms of the colleagues. I didn’t feel fine. I AM uneasy, but after a while I just relax. And I was wondering why, why, why, and then I realised that ALL professors were men and ALL professors were elderly men. The previous academic experience I had was with ifu. And when I landed here the following year, I have got five booklets, and I mean, later, I realized that there were two younger, relatively younger people in the department, barely visible women professors, and when you go to gender, it’s like: (mit dünner, erhobener Stimme:) “You are working on gender?” So, the colleagues are kind of teasing me, and it’s: “O.K., guys, you’ll need some gender re-education here.” (lachend) (M: 1269-1286)
Mia entwickelt auf ihr Promotionsstudium in Italien einen pragmatischen Blick, da sie ihre erfolgreichen Bewerbungen an anderen europäischen Hochschulen,
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die einen Genderschwerpunkt anbieten, wegen ihrer eingeschränkten Einreisemöglichkeiten nicht wahrnehmen kann. So betrachtet sie die Universität von Gianno Citta als eine Möglichkeit, sich wissenschaftlich weiter zu qualifizieren. Dabei macht sie deutlich, dass sie die Grenzen, die ihr durch ihre Staatsbürgerschaft gesetzt sind, als sehr einschränkend erlebt (M: 1256-1260), auch wenn sie sich mit ihrer Promotionssituation in Gianno Citta arrangiert hat. Dort bietet sich ihr ähnlich wie bei der ifu ein internationales Forschungssetting, das sie jedoch auch kritisch betrachtet. I don’t have illusions, like, you know, everything is international, just means that it’s not very nationalistic. (M: 1216-1219)
Sie berichtet davon, dass sie an der Hochschule in Italien abermals Ethnisierungserfahrungen im Wissenschaftsbetrieb erfährt. An ihrer neuen Hochschule gilt Mia zu ihrem Erstaunen als Expertin für den Balkan. Diese Erwartung wird ihr jedoch nicht aufgrund ihrer wissenschaftlichen Qualifikation entgegengebracht, sondern die Annahme, sie sei eine Balkanspezialistin basiert lediglich auf ihrer weltregionalen Herkunft. Mia macht deutlich, dass ihr eine solche Ethnisierung nicht behagt. Sie sieht sich damit in Fremdzuschreibungen hineingedrängt, die sie nicht als zutreffend ansieht. I am experiencing my life, what it is, like, to be from the Balkan, to be located there, culturally, socially. It’s interesting that my professor imposed that on me somehow, like: ‘You are a historian of the Balkan.’ – I am not! I’m really not. I am interested in gender primarily. But, it’s not easy, you are constantly PUSHed into that, it’s funny. There is a concert of Rumanian music, for example, and they tell you: “There is a concert of Rumanian / like, you should go, because you are from a neighbouring country! (lachend) Why? (M: 864-879)
Für Mia stellt sich mit diesen Zuschreibungen eine ähnliche Erfahrung der Ethnisierung dar, wie sie sie seit Beginn der Kriege im ehemaligen Jugoslawien erfahren hat, auch wenn es sich hier nicht um Diskurse handelt, die ein vergleichbares Maß an Gewaltförmigkeit besitzen. Dennoch wird sie mit Zuschreibungen belegt, die sich auf ihre regionale Herkunft beziehen, obgleich sich mit ihrer Lebenssituation als Kriegsflüchtling dokumentiert, dass sie gerade wegen nationalistischer Einordnungen als ethnisch Andere ihre Stelle verloren hat und in der Konsequenz das Land verlassen musste, in dem sie damit konfrontiert war, als „Bosnierin“ kategorisiert und diskriminiert zu werden. You should have a very clear national identity, and crap like that, so, I mean, *** THIS is what I ** we could only flee. (M: 921-924)
Zusammenfassung Fallstudie Mia
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Für Mia ist eine Konsequenz aus diesen Erfahrungen, dass sie Italien ebenso wie Ungarn lediglich als Zwischenstationen ihrer Migrationsgeschichte betrachtet. Ihre Hoffnung ist, zu einem späteren Zeitpunkt in einem Land zu leben, in dem sie wegen ihrer regionalen Herkunft nicht mehr als „Andere“ identifiziert wird. An diese Vorstellung knüpft sie ihre Hoffnung auf ein Leben in Kanada, das sie sich als multikulturell geprägt vorstellt. Eine Rückkehr nach Ex-Jugoslawien als Perspektive für ihren weiteren biographischen Weg schließt Mia zum Zeitpunkt des Interviews aus. Wenn sie sich niederlässt, so berichtet sie, entwickelt sie keine ausgeprägten lokalen Bindungen, sondern sie betrachtet ihre Migrationsstationen als zeitlich limitierte Passagen: I am used to changing places (M: 906-907) I can/ temporarily locate myself, but not spatially. (M: 931-932) Anders als Devi und Nalan kann Mia als Wissenschaftsmigrantin beschrieben werden, die weitere Ortswechsel in ihre Zukunftsperspektiven ausdrücklich einschließt. Diese sind jedoch offen und von ihren weiteren beruflichen Perspektiven und den jeweiligen Einreisebestimmungen abhängig.
10.5 Zusammenfassung Fallstudie Mia Bei der transnationalen Migration von Mia handelt es sich um einen unfreiwilligen, durch den Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausgelösten Fluchtprozess. In dieser Dimension unterscheidet sich die Fallstudie „Mia“ grundlegend von den Fallstudien „Nalan“ und „Devi“. Für den Migrationsweg Mias stellt die Tatsache, dass sie keine uneingeschränkte Reisefreiheit besitzt, das zentrale Motiv ihrer biographischen Narration dar und ihre Staatsbürgerschaft ist für Mia ein Exklusionskriterium, das sich negativ auf alle Lebensbereiche auswirkt und damit auch auf ihre wissenschaftliche Karriereentwicklung. Zunächst hat Mia im Verlauf des Krieges ihre Stelle an einer Hochschule verloren, andererseits ist es ihr auch nicht möglich, die wissenschaftlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, die sich ihr in anderen Ländern eröffnen, da sie wegen der Einreisebeschränkungen mehrere Stipendien, die ihr angeboten wurden, nicht annehmen konnte. Sie träumt von einem Leben in Kanada, wohin sie gemeinsam mit ihrem Mann auswandern will. Sie haben jedoch nach jahrelangem Warten auf ein Visum auch zum Zeitpunkt des Interviews keine Einreisemöglichkeit in Aussicht. Ihre Erfahrungen mit dem Übertreten von Staatsgrenzen sind durch zeitraubende und diskriminierende Erlebnisse bei der Beantragung von Visa und bei Grenzkontrollen verbunden. Staatsbürgerschaft stellt sich hier als eine Kategorie dar, die eine sehr hohe Konstanz für soziale In- und Exklusionsprozesse besitzt und für Mias transnationale Mobilitäts- und Immobilitätserfahrungen zentral ist.
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Da sie keine Reisefreiheit genießt, ist sie gezwungen, ihre Kriegsflucht über die verfügbare Ausreisemöglichkeit nach Ungarn zu organisieren, wo sie sich aufgrund ihrer Nationalität sowohl sozial als auch als Wissenschaftlerin ausgegrenzt sieht. In Ungarn ist es ihr nicht möglich, eine Arbeitsstelle als Wissenschaftlerin zu finden. Weder in dieser unfreiwilligen Zwischenstation noch später als Doktorandin in Italien gelingt es Mia, eine Dimension der Zugehörigkeit für sich zu entwickeln. Ein bestimmendes Thema ist für sie dagegen der Verlust ihrer Zugehörigkeit zum weltoffenen Klima im ehemaligen Jugoslawien ihrer Kindheit und Jugend. Die Dimension des Ankommens wird von Mia deshalb nur in der Form einer Negation im Exil erfahren und sie befindet sich seit ihrer Flucht auf der Durchreise. Als sie als Stipendiatin der ifu nach Deutschland kommt, nutzt sie die Kontakte zu Wissenschaftlerinnen aus aller Welt und bereitet ihre Promotionsphase gezielt vor. Anschließend bewirbt sie sich sehr erfolgreich um Stipendien (sie erhält insgesamt vier Zusagen) und lebt zum Zeitpunkt des Interviews als Doktorandin in Italien. Mia organisiert von dort aus ihre sozialen Beziehungen überwiegend transnational und steht im regelmäßigen Kontakt mit anderen geflohenen Intellektuellen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die in aller Welt verstreut leben. Durch diese transnational organisierten Beziehungen ist Mia Teil eines Netzwerks, zu dem sie sich zugehörig fühlt und das eine Verbindung zum zerstörten Jugoslawien ihrer Kindheit darstellt. Gender ist für Mia anders als für Nalan und Devi keine Quelle des Empowerments, sondern in Mias biographischer Erzählung beinhaltet Gender eine Verknüpfung mit nationalstaatlicher Gewaltförmigkeit. In ihrer biographischen Erzählung verweigert sich Mia konsequent einer Stereotypisierung als weibliches Opfer männlicher nationalistischer Gewalttätigkeit. Sie entwirft vielmehr eine biographische Erzählung, in der sie einen widerständigen und kreativen transnationalen Gegenentwurf zeichnet, der über nationalstaatliche und nationalistische Beschränkungen auch in subversiven Formen der transnationalen Gestaltung ihrer sozialen Beziehungen und ihrer Strategien zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Karriere hinausweist.
