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German Pages 469 [480] Year 2006
Ästhetik und Literaturtheorie in China. Von der Tradition bis zur Moderne
Karl-Heinz Pohl
K. G. Saur
Geschichte der chinesischen Literatur Band 5
Geschichte der chinesischen Literatur Herausgegeben von Wolfgang Kubin Band 1
Wolfgang Kubin Die chinesische Dichtkunst Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit Band 2
Thomas Zimmer Der chinesische Roman der ausgehenden Kaiserzeit Band 3
Monika Motsch Die chinesische Erzählung Vom Altertum bis zur Neuzeit Band 4
Marion Eggert, Wolfgang Kubin, Rolf Trauzettel, Thomas Zimmer Die klassische chinesische Prosa Essay, Reisebericht, Skizze, Brief Band 5
Karl-Heinz Pohl Ästhetik und Literaturtheorie in China Von der Tradition bis zur Moderne Band 6
Wolfgang Kubin Das traditionelle chinesische Theater Band 7
Wolfgang Kubin Die chinesische Literatur im 20. Jahrhundert Band 8
Lutz Bieg Bibliographie zur chinesischen Literatur in deutscher Sprache Band 9
Marc Hermann, Weiping Huang, Henriette Pleiger, Thomas Zimmer Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller Leben und Werke Band 10
Nicola Dischert Register
Geschichte der chinesischen Literatur Band 5
Karl-Heinz Pohl
Ästhetik und Literaturtheorie in China Von der Tradition bis zur Moderne
K · G · Saur München 2007
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
U Gedruckt auf säurefreiem Papier © 2007 by K . G . Saur Verlag, München Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG Alle Rechte vorbehalten Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Satz: Dr. Rainer Ostermann, München Druck & Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Printed in Germany ISBN-13: 978-3-598-24546-6 · ISBN-10: 3-598-24546-7
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung: Sprache und Denken – Elemente und Aspekte einer chinesischen Ästhetik . . . . . . . . . .
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Teil I:
Von der Zhou- bis zur Han-Zeit (11. Jh. v.–3. Jh. n. Chr.) . . . . 1. Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Mythos und Etymologie – Ursprünge der Lieder . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Widerspiegelung und Kritik – Programmatik des »Großen Vorworts« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Exegese und Rezeption – Moral der Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Harmonie und Bildung – Konfuzius über Dichtung. . . . . . . . . . . . . . 3. Sprache und Vitalkraft – Menzius zur Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gehalt und Gestalt – Xunzi über Riten, Gestaltung und Musik. . . . . . 5. »Wahrheit und Methode« – Die Bedeutung von Zhuangzi und Laozi für die chinesische Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Magie und Klage – Die »Elegien von Chu« und ihre Nachwirkung . . 7. Faktentreue und Persönlichkeitsausdruck – Literaturvorstellungen in der Han-Dynastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil II: Zwischen Han- und Tang-Zeit (3.–7. Jh.) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4.
Stil und Temperament – Cao Pis Erörterung »Über die Literatur« . . . Kreativität und Ebenmaß – Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur« . . . Bewertung und Einfluß – Zhong Rongs Klassifizierung der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosmische Ordnung und literarische Muster – Liu Xies Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Exkurs 1: »Widerhall der Vitalkraft« – Grundlagen einer chinesischen Ästhetik der Malerei . . . . . . . . . . . . .
Teil III: Die Tang-Zeit (618–906) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 2.1 2.2 2.3 3.
Stilperioden und Prosodie – Das »Regelgedicht« der Tang-Zeit . . . . . Daoismus und Buddhismus – »Literaturtheorie« der Tang-Zeit . . . . . Welt und Vorstellung – Wang Changling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgleich und Ordnung – Jiaoran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenseitigkeit und Nachgeschmack – Sikong Tu. . . . . . . . . . . . . . . . . Konfuzianismus und Literatur – Didaktische Strömungen in der Tang-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Beschränkung und Meisterschaft – Du Fu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Engagement und Beschaulichkeit – Bai Juyi . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Moral und Altertum – Han Yu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
v
17 19 20 24 32 38 47 55 62 71 79 85 87 93 102 109 128 149 151 165 165 171 180 190 190 194 200
Inhalt
Teil IV: Die Song-Zeit (960–1279) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.
209
Tradition und Erneuerung – Kultur und Literatur der Song-Dynastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blässe und Not – Ouyang Xiu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wandel und Transzendenz – Su Shi. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211 219 227
Exkurs 2: »Der vollständige Bambus im Herzen« – Su Shi und die Ästhetik der Bambusmalerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238
2. 3.
4. 5. 6. 7.
Erziehung und Tugend – Songzeitlicher Neokonfuzianismus und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übung und Spontaneität – Huang Tingjian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradox und Dharma – Chan-Buddhismus und Dichtung in der Song-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orthodoxie und Inspiration – Yan Yus Canglangs Gespräche über die Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil V: Die Ming-Zeit (1368–1644) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 1.1 1.2 2.
Regel und Erleuchtung – Archaismus der Ming-Zeit. . . . . . . . . . . . . Imitation und Intuition – Die Früheren Sieben Meister . . . . . . . . . . . Emotion und Intention – Die Späteren Sieben Meister. . . . . . . . . . . . Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ikonoklasmus und Relativismus – Li Zhi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Individualität und Authentizität – Die Gongan-Schule. . . . . . . . . . . .
Teil VI: Die Qing-Zeit (1644–1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3.
Philologie und Poetik – Kulturelle Trends der Qing-Zeit . . . . . . . . . . Szenerie und Gefühl – Wang Fuzhi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außenwelt und Innenwelt – Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246 257 271 280 295 297 299 309 318 321 327 343 345 350 361
Exkurs 3: »Die Regel der Nicht-Regel« – Ästhetik der Malerei in der Qing-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
376
4. 5. 6.
Geist und Nachklang – Wang Shizhen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Echtheit und Ausdruck – Yuan Mei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tradition und Moderne – Wang Guowei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
386 395 409
Schlußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
425
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
427
Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
»Wir bringen unsere Dummheiten zu hohen Ehren, wenn wir sie in Druck geben.« Montaigne, »Über die Erfahrung«
Eine Geschichte der chinesischen Literaturtheorie und Ästhetik zu schreiben, ist ein ambitioniertes Unterfangen; der Verfasser dieser Zeilen ist sich während der überlangen Entstehungszeit oftmals schmerzhaft der Größe der Aufgabe bewußt gewesen – dabei auch immer wieder fürchtend, ihr nicht gewachsen zu sein. Zunächst bestand das Problem darin, zwei Themen – Literaturtheorie und Ästhetik –, die zwar viel miteinander gemein haben und doch verschieden sind, in einem Werk zu integrieren. Da der Band in der von Wolfgang Kubin herausgegebenen Reihe Geschichte der chinesischen Literatur erscheint, lag es allerdings nahe, den Fokus auf die Literaturtheorie zu richten. Glücklicherweise konnte der Verfasser, wie so häufig bei derartigen Überblicksdarstellungen, auf solide Vorarbeiten seiner Kollegen aufbauen. An Studien zur chinesischen Literaturtheorie wäre zunächst James Lius Chinese Theories of Literature zu nennen; wenn auch bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts veröffentlicht, kann es immer noch als Standardwerk gelten, nur daß James Liu nicht einen historischen, sondern einen systematischen Ansatz gewählt hat. Inzwischen ist Stephen Owens monumentales Readings in Chinese Literary Thought erschienen, welches chronologisch vorgeht und meist gesamte Texte unter Einschluß der chinesischen Originale mit sinologisch-philologischer Akribie diskutiert; allerdings sind wegen der Konzentrierung auf jene Texte (und des dabei entstandenen Umfangs) etliche interessante Schriften und Autoren nicht behandelt worden. Was die Maltheorie angeht, liegen seit langem ausgezeichnete Textsammlungen von Lin Yutang sowie von Susan Bush und Hsio-yen Shih vor. Und hinsichtlich einer Gesamtschau der chinesischen Ästhetik haben wir auf deutsch für die Vormoderne Li Zehous Der Weg des Schönen und für die Moderne (mit erhellenden Einblicken in die Vergangenheit) Heinrich Geigers Philosophische Ästhetik im China des 20. Jahrhunderts sowie, jüngst erschienen, Die große Geradheit gleicht der Krümmung. An Sekundärliteratur in westlichen Sprachen zu einzelnen Epochen und Autoren besteht ebenfalls kein Mangel, nur um die vielen ausgezeichneten Arbeiten von Richard John Lynn zur song- und nach-songzeitlichen Literaturtheorie zu nennen, ganz zu schweigen von der chinesischen Forschung, die zu der Doppelthematik Literatur und Malerei im Rahmen einer chinesischen Ästhetik geradezu uferlos ist. Mittlerweile konnte in vielen Fällen auch auf Material in den bereits erschienenen Bänden der Reihe Geschichte der chinesischen Literatur zurück-
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Vorwort
gegriffen werden. Insofern steht der Verfasser auf den Schultern vieler großer Vorarbeiter, denen hier zunächst Dank zu schulden ist. Wie immer schreibt ein Autor – oft unbewußt – mit einer bestimmten Leserschaft im Geiste. In diesem Fall sähe sein ideales Publikum etwa folgendermaßen aus: Es bestünde vor allem aus Studenten der Sinologie, die sich für das reiche geistige Erbe Chinas interessierten und intensiver der Reflexion über Literatur und Kunst sowie deren philosophischen Hintergründen in der chinesischen Kulturgeschichte nachzuspüren gedächten. Darüber hinaus schlösse es interessierte Laien ein, also Kollegen aus anderen Fächern, die zu komparatistischen Zwecken auch etwas von chinesischer Literaturtheorie und Ästhetik verstehen möchten. Insofern wurde versucht, den Stil des Buches weitgehend allgemeinverständlich zu halten; zwar konnte nicht gänzlich auf Fachchinesisch verzichtet werden, doch wurden Hintergründe immer so aufgearbeitet, daß die Ausführungen möglichst ohne Vorwissen verstanden werden können. Dies mag den eigentlichen sinologischen Experten hier und da befremden (er zählt ja auch nicht zum idealen Publikum); wenn er sich jedoch von dem vorliegenden Werk – sei es zu Verbesserungen, Ergänzungen oder weiterführenden Untersuchungen – angeregt fühlt, umso besser. Auf Bezüge zur abendländischen Literaturtheorie und Ästhetik wurde zwar nicht gänzlich, doch weitgehend verzichtet, obwohl sie sich bisweilen aufdrängten. Eine zu eingehende Erörterung dieser komparatistischen Aspekte hätte die Arbeit noch weiter aufgebläht, oder wäre nur auf Kosten einer Reduzierung des Originalmaterials möglich gewesen. Speziell zur chinesisch-westlichen komparatistischen Ästhetik seien dem interessierten Leser die zahlreichen und höchst anregenden Arbeiten von François Jullien empfohlen. Auch wurde davon abgesehen, ein gängiges Theoriemodell auf das Material anzuwenden (es gibt lediglich hin und wieder Verweise auf M.H. Abrams’ literaturtheoretisches Ordnungsschema, welches James Liu modifiziert übernommen hat); die Arbeit orientiert sich vielmehr an der chinesischen Geistesgeschichte, das heißt, es werden vor allem Bezüge zu philosophischen (und am Rande auch zu politisch-sozialen) Entwicklungen aufgezeigt, was in der Einleitung in ein paar Grundmustern vorskizziert wird. Der Überblick beginnt mit frühsten Überlegungen zur Dichtung und endet mit dem Übergang Chinas in die Moderne, da ab diesem Zeitpunkt mit der Rezeption westlichen Denkens eine gänzlich neue Thematik eröffnet wird. Das Buch geht (vor allem in seinen vor-tangzeitlichen Abschnitten) auf Vorlesungsskripte zurück, hat also auch von daher Einführungscharakter; andere Teile wurden hingegen gänzlich neu recherchiert und verfaßt. Als wichtig erschien es zunächst, ein Korpus an relevanten Primärtexten zusammenzustellen, denn nur auf der Basis von Textkenntnis lassen sich interpretierende oder vergleichende Aussagen machen. Diese Originalzitate bilden – gleichsam auch als Anthologie – das Gerüst des Buches, um das sich die Interpretationen und Bezugnahmen ranken. Für die Erstellung dieses Korpus diente vor allem die vierbändige und gut kommentierte Textsammlung Zhongguo lidai wenlun xuan (Auswahl von Texten zur
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Vorwort
Geschichte der chinesischen Literaturreflexion) von Guo Shaoyu, die in jeder sinologischen Bibliothek vorhanden sein dürfte und auf die in der Regel in den Fußnoten verwiesen wird. Dabei sind natürlich auch Einzelheiten aus Guo Shaoyus Einleitungen und Kommentaren zu den von ihm ausgewählten Texten sowie Gedanken aus seinem anderen bekannten Werk Zhongguo wenxue piping shi (Geschichte der chinesischen Literaturkritik) – bewußt oder unbewußt – in die Arbeit eingeflossen. Der Verfasser erinnert sich aus seiner Zeit als graduate student an der Universität Toronto an eine Episode mit Hans-Georg Gadamer, als dieser Anfang der 80er Jahre einmal zu einem Vortrag am dortigen »Centre for Comparative Literature« weilte. Damals war der Methodenstreit in der Literaturwissenschaft in vollem Gange, und so stellten wir Studenten ihm die Frage, welche Methode (chin.: fa) er denn für wissenschaftlich-literarische Arbeiten empfehlen würde. Hintergründig lächelnd gab er zur Antwort: »Langsam lesen.« So ist dieses Buch nicht so sehr Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur (die im Chinesischen zu vielen der hier behandelten Themen ohnehin nicht mehr zu überblicken ist), sondern eher Ausbeute eines »langsamen Lesens« der Primärtexte – wenn nicht Übersetzen naturgemäß bereits ein langsames Lesen bedeutet. Als Mangel des vorliegenden Buches ist aus Sicht des Verfassers zunächst festzustellen, daß die Gewichte nicht gleichmäßig verteilt sind. Auch wurde die Geschichte der chinesischen Literaturtheorie nicht lückenlos dargestellt. Der Umfang des Stoffes zwingt zur Auswahl und zu Auslassungen. Um nur ein paar eklatante Lücken zu nennen, die dem Fachmann auffallen werden: Aus der an Reflexion über Literatur reichen Song-Epoche konnten nur die wichtigsten Vertreter vorgestellt werden, so fehlt unter etlichen anderen auch eine Erörterung der Schriften von Jiang Kui. Die Yuan-Dynastie (und somit Yuan Haowen) wurde nicht behandelt. In der Qing-Zeit mußte ebenfalls stark selektiert werden; hier fehlen vor allem Shen Deqian, Weng Fanggang und Liu Xizai. Zwar wurde oft passim auf das Buch der Wandlungen verwiesen, doch im Nachhinein wurde klar, daß es – gerade im Hinblick auf eine »chinesische Ästhetik« – ein eigenes Kapitel verdient gehabt hätte. Auf die Malerei wurde lediglich in drei speziellen Exkursen eingegangen, einerseits um die vielfältigen Bezüge zwischen Literatur und Malerei deutlich zu machen, andrerseits aber auch um dem Anspruch einer chinesischen Ästhetikgeschichte zumindest im Ansatz gerecht zu werden. Dabei wurde nur gelegentlich auf Texte zur Schriftkunst (Kalligraphie) verwiesen. Die Kampfkünste (»Kungfu« u.ä.), die, wie auch deutlich werden wird, eigentlich zu einer chinesischen Ästhetik hinzugezählt werden müssen – so sehr sie auch in der Praxis dem Verfasser am Herzen liegen –, wurden ebenfalls außen vor gelassen. Angesichts dieser zahlreichen Auslassungen erscheint dem Verfasser die vorliegende Studie in vieler Hinsicht verbesserungswürdig, auch bietet sie in der Übersetzung von zentralen Texten und deren Deutung nur eine einzelne, subjektive und begrenzte »Brunnenfrosch-Sicht« (Zhuangzi) an. Dieser Beschränkungen
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Vorwort
(und Montaignes Warnung) wohl bewußt wird sie nun dennoch in Druck gegeben. Und wenn es ihr gelänge, zu weitergehenden Erkundungen dieser interessanten und vielschichtigen Thematik anzuregen (sei es im Rahmen der Kritik oder der Komparatistik), so wäre ihrem Zweck gedient, ganz im Sinne des chinesischen Sprichworts pao zhuan yin yu, daß nämlich hiermit lediglich ein Backstein geworfen wurde – nur um im Gegenzug möglichst viel Jade anzulocken. Zur Schreibweise chinesischer philosophischer Meister (zi) wie Meister Kong (Konfuzius: Kongzi) oder Meister Zhuang (Zhuangzi) ist zu sagen, daß in diesem Buch (und im Unterschied zu anderen in dieser Reihe) die Namen mit dem Titel »Meister« immer zusammengeschrieben werden: also Zhuangzi (anstatt Zhuang Zi). Wird statt auf die Person auf das Werk verwiesen, so wird der Name – als Buch – kursiv geschrieben (Zhuangzi). Ich danke Benjamin Freudenberg für die große Hilfe bei der Erstellung der Druckfassung sowie Prof. Chiao Wei und Dr. Liu Huiru für viele inhaltliche Anregungen und Verbesserungsvorschläge. K.-H. Pohl Trier, im August 2006
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Einleitung: Sprache und Denken – Elemente und Aspekte einer chinesischen Ästhetik Problematik einer chinesischen Literaturtheorie und Ästhetik Nähme man den Titel dieser Studie – Geschichte der chinesischen Literaturtheorie und Ästhetik – genau, so würde sie sich mit Phantomgegenständen befassen. Denn eine Theorie der Literatur in dem Sinne, wie dieses Wort heutzutage verstanden wird, hat es im alten China nicht gegeben – allerdings in diesem engen Sinne auch erst im Europa der modernen Epoche. Zwar gab es Diskussionen von Gattungsfragen, die bei Aristoteles ebenfalls am Anfang der westlichen Literaturreflexion standen, jedoch erst etwa fünfhundert Jahre später und nicht in der gleichen analytischen Schärfe wie im antiken Griechenland, sondern eher in einer poetischen oder zumindest formal gestalteten, bildlich-suggestiven Ausdrucksweise (dies ist auch ein Charakteristikum vieler philosophischer Texte des chinesischen Altertums). Abgesehen davon kannten die Chinesen seinerzeit nicht die gleichen Gattungen wie die Europäer; so gab es weder das Epos noch das Drama bzw. die Tragödie, stattdessen unterteilte man zum Beispiel Prosa je nach Zweck und Anlaß in verschiedene Klassen. Anstatt also mit nur marginal bedeutenden Gattungsfragen beschäftigten sich die an Literatur interessierten Chinesen der Vormoderne lieber mit begrifflich schwer zu fassenden geistigen Qualitäten eines literarischen Werkes, also mit Überlegungen, die in den Bereich der Philosophie hineinragen, sowie mit Fragestellungen hinsichtlich des Sinns und Zwecks der Literatur, der Ausdruckskraft oder des Verhältnisses von Gehalt und Gestalt. Aus dem 5./6. Jahrhundert n. Chr. ragt ein Werk, Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen (Wenxin diaolong) von Liu Xie, heraus, das am ehesten die Anforderung an eine Literaturtheorie erfüllen würde, da es fast alle relevanten Themen der Literatur (einschließlich Gattungen, aber auch technische und »geistige« Fragen) behandelt, jedoch, und wie noch zu besprechen sein wird, in einer beispiellos literarisch ausgestalteten und symmetrisch angelegten Weise (sowohl im Aufbau als auch in der Durchführung als Parallelprosa), so daß in der Lektüre dieses Werks gestalterische Aspekte und poetisch-suggestive Qualitäten die Aufnahme des Inhalts wesentlich mitbestimmen. Allerdings hat es im alten China sehr wohl eine lebhafte Tradition der Literaturkritik1 gegeben. Diese beginnt bereits im 3. Jahrhundert n. Chr. (mit Cao Pi) und zeigt sich dann weiter in den späteren sogenannten »Gesprächen über Dichtung« 1
Im Englischen wird das Wort criticism meist synonym mit literary theory verwendet.
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EINLEITUNG
(shihua), die zum größten Teil kritischer (bzw. bewertend-kommentierender) Natur sind. In diesem Zusammenhang gab es auch eine Tradition von Dichtung über Dichtung bzw. über Dichter2. Ebenso wenig wie eine Literaturtheorie gab es eine Ästhetik – ob man das Wort nun in seiner eigentlichen Bedeutung als Philosophie der sinnlichen Wahrnehmung oder, dem europäischen Usus des 18. und 19. Jahrhunderts entsprechend, als eine Theorie des Schönen (Kallistik) versteht. Wenn es je eine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung im vormodernen China gegeben hat3, so allenfalls in einigen Schulen des Buddhismus, die in zum Teil minutiöser Art allen möglichen Bewußtseinsvorgängen – und so auch der Frage, wie diese von der Sinneswahrnehmung gesteuert werden – nachgegangen sind. Die für die (vormoderne) westliche Ästhetik so zentrale Kategorie des Schönen war in China hingegen kein Gegenstand der Reflexion. Abgesehen von Beispielen in frühen konfuzianischen Texten, in denen das chinesische Wort schön (mei) wie bei Platon als Äquivalent für gut (shan) verstanden wurde4, bekam es später meist eine eher negative Konnotation im Sinne von Schmuck oder weiblichem Charme. Die Daoisten hielten erst recht nichts von einer einseitigen Bevorzugung des Schönen, denn wie es gleich im zweiten Kapitel des Daodejing, dem Buch vom Weg und dessen Wirkkraft, heißt: »Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt«.5 Insofern ist die in China heute gebrauchte Bezeichnung für Ästhetik meixue (Lehre vom Schönen) etwas unglücklich gewählt. Dieses über Japan, das im 19. Jh. früher als China westliches Wissen importierte, nach China gekommene Wort spiegelt die theoretischen Präferenzen des frühmodernen Europa wieder, macht jedoch für die zentralen Inhalte einer im folgenden noch zu skizzierenden chinesischen »Ästhetik« wenig Sinn.6 Abgesehen davon hätte eine 2
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5 6
Diese Gedichte über Dichter werden hier jedoch nicht behandelt, da eine Wertschätzung dieser Art von Kritik eine zu große Belesenheit voraussetzen würde (die die chinesischen Literaten besaßen), abgesehen von der Problematik einer Einbettung der kritischen Gedanken in schwer übersetzbare lyrische Formen. An Beispielen seien (neben Du Fu) der yuanzeitliche Dichter Yuan Haowen und der qingzeitliche Wang Shizhen genannt; s. JOHN T. WIXTED: Literary Criticism by Yuan Hao-wen, Wiesbaden: Steiner 1982, S. 1190–1257, und RICHARD JOHN LYNN: »Wang Shizhen’s Poems on Poetry: A Translation and Annotation of the Lunshi jueju«, in: JOHN C.Y. WANG (Hg.): Chinese Literary Criticism of the Ch'ing Period (1644– 1911), Hongkong: Hong Kong UP 1993, S. 55–95. Ästhetik müßte folglich ganxingxue heißen. GAO JIANPING: »Chinese Aesthetics in the Context of Globalization« in: International Yearbook of Aesthetics, Vol. 8 (2004), S. 65. So heißt das moderne chinesische Wort für Tugend: meide (wörtl.: schöne Tugend). S. auch ROLF TRAUZETTEL: »Das Schöne und das Gute. Ästhetische Grundlegungen im chinesischen Altertum«, in: HELWIG SCHMIDT-GLINTZER (Hg.): Das andere China. Festschrift für Wolfgang Bauer zum 65. Geburtstag, Wiesbaden: Harrassowitz 1985, S. 291–321. RICHARD WILHELM (Übers.): Laotse. Tao Te King, Köln: Diederichs 1978, S. 42. In seinem Artikel »Was ist Ästhetik?« erzählt Li Zehou die bezeichnende Anekdote, derzufolge jemand auf die im Titel seines Artikels formulierte Frage nach der Ästhetik (mei-xue)
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Sprache und Denken
moderne chinesische »Lehre vom Schönen« allein von ihrer Bezeichnung her gewisse Schwierigkeiten, zeitgenössische westliche Trends wie z.B. eine Ästhetik des Häßlichen ohne begriffliche Widersprüchlichkeiten aufzunehmen.7 Inzwischen hat bekanntlich nicht nur der Politik-, sondern auch der Wissenschaftsdiskurs des »Westens« – ob dies berechtigt ist oder nicht – eine globale Relevanz und Akzeptanz gewonnen. Insofern mag es naheliegen, die Fragestellungen einer modernen westlichen Literaturtheorie oder Ästhetik ins vormoderne China zu tragen, da es sicher Phänomene gibt oder gegeben hat, die sich mit unseren heutigen westlichen Begriffen und Kategorien (wenn diese nicht bereits global geworden sind) vergleichen oder als Vorformen derselben verstehen lassen (ähnlich wie dies auch mit anderen geistigen oder sozialen Errungenschaften der westlichen Moderne wie z.B. dem Menschenrechtsgedanken geschehen ist). Jedoch wird man bei diesem Unterfangen meist – anstatt auf vertraute Kategorien wie das Erhabene oder das Komische – auf eine gänzlich andere Orientierung und eine kulturell anders verortete und eingebettete Begrifflichkeit stoßen. Wenn sich also moderne chinesische Ästhetiker – durch vormoderne abendländische Standards angestoßen sowie durch den gleichsam richtungsweisenden Namen ihrer Disziplin (Lehre vom Schönen) gedrängt – dazu berufen fühlen, ihre eigene Kulturtradition zum Zweck der Suche nach dem Schönen zu erkunden, so gleicht dieses Unterfangen in gewisser Weise einer zeitgeistbedingten Irrfahrt, wobei jedoch, wie bei solchen Fahrten nicht unüblich (man denke etwa an Odysseus oder Kolumbus), es viel Interessantes und zuvor kaum Wahrgenommenes oder gar Geahntes zu entdecken gibt. Versteht man allerdings Ästhetik im Sinne einer Reflexion über Kunst (Literatur, Malerei, Kalligraphie), dann hat es durchaus eine eigene chinesische Ästhetik gegeben; denn mit den Fragen, wie denn Kunst zustande kommt (Schaffensästhetik), was die Qualitäten eines Kunstwerks ausmacht (Werkästhetik), und wie ein Kunstwerk auf den Betrachter oder Leser wirkt (Rezeptionsästhetik), haben sich die chinesischen Literaten, die allein von ihrer Dichtung und Schriftkunst her ein äußerst sensibles Kunstverständnis besaßen, durchaus oft und gerne befaßt. Und so heißt auch eins der nachwirkungsreichsten modernen Werke zur chinesischen
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ratlos antwortete, es sei wohl eine – im Chinesischen beliebte – Abkürzung für »amerikanische« (mei von meiguo – wörtl.: schönes Land) »Studien« (xue). LI ZEHOU: »Shenma shi meixue?«, Zou wo ziji de lu, Taipei: Fengyun shidai 1990, S. 73. Zur modernen chinesischen Ästhetik s. den Sammelband von ZHU LIYUAN und GENE BLOCKER (Hg.): Contemporary Chinese Aesthetics, New York: Lang 1995, sowie HEINRICH GEIGER: Die große Geradheit gleicht der Krümmung. Chinesische Ästhetik auf ihrem Weg in die Moderne, Freiburg: Karl Alber 2005. Zur Diskussion um eine heutige chinesische Ästhetik im globalen Kontext s. den sehr lesenswerten Artikel von GAO JIANPING: »Chinese Aesthetics in the Context of Globalization«. S. auch KARL-HEINZ POHL: »An Intercultural Perspective on Chinese Aesthetics«, in: GRAZIA MARCHIANÒ and RAFFAELE MILANI (Hg.): Frontiers of Transculturality in Contemporary Aesthetics, Turin: Trauben 2001, S. 135–148.
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EINLEITUNG
Ästhetik, Xu Fuguans Zhongguo yishu jingshen, auf Deutsch: »Der Geist der chinesischen Kunst«. Von dieser »geistigen« Warte aus gesehen verstanden die Chinesen, als sie Anfang des 20. Jahrhunderts der europäischen Kunstphilosophie bzw. Ästhetik gewahr wurden und sich im Verhältnis zum Westen zu definieren begannen, ihre eigene Kultur als eine ästhetische. Liu Gangji, zusammen mit Li Zehou Verfasser einer (leider nur Bruchstück gebliebenen) Geschichte der chinesischen Ästhetik, hat als letztes und wohl wichtigstes Charakteristikum der vormodernen chinesischen Ästhetik den Umstand bezeichnet, daß ein ästhetischer Bewußtseinszustand (jìngjie) als der höchste im menschlichen Leben zu erreichende Bewußtseinszustand betrachtet wurde.8 Cai Yuanpei, während der antitraditionalistischen 4.-Mai-Bewegung (1919) ein führender und ausgleichend wirkender Intellektueller, der durch sein Studium in Deutschland mit der abendländischen Philosophie (vor allem mit Kant) vertraut war, betrachtete den westlichen Menschen im wesentlichen als von der Religion geprägt, wohingegen in China die Ästhetik (als Verbindung von Moral, Ritual und Kunst) eine der Religion vergleichbare Rolle gespielt habe. Er forderte deshalb für das moderne China eine »ästhetische Erziehung statt Religion«.9 Schließlich gab es in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in China, mit ausgelöst durch die Veröffentlichung von Zhu Guangqians, Zong Baihuas und vor allem Li Zehous populären Arbeiten zur Ästhetik, ein regelrechtes »Ästhetikfieber«. Diese für ein westliches Publikum kaum nachvollziehbare Begeisterung für ein Thema, das hiesigen (selbst in Fragen der Literatur) meist nur politisch interessierten Intellektuellen nicht entfernter sein könnte, läßt sich nur dadurch erklären, daß es, wie schon Cai Yuanpei annahm, eng mit der Frage einer chinesischen Identität verbunden ist. Ein wesentlicher Hintergrund für diese bemerkenswerte Hochschätzung der Ästhetik ist folglich das Bewußtsein einer eigenen chinesischen Kunsttradition und eines kulturell, also von seinen philosophisch-religiösen Traditionen geprägten Kunstverständnisses, das offenbar ein wesentliches Element einer chinesischen Identität bildet. Fragt man nach weiteren Hintergründen und danach, woraus sich etwa eine spezifisch chinesische ästhetische Sensibilität speist, so wäre in Beantwortung dieser Fragen zunächst auf die chinesische Sprache und Schrift einzugehen, die ganz besondere Kunstformen ermöglicht hat, sodann auf die philosophisch-religiösen Traditionen, die China über mehr als zwei Jahrtausende geprägt haben und die den Kontext für ein spezielles Kunstverständnis bilden. Dies sind Yin-YangDenken (das Buch der Wandlungen), Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus. 8
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LI ZEHOU und LIU GANGJI: Zhongguo meixue shi, Bd. I, Peking: Zhongguo shehui kexue 1984, S. 33. LIU GANGJI: »Verbreitung und Einfluß der deutschen Ästhetik in China« in: Trierer Beiträge – Aus Forschung und Lehre an der Universität Trier, Sonderheft 10 (Hg. KARL-HEINZ POHL), Juli 1996, S. 8–13.
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Sprache und Denken
So sollen in bezug dazu im folgenden in aller Kürze ein paar wesentliche Bausteine einer chinesischen Ästhetik10 zusammengetragen werden.
Ästhetische Potentiale der chinesischen Sprache und Schrift Chinesisch ist eine isolierende, nichtflektierende und tonale Sprache, deren kleinste Sinneinheiten (Morpheme) mit einer Silbe ausgesprochen und (im modernen Hochchinesisch) auf vier verschiedene Weisen – den vier Tönen – intoniert werden können. Diese kleinsten Sinneinheiten bilden in der Schrift die Schriftzeichen. Texte im klassischen Chinesisch (der früher nur geschrieben Form) zeichnen sich durch Sparsamkeit im Ausdruck aus: Ein Schriftzeichen ist in der Regel ein Wort (allerdings häufig mit einer schillernden Bedeutungsvielfalt), Artikel sind nicht vorhanden, auf Pronomen und Konjunktionen kann weitgehend verzichtet werden, und zwischen nominellem, adjektivischem und verbalem Gebrauch der Wörter gibt es meist keinen Unterschied. Mit diesen Merkmalen sind die alten Schriften auch von einer bemerkenswerten semantischen Offenheit, das heißt, sie sind zwar immer recht interpretationsbedürftig, bergen aber auch ein ästhetisch wirksames Assoziationspotential. Dazu kommt eine wichtige bildliche Dimension. So heißt es bereits im Buch der Wandlungen (Yijing) von den Weisen des Altertums, daß sie die Welt betrachteten (guan), um die Phänomene des Kosmos in Urbildern, nämlich den symbolisch zu deutenden Trigrammen, auf denen dieser Klassiker beruht11 (und die der Sage nach die Urform der chinesischen Schriftzeichen darstellen), abzubilden. Nun ist die chinesische Schrift zwar streng genommen keine Bilderschrift (das Gros der chinesischen Schriftzeichen ist nicht nach bildlichen, sondern nach lautlichen Prinzipien organisiert), doch hat sie, gerade von ihren Ursprüngen her, eine ausgesprochen bildliche und auch symbolische Komponente, was sich in vielen Schriftzeichen (den Piktogrammen) auch erhalten hat. Diese bildliche Seite, insbesondere ihre Rolle in der Dichtung, ist seit James Lius Widerspruch zu entsprechenden Vorstellungen von Ernest Fenollosa und Ezra Pound etwas aus dem Blick geraten12, jedoch ist zu betonen, daß die chinesische Schrift durchaus sinnbildlicher Natur ist und von dieser Warte her auch ein ästhetisch höchst anregendes Potential besitzt. Davon abgesehen liebte man jedoch auch eine bildlichmetaphorische Ausdrucksweise. So heißt es weiter im Buch der Wandlungen von 10
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S. auch YE LANG: Zhongguo meixueshi dagang, Shanghai: Renmin 1985, sowie die Sammelbände von CORINNE H. DALE (Hg.): Chinese Aesthetics and Literature – a Reader, Albany: State University of New York Press 2004, und ZONG-QI CAI (Hg.): Chinese Aesthetics. The Ordering of Literature, the Arts, and the Universe in the Six Dynasties, Honolulu: University of Hawai'i Press 2004. S. hierzu ausführlicher Kap. II.4. JAMES J.Y. LIU: The Art of Chinese Poetry, Chicago: University of Chicago Press 1962, S. 3ff.
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EINLEITUNG
den Weisen des Altertums, sie hätten Bilder (xiang) benutzt, um ihre Gedanken kund zu tun.13 Insofern finden wir bereits in der chinesischen Schrift eine Bildlichkeit angelegt, die als bildlich-poetische Ausdrucksweise in der Literatur weiter Gestalt gewinnt. Diese Charakteristika haben sogar bis in die Moderne nachgewirkt; so ist es interkulturell interessant, daß Pioniere der westlichen literarischen Moderne, die Imagisten um Ezra Pound14, sich wesentlich von der Bildlichkeit der klassischen chinesischen Dichtung haben anregen lassen (wobei die Imagisten dann wiederum die Vertreter einer modernistischen chinesischen Lyrik beeinflußten). Schließlich ist hinsichtlich der Schrift noch die ästhetische Dimension der ganz spezifisch auf den chinesischen Schriftzeichen beruhenden Schriftkunst zu berücksichtigen, wobei der ästhetische Reiz aus dem Zusammenfließen von ursprünglicher Bildlichkeit der Zeichen mit der Dynamik der durch Pinsel und Tusche geschriebenen Linien entsteht. Neben der in der Schrift verorteten Tendenz zur Bildlichkeit gibt es noch weitere ästhetisch relevante Besonderheiten der chinesischen Literatur, die einen engen Bezug zu ihrer Sprache und Schrift haben, vor allem die Neigung zu Parallelbildungen in allen sprachlichen Äußerungen, sei es in Dichtung oder Prosa. Aufgrund der Basis einsilbiger Sinneinheiten in Form der Schriftzeichen kommt es leicht zu ordentlichen Anordnungen mit gleicher Zeilenlänge bzw. Zeichenzahl pro Zeile sowie zu Paarbildungen von jeweils zwei parallel geführten Zeilen. Jedes Schriftzeichen einer Zeile – als einzelne Silbe und Wort – findet somit seine Entsprechung in der anderen, wobei die Entsprechungen meist nach semantischen Feldern erfolgen. Beginnt z.B. ein Satz mit dem Zeichen »Himmel« (tian), so fängt in der Regel der Pendantsatz mit »Erde« (di) an. Dieser Parallelismus membrorum, insbesondere der antithetische Parallelismus, wurde zu einem der charakteristischsten Merkmale chinesischer Lyrik und Prosa. Natürlich kennen andere Sprach- und Kulturtraditionen, so auch die unsrige, den Parallelismus als Mittel der Rhetorik, doch sind die Möglichkeiten aufgrund linguistischer Strukturen in keiner Weise mit der in China zu vergleichen. Dies geht sogar so weit, daß manche klassischen Texte mit ihrer notorischen semantischen Offenheit und Unbestimmtheit erst unter Berücksichtigung der Parallelkonstruktionen verständlich und übersetzbar werden.15 Das Formulieren von antithetischen, doch immer zusammengehörenden Einheiten zeigt sich in der ein oder anderen Weise auch in vielen weiteren sprachlichen Formen, angefangen vom Bau eines großen Teils der Vier-Wort-Phrasen (chengyu)16 13
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RICHARD WILHELM (Übers.): I Ging. Das Buch der Wandlungen, Köln: Diederichs 1972, S. 281–282, 299. S. hierzu MONIKA MOTSCH: Ezra Pound und China, Heidelberg 1976. S. die gründliche Studie von JOACHIM GENTZ: »Zum Parallelismus in der chinesischen Literatur«, in: ANDREAS WAGNER (Hg.): Parallelismus Membrorum. (Orbis Biblicus et Orientalis, OBO), UP Fribourg/Vandenhoeck & Ruprecht (im Druck), S. 2. Z. B. qi shang ba xia, »beunruhigt« wörtl.: »siebenmal rauf, achtmal runter«; mama huhu, »nachlässig«, wörtl.: »Pferd Pferd, Tiger Tiger«, etc.
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Sprache und Denken
bis hin zu den auch heute noch beliebten Spruchpaaren von zwei parallel geführten Sätzen (duilian), welchen man in China überall, an Türpfosten von Tempeln, Gärten, Restaurants etc., begegnet. Aufgrund der symmetrischen Anordnung von gleichlangen Sätzen mit gleichgroßen Schriftzeichen haben sie, über den Reiz des zu entschlüsselnden poetischen Sinns hinaus, auch optisch eine ästhetische Wirkung. In der Dichtung kommt noch ein weiteres binäres, antithetisches Element der chinesischen Sprache hinzu, und zwar in der Berücksichtigung der Töne. Die vier verschiedenen Töne wurden in zwei Klassen eingeteilt, eine ebene (ping) und eine schräge (ze). Im sogenannten Regelgedicht, das ab der Tang-Zeit (7. Jh. n. Chr.) populär wurde, kam es darauf an, in den Gedichtzeilen ein tonales Muster von Parallelführung bzw. Antithese der beiden Tonklassen zu befolgen, wodurch eine klangliche Ausgewogenheit erzielt werden sollte.17 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß in der chinesischen Sprache und Schrift bereits wesentliche Grundlagen einer chinesischen Ästhetik vorgeprägt sind.18 Zwar besitzt jede Sprache aufgrund von Lautbestand und Grammatik Charakteristika, die sich in unübertragbaren Besonderheiten ihrer Dichtung zeigen; doch kennt die chinesische Sprache wegen ihrer andersgearteten Schriftlichkeit und ihrer weiteren hier dargestellten Eigenheiten bestimmte Formalia, deren ästhetischer Reiz – er liegt vor allem in der Bildlichkeit, ihrem tonalen Wohlklang und der Parallelführung – in Übersetzungen noch weniger vermittelbar erscheint, als dies bei lyrischen Formen ohnehin der Fall ist.19
Yin-Yang-Denken Wenn Achilles Fang bemerkt, der Parallelismus sei »ingrained in Chinese thinking«20, so hat dies noch einen anderen, nämlich eher philosophischen bzw. kosmologischen Hintergrund: das Yin-Yang-Denken, welches sowohl eine Erklärung für die Entstehung der Welt als auch Ordnungsvorstellungen liefert. Trotz eines Alters von mehr als 2500 Jahren hat es auch heute noch nichts von seiner Relevanz für chinesische Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster sowie für eine chinesische Ästhetik verloren. Es bildet gleichsam die Klammer aller geistigen Traditionen Chinas (wenn nicht sogar Ostasiens21), denn sowohl im Konfuzianismus, als auch 17 18
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S. hierzu Kap. III.1. Zur Bedeutung der Sprache, aber auch des Yin-Yang-Denkens, s. ROGER T. AMES: »Language and Interpretative Contexts«, in: DALE: Chinese Aesthetics and Literature, S. 15–26. S. hierzu auch KARL-HEINZ POHL: »Translating the Untranslatable – Approaches to Chinese Culture«, in: JOHN MINFORD (Hg.): Translation und Interpretation, München: Wilhelm Fink 1999, S. 179–188. ACHILLES FANG: »Some Reflections on the Difficulty of Translation«, in: A.F. WRIGHT (Hg.): Studies in Chinese Thought, Chicago: University of Chicago Press 1967, S. 273. Das Emblem auf der koreanischen Nationalflagge ist das Yin-Yang-Symbol zusammen mit vier (von acht) Trigrammen aus dem Buch der Wandlungen.
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EINLEITUNG
im Daoismus spielt dieses Modell eine zentrale Rolle. Schriftliche Gestalt hat dieses Denken in dem bereits erwähnten Buch der Wandlungen gefunden, und so ist dieser konfuzianische Klassiker (der auch zahlreiche daoistische Elemente besitzt) ebenfalls zentral zum Verständnis einer chinesischen Ästhetik. Dem Yin-Yang-Denken zufolge wird die Entstehung der Welt analog zum Entstehen menschlichen Lebens gesehen, und zwar als quasi kosmischer Geschlechtsakt zwischen zwei polaren Kräften, die jeweils Himmel (tian oder qian) und Erde (di oder kun) bzw. einem schöpferisch-männlichen (yang) und einem empfangenden/ bewahrenden weiblichen (yin) Prinzip zugeordnet werden. So heißt es im Buch der Wandlungen: Himmel und Erde kommen in Berührung, und alle Dinge gestalten sich und gewinnen Form. Das Männliche und Weibliche mischen ihre Samen, und alle Wesen gestalten sich und werden geboren.22
Wichtig ist, daß diese beiden Kräfte einander nicht gegenseitig bekämpfen (also nicht, biblisch gesprochen, Kräfte des Lichts darstellen, denen solche der Finsternis feindlich gegenüberstehen), sondern sich gegenseitig bedingen und ergänzen, folglich nur in ihrer Koexistenz bestehen können und in ihrem vereinigten Wirken alles entstehen lassen. Im Yin-Yang-Denken zeigt sich eine binäre Kosmologie und Weltsicht: So lassen sich alle Phänomene in zwei Klassen aufteilen, sei es im Blick nach oben oder nach unten, nach vorn oder nach hinten, heiß oder kalt, hoch oder tief, Himmel oder Erde, Sommer oder Winter, Frühling oder Herbst, Ost oder West, Süd oder Nord, etc. Allerdings ist dieser binär strukturierte Kosmos kein statisches Gebilde, sondern befindet sich aufgrund des Wirkens von Yin und Yang in einem ständigen Zustand des Wandels, der immer zu einem Ausgleich bzw. zu einem Zustand des dynamischen Gleichgewichts hin tendiert. Schließlich sind die »zehntausend Dinge« der Welt sowie die sie antreibenden Kräfte Yin und Yang nur äußere Manifestation eines letzten Urgrunds der Dinge, des »Weg« genannten Dao, der sich einer Beschreibung in Worte entzieht, sich jedoch (daoistisch) als unergründlicher und von selbst so (ziran) ablaufender »Weg« der Natur, oder (konfuzianisch) als der moralische »Weg« des Universums annähern läßt. Neben den linguistischen Merkmalen der chinesischen Sprache und Schrift bildet das Yin-Yang-Denken den Hauptgrund für eine auch in ästhetischer Hinsicht zu beobachtende Neigung, binäre Strukturen herauszubilden und die jeweiligen Seiten parallel zueinander durchzuführen. In der Dichtung äußert sich dies nicht nur im antithetischen Parallelismus, sondern auch in einer thematischen Gegenüberstellung bzw. Parallelführung von Natur und Menschenwelt, in der Malerei in der Vereinigung von Bergen (yang) und Gewässern (yin) in einem chinesischen 22
WILHELM: I Ging, S. 316.
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Sprache und Denken
Landschaftsbild. Die chinesische Bezeichnung für Landschaftsmalerei, shan-shuihua, heißt übersetzt: »Berg-Wasser-Malerei«. So bildet ein Landschaftsgemälde die von Yin und Yang geprägte binäre Ordnung der Welt ab. Wie die späteren Kapitel noch zeigen werden, ist die ganze chinesische Ästhetik voller – im Kunstwerk meist zu vereinigender – binärer Konzepte bzw. Gegensatzpaare, wie »Szenerie« (jing) und »Gefühl« (qing), »formale Ähnlichkeit« (si) und »Geist« (shen), »Öffnen« (kai) und »Schließen« (he), »Bewegung« (dong) und »Stille« (jing), »Talent« (cai) und »Lernen« (xue), um nur einige zu nennen. Nimmt man noch die Lehre von den sogenannten fünf Wandlungsphasen bzw. Elementen (wu xing, das sind: Holz, Metall, Erde, Feuer und Wasser) hinzu, so bilden diese zusammen mit dem Yin-Yang-Modell den Hintergrund eines ganzheitlichen und korrelativen Denkens, in welchem Mensch und Kosmos nicht nur eine Einheit darstellen, sondern – wie im magischen Denken – ein Entsprechungsverhältnis zwischen der Menschenwelt und seiner Umwelt bzw. dem Kosmos besteht. So wird die Welt als ein von diesen Kräften geformtes Muster (wen) gesehen; und da das Schriftzeichen für »Muster« auch Literatur (und Kultur) bedeutet, läßt sich hier eine Analogie zwischen dem Muster des Kosmos und literarischen Mustern herstellen23. Ebenfalls in den Bereich der Kosmologie und des Yin-Yang-Denkens gehört die Vorstellung einer »Vitalkraft« (qi – wörtl.: Atem), die nicht nur für den dauernden Wandlungsprozeß von Yin und Yang, sondern auch für alles Leben im Kosmos, einschließlich des Menschen, verantwortlich gesehen wird. Wenn es zum Beispiel im Buch der Wandlungen heißt, daß »die große Tugend (de) von Himmel und Erde darin besteht, Leben zu spenden«24, so ist das Agens dieser Leben spendenden Tugend eben die Vitalkraft qi. In Schriften zur Literatur und Malerei, gerade wenn es um schaffensästhetische Aspekte geht, taucht dieses Wort naturgemäß häufig auf, dies allerdings auch in einer schillernden Bedeutungsvielfalt: einmal als tatsächliche Lebenskraft, ein andermal als durch moralisches Handeln zu kultivierende geistige Kraft, dann aber auch als Lebendigkeit der Darstellung, individuelles Temperament oder auch herausragendes Talent.
Konfuzianismus Als die über zweitausend Jahre gültige Hauptlehre Chinas hat der Konfuzianismus, den man als Sozialethik oder Morallehre mit quasireligiöser Funktion verstehen kann, ebenfalls stark auf ästhetische Präferenzen gewirkt, vor allem in seiner Forderung nach einer beispielhaften moralischen Praxis und Kultiviertheit der intellektuellen Elite (d.h. der Literatenbeamten und Künstler). Daß große Kunst nur von moralisch großen Menschen stammen kann, ist eine immer wieder betonte 23 24
S. hierzu Kap. I.7 und II.4. Vgl. WILHELM: I Ging, S. 303.
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EINLEITUNG
und auf konfuzianische Vorstellungen zurückgehende Sichtweise. Und so wurden Dichtung, Schriftkunst und Malerei hauptsächlich als Spiegel des Charakters bzw. der Persönlichkeit betrachtet (shi/shu/hua ru qi ren). Deshalb ist die Tradition einer Literaturkritik, die wir in China haben, im wesentlichen eine Dichterkritik. Zwar wurden Dichter (und auch Maler) bisweilen in verschiedene Qualitätsklassen eingeteilt, wichtiger war jedoch eine poetisch-metaphorische Beschreibung ihres Charakters, wobei gerne auf geistige Qualitäten sowie auf ihre »Vitalkraft« Bezug genommen wurde.25 Ein anderes, auf konfuzianischem Denken beruhendes Element einer chinesischen Ästhetik ist die Neigung zu Ausgewogenheit, Harmonie (he) und »Maß und Mitte« (zhongyong). In Literatur und Kunst manifestiert sich dies vor allem in der Forderung nach einer Balance von Gehalt (zhi) und Gestalt (wen), wobei sich im Gehalt in idealer Weise der konfuzianische »Weg« (dao) widerspiegeln sollte. Dieser Topos, der zuerst hinsichtlich der Ausführung der Riten diskutiert wurde (die ja auch eine ästhetische Dimension besitzen), geht auf entsprechende Äußerungen des Konfuzius zurück26 und läßt sich durch die ganze Geschichte hindurch verfolgen. Bilden in der Frühzeit Gehalt und Gestalt noch eine Einheit, so wurde dieses Anliegen später (in der Song-Zeit, also etwa ab dem 11. Jh. n. Chr.) so formuliert, daß literarische Werke vor allem Träger bzw. Vermittler des konfuzianischen (moralischen) »Weges« sein sollten (wen yi zai dao), wodurch sich das Verhältnis der beiden Komponenten zu Lasten der Gestalt erheblich veränderte. Weiterhin läßt sich auch der Gedanke, daß Dichtung (und Musik) die Gesinnung oder Gefühle des Menschen auszudrücken hat (shi yan zhi), auf früheste konfuzianische Texte zurückführen. Zusammen mit dieser Formulierung finden wir dort auch die Maßgabe, daß der Gefühlsausdruck andeutungsvoll-metaphorisch (xing) durch Naturbilder erfolgen soll. Insofern steht der Konfuzianismus (in der Terminologie von M.H. Abrams) nicht nur für eine ausgesprochen pragmatische bzw. moralisch-didaktische (zai dao), sondern auch für eine expressive (yan zhi) Sicht der Literatur.27
Daoismus Der Daoismus bildet als Naturphilosophie und (Über-)Lebenskunst den Gegenpol zum moralisch strengen Konfuzianismus.28 Nicht zuletzt aufgrund seiner mysti25
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S. ERIC ZÜRCHER:, »Recent Studies on Chinese Painting«, in: T'oung Pao 51 (4–5) 1964, S. 377–422. S. Kap. I.2. S. M.H. ABRAMS: Spiegel und Lampe. Romantische Theorie und die Tradition der Kritik [The Mirror and the Lamp], München: Fink 1978. JAMES J.Y. LIU hat in seinem Chinese Theories of Literature, Chicago: University of Chicago Press, 1975, Abrams’ Muster aufgenommen und modifiziert. Hier wird gegebenenfalls auf Abrams’ Kategorien verwiesen. Die religiöse Form des Daoismus wird hier weitgehend außer Acht gelassen.
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schen, eher freiheitlichen (nämlich natürlichen) und phantasieanregenden Seiten wird er gerne mit einer chinesischen Kunstphilosophie oder Ästhetik in Verbindung gebracht.29 An erster Stelle wäre in dieser Hinsicht die Vorstellung zu nennen, daß ein Kunstwerk in idealer Weise wie das unergründliche Werk der Natur (dao) entstehen sollte, also ohne bewußtes Steuern (wuwei, wörtl.: »nicht tun«) bzw. ganz »von selbst so« (ziran). Diesen Gedanken einer primitivistischen Schaffensästhetik hat insbesondere das Buch Zhuangzi anhand von etlichen anregenden und höchst nachwirkungsreichen Geschichten veranschaulicht, was zu dem wichtigen daoistischen Topos einer »kunstlosen Kunst« bzw. »Regel der Regellosigkeit« (wu fa zhi fa) geführt hat.30 Den Wandlungen von Yin und Yang liegt das unfaßbare Dao zugrunde, doch gibt es chinesischen Vorstellungen zufolge auch mysteriöse spirituelle Kräfte, die sich in diesem Wirken erahnen lassen, und diese werden im Buch der Wandlungen (und im Zhuangzi) als shen (wörtl.: Götter oder Geister) bezeichnet.31 Entsteht ein Kunstwerk wie das unergründliche Werk der Natur, so spiegelt es diese ebenfalls unergründlichen spirituellen Qualitäten (shen) wieder. Neben der Vitalkraft qi sollte dieses Wort shen (das bisweilen auch synonym mit »Vitalkraft« gebraucht wird) zu einem der wichtigsten Begriffe in der chinesischen Ästhetik werden.32 So nennt der songzeitliche Kritiker Yan Yu die höchste Stufe der Dichtung: »Eingehen ins Spirituelle« (ru shen). Auf den daoistischen Klassiker Zhuangzi läßt sich jedoch auch ein Gedanke zurückverfolgen, der vordergründig im Widerspruch zu dieser gerade postulierten Natürlichkeit (ziran bzw. wuwei) zu stehen scheint, daß nämlich nur lange und ausdauernde Übung (gongfu)33 den Meister macht. Der Widerspruch löst sich insofern auf, als erst auf der höchsten Stufe der Meisterschaft und Perfektion – also nach langem Üben – der Schaffensprozeß spontan und wie das Werk der Natur geschehen kann. Dies manifestiert sich dann in einem vollkommenen Kunstwerk von wiederum »spiritueller/unergründlicher Qualität« (shen pin), das keine Spuren seines künstlerischen Entstehensprozesses verrät. In dieser Besonderheit zeigt 29
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S. dazu beispielhaft CHANG CHUNG-YUAN: Creativity and Taoism. A Study of Chinese Philosophy, Art and Poetry, New York: Julian Press 1963 (deutsch: Tao, Zen und schöpferische Kraft, Köln: Diederichs 1975). S. Exkurs 3 in Teil VI. WING-TSIT CHAN: A Source Book in Chinese Philosophy, Princeton: Princeton UP 1963, S. 266. S. auch ZONG-QI CAI: »The Conceptual Origins and Aesthetic Significance of ›Shen‹ in Six Dynasties Texts on Literature and Painting«, in: CAI: Chinese Aesthetics, S. 310–142. Das stete, harte Üben in Anlehnung an ein Vorbild oder einen Meister wird auf Chinesisch gongfu genannt. Dieses Wort, das wir hier inzwischen in seiner eingedeutschten Form – Kungfu – als Synonym für chinesisches Karate verwenden, betrifft allerdings nicht nur die Kampfkünste (diese zwar besonders stark), sondern bezeichnet die Übungspraxis – und die daraus resultierende Leistung – in jeder der traditionellen Künste Chinas, also auch in der Dichtung und Malerei. Allein aufgrund dieses Zusammenhangs wären die Kampfkünste als wesentlicher Teil einer chinesischen Ästhetik zu betrachten.
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EINLEITUNG
sich auch ein anderer Grundzug der chinesischen Ästhetik (und ein wesentlicher Unterschied zu westlichen Trends): Es geht meist um handwerkliche Perfektion innerhalb einer Tradition und weit weniger um Originalität, Innovation und Genie, wie in der romantischen und postromantischen westlichen Ästhetik, worin das Handwerkliche zugunsten des Originellen und Konzeptionellen weitgehend geopfert wurde. Demgegenüber hätten die chinesischen Dichter und Künstler wohl eher dem (mal Schiller, mal Goethe oder auch Fontane zugeschriebenen) Satz zugestimmt: »Genie ist Fleiß.« Im Zhuangzi (sowie im Buch der Wandlungen) ist schließlich auch ein nachwirkungsreicher sprachskeptischer Gedanke angelegt, daß nämlich die Sprache letztlich nicht in der Lage ist, in umfassender Weise einen Sinn zu vermitteln. Für die Ästhetik heißt dies, daß der eigentliche Sinn eines Kunstwerks jenseits des Wortes (in der Dichtung) oder jenseits des gemalten Bildes (in der Malerei) liegt. Daraus hat sich in tangzeitlichen Schriften (bei Sikong Tu) eine eigene »Jenseits«-Rhetorik – »Bilder jenseits der Bilder«, »Szenerien jenseits der Szenerien« etc. – entwickelt. Diese jenseits des geschriebenen Wortes (yan wai) oder jenseits formaler Ähnlichkeit in der Malerei zu findende Qualität eines Kunstwerks wurde zu einem höchst folgenreichen Topos der chinesischen Ästhetik. Zu beachten ist, daß mit diesen »jenseitigen« Eigenschaften – werkästhetisch gesehen – zwar Qualitäten des Kunstwerks selbst erfaßt werden, dabei gleichzeitig aber auch – rezeptionsästhetisch – die Wirkung auf den Rezipienten in den Blick gerät: Im Betrachten oder Lesen eines Kunstwerk vermag dieser einen unerschöpflichen Reiz an Assoziationen bzw. »Nachgeschmack« (wei) zu genießen.
Buddhismus Die Einflüsse des Buddhismus auf eine chinesische Ästhetik sind aufgrund von »Familienähnlichkeiten« mit dem Daoismus mitunter schwer von Einflüssen des letzteren zu unterscheiden, denn der Buddhismus (der im 1. Jh. n. Chr. nach China gelangt war) hat in seiner Verbindung mit dem Daoismus ganz spezifisch chinesische Formen – vor allem im Chan-Buddhismus (jap.: Zen) – hervorgebracht. An buddhistischen Elementen, die in einer chinesischen Ästhetik zum Tragen kämen, wäre wohl an erster Stelle die Dialektik von Leere (kong) und Form (se) zu nennen. Die Leere (als frei gelassener Raum) spielt z.B. in der chinesischen Malerei eine wichtige Rolle.34 Auch bei manchen Dichtern (vor allem bei Wang Wei) nimmt das Wort »Leere« einen prominenten Platz ein. Doch aus der Sicht der einflußreichen buddhistischen Schule des »Mittleren Weges« (Madhyamika) gesehen bedeutet »leer« (kong) nicht »nichts«, oder daß die Welt nicht existiert, sondern daß nichts aus sich selbst heraus existiert, daß vielmehr alle Existenz bloß dem flüchtigen 34
S. FRANÇOIS CHENG: Fülle und Lehre. Die Sprache der chinesischen Malerei, Berlin: Merve 2004.
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Zusammenspiel und der gegenseitigen Bedingtheit von Daseinsfaktoren zuzuschreiben ist; nur so verstanden sind die Erscheinungen der Welt nichtig oder »leer«. Mit anderen Worten, nichts hat aus sich selbst Bestand, und es gibt nichts, worauf man sich als »Substantielles« verlassen könnte. So wird in der künstlerischen Darstellung von Leere und Form bzw. Leere und Fülle keine Einseitigkeit, sondern eher eine gegenseitige Durchdringung (die Mitte) gesucht, denn, um es in den berühmten Worten des einflußreichen »Herz-Sutras« (Xinjing) zu sagen: »Form ist nicht verschieden von Leere, und Leere ist nicht verschieden von Form. Form ist Leere, und Leere ist Form.«35 So dient bisweilen sogar die Fülle dazu, die Leere der Welt aufscheinen zu lassen – z.B. in dem großen (hier jedoch nicht behandelten) qingzeitlichen Roman Der Traum der roten Kammer (Hongloumeng), worin die ganze Fülle der Darstellung (auch die Leidenschaften der Protagonisten) letztlich dazu dient, die Eitelkeit des Lebens zu bezeugen und somit die buddhistische Lehre der Leere zu vermitteln.36 In diesem Zusammenhang wären auch gewisse ästhetische Grundlinien in Ost und West hervorzuheben: Im Unterschied gerade zu westlichen Präferenzen in der Ästhetik (vor allem der Moderne), nämlich der Tendenz, Kunst vornehmlich als Selbstausdruck bzw. als Weg der Selbstentfaltung oder Selbstverwirklichung aufzufassen, finden wir im Kontext des Buddhismus (in welchem das Selbst als »leer«, nämlich als Fiktion betrachtet wird) eher eine Neigung – mit aller Behutsamkeit vor derartigen Verallgemeinerungen – zu Selbstentleerung bzw. Selbsttranszendenz oder Selbstvergessenheit. Ästhetisch einflußreich war vor allem der Chan-Buddhismus. In der Malerei hat es eine ausgesprochen chan-buddhistische Richtung gegeben, die sich durch ihre skizzenhafte, spontane und ungekünstelte – kunstlose – Malweise auszeichnet und später in Japan schulbildend wurde.37 Daneben wurden aber auch ab der SongZeit (10. Jh.) chan-buddhistische Elemente in Analogie zu Dichtung und Malerei erörtert. Vor allem sah man die »Erleuchtung« (wu) des Chan analog zur Dich35
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Wenn Form nichts anderes als Leere ist, so bedeutet dies, daß die sonst im Buddhismus so scharf getrennten Bereiche des Samsara (die Welt der Wiedergeburten) und Nirvana (die Erlösung davon) ein und dasselbe sind. S. MICHAEL VON BRÜCK: Buddhismus. Grundlagen – Geschichte – Praxis, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1998, S. 220. Diese Lesart des Romans ist in den der eigentlichen Geschichte vorausgehenden Passagen am Anfang des ersten Kapitels (um Kongkong Daoren, der die ganze Geschichte des Romans in einem »Prolog im Himmel« erfährt) vorgezeichnet. David Hawkes übersetzt: »As a consequence of all this, Vanitas [Kongkong Daoren], starting off in the Void [kong] (which is Truth) came to the contemplation of Form [se] (which is Illusion); and from Form engendered Passion [qing]; and by communicating Passion, entered again into Form; and from Form awoke to the Void (which is Truth).« CAO XUEQIN: The Story of the Stone (Übers. David Hawkes), London: Penguin 1973, Bd. 1, S. 51. S. OSVALD SIRÉN: The Chinese on the Art of Painting. Translations and Comments, New York: Schocken 1963, S. 91ff.
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tung, nämlich insofern, als eine »erleuchtete« Dichtung (nach Richard John Lynn) weniger inhaltlich und werkästhetisch eine buddhistische Sicht der Welt, sondern vielmehr – schaffensästhetisch – eine chan-buddhistisch verstandene intuitive Beherrschung der Kunst widerspiegelt. In diesem Zusammenhang fand eine rege Diskussion um eine dialektische Einheit von »Regel« (fa) und »Erleuchtung« statt. Die dabei gefundene Einheit liegt nun nicht einfach darin begründet, daß eine »Erleuchtung« (wie im Zusammenhang von Zhuangzi bereits angedeutet) nur über regelhaftes, methodisches Üben zu erreichen ist (gongfu), vielmehr ist sie auch in einem Wortspiel angelegt: Fa bedeutet nämlich nicht nur »Regel/Methode«, sondern auch Dharma, also die höchste buddhistische Wahrheit. Und wenn – nach buddhistischen Vorstellungen – selbst vom Dharma (als höchster Wahrheit) losgelassen werden muß, nämlich als nur eines weiteren der vielen weltlichen Phänomene (so die Grundbedeutung von Dharma), dann liegt »Erleuchtung« gerade auch im Loslassen von »Regeln« (Dharma/fa). Neben Regel/Dharma und Erleuchtung gab es noch einen weiteren Terminus des Buddhismus, der ästhetisch bedeutsam wurde: die »Vorstellung« (jìng). Dieses Wort, das zunächst von Wang Changling in der Tang-Zeit in die Literaturdiskussion eingeführt wurde und das von seinen buddhistischen Ursprüngen her einen bewußtseinsanalytischen Hintergrund besitzt (nämlich wie anschauliche Vorstellungen von den Dingen zu geistigen Prozessen werden), wurde vor allem am Ende des hier zu behandelnden Zeitraums, nämlich am Anfang der Moderne, wieder aufgegriffen (von Wang Guowei). Die daraus hervorgegangenen spezifischen Wortprägungen wie »Vorstellungswelt/Bewußtseinszustand« (jìngjie) bzw. »künstlerische Vorstellung/Idee« (yijìng) beinhalten vor allem den Gedanken, daß in großer Dichtung eine Verschmelzung von anschaulicher Szenerie und menschlichem Gefühl erfolgen soll. Außerdem kulminiert in dieser Begrifflichkeit die im Zusammenhang des Daoismus eben angerissene und lange zurückreichende Ästhetik des »Jenseitigen«, daß nämlich der eigentliche Sinn eines Kunstwerks jenseits des Wortes oder des gemalten Bildes liegt. In der Nachfolge von Wang Guowei sind diese Wortprägungen zu den meist benutzten und (aufgrund der notorischen Knappheit der Ausdrucksweise sowie der nicht leicht zu fassenden Inhalte, die auch Einflüsse von Kant und Schopenhauer bergen) meist diskutierten Begriffen der modernen chinesischen Ästhetik geworden.
Eine enggefaßte Ästhetikgeschichte Der zeitgenössische chinesische Ästhetiker Li Zehou hat einmal zwischen einer eng- und weitgefaßten chinesischen Ästhetikgeschichte unterschieden, wobei er in seinem populären Buch Der Weg des Schönen eine weitgefaßte vorgelegt hat. Darin wurden nämlich von der Jungsteinzeit an, über Keramik, Bronzen, Skulpturen und Architektur, alle ästhetisch relevanten Kunstformen und Entwicklungen behandelt. Der vorliegende Band, kann und will dies nicht leisten. Der Fokus liegt
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auf der Literatur, vor allem auf der Reflexion über die Dichtung, und schließt die Malerei (und Aspekte der Schriftkunst) lediglich in kürzeren Exkursen ein. Insofern orientiert er sich an den Künsten der Gelehrten – Dichtung (shi), Schriftkunst (shu) und Malerei (hua) – bzw. an ihren diesbezüglichen Äußerungen, was in Li Zehous Sicht einer »enggefaßten Ästhetik« entspricht.38 An eigentlichen Kunstwerken werden deshalb lediglich einige Gedichte exemplarisch vorgestellt und besprochen. Alle in dieser Einleitung nur angerissenen Themen werden in den folgenden Kapiteln ihrem chronologischen Auftritt gemäß ausführlicher gewürdigt und jeweils in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Dabei läßt sich über die Jahrhunderte beobachten, wie sich eine spezifisch ästhetische Begrifflichkeit herausbildet, die zwar ihren Ursprung und Bezug zu den Lehren wie Konfuzianismus und Daoismus nie verliert und insofern auch immer im philosophischreligiösen Kontext erörtert werden muß, die gleichwohl ein Eigenleben entwickelt. Das Besondere an dieser Begrifflichkeit – und dazu gehören Wörter wie die bereits erwähnte »Vitalkraft« (qi), »Geist/unergründliches göttliches Wirken« (shen), »harmonischer Nachklang« bzw. Reim (yun), »Anregung/Adeutung« (xing), um nur einige wenige zu nennen – ist einerseits ihr schillernder Inhalt, der sich meist nicht auf eine bestimmte Übersetzung einengen läßt, andrerseits ist es der gänzlich andere und oben nur kurz vorgestellte philosophisch-religiöse Bezugsrahmen, der Schwierigkeiten bereitet. Die Begriffe besitzen in ihrer spezifischen kulturellen Ansiedlung einen Bedeutungshorizont, der uns fremd ist und der diese immer wieder erklärungsbedürftig und fast unübersetzbar macht.39 Zudem läßt sich in chinesischen literatur- und kunsttheoretischen Erörterungen eine Neigung zu Mystifizierung beobachten; diese mag bisweilen höchst faszinierend erscheinen, bisweilen wirkt sie aber auch intellektuell unbefriedigend. Insofern bedeutet eine Erkundung der chinesischen Literaturreflexion und Ästhetik eine Reise in ein anderes Denksystem mit anderen Signalposten und Meilensteinen. Gleichwohl wird für den Kenner auch immer wieder Verwandtes und Ähnliches zu unserer eigenen Literatur und Ästhetik aufscheinen.
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LI ZEHOU: Der Weg des Schönen. Wesen und Geschichte der chinesischen Kunst und Ästhetik (Hg. Karl-Heinz Pohl), Freiburg: Herder 1992, S. 10f. So werden auch in vielen diesbezüglichen Darstellungen die Termini häufig nur in der Lautschrift wiedergegeben; in der vorliegenden Studie wird stattdessen der Versuch unternommen, immer eine Übersetzung – manchmal auch mehrere – anzubieten, wohl wissend jedoch, daß dies oft nicht genügt. S. zu dieser Thematik auch ADELE AUSTIN RICKETT: »Technical Terms in Chinese Criticism« in: Literature East and West, XII, 2,3,4 (Dec. 68), S. 141–147, WANG XIAOLU: »Critical Terms and Literary Tradition« in: Ex/Change (Centre for Cross-Cultural Studies, City University of Hong Kong), 9 (Feb. 2004), S. 10–13.
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Teil I
Von der Zhou- bis zur Han-Zeit (11. Jh. v. – 3. Jh. n. Chr.)
1. Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder Was verstand man im alten China unter »Literatur«? Das Schriftzeichen wen, das in der heutigen Kombination wenxue (wörtl.: Lehre vom Schrifttum) für »Literatur« steht, hat die ursprüngliche Bedeutung »Muster (gekreuzter Linien)«. In der klassischen Zhou-Periode umfaßte dies auch »Gestaltung« sowie »rhetorischer Schmuck« etc. – also schönes Äußere im Gegensatz zu Substanz oder innerem Wesen (zhi). Davon abgeleitet sollte wen später auch im Sinne von formal gestalteter Literatur im Gegensatz zu Gebrauchsprosa (bi) gebraucht werden. Eine weitere wichtige Bedeutung von wen ist »zivil«, »zivilisierend« bzw. »kultivierend«, was auch heute noch in dem modernen Begriff für »Kultur« (wenhua) mitschwingt. Hier ist wen im Gegensatz bzw. in Ergänzung zu wu, dem Kriegerischen/Martialischen, zu sehen.1 Im Schriftzeichen wen steckt demnach ein ästhetischer (schöne Gestalt), aber auch ein erzieherischer, kultivierender Aspekt. Das Wort wen wurde in der Bedeutung als »Schrifttum« (Literatur) jedoch erst ab der späten Han-Zeit (ca. 2. Jh. n. Chr.) gebraucht. Was galt als Literatur im schöngeistigen Sinne in der Zeit davor? Für eine hier zu konstruierende frühe »Literaturtheorie« ist diese Frage insofern von Bedeutung, da Theorie (und Kritik) – als Reflexion über die vorhandene Literatur – immer in engem Verhältnis zu den eigentlich künstlerischen Werken der jeweiligen oder vorausgehenden Zeit stehen. Zum Beispiel steht die Poetik des Aristoteles in direktem reflexivem Bezug zu den Epen, Tragödien und der Lyrik der griechischen Klassik. Epen und Tragödien wie im griechischen Altertum hat es jedoch in der chinesischen Frühzeit (und auch danach) nicht gegeben; das wichtigste literarische Medium war vielmehr die lyrische Dichtung, wie sie uns in der Form des shi-Gedichts vom 10. bis zum 7.–6. Jahrhundert v. Chr. in dem ab der Han-Zeit als Klassiker kanonisierten Buch der Lieder (Shijing), überliefert sind. Die frühe chinesische Literaturreflexion (und auch fast ausschließlich die spätere) ist also in bezug auf die shi-Dichtung zu betrachten. Bevor wir auf die Wesensmerkmale dieser frühen chinesischen Lyrik eingehen, muß zunächst in aller Kürze das Buch der Lieder vorgestellt werden, von dem Sinologen sagen, daß es an Wichtigkeit in der chinesischen Literaturgeschichte, insbesondere an Einfluß auf die spätere Zeit, unübertroffen sei. Der Liederklassiker beinhaltet eine Sammlung von Volksliedern, höfischen Weisen und rituellen Hymnen, und zwar aufgeteilt in folgende Teile: 1. 160 guofeng (Brauchtums- oder Volkslieder der [15] Staaten). An Inhalt finden wir hier Liebeswerben, Feste, Jagden, Arbeits-, Spiel- und Tanzlieder, betrogene 1
In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß die beiden wichtigsten Gründungsfiguren der von den Konfuzianern so verehrten Zhou-Dynastie ein König Wen und ein König Wu – mit eben diesen Namensbedeutungen – waren.
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Männer, vernachlässigte Frauen, grausame Beamte, frustrierte Soldaten – kurz ein Kaleidoskop der archaischen chinesischen Gesellschaft. 2. 74 xiao ya (kleine höfische Lieder). Diese kultivierten eleganten (ya) Weisen handeln meist von Höflingen und Aristokraten, also nicht vom gemeinen Volk wie die erste Sektion; die Thematik ist jedoch hinsichtlich Liebe und Festivitäten mit jenem Teil vergleichbar. 3. 31 da ya (große höfische Lieder). Die Thematik dieser Gruppe ist mehr politischnational (viele Lieder handeln von der Entstehung der Zhou-Dynastie) bzw. am Herrscherhaus interessiert. 4. 40 song (Opferlieder). Diese wohl ältesten Weisen aus dem Klassiker sind zeremonielle Lieder oder Lobeshymnen auf die Fürstenhäuser, aufgeteilt nach drei Staaten bzw. Gruppen: Zhou, Lu und Shang (Song). In der Überlieferung des Buchs der Lieder wird dem Konfuzius eine wichtige Rolle zugeschrieben. Traditionellen Auslegungen zufolge soll er etwa dreihundert (genau 305) Stücke von insgesamt 3000 aufgrund ihres gesitteten Inhalts ausgewählt haben2. Zu Zeiten des Konfuzius stand jedenfalls der jetzige Inhalt schon fest: So gut wie alle in historischen Werken zitierten Gedichtzeilen aus dem Shijing finden sich in der uns heute vorliegenden Fassung wieder. Man sprach kollektiv von den »dreihundert Liedern« (shi san bai) oder – da die Volklieder der Staaten (feng) und die höfischen Lieder (ya) die wichtigsten Teile darstellten – von den fengya.
1.1 Mythos und Etymologie – Ursprünge der Lieder Die shi-Gedichte besitzen bereits alle Eigenschaften dessen, was wir als ein typisch chinesisches Gedicht empfinden. Sie waren somit im höchsten Maße stil- und gattungsbildend. Was ihre Grundzüge an Form, Stil und Inhalt betrifft, so lassen sich die Merkmale, insbesondere der Gedichte aus der ersten und wichtigsten Gruppe der Volkslieder aus den Staaten (guofeng), wie folgt zusammenfassen: – Die Form der Gedichte ist klar und meist mit alternierendem Endreim strukturiert, wobei die Zeilen meist aus vier Zeichen und die Strophen aus vier oder sechs Zeilen bestehen. – Häufig finden sich lautliche Mittel wie Verdopplungen von Adjektiven, Alliteration oder Lautmalerei. – Inhaltlich handeln viele vom Dienst am Fürsten und an den Ahnen, vom Leben und von den Pflichten in der Familie sowie von Festen und Gebräuchen. 2
Dabei hat er wohl ein paar eklatante Exemplare, die ganz eindeutig von freizügigen Liebesabenteuern sprechen, übersehen; s. z.B. das Gedicht Nr. 23, JAMES LEGGE: The She King or the Book of Poetry, Taipei: Southern Materials Center (repr.) 1985, S. 34. In der späteren moralisierenden Auslegung wurden derartige Gedichte konfuzianisch korrekt als Metapher für loyale Beziehungen zwischen Fürst und Beamten uminterpretiert. S. dazu den Abschnitt weiter unten (Kap. I.1.3).
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Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder
– Stilistisch zeigen sich bereits Merkmale, die für die ganze Geschichte der chinesischen Lyrik wegweisend sind, nämlich die Kürze und metaphorisch suggestive Ausdrucksweise – es wird etwas über den eigentlichen Text Hinausweisendes gesagt. Wichtig für das Verständnis dieser lyrischen Gattung und Form ist ihre Entstehungsgeschichte. Wie alle Literatur und Kunst hat auch die chinesische Dichtung ihren Ursprung im rituellen bzw. religiösen Umfeld, wozu Schamanentum und Totemismus gehören3. So wurden die Lieder – sei es zu Ahnenopfern oder anderen zeremoniellen Anlässen – gemeinsam mit Musik und Tanz intoniert bzw. rezitiert. Die Ursprünge der Lieder des Shijing in Riten und Festen des Volkes und ihrem gesellschaftlichen Kontext hat der französische Sinologe Marcel Granet 1919 in einer bahnbrechenden Arbeit aufgezeigt.4 Nach Chen Shih-hsiang ist das Unternehmen, den frühesten Auffassungen von Dichtung nachzuspüren, wie eine Rückkehr zur ursprünglichen geistigen Heimat des Menschen.5 Das Schriftzeichen für shi (Gedicht/Lied) ist nicht als Orakelknochen-Zeichen überliefert, d.h., wir kennen es erst ab der frühen Zhou-Zeit; die shi-Gedichte müssen im Zusammenhang von Gesang und Tanz eine solch große Rolle gespielt haben, daß man ihnen einen eigenen Namen gab.6 Wenn wir shi (䀽) aus der Etymologie des Schriftzeichens in seiner ursprünglichen siegelschriftlichen Form heraus zu verstehen suchen, so findet sich auf seiner linken Seite das Zeichen für Sprechen/Worte (㿔 yan) und im rechten Bestandteil das Zeichen zhi (ℶ), welches »gehen/anhalten« bedeutet (in der modernen Form des Schriftzeichens ist dieser Zusammenhang nicht mehr unmittelbar einsichtig). Also könnte man shi definieren als »[Kunst der] Worte mit [metrischem/rhythmischem] Gehen«7. Die 3
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WOLFGANG KUBIN: Die chinesische Dichtkunst, München: Saur 2002, S. xiii, und LI, Der Weg des Schönen, S. 23–42. Zum Ursprung der chinesischen Dichtung s. HELWIG SCHMIDTGLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, Bern: Scherz, 1990, S. 27ff, REINHARD EMMERICH (Hg.): Chinesische Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler 2004, S. 13ff. MARCEL GRANET : Fêtes et chansons anciennes de la Chine, Paris: Librairie Ernest Leroux 1919. Bei Mo Di (5. Jh. v. Chr.), der die Neigung der Konfuzianer für Ritual und Musik kritisierte, heißt es über die Beliebtheit der Lieder bei konfuzianischen Riten: »Man rezitiert die dreihundert Lieder, spielt die dreihundert Lieder auf Seiteninstrumenten, singt die dreihundert und tanzt zu den dreihundert.« Mozi, Kap. 48, in: HYSIS (Suppl. 21), A Concordance to Mo Tzu, San Francisco: Chinese Material Center 1974, S. 86. CHEN SHIH-HSIANG: »In Search of the Beginning of Chinese Literary Criticism«, in: University of California Publications in Semitic and Oriental Philology, vol. XI, 1951. S. auch ders.: »The Shih-ching: Its Generic Significance in Chinese Literary History and Poetics«, in: CYRIL BIRCH (Hg.): Studies in Chinese Literary Genres, Berkeley: University of California Press 1974, S. 8–41. Das Schriftzeichen shi erscheint selbst dreimal im Buch der Lieder, und zwar in den Liedern 200, 252 und 259. Diese und weiteren interessanten, jedoch in diesem Kontext zu weit führenden etymologischen Untersuchungen finden sich bei CHOW TSE-TSUNG in seinem umfangreichen Beitrag
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Bestandteile des Zeichens weisen demnach auf einen Ursprung als rhythmische Wortkunst hin, die im Zusammenhang mit Bewegung/Tanz zu sehen ist. Man sieht, eine suggestiv assoziierende Art sich zu äußern – was wir als Wesensmerkmal der chinesischen Dichtung kennen lernen werden –, begegnet uns bereits im Schriftzeichen selbst. Für das, was unter shi – eher psychologisch gesehen – verstanden wurde, tauchte jedoch schon früh ein anderes Zeichen auf: zhi (ᖫGesinnung, Intention, Absicht, Wille), wobei dessen Aussprache im rekonstruierten archaischen Chinesisch die gleiche ist wie bei dem eben erwähnten zhi – »gehen/anhalten«. So heißt es im ältesten chinesischen etymologischen Wörterbuch aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., Xu Shens Erklärung der Schriftzeichen (Shuowen jiezi), definitorisch: »Dichtung ist Gesinnung/Intention« (䀽ᖫг shi zhi ye)8 – eine Gleichsetzung, die höchst nachwirkungsreich geworden ist. Man sieht die Verwandtschaft der beiden Zeichen shi (Dichtung) und zhi (Gesinnung) am besten in ihren alten siegelschriftlichen Versionen: Beide Zeichen besitzen das Element zhi (gehen/anhalten), wobei das Schriftzeichen für »Dichtung« dieses Element mit dem Klassenzeichen »Sprechen« (yan), und »Gesinnung« es mit dem Klassenzeichen »Herz/Geist« (ᖗ xin) verbindet. »Gesinnung« (zhi) wäre somit das, »wo das Herz hingeht«, »Dichtung« (shi) hingegen bedeutet, dieses (»wo das Herz hingeht«) in Worte (yan) zu fassen.9 Man hat hier demnach eine Verbindung – oder Abfolge eines Prozesses – vom Psychischen zum Physischen, oder von innen gedacht und nach außen formuliert. Diese formelhafte Gleichsetzung (um nicht zu sagen Synonymität) erscheint zum ersten Mal in einem bedeutsamen Zusammenhang im Kapitel »Shundian« des Klassikers Buch der Urkunden (Shujing). An dieser als locus classicus zu wertenden Stelle befiehlt der legendäre Herrscher Shun seinem Minister Kui, sich der Musik anzunehmen, und zwar mit den Worten: Ich befehle dir, Kui, walte der Musik und lehre die Nachkommen, daß sie aufrecht und dennoch milde, weitherzig und doch genau, hart, doch ohne Grausamkeit, hochsinnig, aber ohne Hochmut seien. Denn im Gedicht wird die Gesinnung zu Worten (shi yan zhi) und im Liede das Wort zur Melodie. Die Stimme folgt der Melodie; die Stimmpfeifen klingen mit der Stimme überein. So können die acht
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»The Early History of the Chinese Word shih (Poetry)«, in: Wen-lin – Studies in the Chinese Humanities, Madison: University of Wisconsin Press 1968, S. 151–210. S auch LIU: Chinese Theories of Literature, S. 67f. Im Zusammenhang des Gehens (mit Füßen) ist an die Bezeichnung »Versfuß« bzw. an das englische »foot« für Metrum zu erinnern. XU SHEN: Shuowen jie zi, j. 3A, Peking: Zhonghua shuju 1963, S. 51. Im Shuowen jiezi (j. 10B, S. 217) wird zhi (Gesinnung) als yi (Idee/Absicht) definiert und umgekehrt. Eine philologisch gründliche (philosophisch-interpretatorisch bisweilen eigenwillige) Behandlung dieser Thematik findet sich in HERMANN-JOSEF RÖLLICKE: Die Fährte des Herzens – Die Lehre vom Herzensbestreben (zhi) im Großen Vorwort zum Shijing, Berlin: Dietrich Reimer 1992.
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Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder tönenden Geräte harmonisiert werden. Keines erhebt sich über das andere. Menschen und Götter leben in Einklang.10
Man beachte hier sowohl den moralisch-didaktischen Aspekt als auch die Vision einer harmonia mundi als Ergebnis einer Musik von guter Gesinnung, mit der die Passage ausklingt. Die Formulierung »Dichtung drückt die Gesinnung aus« (䀽㿔ᖫshi yan zhi) findet sich auch in Form mehrerer Varianten, so z.B. im Musikkapitel des Buchs der Riten (Liji). Dort heißt es über den Zusammenhang zwischen Musik und der Tugend (de) eines konfuzianischen »Edlen« (junzi): Dichtung drückt seine Gesinnung aus (shi yan qi zhi), Lieder lassen seinen Klang ertönen, Tanz läßt sein Äußeres sich bewegen. Die drei haben ihren Ursprung im Herzen, später folgen ihnen die Musikinstrumente.11
In dieser Passage wird einerseits der gemeinsame Ursprung von Dichtung, Musik und Tanz deutlich, andererseits auch wieder, da kontextuell von der Tugend (de) des Edlen die Rede ist, der moralisierende und didaktische Bezug. Schließlich ist zhi nicht einfach jedermanns Gesinnung, sondern die hohe und tugendhafte Gesinnung eines Weisen oder Edlen. Ist die Formulierung »Dichtung drückt die Gesinnung aus« nun so zu verstehen, daß ein Gedicht – von wem auch immer – einfach die innersten Gedanken bzw. die Gesinnung des jeweiligen Autors in Worte faßt? Oder bedeutet der Satz, daß Gedichte (im frühen Gebrauch des Wortes shi waren damit nur die Gedichte des »Liederklassikers« gemeint) dazu dienten, um bestimmte politische oder moralische Absichten in Worte zu fassen bzw. durch die Blume auszudrücken – eine Art, sich andeutungsreich metaphorisch in einem öffentlichen Rahmen auszudrücken? Die Antwort darauf muß wohl lauten, daß beides gemeint sein kann. »Gesinnung« (zhi) läßt sich einerseits als persönliche, mit individuellen Gefühlen in Zusammenhang stehende Absichten und die »Gesinnung ausdrücken« (yan zhi) also als Ausdruck subjektiver Gesinnung verstehen, was einer expressiven Funktion der 10
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Übers. GÜNTHER DEBON, Ostasiatische Literaturen. Neues Handbuch der Literaturwissenschaft (23), Wiesbaden: Aula 1984, S. 39; JAMES LEGGE: The Shoo King or the Book of Historical Documents, Taipei: Southern Materials Center (repr.) 1985, S. 48. Wie authentisch diese Stelle ist, soll hier nicht Gegenstand der Erörterung sein. Ob der Text nachträglich (in der Han-Zeit) ergänzt wurde oder nicht, ändert nichts an der Bedeutung für die Rezeption in dem hier behandelten Zeitraum. Liji, Kap. 19. Vgl. RICHARD WILHELM (Übers.): Li Gi. Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche, Köln: Diederichs 1981, S. 83. Eine andere Stelle ist im Kommentar des Zuo (Zuozhuan, Xiang 27). Auch Xunzi, dessen Werk ohnehin im engen entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang des Musikkapitels des Buchs der Riten gesehen wird (s. Kap. I.4), übernimmt diese Formulierung. Über die Weisen des Altertums sagt er: »Was wir in den ›Liedern‹ ausgedrückt finden, sind deren Absichten«, Xunzi, Kap. 8.
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Dichtung entspräche (und so wurde der Satz insbesondere in der frühen chinesischen Moderne interpretiert). Andrerseits – und für die damalige Zeit wichtiger – muß zhi zunächst als politische, öffentliche Absicht betrachtet werden; so gesehen bedeutet shi yan zhi, Verse aus bestimmten pragmatischen oder didaktischen Erwägungen heraus zu machen, oder besser, zu zitieren. Beide Aspekte – der expressive und der pragmatische – sind in noch nicht ausdifferenzierter Weise in der Formel »Dichtung drückt die Gesinnung aus« enthalten, und beide Auslegungen sollten die Geschichte der chinesischen Literaturkritik bestimmen. Hinsichtlich der ersten Möglichkeit wurde zhi (Gesinnung) bald (nach der Han-Zeit) durch den Begriff qing (Gefühl) ersetzt. Für die zweite Möglichkeit (bis zur Han-Zeit die dominierende) finden sich zahlreiche Beispiele in anderen zhouzeitlichen Schriften wie dem Kommentar des Zuo (Zuozhuan) oder den Gesprächen aus den Staaten (Guoyu), die belegen, wie Staatsmänner und Diplomaten der »Frühling und HerbstPeriode« bei politischen Anlässen Verse der »Lieder« zitierten, um – durch die Blume – ihre Ansichten und Absichten deutlich zu machen bzw. ihren Worten mehr Schmuck und Gewicht zu verleihen. Dies gehörte offenbar zur Bildung und entwickelte sich zu einer Art Rhetorik, also einer mit Gedichtzeilen anspielenden Ausdrucksweise.12 Diese zweite Art und Weise mit Dichtung umzugehen, war die eigentliche in der späteren Zhou-Zeit.13
1.2 Widerspiegelung und Kritik – Programmatik des »Großen Vorworts« Es muß bereits eine vor-qinzeitliche Kommentarliteratur zum Buch der Lieder gegeben haben, allerdings hat nur einer dieser Kommentare die Bücherverbrennung der Qin überlebt: der Text und Kommentar von Mao Heng und Mao Chang aus der Zeit der Streitenden Reiche, kurz »Mao Kommentar« (Mao zhuan) genannt, 12
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Diese Besonderheit hat sich in der Vorliebe der Chinesen, sich in chengyu-Sprichwörtern auszudrücken, bis heute gehalten. Sie stellt offenbar einen kulturgeschichtlichen Restbestandteil dieser hohen Kunst dar. Diesen unkreativen, da nur entlehnenden Gebrauch der Dichtung nannte man fu shi yan zhi, d.h. das Vortragen von Gedichten bei diplomatischen oder ähnlichen öffentlichen Anlässen. Ein ausführliches Beispiel dafür wird im Kommentar des Zuo (Zuozhuan, Xiang 27, in: JAMES LEGGE: The Ch'un Ts'ew with the Tso Chuen, Taipei: Southern Materials Center 1985, S. 530, 533–34) geschildert, wo bei einem diplomatischen Treffen sieben Vertreter von Teilstaaten aufgefordert werden, mit Hilfe von Gedichtzeilen ihre Absichten (zhi) kundzutun. In seinem für diese Thematik wichtigem Buch Shi yan zhi bian (Untersuchung über Dichtung als Ausdruck der Gesinnung), Peking 1956, unterscheidet ZHU ZIQING noch zwei weitere Untergruppen, nämlich »Eingabe von Gedichten« (xian shi) als frühester Umgang und »Unterweisung mit Gedichten« (jiao shi) wie z.B. in den Gesprächen des Konfuzius (Lunyu). Er datiert den Beginn des kreativen Dichtens (zuo shi) erst in die Zeit Xunzis (etwa 4.–3. Jh. v. Chr.), und zwar zeitgleich mit dem Beginn der fu-Dichtung (Rhapsodien bzw. Prosagedichten). S. RÖLLICKE: Die Fährte des Herzens. Zur fu-Dichtung s. Kap. I.7.