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Im Transit
Mit transnationalen Konfigurationen sozialer Strukturen erhöht sich die Komplexität biographischer Erfahrungen. Dieser Zusammenhang wurde in den Fallstudien am Beispiel von Wissenschaftlerinnen exploriert, deren wissenschaftliche Qualifikationsphase durch transnationale Mobilität gekennzeichnet ist. Die transnationale Dimension von sozialer Differenz und Ungleichheit gewinnt mit der Herausbildung neuer biographischer Muster an Relevanz und Prozesse der In- und Exklusion in der Wissenschaft werden vielschichtiger. Biographische Konstruktionen mobiler Wissenschaftlerinnen eröffnen nicht nur einen Zugang zu subjektiven Erfahrungen, sondern sie ermöglichen auch einen Erkenntnisgewinn über Anerkennungs- und Ausgrenzungsprozesse in transnational angelegten wissenschaftlichen Qualifizierungswegen. Anhand der Fallstudien wurde unter Rückbezug auf die theoretischen Konzepte der interaktiven Konstruktion von Biographien („doing biography“) (Dausien und Kelle 2005; Bukow, Ottersbach, Tuider und Yildiz 2006), auf Ansätze zur hybriden Verfasstheit postkolonialer Identitäten (Bhabha 1990, 2000; Hall 2000, 2004) und auf theoretische Ansätze zur Intersektionalität von Diffenzkategorien (Fenstermaker und West 2001; Knapp 2005; Crenshaw 1989; Anthias 2003; Yuval-Davis 2006; Davis 2008) soziale Phänomene beschrieben, die für die Entwicklung transnationaler Biographien grundlegend sind. Die Generierung dieser Konzepte erfolgte auf Basis von Kodierprozessen nach den Prinzipien der Grounded Theory Methodology (Strauss und Corbin 1996) und der narrationsstrukturellen Analyse (Lucius-Hoene und Deppermann 2004) eng am Datenmaterial. Der Auswertungsprozess beinhaltete eine kontinuierliche Rückkoppelung zwischen bereits bestehenden theoretischen Konzeptionen und den biographischen Narrationen transnationaler Wissenschaftsmigrantinnen. Aus diesem analytischen Prozess resultiert ein datenbasiertes theoretisches Modell, mit dem vier strukturelle Dimensionen transnationaler Mobilität ausdifferenziert werden können. • Das Spektrum transnationaler Wissenschaftsmobilität ist äußerst heterogen und Biographien von Wissenschaftsmigrantinnen weisen sehr große Unterschiede auf.
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Im Transit
• In den biographischen Fallstudien erhalten unterschiedliche Differenzkategorien und ihre Interdependenzen soziale Wirksamkeit. Auch die Konfigurationen von In- und Exklusionsprozessen sind damit heterogen und ihre Komplexität stellt sich jeweils unterschiedlich dar. • Innerhalb dieser Konfigurationen sind die Prozesse der sozialen Konstruktion von Differenzkategorien kontextabhängig. Die vergleichenden Differenzkategorien weisen unter bestimmten Bedingungen Verschiebungen oder auch Verfestigungen in ihrer sozialen Relevanz auf. • Mit den mobilen Lebensführungen entstehen darüber hinaus neuartige transnationale biographische Konfigurationen, die auf grenzüberschreitenden sozialen Erfahrungen an mehreren Orten und/oder auf kommunikativen (in der Regel virtuellen) Vernetzungen basieren. An den beiden letzteren Befunden sind zwei an transnationale Mobilität gekoppelte Transitionsvorgänge datenbasiert zu beobachten, die für die Analyse der biographischen Fallstudien wegweisend sind: 1. Das Transformationspotenzial und die Kontextabhängigkeit sozialer Differenzkategorien und 2. die Herstellung neuartiger transnationaler Identitätsmuster, die sich in pluri-lokalen und virtuellen Kontexten konstituieren. Die biographischen Narrationen der transnationalen Wissenschaftsmigrantinnen stellen Ordnungsverfahren dar, mit denen Zusammenhänge zwischen Prozessen der Transnationalisierung in der Wissenschaft, individueller Gestaltung mobiler Karrierewege und gelebtem Alltag als Migrantinnen hergestellt werden. Die biographischen Narrationen bringen im Sinne des „doing biography“-Konzepts (Dausien und Kelle 2005) interaktive Konstruktionsprozesse biographischer Transnationalität als neue soziale Wirklichkeiten hervor. Die Narrationen der transnationalen Wissenschaftsmigrantinnen „Devi“, „Nalan“ und „Mia“ sind somit als interaktive Konstruktionen von Sinn zu betrachten, die sich auf der biographiestrukturierenden Achse Zeit und der mobilitätsstrukturierenden Achse Raum bewegen. Sie können als Artikulationen biographischer Narration und sozialer Positionierung in unterschiedlichen zeit/ räumlich organisierten sozialen Ordnungen beschrieben werden. In den subjektiven Erfahrungen von Zugehörigkeit berühren sich mehrschichtige Dimensionen sozialer Differenz auf komplexe Weise. In den Fallstudien zeigt sich die intersubjektive Wirksamkeit und Veränderbarkeit sozialer Differenzierungen, wie sie von Fenstermaker und West (2001) im Ansatz des „doing difference“ sowie in der biographietheoretischen Konzeption der „Erzählungen über Zugehörigkeit (Anthias 2003) diskutiert wurden. In den narrativen Konstruktionen transnationaler Biographien der Wissenschaftsmigrantinnen sind Identitätsbildungsprozesse mit der Konstruktion und
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Dekonstruktion sozialer Differenzlinien eng verknüpft. Diese Differenzierungen sind nicht nur auf die nationalstaatliche Herkunft und auf eine eindimensional betrachtete kulturelle Andersartigkeit von Migrantinnen und Migranten in der Wissenschaft zu begrenzen, wie es bislang in der Internationalisierungsdiskussion fokussiert wurde. Vielmehr sind die Komplexität von individuellen biographischen Erfahrungen von Transnationalität sowie die darin wirksamen Differenzkategorien und ihre jeweilige Unterschiedlichkeit zu berücksichtigen. Im Prozess der Migration ist die Kategorie Staatsbürgerschaft von zentraler Bedeutung. Die soziale Relevanz nationalstaatlicher Zugehörigkeit ist jedoch nicht unabhängig von der weltregionalen Herkunft und von den gewählten Migrationszielen- und Zwischenstationen der transnationalen Wissenschaftsmigrantinnen zu betrachten. Eng mit diesen lokalen Kontexten verknüpft sind soziale Inklusions- und Exklusionsprozesse, die mit den Differenzlinien Ethnizität und/oder Kultur gezogen werden. Weitere relevante Faktoren sind die soziale Herkunft der Wissenschaftlerinnen sowie die unterschiedlichen biographischen Konstellationen von Gender. Die biographischen Fallstudien zu transnationaler Wissenschaftsmigration berücksichtigen zwar ein weibliches Sample, die individuellen biographischen Bezüge und Relevanzen der Kategorie Gender unterscheiden sich jedoch so erheblich voneinander, dass es eine verkürzte Perspektive darstellen würde, diese Differenzkategorie in ihrer sozialen Wirksamkeit als einheitliche Bezugsgröße zu verhandeln. Mit den Fallstudien über die biographischen Narrationen von transnationalen Wissenschaftsmigrantinnen eröffnen sich Perspektiven auf das komplexe Spektrum von Unterschiedlichkeiten, die sich unter den Bedingungen transnationaler Lebensführung entfalten und verändern. Der gemeinsame Ausgangspunkt, der für die biographischen