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Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder
demzufolge der Liederklassiker traditionell als »Die Lieder von Mao« (Mao shi) bezeichnet wird. An späterer wichtiger Kommentarliteratur ist vor allem der von Kong Yingda (574–648) in der Tang-Zeit zusammengestellte zhengyi-Kommentar (korrekte Bedeutung) zu sehen, der auch frühere Erläuterungen von Zheng Xuan (127–200) enthält. Diese als normative Auslegung wichtig gewordene Fassung des Klassikers (Mao shi zhengyi) findet sich in der Sammlung Dreizehn Klassiker mit Kommentaren (Shisan jing zhushu). Später kamen die wichtigen neokonfuzianischen Kommentare, insbesondere der von Zhu Xi14 (1130–1200), hinzu. Neben dem Mao-Kommentar wurden noch gewisse Vorworte (xu), d.h. Erklärungen und Deutungsversuche der jeweiligen Gedichte aus der Han-Zeit, überliefert. Diese werden traditionell unterteilt in ein »Großes Vorwort« (Shi daxu) und 305 »kleine Vorworte« zu den einzelnen Gedichten.15 Das hier nun ausführlicher zu behandelnde Große Vorwort ist der früheste programmatische und sich allgemein zum Wesen der Dichtung äußernde Text und gilt somit als erste »literaturtheoretische« Schrift Chinas. Die »kleinen Vorworte« bieten teils weithergeholte moralisierende Deutungen der Lieder mit Interpretationen, die einem unvorbereiteten Leser kaum in den Sinn kommen dürften. Die Autorschaft der Vorworte ist umstritten; meist werden sie mit einem gewissen Wei Hong aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. in Verbindung gebracht. Speziell für das Große Vorwort gibt es auch die Tradition, die es einem direkten Schüler des Konfuzius, nämlich dem Zixia, zuschreibt, wodurch die darin zum Vorschein tretende Auslegung an die orthodoxe konfuzianische Traditionslinie angebunden wurde. Wie bereits erwähnt ist das »Große Vorwort« als erste »literaturtheoretische« Schrift Chinas zu verstehen. Wir werden sehen, daß das Thema »Dichtung drückt die Gesinnung aus« (shi yan zhi) das beherrschende dieses kleinen aber bedeutenden Textes darstellt. Die Diskussion des Vorworts wird sich an einer in durchnumerierte Abschnitte unterteilten Übersetzung orientieren16: 1. Dichtung ist das, wohin die Gesinnung geht (shi zhe, zhi zhi suo zhi ye). Solange sie im Herzen ruht, ist sie Gesinnung (zai xin wei zhi). Erst wenn sie in Worten Ausdruck findet, ist sie Dichtung (fa yan wei shi). 14 15
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ZHU XI: Shi ji zhuan (SBCK-Ausgabe). Im überlieferten zhengyi-Text wird das Große Vorwort mit dem Kleinen Vorwort zum ersten Gedicht des Klassikers zusammengefaßt, es bildet also mit diesem eine Einheit. Erst viel später (in der Song-Zeit) hat Zhu Xi beide voneinander getrennt und dem Großen Vorwort damit eine Sonderrolle verliehen. Eine ausführliche Diskussion der Überlieferung der Vorworte findet sich bei STEVEN VAN ZOEREN: Poetry and Personality – Reading, Exegesis, and Hermeneutics in Traditional China, Stanford: Stanford UP 1991. LEGGE: The She King, S. 34ff. Die Numerierung orientiert sich ebenfalls an Legge. Für ausführlichere Diskussionen dieses Vorworts s. STEPHEN OWEN: Readings in Chinese Literary Thought, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1992, S. 49; RÖLLICKE: Die Fährte des Herzens, VAN ZOEREN: Poetry and Personality, und HAUN SAUSSY: The Problem of a Chinese Aesthetic, Stanford: Stanford UP 1993.
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VON DER ZHOU- BIS ZUR HAN-ZEIT 2. Gefühle regen sich im Inneren und nehmen Gestalt an in Worten. Wenn Worte nicht genügen, so kommen die Gefühle durch Seufzen und Stöhnen zum Ausdruck. Wenn Seufzen und Stöhnen nicht genügen, so finden sie Ausdruck durch ausgedehntes Singen. Und wenn das ausgedehnte Singen nicht genügt, dann äußern sie sich unbewußt im Winken der Hände und Stampfen der Füße.
Der Eingangsabsatz faßt die durch die etymologischen Überlegungen bereits gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Insbesondere ist der erste Satz eine Paraphrase der Formel »Dichtung drückt die Gesinnung aus« (shi yan zhi). Die darauf folgenden beiden Sätze beinhalten den expressiven Aspekt von Dichtung als verbalisierende Äußerung von etwas Innerem. Dieser Gedanke wird in Abschnitt 2 weitergeführt, wobei das Innere als »Gefühl« (qing) identifiziert wird. Diese Instanz ist der Ursprung nicht nur von Dichtung, sondern auch von Musik und Tanz. Bemerkenswert am ersten Satz des folgenden Abschnitts (3) ist der Gedanke, daß sich – wiederum in Hinblick auf den Ursprung von Dichtung – Gefühle nicht zunächst als etwas Geschriebenes, sondern als etwas Gesungenes äußern. Der Zusammenhang von Dichtung und Musik ist also ganz eng, wobei die Gestaltung (wen) den musikalischen Wohlklang (yin) ergibt. Mit anderen Worten, wir müssen für diese Periode der chinesischen Literaturgeschichte shi in jedem Fall als gesungenes (oder psalmodiertes) Gedicht bzw. als Lied verstehen. 3. Gefühle äußern sich in Lauten. Werden die Laute in eine Gestalt (wen) gebracht, so nennt man dies Klang (yin). Der Klang einer geordneten Welt ist friedlich und froh. Ihre Regierung wirkt harmonisch. Der Klang einer ungeordneten Welt ist traurig, gemischt mit Unmut. Ihre Regierung ist verschlagen. Der Klang eines zerstörten Landes ist traurig, gemischt mit Nachdenklichkeit. Sein Volk ist in Not.
In diesem Abschnitt wird der für die chinesische Literatur- und Kulturgeschichte so wichtige und enge Zusammenhang von Dichtung/Musik und Politik diskutiert. Auch haben wir hier die Widerspiegelungstheorie gleichsam in einer chinesischen Urform: Dichtung und Musik spiegeln die Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit des Volkes, eine gute oder schlechte Regierung wider. Das heißt, Inhalt und Gestalt der Dichtung sind determiniert von der sozialen Wirklichkeit.17 17
Dieser Absatz ist identisch mit einer Passage aus dem Musikkapitel im Buch der Riten (Liji). Der entsprechenden Stelle geht dort folgende Passage voraus: »Die Klänge entstehen im Herzen des Menschen. Die Bewegungen der Gefühle im Inneren gestalten sich im Laut. Der Laut, der nach dem Gesetz der Form gestaltet ist, heißt Klang.« S. WILHELM: Li Gi, S. 72. Wie bereits erwähnt, vermutet man die Autorschaft des Musikkapitels im Liji (aufgrund vieler Entsprechungen und überhaupt der großen Bedeutung die Xunzi der Musik und den Riten als erzieherische und harmonisierende Mittel in seinem eigenen Werk gibt) in Xunzis Schule. Insofern wird von vielen Literaturhistorikern die Autorschaft des »Großen Vorwort«
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Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder 4. Um Gelingen und Versagen [einer Regierung] richtig aufzuzeichnen, Himmel und Erde zu bewegen und böse und gute Geister zu rühren, gibt es deshalb nichts, was an die Dichtung heranreicht.
Hier ist von verschiedenen Funktionen der Dichtung die Rede: Gutes und Schlechtes einer Regierung zu bestimmen, den Himmel zu bewegen, daß er Segen spendet, und schließlich die Geister in Aktion zu rufen. Insbesondere in den letzteren beiden Punkten – in der Verbindung von Ritual mit Dichtung/Musik – haben wir den Gedanken einer rituell pragmatischen Funktion von Dichtung. Demgegenüber beinhaltet der folgende Abschnitt (5) einen eher didaktischen Aspekt: Dichtung ist auch Instrument der Erziehung, des wandelnden Einflusses moralischer Lehren und der Festigung der wichtigen zwischenmenschlichen Beziehungen: 5. Mit ihr (Dichtung) ordneten die früheren Könige das Verhältnis zwischen Mann und Frau, verwirklichten sie Kindespflicht und Ehrfurcht, festigten sie die menschlichen Beziehungen, verschönerten sie den wandelnden Einfluß der Erziehung und änderten sie Sitten und Gebräuche. 6. Deshalb besitzt die Dichtung sechs Erscheinungsformen: Die erste heißt »Volkslied/Wind« (feng), die zweite ist die »Darlegung« (fu), die dritte ist der »Vergleich« (bi), die vierte ist die »Andeutung« (xing), die fünfte ist das »höfische Lied« (ya) und die sechste ist das »Opferlied« (song).
Abschnitt 6 behandelt die sogenannten »Sechs Bedeutungen« (liu yi) – besser: Prinzipien, Klassen oder Elemente der Dichtung im Liederklassiker. Dies ist einer der nachwirkungsreichsten Abschnitte des Vorworts, insofern ist auch eine ausführlichere Diskussion erforderlich. Es handelt sich hier im Grunde um zwei aus heutiger Sicht recht unterschiedliche Gruppen von Elementen (in nicht ganz einsichtiger Reihenfolge), nämlich die drei bereits erwähnten Gattungen »Volkslied« (feng), »höfisches Lied« (ya) und »Opferlied« (song), sowie drei Stilmittel: »Darlegung« (fu), »Vergleich« (bi) und »Andeutung« (xing), wobei das richtige Verständnis der letzteren Gruppe über Jahrtausende diskutiert wurde und noch wird.18 Ursprünglich gab es offenbar nicht die Verwirrung um die beiden verschiedenen Gruppen, denn feng, ya und song lassen sich in ihrer adjektivischen Verwendung auch als stilistische Charakteristika verstehen: feng – »bewegend« (wie der Wind – man denke hier auch an die Grundbedeutung unseres Begriffs Arie bzw. an das englische air), ya – »elegant/kunstvoll« und song – »hymnisch«.19 Ursprünglich
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auch dort vermutet (s. Kap. I.4). Zu diesen Schulen und anderen diesbezüglichen Aspekten s. OWEN: Readings, S. 49–56. Zum Beispiel löste 1978 die Wiederveröffentlichung eines Briefes von Mao Zedong aus dem Jahre 1965 an Cheng Yi, in dem er die Bildersprache der klassischen Dichtung preist – er war ja selbst ein Dichter im klassischen Stil –, eine Flut von Artikeln über fu, bi und xing aus. Im offiziösen tangzeitlichen zhengyi-Kommentar von Kong Yingda haben wir jedoch bereits folgende normative Unterscheidung: Feng, ya und song sind »unterschiedliche Gattungen
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hat es sich dabei möglicherweise um sechs verschiedene Arten, die Lieder (zu rituellen Zwecken) aufzuführen oder vorzutragen, gehandelt.20 Wie sind die Stilmittel fu, bi und xing zu verstehen? Die Bedeutung von »Darlegung« (fu) ist relativ klar: Es ist explizites Beschreiben, Erzählen oder Schildern. So wurde es auch später zur Gattungsbezeichnung der rhapsodischen Essays (oder Reimprosa), mittels derer während ihrer hanzeitlichen Blütezeit in verbal kunstvoller Sprache Hauptstädte, Paläste, kaiserliche Jagden etc. beschrieben wurden. »Vergleich« (bi) und »Andeutung« (xing) sind etwas schwieriger voneinander abzugrenzen, später wurden die beiden Begriffe häufig zusammengebraucht im Sinne von »bildlicher, metaphorischer Ausdrucksweise«. Liu Xie macht in Kapitel 36 seines noch zu besprechenden Wenxin diaolong (Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen) die Unterscheidung, daß bi ein »offensichtlicher/klarer« (xian), xing hingegen ein »dunkler« (yin) Vergleich sei. Das soll heißen, bi bedeutet, etwas mit etwas anderem direkt und einsichtig – z.B. durch »wie« – zu vergleichen21, wobei die beiden Glieder des Vergleichs – Vehikel und Tenor22 – klar sind. Nehmen wir als Beispiel den Vergleich: »Der Mond hängt am Nachthimmel wie eine helle Lampe«, in dem der Mond »Tenor« und die helle Lampe »Vehikel« des Vergleichs bilden.23 Bi wäre demnach auch als direkte Metapher oder unmittelbar verständlicher bildlicher Ausdruck zu verstehen. Um im Kontrast dazu xing zu verstehen, betrachten wir zunächst ein Beispiel, und zwar den Anfang des ersten Liedes im Shijing mit dem Titel »Guanju« (»Vogelruf«, die Gesamtübersetzung erscheint im nächsten Abschnitt): Guan guan, ruft der Wasservogel Im Fluß auf dem Sand.
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der Liedertexte« (shi pian zhi yi ti); es sind die »festen Formen der Lieder« (shi zhi cheng xing). Zu fu, bi und xing heißt es hingegen, daß sie »unterschiedliche Bezeichnungen/rhetorische Mittel für die Gestaltung der Lieder« seien (shi wen zhi yi ci); sie seien »das, was die Lieder [als Stilmittel] anwenden« (shi zhi suo yong). Zur Reihenfolge meint Kong Yingda: »Feng ist das erste, weil es die erste Sektion darstellt. Da die guofeng (Volkslieder der Staaten) fu, bi und xing [als Stilmittel] anwenden, kommen diese [Stilmittel] dahinter. Daran schließt sich [die Gruppe der] ya (höfischen Lieder) an, weil diese auch fu, bi und xing verwenden.« Shisanjing zhushu, Peking: Zhonghua shuju (Nachdr.) 1987, S. 271. Es gibt eine Stelle im Zhouli, an der von diesen »sechs Bedeutungen« als liu shi (sechs Dichtungsweisen) die Rede ist, wobei der Kontext darauf hindeutet, daß es sich um sechs verschiedene Arten, die Lieder (wohl zu rituellen Zwecken) aufzuführen, gehandelt haben muß. S. CHEN SHIH-HSIANG: »Generic Significance«, S. 18, 33. Die ursprüngliche Bedeutung von bi wird demnach mit ru (»wie«) gleichgesetzt. Dieses Begriffspaar wurde eingeführt von I.A. RICHARDS: The Philosophy of Rhetoric, Oxford: Oxford UP 1936. Im Buch der Lieder gibt es allerdings Gedichte, die als bi gelten, ohne daß der Tenor des Vergleichs explizit genannt wird. Dabei beschreibt in der Regel das ganze Gedicht ein Phänomen aus der Tier- oder Pflanzenwelt, das sich dann direkt – wie bei einer Fabel – auf die Menschenwelt übertragen läßt. S. z.B. die Lieder Nr. 5 (Zikaden) oder 155 (Eule).
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Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder Rank und schlank, die junge Frau, Dem Herrn eine gute Braut.
Die ersten beiden Zeilen werden in Maos Kommentar als xing (Andeutung) bezeichnet. Es ist offenbar ein Naturbild; im Unterschied zu bi (ebenfalls häufig ein Naturbild) ist jedoch das Verhältnis zwischen Naturbild (Vehikel) und Menschenwelt (Tenor) nicht explizit oder eindeutig, sondern indirekt und dunkel (obskur). Vielmehr wird die Beziehung meist bestimmt durch eine Auslegungstradition; mit anderen Worten, von Schriftgelehrten wird oft eine metaphorische Bedeutung hineingelegt, die dann autoritativ wird (siehe dazu ausführlicher den Abschnitt weiter unten über die moralisierende Auslegung der Lieder). Insofern ließe sich xing als »indirekte Metapher« bzw. »dunkles Bild« verstehen.24 Das Stilmittel xing finden wir meist am Anfang eines Gedichtes, oft auch in einer refrainartigen Wendung. (Eine der Bedeutungen des Schriftzeichens ist »anfangen« bzw. »anregen«.) Wir haben es demnach mit einer suggestiv-evozierenden bzw. anregenden Eröffnung eines Gedichtes zu tun.25 Wolfgang Kubin erklärt xing treffend – in Anlehnung an vergleichbare Phänomene im deutschen Volkslied – als »Natureingang«26. Allgemein gesprochen weist xing auf die dichterische Fähigkeit hin, sich von der äußeren Welt anregen zu lassen und die entsprechenden Assoziationen durch die Blume zum Ausdruck zu bringen. Grundsätzlich sind im Vergleich (bi) und in der Andeutung (xing) eine suggestiv wirkende Entsprechung von Natur und Menschenwelt bzw. menschlicher Gefühlswelt angelegt27. In dieser Entsprechungsstruktur sind später formulierte Wesensmerkmale der chinesischen Lyrik – nämlich einerseits Verschmelzung von Szenerie (jing) mit Gefühl (qing), andererseits deren suggestive und über das eigentlich Gesagte hinausweisende Wirkung – schon präfiguriert. Auch Li Zehou geht auf diesen Zusammenhang und diese spätere Entwicklung ein; so schreibt er in einer ausführlichen Erörterung der Stilmittel bi und xing: 24
25
26 27
KARL S.Y. KAO: »Rhetoric«, in: WILLIAM H. NIENHAUSER, JR. (Hg.): The Indiana Companion to Traditional Chinese Literature, Bloomington: Indiana UP 1986, S. 127. Zu xing (als Andeutung etc.) s. auch die grundlegende Arbeit von FRANÇOIS JULLIEN: La valeur allusive, Paris: Ecole Francaise d’Extreme-Orient 1985. S. das dem Shijing geltende Kapitel in der Studie von PAULINE YU: The Reading of Imagery in the Chinese Poetic Tradition, Princeton: Princeton UP 1987, S. 44–83. WOLFGANG KUBIN: Die chinesische Dichtkunst, S. xiv und 8ff. Zum für diese Thematik wichtigen Entsprechungsdenken (lei) s. ausführlicher das Einleitungskapitel in KUBIN: Die chinesische Dichtkunst; FRANÇOIS CHENG: Chinese Poetic Writing, Bloomington: Indiana UP 1982; STEPHEN OWEN: Traditional Chinese Poetry and Poetics. Omen of the World, Madison: University of Wisconsin Press 1985, sowie (grundlegend) A.C. GRAHAM: Yin-Yang and the Nature of Correlative Thinking, Singapur: Institute of East Asian Philosophies 1986, und den Abschnitt über das Entsprechungsdenken in seinem Buch, Disputers of the Tao – Philosophical Argument in Ancient China, La Salle: Open Court 1989, S. 313–369.
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VON DER ZHOU- BIS ZUR HAN-ZEIT [»Vergleich« und »Andeutung« bewirken,] daß Literatur weder direkte Widerspiegelung der Außenwelt noch willkürliche subjektive Gefühlsäußerung, geschweige denn eine sich begrifflich äußernde rationale Erkenntnis ist. Vielmehr bilden Vergleich und Andeutung ästhetische Formen in literarischer Sprache, die, obwohl sie begrifflich nicht gefaßt werden können und sich rationaler Erkenntnis entziehen (»die Bedeutung bleibt unerschöpflich, obwohl die Worte an ein Ende kommen«28), dennoch große emotionale Ausstrahlung besitzen.29
Für Li Zehou bilden somit Vergleich und Andeutung die Mittel, um subjektive Empfindung und objektive Naturszene in Einklang zu bringen. Damit ist in der Tat in diesen für das Buch der Lieder elementaren Kategorien – insbesondere in der der Andeutung (xing) – der Inhalt der später ästhetisch so wichtig werdenden Begriffe wie yijìng (künstlerische Idee) und jìngjie (Vorstellungswelt) vorformuliert.30 Der nächste Abschnitt des Großen Vorworts gilt dem Ausdruck von Kritik in der Dichtung: 7. Die Höherstehenden benutzten die »Volkslieder« [feng – wörtliche Bedeutung: »Wind«, d.h. wandelnde Kraft/Einfluß], um die Niederstehenden zu ändern; die Niederstehenden benutzten sie, um die Höherstehenden zu kritisieren (fengci). Sie legten Gewicht auf die Gestaltung (wen), um so auf indirekte Weise mahnen (juejian) zu können. Auf diese Weise traf den Sprecher kein Tadel, und der Hörende war genügend gewarnt. Deshalb heißt es »Volkslied/Wind«.
Abschnitt 7 behandelt wiederum die pragmatisch-didaktische Funktion der Lieder sowie die Legitimation von literarischer, d.h. nicht expliziter, sondern indirekter Kritik. Im Zentrum dieses Abschnitts steht der Begriff feng – »Volksweise« wörtlich »Wind«, jedoch, wie bereits gesagt, auch und gerade die beeinflussende, wandelnde Kraft, für die der Wind symbolisch steht31. Später sollte dieser Terminus mehr die dichterische Kraft, die aus dem Temperament des Dichters kommt, fassen – eine Bedeutung, die im modernen chinesischen Begriff »persönlicher Stil« (fengge – wörtlich »Wind« und »Form«) noch mitschwingt. Im »kleinen Vorwort« zum ersten Gedicht des Shijing heißt es zu dieser wichtigen Thematik: »Volkslied«, das ist Wind, das ist Lehre (feng, feng ye, jiao ye). So wie der Wind da ist, um zu bewegen, so ist Lehre/Erziehung da, um zu verändern (feng yi dong zhi, jiao yi hua zhi).32 28 29 30 31
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So Zhong Rong (465–518) über xing; s. Kap. II.3. LI: Der Weg des Schönen, S. 104. S. hierzu das letzte Kapitel dieser Studie (VI.6) über Wang Guowei. In den Gesprächen des Konfuzius heißt es dazu: »Die Tugend des Edlen ist wie der Wind, die des gewöhnlichen Menschen ist wie Gras.« Lunyu, 12.19. LEGGE: The She King, S. 37.
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Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder
Den »Volksliedern« wird in diesem Abschnitt somit eine doppelte Funktion zugesprochen, und zwar abhängig vom gesellschaftlichen Status desjenigen, der sie benutzt: Von der Seite der Regierenden, d. h. von oben nach unten, haben sie eine erzieherisch-bildende Funktion; von Seiten des Volkes, also von unten nach oben, können sie als Mittel der Kritik dienen. Es ist interessant, daß wir hier mit fengci den locus classicus für den noch heute wichtigen Begriff »Satire« bzw. »Ironie« haben. Kritik an den Herrschenden mittels Dichtung bzw. Literatur ist also etwas, das von Anfang an in China nicht nur eine wichtige Rolle spielte, ihr wird hier sogar eine Legitimation gegeben: Wird die Kritik nicht explizit geäußert, sondern verhüllt durch dichterische Gestaltung (wen), so trifft die Autoren derartiger »indirekter Mahnungen« (in idealer Weise) kein Tadel. 8. Als der »Weg« (dao) der Könige verfiel, verkamen die Riten und Pflichten. Die Lehren des rechten Regierens gingen verloren, die Staaten bekamen unterschiedliche Regierungsformen, und die Sitten der Familien änderten sich. Auf diese Weise kam es zu veränderten (bian) »Volksliedern« und »Kunstliedern«. 9. Die Historiographen der Staaten, die die Anzeichen von Gelingen und Versagen [einer Regierung] erkannten, trauerten über den Verfall menschlicher Beziehungen und klagten über die Strenge von Strafen und Regierungsmaßnahmen. Sie drückten ihre Gefühle in Gesang aus, um die Höherstehenden zu beeinflussen/kritisieren (feng). Sie verstanden, daß die Verhältnisse sich geändert hatten und sehnten sich nach den alten Gebräuchen. 10. Deshalb sind die veränderten »Volkslieder« (bian feng) zwar aus dem Gefühl entstanden, doch überschreiten sie nicht die Regeln von Ritus und Pflicht. Daß sie aus Gefühl entstanden sind, liegt im Wesen des Volkes begründet. Daß sie die Regeln von Ritus und Pflicht nicht überschreiten, liegt am wohltuenden Wirken der früheren Könige. 11. Deshalb heißen die Stücke, in denen die Verhältnisse eines Staates mit einer Person verbunden werden, »Volklied/Wind« [wandelnde Kraft]. 12. Die Stücke, in denen von den Verhältnissen auf der ganzen Welt und den Gebräuchen aller vier Himmelsrichtungen gesprochen wird, heißen »Kunstlieder«. »Kunstvoll/Kultiviert« (ya) bedeutet korrekt (zheng). Diese sprechen über die Gründe von Blüte und Verfall königlicher Regierung. Was das Regieren betrifft, so gibt es kleine und große [Angelegenheiten]. Insofern gibt es kleine und große »Kunstlieder«. 13. Die »Hymnen« (song) preisen die Verkörperungen blühender Tugend. Sie künden den Geistern der Ahnen von Erfolgen. 14. Dies sind die vier Anfänge [d.h. Abteilungen des Buches der Lieder]. Sie sind das Höchste an Dichtung.
In den letzten Abschnitten wird einerseits das Thema »indirekte Kritik« weitergeführt (in den Abschnitten 9 und 10), andererseits werden zwei neue und für die
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VON DER ZHOU- BIS ZUR HAN-ZEIT
spätere Diskussion von Lyrik wichtige Kategorien eingeführt: »korrekte« (zheng) und »veränderte« (bian) Lieder. Diese beiden Begriffe stehen wiederum im Zentrum einer rudimentären chinesischen Widerspiegelungstheorie bzw. der Beziehung zwischen Dichtung und politischen Verhältnissen: Ist die Regierung gut, so sind die Lieder der Epoche »korrekt«33; schlechte politische Verhältnisse, z.B. in der späteren Zhou-Zeit, führten zu »veränderten« Liedern. In späteren Epochen sollten diese Begriffe die Bedeutungen »orthodox« und »heterodox« erlangen. Es läßt sich somit zusammenfassend sagen, daß wir im Großen Vorwort drei wichtige Funktionen von Dichtung vorgeführt bekommen: 1) Dichtung als Widerspiegelung sozialer bzw. politischer Verhältnisse, 2) Dichtung als Instrument der Erziehung und Kritik sowie 3) Dichtung als Gefühlsausdruck. Schließlich wird auch auf ästhetische Gesichtspunkte eingegangen, nämlich auf die verschiedenen Aufführungs- und Ausdrucksweisen (die sogenannten »sechs Bedeutungen«). Es sind also viele Aspekte oder Funktionen in dem Begriff Gedicht/Lied (shi) enthalten. Sie sollten im späteren Verlauf der chinesischen Literaturgeschichte unterschiedliche Gewichtung erfahren, sie lassen sich allerdings alle auf das Buch der Lieder bzw. dessen Vorwort zurückführen. Es stellt demnach einen autoritativen Text dar, auf den man sich immer wieder berufen konnte.
1.3 Exegese und Rezeption – Moral der Lieder Wie bereits erwähnt, hat Marcel Granet zwar nachhaltig mit früheren weithergeholten und moralisierenden Auslegungen der Gedichte im Buch der Lieder aufgeräumt, jedoch ist es für das Verständnis dieser Lieder wichtig zu verstehen, – – – –
woher diese moralisierende Auslegungspraxis stammte, warum sie so gepflegt wurde, welche Berechtigung sie hatte und welche Auswirkungen sie auf die ganze spätere chinesische Literatur und Kunst bzw. Interpretationspraxis haben sollte.
Die Eingangsstrophe des ersten Gedichts im Buch der Lieder wurde oben bereits angeführt, um das Stilmittel der indirekten Metapher oder Andeutung (xing) zu verdeutlichen. Um darüber hinaus die moralisierende Interpretation dieses Liedes – und der Dreihundert Lieder im Allgemeinen – zu veranschaulichen, ist es notwendig, das ganze Lied zu betrachten. Es ist ein Gedicht, das chinesische Gebildete seit über zweitausend Jahren aufsagen konnten (und immer noch können). Auch ist es ein Gedicht, das paradigmatische Bedeutung hat für die ganze chinesische Lyrik und deren Interpretation. Insofern lohnt es sich, dieses Lied etwas genauer zu untersuchen. 33
Für den hanzeitlichen Kommentator Zheng Xuan waren das die Lieder der frühen Zhou.
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Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder
Der Titel »Guanju« ist halb Vogelruf und halb Vogelname: Er erklärt sich als Zusammensetzung aus zwei Schriftzeichen der ersten Zeile (Guan guan ju jiu), wobei guan guan den (Paarungs-)Ruf eines jujiu genannten Wasservogels (möglicherweise ein Fischadler oder Reiher) darstellt. »Guanju« (Vogelruf) Guan guan, ruft der Wasservogel Im Fluß auf dem Sand. Rank und schlank, die junge Frau, Dem Herrn eine gute Braut. Lang und kurz, die Wassermalve, Links und rechts trägt sie die Strömung. Rank und schlank, die junge Frau, Tag und Nacht sucht er sie. Sucht sie, findet sie nicht, Tag und Nacht denkt er an sie. Oh weh, oh weh, Wirft sich hin und her. Lang und kurz, die Wassermalve, Links und rechts fassen wir sie. Rank und schlank, die junge Frau, Zithern und Lauten grüßen sie. Lang und kurz, die Wassermalve, Links und rechts schneiden wir sie. Rank und schlank, die junge Frau, Glocken und Trommeln feiern sie. 34
Das Thema des kunstvoll strukturierten Gedichtes ist ganz offensichtlich Brautwerbung, die, so darf man annehmen, am Schluß von Erfolg gekrönt ist und mit einer Hochzeit endet. Naturgemäß geht bei einer Übersetzung die enge Beziehung zwischen Form und Inhalt verloren; so ist auch im vorliegenden Fall von den bedeutungsvollen lautlichen Entsprechungen, Binnenreimen etc. nichts mehr zu sehen.35 Gleichwohl läßt die Übertragung – insbesondere in den Strophen 2, 4 und 5 34
35
Vgl. die Übersetzungen von HEIDE KÖSER (Übers.): Das Liederbuch der Chinesen – Guofeng, Frankfurt/Main: Insel 1990, S. 9 (worin die Übersetzerin den Paarungsruf »guan guan« am Anfang sinngemäß – und nicht ungeschickt – mit »wann wann« übersetzt), und SCHMIDTGLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 28f. Mit »rank und schlank« (in Anlehnung an die Übersetzung von Heide Köser) wurde der Versuch gemacht, den Binnenreim von yaotiao anzugleichen; ebenso gibt es die bedeutungsvolle Entsprechung des im Original einheitlichen »Personalpronomens« bzw. Objektersatzworts (zhi) für »sie«/Pflanze und »sie«/Frau.
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VON DER ZHOU- BIS ZUR HAN-ZEIT
(wobei die dritte Strophe als emotionaler Höhepunkt aus dem Rahmen fällt) – noch die vielen volksliedhaften Wiederholungen sowie gerade in den Wiederholungen bzw. Variationen der Zeilen eine grundsätzliche Parallelführung erkennen36: wie in der Naturwelt, so in der Menschenwelt. Mit anderen Worten, die Ernteaktivitäten in der Naturwelt fungieren aufgrund der Parallelität als Metapher für die Werbung eines Edelmannes um eine schöne junge Frau. Darin erinnert das Gedicht in etwa an Kunstlieder des Mittelalters mit der Minne-Thematik. In der Gegenüberstellung bzw. Entsprechung von Naturwelt und Menschenwelt begegnet uns bereits in diesem ersten Gedicht das wesentliche Stilmerkmal der chinesischen Lyrik, das sich – als Verschmelzung von Naturbild mit menschlichem Gefühl – bis in die Moderne hinein verfolgen lassen wird. Hinsichtlich der »Andeutung« (xing) wurde schon ausgeführt, daß es sich dabei meist um ein stimulierendes Naturbild (bzw. einen Natureingang) am Anfang eines Gedichts handelt, wobei die Beziehung zur Menschenwelt bzw. zum Rest des Gedichts nicht aus sich selbst heraus erkennbar ist, sondern von einer exegetischen Tradition bestimmt ist. Wie wurde also das »Guanju«-Lied traditionell gedeutet? Von Konfuzius gibt es bereits eine autoritative Bemerkung zu diesem Gedicht »Das Lied ›Guanju‹ drückt Freude aus, ohne Zügellosigkeit zu preisen; es drückt zugleich Trauer aus, ohne niederzudrücken.« 37 Hier haben wir also ein Lob dieses Gedichts für den geziemenden Ausdruck von Gefühlen (bzw. für den Ausdruck von geziemenden Gefühlen). Neben dem Lob der Züchtigkeit des Ausdrucks gibt es von der Han- bis zur Song-Zeit, von Sima Qian bis Zhu Xi, unterschiedliche Versuche, dieses Gedicht in einen historischen Kontext einzubetten. Eine detaillierte Diskussion aller Varianten würde hier zu weit gehen38, der gemeinsame Nenner dieser Kontextualisierungen besteht allerdings darin, daß erstens – entsprechend der Stellung als Anfangsgedicht dieses Klassikers – wichtige Figuren aus der Gründungszeit der Zhou-Dynastie, nämlich König Wen und dessen Gemahlin, Rollen in diesem Gedicht zugewiesen werden und daß zweitens ihr Handeln moralisch beispielhaft gedeutet wird39. So wird auch durch die dunkle Eingangsmetapher (xing) des Gedichts ein moralischer Zusammenhang zwischen dem Vogel bzw. dessen Ruf und der (in den Zeilen drei 36
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39
Bei den Wiederholungen von Zeilen – teils als Refrain, teils mit geringfügigen Variationen in der gleichen Strophe (oder anderen) – spricht man auch von »Formeln«; s. dazu ausführlicher KUBIN: Die chinesische Dichtkunst, S. 11, und C.H. WANG: The Bell and the Drum. The Study of Shih Ching as Formulaic Poetry in an Oral Tradition, Berkeley: University of California Press 1974. Lunyu, 3.20. Für eine ausführliche Erörterung s. YU: The Reading of Imagery, S. 44–83, und VAN ZOEREN: Poetry and Personality, und SAUSSY: The Problem of a Chinese Aesthetic. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, daß die Gedichte des Shijing heute zwar als anonym verfaßt gelten, etliche von ihnen jedoch der orthodoxen Überlieferung zufolge bestimmten berühmten Personen, z.B. dem Herzog von Zhou, zugeschrieben wurden.
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Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder
und vier beschriebenen) züchtigen Natur der Frau, nämlich der Königin, hergestellt. Der Urkommentar von Mao deutet den Vogelruf als den eines Wasservogels, der die konfuzianische Geschlechtertrennung praktiziert (die Naturwelt entspricht der Menschenwelt!): Die Fürstin freut sich an der Tugend des Herrn, und es gibt nichts, worin sie ihm nicht zustimmt, noch spielt sie mit ihren Reizen. Besonnen und fest lebt sie wie der Fischadler in Zurückgezogenheit. Ihr Einfluß kann die Welt verändern. Wenn Männer und Frauen die Trennung voneinander einhalten, werden Väter und Söhne gut miteinander auskommen. Wenn Väter und Söhne gut miteinander auskommen, werden sich Herrscher und Minister gegenseitig respektieren, dann wird bei Hofe alles in Ordnung sein. Wenn bei Hofe alles in Ordnung ist, dann wird sich der kultivierende Einfluß des Königs auswirken.40
Man beachte hier die Bedeutung, die der gesitteten Mann-Frau-Beziehung, quasi als Grundstein der weiteren zwei fundamentalen konfuzianischen Beziehungen (zwischen Vater und Sohn, Fürst und Minister) beigemessen wird: Wenn sich die Menschen – wie die Protagonisten in diesem Gedicht – ebenso züchtig wie diese im wahrsten Sinne des Wortes sagenhaften Vögel verhalten, dann ist die Welt in Ordnung. Der Kommentar setzt die verschiedenen Grundbeziehungen in eine bekannte Reihenfolge: im Kleinen (Persönlichen) anfangen und bei der Ordnung des ganzen Reiches aufhören.41 Das »kleine Vorwort« zu diesem Gedicht bringt eine ähnliche Deutung: Das »Guanju«-Lied handelt von der Tugend der Königin. Dies ist der Anfang der »Volkslieder« (feng). Durch sie wird alles auf der Welt beeinflußt (feng) und die Beziehungen zwischen Mann und Frau richtiggestellt. [...] »Volkslied bedeutet »Wind/wandelnde Kraft«, es bedeutet auch Belehrung (jiao). Wandelnde Kraft bewegt [die Menschen], und Belehrung ändert sie. [...] Im »Guanju«-Lied erleben wir Freude darüber, tugendhafte Frauen als Partner für den Herrn zu finden, Sorge darüber, welche wertvollen Frauen dem Fürsten vorzuschlagen sind, doch kein unzüchtiges Schwelgen in sinnlichen Vergnügungen. Wir haben Trauer über ihre Zurückhaltung, Nachdenken über vorzügliche Talente, doch kein Verletzen der Güte des Herzens. Das ist die Bedeutung des »Guanju«Liedes.42
Am Anfang des 5. Kapitels des hanzeitlichen Werks Han shi waizhuan (Han Yings inoffizieller Kommentar zu den Liedern) findet sich neben einer Fülle an Anekdoten, die alle mit einer Gedichtzeile aus dem Buch der Lieder enden (wobei die 40
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Shisanjing zhushu, S. 273; Übers. SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 32. Dies entspricht der Reihenfolge in der klassischen Schrift Daxue (»Die Große Lehre«). Vgl. LEGGE: The She King, S. 36–37.
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Anekdoten wohl als didaktisch-illustrierender Kommentar zu den Zeilen zu verstehen sind), auch folgende Antwort des Konfuzius auf die Frage seines Schülers Zixia, warum das Buch der Lieder mit dem »Guanju«-Lied beginnt: »Das ›Guanju‹-Lied ist Vollkommenheit. In seiner Beziehung zu den Menschen ist das ›Guanju‹ oben wie der Himmel, unten wie die Erde. Geheimnisvoll und dunkel ist die Tugend, die es beinhaltet; reich und überfließend ist das Dao, das es zur Anwendung bringt. [...] Es ist vollständig in seinem Glanz und seiner Ordnung. Oh, groß ist das Dao, des ›Guanju‹-Liedes. Es verbindet alle Dinge, und von ihm hängt das Leben der Menschenwesen ab. [...] Die Schriften der Klassiker beschäftigen sich alle mit tiefgründigen Erörterungen. Doch sie entnehmen ihren Stoff dem ›Guanju‹-Lied. Das Thema des ›Guanju‹ ist groß, weit und hochfliegend. Von Osten bis Westen, von Süden bis Norden gibt es keinen Gedanken, der ihm nicht huldigt. Du solltest dich bemühen, ihm nachzueifern und es in Gedanken tragen. Weder die Menschen zwischen Himmel und Erde, noch das königliche Dao liegen außerhalb seines Kreises.« Darauf seufzte Zixia und sprach: »Wahrlich groß ist das ›Guanju‹-Lied. Es ist die Basis von Himmel und Erde.«43
Diese dem Konfuzius in den Mund gelegten Äußerungen gehören zu einer ganz anderen Kategorie als sein weiter oben gebrachter kurzer Kommentar aus den Gesprächen (Lunyu); sie bedeuten nämlich eine gar in kosmische Dimensionen hineinreichende ästhetisch-moralische Apotheose dieses unscheinbaren, doch kunstvollen Brautwerbungslied seitens der hanzeitlichen Konfuzianer. Zusammenfassend verdeutlichen die Beispiele der Kommentare dreierlei: 1. die ganz offensichtliche moralisierende Interpretation dieses Liedes, 2. die Ansiedlung dieser Moral in einen historischen Kontext von vorbildhaften historischen Personen (König Wen und dessen Frau), 3. die hohe Bedeutung, die diesem ersten Lied aus dem Buch der Lieder in paradigmatischer Weise zukommt. Damit ist das Muster gesetzt, nach dem dieser Klassiker für Generationen späterer Leser und Kommentatoren einzuordnen ist. Schließlich wäre zu fragen, in welchen literaturwissenschaftlichen Kategorien diese Exegese der Lieder zu verstehen ist. Wie Pauline Yu gezeigt hat, läßt sich der westliche Allegoriebegriff nicht auf die durch das Stilmittel xing (Andeutung) verbundene Beziehung zwischen Naturwelt und moralisch zu verstehender Menschenwelt anwenden. Stattdessen zeigt sie, daß die klassischen Kommentatoren eine Analogie zwischen Naturereignissen und der Menschenwelt sahen, die auf 43
JAMES R. HIGHTOWER (Übers.): Han Shih Wai Chuan. Han Ying’s Illustrations of the Didactic Application of the Classic of Songs, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1952, S. 159f. Han Ying ist ein Literat des 2. Jh. v. Chr.
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Dichtung und Gesinnung – Das Buch der Lieder
dem Prinzip der Korrespondenz beruhen. Das heißt, für die frühen Kritiker waren die im Gedicht dargestellten natürlichen und menschlichen Ereignisse gleichwertig: Sie gehörten zur selben Kategorie (lei). Pauline Yu schließt ihre Studie über Allegorie in den Interpretationen zum Buch der Lieder mit dem Hinweis, daß diese Form der Interpretation kontextualisierend sei. Damit ist gemeint, daß Gedichte als verschleierte Darstellungen einer historischen Wirklichkeit – eines historischen Kontextes – gesehen wurden.44 Sie führt diese Versuche, einen historischen Kontext zu finden, u.a. auf die Praxis zurück, daß, wie oben bereits erwähnt, in den Klassikern, insbesondere im Kommentar des Zuo sowie in den Gesprächen aus den Staaten (Guoyu), mit Hilfe von Zeilen aus dem Buch der Lieder Argumente vorgebracht wurden. Daß die Lieder somit in einem klassischen historischen Text erschienen, unterstrich ihre historische Signifikanz: Sie mußten sich in den Augen der Kommentatoren auf tatsächliche Geschichte beziehen, wobei den Figuren in konfuzianischer Tradition eine moralische Beispielhaftigkeit zukam. Wegen der hohen Bedeutung der Geschichte und Historiographie in der chinesischen Kultur verliehen die Kommentatoren dem Liederbuch durch die historisierende Auslegung auf der einen Seite einen besonderen Wert, auf der anderen Seite schufen sie damit für die moralische Belehrung den nötigen Kontext. Die moralischen Lektionen aus dieser Form von didaktischer Literatur um beispielhafte Personen ergaben sich demnach aus Geschichten, die sich auf der Welt einmal zugetragen haben mußten, und nicht aus abstrakten Überlegungen und Forderungen heraus. Und noch ein letzter interessanter Aspekt kommt hinzu: Die Kommentatoren interpretierten die jeweils immer einem bestimmten Staat zugeordneten Gedichte im Buch der Lieder in der Regel sogar als eine chronologische Folge, welche die politische (und moralische) Geschichte dieses Staates aufzeichnete. In dieser Weise woben sie die Gedichte zum Äquivalent eines historischen Epos zusammen. Aufgrund ihrer Interpretation hätten wir es hier also gleichsam mit einer Literatur zu tun, die funktional einer epischen Dichtung (wie z.B. bei den Griechen) entsprechen würde.45
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YU: The Reading of Imagery, S. 76ff. Kontextualisierung, so Pauline Yu, sei übrigens später die dominante Praxis der chinesischen Gedichtinterpretation geworden, indem sie die Werke von Dichtern als buchstäbliche Aufzeichnungen von dessen Lebenserfahrungen las, aus denen man sogar eine Biographie zusammenstellen konnte. S. ebd. sowie C.H. WANG, der in seinem Buch From Ritual to Allegory. Seven Essays in Early Chinese Poetry, Hongkong: Chinese UP 1988, S. 73–114, sogar den Versuch unternimmt, aus den Liedern des Shijing für China ein Äquivalent zur Aeneis des Vergil, nämlich ein Epos um den König Wen der Zhou-Dynastie, das er entsprechend »Weniad« (im Englischen heißt Vergils Epos Aeniad) nennt, zu entwickeln.
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2. Harmonie und Bildung – Konfuzius über Dichtung Kong-fu-zi (der ehrwürdige Meister Kong, von den in China wirkenden Jesuitenmissionaren im 17. Jahrhundert zu Konfuzius latinisiert) lebte in der sogenannten Frühlings- und Herbst-Periode (Chunqiu – 770–481) während der Östlichen ZhouDynastie; seine Lebensdaten sind ca. 552–479 v. Chr. Wie Sokrates im alten Griechenland hat er selbst nichts Schriftliches hinterlassen, doch gibt es Gesprächsaufzeichnungen seiner Schüler, die vor allem in den sogenannten Gesprächen (Lunyu) wiedergegeben sind. Weitere wichtige Werke der konfuzianischen Tradition, auf die hier Bezug genommen wird (und die häufig auch um Konfuzius als Meister kreisen), sind das Buch der Riten – darin die beiden später zu zentralen Schriften erhobenen Kapitel »Große Lehre« (Daxue) und »Maß und Mitte« (Zhongyong) –, der Kommentar von Zuo sowie der »Große Kommentar« (Xicizhuan) zum Buch der Wandlungen (Yijing). Konfuzius war alles andere als ein Literaturkritiker, doch wurden seine wenigen Bemerkungen über Dichtung, Musik und Kunst von größter Bedeutung für alle spätere Literaturkritik. Als höchste geistige und moralische Autorität, als beispielhafter Lehrer und Weiser des rechten »Wegs« waren seine Ansichten über diesen eigentlich nebensächlichen und unnützen Bereich46 menschlicher Tätigkeit von solcher Tragweite, daß sie für die Literaten der nachfolgenden Epochen auf dem Gebiet der Literatur ebenso wegweisend wurden wie seine bekannteren Äußerungen zu Fragen der Ethik und der Tugend der Mitmenschlichkeit (ren). Wie sich zeigen wird, war die Literatur für Konfuzius jedoch nicht immer ein gänzlich nutzloses Feld. Vergegenwärtigen wir uns kurz den literaturhistorischen Kontext, aus dem heraus die in den Gesprächen oder sonstwo gesammelten Bemerkungen des Meisters verstanden werden müssen: Unter Literatur bzw. Dichtung verstand man lediglich die »dreihundert Lieder«. Dabei wurde die Liedersammlung nicht als Werk von literarischem Wert, z.B. hinsichtlich ihrer imaginativen, kunstvollen Seiten, gesehen, sondern als Zitatenschatz oder als rhetorisch-diplomatisches Handbuch für Aristokraten und Höflinge. Lesen wir die Zitate aus dem Buch der Lieder, die sich im Kommentar von Zuo (einem Kommentar zu dem Klassiker Frühlings- und Herbst-Annalen – Chunqiu) finden, so ging es den Adligen der Chunqiu-Zeit, wie bereits im letzten Abschnitt behandelt, nicht um literarisches Vergnügen an den Liedern des Liederklassikers, vielmehr dienten ihnen diese 46
Was das Nutzlose dieses Bereichs des menschlichen Lebens betrifft, bemerkte H. M. Enzensberger einmal, die Literatur verdanke »ihren Charme nicht zuletzt der Tatsache, daß es jedermann frei steht, sie zu ignorieren – ein Recht, von dem bekanntlich die Mehrheit unserer Mitbürger entschieden Gebrauch macht.« HANS MAGNUS ENZENSBERGER: »Ein bescheidener Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie«, in: Tintenfisch 11, Berlin 1977, S. 51f.
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Harmonie und Bildung – Konfuzius über Dichtung
dazu, sich gebildet auszudrücken, durch die Blume zu sprechen sowie vielsagende Anspielungen und Andeutungen zu machen. Desweiteren ist zu betonen, daß Literatur (auch Musik oder Kunst im Allgemeinen) nicht losgelöst von der Frage nach der Moral, d.h. der charakterlichen Kultivierung, betrachtet wurde, die für die konfuzianisch Gebildeten Priorität besaß. So sagt Konfuzius zum moralischen Wert der »Lieder«, man könne diesen mit einem Satz zusammenfassen: Sie enthielten »keine niederträchtigen Gedanken« (si wu xie)47. Aus dem »Musik-Kapitel« des Buchs der Riten (Liji) geht die moralische Dimension der Musik des Altertums, d.h. ihre Beziehung zum Ritus und zur charakterlichen, moralischen Bildung, eindrucksvoll hervor. Das heißt, die »Lieder«, die ja schließlich auch eine musikalische Form darstellten (man bedenke, daß die Anfangspassage des »Großen Vorworts« fast wortwörtlich Stellen dieses MusikKapitels gleicht), bildeten mit der Musik (yue) und dem Ritus (li) eine unter dem Zeichen charakterlich-moralischer Kultivierung stehende Dreiheit. Neben dem also zu berücksichtigenden literatursoziologischen Hintergrund des rhetorischen Umgangs mit den Liedern ist dieser letzte Aspekt – die Einheit von Ritus, Musik und Dichtung bzw. von Kunst und Moral – für das Verständnis der Bemerkungen des Konfuzius zur Dichtung von Bedeutung. Im folgenden werden die wichtigsten Dichtung und Kunst betreffenden Äußerungen von Konfuzius vorgestellt und erörtert, und zwar unter fünf Gesichtspunkten: 1. 2. 3. 4. 5.
Kunst als Abrundung moralischer Bildung; Verbindung von Ritus, Musik und Dichtung; Harmonie von Inhalt und Form; Nützlichkeit und Anwendung literarischer Bildung; Bedeutung der Sprache (als Medium der Literatur) und Klarheit des Ausdrucks.
Kunst als Abrundung moralischer Bildung Zur ersten Thematik heißt es in den Gesprächen: Nimm dir den »Weg« (Dao) zum Ziel, halte dich an die Tugendkraft (de), stütze dich auf die Menschlichkeit (ren) und entspanne dich in den Künsten (you yu yi).48
Hier wäre zunächst anzumerken, daß der Begriff »Kunst« (yi) nicht als bildende Kunst im heutigen Sinne, sondern eher im Sinne der englischen liberal arts zu verstehen ist; er umfaßte nämlich zur Zeit des Konfuzius die sogenannten »sechs Künste« (liu yi) eines Edlen: Riten, Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Studium der Schriftzeichen und Rechnen. Die Wendung »Entspannung in den Künsten« 47
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Lunyu, 2.2; vgl. RALF MORITZ (Übers.): Konfuzius: Gespräche (Lun-Yu), Stuttgart: Reclam 1998, S. 9, RICHARD WILHELM (Übers.): Kungfutse: Gespräche, Köln: Diederichs 1972, S. 42. Lunyu, 7.6.
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VON DER ZHOU- BIS ZUR HAN-ZEIT
(you yu yi) wurde erst viel später (etwa ab der Song-Zeit) zu einem geflügelten Wort für ein amateurhaftes Betreiben der Kunst der Malerei. Die Passage läßt sich in dem lapidaren Sinne deuten: Zuerst kommt die Moral, dann die Kunst. Allerdings beinhaltet das Zitat auch den Gedanken, daß »Kunst« als Ergänzung der moralischen Kultivierung oder als Abrundung des gebildeten Menschen gesehen wird. Einen ähnlichen Tenor hat eine andere Passage aus den Gesprächen: Ein junger Mensch soll in der Familie ehrfürchtig und gehorsam gegenüber den Eltern sein. Außerhaus begegne er den Menschen so, wie sich ein jüngerer Bruder gegenüber seinem älteren verhält, mit Achtung und Aufrichtigkeit; er sei durchdrungen von Liebe zu allen und eng mit dem Guten verbunden. Wenn ihm bei all dem noch Kraft bleibt, dann soll er sich den Schriften widmen (xue wen).49
Wie wichtig ihm trotz aller Betonung des Moralischen und Gesellschaftlichen auch das Musische war, geht aus einer Geschichte hervor, die davon handelt, daß Konfuzius einmal drei seiner Schüler danach fragte, was sie zu tun gedächten, wenn ihnen ein Fürst ein Amt anböte. Als er die Frage an den Schüler Zeng Xi richtete, so verlangsamte dieser sein Spiel auf der Zither (qin), ließ sie verklingen und legte sie schließlich beiseite, dann antwortete er: »Meine Wünsche unterscheiden sich etwas von denen der drei anderen.« »Was schadet das?« meinte Konfuzius: »Jeder sagt frei heraus, was er möchte.« Zeng Xi fuhr fort: »Gern würde ich im späten Frühling, wenn man leichtere Kleidung trägt, mit anderen im Flusse baden, mich von einer kühlenden Brise umfächeln lassen und schließlich singend heimwärts ziehen.« Konfuzius sprach seufzend: »Ich stimme mit Zeng Xi überein.«50
Das Musische war demnach sehr wohl ein integraler Bestandteil der klassischen Bildung, es besaß aber keinen Eigenwert und keine Selbständigkeit. Insbesondere wurde es meist im Zusammenhang der Riten erörtert (siehe dazu den Abschnitt weiter unten). Die den menschlichen Charakter kultivierende Wirkung der Lieder und überhaupt des Liederklassikers ist in einer wichtigen Stelle aus dem Buch der Riten festgehalten. Im Abschnitt »Erklärung der Klassiker« (jingjie) macht Konfuzius zu allen sechs Klassikern (inklusive des verloren gegangenen Musikklassikers) autoritative Bemerkungen. Zum Buch der Lieder meint er: Wenn man in ein Land kommt, kann man erkennen, was den Menschen dort gelehrt wurde. Wenn sie im Umgang mit anderen warm und sanft, ehrlich und gutherzig sind, dann hat man sie die »Lieder« gelehrt.51 49 50 51
Lunyu, 1.6. Lunyu, 11.26; Übers. MORITZ: Gespräche, S. 69. Liji, Kap. 26, Shisanjing zhushu, S. 1609; vgl. JAMES LEGGE (Übers.): The Li Ki, Oxford: Clarendon Press 1885, S. 255.
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Die Wendung »warm und sanft, ehrlich und gutherzig« (wenrou dunhou) wurde zu einer sprichwörtlichen Redensart hinsichtlich des Ideals charakterlicher Kultivierung. So bildeten mitmenschliche Wärme und Sanftmut, Ehrlichkeit und Güte bis ans Ende des Kaiserreichs das Ziel konfuzianischer Erziehung – dies auch und gerade durch das Mittel der Dichtung.
Verbindung von Ritus, Musik und Dichtung Der Zusammenklang von Ritus, Musik und Dichtung ist kein chinesischer Sonderfall, vielmehr wird universell der Ursprung (nicht nur) literarischer Kunst im Ritus gesehen – sei es bei der griechischen Tragödie, der Dichtung der Psalmen, Beschwörungsgesängen der Schamanen u.ä. Umgekehrt gilt es, sich der Wichtigkeit ästhetischer Aspekte im Ritus, um diesen für Mitwirkende und Zuschauer emotional mitvollziehbar zu machen, gewahr zu sein.52 Die Einheit von Dichtung, Ritus und Musik als Grundlage moralischer Bildung kommt in folgender Stelle der Gespräche zum Ausdruck: Konfuzius sprach: »Durch Dichtung möge man sich anregen (xing) lassen, die Riten mögen einen festigen; Vollendung erfahre man durch die Musik.«53
Die Dichtung bildet hier den Anfang der Bildung, indem sie den Menschen anregt. Interessant ist hier der Gebrauch des Wortes xing, welches bereits als »anregender Anfang« bzw. als Stilmittel der »Andeutung« in den Gedichten selbst aufgetaucht ist.54 Das Einüben der Riten oder des rituellen Verhaltens dient dazu, das Verhalten im gesellschaftlichen Umgang zu festigen. Die Musik bewirkt als letztes die Vollendung eines Charakters. In diesem Dreischritt finden wir gleichsam den »Weg« konfuzianischer Charakterbildung vorgezeichnet. Musik ist jedoch nicht gleich Musik: Es gab solche, deren Erhabenheit den Meister drei Monate lang den Geschmack auf Fleisch vergessen ließ (Lunyu, 7.13); in anderen Fällen war ungestüme Musik für ihn Ausdruck von Chaos und Verderbtheit (Lunyu, 15.11). 52
53 54
Man vergegenwärtige sich in diesem Zusammenhang einmal einen katholischen Festgottesdienst mit der Farbenpracht der Gewänder, dem Psalmodieren von zentralen Texten, dem theatralischen Herumschreiten, der Orgelmusik und dem Gesang. Er läßt sich als Form eines Gesamtkunstwerkes betrachten, das eben auch durch diesen ästhetischen Rahmen eine erhebende Wirkung auf die Beteiligten ausüben kann. So auch die Riten zu Konfuzius Zeiten, wovon man auch heute noch einen Eindruck gewinnt, wenn man z.B. in Taipei (inzwischen auch in der V.R. China) die Rituale anläßlich des Geburtstages von Konfuzius miterlebt. Konfuzius soll selbst gerne auf der Zither (qin) und den Klangsteinen musiziert haben. Lunyu, 8.8. Später, z.B. im Gebrauch dieses Begriffes bei Yan Yu in der Song-Zeit, wird die Bedeutung eines angeregten Interesses wieder aufscheinen; siehe Kap. IV.7.
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Der Zusammenhang von Ritus, Dichtung und Musik wird auch deutlich aus einer weiteren Stelle im Buch der Riten, wo von den »fünf höchsten Erreichungen« (wu zhi) die Rede ist: Konfuzius sprach: »In dem, worin die Gesinnung (zhi) ihr höchstes erreicht, darin erreicht auch die Dichtung ihr höchstes. In dem, worin die Dichtung ihr höchstes erreicht, darin erreicht auch der Ritus sein höchstes. In dem, worin der Ritus sein höchstes erreicht, darin erreicht auch die Freude/Musik (le/yue) ihr höchstes. In dem, worin die Freude/Musik ihr höchstes erreicht, darin erreicht auch die Trauer ihr höchstes.«55
Man bemerke hier die Doppeldeutigkeit des Schriftzeichens, das sich sowohl yue (in der Bedeutung »Musik«) als auch le (»Freude«) lesen läßt, wobei letztere Lesart als Pendant zu »Trauer« im Kontext dieser Stelle stimmig ist. Beide – Freude und Trauer – sind jedoch auch Ausdrucksmodi der Musik, die zusammen mit Ritus und Dichtung einen gemeinsamen Ursprung hat.
Ausgewogenheit von Inhalt und Form Nicht nur für Dichtung und Musik, auch für den Ritus ist eine harmonische Beziehung zwischen Form und Inhalt von zentraler Bedeutung. Dies ist ein Leitthema im Buch der Riten sowie in den noch zu behandelnden Schriften des Xunzi. Beim Ritus – so auch bei den gesellschaftlichen Anstandsregeln – muß nämlich die äußere Form von einer inneren Haltung getragen sein, sonst wäre er unecht und bloße Äußerlichkeit. So heißt es in den Gesprächen: Der Meister sprach: »Riten heißt es, Riten heißt es – heißt das etwa nur Jade und Seide? Musik heißt es, Musik heißt es – heißt das etwa nur Glocken und Trommeln?«56
Das will sagen, zu Riten und Musik gehört mehr als bloß das Äußere. Zum Ritus gehört die innere respektvolle Haltung, und zur Musik gehört der Ausdruck von Harmonie, nicht nur das beliebige Tönen von Glocken und Trommeln. Ganz in diesem Sinne meint an anderer Stelle in den Gesprächen ein Schüler des Konfuzius: »Bei der Ausführung der Riten ist Harmonie das Wichtige« (he wei gui)57. Und mit ähnlichem Tenor wird Konfuzius im Kommentar von Zuo zitiert: Worte sind dazu da, um der Gesinnung/Absicht (zhi) gerecht zu werden; Gestaltung (wen) ist dazu da, um Worten gerecht zu werden. Wer nicht spricht, dessen 55 56 57
Liji (Kap. 29); Shisanjing zhushu, S. 1616; vgl. LEGGE: The Li Ki, S. 278–79. Lunyu, 17.11. Lunyu, 1.12.
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Harmonie und Bildung – Konfuzius über Dichtung Gesinnung erfährt man nicht. Und wenn Worte keine Gestaltung haben, dann reichen sie nicht weit (yan zhi wu wen, xing er bu yuan).58
Man sieht hier eine direkte Linie von innen nach außen, von Gesinnung über Worte zu Gestaltung, wobei letzteres wichtig ist, um ersteres – die Gesinnung gleichsam als Substanz – ausdrücken zu können. Ähnlich gehalten ist folgendes Streitgespräch: Auf die Bemerkung eines Gastes, »Dem Edlen kommt es allein auf die Substanz (zhi) an. Was braucht er sich da noch um Formen (äußeres Aussehen) zu kümmern?«, antwortet Zigong, der Schüler des Meisters: Die Form (wen) ist Wesen (zhi). Das Wesen ist Form. Sind die Haare entfernt, so sind die Felle eines Tigers und Leoparden nicht von denen eines Hundes oder Schafes zu unterscheiden.59
Die äußere Form soll also in idealer Weise mit dem inneren Wesen eine untrennbare Einheit bilden. Diese Ausgewogenheit von Form und Gehalt kommt schließlich in einer bekannten Passage aus den Gesprächen zum Ausdruck, deren Kontext sich allerdings nicht auf die Literatur, sondern auf die Persönlichkeit bezieht: Bei wem der Gehalt (zhi) die Form (wen) überwiegt, der ist ungeschlacht. Bei wem die Form den Gehalt überwiegt, der ist ein Schreiber. Bei wem Form und Gehalt im Gleichgewicht sind, der erst ist ein Edler.60
Neben der engen Beziehung zwischen Charakter und (künstlerischem) Werk bildet Ausgewogenheit von Form und Inhalt den zentralen Inhalt einer konfuzianischen Ästhetik. So wurde die gerade zitierte Stelle von späteren Kritikern immer wieder angeführt, um letzteres auch in der Literatur zu verlangen
Nützlichkeit und Anwendung literarischer Bildung Wie bereits erwähnt dienten die Lieder im Leben der Aristokratenschicht dazu, sich gewählt und rhetorisch geschickt ausdrücken zu können. So hält Konfuzius seinen Sohn an, die Lieder zu lernen, denn: »Lernt man nicht die Lieder, so hat man nichts, wodurch man sich ausdrücken kann« (bu xue shi, wu yi yan).61 An anderer Stelle – und ebenfalls im Gespräch mit seinem Sohn – vergleicht er jeman58 59 60 61
Zuozhuan (Xiang 25); LEGGE: The Ch'un Ts'ew, S. 512 und 517. Lunyu, 12.8. Lunyu, 6.16. Lunyu, 16.13. In einem zweiten Abschnitt heißt es parallel dazu: »Lernt man nicht die Riten, so hat man keine Festigkeit.«
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den, der nicht die Lieder beherrscht, mit einem Menschen, der »mit dem Gesicht zur Wand« stünde.62 Bekannter und einflußreicher ist eine Passage, die der gerade zitierten vorausgeht: Der Meister sprach: »Meine Schüler, warum lernt ihr nicht die Lieder? Die Lieder sind geeignet anzuregen (xing); geeignet, um zu beobachten (guan); geeignet, um Geselligkeit (qun) zu empfinden; geeignet, um Kummer/Unmut (yuan) auszudrücken. In der Nähe lehren sie, dem Vater zu dienen, in der Ferne, dem Fürsten zu dienen: Dazu lernt man noch viele Namen von Vögeln, Tieren, Kräutern und Bäumen.«63
Das Erlernen der Lieder glich demnach einem allumfassenden Kurs in Allgemeinbildung, wobei diese Bildung rhetorische, moralische und soziale Aspekte beinhaltete. Davon abgesehen gilt diese Stelle ganz dem Nutzen der Liederkenntnis; ästhetische, kreative oder ähnliche Gesichtspunkte scheinen für Konfuzius keine Rolle gespielt zu haben. Interessant ist in obiger Passage die Betonung von Dichtung als Ausdruck des Kummers/Unmuts. 64 Wird im Großen Vorwort »kummervolle Dichtung« in Zusammenhang mit einem nicht wünschenswerten Zustand gebracht, in dem nämlich das Gemeinwesen in Unordnung (luan), das Land zerstört und das Volk in Nöten (kun) ist, so scheinen dort Gedichte als Ausdruck von Freude und Kummer noch gleichwertig nebeneinander zu stehen. In der zitierten Stelle wird hingegen nur dem Schmerz (und nicht der Freude) zugesprochen, gute Dichtung hervorzubringen. Im weiteren Verlauf der chinesischen Literatur- und Kulturgeschichte bekam Dichtung als Ausdruck des Schmerzes oder der Frustration (yuan) eine immer größere Gewichtung. In der Han-Zeit drückte dies der berühmte Historiker Sima Qian (ca. 145 – ca. 85 v. Chr.) in folgender Weise aus: »Die Dichtung wurde geschaffen von weisen und talentierten Männern in Entrüstung, da ihre Wünsche 62 63 64
Lunyu, 17.10. Lunyu, 17.9. Der bekannte zeitgenössische Literat Qian Zhongshu (1910–1998) meint in einem Artikel, der mit einem Satz aus der gerade zitierten Lunyu-Passage betitelt ist (Shi ke yi yuan – »Dichtung ist geeignet für den Ausdruck von Kummer«): Freude, dargestellt in Liedern, welche Zeiten des Friedens glorifizierten, gehöre zur idealisierten Welt der Geschichtsbücher. Demgegenüber gehörten die Lieder der Trauer und der Unzufriedenheit, der Hungrigen und sich Abmühenden zur Wirklichkeit des Lebens. Zwar hätten die Chinesen keine Tragödien geschaffen, doch hätten sie, so Qian Zhongshu, eine Vorliebe für das Traurige besessen, für eine Dichtung als Ausdruck von bzw. bedingt durch Trauer. Allerdings zitiert er im gleichen Atemzug auch Nietzsche, der meinte, der Schmerz mache Hühner und Dichter gackern. QIAN ZHONGSHU: »Poetry as a Vehicle of Grief« (engl. Übers. JOHN MINFORD), Renditions 21 u. 22, 1984, S. 21–40.
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nicht erfüllt wurden.«65 Die modellhafte Persönlichkeit, auf den diese Charakterisierung zutraf, war Qu Yuan (ca. 4. Jh. v. Chr.), die erste historisch zu greifende Dichterfigur, dessen Elegie »Begegnung mit dem Leid« (Li sao) zum Prototyp dieser Dichtung als Ausdruck der Frustration wurde66. In der Folge dieser Präferenz wird auch ein Topos in der chinesischen Literaturkritik von Bedeutung, der später in der Song-Zeit von Ouyang Xiu (1007–72) in eine prägnante Formel gefaßt wurde und der besagt, ein Dichter müsse »Not erfahren haben, um gut zu sein« (qiong er hou gong).67 Folgende Stelle bringt ein Beispiel dafür, wie sich Verse aus dem Liederklassiker als geistreiche Gesprächseinwürfe verwenden lassen: Zigong sprach: »Arm ohne zu schmeicheln, reich ohne hochmütig zu sein: wie ist das?« Der Meister sprach: »Es geht an, kommt aber noch nicht dem gleich: arm und doch fröhlich sein, reich und doch die Regeln der Riten (li) lieben.« Zigong sprach: »Im Buch der Lieder heißt es: ›Erst geschnitten, dann gefeilt, Erst gehauen, dann geglättet.‹ Damit ist wohl eben das gemeint?« Der Meister sprach: »Zigong, mit dir kann man anfangen, über das Buch der Lieder zu reden. Ich gab dir nur einen Hinweis, und du hast gleich gewußt, worum es geht.«68
Hintergrund dieses Gesprächs des Konfuzius mit seinem Schüler Zigong ist dessen Lebensgeschichte: Zigong war arm gewesen und hatte es dann zu mäßigem Wohlstand gebracht – ohne die häufig entsprechend negativen charakterlichen Begleiterscheinungen. Für Konfuzius ist dies jedoch zu wenig. Dem Sinn des Liedverses zufolge ist moralisch rechtes Verhalten nur die Rohstufe charakterlicher Kultivierung. Was fehlt, ist der Feinschliff, der sich erst durch Befolgung der Riten einstellt. Man sieht an diesem Beispiel wiederum, daß es nicht darauf ankam, Verse des Liederbuches literarisch zu deuten, sondern auf die Fähigkeit, Zeilen eines Liedes – sprichwortartig – auf einen anderen Kontext anzuwenden.
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66 67
68
SIMA QIAN: »Bao Ren An shu«, in: GUO SHAOYU (Hg.): Zhongguo lidai wenlun xuan, I, Shanghai: Guji chubanshe 1979, S. 83; vgl. ERNST SCHWARZ (Übers.): Der Ruf der Phönixflöte – Klassische chinesische Prosa, Berlin: Rütten & Loenig 1976, Bd. I, S. 187. S. dazu Kap. I.6. S. Kap. IV.2. YANG SONGNIAN (Yeo Song Nian): »Zhongguo wenxue pinglun zhong de shiwen ›qiong er hou gong‹ shuo – jian lunxi yu bijiao Qingdai yu qiandai de youguan lunshuo«, in: WANG: Chinese Literary Criticism Ch'ing Period, S. 1–26. Zu dieser Thematik s. auch WOLFGANG KUBIN (Hg.): Symbols of Anguish: In Search of Melancholy in China, Bern: Peter Lang 2001. Lunyu, 1.15; vgl. MORITZ: Gespräche, S. 8f, und WILHELM: Gespräche, S. 41.
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Bedeutung der Sprache und Klarheit des Ausdrucks Während einige der oben zitierten Äußerungen deutlich eine Ausgewogenheit von Form und Gehalt verlangen, gibt es gewisse Aussagen von Konfuzius über die Sprache, die darauf hindeuten, daß ihm vor allem an einer klaren Ausdrucksweise gelegen war, so die Bemerkung: »Worte sollen verständlich sein, und das ist alles (ci da er yi).«69 Hier scheint jedenfalls kein Interesse an Rhetorik und Eleganz zu bestehen, denn, wie es an anderer Stelle heißt: »Glatte Worte und einschmeichelnde Mienen sind selten vereint mit Mitmenschlichkeit.«70 Die Konsequenz dieser Äußerungen wäre (ähnlich zu den noch zu behandelnden Bemerkungen zur Sprache bei den daoistischen Philosophen), am besten gar nichts zu sagen. Dies ist auch die Quintessenz folgender Stelle in den Gesprächen: Der Meister sprach: »Ich möchte lieber nicht reden.« Zigong sprach: »Wenn der Meister nicht redet, was haben dann wir Schüler aufzuzeichnen?« Der Meister sprach: »Wahrlich, redet etwa der Himmel? Die vier Zeiten gehen ihren Gang, alle Dinge werden erzeugt. Wahrlich, redet etwa der Himmel?«71
Um ein Fazit der die Dichtung (sowie Musik und Kunst) betreffenden Äußerungen des Meisters zu ziehen, hat sich zwar, wie bereits anfangs erwähnt, Konfuzius mit seinen wenigen diesbezüglichen Bemerkungen keinen Namen als Literaturkritiker gemacht, doch waren seine Äußerungen – angesichts seiner unangefochten hohen Stellung während zwei Jahrtausenden chinesischer Kulturgeschichte – von wegweisender Bedeutung. Sie bildeten einen Kanon konfuzianisch orthodoxer Literaturbewertung, und wir werden ihnen bei unserem Gang durch die chinesische Literaturgeschichte immer wieder begegnen. Zwei weitere Aspekte müssen jedoch ebenfalls abschließend herausgestellt werden: 1. Der Zusammenhang von Dichtung und Moral bzw. charakterlicher Vervollkommnung führte zur Betrachtung und Bewertung von Literatur hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt »Spiegel des Charakters« eines Dichters (shi ru qi ren). Das heißt, man war mehr am Autor, am Menschen, interessiert, nicht so sehr an seinen Erzeugnissen, an der Literatur. 2. Die oft betonte Nützlichkeit einer Vertrautheit mit den »Liedern« hatte bedeutende Nachwirkungen für die Stellung des Dichtens in der Gesellschaft. Insbesondere die Tatsache, daß Dichtung auch zu einem Teil der Staatsprüfungen wurde, ist von diesem Hintergrund her zu verstehen. So besaß in der klassischen Zeit fast nur das shi-Gedicht einen literarischen Wert.
69 70 71
Lunyu, 15.40. Lunyu, 1.3 und 17.17; vgl. auch 5.24. Lunyu, 17.19; vgl. MORITZ: Gespräche, S. 116–117.
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3. Sprache und Vitalkraft – Menzius über die Literatur
Menzius (372–289 v. Chr.) ist der wichtigste Nachfolger des Konfuzius. Die mit seinem Namen verbundenen Gesprächsaufzeichnungen, das sieben Kapitel umfassende Buch Mengzi, wurde zur wichtigsten konfuzianischen Textbasis für den ab der Song-Zeit (10.–13. Jh.) aktiven Neokonfuzianismus. Auf Menzius, wie die Jesuitenmissionare auch den Namen von Meister Meng latinisierten, geht somit die orthodoxe Überlieferung des Konfuzianismus zurück, wozu hauptsächlich seine Vorstellungen zur ursprünglichen Güte der menschlichen Natur (xing), aber auch seine Ideen über eine mitmenschliche Regierung gehören. Somit ist der Text Menzius einer der nachwirkungsreichsten in der chinesischen Geistesgeschichte. Für Menzius’ Äußerungen über Literatur, die noch spärlicher sind als die des Konfuzius, gilt der gleiche Hintergrund, der zuvor für seinen großen Vorgänger skizziert wurde: einerseits die Praxis des Zitierens von Gedichtzeilen aus den »Dreihundert Liedern« zu rhetorischen bzw. politisch-diplomatischen Zwecken, andrerseits die Heteronomie der Künste – mit anderen Worten, es gab noch keine von moralischen Gesichtspunkten losgelöste Betrachtung der Literatur oder Kunst.72 Im folgenden werden lediglich drei Bemerkungen von Menzius etwas näher untersucht: Die erste behandelt das rechte kontextuelle Verständnis von Gedichten; die zweite erhebt die Forderung, Dichter des Altertums aus ihrer Zeit heraus zu verstehen; die dritte schließlich gilt – wie auch die beiden ersten – nicht direkt der Literatur, aber indem sie die wichtigen Konzepte »Worte/Sprache« (yan) und »Vitalkraft/Atem« (qi) zusammenbringt, verdient sie unser Interesse; damit bildet sie nämlich den Keim aller späteren Äußerungen über den Zusammenhang von literarischem Schaffen und Vitalkraft, auf die in einem kleinen Exkurs auch kurz eingegangen wird.
Gegen Willkür der Interpretation Betrachten wir als erstes Menzius, 5A.4. Die Stelle hat den Hintergrund, daß Menzius nach der Rangfolge in den hierarchischen Beziehungen zwischen Fürst und Untertan sowie Vater und Sohn gefragt wird. Ein Fragesteller konstruiert einen Fall, den er bei den von den Konfuzianern so verehrten legendären Herrschern Yao und Shun ansiedelt (Yao hatte nicht seinem Sohn, sondern dem Fähigsten im Reiche, nämlich Shun, die Herrschaft über das Reich weitergegeben). So meint 72
Zur ästhetischen Dimension im Denken von Menzius s. TU WEI-MING: »The Idea of the Human in Mencian Thought: An Approach to Chinese Aesthetics«, in: SUSAN BUSH und CHRISTIAN MURCK (Hg.): Theories of the Arts in China, Princeton: Princeton UP 1986, S. 57–73.
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er, daß Yao, nachdem die Herrschaft von diesem auf Shun übergegangen sei, für Shun nun den Status eines »Untertanen« (chen) gehabt haben müsse. Gleiches müsse wohl auch für Shuns Vater gelten, der dadurch zum »Untertan« seines Sohnes geworden sei. Zur Untermauerung seines Arguments zitierte er Zeilen aus dem Lied Nr. 205 (Beishan, Nord-Berg), in dem es heißt: Auf der ganzen Welt Gehört alles Land dem König. Bis zum Ende der Welt Ist ihm jeder untertan.73
Menzius läßt jedoch dieses Argument hinsichtlich des Verhältnisses von Shun zu seinem Vater nicht gelten, denn die Respektsbeziehung zwischen Sohn und Vater bleiben für ihn sehr wohl erhalten. Und was die Untermauerung der Argumentation des Fragestellers durch das Lied-Zitat betrifft, so mahnt Menzius: Wer die Lieder zitiert, darf nicht um der Schriftzeichen Willen dem Wortlaut Gewalt antun und nicht um des Wortlauts Willen der Intention/Gesinnung (zhi) Gewalt antun. Nur wenn man mit Ideen/Sinn den Intentionen des Stücks nachgeht (yi yi ni zhi), trifft man’s. Wenn man bloß nach dem Wortlaut geht, dann müßte man aus dem Lied »Die Milchstraße« (Yun han)74, wo es heißt »Von all der Untertanen Zahl der Zhou / Blieb kein einziger übrig«, schließen, daß von den Untertanen der Zhou heute keiner mehr vorhanden wäre.75
Von anderen Textstellen wissen wir, daß Menzius die aus dem Kommentar des Zuo bekannte Praxis des Zitierens aus dem Kontext gelöster Gedichtzeilen durchaus nicht fremd war. In der gerade angeführten Textstelle wendet er sich jedoch gegen einen Umgang mit den Liedern, der diese Praxis pervertiert, indem der tatsächliche Sinn des Gedichtes mißachtet wird, denn das zitierte Gedicht ist eigentlich eine Klage eines Mannes gegen seinen Fürsten, der ihn mit Pflichten so unter Druck setzt, daß er nicht mehr zum Dienst an seinen Eltern kommt. Menzius kritisiert hier also einen allzu wörtlichen, fragmentarischen, insbesondere aber einen kontextfremden und insofern entstellenden Gebrauch der Lieder. Stattdessen empfiehlt er, mit (eigenen?) Ideen (yi) den Intentionen (zhi) des Autors entgegen zu gehen. Wie das Fragezeichen andeutet, ist die Passage allerdings nicht eindeutig, und es gab in der Folge Kontroversen darüber, wie das Wort »Ideen« (yi) zu verstehen sei: Ist damit die eigentliche Idee bzw. der feststehende »Sinn« des Gedichtes 73 74 75
LEGGE: The She King, S. 360. Ebd. S. 530. JAMES LEGGE (Übers.): The Works of Mencius, Oxford: Clarendon Press 1895, S. 352f; vgl. RICHARD WILHELM (Übers.): Mong Dsi. Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o, München: Diederichs 1994, S. 140.
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Sprache und Vitalkraft – Menzius über die Literatur
gemeint, der ja für die meisten Gedichte des Shijing recht offensichtlich ist und mit dem man auf die Absicht eines Autors schließen könnte? (So erklärt auch Menzius in der betreffenden Textstelle dem Fragesteller den richtigen Sinn des zitierten Gedichts.) Oder bedeutet Idee/Sinn das eigene Verständnis, mit dem man sich dem Horizont des Werks nähert? Letztere Deutung würde zwar dem heutigen Verständnis einer hermeneutischen Annäherung eines Textes entsprechen, doch läßt der Kontext darauf schließen, daß Menzius einen derartigen – und für ihn wohl zu subjektivistischen – Zugang zu den Liedern nicht im Sinn gehabt hatte.
Anfreundung durch Lektüre In einer zweiten Textstelle (5B.8) geht es darum, sich Personen des Altertums über ihre Gedichte zu Freunden zu machen: Menzius sagte zu Wan Zhang: »Der beste Mann in einer Nachbarschaft macht sich alle Guten der Nachbarschaft zu Freunden. Der beste Mann in einem Lande macht sich alle Guten in diesem Lande zu Freunden. Der beste Mann auf Erden macht sich alle Guten auf Erden zu Freunden. Aber selbst alle Guten auf Erden zu Freunden zu haben, ist ihm noch nicht genug. Er steigt empor in seinen Gedanken zu den Männern des Altertums, er rezitiert ihre Lieder, er liest ihre Schriften. Weiß er nicht, ob solch ein Mann des Altertums würdig ist, so beschäftigt er sich mit der Geschichte seiner Zeit. Das heißt emporsteigen mit seiner Freundschaft.«76
Menzius will hier sagen, um einen Menschen bzw. Autor zu verstehen, genügt es nicht, seine Gedichte und Briefe zu lesen, man muß auch seine politische und gesellschaftliche Welt, in der er lebte, in Erwägung ziehen und zu verstehen suchen. Das Zitat verdeutlicht das Interesse, das alle späteren Gelehrten an den großen Literaten vergangener Zeiten hatten. Man machte sie sich über ihre Werke (Dichtung, Kalligraphie, Malerei), inklusive entsprechender Geschichtskenntnis, zu Freunden. Das heißt allerdings auch, daß man primär an der Persönlichkeit interessiert war. Die Werke eines Autors wurden als Widerspiegelungen seines Charakters gesehen und dienten als Zugang zur persönlichen Sphäre. So konnte man sich über die Werke – und über die Zeiten hinweg – mit ihm anfreunden.
Sprache und Vitalkraft Die dritte und wohl bekannteste Textstelle (2A.2) behandelt das Sich-Auskennen mit Worten (zhi yan) und das Nähren der Vitalkraft (yang qi). Allerdings ist diese Stelle, in der nicht nur von Worten und Vitalkraft, sondern auch von Gesinnung/ 76
LEGGE: The Works of Mencius, S. 391f; Übers. nach WILHELM: Mong Dsi, S. 156 (mit geringfügigen Modifikationen).
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Wille (zhi) und Geist/Herz (xin) die Rede ist, weniger von »literaturtheoretischem« als vielmehr von übergreifendem ästhetisch-philosophischen Interesse.77 Mit anderen Worten, wir haben hier einen in (lebens-)philosophische Bereiche hinein reichenden Diskurs, der später auch Grundlage literaturtheoretischer Erörterungen wird. Der inhaltliche Zusammenhang der Textstelle ist ein Gespräch über die eigentlich für unser aller Leben nicht unbedeutende Frage, wie man angesichts von Gefahr – oder überhaupt im Leben – einen gelassenen Geist (wörtlich: ein »unbewegtes Herz«, bu dong xin78) bewahren kann. Dabei wird Menzius gefragt, wodurch er selbst in der Lage wäre, einen unbewegten Geist zu bewahren, und zwar in Unterscheidung zu seinem Zeitgenossen Gaozi. In Beantwortung dieser Frage zitiert Menzius zunächst den Gaozi, welcher meint: »Was man nicht in Worten ausdrücken kann, das suche man nicht im Geist. Und was nicht im Geist präsent ist, das suche man nicht in der Vitalkraft zu finden.« Menzius schätzt dabei den ersten Satz des Gaozi als falsch ein (d.h., auch etwas, das sich nicht in Worten ausdrücken läßt, kann geistig präsent sein, bzw. was hinter den Worten liegt und sich gar nicht in Worte fassen läßt, kann trotzdem im Geist vorhanden sein). Gaozis letztem Satz stimmt er jedoch zu, nämlich insofern, als daß der Geist die Kontrollfunktion über die Vitalkraft ausübt. Dazu führt Menzius weiter aus: Der Wille (zhi) ist der Lenker der Vitalkraft (qi), und die Vitalkraft erfüllt den ganzen Körper. Aber der Wille kommt zuvörderst, und die Vitalkraft kommt erst an zweiter Stelle. Deshalb sage ich: Festige deinen Willen und verletze nicht die Vitalkraft. [...] Wenn der Wille konzentriert ist, dann setzt er die Vitalkraft in Bewegung, und wenn die Vitalkraft konzentriert ist, dann setzt sie den Willen in Bewegung. Zum Beispiel wenn einer läuft oder fällt, dann ist seine Vitalkraft aktiv, und sie bewegt wiederum seinen Geist.
Darauf wird die Frage an Menzius gerichtet: »Darf ich fragen, was deine Stärke ist?« Menzius antwortet: »Ich kenne mich aus in Worten, und ich verstehe es, meine überfließend reiche Vitalkraft (haoran zhi qi) zu nähren.« Die Frage, was er mit »reichlich überfließender Vitalkraft« meine, beantwortet Menzius: Das ist nicht einfach zu erklären. Die Vitalkraft ist etwas, das sehr groß und sehr stark ist. Wenn man sie mit [moralischer] Geradheit nährt und sie nicht verletzt, 77
78
S. die ausführliche Erörterung dieser Stelle von verschiedenen Sinologen in PAULINE YU (Hg.): Ways with Words. Writing About Reading Texts from Early China, Berkeley: University of California Press 2000, S. 41–57. Diese Frage wird mit der gleichen Terminologie später von zenbuddhistisch orientierten Theoretikern der japanischen Kampfeskünste erörtert. S. REINHARD KAMMER: Die Kunst das Schwert zu führen. Zen in der alt-japanischen Fechtkunst, München: Otto Wilhelm Barth 1976.
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Sprache und Vitalkraft – Menzius über die Literatur dann erfüllt sie alles zwischen Himmel und Erde. Die Vitalkraft ist verbunden mit Pflichtbewußtsein (yi), und dem »Weg« (dao). Ohne diese zwei versiegt sie. Sie entsteht durch andauernde Pflichterfüllung. Man kann sie nicht durch gelegentliches Rechttun erlangen. Wenn unser Verhalten nicht Zufriedenheit in unserem Geist/Herz (xin) weckt, dann versiegt sie. Man soll sie also pflegen, ohne Erwartung daran zu knüpfen. Man soll sich im Geist immer dessen bewußt sein, man darf aber nicht versuchen, das Wachsen der Vitalkraft zu fördern.
Diesen letzten Satz erläutert Menzius durch das Beispiel eines Mannes von Song, der dem Reis dadurch beim Wachsen helfen wollte, indem er die Reisschößlinge etwas herauszog, wodurch sie natürlich alle verwelkten. Das Wachsen der Vitalkraft läßt sich also nicht erzwingen. Nach dieser Erwiderung von Menzius wird schließlich die letzte Frage gestellt: »Was heißt ›sich auskennen in Worten‹?« Menzius antwortet: Höre ich einseitige Reden, so merke ich, was sie verdecken sollen. Höre ich ausschweifende Reden, so merke ich, welche Fallen sie stellen. Höre ich falsche Reden, so merke ich, wovon sie abweichen. Höre ich ausweichende Reden, so merke ich, aus welcher Verlegenheit sie kommen. Solche Reden werden im Geist geboren und schaden einer rechten Regierungsausübung. Treten diese in der Regierungsausübung zu Tage, dann schaden sie den öffentlichen Belangen.79
Um zum Kern dieser Textstelle vorzudringen, vergegenwärtigen wir uns noch einmal ihren Kontext: Es geht hier um den Zusammenhang von Vitalkraft und Moral (Pflichtbewußtsein – yi)80 sowie Willen/Gesinnung (zhi) und Geist/Herz (xin). Letzterem wird von Menzius eine Kontrollfunktion über den Willen zugeschrieben. Ein gelassener Geist bewirkt demnach eine starke Vitalkraft und – damit zusammenhängend – Furchtlosigkeit und Mut. Ein unruhiger Geist bewirkt das Gegenteil: eine schwache Vitalkraft, Furcht, Zittern, Herzklopfen. Es ist also im Leben durchaus wünschenswert, einen unbewegten Geist zu erlangen, und Menzius bringt in der (hier nicht zitierten) Vorgeschichte zu dieser Textstelle Beispiele von einigen mutigen Menschen, wobei er schildert, in welch unterschiedlicher Weise sie sich durch einen gelassenen Geist auszeichnen: Ein erster bemüht sich z.B. darum, vor nichts zurückzuzucken, und hat auch keine Furcht, einem Fürsten die Meinung zu sagen. Ein zweiter übt sich in Gleichmut, nämlich darin, Siegen und Verlieren als eins zu betrachten. Ein dritter hingegen bringt Mut in Verbindung mit Selbstprüfung und Rechttun, wobei er sich auf Konfuzius beruft. Genau um letzteres geht es Menzius: Er meint, seine Vitalkraft könne durch das Praktizieren des »Weges« (dao) und durch Pflichterfüllung (yi) genährt werden. 79 80
LEGGE: The Works of Mencius, S. 188ff.; vgl. WILHELM: Mong Dsi, S. 67ff. Im Streitgespräch mit Gaozi im 6. Buch seines Buches will Menzius zeigen, daß das Pflichtbewußtsein (yi) ein angeborener, d.h. zur Natur des Menschen gehörender Teil ist.
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Mit anderen Worten, aus Rechttun ergibt sich Furchtlosigkeit, und noch mehr: daraus ergibt sich eine reichlich überfließende Lebenskraft (haoran zhi qi), die ihn mit dem ganzen Kosmos verbindet – eine kosmische Vitalität sozusagen, oder eine mystische Einheit mit allem Lebendigen. Aufgrund dieses Zusammenhanges ist dieses Wort von der – aus moralischer Kultivierung resultierenden – »reichlich überfließenden Vitalkraft« zu einem der berühmtesten der vielen geflügelten Worte aus dem Buch Menzius geworden. Wichtig für das Verständnis dieser Wendung ist also, daß eben nicht yogaähnliche Übungen zum Nähren der Vitalkraft (wie wir sie später im Umfeld des religiösen Daoismus – z.B. in der Form von Qigong-Übungen – kennen81) zu diesem überfließenden Stadium führen, sondern moralische Kultivierung, d.h. eine auf das Rechttun ausgerichtete Gesinnung, da letztere ja Lenkerin der Vitalkraft ist. Insofern haben sowohl die »überfließende Vitalkraft« als auch die Gesinnung/der Wille hier bei Menzius eine eindeutig moralische Bedeutung. Nun stellt sich noch die Frage, was diese Textstelle zu »Worten«, d.h. zur Literatur, zu sagen hat, denn wie wir sahen, ist die Beziehung hier zwischen »Worten« und »Vitalkraft« nicht explizit; sie läßt sich jedoch herstellen. Dies zeigt sich auch darin, daß sich später etliche Kritiker bei ihren Erörterungen des Verhältnisses von Literatur zu Vitalkraft darauf berufen und dabei »Worte« – gleichsam als Rohmaterial – stellvertretend für Literatur nehmen. Worte sind zunächst Ausdruck des Geistes (xin), und so sind Worte der Dichtung – wie wir im Großen Vorwort erfahren haben – Ausdruck der Gesinnung/des Willens (zhi). Wenn Menzius es als seine Stärke ausgibt, sich mit Worten auszukennen, dann meint er damit, den Geist derer zu kennen, die Worte machen: Er kann von den Worten auf den Geist schließen oder, anders gesagt, er weiß, was sich hinter den Worten verbirgt. Insofern verwirft er auch die anfängliche Bemerkung Gaozis, was man nicht in Worte fassen könne, solle man auch nicht im Geist suchen. Im Geist/Herz ist nämlich mehr, als sich in Worte fassen läßt, bzw. mehr, als man gemeinhin in Worten ausdrückt. Auf diesen Zusammenhang beziehen sich auch seine letzten Bemerkungen über ausschweifende und falsche Redeweisen, die er als Ausdruck einer entsprechenden Geisteseinstellung erkennt; dabei unterstreicht er zum Schluß auch die Schädlichkeit einer sich in solch einseitigen Worten ausdrückenden Geisteshaltung für das Gemeinwohl. »Worte zu kennen« heißt also bei Menzius, eine moralische Unterscheidungsfähigkeit für Worte und eine entsprechende geistige Einstellung, die sich in Worten äußert, zu besitzen. Die Fähigkeit, Worte zu kennen, ergibt sich aus der charakter81
Grundlegende Ausführungen zur Vitalkraft (qi), und zwar im Sinne von Übungen, wie sie später im Qigong Gestalt annehmen, finden sich in dem anonym überlieferten Buch Guanzi, dessen früheste Teile etwa aus dem 4./3. Jh. v. Chr. stammen. S. HARALD ROTH: Original Tao: Inward Training (Nei Yeh) and the Foundations of Taoist Mysticism, New York: Columbia UP 1999.
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Sprache und Vitalkraft – Menzius über die Literatur
lichen Kultivierung. So liegen das »Kennen der Worte« und das »Nähren der überfließende Vitalkraft« auf der gleichen, nämlich moralischen Ebene. Es bietet sich in diesem Kontext an, in einem kleinen Vorausblick die Nachwirkungen dieser Ausführungen zum Verhältnis von Worten (d.h. Dichtung) und Vitalkraft (qi) kurz zu skizzieren.82 Für die spätere chinesische »Literaturtheorie« ist kennzeichnend, daß die moralische Komponente, die bei Menzius noch dominant ist, bei Äußerungen über den Zusammenhang von Literatur und Vitalkraft immer unbedeutender wird. Zum Beispiel gibt es in Liu Xies Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen (Wenxin dialolong) ein (noch zu besprechendes) Kapitel über das »Nähren der Vitalkraft« (yang qi), worin er sich zwar auf Menzius beruft, wobei es ihm jedoch mehr – und eher im daoistischen Sinne – um die Kultivierung einer geistigen und physischen Frische (er sieht einen direkten Zusammenhang zwischen geistigem Streß und physischer Erschöpfung) als um moralische Fähigkeiten zu gehen scheint.83 Die Meinungen über die Möglichkeiten des Nährens der Vitalkraft – im Zusammenhang von Literatur und Kunst – divergieren in der späteren Zeit recht stark. Das Gemeinsame ist vielleicht, daß Literatur (ebenso wie Kalligraphie und Malerei84) zwar in allen Fällen als Widerspiegelung oder Äußerung der Vitalkraft angesehen wurde, der Unterschied jedoch darin besteht, daß von einigen das qi als eine jedem Menschen eigene und nicht »nährbare« Größe – gleichsam als angeborenes und charakteristisches Temperament, Talent oder Konstitution –, und von anderen eher als eine kultivierbare Eigenschaft angesehen wurde. Letztere Variante spielt bei Liu Xie wohl eine größere Rolle (obwohl seine Ausführungen zu diesem Punkte nicht einheitlich sind). Als früher Repräsentant der ersteren Richtung ist Cao Caos Sohn Cao Pi (187–226) anzusehen, von dem (wie auch von Liu Xie) noch ausführlicher zu sprechen sein wird. Als Beispiele, wie auf die Auffassung von Menzius zur Vitalkraft Bezug genommen und diese gleichzeitig modifiziert wird, seien hier kurz noch zwei spätere Literaten angeführt: Han Yu (768–824) und Su Che (1039–1113), der Bruder des berühmten songzeitlichen Literaten Su Shi (oder Su Dongpo). Han Yu vergleicht die Vitalkraft mit Wasser und die Worte mit Dingen, die das Wasser zu tragen in der Lage ist. Ist das Wasser groß (wie ein Meer), dann trägt es große und kleine Dinge. Und so meint er von einer Vitalkraft, die »voll« (sheng) ist: »Eine über82
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S. den Überblicksartikel von DAVID POLLARD: »Ch'i in Chinese Literary Theory«, in: ADELE RICKETT (Hg.): Chinese Approaches to Literature. From Confucius to Liang Ch'i-ch'ao, Princeton: Princeton UP 1978, S. 43–66; s. auch GUO SHAOYU: »Zhongguo wenxue pipingshi shang zhi ›shen‹ ›qi‹ shuo«, und »Wenqi bianxi«, in ders.: Zhaoyushe gudian wenxue lun ji, Shanghai: Guji chubanshe 1983, S. 46–79, 115–123. VINCENT YU-CHUNG SHIH (Übers.): The Literary Mind and the Carving of Dragons, Hongkong: Chinese UP 1983 (bilingual edition), S. 428. Zur Bedeutung von qi in der Malerei s. Exkurs 1 in Teil II.
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fließende Vitalkraft bringt einfach passende Worte hervor, ob sie nun kurz oder lang und ob ihre Töne hoch oder niedrig sind.«85 Su Che meint andrerseits: »Literatur, das ist die Gestaltwerdung der Vitalkraft. Literatur läßt sich jedoch nicht durch Lernen beherrschen; die Vitalkraft läßt sich hingegen durch Kultivieren erlangen.« Als Stütze dieser These beruft er sich auf Menzius und auf Sima Qian, die er als große und weitgereiste Geister rühmt. Wann hätten diese beiden je mit dem Pinsel in der Hand das Schreiben gelernt? Er fährt fort: »Ihre Vitalkraft füllt ihr Inneres und fließt über in ihr Äußeres. Es ist die bewegende Kraft in ihren Worten, und es erscheint in ihren Schriften ohne bewußte Anstrengung.« Su Che schließt, indem er von seinem Wunsch schreibt, wie Sima Qian das ganze Land zu bereisen, die großen landschaftlichen Schönheiten zu sehen und bedeutende Männer zu treffen, in der Hoffnung, durch Begegnung mit geistiger Größe seine Vitalkraft zu nähren.86 David Pollard schlußfolgert in seinem Artikel über die Vitalkraft in der chinesischen Literaturkritik, die Popularität der Erörterung dieses Themas quer durch die Epochen der chinesischen Literatur zeige, daß ein Stück Literatur bzw. ein Kunstwerk als etwas Lebendiges (oder Ausfluß eines Lebendigen) gesehen werde, nicht etwas aus Stein Gehauenes oder durch bewußte Kunstfertigkeit Erzeugtes.
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»Da Li Yi shu«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 115; POLLARD: »Ch'i in Chinese Literary Theory«, S. 56. S. auch Kap. III.3.3. »Shang Shumi Han taiwei shu«, in GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 311; POLLARD: »Ch'i in Chinese Literary Theory«, S. 58.
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4. Gehalt und Gestalt – Xunzi über Riten und Musik
Xunzi (313–238 v. Chr.) gilt uneingeschränkt als der wohl systematischste und kritischste Denker der späten Zhou-Zeit: systematisch, weil sein Werk, das Buch Xunzi, das erste in der philosophischen Literatur Chinas ist, das nicht eine Aneinanderreihung von unzusammenhängenden Gesprächsfetzen darstellt, sondern in der Tat systematisch (in 32 Kapiteln) eine Vielzahl der damals relevanten philosophischen Fragen abhandelt; und kritisch, weil er mit einer analytischen Vorgehensweise rational und scharf argumentiert. Xunzi ist zwar (zusammen mit Menzius) einer der Fortführer der konfuzianischen Schule, doch kann man ihn, da er Gedankengut der Mohisten (deren Logik), der Daoisten (das absichtslose Wirken des eher materialistisch gedachten Himmels) sowie der frühen Legalisten (ihre Vorstellung von strenger sozialer Kontrolle) in sein konfuzianisches Weltbild mit einbaut, auch als Synthetiker der ausgehenden Zhou-Zeit bezeichnen. Zudem läßt sich aus Inhalt und Titel seines 1. Kapitels »Ermahnung zum Lernen« sehen, wie sehr er in der konfuzianischen Tradition des unermüdlichen Lernens gestanden und diese fortgeführt hat. Xunzi wird im frühen Konfuzianismus als Gegenpol zu Menzius gesehen; letzterer wurde besonders von den späteren Neokonfuzianern als Träger der konfuzianischen Orthodoxie gefeiert. Im allgemeinen gilt Menzius als Idealist und Xunzi als Realist, wobei ihm eine Zeitlang von den modernen Hütern der chinesischen Geistesgeschichte sogar das angeblich positive Attribut »proto-materialistisch« angehängt wurde. Hauptunterschied zwischen beiden ist die Ansicht zur menschlichen Natur (xing), welche Menzius von Geburt an als gut, Xunzi hingegen als schlecht betrachtet.87 Eine weitere Differenz liegt in der unterschiedlichen Gewichtung von Kernbegriffen bzw. -tugenden des Konfuzianismus: Wo Menzius Wert legt auf Mitmenschlichkeit (ren) und Pflicht (yi) und sie von ihren emotionalen Anfängen her als zur Natur des Menschen zugehörig betrachtet, betont Xunzi einen Zusammenklang von Riten bzw. Anstandsregeln (li) und Pflicht, die er als notwendige Instrumente zur Regelung der sozialen Ordnung empfindet. Wie Wolfgang Bauer einmal deutlich gemacht hat, war für Xunzi das Ritual nicht bloß Ausdruck der konfuzianischen Mitmenschlichkeit, »sondern das Werkzeug, mit dem die
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Wie D.C. Lau gezeigt hat, ist der Unterschied zwischen beiden Positionen gar nicht so groß, wenn man bedenkt, daß Menzius die geistigen/intellektuellen Fähigkeiten (xin) als zur menschlichen Natur zugehörig, Xunzi hingegen, diese als etwas von der rein triebhaft gesehenen Natur Getrenntes betrachtet. Für Xunzi tragen diese intellektuellen Fähigkeiten nämlich dazu bei, daß der Mensch in der Lage ist, die Lehren der Weisen umzusetzen und eine gute Ordnung für das menschliche Miteinander zu schaffen. D.C. LAU (Übers.): Mencius, Harmondsworth: Pinguin 1970, S. 19.
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Menschlichkeit gegen den Willen der Natur erst hervorgebracht, das Schnitzmesser gleichsam, mit dem das Bild des Menschen erst aus dem widerstrebenden rohen Holz befreit werden konnte«.88 Insofern meinen Kritiker, Xunzis Konzept der Riten/Anstandsregeln sei mit dem legalistischen »Gesetz« (fa) zu vergleichen – eine sicher nicht abwegige Einschätzung, die auch dadurch gestützt wird, als Xunzi der Lehrer von solch wichtigen Figuren des Legalismus wie Han Fei (ca. 280– 234 v. Chr.) und Li Si (3. Jh. v. Chr.) war.89
Riten Da, wie bereits erwähnt, in den Riten auch eine ästhetische Komponente steckt, soll hier zunächst näher auf Xunzis Konzeption von li und dann auf seine Erörterung der Musik eingegangen werden. Die Bedeutung der Riten bei Xunzi läßt sich jedoch nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Wie wir sehen werden, sind seine Vorstellungen dazu vielschichtig und differenziert. Im folgenden werden deshalb seine Ausführungen zu den Riten unter vier verschiedenen Aspekten vorgestellt: 1) ihr gefühlsmäßiger Gehalt (qing), 2) ihre Form (wen), ihre Ordnung (li) und 4) schließlich ihre Praxis (yong). Zum Zusammenhang von Ritus und Gefühl heißt es bei Xunzi: Alle Riten beginnen in Einfachheit, erfüllen sich in schöner Form und enden in Freude. Wenn Riten in ihrer höchsten Form ausgeführt werden, dann sind sowohl die sie tragenden Gefühle und Formen auf das vollste verwirklicht. Am Zweitbesten ist es, wenn der gefühlsmäßige Inhalt und die Form abwechselnd den Vorrang haben. Am schlechtesten ist es, wenn sich alles auf Gefühle gründet und nur von ihnen zusammengehalten wird.90
Vergleichbar zu Konfuzius’ Äußerung über eine in Form (wen) und Substanz (zhi) ausgeglichene Persönlichkeit fordert hier Xunzi hinsichtlich der Ausführung 88 89
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WOLFGANG BAUER: China und die Hoffnung auf Glück, München: Hanser 1991, S. 85. Die Schule des Legalismus (auch Legismus genannt) befürwortete ein Regieren durch harsche Strafgesetze (fa) – im Gegensatz zu den Konfuzianern, die ein Regieren durch Vorbild und Befolgen der Riten empfahlen. Die Strafgesetze der Legalisten sollten für alle ohne Berücksichtigung der gesellschaftlichen Rangordnungen (den Herrscher ausgenommen) verbindlich sein. Im Jahre 221 v. Chr. gelang es dem durch legalistisches Denken gestrafften Qin-Staat, die vielen feudalen Fürstentümer unter dem berüchtigten ersten Kaiser, Qin Shi Huangdi, in ein zentralistisches Reich zu vereinigen. Allerdings hatten die egalitäre, aber auch despotische Herrschaft und die drakonischen Regierungsmaßnahmen zur Folge, daß die Dynastie nur kurze Zeit währte und das legalistische Denken fortan desavouiert war. Erst in der Kulturrevolution feierte der Legalismus – als Gegenpol zum als »reaktionär« beschimpften Konfuzianismus – eine kurzzeitige Wiederauferstehung. Kap. 19, WANG ZHONGLIN (Hg.): Xunzi duben, Taipei: Sanmin shuju 1977, S. 286; vgl. HERMANN KÖSTER (Übers.): Hsün-tzu, Kaldenkirchen: Steyler Verlag 1967, S. 246, BURTON WATSON (Übers.): Hsün-tzu. Basic Writings, New York: Columbia UP 1963, S. 94.
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Gehalt und Gestalt – Xunzi über Riten und Musik
der Riten ein harmonisches Verhältnis von Außen und Innen, von Form und Gefühl (qing). Das heißt, nur das Ausleben bzw. Zeigen von Gefühl (z.B. Trauer) genügt nicht; Gefühl muß auch eine angemessene Form haben. Das Gegenteil davon, reine Form bzw. reine Äußerlichkeit, ist ebenfalls nicht erstrebenswert. In einem solchen Fall mag man zwar ein üppiges Blühen von schönem Ritual beobachten, aber es fehlt diesem die Substanz. Um diese rechte Mitte geht es ihm auch in folgender Textstelle (aus Kap. 19): Wenn Form (wen) und Ordnung (li) betont werden, Gefühl (qing) und Praxis (yong) dagegen gering geschätzt werden, dann blühen die Riten am üppigsten. Wenn Form und Ordnung gering geschätzt werden, Gefühl und Praxis hingegen betont werden, dann ist das der Tod der Riten. Wenn Form und Ordnung, Gefühl und Praxis wie innen und außen, vorne und hinten einer einzigen Wirklichkeit angesehen werden, beide zusammengehen und sich vermengen, dann sind die Riten in einer harmonischen mittleren Stufe. Deshalb weiß der Edle, wie er die Riten erblühen und verkümmern lassen kann, aber er wählt den Mittelweg.91
Form bildet also mit Ordnung einen Aspekt der Riten, den man weder zu hoch noch zu niedrig ansetzen darf. Der andere und ebenso wichtige Aspekt besteht aus Gefühl und Praxis (wobei dahinter durchaus ein praktisches Wissen über den rechten Umgang mit Opfernahrung, z.B. deren Zubereitung, gemeint sein kann). Da qing (Gefühl) gerade im sprachlichen Gebrauch am Ende der Zhou-Zeit (so auch bei Menzius) häufig die Bedeutung »reale Situation, Umstände« hat92, ist diese Bedeutungsnuance auch mit zu berücksichtigen. So könnte man Form (wen) und Ordnung (li) als kulturellen bzw. ästhetischen Aspekt, und Gefühl (qing) und Praxis (yong) als emotionalen/realen bzw. praktischen Aspekt bei der Ritenausübung deuten. An einer anderen Stelle bringt Xunzi bezeichnenderweise Form und Ordnung in Zusammenhang mit Kultivierung (wei, wörtl.: eher »Künstlichkeit«), und zwar im Gegensatz zum ursprünglichen Wesen (xing) des Menschen: »Wesen« (xing) bedeutet Anfang, Urzustand und Rohmaterial; Kultivierung (wei) bedeutet feine Form, Ordnung und Blüte. Wo kein Wesen ist, da ist auch kein Ort, wo Kultivierung ansetzen könnte; und wo keine Kultivierung vorhanden ist, da kann das Wesen sich nicht verfeinern. Nur wenn Wesen und Kultivierung zusammengebracht werden, können die Weisen sie als »eins« bezeichnen. Daß sie dies aufgezeigt haben, darin besteht ihre Leistung in der Welt.93
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Riten eine harmonisierende Wirkung auf den Menschen, insbesondere in seinem gesellschaftlichen Umgang, ausüben 91 92 93
WANG: Xunzi duben, S. 287; vgl. KÖSTER: Hsün-tzu, S. 246, WATSON: Hsün-tzu, S. 96. Wie im modernen Kompositum qingzhuang. Kap. 19, WANG: Xunzi duben, S. 290; vgl. KÖSTER: Hsün-tzu, S. 253.
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sollen. Sie tun dies, indem sie dem Ausdruck von Gefühlen eine Form verleihen und indem sie regulierend (jie) und ästhetisierend (wen) wirken. Angesichts des Wertes, den Xunzi der Form und der Ordnung (Struktur) der Riten zumißt, spricht Fung Yu-lan deshalb bei diesem von einer »Poetisierung« der Riten.94
Musik Wie bereits deutlich wurde, steht in der konfuzianischen Tradition die Musik mit den Riten in ganz engem Zusammenhang.95 Wenn die Musik für Konfuzius selbst einen eminenten Stellenwert besaß, so trifft dies jedoch nicht auf alle großen Figuren der ausgehenden Zhou-Zeit zu. Zum Beispiel bestritt Mo Di (5.–4. Jh. v. Chr.) den Wert der Musik, indem er sie – so in einem Kapitel »Gegen die Musik« (Fei yue) – als nutzlos erachtete.96 Xunzi, der im Gegenteil der Musik große Bedeutung beimißt, polemisiert in diesem Punkte häufig gegen Mo Di. In Xunzis Werk folgt das Kapitel über die Musik unmittelbar auf das über die Riten. Von seinem Inhalt läßt sich einiges auf die Literatur übertragen, so werden darin diese vier Aspekte unterschieden: 1. 2. 3. 4.
das ästhetische Vergnügen an der Musik, der Ausdruck von Gefühl in der und durch die Musik, Musik als Widerspiegelung sozialer Verhältnisse, Musik als erzieherisches Mittel.
Das Musikkapitel97 im Buch Xunzi beginnt mit einer bedeutungsvollen und auf Homophonie beruhenden Gleichsetzung: das erste Schriftzeichen (der Graph) hat zwei Lesungen: yue = »Musik« und le = »Freude/Vergnügen«. So heißt es: Musik bedeutet Freude; es ist ein Gefühl, das dem Menschen nicht fehlen darf. Deshalb kann der Mensch nicht ohne Musik sein. Musik/Freude muß sich somit in Tönen (sheng) und Klängen (yin) äußern; sie gewinnt Form durch [den Wechsel von] Bewegung und Ruhe. Und der »Weg« (dao) des Menschen, seine Töne und Klänge, Bewegung und Ruhe sowie alle Ausdrucksformen seiner inneren Welt, zeigen sich in ihr. Deshalb kann der Mensch nicht ohne Musik/Freude sein. Die Musik/Freude kann aber nicht ohne Formen sein.98 94
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FUNG YU-LAN: A Short History of Chinese Philosophy, Toronto: Collier-Macmillan 1966, S. 148f. S. KENNETH DEWOSKIN: »Early Chinese Music and the Origins of Aesthetic Terminology«, in: BUSH und MURCK: Theories of the Arts in China, S. 187–214. HELWIG SCHMIDT-GLINTZER (Übers.): Mo Ti (Mo Di): Von der Liebe des Himmels zu den Menschen, München: Diederichs 1992, S. 193ff. Das Musikkapitel im Xunzi ist zum Teil identisch mit dem Musikkapitel im Buch der Riten. Kap. 20, WANG: Xunzi duben, S. 305; Liji (Shisanjing zhushu), S. 1544; vgl. KÖSTER: HsünTzu, S. 261f, WILHELM: Li Gi, S. 92.
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Musik bereitet demnach nicht bloß ein Vergnügen oder eine Freude, ohne das der Mensch nicht sein kann, sie ist, wie die doppelte Lesung des Schriftzeichens deutlich macht, gleichsam Freude selbst. Insbesondere als Gesang und in der Verbindung mit Tanz ist sie ein natürlicher und notwendiger Ausdruck der Gefühle des Menschen. Sie ist jedoch nicht nur Ausdruck menschlicher Gefühle, sondern auch Mittel – ebenso wie die Riten –, diese Gefühle zu regulieren, zu lenken und zu harmonisieren. Deshalb heißt es bei Xunzi in unmittelbarem Anschluß an das letzte Zitat: Wenn diese Formen aber keine rechte Führung haben, dann wird es Unordnung geben. Die früheren Könige haßten Unordnung und schufen deshalb die Klänge zu den höfischen Liedern (ya) und Opferliedern (song) [des Buchs der Lieder], um die Menschen zu führen. Sie machten die Klänge genügend freudig, ohne aber ausgelassen zu sein; sie machten ihre Texte genügend differenziert, ohne ermüdend zu sein; sie machten ihre Rhythmen, seien sie gewunden oder gerade, kurz oder lang, schlank oder breit, genügend anregend für das gute Herz des Menschen, so daß keine unlauteren Gefühle oder schlechte Regungen sich anschließen konnten. Auf dieser Grundlage schufen die früheren Könige Musik.99
Musik war also in Xunzis Augen ein Mittel der weisen Herrscher des Altertums, das Land vor dem Chaos (luan) zu bewahren; dies gelang ihnen, indem sie harmonische Musik schufen. Zudem, so Xunzi, schafft eine ernste und würdevolle Musik ein friedfertiges und militärisch starkes Volk, welches kein Feind anzugreifen wagt. Ausgelassene Musik hingegen führt direkt zu Streit und Anarchie: Wenn Riten und Musik aufgegeben werden und zügellose Klänge aufkommen, dann ist das der Anfang der Gefahr der Auslöschung und Schande. Die früheren Könige schätzten deshalb Riten und Musik und verachteten zügellose Klänge [...] Sie freuten sich an der Musik, weil durch die Musik das Herz des Volkes zum Guten geführt werden kann, denn der Eindruck der Musik auf die Menschen ist tief, und ihre Sitten und Gebräuche werden durch sie leicht verändert. Deshalb führten die früheren Herrscher das Volk durch Riten und Musik und brachten es dadurch zu Harmonie und Frieden.100
Der Gedanke, daß sich Gedeih und Verderb eines Volkes – als Widerspiegelung der sozialen Verhältnisse – in seiner Musik äußert, ist uns bereits bei der Erörterung des »Großen Vorworts« zum Buch der Lieder begegnet (welches, da wohl aus der Han-Zeit datierend, zeitlich nach Xunzi kommt). Zu beachten bei Xunzi ist der Aspekt der bewußten Einflußnahme auf das Volk zum Guten hin durch die weisen Herrscher mittels Riten und Musik. 99 100
Kap. 20, WANG: Xunzi duben, S. 305; vgl. KÖSTER: Hsün-Tzu, S. 261f. Ebd.
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In einer anderen Passage ist im gleichen Zusammenhang ein Gedanke ausgeführt, der uns angesichts der Vielfalt und Veränderung der abendländischen Musik nicht ganz fremd sein dürfte, nämlich die unterschiedliche Wirkungskraft verschiedener Sorten von Musik auf das menschliche Gemüt101: Alle zügellosen (jian) Klänge beeindrucken den Menschen in der Art, daß er mit einer rebellischen Art darauf reagiert; wenn die rebellische Art Gestalt gewinnt, so kommt Unordnung (luan) auf. Korrekte (zheng) Klänge beeindrucken den Menschen hingegen in der Art, daß er in fügsamer Weise darauf reagiert; gewinnen diese Gestalt, so entsteht Ordnung.102
Xunzis Einschätzung ist in Übereinstimmung mit der des Konfuzius; dieser hatte, wie erwähnt, bei wunderbaren Klängen die Lust auf Fleisch vergessen, in anderen Fällen jedoch Musik als Ausdruck von Verderbtheit empfunden.103 Zusammenfassend und auch unterscheidend hinsichtlich der Riten und Musik sagt Xunzi: Alles in allem verkörpert Musik eine unwandelbare Harmonie (he), wohingegen die Riten eine unveränderliche Ordnung (li) darstellen. Musik vereint das Gleiche (yue he tong), wohingegen die Riten das unterscheiden, was verschieden ist (li bie yi). Durch Riten und Musik wird das menschliche Herz richtig geleitet.104
Im Unterschied zu den Riten, die von einem Ordnungsgedanken (li) geleitet werden und sich an unterschiedlichen Ständen bzw. dem Status und der Funktion der Menschen in der Gesellschaft orientieren, bringt die Musik die Menschen in ihrer harmonisierenden Wirkung zusammen, da sie gefühlsmäßig in der Lage sind, gleich zu empfinden – z. B. Freude.105 Es bleibt zum Schluß noch der Zusammenhang herzustellen zur Literatur. Es sollten hier vier Aspekte der Musik behandelt werden: ihr ästhetischer (Vergnügen), ihr expressiver (Gefühlsausdruck), ihr mimetischer (Widerspiegelung sozialer Wirklichkeit) und ihr didaktischer (Musik als erzieherisches Mittel) Aspekt. Wenn wir zurückblicken auf die Erörterung des »Großen Vorworts«, so finden wir dort wie 101
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Man bedenke, wie befreiend, ja wie subversiv der moderne Jazz oder die Rock-Musik auf diejenigen, die sich ihr hingeben, wirken kann; wie anders wirken hingegen Fugen von Bach oder Klavierkonzerte von Mozart... Nicht von ungefähr war Rock- und Jazz-Musik in totalitären Ländern verpönt, wenn nicht verboten, denn sie ist in der Lage, die Einstellung zumindest der jungen Leute zu ändern. Kap. 20, WANG: Xunzi duben, S. 305; vgl. KÖSTER: Hsün-Tzu, S. 261f. Lunyu, 7.13 und 15.11. Kap. 20, WANG: Xunzi duben, S. 307; vgl. KÖSTER: Hsün-tzu, S. 266. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Gedanke, der im Musikkapitel des Buchs der Riten geäußert wird, daß nämlich die Tugend der Mitmenschlichkeit der Musik und Pflicht den Riten nahesteht (ren jin yu yue, yi jin yu li), Shisanjing zhushu, S. 1531.
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Gehalt und Gestalt – Xunzi über Riten und Musik
hier die gleichen Gesichtspunkte. Nicht nur die Argumente sind sich ähnlich, weitgehend identisch ist auch der Wortlaut des Xunzi mit dem des Musikkapitels im Buch der Riten. Es besteht hier also ein enger Zusammenhang. Man nimmt wohl mit Recht an, daß sowohl die Autoren des Buchs der Riten als auch die des »Großen Vorworts« aus der Schule des Xunzi stammen. Wir sehen somit, daß die Wirkung von Xunzi nicht auf ein oder zwei eher berühmt-berüchtigte Legalisten beschränkt blieb, deren Denken die Qin- und frühe Han-Zeit faktisch nicht überlebte. Xunzis Erörterungen der Musik bilden wohl den Anfang der (uns überlieferten) klassischen chinesischen Musiktradition. Sie haben also im Gegensatz zu seiner Theorie der menschlichen Natur eine ausgesprochen lange Nachwirkung gehabt.
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5. »Wahrheit und Methode« – Die Bedeutung von Zhuangzi und Laozi für die chinesische Ästhetik So wie man Menzius als denjenigen betrachten kann, der dem konfuzianischen Denken entscheidende neue Impulse gegeben hat (hinsichtlich seiner Äußerungen zur menschlichen Natur), so finden wir auch bei Menzius’ Zeitgenossen Zhuangzi (der eigentliche Name von »Meister Zhuang«, der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebte, lautet Zhuang Zhou) ganz neue Akzente im Daoismus. Ist der Text des legendären Laozi, das Buch vom Weg und dessen Wirkkraft (Daodejing), teilweise stark innerweltlich gestimmt – weite Passagen drehen sich um Anleitung für ein rechtes Herrschen –, so ist Zhuangzi mit seinem »freien Umherschweifen« in jenseitigen Welten eher ein Mystiker. Unterscheidet Laozi zwischen Ruhm und Schande, Stärke und Schwäche, hart und weich, wobei er den sanften Kräften – dem Yin – als eigentliche Stärke eindeutig den Vorzug vor Yang gibt, transzendiert Zhuangzi alle Unterscheidungen mit dem Ziel des Aufgehens im unaufhörlichen Wandel der Dinge. So präsentiert sich der Zhuangzi-Text völlig anders als das Daodejing des Laozi, nämlich als philosophisches Sinnieren verbunden mit poetischer Suggestivität, wohingegen die Philosophie im Laozi aufgrund der poetischen Sprache und Diktion eher kryptisch wirkt. Desweiteren ist der Zhuangzi ein uneinheitliches Sammelsurium von verschiedenen Textschichten, das möglicherweise über einen Zeitraum von ca. 200 Jahren gesammelt wurde.106 Da er jedoch nicht nur spekulative Diskurse enthält, sondern gefüllt ist mit Anekdoten und allegorischen Erzählungen bzw. Gleichnisreden (yuyan), welche nach eigenen Worten neun Zehntel seines Textes ausmachen107, wirkt er voll imaginativer Kraft, weltlicher Weisheit und philosophischem Witz. Auf spätere Zeitalter übte er einen enormen Einfluß aus, insbesondere auf den Chan-Buddhismus sowie auf Anschauungen zu Kunst und Literatur. Da er in dieser Hinsicht weit nachwirkungsreicher war, als das Daodejing des Laozi – obwohl dies ansonsten als Quintessenz des philosophischen Daoismus geshen wird (und weltweit nach der Bibel das in die meisten Sprachen übersetzte Buch darstellt) –, soll in der folgenden Darstellung mehr auf den Text Zhuangzi als auf den Laozi eingegangen werden. 106
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Der in 33 Kapiteln überlieferte Zhuangzi-Text (kanonisiert als »Klassiker vom südlichen Blütenland«) fällt in drei Teile, wovon lediglich der sieben Kapitel umfassende erste Teil (neipian) dem historischen Zhuangzi zugeschrieben wird. Zu Zhuangzi s. u.a. GÜNTER WOHLFART: Zhuangzi. Meister der Spiritualität, Freiburg: Herder 2002, HENRIK JÄGER (Übers.): Mit den passenden Schuhen vergißt man die Füße. Ein Zhuangzi-Lesebuch, Freiburg: Herder 2003. Kapitel 27, RICHARD WILHELM (Übers.): Dschuang Dsi. Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, München: Diederichs 1996, S. 285.
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»Wahrheit und Methode« – Die Bedeutung von Zhuangzi und Laozi
Im letzten Kapitel (33) des Zhuangzi finden wir folgende charakteristische (wohl von seinen Schülern überlieferte) Beschreibung seiner selbst: Mit absurden Formulierungen, extravaganten Worten und ungezügelten Sätzen überließ er sich oft seinen Launen, doch er war niemals voreingenommen und betrachtete die Dinge nicht nur von einem Blickwinkel aus. Da er glaubte, alle unter dem Himmel seien der Dummheit anheim gefallen, so daß man nicht ernsthaft mit ihnen reden könne, benutzte er Stegreif-Worte für seine ausufernden Darlegungen, Zitate zum Beleg der Wahrheit und Metaphern (yuyan), um in die Breite zu gehen. Allein stehend, kam und ging er mit den essentiellen Energien von Himmel und Erde, aber er war den Myriaden Dingen gegenüber nicht überheblich. Er schalt andere nicht, im Recht oder im Unrecht zu sein, sondern war im Weltlichen und Gemeinen zu Hause. Auch wenn seine Schriften fremdartig und verwickelt sind, so gibt es doch nichts Unrechtes. Auch wenn seine Ausdrucksweise unregelmäßig und bizarr ist, so lohnt es doch, seine Schriften zu lesen.108
Diese Passage ist ein treffendes Beispiel für den feinen Witz, die leise Selbstironie und das Understatement, welche die Lektüre des Zhuangzi so faszinierend machen. Im folgenden wird das Material des Zhuangzi unter den Gesichtspunkten (nicht ohne Anspielung auf Gadamer) »Wahrheit« (dao) und »Methode« (fa) eingeteilt und erörtert.
»Wahrheit« – Sprachskepsis und Bilder Als Zhuangzi einmal gefragt wurde, wo das Dao zu finden sei, antwortete er dem Frager, es sei »allgegenwärtig«. Bei näherem Nachfragen meinte er zunächst, es sei in einer Ameise, dann sagte er, es sei auch im Unkraut vor seinen Augen; und nachdem sich der Frager immer noch nicht zufrieden gab, brachte er ihn erst damit zum Schweigen, indem er sagte, es sei auch in einem »Kothaufen«.109 Das Dao ist also allgegenwärtig, in den höchsten und niedrigsten Dingen, und eine Betrachtung der Dinge aus der Sicht des Dao – aus der Sicht der Selbsttranszendenz bzw. Selbstvergessenheit – bewirkt eine Schau der Einheit und eine Aufhebung der Unterschiede zwischen den Dingen. Dies gilt, wie seine letzte Antwort verdeutlicht, auch für den (im Rahmen einer ästhetischen Betrachtungsweise) so wichtigen Unterschied zwischen schön und häßlich. Das Allumfassende und Allgegenwärtige (dao) ist seiner Natur nach unaussprechlich, woran uns auch der Eingangssatz des Daodejing des Laozi gemahnt: »Der ›Weg‹ (dao), der sich in Worte fassen läßt, ist nicht der dauerhafte ›Weg‹.« Insofern finden wir bei Zhuangzi wie auch bei Laozi zunächst eine profunde 108 109
Übers. VICTOR H. MAIR (Übers.): Zhuangzi, Frankfurt: Wolfgang Krüger 1998, S. 461f. Kap. 22, WILHELM, Dschuang Dsi, S. 230.
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Sprachskepsis. Eine derartige Skepsis ist uns bereits bei Konfuzius begegnet, als er sagte: »Ich möchte lieber nicht reden. [...] Wahrlich, redet etwa der Himmel?« Weniger finden wir sie bei Menzius, der sich ja gerade auf Worte verstand. Wir finden sie auch im (zeitlich allerdings wahrscheinlich erst nach dem Zhuangzi entstandenen) »Großen Kommentar« (Xicizhuan) des Yijing (Buch der Wandlungen), und zwar mit Worten, die Konfuzius in den Mund gelegt werden: Der Meister sprach: »Die Schrift kann die Worte nicht restlos ausdrücken. Die Worte können die Gedanken nicht restlos ausdrücken.« »Dann kann man also die Gedanken der Heiligen und Weisen nicht sehen?« Der Meister sprach: »Die Heiligen und Weisen stellten die Bilder (xiang) auf, um ihre Gedanken (yi) restlos auszudrücken.«110
Wenn es sich hierbei auch lediglich um »abstrakte« Bilder handelt, nämlich die 64 sich aus sechs geteilten (yin) und ungeteilten (yang) Strichen aufbauenden Hexagramme des Buchs der Wandlungen,111 denen allerdings im Text immer auch ein konkretes Bild zugeordnet ist, hat diese Passage für die chinesische Poetik eine entsprechende Wirkung entfaltet, denn der Kern dieser Aussage ist, daß Bilder stärker bzw. aussagekräftiger sind als die Schrift bzw. rein diskursive Worte. Dies entspricht in etwa auch der Wichtigkeit, die im »Großen Vorwort« dem bildlichen, metaphorischen Sprechen, nämlich der »Andeutung« (xing), zuteil wird. Man bedenke in diesem Zusammenhang auch, daß die Bilder (xiang) im Buch der Wandlungen in einer ähnlich analogen oder Entsprechungsbeziehung (lei) auf die Menschenwelt übertragen werden, wie die Welt der Natur auf die der Menschen durch die poetische »Andeutung« im Buch der Lieder. Im Zhuangzi findet sich eine weitere bekannte Stelle mit ähnlichem sprachskeptischem Tenor, in welcher das Verhältnis von Idee/Sinn (yi) und gesprochenem Wort (yan) mit Fischen und Fischreusen bzw. Hasen und Hasenfallen verglichen wird: Fischreusen sind da um der Fische willen; hat man die Fische, so vergißt man die Reusen. Hasenfallen sind da um der Hasen willen; hat man die Hasen, so vergißt man die Fallen. Worte sind da um der Idee willen; hat man die Idee, so vergißt man die Worte. Wo finde ich einen Menschen, der die Worte vergißt, auf daß ich mit ihm reden kann?112
Diese Passage wurde höchst nachwirkungsreich, insofern als hierin (wie auch in der gerade zitierten Stelle aus dem Buch der Wandlungen) die Grundlage für den Gedanken gelegt wurde, daß die Idee bzw. die Bedeutung – auch von Dichtung – 110 111 112
Xicizhuan, I.12, vgl. WILHELM: I Ging, S. 298f. S. hierzu ausführlicher Kap. II.4. Kap. 26, WILHELM: Dschuang Dsi, S. 289 (mit geringfügigen Veränderungen).
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»Wahrheit und Methode« – Die Bedeutung von Zhuangzi und Laozi
jenseits der Worte zu finden ist. Daraus entwickelt sich ein eigener Topos – »jenseits der Sprache« (yan wai) – sowie (bei dem tangzeitlichen Sikong Tu) eine »jenseits«-Rhetorik, auf die noch ausführlicher eingegangen wird. In die gleiche Richtung geht eine Bemerkung in Kapitel 27, wo es heißt: Ohne Worte herrscht Übereinstimmung (bu yan ze qi). Diese Übereinstimmung aber kann durch Worte nicht zum übereinstimmenden Ausdruck gebracht werden, und die Worte decken sich mit dieser Übereinstimmung niemals ganz übereinstimmend. Darum gilt es, ohne Worte auszukommen. Wer sich auf diese Rede ohne Worte versteht, der kann sein ganzes Leben lang reden, ohne Worte gemacht zu haben; er kann sein ganzes Leben lang schweigen und hat doch geredet.113
Hier begegnen wir der Paradoxie des beredten Schweigens, das, wie überhaupt das Sprechen in Paradoxien, auch aus dem Daodejing vertraut ist. Der Gedanke der Wahrheit als Nicht-Wahrheit bzw. als unaussprechliche Wahrheit entspricht auch einem Phänomen, das wir aus der abendländischen Religions- und Philosophiegeschichte kennen: der negativen Theologie des Mittelalters, in der das positive Sprechen über Gott als unmöglich angesehen wurde.114 Das Wesentliche läßt sich also nicht in Worten ausdrücken. Die Vermittlungsversuche, die Zhuangzi trotzdem unternimmt – und sein Buch ist voll davon –, bedienen sich der Gleichnisse (yuyan), Allegorien und Bilder: Unter meinen Worten sind neun Zehntel Gleichnisreden (yuyan); das heißt, ich bediene mich äußerer Bilder, um meine Gedanken auszudrücken. Gerade wie ein Vater nicht selbst den Freier macht für seinen Sohn. Denn es ist besser, wenn ein Sohn von einem anderen gelobt wird als von seinem eigenen Vater. Daß ich zu diesem Mittel greifen muß, ist aber nicht mein Fehler, sondern der Fehler der anderen. Wer eins mit uns ist, wird uns verstehen; wer nicht eins mit uns ist, wird uns widersprechen. Denn jeder billigt das, was ihm entspricht, und tadelt das, was von ihm abweicht.115
Diese Passage klingt auf der Note einer profunden Skepsis gegenüber einer absoluten Wahrheit unter den Menschen aus, denn der Mensch neigt zu Parteilichkeit. Insofern ist Zhuangzis Ansatz zur Wahrheitsfindung ein – heute oft gescholtener – Relativismus: Die Dinge stellen sich aus jeder anderen Perspektive jeweils anders dar.
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Kap. 27, WILHELM: Dschuang Dsi, S. 285f (mit geringfügigen Veränderungen). S. KARL-HEINZ POHL: »Nikolaus von Kues und die chinesische Philosophie. Parallelen und Unterschiede«, minima sinica. Zeitschrift zum chinesischen Geist. 1/2004, S. 19–37. Kap. 27, WILHELM: Dschuang Dsi, S. 285.
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VON DER ZHOU- BIS ZUR HAN-ZEIT
»Methode«: »Nicht-Tun« – »Mehr als Geschicklichkeit« Wenn die letztendliche Wahrheit bei Zhuangzi eine Nicht-Wahrheit ist und wir im Grunde gar nicht darüber sprechen können, so kann eine Methode oder ein Weg, zu dieser Nicht-Wahrheit zu gelangen, wohl ebenfalls nur ein Nicht-Weg oder eine Nicht-Methode (wu fa) sein. Aus dem Daodejing ist diese Nicht-Methode als »Nicht-Tun« (wuwei) bekannt, womit ein nicht absichtvolles Eingreifen in den natürlichen Lauf der Dinge gemeint ist. So heißt es in Kapitel 48: »Praktiziere das Nicht-Tun und es wird nichts geben, das ungetan bleibt« (wuwei er wu bu wei)116. Ein anderer Aspekt des gleichen Ansatzes ist der, die Dinge aus sich selbst heraus geschehen zu lassen, wobei sich diese Maxime ebenfalls auf einen zentralen Satz des Daodejing bezieht: »Die Regel/Methode (fa) des Dao ist: von selbst so sein« (dao fa ziran).117 Angewandt auf die Frage der Kunst bedeutet dies zunächst eine Sicht künstlerischen Schaffens analog zum spontanen Wirken der Natur. So heißt es bei Zhuangzi in einer Stelle, die für das daoistische Element in der chinesischen Ästhetik bedeutsam ist: Die Worte endlich, die täglich wie aus einem Becher hervorkommen und gestimmt sind auf die Ewigkeit, sind solche, die einfach hervorquellen und dadurch erhaben sind über die Zeit.118
Ziel künstlerischen Schaffens wäre es also, Worte einfach hervorquellen oder Kunst einfach entstehen zu lassen. Ob ein derartiger »Spontanismus« eine realistische Auffassung von künstlerischem Schaffen bedeutet, soll hier allerdings dahingestellt bleiben. Das Eingehen in einen im Grunde mystischen Bereich künstlerischer Kreativität wird im Zhuangzi häufig mit drei Begriffen in Verbindung gebracht, die für die spätere ästhetische Diskussion eine wichtige Rolle spielen sollten: 1. shen: geistig/ spirituell, unergründlich (wörtl.: »göttlich« d.h. wie von einem Gott gemacht); 2. qi: »Atem/Vitalkraft« bzw. wie von einem lebendigen Atem getragen; 3. tian: »Himmel/Natur« bzw. so natürlich, als sei es vom Himmel oder von der Natur geschaffen. Der Weg schließlich, der in diesen Bereich hinein führt, heißt bei Zhuangzi: »Fasten des Herzens/Geistes« (zhai xin). Ironischerweise ist es im Zhuangzi Aufgabe des Konfuzius, seinem Jünger Yan Hui diese daoistische Weisheit zu eröffnen. Auf Yan Huis Frage nach dem »Fasten des Geistes« antwortet der Meister:
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RICHARD WILHELM (Übers.): Laotse. Tao te king, Köln: Diederichs 1986, S. 91. Zum Thema »Nicht-Tun« s. auch EDWARD SLINGERLAND: Effortless Action. Wu-wei as Conceptual Metaphor and Spiritual Ideal in Early China, Oxford: Oxford UP 2003. Daodejing, Kap. 25, vgl. WILHELM: Laotse, S. 65. Kap. 27, ein paar Zeilen weiter zum Zitat von Fußnote 115. WILHELM: Dschuang Dsi, S. 285.
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»Wahrheit und Methode« – Die Bedeutung von Zhuangzi und Laozi Konzentriere deine Willenskraft. Höre nicht mit den Ohren, sondern höre mit dem Herz/Geist (xin). Höre dann nicht mehr mit dem Herz/Geist, sondern höre mit dem Atem/der Lebenskraft (qi). Das Hören endet bei den Ohren. Der Geist endet bei der Entsprechung (fu, d.h. Entsprechung zu den Phänomenen der Welt). Der Atem hingegen ist leer und kann alles aufnehmen. Nur das Dao kann Leere ansammeln, und die Leere ist das Fasten des Geistes.119
Das Fasten des Geistes bedeutet also ein inneres, geistiges Sich-Entleeren und auf diese Weise ein Aktivieren der unbewußten Kräfte – der Vitalkraft qi. Qi ist hier offenbar (wie bei Menzius) in eine metaphysische, mystische Sphäre enthoben – etwas, wodurch sich das Dinghafte des Menschen und der realen Welt mit einer Transzendenz verbindet.120 Sofern sich obige Äußerungen auf das Gebiet der Kunst bzw. auf künstlerische Tätigkeit anwenden lassen, so bedeuten sie, daß das Ziel künstlerischen Schaffens darin besteht, in einen transzendenten Bereich einzutreten, der sich am einfachsten charakterisieren läßt als Transzendieren bloßer Technik oder Geschicklichkeit, und zwar durch spontanes (ziran) Schaffen im Einklang mit dem unergründlichen Wirken des Dao. Dies ist jedenfalls der Tenor einiger Geschichten aus dem Zhuangzi, die gerade später in der chinesischen Literatur- und Kunsttheorie stark nachgewirkt haben, nämlich die Geschichten vom Koch Ding (Kap. 3), vom Radmacher Bian (Kap. 13), vom Glockenständerschnitzer Qing (Kap. 19) sowie von einem buckligen Zikadenfänger (Kap. 19). Da auf diese Geschichten häufig Bezug genommen wird, sollen sie im einzelnen kurz betrachtet werden. In der ersten Geschichte führt der Koch Ding seinem Fürsten vor, wie man im Einklang mit dem Dao einen Ochsen zerlegt: Der Fürst Wen Hui hatte einen Koch, der für ihn einen Ochsen zerteilte. Er legte Hand an, drückte mit der Schulter, setzte den Fuß auf, stemmte das Knie an: ritsch! ratsch! – trennte sich die Haut, und zischend fuhr das Messer durch die Fleischstücke. Alles ging wie im Takt eines Tanzliedes, und es traf immer genau die Gelenke. Der Fürst Wen Hui sprach: »Ei vortrefflich! Das nenn’ ich Geschicklichkeit!« Der Koch legte das Messer beiseite und antwortete zum Fürsten gewandt: »Das Dao ist es, was dein Diener liebt. Das ist mehr als Geschicklichkeit. Als ich anfing, Rinder zu zerlegen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte ich’s soweit gebracht, daß ich die Rinder nicht mehr unzerteilt vor mir sah. Heutzutage verlasse ich mich ganz auf den Geist (shen) und nicht mehr auf den Augenschein. Der Sinne Wissen hab’ ich aufgegeben und handle nur noch nach den Regungen des Geistes. Ich folge den natürlichen Linien nach, 119 120
Kap. 4, vgl. die abweichende Übersetzung bei WILHELM: Dschuang Dsi, S. 62. Vgl. BENJAMIN SCHWARTZ: The World of Thought in Ancient China, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1985, S. 218.
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VON DER ZHOU- BIS ZUR HAN-ZEIT dringe in die großen Spalten und fahre den großen Höhlungen entlang. Ich verlasse mich auf die (anatomischen Gesetze). Geschickt folge ich auch den kleinsten Zwischenräumen zwischen Muskeln und Sehnen […]. Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er schneidet. Ein stümperhafter Koch muß das Messer alle Monate wechseln, weil er hackt. Ich habe mein Messer nun schon neunzehn Jahre lang und habe schon mehrere tausend Rinder zerlegt, und doch ist die Schneide wie frisch geschliffen. Die Gelenke haben Zwischenräume; des Messers Schneide hat keine Dicke. Was aber keine Dicke hat, dringt in Zwischenräume ein – ungehindert, wie spielend, so daß die Klinge Platz genug hat. […] Und doch, so oft ich an eine Gelenkverbindung komme, sehe ich die Schwierigkeiten. Vorsichtig nehme ich mich in acht, sehe zu, wo ich haltmachen muß, und gehe ganz langsam weiter und bewege das Messer kaum merklich – plötzlich ist es auseinander und fällt wie ein Erdenkloß zu Boden. […]« Der Fürst Wen Hui sprach: »Vortrefflich! Ich habe die Worte eines Kochs gehört und habe die Pflege des Lebens (yangsheng) gelernt.«121
Der zentrale Satz ist hier: »Das Dao ist es, was dein Diener liebt. Das ist mehr als Geschicklichkeit (jin hu ji).« Das soll heißen, wenn künstlerisches Schaffen aus dem Dao heraus geschieht, dann transzendiert es bloße Kunstfertigkeit und Technik. Zwar sind letztere notwendig, so auch langes Üben (gongfu), doch wird dadurch eine meisterhafte Ausführung angestrebt, die intuitiv so perfekt beherrscht wird, daß sie, wie es bei uns heißt, zur zweiten Natur wird. Das Thema der Geschichte vom Radmacher Bian ist Sprachskepsis bzw. Wertlosigkeit von Buchwissen. Dem Fürsten gegenüber, der gerade ein Buch liest, meint der Radmacher, dieses beinhalte nur »Abfall und Hefe« der Männer des Altertums, das eigentliche Wissen lasse sich hingegen nicht in Worten fassen, und er illustriert dies auf folgende Weise: Euer Knecht betrachtet es vom Standpunkt seines Berufes aus. Wenn man beim Rädermachen zu bequem ist, so nimmt man’s zu leicht, und es wird nicht fest. Ist man zu eilig, so macht man’s zu schnell, und es paßt nicht. Ist man weder zu bequem noch zu eilig, so bekommt man’s in die Hand, und das Werk entspricht der Absicht. Man kann es mit Worten nicht beschreiben, es ist ein Kunstgriff (shu) dabei. Ich kann es meinem eigenen Sohn nicht sagen, und mein eigener Sohn kann es von mir nicht lernen. So bin ich nun schon siebzig Jahre und mache immer noch Räder.122
Ähnlich wie der Koch Ding spricht der Wagner ebenfalls von einer – langerlernten – intuitiven Fähigkeit im Handwerk, die sich mit Worten nicht vermitteln läßt. Der Glockenständerschnitzer Qing erregt Aufsehen bei den Leuten durch ein Werk, das als von »Göttern und Dämonen« (guishen) gemacht eingestuft wird. 121 122
Kap. 3, WILHELM: Dschuang Dsi, S. 54 (mit geringfügigen Veränderungen). Kap. 13, WILHELM: Dschuang Dsi, S. 153–54.
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»Wahrheit und Methode« – Die Bedeutung von Zhuangzi und Laozi
Auf die Frage des Fürsten nach dem Geheimnis (shu) seiner Kunst spricht der Schnitzer indirekt das Thema des »Fasten des Geistes« (hier als »Fasten, um den Geist zu beruhigen«) an: Ich bin ein Handwerker und kenne keine Geheimnisse, und doch, auf Eines kommt es dabei an. Als ich im Begriffe war, den Glockenständer zu machen, da hütete ich mich, meine Lebenskraft (qi) (in anderen Gedanken) zu verzehren. Ich fastete, um mein Herz zur Ruhe zu bringen (zhai yi jing xin). Als ich drei Tage gefastet, da wagte ich nicht mehr, an Lohn und Ehren zu denken; nach fünf Tagen wagte ich nicht mehr, an Lob und Tadel zu denken; nach sieben Tagen, da hatte ich meinen Leib und alle Glieder vergessen. Zu jener Zeit dachte ich auch nicht mehr an den Hof Eurer Hoheit. Dadurch ward ich gesammelt in meiner Kunst, und alle Betörungen der Außenwelt waren verschwunden. Darnach ging ich in den Wald und sah mir die Bäume auf ihren natürlichen Wuchs (tianxing) an. Als mir der rechte Baum vor Augen kam, da stand der Glockenständer fertig vor mir, so daß ich nur noch Hand anzulegen brauchte. Hätte ich den Baum nicht gefunden, so hätte ich’s aufgegeben. Weil ich so meine Natur mit der Natur des Materials zusammenwirken ließ, deshalb halten die Leute es für ein göttliches Werk.123
Das Geheimnis des Schnitzers ist es, seine eigene Natur mit der Natur des Baumes zu vereinigen (yi tian he tian), das heißt, aus einer Einheit mit dem Dao heraus zu schaffen. Erst aus diesem Eingehen ins Unergründliche ergibt sich das Meisterwerk, da es in derselben Weise entstanden ist wie das Werk der Natur. Es überschreitet bloße Kunstfertigkeit und Technik und trägt keinerlei Spuren, die auf methodisches Schaffen hindeuten; als kunstlose Kunst erscheint es natürlich und doch künstlerisch vollkommen. In der Geschichte vom buckligen Zikadenfänger (Kap. 19, auch Liezi, Buch 2) schließlich, der »die Zikaden nur so von den Bäumen pflückt« und dessen Kunstkniff darin besteht, die Leimrute völlig unbeteiligt zu halten (»ich mache meinen Körper unbeweglich wie einen Baumstumpf und halte meinen Arm wie einen dürren Ast«), läßt Zhuangzi wiederum Konfuzius das Geheimnis dieser Methode in Worte fassen: »Wer seinen Willen (zhi) ungeteilt gebraucht, dem verdichtet er sich zu einer geistigen Macht (shen).«124 In all diesen Geschichten geht es um die Dialektik von methodischem Geschick (qiao) und »Weg« (dao), wobei die »Methode«, dorthin zu gelangen, darin besteht, wohl fleißig zu üben (gongfu), jedoch durch das Transzendieren von Technik – einschließlich des Fastens des Geistes – eine intuitive Beherrschung der Kunst zu erlangen, die als »göttlich« oder spirituell (shen) angesehen wird: Derart 123 124
Kap. 19, WILHELM: Dschuang Dsi, S. 203–4. Kap. 19, s. auch RICHARD WILHELM (Übers.): Liä Dsi. Das wahre Buch vom Quellenden Urgrund, Köln: Diederichs 1972, S. 59 (mit Modifikationen).
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geschaffene Kunstwerke tragen keine Spuren von Kunstfertigkeit mehr, sondern erscheinen als natürliche, spontan erzeugte Werke. Getreu der im Daoismus beliebten Paradoxien vom beredten Schweigen und tatenlosen Tun125 ist somit die höchste Methode die der Nicht-Methode (wufa) bzw. das Nicht-Tun (wuwei) – oder das Verschmelzen unserer Natur mit der der Dinge, anders (moderner) ausgedrückt: die Einheit von Subjekt und Objekt.
Form und Substanz Abschließend soll im Zhuangzi noch ein Thema angeschnitten werden, das uns bereits bei Konfuzius und im Xunzi begegnet ist: das Verhältnis von Form und Inhalt (wen und zhi). In Kapitel 16 beklagt Zhuangzi den Verfall der Tugenden im Altertum seit Yao und Shun und fährt dann fort: Von da ab ging die Natur (xing) verloren, und man folgte dem Verstand (xin). Verstand tauschte mit Verstand Kenntnisse aus, und doch war man nicht mehr fähig, der Welt eine feste Ordnung vorzuschreiben. Darauf fügte man Formenschönheit (wen) hinzu und häufte Kenntnisse (bo) an. Aber die Formenschönheit zerstörte den Inhalt (zhi) und Kenntnisse ertränkten den Verstand. Da wurden die Leute vollends betört und verwirrt, und kein Weg führte mehr zurück zur wahren Natur (xingqing) und zum Urzustand (chu).126
Ist bei Konfuzius und im Xunzi eine harmonische Einheit von Gestalt (wen) und Gehalt (zhi) noch Ideal (mit dem Ziel des edlen, ausgeglichen Menschen bzw., im ästhetischen Sinne, des »klassischen« vollkommenen Kunstwerks), so gibt Zhuangzi dem Gehalt eindeutig den Vorzug. Gestalt – verstanden als Stil, als bewußte Formgebung, aber auch als Kultur – ist nicht so wichtig bzw. überflüssig. Und mehr noch: Künstliche Schönheit oder Kultur ist schädlich; sie zerstört nämlich die ursprüngliche Naivität des Menschen. Diese Stelle ist somit bezeichnend für den oft auftretenden primitivistischen Zug im Zhuangzi – ein integraler Bestandteil daoistischen Denkens (und eine Strömung, die uns in der abendländischen Geistesgeschichte ebenfalls nicht unbekannt ist – Parallelen zu Rousseau drängen sich gleichsam auf). Dominanter und einflußreicher sind jedoch die zuvor besprochenen Aspekte. Sie stehen für eine Ästhetik, »die sich einfach erfreut an der ungeheuren, gar unendlichen Vielgestaltigkeit an Formen und in der unerschöpflichen Welt schöpferischer Transformationen«127.
125
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S. auch Zhuangzi, Kap. 22: »Höchste Rede enträt der Rede, höchstes Tun enträt des Tuns (zhi wei qu wei)«, WILHELM: Dschuang Dsi, S. 235. Kap. 16, vgl. WILHELM: Dschuang Dsi, S. 175. SCHWARTZ: The World of Thought, S. 219.
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6. Magie und Klage – die »Elegien von Chu« und ihre Nachwirkung
Der bekannte amerikanische Sinologe und Übersetzer Burton Watson hat einmal bemerkt, die chinesische Dichtung habe zwei Anfänge gehabt: als ersten die Lieder des Shijing, die etwa bis zum 7. Jahrhundert v. Chr. gesammelt wurden, und nach einer Lücke von ca. 300 Jahre den zweiten mit den »Elegien von Chu« (Chuci)128. Zwar läßt sich diese Lücke neueren Untersuchungen zufolge etwas füllen, doch sind diese wenigen Zeugnisse bedeutungslos im Vergleich zu den sie umrahmenden »dreihundert Liedern« und »Elegien von Chu«.129 Wie die ersteren für literaturtheoretische bzw. ästhetische Reflexionen in China von grundlegender Bedeutung wurden, so hat auch die nachfolgende Sammlung der »Lieder des Südens« (nach der gängigen englischen Übersetzung von David Hawkes) eine Wirkung entfaltet, welche der vorangegangenen in nichts nachstand, und rechtfertigt somit eine eingehendere Beschäftigung. Wie der Titel der Übersetzung von Hawkes anklingen läßt, begegnen wir hier einer frühen Nord-Süd-Spannung, die für die ganze chinesische Kulturgeschichte bedeutsam bleiben sollte. Die Unterschiede sind zum Teil evident aufgrund klimatischer und landschaftlicher Verhältnisse und, daraus abgeleitet, des Temperaments und Lebensgefühls ihrer Bewohner. Sie entsprechen in etwa der Nord-Süd-Polarität, der wir auch in der deutschen Klassik – das spannungsvolle Verhältnis zwischen griechisch-römischem und germanischem Geist – finden, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, daß die Wiege der europäischen Kultur im südlichen Athen und Rom beheimatet war, wohingegen für China der Norden, d.h. das Gebiet um den Gelben Fluß (dessen Wasser zu bändigen frühe Kulturleistungen hervorbrachte), das Herzland seiner Zivilisation darstellte. Klimatisch und landschaftlich gesehen war dieser Norden kalt, rauh und trocken, seine Bewohner galten eher als hart arbeitend, streng, methodisch und auch nicht unkriegerisch, denn von diesem Norden wurde der Süden im Verlauf des 1. Jahrtausends v. Chr. allmählich kolonisiert. Der »Süden« beschränkte sich für die damalige Zeit auf das Land um den YangtseStrom (was weiter südlich lag, galt lange Zeit als barbarisch und für »zivilisiertes Volk« unbewohnbar). Klimatisch und landschaftlich war dieser Landstrich angenehm warm und reizvoll; die vielen Seen und Flüsse gaben reiche Nahrung, ohne die Notwendigkeit harten Ackerbaus mit entsprechender Bewässerung, wie er im trockenen Norden gang und gäbe war. 128 129
BURTON WATSON: Early Chinese Literature, New York: Columbia UP 1971, S. 231. S. KUBIN: Die chinesische Dichtkunst, S. 16ff, sowie DAVID HAWKES: The Songs of the South, Harmondsworth: Penguin 1985.
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Das wichtigste Land des Südens war das Königreich Chu, gelegen etwa im heutigen Hubei und Hunan, d.h. um den Dongting-See und die heutige am YangtseStrom liegende Stadt Wuhan130 herum. Ban Gu (1. Jh. n. Chr.), der Autor der Geschichte der Früheren Han-Zeit (Hanshu), schließt seinen Überblick über die Chu-Kultur mit folgenden Worten: Das Land Chu ist ein Land von Seen und Flüssen, bewässert vom YangtseStrom und Han-Fluß, von reich bewaldeten Bergen und den weiten Ebenen von Jiangnan (die Gegend »südlich des Stromes«). Durch abwechselndes Abbrennen und Überfluten spart man sich die Arbeit des Pflügens und Schneidens. Die Leute leben von Fisch und Reis. Jagen, Fischen und Holzsammeln sind ihre Hauptaktivitäten. Da immer genug zu essen da ist, sind sie ein faules und sorgloses Volk, das nichts für spätere Tage zurücklegt. […] Sie glauben an die Macht von Schamanen/Magier und Geistern und hängen sehr an zuchtlosen religiösen Riten.131
Für Ban Gu ist das Land Chu also ein Land mit deutlich anderen klimatischen und landschaftlichen Verhältnissen sowie mit einem andern Temperament der Bevölkerung, welche sogar ganz eigenen, und zwar unkonfuzianischen, »zuchtlosen« kulturellen und religiösen Traditionen nachgeht: einer Form des Schamanismus. Doch um das 4.–3. Jahrhundert v. Chr., also in etwa der Zeit der Entstehung der Chuci, geriet dieses Land immer stärker unter den Einfluß der Kultur des Nordens. All die genannten regionalen Unterschiede schlagen sich deutlich in den verschiedenen dichterischen Traditionen nieder. Die shi-Dichtung des Nordens ist metrisch einfach und mit ihrem Vier-Wort-Rhythmus fast monoton. Mit den meist vierzeiligen Strophen und den andeutenden »Natureingängen« (xing) wirken sie methodisch ordentlich. Ihre im »Großen Vorwort« niedergelegte Programmatik besteht im Ausdruck von Gesinnung (zhi) des Menschen als soziales Wesen sowie in der Doppelfunktion von Erziehung und Kritik. Die Dichtung des Südens hingegen ist weit freier und lockerer; rhythmisch ist sie abwechselungsreich und im Aufbau weniger streng strophisch gegliedert, vielmehr häufig lang; ihr Kernstück, das Lisao (»Begegnung mit dem Leid«; Kubin: »Weise von der Verzweifelung«) mit seinen über 370 Zeilen, ist sogar das wohl längste bedeutende Gedicht in der chinesischen Literaturgeschichte. In ihrem Ton sind die Chuci melodisch und reizvoll, häufig elegisch (deshalb auch die gängige Titelübersetzung »Elegien« in westlichen Sprachen), bisweilen aber auch schmachtend und weinerlich. Auffallend ist ihre landschaftlich und kulturell bedingte Bildersprache aus Flora und Fauna, d.h., wir begegnen hier einer heute, wenn überhaupt, nur noch schwer zu verstehenden Blumen- und Pflanzensymbolik sowie Mythen, Göttern und Geistern, 130
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Im Museum von Wuhan läßt sich eine Fülle an Zeugnissen der reichen und in der Tat besonderen Chu-Kultur bewundern. HAWKES: The Songs of the South, S. 18.
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Magie und Klage – die »Elegien von Chu« und ihre Nachwirkung
die wegen ihres lokalen schamanistischen Hintergrundes nicht zum mainstream der chinesischen Kulturgeschichte zählen. Letztlich haben wir hier nicht den Ausdruck von »Gesinnung« des Menschen als soziales Wesen, sondern die komplexe Gefühlswelt des Menschen als Individuum, denn die »Elegien von Chu« sind eine Sammlung von Liedern, die zum Teil von einer bestimmten Figur, nämlich Qu Yuan (zumindest im Falle des Lisao), verfaßt wurde, die zu anderen Teilen um die Person Qu Yuans und dessen Schicksal bzw. Thematik kreisen; und zwar ist dies die Problematik des lauteren, doch verkannten Beamten, allerdings verpackt in eine schamanistische Bildersprache verbunden mit magischen Reisen. Mit Qu Yuan tritt somit zum ersten Mal eine Person als Dichter auf, dessen Schicksal bekannt ist, das sich in seiner Dichtung niederschlägt und mit dem sich identifizieren läßt. Wer war dieser Qu Yuan? Die wesentliche Quelle für sein Leben liefert uns Sima Qian (ca. 145 – ca. 85 v. Chr.) im 84. Kapitel seiner Historischen Aufzeichnungen (Shiji). Qu Yuan (ca. 340 – 278 v. Chr.) gehörte zum Geschlecht der Könige von Chu und stand zunächst im Dienst des Königs Huai (reg. 328–299 v. Chr.). Als talentierter und angesehener Mann wurde er von einem Neider am Hof beim König verleumdet. Der König glaubte den Verleumdungen, worauf Qu Yuan das Lisao geschrieben haben soll, um den König von seiner Loyalität zu überzeugen und ihn zu mahnen. Der König war jedoch offenbar nicht fähig, zwischen redlichen und falschen Anhängern zu unterscheiden; er erlag nämlich den Intrigen des Nachbarstaates Qin, wurde von Qin gefangen genommen und starb dort. Sima Qian kommentiert hierzu: »Das war das fatale Ergebnis seiner (des Königs) Unfähigkeit, den wahren Charakter von Menschen zu beurteilen.«132 Der Sohn des Königs, der den Thron beerbte, erwies sich als noch unfähiger in dieser Hinsicht. Als Qu Yuan nicht mit seinen Mahnungen aufhörte, verbannte ihn der neue König, worauf Qu Yuan aus Frustration und Protest Selbstmord (Ertrinken im Miluo-Fluß) begangen haben soll. Bloß ein halbes Jahrhundert später, so schließt Sima Qian, wurde Chu endgültig von Qin vernichtet, was dann die Reichseinigung unter dem berüchtigten ersten Kaiser von Qin (Shi Huangdi) einleitete. Herzstück der Biographie ist die Darstellung von Qu Yuans charakterlicher Lauterkeit – ein sehr nördlich-konfuzianisches Element, womit Sima Qian allerdings auch etwas über sein eigenes Schicksal aussagen wollte: Qu Yuan war sein Held, und seine Bewunderung bildet den Anfang eines Identifizierungskults chinesischer Literaten um diese Figur, dessen wahres Schicksal jedoch im Dunkeln geblieben ist. Was wir von Qu Yuan wissen, ist nichts als ein unentwirrbares Knäuel von Legendenbildungen, Dichtung und Wahrheit.133
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Zitiert nach HAWKES: The Songs of the South, S. 58. LAURENCE A. SCHNEIDER: A Madman from Ch'u. The Chinese Myth of Loyalty and Dissent, Berkeley: University of California Press 1980.
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Die Chuci setzen sich aus 17 Teilen zusammen, von welchen viele wiederum Zyklen von einzelnen Gedichten bilden.134 Die häufigste Gruppierung (insgesamt sechs) ist die von neun Gedichten (wobei jedoch diese Zahlenangabe eher im Sinne von »viele« zu verstehen ist, denn die »Neun Gesänge – Jiu ge«, zum Beispiel, enthalten elf Lieder135). Überliefert ist sie uns in einer von Wang Yi (2. Jh. n. Chr.) zusammengestellten Fassung. Wang Yi ist auch – nach Sima Qian – maßgeblich verantwortlich für die Verkonfuzianisierung der Chuci, indem er nämlich das Lisao zu einem »Klassiker« (jing) erklärt, die Metaphorik und Kategorien der ShijingExegese (Andeutung und Vergleich – xing und bi) darauf bezieht sowie die Funktion des indirekten Kritisierens und Mahnens hervorhebt.136 So wurde dann auch der schamanistische Hintergrund der Suche nach Gottheiten, mit denen in der Regel eine sexuell-spirituelle Vereinigung stattfand (wie in den »Neun Gesängen«), in konfuzianischer Weise und getreu des Vorbilds der Shijing-Auslegung auf die Beziehung zwischen Fürst und Minister umgedeutet. Das Kernstück der Chuci ist das Lisao. Vom Titel erklärt Sima Qian lediglich das Zeichen sao, das er mit you (Leid) gleichsetzt. Spätere Kommentatoren (so auch Ban Gu) deuten li als »Begegnung« (»Begegnung mit dem Leid«); neuere Kommentare gehen inzwischen dahin, lisao nicht etymologisch aus dem HanChinesischen, sondern phonetisch als Wort für »Kummer«, »Enttäuschung«, »elegisches Gefühl« oder Ähnliches aus der Chu-Sprache zu deuten. Thema des Lisao ist der Versuch des von politischen Gegnern verleumdeten und aus dem Amt entlassenen Helden, seinen auf den Irrweg geführten König zu ermahnen und ihn von seiner eigenen Lauterkeit zu überzeugen. Dazu unternimmt er zunächst eine Reise zum legendären Grab des ebenso legendären Herrschers Shuns, wo er mit zahlreichen historischen Allusionen auf seine gegenwärtige Situation anspielt. Darauf folgt eine erste (erfolglose) Himmelsfahrt sowie eine dreifache, schamanistisch geprägte Brautfahrt, auf welcher er vergeblich um Göttinnen wirbt. Er sucht Rat bei einem Wahrsager, der mit rätselhaften Orakelsprüchen antwortet (Vorbild für Teil 6 der Chuci: »Der Wahrsager – Buju«), und unternimmt dann eine zweite Himmelsfahrt zum Kunlun-Gebirge. Dabei sieht er seine Heimat (das Land Chu) 134
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Eine genaue Aufstellung der verschiedenen Stücke findet sich in SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 37–38. Allerdings gelten nur die ersten neun der elf Gesänge verschiedenen Geistern; die beiden letzten haben einen gänzlich anderen Charakter und lassen auf eine musikalisch-theatralische Aufführungspraxis schließen. S. HAWKES: The Songs of the South, S. 96, sowie ARTHUR WALEY: Die neun Gesänge. Eine Studie über Schamanismus im alten China (übers. von Franziska Meister), Hamburg: Marion von Schröder Verlag 1957. Interessant und sehenswert ist in diesem Zusammenhang die Inszenierung der »Nine Songs« als modernes Tanztheater der taiwanesischen Tanztruppe »Cloud Gate Dance Theatre« (Wumen wuji) unter Lin Hwai-min. SIU-KIT WONG: Early Chinese Literary Criticism, Hongkong: Joint Publishing 1983, S. 9–18, 168.
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unter sich liegen; Sehnsucht überfällt ihn, er läßt die Suche nach dem Wahren (einem guten König), und die Fahrt endet im Ungewissen – gleichsam schwebend zwischen Himmel und Erde. Das Gedicht selbst endet nur wenige Zeilen weiter ebenfalls mehrdeutig: Es heißt, er will einem gewissen Peng Xian folgen, wobei dieser seit Wang Yi als ein Minister der Shang-Dynastie, der sich ertränkte, verstanden wird. Andere Erklärungsmöglichkeiten wären: Patron-Gott eines Kultes, dem er folgen möchte, oder einfach Abwendung von der Welt und Zuflucht finden in der Einsamkeit. Li Zehou würdigt die ästhetische Relevanz des Lisao in folgender Weise: In der Begegnung mit dem Leid werden zwei Bereiche zu einem organischen Ganzen verschmolzen: lebendige und farbige, ungezähmte und vieldeutige romantische Vorstellungen, die so nur in urtümlichen Mythen erscheinen, und eine mit tiefverwurzeltem Wertgefühl versehene leidenschaftliche Persönlichkeit, die so nur im Augenblick des Erwachens der Vernunft auftreten kann.137
Aufgrund dieser besonderen Konstellation, so Li Zehou, habe das Lisao eine unvergleichliche Bedeutung in der chinesischen Literaturgeschichte erlangt, die sich vom künstlerischen Niveau her gesehen nur noch mit dem qingzeitlichen Roman Der Traum der roten Kammer vergleichen ließe. Ob man dieser hohen Einschätzung zuzustimmen bereit ist, sei einmal dahingestellt. Für den heutigen (auch chinesischen) Leser stellt das Lisao allerdings keine einfache Lektüre dar.138 Allein die Symbolik der Blumen und Pflanzen ist schwer verständlich; dann wirkt die Stimmung von Frustration und Verzweifelung, die an Weinerlichkeit grenzt, überzogen; auch steht sie in einem Mißverhältnis zu den offenbar magischen Fähigkeiten des lyrischen Ichs. Der angebliche Selbstmord Qu Yuans wirft ebenfalls Fragen auf: Ist das Gedicht etwa als Nachlaß mit Selbstmordabsicht geschrieben? Schließlich macht die Eitelkeit des lyrischen Ichs Probleme: Im augenfälligen Kontrast zur Ichlosigkeit und dem unpersönlichen Ton des Großteils der chinesischen Lyrik wirkt das Lisao geradezu ichbesessen (so im ungewöhnlich häufigem Gebrauch entsprechender Pronomina); auch nimmt die Darstellung der eigenen charakterlichen Vorzüglichkeit (im Gegensatz zur Schlechtigkeit der Welt) breiten Raum ein. Diese Schwierigkeiten empfanden 137 138
LI: Der Weg des Schönen, S. 120. Peter Weber-Schäfer sieht in der Bildersprache des Lisao drei allegorische Komplexe eng miteinander verbunden: 1) Hofintrigen, denen Qu Yuan zum Opfer fiel, so im Bild des »Kampfes« zwischen duftenden Blüten und wertlosem Unkraut (Kommentatoren versuchten traditionell, Gräser mit bestimmten Personen zu identifizieren), 2) die Suche des Weisen nach einem gerechten König, der seinem Rat folgt und Ordnung herstellt, so im mythischen Bild der göttlichen Brautfahrt, und 3) Streben des Dichters nach mystischer Erkenntnis, so in der schamanistischen Symbolik der Himmelsfahrt im Sonnenwagen. PETER WEBER SCHÄFER: Altchinesische Hymnen, Köln: Jakob Hegner 1967, S. 189–90.
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aber offenbar nur wenige der klassischen Kritiker und Literaten, vielmehr war für sie das Lisao nach der volksliedhaften Lyrik des Shijing (und seiner moralisierenden Interpretation) das erste und bleibende Zeugnis der Sehnsüchte und Nöte eines Literaten in bilderreich verdichteter Sprache.139 Nach Weber-Schäfer stellt das Lisao den Beginn politisch allegorischer Gelehrtenlyrik dar, wobei der Bezug zum Schamanismus darin besteht, daß es sich hierbei um die »Umformung eines traditionell überlieferten, aus der Kultlyrik stammenden Symbolapparates in die Metaphernsprache politischer Allegorie« handelt.140 In den Worten von David Hawkes gilt für alle Chuci, daß sie eine »Kannibalisierung einer älteren, religiösen oralen durch eine neue säkulare und literarische Tradition« bilden.141 Gleichzeitig, und damit verbunden, ist das Lisao Prototyp von Dichtung eines Literaten, der sich zwar zurückgezogen hat, der sich selbst jedoch nicht als schweigenden Einsiedler versteht (und auch nicht so verstanden wurde): Schon seit der Zeit des Konfuzius begann sich die Idee des Rückzugs von der Welt zu verändern, und zwar von einem Mann, der sich in der Wildnis versteckt, zu einem, der sich zwar aus dem Getriebe der Welt heraushält, jedoch darauf bestrebt ist, von sich hören zu machen.142
Auf die Literaten der Han-Zeit übten die Chuci einen enormen Einfluß aus: Es gab eine Flut an sao-artiger Dichtung, die sich dann auf die Entwicklung der fu (Rhapsodien oder »poetische Beschreibung«; siehe dazu das nächste Kapitel) auswirkte. Anfangs wurde kaum zwischen sao und fu unterschieden, und man sprach kollektiv von cifu (Liedern und Rhapsodien). Auch kam es regelrecht zu einem Kult um Qu Yuan (der sich in den Drachenbootrennen am Drachenbootsfest, dem 5. Tag des 5. Monats nach dem Mondkalender, gleichsam bis heute erhalten hat). Dazu gehören Sima Qians bewundernde Biographie von Qu Yuan, die ihn für Generationen am Shiji geschulter Literaten ebenfalls als ihren Helden weiter tradierte, aber auch Jia Yis (200–168 v. Chr.) Elegie »Trauer um Qu Yuan« (Diao Qu Yuan). Diese Literaten teilten in gewissem Maße Qu Yuans Schicksal: Auch sie empfanden Loyalität zum Herrscher (immerhin eine zentrale konfuzianische Tugend), aber sie litten ebenfalls unter Verleumdung und ungerechter Strafe (bei Sima Qian war es die Schmach der Kastration, die er zum Zwecke der Vollendung seines vom Vater begonnen Geschichtswerks der Ehre eines verordneten Selbst139 140 141 142
Zur Bildersprache speziell des Lisao s. YU: The Reading of Imagery, S. 84–117. WEBER-SCHÄFER: Altchinesische Hymnen, S. 189. HAWKES: The Songs of the South, S. 39. LI CHI: »The Changing Concept of the Recluse in Chinese Literature«, HJAS 24 (1962–63), S. 237. Das gleiche Verhaltensmuster gilt für andere Eremiten (sogenannte gaoshi), so auch für Tao Yuanming (365–427).
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mords vorzog143). Schließlich handelte Qu Yuan so, wie es sich für einen »Edlen« gebührte: Überzeugt von seiner Rechtschaffenheit übte er wohlmeinende, loyale Kritik am Herrscher bzw. versuchte, ihn auf den rechten Weg zu bringen. So heißt es bei Sima Qian: »Er war treu und wurde angezweifelt, er war loyal, doch litt er unter Verleumdung.« Oder: »Er kritisierte [mittels Beispielen und Analogien] gegenwärtige Mißstände« (yi ci shi shi).144 Gerade mit letzterem stellte Sima Qian das Lisao auch in die Tradition der Shijing-Auslegung. Klagelieder über Qu Yuan wie die von Sima Qian oder Jia Yi heben meist auf dem Gedanken ab, daß es ein Jammer ist, wenn Menschen in einer ihnen nicht gemäßen Zeit geboren werden. Dies geht auf eine Stelle im Lisao selbst zurück, wo es heißt: »Seufzend stehe ich voller Verzweifelung, geboren ward ich in unpassender Zeit« (shi zhi bu dang).145 Dies führte zu einem eigenen Topos bzw. einer spezifischen Thematik in der fu-Dichtung der Han-Zeit, nämlich zur »Klage über Literaten, die nicht in einer ihnen gemäßen Zeit leben« (gan shi bu yu shi)146. In der Han-Zeit gab es aber auch kritische Stimmen gegenüber Qu Yuan. So schrieb Yang Xiong (53 v. – 18 n. Chr.) ein Stück mit dem Titel »Gegen das Lisao« (Fan Lisao), in dem er dem Lisao zwar literarischen Wert zuerkennt, Qu Yuans Verhalten jedoch, insbesondere seinen Selbstmord, für nicht nachahmenswert hält. Und Ban Gu, der Historiker der Han-Zeit, deutete kritisch an, Qu Yuan führe seine Talente vor und werbe für sich selbst (lu cai yang ji).147 Die bleibende Bedeutung des Lisao wäre somit folgendermaßen festzuhalten: Es ist Ausdruck der Frustration des verkannten, doch edelmütigen Literaten und Staatsmanns, der sich zwar zurückzieht, jedoch nicht verstummt, sondern von sich hören macht. Es ist auch Zeugnis und Beispiel eines Mannes, der an seinen Überzeugungen festhält, dabei nicht bloß in politische Schwierigkeiten gerät, sondern in todesverachtender Standhaftigkeit vor der politischen Macht sogar den Herrscher durch den eigenen Tod mahnt – so jedenfalls die traditionelle Lesung, und somit steht das Lisao auch beispielhaft für den Zusammenhang zwischen Dichtung und Charakter. Wie dem auch sei, durch diese Vorgaben wurde der Dichter des Lisao zur Identifikationsfigur von Generationen von Literaten. Er versinnbildlicht die Problematik, wie sie zum Herrscher loyal und doch absoluten Werten und ihrer eigenen 143
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S. seinen Brief an Ren An (Shaoqing), GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 82, übersetzt in: SCHWARZ: Der Ruf der Phönixflöte. Klassische chinesische Prosa I, S. 175ff. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 85; HAWKES: The Songs of the South, S. 55f. Vgl. WEBER-SCHÄFER: Altchinesische Hymnen, S. 200, sowie HAWKES: The Songs of the South, S. 73. S. z.B. Tao Yuanmings Rhapsodie (fu) »Klage über verkannte Gelehrte«, in: TAO YUANMING: Der Pfirsichblütenquell, K.-H. POHL (Hg.): Bochum: Bochumer Universitätsverlag 2002, S. 184. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 89.
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Überzeugung gegenüber treu bleiben konnten, d.h., er verkörperte das Dilemma zwischen politischer Loyalität und moralischer Integrität. Hier ergibt sich ein bedeutender Unterschied zur Auslegung des Shijing: Dieses wurde traditionell so gelesen, als daß seine Dichtung die positive, optimistische Seite des Beamtenlebens repräsentierte – der tugendhafte Herrscher hört auf den bedachtsamen Rat seiner Beamten, und das Land gedeiht auf diese Weise. Das Lisao hingegen ist die Stimme des Beamten, der sein Amt verliert (gleichsam des Dissidenten) und dessen Zugang zum Herrscher durch Verleumdungen übler Zeitgenossen versperrt ist; d.h., es stellt die dunkle Seite des chinesischen Beamtenlebens dar.148 Pauline Yu meint deshalb zusammenfassend zu der Bedeutung des Shijing und der Chuci sowie ihrer Rezeption, insbesondere in der Han-Zeit: die Art, wie die beiden Sammlungen von frühen Literaten gelesen wurden, sei wichtiger und bestimmender gewesen als die Dichtungen selbst.149 Mit dieser Lesart jedenfalls hat das Lisao bzw. sein Autor eine Aktualität bis in die heutige Zeit bewahrt. Dies schlägt sich dann auch in der Verarbeitung des Qu YuanStoffes quer durch die Geschichte bis hin zu Guo Moruo (der 1942 ein Theaterstück mit dem Titel »Qu Yuan« schrieb) und Diskussionen der 80er Jahre des 20. Jahrhundert nieder.150 Denn die kulturelle Elite einer jeden Epoche stand immer wieder vor dem Problem, so Laurence Schneider, wie sie sich zur politischen Macht, zu absoluten Werten und zur Kunst und Literatur bezieht, und durch den Mythos Qu Yuan haben sie darauf ihre Antworten gefunden.151
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CHARLES HARTMAN in: NIENHAUSER: The Indiana Companion, S. 348. YU: The Reading of Imagery, S. 117. S. KARL-HEINZ POHL: »Dichtung, Philosophie, Politik – Qu Yuan in den 80er Jahren«, in: K.-H. POHL, G. WACKER und HUIRU LIU (Hg.): Chinesische Intellektuelle im 20. Jahrhundert: Zwischen Tradition und Moderne, Hamburg: Inst. für Asienkunde 1993, S. 405-425. SCHNEIDER: A Madman from Ch'u, S. 202f.
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7. Faktentreue und Persönlichkeitsausdruck – Literaturvorstellungen in der Han-Dynastie
Für Li Zehou, einen der führenden Ästhetiker des modernen China, ist die Kultur der Han-Zeit de facto Chu-Kultur. Zum Verhältnis zwischen Chu und Han meint er: Die beiden Kulturen stehen (zumindest auf künstlerisch-literarischem Gebiet) in derselben Tradition. Sie weisen in Form und Inhalt eine offensichtliche Kontinuität auf und heben sich von der Kultur der nördlichen Staaten ab.152
So sieht er in der »romantischen« Kultur der Chu-Han eine Traditionslinie, die auf den »rationalen Geist« der Vor-Qin-Zeit folgt und diesen ergänzt. Bestimmend für die geistesgeschichtliche Entwicklung der Han-Zeit war tatsächlich eine Verschmelzung von unterschiedlichen Denktraditionen. Zwar konsolidierte sich der »rationale Geist« in Form des Konfuzianismus als staatstragende Lehre, doch entfernte er sich dabei weit von dem Ideal eines Konfuzius oder Menzius. In dreierlei Hinsicht gab es bedeutende Neuerungen: 1. Die ersten Han-Herrscher traten zwar unter dem Anspruch an, die harsche Herrschaft der Qin zu beseitigen, doch schrieben sie deren legalistische Ideologie – zumindest im Staatsaufbau (was die Macht des Herrschers und die Zentralisierung der Gewalt betrifft) – fest. Was die langfristige Wirkung dieser Zugeständnisse an die politische Ideologie der Qin betrifft, sprechen manche Geistesgeschichtler Chinas sogar davon, China sei in seiner vormodernen Epoche nur äußerlich konfuzianisch, im Kern hingegen legalistisch gewesen (wai ru nei fa). 2. Der Konfuzianismus begann aus anderen Traditionen Gedanken aufzunehmen, insbesondere aus dem Daoismus, aber auch aus dem Legalismus und der YinYang-Schule153. Gerade die Vereinnahmung der letzteren führte in der frühen HanZeit zu einer Scholastik »korrelativen« (lei) Denkens, die hauptsächlich mit dem seinerzeit führenden Literaten Dong Zhongshu (ca. 175–105 v. Chr.) verbunden wird.154 Dabei kam es darauf an, die ganze Welt – Menschenwelt und Kosmos – in einem von den polaren Kräften Yin und Yang und den Fünf Elementen geprägtem Entsprechungssystem zu ordnen und zu deuten. Zentral war dabei der Gedanke, 152 153
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LI: Der Weg des Schönen, S. 122–23. Dieser Synkretismus wurde auch Huang-Lao-Lehre genannt, nämlich nach dem legendären Huangdi (Gelber Kaiser) und Lao Zi. S. WM. THEODORE DEBARRY und IRENE BLOOM (Hg.): Sources of Chinese Tradition (2nd Edition), New York: Columbia UP 1999, Bd. I, S. 241ff. S. KIYOHIKO MUNAKATA: »Concepts of Lei and Kan-lei in Early Chinese Art Theory«, in: BUSH und MURCK, Theories of the Arts in China, S. 105–131.
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daß sich die Fünf Elemente nach zwei verschiedenen Zyklen ordnen lassen, einem der gegenseitigen Generierung und einem anderen der gegenseitigen Zerstörung; dementsprechend konnten alle Dinge (in einem gleichsam magisch-analogen Denken) diesen Zyklen zugeordnet werden155 – von den Organen des menschlichen Körpers, was zu entsprechenden Theorien der chinesischen Medizin führte, bis hin zur Abfolge der Dynastien in einer korrelativen Geschichtssicht. 3. In engem Zusammenhang mit Punkt 2 entwickelte sich eine esoterische Auslegung der kanonischen konfuzianischen Schriften (jing). Diese Auslegungspraxis, die sich insbesondere um den kryptischen Klassiker Chunqiu (die angeblich von Konfuzius verfaßten Annalen der Frühligs- und Herbstperiode der Zhou-Zeit) und dessen Gongyang- und Guliang-Kommentare drehte156, schlug sich in Schriften nieder, die teils von Omina bzw. magischen Vorzeichen handelten (chen), teils Apokrypha bzw. unorthodoxe Kommentare (wei)157 darstellten, so daß kollektiv von einer chenwei-Literatur gesprochen wird. Diese Richtung, mit Dong Zhongshu als Hauptvertreter, wird auch als Neutext-Schule (jinwen), im Gegensatz zu der später als orthodox geltenden Alttext-Schule (guwen), bezeichnet.158 Literarisch brachte die Han-Zeit ebenfalls eine Reihe von Neuerungen: Die gattungsgeschichtlich wichtigste darunter ist die »poetische Beschreibung«, auch »Reimprosa« oder »Rhapsodie« (fu) genannt. Kollektiv wurde, wie bereits erwähnt, auch von cifu gesprochen, d.h. von ci und fu, wobei die ci mit ihrem Bezug zu den »Gesängen« der Chuci eher lyrischer, und die fu aufgrund ihrer Verwandtschaft zur Form des sao sowie wegen ihrer Definition als Ausdrucksform im »Großen Vorwort« des Shijing eher beschreibend anzusehen sind. Einerseits stehen die hanzeitlichen Rhapsodien also ganz in der Tradition der »Elegien von Chu«, andrerseits haben sie ein eigenes sowohl gestalterisches als auch inhaltliches Gepräge. Von Gehalt und Aussage her gesehen, besitzen fast alle einen stark moralisierenden, 155
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Ein Überblick hierzu findet sich in KARL-HEINZ POHL: China für Anfänger. Eine faszinierende Welt entdecken, Freiburg: Herder 2004, S. 65–68. S. JOACHIM GENTZ: Das Gongyang-zhuan – Auslegung und Kanonisierung der Frühlingsund Herbstanalen (Chunqiu), Wiesbaden: Harrassowitz 2001. Die ursprüngliche bildliche Bedeutung der entsprechenden Schriftzeichen ist hier erhellend: Der Terminus jing (Klassiker) bedeutet eigentlich »Längsfäden« beim Weben; demgegenüber sind die wei die dazu quer liegenden »Schußfäden«. Hintergrund für diese Trennung bildet die Bücherverbrennung durch den ersten Kaiser der Qin. In der Han-Zeit hatte man folglich nur Texte in der neuen Kanzleischrift (lishu), worin auch alle »esoterischen« Neuinterpretationen der Klassiker einflossen. Zur Zeit der Regierung des Han-Kaisers Wu sollen im Wohnsitz der Kong-Sippe Texte in der alten Schrift gefunden worden seien, die die Klassiker in rationaler Weise auslegten und Konfuzius nicht als Heilsbringer, sondern als exemplarischen Lehrer sahen. In der Zeit des Interregnum des Wang Mang (8–23 n. Chr.) setzte sich die Alttext-Schule als orthodoxe Lehre durch. Die Diskussionen über die rechte Lehre wurden seinerzeit in einer Halle zum »Weißen Tiger« geführt; s. TJOE S. TJAN (Übers.): Po-hu-t'ung – The Comprehensive Discussions in the White Tiger Hall, Leiden: Brill 1949, S. 52.