Analysen Relevanz besitzt, ist die Tatsache, dass sich die Wissenschaftlerinnen in der ersten bzw. zweiten Qualifikationsphase als Doktorandinnen oder Postdoktorandinnen befinden, deren Verlauf sie durch transnationale Mobilitätsprozesse gestalten. Aus dem narrativen Datenmaterial der biographischen Interviews mit transnationalen Wissenschaftlerinnen wurde ein Kategorien-Schema entwickelt, aus dem drei grundlegende Konfigurationen transnationaler Mobilität hervorgehen. Diese Schlüsselkategorien wurden als zentrale Prozessfiguren transnationaler Migration identifiziert: „Aufbruch“ – „Ankommen“ – „Dazwischen“. Diese Kategorien sind nicht als linear oder als zeitlich nacheinander angeordnet zu verstehen, wie sie die für biographische Erzählungen grundlegende Dimension der Zeit impliziert. Vielmehr überlagern sich diese Schlüsselkategorien innerhalb der chronologischen Ordnung der einzelnen biographischen Narrationen. Für die Dimension des Raums gilt, dass die zentralen Konzepte Aufbruch, Ankunft, Dazwischen jeweils an unterschiedliche Orte gebunden sein können, aber nicht darauf zu
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reduzieren sind, ausschließlich lokal fixierte Stationen von Migrationsprozessen zu erfassen. Vielmehr spiegelt sich in den Schlüsselkategorien, dass soziale und emotionale Zugehörigkeiten für Prozesse der Anerkennung sowie der In- und Exklusion in der Wissenschaft bedeutsam sind. Den Schlüsselkategorien Aufbruch, Ankunft und Dazwischen ist gemeinsam, dass sie einerseits auf Mobilitätsprozesse verweisen und andererseits die damit verbundenen Transformationen biographischer Positionierungen beinhalten. Diese Dimensionen können als Transiträume beschrieben werden, in denen sowohl transnationale Mobilität als auch die damit verbundenen Transformationsprozesse von sozialen Positionierungen und Identitätskonstruktionen wirksam sind. Den biographischen Konstruktionen der Nachwuchswissenschaftlerinnen ist gemeinsam, dass sie sowohl die Elemente grenzüberschreitende Bewegung und Mobilität als auch biographische Transformationsprozesse als zentrale Konfigurationen enthalten. Diese beiden Prozessfiguren sind für alle Schlüsselkategorien zentral. Die Frage nach den subjektiven Konstruktionen biographischer Erfahrungen in transnationalen Räumen richtet die Perspektive auf Prozesse der Inklusion und Exklusion und neu zu definierende und neu zu gewinnende Zugehörigkeiten. In den unterschiedlichen Wissenschaftssettings, in die diese transnational mobilen Forscherinnen als Akteurinnen eingebunden sind, können komplexe Anerkennungs- und Ausgrenzungsprozesse beobachtet werden, die unabhängig von wissenschaftlichen Leistungen wirksam sind. Im Folgenden werden die zentralen Motive der biographischen Narrationen entlang der Schlüsselkategorien Aufbruch, Ankunft und Dazwischen zusammengeführt. Insbesondere richtet sich die vergleichende Analyse auf Transformationen und Kontinuitäten der Identitätskategorien Gender, Ethnizität, Staatsbürgerschaft, soziale und weltregionale Herkunft.
11.1 Transformation und Konstanz sozialer Differenz: Gender, Ethnizität, weltregionale Herkunft und Staatsbürgerschaft Mit der Kategorie „Aufbruch“ wurden unterschiedliche Push- und Pullfaktoren, die für die Initiierung von Wissenschaftsmigrationen bestimmend sind, differenzierten biographischen Fallanalysen unterzogen. Übereinstimmend wird von allen Interviewpartnerinnen die Entwicklung ihrer beruflichen Karrieren durch die Eröffnung neuer Forschungsmöglichkeiten, Stellenangebote oder Stipendien als Motivationsfaktoren für die Migrationen dargestellt. Familiäre und/oder
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politische oder soziale Verantwortung besitzen als zusätzliche Push-Faktoren ebenfalls einen hohen Stellenwert und beeinflussen oder forcieren die Migrationsprozesse der befragten Nachwuchswissenschaftlerinnen. Wissenschaftsmigration ist mit dem Wunsch nach einer Verbesserung der eigenen wissenschaftlichen Positionierung verbunden, auch wenn die jeweiligen individuellen Gründe für die Migration heterogen und vielschichtig sind. Das Feld der hier untersuchten Migrationsmotivationen von Wissenschaftlerinnen rangiert vom Extremfall einer Kriegsflucht aus Ex-Jugoslawien, nachdem die Arbeitsbedingungen an der Universität zerstört waren (Fallstudie „Mia“), über die Verbesserung der eigenen wissenschaftlichen Position durch die Realisierung eines vergleichend angelegten internationalen Forschungsprojekts (Fallstudie „Devi“) bis zu den Migrationen einer türkischen Migrantentochter, die in Deutschland aufgewachsen ist und durch Studium und Promotion in Großbritannien aus einem Diskriminierungskreislauf herausgetreten ist, in dem sie sich im deutschen Hochschulsystem gefangen sah (Fallstudie „Nalan“). Anhand der Fallstudien muss einerseits zwischen freiwilliger und forcierter Migration unterschieden werden, denn vor diesem Hintergrund ergeben sich für den gesamten Migrationsverlauf erhebliche Unterschiede. Ein weiterer Punkt, der in der Internationalisierungsdiskussion bislang unberücksichtigt geblieben ist, ist die Unterscheidung zwischen internationalen Studierenden, Lehrenden und Forschenden, die im Inland die Hochschulzugangsberechtigung erworben haben152 und international Mobilen, die aus anderen Ländern in die jeweiligen Wissenschaftskontexte einreisen.153 Zu letzterer Gruppe sind Mia und Devi zu zählen. Für Nalan gilt, dass sie sowohl als Bildungsinländerin ein Studium in Deutschland aufnahm als auch weitere internationale Wissenschaftsmobilität entwickelt hat. Damit kann sie beiden Gruppen zugerechnet werden. 152 In der deutschsprachigen Diskussion wird diese Gruppe als Bildungsinländer/innen bezeichnet. 153 Im deutschsprachigen Raum werden sog. Bildungsinländer/innen und Bildungsausländer/innen zwar quantitativ erfasst (z.B. HIS/DAAD 2008), differenzierte qualitative Studien, die diese Differenzierung systematisch berücksichtigen, liegen gegenwärtig erst in wenigen Arbeiten vor (z.B. Lind u.a. 2008). Systematische intersektionelle Analysen von Internationalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen an den Hochschulen, die Wissenschaftsmigration sowohl anhand des Kriteriums Mobilität als auch nach sozialer und kultureller Herkunft und nach dem Geschlecht differenzieren, stehen bislang noch aus. Vorliegende Untersuchungen zu sozialer Ungleichheit und Selektionsprozessen in der Wissenschaft fokussieren bislang entweder die Kategorien Gender und/oder soziale Herkunft oder Internationalität bzw. „Migrationshintergrund“. Die intersektionelle Komplexität sozialer Differenzkategorien legt jedoch weitere Forschung nahe, die diesen Zusammenhang auch für den Bereich der Wissenschaft exploriert. Insbesondere ist hier auch eine systematische Unterscheidung zwischen den Gruppen der sog. „Bildungsinländer/innen“ sowie von international mobilen Personen in der Wissenschaft zu treffen. Dies gilt sowohl für die Gruppen der Studierenden als auch für Lehrende und Forschende.