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didaktischen Charakter (z.B. scheint durch exzessive Beschreibung des Palastlebens die Ermahnung auf, sich vor zu viel Luxus zu hüten159). Stilistisch betrachtet sind sie hinsichtlich der Silbenzahl sowie syntaktischer und gedanklicher Gliederung in Parallelversen aufgebaut; darüber hinaus fallen sie durch ihre Länge und unpersönliche sprachliche Virtuosität auf.160 Eine weitere Neuerung stellen die yuefu-Volkslieder bzw. -Balladen dar. Diese waren von einem vom Kaiser Wu eingerichteten Musikbüro (yuefu) teils im Volk gesammelt, teils aber auch geschaffen worden, da man z.B. für Opferrituale neue Lieder benötigte. Im Stil waren sie genau gegensätzlich zu den fu, nämlich lyrischgesanglich, oft mit Refrain, kurz, expressiv und – im deutlichen Unterschied zu den shi-Gedichten – unregelmäßig in der Form. Sie sollten später eine auch für Literaten beliebte Gattung werden. Das shi-Gedicht, erlebte in der Han-Zeit ebenfalls eine wichtige Neugestaltung; es entwickelte sich, insbesondere in der späteren Han-Zeit, vom Vier- zum Fünf-Wort Gedicht (pro Zeile), wodurch sich sein rhythmischer Wohlklang sowie seine Ausdrucksmöglichkeiten beträchtlich erhöhten. Schließlich ist als neue Entwicklung das Aufkommen der Geschichtsschreibung zu nennen, und zwar mit Sima Qian und Ban Gu als Hauptvertreter. In China haben wir durch die Prominenz der Geschichtsschreibung (nach den Klassikern bildete sie in der vierstufigen klassischen Bibliothek die zweitwichtigste Gruppe, wohlgemerkt noch vor den Philosophenschulen und den literarischen Sammlungen) eine enge Beziehung zwischen Literatur und Geschichtsschreibung, die sich u.a. darin äußert, daß die Geschichtsschreibung beispielhaft wurde für eine lebendige Erzählliteratur und daß wir durch den großen biographischen Teil in den Geschichtswerken ein starkes Interesse an Personen und deren Schicksalen haben: Gedichte, Kalligraphien und Malereien wurden meist als Facetten der Persönlichkeit eines berühmten Mannes geschätzt und gesammelt. Im folgenden werden Äußerungen zur Literatur von zwei typischen hanzeitlichen Vertretern vorgestellt, die beide auch als Exponenten einer klassischen Prosa anzusehen sind: Yang Xiong (53 v. Chr. – 18 n. Chr.) und Wang Chong (27 – ca. 97 n. Chr.).
Yang Xiong Yang Xiong ist von der konfuzianisch orientierten Geschichtsschreibung immer etwas negativ beurteilt worden, da er sich dem Usurpator Wang Mang nicht widersetzt bzw. zeitweise sogar in dessen Diensten gestanden hatte. An Werken sind
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Exemplarisch dafür ist Mei Shengs (gest. 141 v. Chr.) Rhapsodie »Die sieben Anreize« (Qi fa); eine deutsche Übersetzung findet sich in ERWIN VON ZACH: Die chinesische Anthologie, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1958, Bd.2, S. 607–617. S. BURTON WATSON: Chinese Rhyme-Prose, New York: Columbia UP 1971.
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von ihm hauptsächlich ein am Buch der Wandlungen orientiertes Orakelbuch161, einige Rhapsodien162 sowie eine Aphorismen- und Gesprächssammlung (in Nachahmung des Lunyu) mit dem Titel Fayan (Musterhafte Sprüche) bekannt. Kennzeichnend für die hanzeitliche Literaturauffassung ist die enge Anbindung der Literatur an Moral, charakterliche Vervollkommnung und rituell korrektes Verhalten. Zum Beispiel antwortet Yang Xiong auf die Frage, ob sprachliche Schönheit eine den Frauen ähnliche Anziehungskraft (se) besitze, wie folgt: Ja. Bei den Frauen mögen wir es jedoch nicht, wenn Schminke und Puder die natürliche Anmut (yaotiao) zerstört. Und bei den Schriften mögen wir es nicht, wenn üppige Worte die moralischen Normen (fadu) durcheinander bringen.163
Schönheit der Sprache bzw. der Form wird also von Yang Xiong ähnlich wie im Zhuangzi als etwas Negatives gesehen. Nur hält er der Schönheit – und anders als Zhuangzi – eine konfuzianische moralische Substanz entgegen. Interessant an dem Zitat ist auch, daß natürliche Anmut mit einer Anspielung an das erste Gedicht des Liederklassikers beschrieben wird. Man beachte nämlich, daß die natürliche Anmut (yaotiao) diejenige Qualität darstellt, die der noblen Frau in jenem Lied zugesprochen wird; die adjektivische Wendung yaotiao taucht dabei in fast allen Strophen des »Guanju«-Gedichts als Beschreibung (»rank und schlank«) der anmutigen jungen Frau auf. Zum Thema Schönheit der Sprache vs. (moralischem) Inhalt gehört auch eine Bemerkung über den Wert rhetorischen Ausdrucks (ci) im Verhältnis zu Faktizität (shi): Jemand sagte: »Schätzt ein Edler sprachlichen Ausdruck?« Yang Xiong erwiderte: »Was ein Edler schätzt, sind Tatsachen. Wenn jedoch die Tatsachen den Ausdruck überwiegen, dann haben wir Trockenheit. Wenn der Ausdruck die Tatsachen überwiegt, dann haben wir poetische Beschreibung (fu). Wenn Tatsachen und Ausdruck einander entsprechen, dann haben wir ein klassisches Werk (jing). Wenn die Worte [dem Anspruch] genügen, und wenn ihre Nützlichkeit genügend ist, dann haben wir herrliche Tugendkraft.«164 161
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Die Systematik von Yang Xiongs Klassiker des höchsten Geheimen (Taixuanjing) baut allerdings nicht auf zwei (Yin und Yang), sondern auf drei Grundelementen auf. S. DENNIS SCHILLING: Spruch und Zahl. Die chinesischen Orakelbücher ›Kanon des höchsten Geheimen‹ (Taixuanjing) und ›Wald der Wandlungen‹ (Yilin) aus der Han-Zeit, München: Scientia Verlag 1998, und MICHAEL NYLAN: The Canon of Supreme Mystery. A Translation with Commentary of the T'ai-hsüan-ching, Albany: State University of New York Press 1993. Speziell zu Yang Xiongs fu s. DAVID KNECHTGES: The Han Rhapsody. A Study of the fu of Yang Hsiung, Cambridge: Cambridge UP 1976. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 91; vgl. ERWIN V. ZACH (Übers.): Yang Hsiung’s Fa-yen (Worte strenger Ermahnung), Batavia: Lux 1939, S. 7. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 91; vgl. V. ZACH: Yang Hsiung’s Fa-yen, S. 8.
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Faktentreue und Persönlichkeitsausdruck
In dieser Passage, die rhetorisch ganz an die Worte des Konfuzius über das Verhältnis von Form (wen) und Gehalt (zhi) erinnert (Lunyu, 6.16), wird sprachlicher Ausdruck also nicht nur an Faktizität, sondern letztlich auch wieder an Moral bzw. Tugend angebunden. Bekannt wurde in dieser Hinsicht insbesondere folgendes Diktum, welches zeigt, daß es Yang Xiong weniger um Literatur an sich, sondern eher um moralische Bildung geht, die schließlich mit dem nötigen, wenn auch eher schlichten Schmuck ihren passenden literarischen Ausdruck finden soll: Worte sind der Klang des Geistes (xin sheng), und Schriften sind das Abbild des Geistes (xin hua). Wenn Klang und Bild Form annehmen, so zeigt sich darin der Edle und Gemeine.165
Literarisches Schaffen bzw. das Kunstwerk wird hier also primär als Abbild der Persönlichkeit und des Charakters betrachtet und geschätzt. Diese Sichtweise sollte von nun an eine Konstante bilden, die nicht nur die Geschichte der chinesischen Dichtung, sondern auch die der Kalligraphie und Malerei durchzieht.
Wang Chong Wang Chong ist einer der interessantesten Denker Chinas und sicher einer der originellsten und eigenständigsten der Han-Zeit. Seine Abwägung der Lehrmeinungen (Lunheng) setzt sich viel mit irrigen, abergläubischen und übertriebenen Ansichten auseinander. Darin verwirft er Götter- und Geisterglaube (so auch die Ansichten der Neutext-Schule) und bemüht sich in kritischer und skeptischer Weise um eine Bestandsaufnahme des Wissens seiner Zeit. Als einer, der das Disputieren von verschiedenen Lehrmeinungen praktiziert, schätzt auch er bei Schriften am meisten Klarheit und Faktizität: Beim Sprechen ist es wichtig, daß man klare Worte (ming yan) wählt, und beim Schreiben, daß man sich transparenter Zeichen bedient. Der Stil eines hohen Gelehrten mag elegant (ya) sein, doch lassen sich seine Worte immer verstehen und die Bedeutung immer klar erkennen.166
Was Tatsächlichkeit bzw. Faktentreue angeht, so meint er: Beim Disputieren kommt es auf Korrektheit und nicht auf Blumigkeit (hua) an. Tatsächlichkeit ist hochzuschätzen und nicht Übereinstimmung (mit dem Diskussionspartner).167 165 166
167
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 97; vgl. V. ZACH: Yang Hsiung’s Fa-yen, S. 23–24. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 124f.; vgl. ALFRED FORKE (Übers.): Lun-Heng. Philosophical Essays of Wang Ch'ung, London: Luzac & Co. 1907, Bd. I, S. 71. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I. S. 125; vgl. FORKE: Lun-Heng, I, S. 73.
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Und in ähnlichem Tenor heißt es etwas weiter im Text (wie die vorherigen Zitate auch aus seinem autobiographischen Nachwort): Einer, der sich um Wirklichkeit (shi) bemüht, der sorgt sich nicht um Schönheit (hua). Einer, der richtiges Verhalten schätzt, der schmückt nicht seine Worte.168
Wie für Yang Xiong so gehören auch für Wang Chong Schmuck und Schönheit in die Sphäre der Frauen und bilden somit kein Thema für einen konfuzianischen Edelmann. In dem Kapitel »Erklärung von Schriften« geht er näher er auf das Verhältnis von äußerer Form (wen) und Substanz (zhi) ein, wobei der Kern der Aussage wiederum (wie eben auch bei Yang Xiong) mit der bekannten LunyuStelle (6.16) übereinstimmt: Jemand mag sagen: Wenn die Erörterung eines Gelehrten auf hohem Niveau ist, wozu braucht er dann noch äußere Form? Worauf ich antworten würde: Hat ein Mensch äußere Form und Substanz, dann erst ist er abgerundet/vollkommen (cheng)169. Bei Pflanzen ist es anders: Manche tragen Früchte aber keine Blüten, andere haben Blüten aber keine Früchte. Im Buch der Wandlungen heißt es: »Das Wesen eines Weisen erkennt man an seinen Worten.«170 [...] Je reicher die Tugendkraft eines Menschen ist, desto blühender ist das Äußere (wen); je glänzender seine Tugend ist, umso heller und klarer ist sein Äußeres.171
Im Unterschied zum vorherigen Zitat räumt Wang Chong hier dem wen, dem geformten Äußeren, seinen gebührenden Platz ein, wobei allerdings dieses nach wie vor als notwendige Manifestierung von tugendhaftem Inneren gesehen wird. Und dies wäre schließlich als charakteristisch für die Literaturauffassung der Han-Zeit insgesamt anzusehen: Auch wenn Literatur Ausdruck der Gesinnung (zhi) sein soll, so ist diese Gesinnung in erster Linie moralisch bestimmt – eine tugendhafte Einstellung ist gefragt. Eine Loslösung der Literatur aus diesem engen moralischen Bereich erleben wir erst in der Folgezeit der Sechs Dynastien, wenn »Gefühl« (qing) anstatt Gesinnung als bestimmender Faktor der Literatur in den Vordergrund tritt und die Literatur einen Eigenwert gewinnt.
168 169
170 171
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I. S. 126; vgl. FORKE: Lun-Heng, I, S. 75. FORKE (Lun-Heng, II, S. 229) übersetzt hier wohl nicht ganz richtig: »When a man is an elegant writer, his character is perfect.« Und er fügt die Fußnote hinzu: »A statement contradicted by facts.« Xicizhuan, II.1; vgl. WILHELM: I Ging, S. 303. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 121; vgl. FORKE: Lun-Heng, II, S. 229.
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Teil II
Zwischen Han- und Tang-Zeit (3.–7. Jh.)
1. Stil und Temperament – Cao Pis Erörterung »Über die Literatur«
Das Ende der Han-Dynastie (220 n. Chr.) markiert eine deutliche Zäsur in der chinesischen Geistesgeschichte. Während der Han-Zeit erreichte das chinesische Imperium eine Größe und eine – auf dem Konfuzianismus aufbauende – ideologische Ausrichtung, die für das spätere Selbstverständnis Chinas grundlegend wurde, so verstehen sich die Chinesen heute auch noch als Han-Volk und ihre Sprache als Han-Sprache. Die Kämpfe um das Erbe des Han-Imperiums zwischen Cao Cao, Liu Bei und seinem Berater Zhuge Liang (so z. B. die berühmte Schlacht an der Roten Felswand) und der darauffolgende Zerfall in Drei Reiche (Wei, Han-Shu und Wu) wurden zum wohl meistbehandelten historischen Stoff in der chinesischen Literaturgeschichte, und zwar sowohl in der Form von Gedichten als »Nachempfindung historischer Ereignisse« (huaigu shi) als auch in der Erzählliteratur, nämlich dem beliebten mingzeitlichen Roman Die Geschichte der Drei Reiche (Sanguozhi yanyi), nicht zu vergessen schließlich die zahllosen Anekdoten, die in der Pekingoper verarbeitet wurden. Mit dem Zerfall der alten Ordnung ging auch ein zeitweiliger Niedergang konfuzianischer Wertvorstellungen einher. Es gab eine Hinwendung zu neuen Heilslehren: Die mittlerweile etablierte Religion des Daoismus und der im 1. Jahrhundert n. Chr. aus Indien nach China gelangte Buddhismus gewannen viele Anhänger. Der Buddhismus entwickelte ganz spezifisch chinesische philosophische Blüten, aber auch die daoistische Philosophie erlebte einen neuen Höhepunkt in der Form einer reichen Kommentarliteratur zu ihren Klassikern. Themen der Zeit waren folglich Rückzug aus dem öffentlichen Leben und Vergänglichkeit. In der Lyrik gab es neue Formen und Inhalte. Die rhythmisch abwechslungsreichen und melodischen yuefu-Balladen drückten einerseits die Nöte und Wünsche des einfachen Volkes aus, andrerseits wurde diese Gattung beliebt bei Literaten. Das shi-Gedicht im Fünf-Wort-Rhythmus – hinfort als »Gedicht im alten Stil« (gushi) bezeichnet – wurde zum neuen Standard. Insbesondere setzten die aus der späten Han-Zeit stammenden und in dem von Xiao Tong (501–531) zusammengestellten Kompendium der Literatur (Wenxuan) überlieferten »Neunzehn Gedichte im alten Stil« (gushi shijiu shou) neue Maßstäbe an schlichtem und doch nicht kunstlosem Gefühlsausdruck, insbesondere von Trennungsschmerz, Treue, Sehnsucht und Seufzern über die Flüchtigkeit des Lebens. So finden wir nun in der Lyrik eine Abkehr von politisch orientierten Klagen der Gelehrten und eine Hinwendung zum Ausdruck privater und persönlicher Gefühle und Probleme. Zwar kann man noch nicht von einer eigenständigen Erzählliteratur sprechen, jedoch besitzen wir ab jener Zeit Schriften, die Übernatürliches und Phantastisches
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ZWISCHEN HAN- UND TANG-ZEIT
zum Gegenstand haben – von »Biographien von Unsterblichen« bis hin zu »Aufzeichnungen von Merkwürdigkeiten« (zhiguai).1 Literaturhistorisch wichtig für die Folgezeit wurde die letzte Regierungsperiode der Han-Dynastie, die sogenannte Jian'an-Periode (196–219). Es war die Zeit, in der Cao Cao (155–220) das politische und kulturelle Leben im Han-Reich dominierte. Er selbst war ein Dichter von großer Kraft (die besten Werke von Cao Cao sind Balladen im yuefu-Stil), und er muß wohl auch eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein.2 Cao Cao sammelte eine Reihe von Dichtern – die Sieben Meister der Jian'an-Periode (Jian'an qi zi) – um sich herum, die zusammen mit ihm selbst und seinen beiden literarisch bedeutenden Söhnen Cao Zhi (192–232) und Cao Pi (187–226) den am frühesten belegten höfischen Literatenzirkel bildeten. Im Vordergrund der Literatur dieser Periode standen wohlgeformte politische Gebrauchsstücke wie Eingaben, Nachrufe etc.; aber auch die Dichtung gewann mehr und mehr einen eigenen Wert. Sie ist nun gekennzeichnet von höfischer Atmosphäre und einem ihr entsprechenden Inhalt und Ton mit deutlichem Augenmerk auf Wohlklang und gewähltem Ausdruck. Folglich spricht man von dieser Periode als einer der »Bewußtwerdung« der Literatur als Literatur – und nicht mehr bloß als politisch-moralisches, erzieherisches Mittel. So gesehen ist es nicht verwunderlich, daß wir aus dieser Zeit das erste ganz der Literatur gewidmete Essay überliefert haben, das Dianlun Lunwen (»Maßgebliche Erörterungen – Über die Literatur«) von Caos Caos Sohn Cao Pi, wobei Dianlun (Maßgebliche Erörterungen) der Titel des verlorengegangenen Gesamtwerkes (das sich mit Fragen der Politik, Philosophie, Militär etc. befaßt) darstellt, von welchem nur noch der Teil der Erörterung »Über die Literatur« (Lunwen) erhalten geblieben ist. Das Werk wurde wohl geschrieben, nachdem Cao Pi im Jahre 217 als Kronprinz ernannt wurde, allerdings bevor er 220 als erster Kaiser (mit dem Namen Wen) der Wei-Dynastie fungierte. Von ihm stammt übrigens auch das erste belegte shi-Gedicht in der Sieben-Wort-Form, die zur beliebtesten lyrischen Form der Tang-Zeit werden sollte. 1
2
S. MONIKA MOTSCH: Die chinesische Erzählung. Vom Altertum bis zur Neuzeit, München: Saur 2003, S. 27–74. Sein negatives Image hat er wohl dadurch bekommen, daß die Geschichtsannalen der »Drei Reiche« – und darauf aufbauend der äußerst populäre gleichnamige Roman – in konfuzianisch loyaler Weise Liu Bei für den rechtmäßigen Nachfolger der Han-Dynastie hält, wodurch Cao Cao den Nimbus eines machthungrigen Usurpators bekam. Erst in der Qing-Zeit begann man, seine yuefu-Balladen hochzuschätzen (z.B. war Zheng Banqiao ein großer Verehrer). S. NIENHAUSER: The Indiana Companion, II (1998), S. 162f. Übersetzungen seiner Gedichte: ÉTIENNE BALAZS: »Ts'ao Ts'ao. Zwei Gedichte«, Monumenta Serica, 2 (1937), S. 410–420; DIETHER VON DER STEINEN: »Poems of Ts'ao Ts'ao«, Monumenta Serica 4 (1934–1940), S. 126–131. S. auch DIETER KUHN: Status und Ritus. Das China der Aristokraten von den Anfängen bis zum 10. Jahrhundert nach Christus, Heidelberg: Edition Forum 1991, S. 289ff.
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Stil und Temperament – Cao Pis Erörterung »Über die Literatur«
Dadurch, daß Cao Pis Essay »Über die Literatur« in Xiao Tongs Kompendium der Literatur (Wenxuan) überliefert ist, wurde es mehr beachtet und einflußreicher als einige der späteren literaturtheoretischen Werke. Charakteristisch und wichtig für das Lunwen ist, daß es zum ersten Mal das später so beliebte Thema Gattung erörtert, allerdings auch, daß diese Thematik Fragen des Stils (bzw. des Temperaments) des Dichters berührt, das heißt, in Verbindung mit dem Thema »Vitalkraft« (qi) diskutiert wird, das wir bereits von Menzius kennen. Cao Pis Essay beginnt mit einem Satz, der in China sprichwörtlich wurde: »Die Literaten schätzen einander gering (wenren xiang qing) – das war schon immer so gewesen.«3 Allein für die Formulierung dieser zeitlos und im Grunde auch kulturunabhängig gültigen Erkenntnis (im Deutschen fehlt eine entsprechend griffige Redewendung – allerdings nicht der zugrundeliegende Sachverhalt) würde ihm unvergänglicher Ruhm gebühren. Cao Pi fügt folgende Erklärung an für seine Beobachtung: Der Mensch sieht nur seine eigene Stärke, doch Literatur besitzt mehr als nur eine Form (ti). Nur wenige können in allem gut sein. Deshalb nimmt man das, worin man selbst gut ist, als Maßstab, um die Schwächen der anderen zu kritisieren. Es gibt ein Sprichwort: »Der abgenutzte Besen im eigenen Haus ist wert eintausend Stück Gold.« Dies ist das Übel mangelnder Selbstkenntnis.4
Die eigenen Stärken als Maßstab nehmen, um damit die Schwächen anderer zu beurteilen, Mangel an Selbstkenntnis und verbreitete Selbstverblendung, d.h. Überbewertung der eigenen mitunter mageren Fähigkeiten und – nach diesem Maßstab – Geringschätzung der Talente und Fertigkeiten von anderen (insbesondere angesichts der Vielgestaltigkeit der Literatur), im weiteren Verlauf des Arguments auch die Vorliebe, Dinge aus der Ferne höher zu bewerten als solche aus der Nähe – dies sind die Ansatzpunkte für Cao Pis Kritik an der gängigen Literaturkritik seiner Zeit. Im Zusammenhang mit der Nennung und Erörterung der Vorzüge seiner Dichterkollegen, den erwähnten Sieben Meistern, meint Cao Pi, die einzige Möglichkeit, solche Verstrickungen in Selbstüberhöhung und Mißachtung anderer zu vermeiden, bestehe darin, daß »ein Edler sich selbst prüft, bevor er andere mißt«. Nur auf diese Weise ließe sich über Literatur diskutieren. 3
4
Für eine Erörterung dieses Topos im Rahmen der chinesischen Kulturgeschichte s. KARLHEINZ POHL: »Scholars Scorn Each Other, Don’t They? – On the Psychology of (not only) Chinese Literati«, in: WOLFGANG KUBIN (Hg.): Symbols of Anguish: In Search of Melancholy in China, Bern: Peter Lang 2001, S. 37–54. Der gesamte Text findet sich bei GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 158–59. Vgl. SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 172–73. Eine Gesamtübersetzung und Erörterung findet sich in OWEN: Readings, S. 57–72, sowie in WONG: Early Chinese Literary Criticism, S. 19–26.
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Es folgt eine einfühlsame Kritik und ein gegeneinander Abwägen von unterschiedlichen Vorzügen der Sieben Meister, wobei in einer für die damalige Zeit typischen Weise die Grenzen zwischen Literatur- und (psychologischer) Charakterbewertung verschwimmen.5 Hier ein Beispiel: Ying Yang (gest. 217) besitzt harmonische Ausdrucksweise aber keine Kraft. Liu Zhens (gest. 217) Stil hat Kraft aber ist zu locker. Kong Rongs (153–208) Stil/ Wesen (tiqi) ist nobel und wunderbar. Darin übertrifft er andere. Aber er kann keine Argumentation durchführen. Seine Rhetorik (ci) ist stärker als seine Logik (li).
Hier zeigt sich wiederum die bereits erwähnte Neigung chinesischer ästhetischer Bewertung, nämlich Kunst (Dichtung, Malerei oder Kalligraphie) in erster Linie als Ausdruck von Charaktereigenschaften und folglich auch als Manifestation einer mehr oder weniger herausragenden Persönlichkeit zu betrachten. Ein zwar kleiner und doch, da zum ersten Mal ausgeführt, wichtiger Teil von Cao Pis Schrift gilt Gattungsfragen. Das Muster für Gattungen bildeten zunächst die Klassiker; auf dieses Fundament kamen auch spätere Theoretiker immer wieder zu sprechen. Daß alle Literatur auf die Klassiker zurückgeführt werden konnte, galt als einigendes Band; außerdem lag den Sechs Klassikern6 allen das eine Dao zugrunde. Und doch ergaben deren unterschiedliche Themenbereiche Anlaß für entsprechende Klassifizierungen, wie wir sie zum Beispiel bei Xunzi (oder im Buch der Riten7) finden: Das Dao der hundert Könige ist dies eine [Dao der Weisen des Altertums]. Deshalb gehen auch die [Bücher der] »Lieder«, »Urkunden«, »Riten« und »Musik« alle auf dieses eine zurück. Die »Lieder« sprechen davon als von ihren Gesinnungen (zhi); die »Urkunden« sprechen davon als von ihren Taten (shi); die »Riten« sprechen davon als von ihrem Verhalten (xing); die »Musik« spricht davon als von ihrer Harmonie (he); die »Frühlings- und Herbstannalen« sprechen davon als von ihren Feinheiten (wei) [für Lob und Tadel].8
Cao Pi betont nun ebenfalls, daß die Literatur, von ihren Anfängen her gedacht, als eine Einheit zu betrachten sei. Doch in seiner Zeit gab es bereits deutliche gattungsgemäße Unterscheidungen. Cao Pi charakterisiert sie folgendermaßen: Literatur (wen) ist von ihren Wurzeln her ein und dasselbe, sie unterscheidet sich aber in ihren Verzweigungen. Im allgemeinen sollten Throneingaben (zou) 5 6
7 8
S. hierzu vor allem ZÜRCHER: »Recent Studies on Chinese Painting«. Dies waren das Buch der Wandlungen (Yijing), das Buch der Urkunden (Shujing), das Buch der Lieder (Shijing), die Frühling- und Herbst-Annalen (Chunqiu), das Buch der Riten (Liji) sowie das schon früh verloren gegangene Buch der Musik (Yuejing). Am Anfang von Kap. 26 (»Erklärung der Klassiker«) des Liji. Kap. 8; WANG: Xunzi duben, S. 124; vgl. KÖSTER: Hsün-tzu, S. 79f.
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Stil und Temperament – Cao Pis Erörterung »Über die Literatur« und Denkschriften (yi) eine würdige Eleganz (ya) besitzen; amtliche Schreiben (shu) und Erörterungen (lun) sollten Logik (li) zeigen; Grabinschriften (ming) und Nachrufe (lei) sollten Wert auf Tatsachen (shi) legen; Lieder (shi) und Rhapsodien (fu) sollten schön gestaltet (li) sein. Diese vier Klassen sind nicht gleich. Einer, der eine davon beherrscht, wird diese vorziehen. Nur ein universelles Talent wird alle Stile beherrschen.9
Cao Pi nennt hier insgesamt acht Gattungen (in der Folge werden sie sich rasch vermehren), wobei er jeweils zwei aufgrund von gemeinsamen Attributen zusammenfaßt; somit ergeben sich vier Gruppierungen. Unter ihnen nehmen allerdings die im eigentlichen Sinne literarischen, nämlich Lieder/Gedichte und Rhapsodien, den letzten Platz ein, denn sie werden lediglich als »schön« beschrieben – eine Geringschätzung, die der von Yang Xiong und Wang Chong in der Han-Zeit entspricht. (Diese Reihenfolge sollte sich bald ändern, und zwar vom letzten auf den ersten Platz.) Am bekanntesten wurde Cao Pis Essay (abgesehen vom markigen Eingangssatz) für seine Bemerkungen zum Zusammenhang von Vitalkraft/Atem (qi) und literarischem Schaffen: In der Literatur ist Vitalkraft die Hauptsache (wen yi qi wei zhu). Sie verkörpert sich in Klarheit oder Trübheit. Man kann sie nicht durch Anstrengung erlangen.
Dieser Satz erinnert stark an die zitierten Ausführungen von Menzius (2A.2); dort begegneten wir bereits in dem Gleichnis vom Mann aus Song, der seinen Pflänzchen durch Herausziehen beim Wachsen helfen wollte, dem Gedanken, daß sich ein reichliches qi nicht erzwingen läßt. (Die Unterscheidung von klarem und trübem qi sollte übrigens für den songzeitlichen Neokonfuzianismus von großer Bedeutung werden.10) Cao Pi verdeutlicht seine Ideen am Beispiel der Musik: Wenn zwei Flötenspieler die gleiche Melodie spielten und selbst der Rhythmus ebenmäßig wäre, so wäre doch die Art, wie sie Atem (qi) holten, nicht gleich. Insofern sei hier Geschicklichkeit und Ungeschick Sache ihrer jeweiligen natürlichen Veranlagung. Und er meint in deutlicher Anlehnung an die bereits angeführte Episode vom Radmacher Bian im Zhuangzi: »Selbst Vater und älterer Bruder sind nicht in der Lage, dies dem Sohn oder jüngeren Bruder zu vermitteln.« Qi ist hier demnach am besten als Temperament, Vitalität oder Genie des Dichters zu verstehen; d.h., 9
10
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 158; vgl. SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 173. Im Neokonfuzianismus unterschied man anhand von klarem und trüben qi die Disposition des Menschen zum Guten oder zum Schlechten. S. LIU SHU-HSIEN: »On the Origin of Evils – A Confucian and Intercultural Perspective«, in: KARL-HEINZ POHL (Hg.): Chinese Thought in a Global Context. A Dialogue Between Chinese and Western Philosophical Approaches, Leiden: Brill 1999, S. 173–189.
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literarische Werke sind direkter Ausdruck oder Manifestationen dieser Kraft bzw. dieses Temperaments. Man wird als Talent oder Nichttalent geboren und kann eben nicht durch Anstrengung ein Dante, Shakespeare oder Goethe werden wollen. Cao Pis Essay schließt mit Gedanken zur Spannung zwischen Vergänglichkeit des Lebens und Unvergänglichkeit durch Literatur. Dabei knüpft er an einen Topos an, der im Kommentar von Zuo erwähnt wird, nämlich drei Arten, Unvergänglichkeit zu erlangen (san bu xiu): durch Tugend (de), Verdienste (gong) oder Worte (yan)11: Literatur ist wichtig für das Regieren des Staates. Sie ist eine unvergängliche (bu xiu), großartige Sache. Unser aller Leben hat seine Zeit und muß enden. Ruhm und Freuden enden mit dem Vergehen des Körpers. Beides hat also seine begrenzte Zeit. Nur die Literatur dauert ewig. Deshalb widmeten sich Autoren aus alter und neuer Zeit dem Schreiben und machten ihre Gedanken sichtbar in Büchern. Sie hatten es nicht nötig, daß ihre Biographien von Historikern geschrieben wurden, noch hingen sie vom Einfluß mächtiger Leute ab. Ihr Ruhm pflanzte sich von selbst fort. [...] Die Menschen des Altertums waren gleichgültig gegenüber einem fußlangen Stück Jade, vielmehr schätzten sie einen Zoll auf der Sonnenuhr. Sie fürchteten das Vergehen der Zeit. [...] Sonne und Mond ziehen oben dahin. Unsere Körper verfallen hier unten. In einem Augenblick verwandeln wir uns zusammen mit aller Kreatur. Darüber empfanden Männer mit hehrer Gesinnung viel Kummer.12
Hier zeigt sich schließlich mit Deutlichkeit, was Cao Pi unter Literatur versteht: offenbar nicht in erster Linie Schöngeistiges, Gefühlsausdruck oder Dichtung, sondern staatstragende Schriften – Erörterungen der Klassiker, rhetorisch geschliffene und demnach effektvolle Eingaben etc. Doch er steht am Beginn einer Wende, wo sich die Aufmerksamkeit vermehrt von den äußeren Verwaltungsaktivitäten den inneren ästhetischen Bereichen zuwandte. Zum Beispiel sind seine Beschreibungen von Stilqualitäten, die sich sowohl auf den Charakter des Autors selbst als auch auf dessen Werk anwenden lassen, Teil dieses Wandlungsprozesses.13 Cao Pis Essay, in dem er Literatur für sich selbst behandelt, verschiedene Gattungen definiert, die Beziehung zwischen Autor und Werk behandelt und von Stilfragen spricht, markiert die Bewußtwerdung der Literatur und insofern den Beginn der Literaturkritik in China.
11 12 13
Zuozhuan, Xiang 24; LEGGE: The Ch'un Ts'ew, S. 517. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 159. DONALD HOLZMAN: »Literary Criticism in China in the Early 3rd Century A.D.«, Asiatische Studien, 28.2, S. 136.
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2. Kreativität und Ebenmaß – Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur« Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur« (Wenfu) ist eines der nachwirkungsreichsten Werke in der chinesischen Literaturreflexion (nicht zuletzt auch deshalb, weil es ebenfalls in der autoritativen Anthologie Wenxuan überliefert ist). Nach Cao Pis etwas fragmentarischem Lunwen ist das Wenfu die erste uns erhalten gebliebene Schrift, die gänzlich dem Thema Literatur gewidmet ist und es in mannigfaltiger – philosophischer, technischer, stilistischer und gattungsmäßiger – Hinsicht beleuchtet. Es ist ein faszinierender Text, wie dies auch Generationen von chinesischen Literaten empfunden haben müssen. Lu Ji (251–303) wuchs im Teilreich Wu heran. Nachdem dieses im Jahre 280 durch Jin annektiert wurde (was zu einer kurzzeitigen Reichseinigung führte), weigerte er sich, zehn Jahre lang, und zwar aus Loyalitätsgründen, der neuen Dynastie zu dienen. Es wäre ihm wahrscheinlich besser bekommen, wenn er diesem Entschluß noch länger treu geblieben wäre, denn er wurde bald als General in die Machtkämpfe des regierenden Sima-Klans verwickelt, und als seine Armee eine Niederlage erlitt, endete er als Verantwortlicher auf dem Richtplatz. Diese wenigen Fakten zu seiner Biographie mögen genügen, um zu verdeutlichen, daß dieser Verfasser eines der einflußreichsten literaturphilosophischen Werke Chinas kein weltenthobener Schöngeist war, sondern daß er – wie ja auch Cao Pi und dessen Vater – aktiv im politischen und militärischen Leben der damaligen Zeit stand.11 Der Titel von Lu Jis Schrift nennt deutlich die Gattungszugehörigkeit: Es ist ein fu, also eine Rhapsodie bzw. poetische Beschreibung, auch Reimprosa genannt. Die Rhapsodie war, wie bereits erwähnt, ein beliebtes Genre der Han-Gelehrten; darin konnten sie in verbaler Virtuosität Dinge in ihrer ganzen Breite beschreiben (fu). Allerdings ist die Bezeichnung »Reimprosa« etwas irreführend, denn Prosa würde bedeuten, daß hier – außer dem Reim – keine dichterische Form, kein Versmaß, keine für die chinesische Lyrik typischen Parallelismen, keine gebundene Sprache wie Bilder etc. vorlägen, sondern daß es sich um prosaische Sprache, »freie Verse« oder Rhythmen handelte. All dies trifft zumindest für das Wenfu nicht zu: Es hat zwar kein durchgehendes Versmaß (doch hatten dies auch nicht alle Gedichte im Buch der Lieder, ebensowenig wie die »Elegien von Chu«, geschweige denn die Yuefu-Balladen), es überwiegt jedoch bei einer Länge von insgesamt 131 Verspaaren der Sechser- (105 Mal) und in weit geringerem Maße der Vierer-Rhythmus (17), d.h., nur neun Verspaare haben als Varianten einen abweichenden Rhythmus. Auch sind fast alle Verspaare antithetisch. Ein Hauptstilmittel des Wenfu ist somit 11
Zu Lu Ji s. VOLKER STRÄTZ: Untersuchung der formalen Strukturen in den Gedichten des Lu Kih, Frankfurt: Lang 1989.
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der Parallelismus membrorum. Doch ist das Wenfu nicht im sogenannten »Sechsund-Vier-Stil« (liusi wen) geschrieben, welches ein Synonym für die in der damaligen Zeit populäre Parallelprosa (pianwen) ist12. Denn im Unterschied zur Parallelprosa wird im Wenfu nicht nur über weite Strecken ein Sechser-Rhythmus durchgehalten, es finden sich auch wechselnde Reime – es ist eben eine Rhapsodie und keine (Parallel-)Prosa. So läßt sich das ganze fu aufgrund von verschieden Reimkategorien in 16 größere, inhaltlich differenzierte Abschnitte aufteilen.13 Im folgenden werden die verschieden Teile des Wenfu in Übersetzung vorgestellt und in ihren wesentlichen Aussagen erläutert. Das ganz prosaisch gehaltene Vorwort lautet: Jedesmal, wenn ich die Werke talentierter Meister lese, glaube ich, Einsicht in deren schaffenden Geist zu erhalten. Die Art, sich der Sprache zu bedienen und Worte zu wählen, kennt viele Möglichkeiten, und über schön und häßlich, gut und böse läßt sich dabei auch reden. Jedesmal, wenn ich selbst etwas schreibe, gewinne ich mehr Einsicht in diese Umstände (qing)14. Ein Dichter hat immer die Befürchtung, daß einerseits seine Gedanken nicht der Wirklichkeit der Dinge entsprechen und daß die Gestaltung (wen) andrerseits nicht den Ideen gerecht wird. Die Schwierigkeiten liegen deshalb nicht im Wissen, sondern im Können. Ich habe diese Rhapsodie über die Literatur geschrieben, um von der Kunstfertigkeit der vergangenen Meister zu berichten und darüber hinaus zu diskutieren, wie es zu Gelingen und Mißlingen in literarischen Werken kommt.15 12
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Die Parallelprosa variiert Zeilen im Sechser- und Vierer-Rhythmus und geht inhaltlich wie syntaktisch parallel vor. Das noch zu besprechende Werk Wenxin diaolong (Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen) von Liu Xie ist in diesem Stil verfaßt. S. ACHILLES FANG: »Rhyme-Prose on Literature. The Wen-fu of Lu Chi«, HJAS (1951). Eine ähnliche Aufteilung nimmt E.R. HUGHES vor: Lu Chi’s »Wen-fu«, A.D. 302, New York: Pantheon 1951; s. auch SAM HAMILL (Übers.): Lu Chi’s Wen-fu. The Art of Writing, Portland: Breitenbush 1987. Qing ist ein etwas schillernder und nicht eindeutiger Begriff, der meist als »Gefühl« übersetzt wird. So heißt später ein zentraler Satz aus dem Wenfu: »Dichtung gründet sich auf Gefühl« (shi yuan qing). Doch ist die ursprüngliche Bedeutung von qing (so auch bei Menzius, im Daxue oder im Zhuangzi) etwa »allgemeine Umstände (oder Organisation) eines Phänomens« oder »Umstände und Tatsachen einer Situation (oder eines Dings)« – im modernen Chinesisch: qingzhuang. Von dort her läßt sich die Bedeutung ableiten: »Umstände/Ordnung des Herzens/Geistes« (xin), was in etwa dem Wort »Gefühl« (oder vielleicht besser »Stimmung«) entspräche, wobei gerade bei Lu Ji Stimmung/Gefühl als innere Reaktion des Menschen auf einen äußeren Stimulus verstanden wird. Chinesische Theoretiker – von Liu Xie bis Li Zehou – betonen übrigens immer wieder, daß die Reaktion des Menschen auf die Welt nicht nur logisch, rational (d.h. von li geprägt), sondern ebenso sehr stimmungsgeprägt (nämlich von qing) bzw. gefühlsmäßig ist. Gerade diese Kombination von Ratio und Gefühl (li qing he yi) mache das intuitive Erfassen der Welt möglich. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 170. Vollständige Übersetzungen und ausführliche Erörterungen (mit Originaltext) finden sich in OWEN: Readings, S. 73–182, sowie in WONG: Early Chinese Literary Criticism, S. 39–60.
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Kreativität und Ebenmaß – Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur«
In diesem programmatischen Vorwort spricht Lu Ji von den Beweggründen für seine Komposition. Angesichts der vielen Möglichkeiten literarischen Ausdrucks, der unterschiedlichen Bewertungen von Literatur sowie schließlich des häufigen Auseinanderklaffens von Anspruch und Können, will er darin ein paar grundlegende Dinge klären. Zwar geht es in der Literatur um den Ausdruck von Ideen, jedoch muß dieser Ausdruck hinsichtlich zweier Kriterien gekonnt sein: Entsprechung mit der Wirklichkeit und stilistische Gestaltung. Allerdings läßt sich dies zwar einfach sagen und womöglich auch wissen, allein auf das Können bzw. das Tun kommt es an. Und hier haben wir eine Anknüpfung an Gedanken und Themen, die wiederum ihren Ursprung im Daoismus haben: Die bekannte Geschichte aus dem Zhuangzi vom Radmacher Bian (der später noch zitiert werden wird) klingt an, der seinen Kniff des Radmachens nicht einmal seinem Sohn weitergeben konnte, sowie der sowohl aus dem Zhuangzi (im Fischreusen- und Hasenfallengleichnis) als auch aus dem Buch der Wandlungen vertraute sprachskeptische Topos, daß nämlich die »Bücher nicht den Worten und die Worte nicht den Ideen entsprechen« (shu bu jin yan, yan bu jin yi)16. Vor diesem für die Literaten seiner Zeit bekannten Hintergrund äußert Lu Ji seine Befürchtung, daß die Ideen eben nicht der Wirklichkeit und die Gestaltung nicht den Ideen gerecht werden könnten. Doch darüber hinaus will er – ausgehend von den literarischen Errungenschaften vergangener Meister – auch Anhaltspunkte für Gelingen und Mißlingen in der Literatur geben. Der erste Teil des Wenfu thematisiert die Vorbereitung literarischen Schaffens bzw. die Voraussetzung literarischer Kreativität: [Der Dichter] steht in der Mitte des Universums, versunken in die Betrachtung ihres Mysteriums (xuan)17; Er nährt seine Gefühle (qing) und Gesinnung (zhi) an den klassischen Werken.
Bemerkenswert ist an diesen Eröffnungssätzen die zweifache Berufung auf gleichsam oberste Instanzen: einerseits das unergründliche Geheimnis der Schöpfung, andrerseits die autoritativen Schriften der Alten. Das Mysterium des Kosmos gilt es zu kontemplieren. Die Arbeit an den Klassikern ist hingegen die notwendige Voraussetzung für Bildung bzw. Charakterkultivierung. Zusammenfassend und paraphrasierend heißt es weiter: Der (nie eigens genannte) Dichter ist sich der vier Jahreszeiten bewußt, er seufzt über deren Wechsel, erwägt die Vielfalt der Welt, trauert über das Kommen des Herbstes und freut sich über den Frühling. Es schaudert ihn im Herzen angesichts des Frosts, und er betrachtet in gefaßter Gesinnung die Wolken (des Sommers). Den gegenwärtigen und vergangenen Autoren Ehre erweisend wandert er durch den Wald der Literatur und bewundert die 16 17
Xicizhuan, I.12; vgl. WILHELM: I Ging, S. 298. Die Formulierung erinnert an Daodejing, Kap. 10.
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Kunstfertigkeit großer Dichter. Dies bewegt ihn so sehr, daß er die Bücher – Werke aus alter und neuer Zeit – beiseite schiebt, den Pinsel ergreift und ein Stück Literatur verfaßt. Lu Ji beschreibt also in der Eingangspassage die Stimmung, die dem eigentlichen Schöpfungsakt vorausgeht. Der Dichter reagiert kontemplierend und sensibel auf die Welt, wie sie sich in ihrer Vielfalt und ihrem konstanten Wandlungsprozeß darbietet. Er ist jedoch auch bestens vertraut mit der literarischen Tradition, d.h., er wird durch beide angeregt, sich auszudrücken. Der nächste Teil beschreibt den eigentlichen kreativen Moment: Zunächst enthält er sich des Blickes und wendet sein Gehör nach innen; In Gedanken verloren sucht er überall. Sein inneres Wesen galoppiert zu den acht Enden der Welt, Sein Herz durchmißt zehntausend Meilen.
In etwas prosaischeren Worten will Lu Ji hier wohl sagen, daß es zunächst darauf ankommt, die Sinne nach innen zu lenken (man fühlt sich hier an Zhuangzis »Fasten des Herzens« erinnert), dabei die Geisteskräfte zu konzentrieren und mit den auf diese Weise kultivierten imaginativen Fähigkeiten die Welt zu durchmessen. Auf diese Weise eingestimmt und die Dinge klar im inneren Auge erblickend, erlebt der Dichter einen Ausbruch an Kreativität, indem nämlich versunkene Worte – wie gefangene Fische – nach oben kommen und er Worte und Klänge findet, die niemand vor ihm jemals gefunden hat (wörtlich: »Er erhält das Wort, das hundert Generationen gefehlt hat, / und findet den Reim, der für tausend Jahre unentdeckt geblieben war«). Auch haben sich hier für den Dichter die Kategorien von Zeit und Raum aufgelöst: Er schaut Vergangenheit und Gegenwart in einem Augenblick, Berührt die Vier Meere in einem Lidschlag.
Der nächste Abschnitt gilt der so entstehenden Ordnung des Geschriebenen. Danach wählt er Inhalte gemäß den Erfordernissen der Struktur Und prüft Ausdrücke ob ihrer Paßgerechtheit. [...] Wenn Ordnung (li) die Substanz (zhi) unterstützt und somit einen Stamm errichtet, Kann Gestaltung (wen) von den Zweigen hängen wie ineinander verknotete Früchte. Zwischen wahren Gefühlen und äußerem Erscheinen besteht dann kein Unterschied; Jede Veränderung wird sich nach außen zeigen.
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Kreativität und Ebenmaß – Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur«
Hier spricht Lu Ji über das Verhältnis von Logik (li: innere Ordnung oder Kohärenz) und Gestaltung; die Beziehung zwischen beiden erläutert er mit einem Bild der Natur – dem Baum: Wenn ein literarisches Werk einen gut strukturierten Inhalt besitzt, so ist dies wie ein kräftiger Stamm, welcher Äste, Blätter und Früchte – gleichsam als Schmuck oder Gestaltung – hervorbringt und trägt. Beides gehört natürlich in einer einander ergänzenden Weise zusammen. Die Dualität, von der hier die Rede ist (li und wen), stellt in leicht abgewandelter Form nur die bereits vertraute Formel von der Einheit von Substanz und Gestalt dar. Sie wird sich durch die ganze Geschichte der chinesischen Literaturtheorie hindurch weiter verfolgen lassen, bisweilen auch in anderen Variationen, nämlich als Synthese von Ordnung/Ratio (li) und Gefühl (qing) oder, wie im letzten Verspaar, als Übereinstimmung von innen und außen, von Gefühl und Ausdruck.18 Nach der Vorbereitung auf den künstlerischen Moment, der Beschreibung des Schaffensprozesses selbst (dem spontanen Ausbruch von Kreativität) und dem Gedanken der Ordnung handelt der nächste Abschnitt vom ästhetischen Vergnügen. Lu Ji betont dabei, daß literarisches Schaffen eine Freude bereitet, welche sogar die Weisen des Altertums zu schätzen wußten. Diese somit konfuzianisch abgesicherte Freude rührt allerdings aus einer Kreativität, die stark daoistische Züge aufweist: [Das Schreiben ist] wie ein Erkunden des Nichts, um das Sein zu suchen, Wie im Anklopfen an der Stille nach Musik zu streben.
Literarische Kunst entsteht folglich wie das Sein aus dem Nichts, wie Musik aus der Stille, unerklärlich, mysteriös. Künstlerische Kreativität wird hier daoistisch verstanden, d.h. analog zum Wirken der Natur und in Übereinstimmung mit dem kosmischen Schöpfungsprinzip (dao). In diesem Sinne ist auch der Folgesatz zu verstehen: Ein Fußbreit weiße [Seide zum Schreiben] beinhaltet die Unendlichkeit; Aus einem zollgroßen Herzen ergießt sich ein Strom.
Das zollgroße Herz (cun xin) ist ein bekanntes Bild, um über die physische Winzigkeit des menschlichen Herzens/Geistes dessen gleichsam unendlich große Kapazität zu betonen. Dies bedeutet nicht nur im Sinne von Menzius die Fähigkeit des Herzens/Geistes, mitfühlend die ganze Welt zu umfassen, sondern – auch im ästhetischen Sinne – die Welt sinnlich zu begreifen. 18
Letzteres will heißen, daß man nicht schreiben soll, was man nicht fühlt, oder wie es Hu Shi 1700 Jahre später ausdrückte: »Man soll nicht jammern, wenn man nicht wirklich krank ist.« So eine von seinen berühmten acht Forderungen in dem Aufsatz »Wenxue gailiang chuyi« (Vorschläge für eine Reform der Literatur), in dem er 1917 für die Abschaffung der klassischen Schriftsprache plädierte. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, IV, S. 529.
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Der nächste Abschnitt behandelt die Stile und Formenvielfalt der Literatur. Hier geht Lu Ji auch auf die Dichtung ein. Doch zunächst macht er deutlich, daß Ideen (bzw. die Absichten: yi) das künstlerische Gestalten kontrollieren, welches wiederum unzählige Möglichkeiten bietet: Worte offenbaren Talent, verfeinert durch Technik, Doch die Ideen kontrollieren den Prozeß, sind der eigentliche Handwerker.
Daß Ideen den künstlerischen Prozeß bestimmen, wird später nicht nur in der Dichtungstheorie, sondern auch in der Malerei und Schriftkunst ein wichtiger Topos. Im folgenden erwähnt er zehn etablierte Formen. Es sind Gattungen, von denen wir sechs bereits bei Cao Pi begegnet sind19. Am wichtigsten im Kontext schöngeistiger Literatur sind die beiden ersten: Gedichte (shi) und Rhapsodien (fu). Man beachte also die Reihenfolge: Was bei Cao Pi noch an letzter Stelle rangierte, steht nun hier ganz am Anfang. Dichtung gründet sich auf Gefühl und wirkt ein faszinierendes Muster (qimi); Rhapsodien verkörpern die Dinge und sind klar und hell (liuliang).20
»Dichtung gründet sich auf (oder folgt dem) Gefühl« (shi yuan qing) ist der Satz, der am häufigsten aus Lu Jis Rhapsodie zitiert wurde und noch wird. Hier gibt es deutliche Anklänge an das bereits behandelte »Große Vorwort« des Shijing sowie an den von Xunzi herausgestellten Zusammenhang von Musik und Gefühl. Folglich erläutert Li Shan, der tangzeitliche Kommentator des Wenxuan, die Stelle lapidar und nur mit scheinbarer Logik: »Dichtung ist dazu da, die Gesinnung auszudrücken (shi yi yan zhi), deshalb heißt es, sie ›gründet sich auf Gefühl‹.«21 Allerdings ist der han- und vor-hanzeitliche Kontext, in dem von »Gesinnung« und »Gefühl« gesprochen wird, ein besonderer: In den frühen Äußerungen sind sowohl zhi als auch qing noch nicht losgelöst von Moral und Politik; d.h., die moralischdidaktische Funktion der Literatur steht im Vordergrund des Interesses. Bei Cao Pi ändert sich bereits insofern etwas, als er Gedichten und Rhapsodien das (nicht unbedingt positiv gemeinte) ästhetische Attribut »schön« (li) beifügt. Doch erst bei Lu Ji findet diese Betrachtungsweise deutlicheren Ausdruck. Diese neue Bedeutung von Dichtung (manche sprechen von Bewußtwerden oder Verselbständigung 19
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Die vier neuen sind: bei – Gedenkaufschriften auf Stein, zhen – Mahnungen, song – Lobhymnen und shuo – Überredung. Zwei von Cao Pis Gattungen fehlen hingegen bei Lu Ji: amtliche Schreiben (shu) und Denkschriften (yi). Man beachte hier wiederum die literarische Gestaltung, und zwar durch lautliche Kontraste, mit denen auch Akzente gesetzt werden: Am Ende der ersten Zeile haben wir ein Kompositum mit reimenden Auslauten (qimi), am Ende der zweiten eins mit Alliteration (liuliang). XIAO TONG (Komp.): Wenxuan, Taipei: Huazheng shuju 1981, S. 241; vgl. OWEN: Readings, S. 130.
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Kreativität und Ebenmaß – Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur«
der Literatur22) wird auch dadurch betont, daß Gedichte und Rhapsodien an erster Stelle der Gattungsliste stehen. Daß diese neue Priorität jedoch keine Loslösung aus dem konfuzianischen Rahmen bedeutet, verdeutlicht der letzte Satz dieses Abschnitts: Diese Formen mögen zwar unterschiedlich sein, Jedoch verbieten sie sich jeglicher Unorthodoxie und enthalten sich der Freizügigkeit. Worte müssen vermittelbar und der Sinn muß klar sein; Man drücke sich deshalb nicht umständlich aus.
Hier haben wir nicht nur eine Berufung auf die konfuzianische Lehre und orthodoxe Tradition, Lu Ji führt auch das bekannte Zitat von Konfuzius an, daß Worte vor allem etwas vermitteln sollen23. Oberstes Gebot im Behandeln all dieser Gattungen und Formen ist also die Klarheit des Ausdrucks. Die nächsten Abschnitte behandeln praktische und technische Aspekte des Schreibens, z.B. Mängel, die es zu vermeiden gilt, was auch meist in den europäischen Poetiken (vor allem in der Barockzeit) abgehandelt wurde. Zu den häufigsten Fehlern gehören: Knappheit des Ausdrucks, wodurch nicht genügend Nachklang oder Resonanz (ying) entsteht; Dissonanzen (z.B. schön und häßlich zu mischen), was keine Harmonie (he) ergibt; Suche nach Ungewöhnlichem und Originalität, wodurch es dem Geschriebenen an Gefühl fehlt; zu große Freizügigkeit und Nähe zum Vulgären, was zu einem Mangel an Kultiviertheit (ya) führt; schließlich zu starke Zurückhaltung und Blässe, was ein Fehlen von Farbigkeit (yan) zur Folge hat. Bemerkenswerterweise äußert sich Lu Ji in den Ausführung zu diesen Fehlern fast immer in musikalischen Begriffen, was erkennen läßt, wie sehr ihm an Wohlklang in der Dichtung gelegen ist. Desweiteren verlangt er eine Breite an Variationen in Anbetracht der Subtilität der zugrundeliegenden Umstände und Gefühle. Allerdings sagt er insgesamt zu seinen praktischen Ratschlägen (in Anspielung auf Zhuangzi), daß solche Kniffe selbst der Radmacher Bian nicht seinem Sohn vermitteln konnte – und, so ist man gezwungen festzustellen, ist die Kunst des Schreibens etwas, das Lu Ji in seiner blumigen Sprache ebenfalls nicht vermitteln kann. Im zweitletzten Abschnitt spricht Lu Ji von der Inspiration, die nach ihren eigenen Gesetzen zu kommen und zu gehen scheint – sie läßt sich jedenfalls beim besten Dichter nicht erzwingen.: Der Moment des Empfindens und Reagierens, Der Augenblick von Durchlässigkeit – 22 23
LI: Der Weg des Schönen, S. 170ff. S. die Bemerkung von Konfuzius in Lunyu, 15.40.
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ZWISCHEN HAN- UND TANG-ZEIT Sie kommen und können nicht gebremst werden, Sie gehen, ohne daß man sie zurückhalten kann.
Zum Schluß meint Lu Ji, der Zweck der Literatur liege darin, daß sich in ihr aller Sinn ausdrücken läßt. Literatur umspanne alle Entfernungen und überbrücke alle Zeiten; sie sei in der Lage, nach vorn in die Zukunft zu schauen und zurück auf das Beispiel der alten Weisen zu blicken; nichts sei ihr zu weit oder zu subtil. Sie könne allen Dingen Frische verleihen (wie Wolken und Regen), und es sei etwas Geisterhaftes an ihrer Verwandlungsfähigkeit. Dann endet er auf einer konfuzianischen Note: [Dauerhaft] in Metall und Stein graviert verkündet sie [für immer große] Tugend; Sie fließt durch Flöten und über Saiten und erneuert sich von Tag zu Tag.24
Zusammenfassend läßt sich zunächst sagen, daß in Lu Jis Rhapsodie die Literatur aus dem pragmatischen Käfig reiner Didaktik und Tugendvermittlung entlassen wird: Die Literatur erwacht nun zu sich selbst. Ergänzt wird dies durch Beschreibung verschiedener schaffensästhetischer Aspekte der Kunst des Schreibens vom Standpunkt des Dichters aus. Neu und zentral ist die Ausmalung des Schöpfungsprozesses mit stark daoistischen Anklängen – das künstlerische Schaffen geschieht analog zum Schaffensprozeß der Natur. Zwar betont Lu Ji authentisches Gefühl und Inspiration, doch balanciert er dies durch eine Forderung nach bewußter, konzentrierter Nacharbeitung bzw. Gestaltung. In diesem Kontext sind auch seine Ausführungen zu formalen und stilistischen Elementen, zu den Gattungsunterschieden und schließlich auch zu den handwerklichen Fehlern zu sehen. Seine praktischen Überlegungen zu fünf Fehlern (bzw. Forderungen) enden mit der Bekräftigung eines ästhetischen Wertes: Farbigkeit als ein in der Literatur unverzichtbares Element. Vom ideologischen Hintergrund her gesehen enthält seine Rhapsodie eine ausgewogene Mischung von konfuzianischen und daoistischen Elementen: Wenn in der Darstellung des Schöpfungsprozesses Daoistisches überwiegt, so wird dies an anderer Stelle, zum Beispiel mit der Berufung auf die grundlegend bildende Funktion der klassischen konfuzianischen Schriften (gleich im zweiten Satz sowie ganz am Ende) wieder ausgeglichen. Last not least haben wir hier eine kritische Einsicht nicht in der Form eines trockenen Essays, sondern verpackt in eine hochgradig verdichtete, d.h. dichterische Form, wodurch die Botschaft zwar an manchen Stellen unklar bleibt, dafür aber 24
Das letzte Verspaar enthält Anspielungen einerseits auf das Buch der Wandlungen, worin es heißt: »Die tägliche Erneuerung, das bedeutet blühende Tugend« (Xicizhuan, I.5, vgl. WILHELM: I Ging, S. 277), andrerseits auf Die große Lehre (Daxue), worin ebenfalls die tägliche Erneuerung als Teil der Selbstkultivierung verlangt wird. JAMES LEGGE (Übers.): Confucian Analects, the Great Learning and the Doctrine of the Mean, New York: Dover 1971 (repr.), S. 361.
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Kreativität und Ebenmaß – Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur«
an Suggestivität und Obertonreichtum, kurz an poetischer Kraft gewinnt. Dies ist sicher ein wesentlicher Grund für die anhaltende Wirkung und Anregung, die über die Zeiten von diesem Gedicht ausgingen und noch ausgehen. Etwas Vergleichbarem werden wir in der Tang-Zeit bei Sikong Tu begegnen.
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3. Bewertung und Einfluß – Zhong Rongs Klassifizierung der Dichtung
Von der Han-Zeit angefangen gewinnt in der Dichtung die formale Gestaltung immer mehr an Bedeutung; es gibt eine unverkennbare Tendenz zu erlesener, wenn nicht sogar blumiger Sprache. Dies zeigt sich bereits in der hanzeitlichen fu-Dichtung und wird ebenso in den Gedichten im Fünf-Wort-Rhythmus der Jian'an-Periode deutlich, die nicht nur als erste genuin expressive Lyrik gefeiert werden, sondern auch von Wohlklang und kunstvoll gewähltem Ausdruck gekennzeichnet sind. Während der Zeit der Sechs Dynastien verstärkt sich diese Entwicklung – weshalb es gerade deshalb auch berühmt gewordene Ausnahmen gibt, wie den für seine Einfachheit geschätzten »Feld-und-Garten-Dichter« Tao Yuanming (365–427) oder den buddhistisch orientierten Landschaftsdichter Xie Lingyun (385–433). Sie gipfelt in der sogenannten »Palast-Stil-Dichtung« (nach einer Regierungsperiode [483–94] der Qi-Dynastie auch als Yongming-Stil bekannt), die im Sujet stark auf höfische Inhalte fixiert war und im Stil viel Wert auf Eleganz, sinnlichen Ausdruck, Musikalität und tonale Ausgewogenheit legte. Eine der wichtigsten Figuren in dieser literaturgeschichtlichen Epoche war Shen Yue (441–499), dem die Urheberschaft neuer prosodischer Regeln, d.h. Tonmustern, die das Regelwerk der tangzeitlichen Regelgedichte (lüshi) vorbereiteten, zugeschrieben wird.25 Kurzum, das späte 5. Jahrhundert ist eine Epoche, in der – anders als heute, aber ähnlich wie in der europäischen Barock-Dichtung – Musikalität und eine blumige Sprache in der Lyrik als schön und erstrebenswert galten. Dies ist der literaturgeschichtliche Hintergrund, vor dem Zhong Rongs26 Klassifizierung der Dichtung (Shipin) einzuordnen ist. Da es sich bei seinem Werk 25
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Dies betrifft eine Klassifizierung der chinesischen Sprache nach vier Tonkategorien und entsprechende Vorschriften, wie diese Töne in einem Vers aufeinander folgen sollten, um ein Höchstmaß an Musikalität zu erreichen. S. SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 249ff. Seine Daten sind ca. 465–518. Zhongs Rufname Rong wird alternativ auch Hong gelesen. Die umfassendste Studie von Zhong Rongs Werk ist von BERNHARD FÜHRER: Chinas erste Poetik. Das Shipin (Kriterion Poietikon) des Zhong Hong, Dortmund 1995. An weiteren Studien s. HELMUT WILHELM und BRUCE BROOK: »A Note on Chung Hung and his Shih-p'in«, in: CHOW: Wen-lin, S. 121–50, und JAN WALLS und CHIA-YING YEH: »Theory, Standards and Practice in Chung Hung’s Shih P'in«, in: RONALD MIAO (Hg.): Studies in Chinese Poetry and Poetics, Bd. 1, San Francisco: Chinese Material Center 1978, S. 43–80, J.T. WIXTED: »The Nature of Evaluation in the Shih-p'in (Grading of Poets) of Chung Hung«, in: BUSH und MURCK: Theories of the Arts in China, S. 225–266, WONG: Early Chinese Literary Criticism, S. 89–114, sowie SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 210–11.
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weniger um eine Bewertung von Dichtung als um Dichter handelt, ist noch ein anderer Umstand zu berücksichtigen: die Popularität von charakterologisch bewertenden Einstufungen von Künstlern aller Couleur. So gab es nicht nur eine Klassifizierung von Schachspielern (ein Qipin von Shen Yue), Kalligraphen (ein Shupin von Yu Jianwu) und Malern (das Guhuapinlu – »Klassifizierung der Maler des Altertums« von Xie He [ca. 500–535]27), sondern auch anregende Beschreibungen von originellen Charakteren im Zusammenhang mit witzig-philosophischen Erörterungen. Letztere finden sich in einer nachwirkungsreichen Aufzeichnung von sogenannten »Reinen Gesprächen« (qingtan), nämlich in dem Werk Shishuo xinyu (»Neue Geschichten über Reden der Welt«) von Liu Yiqing (403–444)28, aber auch in dem Renwu zhi (»Aufzeichnung über Persönlichkeiten«) von Liu Shao (ca. 190–265). Schließlich ist als Grundlage des Klassifizierungsschemas noch das seit der späten Han-Zeit (nämlich von Cao Cao bzw. von Cao Pi) etablierte System der Klassifizierung von Beamten in neun Kategorien (jiu pin)29, zu nennen, wobei jeweils drei in eine obere, mittlere und untere Klasse zusammengefaßt wurden. Diesem Schema (allerdings nur mit den drei Hauptklassen) ist Zhong Rongs Klassifizierung nachgebildet, wodurch sich auch der Titel Shipin als Klassifizierung von Dichtern (statt von Dichtung) erklären läßt.30 Zhong Rongs Ziel ist ein zweifaches: 1) einzelne Dichter kritisch zu bewerten bzw. sie in Klassen einzustufen, und 2) sie auf stilistische Vorbilder, meist auf die des Shijing und der Chuci, zurückzuführen. Das heißt, er betreibt »Einflußforschung«, und somit haben wir hier das wohl früheste chinesische Beispiel dieser inzwischen beliebten literaturwissenschaftlichen Beschäftigung. Insgesamt behandelt er 122 Dichter; von diesen stuft er 11 in die obere Klasse (die anonymen Autoren der sogenannten »Neunzehn Gedichte im alten Stil« eingeschlossen), 39 in die mittlere und 72 in die untere Klasse ein. Diese Einstufung ist nicht unproblematisch und hat in der Folgezeit zu höchst kontroversen Diskussionen geführt, insbesondere seine Einstufung von Tao Yuanming in die mittlere und von Cao Cao 27 28
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S. hierzu Exkurs 1 in Teil II. RICHARD MATHER (Übers.): A New Account of Tales in the World (by Liu I-ch’ing with commentary by Liu Chün), Minneapolis: University of Minnesota Press 1976. S. auch NANXIU QIAN: Spirit and Self in Medieval China. The Shih-shuo hsin-yü and its Legacy, Honolulu: University of Hawai'i Press 2001; WAI-YEE LI: »Shishuo xinyu and the Emergence of Aesthetic Self-Consciousness in the Chinese Tradition«, in: CAI: Chinese Aesthetics, S. 237–176. KUHN: Status und Ritus, S. 393f. Frühesten Quellen zufolge lautete der Titel seines Werkes Shiping – »Kritik der Dichtung«; es soll erst später – u.a. in Anlehnung an Sikong Tus noch zu besprechendes Shipin – umbenannt worden sein. Ein Grund für diese Umbenennung ist wohl der, daß Zhong Rong den Terminus pin (Klassifizierung) in seinem Vorwort verwendet. Man vermutet auch, daß dem Shipin eine Anthologie angehängt gewesen sei, die allerdings bereits früh verloren gegangen sein muß. NIENHAUSER: Indiana Companion, S. 701.
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in die untere Klasse (demgegenüber gehören Cao Zhi, Ruan Ji und Xie Lingyun in die obere). Als Beispiel sei hier seine Bewertung von Tao Yuanming angeführt: [Tao Yuanmings] Gedichte lassen sich auf die von Ying Ju (190–252) zurückführen; auch hat er etwas von der Ausdruckskraft des Zuo Si (ca. 253–ca. 307). Sein Stil ist sparsam und klar; er macht so gut wie keine überflüssigen Worte. Ernst in seinen Intentionen wirkt er geradeheraus und altertümlich-schlicht; seine Worte sind inspiriert, sanft und herzerfreuend. Jedesmal, wenn man seine Gedichte liest, verbindet man sie mit seinen menschlichen Qualitäten. Heute hält man ihn für zu einfach und schlicht (zhizhi). Doch betrachtet man solche Verse wie »Freudig schenke ich mir neuen Wein ein«31 oder »Der Tag neigt sich unter wolkenlosem Himmel«32, so ist dies ein herrlich schöner Stil (fenghua qingmi); wie könnten dies Worte eines Bauern sein? Er ist seit alters her der Ahnherr der Einsiedler-Dichtung.33
Wenn man einmal von der nur schwer nachvollziehbaren Herkunftslinie34 absieht, ist die Einschätzung insgesamt nicht abwegig, obwohl man die Bewertung »herrlich schöner Stil« für die genannten Verse nicht unbedingt teilen möchte bzw. andere Zeilen als repräsentativer empfinden würde. Interessant ist allerdings, daß der Zeitgeschmack, der wie anfangs ausgeführt durchaus andere Prioritäten hatte, Taos Stil als zu einfach empfand. Erst spätere Generationen, wie Su Shi (Su Dongpo) in der Songzeit, der sich als »Reinkarnation« von Tao verstand35, haben dies anders bewertet und gerade in dieser Schlichtheit eine Offenbarung gesehen. Auch der qingzeitliche Dichter Wang Shizhen (1643–1711) äußerte sich einmal kritisch über Zhong Rongs Klassifizierung: Zhong Rong bezeichnet Liu Zhen (gest. 217) und Cao Zhi als Weise der Literatur. Aber Liu mit Cao zu vergleichen ist wie ein Rebhuhn mit einem Adler zu vergleichen. Auch setzt er Cao Cao in die unterste Klasse und Liu Zhen in die oberste. [...] Auf diese Weise stellt er die Dinge auf den Kopf und verwechselt schwarz mit weiß. Wie schrecklich, daß solche Werturteile getroffen und durch die Jahrhunderte überliefert wurden.36
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Aus dem ersten Gedicht der Serie »Das Buch der Berge und Meer lesend«, s. TAO YUANMING: Der Pfirsichblütenquell, S. 171. Aus dem 7. Gedicht der Serie »Nach dem Muster von alten Gedichten«, TAO YUANMING: Der Pfirsichblütenquell, S. 151. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 322; vgl. FÜHRER: Chinas erste Poetik, S. 324f. Sie läßt sich letzten Endes im Falle von Ying Ju auf die Chuci und im Falle von Zuo Si auf das Shijing zurückführen. S. FÜHRER: Chinas erste Poetik, S. 327. S. Kap. IV.3. WANG SHIZHEN: »Yuyang shihua« (III.7), in Qing shihua, Shanghai: Guji 1963, Bd. 1, S. 203 (ich verdanke den Hinweis Richard John Lynn).
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Hier begegnen wir folglich dem Problem des sich ändernden Zeitgeschmacks oder, rezeptionsästhetisch gesprochen, des jeweiligen Erwartungshorizonts. Auch ist zu beachten, daß nicht mehr alle Werke der von Zhong Rong klassifizierten Dichter überliefert sind. Wenn der Zeitgeschmack starkes Gewicht auf schöne Gestalt legte, so ging es Zhong Rong eher um einen angemessenen Ausgleich zwischen sprachlich schöner Gestaltung einerseits und emotionalem Gehalt bzw. Ausdruck andrerseits – was der bereits behandelten Balance zwischen wen und zhi entspricht. Darüber spricht er unter anderem im Vorwort (xu) zu seiner Klassifizierung, dem literaturtheoretisch eigentlich wichtigeren Text. Weitere Themen, die er darin behandelt, sind die Geschichte und ästhetische Besonderheit des »Fünf-Wort-Verses«, die notwendigen Elemente der Dichtung wie Anspielung und Vergleich, insbesondere die Kategorie des »(Nach)-Geschmacks« (wei), sowie schließlich die Kriterien seiner Bewertung. Im folgenden werden die wesentlichen Passagen aus dem Vorwort in Übersetzung vorgestellt und kurz diskutiert. Das Vorwort beginnt mit Sätzen, die einerseits an die Pragmatik des »Großen Vorworts« zum Buch der Lieder erinnern, andrerseits Literatur in einen kosmischen Kontext stellen: Die Vitalkraft (qi) bewegt die Dinge. Die Dinge wirken auf [die Empfindungen] des Menschen. Wenn deshalb des Menschen Natur (xing) und Gefühl (qing) angeregt sind, finden diese ihre Ausdrucksform in Tanz und Gesang. So werden die Drei Kräfte (Himmel, Erde und Mensch) beleuchtet und alle Dinge erstrahlen. [...] Von all dem, was also Himmel und Erde bewegt, was Geister und Götter rührt, gibt es nichts, was der Dichtung gleichkäme.37
Hier wird gleichsam in einer Paraphrase des »Großen Vorworts« nicht nur die expressive Funktion von Dichtung betont, sondern auch deren rituelle Bedeutung gewürdigt und in einen kosmischen Kontext gestellt, denn Dichtung ist ein indirektes Ergebnis des Einwirkens der universellen Lebenskraft qi auf den Dichter. In dieser Passage wird jedenfalls ein deutlich anderes Konzept von qi vorgestellt, als es uns bei Cao Pi, nämlich als Temperament, begegnete; vielmehr entspricht es eher den Vorstellungen von kosmischer Kraft und Lebensenergie. Am Schluß dieser Passage erfolgt gleichsam eine Apotheose der Dichtung: In ihrer Fähigkeit, alles in der Welt zu umfassen und selbst Geister und Götter zu rühren, nimmt sie einen unvergleichlichen Rang ein. Zur größeren ästhetischen Wirkung des für seine Zeit noch recht jungen »FünfWort-Verses« – im Gegensatz zum archaisch wirkenden »Vier-Wort-Vers« im Buch der Lieder – sagt er folgendes: 37
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 308; vgl. WONG: Early Chinese Literary Criticism, S. 89, und FÜHRER: Chinas erste Poetik, S. 61f.
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ZWISCHEN HAN- UND TANG-ZEIT Was die »Vier-Wort-Dichtung« angeht, so ist deren Sprache knapp und die Bedeutung deshalb sehr weit. In dieser Hinsicht kann man, wenn man von den »Liedern« oder dem Lisao lernt, viel gewinnen. Doch haben viele das Problem, daß sie viel schreiben, was aber wenig Bedeutung trägt. Deshalb wird diese »Vier-Wort-Form« heute weniger genutzt. Die »Fünf-Wort-Form« ist inzwischen tonangebend und in allen Werken die Form geworden, die am meisten Geschmack (ziwei) hat. Deshalb wird sie von allen akzeptiert. Ist sie nicht die Form, in der sich am besten auf Geschehnisse verweisen läßt und Formen kreieren, Gefühle ausdrücken und Dinge beschreiben lassen?38
Die »Fünf-Wort-Form« des shi-Gedichts war die wesentliche Neuerung in der chinesischen Lyrik seit Ende der Han-Zeit. Im Gegensatz zu der in der Tat recht dürftigen Ausdrucksmöglichkeit des viersilbigen (bzw. aus vier Schriftzeichen bestehenden) Verses, bot diese Erweiterung um lediglich ein Wort bzw. Schriftzeichen die Möglichkeit, einen komplexen Gedanken dichterisch adäquater zu fassen. Hinfort ließ sich der »Fünf-Wort-Vers« durch eine syntaktische Zäsur in einen vorderen (aus zwei Zeichen) und einen hinteren (aus drei Zeichen) bestehenden Teil untergliedern, wodurch gleichsam zwei Gedanken oder Bilder aber auch syntaktische Zusammenhänge in einem Vers möglich wurden. Darüber hinaus hat dies eine Wirkung auf den Rhythmus, denn die Zäsur nach dem zweiten Zeichen bedeutet auch einen rhythmischen Einschnitt, wodurch die »Fünf-Wort-Verse« – im Gegensatz zu der rhythmischen Einfachheit des »Vier-Wort-Verses« – erheblich an Musikalität gewinnen. Es ist insofern verständlich, daß er diesem neuen Versmaß mehr Geschmack (ziwei), d.h. einen größeren ästhetischen Reiz, zuschreibt. Als für die Dichtung wesentlich betrachtet er zunächst die Elemente, die vom »Großen Vorwort« her vertraut sind: Andeutung, Vergleich und Beschreibung: Dichtung hat drei Ausdrucksweisen; die Andeutung (xing), den Vergleich (bi) und die Beschreibung (fu). Wenn die Worte bereits zu Ende sind und die Bedeutung noch nachschwingt, so ist das [die Wirkung von] xing. Wenn man vermittels [eines Vergleichs mit] konkreten Dingen seine Gesinnung kund tut, so ist das bi. Direktes Berichten von Ereignissen und eine allegorische Ausdrucksweise (yuyan) beim Beschreiben von Dingen, das ist fu. Groß sind diese drei Ausdrucksweisen. Wenn man ihren Gebrauch richtig erwägt, wenn die Ausdruckskraft (fengli) ihnen Format verleiht, wenn Farbigkeit (dancai) ihnen Glanz gibt, wenn der Nachgeschmack (wei) grenzenlos ist und das Herz des Hörenden bewegt wird, so ist dies der Gipfelpunkt der Dichtung.39
38
39
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 309; vgl. WONG: Early Chinese Literary Criticism, S. 92, und FÜHRER: Chinas erste Poetik, S. 111ff. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 309; vgl. WONG: Early Chinese Literary Criticism, S. 92–93, und FÜHRER: Chinas erste Poetik, S. 118ff.
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Von den aus dem »Großen Vorwort« bekannten drei Ausdrucksweisen kommt der Andeutung (xing) die höchste Bedeutung zu, denn ihr wird hier eine suggestive metaphorische Wirkung zugeschrieben – die Worte sind bereits zu Ende, doch ihre Bedeutung schwingt noch nach. Doch für alle drei dieser Ausdrucksweisen spielen in dieser Passage noch drei weitere Elemente – gleichsam als Wesensmerkmal von Dichtung – eine Rolle: Ausdruckskraft, Farbigkeit und Nachgeschmack. Davon ist ersteres, die Ausdruckskraft (fengli – wörtlich: Kraft des Windes), auch aus dem »Großen Vorwort« bekannt und wird für die weiteren literaturtheoretischen Diskussionen von Wichtigkeit sein. Sie bedeutet eine Kraft, die gleichsam dadurch, daß sie aus der Gefühlstiefe des Dichters stammt, poetische Effekte bewirken kann. Mit anderen Worten, es ist eine Gefühlsbewegung, die – dem Winde gleich – selbst in der Lage ist, andere zu bewegen. Farbigkeit und Nachgeschmack (wei), letzteres verstanden als ästhetischer Reiz, sind von nun an ebenfalls ästhetische Kategorien, die von Bedeutung bleiben werden. Am Ende seines Vorworts wendet sich Zhong Rong gegen eine Modeerscheinung seiner Zeit, nämlich der Dichtung aufgrund bestimmter Tonregeln eine – für ihn zwanghafte – Musikalität zu verleihen. Wie bereits erwähnt war Shen Yue (den Zhong in die mittlere Klasse der Dichter einordnet) derjenige, auf den derartige Bemühungen zurückgehen. Zhong Rong lehnt dies rundum ab. Und zwar weist er darauf hin, daß die großen Dichter der Vergangenheit – die von ihm geschätzten Poeten der Jian'an-Periode – ja auch nicht solche Regeln gekannt hätten und doch großartige und auch natürlich klingende, musikalische Gedichte geschrieben hätten. Er vergleicht folglich den bemühten Stil seiner Epoche mit seinen tonalen Ausgefeiltheiten und vielen Allusionen mit dem »sorgfältigen Falten eines antiken Rocks« und meint: »Wenn man zuviel Restriktionen in ein literarisches Werk einführt, dann verletzt man seine natürliche Schönheit.«40 Zhong Rongs Klassifizierung der Dichtung bzw. der Dichter hatte eine nachhaltige Wirkung auf die chinesische Literaturgeschichte. Sie war offenbar mindestens ebenso stark wie die des etwa zeitgleich entstandenen, theoretisch und inhaltlich jedoch weitaus ergiebigeren Wenxin diaolong, welches im nächsten Abschnitt besprochen wird. Es ist jedenfalls die erste direkte Dichterkritik – in Bernhard Führers Worten: Chinas erste Poetik –, wobei die charakterisierenden Attribute einer Dichterpersönlichkeit auf die Dichtung übertragen werden. Insofern haben wir hier eine Ausformulierung der bereits erwähnten Besonderheit der chinesischen Literaturkritik, Dichtung in erster Linie als »Abbild einer Persönlichkeit« zu betrachten. Darüber hinaus finden wir bei Zhong Rong die suggestive Wirkung der Dichtung betont: »Wenn die Worte bereits zu Ende sind und die Bedeutung noch nachschwingt ...« sollte zu einem der am meisten zitierten Sätze aus seinem Vorwort werden. Nicht zu unrecht, denn hier ist tatsächlich die Besonderheit gerade 40
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 311; vgl. WONG: Early Chinese Literary Criticism, S. 99, und FÜHRER: Chinas erste Poetik, S. 209.
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der chinesischen Lyrik prägnant erfaßt. Dieses Stilelement, welches nämlich einen ästhetisch reizvollen »Nachgeschmack« (wei) hervorruft – »la valeur allusive«, wie ihn François Jullien in seiner wichtigen gleichnamigen (und bereits zitierten) Studie nennt – ist gleichsam der rote Faden, der die chinesische Lyrik von ihren Anfängen bis fast heute durchzieht.
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4. Kosmische Ordnung und literarische Muster – Liu Xies Der literarische Geist und das Schnitzen von Drachen
Liu Xies Werk Der literarische Geist und das Schnitzen von Drachen (Wenxin diaolong), das etwa zeitgleich mit Zhong Rongs Klassifizierung entstanden sein muß (also um 500 n. Chr.), nimmt in der chinesischen Literaturgeschichte einen besonderen Rang ein: Es ist die einzige umfassende Abhandlung zu allen Bereichen der Literatur, die im vormodernen China je geschrieben wurde.41 Das Buch befaßt sich nicht nur mit sämtlichen damals gängigen Formen und Gattungen, sondern auch mit dem Wesen und den schöpferisch-künstlerischen Aspekten der Literatur. Allerdings ist es, wie Lu Jis Rhapsodie über die Literatur, eine Erörterung der Literatur in literarisch gestalteter Form, nämlich im Stil der sogenannten Parallelprosa (pianwen) mit antithetisch gebauten Sätzen zu meist vier und sechs Zeichen pro Satz.42 Dazu besitzt es einen ausgesprochen feinsinnig gegliederten und (fast) symmetrischen Aufbau: 50 Kapitel, unterteilt in zwei Teile, wobei jedes Kapitel einen aus zwei (bisweilen antithetischen) Begriffen bzw. Schriftzeichen gebildeten Titel trägt und mit einem Vers von acht Zeilen (mit jeweils vier Zeichen pro Zeile) endet, welcher das Gesagte noch einmal evokativ erhellen soll43. Hier ergibt sich ein wichtiger und im Zusammenhang mit Lu Ji bereits angerissener Aspekt: Lu Jis und Liu Xies Schriften sind keine theoretischen Werke in unserem modernen Sinne, vielmehr besitzen sie eine in hohem Maße literarisch verdichtete Form – ein Umstand, der intuitives Erfassen zuläßt bzw. fördert. Gleichwohl haben wir in beiden Fällen ein »prosaisches Thema« – Beschreibung und Klassifizierung von Literatur –, welches auf kognitives Verstehen zielt. Diese Verschränkung von poetischer und prosaischer Ausdrucksweise ist in gewissem Maße typisch auch für viele der im klassischen Chinesisch geschriebenen philo41
42
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Zu Übersetzungen und Studien s. VINCENT YU-CHUNG SHIH (Übers.): The Literary Mind and the Carving of Dragons, Hongkong: Chinese UP 1983 (chinesisch-englische Ausgabe); SIU-KIT WONG (Übers.): The Book of Literary Design, Hongkong: Hong Kong UP 1999; OWEN: Readings, S. 183–298 (Übersetzung und Kommentierung einer Auswahl von Kapiteln); LI ZHAOCHU: Traditionelle chinesische Literaturtheorie. Wenxin diaolong, Liu Xies Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens (5. Jh.), Dortmund: Projekt Verlag 1997; ZONG-QI CAI (Hg.): A Chinese Literary Mind. Culture, Creativity and Rhetoric in the Wenxin diaolong, Stanford: Stanford UP 2001. S. ANDREW H. PLAKS: »The Bones of Parallel Rhetoric in Wenxin diaolong«, in: CAI: A Chinese Literary Mind, S. 163–174. Dies ist die Definition, die Liu Xie selbst in Kap. 9 für das sogenannte zan (Urteil, Lobspruch oder allgemeiner: Zusammenfassung) gibt. In dieser Funktion ist es auch aus den Geschichtswerken bekannt: Von Sima Qian wurde es bereits angewandt, aber erst von Ban Gu so genannt.
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sophischen Texte (wie z.B. das Daodejing). Die Diskussion von philosophischen (oder verwandten) Themen war selten analytisch scharf wie bei den alten Griechen, sondern immer etwas unklar, oder besser: von einer poetischen Qualität, und zwar einerseits wegen der relativ offenen Syntax des klassischen Chinesisch, andrerseits aber auch wegen der vielen in ihrer Bedeutung schillernden Begriffe und der beliebten bildlich-suggestiven Ausdrucksweise. Das Verständnis solcher Werke erfordert demnach – in höherem Maße als heutzutage und hierzulande gewohnt – eine Kombination von kognitivem und intuitivem/ästhetischem Zugang. Dies macht die Texte nicht uninteressant, im Gegenteil: Obwohl sie etwas an Klarheit verlieren, gewinnen sie gleichsam an Intensität. Hier stellt sich wiederum das Problem des Erwartungshorizonts: Für die Chinesen der damaligen Zeit war diese höchst gestaltete Art, sich über grundsätzliche Dinge jeglicher Couleur zu äußern, die adäquate Ausdrucksweise, wohingegen dies heute als unnatürlich, aufgesetzt und artifiziell erscheint. Vom Autor dieses großen Werkes ist (ebenso wie von Zhong Rong) relativ wenig bekannt. Liu Xies Lebensdaten sind ungesichert. Geboren wurde er etwa 465/466. Für das Jahr seines Todes gibt es Mutmaßungen, die von 522 bis 539 reichen. Er soll das Wenxin diaolong während der Südlichen Qi-Dynastie (ca. 501– 502) geschrieben haben, lebte aber in die Liang-Periode hinein. Seine starke Neigung zum Buddhismus ließ ihn schließlich in das bei Nanjing gelegene DinglinKloster eintreten und die Mönchsgelübde ablegen. Der Kaiser Wu der LiangDynastie, ein großer Förderer des Buddhismus, soll ihn mit der Edition von Sutren beauftragt haben. Seine Neigung zum Buddhismus kommt allerdings in seinem Hauptwerk nicht deutlich zum Ausdruck,44 vielmehr stellt es ideologisch eine Mischung von konfuzianischer und daoistischer Orientierung dar – wobei die konfuzianische Seite durchaus ein leichtes Übergewicht besitzt. Bemerkenswert ist allerdings, daß dieses gewaltige Werk in seiner Zeit und danach bis etwa in die Ming-Zeit hinein kaum wahrgenommen wurde – dies auch in deutlichem Kontrast zu dem etwa zeitgleich vom Prinzen Xiao Tong (501–531) zusammengestellten Kompendium der Literatur (Wenxuan), dessen Inhalt für die weitere Entwicklung eines Literaturverständnisses in China geradezu formativ wurde.45 Erst mit der Hinwendung der Qing-Literaten zu klassischer Gelehrsamkeit und Quellenforschung 44
45
Stephen Owen registriert einen einzigen buddhistischen Terminus im ganzen Werk; er führt jedoch eine japanische Studie an, die Liu Xie ein buddhistisches Training nachzuweisen sucht. OWEN: Readings, S. 605, Fußnote 3. Von Liu Xie ist auch eine buddhistische Schrift, eine »Abhandlung über das Auslöschen von Zweifeln« (Miehuo lun), überliefert: Kapitel 8 in der von dem Mönch Sengyou (445–518) herausgegebenen Sammlung Hongmingji (Sammlung zur Erweiterung und Erhellung [des Buddhismus]), SBBY, Bd. 424. S. auch VICTOR H. MAIR: »Buddhism in the Literary Mind and Ornate Rhetoric«, in: CAI: Chinese Aesthetics, S. 63–82. Xiao Tongs literaturtheoretisch interessantes Vorwort zum Wenxuan ist übersetzt in WONG: Early Chinese Literary Criticism, S. 149–166.
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Kosmische Ordnung und literarische Muster
findet eine verstärkte Rezeption des Wenxin diaolong statt. Heute erfährt das Buch hingegen allein aufgrund seiner auf dem Gebiet der Literaturtheorie beispiellosen Systematik eine nie gekannte Aufmerksamkeit in China. So gibt es abgesehen von dem qingzeitlichen Roman Traum der roten Kammer kein vormodernes Werk im Bereich der Literatur, das eine vergleichbare Fülle an Studien hervorgerufen hätte.46 Der Aufbau des Werkes ist, wie bereits angedeutet, äußert kunst- und bedeutungsvoll. Die 50 Kapitel, von denen jeweils fünf zu einem juan (wörtl.: Rolle) zusammengefaßt sind, lassen sich zunächst in zwei Hälften teilen, wobei der erste Teil (Kap. 1–25) dem Ursprung und den Besonderheiten der literarischen Gattungen und Formen, und der zweite – weitaus interessantere – Teil (Kap. 26–49) allgemeinen Phänomenen der Literatur (Kreativität, Imagination, Stil, Charaktereigenschaften des Dichters, Rhetorik, Verhältnis zwischen Tradition und Erneuerung etc.) gewidmet ist. Das 50. Kapitel schließlich ist ein programmatisches Nachwort. Hinter dieser Anzahl der Kapitel (und der die Symmetrie nur leicht durchbrechenden Aufteilung) steckt eine vom Gebrauch des Buch der Wandlung hergeleitete Zahlensymbolik: Wie im »Großen Kommentar« des Yijing ausgeführt, gehören zum Orakelnehmen zwar 50 Schafgarbenhalme, von denen jedoch nur 49 benutzt werden.47 Dementsprechend sagt Liu in seinem Nachwort: Das Aufstellen von Prinzipien und Definieren von Begriffen geschieht nach der Zahl des großen Buch der Wandlungen; davon werden nur 49 gebraucht, um die Literatur zu erhellen.48
Der Titel des Buchs wird ebenfalls im Nachwort erläutert, und zwar gleich zu Anfang. Dort heißt es: »Der Literarische Geist ist der Geist, der sich um Literatur (wen, d.h. um Form und Gestaltung) bemüht.«49 Zum zweiten Teil des Titels meint er im Anschluß daran, daß man schon seit alters her einen »geschnitzten« Stil, d.h. eine schöne, gedrechselte Sprache, gepflegt habe. Zwar wolle er sich nicht in diese Tradition des »Drachenschnitzens« einreihen, doch habe er mit dieser 46
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Während die sich mit dem Traum der roten Kammer (Hongloumeng) beschäftigende Studienrichtung als hongxue (rote Studien) bezeichnet wird, heißen die der Erforschung des Wenxin diaolong geltenden Forschungen longxue (Drachenstudien). Für einen Überblick darüber (auch in westlichen Sprachen) s. CAI: A Chinese Literary Mind, S. 227. Xicizhuan, I.8; vgl. WILHELM: I Ging, S. 287. SHIH: The Literary Mind, S. 8f. Shih macht in seiner Übersetzung das Nachwort zum Vorwort. Da es sich bei Shis Buch um eine zweisprachige Ausgabe handelt, wird bei den zitierten Passagen im folgenden sowohl für das chinesische Original als auch für eine englische Übersetzung seine Übersetzung angegeben. Vgl. auch die Übersetzungen von WONG: The Book of Literary Design, und OWEN: Readings. In GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, I, S. 233–307, sind elf Kapitel (aus dem 2. Teil) kommentiert. SHIH: The Literary Mind, S. 2f.
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Formulierung sehr wohl den Wert formaler Gestaltung im Sinn. Insofern läßt sich der Titel als Abhandlung über das Wesen der Literatur und deren formale Gestaltung verstehen. Wie zu zeigen wird, paßt dies zu seinem Hauptthema: Harmonie von Gehalt und Gestalt, von Substanz und Form, von Innen (Geist) und Außen (Schmuck). Dabei knüpft Liu an die autoritative Bemerkung des Konfuzius (sowie Ausführungen in Lu Jis Wenfu) an. Trotz seines eigenen ausgeprägten Formbewußtseins und seiner kunstvollen Sprache wendet sich Liu Xie gegen den zu seiner Zeit mächtigen Trend hin zu Formspielerei, Musikalität, Tonregeln und schmuckvoller doch nichtssagender Literatur – kurz, gegen das Übergewicht an Fassade und den Mangel an Substanz. So kritisiert er auch in Kap. 31: »Die Dichter des Altertums schufen Formen für ihre Gefühle. Die Dichter von heute schaffen Gefühle für ihre Formen.«50 Die beiden Hauptteile sollen nun im Einzelnen vorgestellt werden, wobei gleich für den ersten Teil einige strukturelle Besonderheiten auffallen. Dieser ist in drei Abschnitte untergliedert: Der erste umfaßt die Kapitel 1 – 5 und behandelt den Ursprung der Literatur und ihren ideologischen Rahmen, so auch die autoritative Bedeutung der Klassiker für die weitere Entwicklung der Literatur, nämlich als Ausgangspunkt aller Gattungen. Die restlichen 20 Kapitel lassen sich wiederum nach Form und Funktion in zwei Abschnitte zu je 10 Kapiteln gliedern, wovon der erste diejenigen Gattungen behandelt, die in dichterisch geformter Sprache gehalten sind – also wen im eigentlich literarischen Sinne darstellen; der zweite Abschnitt betrifft demgegenüber die Gebrauchsprosa (Throneingaben, Erörterungen, Erlasse etc.), was auf Chinesisch als bi (wörtl.: Pinsel, also eher beiläufig »Gepinseltes«) bezeichnet wird.51 Insgesamt werden mehr als zwanzig Gattungen erörtert, da etliche Kapitel zwei behandeln. Für seine Rangfolge ist bedeutend, daß die erste von ihm besprochene Gattung (Kap. 6) das shi-Gedicht darstellt; danach kommt die yuefu-Ballade (Kap. 7) und dann die Rhapsodie (fu). Dies zeigt, daß seit Cao Pi, der shi und fu noch an die letzte Stelle setzte, der Rang der Dichtung enorm gestiegen ist.
»Vom Ursprung, dem Dao« Eine zentrale Bedeutung besitzen die ersten fünf Kapitel, die in folgender Reihenfolge dem Dao (Kap. 1), den Weisen des Altertums (Kap. 2), den klassischen Schriften (Kap. 3), den Apokryphen (Kap. 4) und Qu Yuans Elegie »Begegnung mit dem Leid« (Lisao) (Kap. 5) gelten. Im Nachwort nennt Liu diese fünf Kapitel »Schlüssel-« oder »Angelkapitel«; so will er darin zeigen, wie die Literatur (wen) 50 51
Ebd., S. 340f. Zu der Unterscheidung zwischen wen und bi s. PAULINE YU: »Formal Distinctions in Chinese Literary Theory«, in: BUSH und MURCK: Theories of the Arts in China, S. 27–56.
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Kosmische Ordnung und literarische Muster ihren Ursprung im Dao hat, die [Lehren der] Weisen als Vorbild nimmt, wie sie in ihren Gattungen die klassischen Schriften nachbildet, wie sie die Apokryphen in Erwägung zieht und wie sie eine Wandlung durch das Lisao [aus den »Elegien von Chu«] erfährt.52
Im ersten Kapitel »Vom Ursprung, dem Dao« (Yuan dao) behandelt Liu Xie den Ausgangspunkt der Literatur in kosmologischem Sinne.53 Hier spielt er mit den verschiedenen Bedeutungen des Zeichens wen (als Muster/Gestalt, Kultur/Zivilisation und Literatur) und trifft folgende Analogie: Einerseits ist wen (verstanden als Muster) die Gestalt der Natur; so betrachtet er nämlich die Bilder des Himmels (tianxiang), das sind Sonne, Mond und Sterne sowie die Formen der Erde (dixing), nämlich Berge und Gewässer, als »Gestalt des Dao« (dao zhi wen). Andrerseits ist wen (als Literatur) der zu Gestalt/Form gewordene menschliche Geist (xin). Die Natur bietet sich ganz »von selbst« (ziran) in vollkommenen Formen dar, z.B. in den Wolken am Himmel oder den Blumen auf der Erde. Diese sichtbaren Formen nennt er »Zeichen« (zhang); daneben gibt es auch hörbare Muster, wie wenn ein Bach über Felsen fließt, welche er wiederum mit wen bezeichnet. (Diesem Wortspiel liegt auch ein Literaturbegriff zugrunde: Das Kompositum wenzhang – als Zusammenfügung der beiden sichtbaren und hörbaren Muster – war und ist eine gängige chinesische Bezeichnung für Literatur.) Wenn nun, so fragt er, die natürlichen Dinge, die kein Bewußtsein haben, sich in solch vollkommener Gestalt darstellen, wie könnte dann diejenige Kreatur, die mit Geist (xin) versehen ist – der Mensch – nicht auch eine eigene Ausdrucksform haben.54 Anders und in den Begriffen unserer Ästhetik gesagt: Wenn das Natur-Schöne aus sich selbst heraus so vollkommen schön ist, wie kann dann die mit Geist ausgestattete Krone der natürlichen Schöpfung nicht auch vergleichbar Schönes schaffen?55 So stellt Liu in diesem ersten Kapitel die These auf, daß Literatur (wen) das geordnete Muster des menschlichen Geistes – vermittelt durch die Sprache – sei: »Wenn es Geist gibt, so gibt es Sprache; wenn es Sprache gibt, so gibt es Literatur.«56
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SHIH: The Literary Mind, S. 7. S. GÖRAN SOMMERDAL: »The Literary Cosmology and the Literary Cosmos of the Wenxin diaolong, in: JOAKIM ENVALL (Hg.): Outstretched Leaves and His Bamboo Staff: Studies in Honour of Göran Malmqvist on His 70th Birthday, Stockholm: Association of Oriental Studies 1994, S. 247–68. SHIH: The Literary Mind, S. 12, 15. Allerdings ist zu dieser Paraphrase einschränkend zu sagen, daß die Kategorie des Schönen (mei) – als ästhetischer Terminus technicus – bei Liu Xie und seinen Vorgängern kaum (und ebenso marginal nur bei wenigen seiner Nachfolger) in Erscheinung tritt. Vielmehr ist stattdessen einfach von Gestalt oder Form, allenfalls von Farbigkeit oder Schmuck (hua oder li) die Rede. Ebd., S. 13.
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Letztlich versteht er aber wen noch ein Stück weiter, nämlich in seiner dritten Bedeutung als die auf die menschliche Gesellschaft wirkende »kultivierende« Lehre der Weisen des Altertums, insbesondere die des Konfuzius. So sagt er: Das Dao kommt zu uns durch die Weisen als wen (Kultur und Literatur), und die Weisen benutzen wen (als Literatur, nämlich als Schriften der Klassiker), um das Dao zu erhellen.57
Darüber hinaus stellt er einen kosmischen Kontext der Literatur her, indem er sich auf die Kosmologie im Buch der Wandlungen bezieht.58 Hier spricht Liu von 57 58
Ebd., S. 19. Überhaupt ist das Wenxin diaolong mit seiner Formen- und Zahlensymbolik ohne gewisse Kenntnisse dieses ehrwürdigen Klassikers kaum zu verstehen. Deshalb seien hier für den sinologischen Laien ein paar Grundzüge genannt. Das Buch der Wandlungen (Yijing, hierzulande besser bekannt in der Wilhelmschen Übersetzung als I Ging), dessen Ursprung auf die frühe Zhou-Zeit (ca. 1000 v. Chr.) zurückgeht, war zur Zeit des Konfuzius bereits als Orakelschrift, allerdings auch als Weisheitsbuch, etabliert. Grundlage des Buches ist zunächst die Annahme, daß das ganze Leben ein steter Wandel von hell und dunkel bzw. von Yang- und Yin-Situationen ist – »alles ist im Fluß«, um es mit dem Vorsokratiker Heraklit zu sagen. Denkt man sich nun Yang als einen durchgezogenen, und Yin als einen gebrochenen Strich (bzw. zwei kurze Striche), so lassen sich durch Verdopplung, Verdreifachung bzw. Permutationen von Yang und Yin unterschiedliche Zusammenstellungen dieser beiden Grundelemente schaffen. Nimmt man Gruppierungen mit jeweils drei Strichen, so ergeben sich acht Möglichkeiten, die als die »acht Trigramme« (ba gua) bezeichnet werden (bekannt von der koreanischen Nationalflagge, die allerdings nur vier davon abbildet, was jedoch darauf hindeutet, wie wichtig diese Symbolik nicht nur in China, sondern in ganz Ostasien ist). Diese acht Trigramme werden als Grundbilder (xiang) gesehen, die für Naturphänomene stehen, nämlich Himmel (drei Yang-Striche), Erde (drei Yin-Striche), Donner, Berg, Wasser, Feuer, See und Wind. Verdoppelt man die Trigramme, so erhält man 64 Gebilde, die aus jeweils sechs Strichen bestehen und deshalb Hexagramme genannt werden. Diese 64 möglichen Zusammenstellungen der acht Grundbilder lassen sich jeweils als Situationen im menschlichen Leben interpretieren – z.B. Wasser über Feuer als »Auslöschung/Niederlage«, bei umgekehrter Anordnung als »Sieg« etc. Diese Hexagramme bilden die Grundlage für das Orakeln mit Hilfe des Buchs der Wandlungen, wobei das Herausfinden der Hexagramme durch verschiedene Methoden erfolgen kann (Unterteilen eines Bündels von 50 bzw. 49 Schafgarbenhalmen oder Werfen von Münzen). Dabei kommt es darauf an, einerseits die jeweiligen Bilder als glücks- oder unglücksverheißend für Unternehmungen zu interpretieren, andrerseits die Konsequenzen für jeden Wandel eines Yang- oder Yin-Striches zu bedenken. Darüber gibt das Buch bei jedem der sechs Striche eines jeden Hexagramms in nicht immer leicht verständlichen Worten Auskunft. Diese kryptische und dunkle Ausdrucksweise hat sicherlich zu der geheimnisvollen Aura des Buches beigetragen. Da schließlich diese Einsicht in die prinzipielle Wandelhaftigkeit und Unwägbarkeit der menschlichen Existenz auch philosophische Konsequenzen hat, was durch verschiedene, teils sehr tiefgründig gehaltene Kommentare (vor allem den »Großen Kommentar« – Xicizhuan) des Buches verstärkt wird, wurde es – nicht zuletzt auch aufgrund seines ehrwürdigen Alters – zu einem wichtigen Hand-
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»menschlichen Mustern« (renwen), die er aus dem »Allerhöchsten« (taiji), welches im »Großen Kommentar« zum Buch der Wandlungen als Ursprung der Urkräfte Yin und Yang gesehen wird, hervorkommen sieht. Unter diesen »menschlichen Mustern« versteht er die Bilder (xiang) dieses Klassikers , nämlich die Trigramme und Hexagramme des Yijing, welche die Weisen als Symbole für die von ihnen beobachteten natürlichen Phänomene des Kosmos (Himmel, Erde, Donner, Berg, Wasser, Feuer, See und Wind) setzten und »durch die sie ihre Gedanken kund taten«59. Nun ist einer der ersten Kommentare zum Buch der Wandlungen der sogenannte Wenyan-Kommentar, wörtlich: der Kommentar der »gemusterten/gestalteten Worte«. Da dieser Kommentar speziell der Erklärung der ersten beiden Grundbilder des Yijing gewidmet ist, nämlich qian und kun, die stellvertretend auch für Himmel und Erde bzw. für das reine Yang und reine Yin stehen, schließt Liu Xie, daß »gestaltete Worte den Geist von Himmel und Erde ausdrücken«.60 Mit dieser Aussage hat er jedoch nicht nur den »Kommentar der gestalteten Worte« im Sinn, vielmehr scheint ihm dieser Kernsatz für literarisch gestaltete Worte im allgemeinen zu gelten. Somit haben wir hier eine großartige, das Universum, den Menschen und die Weisen umfassende Analogie, dabei aber auch eine Sublimierung von wen als höchstes gestaltendes Prinzip des Kosmos und des Menschen. Literatur, oder besser wen in all seinen Manifestationen und Bedeutungen, ist also für Liu Xie die Gestaltwerdung eines im Universum angelegten kosmischen Ordnungsprinzips. Deshalb heißt es am Anfang des Kapitels: »Wahrhaft groß ist wen (Literatur/ Muster/ Kultur) als Wirkkraft (de); es (wen) ist mit Himmel und Erde zusammen geboren.«61 In der weiteren Abfolge der fünf kanonischen »Schlüsselkapitel« ist es bemerkenswert, daß nach den Kapiteln über die Weisen (Nr. 2), die Klassiker (Nr. 3) und die Apokryphen (Nr. 4), wenn auch an fünfter und letzter Stelle, das Lisao auftaucht, und zwar mit dem Hinweis, daß die Literatur durch dieses Werk eine entscheidende Veränderung (bian) erfahren habe. Genauer spricht Liu davon, daß das Lisao in vier Punkten mit den Liedern des Shijing (den feng und ya) übereinstimme, und zwar im hohen klassischen Stil, der Kritik, der Metaphorik und dem Gefühl der Loyalität und Trauer, in vier anderen davon abweiche, daß es sich dabei nämlich um Merkwürdigkeiten, Phantastereien, Exzentrizität und »Schamlosigkeit« (huangyin) handle. Das Besondere am Lisao ist für Liu eine Qualität, die er »originell« oder »ungewöhnlich« (qi) nennt und die durchaus einen wichtigen
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buch zur Lebensweisheit in der chinesischen Tradition. In Form der englischen Ausgabe von Wilhelms Übersetzung, angereichert durch ein interessantes Vorwort von C.G. Jung, wurde das Yijing im »Westen« – ausgehend von Amerika in der Zeit der Hippie-Bewegung – zu einem Kultbuch. Vgl. WILHELM: I Ging, 298. SHIH: The Literary Mind, S. 15. Ebd., S. 13.
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Stellenwert in seiner Rangordnung hat. An anderer Stelle steht diese Qualität allerdings auch im Gegensatz zu einer von ihm geforderten »Korrektheit« (zheng), welche ja seit dem »Großen Vorwort« zum Shijing den eindeutig positiven Gegenpol zu »Veränderung« (bian) bildet. An dieser eminenten Stellung des Lisao, nämlich als Gegenstand des fünften Schlüsselkapitels (womit es fast auf der gleichen Stufe wie die Klassiker und Apokryphen steht, und noch vor dem shi-Gedicht als erster der darauf folgenden Gattungen), gleichzeitig aber auch an der gerade genannten Ambivalenz der Bewertung – »Veränderung« bzw. »Originalität« vs. »Korrektheit« – mag man die Faszination erkennen, die seinerzeit von dieser Neuerung in der chinesischen Literatur ausgegangen ist. An die fünf Schlüsselkapitel schließen sich zwanzig weitere an, in denen Liu Xie die einzelnen Gattungen erläutert – ein populäres Thema in der damaligen Zeit.62 Wichtiger jedoch als diese Erörterung von Gattungen – und wichtiger auch als die ersten fünf Kapitel im eigentlich literarischen oder ästhetischen Sinne – ist der mit Kapitel 26 (shensi – »Spirituelles Denken«) beginnende zweite Teil. Da die Komplexität der Ausführung mit ihren subtilen Zusammenhängen, Symbolismen, Bezügen, Wortspielen und vielem mehr wegen der gebotenen Kürze nicht einmal im Ansatz vorgeführt werden kann, sollen im folgenden lediglich die Kernideen von einigen wichtigen Kapiteln vorgestellt und danach ein Versuch unternommen werden, die wesentlichen Zusammenhänge deutlich zu machen.
»Spirituelles Denken« Das »spirituelle Denken« von Kapitel 26 hat aufgrund seiner Stellung als erstes Thema des eigentlich »literaturtheoretischen« Teils eine herausragende Bedeutung; sowohl Vincent Shih als auch Siu-kit Wong interpretieren es als »Imagination«, womit eine wichtige, wenn nicht sogar die Grundbedingung literarischen Schaffens, angesprochen ist. Die Imaginationskraft ist das, was dem Dichter fast magische Fähigkeiten verleiht: Er kann gleichsam, obwohl mit seinem Körper an einen Ort gebunden, mit seinem Geist ganz woanders sein, sei es im Raum oder in der Zeit. Durch dieses »spirituelle Denken« gelingt es ihm, die geistigen Kräfte (shen) mit den Dingen (wu) – bzw. Subjekt mit Objekt – zusammenzuführen.63 Einige Voraussetzungen sind nach Liu Xie jedoch wichtig, um die Imagination sich voll entfalten zu lassen: Zunächst gelte es – wie es auch Lu Ji im Wenfu verlangt –, sich »leer« und »still« zu machen, erst dann könne das Geistige in uns wirken (Zhuangzis »Fasten des Herzens« mag hier Pate gestanden haben). Sodann erfordere es »Lernen«, d.h. die Ordnungen in der Welt zu erkennen, um dadurch 62
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S. FERENC TÖKEI: Genre Theory in China in the 3rd – 6th Centuries, Budapest: Akademiai Kiado 1971. S. RONALD EGAN: »Poet, Mind and World: A Reconsideration of the ›Shensi‹ Chapter of Wenxin diaolong«, in: CAI: A Chinese Literary Mind, S. 101–126, und SHUEN-FU LIN: »Liu Xie on Imagination«, in: CAI: A Chinese Literary Mind, S. 127–162.
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das eigene Talent anzureichern. Schließlich gelte es, umfassend zu lesen, um sich die Tradition anzueignen. Dann erst könne man wie der Koch Ding (im Zhuangzi) auf fast magische Weise den Ochsen zerlegen oder wie der Radmacher Bian (ebenfalls im Zhuangzi) seine Axt schwingen, und er führt fort: Durch »spirituelles Denken« öffnen sich alle möglichen Aussichten vor einem. Regeln und Formfragen werden bedeutungslos, und man findet keine Spur bewußten Gestaltens. Besteigt man dann einen Berg, so ist der Berg bedeckt von eigenem Gefühl; blickt man dann über das Meer, so ist es erfüllt von eigenen Ideen. Je nachdem wie groß sein Talent ist, wird der Dichter als Begleiter von Wind und Wolken umherschweifen.64
In dieser Passage finden wir Kernideen angesprochen, die uns im weiteren Verlauf der chinesischen Literaturtheorie noch begegnen werden, so der Gedanke, daß das große Kunstwerk keine Spur bewußten Schaffens erkennen läßt, daß es also so natürlich wirkt, als sei es von der Natur gemacht. Wenn dem so ist, werden Regeln für künstlerische Kreationen bedeutungslos. Außerdem erscheint der Künstler gleichsam mit magischen Fähigkeiten ausgestattet – als Begleiter von Wind und Wolken. In diesen im Grunde auf dem Buch Zhuangzi beruhenden Gedanken bahnen sich die Grundzüge einer erst später ausformulierten daoistischen Ästhetik, die die »Regel der Nicht-Regel« (wufa zhi fa) verkündet, an. Und eine zentrale Aussage aus Yan Yus Canglangs Gespräche über die Dichtkunst, dem für die spätere chinesische Poetik wichtigsten Werk, klingt hier bereits an: Wenn nämlich Yan Yu meint, für die Dichtung bestehe der Höhepunkt im »Eingehen ins Spirituelle« (ru shen), so ist dieser Kerngedanke in Liu Xies Kapitel über das »spirituelle Denken« ca. 700 Jahre vor Yan Yu ebenfalls schon präfiguriert. Auch mögliche Fehler im literarischen Ausdruck werden in diesem Kapitel angesprochen: Die erste ist die »Unklarheit«, wodurch die Darstellung diffus zu werden droht; die zweite ist »Überladenheit«, wodurch gern ein Durcheinander entsteht. Die Heilmittel, die Liu Xie vorschlägt, sind für das erstgenannte Problem umfassendes »Lernen« und »Erfahrung«, für das zweite das Streben nach »Kohärenz« und »Einheitlichkeit«. Allerdings, und hier endet er wiederum auf einer daoistischen Note, sind diese Geheimnisse nicht durch Worte zu vermitteln. Nur ein Geist von hoher Subtilität wird sie begreifen können.
»Ausdrucksweise und Charakter« Im zweitwichtigsten der eigentlich literaturtheoretischen Kapitel (Nr. 27: tixing – »Ausdrucksweise und Charakter«) finden wir ebenfalls grundlegende Begriffe miteinander in Beziehung gesetzt. Das beginnt im ersten Satz, der wiederum Kerngedanken aus dem »Großen Vorwort« paraphrasiert: 64
SHIH: The Literary Mind, S. 301.
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ZWISCHEN HAN- UND TANG-ZEIT Wenn sich die Gefühle (qing) regen, so nehmen sie Form (xing) in Worten (yan) an; wenn die ordnende Vernunft (li) dazu tritt, dann werden (literarische) Muster (wen) sichtbar. Denn wir beginnen mit dem Verborgenen, um zu dem Offenbaren zu gelangen, und aufgrund des Inneren finden wir Entsprechung im Äußeren.65
Demnach verhalten sich Gefühl und Vernunft in Bezug auf das literarische Werk wie innen und außen: Ersteres ist das Bewegende, letzteres ist das Ordnende, welches sich schließlich in literarischer Form und Gestaltung zeigt. Allerdings ist das »Innere« – der Charakter (xing – eigentlich die »menschliche Natur«) – von Mensch zu Mensch verschieden. Hier unterscheidet Liu Xie zwischen vier wichtigen Komponenten, die dieses Innere konstituieren: Talent (cai), Vitalkraft (qi), Gelehrsamkeit (xue) und Gewohnheiten (xi), wobei er die zwei ersten (Talent und Vitalität) als angeborene »Persönlichkeit« (qingxing) und die beiden anderen (Gelehrsamkeit und Gewohnheiten) als »Formung« (taoran), nämlich durch Training und Sozialisation erworben, zusammenfaßt.66 Talent manifestiert sich im Gebrauch von Worten und der Vernunft (ci li), Vitalität zeigt sich als bewegende Kraft und im Erzeugen von Interesse (feng qu), Gelehrsamkeit spricht durch die Behandlung von Fakten und Bedeutungen (shi yi), und Gewohnheiten werden deutlich in Ausdrucksweise und Form (ti shi). Im Endeffekt lassen sich für Liu alle Formen und Ausdrucksweisen der Literatur auf die Persönlichkeit zurückführen. In einer Passage, die in der Betonung von Vitalkraft (qi) und Willen/Gesinnung (zhi) stark an entsprechende Ausführungen inm Buch Menzius (2A.2) erinnert, schreibt Liu: Talent liegt im Inneren; es nimmt seinen Anfang in Blut und Vitalkraft (xue qi); Vitalkraft verleiht dem Willen (Gesinnung/Absichten – zhi) Substanz, und der Wille bestimmt die Sprache (yan). Deren Glanz ist somit letztlich eine Frage der Persönlichkeit (qingxing).67
Talent ist somit eine im Inneren schlummernde Fähigkeit, die zunächst der Vitalkraft bedarf, um in Erscheinung zu treten. Die Vitalität bzw. Lebensenergie ist zwar eine notwendige Basis, doch ist es der ebenfalls von der Vitalkraft getragene Wille, der schließlich den sprachlichen Ausdruck prägt.68 Die Frage ist, inwieweit 65 66
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Ebd., S. 307. Hier gibt es interessante Parallelen zu dem ca. 1200 Jahre späteren Traktat von Ye Xie »Vom Ursprung der Dichtung« (Yuan shi): S. dazu Kapitel VI.3 sowie (speziell zum Vergleich Liu Xie und Ye Xie) KARL-HEINZ POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹ (Yuan shi) – A Poetic of the Early Qing«, T'oung Pao, 58 (1992), S. 1–32. Überhaupt gilt Ye Xies Traktat als dasjenige literaturtheoretische Werk in der chinesischen Literaturgeschichte, das hinsichtlich seiner Systematik noch am nächsten an Liu Xies Wenxin diaolong heranreicht. SHIH: The Literary Mind, S. 308f. S. die erläuternden Diagramme in LIU: Chinese Theories of Literature, S. 75–76.
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hier Liu Xie den Menschen von seiner angeborenen Dispositionen her als determiniert sieht. Er scheint jedenfalls einer in der jeweiligen Vitalität angelegten individuellen Kraft viel Gewicht beizumessen; und hier erinnert er an die Bedeutung, die bereits Cao Pi der »Vitalkraft« zugestanden hat, denn für diesen war qi der Kern eines literarischen Kunstwerks. Andrerseits folgt er Menzius, der im Willen (zhi) eine lenkende Funktion über die Worte (und über die Vitalkraft) erblickt.69 Am Anfang dieses wichtigen Kapitels definiert Liu Xie auch acht Ausdrucksweisen (ti) oder Qualitäten: 1. klassisch-elegant (dianya), 2. weitreichend und profund (yuanao), 3. prägnant und akkurat (jingyue), 4. klar und schlüssig (xianfu), 5. üppig und blumig (fanru), 6. kraftvoll und schön (zhuangli), 7. neu und ungewöhnlich (xinqi) und 8. leicht und unbeschwert (qingmi).70
Diese einfache Nennung von feststehenden Ausdrucksweisen/Qualitäten wirkt in ihrer Unbestimmtheit zunächst unbefriedigend; auch werden hier jeweils zwei Begriffe miteinander in Beziehung gesetzt, deren innere Verbindung zumindest einem heutigen Leser nicht immer einsichtig ist. Allerdings erläutert Liu im Anschluß an diese Aufstellung jede Ausdrucksweise kurz, wobei deutlich wird, daß er lediglich die achte und letzte als negativ einstuft. Bei der siebten sieht er zwar auch einige negative Faktoren, und zwar in der Suche nach dem Außergewöhnlichen, bewertet sie aber insgesamt positiv (dies ist bedeutungsvoll auch hinsichtlich seiner Einschätzung des Lisao). Diese Art der Setzung von Ausdrucksweisen oder Qualitäten in Form von Komposita wurde später Usus, wie noch in den Ausführungen zur Tang-Zeit bei Jiaoran und Sikong Tus »Vierundzwanzig Qualitäten der Dichtung« deutlich werden wird. In seiner Zusammenfassung (dem zan-Vers) bringt er das Wesentliche dieses Kapitels auf den Punkt: Es gibt eine Vielzahl an unterschiedlichen Talenten und Charakteren; dementsprechend gibt es auch mannigfaltige literarische Ausdrucksweisen. In einem buchstäblich körperlichen Vergleich hinsichtlich innerer Essenz und äußerer Hülle meint er schließlich: Sprache ist wie Muskel und Haut; Wille/Gesinnung (zhi) ist Knochen und Mark.71
Und er endet mit der altbekannten und sicher nicht bloß für China gültigen Erkenntnis, daß nur Übung in den verschiedenen Ausdrucksweisen den Meister macht. 69 70 71
S. Kap. I.3. SHIH: The Literary Mind, S. 306f. Ebd., S. 311.
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»Wind und Knochen« Das nächste Kapitel (Nr. 28) trägt den Titel »Wind und Knochen« (fenggu). Diese beiden Termini waren zu Liu Xies Zeiten im literarischen Diskurs bereits etabliert.72 Sie stellen, trotz ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Bedeutungsfeldern, eine komplementäre Einheit dar: Mit »Knochen« ist eine klare und strukturierte Diktion gemeint – die Kohärenz, die ein Werk zusammen hält; »Wind« hat hingegen eine lange Assoziationskette, die mit dem »Großen Vorwort« beginnt, worin das Wort die transformierende Kraft des Gefühls (qing) oder des dichterischen Anliegens bedeutet. »Knochen« ist somit die Struktur, die den »Wind« tragen kann. So heißt es einleitend zu diesem Kapitel: Der Wind ist »Ursprung und Quelle von Wandel und Anrührung; er ist das Gegenstück zu Wille/Gesinnung und Vitalkraft.«73 In seiner menschlich-physiologischen Metaphorik illustriert Liu Xie den Zusammenhang folgendermaßen: Literatur hängt von »Knochen« ab, so wie der menschliche Körper ein Skelett braucht. Unsere Gefühlswelt enthält »Wind«, so wie unsere menschliche Form Vitalkraft in sich birgt. Wenn die Worte richtig organisiert sind, dann besitzt das Geschriebene »Knochen«; wenn Wille/Gesinnung und Vitalkraft frei fließen, dann haben wir dort den klaren »Wind« eines literarischen Werkes.74
An anderer Stelle dehnt er den Vergleich – unter Zusatz der Kategorie literarischer Farbigkeit (cai) – auf die Qualitäten eines Vogels aus: Ein Pfau mag zwar schön geschmückt sein und auch ein starkes Knochengerüst haben, doch die strukturelle Kraft seiner Flügeln ermöglicht es ihm kaum, von der Erde abzuheben und vom Wind getragen zu werden, wohingegen der farblich eher eintönig graue Adler hoch in den Lüften zu kreisen vermag. Was wir jedoch nach Liu im Bereich der Literatur am meisten schätzen, ist weder eine Schar von Pfauen noch eine von Adlern, sondern von Phönixen, die Farbigkeit, Knochenkraft und insofern auch die Fähigkeit des kräftigen Flügelschlags im Wind in sich vereinigen.
»Zusammenhang und Veränderung« Kapitel 29 nimmt mit seinem Titel »Zusammenhang und Veränderung« (tongbian) wieder explizit Bezug zum Buch der Wandlungen (Yijing). Die Bedeutung von bian als »Veränderung« (auch Wechsel oder Wandel) ist ziemlich unstrittig; tong ist demgegenüber schwieriger. Meist wird damit eine Art von Durchgängigkeit 72
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S. DONALD GIBBS: »Notes on the Wind. The Term ›Feng‹ in Chinese Literary Criticism, in: DAVID C. BUXBAUM (Hg.): Transition and Permanence: Chinese History and Culture. A Festschrift in Honor of Dr. Hsiao Kung-ch'üan, Hongkong: Cathay Press 1972, S. 285–293. SHIH: The Literary Mind, S. 312f. Ebd., S. 312f.
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(aber auch Durchlässigkeit) verstanden, was hier mit »Zusammenhang« wiedergegeben ist.75 Das Wort bedeutet demnach so etwas wie Stetigkeit oder Kontinuität; es kann aber auch (gerade im Buch der Wandlungen) in der Nuance »freies/ungehindertes Fließen« auftreten. Die beiden Begriffe spielen jedenfalls in diesem Klassiker als Strukturprinzipien eine wichtige Rolle, und zwar sowohl in der Analyse der Hexagramme76 als auch im allgemeinen philosophischen Sinne, in letzterer und der für uns interessanteren Hinsicht vor allem im »Großen Kommentar« (Xicizhuan). Dort heißt es: »Was die Dinge umgestaltet und zusammenfügt, heißt die Veränderung; was sie antreibt und gehen macht, heißt der Zusammenhang.«77 An anderer Stelle ist davon die Rede, daß die legendären Herrscher Yao und Shun »Zusammenhang in ihre Veränderungen brachten, so daß das Volk nicht ermüdete. [...] Wenn eine Wandlung an ihr Ende angelangt war, schufen sie Veränderung. Durch Veränderung erreichten sie Zusammenhang. Durch Zusammenhang erreichten sie Dauer.«78 Hier wird deutlich, daß das Zusammenspiel der Aktionen, die in diesem Begriffspaar steckt (als Maßnahmen bzw. Prinzipien einer guten Regierung), für das Volk Segen bringen soll. Kontinuität bzw. Stetigkeit (Zusammenhang) inmitten von Veränderung wird demnach als notwendig erachtet, damit ein Land gedeiht. Das heißt, beide gehören in dialektischer Weise zusammen. In Analogie zu den Jahreszeiten, die sich ebenfalls in einem Zusammenspiel von Kontinuität und Wandel abspielen,79 besitzen sie sogar eine kosmisch manifeste Einheit und Sinnhaftigkeit. Wie wendet Liu Xie nun dieses Begriffspaar auf die Literatur an? Am Anfang des Kapitels spricht er den Gattungen und Formen eine gewisse Stetigkeit (chang) zu, während die Möglichkeiten stilistischer Veränderungen zahllos seien. Die Gattungen sorgen demnach für Kontinuität, der individuelle Stil hingegen für Wandel. Doch mit dieser einfachen Korrelation erschöpft sich das Thema nicht. Liu Xie geht es vielmehr darum, die Prägekraft der literarischen Tradition mit den Erfordernissen einer dauernden Neuerung zu vereinigen. Die Geschichte der Literatur bis zu seiner Zeit faßt er dergestalt zusammen, daß es eine Entwicklung von Einfachheit und Einheit von Gefühl und Form (in 75
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Die beiden Begriffe sind hier in Anlehnung an Richard Wilhelms Yijing-Übersetzung verwendet. S. auch CH'IU-LANG CHI: »Liu Hsieh as a Classicist and His Concepts of Tradition and Change«, Tamkang Review, 4.1 (April 1973), S. 89–108; OLDRICH KRAL: »Tradition and Change – The Nature of Classicism in Wen Hsin Diao Long«, Archiv Orientálni, 59 (1992), S. 181–189. Wenn in der aufsteigenden Folge der Striche in einem Hexagramm zwei gleiche Striche aufeinander folgen, so heißt das tong (Zusammenhang); findet hingegen ein Wechsel von Yin zu Yang bzw. umgekehrt statt, wird dies bian (Veränderung) genannt. OWEN: Readings, S. 223f. Xicizhuan, I.12, WILHELM: I Ging, S. 299. Xicizhuan, II.2, WILHELM: I Ging, S. 306. Davon ist auch in Xicizhuan, I.5 die Rede: »Durch Veränderung und Zusammenhang entspricht (das Schöpferische) den vier Jahreszeiten.« Vgl. WILHELM, I Ging, S. 280.
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welcher die Literatur gemäß der Vorgabe des »Großen Vorworts« die Zeitverhältnisse widerspiegelte) hin zu Eleganz, Schönheit aber auch Flachheit und schließlich Falschheit gegeben habe. Der Grund dafür liege darin, daß man nur nach Neuigkeiten strebe, unter Vernachlässigung der bewährten Werte, weshalb es dieser Sorte von Literatur schließlich auch an Vitalität mangle. Es gelte demnach, die Werte der Vergangenheit, insbesondere die Vorgaben der Klassiker, zu berücksichtigen sowie eine Mitte zwischen Form und Gehalt zu finden und die Grenzen zwischen kultiviertem und vulgärem Ausdruck gut zu kennen. Somit betont hier Liu Xie sehr wohl den Wert der Kontinuität. Welchen Platz nimmt demgegenüber die Veränderung ein? In einem Überblick über Autoren der Han-Zeit bemerkt er, daß Dichter immer Vorgänger nachahmen bzw. selbst in einer Abwendung von diesen sich auf sie beziehen80. Doch zu wissen, wann oder wem zu folgen und wann und mit wem zu brechen sei, darin liege das Geheimnis von »Zusammenhang und Veränderung« oder, wie Vincent Shih dieses Begriffspaar übersetzt, einer »flexiblen Anpassung an wechselnde Umstände«. Um beides miteinander zu vereinbaren, gelte es, durch gute Kenntnis von Gattungen und Formen die Prinzipien der literarischen Tradition zu beherrschen – eine Leistung die zunächst umfassendes Lesen und gründliche Kenntnisse der Klassiker verlangt. Erst auf dieser Basis sei dem individuellen Talent Raum zu geben für Innovation. In seinem Vers am Ende faßt er den Inhalt des Kapitels wie folgt zusammen: Das Gesetz der Literatur ist es, sich im Kreis zu bewegen; Ihr Verdienst liegt in täglicher Erneuerung (ri xin). Durch Veränderung erreicht sie Dauer; Durch Zusammenhang fehlt ihr nichts. Der Zeit zu folgen bringt Erfolg; Die Gelegenheit zu ergreifen, heißt, keine Ängste zu kennen. Im Blick auf die Gegenwart schaffe man das Ungewöhnliche (qi); Im Bezug auf die Vergangenheit lege man die Regeln (fa) fest.81
Man beachte hier, daß in der dritten Zeile auf einen eben zitierten Satz aus dem Buch der Wandlungen Bezug genommen wird, wo es nämlich heißt: »Durch Zusammenhang erreichten sie Dauer.« Liu Xie nimmt eine wesentliche Änderung vor, indem er »Zusammenhang« durch »Veränderung« ersetzt: »Durch Veränderung erreicht sie (die Literatur) Dauer.« Dies ist eine bemerkenswerte Akzentverschiebung und verdeutlicht, daß Liu Xie trotz seines Bekenntnisses zu Tradition und 80
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Dies haben T.S. Eliot und Harold Bloom auch für die europäische Literatur beobachtet: T.S. ELIOT in seinem bekannten Essay: »Tradition and the Individual Talent«, The Sacred Wood. Essays on Poetry and Criticism, London: Methuen 1920; HAROLD BLOOM in: The Anxiety of Influence, Oxford: Oxford UP 1973. SHIH: The Literary Mind, S. 325.
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Kontinuität die »tägliche Erneuerung«82 als ein unverzichtbares Prinzip literarischer Entwicklung betrachtet. Die beiden letzten Zeilen des Merkverses gehen in leicht abgewandelter Form auf die gleiche Thematik ein: Es gilt, ein Gleichgewicht zu halten hinsichtlich fester und aus der Vergangenheit hergeleiteter Regeln einerseits und den Erfordernissen der Gegenwart nach Erneuerung andrerseits.83 Kurzum, das Absorbieren der Tradition ist für Liu Xie Voraussetzung für eine Originalität, die sich aus den eigenen Erfahrungen und Gefühlen speist; andrerseits macht die Offenheit für das Neue die Tradition überhaupt erst zu einer lebendigen Tradition, denn sonst gibt es, wie er zuvor gezeigt hat, nur Verknöcherung und Verfall.
»Bestimmen des Gestus« Die Thematik von Kapitel 30, »Bestimmen des Gestus« (ding shi), hängt eng zusammen mit der von Kapitel 27. Allerdings begegnen wir bei dem Kernbegriff dieses Kapitels zuerst und gleichsam mit voller Wucht (dieses deutsche Wort ist nur eine weitere Möglichkeit, shi zu übersetzen) dem Problem der schillernden und kaum adäquat ins Deutsche zu übertragenden Begrifflichkeit. Der Begriff »Gestus« (shi) ist sowohl in der chinesischen Kriegskunst seit Sunzi (dort verstanden als Kraft, Tendenz oder Bewegungsmoment) als auch in der Kalligraphietheorie etabliert, in welcher Gestus die bewegende innere Kraft (Bewegungsmoment) im Pinselduktus bedeutet. Liu Xie setzt diesen Gestus bzw. diese Kraft in Beziehung zu den in Kapitel 27 behandelten Ausdrucksweisen oder Qualitäten. Er definiert Gestus als die Kapazität, »günstige Umstände auszunützen, um etwas zu kontrollieren«84; es ist somit eine kontrollierende innere Kraft gemeint, die einer Aktion zum Erfolg verhelfen kann. Konkret versteht er im Rahmen seiner literarischen Überlegungen shi als die Fähigkeit, eine Einheit zwischen einer der zu wählenden Ausdrucksweisen und den persönlichen Qualitäten (Gefühl, Absichten und Kraft) eines Dichters herzustellen, so daß das Werk am Ende überzeugen kann.85 Hiermit wären einige zentrale Kapitel dieses faszinierenden Buches in ihren Grundzügen vorgestellt; doch auch die weiteren Kapitel bergen eine Fülle an zusätzlichen und nicht minder interessanten Erkenntnissen und Einblicken in das Wesen literarischen Schaffens, so z.B. Kapitel 31 (»Gefühle und Farben« – qing cai), in dem es ihm ebenfalls um eine Einheit von Gefühl und Ausdruck geht 82
83
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Die tägliche Erneuerung hat, wie bereits zuvor erwähnt, einen Bezug sowohl zum Yijing als auch zum Daxue. Ab der Song-Zeit wurde diese Thematik in einer etwas abgewandelten (buddhistisch gefärbten) Begrifflichkeit weitergeführt, nämlich als Zusammenspiel von fa (Regeln, aber auch Dharma) und wu (Erleuchtung). S. dazu Kap. IV.5 und IV.6. SHIH: The Literary Mind, S. 326f. Ebd., S. 327f.
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ZWISCHEN HAN- UND TANG-ZEIT
(z.B. beklagt er die Erscheinung seiner Zeit, daß Autoren von weltlichen Ambitionen verzehrt seien, jedoch in ihren literarischen Werken den Rückzug aus den Ämtern – wie ihn Tao Yuanming realisierte – besängen86), oder das darauf folgende Kapitel mit dem Titel »Gießen und Schneiden« (rong cai), worunter er handwerkliches Können bzw. rhetorisches Überarbeiten und Feilen versteht. Dann gibt es Kapitel über Musikalität der Sprache, Wortwahl, Parallelismen, Metaphern und Allegorien, Allusionen, zu vermeidende Fehler, Organisation des Geschriebenen zu einer inneren organischen Ordnung (fu hui), die Farbigkeit der Dinge (wu se) und noch etliches mehr. Häufig finden wir Aufzählungen so z.B. in Kapitel 48 folgende »sechs Gesichtspunkte« (liu guan), die es zu beherzigen gelte: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Berücksichtigung der Form/Gattung (wei ti) Wahl der Worte (zhi ci) Zusammenhang und Veränderung (tong bian) Originalität und Korrektheit (qi zheng) Fakten und Ideen (shi yi) Musikalität und Wohlklang (gong shang)
Im Grunde finden sich diese einzelnen Themen in den verschiedenen Kapiteln bis ins kleinste erläutert, wie wir an Punkt 3 und 4 sehen können. Gleichwohl zeigt sich hier wieder Lius Tendenz, wesentliche Elemente nicht in einer Art des »Entweder-oder« gegeneinander auszuspielen, sondern sie nach dem Muster des »Sowohl-als-auch« miteinander zu verbinden. Somit braucht gute Literatur immer beides: Substanz und Form, Kreativität und Technik, Traditionsbewußtsein und Originalität etc. In Kapitel 48, das den »verständnisvollen Kritiker« (zhiyin) behandelt, finden wir eine Passage, die an Menzius Empfehlung erinnert, sich über die Werke vergangener Meister mit diesen anzufreunden bzw. die Werke als Spiegelungen ihres Charakters aufzufassen: Die Epoche eines Schriftstellers mag zeitlich weit zurückliegen, so daß wir sein Gesicht nicht sehen können, doch wenn wir seine literarischen Zeugnisse betrachten, dann scheinen wir ganz unmittelbar seinen Geist zu erblicken.87
»Nähren der Vitalkraft« Zum Schluß soll noch kurz auf ein Kapitel eingegangen werden, das sich mit einem ganz elementaren psycho-physischen Aspekt des Schreibens beschäftigt, der sich auch problemlos in andere Bereiche des Lebens übertragen läßt: das »Nähren der Vitalkraft« (Kapp. 42: yangqi) – eine Thematik, die wir ebenfalls von Menzius 86 87
Ebd., S. 341. Ebd., S. 509.
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her kennen. Am Anfang bemerkt Liu, es komme darauf an, die physischen (Sinnesorgane) und geistigen (Denken, sprachlicher Ausdruck: shen) Elemente des Lebens gemäß unserer Willenskraft in Einklang zu halten; dann ließen sich die Gefühle zum Ausdruck bringen und würden Ordnungsprinzipien manifest. Agierten diese beiden Komponenten nicht in Harmonie, werde der Geist müde und die Vitalität schwach. Auch solle man sich vor Überanstrengung, auch im literarischen Bereich, hüten. Folge man hingegen seiner natürlichen Veranlagung, d.h., bleibe man im Rahmen seines Talents und bei einer einfachen Ausdrucksweise, dann würde keine Überanstrengung auftreten. Allerdings konstatiert er Unterschiede zwischen jung und alt: Die Jungen seien relativ unerfahren, dafür aber geistig rege bzw. schnell im Denken, weshalb sie sich nicht so leicht überanstrengten. Die Alten hätten hingegen gute Kenntnisse und feste Überzeugungen, doch neigten sie zu körperlicher Schwäche; auch allzu tiefes Nachdenken schwäche den Geist. Wenn es in der Literatur darauf ankäme, sein Innerstes voll zum Ausdruck zu bringen, dann müsse dieser Ausdruck in einer ungezwungen-sorglosen Art erfolgen; wenn nicht, wäre das Ergebnis entsprechend schwach: Wenn man seine innere Energie aufbraucht und den natürlichen Fluß der Vitalkraft hindert, dann führt das nur dazu, das Leben zu verkürzen und unserer Natur Gewalt anzutun. Könnte dies die ursprüngliche Idee der Weisen des Altertums oder überhaupt der Anlaß für literarisches Schaffen sein?88
Seine Ratschläge lauten deshalb: Mäßigung üben, Energie nicht vergeuden, die Geisteskräfte klar und harmonisch halten, nichts zu erzwingen versuchen, sondern der Inspiration folgen. Wenn es mal nicht läuft wie gewünscht, dann Zerstreuung suchen in anregenden Gesprächen, heiterem Lachen oder in Ausflügen; auf diese Weise lassen sich die Vitalkraft nähren und die geistigen Ressourcen auffrischen. Dann könne man wie der Koch Ding (im Zhuangzi) sein Messer immer scharf schwingen. Dies sei besser, so bemerkt er zum Schluß, als alle körperlichen Übungen der Atemkontrolle zum Zwecke des Schutzes und der Mehrung unserer Vitalität – Methoden, die heute als Qigong sogar in unseren Breiten eine sicher auch von Liu Xie nie geahnte Popularität erfahren haben. Betrachten wir kurz, wie Liu das Thema im Vergleich zu Menzius und Cao Pi behandelt: Einerseits haben wir das Nähren der Vitalkraft durch moralisch rechtes Handeln bei Menzius, andrerseits den Gedanken, für die Literatur sei Vitalkraft die Hauptsache bei Cao Pi. Liu Xie betont zwar wie Menzius die Funktion des Willens als Lenker der Vitalkraft, doch geht er in keiner Weise auf die moralischen Überlegungen seines konfuzianischen Vordenkers ein; allerdings verwirft er auch (daoistisch inspirierte) Atemübungen zur Nährung der Vitalkraft. Schließlich trennt 88
Ebd., S. 431.
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ihn auch einiges von der Konzeption Cao Pis, der Vitalkraft in etwa als individuelles Temperament oder Genie versteht, das man entweder besitzt oder auch nicht und welches dem literarischen Werk seinen unverwechselbaren Stempel aufdrückt. Vielmehr versteht Liu Xie, zumindest in diesem Kontext, die Vitalkraft in einer ganz elementaren Weise als Quelle unserer Schaffenskraft, die durch falsche Einstellungen und Verhaltensweisen im Leben leicht zum Versiegen gebracht werden kann – das burn-out-Syndrom war offenbar in China schon im 6. Jahrhundert bekannt, wenn auch möglicherweise nicht so verbreitet wie hier und heute. Um so wichtiger ist es jedenfalls, die Vitalität durch ganz natürliche Gegenmaßnahmen – das heitere Gespräch, den anregenden Ausflug und ähnliches mehr – im Fluß zu halten. Es bedarf keines wie auch immer gearteten Hokuspokus, um Schaffenskraft und -freude zu nähren, sondern einfache Vorsicht vor der Überbürdung sowie im wahrsten Sinne des Wortes menschliches Engagement. *** Liu Xies Buch stellt einen geordneten Mikrokosmos an Gedanken und Einsichten zu vielen Bereichen der Literatur dar, dem diese kurze Einführung – auch aufgrund der terminologischen und somit übersetzerischen Schwierigkeiten – nicht gerecht werden kann. Die Fragen, die er behandelt, reichen von der menschlichen Natur (Aus welchem Holz muß ein Literat geschnitzt sein?) über den Stoff der Literatur (Woran entzündet sich der literarische Geist?) zum Schaffensprozeß (Wie geschieht die Umsetzung von Stoff zu Literatur? Wie ist das Verhältnis zwischen Intuition und bewußtem Gestalten?) und hin zum Rezeptionsprozeß (Wie ist die Beziehung zwischen Werk und Welt, Dichter und Kritiker, Tradition und Erneuerung?). Dabei ist sein maßgebliches Strukturprinzip das Aufzeigen von Dichotomien, die allerdings meist als komplementäre Gegensatzpaare verstanden und somit als einander ergänzend und bedingend zusammengeführt werden. Auch konfuzianisches und daoistisches Denken hält sich dabei in etwa die Waage. Diese strukturelle Durchführung der Thematik ist in gewisser Weise im Stil der Parallelprosa, in dem sein Werk gehalten ist, angelegt, denn darin müssen ja immer zwei Inhalte formal antithetisch durchgeführt werden. Und dieses Prinzip speist sich wiederum aus dem Yin-Yang-Denken, welches so charakteristisch und prägend für die ganze chinesische Kultur ist. Die Position, die Liu Xie mit seinem Werk auf dem Gebiet der Literaturtheorie einnimmt, läßt sich demnach nicht auf einen einfachen Nenner bringen, zu sehr versucht er nämlich, alle möglichen Bereiche zu berücksichtigen und mit einzubinden. Das Anfangskapitel stellt zunächst seinen Kernbegriff wen als Muster/ Literatur in einen konfuzianisch orientierten kosmischen Kontext (auch gegeben durch den dauernden Bezug zum Buch der Wandlungen). Dies ist die Grundausrichtung an den Klassikern, die für einen konfuzianisch Gebildeten (wenn auch zum Buddhismus neigenden und sich an daoistischen Erkenntnissen erfreuenden)
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Gelehrten des 6. Jahrhunderts selbstverständlich ist. In den wichtigsten anderen Kapiteln – angefangen mit dem fünften über das Lisao – argumentiert Liu Xie allerdings meist komplementär ausgleichend: So ist Tradition wichtig, aber auch die Erneuerung; Kontinuität und Veränderung gehören zusammen. Die bewegende Kraft des Gefühls benötigt, um zu überzeugen, strukturelles Denken; Außen und Innen, Form und Inhalt müssen eine Einheit bilden. Diese Position einer harmonischen Einheit zeigt ihn in der Tat (und wie in der Sekundärliteratur häufig erwähnt) als Vertreter eines Klassizismus. Es ist eine Position, der er nicht nur inhaltlich, sondern auch äußerlich formal gerecht wird. Gerade in der Übereinstimmung von ausgefeilter Form und tiefgründigem Inhalt überzeugt das Werk und stellt auch ein gleichsam lebendiges Gegenbild zu der Tendenz der Literatur dar, die er für seine Zeit häufig beklagt: Übergewicht an Fassade, Mangel an Substanz. Das Werk zeugt jedenfalls von Anfang bis Ende von einer profunden Einsicht in die Bedingungen künstlerischen Schaffens; es ist dabei von einer faszinierenden durchgestalteten Komplexität, die für seine Zeit erstaunlich und – wohl nicht nur für China – einzigartig ist.
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Exkurs 1: »Widerhall der Vitalkraft« – Grundlagen einer chinesischen Ästhetik der Malerei
Die Erörterung der Literatur geschah in China nicht losgelöst von den anderen Künsten. Über die Musik wurde bereits im Zusammenhang der Riten bei Xunzi gesprochen. Insbesondere die Schriftkunst bildet traditionell ein Bindeglied zwischen Literatur und Malerei. Im folgenden Exkurs wird ein Seitenblick auf maltheoretische Schriften geworfen (sowie auf relevante Aspekte der Schriftkunst), wodurch auch Grundzüge einer chinesischen Ästhetik der Malerei erkennbar werden. Als Blütezeit der chinesischen Malerei gelten die Dynastien Song und Yuan (10.–14. Jh.). Wichtige theoretische Äußerungen dazu geschahen jedoch bereits in der Epoche zwischen der Han- und Tang-Dynastie (3.–7. Jh.), also etwa in der Zeit, aus der die ersten ganz der Literatur geltenden Schriften, die gerade behandelten Texte von Cao Pi, Lu Ji, Zhong Rong und Liu Xie, stammen. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß die Texte zur Malerei in ihrer Terminologie und in ihrem inhaltlichen Anliegen mit denen zur Literatur viel gemein haben; außerdem beziehen sie sich ebenso wie die literaturtheoretischen Schriften auf daoistisches und konfuzianisches Gedankengut als Basis. Was verstand man im damaligen China unter Kunst und Malerei? Abendländische Auffassungen zur Kunst lassen sich nicht ohne weiteres auf China übertragen – abgesehen davon, daß man in der europäischen Tradition auch nicht von einem einheitlichen Kunstbegriff sprechen kann. Das Schriftzeichen yi, das heute zusammen mit dem Zeichen shu (eigentlich »Kunstfertigkeit«, wie auch von Magiern) im Kompositum yishu Kunst bedeutet, hatte im Altertum einen gänzlich anderen Horizont. Wie im Abschnitt über Konfuzius bereits erwähnt, wurden damit die Fertigkeiten, in denen ein konfuzianischer Edelmann geübt sein sollte, bezeichnet.89 Es wurde jedenfalls nicht im Sinne unserer »bildenden Kunst« (und erst in der Song-Zeit im Zusammenhang der Malerei) gebraucht. Nennenswerte Erörterungen zu den als yi bezeichnenden »Künsten« gibt es nicht in den ästhetisch relevanten Schriften. Wenn im folgenden speziell von der Malerei gesprochen wird, so muß dabei betont werden, daß es zu diesem Thema ebensowenig wie zur Literatur theoretische Schriften im eigentlichen Sinne des Wortes gegeben hat. Das Schriftzeichen für Malerei/malen (hua) taucht schon in den frühesten Lexika auf; im ersten etymologischen Wörterbuch (Shuowen jiezi) heißt es: »Das Zeichen hua bedeutet ›Grenz89
Dies sind 1. die Rituale, 2. Musik, 3. Bogenschießen, 4. Wagenlenken, 5. Schreiben und 6. Rechnen. S. ROGER GOEPPER: Aspekte des traditionellen chinesischen Kunstbegriffs (Vorträge der Nordrhein-westfälischen Akademie der Wissenschaften), Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 7–9.
Exkurs 1: »Widerhall der Vitalkraft«
linien ziehen‹. Es bildet die vier Grenzlinien eines Feldes ab, diese werden mit einem Stift gezeichnet.« Diese Erklärung ist nicht sehr aufschlußreich, da sie sich ganz einfach an den Bestandteilen des Schriftzeichens orientiert.90 Im Erya, dem frühesten chinesischen semantischen Wörterbuch (ca. 200 v. Chr.) finden wir folgende Definition für Malerei: »Malerei ist Form[gebung]« (hua xing ye); erläuternd heißt es dazu: »Form bedeutet Abbildung« (xing xiang ye).91 Malerei wird also, nicht überraschend, als mehr oder weniger naturgetreue Abbildung der Form (xiangxing) eines Dinges verstanden.92
Philosophische Hintergründe Dieses rein technische Verständnis bildete lediglich einen, allerdings für die chinesischen Literaten relativ bedeutungslosen, Aspekt der Malerei. Wie in der Dichtung sind es andere, und zwar geistige Interessen und Qualitäten, die im Vordergrund stehen. Häufig haben diese daoistisches Gedankengut zum Hintergrund, wie z.B. folgende denkwürdige Geschichte über einen Maler des Altertums, die im Zhuangzi überliefert ist: Fürst Yuan von Song wollte Bilder gemalt haben. Eine Menge seiner Schreiber (shi) hatte sich eingefunden. Sie nahmen ihre Weisungen mit Respekt entgegen und blieben in Erwartung stehen, während sie ihre Pinsel anfeuchteten und die Tusche vorbereiteten. Ein Schreiber erschien zu spät und schlenderte gemächlich heran. Er nahm seine Weisungen respektvoll entgegen, blieb aber nicht stehen, sondern ging geradewegs hinein. Der Fürst bat daraufhin, man möge nachschauen, was er tue. Er hatte sein Gewand geöffnet und saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, halb nackt. Da sprach der Fürst: »Der wird es tun. Das ist ein wirklicher Maler.«93
Man könnte versucht sein, hier eine frühe Vorliebe für ein fast modern anmutendes Stilisieren der eigenen (mehr oder weniger schrulligen) Persönlichkeit als Kunst 90
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Das Zeichen für Stift (yu ۙ) setzt sich zusammen aus den Fingern einer Hand, die einen Stab (䜆) halten, der Linien (Բ) zieht. Wenn der Stift zum Mund (kou Ց) zeigt, wodurch es zum Sprechen (yue ֳ) kommt, dann schreibt er Worte auf – also erhalten wir das Zeichen für Schreiben (shu ). Wenn er die Grenzlinien eines Feldes (tian )ضzieht, haben wir das Zeichen Malerei (hua ). Der Stift aus Bambusrohr, nämlich oben mit dem Klassenzeichen für Bambus versehen, ist der Pinsel (bi ). Diese Definitionen zitiert Zhang Yanyuan (wenn auch nicht ganz korrekt) in seinem weiter unten behandeltem Lidai minghua ji; s. WILLIAM R.B. ACKER: Some T'ang and pre-T'ang Texts on Chinese Painting, Bd. I, Leiden: Brill 1954, S. 68f (mit chin. Original). Mit diesem Terminus benennt Xu Shen im Vorwort zu seinem Shuowen jiezi (Erklärung der Schriftzeichen) die bildhaften Piktogramme unter den chinesischen Schriftzeichen. In seinem Klassifizierungsschema bilden sie die erste von sechs Klassen. Zhuangzi, Kap. 21; HYSIS, A Concordance to Chuang-tzu, S. 56; vgl. MAIR: Zhuangzi, S. 293.
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herauszulesen, denn von den Malkünsten des vom Fürsten erwählten Mannes ist nicht die Rede, nur daß er unzeremoniell »mit geöffnetem Gewand und ausgestreckten Beinen« (jie yi ban bo) auf dem Boden saß, ein Ausdruck, der – für die chinesischen Maler und Gelehrten zum Sprichwort geworden – mehr als nur lockeres und natürliches Benehmen, sondern das Wesen des wahren Künstlers bedeuten sollte. Die Geschichte, auf die spätere Maler oder »Ästhetiker« immer gerne anspielten, will sagen, daß selbst in der Kunst weniger die Kunstfertigkeit, sondern eher die von Natürlichkeit und Ungezwungenheit geprägte Persönlichkeit wichtig ist. Der Ausdruck des Seins, so könnte man interpretieren, ist wichtiger als der Schein des technisch perfekt gemalten Werkes. Hier haben wir gleichsam eine frühe Vorwegnahme des Persönlichkeitsideals der späteren Gelehrtenmaler, denen es ebenfalls nicht um naturgetreue Abbildung, sondern um kreativen Ausdruck ihrer geistigen Regungen gehen sollte. Im chinesischen Altertum finden wir also bereits früh die beiden Pole chinesischer »Maltheorie« angelegt, über die später die meisten Schriften kreisen werden: Einmal, in der trockenen Lexikondefinition des Erya, Malerei verstanden als Mimesis, nämlich als methodisches Abbilden der Form (xiangxing), zum anderen die Vermittelung von etwas Persönlichem oder Geistigem, jedenfalls von etwas, das über das eigentlich Gemalte hinausgeht. Gerade in westlichen Darstellungen wird die chinesische Kunst (insbesondere hinsichtlich einer Schaffensästhetik) oft und gerne in engem Bezug zum Daoismus gesehen.94 Dabei wird jedoch übersehen, daß es auch zahlreiche Anknüpfungspunkte zum Konfuzianismus gibt, allerdings mit deutlich anderem Fokus, nämlich die moralische Basis des Künstlers betreffend. Den klassischen Schriften zufolge hat Konfuzius das Wort Malerei (hui shi) nur einmal erwähnt – und dabei in einer für die Malerei nicht sehr ergiebigen Weise. Seine Einlassung hat – in hintergründiger Art – den bekannten und für die Ästhetik wichtigen Zusammenhang von Wesen (zhi) und Form (wen) zum Thema. So vergleicht Konfuzius die Farbgebung in der Malerei mit dem äußeren Aspekt der Riten, auf den es weniger ankomme als auf das Wesentliche der inneren Einstellung: Zixia sprach: »Was bedeutet dieser Vers (im Buch der Lieder)? Er lautet: ›Wie gewinnend ihr Lächeln! Wie fesselnd ihr Blick! Und das Weiße (su) vervollständigt das Bild.‹« Konfuzius gab zur Antwort: »In der Malerei wird der weiße Puder zuletzt aufgetragen.« Zixia entgegnete: »Wollt Ihr damit sagen, daß die Riten den Schluß bilden sollten?« Da sagte Konfuzius: »Du hast einen wesentlichen Punkt berührt. Mit dir kann ich über das Buch der Lieder reden.«95
Konfuzius will mit dem Vergleich zur Malerei sagen, daß das äußerliche Verhalten im Vollzug der Riten, im übertragenen Sinne: die Form, nicht an erster Stelle 94 95
S. CHANG: Creativity and Taoism (deutsch: Tao, Zen und schöpferische Kraft). Lunyu, 3.8.
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Exkurs 1: »Widerhall der Vitalkraft«
stehen, sondern – wie der Auftrag von Weiß in der Malerei – dem Eigentlichen, der moralischen Substanz, nur noch den letzten äußeren Schliff geben soll. (Die Stelle ist auch ein Beispiel für die bereits erwähnte Fähigkeit und Vorliebe der alten Literaten, Zeilen aus dem Buch der Lieder rhetorisch gekonnt auf andere Kontexte zu beziehen.) Unter den philosophischen Traditionen Chinas fand die Malerei im Daoismus zweifelsohne den fruchtbarsten Nährboden. Was den gewiß nicht unbedeutenden Einfluß des Konfuzianismus auf die Kunst angeht, so wäre der Zusammenhang auf die kurze Formel zu bringen: moralische Integrität ist die Substanz (zhi) und Voraussetzung für künstlerisches, formales Gestalten (wen). Aus den Schriften zur Malerei und Schriftkunst sind viele Aussprüche überliefert, die Kunst und Moral in Verbindung bringen. So antwortete einmal der Tang-Kalligraph Liu Gongquan (776–865) auf die Frage seines Kaisers, warum er so wunderbar schreibe, mit einer Anspielung auf die klassisch-konfuzianisch Schrift »Die große Lehre« (Daxue): er führe seinen Pinsel mit dem Herzen; er halte sein Herz gerade (xin zheng), und der Pinsel folge diesem nach.96 Und der songzeitliche Historiker der Malerei Guo Ruoxu führt zu diesem Thema aus: Die großen Meisterwerke der Vergangenheit wurden von bedeutenden Gelehrten in hohen Stellungen geschaffen oder von Einsiedlern, die ein naturnahes Leben führten. Sie hielten fest an der Tugend der Menschlichkeit (ren) und suchten Entspannung in den Künsten (youyi). Sie drangen tief in die Geheimnisse des Lebens ein und drückten ihre noble Gesinnung (zhi) in ihren Gemälden aus. Weil der Charakter des Künstlers hochstehend war, war auch der »Widerhall der Vitalkraft« (qiyun) in seinen Gemälden hoch, und weil der »Widerhall der Vitalkraft« hochentwickelt war, war das Bild voller Leben.97
Diese Passage ist gespickt von konfuzianischen Kernbegriffen und Bezügen. Das Wort youyi – sich ergehen/wandern in den Künsten98 – wurde ab der Song-Zeit zu einem geflügelten Wort, um das Amateurhafte des Vergnügens der Malerei und Schriftkunst hervorzuheben. Schließlich wird hier Moral in eine enge Beziehung gebracht mit dem wichtigsten Begriff der chinesischen Maltheorie und Ästhetik, 96
97
98
In der »Großen Lehre« ist die Geradheit des Herzens eine Stufe in der achtstufigen Verkettung von moralischen Grundbedingungen, die von einem konfuzianischen Edlen im Prozeß der Charakterkultivierung zum Zweck einer friedvollen menschlichen Gemeinschaft verlangt werden. Der Ausspruch von Liu Gongquan findet sich im Xuanhe shupu (CSJC Ausg.), j. 3, S. 100. Vgl. GÜNTHER DEBON: Grundbegriffe der chinesischen Schrifttheorie und ihre Verbindung zu Dichtung und Malerei, Wiesbaden: Steiner 1978, S. 18. GUO RUOXU: Tuhua jianwen zhi (HSCS Ausg.), Shanghai 1963, j. 1, S. 9; Übers. (mit geringfügigen Veränderungen) nach LIN YUTANG (Hg.): Chinesische Malerei – Eine Schule der Lebenskunst, Stuttgart, Klett 1967, S. 91. Das Wort bezieht sich auf Lunyu, 7.6.
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ZWISCHEN HAN- UND TANG-ZEIT
dem »Widerhall der Vitalkraft«, auf den im nächsten Abschnitt ausführlicher eingegangen wird. Es ist also hervorzuheben, daß konfuzianische und daoistische Tendenzen – gerade in der chinesischen Ästhetik – sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich befruchtend ergänzen und durchdringen. Für den klassischen chinesischen Literaten äußerte sich das Dao nicht exklusiv in einer dieser beiden oder in einer dritten Philosophie bzw. Religion (dem Buddhismus), sondern in allen drei akzeptierten Geistesschulen sowie, und das ist das Besondere, auch in der Kunst.
Der Kanon der Sechs Regeln für die Malerei Die anfangs aufgezeigte Spannung zwischen Naturtreue und geistigem Ausdruck sollte die Diskussionen in der Malerei für lange Zeit bestimmen. In der frühesten Phase der chinesischen Malerei bestand jedoch eindeutig eine Einheit in den beiden Zielen: Erreichung einer formalen Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Vermittlung von geistigen (oder persönlichen) Qualitäten. Einer der frühesten namentlich bekannten Maler Chinas, Gu Kaizhi (ca. 345–ca. 406), hat es in die Worte gefaßt: »Beschreibung des Geistigen durch die Form« (yi xing xie shen)99. Gu Kaizhi war als Figurenmaler bekannt, so interessierte ihn vor allem eine geistige Qualität in der Menschendarstellung. Dazu schrieb er: Schönheit oder Häßlichkeit von Kopf, Rumpf, Armen und Beinen haben wirklich nichts zu tun mit dem wundersamen Gelingen eines Werkes. Vermittlung des Geistigen (chuan shen) und Beschreibung der Erscheinung hängen nur von der Darstellung der Pupillen ab.100
Für Gu Kaizhi offenbart sich in einem Gemälde von Menschen deren Geist in der Darstellung der Augen, was eine gewisse Naturtreue im Malen menschlicher Figuren bedingt. Doch hat sich seine Wendung von der Vermittelung einer geistigen Qualität (chuan shen) aus dem Bereich der Figurenmalerei losgelöst und ist später zu einem wichtigen Wort in der chinesischen Ästhetik geworden. Aus der Vor-Tang-Zeit ist ein kurzes, doch besonders wichtiges Werk überliefert, das gewisse Schlüsselbegriffe der chinesischen Ästhetik in einem Kanon von Sechs Regeln/Gesetzen (liu fa) zusammenfaßt: »Klassifizierung der Maler des Altertums« (Gu hua pin lu) von Xie He (akt. 500–535). Das Werk – im wesentlichen eine trockene Aufzählung und Einordnung von 27 Malern in sechs Klassen – ist berühmt geworden wegen seines ersten Abschnitts, in dem der Malerei in aller 99
100
Gu Kaizhi, »Lun hua«, zitiert nach LIN TONGHUA, Zhongguo meixue da cidian, Hefei: Anhui Jiaoyu 2000, S. 353. Vgl. SUSAN BUSH und HSIO-YEN SHIH, Early Chinese Texts on Painting, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1985, S. 33. ACKER, Some T'ang and pre-T'ang Texts, Bd. II (Leiden: Brill, 1974), S. 44; LI, Der Weg des Schönen, S. 168.
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Exkurs 1: »Widerhall der Vitalkraft«
Kürze eine gewisse »theoretische« Basis gegeben wird (wobei der Autor jedoch die dort eingeführte Terminologie im zweiten, bewertenden Teil nicht systematisch anwendet). Die einleitenden Sätze haben mit ihrer Betonung des erzieherischen Wertes – wohl hauptsächlich der Figurenmalerei – einen ausgeprägt konfuzianischen Tenor und erinnern an entsprechende Formulierungen im »Großen Vorwort« zum Buch der Lieder: Klassifizierung von Malern bedeutet das Aufzeigen von Vorzügen und Mängeln einer Anzahl von Malern. Unter allen, die malen, gibt es keinen, der nicht [mit seinen Werken] Ermahnungen und Warnungen aussprechen oder den Aufstieg und Fall von Dynastien verdeutlichen möchte. Einsam und still spiegeln sich tausend Jahre in den Bildern, wenn man sie entrollt. In der Malerei gibt es zwar sechs Regeln, doch sind nur wenige in der Lage, sie alle miteinander zu verbinden. Seit frühesten Zeiten bis heute, hat sich jeder Maler nur in einer dieser Regeln hervorgetan. Was sind nun diese Regeln? 1. Widerhall der Vitalkraft (qiyun), das heißt: lebendige Bewegung (shengdong); 2. Knochen-Methode (gufa), das ist die Art, den Pinsel zu führen (yongbi); 3. Übereinstimmung mit den Objekten, das heißt: Abbildung der Form; 4. Rücksicht auf den jeweiligen Typus, das betrifft das Auftragen von Farbe; 5. Aufteilen und Planen, das heißt: Ordnung und Komposition; 6. Weitergabe und Nachbildung, das heißt: Kopieren von Vorbildern.101
Xie Hes Formulierung läßt zunächst vermuten, daß er diesen Kanon nicht selbst aufgestellt hat, sondern sich auf seinerzeit gängige Vorlagen beruft.102 Es würde hier nun zu weit führen, auf Details der inzwischen uferlosen Diskussion um diesen Kanon einzugehen.103 Von den sechs Regeln (die als methodische Grundlagen zu verstehen sind) sind jedenfalls die vier letzteren relativ bedeutungslos, vielleicht auch weil sie ziemlich klar und eindeutig zu verstehen sind. Selten, wenn überhaupt, wird in ästhetischen Schriften auf sie eingegangen. Zentrale Bedeutung kommt nur den ersten beiden Regeln, und vor allem der ersten Regel, zu. So wie es endlose Kontroversen über die philologischen Grundlagen dieses Kanons gibt, so gibt es eine ziemliche Bandbreite, insbesondere in der westlichen 101
102
103
Vgl. BUSH und SHIH: Early Chinese Texts on Painting, S. 39f, LIN: Chinesische Malerei, S. 40, und ACKER: Some T'ang and pre-T'ang Texts, I, S. 4. S. VICTOR H. MAIR: »Xie He’s ›Six Laws‹ of Painting and their Indian Parallels«, in: CAI: Chinese Aesthetics, S. 81–122. Grundsätzlich ist zu sagen, daß es eine Kontroverse darüber gibt, ob die Regeln jeweils aus einem Kompositum von zwei Zeichen (z.B. qiyun) bestehen, welches durch ein zweites Kompositum (shengdong) erklärt wird (wie in obiger Übersetzung, die den Argumenten von Acker folgt), oder ob jede Regel jeweils einen Ausdruck von vier Zeichen (qiyun shengdong) bildet; s. dazu die Einleitung in ACKER: Some T'ang and pre-T'ang Texts, I, S. XXff.
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Sekundärliteratur, hinsichtlich der Übersetzung des Kernbegriffs qiyun. Eric Zürcher hat darauf hingewiesen, daß derartige Begriffsbildungen im Zusammenhang der seinerzeit (in den sogenannten »reinen Gesprächen«) beliebten Charakterisierungen von Menschen üblich waren.104 Bei der Erörterung von Menzius und Cao Pi wurde bereits die »Vitalkraft« (eigentlich »Atem« oder »Lebensessenz«) als wichtige Größe im philosophisch-ästhetischen Diskurs behandelt. Zusammen mit dem Schriftzeichen yun – Nachklang, Widerhall, Resonanz etc. bedeutet das Kompositum qiyun in etwa eine harmonisch wirkende Vitalität als Charakteristikum eines Menschen. Auf die Malerei bezogen heißt diese Vorgabe, daß sich die harmonische Vitalkraft des Künstlers in entsprechend lebendiger Bewegtheit (shengdong) im Werk erahnen läßt, oder anders (und etwas allgemeiner) formuliert, daß in einem Werk eine geistige Kraft spürbar sein soll, die sich als bildliche Lebendigkeit manifestiert.105 In der Literaturreflexion sind bereits früh (bei Liu Xie) mit qiyun verwandte Begriffe aufgetaucht, so der Terminus shenyun als geistiger bzw. unergründlicher Nachklang, woraus nicht nur deutlich wird, daß in dem Wort »Vitalkraft« auch eine geistige Komponente steckt106, sondern auch wie austauschbar die Begriffe in der Malerei und Literatur sind. Um qiyun sichtbar zu machen, muß der Maler mit seinen geistigen Kräften die Dinge bzw. die Szene, die er zu malen beabsichtigt, nicht nur äußerlich überzeugend (was Form und Farbe angeht), sondern auch innerlich lebendig und bedeutungsvoll, durchdrungen vom Beben des Lebensatems, darstellen. Das Element, in dem sich diese Qualität der chinesischen Malerei manifestiert, ist der Pinselstrich. Dieser ist von ebensolcher Bedeutung in der Schriftkunst, und so gilt die zweite Regel dem kalligraphischen Aspekt der chinesischen Malerei. Der Wortlaut der zweiten Regel, »Knochen-Methode«, erscheint zwar auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich, doch ist sie hier eindeutig als Pinselführung (yongbi) definiert. Wie im Kontext von Liu Xies Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen deutlich wurde, hat in der Literatur der Terminus »Knochen« (gu) bereits eine Tradition, nämlich in der Bedeutung als formales Gerüst (Knochengerüst) bzw. Struktur/Kohärenz in einem Werk. Das Zeichen gu taucht jedoch nicht nur in der Literatur, sondern ebenfalls in der Charakterkunde und in der Schriftkunst auf. In letzterer unterscheidet man fleischige, sehnige und knochige Pinselstriche. Vereinfacht gesagt galt ein fleischiger Pinselstrich als schwach, ein knochiger hingegen als kraftvoll und energisch. Auf die Malerei übertragen heißt also gufa, daß die Pinselführung kräftig und strukturbildend zu sein hat und daß man keine schwachen, unnützen oder toten Striche ausführen sollte. Man sieht, 104 105 106
ZÜRCHER: »Recent Studies on Chinese Painting«. S. z.B. SIRÉN: The Chinese on the Art of Painting, S. 21f. Bisweilen findet man deshalb auch qiyun als »geistiger Widerhall« übersetzt. Der Terminus shenyun wird in der Poetik von Wang Shizhen in der Qing-Zeit eine zentrale Rolle spielen; s. Kap. VI.4.
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daß die zweite Regel in einer engen und wesentlichen Beziehung zur ersten steht, denn der »Widerhall der Vitalkraft« manifestiert sich auch und gerade in der Lebendigkeit des Pinselstrichs – man könnte sogar sagen, nur im Pinselstrich läßt sich qiyun wahrnehmen.
Bedeutung der Kalligraphie In diesem Kontext ist es wichtig, sich der Bedeutung der Schriftkunst für die Entwicklung der Malerei – und überhaupt in der chinesischen Ästhetik – zu vergegenwärtigen.107 Die Kalligraphie war schon vor der Malerei eine hoch angesehene Kunst, und es läßt sich mit Recht sagen, daß die künstlerische Sensibilität der chinesischen Literaten und Connaisseurs auf den ästhetischen Prinzipien der Schriftkunst beruhte (und weitgehend noch beruht). Die Schriftkunst war in der späten Han-Zeit (also ca. 100–200 n. Chr.) mit dem Aufkommen der sogenannten Grasschrift (caoshu) und der Kursivschrift (xingshu) zu einer Kunst mit eigenen ästhetischen Gesetzen geworden.108 Eine Entwicklung hatte stattgefunden von relativ statischen Schrifttypen zu bewegten, fließenden Formen, und man erkannte, daß diese bewegten Formen ein großes Ausdruckspotential bargen. Der Pinsel erlangte eine neue Bedeutung für den Literaten, er war nicht mehr einfach ein Werkzeug, mit dem er seine in poetische oder prosaische Form gefaßten Gedanken aufzeichnete, er wurde zum Ausdrucksmittel für subtilere Schichten seiner Persönlichkeit – ein Aspekt, der uns von unserer abendländischen, seit Erfindung der Schreibmaschine bzw. Textverarbeitung jedoch leider in Vergessenheit geratenen Kunst der Graphologie her nicht so fremd sein dürfte. Der tangzeitliche Kalligraphietheoretiker Zhang Huaiguan sagte einmal: In literarischen Werken sind viele Worte notwendig, um eine Bedeutung auszudrücken; in der Schriftkunst genügt ein Zeichen, um den Geist des Schreibers sichtbar zu machen.109
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S. RONALD EGAN: »Nature and Higher Ideals in Texts on Calligraphy, Music and Painting«, in: CAI: Chinese Aesthetics, S. 277–309. Zur Ästhetik der Schriftkunst s. die kommentierten Übersetzungen entsprechender tang- und songzeitlicher theoretischer Schriften von Sun Guoting (oder Sun Qianli) und Jiang Kui in ROGER GOEPPER: Shu-p'u. Der Traktat zur Schriftkunst von Sun Kuo-t'ing, Wiesbaden: Steiner 1974, und CHANG CH'UNG-HO und HANS H. FRANKEL: Two Treatises on Calligraphy, New Haven: Yale UP 1995. Die Konzept- oder Grasschrift ist eine besonders schnelle und skizzenhaft vereinfachende Schreibweise, wobei kaum eine Trennung zwischen den einzelnen Schriftzeichen besteht, weshalb sie auch notorisch schwer lesbar ist; demgegenüber werden in der Kursivschrift die Schriftzeichen lediglich etwas flüssiger geschrieben, bleiben aber meist deutlich lesbar. Zhongguo meixueshi ziliao xuanbian, Peking: Zhonghua shuju 1980, Bd. I, S. 256.
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Der Akt des Schreibens wurde – ganz im daoistischen Sinne – als spontan kreativer Akt erlebt. Die Bewegung bzw. die Führung des Pinsels sollte so ungekünstelt, so spontan, aber auch so gekonnt verlaufen, wie die Bewegungen der Natur. So wird auch von großen Kalligraphen der Grasschrift berichtet, daß sie durch Kontemplation der Natur Inspiration erlangten, sei es beim Betrachten kämpfender Schlangen, ziehender Sommerwolken oder auch beim Beobachten eines jungen Mädchens, das in selbstvergessener Vollkommenheit einen Schwerttanz übt.110 Ein Werk der Schriftkunst entsteht also durch natürliche Pinselführung – nichts an dem einmal Geschriebenen wird retuschiert oder verändert. Der künstlerische Schöpfungsakt bedeutet demnach für den Schriftkünstler einen Moment der Wahrheit. Sein Werk ist Abbild seiner über die Jahre hinweg angesammelten schöpferischen Kraft und seines kultivierten Charakters – mit anderen Worten, es ist ein »Abdruck des Geistes« (xinyin)111, wie es der eben zitierte Guo Ruoxu einmal faßte. Interessant für den geschulten Beobachter ist dabei, daß er wegen der standardisierten Reihenfolge der Striche eines chinesischen Zeichens die Linienführung von Anfang bis Ende verfolgen, d.h. den schöpferischen Prozeß nachvollziehen und so gleichsam in den Geist des Künstlers eindringen kann. Als sich die Grasschrift in der späten Han-Zeit durchsetzte, so berichten uns Zeitgenossen wie Zhao Yi in seiner polemischen Schrift »Gegen die Grasschrift« (Fei caoshu), muß es ein regelrechtes Grasschriftfieber gegeben haben. Es gab offenbar Leute, die sich den ganzen Tag mit kaum etwas anderem mehr beschäftigen wollten, die selbst in Gesellschaft wie besessen mit dem Finger auf dem Boden imaginäre Schriftzeichen schrieben oder mit einem Strohhalm auf Wänden herumkratzten, obwohl, so konstatiert Zhao Yi fassungslos, doch all dies keinen Nutzen habe, denn für eine staatliche Anstellung werde alles andere, jedoch nicht die Beherrschung der Grasschrift, verlangt; man werde also mit diesen Fähigkeiten keine Karriere machen können.112 Zhao Yis warnende Worte blieben in den Wind geschrieben – ästhetisches Vergnügen scheint doch vielen mehr zu bedeuten als materieller Nutzen. Zumindest ein Gras- und Kursivschriftkünstler erlebte in der Jin-Zeit, als diese Kunst wohl einen nie wieder erreichten Höhepunkt erreichte, eine beispiellose Berühmtheit: Wang Xizhi (321–379), für die Chinesen unangefochten der größte Kalligraph ihrer Geschichte, dessen Fähigkeit mit göttlich (shen) beschrieben wurde. Insbesondere 110
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Letzteres Gegenstand eines berühmten Gedichts von Du Fu; der Kalligraph war tangzeitliche Grasschriftkünstler Zhang Xu (s. Kap. IV.6, Fußnote 158); Inspiration durch kämpfende Schlangen gewann der songzeitliche Bambusmaler Wen Tong, durch ziehende Sommerwolken der tangzeitliche Mönch Huaisu; s. KARL-HEINZ POHL: Cheng Pan-ch'iao – Poet, Painter and Calligrapher, Nettetal: Steyler 1990, S. 207. GUO RUOXU: »Tu hua jian wen zhi«, j. 1, S. 9; vgl. LIN: Chinesische Malerei, S. 91. ACKER: Some T'ang and pre-T'ang Texts, I, S. LIII ff; Lidai shufa lunwen xuan, Shanghai: Guji 1979, Bd. 1, S. 1–3.
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sein Vorwort zu einer Gedichtsammlung, geschrieben bei einem Literatentreffen am Orchideenpavillon (Lantingxu), wurde zum meist bewunderten Stück Kalligraphie aller Zeiten.113 Mit der Schriftkunst haben wir also schon früh eine Kunst in China, die im Hinblick auf abstrakt ästhetische Gesichtspunkte wie Lebendigkeit, Kraft und Harmonie der Linien und letztlich auch als Ausdruck der Persönlichkeit betrachtet wurde. Die Bedeutung für die Malerei kann man gar nicht überbewerten: Realismus oder Naturtreue (xingsi) wurde deshalb – zumindest in den Kreisen der späteren Gelehrtenmaler – zu einem Negativurteil der Kunstkritik. Das Bild eines Gelehrtenmalers mußte vor allem in der Pinselführung kalligraphische Qualitäten besitzen. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, daß die Schriftkunst keine unabhängige Kunst als Kunst (im europäischen Sinne), sondern eigentlich eher eine Gebrauchskunst darstellte; sie betraf nämlich zunächst das Schreiben von offiziellen oder privaten Schriftstücken, was jedoch viel Übung und Kunstfertigkeit verlangte. Wenn diese Schriftstücke Gedichte oder Vorworte zu einer Gedichtsammlung waren, sodann von Schülern oder Connaisseurs gesammelt und überliefert wurden, gewannen sie einen Eigenwert als Zeugnisse eines großen Geistes – vergleichbar zu Handschriften großer Literaten und Künstler in der abendländischen Tradition. Hier ergibt sich jedenfalls ein gewisser Unterschied zur europäischen Kunstauffassung, wo ein Kunstwerk sich zunächst vom profanen Alltag der Gebrauchsgegenstände zu unterscheiden hat.
Formale Ähnlichkeit vs. Vermittlung des Geistes Hinsichtlich der Spannung zwischen naturgetreuer Abbildung gegenüber Ausdruck des Geistigen gaben spätere einschlägige Texte letzterem den eindeutigen Vorzug. So auch das wichtigste Werk zur chinesischen Malerei des Altertums, Zhang Yanyuans »Aufzeichnung über berühmte Maler der Vergangenheit« (Lidai minghua ji), ca. 850 in der späten Tang-Zeit geschrieben. Diesem Werk verdanken wir die erste umfassende Darstellung der chinesischen Malerei (Xie Hes Schrift und etliche andere sind darin überliefert); es ist somit eine der ganz wichtigen Textsammlungen in der chinesischen Kunstgeschichte, und es sollte die spätere Kunsttheorie entscheidend prägen114. Zhang Yanyuan behandelt alle möglichen Aspekte der Malerei, vom Ursprung der Kunst (womit er beginnt), über große Meister der Vergangenheit (von denen 113
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Der Tang-Kaiser Taizong war so besessen von Wang Xizhis Werken, daß er alles von ihm sammelte und auch vor keinen Tricks zurückschreckte, um das Lantingxu zu erwerben, mit dem er sich schließlich begraben gelassen haben soll. Seither ist jedenfalls das Original verschollen. Es gibt jedoch etliche Kopien. Übersetzt und kommentiert auch mit chinesischem Originaltext in ACKER: Some T'ang and pre-T'ang Texts; der zweite Band dazu ist 1974 posthum ebenfalls bei Brill in Leiden erschienen.
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wir so gut wie keine überlieferten Bilder haben), bis hin zu Landschaft als Sujet, Bewertung, technischen Details, Aufschriften, Signaturen und Siegel etc. Dabei bleibt er naturgemäß im Rahmen der konfuzianischen Tradition, weiß aber auch, anspielend auf die bekannten Geschichten aus dem Buch Zhuangzi, daoistische Dimensionen zu erschließen. Zhang Yanyuan eröffnet seine Aufzeichnung bezeichnenderweise mit einem Hinweis auf die moralische Funktion der Malerei: »Die Malerei vollendet den zivilisierenden Einfluß der Lehren der Weisen und hilft die gesellschaftlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten.«115 So haben wir an exponierter Stelle und ganz in konfuzianischer Tradition – wie bei Xie He und im »Großen Vorwort« – ein Bekenntnis zum erzieherischen Wert der Malerei. Auf welche Weise die Begegnung mit der Malerei bildet, führt er später aus: Es ist vor allem die Tatsache, daß man sich von Bildern guter Menschen, so der weisen Herrscher des Altertums, Konfuzius etc., angespornt und von denen böser Menschen, z.B. Tyrannen, gemahnt bzw. abgeschreckt fühlt. Ebenfalls versucht er gleich zu Anfang der Malerei einen gewissen übernatürlichen Nimbus zu verleihen. Er betont immer wieder ihre Verbindung zur ehrwürdigeren Schriftkunst und stellt sie gar in einen kosmischen Zusammenhang. Letzteres tut er nicht ohne Tradition. Schon einige Jahrhunderte zuvor hatte Liu Xie in einer großartigen Analogie am Anfang seines Wenxin diaolong die Literatur (wen) in einen kosmischen Zusammenhang gestellt. Zhang Yanyuan bemüht zu Beginn seines Berichtes für die Malerei ähnliche Vergleiche, so sagt er: Die Malerei durchdringt vollständig die göttlichen Transformationen der Natur und ergründet die tiefsten Geheimnisse. […] Sie rührt von der Natur selbst her und nicht von menschlicher Erfindung oder Weitergabe.116
Also auch ein kosmischer Bezug, eine fast magisch zu nennende Fähigkeit, die der Malerei hier zugeschrieben wird. Im weiteren Verlauf führt Zhang mythologische Herrscher, Kulturheroen und andere sagenhafte Überlieferungen an, um diesen Anspruch weiter zu untermauern. Danach schwenkt er über zu daoistisch inspirierten Gedanken natürlicher Kreativität. So schreibt er: Die unzähligen Formen entspringen dem alles umfassenden Wirken von Yin und Yang. Das Weltall vollbringt sein Werk ohne Anweisungen. Gräser und Bäume warten nicht auf Färbemittel, wenn sie blühen wollen; Wolken und Schnee warten nicht auf Puder, um sie weiß zu machen; die Berge warten auf kein Himmelsblau für ihre Türkis-Farbe, und der Phönix wartet auf keine fünf Farben für sein buntes Gefieder.117 115 116 117
ACKER: Some T'ang and pre-T'ang Texts, I, S. 61. Ebd. Ebd., S. 185.
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Das heißt, die Farbigkeit der Welt ist kein Ergebnis bemühter Kunstfertigkeit, sondern sie entfaltet sich von selbst (ziran). Allerdings ist die Buntheit der Dinge nicht unbedingt etwas, das den Maler zur Nachahmung anregen sollte. So sagt er im folgenden etwas, das für die spätere Entwicklung der chinesischen Malerei bedeutend werden sollte: Wenn man mit schwarzer Tusche den Eindruck von zarten Farben vermitteln kann, dann hat man sein Ziel erreicht; schenkt man den fünf Farben jedoch zuviel Aufmerksamkeit, dann werden die Abbildungen der Dinge falsch. Beim Darstellen von Gegenständen ist am meisten diese Hauptbeschäftigung mit oberflächlicher Ähnlichkeit und mit Farben zu vermeiden sowie mit zu viel Sorgfalt und Detail, die nur Zeichen von Kunstfertigkeit und Schliff sind.118
Hier finden wir zum ersten Mal und zwar autoritativ die Ansicht geäußert, daß Malerei mit schwarzer Tusche höher einzustufen ist als Malerei mit Farbe. Diese Vorliebe erklärt sich auch aus der Nähe der Tuschmalerei zur Kalligraphie, eine Verwandtschaft, die von Zhang immer wieder betont und die insbesondere für die Ästhetik der Gelehrtenmalerei (wenrenhua) bestimmend wird. Ganz in dieser Tradition stehend schreibt selbst ein moderner chinesischer »Ästhetiker« wie Li Zehou der Farbe eine sinnliche und »ordinäre« Eigenschaft zu, wohingegen die schwarze Linie in ihrer dynamischen Lebendigkeit – z.B. durch »fliegendes Weiß« in der Schriftkunst – eine eher geistige Dimension besitze.119 Diese Präferenzen decken sich auch mit einer sonst zu beobachtenden ästhetischen Vorliebe für das Blasse oder, in den Worten von François Jullien, das Fade (pingdan).120 Das Bemühen um schön wirkende Farbigkeit und »oberflächliche Ähnlichkeit« mit den Dingen – mit anderen Worten um Vollkommenheit in der Darstellung – steht, Zhang Yanyuan zufolge, wahrer Kunst entgegen. Dies macht er in folgender Passage durch ein Wortspiel deutlich (das Schriftzeichen liao bedeutet »vollkommen«, aber auch »verstehen/erkennen«): Deshalb sorge man sich nicht, daß ein Bild unvollkommen (bu liao), sondern eher, daß es vollkommen (liao) sei. Denn wenn man weiß, daß es schon vollkommen ist, warum sollte man es dann noch weiter vervollkommnen? Ein solches Bild ist ja in Wirklichkeit nicht unvollkommen. Wenn man nicht merkt, daß etwas schon vollkommen ist, dann ist das wirklich unvollkommen (bzw. dann versteht man wirklich nichts).121 118 119
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Ebd. LI: Der Weg des Schönen. »Fliegendes Weiß« (feibai) ergibt sich, wenn der etwas trockene Pinsel in schneller Führung vom Papier abhebt, so daß weiße Auslassungsstreifen im Pinselstrich sichtbar werden. Es ist ein Zeichen für eine dynamische Pinselführung. S. auch Kap. IV.2. ACKER: Some T'ang and pre-T'ang Texts, I, S. 185f.