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In allen biographischen Fallstudien wurde deutlich, dass ein konkreter Migrationsplan durch internationale Kontakte und Kontexte stimuliert wurde, durch die die Wissenschaftlerinnen berufliche Perspektiven entwickelten, die für sie attraktiv waren. Dies konnten internationale Begegnungen im Herkunftsland sein wie bei Devi und Mia oder internationale Begegnungen während eines Auslandsaufenthaltes, wie Nalan es im Nahen Osten erlebt hat. Die Entwicklung weiterer beruflicher Perspektiven entstand im Fall der Fluchtmigration Mias erst sukzessive im Migrationsverlauf, während Devi und Nalan mit ihrem Aufbruch konkrete Qualifizierungsschritte planten. Für alle Wissenschaftlerinnen war die ifu ein transnationales Ereignis, das weitere Mobilität angeregt und ermöglicht hat. Damit gilt für alle drei Fallstudien, dass transnational vernetzte soziale Beziehungen nicht nur im Kontext eigener Mobilität entstanden sind, sondern bereits vor dem Aufbruch in die Migration ein Anregungspotenzial für die Entwicklung transnationaler Mobilität darstellten. Dieser Punkt gilt für die Kriegsflucht Mias in einer sehr spezifischen Form, weil ihr die politisch motivierte Kündigung ihrer Stelle keine andere Wahl ließ, als einen Anschluss für ihre wissenschaftliche Arbeit im Ausland zu suchen. Zuvor waren aber auch für Mia die Begegnung mit anderen international Mobilen und der Entschluss vieler ihrer Freunde, das Land zu verlassen, wichtige soziale Kontexte, die mit ihrem Aufbruch in Zusammenhang stehen. Migrationsmotive können auch die Fortführung von familiären Bildungstraditionen beinhalten, wie sie sowohl in der Fallstudie „Nalan“ als auch in der Fallstudie „Devi“ zum Tragen kommen. Für Nalan war die Realisierung einer akademischen Karriere als türkische Migrantentochter in Deutschland mit sozialen Ausgrenzungsprozessen verbunden, die zum Bildungsgrad ihrer Familie und den familiären Erwartungen, die an Nalans Qualifikationsprozess geknüpft waren, im Widerspruch standen. Die Kluft zwischen ihren eigenen Erwartungen an ihren Bildungsprozess und der fehlenden Anerkennung im deutschen Hochschulsystem führte zu Nalans Entschluss, ihre wissenschaftliche Ausbildung in Deutschland nicht zu Ende zu führen. Stattdessen entschied sie sich für ein Studium in Großbritannien, wo sie sich bessere Bedingungen erhoffte. Unterstützt von ihrer Familie entschied sich Nalan, einen biographischen Weg als transnationale Migrantin zu entwickeln, um sich wissenschaftlich besser entfalten zu können als es ihr in Deutschland möglich war. Damit wurde sie von einer Migrantin der zweiten Generation zu einer transnational agierenden Wissenschaftsmigrantin. Im Kontext dieses Ortswechsels, der eine neue Akzentuierung ihres Studienverlaufs beinhaltete, wurde es für Nalan möglich, Anerkennung für ihre akademischen Leistungen zu erhalten und nach Abschluss des Studiums eine wissenschaftliche Karriere zu entwickeln.
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Mit diesem Aufbruch ist es Nalan gelungen, aus den Ethnisierungsprozessen herauszutreten, in denen sie als Tochter einer türkischen Migrantenfamilie in Deutschland mit sozialen Exklusionsprozessen konfrontiert war. Sie löste sich damit auch aus Studienbedingungen, in denen sie keine Förderung und Anerkennung erhalten hat. In Nalans biographischer Narration sind Ethnisierungsprozesse und mangelnde akademische Anerkennung eng miteinander verknüpft. Nach ihrem Aufbruch zu einem Studium in Großbritannien kann sie die in Deutschland erlebten Fremdzuschreibungen und ethnische Positionierungszwänge hinter sich lassen, da sie im britischen Hochschulkontext als transnational mobile Studentin und später als Doktorandin agiert. An Nalans Beispiel zeigt sich sehr anschaulich, dass durch ihren Entschluss, an einer Hochschule in einem anderen Land zu studieren, die Kategorie Ethnizität als sozialer Platzanweiser ihre Bedeutung verändert. Die Wirkung dieser Grenzverschiebung kann Nalan durch ihre wissenschaftliche Fokussierung auf Forschungskontexte, in denen eine hohe Reflexivität für Ethnisierungsprozesse konstitutiv ist, darüber hinaus aktiv beeinflussen. Hier kann sie ganz anderes als es zuvor in Deutschland für sie möglich war, ihre eigenen biographischen Erfahrungen mit Ethnisierungsprozessen als Ressource für ihre wissenschaftliche Arbeit produktiv nutzen. Im Gegensatz zum deutschen Hochschulsetting, das sie als lähmend und demotivierend empfand, kann sie hier ihre Fähigkeiten entfalten. Ihr Qualifikationsprozess in Großbritannien ist damit eingebettet in ein Wechselverhältnis von wissenschaftlicher Leistung und Anerkennungsprozessen, die sie zu weiteren Qualifikationsschritten anregen. Nalans wissenschaftliche Arbeit wird ebenso wie ihr Schritt in die eigene Migration von ihren Eltern sehr unterstützt. Diese emotionale Verbundenheit mit der Familie stellt in Nalans biographischer Narration eine grundlegende soziale Ressource dar. Trotz der sehr differenten Kontexte besteht eine Parallele zur Migrationsgeschichte von Devi, weil auch hier die Familie eine Schlüsselfunktion für den Aufbruch einnimmt. Ähnlich wie Nalan erfüllt auch Devi die Hoffnungen und Erwartungen der Familie, die an ihre akademische Entwicklung geknüpft sind. Mit ihrem Entschluss, nach Abschluss ihres Studiums in Indien ins Ausland zu gehen, schließt sie an den Wunsch des Vaters an, der sie darin bestärkt, einen Aufenthalt an einer ausländischen Hochschule zu realisieren. Er orientiert sich damit an seiner eigenen – für die indische Mittel- und Oberschicht traditionellen – Hochschulbildung in Großbritannien, dem als Kolonialmacht relevantesten wissenschaftlichen Bezugsland Indiens. Devi schließt an diesen Pfad der Wissenschaftsmigration an, der im indischen Hochschulsystem ein wichtiges Attribut darstellt, um Anerkennung für wissenschaftliche Leistungen zu erhalten. Sie weicht jedoch von der familiären Bildungstradition etwas ab, weil sie sich mit ihrer Teilnahme an der ifu zunächst für ein in Deutschland verankertes – eng-
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lischsprachiges – postgraduales Studium entscheidet.154 In der Fallstudie „Devi“ wird jedoch auch deutlich, dass Forschungsaufenthalte an westlichen Universitäten einen gesellschaftlichen Traditionsbruch darstellen, wenn es die Tochter der Familie ist, die zur Wissenschaftsmigrantin wird. Devis Migration geschieht aus der sozialen Position einer Tochter aus einer wohlhabenden indischen Familie, in der sie ganz ähnlich wie Nalan von Anfang an in ihrem Bildungsweg unterstützt wird, gerade weil sie eine Frau ist. Sie hebt diesen Zusammenhang sowohl für ihr Verhältnis zum Vater hervor als auch für den Umgang der Mutter mit ihrer akademischen Karriere, für die die Tatsache, dass sie sich als Frau in der Wissenschaft qualifiziert, ein besonderer Push-Faktor ist, um sie zu unterstützen. Sowohl für Devi als auch für Nalan, deren Mütter (und in Nalans Fall auch die Großmutter) ebenfalls Akademikerinnen sind, stellt sich Gender im Kontext ihrer Familien insofern als eine soziale Ressource dar, als dass die Wissenschaftlerinnen in einer reflexiven Aneignung von Gender-Positionierung von ihren Familien unterstützt werden. Dieser Zusammenhang unterscheidet sich von der biographischen Narration Mias, die mit dem erzwungenen Aufbruch aus dem ehemaligen Jugoslawien vor ethnisch und nationalistisch begründeten politischen Repressionen flüchtet. Sie erzählt, dass die Verbindung mit ihrer Herkunftsfamilie weniger durch Unterstützungs- als durch Abgrenzungsprozesse bestimmt ist. Mia entwirft dabei für sich selbst ein widerständiges Modell von subjektiver Genderpositionierung, das sich durch die Unterscheidung von der Mutter auszeichnet,155 die sie als depressiv und passiv erlebt. Diese biographische Konstruktion von Gender, in der Mia betont, anders zu sein als ihre Mutter, stellt ein zentrales Motiv für ihre akademische Entwicklung dar. Dieser Zusammenhang spiegelt sich darin, dass sie betont, ihre Qualifikationsarbeit sei auch als „revenge to balkan patriarchy“ zu werten. Mias Möglichkeiten, Gender als konstruktive 154 An diesem Prozess zeigt sich auch, dass das postgraduale Angebot der Internationalen Frauenuniversität eine hohe Attraktivität für Nachwuchswissenschaftlerinnen besaß, die sich in der Regel für englischsprachige Länder entscheiden, um ein Auslandstudium oder eine Forschungsaktivität im Ausland zu betreiben. Indien wird in der Hochschulforschung als „High Potential“-Land diskutiert, für das es intensive Bestrebungen gibt, stärkere transnationale Beziehungen im Wissenschaftsbereich aufzubauen. Dies gilt sowohl für die Ebene der transnationalen Hochschulgründungen als auch für gezielte Strategien zur Anwerbung hoch qualifizierter Wissenschaftler/innen aus Indien. Vergl. die dezidierte Analyse von Hahn (2005), die das ökonomisierte Feld der Wissenschaftsexpansion für das Konsortium „Gate Germany“ im Sinne einer Bedarfs- und Kosten-Nutzen-Analyse für die indische Hochschullandschaft aufbereitet hat. 155 Vergl. zu diesen Überlegungen die empirischen Studien von Anthias (2003), in denen dargelegt ist, dass narrative Identitätskonstruktionen häufig auf dem Prinzip des Unterscheidens basieren und als Abgrenzungen artikuliert werden.