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Zhang Yanyuan rät hier zu einer daoistisch empfundenen Natürlichkeit in der Malerei: Nur nicht mit übertriebener Sorgfalt und Detailfreude ein Bild so naturgetreu, so vollkommen wie möglich zu malen versuchen! Deshalb auch ein typisch daoistisches Paradox: Die Unvollkommenheit ist die wahre Vollkommenheit. Dem Thema Naturtreue vs. Ausdruck geistiger Qualitäten gibt Zhang in seiner Schrift viel Raum. Im Zusammenhang von Xie Hes »Sechs Regeln«, die durch seine Aufzeichnung erst richtig bekannt wurden, schreibt er: Den alten Meistern gelang es bisweilen, Ähnlichkeit im Aussehen zu vermitteln, während sie gleichzeitig dem Bilde »Knochenkraft« (guqi – Charakter, Individualität) verliehen. Sie verfolgten in der Malerei etwas, das über nur realistische Ähnlichkeit hinausging. Es ist schwierig, dies dem gewöhnlichen Menschen begreiflich zu machen. Die Maler von heute mögen zwar Ähnlichkeit der Form erreichen, doch gelingt es ihnen nicht, »Widerhall der Vitalkraft« (qiyun) zu erzeugen. Wenn sie in der Malerei nur versuchen würden, qiyun einzufangen, dann wäre Ähnlichkeit der Form von selbst darin enthalten.122
In qiyun ist demnach der Gegensatz von Naturtreue und Ausdruck des Geistigen aufgehoben. Doch auch Zhang klagte schon, daß zu seiner Zeit die Kunst in einem unaufhaltsamen Niedergang begriffen sei (er ahnte ja nicht, was die Yuan, Ming und Qing, geschweige denn die Moderne noch alles bringen würde), und seufzt, daß nur noch wenige Maler eine Fliege so zu malen verstünden, daß man sie versehentlich für eine echte hielt (wie dies ein gewisser Cao Buxing vermocht haben soll, als er einen Tintenklecks mit dem Pinsel in eine Fliege verwandelte), vielmehr fände man nur noch solche, die soweit gekommen seien, einen Tiger wie einen Hund zu malen.123 So schreibt er weiter zu diesem Thema: Selbstverständlich muß man bei der Malerei formale Ähnlichkeit zum Ziel haben. Doch formale Ähnlichkeit verlangt nach Vervollständigung durch Knochenkraft (guqi). Formale Ähnlichkeit und Knochenkraft wurzeln beide in der Idee/Konzeption (yi), die der Maler vor dem Malen hat, und hängen von der Pinselführung (yongbi) ab. Deshalb sind gute Maler in der Regel auch gute Kalligraphen.124
Formale Ähnlichkeit wird zwar verlangt, genügt allein aber auch nicht. Was darüber hinaus geht, wird einmal verstanden als Lebendigkeit, ein andermal als charaktervolle Darstellung, oder als kraftvoller Pinselstrich. Beachtenswert ist hier der Hinweis, daß der Idee (yi) eine wichtige Rolle im Schöpfungsprozeß zukommt. Sie sollte vor dem Malen bzw. Schreiben im Kopf des Künstlers bereits gefaßt sein. Dieser Gedanke geht auf Äußerungen von Wang Xizhi zur Schriftkunst zu122 123 124
Ebd., S. 148f. Ebd., S. 131; s. auch Bd. II, S. 19. Ebd., S. 149f.
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rück125 (und wurde auch bereits von Lu Ji im Zusammenhang der Literatur formuliert). Später heißt es bei Zhang zum gleichen Thema (und in Ergänzung zu Wang Xizhis Formulierung): »Die Idee geht dem Pinsel voran; ist das Bild vollendet, so ist die Idee darin präsent« (yi cun bi xian, hua jin yi zai). 126 Diese Thematik, daß der Idee eine leitende Funktion im Schöpfungsprozeß zukommt, wird in der ming- und qingzeitlichen Literaturkritik noch eine bedeutende Rolle spielen.
Status von Malern und Konventionen der Malerei Durch seine Ausführungen versucht Zhang Yanyuan der Malerei einen herausgehobenen Rang zu verleihen. Seine Bemühungen, so auch seine laufende Bezugnahme zu konfuzianischen und daoistischen Klassikern, erklären sich unter anderem aus der Tatsache, daß zu seiner Zeit (9. Jh.) die Malerei, im Gegensatz zur Kalligraphie, eben noch nicht zu den gehobenen Künsten zählte. Sein Werk bildet demnach einen entscheidenden Meilenstein auf dem Weg der Malerei von einer relativ unbedeutenden Kunst, ausgeübt von niederen Berufsmalern, zu einem der drei Hauptausdrucksmittel des klassischen Gelehrten, nämlich Dichtung (shi), Kalligraphie (shu) und Malerei (hua). Was die Polarität Naturtreue (xingsi) vs. Ausdruck geistiger Qualitäten (chuan shen) betrifft, so läßt sich für die spätere Zeit nicht nur in den theoretischen Erörterungen, sondern auch hinsichtlich des Status der Maler eine Auseinanderentwicklung beobachten. Die Fortführung der Abbildungstradition wird zur Sache der berufsmäßigen Malerei, ausgeübt von beamteten Malern oder Kunsthandwerkern, die ab der Song-Zeit an eigens errichteten Malakademien ausgebildet werden. Es wurde Kunstfertigkeit vermittelt und verlangt, z.B. in der Malerei von menschlichen Figuren, buddhistischen Ikonen, Vögeln oder Vierfüßlern. Der reine und elaborierte Abbildungsstil wird später als gongbi (»sorgfältiger Pinsel«) bezeichnet. Die zweite Richtung wurde zur Domäne der Gelehrtenmaler (wenrenhua), also in konfuzianischer Tradition gebildeter Staatsbeamter, die die Malerei im konfuzianischen Sinne als youyi, als ein amateurhaftes Sich-Erfreuen in den Künsten, mit anderen Worten, als kultivierten Zeitvertreib und nicht zum Gelderwerb betrieben. Wie in der Schriftkunst wurde der Geist bzw. die Persönlichkeit des Malers zum eigentlichen Gegenstand dieser Malerei. Ihren Stil bezeichnete man ab der YuanZeit als xieyi, »Schreiben von Ideen«. Portraits, menschliche Figuren, farbig ausgemalte Blumen und Vögel etc. wurden von ihnen so gut wie nicht gemalt. Ihre Sujets waren vielmehr Landschaft oder Pflanzen und Bäume mit symbolischer Bedeutung (Bambus, Orchidee, Pflaume, Chrysantheme, Kiefer etc.), und zwar in kalligraphischer, bisweilen (vor allem in der Qing-Zeit) auch in skizzenhaft ver125
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WANG XIZHI: »Shulun« (seine Nachschrift zum »Bichentu«), in: Lidai shufa lunwen xuan, I, S. 26, 29. S. auch DEBON: Grundbegriffe der chinesischen Schrifttheorie, S. 75. ACKER: Some T'ang and pre-T'ang Texts, I, S. 181.
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einfachter, um nicht zu sagen abstrakter, Ausführung. Allerdings gab es ab der Südlichen Song-Zeit, der großen Zeit der berufsmäßigen Maler, auch viele Überschneidungen, nämlich daß sich die Berufsmaler den Stil der Gelehrtenmaler zueigen machten. So wurde in der Malakademie häufig auch nach poetischen Vorgaben (Gedichtzeilen o.ä.) gemalt, wodurch gerade manche Berufsmaler der Südlichen Song, allen voran Ma Yuan (ca. 1150–1225) und Xia Gui (ca. 1190– 1230), die sich auch durch einen sehr sparsamen Stil auszeichneten, eine hohe poetisch-suggestive Wirkung in ihren Werken erzielten. Im Zusammenhang dieser Thematik ist schließlich auch zu berücksichtigen, daß die chinesische Malerei zu einem großen Teil aus einem konventionalisierten Gebrauch von Pinselstrichen und Kompositionsmethoden besteht, der – wie der Gebrauch des Pinsels in der Schriftkunst – über lange Jahre gelernt werden muß (»Kungfu«); und dies gilt für Berufs- und Literatenmaler.127 Dadurch wird gewissermaßen der Anspruch sowohl auf Naturtreue als auch Ausdruck geistiger Qualitäten relativiert. Diese Konventionen gelten zum Teil unterschiedlich klassifizierten Kontur- und Schattierungsstrichen (cun)128 für Berg- und Felsdarstellungen, aber auch dem Aufbau von Bildern (bei einer Landschaft beginnt man in der Regel oben am Himmel und arbeitet sich nach unten zur Erde durch), oder es sind (aus der Kalligraphie herrührende) Konventionen wie beim »Schreiben« des Bambus, wofür es schon früh Anleitungsschriften gab. Aus der Qing-Zeit ist ein Handbuch überliefert, das alle diese Aspekte in erläuterten Holzschnittbildern zusammenfaßt und heute noch als Anleitung populär ist: Der Senfkorngarten (Jieziyuan)129. Wie bei der Schriftkunst, die ja ebenfalls systematisch und ein ganzes Leben lang geübt wurde, zeigt sich der Könner in der Malerei darin, wie gekonnt, allerdings auch wie frei und unbekümmert er mit den Regeln und Konventionen umging. So wie es in der Kalligraphie Meister gab, die ihre Kunst vollkommen beherrschten 127
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Von einigen Meistern der Schriftkunst sind Geschichten überliefert, die die Bedeutung des Übens (gongfu) in der Schriftkunst verdeutlichen. Die chinesische Tusche muß bekanntlich zuerst mit einem festen Tuscheriegel unter Zusatz von Wasser in einem Tuschestein zu flüssiger Tusche gerieben werden. So sagt man von dem hanzeitlichen Zhang Zhi (und in Nachahmung dessen auch von dem »Heiligen« der chinesischen Kalligraphie, Wang Xizhi), daß er einen ganzen Teich an Wasser (einen »Tuscheteich«) zum Reiben der Tusche aufgebraucht hätte, bevor er seine legendäre Meisterschaft erreichen konnte. Dazu gibt es ein bekanntes Prosastück mit dem Titel »Aufzeichnung vom Tuscheteich« (Mochiji) des songzeitlichen Meisters klassischer Prosa (guwen) Zeng Gong (1019–1083). LIU YUCHANG, et al. (Hg.): Tang Song ba da jia wenzhang jinghua, Wuhan: Hubei renmin 1987, S. 546f. Z.B. »Hanffaserstriche« (mapicun) oder »Axthiebstriche« (fupicun). Erstere waren gleichsam Markenzeichen der großen Landschaftsmaler in der von Dong Qichang in der Ming-Zeit so genannten »Südlichen Schule« (Dong Yuan und Juran), letztere gehören zur Tradition der Berufsmaler (»Nördliche Schule«) beginnend mit Li Tang in der Südlichen Song-Zeit. Der Senfkorngarten, Ravensburg 1987 (2 Bde.); MAI-MAI SZE: The Tao of Painting, New York 1956.
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(Wang Xizhi), jedoch auch andere, die in ihrem eigenen regellosen Stil schrieben (Zhang Xu, 658-747), so schätzte man in der Malerei nicht nur diejenigen, die ihr Metier in höchster Vollkommenheit auszuüben verstanden, sondern auch und vielleicht noch eher solche, die, ganz im Sinne des Malers im Zhuangzi, alle Regeln der Kunst am gründlichsten durchbrachen – sei es dadurch, daß sie mit ihren Fingern oder Haaren malten130, oder davon sprachen (wie der noch zu behandelnde qingzeitliche Shitao), daß die höchste Regel die der Regellosigkeit sei. Diese Kategorie von Malern wurde als yipin (überragende Qualität) bezeichnet.131
Texte zur Landschaftsmalerei Um Xie Hes Zeit begann auch die Landschaftsmalerei Gestalt anzunehmen. Jedenfalls haben wir aus dieser Epoche zwei wichtige Texte zur Landschaftsmalerei überliefert (ebenfalls in Zhang Yanyuans Aufzeichnung). Der erste ist von einem Zong Bing (375–443) und heißt »Einführung in die Landschaftsmalerei« (Hua shanshui xu).132 Zong Bing betont darin zwar, daß die Hauptaufgabe eines Malers darin bestehe, eine überzeugende Abbildung der natürlichen Szenerie zu schaffen. Es sei ja eben das Erstaunliche an der Malerei, daß es ihr gelänge, das tausend Meilen lange und sagenumwobene Kunlun-Gebirge auf wenige Quadratzoll Seide zu bannen, und zwar in solcher Weise, daß der Betrachter, ohne die Stube zu verlassen, nur durch Entrollen von Bildern, im Geiste wunderliche Landschaften und die Einsamkeit der unberührten Natur zu durchwandern vermöchten. Doch besäßen Landschaften auch eine geistige oder seelische Dimension, die es einzufangen gelte. So läßt Zong Bing über diese Beschreibung seiner einfachen Freude an gemalten Landschaften hinaus auch Philosophisches in seinen kurzen Text einfließen (daoistisches und buddhistisches Gedankengut133). Er schreibt: Die Weisen pflegen in sich das Dao und reagieren auf die Dinge der Welt. Die Edlen reinigen ihren Geist und erfreuen sich an den Erscheinungsformen (xiang). Was Landschaften angeht, so besitzen diese zwar materielle Substanz, doch er130
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Zu Beispielen (auch und gerade im Hinblick auf performative Elemente in der chinesischen Malerei) s. KARL-HEINZ POHL: »Performing Craftsmanship: The Practice of Painting in PreModern China«, in: STANCA SCHOLZ-CIONCA und ROBERT BORGEN (Hg.): Asiatische Studien. Études Asiatiques, LVII. 3. 2004, Sonderheft »Performing Cultures in East Asia: China, Korea, Japan«, S. 555–565; JIANPING GAO: The Expressive Act in Chinese Art. From Calligraphy to Painting, Uppsala: Acta Universitatis Upsaliensis 1996, S. 75ff. Ansonsten gab es drei Kategorien; die niedrigste war die Qualität »Gekonnt« (nengpin), danach die Qualität »Wunderbar« (miaopin), an höchster Stelle die Qualität »Vergeistigt/ wie von einem Gott gemacht« (shenpin). Allerdings ließ die Kategorie yipin alles andere hinter sich zurück. S. SUSAN BUSH: »Tsung Ping’s Essay on Painting Landscape and the ›Landscape Buddhism‹ of Mount Lu«, in: BUSH und MURCK: Theories of the Arts in China, S. 132–164. Er war Schüler des berühmten buddhistischen Mönches Huiyuan auf dem Berg Lu.
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ZWISCHEN HAN- UND TANG-ZEIT strecken sie sich auch in das Reich seelischer Kräfte (ling). […] Das Erfassen durch die Augen und das Verstehen im Herzen gilt dem wahren Gesetz der Dinge (li). Wenn dies erreicht ist, und wenn die Widergabe geschickt ist, dann wird auch das Auge [des Betrachters] dies erfassen und er es in seinem Herzen verstehen. Durch Erfassen und Verstehen werden geistige Kräfte (shen) angeregt, und indem diese sich erheben, wird das wahre Gesetz der Dinge verstanden. Selbst wenn ich nun nach wunderbar verborgenen Felsen suchen würde, könnte [ihr Anblick in der Wirklichkeit] etwa besser sein, als eine derartige [bildliche Darstellung]?134
Wenn der Maler also das wahre »Gesetz der Dinge« (li) bzw. die eigentliche Wirklichkeit (zhen) in seinem Bild einzufangen versteht, dann ist Kunst größer als Leben und bildet das Anschauen von Kunstwerken – indem ein Werk geistige Kräfte (shen) eingefangen hat und diese die Kräfte des Betrachters anregen – ein größeres ästhetisches Vergnügen als das Betrachten der eigentlichen Landschaft. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, besteht in der Landschaftsdarstellung auch ein Zusammenhang zum Yin-Yang-Denken. Das chinesische Wort für Landschaftsmalerei heißt wörtlich »Berg-Wasser-Malerei« (shanshuihua). Landschaft ist das Ergebnis des Zusammenwirkens von Yang (Bergen) und Yin (Wasser) und stellt somit die äußerliche Manifestation der Schöpferkraft der Natur bzw. des Dao dar. Für den Maler kommt es insofern nicht so sehr darauf an, diese Schöpfung naturgetreu abzubilden, sondern eher aus dieser Schöpferkraft heraus zu malen, so daß etwas davon im Bild sichtbar wird. Der zweite Text ist von einem Wang Wei (415–443 – nicht zu verwechseln mit dem tangzeitlichen Dichter und Maler) und heißt »Erörterung der Malerei« (Xu hua).135 Der Autor bezweifelt wie Zong Bing die pure Abbildungsfunktion der Malerei und hebt ebenfalls (allerdings in noch kryptischerer Weise als sein Zeitgenosse) auf mystischen Aspekten der Malerei ab. Er meint, schon die Maler des Altertums hätten sich nicht mit Formspielereien begnügt, mit dem Zeichnen von Stadtplänen oder Landkarten. Malerei habe ihren Ursprung in der Abbildung der Form, sie müsse aber aufgrund der geistigen Fähigkeiten des Malers in flexibelbewegter Weise darüber hinausgehen.136 Zong Bing und Wang Weis philosophisch getränkte Schriften zur Malerei erinnern an Parallelen in der Literaturtheorie, so an Zeilen aus Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur«, welche den Dichter versunken in die Betrachtung der Geheimnisse des Kosmos darstellen und ebenfalls seine mystische Schaffenskraft beschwören. 134
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Zhongguo meixueshi ziliao xuanbian, I, S. 177f; vgl. BUSH und SHIH: Early Chinese Texts on Painting, S. 36f, LIN: Chinesische Malerei, S. 37f. S. SUSAN BUSH: »The Esssay on Painting by Wang Wei (415–453) in Context«, in: CAI: Chinese Aesthetics, S. 60–80. YANG DANIAN: Zhongguo lidai hualun caiying, Zhengzhou: Henan renmin 1984, S. 81f; vgl. BUSH und SHIH: Early Chinese Texts on Painting, S. 38.
144
Exkurs 1: »Widerhall der Vitalkraft«
Diese Texte sind repräsentativ für die vom Neo-Daoismus (xuanxue) geprägte Zeit zwischen den Dynastien Han und Tang. Aus der Epoche zwischen Tang und Song, also der Zeit der Fünf Dynastien – der Periode, in der sich der für die grandiose Song-Landschaft typische Stil herauszubilden beginnt – ist ein Text überliefert, der in ungewöhnlicher Weise diese Themen weiterführt: Die »Aufzeichnung über die Regeln des Pinselgebrauchs« (Bifa ji) von Jing Hao (ca. 870 – ca. 940). Die kurze Schrift handelt davon, daß dem Icherzähler, einem mal- und schriftkundigen Bauern, in den Bergen ein geheimnisvoller Alter begegnet, der ihm das daoistisch fundierte Wesen der Malerei erklärt. So besitzt das Buch Anklänge an daoistische Legenden von Unsterblichen, aber auch an Tao Yuanmings Geschichte vom Pfirsichblütenquell, denn als der Bauer und Maler später den geheimnisvollen Alten wieder aufsuchen möchte, bleibt dieser, wie das Utopia am Pfirsichblütenquell, unauffindbar. Inhaltlich knüpft der Text an die Diskussion um die Funktion der Malerei an: Abbildung vs. Ausdruck einer geistigen Dimension. Diese Diskussion geschieht allerdings in lebendiger Art und Weise als Dialog zwischen dem Icherzähler als einem den Abbildungsstandpunkt vertretenden tumben Tor und dem erleuchteten Alten, dem es selbstverständlich um die geistige Dimension geht. So beginnt der Dialog mit einem Wortspiel137: Ich sagte: »Malen bedeutet, das prächtige Äußere der Erscheinungen [wiederzugeben] (hua zhe hua ye). Das heißt, man bekommt das wahre Wesen (zhen) zu fassen, wenn man sich um Ähnlichkeit (si) [der Abbildung] bemüht. Wie könnte man dies mißverstehen?« Darauf erwiderte der Alte: »Das stimmt nicht. Malen ist Malen/Linien ziehen (hua zhe hua ye). Man prüft das Bild der Dinge und fängt ihr wahres Wesen ein. Man muß das Äußere der Dinge von ihrem Äußeren her erfassen. Die innere Wirklichkeit der Dinge muß man von ihrer inneren Wirklichkeit her erfassen. Man darf jedoch nicht das Äußere für die [innere] Wirklichkeit halten. Wenn man dies nicht versteht, so mag man zwar Ähnlichkeit erzielen, doch das wahre Wesen wird man verfehlen.« Ich sagte: »Was nennst du aber Ähnlichkeit und was wahres Wesen?« Der Alte erwiderte: »Ähnlichkeit heißt, die Form (xing) eines Dinges ohne seine Vitalkraft zu erfassen; Wahrheit bedeutet, daß sowohl Vitalkraft (qi) als auch Substanz (zhi) reichlich vorhanden sind. Wenn die Vitalkraft nur der Darstellung des Äußeren gilt, geht sie dem Bild (xiang) verloren, und so ist das Bild tot.«
Dieser Dialog hat nicht nur den Gegensatz von Naturtreue und Geistesausdruck, sondern auch die vertraute Substanz-Form-Dichotomie zum Thema. Dabei sind 137
Das Wortspiel beruht auf der Homophonie zweier Schriftzeichen, die beide hua ausgesprochen werden, doch in einem Fall »Malen« (wörtlich: »Grenzlinien ziehen«), im anderen »Blume« (auch »Äußerlichkeit« bzw. »Schmuck«) bedeuten.
145
ZWISCHEN HAN- UND TANG-ZEIT
die Termini, um die es geht, auch philosophisch aufgeladen; das Wahre (zhen), um dessen malerisches Erfassen der Text kreist, ist z.B. ein zentraler Begriff in daoistischen Schriften. Ansonsten versammelt die Passage alle relevanten Begriffe und Ideen, die in vorangegangenen Schriften – der Literatur- und Maltheorie – bereits aufgetreten sind. Quintessenz des Textes ist, daß der weise Alte dem Adepten einen neuen, jedoch sich an Xie He anlehnenden Kanon von sechs Kernbegriffen vermittelt. Diese lauten: 1. Vitalkraft/Geist (qi), 2. Nachklang/Widerhall (yun), 3. Gedanken (si), 4. Szene (jing), 5. Pinsel (bi) und 6. Tusche (mo). Man sieht unschwer den Zusammenhang zu Xie Hes Auflistung; so wird hier dessen zentraler Terminus qiyun einfach in zwei Teile zerlegt. Allerdings gibt der Text auch interessante Definitionen zu diesen sechs Punkten: Vitalkraft bedeutet, daß das Herz sich mit dem Pinsel bewegt und man die Bilder ohne Zögern ergreift. Nachklang bedeutet, daß man alle Pinselspuren verbirgt, während man Formen schafft, daß man sich dabei an das Schickliche hält und Gewöhnlichkeit (su) vermeidet. Gedanken bedeutet, das Wesentliche zu erfassen, Unnötiges zu eliminieren und Ideen sich in Formen verdichten zu lassen. Szene bedeutet, die verschieden (Jahres- und Tages-)Zeiten zu erfassen, das Wunderbare zu suchen und so die wahre Wirklichkeit zu erschaffen. Pinsel bedeutet, sich an die Grundregeln zu halten, sich jedoch dabei in der Dynamik, im Drehen, Wandeln und Durchdringen frei zu bewegen. Es geht nicht um Verleihen von Substanz oder Form, sondern um Flug und Bewegung. Tinte bedeutet, die Höhe und Tiefe von Objekten durch verschiedene Tuscheschattierung zu vermitteln und sie so natürlich wirken zu lassen, als seien sie nicht mit dem Pinsel gemalt.138
Diese Passagen sind allerdings in ihrer verdichteten Art nicht immer eindeutig zu verstehen139, vielmehr haben sie, wie auch dichterisch gestaltete Texte der Literaturtheorie, eher eine poetisch-suggestive Wirkung. Über die zitierte Stelle hinaus birgt dieser faszinierende Text noch einiges mehr sowohl an technischen Einzelheiten als auch an philosophischen Erkenntnissen. 138
139
Zhongguo meixueshi ziliao xuanbian, Bd. I, S. 317f; vgl. LIN: Chinesische Malerei, S. 70ff; BUSH und SHIH: Early Chinese Texts on Painting, S. 170; YU: Ways with Words, S. 202ff (Übersetzung Stephen H. West). Letzteres enthält nicht nur eine gut kommentierte Übersetzung, sondern auch ausführliche Diskussionen dieses Textes von verschiedenen Autoren. S. auch K. MUNAKATA: Ching Hao’s »Pi-fa-chi«: A Note on the Art of the Brush, Ascona: Artibus Asiae (Suplement 31) 1974, sowie SIRÉN: The Chinese on the Art of Painting, S. 38ff. Bei den ersten vier Elementen gibt es jeweils zwei Sätze zu je vier Zeichen als Erklärung; bei den letzten beiden wird diese Zahl verdoppelt (vier Sätze zu vier Zeichen).
146
Exkurs 1: »Widerhall der Vitalkraft«
Gegen Ende wird dabei ein Thema betont, das zwar nicht in den Zusammenhang einer daoistisch verstandenen Kunstauffassung bzw. Schaffensästhetik gehört, das jedoch (wie auch in Zhang Yanyuans Text) als ideologische Abrundung dazu gehört: konfuzianische Morallehren – sie werden dem Adepten anhand des Bildes einer alten Kiefer vermittelt. Der Text stellt also ein rundum chinesisches, nämlich daoistisches und konfuzianisches Brevier zur Einheit von Kunst und Leben dar. Und so läßt sich die darin vermittelte Sicht der Malerei – in Anlehnung an die deutsche Übersetzung von Lin Yutangs Buch – als »Schule der Lebenskunst« verstehen. Als goldenes Zeitalter der chinesischen Malerei sollte die an die Fünf Dynastien anschließende Song-Zeit neue künstlerische Höhepunkte der Landschaftsmalerei bringen, und zwar sowohl in der Form großartiger Panoramen in der Nördlichen, als auch in Gestalt poetisch-stimmungsvoller Ausschnitte während der Südlichen Song-Zeit. Damit ging eine ebenso lebhafte Reflexion über das Wesen der Malerei einher, die sich in zahlreichen wichtigen Texten vor allem zur Landschaftsmalerei, so u.a. von Guo Ruoxu und Guo Xi, niederschlug, die jedoch hier nicht mehr weiter verfolgt werden kann.140 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die formative Epoche der chinesischen »Maltheorie« einen Kanon von Grundbegriffen ästhetischer Betrachtungen lieferte, in dem durchaus Parallelen zur Literatur sichtbar werden. Außerdem finden wir in den hier vorgestellten Texten einer aufkeimenden Reflexion über Malerei die Themen angelegt, die die spätere Diskussion beherrschen sollten: Überschreiten von formaler Ähnlichkeit, Transzendieren von Technik (oder Regeln) sowie spontane Kreativität des aus dem Dao lebenden und schaffenden Künstlers. Zwei weitere Exkurse zur Malerei werden diese Themen wieder aufgreifen und sie mit der später geführten Diskussion um Regeln in der Malerei und Dichtung verbinden.
140
Sie hierzu die Bücher von Lin, Sirén und Bush/Shih.
147
Teil III
Die Tang-Zeit (618–906)
1. Stilperioden und Prosodie – Das Regelgedicht der Tang-Zeit
Die Tang-Dynastie gilt als das Goldene Zeitalter der chinesischen Kultur. Diesen Ruf verdankt sie nicht zuletzt der Stellung ihrer Dichtung, die zu Recht zur Weltliteratur gezählt wird. Zwar wird hinsichtlich ihres Umfangs die tangzeitliche von der songzeitlichen Dichtung noch übertroffen, doch was den besonderen ästhetischen Reiz der überlieferten Gedichte angeht, so steht die Lyrik der Tang-Epoche tatsächlich einzigartig dar. Obwohl über die Jahrhunderte viel verlorengegangen ist, umfaßt die am Anfang des 18. Jahrhunderts unter dem qingzeitlichen KangxiKaiser herausgegebene Sammlung der »Vollständigen Tang-Gedichte« (Quan Tang shi) immerhin noch fast 50.000 Gedichte von etwa 2.300 Dichtern. Wegen dieses enormen Umfangs gab es vom 8. Jahrhundert an über hundert kleinere Anthologien, in denen dieses bedeutende literarische Erbe tradiert wurde. Für die heutige Zeit wurde die in der qingzeitlichen Qianlong-Periode herausgegebenen Sammlung der Dreihundert Tang-Gedichte (Tang shi san bai shou) am bedeutendsten1. Aus dem Zeitraum von knapp dreihundert Jahren ragt die Regierungszeit des Kaisers Xuanzong, unter dem als Förderer der Dichtung und Kunst das Gedichteschreiben sogar als Prüfungsfach eingerichtet wurde, als besondere Blütezeit der Tang heraus2. Sie begann im Jahre 713 und endete 756 durch die Revolte des An Lushan, die ein Jahr zuvor begann. Diese Rebellion erschütterte die Tang-Dynastie in ihren Grundfesten und bildet eine nachwirkungsreiche geschichtliche Zäsur der damaligen Zeit. Für den historischen Kontext der nachfolgenden Erörterungen wären noch einige andere über die Dichtung und Poetik hinausgehende Merkmale der Tang-Zeit zu skizzieren. So wurde während der Tang-Dynastie die nordwestliche Grenze des Reichs bis in die innerasiatischen Regionen ausgedehnt und die durch die wüstenhaften Gegenden verlaufende Seidenstraße intensiv genutzt. Diese Verbindung zwischen China und Innerasien führte nicht nur zu einem geschäftigen Warenaustausch, sondern auch zu einem ebenso regen Kulturtransfer, insbesondere mit Indien, wohin Mönche Pilgerfahrten unternahmen, um buddhistische Schriften zu holen. Gerade wegen ihrer Öffnung nach Innerasien wurde Chang'an, die Haupt1
2
S. VOLKER KLÖPSCH (Übers.): Der seidene Faden. Gedichte der Tang, Frankfurt: Suhrkamp 1991; s. auch NIENHAUSER: Indiana Companion, S. 755f. Für eine ausführliche Diskussion der Tang-Lyrik s. die verschiedenen Bücher zu diesem Thema von STEPHEN OWEN, vor allem The Poetry of the Early T'ang, New Haven: Yale UP 1977, und The Great Age of Poetry. The High T'ang, New Haven: Yale UP 1981. S. auch die ausführliche und kundige Besprechung der Tang-Lyrik in KUBIN: Die chinesische Dichtkunst, S. 99–246. Und zwar die Regierungsperioden Kaiyuan (713–742) und Tianbao (742–756).
151
DIE TANG-ZEIT
stadt der Tang-Dynastie (heute Xi'an), zu einer für die damalige Zeit beispiellosen kosmopolitischen Metropole. Es waren nämlich nicht nur Religionen wie der Buddhismus und (über die Sekte der Nestorianer) das Christentum, die in dieser Epoche nach China gelangten, sondern auch Musik und Tanz, Melodien und Lieder aus Innerasien, die für die weitere Entwicklung der chinesischen Lyrik, insbesondere des Kunstliedes (ci), noch bedeutend werden sollten. Da die literaturtheoretische Entwicklung jener Zeit nicht von der eigentlichen Literatur losgelöst betrachtet werden kann, sollen im folgenden die Grundzüge der Tang-Lyrik, ihre Einteilung in Stilepochen, insbesondere aber auch die prosodischen Neuerungen, wie sie sich im sogenannten Regelgedicht (lüshi) niederschlugen, kurz dargestellt werden. Seit Yan Yu in seinem epochalen (und im Kontext der Song-Zeit noch zu besprechenden) Werk Canglangs Gespräche über die Dichtung die Lyrik der Tang in verschiedene Perioden eingeteilt hat, geht man von der folgenden und inzwischen gängigen Einteilung der Tang-Dichtung aus: – – – –
Tang-Frühzeit – ca. 100 Jahre (618–712) Tang-Blüte – ca. 50 Jahre (713–765) Tang-Mitte – ca. 70 Jahre (766–835) Tang-Spätzeit – ca. 70 Jahre (836–906)
Diesen Perioden werden gerne Epochenstile zugeschrieben: Während der TangFrühzeit war zunächst der höfische Stil der Sechs Dynastien mit seinen »Gesängen von Jade-Terrassen« und Palastdamen noch lange tonangebend; mit Wang Bo (649– 676) und Chen Zi'ang (653–695) als Repräsentanten und ihrem in gefühlstragende Szenerie eingebetteten melancholischen Ausdruck wandelte er sich schließlich zu einer Frühform des eigentlichen Tang-Blüte-Stils. Ein wichtiger – und oft einen Hauch von Melancholie erzeugender – Kunstgriff bildet dabei die Gegenüberstellung der Begrenztheit des Lebens zur Unbegrenztheit der Natur. Die Vervollkommnung dieses Stils in der Tang-Blütezeit ist gekennzeichnet von einer beispiellosen Einheit bzw. Verschmelzung von Idee (oder Gefühl) mit Szenerie (oder Landschaft, einschließlich ihres tages- und jahreszeitlichen Gepräges). Mit anderen Worten, was die Dichter (nicht nur) der Tang-Blüte verstanden, war die Kunst, mit Esprit und klanglichem Zauber die meist nur in wenigen und einfachen Worten beschriebene Szenerie von ihren eigenen Stimmungen sprechen zu lassen. Für diese hohe Kunst gelten Li Bai (699–762, hierzulande besser bekannt als Li T'ai-po), Wang Wei (701–761) und Du Fu (712–770) als die herausragenden Vertreter. Du Fu ist der konfuzianisch motivierte Literat, dessen Gedichte von der »Sorge um Land und Volk« (you guo you min) zeugen. Hätten wir nicht seine Dichtung, so heißt es, so wüßten wir – zumindest von der sonstigen uns überlieferten Tang-Dichtung – nichts von den chaotischen Zuständen und dem Leiden, welche die An Lushan-Rebellion verursachte. So wird seine Dichtung als schwermütig und ernst, heroisch und kraftvoll beschrieben. Außerdem ist sie sorgfältig –
152
Stilperioden und Prosodie – Das Regelgedicht der Tang-Zeit
nach allen Regeln der Kunst – komponiert. Er gilt als Meister des damals in Mode gekommenen Regelgedichts, und seine Dichtung diente Generationen von späteren Literaten als Vorlage, aus der sich das Dichten nach Regeln lernen ließ.3 Li Bai hingegen, der eher daoistische Neigungen hatte, dichtete lieber in der Form des relativ regellosen »Gedichts im alten Stil« (gutishi). Er ist der ungebundene, freie Poet, der seine Stimmungen und Weinseligkeit in unnachahmlicher Weise zu Poesie werden lassen konnte – weshalb er auch hierzulande Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, d.h. in der ersten Phase der Rezeption chinesischer Lyrik in Deutschland, als »deutschester« der chinesischen Dichter gefeiert und vereinnahmt wurde.4 Wang Wei, schließlich, ist der Repräsentant des chan-buddhistisch inspirierten unpersönlichen Landschaftsgedichts. Die Dichtung der Tang-Mitte verlor weitgehend diese Prägnanz, die in der Einheit von Idee, Szenerie, herausgehobener Stimmung und einfachem Ausdruck lag. In vieler Hinsicht wurde sie alltäglicher, in der Sprache dabei teils einfacher, teils schwieriger. So gilt Bai Juyi (772–846) als der Dichter der einfachen Worte. Auch ist er, wie Du Fu, ein Dichter des sozialen Engagements, wobei Bai, um Mißstände anzuprangern, sich gerne der Form der alten Balladen bediente und so eine eigene sozialkritische Ausdrucksweise in seinen »neuen Musikamtsballaden« (xin yuefu) fand. Han Yu (768–824) hingegen bildet das andere Ende des Spektrums der Tang-Mitte: Als schwierige und stolze Persönlichkeit kreierte er einen Stil, der in gekünstelter Weise sehr persönlich, um nicht zu sagen bizarr ist. Für diese Eigenwilligkeit wurde er später teils bewundert, teils verurteilt. Davon abgesehen machte er sich als Erneuerer der klassischen Ausdrucksweise in der Prosa (guwen) einen Namen, wobei er mit dem Ruf nach einer Wiederaufnahme der Diktion der zhouzeitlichen Klassiker auch die Aufforderung verband, sich an den konfuzianischen Inhalten dieser Schriften (anstatt an den buddhistischen, die zu seiner Zeit populär waren) zu orientieren. Angesichts der Tatsache, daß in der Blütezeit bereits Vollkommenheit erreicht war, erleben wir in der Tang-Spätzeit gleichsam einen Zwang zur Neuerung; so verstärkte sich in der Lyrik dieser Periode die Tendenz zum 3 4
LI: Der Weg des Schönen, S. 255ff. S. INGRID SCHUSTER: China und Japan in der deutschen Literatur, Bern: Francke 1977. Beispielhaft ist auch die Verarbeitung von Li Bais (und Wang Weis) Dichtung in Gustav Mahlers »Das Lied von der Erde« (1909). Mahler lagen vor allem Fassungen von HANS BETHGE (Die chinesische Flöte, 1907, Nachdruck: Wiesbaden: Insel 1956) zugrunde. Allerdings sind diese Nachdichtungen derart entstellend, daß sie mit den (deshalb auch nur mühsam aufzuspürenden) Originalen kaum noch etwas gemein haben. Es handelt sich hierbei um eine kulturelle und zeitgeistgemäße Aneignung der ästhetisch völlig anders gearteten Tang-Lyrik (ichlos, verhalten im Ausdruck von Gefühl, einfach in der Sprache, formstreng, Einheit von Szenerie und Gefühl) in die bisweilen schwülstig-überladene, gefühlstriefende und ichbesessene Ausdrucksweise (und fin de siècle- Stimmung) der Epoche zwischen Spätromantik und deutschem Expressionismus. Es ist nur Gustav Mahlers grandiose Musik, die diese Anverwandlung in Form eines genialen kreativen Mißverständnisses rechtfertigt.
153
DIE TANG-ZEIT
eigenwilligen, schwierigen Ausdruck, der z.B. in der Dichtung von Li Shangyin (813–858) ans Hermetische grenzt. Darüber hinaus ist der Epochenstil getragen vom Bewußtsein eines fin de siècle.
Prosodie des »Regelgedichts« (lüshi) In der Tang-Zeit stieg die Dichtung zu einem neuen ästhetischen Paradigma auf: Mehr noch als die Klassiker oder die kanonischen Geschichtswerke wurde sie schulbildend und zum Kulturträger. Wichtig für das Verständnis sowohl der Dichtung als auch der nun beginnenden poetologischen Erörterungen sind allerdings die formalen und prosodischen Neuerungen, insbesondere das komplexe Regelwerk des »Gedichts im neuen Stil« (jintishi), welches deshalb auch als »Regelgedicht« (lüshi) bezeichnet wird. Seit dem Ende der Han-Zeit hatte sich die Form des shi-Gedichts mit fünf Zeichen pro Zeile (im Vergleich zum archaisch wirkenden Gedicht mit vier Zeichen pro Zeile) als aussagekräftiger und rhythmisch interessanter klingend durchgesetzt.5 In der Zeit zwischen Han- und Tang-Dynastie ging mit dieser rhythmischen Erweiterung ein Bewußtsein um die klanglichen Kapazitäten der Sprache einher. Diese neue Wahrnehmung der eigenen Sprache wurde u.a. dadurch bedingt, daß aufgrund der Rezeption des Buddhismus und der Notwendigkeit der Übersetzung von buddhistischen Schriften aus dem Sanskrit ein gänzlich neues Verständnis um die Besonderheiten – auch und gerade der tonalen Natur – der chinesischen Sprache aufkam. In der damaligen Zeit stellte man bei den einsilbigen Lauten, mit denen jedes Schriftzeichen des Chinesischen wiedergegeben wird, vier verschiedene Töne bzw. Intonationsweisen fest: 1. den ebene Ton (ping), 2. den steigenden Ton (shang), 3. den fallenden Ton (qu) und 4. den sogenannten »Eingangston« (ru), durch den ein ursprünglich vokalischer Auslaut ein abruptes Ende durch einen konsonantischen Auslaut auf -p, -t oder -k erhält. Die ersten drei Töne sind im modernen Hochchinesisch bewahrt geblieben (als 1., 3. und 4. Ton6), der Eingangston ist hingegen schon seit der Song-Zeit (10.–13. Jh.) im nördlichen Dialekt verschwunden und existiert nur noch in südlichen Varianten wie im Kantonesischen (z.B. Chiang Kai-shek oder Sun Yat-sen; Hochchinesisch: Jiang Jie-shi und Sun Yi-xian). Während der frühen Phase der chinesischen Lyrik existierte durchaus bereits ein Bewußtsein für die prosodischen und klanglichen Möglichkeiten der chinesi5
6
Zu den Regeln des Regelgedichts s. LIU: The Art of Chinese Poetry, FRANÇOIS CHENG, Chinese Poetic Writing, Bloomington: Indiana UP 1982, sowie vor allem das chinesische Standardwerk von WANG LI: Hanyu shilü xue, Shanghai: Jiaoyu chubanshe 1952. Speziell zur Ästhetik des Regelgedichts s. auch KAO YU-KUNG: »The Aesthetics of Regulated Verse«, in: SHUEN-FU LIN und STEPHEN OWEN (Hg.): The Vitality of the Lyric Voice: Shih Poetry from the Late Han to the T'ang, Princeton: Princeton UP 1986. Der heutige leicht steigende 2. Ton ist eine Variante des tangzeitlichen ebenen Tons.
154
Stilperioden und Prosodie – Das Regelgedicht der Tang-Zeit
schen Sprache, nur manifestierte sich dies (noch) nicht in Klangmustern, die den vier Tönen entsprachen, vielmehr versuchte man lautlichen Wohlklang meist durch andere Mittel, wie z.B. durch Alliteration (z.B. cencan), reimenden Auslaut (yaotiao)7 oder Verdopplung (qingqing), zu erreichen, wobei diese Methoden meist adjektivische Zeichenverbindungen betrafen (die Verdopplung hat zudem – auch heute noch – eine betonende oder verniedlichende Funktion; z.B.: qingqing – »hübsch grün/blau«, anstatt einfach »grün/blau«). Im Bewußtsein der neuen tonalen Möglichkeiten wurden die vier verschiedenen Töne – dem Yin-Yang-Muster entsprechend – in zwei Klassen unterteilt: eine »ebene« Klasse (ping), die lediglich den ersten Ton enthält, und eine schräge bzw. »unebene« (ze), die die drei restlichen umfaßt. Lautlicher Wohlklang in einem chinesischen Gedicht wurde nun darin gesehen, eine möglichst abwechselungsreiche, meist paarweise Abfolge von ebenen und unebenen Tönen zu erreichen; z.B. wurde eine Aneinanderreihung von fünf ebenen oder fünf unebenen Tönen in einer Zeile (oder wenn in dieser Abfolge nur ein einziger gegenläufiger Ton auftritt) als klanglich unschön empfunden.8 Zu ergänzen ist hier allerdings, daß in jeder »Fünf-Wort-Zeile« hinter den beiden ersten Zeichen eine metrisch und syntaktisch wirkende Zäsur auftritt, die sich in einer Pause oder einem Langziehen der zweiten Silbe manifestiert. (Im »Sieben-Wort-Gedicht« finden wir diese Zäsur analog hinter den ersten vier Zeichen.) In gewisser Weise läßt sich dies mit metrischen Unterscheidungen in der abendländischen Lyrik vergleichen, wo man eine Abfolge von langen und kurzen (oder betonten und unbetonten) Silben hat. Diese Entsprechung ist auch insofern treffend, da im (früher üblichen) Rezitieren der chinesischen Gedichte der ebene Ton in der Regel etwas länger gezogen und damit betont wird.9 Für ein Gedicht im Fünf-Wort-Rhythmus läßt sich z.B. eine optimale lautliche Abfolge in folgendem Muster erreichen (wobei » – « eben, » / « uneben und » | « die Zäsur markiert)10:
7
8
9
10
Die beiden Beispiele sind dem ersten Gedicht (»Guanju«) aus dem Buch der Lieder entnommen. S. dazu Kap. I.1.3. Dieses klangliche Geschmacksempfinden liegt auch den auf Shen Yue zurückgehenden sogenannten »acht Krankheiten« (ba bing) zugrunde; dies sind erste Formulierungen über unschöne Laut- bzw. Tonverbindungen, welche dann den Ausgangspunkt bildeten für die prosodischen Erneuerungen des Regelgedichts. Sie sind in dem in Kap. III.2.1 zu besprechenden japanischen Werk Bunkyo hifuron (chin.: Wenjing mifulun) überliefert. S. SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 249ff. Dies wird in einer Sammlung von Lesungen chinesischer Lyrik (in verschiedenen Dialekten) dokumentiert, die Wayne Schlepp von der University of Toronto in Form von 9 CDs zusammengetragen hat: WAYNE SCHLEPP (Hg.): »Project to Preserve Traditional Recitation of Chinese Classical Literature«, National Endowment for the Humanities, Grant no. H67–092 (2000). Vgl. SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 253f.
155
DIE TANG-ZEIT
Muster 1 (Fünf-Wort-Gedicht): / – – /
/ – – /
| | | |
– – / / / – – / / / – –
(1) (2) (3) (4)
Man sieht, daß dieses Schema von den strukturellen Merkmalen des Kontrasts und der Wiederholung geprägt ist; so gilt für die Aufeinanderfolge der Zeilen (1) und (2) sowie (3) und (4) die Regel des Kontrastierens (dui), daß nämlich an den jeweiligen Positionen beider Zeilen die Töne entgegengesetzt sein müssen; für die Zeilen (2) und (3) hingegen lautet die Regel, daß die Töne sich weitgehend entsprechen müssen (Chinesisch: kleben – nian). Man merke sich nun für die weitere Erläuterung dieser prosodischen Besonderheiten der chinesischen Lyrik, daß die vier in Muster 1 aufgeführten Zeilentypen die einzigen sind, die zur Verfügung stehen, daß also alle im folgenden erwähnten Varianten nur eine unterschiedliche Aneinanderreihung dieser vier Typen darstellen. Ein zweites Muster ergibt sich somit, wenn das Gedicht nicht mit zwei unebenen, sondern zwei ebenen Tönen beginnen soll. Wie man sieht, bedarf es dazu nur einer Umstellung der beiden Verspaare: Muster 2 (Fünf-Wort-Gedicht): – / / –
– / / –
| | | |
– / / / – – – – / / / –
(3) (4) (1) (2)
Das erst in der Tang-Zeit richtig in Mode gekommene »Sieben-Wort-Gedicht« erweitert sich nun metrisch ganz einfach dahingehend, daß den ersten beiden Silben entsprechend kontrastierende Silben vorangestellt werden (wobei nach den ersten beiden Zeichen auch wiederum eine – leichtere – metrische und syntaktische Zäsur erfolgt). Muster 1a (Sieben-Wort-Gedicht) – / / –
– / / –
/ – – /
/ – – /
| | | |
– – / / / – – / / / – –
(1) (2) (3) (4)
Muster 2a (Sieben-Wort-Gedicht) / – – /
/ – – /
– / / –
– / / –
| | | |
– / / / – – – – / / / –
(3) (4) (1) (2)
156
Stilperioden und Prosodie – Das Regelgedicht der Tang-Zeit
Abgesehen davon, daß die chinesische Metrik eine Fülle an Verstößen und ebenso viele Kompensationsmöglichkeiten kennt, sollen der Einfachheit halber nur noch folgende zwei Merkmale und deren Konsequenzen erwähnt werden: In einem Regelgedicht, das – in der Regel – aus einer Verdopplung von Muster 1 oder 2 (also aus acht Zeilen) besteht, ist der Reim, der nur auf einen ebenen Ton erfolgen darf, am Ende jeder alternierenden geraden Zeile (2, 4, 6 und 8) vorgeschrieben. Allerdings kennt das Regelgedicht auch die Variante des zusätzlichen Reims am Ende der ersten Zeile. Dafür bedient man sich folgender Substitutionen für die jeweils ersten Zeilen (die nach obigem Muster auf einem »schrägen« Ton enden würden): Muster 1' (modifiziertes Muster 1 mit Reim am Ende der ersten Zeile): (4) anstatt (1) (2) (3) (4) Muster 2' (modifiziertes Muster 2 mit Reim am Ende der ersten Zeile): (2) anstatt (3) (4) (1) (2) Die zweite Besonderheit betrifft die Gewichtung der jeweiligen Positionen in einem Gedicht. Hier lauten die Regeln: 1. Die ungeraden, also die erste, dritte und fünfte Positionen in einer Zeile, müssen nicht unbedingt dem Muster entsprechen (yi san wu bulun). 2. Die geraden Positionen (2., 4. und 6.) sind dem Muster entsprechend deutlich zu machen (er si liu fenming). Die geraden Positionen sind demnach die prosodisch wichtigen und entscheidenden. Zur Regel Nr. 1 gab es eine bedeutende Ausnahme, nämlich die Sieben-WortZeile vom Typ (2): Hier durfte das dritte Zeichen keinen beliebigen, also unebenen, Ton haben, denn sonst hätte man in diesem Zeilentyp eine Abfolge von hauptsächlich unebenen Tönen (bis auf die ebenen Töne auf der vierten und siebten Position), und dies wurde als höchst unschön, nämlich als »Verstoß des singulären ebenen Tons« (fan gu ping), empfunden. Eine Analyse von Hunderten von TangGedichten ergab, daß dies wohl die strengste prosodische Regel der Tang-Lyrik bildete – es lassen sich kaum Verstöße gegen diese Regel feststellen.11 Die Beliebtheit des Parallelismus und die Disposition der chinesischen Sprache und Schrift für diese Besonderheit, auch die geistesgeschichtlichen Grundlagen 11
STEPHEN RIPLEY: »Some Findings on Tone Patterns in Tang Regulated Verse«, Journal of Chinese Linguistics, Vol. 8 (No. 1), S. 126–148.
157
DIE TANG-ZEIT
dafür durch das Yin-Yang-Denken, wurden in der Einleitung bereits erwähnt. In der Tang-Zeit wurde der antithetische Parallelismus zum festen Bestandteil der Lyrik, und zwar mußten in einem Regelgedicht das zweite und dritte Verspaar inhaltlich und syntaktisch parallel geführt werden. Dafür gab es bestimmte Wortfelder, aus denen man jeweils nominale, verbale oder adjektivische Begriffe wählen konnte (z.B. Himmels- oder Naturerscheinungen, Zahlwörter, Farbwörter etc.). Da der Parallelismus leicht stereotype Bildungen ergibt, bestand die große Kunst darin, Dinge in ungewöhnlicher oder überraschender Weise parallel zu führen. Der unübertroffene Meister in dieser Kunst war zweifelsohne Du Fu. Schließlich durften Wörter bzw. Schriftzeichen im Gedicht nicht zweimal vorkommen, auch waren sogenannte »leere Zeichen« (grammatische Funktionswörter) zu vermeiden.
Ein Regelgedicht von Du Fu Um die Besonderheiten des Regelgedichts deutlich werden zu lassen, wird im folgenden ein Gedicht von Du Fu beispielhaft vorgestellt und analysiert. Zu beachten ist dabei auch, daß die chinesische Prosodie nicht von Zeilen, sondern immer von Verspaaren ausgeht. Diese wurden in folgender struktureller Abfolge gesehen: Das erste Verspaar (im Chinesischen, das »Kopf-Paar« – shoulian) soll mit dem Thema beginnen (qi), das zweite (»Kinn-Paar« – hanlian) soll es fortführen (cheng), das dritte (»Hals-Paar« – jinglian) soll eine Wende bringen (zhuan), und das vierte (»Schwanz-Paar« – weilian) soll alles zusammenführen (he). Hier nun ein bekanntes Sieben-Wort-Regelgedicht von Du Fu mit dem Titel »Ein Gast kommt«, und zwar mit einer Wortfürwort-Übersetzung, der chinesischen Pinyin-Lautschrift (die allerdings nicht mit der tangzeitlichen Lautung gleichzusetzen ist12), den Tönen sowie schließlich mit einer flüssigeren Übersetzung, die jedoch auch versucht, den strukturellen Besonderheiten Rechnung zu tragen13: / ॐ She Hütte
12
13
– ত nan Süd
/ ॐ she Hütte
/ ק bei* Nord
|
Ω ઃ jie alles
Ω ਞ chun Frühling
/ ֽ shui Wasser
Ein Sternchen bei den auf Vokalen auslautenden Silben bedeutet, daß diese in der Tang-Zeit den Eingangston trugen, also mit -p, -t oder -k endeten und insofern zur Gruppe der »schrägen« Töne gehörten. Für die tangzeitliche Aussprache s. HUGH M. STIMSON: The Jongyuan in-yunn. A Guide to old Mandarin Pronunciation, New Haven: Yale UP 1966 (es handelt sich dabei um das Zhongyuan yinyun des Zhou Deqing). Du Fu soll dieses Gedicht im Jahre 760 (nach anderen Quellen 761) in seiner »Strohhütte« in Chengdu geschrieben haben. S. DAVID HAWKES: A Little Primer of Tu Fu, Oxford: Clarendon Press 1967, S. 109–112. Vgl. die (in meinen Augen eigenwillige) Interpretation von STEPHEN OWEN zu diesem Gedicht in Traditional Chinese Poetry and Poetics, S. 237–42.
158
Stilperioden und Prosodie – Das Regelgedicht der Tang-Zeit / ܀ Dan Nur
/ ߠ jian sehen
Ω ᆢ qun Schar
Ω ᧉ ou Möwen
Ω क़ Hua Blüten
/ உ jing Pfad
/ լ bu* nicht
Ω མ ceng zuvor
Ω ᓒ Peng Reisig
Ω ॰ men Tor
Ω վ jin heute
/ ࡨ shi erst
Ω ᒌ Pan Teller
Ω 䃦 sun Essen
/ ؑ shi Stadt
/ yuan weit
Ω ᖥ Zun Krug
/ jiu Wein
Ω ୮ jia Haus
Ω ຆ pin arm
/ ् Ken Wollen
/ ፖ yu mit
Ω ᔣ lin Nachbar
Ω ౖ weng Greis
/ ሶ Ge* Über
Ω li Zaun
Ω ࡅ hu rufen
/ ࠷ qu holen
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/ ֲ ri* Tag
/ ֲ ri* Tag
Ω ࠐ lai kommen
/ ᒴ yuan wegen
Ω ড় ke* Gast
Ω ൿ sao fegen
/ wei für
Ω ܩ jun Herrn
Ω ၲ kai öffnen
Ω ྤ wu kein
Ω jian doppelt
/ wei Geschmack
/ zhi nur
/ ៱ jiu alter
Ω ⵢ pei Wein
Ω ઌ xiang einander
/ ኙ dui gegenüber
/ ႏ yin trinken
/ ጐ jin leeren
Ω ᕉ yu übrige
Ω ࣦ bei Becher
»Ein Gast kommt« (Ke zhi) Um die Hütte im Süden, um die Hütte im Norden – überall Frühlingsfluten, Nur zu sehen: Scharen von Möwen, die Tag für Tag kommen. Der Blütenpfad, noch für keinen Gast gefegt, Das Reisigtor, heute erst für dich geöffnet. An Speisen – die Stadt ist fern – keine erlesenen Gerichte, An Wein – mein Haus ist arm – nur altes Gebräu. Ist es dir recht, mit dem alten Nachbarn zusammen zu trinken, Dann rufen wir ihn über den Zaun, damit er mit uns die Becher leert.14
An diesem Gedicht lassen sich vielerlei Besonderheiten der großen Tang-Lyrik exemplifizieren, auch ist es beispielhaft für Du Fus Kunstfertigkeit und Gesinnung. 14
Vgl. die Übersetzungen von KLÖPSCH: Der Seidene Faden, S. 139, und INNES HERDAL (Übers.): The Three Hundred T'ang Poems, Taipei: Far East Book Co. 1973, S. 320 (mit chines. Original).
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DIE TANG-ZEIT
Hier haben wir ein grundkonfuzianisches Thema, das auch für Du Fu charakteristisch ist: das herzliche menschliche Miteinander, das sich vom engvertrauten Gast auf den Nachbarn und – so darf man extrapolieren – auch auf entferntere Menschen und Kreise ausdehnen läßt. Formal geben die vier Verspaare die Struktur des Gedichtes vor, und zwar haben wir eine Abfolge in vier Schritten von Umgebung/ Außenwelt hin zu Garten, Innerem des Hauses und schließlich zu innermenschlichen Stimmungen. Man könnte diese Entwicklung auch als ein immer näheres Fokussieren (bzw. Zoomen) verstehen. In einer gröberen Unterteilung gilt die erste Hälfte der äußeren, die zweite der inneren Welt. Das erste Verspaar »beginnt« (qi) mit der lokalen Szenerie und der Jahreszeit: Es ist Frühling, und die Regen- und Schmelzwasser schließen gleichsam die Behausung des Dichters ein. Weltabgeschiedenheit scheint durch die Anfangszeilen hindurch: kein Verkehr mit Menschen, nur Tiere – Möwen – verkehren hier. Das Bild mit den täglich kommenden Möwen enthält dabei eine interessante Anspielung auf eine Geschichte aus dem daoistischen Buch Liezi: Menschen, die am Meer lebten, verkehrten täglich eng mit den Möwen, bis daß ein Mann einen Jungen bat, ein paar davon für ihn zu fangen. Daraufhin kam keine Möwe mehr herab.15 Daß die Möwen in der zweiten Zeile des Gedichts in Scharen geflogen kommen, deutet demnach auf eine moralische Qualität des hier dargestellten abgeschiedenen Lebens hin: An diesem Ort gibt es keine profitorientierten Hintergedanken oder trickreichen Pläne. Insofern finden wir im ersten Verspaar bereits die ideale Verbindung von außen und innen, von Szenerie und Idee: nämlich eine sowohl räumliche als auch geistige Weltabgeschiedenheit ohne Gewinnstreben. Was die formalen Merkmale angeht, so enthält das erste Verspaar keinen regulären Parallelismus, allerdings haben wir am Anfang von Zeile 1 (Hütte Süd, Hütte Nord) einen Parallelismus im Kleinen. In den Zeilen 1 und 2 wird auch gegen das Verbot der zweifachen Verwendung von Wörtern verstoßen (Hütte und Tag erscheinen zweimal); doch sieht man leicht, welche kunstvollen Wendungen Du Fu hervorbringt, indem er dieses Verbot mißachtet: Während im ersten Fall durch die zweimalige Nennung des Wortes Hütte zusammen mit den Himmelsrichtungen Nord und Süd (Ost und West, obwohl nicht genannt, klingen gleichsam mit) die ganze Weite des Raumes um seinen Wohnsitz suggeriert wird, betont die zweite Wiederholung (nämlich von »Tag«) die lange Dauer und hat somit eine zeitliche Dimension. So wird in gewisser Weise der Verstoß der zweifachen Verwendung des Zeichens she (Hütte) in der ersten Zeile durch den erneuten, jedoch syntaktisch völlig anders wirkenden Verstoß in der zweiten Zeile (Tag für Tag) nicht nur kompensiert, sondern – da auch in unterschiedlichen Dimensionen von Raum und Zeit angesiedelt – zu einem stilistisch interessanten Kontrast erhöht. Das zweite Verspaar, welches das Thema »fortführt« (cheng), zieht die lokale Szenerie wie durch ein Zoomobjektiv weiter in den Vordergrund: die einfache 15
WILHELM: Liä Dsi. Quellender Urgrund, S. 59.
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Stilperioden und Prosodie – Das Regelgedicht der Tang-Zeit
Natürlichkeit der Behausung mit einem von Blüten bedeckten und noch für keine andere Person gefegten Gartenpfad sowie mit einem Gartentor aus Reisig, das nun erst für den hier angesprochenen Gast offen steht. In den Bildern beider Zeilen – Blütenpfad und Reisigtor – schwingen noch weitere Assoziationen mit: Die gefallenen Blüten deuten auf das Ende – und deshalb auch auf die Kürze – des Frühlings hin und lassen so das carpe diem-Motiv aufscheinen. Das Reisigtor steht dagegen für die Einfachheit des Zuhauses. Diese beiden Zeilen sind streng parallel geführt, und doch wirken sie in ihrem Zusammenwirken ungekünstelt. Im ebenfalls streng parallelen dritten Verspaar geschieht insofern eine »Wende« (zhuan), als in einem weiteren Fokussieren – hier auch (wie bereits im zweiten Verspaar) in Form einer Anrede an den Gast – die schlichten Lebensumstände im Inneren des bescheidenen Zuhauses noch deutlicher gemacht werden: einfaches Essen, da fern von der Stadt, und alter, ungesiebter Wein (so die genauere Bedeutung des Schriftzeichens pei) erwarten den Gast. Und doch – und das ist die Botschaft des letzten und alles »zusammenführenden« (he) Verspaares, in dem nach Skizzierung der Umgebung und Lebensumstände in einer Frage an den Gast die eigentlich menschliche Seite aufleuchtet – ist die Ärmlichkeit kein Hindernis für Gefühle der Gastfreundschaft. Und noch mehr: sie behindert auch nicht eine ganz elementare Mitmenschlichkeit (ren), denn das wenige, das man hat, sowie die Freude des Zusammenseins lassen sich mit dem Nachbarn teilen. Diese über die eigentliche Gastfreundschaft hinausweisende Mitmenschlichkeit ist die Botschaft oder Idee (yi) des Gedichts, die mit der weltabgeschiedenen, ärmlichen und doch warm wirkenden Szenerie (jing) – wobei die Weltabgeschiedenheit und Ärmlichkeit bei Du Fu meist auf die Wirren der An Lushan-Rebellion zurückzuführen ist – zu einer Einheit verschmilzt. All dies ist in vollkommener Regelhaftigkeit komponiert – auch das Tonschema entspricht zumindest auf den prosodisch wichtigen geraden Positionen ganz den Anforderungen (die heutigen Reime auf lai, kai, pei und bei entsprechen nicht mehr ganz der Aussprache der Tang-Zeit, als sie noch alle einer Reimklasse angehörten) –, und doch wirkt das Gedicht einfach und natürlich. Genau dies ist das so bewunderte Genie Du Fus, daß er es nämlich verstand, die Regeln anzuwenden, ohne daß das Gedicht dadurch seine Leichtigkeit und Natürlichkeit verlöre – ein Tanz in Fesseln sozusagen, oder, um es mit Goethe zu sagen, eine Meisterschaft, die sich erst in der Beschränkung zeigt. Auch läßt sie in ihrem Endprodukt keine Spuren bemühten Schaffens zurück. In der Verbindung von Einfachheit (sowohl der Behausung als auch der Sprache) und Regelhaftigkeit (die sowohl prosodisch als auch moralisch zu verstehen ist) begegnet uns schließlich in diesem Gedicht eine Einheit von Leben, dichterischer Sprache und Charakter – Formgebung in der Dichtung wird gleichsam zum Ethos. Es ist eben diese Qualität, die chinesische Leser seit Generationen gerade an Du Fu so geschätzt haben und die dem bereits mehrfach zitierten Diktum entspricht: Dichtung ist wie der Mensch (shi ru qi ren).
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DIE TANG-ZEIT
Ein Vierzeiler von Li Bai Neben dem achtzeiligen Regelgedicht schuf die Tang-Lyrik noch eine weitere wichtige Form: den Vierzeiler, der prosodisch in mancher Hinsicht als ein halbes Regelgedicht verstanden werden kann (deshalb auch die chinesische Bezeichnung jueju, was wörtlich »abgebrochene Sätze« bedeutet) und in welchem die einzelnen vier Zeilen (und nicht die vier Verspaare) den erwähnten Vorgaben einer strukturellen Entfaltung entsprechen sollen. In seiner Fünf-Wort-Variante stellt der Vierzeiler – mit insgesamt nur 20 Zeichen – das Äußerste an lyrischer Verdichtung und Prägnanz dar und ist insofern am ehesten mit dem – allerdings noch kürzeren – japanischen Haiku zu vergleichen. Da die Ästhetik der chinesischen Lyrik und literaturtheoretische Erörterungen oft auch den Vierzeiler betreffen, wird im folgenden auch ein derartiges Kurzgedicht von Li Bai exemplarisch vorgestellt und diskutiert, und zwar der Vierzeiler mit dem Titel »Allein auf dem Jingting-Berg sitzend«: / ฒ Zhong Schar
/ ຺ niao Vögel
– ࡰ Gu Einsame
– ႆ yun Wolke
– ઌ Xiang Einander
/ kan ansehen
/ Zhi Nur
/ ڶ you dasein
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– gao hoch
– ଆ fei fliegen
/ ጐ jin weg
/ ᗑ du* allein
/ װ qu ziehen
/ ၵ xian frei
/ ࠟ liang beide
/ լ bu* nicht
/ ቧ yan Überdrüssig
/ ᄃ JingJing-
– ॼ tingting-
– ՞ Shan Berg
»Allein auf dem Jingting-Berg sitzend« (Du zuo Jingtingshan) Schar von Vögeln – hoch fliegend, entschwunden, Einsame Wolke – alleine ziehend, ungehindert. Wir16 blicken einander an und werden dessen nicht müde – Da ist nur noch der Jingting-Berg.17 16
In der chinesischen Dichtung (vom Liasao und anderen wenigen Ausnahmen abgesehen) werden äußerst selten Personalpronomina wie »ich« oder »wir« benutzt. Diese fehlen auch völlig in den zwei hier vorgestellten Gedichten. In einer deutschen Übersetzung wird es sich jedoch meist nicht vermeiden lassen – es sei denn, man strebt eine wortwörtliche, aber deshalb
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Stilperioden und Prosodie – Das Regelgedicht der Tang-Zeit
Wenn Du Fus Gedicht von der Spannung zwischen physischer Weltabgeschiedenheit und mitmenschlicher Gemeinschaft lebt, so haben wir in dem Gedicht von Li Bai den damit verwandten Kontrast von Natur und Mensch, wobei diese Gegenüberstellung zum Schluß in einer fast mystischen Einheit aufgehoben wird. Das streng parallel geführte Anfangsverspaar beginnt wie üblich mit Bildern der Natur: Der Vogelschar, die bereits am Horizont entschwunden ist, wird die allein und frei wandernde Wolke gegenübergestellt. Lassen sich mit den Vögeln noch Bewegung und Laute verbinden, so vermittelt das Bild der Wolke in der »fortführenden« zweiten Zeile einerseits Stille, andrerseits müßiges und ungehindertes Dahinziehen – man könnte vielleicht sogar sagen, hier haben wir das Selbstbildnis des daoistisch inspirierten Dichters und Freigeistes als eine allein und frei wandernde Wolke. Das Schlußverspaar zieht den Blick vom Himmel auf die Erde, von den Naturerscheinungen auf den Menschen, der hier – nämlich in der eine »Wende« (zhuan) bringenden dritten Zeile – in stiller Betrachtung des Berges erscheint, allerdings auch mit umgekehrter Blickrichtung: Mensch und Berg sind in gegenseitiger Anschauung versunken und werden dessen nicht überdrüssig. Diese meditative Versunkenheit führt in der letzten Zeile sogar zur Auflösung der menschlichen Perspektive: Der Betrachter ist ganz in die Einheit mit der Natur eingegangen, denn da ist zum Schluß nur noch der Berg. Die Idee des Gedichts ist somit eine lyrische Variante des wohl wichtigsten Philosophems in der chinesischen Geistesgeschichte, der »Einheit von Himmel/Natur und Mensch« (tian ren he yi), die hier in einer Himmel (Vögel und Wolke), Erde (Berg) und Mensch umfassenden Szenerie eingebettet ist. Formal ist Li Bais Vierzeiler nicht so regelhaft, wie man dies von Du Fu her kennt: Das erste Verspaar ist zwar nach allen Regeln der Kunst streng parallel gehalten und entspricht auch in seinem Tonschema vollkommen den kontrastiven Vorgaben. Die dritte Zeile enthält jedoch einen gravierenden Verstoß gegen die Tonregeln, nämlich einen unebenen Ton in der zweiten (und dritten) Position, was zu einer disharmonisch klingenden Aneinanderreihung von unebenen Tönen – mit einem singulären ebenen Ton am Anfang – führt (was durch die – prosodisch allerdings korrekte – Weiterführung von drei unebenen Tönen am Anfang der vierten Zeile noch verstärkt wird). Doch sind derartige Verstöße bei Li Bai nicht ungewöhnlich, denn anders als Du Fu liebte der eher daoistisch inspirierte
17
auch ungenießbare Übertragung an –, hier und da (mit der nötigen Behutsamkeit) das im Chinesischen nur zu denkende Personalpronomen einzufügen. Eine kongeniale Übersetzung dieses Gedichts stammt von Günter Eich: »Ein Schwarm von Vögeln, hohen Flugs entschwunden. / Verwaiste Wolke, die gemach entwich. / Wir haben keinen Überdruß empfunden, / Einander anzusehen, der Berg und ich.« GÜNTER EICH: Aus dem Chinesischen, Frankfurt: Suhrkamp 1976, S. 28. Der Jingting-Berg befindet sich nördlich der Stadt Xuancheng in der Provinz Anhui.
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DIE TANG-ZEIT
Dichter nicht die prosodischen Einschränkungen und insofern auch nicht das Regelgedicht. Stattdessen bevorzugte er die Möglichkeiten der freieren Formen wie die des »Gedichts im alten Stil« oder der yuefu-Ballade. Man erkennt vielleicht an dieser kurzen und lediglich exemplarisch gedachten Darstellung die Spannung, von der das chinesische shi-Gedicht – vor allem der Tang-Blütezeit – lebt: einerseits äußerst rigide Vorgaben hinsichtlich Zeilenlänge, Zeilenanzahl, Tonabfolge u.a., andrerseits der Anspruch eines einfachen, zwanglosen und doch kunstvollen Ausdrucks. Dazu kommen die Vorgaben einer strukturellen Entfaltung der Thematik sowie die Tradition, Gefühl (oder eine Idee) in eine Szenerie einzubetten bzw. sie mit dieser zu verschmelzen und dabei eine suggestive Bildlichkeit und Stimmung (xingqu) zu erzielen. Die Fragen nach der Relevanz dieses Regelwerks und nach der Verbindlichkeit der großen Vorbilder sollten später für heftige Diskussionen sorgen. Auf diese hauptsächlich in der Song- und Nach-Song-Zeit ausgefochtenen Kontroversen soll in den folgenden Kapiteln noch ausführlicher eingegangen werden.
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2. Daoismus und Chan-Buddhismus – »Literaturtheorie« der Tang-Zeit 2.1 Welt und Vorstellung – Wang Changling Die Tang-Zeit ist keine große Epoche literaturtheoretischer Erörterungen. Das hat wohl seinen Grund darin, daß sie, wie gerade vorgestellt, ein goldenes Zeitalter der Dichtung selbst gewesen ist. Sowohl chinesische als auch westliche Entwicklungen, wenn nicht eine innere Logik literarischer Abläufe, legen nahe, daß theoretische Diskussionen und Betrachtungen meist im Zuge der Verarbeitung großer Literatur bzw. in deren Rezeptionsprozeß erfolgen. Die Literaten der Tang-Zeit, so könnte man sagen, waren selbst zu sehr in die Stimmung dichterischer Kreativität vertieft, als daß sie sich viel um deren diskursive Verarbeitung hätten kümmern wollen. So sind von den im folgenden zu behandelnden Theoretikern, wenn sie mit ihren spärlichen Äußerungen zur Literatur überhaupt als solche bezeichnet werden können, immer auch Gedichte überliefert (wie z. B. in der qingzeitlichen Sammlung der Dreihundert Tang-Gedichte). Und doch markiert das Wenige, das wir aus dieser Zeit an Reflexion über die Dichtung haben, einen wichtigen Wendepunkt, nämlich das Eindringen einer buddhistischen Perspektive, oder besser vom Buddhismus aufgeworfener Fragen, Kategorien und Begriffe, in den Literaturdiskurs. Diese buddhistische Färbung wird allerdings nicht so ohne weiteres deutlich, denn einerseits hat sie viel mit dem autochthon chinesischen Daoismus gemein, andrerseits gehen buddhistische Kategorien, wie z.B. die noch zu erörternde Unterteilung in Nord- und Süd-Schule, auf bereits existente Wahrnehmungs- und Einordnungsmuster zurück. Der erste in diesem neuen Kontext zu betrachtende »Theoretiker« ist Wang Changling (698 – ca. 757). Er ist hauptsächlich als Dichter bekannt, insbesondere für seine Grenzland-Lyrik (biansaishi); sieben seiner (nicht nur Grenzland-, sondern auch Boudoir-) Gedichte fanden sogar Eingang in die Dreihundert TangGedichte.18
Buddhistische Begrifflichkeit Mit Wang Changling gewinnt die bereits diskutierte ästhetische Einheit von Objekt und Subjekt, von Außenwelt und Innenwelt des Dichters, eine aus dem Buddhismus stammende neue Begrifflichkeit. Er führte nämlich das Wort bzw. Schriftzeichen jìng in den literarischen Diskurs ein, welches in Ableitung seiner buddhistischen Verwendung auch als »innere Welt« oder »Bewußtseinszustand« verstanden werden kann (die Grundbedeutung, in der das Zeichen auch immer wieder gebraucht 18
S. beispielhaft KLÖPSCH: Der seidene Faden, S. 47, und HERDAL: The Three Hundred T'ang Poems, S. 58 (mit chin. Original)
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DIE TANG-ZEIT
wird, ist »abgegrenztes Gebiet«, »Bereich«, »Sphäre«)19. Speziell im ästhetischen Sinne bedeutet dieser Terminus bei Wang Changling die anschauliche »Vorstellung«, die im menschlichen Bewußtsein als Reaktion auf äußere Impulse – der Sinne, der Gefühle oder der Gedanken – entsteht und die dann in einem Gedicht sprachlich-bildlichen Ausdruck gewinnt. Diese sich im Menschen abspielenden Bewußtseinsvorgänge lassen sich auch analog zum Traum verstehen: Träume steigen ähnlich wie (künstlerische) Vorstellungen als Reaktion unseres gefühlsmäßigen Umgangs mit der Außenwelt im Geist auf, dabei vereinigen sie nicht nur Inneres (Gefühl) und Äußeres (Szenerien), vielmehr sind sie auch wirklich und unwirklich zugleich; schließlich lassen sie sich (gerade in der Moderne) gut zu Kunst »verarbeiten«. Der Terminus jìng als ästhetische Vorstellung wurde am Anfang der chinesischen Moderne von Wang Guowei wieder aufgegriffen und mit den Komposita jìngjie (Vorstellungswelt) und yijìng (etwa: künstlerische Idee20) zum Standardvokabular der heutigen chinesischen Ästhetik. Allerdings muß hier in einer deutschen Darstellung dieser Terminologie vor einer leicht zu entstehenden Konfusion gewarnt werden, denn in der poetologischen Diskussion taucht zeitgleich ein zweiter Begriff auf, der in der Pinyin-Umschrift gleich und in der Übersetzung ähnlich erscheint, welcher aber deutlich von ersterem zu trennen ist: jing (im dritten Ton zu sprechen) als »Szenerie« oder »Landschaft«, die in einem Gedicht zusammen mit »Gefühl« (qing) zu einer Einheit verschmelzen soll. Und eben dies ist die ästhetische »Vorstellung«, die im erstgenannten Sinne als jìng (im vierten Ton und deshalb zur Unterscheidung mit Akzent geschrieben) oder heute auch als jìngjie oder yijìng bezeichnet wird. Im Kontext der Geschichte der chinesischen Literaturtheorie hat diese Entwicklung folgende wichtige Bedeutung: Während es in den früheren theoretischen Schriften, z. B. dem »Großen Vorwort«, lediglich um den Ausdruck von entweder (moralischer) »Gesinnung« (zhi) oder (in Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur«) »Gefühl« (qing) geht, haben wir nun hier – bedingt durch die Vorarbeit des Buddhismus, der sich ja akribisch der Erspürung menschlicher Bewußtseinszustände widmete – einen Schritt ins Bewußtsein hinein, in den Bereich nämlich, in welchem Vorstellungen von der Welt entstehen, um schließlich als Kunst Gestalt anzunehmen. 19
20
Das Schriftzeichen jìng, das hauptsächlich in der chinesischen buddhistischen »Nur-Bewußtseinsschule« (Weishi zong; sanskr.: Yogacara) des tangzeitlichen Indienpilgers Xuanzang für das Sanskrit Wort vishaya benutzt wurde, meint ganz speziell denjenigen Bewußtseinsbereich, »in dem der Geist nach Objekten greift, die seiner eigenen Einbildung entspringen«. CHAN: A Source Book in Chinese Philosophy, S. 372. Eine weitere Diskussion dieser Begrifflichkeit und ihres buddhistisches Hintergrundes findet sich im letzten Kapitel (VI.6) über Wang Guowei. Kubin wählt dafür die Übersetzung »Sinn-Bild«; BRUNHILD STAIGER (Hg.): Das große ChinaLexikon, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2003, S. 34.
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Literaturtheorie« der Tang-Zeit
Bei Wang Changling begegnen wir auch zum ersten Mal einer Aufteilung der chinesischen Literatur, die sich auf Ereignisse und Entwicklungen im tangzeitlichen Chan (Zen)-Buddhismus21 bezieht, nämlich der Trennung in eine – höher bewertete – »Süd-Schule« der direkten Erleuchtung (dun wu) durch den Sechsten Patriarchen Huineng (638–713) gegenüber einer eher methodisch-bemüht und regelkonform verstandenen (und deshalb geringer eingeschätzten) »Nord-Schule« der graduellen Erleuchtung (jian wu). Dieses Unterscheidungsmuster sollte in der späteren chinesischen Ästhetik, insbesondere in der Aufteilung der chinesischen Malerei in eine Literaten- (Süd) und eine Handwerker-Schule (Nord) durch den mingzeitlichen Dong Qichang, eine große Bedeutung erlangen. Von Wang Changling besitzen wir kein kohärentes theoretisches Œuvre. Überliefert ist in China zunächst nur eine dünne Schrift mit dem Titel »Ausdrucksweisen der Dichtung« (Shige), in der allerdings bis auf wenige signifikante Stellen lediglich bestimmte Aspekte der chinesischen Dichtung in Punkten aufgezählt und zusammengefaßt werden. Interessanteres findet sich in einem Werk, welches ein japanischer – und bezeichnenderweise buddhistischer – Mönch namens Kukai (774–835), der zur Tang-Zeit drei Jahre in China weilte, in seinem Buch »Geheimlehre der Dichtkunst im Spiegel der Werke«22 (Bunkyo hifuron; chin.: Wenjing mifulun) aufgezeichnet hat. Diesem Werk, das am Anfang des 20. Jahrhunderts von einem chinesischen Bibliophilen in Japan »wiederentdeckt« wurde, ist inzwischen auch in China viel Aufmerksamkeit zuteil geworden23, da es sich dabei um eine Kompilation verschiedener – zum Teil ansonsten verlorengegangener – poetologischer Texte aus der Tang-Zeit handelt, wozu auch die Werke von Wang Changling und des (später noch zu behandelnden) Mönches Jiaoran gehören – allerdings ohne daß Kukai dies in irgendeiner Weise kenntlich gemacht hätte. Das Buch ist in sechs große Teile gegliedert: Himmel, Erde, Ost, Süd, West, Nord.24
Psychologie des künstlerischen Schaffensprozesses Der Begriff der »Vorstellung« ist im chinesischen literarischen Kontext auch eng verwandt mit dem des »spirituellen Denkens« (shensi); dieses von Liu Xie benutzte Wort-Bild wurde in der Übersetzung bereits als Imagination angenähert. Und wie auch bei Liu Xie betrifft die bei Wang Changling auftretende und sich um das 21 22
23
24
Ausführlicher wird auf den Chan-Buddhismus in Kap. IV.6 eingegangen. So die interpretierende Übersetzung des Titels von SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 245. Eine gut annotierte chinesische Ausgabe von Kukais Bunkyo hifuron (chin.: Wenjing mifulun) ist: Hongfa Dashi [jap.: Kōbō Daishi], WANG LIQI (Komp.): Wenjing mifulun jiaozhu, Peking: Xinhua shuju 1983. Auszüge aus Wang Changlings »Ausdrucksweisen der Dichtung« (die in dem in China überlieferten Werk fehlen) finden sich hauptsächlich im »Süd«-Teil, und zwar unter dem Titel »Über Gestaltung und Ideen« (Lun wen yi). S. die wichtige Studie von RICHARD W. BODMAN: »Poetics and Prosody in Early Mediaeval China: A Study and Translation of Kukai’s Bunkyo Hifuron«, Ph.D. thesis, Cornell 1978, und von JOSEPH J. LEE: Wang Ch'ang-ling, Boston: Twayne 1982.
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DIE TANG-ZEIT
menschliche Bewußtsein rankende Begrifflichkeit in erster Linie die Psychologie des Schaffensprozesses; diese Thematik nimmt in den im Bunkyo hifuron überlieferten Teilen breiten Raum ein. Man achte bei den folgenden Auszügen auf die feinen Unterschiede zwischen den Begriffen Idee (yi) und Vorstellung (jìng). Beim Schreiben kommt es einzig darauf an, viele Ideen (yi) zu haben. Man lasse sie überall eindringen; dabei mühe man seinen Geist ab und strenge seinen Verstand an. Man muß sich dabei selbst vergessen (wang shen) und nicht einengen lassen. Wenn dann keine Gedanken (si) kommen, lasse man seinen Gefühlen freien Lauf und mache man es sich leicht [ums Herz], so daß Vorstellungen (jìng) entstehen können. Danach, erhellt von diesen Vorstellungen, kommen Gedanken auf. Wenn sie aufkommen, soll man sie niederschreiben; doch wenn Vorstellungen und Ideen nicht [von selbst] kommen, dann läßt sich nichts machen. Hat man eine Idee für ein Gedicht, so konzentriere man seinen Geist (xin); zuerst greife man mit dem Auge die Dinge an, dann greife man sie mit dem Geist an und dringe tief in die [Welt der] Vorstellungen (jìng) ein. Es ist so, wie wenn man auf den Gipfel eines hohen Berges steigt: Blickt man hinab, so sieht man die zehntausend Dinge, als lägen sie in der Hand. Sieht man die Dinge auf diese Weise, so sieht man sie im Geiste, und das läßt sich dann [für das Dichten] nutzen. [...] Die Berge und Wälder sowie Sonne und Mond bilden die wahre Szenerie (jing), die im Lied besungen wird. Es ist, wie wenn man Sonne und Mond im Wasser gespiegelt sieht: Die im literarischen Werk beschriebene Szenerie hat in der äußeren Wirklichkeit (wu se) ihren Ursprung.25
Obgleich Idee und Vorstellung bisweilen als austauschbar erscheinen, sind Ideen eher als Leitideen zu verstehen, welche den Geist in eine bestimmte Richtung lenken können, woraus dann Vorstellungen und schließlich »künstlerische Ideen« (yijìng) entstehen, die schließlich den ästhetischen Kern von Dichtung bilden. Wang Changlings Mahnungen zu Gelassenheit und behutsamem Umgang mit den geistigen (und körperlichen) Energien, die in diesem Zitat anklingen, sind vergleichbar zu Liu Xies Ausführungen in dessen Kapitel über die »Pflege der Vitalkraft« (yang qi). Anders als Lu Ji und auch Liu Xie, die das Gefühl in den Vordergrund stellten, scheint für Wang Changling neben der Vorstellung die Idee (yi) die wichtigste Instanz im Schaffensprozeß zu sein. Damit nimmt er auch weitere Entwicklungen, die wir später von der Song- bis zur Qing-Zeit beobachten werden, voraus: Diejenigen, die Literatur verfassen, müssen immer Ideen erzeugen. Dabei gilt es, den Geist (xin) darauf zu richten, was jenseits (wai) des Himmelsmeeres liegt, und ein Denken vor aller Schöpfung entstehen zu lassen.26 25
26
Wenjing mifulun, S. 285; vgl. BODMAN: »Poetics and Prosody«, S. 371f., LEE: Wang Ch'ang-ling, S. 56. Wenjing mifulun, S. 289; vgl. BODMAN: »Poetics and Prosody«, S. 378.
168
Literaturtheorie« der Tang-Zeit
Das Geheimnis guter Dichtung ist demnach kein direkter Ausdruck von Ideen – oder Gefühlen –, sondern die subtile Zusammenführung von diesen über eine anschauliche Szenerie, die dann den ästhetischen Reiz bzw. den »Geschmack« (wei) erzeugt: In der Dichtung schätzt man es, wenn die Idee vollständig in den Titel eingeschmolzen ist. Man soll allerdings von einer Idee immer im Zusammenhang mit der wahrgenommenen Szenerie sprechen. Wenn man Ideen direkt formuliert, dann fehlt dem Gedicht Subtilität und Geschmack (wei). Wenn zu viele Worte über landschaftliche Szenen gemacht werden und diese nicht eng an eine Idee angebunden sind, dann mag das Gesagte zwar richtig sein, ist aber ebenfalls ohne Geschmack. Wenn abendliche oder morgendliche Szenen oder die Stimmungen der vier Jahreszeiten mit Ideen zusammengeführt werden, wenn man dies in eine Ordnung bringt und [von der Szenerie] zusammen mit Ideen spricht, dann ist das Ergebnis wunderbar. [...] Die Atmosphäre, sei es im Frühling, Sommer, Herbst und Winter, läßt der Jahreszeit entsprechend immer Ideen aufkommen. Will man diese Ideen und ihre Jahreszeiten nutzen, dann muß man seine geistigen Kräfte (shen) zur Ruhe kommen und Sorgen verstummen lassen. Wenn dann das Auge die Dinge erblickt, geht [das Bild davon] in den Geist ein, und wenn der Geist sich [mit den Dingen] verbindet, dann läßt sich das in Worte fassen. Spricht man von den [landschaftlichen] Formen, dann müssen diese der Szenerie gleichen; die Worte müssen dergestalt sein, daß alles innerhalb des Himmelsmeeres sich auf einen Quadratzoll verdichten läßt.27
Die Quintessenz dieser Passagen ist der für den künstlerischen Schaffensprozeß zentrale Gedanke der Zusammenführung von Idee mit Szenerie, so daß sich daraus ästhetische Vorstellungen herauskristallisieren können. Wichtig ist die rechte Mischung und Balance von beiden Elementen, wobei Szenerien in der Regel tagesund jahreszeitlich eingefärbt sein sollten. Der Vorstellungskraft muß möglichst viel Freiraum gegeben werden: Wang Changlings hyperbolische Bilder sprechen von »jenseits des Himmelsmeeres« und »vor aller Schöpfung« und erinnern damit an vergleichbare Passagen sowohl in Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur« als auch, wie bereits angedeutet, in Liu Xies Kapitel über das »spirituelle Denken«. Aus dieser möglichst weiten Vorstellungswelt muß es dann im eigentlichen dichterischen Schaffensprozeß zu einer – im wahrsten Sinne des Wortes – Verdichtung kommen: zu einer Zusammenfassung von »einem Quadratzoll« an Dichtung, in der sich die materielle Welt spiegelt. In den Wendungen »jenseits des Himmelsmeeres« etc. zeichnen sich allerdings auch bereits Formulierungen ab, die später in der Tang-Zeit durch Sikong Tu noch eine nachhaltigere Wirkung entfalten sollten, nämlich der Gedanke des »Jenseitigen«. Das soll heißen, die künstlerische Vorstellung und der »Quadratzoll« sprach27
Wenjing mifulun, S. 305; vgl. BODMAN: »Poetics and Prosody«, S. 393–394.