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Ressource zu nutzen, sind damit im Vergleich zu Nalan und Mia, die beide auf positive weibliche Rollenvorbilder in ihrer Familie rekurrieren können, anders strukturiert und nicht im gleichen Maße mit Anerkennungsprozessen verknüpft. Die Schlüsselkategorie des Ankommens ist eng an die Entwicklung von Zugehörigkeit und an soziale Anerkennungsprozesse gekoppelt und umfasst ein graduelles Spektrum des Ankommens bis zum Nicht-Ankommen. Damit beschreibt diese Auswertungskategorie sowohl In- als auch Exklusionserfahrungen. Auffällig ist, dass Exklusionserfahrungen im Migrationsprozess in der narrativen Reflexion der Wissenschaftlerinnen nicht auf eigene kulturelle Barrieren zurückgeführt werden und in den biographischen Narrationen keine Problematisierung finden. Dieser Zusammenhang zeichnete sich in allen biographischen Interviews ab. Das Ausbleiben der Schilderung subjektiver biographischer Erfahrungen mit kulturellen Fremdheitsprozessen im Zusammenhang mit mehrfacher Migration ist insofern ein hoch interessanter Befund, als dass multikulturalistische Ansätze zur interkulturellen Kommunikation auf der Vorannahme sozialer und kommunikativer Barrieren durch kulturelle Differenz basieren.156 Die Befunde dieser Studie sprechen jedoch dafür, dass es nicht nur problematisch ist, von naturalisierten Konzepten kultureller und/oder ethnischer Differenz auszugehen, denn für die wenig trennscharfen Differenzkategorien Kultur und/oder Ethnizität gilt, dass diese in komplexen sozialen Differenzierungsprozessen wirksam sind, die jeweils kontextabhängig konstituiert werden. In den narrativen Interviews beschreiben die biographischen Erzählerinnen soziale Exklusionsprozesse in vielfältiger Weise, insbesondere im Zusammenhang mit konkreten materiellen Fragen wie zum Beispiel Probleme bei der Bestreitung des Lebensunterhalts, schlechter Zugang zu Wohnraum, Einreisebeschränkungen und einen erschwerten Zugang zu grundlegenden materiellen Ressourcen des wissenschaftlichen Arbeitens. Erfahrungen sozialer Exklusion kommen auch durch explizite und implizite soziale Zuschreibungen kulturalisti156 Die Annahme naturalisierter ethnischer/kultureller Differenz findet in interkulturellen Ansätzen im gesamten Bildungssektor, insbesondere im Bereich der schulischen Bildung, gegenwärtig eine sehr breite Anwendung. Vergl. die grundlegende Exploration dieses Zusammenhangs z.B. in der Studie von Gomolla und Radtke (2001) zu Prozessen der institutionellen Diskriminierung. Für die Hochschulen bildet die Erforschung und die innerinstitutionelle Gestaltung von Lehr-/Lernsettings unter Berücksichtigung der Differenzkategorien Kultur/Ethnizität bezeichnenderweise noch ein weitgehendes Desiderat, während genderbasierte soziale Selektionsprozesse bereits ein sehr gut ausgeleuchtetes Feld darstellen. Mit den Befunden der vorliegenden Studie spricht jedoch einiges dafür, dass die Berücksichtigung intersektioneller Verknüpfungen und Überkreuzungen von sozialen Differenzkategorien den komplexer werdenden Transnationalisierungsprozessen in Wissenschaftssettings angemessener begegnen würden. Auch hier besteht weiterer Forschungsbedarf, um die Wirksamkeit sozialer Selektionierungsprozesse entlang der Differenzkategorien Kultur und/oder Ethnizität in ihrer Interdependenz mit Gender und weiteren Differenzkategorien zu explorieren.
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scher oder rassistischer Art im Alltag, aber auch im wissenschaftlichen Kontext, zum Tragen. Jenseits von lokal situierten Zugehörigkeiten bzw. Exklusionserfahrungen besitzt die Zugehörigkeit zu einer wissenschaftlichen Community für alle Interviewpartnerinnen einen hohen Stellenwert. Eine ganz wesentliche Rolle für die Prozesse des Ankommens und der Inklusion in Wissenschaftssettings in einem anderen Land nehmen Personen oder institutionelle Bedingungen ein, die die soziale und wissenschaftliche Inklusion an einem neuen Ort begünstigen. Ein als förderlich empfundenes Betreuungsklima, oder – wenn dieses unzureichend ist – die freundschaftliche Anbindung an eine unterstützende Person werden als wesentliche Komponenten des Ankommens beschrieben. Diese Aspekte nehmen insbesondere in den biographischen Erzählungen von Nalan und Devi einen zentralen Stellenwert ein. Wie anhand der Fallstudie Nalan diskutiert wurde, ist das Ankommen in einem Wissenschaftssetting, das als förderlich für die akademische Entwicklung genutzt werden kann, ein wesentlicher Aspekt gelingender transnationaler Wissenschaftsmobilität. Für Devi stellt sich ihre Lebenssituation nach der Migration in ein Wissenschaftssetting im Ausland grundlegend anders dar als für Nalan. Nach ihrer Ankunft in Deutschland, das sie zuvor durch ihren Aufenthalt an der ifu kennen gelernt hatte, ist sie mit massiven Erfahrungen sozialer Exklusion konfrontiert. Anders als in Indien, wo Devis soziale Herkunft aus einer gebildeten Familie der oberen Mittelschicht gut abgesicherte finanzielle Verhältnisse sicherstellte, gerät sie als Wissenschaftsmigrantin aus einem LowIncome-Land in Deutschland in eine Armutssituation, in der sie zeitweise sogar völlig mittellos ist. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Komplexität von sozialer und weltregionaler Herkunft in Mobilitätsprozessen für die konkrete Lebenssituation von Migrant/inn/en äußerst bedeutsam ist und sich je nach lokaler und weltregionaler Position verschieben kann und neu kontextualisiert. Die Finanzierung von Devis Forschungsprojekt, das zunächst durch ein Start-Up-Stipendium gefördert wurde, fand keine Verlängerung, weil technische Forschung bevorzugt gefördert wurde. Devi ist hier in einen subtilen Exklusionsprozess verwickelt, der nicht mit einer Absage an die wissenschaftliche Qualität ihrer Arbeit verbunden ist, sondern mit einer Präferenz für eine überwiegend von männlichen Wissenschaftlern betriebene Forschung. In diesem Kontext stellt die Differenzkategorie Gender ein implizites Exklusionskriterium dar, das über die disziplinäre Selektion von Forschungsförderung wirksam wird. In diesem Fall wirkt Gender als strukturelles Exklusionskriterium, während Devi in anderen Kontexten Gender als eine soziale Ressource nutzen kann. Auch hier sind kontextabhängige Verschiebungen des Bedeutungsgehalts und der sozialen Wirksamkeit einer Differenzkategorie zu konstatieren.
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Die Erfahrungen von Mia weisen durch den Kontext einer erzwungenen Migration abermals einige Besonderheiten auf. Anders als Devi und Nalan, in deren Erzählungen das Ankommen ein zentrales Narrationsmotiv ist, findet sich bei Mia eine Umkehrung des Spektrums dieser Auswertungskategorie, die sich in einer Erzählung des Nichtankommens konkretisiert und umfassende Exklusionsprozesse enthält. Von grundlegender Relevanz ist hier die Kategorie Staatsbürgerschaft, durch die Mia daran gehindert ist, ihren Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. Die Wirksamkeit dieser sozialen Ausgrenzung ist für den gesamten Verlauf ihrer biographischen Narration zentral und bildet eine enge Verflechtung mit der Kategorie Ethnizität. Durch die eingeschränkten Einreisemöglichkeiten kann Mia ihre Migrationsziele nicht frei wählen. Auch in den Zwischenstationen ihrer Migration – Ungarn und Italien – ist sie mit ethnischen Zuschreibungen konfrontiert, obgleich diese Prozesse nicht mit der extremen Gewaltförmigkeit im ehemaligen Jugoslawien vergleichbar sind. Am Beispiel Mias zeigt sich, dass die Differenzkategorie Ethnizität und die sozialen Limitierungen durch ihre Staatsbürgerschaft in einer Konstanz wirksam sind, dass sie auch in unterschiedlichen lokalen Kontexten – allerdings in unterschiedlicher Intensität – zum Tragen kommen. Am Beispiel der transnational mobilen Wissenschaftlerin Mia verdeutlicht sich auch die Zentralität der Kategorie Staatsbürgerschaft für den Zugang zu politischen und sozialen Rechten. Aus diesem Zusammenhang erschließt sich, dass mit einer zunehmenden Transnationalisierung der Lebensverhältnisse von Studierenden, Lehrenden und Forschenden diese Dimension sozialer Ungleichheit als bedeutsam zu berücksichtigen ist.
11.2 Transnationale Transitionen Die Schlüsselkategorie des Dazwischen hat in den Fallstudien über transnationale Lebensweisen von Wissenschaftlerinnen einen zentralen Stellenwert, da sich in diesem Konzept einerseits die biographische Konstruktion transnationaler Räume und andererseits gemeinsame Merkmale der Entwürfe transnationaler Selbstbilder der Wissenschaftsmigrantinnen verdichten. Sie unterscheidet sich damit von den Kategorien des Aufbruchs und des Ankommens, mit denen insbesondere die Vielfalt und Unterschiedlichkeit transnationaler Lebensführungen sichtbar wurde. Mit der Kategorie des Dazwischen können jedoch auch eine Reihe von Übereinstimmungen in den transnationalen biographischen Konzepten gezeigt werden. Die Korrespondenzen in den transnationalen biographischen Positionierungen umfassen drei Bereiche:
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• Transnationale Wissenschaftsmigration beinhaltet erhebliche biographische Risiken. • Die soziale Bezugnahme auf transnationale Netzwerke ist ein zentrales gemeinsames Merkmal transnationaler Lebensformen in der Wissenschaft. • Alle Wissenschaftsmigrantinnen artikulierten in ihren biographischen Narrationen ein Selbstverständnis, mit dem sie sich in Zwischenpositionen verorten, die sich sowohl auf Gender als auch auf Kultur/Ethnizität beziehen. In den Fallstudien konnte zunächst verdeutlich werden, dass die Wahl einer transnationalen Karriereentwicklung in der Wissenschaft in einem unwägbaren Feld biographischer Risiken stattfindet. Diese Risiken betreffen sowohl die Planbarkeit beruflicher Karriereschritte, die finanzielle Situation der Wissenschaftlerinnen und die Organisation privater Freundschaften, familiärer Bindungen als auch das Leben von Liebesbeziehungen. Während Nalan eine vielversprechende Arbeitsstelle in Deutschland kündigte, um mit ihrer Partnerin in Großbritannien zusammenzuleben, gelingt es Mia, mit ihrem Mann einen gemeinsamen Migrationsverlauf zu organisieren. Allerdings brachte der Krieg in Jugoslawien und ihre Flucht auch mehrere räumliche Trennungen über einige Monate und sogar über Jahre mit sich. Für alle Wissenschaftlerinnen erweist sich die räumliche Distanz zu ihren Herkunftsfamilien als problematisch und keine der Interviewpartnerinnen plante zum Zeitpunkt der Erhebung, eigene familiäre Strukturen in näherer Zukunft aufzubauen, insbesondere Devi schloss diese Möglichkeit explizit für sich aus. Auch Mia berichtete, dass ihre unsichere Lebenslage eine Familienplanung nicht erlaubt. Sowohl Mia als auch Devi und Nalan geraten innerhalb ihrer Migrationsverläufe in Situationen, in denen sie unter prekären Bedingungen ihren Lebensunterhalt bestreiten und über längere Zeiträume Arbeitslosigkeit, inadäquate Beschäftigungen oder sogar völlige Mittellosigkeit in Kauf nehmen müssen. In diesem Zusammenhang ist die Einbindung in Netzwerke, die sich über nationalstaatliche Grenzen hinweg erstrecken, die sowohl pluri-lokal verankert als auch in virtuellen Kommunikationsnetzwerken organisiert sind, von Bedeutung. In allen biographischen Fallstudien finden sich für derartige soziale Strukturen sehr ähnliche biographische Erzählmotive. Für die Wissenschaftsmigration von Devi ist die transnationale Vernetzung auf unterschiedlichen Ebenen relevant. In ihrer biographischen Erzählung erhalten die engen emotionalen Beziehungen zu ihrer Familie einen großen Stellenwert und sie beschreibt in mehreren narrativen Sequenzen bis ins Detail, wie sich der fernmündliche Kontakt mit ihren Familienmitgliedern gestaltet. Darüber hinaus spielen zwei weitere Netzwerke für Devi eine zentrale Rolle. Sie berichtet von einer sehr intensiven emotionalen Verbundenheit mit dem virtuellen Netzwerk vifu, das für sie einerseits eine
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wichtige wissenschaftliche Kommunikationsplattform darstellt und andererseits eine Basis für die persönliche Kommunikation mit anderen Wissenschaftlerinnen bietet, die ebenso wie Devi ihre Lebensführung transnational organisieren. Für ihr Leben als Forscherin in Deutschland besitzt die Freundschaft mit anderen indischen Doktoranden nicht nur eine wichtige soziale und emotionale Funktion, sondern durch dieses Netzwerk wird zeitweise auch Devis materielle Existenz gesichert. Als sie einige Monate lang über keinerlei Einkünfte verfügt, wohnt sie bei diesen Freunden, deren Eltern auch mit Devis Eltern in Indien verbunden sind. Dieses Netzwerk kann mit Faist (2000) als ein erweitertes transnationales Familiennetzwerk bezeichnet werden, mit dem die materielle Existenz seiner Mitglieder abgesichert wird. Auch Mia erzählt von der emotionalen Verbundenheit mit dem vifuNetzwerk, über das sie mit Wissenschaftlerinnen in aller Welt Kontakt hält. Einen wesentlich höheren Stellenwert besitzt jedoch für sie das transnational verstreute Diaspora-Netzwerk ihrer aus dem ehemaligen Jugoslawien geflüchteten Freunde aus der Schul- und Studienzeit. Sie berichtet von regelmäßigen Kontakten durch das Internet und vor allem davon, dass dieses sehr offen strukturierte Netzwerk der einzige soziale Raum ist, dem sie sich nach ihrer Flucht zugehörig fühlt. Eine Kombination aus politischer und emotionaler Verbundenheit ist für die transnationalen sozialen Vernetzungen von Nalan ein wesentliches Element. Sie erzählt einerseits von regelmäßigen Kontakten via Internet und Telefon mit ihren Freundinnen und Freunden sowie mit ihrer Familie und betont dabei die hohe Bedeutung, die diese grenzüberschreitenden sozialen Beziehungen für sie haben. Sie entwickelt als Studentin in Großbritannien noch eine weitere – diesmal lokal basierte – transnationale Form sozialer Vernetzung mit anderen politisch engagierten Studierenden, die ebenfalls in Migrationskontexten leben. Dieses Netzwerk bildet für Nalan einen wichtigen Bezugspunkt geteilter Erfahrung, in dem sie soziale und emotionale Sicherheit und Anerkennung findet. In diesen transnationalen sozialen Konfigurationen gewinnt die Dimension des Raums eine Bedeutung, die über lokal fixierte soziale Beziehungen hinausweist. Die Wissenschaftsmigrantinnen agieren mit ihren sozialen Verbindungen über Grenzen hinweg und stellen damit biographische Räume her, die über nationalstaatliche Rahmen und konkrete Orte hinaus organisiert sind. Mit diesen Konstellationen entstehen biographische Muster, die die Dimension des Globalen in alltäglichen Interaktionen beinhalten und als narrative Konstrukte transnationaler Identitäten in den biographischen Erzählungen der Wissenschaftsmigrantinnen eine Entsprechung finden. Die Wissenschaftsmigrantinnen entfalten im Kontext dieser transnational organisierten sozialen Beziehungen eine Reihe von biographischen Selbstbil-