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DIE TANG-ZEIT
licher Verdichtung entstehen zwar auf der Basis der Anschauung bzw. aus dem Bild (xiang) der Natur, vermitteln jedoch – in der Vereinigung von Innen und Außen – einen ästhetischen Reiz, der »über das Bild hinaus« (xiang wai)28 geht. In zwei Passagen des ursprünglichen (bzw. in China überlieferten) Shige von Wang Changling finden wir die wesentlichen Aspekte noch einmal in Punktform zusammengefaßt. Die erste betrifft den Begriff der »Vorstellung«: Dichtung hat drei Vorstellungen (jìng). Die erste ist die »Vorstellung von Dingen« (wujìng): Willst du ein Landschaftsgedicht schreiben, dann mußt du zunächst die Vorstellung von Bächen und Felsen sowie von Wolken und Gipfeln sich entfalten lassen, und zwar das Schönste und Eleganteste. Vermittels deiner geistigen Kräfte (shen) im Herzen begebe dich in diese Vorstellung hinein, betrachte diese Vorstellung im Herzen, als würde sie in deiner Hand funkeln. Danach gebrauche deine Gedanken. Hast du die Bilder in deiner Vorstellung erkannt, dann gelingt dir auch eine wirklichkeitsgetreue Darstellung (xingsi). An zweiter Stelle kommt die »Vorstellung von Gefühlen« (qingjìng): Freude und Melancholie, all dies laß sich zu Ideen entfalten und sich in dir niederlassen. Danach mache Gebrauch von deinen Gedanken, so kannst du [in deiner Dichtung] Tiefe (shen) der Gefühlswelt erreichen. An dritter Stelle kommt die »Vorstellung von Ideen« (yijìng): Laß die Ideen sich ebenfalls selbst entfalten und sie sich dann mit Gedanken in deinem Herzen verbinden; so wirst du ihre Echtheit (zhen) erlangen.29
In dieser Passage haben wir den locus classicus für die Formulierung der späteren yijìng-»Theorie«. Allerdings wird hier der »Vorstellung von Dingen« weit mehr Raum gegeben; in der Verbindung von Ideen mit Szenen ist sie nämlich die eigentliche Domäne der Dichtung. Die beiden anderen »Vorstellungen« werden wahrscheinlich aus gutem Grund knapper dargestellt, denn es ist wohl ungleich schwieriger, Gefühle oder Ideen als bildliche Vorstellungen im Geiste zu entfalten, geschweige denn, diese in der Dichtung zu realisieren. In obigem Zitat wurde uns auch für jede der drei Vorstellungen eine Zielvorgabe dargeboten. Im ersten Fall einer »Vorstellung von den Dingen« sollte eine »wirklichkeitsnahe Darstellung« (xingsi) erreicht werden. Dies ist eine Wendung, die in der Maltheorie eine wichtige Rolle spielt. Im zweiten Fall der »Vorstellung von Gefühlen« ging es um »Tiefe« (shen). Zur dritten »Vorstellung von Ideen« heißt das Ziel: »Echtheit« (zhen). In diesem Wort, das im daoistischen Kontext erheblich aufgeladen ist, steckt auch eine gewisse philosophische Überhöhung, die der in der chinesischen Literatur- und Kunstbetrachtung angelegten Neigung zu Mystifizierung entspricht; und dies ist vielleicht ein Grund dafür, daß dieser so 28
29
Zum Hintergrund der Formel »jenseits der Bilder« (xiang wai) s. auch DEBON: Grundbegriffe der chinesischen Schrifttheorie, S. 68–72. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 88f; Wenjing mifulun, S. 285, Fußnote 2; vgl. BODMAN: »Poetics and Prosody«, S. 375 (nur zu den »Vorstellungen von Dingen«).
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Literaturtheorie« der Tang-Zeit
schillernde und deshalb auch nicht einfach zu greifende Begriff yijìng (oder das damit verwandte jìngjie – Vorstellungswelt) in der modernen Diskussion eine solche Popularität erlangt hat. In der zweiten Passage geht es um verschiedene Anleitungen zur Dichtung, wobei in jedem Fall die Arbeit am Gedanken (si) im Vordergrund steht: Dichtung kennt drei Ausdrucksweisen (ge). Die erste lautet: Gedanken entstehen lassen (sheng si). Wenn du lange deine Denkkräfte ohne Erfolg genutzt hast, Ideen und Bilder [von der Außenwelt] nicht zusammenzubringen vermagst, wenn deine Kraft am Ende und dein Wissen erschöpft ist, dann entspanne deine geistigen Kräfte und dein Denken. Laß in deinem Herzen ganz natürlich Vorstellungen (jìng) aufleuchten, dann werden [die Gedanken] von selbst entstehen. Die zweite lautet: Gedanken nachempfinden (gan si): Suche den Geschmack von vergangenen Worten, und lese die Stücke der Alten, dann werden im Nachempfinden Gedanken entstehen. Die dritte lautet: Gedanken ergreifen (qu si): Suche die Bilder (xiang) [der Welt] ab; dringe mit deinem Herzen in die Vorstellung (jìng) davon ein; komme zu einem intuitiven Erfassen (shenhui) der Dinge, so wird dir [das Ergreifen der Gedanken] mit deinem Herzen gelingen.30
Anhand der ersten Ausdrucksweise wird hier noch einmal unterstrichen, daß sich gute Kunst nicht zwingen läßt: Gelegenheit und Muße müssen gegeben sein, so daß sich Gedanken von selbst entfalten können. Auch haben wir hier Anklänge an vertraute Topoi, nämlich das »Von-selbst-so-sein« (ziran) bzw. die Spontaneität als Kerngedanken des philosophischen Daoismus. Die zweite Ausdrucksweise, »Gedanken nachzuempfinden«, betrifft hingegen eine andere Neigung in der chinesischen Literatur: sich durch die Lektüre der Alten anregen zu lassen. Die letzte Ausdrucksweise, »Gedanken zu ergreifen«, soll schließlich zu einem »intuitiven Erfassen« (shenhui) der Dinge führen, eine Formulierung, der wir später auch bei Jiaoran und anderen wieder begegnen werden. Was durch die Auswahl der hier übersetzten Passagen von Wang Changling ebenfalls deutlich wird, ist die Tendenz zu praktischen Ratschlägen für das Dichten. Überhaupt ist Kukais Zusammenschnitt von tangzeitlichen poetologischen Äußerungen im Bunkyo hifuron als Kompendium zu dieser Thematik zu betrachten. Es ging ihm demnach hauptsächlich um ein praktisch orientiertes poetologisches Wissen, das er von China nach Japan mitzubringen gedachte.
2.2 Ausgleich und Ordnung – Jiaoran Der Chan-Mönch Jiaoran (ca. 730 – ca. 799, eigentlicher Name Xie Zhou) war ein Nachkömmling in der 10. Generation des berühmten jinzeitlichen Naturdichters Xie Lingyun. Nicht überraschend angesichts dieses illustren Vorfahren zählt er zu 30
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 89; Wenjing mifulun, S. 285, Fußnote. 3.
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den profiliertesten Dichtern der frühen Tang-Mitte. Stephen Owen vermerkt zu Jiaoran, daß seine Gedichte abwechselungsreich seien und er als erster viele Periodenstile beherrscht habe31. Und da diese Fähigkeit, frei zwischen Periodenstilen und den Stilen einzelner Dichter zu wählen, (nach Owen32) zum wichtigsten Charakteristikum der späteren chinesischen Dichtung werden sollte, wäre Jiaoran sogar als eine zentrale Figur in der chinesischen Lyrik zu bewerten.33 Jiaoran hatte bereits in seinen Zwanzigern die Mönchsgelübde abgelegt, und seine überlieferten Gedichte zeugen deutlich vom Chan-Geist34, allerdings nicht in der weltabgewandten Weise, wie wir sie beispielhaft von dem ebenfalls tangzeitlichen Chan-Einsiedler (und der modernen Kultfigur) Hanshan35 her kennen, sondern eher dahingehend, daß in ihnen eine Spannung zwischen asketischem Ideal und Bemühen um weltlichen Kontakt widergespiegelt und kreativ fruchtbar gemacht wird.36 Diese Ambivalenz zwischen Askese und weltlichem Engagement erinnert an Tao Yuanming. Wie dieser behielt auch Jiaoran Kontakt mit einigen illustren Zeitgenossen, hatte sich gleichwohl »im Herzen entfernt«37, d.h., sich innerlich von weltlichen Ambitionen gelöst. In Jiaorans Biographie, geschrieben von dem songzeitlichen Literaten Zan Ning, findet sich eine bezeichnende Stelle darüber, wie er in seiner späteren Lebenshälfte (um 780) beschließt (und dies im Zwiegespräch mit Pinsel und Tuschestein), sogar das Schreiben von Gedichten – nämlich als eitle Beschäftigung – gänzlich aufzugeben:
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36 37
OWEN: The Great Age of Chinese Poetry, S. 287–298. Ebd., S. 167. In der Anthologie der Dreihundert Tang-Gedichte ist allerdings nur ein einziges seiner Gedichte (und zwar unter den »Fünf-Wort-Regelgedichten«) überliefert, in welchem wir einem beliebten Topos der Tang-Lyrik begegnen: dem Bemühen, einen Einsiedler aufzusuchen, das jedoch vergeblich bleibt, da dieser – er ist meist irgendwo in den Bergen am Kräuter suchen – sich nicht auffinden läßt. S. die Übersetzungen von KLÖPSCH: Der seidene Faden, S. 219, und HERDAN: The Three Hundred T'ang Poems, S. 304. Übersetzt in: OWEN: The Great Age of Chinese Poetry, S. 287ff. Zu Hanshans Gedichten s. STEPHAN SCHUHMACHER (Übers.): Han Shan. 150 Gedichte vom kalten Berg, Köln: Diederichs 1954; GARY SNYDER: »Cold Mountain Poems«, in: CYRIL BIRCH (Hg.): Anthology of Chinese Literature, Harmondsworth: Penguin 1965, S. 211–220; BURTON WATSON: Cold Mountain. 100 Poems by the T'ang Poet Han-shan, New York, Columbia UP 1962. Jiaoran verkehrte u.a. mit dem Kalligraphen Yen Zhenqing und dem Dichter Wei Yingwu. Aus dem bekannten Gedicht »Beim Wein geschrieben (5)« von Tao Yuanming: »Mitten im Treiben der Menschen baute ich mein Haus, / Doch ertönt hier kein Lärm von Wagen und Pferd. / Wie kann dies sein, so magst du fragen – / Hat das Herz sich entfernt, folgt der Ort ihm nach. / Am Zaun im Osten pflücke ich Chrysanthemen / Und blicke in Muße auf den Gipfel im Süden. / Rein ist die Bergluft bei Sonnenuntergang; / Die Vögel kehren heim in Scharen. / In all dem verbirgt sich soviel Sinn – / Will ich’s erklären, entgleiten mir die Worte. « TAO: Der Pfirsichblütenquell, S. 125f.
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Literaturtheorie« der Tang-Zeit [Er] blickte auf Pinsel und Tuschestein und sagte: »Ich bin der Versklavung durch euch leid, und ihr seid wohl meiner Dummheit müde. Während all dieser Jahre hatte ich nicht den geringsten Erfolg [als Dichter]. Darüber hinaus seid ihr etwas Äußerliches – warum könnt ihr mich nur so binden? Ob ihr nun verweilt oder geht, ich werde ›ohne Geist‹ (wu xin) und ›ohne Ich‹ (wu wo) bleiben. Ich will von euch loslassen, so daß jedes von euch zu seiner ursprünglichen Natur zurückkehren kann. Besitz ist nichts, was ich anstrebe. Ist dies nicht Glück zu nennen?«38
Der Überlieferung (und überlieferten Gedichten aus der Zeit nach dieser Episode) zufolge, war dieser Entschluß nicht so unumstößlich, wie er hier erscheint – die Verlockungen der säkularen Welt müssen auch schon für die Mönche der TangZeit beträchtlich gewesen sein –, und vielleicht war ja auch der Gedanke, mit dem Schreiben aufzuhören, wie der doch etwas scherzhafte Ton des Gesprächs mit seinen Utensilien nahe legt, nicht gar so ernst gemeint. Doch wie immer man seinen Rang als Dichter einschätzt, Jiaoran hat sich auch als Kritiker einen Namen gemacht. Sein in unterschiedlichen Fassungen überliefertes theoretisches Werk Shishi (Formen der Dichtung39) gilt neben Wang Changlings Ausführungen (Teile von Jiaorans Werk sind ebenfalls im Bunkyo hifuron überliefert40) als frühes Zeugnis einer buddhistisch orientierten Ästhetik. Ebenso wie Wang Changlings Shige zeigt Jiaorans Shishi eine Tendenz zum Fragmentarischen. So fehlt es dem Werk an Systematik und Kohärenz; stattdessen finden wir schematische Aufzählungen wie, die Dichtung habe »vier ›nicht‹«, »vier Tiefen« oder »sieben Höchstes« etc. Da diese Punkte immer in Parallelführung aufgelistet werden, sind sie rhetorisch effektiv, allerdings inhaltlich und theoretisch nicht immer sehr ergiebig. Jedoch müssen wir hier wiederum den unterschiedlichen Horizont der Tang-Zeit mit berücksichtigen: Äußerungen über Dichtung mußten letztendlich auch ein gewisses Maß an rhetorischer Verdichtung aufweisen, um überhaupt ernst genommen zu werden – eine diskursiv-theoretische Erörterung (wie z.B. in Aristoteles »Poetik«) wäre der lyrischen Kunst des tangzeitlichen China gegenüber höchst unpassend gewesen. 38
39
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Nach THOMAS P. NIELSON: »The T'ang Poet Chiao-jan«, Occasional Paper No. 3, Center for Asian Studies, Arizona State University, Tempe 1972, S. 18, 58 (mit Modifikationen); ZAN NING: »Tang Huzhou Zhushan Jiaoran zhuan«, Gaoseng zhuan sanji, j. 29 (Nachwort des Autors datiert 988). Überliefert sind eine Fassung in einem und eine in fünf juan. Letztere enthält drei Teile: ein Shiyi (Bedeutung der Dichtung), ein Pinglun oder Shiping (Kritische Erörterung der Dichtung) und ein Shishi (Formen der Dichtung). Wesentliche Teile des Shiyi sind im Bunkyo Hifuron enthalten. Die Teile des Pinglun scheinen vom Gehalt her die interessantesten zu sein. Beide Fassungen sind in der hier zitierten Ausgabe von XU QINGYUN: Jiaoran shishi jijiao xinbian, Taibei: Wenshizhe chubanshe 1984, vereint. Einige davon finden sich auch in Guos Anthologie Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 78ff. Vgl. auch die Übersetzungen in BODMAN: »Poetics and Prosody«, S. 404–424.
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Maß und Mitte Inhaltlich und strukturell auffallend bei Jiaorans Aufzählungen ist die Tendenz zum Ausgleich, zum Wahren des Gleichgewichts zwischen zwei Polen. Meist geht es dabei um das Halten einer Mitte zwischen geübtem und spontanem sprachlichen Ausdruck.41 Dabei entspricht ein exzessives Regelwerk – wie im Regelgedicht – nicht Jiaorans Idealvorstellungen: »Diejenigen, die Regelgedichte schreiben, sind eingeengt und kennen zu viele Verbote. Auf diese Weise verlieren sie Natürlichkeit (ziran).«42 In anderen und immer wieder streng parallel geführten Passagen aus dem Shishi wird dieses Bemühen um Ausgewogenheit noch deutlicher: »Dichtung hat vier ›nicht‹«: Die Lebensenergie (qi) sei hoch, doch nicht heftig; ist sie zu heftig, dann geht der Reiz (fengliu) verloren. Die Kraft (li) sei stark, doch nicht explizit; ist sie zu explizit, so führt dies zu Spuren an der Axt. Gefühl (qing) sei in Fülle gegenwärtig, doch nicht undeutlich; ist es zu undeutlich, dann wirkt dies schwerfällig. Talent (cai) sei genügend vorhanden, doch [soll das Geschriebene] nicht lose (shu) sein; ist es zu lose, so verliert es an innerer Kohärenz.43 »Dichtung hat ein siebenfaches Höchstes (zhi)«: In höchstem Maße gewagt, und doch nicht überspannt; in höchstem Maße ungewöhnlich, und doch nicht abstrus; in höchstem Maße schön, und doch natürlich; in höchstem Maße bemüht, und doch ohne Spuren; in höchstem Maße unmittelbar-nah, und doch in der Idee weit; in höchstem Maße frei, und doch nicht unrealistisch; in höchstem Maße schwierig, und doch einfach in der Darbietung.44
Diese Tendenz zum Wahren der Mitte zwischen zwei Möglichkeiten entspricht natürlich ganz dem chinesischen Yin-Yang-Denken, das sich in der Beliebtheit des Parallelismus – nicht nur in der Dichtung, sondern auch in den theoretischen Äußerungen selbst – zeigt. Die nächste Passage läßt deutlich werden, daß das Prinzip des Ausgleichs als »Mittelweg« nicht nur die dichterische Gestaltung betrifft, sondern sich auch – z.B. in der Balance zwischen angeeignetem Wissen und angeborenem Talent – auf die Persönlichkeit des Dichters bezieht.45 41 42
43 44
45
NIELSEN: »The T'ang Poet Chiao-jan«, S. 21. XU: Jiaoran shishi, S. 3; Wenjing mifulun, S. 317. Vgl. BODMAN: »Poetics and Prosody«, S. 409. XU: Jiaoran shishi, S. 40–41; GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 74. XU: Jiaoran shishi, S. 43; GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 75 (in manchen Ausgaben ist nur von 6 Höchsten die Rede; es fehlt das letzte in der oben übersetzten Reihenfolge). Diese Polarität von Talent und Wissen sollte in der Song-Zeit, so bei Yan Yu, noch weitere Bedeutung erlangen. S. RICHARD JOHN LYNN: »The Talent Learning Polarity: Yan Yu and the Later Tradition«, CLEAR, Vol. 5, Nr. 2 (July 1983), S. 157–184.
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Literaturtheorie« der Tang-Zeit Die [Fähigkeit eines Menschen zur] Literatur hängt mit seiner »ursprünglichen Natur« (benxing) zusammen. Hat man großes Wissen, jedoch nur ein bescheidenes Talent, so mag man alles wohlgeordnet haben, doch wird das Geschriebene verstopft wirken. Hat man hingegen viel Talent, doch wenig Wissen, mag man zwar schöne Sätze schreiben können, doch fehlen diesen Geschmack. So weiß man, daß, wenn wir dem Gefühl zu viel und der Sprache zu wenig Beachtung schenken, die Sprache roh und das Gefühl undeutlich wirkt. Betont man jedoch zu sehr die Sprache auf Kosten des Gefühls, dann ist die gefühlsmäßige Wirkung mangelhaft und die Sprache flach. Geschickte Unbeholfenheit und klare Trübheit – darin sieht man etwas von dem, was die Weisen anstrebten. Doch um dies zu erklären, bräuchte man jemanden von höchstem Verständnis (zhi jie). Es ist wie bei der Prüfung der wahren Natur der Dinge in der [buddhistischen] »Schule der Leere« (kong men), wo man die Lehre des »Mittelwegs« (zhong dao) kennt.46 Was ist das? Manchmal mag man eine bestimmte Meinung haben, doch ist die Sprache zu schwach; oder man besitzt Kraft, doch sind die Ideen zu dünn; oder man ist korrekt, doch zu einfach; gradheraus, doch zu derb. [Das Treffende] läßt sich mit dem Geist verstehen (shenhui), doch nicht mit Worten fassen; und das ist der sogenannte »Mittelweg« der Dichtung.47
In der paradoxen Formulierung einer »geschickten Unbeholfenheit und klaren Trübheit« als Ideal aller Dichtung kommt die Inklusivität dieses Sowohl-als-auchAnsatzes, der hier als buddhistischer »Mittelweg« gesehen wird, am besten zum Ausdruck. Weiterhin ist (wie zuvor bei Wang Changling) die Wendung »intuitives Erfassen« (shenhui) bemerkenswert, allerdings soll sie in späteren ästhetischen Schriften – dann als geistige Kommunikation mit der Natur aus der Einheit von Subjekt und Objektwelt heraus48 – erst richtig zum Tragen kommen.
Spurenlosigkeit Für den chan-buddhistischen Mönch Jiaoran ist der aus dem Buddhismus stammende Begriff »Vorstellung« (jìng) nicht so wichtig wie für Wang Changling. Das mag damit zusammenhängen, daß zu Jiaorans Zeit dieser Begriff bereits aus dem buddhistischen Kontext herausgelöst war und deshalb als rein literarischer Terminus technicus seinen bedeutungsvollen Bezug verloren hatte49. So taucht er 46
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Die Lehre des »Mittelwegs« – die chinesischen Variante der Madhyamika-Schule – sucht in der Frage nach der Wirklichkeit der dinglichen Welt die Mitte zu halten zwischen Sein und Nichtsein, daß ihr nämlich weder Sein noch Nichtsein zukommt. S. FUNG YU-LAN: A History of Chinese Philosophy (Übers. Derk Bodde), Princeton: Princeton UP 1983 (repr.), II, S. 293ff. XU: Jiaoran shishi, S. 17; Wenjing mifulun, S. 327; diese Passage ist aus dem Pinglun-Teil. Vgl. BODMAN: »Poetics and Prosody«, S. 419f. SUSAN BUSH: The Chinese Literati on Painting. Su Shih (1037–1101) to Tung Ch'i-ch'ang (1555–1636), Cambridge, Mass.: Harvard UP 1971, S. 49f. MOU SHIJUN: Zhongguo gudai wenlun jingcui tan, Jinan: Qilu shushe 1992, S. 200ff.
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in seinem Werk nur wenige Male auf, z.B. in der folgenden Passage, und zwar im Kontext des Bemühens, »Vorstellungen zu bekommen« (qu jìng). In diesem Versuch, Vorstellungen zu bekommen, geht es einerseits darum, sich gedanklich und sprachlich auf schwierigste Gebiete einzulassen, andrerseits in der dichterischen Gestaltung dieser Vorstellungswelten keine Spuren der Schwierigkeiten zurückzulassen. Dies sind Fähigkeiten, die bereits in der Parabel von Koch Ding im Zhuangzi anklangen. In folgender Textstelle heißt es dazu, daß ein derartiges Werk den Eindruck hinterließe, als habe ein Gott dem Dichter geholfen (shen zu). An anderer Stelle, so in dem oben zitierten Text sowie in einem anderen weiter unten, spricht Jiaoran metaphorisch davon, daß man »keine Spuren an der Axt« erblicken dürfe. Ähnliche Formulierungen, die einerseits auf eine gleichsam unergründliche geistige Kraft (shen), andrerseits auf höchste, jedoch spurenlose Kunstfertigkeit hindeuten, sollten die spätere Literaturtheorie der Song-Zeit weiter bestimmen. Man hört die Meinung, Dichtung solle nicht ausgeschmückt sein, vielmehr solle sie sich in unschöner Unbehauenheit darbieten. Wenn nur ihr Stil korrekt sei und ihre Natürlichkeit vollkommen, so würde derartige Dichtung bereits in eine höhere Klasse gehören. Ich bin jedoch nicht dieser Meinung [...]. Auch hört man, man solle [beim Dichten] die Gedanken nicht übermäßig anstrengen; tue man dies, so verlöre man Natürlichkeit. Dies trifft jedoch auch nicht zu. Wenn man nicht in die Höhle des Tigers eindringt, wie kann man dann den Tiger fangen? Wenn man Vorstellungen bekommen will (qu jìng), so muß man sich auf das Schwierigste und Gewagteste einlassen, dann erst bekommt man besondere Zeilen vor Augen. Wenn dann das Stück fertig ist und man es von seiner inhärenten Kraft her betrachtet, wenn es dann ganz unbemüht erscheint, als hätte man es ohne Gedankenanstrengung hinbekommen, so ist das ein Zeichen von höchster Klasse. Manchmal sind die geistigen Kräfte aktiv trotz ruhiger mentaler Verfassung, dann kommen hervorragende Zeilen nach Belieben hervor, ohne daß man sie zurückhalten kann. Dies ist so wunderbar, als hätte man die Hilfe eines Gottes (shen zu). Doch wenn einem dies nicht in dieser Weise gelingt, muß man dann nicht zuerst die Gedankenkräfte sammeln und anstrengen, um zu einer geistigen Schau zu gelangen?50
Ideen jenseits der Sprache Wenn auch »Vorstellung« nicht zu Jiaorans bevorzugten Wörtern zählte, so doch der damit gepaarte Begriff der »Idee« bzw. »Bedeutung« oder »Absicht« (yi). Damit ist der gedankliche Kern eines Gedichtes gemeint, der sich allerdings nicht eindeutig fassen läßt; vielmehr soll die Idee/Bedeutung – über die Direktheit der Sprache hinaus – andeutungsreich in die Ferne weisen. Folgende zwei Textstellen behandeln dieses Thema ausführlicher, insbesondere auch das Verhältnis Sprache zu Idee/Bedeutung: 50
XU: Jiaoran shishi, S. 22; GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 76f.
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Literaturtheorie« der Tang-Zeit Die Alten kannten in ihren Gedichten Kritik und Andeutung (feng xing) als Hauptrichtung. Diese waren geradheraus, doch nicht gewöhnlich, schön, doch nicht schwach. Ihr Stil war hoch und ihre Worte warm, ihre Sprache deutlichnah, doch ihre Ideen fern; die Gefühle trieben gleichsam auf der Sprache, sich äußernd, wenn sie auf ein Objekt stießen, ohne es zwingen zu wollen. Deshalb waren [ihre Gefühle] eins mit ihrer Sprache und kamen ganz natürlich (ziran) hervor.51 Man hört die Meinung, der Grund dafür, daß die Heutigen nicht die [Fähigkeit der] Alten erreichten, läge in dem Übel des [exzessiven] Gebrauchs von Parallelführung. Ich sage aber, das stimmt nicht. [...] Die Alten setzten die Sprache an die letzte Stelle und Ideen an die erste. Sie schufen Sprache nach ihren Ideen, anstatt daß sie versuchten, mit Hilfe der Sprache Ideen hervorzubringen. So schrieben sie, wie es ihnen gerade paßte, mal parallel, mal frei. Wenn man es zu zwingen versucht, so sieht man nachher Spuren der Axt.52
Das Verhältnis zwischen Sprache und Idee/Bedeutung spielt bekanntlich in der chinesischen Ästhetik seit Zhuangzis Vergleich von Fischen mit Ideen und Fischreusen mit der Sprache eine Rolle. Der Sinn dieses Vergleichs ist, daß es darauf ankommt, durch Sprache Ideen zu vermitteln, die über die eigentliche sprachliche bzw. buchstäbliche Bedeutung hinausweisen. In der Literatur, speziell in der Dichtung, ist dies bereits der Fall, wenn wir eine »doppelte Bedeutung« (liangchong yi) haben, nämlich in einer wörtlichen und übertragenen Lesart. Diese Thematik wird auch von Jiaoran behandelt: Doppelte Bedeutung ist bereits etwas Höheres, das auf einen Bereich jenseits des Geschriebenen zielt (wen wai zhi zhi). Wenn man auf einen Könner trifft wie z. B. Kangle Gong (Xie Lingyun), wenn man dessen Werke betrachtet und prüft, dann sieht man nur Gefühl und liest keine Schriftzeichen mehr. Das ist das Höchste des Wegs der Dichtung. Sich auf diesen Weg zu begeben heißt, das Konfuzianische zu beachten, nämlich die Sechs Klassiker an die erste Stelle zu setzen, das Daoistische zu schätzen, nämlich sich in dem »Tor, aus dem alle Wunder hervortreten«53, niederzulassen und [sein Wesen] durch den Buddhismus zu verfeinern, nämlich völlig zu den Geheimnissen des »Königs der Leere« (Buddha) vorzudringen.54
Interessant sind in der gerade zitierten Passage zwei Aspekte: Erstens die gegenseitige ästhetische Ergänzung der drei Lehren, Konfuzianismus, Daoismus und 51 52
53 54
XU: Jiaoran shishi, S. 1; Wenjing mifulun, S. 311. XU: Jiaoran shishi, S. 15–16; Wenjing mifulun, S. 325. Vgl. BODMAN: »Poetics and Prosody«, S. 415f. Anspielung auf das erste Kapitel des Daodejing. XU: Jiaoran shishi, S. 23; GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 77.
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Buddhismus. Dies ist gerade wegen Jiaorans Engagement als Chan-Mönch bemerkenswert und deutet darauf hin, daß die Inklusivität der drei Denkschulen für die chinesische intellektuelle Elite – trotz zeitweiligem Engagement in der einen oder anderen Richtung (nicht nur als Mönch, sondern auch als konfuzianischer Literatenbeamter) – ein wichtiges Merkmal ihrer Lebenswelt bildete. Zweitens ist in der obigen Passage die Formulierung »jenseits des Geschriebenen« bedeutsam. Dies betrifft nämlich den gerade angesprochenen Verweischarakter des sprachlichen Ausdrucks: Poetisch verdichtete Sprache läßt Dinge und Vorstellungswelten erahnen, die »jenseits« des geschriebenen Wortes und »jenseits« der benutzten Bilder und Szenen aus der Objektwelt liegen. Ähnliche Formulierungen sind uns bereits bei Liu Xie und Zhong Rong begegnet.55 Im Grunde lassen sich diese poetologischen Überlegungen allerdings auf daoistische Sprachskepsis zurückführen. Die »jenseits«-Formel ist auch Kern der folgenden Textstelle; darüber hinaus wird wiederum betont, daß ein dichterisches Kunstwerk zwar schwierig zustande zu bringen ist, daß es jedoch als Endprodukt keine Spuren der Schwierigkeit offenbaren dürfe: Man sagt, beim Dichten soll man die Gedanken nicht übermäßig anstrengen, denn dies ginge auf Kosten natürlicher Einfachheit (tianzhen). Dies ist jedoch nicht so. Man muß in der Mitte von Schwierigkeiten beharrlich nachdenken, jenseits der Bilder (xiang wai) das Besondere suchen, fliegend-bewegende Sätze formen und tiefgründige Gedanken niederschreiben. [...] Doch das Wertvolle liegt darin, daß, nachdem ein Stück fertig ist, es ganz leicht aussieht, als hätte man es ohne Gedankenanstrengung zustande gebracht.56
Zu dieser Einfachheit angesichts hoher Schwierigkeit hat der zeitgenössische britische Komponist Cornelius Cardew einmal bemerkt: »Einfachheit muß die Erinnerung daran enthalten, wie schwer sie zu erzielen war.«57 Dieses Diktum läßt ergänzend zu den Ausführungen von Jiaoran die besondere Beziehung zwischen Kultivierung, Perfektion und Einfachheit in den (nicht nur chinesischen) Künsten, nämlich das, was im chinesischen Kontext gongfu genannt wird, erkennen. 55
56
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Bei Liu Xie heißt es z.B. in Kapitel 40 (»Yin xiu«: »Das Tiefgründige und Offenbare«): »Das Tiefgründige, das sind die gewichtigen Verweisungen jenseits des Geschriebenen.« SHIH: The Literary Mind and the Carving of Dragons, S. 414. XU: Jiaoran shishi, S. 16; Wenjing mifulun, S. 326. Vgl. BODMAN: »Poetics and Prosody«, S. 419. Die gerade verwendete »jenseits«-Formel taucht bei Jiaoran auch in verschiedenen anderen Kontexten auf, so z.B. in einer Wendung, mit der er bestimmten Versen seines Urahnen Xie Lingyun eine »emotionale Ausdruckskraft« (qing) zuschreibt, die »jenseits des rein sprachlich-bildlichen Ausdrucks« liegt (qing zai xiang wai). XU: Jiaoran shishi, S. 33. »Simplicity must contain the memory of how hard it was to achieve.« CORNELIUS CARDEW: »Toward an Ethic of Improvisation«, in Treatise Handbook, New York: Edition Peters 1971, S. xx.
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Eine ähnliche »jenseits«-Formulierung begegnet uns bei dem nur wenig jüngeren Liu Yuxi, in welcher wir allerdings Jiaorans »Gefühlskraft« (qing) durch den Begriff »Vorstellung« (jìng) ersetzt finden. So heißt es bei Liu Yuxi – auch unter Anspielung auf die bereits bekannte sprachskeptische Zhuangzi-Stelle: Ist Dichtung nicht die Quintessenz aller Literatur? Wenn man die Bedeutung versteht und die Worte verblassen, so ist das subtil, doch nur schwer zu erreichen. Wenn Vorstellungen jenseits der Bilder entstehen (jìng sheng yu xiang wai), so ist das vortrefflich, doch wird es nur selten harmonisch erzielt.58
In diesen »jenseits«-Wendungen wie »Vorstellungen/Gefühle jenseits der Bilder« klingen Ideen und ästhetische Ideale an, die deutlich vom Geist des Chan-Buddhismus geprägt sind. Im Chan, wie auch in der daoistischen Philosophie, kommt es ja bekanntlich auf das wortlose bzw. über das Wort hinaus gehende Verständnis der Wirklichkeit an. So verbindet sich in diesen Wendungen daoistische Sprachskepsis mit buddhistischen Konzepten zu neuen poetologischen Prinzipien. In der späten Tang-Zeit sollten diese Formulierungen dann durch Sikong Tu zum Kern der späteren chinesischen Ästhetik werden.
Stile der Dichtung Ebenfalls Sikong Tu vorausdeutend (allerdings auch in Anlehnung an gewisse Vorformulierungen bei Lu Ji, Liu Xie u.a.) finden wir bei Jiaoran in aller Kürze »Neunzehn Stile« (ti) definiert, und zwar lediglich in der Form eines einzigen Schriftzeichens wie »hoch« (gao), »ungebunden« (yi), »rein« (zhen), »loyal« (zhong) oder »tugendhaft« (de). Allerdings ist diese Liste keine reine Reihung von Adjektiven als Ausdrucksformen, sondern es gesellen sich auch Charakterisierungen inhaltlicher Art meist mit einem einzigen erklärenden Satz dazu. Hier zeigt sich jedoch wieder die analytische Unschärfe dieser gleichwohl interessanten und poetisch-suggestiven Literaturtheorie. Zwei Beispiele seien ausgewählt, um die Doppelbödigkeit und den Hintersinn dieser Definitionen zu verdeutlichen. Als letzte der neunzehn Stilformen nennt Jiaoran »ruhig« (jing) und »weit« (yuan). Erklärend heißt es dazu (in diesen Fällen etwas ausführlicher und mit Beispielen): »Ruhig« – das bedeutet nicht [Bilder] wie, »Kiefern unbewegt vom Wind« oder »kein Singen aus Nestern in Bäumen«, sondern eine Ruhe, die in der Idee liegt (yi zhong zhi jing). »Weit« – das bedeutet nicht [Bilder] wie, »fern, so fern – der Blick über das Wasser« oder »weit, so weit – die Sicht der Berge«, sondern eine Weite, die in der Idee liegt (yi zhong zhi yuan).59 58 59
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 90. XU: Jiaoran shishi, S. 44; GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 78; vgl. NIELSON: »The T'ang Poet Chiao-jan«, S. 22.
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Das heißt, die Stilformen sind nicht als Charakterisierungen äußerer Erscheinungsformen, der physischen Umgebung oder vordergründiger Bilder gedacht; vielmehr deutet die Formulierung »Ruhe/Weite, die in der Idee liegt« auf eine jeweils im Gedicht angelegte Idee hin, die sich allerdings erst »jenseits« des Gesagten erschließt. Diese hohe Kunst wird von Jiaoran mit dem Wort »göttlich« (shen, auch »geistig«, »spirituell« oder »unergründlich«) bezeichnet. Darin liegt – und nicht nur für ihn – das Geheimnis großer Dichtung. Wir hatten ähnliche Formulierungen bereits bei Liu Xie, und wir werden ihnen im weiteren Verlauf auf Schritt und Tritt begegnen. In Jiaorans Worten: Das Ziel höchster Vollkommenheit eines Dichters muß in unergründlichgeistigen Fertigkeiten (shen yi) liegen. Wem dies gelingt, der besitzt eine wunderbare Qualität, die ohne Vergleich ist. Wem es mißlingt, dem bleibt dies Ziel so unerreichbar, als sei es in tausend Meilen Ferne.60
Wie bereits angedeutet zeichnen sich in diesen Passagen um geistiges Verweisen, wortloses Verstehen und Schaffen von Vorstellungswelten wesentliche Teile einer vom Chan-Buddhismus geprägten Ästhetik ab, die jedoch nicht sehr systematisch auftritt (so lediglich in den erwähnten Aufreihungen), sondern stattdessen – und damit gewiß dem Chan-Geist treu bleibend und ihn widerspiegelnd – aphorismisch und fragmentarisch erscheint. Allerdings bleibt Jiaoran mit seinem buddhistisch verstandenen »Mittelweg« zwischen Natürlichkeit und gestaltetem Ausdruck auch dem mainstream der chinesischen Geistesgeschichte und Ästhetik treu, nämlich dem eigentlich vom Yin-Yang-Denken geprägten Bemühen, binäre Konzepte in einer Art des Sowohl-als-auch miteinander zu verbinden.
2.3 Jenseitigkeit und Nachgeschmack – Sikong Tu Mit dem spät-tangzeitlichen Dichter und »Theoretiker« Sikong Tu (837–908, auch Biaosheng genannt) findet die bei Wang Changling und Jiaoran bereits angelegte Tendenz zu ästhetischer Mystifizierung und »jenseits«-Rhetorik einen ersten Höhepunkt. Diese daoistisch (bzw. chan-buddhistisch) angehauchte Neigung schlägt sich insbesondere in dem Werk nieder, für das Sikong Tu berühmt geworden ist: seine Gedichtreihe über »Vierundzwanzig Qualitäten der Dichtung« (Ershisi shipin) – »metapoetische Gedichte über Dichtung«, wie wir sie auch von europäischen Dichtern wie Hölderlin, Rilke oder Mallarmé kennen.61 Davon abgesehen stehen Sikong Tus nachwirkungsreiche Gedichte62 ebenfalls in einer chinesischen Tradition poetologischer Äußerungen in rhetorisch verdichteter Sprache, 60 61
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XU: Jiaoran shishi, S. 47. PAULINE YU: »Ssu-k'ung T'u’s Shih-p'in: Poetic Theory in Poetic Form«, in: R. MIAO (Hg.): Studies in Chinese Poetry and Poetics, I, San Francisco 1978, S. 83. In der Qing-Zeit wird z.B. Yuan Mei eine Fortsetzungsserie schreiben; s Kap. VI.4.
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Literaturtheorie« der Tang-Zeit
die mit Lu Jis »Rhapsodie über die Literatur« und Liu Xies Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen bereits vorgestellt wurde. Trotz der daoistischen Färbung seiner Gedichte und Bemerkungen zur Dichtkunst ist Sikong Tu durch die (älteren) Annalen der Tang-Dynastie historisch als ranghoher Beamter und »beispielhafter Konfuzianer« belegt.63 So war er nach seinem jinshi-Examen im Jahre 869 in verschiedenen hohen Posten (unter anderem dem Kaiserlichen Sekretariat) tätig, hat aber in seinen mittleren Jahren – wohl unter dem Eindruck des großen Leidens und den Unruhen am Ende der Tang-Zeit – vorzeitig den Dienst quittiert. Das unrühmliche Ende der Tang-Dynastie überlebte er um ein Jahr. Die scheinbare Unvereinbarkeit seines »konfuzianischen« Lebenswandels mit seinen daoistischen Ansichten über Dichtung zeigt wiederum, daß es sich hier wohl um einen (beliebten) Scheingegensatz handelt, der möglicherweise durch unsere Neigung zu Analyse und klarer kategorialer Einordnung vorgeprägt ist, der jedoch – wie bereits bei Jiaoran gesehen (und wie wir noch bei Bai Juyi, Su Shi und anderen sehen werden) – in der Lebenswirklichkeit der chinesischen Literaten, die diese Dinge offenbar zu vereinen wußten, keine große Rolle gespielt hat.
Qualitäten der Dichtung Sikong Tus »Qualitäten« der Dichtung sind zunächst von Zhong Rongs »Klassifizierungen« zu unterscheiden, obwohl es sich im Chinesischen um den gleichen Ausdruck (pin) handelt. Zhong Rong hatte Dichter nach ihren Qualitäten in eine Rangordnung gebracht, wohingegen Sikong Tu von Qualitäten der Dichtung selbst spricht, und zwar ohne dabei eine Reihenfolge aufzustellen. Das Schriftzeichen pin deckt beide Bedeutungen ab; in Sikong Tus Verwendung entspricht es der Bedeutung von menschlichen Charaktereigenschaften. Diese Form des Sprechens über menschliche Qualitäten bzw. persönliche Stile war in der Zeit der Sechs Dynastien besonders beliebt, und Sikong Tus Anwendung auf die Dichtung spiegelt diesen Usus wider, denn, wie Stephen Owen bemerkt, wenn wir nicht aus dem Titel wüßten, daß es sich um Dichtung handelt, könnten seine Qualitäten auch für menschliche Qualitäten stehen64 (oder für solche der Malerei etc.). Überhaupt ist »Qualität« nur eine mögliche Interpretation des Wortes pin im Titel, man könnte ebenso gut von Stimmungen, Stilfärbungen, Aussageweisen oder Kategorien sprechen – und fast alle diese Möglichkeiten haben in vorliegenden Übersetzungen Eingang gefunden.65 Hier haben wir demnach eine der ersten Schwierigkeiten, die 63
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MAUREEN A. ROBERTSON: »›…To Convey What is Precious‹: Ssu-k'ung T'u’s Poetics and the Erh-shih-ssu Shih-p'in«, in: D. BUXBAUM und F. W. MOTE: Transition and Permanence, S. 323. OWEN: Readings, S. 299. Gesamtübersetzungen gibt es u.a. bei OWEN: Readings (S. 303–351, mit ausführlichen Erläuterungen), von Herbert Giles, nachgedruckt in JOHN MINFORD und JOSEPH S.M. LAU (Hg.): Classical Chinese Literature. An Anthology of Translations, Vol. I, Hongkong: Chinese UP
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uns bei der Lektüre dieser Gedichte bereits in ihrem Titel begegnet: die Unschärfe hinsichtlich der kategorialen Einordnung des Gedichtskorpus überhaupt. Eine zweite Schwierigkeit betrifft die Titel der »Vierundzwanzig Qualitäten« selbst. Diese sind höchst vage und suggestiv gehalten, so daß es bei etlichen der sich immer aus zwei Zeichen zusammensetzenden Gedichtüberschriften schwer fällt, ein deutsches Äquivalent zu finden. Bisweilen bleibt keine andere Wahl, als die beiden Zeichen getrennt zu übersetzen, anstatt einen Zusammenhang zu konstruieren. Hier ist eine Kostprobe einiger Titel: Nr. 2: »Genügsam« (chongdan), Nr. 5: »Weltenthoben und altertümlich« (gaogu), Nr. 6: »Klassisch elegant« (dianya), Nr. 8: »Kraftvoll« (jingjian), Nr. 9: »Faszinierend schön« (qili) »Heroisch frei« (haofang), Nr. 16: »Klar und ungewöhnlich« (qingqi), Nr. 17: »Gewunden« (weiqu), Nr. 22: »Losgelöst« (piaoyi), Nr. 23: »Gleichmütig« (kuangda), Nr. 24: »Fließend bewegt« (liudong). Eine letzte Schwierigkeit betrifft formale Aspekte der Gedichte. Es handelt sich hier um archaisch wirkende Verse in der Vier-Wort-Form (wie wir sie vom Buch der Lieder her kennen); sie sind allein wegen der in dieser Form liegenden Knappheit und notorischen Unklarheit schwer zu übertragen. Die Verse sind in hohem Maße suggestiv und entziehen sich klarer begrifflicher Erfassung. Owen spricht wegen ihrer kryptischen Form und ihres mysteriösen Inhalts – beides erinnert an daoistische heilige Texte – von einer »poetics of Oz«66. Insofern gibt es nicht nur in den vorliegenden englischen Übersetzungen erhebliche Differenzen, auch die zahlreichen chinesischen Kommentatoren weichen mitunter beträchtlich voneinander ab. So sind die folgenden Übersetzungen und Interpretationen der drei hier exemplarisch ausgewählten Gedichte auch nur als eine mögliche Lesung dieser schillernden Verse zu verstehen. Jedes Gedicht hat 12 Zeilen mit einem durchgehenden Reim am Ende jeder geraden Zeile. Da es sich in der Regel bei jeweils vier Zeilen (bzw. zwei Verspaaren) um eine Sinneinheit handelt, sind in den Übersetzungen diese Einheiten durch Strophen kenntlich gemacht.67 Das erste Gedicht ist in seiner Aussageform symptomatisch und in seinem Gehalt programmatisch für die ganze Serie: In begrifflich nicht faßbarer Weise wird zu einem Thema ein Bild, oder besser ein gewisses Gefühl, suggeriert, wobei nicht
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2000, S. 944–954, YANG HSIEN-YI und GLADYS YANG: »The Twenty-four Modes of Poetry«, Chinese Literature, 1963.7, S. 65–77 und Y.W. WONG: Sikong Tu’s Shi pin: Translation with an Introduction, Singapur 1994. Teilübersetzungen der Gedichte finden sich bei Maureen Robertson und Pauline Yu, Teilübersetzungen der Briefe bei Owen und Robertson. OWEN: Readings, S. 301. Die Strophen fehlen im Original. Zum Zwecke einer besseren Verständlichkeit dieser schwierigen Gedichte schien jedoch die »Verstrophung« in den Übertragungen sinnvoll zu sein. Die folgenden Übersetzungen und Interpretationen beruhen u.a. auf GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 203ff, und CHEN LIANGYUN (Hg.): Zhongguo lidai shixue lunzhu xuan, Nanchang: Baihuazhou wenyi 1995, S. 320ff.
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deutlich wird, ob dieses Bild/Gefühl der Qualität einer bestimmten Form von Dichtung entsprechen soll, ob es sich auf das Gefühl des Lesers bei der Lektüre eines so gearteten Gedichtes bezieht, oder ob es auf die Gestimmtheit des Dichters beim Verfassen derartiger Verse zielt – mit anderen Worten, ob es werkästhetisch, rezeptionsästhetisch oder schaffensästhetisch zu verstehen ist. Man könnte wohl sagen, daß alle drei Lesarten sich in unentwirrbarer Weise miteinander vermengen. Speziell das erste Gedicht will dabei ein Gefühl kraftvoller Größe vermitteln. 1. Groß und ganzheitlich (xionghun) Großes Wirken (yong) zeigt sich wandelnd nach außen, Wahre Substanz (ti) birgt Fülle im inneren. In der Rückkehr zum Leeren (xu), hinein in die Ganzheit (hun), Wird gesammelte Kraft zu Größe (xiong). Alle Kreatur (wan wu) in sich tragend, Über alle Himmel sich erstreckend – Endlos, endlos – wie rollende Wolken, Weit, weit – wie ein großer Wind. Geh über die Bilder hinaus (xiang wai); Bleib in der Mitte des Kreises. Halt es fest, ohne Gewalt; Laß es kommen, ohne Ende.68
Das erste Zeilenpaar spielt mit einem durch den Buddhismus (und Neo-Daoismus) in der chinesischen Philosophie etablierten Begriffspaar: der Gegenüberstellung von (äußerer) Wirkung (oder Funktion, Erscheinung – yong) und (innerer, jedoch immaterieller) Substanz (ti). Wichtig ist dabei der Gedanke, daß beide lediglich zwei Aspekte ein und derselben Sache sind. Allerdings kommt der Substanz in der Regel größere Bedeutung zu; insofern läßt sich die »Fülle im inneren« (der zweiten Zeile) als Voraussetzung für die sich nach außen offenbarenden Wandlungen (der ersten Zeile) verstehen. Das zweite Verspaar ist ebenfalls geprägt von einer auf daoistischer Dialektik beruhenden, paradox erscheinenden, jedoch komplementären Begrifflichkeit: Die Leere birgt die Fülle bzw. die Ganzheit. Somit erwächst aus der Rückkehr (fan) zur Leere erst Größe und Kraft. Selbst »alle Kreatur« (wan wu) der 5. Zeile ist nach daoistischer Auffassung aus der Leere geboren. Zusammen mit den Zeilen 7 und 8 werden in diesem Abschnitt des Gedichts Bilder der Natur gezeichnet – Wolken und Wind –, die alle eine gewisse Größe, nämlich Endlosigkeit und Weite vermitteln. Die letzten zwei Verspaare enthalten ebenfalls Kerngedanken der daoistischen Tradition: Zeile 10 erinnert an das elfte Kapitel des Daodejing, worin es heißt, daß in der Leere der Nabe eines Rades dessen Nutzen begründet ist. Im Halten 68
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 203; vgl. OWEN: Readings, S. 303.
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dieser Mitte ist erst eine Wirkung möglich, die eine »jenseitige« – über die Objekte und Bilder der Welt hinaus weisende – Qualität besitzt. Hier klingen bereits die später noch in Sikong Tus Briefen zu behandelnden »jenseits«-Metaphern an. Die letzten beiden Zeilen beziehen sich ebenfalls auf zwei daoistische Kerngedanken: das Nicht-Tun (wuwei) bzw. das nicht-gewaltsame Eingreifen in den Lauf der Dinge, so daß diese sich in unerschöpflicher Art und wie von selbst (ziran) entfalten können. Kurzum, dieses erste Gedicht suggeriert eine kraftvolle Größe, die in typisch daoistischer Weise aus dem Nichts bzw. aus der Leere – sie ist nämlich die eigentliche Substanz – entsteht. Das nächste Gedicht (und das 10. in der Reihe) hat das eben erwähnte »Vonselbst-so-sein« zum Thema; es ist, mit anderen Worten, ein Loblied auf daoistisch verstandene Natürlichkeit bzw. spontane Kreativität. 10. Von selbst so (ziran) Beug dich nieder und nimm es auf – da liegt es! Warum es sonstwo suchen? Im Einklang mit dem Dao geh deinen Weg, Und laß mit einem Pinselstrich den Frühling entstehen. Als wenn sich vor dir eine Blüte öffnete, Als wenn du den Anfang des Jahres beobachtetest. Was wahrhaftig gegeben, läßt sich nicht entreißen; Was gewaltsam erreicht, geht leicht zugrunde. Wie ein im Verborgenen Lebender am leeren Berg, Der Gräser pflückt entlang des Bachs – Verstehe im Herzen Die Unermeßlichkeit des »Ausgleichs des Himmels«.69
Der erste Teil des Gedichtes suggeriert, daß künstlerische Schöpfung am besten von selbst, also spontan, entsteht. Es bedarf keiner Bemühtheit: Was man sucht, liegt bereits vor einem; man braucht es nur aufzulesen. So bedarf es auch nur einer Bewegung der Hand, um den Pinsel von selbst eine Frühlingsszene – dichterisch oder malerisch – gestalten zu lassen. Der zweite Teil faßt diese Gedanken wiederum in Bilder oder Vergleiche aus der Natur: das sich ganz natürlich ergebende Aufblühen einer Blume sowie der Beginn des Jahres, der sich ebenfalls völlig von alleine einstellt. Im letzten Teil wird ein Vergleich zu einem Einsiedler gezogen, der ebenfalls in ungezwungener Weise seinen Beschäftigungen nachgeht und somit in seinem spontanen Handeln die Wirkkraft des Dao – hier in Anspielung an Zhuangzi »Ausgleich des Himmels« genannt – zum Ausdruck bringt.70 69 70
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 205; vgl. OWEN: Readings, S. 323. Der chinesische Ausdruck ist tianjun, welcher das Bild einer (himmlischen) Töpferscheibe enthält, in deren Mitte man bloß verweilen muß. HYSIS, A Concordance to Chuang-tzu,
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Ob diese Art von Spontaneität (ein daoistischer Primitivismus) für das Schaffen von Dichtung tatsächlich den geeigneten Weg darstellt oder nicht, ist eine Frage, die hier nicht beantwortet werden soll. Wie dem auch sei, dieses zehnte Gedicht gehört, wie auch das nächste mit seiner für die chinesische Dichtung so charakteristischen Thematik der Indirektheit und Suggestivität zu den berühmtesten der Serie überhaupt. 11. Unausgesprochenes in sich bergend (hanxu) Ohne es direkt in einem Zeichen zu schreiben, Tritt doch der ganze Reiz (fengliu) zutage. Ohne eigene Not zu benennen, Wird schon unerträglicher Schmerz spürbar. Dem zugrunde liegt ein »wahrer Leiter«; Er bestimmt das Auf und Ab. Wie frisch gesiebter Wein, Wie die Zeit der Blüte, die sich in den Herbst wendet. Endlos, wie ein Staubkorn in der Leere des Himmels; Flüchtig, wie eine Schaumflocke auf dem Meer – Seicht oder tief, zusammen oder auseinander, Zehntausend werden von einem erfaßt.71
Die Qualität des verhalten Impliziten, d.h. des indirekten poetischen Sprechens, wird oft als die Quintessenz von Sikong Tus Poetik angesehen, weshalb auch dieses Gedicht am häufigsten von allen vierundzwanzig angeführt wird. Außerdem hat sich im heutigen Sprachgebrauch der Titel des Gedichtes – hanxu – als poetologischer Terminus technicus für eine implizite dichterische Sprechweise gehalten. Der erste Teil des Gedichtes läßt diese Qualität einer indirekten Ausdrucksweise in relativ klaren Worten und Bildern deutlich werden. Der zweite Teil ist weit schwerer zu verstehen und gibt Anlaß zu unterschiedlichen Interpretationen. Zunächst haben wir wiederum eine Anspielung auf das zweite Kapitel des Zhuangzi: der »wahre Leiter« ist eine ungreifbare Instanz, die Zhuangzi hinter allem Wirken – auch den menschlichen Bewußtseinszuständen – vermutet.72 Übertragen auf die Dichtung soll das heißen: Das Zentrum eines Gedichtes ist sein unausgesprochener
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S. 40; vgl. WILHELM: Dschuang Dsi, S. 44. Für die 10. Zeile des Gedichts gibt es eine Textvariante mit guo yu ( nach dem Regen) anstatt guo shui (entlang des Wassers oder Bachs), wodurch guo (passieren) eine temporale Bedeutung gewinnen würde, also: »Der Gräser pflückt nach dem Regen«. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 205; vgl. OWEN: Readings, S. 326. »Man muß wohl einen wahren Leiter annehmen, obwohl wir keine äußere Spur von ihm zu erfassen vermögen.« HYSIS, A Concordance to Chuang-tzu, S. 4; WILHELM: Dschuang Dsi, S. 41.
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Gehalt, welcher sein Äußeres – das »Auf und Ab« der Worte – bestimmt. Die sich daran anschließenden Bilder sind weniger eindeutig interpretierbar. Man kann sie allerdings als Metaphern für ein nicht sichtbares doch wirkungsmächtiges Potential deuten, so nämlich der neue, frisch gesiebte Wein, der in diesem jungen Zustand seine alkoholisierenden Qualitäten, die sehr wohl in ihm schlummern, noch nicht offenbart hat und erst später enthüllen wird. Und so auch die »Zeit der Blüte«, in welcher die Frucht zwar im Keim angelegt ist, sich jedoch erst im Herbst zeigt.73 Der letzte Abschnitt will wohl sagen, daß in einem kleinen Wort – wie in einem Staubkorn oder Schaumflöckchen – implizit viel mitschwingen kann bzw. daß das Ganze im Kleinen, wenn auch nicht direkt sichtbar, so doch zumindest erahnbar ist, was ebenfalls ganz der elften Qualität des impliziten dichterischen Sprechens entspricht.
Geschmack jenseits der Worte Diese drei Beispiele mögen verdeutlichen, welche Schwierigkeiten die »Vierundzwanzig Qualitäten der Dichtung« einem – nicht nur heutigen – Leser bei der Lektüre stellen. Allerdings wird vielleicht auch die Faszination erkennbar, die diese von daoistischem Denken inspirierten Gedichte auf die Literatenschaft des klassischen China ausgeübt haben (und deshalb auch zur Fortführung anregten, so bei dem qingzeitlichen Yuan Mei und anderen, siehe Kap. VI.5 und Exkurs 3 in Teil VI). In ihrer schwer greifbaren, poetisch andeutungsreichen und vieldeutigen Weise lassen sie grundsätzliche Charakteristika der chinesischen Lyrik womöglich besser deutlich werden als diskursive Erörterungen oder Beschreibungen. Hier geht es um einen »Geschmack« (wei) »jenseits der Worte« (yan wai), der als poetologische Thematik zentral ist für Sikong Tu. Dieses Thema soll uns nun auch in seinen (in wenigen Briefen überlieferten) Bemerkungen zur Dichtkunst beschäftigen, so im folgenden Brief an einen »Meister Li«: Literarische Kompositionen (wen) sind eine schwierige Sache, doch Dichtung ist noch schwieriger. Seit alters her hat man in vielfältiger Weise davon gesprochen, doch ich glaube, darüber läßt sich am besten sprechen, wenn wir den Sachverhalt mit Unterschieden im Geschmack (wei) vergleichen. In der Region südlich von Jiangling soll alle Nahrung dem Gaumen wohl bekommen. So hat man z. B. in Essig Eingemachtes; das ist zwar sauer, jedoch nichts anderes als sauer; oder man hat in Salz Eingelegtes, das ist zwar salzig, doch nichts anderes als salzig. Der Grund, weshalb Leute aus dem Norden dort nur ihren Hunger stillen wollen und keine weitere Lust am Essen verspüren, ist der, daß sie merken, daß die reine Schönheit (chun mei), die jenseits von sauer und salzig liegt (xian 73
Für unterschiedliche Interpretationen S. OWEN: Readings, S. 327 (»›Straining the thickest wine‹: As one continues straining, one finds more and more lees; in the same way, han-hsü [hanxu] reveals ever greater depths of the person or the quality.«), oder GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 212.
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Literaturtheorie« der Tang-Zeit suan zhi wai), einfach fehlt. Die Leute in Jiangling sind daran gewöhnt und kennen diesen Unterschied nicht. Das ist auch nicht anders zu erwarten.74
Dieser Vergleich des Geschmacks von Nahrung – »jenseits von sauer und salzig« – mit dem Geschmack von Dichtung hat in der chinesischen Literaturgeschichte Berühmtheit erlangt. Im Kern meint Sikong Tu in dieser Passage, daß man sich nur dann in der Dichtung dem Ideal »reiner Schönheit« annähern kann, wenn es einem gelingt, Eindeutigkeit oder Direktheit zu vermeiden. Eindeutig klare Aussagen sind in einem Gedicht ästhetisch so uninteressant wie nur salzige oder nur saure Speisen. Wie diese lassen auch jene keine weitere Lust am Kunstgenuß aufkommen. Das Interessante ist, was geschmacklich darüber hinaus geht: die Verbindungen, Assoziationen, Obertöne, kurzum all das, was in einem Gedicht jenseits des eigentlich Gesagten, der beschriebenen Szenerien und Bilder, mitschwingt. In einem anderen und später noch zu zitierenden Brief spricht er deshalb andeutungsvoll von »Bildern jenseits der Bilder« und »Szenerien jenseits der Szenerien«. Neben den grundsätzlichen Prinzipien der Dichtung, wie sie in China seit dem Buch der Lieder etabliert sind (wozu auch die indirekte Kritik gehört), ist für Sikong Tu die persönliche Farbe eines Dichters – seine Ausdrucksweise bzw. sein Stil (ge) – ausschlaggebend. Diese Eigenheiten lassen sich nicht nach traditionellen Vorgaben erlernen, doch sind sie es, die die bleibende Wirkung eines Dichters ausmachen. Daneben kommt es darauf an, in einem Gedicht »Ideen und Gedanken« (yi si) zu vermitteln, was auch heißen soll: Verse dürfen nicht unverständlich sein. In einer hermetischen oder schwerverständlichen Ausdrucksweise mag ein vordergründiger Reiz liegen, doch genügt dies nicht, um als Dichter zu überzeugen. So heißt es weiter in diesem Brief: Dichtung umfaßt die »Sechs Prinzipien« (des »Großen Vorworts« zum Buch der Lieder), darüber hinaus enthält sie auch indirekte Kritik, bildlichen Ausdruck, Ansteigen und Fallen, Klarheit und Verhaltenheit, Sanftheit und Eleganz. Was aber direkt zu Erfolg führt, ist die Besonderheit des persönlichen Stils (ge). […] Nun sind die Gedichte von Wang Wei und Wei Yingwu (geb. 737) ruhig und heiter, fein und subtil – genau darin liegt ihr persönlicher Stil. Wie könnte man sie nicht dafür loben? Jia Dao (779–843) hat gewiß aufsehenerregende Zeilen, doch wenn man sein Werk insgesamt betrachtet, so fehlt es ihm an Ideen und Gedanken (yi si). Alles in allem erblickt man sein Talent nur in seiner Schwierigkeit und Unverständlichkeit. Und der Grund dafür liegt darin, daß er der (inneren) Form (ti) nicht genügend Beachtung schenkt. […] Ach! Wenn ein [Werk] unmittelbar nah wirkt, ohne oberflächlich zu sein, oder fern, ohne sich in der Weite zu verlieren, dann erst läßt sich von einer Faszination jenseits des Reimes sprechen (yun wai zhi zhi).75 74
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»Yu Li sheng lun shi shu«, GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 196ff. Die folgenden drei Zitate sind alle – mit nur wenigen Kürzungen – diesem Brief entnommen. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 197.
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Am Schluß dieser Passage haben wir wieder eine der für Sikong Tu charakteristischen »jenseits«-Formeln: Von einer »Faszination jenseits des Reims« läßt sich nur sprechen, wenn Eindeutigkeiten vermieden werden. Es erinnert an eine Stelle bei Jiaoran, in der »Weite« als Stil bezeichnet wurde, und zwar kam es dabei nicht darauf an, buchstäblich von weiten Szenen zu sprechen, sondern eine »Weite« zu erzeugen, »die in der Idee liegt« (yi zhong zhi yuan). Diese Könnerschaft, und daran gemahnt die nächste Passage, ist eine »geistige« (shen), d.h., sie gründet auf einer unergründlichen, wie von einem Gott gegebenen Fähigkeit, wie wir sie von den entsprechenden Stellen aus dem Zhuangzi her kennen. Dann erst läßt sich von »vollkommener Schönheit« (quan mei) oder von einer »Wirkung jenseits des Geschmacks« reden. Bemerkenswert an dem nun folgenden Zitat ist das soeben schon einmal angeführte Wort »Schönheit/schön« (mei), da, wie bereits erwähnt, dieser uns aus der westlichen Ästhetik nur allzu vertraute Begriff in chinesischen Texten ansonsten fast gänzlich fehlt. Das erfolgreiche Verfassen von Vierzeilern beruht auf höchster Leistung. Darüber hinaus gibt es noch unzählige Variationsmöglichkeiten. Wir wissen nicht, wie diese Qualität des Geistigen (shen) erreicht wird, sie ist einfach von selbst da (zi shen). Doch ist das etwa einfach? [...] Wenn Ihr vollkommene Schönheit (quan mei) in der Kunstfertigkeit (gong) wollt, dann werdet Ihr verstehen, was mit der Wirkung jenseits des Geschmacks (wei wai zhi zhi) gemeint ist.76
Nach »jenseits von salzig und sauer« und »Faszination jenseits des Reimes« haben wir hier mit »Wirkung jenseits des Geschmacks« – als Ergebnis einer »vollkommenen Schönheit in der Kunstfertigkeit« – die dritte »jenseits«-Formel von Sikong Tu. Dazu gesellen sich noch die beiden bereits erwähnten Wendungen »Bilder jenseits der Bilder« und »Szenerien jenseits der Szenerien«, die allerdings aus einem anderen Brief (an Wang Ji, fl. 891) stammen. Interessant ist dabei deren bildliche Einbettung, die jedoch auch Übersetzungs- und Verständnisschwierigkeiten bereitet: Dai Rongzhou (Dai Shulun, 732–789) sagte einmal, die Szenerie (jing), die ein Dichter vorgibt, sei wie der rauchige [Glanz], der an einem warmen Tag einem Stück guter Jade von Lantian zu entströmen [scheint].77 Man könne ihn (den Glanz) schauen, jedoch sich [das Bild] nicht direkt vor Augen holen. Bilder jenseits der Bilder (xiang wai zhi xiang), Szenerien jenseits der Szenerien (jing wai zhi jing) – wie könnte man leicht darüber reden?78 76 77
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Ebd. Lantian (blaues Feld) ist ein Kreis und Berg in der Provinz Shaanxi, der berühmt war für seine gute Jade. Unter Sonnenlicht betrachtet soll die Jade einen blaufarbenen rauchartigen Glanz ausgeströmt haben. CHEN: Zhongguo lidai shixue lunzhu xuan, S. 316. Für eine alternative Übersetzung und Interpretation dieses schwierigen Bildes s. OWEN: Readings, S. 357. »Yu Jipu shu«, GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 201.
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Wie Sikong Tu selbst bemerkt, ist es in der Tat nicht leicht, über solche Dinge zu sprechen. Auch zum Thema »Vorstellung« (jìng) hat sich Sikong Tu, wenn auch in nur einer kurzen Bemerkung in einem Brief an Wang Jia, geäußert, wobei er allerdings diesen Begriff wohl eher im Sinne seiner ursprünglichen Bedeutung von »Umwelt« bzw. »äußere Sphäre« verwendet: Die Stärke des Fünf-Wort-Gedichtes liegt darin, daß darin Gedanken (si) und Vorstellungen/Umwelt (jìng) miteinander harmonieren. Deshalb schätzen es die Dichter.79
Die Einschmelzung von Gedanken (si) oder Ideen (yi) in Szenerien – oder von Gefühl in Landschaft – ist ein zentraler Gedanke der chinesischen Lyrik, der zwar schon in der Vor-Tang-Zeit angelegt und dort auch in der Dichtung manifest ist, der sich allerdings erst in der Tang-Zeit mit Wang Changling, Jiaoran und Sikong Tu als Topos zu etablieren beginnt. Es ist speziell diese Fusion von (äußerem) Bild und (innerer künstlerischer) Idee, welche im Leser »Bilder jenseits der Bilder« und »Szenerien jenseits der Szenerien« erzeugen hilft und welche den ästhetischen Reiz der kurzen Formen der chinesischen Lyrik ausmachen. Sikong Tu hat in der chinesischen Literaturgeschichte der Thematik des »Jenseitigen«, mit anderen Worten: den unfaßbaren und unnennbaren Qualitäten in der Dichtung, einen bleibenden Platz gegeben. Dabei beruht sein Verdienst wohl darauf, daß er in seinen Gedichten über die »Vierundzwanzig Qualitäten« poetisch eben diejenige Qualität zum Ausdruck gebracht hat, die er in seinen (in Briefen überlieferten) »theoretischen« oder eher beiläufig impressionistisch zu nennenden, doch vielsagenden und nachwirkungsreichen Bemerkungen zur Dichtkunst beschwor. Und es ist vielleicht gerade diese Übereinstimmung von Dichtung (über Dichtung) und »Theorie«, die seinen Ruhm und seine nachhaltige Wirkung ausmacht.
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»Yu Wang Jia ping shi shu«, GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 217. In dieser Passage von Sikong Tu finden wir – ähnlich wie in dem Zitat von Wang Changling weiter oben – den inhaltlichen Kern des heutigen Begriffs yijìng, denn es geht dabei um den Bereich (jìng) von (künstlerischen) Gedanken (si) oder Ideen (yi).
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3. Konfuzianismus und Literatur – Didaktische Strömungen in der Tang-Literatur 3.1 Beschränkung und Meisterschaft – Du Fu Obwohl daoistisch inspiriertes Denken die »Literaturtheorie« der Tang-Zeit dominierte (und längerfristig gesehen auch am nachwirkungsreichsten blieb), sollte die von konfuzianischen Grundsätzen geleitete pragmatische oder didaktische Literaturauffassung in dieser Epoche – und zwar vor allem durch Bai Juyi und Han Yu in der Tang-Mitte – ebenfalls eine Renaissance erleben. Den Auftakt dazu bildeten allerdings bereits in der frühen Tang-Zeit programmatische und knappe Äußerungen dazu u.a. von Chen Zi'ang.80 Ihm war der Stil der vorangegangenen Sechs Dynastien – die sogenannte Palast-Dichtung, deren Einfluß sich bis in die Anfangszeit der Tang ausdehnte – zu blumig, und er befürwortete eine »Rückkehr zum Altertum« (fugu), nämlich zum Stil der Han- und Wei-Zeit.81 Chen Zi'ang wurde jedenfalls von vielen der späteren Literaten und Kritiker zum ersten Erneuerer der chinesischen Lyrik hochstilisiert, allerdings – und dies ist charakteristisch für die vielen fugu-Ansätze in der chinesischen Literaturgeschichte – für eine Erneuerung aus dem Geiste des Altertums heraus. In der Zeit der Tang-Blüte war Du Fu das nachwirkungsreichste Beispiel einer Einheit von konfuzianischem Denken, Dichten und Verhalten. Du Fu wurde bereits im Zusammenhang der Ausführungen zum tangzeitlichen Regelgedicht als Musterbeispiel eines konfuzianischen Literaten vorgestellt. Von ihm gibt es allerdings keine diskursiven, in Prosa gefaßten Äußerungen zur Dichtung. Als programmatisch für seine Präferenzen werden häufig sechs Vierzeiler über Dichtung82 genannt, die jedoch lediglich Dichter der vorangegangenen Zeit bewerten und für seine eigene Ausrichtung relativ unergiebig sind. Du Fus Einstellung zur Dichtung muß demnach aus seinen Gedichten selbst herausgelesen werden. Du Fus ästhetische Ideale lassen sich in folgender Weise charakterisieren: Einerseits geht es ihm in seiner Dichtung um eine Widerspiegelung der Wirklichkeit, und zwar sowohl des eigenen inneren Gefühls als auch der äußeren Realität, letzteres insbesondere hinsichtlich der Nöte des Volkes. Auf diese reagiert der Dichter mit seinen Gefühlen, und dadurch ist er umgekehrt imstande, Gefühle im Leser zu 80
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Ein berühmtes Gedicht von Chen Zi'ang findet sich in KLÖPSCH: Der seidene Faden, S. 7. S. auch KUBIN: Die chinesische Dichtkunst, S. 109ff. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 55; vgl. SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 283. S. auch LIU MAU-TSAI: »Der Dichter und Staatsmann Ch'en Tzu-ang (661–702) und sein jen-chi-Konzept«, Oriens Extremus, 1977. »Xi wei liu jueju«, die v. Zach als »Scherzgedichte« übersetzt: ERWIN VON ZACH: Tu Fu’s Gedichte, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1952, I, S. 259f.
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Konfuzianismus und Literatur –Didaktische Strömungen in der Tang-Literatur
wecken bzw. deren »Herz zu bewegen«. Insofern wird Du Fus Kunst von heutigen chinesischen Kritikern gern als Realismus bezeichnet – ein Realismus, dem allerdings ein didaktischer Impuls zugrunde liegt. Andererseits geht es ihm um ein Höchstmaß an poetischer Verdichtung und prosodisch gekonnter Ausdrucksweise. Deshalb ist Du Fu bis heute der unangefochtene Meister des klassischen chinesischen Gedichtes mit all seinen ästhetischen Anforderungen und Regeln geblieben. Es ist allerdings zu betonen, daß Du Fu kein Neuerer war, sondern eher als Vollender betrachtet werden muß. Diese Seite an ihm ließe sich vielleicht am besten mit Johann Sebastian Bach auf dem Gebiet der europäischen Musik vergleichen, der ebenfalls kein Neuerer der Barockmusik war, sondern diese in ihren vorhandenen, regelstrengen Formen (vor allem der Fuge) in beilspielloser Weise zu einem Höhepunkt und zur Vollendung geführt hat. Die realistische Seite Du Fus zeigt sich allerdings weniger in seinen Regelgedichten (d.h. in der Form, in der er als Meister gilt), sondern meist in seinen längeren Balladen, also Gedichten im alten Stil, wie z.B. »Die Reise nach Norden« (Bei zheng), »Die Ballade über die Kriegswagen« (Bingche xing), »Der Rekrutierungsbeamte in Shihao« (Shihao li)83 oder »Fünfhundert Worte der Empfindungen über meinen Weg von der Hauptstadt zum Kreis Fengxian« (Zi jing fu Fengxian xian yonghuai wubai zi). Letzteres Gedicht ist charakteristisch für die Art, wie es ihm gelingt, sowohl seine Loyalität zum Herrscher und gleichzeitig sein Mitleid mit den Nöten des Volkes, welches ja indirekt unter der schlechten Oberaufsicht des Kaisers zu leiden hat, zum Ausdruck zu bringen. Am Anfang des hundert Zeilen langen Gedichtes bekräftigt er zunächst, wie sehr ihm schon immer daran gelegen gewesen sei, dem Volke zu helfen, obwohl er durchaus auch Sehnsucht »nach Strom und Meer« gehabt habe; d.h., er hätte wohl gerne – wie andere auch – den unwägbaren politischen Verhältnissen den Rücken gekehrt. Doch erklärt er seine Anteilnahme an den Zeitläuften damit, daß er »in der Zeit eines Herrschers wie Yao und Shun« geboren sei, weshalb er es nicht über sich habe bringen können, sich von diesem zu trennen. Es sei sein Instinkt, der ihn veranlasse, ähnlich wie die Sonnenblume, die sich immer der Sonne zuwende, immer in Treue dem Herrscher zu dienen. Doch auf dem winterlichen Weg (im 11. Monat des Jahres 755, d.h., als die Rebellion des An Lushan schon begonnen, die Nachricht davon sich jedoch noch nicht verbreitet hatte) beobachtet er auf einer Anhöhe ein kaiserliches Lager, in dem sich Herrscher, Minister und Frauen vergnügen. Dies gibt ihm Anlaß zu beißender Kritik an den Machenschaften der Beamten, wobei er es jedoch immer wieder versteht, den Kaiser selbst aus der Schußlinie zu nehmen. Die Kritik wird durch geschickte Gegenüberstellungen sehr eindringlich, wie z.B. in einem Verspaar, in dem es heißt: »Die vom Hof verteilten Seidenstoffe / Kommen ursprünglich aus den Händen armer, fröstelnder 83
Übersetzungen in V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, I, S. 52; I, S. 25; I, S. 162.
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Frauen.« Oder noch deutlicher in der Parallelführung: »Innerhalb der Tore der Reichen verderben Getränke und Speisen, / Draußen am Wege liegen die Knochen der Erfrorenen.« Das Gedicht endet mit der Ankunft zu Hause, wo er seinen jüngsten Sohn vor Hunger gestorben vorfindet. Doch bleibt sein Schmerz nicht bei seiner eigenen Familie stehen, vielmehr denkt er an alle, deren Arbeit und Lebensgrundlage von den Steuerbeamten genommen wurden, oder an die Soldaten an der Grenze, und sein Kummer wächst zu der Größe eines Berges: Das Leid ist zu riesig, als daß es sich in Worte fassen ließe.84 Aufgrund derartiger realistischer, jedoch auch kritischer Gedichte, deren Kritik am Herrscher gemäß den Maximen des »Großen Vorworts« in gebührender Weise – durch Andeutung (xing), aber auch durch Verpackung in Lob – verschleiert ist, hat Du Fu nicht nur den Ruf eines (konfuzianischen) Weisen der Dichtung (shi sheng), sondern auch eines poetischen Historikers (shi shi) erhalten. Jedoch ist dies nur eine Seite von Du Fu. Ebenso wichtig ist der andere Aspekt, nämlich das Bemühen um höchste und ins »Geistige« (shen) reichende Kunstfertigkeit. Du Fu gilt als der Könner des »Gedichts im neuen Stil«; jedoch ist diese Fähigkeit bei Du Fu nicht nur Talent, sondern zu einem gewissen Grade auch erarbeitet, und zwar im Sinne des chinesischen Konzeptes von gongfu, d.h., sie ist als vollkommene Beherrschung der Kunst Ergebnis eines langen Trainingsprozesses. Dazu sagt Du Fu in einem Gedicht: »Hast du zehntausend Bände zu Fetzen gelesen, / Dann wird dein Pinsel wie von einem Geist (shen) geführt« (Du shu po wan juan / xia bi ru you shen)85. Zum Training für das Dichten gehört demnach in erster Linie das Bücherstudium – ohnehin eins der Hauptmerkmale des klassischen Konfuzianers – bzw. das Vertrautsein mit den Versen der Vorgänger. Erst auf dieser Grundlage lassen sich eigenständige Werke schaffen. An anderer Stelle sagt er lobend über die Gedichte eines Freundes: »Die poetische Stimmung [in deinen Versen] ist nicht ohne eine geistige Qualität« (shi xing bu wu shen).86 Wie bereits in anderem Kontext erwähnt, ist diese »Geistigkeit« eine unergründliche Qualität, ein Vermögen, das für einen normalen Sterblichen unvorstellbar und auch unerreichbar bleibt; insofern ist die wörtliche Übersetzung hilfreich, die besagt, daß ein derart vollkommenes Werk erscheine, als sei es von Götter- oder Geisterhand geschaffen. Daß diese Fähigkeit in engem Zusammenhang mit daoistischem Denken steht, machen ein paar andere Zeilen deutlich, in welchen er die Kunst eines Freundes in – zugegeben – hyperbolischer Weise preist: »Eine geistige (shen) 84
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86
Übersetzungen modifiziert nach V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, I, S. 70–73. S. die ausführliche Interpretation zu diesem Gedicht in YU: Ways with Words, S. 146–172. In dem Gedicht »Für Sekretär Wei in zweiundzwanzig Reimen« (Feng zeng Wei Zuocheng zhang ershi'er yun). Vgl. V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, I, S. 20. S. zu diesem Topos auch DEBON: Grundbegriffe der chinesischen Schriftkunst, S. 72ff. In dem Gedicht »An den Bergeinsiedel Zhang Biao in dreißig Reimen« (Qi Zhang shi'er shanren Biao sanshi yun). Vgl. V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, I, S. 198.
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Helle, die einen wie im Flug bewegt; / Siegreich [im Vergleich zu anderen] und die niederen Talente hinwegspülend. / In wunderbarer Weise hast du die Fischreusen und Hasenfallen verworfen; / Die Höhe [Deiner Kunst] überragt die der anderen um ein Zehntausendfaches.«87 Die Fischreusen und Hasenfallen sind eine Anspielung auf die bereits mehrfach zitierte sprachskeptische Stelle bei Zhuangzi. Dort dienen diese Fanggeräte zur Illustration des Verhältnisses zwischen Worten und ihrem Sinn: Derjenige, der den Fisch oder Hasen gefangen hat, kann auf die Reusen und Fallen verzichten; so auch der, der den Sinn (yi) von Worten verstanden hat. So könnte auch, um im Bild zu bleiben, der von Du Fu angeredete Freund auf Worte verzichten und sich in einer Sphäre des wortlosen, geistigen Verstehens bewegen. Kurzum, bei Du Fu verschmelzen sein politisch-moralisches Anliegen, d.h. sein Mitleid für die Nöte des Volkes, und sein ästhetisches Ideal eines vollkommenen dichterischen Ausdrucks zu einer Einheit und somit auch zu einem allzeit unerreichbar bleibenden, doch viel bewunderten Modell für die Nachwelt. In einem Regelgedicht mit dem Titel »Alleine zechend und Verse schmiedend« (Du zhuo cheng shi) kommt diese Doppel- oder besser Vielseitigkeit von Du Fu gut zum Ausdruck: Warum flackert der Docht der Lampe in freudiger [glückverheißender] Weise? Ein Becher grünen Weines steht gerade vor mir. Berauscht und immer unterwegs Gelingt mir das Dichten, als würde mir ein Geist (shen) helfen. Soldaten und Waffen – überall, wo ich hinschaue, Meine konfuzianischen Künste – wie sollen sie mich bewahren? Wie bitter, durch mein kleines Amt gefesselt zu sein – Ich senke mein Haupt, schäme mich vor den frei und abseits der Zivilisation Lebenden.88
Stets unterwegs in treuen Diensten für seinen Herrscher und gerade auch angesichts der kriegerischen Wirren den Nöten des Volkes gegenüber aufgeschlossen (das bereits erwähnte you guo you min), fühlt sich Du Fu doch bisweilen gefesselt in seinem letztlich auch wirkungslosen Amt. In solchen Momenten tauchen Sehnsüchte auf, nämlich wie Tao Yuanming in Selbstbestimmung dem Amt zu entsagen und stattdessen in Freiheit die Mühen des Landlebens auf sich zu nehmen. Angesichts der Unwägbarkeiten des Lebens bleibt ihm die Dichtung, die er allerdings beherrscht, als würde ein Geist ihm zur Seite stehen. Es ist der Zusammenklang dieser beiden oder vielleicht sogar drei Seiten – des konfuzianischen Engagements, der (daoistisch orientierten) eskapistischen Sehnsüchte und der künstlerischen 87
88
In dem Gedicht »An Liu Bo, Gouverneur von Xiazhou« (Qi Liu Xiazhou Bo huashi jun). Vgl. V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, II, S. 619. HYSIS, A Concordance to the Poems of Tu Fu, S. 301; vgl. V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, I, S. 109.
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Vollkommenheit –, die bis heute einen wesentlichen Teil der Faszination von Du Fu ausmachen.
3.2 Engagement und Beschaulichkeit – Bai Juyi Der Nachfolger von Du Fu als dichterischer Anwalt des einfachen Volkes und insofern Fortführer der konfuzianisch-didaktischen Dichtungstradition war Bai Juyi (hierzulande, insbesondere durch Brecht, besser bekannt als Po Chü-yi). Bai Juyi (772–846) ist in der chinesischen Literaturgeschichte für zwei Charakteristika seines Œuvres bekannt geworden: erstens für seine klare, wenn nicht sogar einfache und doch poetisch kraftvolle Sprache, und zweitens für das gesellschaftskritische Engagement, mit dem er in seinen Gedichten die Übel seiner Zeit anprangerte und sich auch für das Los der Frauen einsetzte.89 Diese Ideale gehen wie bei Du Fu und Chen Zi'ang zurück auf die älteste chinesische programmatische Äußerungen zur Dichtung, nämlich auf das »Große Vorwort« zum Buch der Lieder. Beispielhaft stehen für dieses Verständnis von Dichtung Bai Juyis sogenannte »Neue Musikamtsballaden« (xin yuefu). Seiner Sammlung von fünfzig dieser neuen Balladen hat er folgendes programmatisches Vorwort vorangestellt: Diese Stücke haben keine festen Verse, und die Verse haben keine festen Zeichen. Was sie zusammenbindet, ist die Absicht (yi), nicht die Gestaltung (wen). Der erste Satz läßt ihr Thema erkennen, und der letzte Abschnitt macht ihr Anliegen (zhi) deutlich, wie es auch der Sinn der »Dreihundert Lieder« [im Buch der Lieder] ist. Sind die Worte einfach und direkt, so kann sie jeder, der sie lesen will, leicht verstehen; ist die Sprache unmittelbar und treffend, so wird sie sich jeder, der sie hören will, zu Herzen nehmen; sind die Ereignisse darin nachprüfbar und wahr, so lassen sie sich weitererzählen; ist ihr Stil fließend und frei, so lassen sie sich gut singen. Mit einem Wort, sie sind um des Herrschers, des Volkes, um der Dinge und Ereignisse willen, und nicht um des Schreibens willen geschrieben.90
Dieses Vorwort enthält Bai Juyis dichterische Leitideen gleichsam in einer Nußschale: Inhalt, d.h. Absichten/Ideen (yi) und Anliegen/Gesinnung (zhi) besitzen Priorität, und nicht die Gestaltung (wen). Hinsichtlich der Gestaltung hebt er vier Punkte hervor, auf die er beim Schreiben Augenmerk legt: einfache Worte, unmittelbar verständliche Sprache, nachprüfbare Ereignisse (oder Anlässe) und ein frei fließender Stil. Doch dienen diese sprachlichen Mittel einem inhaltlichen Zweck, denn seine Gedichte sind um des Herrschers und des Volkes, um der Dinge 89
90
S. zum Beispiel die Gedichte »Der alte Holzkohlenverkäufer«, »Weißhaarige in Shangyang«, »An die Huren gerichtet, im Namen der Frau, die Brennholz verkaufte« und viele mehr in WEIGUI FANG (Übers.): Den Kranich fragen – 155 Gedichte von Bai Juyi, Göttingen: Cuvillier 1999, S. 9, 103–114 (mit chin. Original). GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 108; vgl. LI: Der Weg des Schönen, S. 280.
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und der Ereignisse willen, und nicht um des Schreibens willen geschrieben. Also ein klares Bekenntnis zu sozialkritisch-engagierter – oder besser konfuzianischdidaktischer – Literatur und eine Absage an einen Standpunkt des l’art pour l’art. Der zeitgenössische chinesische Kulturphilosoph Li Zehou meint allerdings dazu: Das ist tatsächlich ungewöhnlich deutlich – allerdings auch höchst einengend. Werden Literatur und Kunst von Moral und Politik instrumentalisiert und die kunstimmanenten, ästhetischen und formalen Gesetzmäßigkeiten über Bord geworfen, dann ist das natürlich keineswegs von Vorteil für die Entwicklung der Literatur und Kunst und muß früher oder später ins Gegenteil umschlagen. So gelten auch viele der satirisch-gesellschaftskritischen Gedichte Bai Juyis keineswegs als gelungen; vielmehr sind es die in der Art seines »Liedes von der ewigen Trauer«, die bis heute populär geblieben sind.91
Die volksliedhafte Einfachheit von Bai Juyis poetischer Sprache ist geradezu legendär: Bai soll seine Gedichte immer zunächst einer alten und des Lesens unkundigen Frau vorgetragen haben und erst dann mit seinen Werken zufrieden gewesen sein, wenn sie die Gedichte ohne Probleme verstand. Wenn diese Geschichte auch nicht unbedingt auf Tatsachen beruhen mag, so wäre sie doch gut und treffend erfunden. Sein Mitgefühl für die Nöte der Unterprivilegierten und Verarmten äußert sich demnach nicht nur in seinen Themen, sondern auch darin, daß er die Sprache des Volkes benutzte, dem sein ganzes Engagement als konfuzianischer Beamter galt. Mit dieser Einstellung ist er der erste chinesische Dichter, der bewußt versuchte, in der Volkssprache zu schreiben. Am berühmtesten wurden einige längere und nicht unbedingt sozialkritische Balladen, wie das von Li Zehou erwähnte »Lied von der ewigen Trauer« (Changhen ge), in dem er das Schicksal der während der An Lushan-Wirren von Kaiser Xuanzong geopferten kaiserlichen Lieblingskonkubine Yang Guifei besang92, oder das »Pipa-Lied« (Pipa xing)93 über eine ehemalige Kurtisane fern der Hauptstadt. Die Volksnähe seiner Dichtung läßt sich nicht zuletzt daran ersehen, daß man, wie sein Dichterfreund Yuan Zhen (779– 831)94 einmal bemerkte, bereits zu seinen Lebzeiten seine berühmten Balladen »auf den Wänden von Dorfschulen, Tempeln und Schiffskabinen« geschrieben fand.95 Allerdings betrachtete er selbst diese bis heute populären Weisen nicht als sein Hauptwerk, sondern eher als literarische Petitessen. Er könne es halt nicht verhindern, daß die gemeine Welt solch eher belanglose Dinge schätze.96 91 92
93 94
95 96
LI: Der Weg des Schönen, S. 280. KLÖPSCH: Der seidene Faden, S. 258ff. S. die ausführliche Besprechung in KUBIN: Geschichte der chinesischen Dichtkunst, S. 198–208. KLÖPSCH: Der seidene Faden, S. 267ff. Zu Yuan Zhen s. LUDGAR IKAS: Der klassische Vierzeiler. Das Beispiel Yuan Zhen (779– 831), Frankfurt: Peter Lang 1995. S. das Zitat bei KUBIN: Geschichte der chinesischen Dichtkunst, S. 190. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 99.
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In einem langen Brief97 an seinen Freund Yuan Zhen – beide werden von chinesischen Literaturhistorikern meist in einem Atemzug als sozialkritische Dichter genannt – findet sich folgende Passage, in welcher Bai Juyi beschreibt, wie er diese Form von Dichtung politisch eingesetzt hat: Als ich eine Stelle am Hof bekam, war ich bereits älter und las auch mehr über [politische] Ereignisse; in Unterhaltungen mit anderen Menschen erkundigte ich mich mehr nach Problemen der damaligen Zeit; und beim Lesen von Büchern und Geschichtswerken versuchte ich immer die Prinzipien und den rechten »Weg« (dao) zu entdecken. So begann ich zu verstehen, daß Prosa-Aufsätze im Hinblick auf die jeweilige Zeit, Lieder und Gedichte im Hinblick auf gewisse Ereignisse zu schreiben sind. In jenen Jahren hatte ein neuer Kaiser den Thron bestiegen; unter den Ministern gab es aufrichtige Leute. Wiederholt hatte der Kaiser seine Minister beauftragt, ihn über die Nöte des Volkes zu informieren. Ich war damals Mitglied der Hanlin-Akademie und hatte den Posten eines Zensors. Außer den monatlichen Berichten und Thron-Eingaben gab es Gelegenheiten, in denen ich versuchte, das Los der Bevölkerung zu lindern oder bestimmte politische Fehler zu korrigieren, wobei allerdings die Dinge kaum direkt angesprochen werden konnten. So machte ich ein Lied darüber und hoffte, daß auf diese Weise der Herrscher davon Gehör bekäme, so daß es ihm beim guten Regieren des Reiches helfen könnte. Auf diese Weise konnte ich meinen Dank für die kaiserliche Gunst bezeugen und wurde auch meiner Aufgabe als Zensor gerecht. [...] Oh weh! Kann es sein, daß der Himmel die bewegende Kraft der »Sechs Prinzipien« und der »Vier Anfänge«98 [des Buchs der Lieder] zerstören oder nicht unterstützen möchte? Kann es sein, daß er nicht wünscht, daß seine Absichten an das Ohr des Herrschers gelangen?99
Bai Juyi nimmt hier einen Standpunkt ein, der durch das »Große Vorwort« vorgegeben ist. Darin wird bekanntlich die kritische Funktion der Dichtung hervorgehoben; sie stellt somit ein legitimes Mittel des Volkes dar, sich beim Herrscher Gehör zu verschaffen. Allerdings darf diese Kritik nicht direkt sein, sondern muß sich verhalten äußern. Man beachte insofern auch (wie zuvor bei Du Fu) Bai Juyis dementsprechende Hinweise, seine Loyalitätsbekundungen und die Betonung seiner guten Absichten: er wolle mit seinen Vorlagen nur dem Herrscher dienen und ihm damit die Möglichkeit geben, ein noch besserer Regent zu sein. In diesem Brief aus dem Jahre 805 finden sich die meisten Äußerungen von Bai Juyi über Sinn und Zweck der Dichtung, so auch folgende, ins Kosmische 97
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Eine Übersetzung dieses Briefes findet sich in ARTHUR WALEY: The Life and Times of Po Chü-yi, London: Allen and Unwin 1949, S. 107–114. Die sechs Prinzipien, sind feng, ya, song und fu, bi, xing; die vier Anfänge sind die feng, xiao ya, da ya und song. Insgesamt stehen die beiden Ausdrücke für Dichtung mit sozialkritischem Anspruch. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 98–99.