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dern, mit denen sie das Motiv des Grenzgangs artikulieren. Diese sich neu konstituierenden sozialen Zwischenräumen bilden einen weiteren zentralen Aspekt der Auswertungskategorie des „Dazwischen“. Diese Konfigurationen transnationaler biographischer Erfahrung beinhalten innerhalb der sehr unterschiedlichen Migrationsverläufe ähnliche und miteinander vergleichbare narrative Konstruktionen transnationaler Identität. Die Wissenschaftsmigrantinnen beschreiben sich selbst mit einer überraschend übereinstimmenden Metaphorik als Übersetzerinnen, in der Position einer Brücke, als Verbindungsglied zwischen den Welten und in verwandten Bildern. Erzählmotive des Grenzgangs sind auf mehreren Ebenen gesellschaftlichen Lebens aufzufinden. Sie beinhalten sowohl wissenschaftliche Grenzgänge als auch disziplinäre Überschreitungen (Fachwechsel und interdisziplinäre Zugänge), transnationale Transfers von Wissens- und Forschungsständen sowie widerständige Grenzgänge in der Aneignung von Genderpositionierungen. In der autobiographischen Retrospektive haben alle Interviewpartnerinnen ihre Biographien als Geschichten einer kosmopolitischen – oder mit Bhabha und Hall einer hybriden – kulturellen Zugehörigkeit artikuliert. In allen biographischen Narrationen findet sich ein Punkt, in dem die Erzählerinnen davon berichten, dass eine Migration für sie schon immer eine Vorstellung gewesen ist, die sie in sich getragen haben. Während Devi ihr Migrationsmotiv auch auf die kosmopolitische Atmosphäre in ihrem Elternhaus zurückführt, verweist Mia auf das multikulturelle und weltoffene Klima im Jugoslawien ihrer Kindheit. Nalan führt ähnlich wie Devi und Mia innerhalb ihrer biographischen Artikulation eine intensive und hochreflexive Auseinandersetzung über die Exklusionserfahrungen, die sie durch ihre Herkunft als Migrantin in Deutschland erlebt hat. Innerhalb der ko-konstruierten Verfasstheit ihrer biographischen Narrationen erhält das Motiv des Border-Crossing als Merkmal ihrer Identitäten einen konstitutiven Stellenwert. Weder Devi noch Nalan oder Mia artikulieren in den Erzählungen von ihren Migrationspassagen interessanterweise die Beschreibung ihrer Positionen als „Fremde“ in fremden Umgebungen. Die Schwerpunkte ihrer Erzählungen liegen viel mehr auf dem Moment des Entdeckens von neuen Wissens- und Forschungskontexten und den Möglichkeiten ihrer persönlichen und wissenschaftlichen Entfaltung. Mit der Studie konnten abstrakte theoretische Konzeptionen kosmopolitischer, nomadischer und insbesondere postkolonialer hybrider Identitäten empirisch ausdifferenziert und um die Komplexität weiterer Differenzkategorien jenseits von Ethnizität, Staatsbürgerschaft, weltregionaler Herkunft und Gender erweitert werden. Über die Erkenntnis hinaus, dass transnationale Lebensformen zu einer größeren kulturellen Vielfalt von Identitätskonzepten führen (Pieterse 1998, 2004), die nicht mehr mit nationalstaatlich verankerten methodologischen
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Konzepten erfasst werden können (Beck 2004), kann am Beispiel von transnational mobilen Lebensführungen von Wissenschaftlerinnen gezeigt werden, dass derartige biographische Entwürfe durch komplexe soziale Differenzierungsprozesse bestimmt sind. Wie in der Diskussion der extremen Unterschiedlichkeit und Komplexität transnationaler Lebensführung bereits deutlich geworden ist, stellt sich jedoch die Ableitung eines Konzepts eines „transnationalen Habitus“ (Guarnizo 1997) oder der Figur des (geschlechts- und herkunftslosen) Kosmopoliten (Beck 2004) als ebenso unscharf dar, wie eine unmittelbare Relationierung der empirischen Befunde mit postkolonialen Konzepten der Hybridität (Bhabha 2000; Hall 2000, 2004). Ein theoretischer Entwurf transnationaler sozialer Positionierung kann damit einerseits auf Gemeinsamkeiten in der biographischen Strukturierung von mobilen Wissenschaftlerinnen verweisen, die sich im Komplexitätsanstieg biographischer Erfahrung, in der Zunahme biographischer Risiken und in biographischen Bildern einer als sich zwischen den Kulturen verorteten eigenen Vergangenheit artikuliert werden. Andererseits ist ein weiteres zentrales gemeinsames Merkmal die biographische Artikulation von sozialen Positionierungen jenseits von Differenzlinien, die hier als eine Eigenschaft des Raums des „Dazwischen“ markiert wurde. Diese Eigenschaften erfassen jedoch nur einen Teil der Komplexität transnationaler biographischer Erfahrung. Ein zentrales Merkmal transnationaler Lebensführung in der Wissenschaft ist insbesondere die Heterogenität sozialer Erfahrung, die für die Konfiguration von In- und Exklusionsprozessen bestimmend ist. Mit diesen Analysen konnte gezeigt werden, dass die Konstellationen von transnationalen biographischen Positionierungen höchst unterschiedlich sind. In diesen transnationalen biographischen und sozialen Strukturierungen finden Prozesse der Konstitution und der Verschiebung ethnischer, kultureller, staatsbürgerschaftlicher und Genderpositionierungen statt. Allerdings zeigen diese Positionierungen unter bestimmten Bedingungen auch in unterschiedlichen Kontexten Konstanz. Diese Differenzierungen sind für ein komplexeres Verständnis transnationaler Identitätsbildungsprozesse nicht ohne die Berücksichtigung von weiteren konstitutiven Differenzkategorien zu beschreiben, insbesondere sind die Zentralität von Gender, weltregionale Herkunft, Staatsbürgerschaft und Ethnizität transnational mobiler Akteur/inn/en in der Wissenschaft hervorzuheben. Die Analysen haben damit auch die kontextabhängige Wirksamkeit von Differenzkategorien empirisch ausgeleuchtet. Die biographischen Erzählungen der Wissenschaftsmigrantinnen können als Artikulationen jener fluiden Identitätsbildungsprozesse betrachtet werden, die Hall (2004) als „durchgestrichen“ (under erasure) beschrieben hat. Ihre soziale Relevanz formiert sich dabei in Prozessbewegungen und transnational strukturierten biographischen Passagen,
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mit denen nicht nur individuelle Biographien von Wissenschaftlerinnen, sondern auch die sozialen Strukturen der Wissenschaften sich in einem Transit befinden.
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Zusammenfassung und Ausblick
Transnationale Lebensformen von Wissenschaftlerinnen stellen eine Form von Elitenmigration dar, die eine Integration von flexibilisierten und hybriden Lebensformen in die wissenschaftliche Alltagspraxis beinhalten. Im „Zeitalter der Migration“ (Castles und Miller 1993) spielt die Wissenschaftsmigration und die damit verbundene Herausbildung transnationaler Lebens- und Bildungswelten eine zunehmende Rolle (Mau 2007). Es konnte gezeigt werden, dass Interaktionsstrukturen transnationaler Wissenschaftsmigrantinnen in ihren räumlich gebundenen Migrationspassagen eine Dimension transnationaler sozialer Erfahrung darstellen, die durch transnational vernetzte Strukturen ergänzt wird. Damit können Transnationalisierungsprozesse in der Wissenschaft beschrieben werden, in denen sich Lebensstile, Selbstbilder und spezifische Interaktionsformen entwickeln, die sich sowohl quer zu den Herkunfts- als auch zu den jeweiligen Gesellschaften der Migrationspassagen verhalten. Die Befunde der vorliegenden qualitativ-biographischen Grounded Theory-Studie über biographische Entwürfe transnational mobiler Nachwuchswissenschaftlerinnen (Graduierte und PostDocs) während und nach der Promotionsphase lenken den Blick auf drei Kerndimensionen individueller Erfahrung von Wissenschaftsmigration. Mobile Lebensformen von wissenschaftlichen Akteur/inn/en in der Qualifikationsphase beinhalten erstens einen erheblichen Anstieg biographischer Risiken, sie strukturieren sich zweitens über lokal gebundene und virtuelle transnationale soziale Vernetzungen und sie finden drittens eine Artikulation in transnationalen Entwürfen subjektiver Selbstbilder. Diese strukturellen biographischen Ähnlichkeiten lassen auf die Herausbildung eines neuen – in sich äußerst heterogenen – Typus transnationaler wissenschaftlicher Akteur/inn/en schließen. Mit biographischen Fallstudien, die unter Bezug auf transnationale und intersektionelle Perspektiven analysiert wurden, konnte darüber hinaus ein Spektrum von Unterschiedlichkeiten in transnationalen biographischen Entwürfen gezeigt werden. Diese äußern sich in heterogenen Inklusionsanforderungen und Exklusionserfahrungen, die unabhängig von den wissenschaftlichen Leistungen transnational mobiler Nachwuchswissenschaftlerinnen sind. Hier sind insbesondere ethnisch/kulturell begründete Ausschlussprozesse relevant, die jedoch kontextabhängig veränderbar sind, während Kriterien wie Staatsangehörigkeit und weltregionale Herkunft eine hohe Konstanz in ihren ein- bzw.
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Zusammenfassung und Ausblick
ausschließenden sozialen Wirkungen besitzen. Für die Kategorie Gender konnte gezeigt werden, dass eine reflexive Aneignung von Genderpositionierungen in den biographischen Narrationen der transnational mobilen Nachwuchswissenschaftlerinnen einerseits als soziale Ressource artikuliert wurden, andererseits wurde auch deutlich, dass Gender kontextabhängig als Exklusionskategorie wirksam ist. In dieser Studie wurden neben der individuellen Ebene von Prozessen der Transnationalisierung in der Wissenschaft zwei soziale Meso-Ebenen als Beispiele für die Transformation wissenschaftlicher Kommunikationsstrukturen analysiert. Untersucht wurde zum einen ein transnationales virtuelles Netzwerk von Wissenschaftlerinnen aus allen Kontinenten und zum anderen ein transnationales Lehr-/Lernarrangement. In diesen Settings zeigte sich, dass die weltregionale Herkunft der Beteiligten sowie ethnische/kulturelle Zuschreibungsprozesse in transnationalen wissenschaftlichen Settings von hoher Relevanz für Exklusionsprozesse sind. Bei der ifu handelte es sich um ein monosoziales postgraduales Hochschulsetting; ebenso wurde das virtuelle Netzwerk ausschließlich von Nachwuchswissenschaftlerinnen gebildet. Diese Tatsache wurde von den Beteiligten als Ressource gewertet. In diesen Arrangements wurde die außerordentliche Vielfalt der Kategorie Gender sichtbar. In der Fallstudie des weltweiten virtuellen Wissenschaftlerinnen-Netzwerks vifu wurde herausgearbeitet, dass grenzüberschreitende virtuelle Gemeinschaften, wie sie mit der vifu entstanden sind, transnationale Räume der Kommunikation, der Gemeinschaftsbildung, der Vernetzung und des Wissensaustausches eröffnen. Für die Diskussion von vernetztem Wissensaustausch, wie sie in der Hochschulforschung derzeit angelegt ist, besitzt das Modell des vifu-Netzwerks ein wertvolles Anregungspotenzial, um transnationale Wissenschaftskommunikation und Modelle des e-Learnings auch in Hinblick auf die darin enthaltenen Ressourcen für die Transnationalisierung von Hochschulen und Wissenschaft zu erweitern. Besonders hervorzuheben ist der Befund, dass virtuell basierte transnationale Wissenschaftskontakte sowohl eine Transnationalisierung des Alltags als auch der wissenschaftlichen Vernetzungspotenziale beinhaltet. Allerdings verliert im Kontext dieser Vernetzungen der Raum nicht in dem Maße an Bedeutung, wie es in Theorien der Globalisierung vermutet wurde. Vielmehr konnte in der Analyse des Netzwerks gezeigt werden, dass der Raum sowohl für die weltregionale In- und Exklusion eine hohe Relevanz besitzt als auch für die Aufrechterhaltung von transnationalen Face-to-Face-Kontakten, die für die Kontinuität virtueller Netzwerke eine substantielle Bedeutung besitzen. Transnationale virtuelle Vernetzungen in der Wissenschaft stellen für die beteiligten Akteur/inn/en zudem soziale Ressourcen dar, in denen sich neuartige transnationale Formen des Sozialen und der Wissensproduktion herausbilden.
Zusammenfassung und Ausblick
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Das Modell nationalstaatlich konzipierter Wissenschaftssettings wurde darüber hinaus am Beispiel eines transnational organisierten Lehr-/Lernsetting dekonstruiert und im Kontext einer Transnationalisierung von Bildungsräumen diskutiert. Hier konnten Prozesse der Transnationalisierung in der Wissenschaft auf unterschiedlichen Ebenen identifiziert werden. Zum einen beteiligten sich an diesem postgradualen Lehr-/Lernsetting im Projektbereich Migration der Internationalen Frauenuniversität ifu mehrheitlich Wissenschaftlerinnen mit einem transnationalen Erfahrungshintergrund aus aller Welt und zum anderen wurde hier ein global ausgerichtetes Curriculum sowie Ansätze des „global teaching and learning“ erprobt, in denen Asymmetrien, die aus einer universalistisch und eurozentrisch strukturierten Wissenschaft resultieren, in Frage gestellt und für globale Perspektiven geöffnet wurden. Dieses transnationale Wissenschaftssetting erforderte nicht nur eine globale Fokussierung wissenschaftlicher Perspektiven, sondern darüber hinaus war auch eine Dekonstruktion herkömmlicher Lehr-/Lernarrangements erforderlich, in der eine reflexive Auseinandersetzung mit Eigen- und Fremddefinitionen in Bezug auf Ethnizität, nationale Zugehörigkeit sowie mit Geschlecht, Sexualität, Alter, und soziale Herkunft sichtbar wurde. Diese explorative Studie eröffnet für die Erforschung von Prozessen der Transnationalisierung eine ganze Reihe von Perspektiven, die hier nur kurz skizziert werden können. Dazu muss zwischen der individuellen Mikroebene biographischer Transnationalisierungsprozesse sowie der institutionellen MesoEbene von konkreten Lehr-/Lernsettings sowie Forschungsarrangements und transnationalen Kommunikationsformen, die insbesondere virtuell organisiert sind, unterschieden werden. In weiteren Studien wäre es ertragreich, eine transnational angelegte Forschungsperspektive auf wissenschaftliche Karrierewege auch auf nationalstaatlich organisierte Wissenschaftsorganisationen anzuwenden. Hier wäre es erforderlich, eine transnationale Sicht sowohl auf In- als auch Outgoing-Mobility für unterschiedliche Statusgruppen wissenschaftlicher Akteur/inn/en zu entwickeln. Ein transnationaler Ansatz eröffnet hier sowohl für einzelne Hochschulen als auch für international vergleichend angelegte Studien ertragreiche Perspektiven. Insbesondere sollten in weiteren Studien auch männliche transnational mobile Wissenschaftler untersucht werden, um die Geschlechterarrangements in transnational angelegten Biographien von wissenschaftlichen Akteur/inn/en vergleichend zu analysieren. Für die Erforschung von institutionellen hochschulischen Transnationalisierungsprozessen stellt auch die Durchführung von Querschnittstudien ein Desiderat dar. Diese sind sowohl auf Lehr-/Lernsettings (auch virtuelle Formen) als auch auf hochschulische Verwaltungsstrukturen zu beziehen.
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Zusammenfassung und Ausblick
Für die Erforschung von Transnationalisierungsprozessen besteht auch für die Inklusion von transnationalen wissenschaftlichen Akteur/inn/en an den Hochschulen, die zur Gruppe der Bildungsinländer/inn/en gezählt werden, erheblicher Forschungsbedarf. Diese Gruppe von Personen mit Migrationserfahrungen in der Wissenschaft ist zu unterscheiden von transnational mobilen Akteur/inn/en, deren Inklusion in wissenschaftliche Strukturen ebenfalls nur unzureichend ausgeleuchtet ist. Insbesondere wurde deutlich, dass Forschungsperspektiven auf wissenschaftliche und hochschulische Strukturen, die ausschließlich kulturelle Differenzierungen in den Blick nehmen, der Komplexität transnationaler Konfigurationen in der Wissenschaft nicht adäquat begegnen können. Transnationale Lebensformen führen zu einer größeren Vielfalt von Identitätskonzepten, die nicht mehr angemessen mit nationalstaatlich verankerten Perspektiven erfasst werden können. Das theoretische Modell des (geschlechtsund herkunftslosen) Kosmopoliten von Ulrich Beck oder postkoloniale Theorien der Hybridität erfassen diese Komplexität jedoch nur unscharf. Ein Entwurf transnationaler Positionierungen muss darüber hinaus weitere Zusammenhänge berücksichtigen, insbesondere die Kategorien Gender, weltregionale Herkunft, Staatsbügerschaft und Ethnizität. Es handelt sich damit um eine erhebliche Steigerung der Komplexität des Alltags in der Wissenschaft. Er ist anspruchsvoller, vielfältiger, aber auch riskanter geworden.
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