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überhöhte Begründung der Literatur. Es ist eine Eloge auf das Konzept wen, und zwar in all seiner schillernden Mehrdeutigkeit als »Schmuck«, »Muster«, »Ausgestaltung«, »Form«, »Kultur«, aber auch »Literatur«: Erhaben ist wen (Schmuck). Die Drei Mächte (Himmel, Erde und Mensch) haben alle ihren Schmuck: Zum Schmuck des Himmels gehören als erstes die drei Lichter (Sonne, Mond und Sterne). Zum Schmuck der Erde gehören als erstes die Fünf Elemente (Wasser, Feuer, Erde, Metall, Holz). Zum Schmuck/Literatur des Menschen gehören als erstes die Sechs Klassiker. Und was die Sechs Klassiker betrifft, so ist das Buch der Lieder als erstes zu nennen. Warum? Die Weisen bewegten die Herzen der Menschen, und so herrschte Friede auf der Welt. Was das Vermögen, die Herzen der Menschen zu bewegen, betrifft, so gibt es nichts, was dem Gefühl (qing) vorausginge, nichts, was nicht mit Worten (yan) begänne, nichts, was harmonischer wäre als Klang (sheng), und nichts, was tiefer wäre als Bedeutung/Sinn (yi). Dichtung hat Gefühl als ihre Wurzel, Worte als ihren Keim, Klang als ihre Blüte und Bedeutung als ihre Frucht. Oben von den Würdigen und Weisen angefangen bis hinunter zu den Tauben und Toren, im Kleinen die Insekten und Fische, im Verborgenen die Geister und Dämonen – all diese sind zwar unterschiedlich in ihren Gruppen, haben aber die Lebenskraft (qi) als Gemeinsames; sie sind verschieden in der Form, doch ihre Gefühle sind eins. Es kommt nicht vor, daß Klänge [in das Ohr] eindringen und man nicht darauf reagierte, daß Gefühle ausgetauscht würden und nicht daraus [emotionale] Bewegung entstünde.100
Diese kosmologisch begründete Sicht und Bewertung der Literatur erinnert an Liu Xies Anfangskapitel, wo wir ebenfalls eine großangelegte Analogie zwischen einem kosmischen und menschlichen Muster bzw. eine Entsprechung von Makround Mikrokosmos, vorgeführt bekamen. Es ist eine Auffassung von Literatur, die dem konfuzianischen universalen Ordnungsdenken in jeder Hinsicht entspricht. Doch wie bei so vielen chinesischen Literaten, die in der Beamtenlaufbahn höchste Sprossen erklommen hatten, war Bai Juyis Leben nicht frei von politischen Frustrationen. Er wurde wiederholt degradiert, und die sozialen Ideale, die ihn bewegten, ließen sich nur ansatzweise politisch umsetzen. Dies führte dazu, daß er – wie auch einer seiner anderen dichterischen Vorbilder, nämlich Tao Yuanming – in seinen späten Jahren der Politik den Rücken kehrte und sich in Beschaulichkeit der eigenen Vervollkommnung widmete bzw. »sein eigenes Leben erhöhte«. Dies war traditionell – seit dem konfuzianischen Philosophen Menzius – die einzige Alternative zum gesellschaftlichen Engagement als Beamter, die sich einem edelgesinnten Literaten bot. So heißt es bei Menzius: Im Altertum machten es die Männer so, daß wenn sie ihr Ziel erreichten, sie dem ganzen Volke Segen spendeten; wenn sie ihr Ziel nicht erreichten, so ver100
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 96.
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DIE TANG-ZEIT edelten sie ihr Leben, daß es auf Erden strahlte. Im Mißerfolg erhöhten sie nur ihr eigenes Leben; hatten sie Erfolg, so erhöhten sie gleichzeitig die ganze Welt.101
Insofern findet sich unter Bai Juyis fast 3000 Gedichten nicht nur Gesellschaftskritik, sondern sogar in noch umfangreicheren Maße buddhistisch-daoistisch inspirierte Beschaulichkeit, Selbstgenügsamkeit und Abgeklärtheit; und vielleicht macht gerade diese Kombination in ihrer gegenseitigen Ergänzung den Reiz des Œuvres dieses großen Dichters aus. Er selbst charakterisierte seine Lieder in direktem Bezug zur gerade zitierten Menzius-Passage in seinem Brief an Yuan Zhen in folgender Weise: Was ich als meine »kritisch-didaktischen Lieder« (fengyu shi) bezeichne, so sind diese dazu da, »gleichzeitig die ganze Welt zu erhöhen«; was ich als meine »beschaulichen Lieder« (xianshi shi) bezeichne, so sind sie dazu da, mein »eigenes Leben zu erhöhen«. […] Wenn es Dir und mir gut geht, schreiben wir uns Gedichte zur gegenseitigen Erbauung; wenn in Nöten, schreiben wir zur gegenseitigen Ermutigung; wenn einsam, trösten wir uns gegenseitig, und wenn wir zusammen sind, schreiben wir zum gegenseitigen Vergnügen.102
Für Bai Juyi, wie für Du Fu vor ihm, ist es charakteristisch, daß er nicht einfach als konfuzianischer Moralist einzuordnen ist, vielmehr hat er sich in seinen späteren Jahren intensiv dem Chan-Buddhismus zugewandt und daraus Inspiration geschöpft. Eine abgeklärte Einsicht in den Lauf der Welt spricht in einfacher und doch so überzeugender Weise auch aus dem Gedicht »Empfindungen angesichts dessen, was ich erlebt habe«: Die Klugen mühen sich ab, besorgt sind die Weisen; Ich – ein dummer Greis – kenne weder Freude noch Gram. Sei zufrieden! Den nutzlosen Bergbaum wird man nicht fällen – Ihm geht es besser als dem Vogel im Käfig – ohne Freiheit. Dem alten Fasan stellt man kein Netz – sein Schwanz ist gebrochen; Doch der frische Fisch auf dem Teller – er hat den Köder geschluckt. Wer kann mich im Innern verstehen? Ab und zu lächle ich kühl – und wende mich ab.103
Hier verschmelzen in einer Weise, wie sie für die chinesische Dichtung seit alters her als Ideal empfunden wurde, prägnante Bilder aus der Natur mit tief empfundenen Gedanken über die Unwägbarkeiten des Lebens. Die meisten dieser Bilder 101 102 103
Menzius, 7A.9; WILHELM: Mong Dsi, S. 186. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 100–101. FANG: Den Kranich fragen, S. 337 (mit chin. Original).
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sind gerade auch in bezug auf Bais Leben unmittelbar verständlich. Bereits Tao Yuanming dichtete darüber, daß er sein freies Leben demjenigen eines Vogels im Käfig vorzog104. Und wenn sich Bai Juyi hier mit einem alten Fasan vergleicht, der aufgrund seines gebrochenen Schweifs in Ruhe gelassen wird, so findet das seine Entsprechung wohl darin, daß er im Alter trotz seines Ruhmes für die politischen Kreise keine attraktive Beute mehr darstellte. Die dritte Zeile enthält dabei den metaphorischen Kern dieses Gedichts, nämlich eine Anspielung auf eine Stelle im daoistischen Zhuangzi, worin das Ideal der Nutzlosigkeit als Lebens- bzw. Überlebensmaxime – gegen das »Leiden der Brauchbarkeit« – am Beispiel eines knorrigen und für den Zimmermann untauglichen Bergbaumes hochgehalten wird.105 Dies ist denn die vielleicht zeitlose Quintessenz aus Bai Juyis reicher Lebenserfahrung: Gesellschaftliches Engagement ist zwar wichtig, doch Lebensklugheit liegt auch darin zu wissen, wann es Zeit ist, sich aus dem Getriebe und den Verstrickungen der Welt zu lösen. Zumindest ein großer deutscher Dichter des 20. Jahrhunderts hat Bai Juyi rundum schätzen gelernt: Bertolt Brecht. Er kannte Bais Gedichte durch Arthur Waleys Übersetzungen, von welchen er – ohne die chinesischen Originale je gesehen zu haben – bemerkenswerte Übertragungen ins Deutsche anfertigte106. Dabei ist es nicht von Ungefähr, daß Brecht, der sich in nicht unbeträchtlicher Weise (wenn auch ohne Sprachkenntnisse) die chinesische Philosophie und Literatur erschloß, gerade in Bai Juyi einen Geistesverwandten erblickte, er teilte nämlich dessen Auffassung hinsichtlich Sinn und Zweck der Literatur: Beiden war das Anliegen gemein, Dichtung aus Sorge um die Gesellschaft, das heißt mit politischem, moralischem und didaktischem Anspruch, zu schreiben und dafür eine direkte, verständliche und volksnahe Sprache als poetisches Medium zu finden. Dabei wußte jedoch Brecht, wie auch Bai Juyi, mit seinen Werken sehr wohl zu gefallen. Für die konfuzianisch-didaktische Seite an Bai Juyi hatte Arthur Waley (wie auch Li Zehou in obigem Zitat) offenbar wenig Verständnis, vielmehr hegte er eher eine Vorliebe für Bais nicht-moralisierende Gedichte.107 Deshalb hat Brecht einmal über Waley bemerkt: »… Dieser ausgezeichnete Sinologe … kann es nicht fassen, daß für den 104 105 106
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In dem Gedicht »Zurück zu Garten und Feld«; TAO: Der Pfirsichblütenquell, S. 71. WILHELM: Dschuang Dsi, S. 69. ARTHUR WALEY (Übers.): One Hundred and Seventy Chinese Poems, London: Allen and Unwin 1946, S. 83–129. S. auch ANTONY TATLOW: Brechts chinesische Gedichte, Frankfurt: Suhrkamp 1973. So schreibt Waley: »Like Confucius, he (Bai Juyi) regarded art solely as a method of conveying instruction. He is not the only great artist who has advanced this untenable theory. He accordingly valued his didactic poems far above his other work; but it is obvious that much of his best poetry conveys no moral whatever.« WALEY: One Hundred and Seventy Chinese Poems, S. 87.
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Po Chü-yi zwischen Didaktik und Amüsement kein Unterschied besteht …«108 Von Brecht dürfen wir somit annehmen, daß ihm das Diktum des Horaz, welches mit »Nützen und Erfreuen« (prodesse et delectare) die Doppelfunktion der Dichtung hervorhob, bekannt war. Sein Gesinnungsgenosse Bai Juyi, wäre er mit dem alten Römer vertraut gewesen, hätte mit dieser – nicht einseitigen – Sicht der Literatur sicherlich keine Probleme gehabt.
3.3 Moral und Altertum – Han Yu Neben Bai Juyi gilt Han Yu (768–824) als herausragender Literat der Tang-Mitte und als eine der nachwirkungsreichsten Figuren für die Entwicklung der chinesischen Literatur überhaupt – sowohl der Prosa als auch der Dichtung. Mit Bai Juyi verbindet ihn das konfuzianische Ethos und die Wiederbelebung gewisser antiker Ideen und Präferenzen. Was die beiden trennt, sind die literarischen Medien und Formen sowie deren stilistische Gestaltung: Während Bai Juyi der Dichter der sozialkritischen, aber auch der einfachen und volksnahen Ballade ist, hat sich Han Yu vor allem einen Namen gemacht als Erneuerer der Prosa – und zwar wie bei Chen Zi'ang aus dem Geist des Altertums heraus – und erst in zweiter Linie als eigenwilliger Lyriker. Anders als Bai führte er eine ungewöhnliche, komplexe und mit Prosa-Partikeln durchsetzte Diktion in die Lyrik ein, sodaß man davon spricht, er habe »Gedichte aus Prosa gemacht« (yi wen wei shi). Diese Art der Dichtung wurde zwar später (vor allem in der Song- und Qing-Zeit) von vielen hochgelobt, sie stellt allerdings aufgrund ihrer bisweilen beträchtlichen Schwierigkeiten auch erhebliche Anforderungen an den Leser.109 Mit Han Yu verbinden wir also hauptsächlich das Bemühen um eine Wiederbelebung eines antiken Stils in der Prosa: die sogenannte guwen-Bewegung. Allerdings beschränkt sich diese Bewegung nicht auf die Literatur, vielmehr ist sie gepaart von einem Bemühen um die Wiederbelebung der konfuzianischen Tradition überhaupt. Das heißt, es geht Han Yu um einen antiken Stil als adäquaten Aus108
109
BERTOLT BRECHT: Über Lyrik, edition suhrkamp 70, S. 48, zitiert nach Tatlow, S. 17. Brecht kannte allerdings nicht Waleys Biographie von Bai Juyi (The Life and Times of Po Chü-yi), in der dieser Bais Brief an Yuan Zhen übersetzt und kommentiert, sondern nur Waleys Band 170 Chinese Poems. Deshalb interpretiert Tatlow die Pünktchen in Brechts Ausruf als: »Was für ein Esel ist Waley!«. Tatlow erklärt Waleys Abneigung allem Didaktischen gegenüber mit dem damaligen Zeitgeist: Unter den Imagisten (Pound u.a.) sei ein »Ablehnen des verpönten Moralisierens« recht verbreitet gewesen. Zu Han Yus lyrischem Werk S. STEPHEN OWEN: The Poetry of Meng Chiao and Han Yü, New Haven: Yale UP 1975, sowie die komplette (und sehr prosaische) Übersetzung seines lyrischen Œuvres von ERWIN VON ZACH: Han Yü’s poetische Werke, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1952. S. auch die exemplarische Interpretation von Han Yus langem »Lied von den Steintrommeln« (Shigu ge) in: KUBIN: Die chinesische Dichtkunst, S. 210ff.
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druck des dementsprechenden konfuzianischen Geistes, mit andern Worten um eine Einheit von wen (Literatur/Stil) und Dao (den moralischen »Weg«).110 Die Genese der guwen-Bewegung muß zunächst kurz aus ihrem literatur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang heraus vorgestellt werden. Auf dem Gebiet der Lyrik war bereits auf die Dominanz des sogenannten Palaststils während der Zeit der Sechs Dynastien und auf die Reaktion des früh-tangzeitlichen Dichters Chen Zi'ang auf diese Tendenzen, nämlich in Form einer »Rückkehr zum Altertum« (fugu), hingewiesen worden. Ähnliche Verhältnisse herrschten hinsichtlich der Prosa. Hier dominierte ebenfalls ein hochgekünstelter Stil der Parallelprosa (pianwen), in dem ja auch das literaturtheoretische Hauptwerk der frühen chinesischen Tradition, Liu Xies Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen, abgefaßt ist. Während letzteres Werk sich durch einen reichen Inhalt auszeichnet, der noch mit den formalen Besonderheiten im Gleichgewicht steht, dürfte ein großer Teil der Prosaliteratur dieser Epoche, auch der Tang-Zeit, eher als parallelgebautes Wortgeklingel zu charakterisieren sein. Parallel zur Entwicklung der Literatur hatte ab der Han-Zeit im geistesgeschichtlichen Bereich der Konfuzianismus als staatstragende Ideologie zunehmend an Bedeutung verloren. In der Tang-Zeit versuchte man zwar bereits gleich zu Anfang, eine Wende herbeizuführen, indem nämlich ein Kommentarwerk zu den konfuzianischen Klassikern bei Kong Yingda (574–648) in Auftrag gegeben wurde, welches für diese eine »orthodoxe Bedeutung« (zhengyi) liefern sollte und das fortan als maßgebliche Auslegung der klassischen Texte betrachtet wurde. Doch darf dies nicht darüber hinweg täuschen, daß die Tang im wesentlichen eine buddhistische Dynastie darstellte, in welcher insbesondere das Klosterwesen anwuchs und Buddhisten in der Politik und Gesellschaft einen bedeutenden Einfluß gewannen. Die An Lushan-Rebellion (755) stellte auch hinsichtlich der Machtstellung des Buddhismus einen Wendepunkt dar. Das Bewußtsein wuchs, daß dem Staatswesen die einstmals Sicherheit bietende ideologische Basis des Konfuzianismus verlorengegangen war, und ein neues Interesse an dieser Tradition – einschließlich ihres literarischen Ausdrucks – entstand. Die antibuddhistische Stimmung, an deren Aufkommen, wie wir noch sehen werden, Han Yu maßgeblich beteiligt war, gipfelte in der Proskription des Buddhismus im Jahre 845, die für etliche Schulen des Buddhismus das Ende bedeutete.111 110
111
Zu Han Yus geistesgeschichtlicher Bedeutung (auch auf dem Gebiet des guwen) s. die lesenswerte Studie von CHARLES HARTMAN: Han Yü and the T'ang Search for Unity, Princeton: Princeton UP 1986. Die »Buddhistenverfolgung« im Jahre 845 richtete sich gegen die Tendenz, daß mit den buddhistischen Klöstern staats- und steuerfreie Räume im Reich entstanden. Folglich wurden im Zuge dieser Kampagne Klöster sowie Mönche und Nonnen zwangssäkularisiert. Die Verfolgung richtete sich nicht gegen das Leben der Gläubigen. S. KUHN: Status und Ritus, S. 600ff.
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Die zurück zu einer »konfuzianischen« Literatur führenden Tendenzen zeigen sich auch in den Schriften von fünf führenden Prosa-Autoren – Li Hua (ca. 710 – ca. 767), Xiao Yingshi (717–58), Yuan Jie (719–72), Dugu Ji (725–77) und Yan Zhenqing112 (709–84) –, die in der Zeit der Rebellion aktiv waren und deren Werke von David McMullen untersucht wurden.113 Hier finden wir bereits im Rahmen einer historischen Kritik Diskussionen über das Konzept wen in all seiner schillernden Bedeutungsvielfalt und auch wiederum eine Aufwertung, wenn nicht – wie schon gehabt – eine kosmische Hypostasierung und Analogie: So wie das »Muster des Himmels« (tianwen), so auch das »Muster des Menschen« (renwen), nämlich die Literatur. Neben einer Wiederbelebung der bereits in der Dichtung vorherrschenden Widerspiegelungstheorie – Dichtung/Literatur spiegelt die Nöte und Freuden des Volkes wider und hilft so dem Herrscher beim Regieren – geht es diesen Literaten auch und gerade um das bekannte Thema der Polarität von Form und Substanz (wen zhi). Han Yu gilt als der tangzeitliche Literat, der dem Konfuzianismus wieder zum Durchbruch verhalf; deshalb wird er auch als der »Vater« des in der darauffolgenden Song-Dynastie einsetzenden Neokonfuzianismus betrachtet. So hat er nicht nur die Tradition des Menzius mit dessen positiver Sicht der menschlichen Natur – daß sie nämlich ursprünglich gut sei – wieder aufgewertet, sondern auch auf zentrale Konzepte aus den beiden kleinen aus dem Buch der Riten stammenden Schriften »Die Große Lehre« (Daxue) und »Maß und Mitte« (Zhongyong) abgehoben, nämlich (aus dem Daxue) dem Gedanken der Selbstkultivierung (xiushen) als Grundlage eines harmonisch geordneten Gemeinwesens, sowie Aufrichtigkeit oder Authentizität (cheng), die im Zhongyong als Attribut des Himmels bezeichnet und somit dem Menschen zur Nachahmung empfohlen wird.114 Durch das Wirken von Zhu Xi sollten die beiden Schriften als zwei der sogenannten »Vier Bücher« ab der Song-Zeit zu den wichtigsten Klassikern des Neokonfuzianismus werden. Einer von Han Yus maßgeblichen Prosatexten gilt folglich dem Menzius’schen Thema der menschlichen Natur (Yuan xing); ein anderer, und sicher einer der berühmtesten, versucht dem »Ursprung des ›Weges‹« nachzuspüren (Yuan dao), wobei es Han Yu daran gelegen ist, die chinesische Tradition des Konfuzius und Menzius von der aus der Fremde kommenden Lehre des Buddha sowie von der 112
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Zur Bedeutung von Yan Zhenqings Kalligraphie im ästhetischen Kontext der Tang-Zeit sowie deren modellhafter Wirkung für spätere Epochen S. LI: Der Weg des Schönen, S. 252ff. Li sieht Yans Kalligraphie als Pendant zu Du Fus Gedichten und Han Yus Prosa. DAVID MCMULLEN: »Historical and Literary Theory in Mid-Eighth Century«, in: A.F. WRIGHT und D. TWITCHETT (Hg.): Perspectives on the T'ang, New Haven: Yale UP 1973, S. 307–342. Zhongyong (Nr. 21–25). Die beiden Schriften sind enthalten (mit chin. Original) in LEGGE: Analects. Für eine deutsche Übersetzung s. WILHELM: Li Gi, S. 27–55.
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Konfuzianismus und Literatur –Didaktische Strömungen in der Tang-Literatur
»Verirrung« des Daoismus abzugrenzen.115 In dieser Schrift finden wir insofern auch die ideologischen Ursprünge eines chinesischen Nationalismus. Ebenfalls gegen den Buddhismus gewandt ist Han Yus berühmt gewordenen Throneingabe gegen die – staatlich geförderte – Verehrung einer buddhistischen Reliquie, nämlich eines Buddha-Knochens (Lun Fogu biao). Da er darin dem Herrscher gegenüber andeutete, daß dessen Förderung eines derartigen fremdländischen Kultes nur sein Leben verkürzen würde, zog er sich den Vorwurf der Majestätsbeleidigung zu, weshalb er – der Hinrichtung durch Fürsprecher knapp entkommen – für mehrere Jahre in die Verbannung geschickt wurde. Trotz aller Hinwendung zum Altertum ist zu betonen, daß es Han Yu nicht um eine Kopie des Stils der alten Schriften ging, sondern um eine Erneuerung der konfuzianischen Ideale über den Stil der Klassiker. Wenn er den literarischen Stil seiner Zeit attackierte, tat er dies, weil in seiner Sicht in diesen schön konstruierten Aufsätzen jeglicher Bezug zu den Klassikern bzw. zum konfuzianischen Geist fehlte. So betont er in einem »Nachwort zu einer Klage«: Wenn ich Prosa im alten Stil (guwen) schreibe, wie könnte mir dies gelingen, indem ich einfach ein paar Sätze in einer heute nicht mehr gemäßen Art verwende? Ich denke an die Alten, ohne daß ich sie zu Gesicht bekomme, und studiere den »Weg« (dao) der Alten; dazu muß man allerdings ihren Stil (ci) verstehen wollen. Ein Verständnis ihres Stils ist grundlegend, wenn man sich den »Weg« der Alten zum Ziel setzen will.116
Für Han Yu liegt die Beherrschung des Stils der Alten (wörtl.: deren »Worte«) somit nicht in der Übernahme deren Diktion, wichtig ist vielmehr der Geist, der Sinn oder die Ideen/Absichten (yi), die in den Klassikern angelegt sind. Bei der Wortwahl, andrerseits, mahnt er, keine Scheu vor ungewöhnlichen Wendungen zu hegen. In dieser Hinsicht hat Han Yu die Prosa-Literatur auch aus der Sprache seiner Zeit heraus erneuert, indem er nämlich zeitgenössische Elemente in seinen unverwechselbaren eigenen Stil hinein integriert hat. Insofern gilt Han Yu als Meister des Ungewöhnlichen (qi) und als Schöpfer »sprachlicher Wendungen« (zaoyu). Beides, die Orientierung am Altertum und die Pflege einer eigenen, ungewöhnlichen Diktion – d.h. einer Einheit von Alt und Neu –, findet sich thematisiert in einem »Brief an Liu Zhengfu«: Wenn jemand fragen würde, wen man zum Verfassen von Literatur als Lehrer betrachten sollte, so würde ich antworten: »Man nehme die Weisen und Würdigen des Altertums als Lehrer.« Und wenn er dann meinte: »Die Schriften der Weisen 115
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S. W. Kubins Ausführungen zu Han Yus Prosa in: MARION EGGERT et al. (Hg.): Die klassische chinesische Prosa. Essay, Reisebericht, Skizze, Brief, München: Saur 2004, S. 22ff. ZHOU ZUZHUAN (Komp.): Sui Tang Wudai wenlun xuan, Peking: Remin wenxue 1990, S. 212; vgl. HARTMAN: Han Yü, S. 213.
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DIE TANG-ZEIT und Würdigen des Altertums, die uns alle überliefert wurden, sind stilistisch verschieden. Wer sollte da unser Lehrer sein?«, so würde ich antworten: »Nehmt Euch ihre Ideen/Absichten zum Lehrer, nicht ihre Worte.« Und wenn er dann fragte: »Sollte die Prosa (wen) einfach oder schwierig sein?«, so würde ich antworten: »Weder einfach, noch schwierig, sondern passend.« [...] Den hundert Dingen, die man täglich sieht, schenkt man meist keine Aufmerksamkeit. Doch wenn man etwas Außergewöhnliches findet, so schauen sich dies alle an und reden darüber. Ist es nicht auch so mit der Literatur? [...] Wenn [die Schreiber der Han-Zeit] sich an die Mode ihrer Periode gehalten hätten, dann hätten sie sich keinen Namen gemacht. Für ihre Zeitgenossen wären sie nichts Besonderes gewesen, und es wäre nichts von ihnen der Nachwelt überliefert worden. Da sind hundert Dinge in Eurem Haus, die Ihr benutzt, doch was Ihr schätzt, ist das Außergewöhnliche. Ist die Haltung des Edlen gegenüber der Literatur etwa davon verschieden?117
Zentral ist hier einerseits der Aufruf, sich die Absichten der Alten – und nicht ihre Worte – zum Lehrer zu nehmen. Mit dieser Maßgabe würden sich eigentlich weitere Fragen der Gestaltung oder textlicher Schwierigkeit erübrigen, denn das Geschriebene hat einfach »passend« zu sein. Doch haben wir hier andrerseits auch ein Bekenntnis zum eigenen Stil, zum Besonderen und sogar zum Außergewöhnlichen. Dieser Zusammenklang von sachbezogenem Schreiben und außergewöhnlicher Sprache macht – kurz gefaßt – die Wirkung von Han Yu auf die chinesische Prosa aus. Für Charles Hartman läßt sich das »Phänomen« Han Yu derart auf den Punkt bringen, daß es ihm im wesentlichen um eine Einheit von Politik, Philosophie (Moral) und Literatur gegangen sei (so auch der Titel seiner Studie: The T'ang Search for Unity). In einem genuin konfuzianischen Sinne habe sich Han Yu um den Ausdruck einer Wahrhaftigkeit oder Authentizität (cheng) beim Schreiben bemüht, d.h. um eine Einheit von Innen und Außen, von Substanz und äußerer Form.118 So sollte die Qualität des Geschriebenen ein Maßstab sein für die moralische Qualität des Autors. Diese Gedanken klingen an in folgendem »Antwortbrief an Meister Yuchi«: Was ich Literatur nenne, muß Wahrheit/Wirklichkeit (shi)119 beinhalten. Deshalb muß der Edle auf die Wahrheit/Wirklichkeit achten. Ob diese schön oder häßlich ist, sie gilt es auszudrücken, ohne etwas zu verbergen. Sind die Wurzeln tief, so sind die Zweige blühend; ist die Form (eines Instruments) groß, so ist der Klang mächtig; ist das Verhalten streng, so ist die Sprache scharf; ist das Herz rein, so ist die Vitalität (qi) maßvoll – eine helle Klarheit ohne jeglichen
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GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II. S. 120; vgl. HARTMAN: Han Yü, S. 254. HARTMAN: Han Yü, S. 13–14. Ich folge aus Gründen der Kohärenz der Textvariante, die hier shi anstatt zhu (alle) liest.
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Konfuzianismus und Literatur –Didaktische Strömungen in der Tang-Literatur Zweifel, eine Größe und Freiheit mit genügend Spielraum.120 Ist der Körper nicht komplett, kann man kein vollständiger Mensch (cheng ren) werden; ist der Stil unzureichend, läßt sich keine vollständige Literatur (cheng wen) verfassen.121
Am bekanntesten von Han Yus Briefen, in denen er sich über Literatur äußert, ist ein »Antwortbrief an Li Yi«. Darin spricht er nicht nur bekannte Themen an wie, »sich einen Namen durch Worte machen«, oder den uns bereits vertrauten Zusammenhang zwischen Vitalkraft und Literatur, vielmehr gibt er darin auch einen Abriß seines eigenen literarischen Werdegangs: Der Tag ist gekommen, an dem der (moralische) »Weg« und dessen Wirkkraft (dao de) zurückkehren – wie dann nicht auch ihr äußeres Erscheinungsbild, nämlich die Literatur (wen)? [...] Was Ihr zum Thema »sich einen Namen durch Worte machen« (li yan) 122 sagt, ist richtig. Auch ist das, was Ihr geschrieben habt, nahe an dem, was Ihr zu tun plant. Allerdings bin ich mir nicht sicher über Eure Ziele: Strebt Ihr danach, andere zu übertreffen und so Anstellung zu finden? Oder strebt Ihr danach, Euch durch Worte einen Namen zu machen wie die Männer des Altertums? Wenn Ihr das Erste wählt, so werdet Ihr dies sicher erreichen können. Wenn Ihr aber das Zweite wählt, so erwartet dabei keinen schnellen Erfolg; auch laßt Euch nicht von Macht und Profit verlocken. Ihr müßt vielmehr die Wurzel pflegen und auf die Frucht warten, Öl nachgießen in Erwartung des Lichts der Flamme. Wenn es der Wurzel gut geht, so reift die Frucht, und wenn genügend Öl vorhanden ist, dann wird das Licht erstrahlen. So ist auch die Sprache von mitmenschlichen und rechtschaffenen Menschen (ren yi zhi ren) reich und schön. Jedoch ist dies nicht einfach zu erreichen, und ich weiß auch nicht, ob ich selbst diesen Anforderungen genüge. Gleichwohl habe ich mich mehr als zwanzig Jahre darum bemüht. Am Anfang habe ich nichts anderes zu lesen gewagt als die Schriften der drei Dynastien (Xia, Shang und Zhou) und der beiden Han. Gedanken, die nicht zu den Zielen der Weisen gehörten, habe ich nicht festzuhalten versucht. [...] Wenn ich etwas aus meinem Herzen zu Papier brachte, war mir nur daran gelegen, Klischees (chenyan) zu vermeiden; doch wirkte das [Ergebnis] bemüht und schwierig. Wenn ich es anderen zeigte, so wußte ich nicht, daß ihre Zurückhaltung von Kritik auch so zu verstehen war. So ging es weiter für viele Jahre, ohne daß sich viel änderte. Erst später wurde mir klar, was an den Büchern der Alten richtig und falsch war, und was als korrekt galt, doch nicht zum Besten zählen konnte. So wurde mir bewußt, was weiß und was schwarz war. Ich bemühte mich, letzteres zu beseitigen, und allmählich stellte sich Erfolg ein. Wenn ich damals etwas aus meinem Herzen zu Papier brachte, so sprudelte es hervor. Und wenn ich das Ergebnis anderen 120
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Anspielung an Koch Ding (Zhuangzi, Kap. 3), der von seinem Messer sagt, es könne sich zwischen den Knochen frei bewegen und habe genügend Spielraum. S. Kap. I.5. ZHOU: Sui Tang Wudai wenlun xuan, S. 206f; vgl. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 119f. HARTMAN: Han Yü, S. 218f. Zuozhuan, Xianggong 24.1. S. zu dieser bereits erwähnten Anspielung Kap. II.1.
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DIE TANG-ZEIT zeigte, so freute ich mich über ihre Kritik und war bekümmert, wenn sie es lobten. Denn das bedeutete, daß noch etwas darin war, das ihnen gefiel. So ging es wieder weiter für viele Jahre. Dann erst begann [mein Schreiben/meine Vitalkraft] überzufließen. Doch fürchtete ich immer noch, daß es zu konfus sei. So versuchte ich, meine Ideen vom gegenseitigen Standpunkt aus zu widerlegen; dann prüfte ich es in gelassener Geistesverfassung, und erst wenn alles rein war, brachte ich es zu Papier. Gleichwohl kann ich nicht umhin, [mein Schreiben/ meine Vitalkraft] weiter zu kultivieren. So übe ich mich auf dem Weg von Mitmenschlichkeit und Pflicht (ren yi) und streife umher zu den Quellen der »Lieder« und der »Urkunden« (d.h. den jeweiligen Klassikern). So werde ich bis an mein Lebensende nicht auf diesem Weg in die Irre gehen, noch von diesen Quellen abgeschnitten sein. Vitalkraft (qi) ist wie Wasser, und Worte sind wie die Dinge, die davon getragen werden. Ist das Wasser groß, so wird es alle Dinge, ob klein oder groß, tragen. Und so verhält sich auch die Vitalkraft zu den Worten: Ist die Vitalkraft in reichem Maße vorhanden, dann sind alle Worte passend, ob sie nun kurz oder lang sind, ob die Sprachmelodie rauf oder runter geht. Obwohl [mein literarisches Schreiben] nun so geworden ist, wage ich nicht zu sagen, daß es ausgereift sei. Und selbst wenn es so wäre, wozu sollten es andere nutzen können? Gleichwohl, wartet man darauf, von anderen genutzt zu werden, so ist man wie ein Gerät. Nutzen und Abweisung liegen ganz bei anderen Menschen. Der Edle ist jedoch nicht so.123 Er läßt sein Herz im Dao verweilen und verhält sich den entsprechenden Prinzipien gemäß. Wird er zum Nutzen angestellt, so läßt er die Menschen daran teilhaben; wird er abgewiesen, so vermittelt er seine Lehren an Schüler und bringt sie in literarische Form, sodaß sie der Nachwelt als Muster/Regel (fa) dienen können. Ist dies nicht etwas, worüber man sich freuen kann?124
Obwohl es durchaus als nobles, nämlich durch die Klassiker abgesichertes Ziel gilt, »sich einen Namen durch Worte« zu machen (li yan), wodurch sich dann ein unsterblicher Ruf (buxiu) erreichen läßt, heißt es achtzugeben, ob man dadurch nicht doch den Verlockungen von »Macht und Profit« erliegt. Für Han Yu jedenfalls scheint eine Orientierung an den von Konfuzius und Menzius überlieferten Idealen wichtiger, als in der Gesellschaft Anerkennung durch Anstellung zu finden. Interessant ist gegen Ende dieses Briefes auch eine zweifache Bezugnahme auf Menzius, erstens nämlich zum Zusammenhang zwischen Vitalität (qi) und Worten/Sprache (Menzius, 2A.2). Wie Menzius scheint auch Han Yu seine Vitalität durch Mitmenschlichkeit (ren) und Pflicht (yi) nähren zu wollen. Und auch in der Wortwahl knüpft er an die Vorgaben von Menzius, der von »überfließender Vitalkraft« (haoran zhi qi) spricht, an. Eine zweite Anspielung ganz am Schluß des Briefes gilt der gleichen Stelle, auf die sich auch Bai Juyi berufen hatte (Menzius, 123 124
Lunyu, 2.12. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 115f; vgl. HARTMAN: Han Yü, S. 242f.
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Konfuzianismus und Literatur –Didaktische Strömungen in der Tang-Literatur
7A.9): Jemand, der im öffentlichen Leben Erfolg hat, soll dies zum Nutzen anderer tun; hat er hingegen keinen Erfolg, so mag er sich der Kultivierung seines Lebens und der Bildung widmen. Mit der von ihm initiierten guwen-Bewegung hat Han Yu für die nachfolgende Zeit neue ästhetische Standards gesetzt, und zwar nicht nur für die chinesische Prosa, sondern auch für die Dichtung. Berühmt geworden ist z.B. sein Diktum, daß er sich um die Beseitigung von Klischees bemüht hat, die es in beiden Gattungen reichlich gegeben haben muß. Auch sind bei ihm wichtige spätere Neuerungen bereits im Keim angelegt. So finden wir einen engen Bezug zwischen wen und Dao. Während jedoch bei Han Yu der Literatur und dem »Weg« noch eine eigene Stellung zukommt, wird der Literatur (wen) mit Zhou Dunyi im songzeitlichen Neokonfuzianismus, nämlich in dessen Formulierung, »die Literatur soll Trägerin/ Vehikel des ›Weges‹ sein« (wen yi zai dao), eine eher dienende Rolle zugewiesen. Bei Han Yu läßt sich die Einheit von beiden hingegen passender mit den Worten seines ebenfalls berühmten guwen-Kollegen und Zeitgenossen Liu Zongyuan (773–819) fassen, daß nämlich die »Literatur den ›Weg‹ erhellen« soll (wen zhe yi ming dao).125 Allerdings macht der letzte Brief auch deutlich, daß Han Yu trotz aller Betonung konfuzianischer Lehren nicht unbedingt die ebenfalls konfuzianische Tugend der Bescheidenheit beherzigte. Dieser Umstand ist auch den Rezipienten seines Werkes nicht verborgen geblieben. Die Einschätzung von Li Zehou, der Han Yu in seiner Art, sich »für einzigartig auf der Welt« zu halten, als eher arrogant charakterisiert, mag dafür (mit seinen Quellen) zum Abschluß stellvertretend angeführt werden: Zhu Xi (1130–1200) kritisierte an Han Yu, er habe »seine Prosa allein deswegen geschrieben, um Bewunderung zu erregen«; und auch Su Shi schrieb: »Den ›Weg‹ des Weisen (Konfuzius) wußte Han Yu dem Namen nach wohl zu schätzen; an dessen Substanz hingegen konnte er sich nicht erfreuen.« Han Yu propagierte zwar unüberhörbar die sich auf den Herzog von Zhou und Konfuzius gründende orthodoxe Tradition und redete sehr ernsthaft von Menschlichkeit, Pflichtgefühl, dem »Weg« und der Tugend, aber sein eigenes Leben und seine Vorlieben zeugen eher von Ruhm- und Geldgier, Genußsucht und Schöntuerei. Daran störten sich schon damals und später – von Wang Anshi bis Wang Fuzhi – alle, die glaubten, moralische Grundsätze verteidigen zu müssen.126
In Anbetracht der Tatsache daß einerseits der moralische Rigorismus des chinesischen Kommunismus nicht sehr verschieden von dem seines neokonfuzianischen Vorgängers ist127, man andererseits über die Lebenswirklichkeit und Charakter125 126 127
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 144; vgl. HARTMAN: Han Yü, S. 224. LI: Der Weg des Schönen, S. 283–84, 304. Es wäre sicher nicht falsch, über die immer noch gültige Maxime einer »Einheit von Politik und Moral« – zheng jiao he yi – hier sogar eine direkte Linie zu ziehen bzw. von einem Erbe zu sprechen.
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eigenschaften von Figuren aus der Vergangenheit (in diesem Fall von solchen, die vor gut 1200 Jahren lebten) nur noch schwer ein Urteil fällen kann, wäre diese gerade zitierte Einschätzung eines konfuzianischen Marxisten sicherlich auch cum grano salis zu nehmen. Allerdings wirft die Passage doch ein Licht auf ein zeitloses Dilemma, nämlich das zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Lebenspraxis. Und so wie viele der heutigen Literaten und Politiker ihrem (moralischen) Anspruch nicht gerecht werden, so dürfen wir getrost annehmen, daß die Aufgabe, beides zur Deckung zu bringen, vor 1200 Jahren nicht einfacher gewesen war.
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Teil IV
Die Song-Zeit (960–1279)
1. Tradition und Erneuerung – Kultur, Philosophie und Literatur der Song-Dynastie
Die Song-Zeit gilt in vieler Hinsicht als die »kultivierteste« Periode in der chinesischen Geschichte. Allerdings ging diese kulturelle Blüte mit einer ausgesprochen politischen, insbesondere militärischen Schwäche einher. Anders als ihre Vorgängerin war die Song, so könnte man in der beliebten wen-wu-Dichotomie sagen, nicht eine Dynastie martialischer (wu), sondern ziviler/literarischer (wen) Qualitäten.1 Während die Tang-Dynastie – zumindest in ihrer Anfangsphase – eine expansive und auch militärisch starke Dynastie darstellte, deren Grenzen sich bis in die äußersten Regionen des wüstenhaften Nordwestens erstreckten, war die Song, die das Reich nach einer gut fünfzigjährigen Periode der staatlichen Zerrissenheit (der Zeit der sogenannten Fünf Dynastien) im Jahre 960 einte, von vornherein geplagt durch eine Erstarkung von Nomadenvölkern im Gebiet der heutigen Mandschurei. Eines dieser Völker, die Dschurdschen, sollte sich schließlich nicht nur gegen rivalisierende Nomadenreiche, sondern auch gegen die Song durchsetzen. Im Jahre 1126 wurde der Norden mit der im heutigen Kaifeng gelegenen Hauptstadt eingenommen und der Kaiser Huizong, ein Künstler auf dem Drachenthron, in die Gewalt der Fremden gebracht. Der Rest des Hofes floh nach Süden und setzte dort, nun mit Residenz in Hangzhou, die Dynastie fort. Der Norden des Reiches blieb bis zur Übernahme durch die Mongolen, die 1279 auch dem südlichen Song-Reich ein Ende bereiteten, in den Händen der Dschurdschen bzw. in deren Jin-Dynastie. Folglich teilt man die Epoche in Nord-Song (960–1126) und Süd-Song (1127–1279) ein. Im Inneren lagen die Probleme darin, daß sich rivalisierende politische Fraktionen bekämpften und einander ablösten. Dem Reformer Wang Anshi (1021– 1086), dem es in erster Linie um eine Stärkung des Landes, allerdings auch um eine steuerliche Entlastung der Bauern ging, stand eine Gruppe von »Konservativen« um den Historiker Sima Guang (1019–1086) und den im folgenden noch ausführlicher zu behandelnden Su Shi gegenüber, die vor allem die einschneidenden Neuerungen im Beamtenprüfungswesen (welches in der Song-Zeit zu seiner Blüte kam) ablehnte. Allerdings wurde in der Song-Zeit von Seiten des Kaiserhofes pfleglicher mit den Literaten-Beamten umgegangen als in anderen Zeiten: Die Verdrängung aus Machtpositionen und der Verlust der Gunst des Kaisers kostete nur in Ausnahmefällen den Kopf; in der Regel wurden entmachtete Beamte versetzt, wenn auch bisweilen, so im Falle von Su Shi, in die fernsten und (für damalige Verhältnisse) unwirtlichsten Regionen wie die tropische Insel Hainan. 1
S. PETER BOL: This Culture of Ours – Intellectual Transitions in T'ang and Sung China, Stanford: Stanford UP 1992, wobei der Titel (This Culture of Ours) nichts anderes bedeutet als eine interpretierende Übersetzung der Phrase »si wen« (diese Kultur) in Lunyu, 9.5.
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DIE SONG-ZEIT
Philosophiegeschichtlich gesehen markiert die Entwicklung des Neokonfuzianismus die Song-Epoche. Aufgrund der Nähe von Ethik und Ästhetik im alten China sollte von nun an auf den Gebieten der Literaturtheorie und Kunstphilosophie (neben klassisch-konfuzianischen, daoistischen und buddhistischen Gedanken) nun auch dessen Begrifflichkeit eine wichtige Rolle spielen. So kamen durch die Wiederbelebung der konfuzianischen Tradition gewisse Tendenzen, die von Anfang an in der chinesischen Ästhetik und Literaturtheorie angelegt waren, zu neuer Bedeutung. Sie sollten bis ins 20. Jahrhundert hinein ein andauerndes Kontrastprogramm zur ansonsten eher daoistisch und, insbesondere ab der Song-Zeit, chan-buddhistisch orientierten Ästhetik bilden. Für ein Verständnis dieser philosophischen und literarischen Tendenzen sind jedoch gewisse Grundkenntnisse neokonfuzianischen Denkens notwendig.
Neokonfuzianismus Der Neokonfuzianismus läßt sich als genuin chinesische Reaktion auf die Herausforderung durch den Buddhismus verstehen, und zwar sowohl wegen dessen fremdländischer Herkunft als auch wegen seiner metaphysischen und weltentsagenden Seiten, wobei er in letzterer Hinsicht mit dem Daoismus in eine Kategorie eingeordnet und oft in einem Atemzug genannt wurde.2 In der Tang-Zeit erlebten sowohl Buddhismus und Daoismus durch offizielle Anerkennung eine unvergleichliche Blüte. Gleichzeitig bildeten sich mit Han Yu die ersten Gegentendenzen dazu. Er hatte den Kaiser nicht nur wegen dessen Billigung der Verehrung einer buddhistischen Reliquie kritisiert, sondern in seinem berühmten Essay »Vom Ursprung des Dao« den Buddhismus als »barbarisch« und deshalb als unchinesisch und den Daoismus als nicht dem eigentlichen Dao folgend gebrandmarkt. Wie in dem Abschnitt über Han Yu bereits ausgeführt betrachtete dieser sich selbst als denjenigen, der wieder an die bis zu ihm vergessene Tradition des Menzius anknüpfte; er ist insofern als »Großvater« des Neokonfuzianismus anzusehen. Im songzeitlichen Neokonfuzianismus verschmolzen Elemente des Daoismus, des Chan-Buddhismus und des Yin-Yang-Denkens zusammen mit dem Konfuzianismus zu einer Einheit, wobei Ethik, Metaphysik und Kosmologie in ein neues und ausgeklügeltes Entsprechungssystem3 gebracht wurden. Es waren im wesentlichen sechs Denker, die während der Nördlichen Song-Zeit meist zunächst von einem Interesse am Buddhismus ausgingen, dann aber zu konfuzianischen Themen zurückfanden. Dies waren Zhou Dunyi (1017–1073), Zhang Zai (1020–1077) 2
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Während der Konfuzianismus als eine Lehre bezeichnet wird, die »in die Welt hinein« führt (ru shi), gelten Daoismus und Buddhismus als Lehren, die »aus der Welt heraus« (chu shi) führen. Eine Grundlage für das neokonfuzianische Entsprechungssystem zwischen Kosmos und Menschenwelt wurde bereits in der Han-Zeit durch den Konfuzianer Dong Zhongshu gelegt.
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Tradition und Erneuerung
sowie die Brüder Cheng Hao (1032–1085) und Cheng Yi (1033–1107). Auf der Grundlage ihrer Ansätze formulierte dann in der Südlichen Song-Dynastie Zhu Xi (1130–1200) als wichtigste Figur des Neokonfuzianismus eine große Synthese, in der die Welt einerseits kosmologisch und ontologisch erklärt, andrerseits aber das Wesen des Menschen (xing) über eine philosophische Anthropologie mit einer metaphysisch abgeleiteten normativen Ethik verbunden wurde. Die ersten von Zhou Dunyi gegebenen Anstöße kamen aus dem Bereich der Kosmologie, wobei die Wiederentdeckung des klassischen Buch der Wandlungen mit seinem eher daoistisch geprägten Yin-Yang-Denken tragend wurde. Auch bei Zhang Zai spielten kosmologische Überlegungen eine Rolle. Sein Beitrag zu Zhu Xis Synthese ist eine Philosophie des qi, nun weniger als »Vitalkraft«, sondern als materielle Kraft verstanden, von welcher Zhang Zai glaubte, daß sich alles Werden aus einem Verdichten und Verdünnen dieses Urstoffes ergibt. Allerdings stellte Zhang Zai nicht die Frage, nach welchem Muster ein Verdünnen und Verdichten zu welcher materiellen Manifestation führte. Diese Frage warfen erst die Gebrüder Cheng auf und lieferten gleich die Antwort dazu (wobei sie an eine Vorlage aus dem Huayan-Buddhismus anknüpften4): Die materielle Kraft qi verbindet sich zu konkreten Dingen aufgrund der Vorgabe von metaphysischen »Ordnungsprinzipien« (li), die – ähnlich wie Platons Ideen – den Dingen »oberhalb der Form« (xing-er-shang)5 bzw. als »inhärente Muster« zugrunde liegen. Allerdings sind diese Prinzipien, wenn sie auf den Menschen angewandt werden, auch moralische Prinzipien, nämlich Prinzipien des Guten (oder konkret: tugendhafte Verhaltensnormen); und hier kommt die philosophische Anthropologie und Ethik des Menzius, d.h. seine Lehre von der ursprünglichen Güte der menschlichen Natur (xing), mit ins Spiel. Ein Kernsatz des songzeitlichen Neokonfuzianismus, der das Entsprechungssystem zwischen Ethik, Kosmologie und Metaphysik beinhaltet, lautet: »Die menschliche Natur ist nichts anderes als das Prinzip (des Guten)« (xing ji li). Die individuelle Bestimmtheit des Menschen sowie die Existenz des Bösen (eine Frage, die sich die frühen konfuzianischen Denker kaum gestellt hatten) kommen über die materielle Seite des Menschen, das qi, zustande; und zwar hängen Bosheit und Güte eines Menschen davon ab, ob sein qi klar oder trüb ist.6 Ein wichtiger Aspekt des songzeitlichen Neokonfuzianismus war die rationale Erfassung der Wirklichkeit. Hier griff Zhu Xi auf Vorgaben der klassischen Schrift »Die Große Lehre« (Daxue) zurück, die einen Zusammenhang zwischen dem poli4
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In der Huayan-Schule wurde von einer Dualität von li (Prinzip) und shi (Aktualisierung) ausgegangen – zwei Aspekten der Wirklichkeit, die allerdings einander völlig durchdringen. S. CHAN: A Source Book in Chinese Philosophy, S. 407f. Die Unterscheidung »oberhalb« bzw. »unterhalb der Form« (xing-er-xia) stammt aus dem Buch der Wandlungen, Xicizhuan, I.12, WILHELM, S. 299. Das Wort xingershang ist im modernen Chinesisch der Ausdruck für »metaphysisch« geworden. S. LIU: »On the Origins of Evils«.
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DIE SONG-ZEIT
tischen Ordnen der Welt und der (moralischen) Kultivierung der einzelnen Persönlichkeit herstellt. Der »Großen Lehre« zufolge beginnt die Kultivierung der Person mit der »Untersuchung der Dinge« (gewu), welche über die darauf folgenden Stufen »Erweiterung des Wissens« (zhizhi), »Wahrhaftigmachen der Absichten« (chengyi) usw. mit dem »Frieden unter dem Himmel« in einem funktionellen Zusammenhang steht. Die durch die »Untersuchung der Dinge« mitbedingte neue Aufmerksamkeit den alltäglichen Dingen gegenüber sollte sich auch in der Prosaliteratur und der Dichtung der Epoche niederschlagen. Da nach Zhu Xi das Ziel der »Untersuchung der Dinge« die Erkenntnis der den Dingen und dem Menschen (seiner Natur und seinem Handeln) zugrunde liegenden Prinzipien (li) ist, wird diese maßgeblich auf das Denken der Gebrüder Cheng und Zhu Xi aufbauende »Cheng-Zhu«-Schule des Neokonfuzianismus auch als rationale Schule bezeichnet. Dieser Fokus auf der rationalen Erkenntnis darf jedoch nicht außer Acht lassen, daß Zhu Xi und seine Vorgänger primär ein pragmatisches Ziel verfolgten: die moralische Kultivierung der Person. Dies geschah in erster Linie über eine Beruhigung des Herzens (xin), welches als Zentrum der geistigen und ethischen Kräfte und insofern als »Lenker« der Natur des Menschen betrachtet wurde. Deshalb wurde Achtsamkeit (jing) im täglichen Leben geübt und Ruhe des Herzens der Bewegtheit vorgezogen, wobei hier wiederum die Einflüsse des Buddhismus deutlich werden. Schließlich versuchte man auch die geistige Ruhe über eine Ausschaltung übermäßiger Gefühlsregungen (qing) zu erreichen. Gerade die Unterdrückung der menschlichen Gefühle wurde von späteren (modernen) Kritikern des Neokonfuzianismus als Hauptübel gegeißelt. Kernaussagen neokonfuzianischen Denkens sind die »Einheit von Mensch und Kosmos« (tian ren he yi), die Ausdehnung der »Mitmenschlichkeit« (ren) als zentrale Tugend auf alle Menschen und die Selbstkultivierung als Mittel für das Erreichen dieser Ziele. Trotz aller Vorbehalte, die gerade heute gerne dem Neokonfuzianismus gegenüber angemeldet werden7, ist darin doch ein hohes Ethos 7
S. die verschiedenen Arbeiten von GREGOR PAUL, so z.B. Aspects of Confucianism: A Study of the Relationship between Rationality and Humaneness, Frankfurt: Peter Lang 1990, S. 120–142. Paul kritisiert am Neokonfuzianismus insbesondere dessen »Ontologisierung der Ethik« sowie dessen Hang zum Irrationalismus. Indem die genuine menschliche Natur (benxing) mit einer absoluten guten Realität (li) identifiziert wird, vollziehe der Neokonfuzianismus eine Ontologisierung der Ethik, welche, Gregor Paul zufolge, unmittelbar zu einer Verstümmelung der menschlichen sinnlich-affektiven Natur führt: Da die Gefühle der in der eigenen menschlichen Natur angelegten absoluten guten Realität (li) entgegenstehen können, müßten sie unterdrückt und gezügelt werden. Aufgrund dieser (asketischen) Tendenzen bewertet Gregor Paul den Neokonfuzianismus als unmenschlich und irrational. Irrational sei der Neokonfuzianismus insofern, als sich li jedem rationalen Verstehen entziehe und die Erkenntnis des absoluten Prinzips sich letztendlich jenseits jeder Kritikmöglichkeit in einem unmündigen horchenden Aufschauen zur absoluten Wahrheit erschöpfe. Diese beiden Aspekte der Ontologisierung der Ethik und der Tendenz zum Irrationalismus könnten, so Gregor Paul
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Tradition und Erneuerung
angelegt.8 Insofern hat Fung Yu-lan – zu Recht – die Haupttradition des konfuzianischen Denkens dahin gehend beschrieben, daß dafür ein »Trachten nach der höchsten Stufe des Erhabenen« kennzeichnend sei. Es ist allerdings ein »Streben nach einer bestimmten Art des höchsten Lebens«, das nicht losgelöst vom alltäglichen Vollzug der zwischenmenschlichen Beziehungen zu sehen sei.9 Beispielhaft für das Ethos der traditionellen konfuzianischen Führungselite ist das oft zitierte Wort des berühmten songzeitlichen neokonfuzianischen Reformers Fan Zhongyan (989–1052): »Sich zuerst um die Sorgen der Welt sorgen, und sich zuletzt an den Freuden der Welt erfreuen.«10 Grob gesagt ging es nicht um die Behauptung, sondern um die Überwindung von Eigeninteresse, nicht um Selbstverwirklichung, sondern um Selbsttranszendenz (wie auch im Buddhismus, in welchem die Erkenntnis der Fiktion des Selbst bereits das Tor zur Erleuchtung/ Erlösung auftut). Im Neokonfuzianismus der Song-Zeit wurde über diese Ziele mit Hilfe des Begriffspaares »Unparteilichkeit/Gemeinnützigkeit« (gong) vs. »Eigennützigkeit« (si) argumentiert. Nach der Song-Dynastie brachte der NeoKonfuzianismus in der Ming-Zeit noch eine neue Schule hervor, über die im Zusammenhang des mingzeitlichen Archaismus noch zu sprechen sein wird. Doch blieb im großen und ganzen die Cheng-Zhu-Schule bis zum Ende des Kaiserreichs (1911) die orthodoxe Lehre; man darf sogar sagen, daß sie mit ihrer moralischen Strenge und ihrer Betonung des Vorrangs gemeinnütziger Interessen auch im kommunistischen China weitergewirkt hat. Kulturell bedeutsam wurde der Neokonfuzianismus für das Erziehungswesen. Nicht nur wurde das System der Beamtenprüfungen nun zum einzigen Weg der Auslese von hochqualifizierten (in den Klassikern und in der Literatur geschulten) Beamten, vielmehr wurde die Bildung im konfuzianischen Denken durch Dorfschulen bis in entlegene ländliche Regionen getragen. Letztlich trugen auch die Neuerungen im Buchdruck, so der Druck mit beweglichen Lettern bzw. Schriftzeichen, zur Verbreitung von Wissen und so zur kulturellen Blüte bei.
Literatur Literarisch gesehen gilt die Song-Zeit gemeinhin eher als eine Epoche großer Prosa-Literatur denn als eine der Dichtung. Nachdem Han Yus Bewegung für den alten Prosa-Stil (guwen) gegen Ende der Tang-Zeit wieder in Vergessenheit ge-
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in einem großen Bogenschlag in die Moderne, die ideologische Basis anti-individueller, totalitärer Systeme bilden, welche mit der Idee eines absoluten, perfekten Staates jede Unabhängigkeit, Autonomie und Modernisierung in ihrem Keime ersticken würden. S. z.B. die sogenannte »Westinschrift« von Zhang Zai, übers. in: BAUER: China und die Hoffnung auf Glück, S. 293 FUNG YU-LAN: The Spirit of Chinese Philosophy, London: Kegan Paul 1962, S. 3. FAN ZHONGYAN: »Inschrift auf dem Turm von Yueyang« (Yueyang-lou ji), Guwen guanzhi, Taipei: Zonghe 1981, S. 520
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raten war, wurde er nämlich in der Song-Zeit von Literaten wie Ouyang Xiu wieder entdeckt und zu neuem Leben erweckt. Erst mit den Werken der großen Meister dieser Epoche wurde der guwen-Stil Standard und blieb dies bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. In der Dichtung bezogen sich die Song-Literaten natürlich auf die Dichterfürsten der vorangegangenen Tang-Zeit, auf Du Fu, Li Bai, Bai Juyi und Han Yu, doch schafften sie es auch – und vielleicht gerade aufgrund der hohen Meßlatte ihrer Vorgänger –, ihrer Epoche neue literarische Glanzlichter aufzusetzen. Zumindest in der Quantität haben die Song-Literaten ihre Vorläufer übertroffen: Sind in der Sammlung der Vollständigen Tang-Gedichte (Quan Tang shi) »lediglich« ca. 50.000 Gedichte enthalten, so würde eine Sammlung der »Vollständigen Song-Gedichte« – wenn sie überhaupt einmal zusammengestellt werden sollte – einige hunderttausend Gedichte umfassen.11 Hinsichtlich der stilistischen Besonderheiten der Tang- und Song-Dichtung wurden nachfolgende Generationen nicht müde, darüber feinsinnige Betrachtungen und Unterscheidungen anzustellen, wobei man jeweils entweder die eine oder andere als stilistisches Modell vorzog. Der berühmte zeitgenössische Literat Qian Zhongshu (1910–1998) bietet folgende Erklärung für die Unterschiede an: Teilt man die Lyrik in Tang und Song, dann ist es eine Sache des Stils, nicht der Dynastie. [...] Tang-Gedichte zeichnen sich mehr durch Esprit, Gefühl und Klang aus, Gedichte der Song hingegen ragen eher in Struktur, Konzeption und Rationalität heraus. [...] Man darf deshalb die Unterschiede nicht so verstehen, daß Tang-Gedichte unbedingt von Poeten der Tang-Zeit, und Song-Gedichte unbedingt von Song-Poeten verfaßt sein müßten. [...] Jeder Mensch hat seine eigenen Veranlagungen und Neigungen; diese schlagen sich nieder und bestimmen den Ton der Poesie. Ein impulsiver Charakter neigt eher zum TangStil, ein ernsthafter Charakter zum Song-Stil. [...] Betrachtet man den Lauf des Lebens, so entfaltet die Jugend unternehmungsfreudig ihre literarischen Talente und wählt folglich eher den Tang-Stil; das Alter ist maßvoll und bedächtig und bevorzugt somit den Song-Stil.12
Die Beschäftigung mit den alltäglichen Dingen und Angelegenheiten des Lebens – also ein gewisser Realismus – bildet einen Grundzug der Song-Dichtung. Die Gedichte der Song-Literaten sind prosaischer, ausgefallener, selbst-reflektierter und in ihrer Thematik alltäglicher, wobei hier wiederum das Beispiel des TangDichters Han Yu nachwirkte. In Schillers Kategorien könnte man sagen, sie sind »sentimentalisch« im Vergleich zur »naiven« Tang-Lyrik. Schließlich hat die 11
12
KOJIRO YOSHIKAWA: An Introduction to Sung Poetry, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1967, S. 7. Zitiert nach LI: Der Weg des Schönen, S. 230. Zu Qian Zhongshu s. MONIKA MOTSCH: Mit Bambusrohr und Ahle. Von Qian Zhongshus »Guanzhuibian« zu einer Neubetrachtung Du Fus, Frankfurt: Peter Lang 1994.
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Tradition und Erneuerung
Song-Dichtung häufig auch einen erzählerischen, bisweilen auch einen argumentativen oder intellektuellen Charakter. Yoshikawa sieht darüber hinaus in einem gewissen Lebensoptimismus, der Überwindung von Weltschmerz und Trauer bzw. dem Gewinnen einer heiter-gelassenen Attitüde Grundtendenzen der SongDichtung, die er als ruhig und kühl im Ton beschreibt. Während die TangDichtung mit Wein zu vergleichen sei, so wirke die Dichtung der Song eher wie Tee mit seinem zwar weniger stimulierenden, dafür aber alltäglicheren und bitterangenehmen Reiz.13 Was die Formenvielfalt der Dichtung angeht, so hatte es in der Tang-Zeit bereits eine Neuerung gegeben, nämlich die Entwicklung des ci-Liedes, welches aus Innerasien kommend in den Singmädchenmilieus der Hauptstadt gepflegt und heimisch wurde. Von diesem Ursprung her hatte das ci-Lied inhaltlich eher den Ruf des »Unseriösen«. Formal steht es den yuefu-Balladen nahe, denn anders als bei den in der Zeilenlänge streng geregelten shi-Gedichten finden wir im ci Strophen und Zeilen mit unterschiedlicher Länge. Allerdings besitzen die ci-Lieder ein geregeltes Tonmuster, was sie wiederum dem Regelgedicht der Tang-Zeit vergleichbar macht. Da die ursprünglichen Melodien in der Song-Zeit bereits verloren gegangen waren, wurde im späteren Verlauf lediglich das formale Gerüst, d.h. die Zeilen- und Strophenlängen sowie die Tonmuster, überliefert, welches als »Melodie« (cipai) bezeichnet und in Veröffentlichungen zusammen mit dem Titel des Liedes genannt wurde. An derartigen »Melodien«, deren formale Besonderheiten man in Handbüchern festhielt und tradierte, gab es einige hundert. Man könnte sich die Wirkung und das Dichten nach solchen ci-Melodien im Deutschen durch die aus dem Englischen stammenden Limericks deutlich machen oder durch den beliebten Brauch, daß z.B. bei runden Geburtstagen bekannte Lieder mit einer entsprechenden, dem Gratulanten geltenden Umdichtung gesungen werden,14 allerdings mit dem Unterschied, daß erstens im songzeitlichen China die Melodien der Lieder bereits verlorengegangen und nur noch deren formale Schemata mit den Reimlauten übrig geblieben waren, und zweitens, daß das ironisch-persiflierende Element, das im Deutschen diesen »ci-Liedern« eigen ist (bei den Limericks die inhaltliche Beschränkung auf das Komisch-Groteske), im Chinesischen fehlt. 13 14
YOSHIKAWA: An Introduction to Sung Poetry, S. 28f, 37. Man kann sich das Besondere der ci-Dichtung auch durch folgendes Gedicht mit dem Titel »Stromausfall« deutlich machen (welches der Verfasser dieser Zeilen einst an der Universität Würzburg von einem anonymen Autor geschrieben an einem Computer angeklebt fand): »Der Strom ist ausgegangen / Computerleute bangen / Und raufen sich das Haar. / Der Schirm steht schwarz und schweiget, / Und aus der Software steiget / Kein Bild, kein Ton, kein Kommentar.« Das Modell für diese »unseriösen« Zeilen wird man leicht bei Matthias Claudius finden können. Folglich wäre, um den chinesischen Usus zu verdeutlichen, das Gedicht »Stromausfall« mit dem Hinweis: »nach der Melodie ›Der Mond ist aufgegangen‹« zu versehen.
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DIE SONG-ZEIT
Obwohl in der Tang-Zeit berühmte Dichter wie Li Bai und Bai Juyi bereits ciLieder schrieben, wurde die neue Form erst in der Zeit der Fünf Dynastien und danach populär, so daß man gemeinhin die Blüte dieser Form mit der Song-Zeit verbindet.15 Allerdings muß betont werden, daß trotz dieser neuen Popularität die ci-Dichtung selbst in der Song-Zeit noch lange nicht die gleiche Bedeutung wie das shi-Gedicht erlangte. Der Grund dafür liegt vor allem darin, daß das ci-Lied seiner Herkunft aus dem Vergnügungsmilieu zufolge in erster Linie für »unseriöse« Themen – Liebe etc. – verwandt wurde. Erst durch Su Shi, der ci mit philosophischem Inhalt schrieb, wurden dem ci-Lied thematisch neue Bereiche geöffnet. Folglich teilte man später die ci-Lyrik in zwei große Richtungen ein: eine »unbefangen freie« (haofang) und eine »zurückhaltend zarte« (wanyue) Schule, wobei Su Shi und Xin Qiji (in der Süd-Song) als Hauptvertreter des ersteren und die Dichterin Li Qingzhao (1084 – ca. 1151) als Repräsentantin des zweiten Stiles gelten. Von ihrer theoretischen Seite wird die ci-Dichtung in dieser Studie im letzten Kapitel angesprochen, wo wir mit Wang Guoweis an der Schwelle zur Moderne stehendem Werk »Gespräche über die ci-Dichtung in der Menschenwelt« (Renjian cihua) eine wichtige und nachwirkungsreiche Schrift zu dieser Thematik finden werden. Schließlich ist im Zusammenhang der kulturellen Blüte der Song-Zeit noch auf eine weitere Besonderheit hinzuweisen, nämlich einen neuen ästhetischen Zusammenklang von Dichtung, Malerei und Kalligraphie. Daß diese Künste in einem engen Verhältnis zueinander stehen, ist schon von früheren Denkern betont worden. Mit dem tangzeitlichen Literaten Wang Wei gewann diese Beziehung eine neue Dimension – nämlich die einer Personalunion von Dichter und Maler, welche fortan modellhaft wurde. In der Song-Zeit wurden diese drei Künste als eine Wesenseinheit verstanden. Es war vor allem Su Shi, der sich als überragende Figur nicht nur in allen Disziplinen – der Dichtung, Kalligraphie und Malerei – hervortat, sondern sich auch theoretisch darüber äußerte. In ihrem philosophischen Gehalt bergen diese ästhetischen Überlegungen oft einen einheitlichen Kern, sodaß die hier verfolgte Trennung nach Sachgebieten dem Anliegen der damaligen Literaten nicht ganz gerecht wird.
15
S. z.B. PAULINE YU (Hg.): Voices of the Song Lyric in China, Berkeley: University of California Press 1994.
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2. Blässe und Not – Ouyang Xiu
Mit Ouyang Xiu (1007–1072) und dessen Dichterfreund Mei Yaochen (1002–1060) gewinnen die neuen Tendenzen der Song-Lyrik und -Prosa Konturen. Ihre Ideale sind allerdings zunächst auch als Reaktion gegen den in der frühen Song-Zeit populären Xikun-Stil in der Lyrik zu sehen. Der Xikun-Stil – der Name bezieht sich auf den Titel einer von Yang Yi (974–1020) herausgegebenen Gedichtanthologie – orientierte sich am Werk des spät-tangzeitlichen Dichters Li Shangyin (ca. 813– 858); dieses war berühmt für seine einerseits blumige und anspielungsreiche Sprache, andrerseits für seine erotischen Inhalte, die allerdings bisweilen bis ins Hermetische verschlüsselt wirken.16 Die Unterschiede im Zeitgeschmack zwischen der Tang-Blüte-Zeit mit Figuren wie Li Bai, Du Fu sowie der Grenzlandlyrik und den Präferenzen der späten Tang und frühen Song beschreibt Li Zehou wie folgt: Der Geist der neuen Zeit findet sich nicht mehr auf dem Pferderücken, sondern im Frauengemach, nicht mehr in der äußeren Welt, sondern in inneren Stimmungen. [...] Anstelle von Tatendrang und Eroberung der Welt wurden Flucht und Rückzug aus ihr zur zentralen Thematik in Kunst und Ästhetik. Anstelle von Persönlichkeiten oder Charakteren, vor allem anstelle menschlicher Aktivitäten und Unternehmungen, fanden Stimmungen und seelische Regungen des Menschen Eingang in die Kunst.17
Die Anhänger des Xikun-Stils in der Dichtung waren gleichzeitig auch Verfechter einer Parallelprosa, die nach Han Yus vergeblichen Versuchen, diese einzudämmen, in der späten Tang-Zeit wieder zu neuer Popularität gelangt war. Insofern stand der Xikun-Stil für eine blumig-gekünstelte Ausdrucksweise sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa. Ouyang Xiu ist die herausragende Figur der frühen Song-Zeit,18 und zwar nicht nur als Historiker (Autor bzw. Herausgeber der »Neuen Tang-Geschichte« und der »Neuen Geschichte der Fünf Dynastien«), sondern als Literat und Staatsmann im allgemeinen. Als oberster Prüfer für die Beamtenprüfungen war er derjenige, der das Talent sowohl von Wang Anshi als auch von dessen politischem Rivalen 16
17 18
Daß Ouyang Xiu selbst eine höchst ambivalente Einstellung zum Xikun-Stil hatte, geht aus einigen Bemerkungen in seinen »Gesprächen über Dichtung« hervor; s. JONATHAN CHAVES: Mei Yao-ch'en and the Development of Early Sung Poetry, New York: Columbia UP 1976, S. 75–76, und RONALD C. EGAN: The Literary Works of Ou-yang Hsiu (1007–72), Cambridge, Mass.: Harvard UP 1984, S. 78ff. LI: Der Weg des Schönen, S. 286. S. JAMES T.C. LIU: Ou-yang Hsiu – An eleventh-Century Neo-Confucian, Stanford: Stanford UP 1967, und EGAN: The Literary Works of Ou-yang Hsiu.
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Su Shi entdeckte; somit galt er als deren Lehrer. Er war es, der den mittlerweile vergessenen »alten Prosa-Stil« von Han Yu wiederbelebte und – auch und gerade über seine berühmten Schüler – popularisierte. Folglich gehören neben Han Yu und Liu Zongyuan (773–819) aus der Tang-Zeit sechs Prosa-Meister der Song – Ouyang Xiu, Wang Anshi, Su Shi, dessen Vater Su Xun und jüngerer Bruder Su Che sowie Zeng Gong – zu den sogenannten »Acht großen Prosa-Meistern der Tang und Song«. Auch fühlte er sich berufen, das ideologische Anliegen von Han Yu, nämlich die Aufwertung des Konfuzianismus, weiter zu führen. In seinen Vierzigern legte er sich den Beinamen »Trunkener Alter« (Zuiweng) zu und verfaßte begleitend dazu ein berühmt gewordenes Prosastück: die »Aufzeichnung aus dem Pavillon des Trunkenen Alten« (Zuiweng ting ji)19. Literaturgeschichtlich bedeutsam ist auch, daß er der erste Autor eines neuen Genres wurde, nämlich der sogenannten »Gespräche über Dichtung« (shihua) – in seinem Fall die »Gespräche über Dichtung von ›Sechs-Eins‹« (Liuyi shihua)20. In diesem Genre finden wir in der Regel keine systematischen oder theoretisch stringenten Äußerungen zur Literatur, vielmehr sind es oft anekdotisch angelegte Beobachtungen und Bewertungen von Dichtung und Dichtern, die gleichwohl im Fehlen einer Systematik den Kern einer ureigenen, ungezwungenen ästhetischen Betrachtungsweise der chinesischen Literatenschaft bilden.21
Ästhetik der Blässe Indem Ouyang Xiu die Gedichte seines Freundes Mei Yaochen für ihre schnörkellos-schlichte Diktion und Alltäglichkeit der Thematik pries, machte Ouyang Xiu einen neuen Stil in der Lyrik populär: den Stil einer »abgeklärten Blässe« – pingdan, wörtlich: einer blassen, faden, unscheinbaren, heiteren, nicht dick aufgetragenen 19
20
21
Übers. SCHWARZ: Der Ruf der Phönixflöte, I, S. 341ff; EGGERT: Die klassische chinesische Prosa, S. 56f. Übersetzungen daraus finden sich bei OWEN: Readings, S. 359–390. »Sechs-Eins« ist einer von Ouyangs Künstlernamen, unter welchem er eine Biographie über sich selbst verfaßte und in der er den Namen wie folgt erklärt: Er besitze in seinem Haus eine Bibliothek, eine archäologische Sammlung, eine Zither, ein Schachspiel und ein Krug Wein. Auf die Frage, daß diese jedoch nur fünf »eins« ergäben, antwortete er, daß er als ein alter Kopf, der an diesen Dingen Vergnügen fände, noch dazuzuzählen sei, womit sechs zusammen kämen. EGAN: The Literary Works of Ou-yang Hsiu, S. 223. Zu den »Gesprächen über Dichtung« s. u.a. WAI-LEUNG WONG: »Chinese Impressionistic Criticism: A Study of the Poetry-Talk (Shih-hua Tz'u-hua) Tradition«, Diss., Department of Asiatic Languages and Literatures, Ohio State University 1976; MARION EGGERT: Nur wir Dichter. Yuan Mei: Eine Dichtungstheorie zwischen Selbstbehauptung und Konvention, Bochum: Brockmeyer 1989, S. 28ff; VOLKER KLÖPSCH: Die Jadesplitter der Dichtung. Die Welt der Dichtung in der Sicht eines Klassikers der chinesischen Literaturkritik, Bochum: Brockmeyer 1983.
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und doch gerade deshalb ästhetisch reizvollen Ausdrucksweise.22 Mei Yaochen selbst sagt in einem seiner Gedichte über diese stilistische Besonderheit: Beim Dichten geht es nicht um einen alten oder neuen Stil, Nur das Erreichen einer abgeklärten Blässe (pingdan) ist schwierig.23
Diese Vorliebe für das Blasse und Unscheinbare läßt sich sowohl auf konfuzianische als auch daoistische Hintergründe zurückführen. Für den Konfuzianer gehört es sich nicht, in welchen Bereichen auch immer, dick aufzutragen, vielmehr ist Bescheidenheit eine zentrale Tugend. Auch das »Schöne« hat bekanntlich im konfuzianischen Kontext keinen eigenen Rang, vielmehr wird in frühen Schriften »schön« (mei) meist – und wie bei Platon – mit (moralisch) »gut« gleichgesetzt.24 Andere Synonyme von »schön« wurden häufig eher mit weiblich verführerischen – und damit negativ bewerteten – Reizen in Verbindung gebracht oder galten als ordinär, wie z. B. bei dem Erneuerer des Konfuzianismus, Han Yu, der die ansonsten wegen ihrer »Schönheit« gefeierte Kalligraphie des größten »Heiligen« der chinesischen Schreibkunst, Wang Xizhi (321–379), einmal als »vulgär« (su) abstufte.25 Im daoistischen Kontext hat »Blässe« ebenfalls viel Gewicht. So heißt es in Kap. 35 des Daodejing über das Dao: Musik und gute Speisen Lassen Reisende verweilen. Wird hingegen vom Dao gesprochen, So heißt es: Wie fade (dan), ohne Geschmack! Betrachtet man es, so ist da nicht genug zu sehen, Lauscht man ihm, so ist da nicht genug zu hören. Gebraucht man es, so ist da nichts, wodurch es sich erschöpfen ließe.26
Blässe (oder Fadheit) hat somit den ästhetischen Reiz des understatements; sie wirkt gerade durch ihre Unaufdringlichkeit und Unscheinbarkeit. Eine ähnliche Präferenz finden wir auch später in der Diskussion der yuanzeitlichen Malerei, 22
23
24
25
26
S. FRANÇOIS JULLIEN: Über das Fade – Eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China, Berlin: Merve 1999. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II. S. 242; vgl. JULLIEN: Über das Fade, S. 110, PETER LEIMBIEGLER: Mei Yao-ch'en (1002–1060). Versuch einer literarischen und politischen Deutung, Wiesbaden: Harrassowitz 1970, S. 123, CHAVES: Mei Yao-ch'en, S. 115. S. JAMES CAHILL: »Confucian Elements in the Theory of Painting«, in: ARTHUR WRIGHT (Hg.): The Confucian Persuasion, Stanford: Stanford UP 1960, S. 115–140, und TRAUZETTEL: »Das Schöne und das Gute«. In seinem »Lied von den Steintrommeln« heißt es: »Wang Xizhis vulgäre Handschrift prunkt mit weiblichem Charme (zimei)«. Vgl. LI: Der Weg des Schönen, S. 258, und KUBIN: Die chinesische Dichtung, S. 215. S. JULLIEN: Über das Fade, S. 31ff.
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nämlich hinsichtlich der Werke von Huang Gongwang (1269–1354) oder Ni Zan (1301–1374). In Ouyang Xius »Gesprächen über die Dichtung von ›Sechs-Eins‹« gelten einige Abschnitte Mei Yaochen, so auch dessen Vorliebe einer poetischen Blässe. In der folgenden Passage vergleicht er die Anziehungskraft von Mei Yaochens Versen mit dem Charme einer älteren attraktiven Frau: Shengyu (Mei Yaochen) ist [in seinen Gedichten] voller Gedanken und sehr subtil. Seine Ideen sind tief und weitreichend (shen yuan), ungezwungen und blaß (xian dan). [...] In einem meiner Gedichte heißt es [über ihn]: [...] Er schreibt Gedichte seit dreißig Jahren, Betrachtet mich als einen der jüngeren Generation. Doch seine Worte sind subtil und frisch wie eh, Auch wenn Herz und Gedanken älter geworden sind. Er hat etwas von einer bezaubernden Frau, Die auch im Alter noch voller Charme ist. Seine jüngsten Gedichte wirken höchst trocken und hart; Man kaut an ihnen und hat es schwer, sie zu schlucken. Es ist, wie wenn man Oliven äße – Der wahre Geschmack stellt sich erst später ein.27
Der ästhetische Genuß, den man beim Lesen von Mei Yaochens Versen verspürt, gleicht also dem Genießen von Oliven, die bekanntlich einen eher bitteren Geschmack haben, der jedoch – wie jeder Kenner der mediterranen Küche weiß – auch nicht ohne Reiz ist.
Not und Kunstfertigkeit Der Zusammenhang von Kunstfertigkeit (gong) und erlittenem Unglück, Not oder Mißerfolg (qiong) eines Dichters/Künstlers wurde im Zusammenhang mit Qu Yuan bereits als Thema vorgestellt. Dies ist ein weiterer wichtiger Leitgedanke bei Ouyang Xiu. Das gerade zitierte Gedicht endet mit einem Verspaar, worin die Not anklingt, die Mei Yaochen Zeit seines Lebens erlitten hat: Mei Yaochens Nöte (qiong) kenne nur ich allein – Die Waren der Alten lassen sich heute schlecht verkaufen.28
Ouyangs These ist, daß nur derjenige in der Lage ist, große Literatur zu verfassen, der in seinem Leben Not und Unglück erfahren hat (qiong er hou gong). Diese Thematik, für die als Kronzeugen nicht nur Mei Yaochen, sondern auch oft Figuren 27 28
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 244; vgl. OWEN: Readings, S. 379f. Ebd.
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wie Sima Qian, Jia Yi oder Du Fu angeführt werden, sollte von nun an eine große Wirkungsgeschichte entfalten29. Ouyang Xius Ausführungen dazu finden sich in dessen »Vorwort zur Gedichtsammlung von Mei Shengyu (Mei Yaochen)«: Gemeinhin wird gesagt, unter den Dichtern gebe es nur wenige, die Erfolg (da) gehabt, und viele, die Unglück (qiong) erlitten hätten. Ist dem tatsächlich so? Nun sind die Dichtungen, die uns überliefert wurden, meistens die Worte von Männern des Altertums, die Unglück erfahren hatten. Gewöhnlich ist es so, daß ein Gelehrter, wenn er nicht in der Welt Erfolg hat, sich gerne freiwillig in die Berge oder an die Flußufer zurückzieht. Wenn er dort die Erscheinungsformen und Arten von Insekten, Fischen, Pflanzen, Bäumen, des Windes, der Wolken, Vögel und wilden Tiere beobachtet, so untersucht er dabei häufig ihre Besonderheiten. Den Kummer und die Entrüstung, die sich in seinem Inneren stauen, sucht er mittels Klage und Satire auszudrücken. Dazu spricht er entweder in der seufzenden Stimme des verbannten Beamten oder einer Witwe, sodaß er diejenigen menschlichen Gefühle zum Ausdruck bringt, die schwer in Worte zu fassen sind. Je größer das Unglück, das er erfahren hat, um so größer ist die Kunstfertigkeit [seines Ausdrucks]. Dies soll allerdings nicht bedeuten, daß Dichtung für den Dichter Unglück bedeutet, vielmehr heißt es, daß nur derjenige Kunstfertigkeit erlangt, der vorher Unglück erfahren hat (qiong zhe er hou gong).30
Dieses Vorwort spricht zunächst eine Grundannahme »konfuzianischen« Literaturverständnisses an, nämlich die Ansicht, die uns bereits im »Großen Vorwort« zum Shijing begegnet ist, daß Literaten ihrem Kummer und ihrer Entrüstung mittels geschickt verhüllter Kritik sprachlichen Ausdruck verliehen. Der weiter dabei postulierte Zusammenhang zwischen erlittener Not und daraus resultierender literarischer Kunstfertigkeit wirft allerdings – zumindest aus heutiger Sicht – grundsätzliche Probleme auf. Gleichwohl wurde er gerne übernommen, sicher nicht zuletzt auch deswegen, weil es im kaiserlichen China kaum Literaten gegeben hat, die nicht in der ein oder anderen Form – sei es durch Hofintrigen oder andere politische Stricke – zu Fall gebracht wurden und dadurch zu leiden hatten (wie Ouyang Xiu selbst), wofür Qu Yuan, wie bereits ausgeführt, den Prototyp bildet und bis in die Moderne hinein nachgewirkt hat. Andrerseits geht die Gegenüberstellung von Erfolg und Mißerfolg (bzw. Not) auch auf eine bekannte und bereits zitierte Stelle bei Menzius zurück, worin es heißt, daß in der Öffentlichkeit erfolgreiche Männer ihr Wirken für das Volk einsetzten, im Falle des Mißerfolges (oder der Not: qiong) sie jedoch »ihr eigenes Leben erhöhten« (Menzius, 7A.9). Aus der Perspektive dieser Menzius-Passage gesehen ist Ouyang Xius und Mei Yaochens aus der Not geborene Kunstfertigkeit nichts anderes als ein Ergebnis der »Erhöhung des eigenen 29 30
S. YEO: »Zhongguo wenxue pinglunzhong de shiwen ›qiong er hou gong‹ shuo«. CHEN: Zhongguo lidai shixue lunzhu xuan, S. 350; vgl. YU-SHIH CHEN: »The Literary Theory and Practice of Ou-yang Hsiu«, in: RICKETT: Chinese Approaches to Literature, S. 79, LEIMBIGLER: Mei Yao-ch'en, S. 28ff.
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Lebens« (du shan qi shen), mit anderen Worten, eine Konsequenz konfuzianischer Selbstkultivierung (xiushen). Dies ist nun ein Zusammenhang, der für die Dichtung ab der Song-Zeit bedeutsam wird, daß nämlich das Dichten auch als eine Form der Selbstkultivierung betrachtet wurde31 – womit man im wahrsten Sinne des Wortes (und um im Bild zu bleiben) aus der Not eine Tugend machte. Obwohl Ouyang Xiu in obiger Passage davon ausgeht, daß erlittene Not und Unglück einen erst zu einem großen Dichter werden lassen, hat er selbst kaum Verse geschrieben, in denen er von seinen eigenen Nöten spricht (auch er erlitt wie viele seiner Zeitgenossen Verbannung). Vielmehr scheint für ihn das Gewinnen einer heiter abgeklärten Lebenseinstellung im Vordergrund gestanden zu haben. In diesem Zusammenhang äußert er sich durchaus kritisch über Han Yu, sein Vorbild in Dichtung und Prosa, dem er in dessen Dichtung eine gewisse Weinerlichkeit und ein Schwelgen in Selbstmitleid vorwirft.32 Der Zusammenhang von literarischem Schaffen, Kunstfertigkeit und Selbstkultivierung ist auch Gegenstand von Ouyang Xius folgendem »Brief an den Kandidaten Wu«: Das Lernen galt seit jeher dem Praktizieren des »Weges« (dao); allerdings erreichen nur wenige dieses Ziel. Dies liegt nicht daran, daß der »Weg« zu weit entfernt läge, sondern darin, daß die Lernenden oft in ihren Bemühungen stecken bleiben. Was nun das Schreiben (wen) betrifft, so ist es schwierig, einen Grad an Kunstfertigkeit (gong) zu erreichen, über den man sich freuen könnte; vielmehr neigt man zu Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit. Heutzutage bleibt man deshalb beim Lernen gerne stecken, weil, sobald man eine gewisse Kunstfertigkeit erreicht hat, es sofort heißt: »Ich habe genug gelernt.« Es kommt sogar so weit, daß man alles vernachlässigt und nichts anderes mehr in Betracht zieht, so daß man verkündet: »Ich bin ein Literat; mein einziger Beruf ist das Schreiben (wen).« Eben deshalb erreichen so wenige dieses Ziel. Früher war es Konfuzius, der, als er alt war, nach Lu zurückkehrte und die Sechs Klassiker innerhalb von ein paar Jahren verfaßte. [...] Die Mühen, die er darauf verwandte, waren gering, und doch war das Ergebnis perfekt. Obwohl die schriftlichen Zeugnisse der Weisen [von anderen] nie erreicht werden können, ist es doch so, daß für diejenigen, die den »Weg« gemeistert haben, das Schreiben nicht schwer fällt und von selbst gelingt. Einige der Leute meinen heutzutage, daß, wenn sie die aus der Vergangenheit überlieferten schriftlichen Zeugnisse betrachten, Lernen nichts anderes sei, als das Schreiben zu beherrschen. Deshalb erreichen sie ihr eigentliches Ziel [das Lernen des »Weges«] umso weniger, auch wenn sie noch so viel Kraft und Mühe darauf richten.33 31
32 33
RICHARD JOHN LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment: Wang Shih-chen’s Theory of Poetry and Its Antecedents«, in: WM. TH. DEBARY (Hg.): The Unfolding of Neo-Confucianism, New York: Columbia UP 1975, S. 217ff. EGAN: The Literary Works of Ou-yang Hsiu, S. 93ff. Guo, Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 255f; vgl. Egan, The Literary Works of Ou-yang Hsiu, S. 22.
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Hier wird Konfuzius als Zeuge für die These angeführt, daß »für diejenigen, die den ›Weg‹ gemeistert haben, das Schreiben nicht schwer fällt und von selbst gelingt«. In einer etwas bemühten Argumentation wird das Streben nach rein literarischer Kunstfertigkeit zum Haupthindernis sowohl für das viel wichtigere moralische Streben als auch – da der Erfolg bei diesen Anstrengungen Voraussetzung für alles weitere ist – für den literarischen Erfolg selbst erklärt. Kurzum, hier zeigt sich Ouyang Xiu als konfuzianischer Moralist, für den Literatur oder Dichten erst sekundär ist: Zuerst kommt die Moral, dann die Literatur.
Idee und Sprache In Ouyang Xius Äußerungen zur Literatur finden sich auch Bemerkungen, die bekannte ästhetische Topoi, wie wir sie bei Zhong Rong, Wang Changling und Sikong Tu kennen gelernt haben, aufgreifen, so z.B. den Gedanken, daß Dichtung auf Ideen und Bildern jenseits des Gesagten beruhe. In der folgenden Passage aus seinen »Gesprächen über Dichtung von ›Sechs-Eins‹« legt er dementsprechende Überlegungen wieder in den Mund seines älteren Dichterfreundes Mei Yaochen: Shengyu (Mei Yaochen) sagte einst zu mir: »Selbst wenn ein Dichter ganz seinen Ideen (yi) folgt, so ist es immer noch schwierig, diese in die richtigen Worte zu fassen. Wenn er neue Ideen und eine kunstvolle Sprache hat und wenn er etwas sagen kann, das keiner vor ihm gesagt hat, dann könnte man ihn als gut bezeichnen. Er sollte eine schwierig zu fassende Szenerie so beschreiben können, als stünde sie vor den Augen des Lesers; [die Zeilen] sollten dabei voller unausgesprochener Ideen sein, die sich jenseits der Worte zeigen (xian yu yan wai). Dann wäre er wohl als perfekt zu nennen. [...]« Darauf entgegnete ich: »[...] Welche Gedichte vermitteln schwer zu fassende Szenerien und sind voller unausgesprochener Ideen?« Shengyu antwortete: »Wenn ein Autor [eine Idee] im Herzen/Geiste (xin) hat, dann kann der Leser diese Idee verstehen.«34
Ein guter Dichter hat demnach »neue Ideen«, eine »kunstvolle Sprache« und weiß etwas zu sagen, »was keiner vor ihm gesagt hat«. Ein perfekter Dichter ist hingegen nicht nur in der Lage, schwierige Szenen so zu beschreiben, als stünden sie vor dem Auge des Lesers, vielmehr vermitteln seine Zeilen eine Fülle an Ideen und Bildern »jenseits der Worte«. In diesen Äußerungen, auch und gerade in der Betonung der Leitfunktion der (künstlerischen) Idee (yi) in der Dichtung und Kunst, ist die Richtung angegeben, in der sich die literaturtheoretische bzw. ästhetische Diskussion in der Song-Zeit (und danach) weiter entwickeln sollte. Diese Topoi sind jedoch weniger charakteristisch für Ouyang Xius literarisches Denken, typischer sind vielmehr die anfangs aufgeworfenen Themen einer »abgeklärten Blässe« 34
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 243f; vgl. OWEN: Readings, S. 375f, und CHAVES: Mei Yao-ch'en, S. 110f.
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und des Zusammenhangs zwischen Not und daraus resultierender Kunstfertigkeit sowie schließlich die These, daß für den, der den moralischen »Weg« gemeistert hat, das Schreiben von selbst gelingt. Mit diesen überwiegend konfuzianisch orientierten Leitgedanken wird Ouyang Xiu ein Vorreiter des im Neokonfuzianismus kulminierenden Anliegens einer Einheit von Moral und Kunst, von Ethik und Ästhetik.
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3. Wandel und Transzendenz – Su Shi
So überragend die Figur von Ouyang Xiu für die literarische Kultur der frühen Song-Zeit war, sein Schüler Su Shi (1037–1101) sollte seinen Lehrer an Berühmtheit noch weit übertreffen. Die Bedeutung von Su Shi für das letzte Jahrtausend chinesischer Kulturgeschichte läßt sich gar nicht überschätzen, und es ist insofern unmöglich, ihm in der hier gebotenen Kürze Genüge zu tun.35 Was sein Œuvre angeht, so sind von ihm, abgesehen von einer Fülle an Prosa, ca. 2400 shi-Gedichte überliefert, an ci-Liedern jedoch lediglich ca. 400. Trotzdem hat er letzteres Genre gleichsam revolutioniert, indem er ihm nämlich neue inhaltliche Bereiche – existentielle Fragestellungen und philosophische Betrachtungen anstatt Boudoir – erschloß. Zahlreich sind auch die von ihm erhaltenen und von Kennern hoch geschätzten Kalligraphien, wohingegen von seinen Tuschebildern kein gesichertes Werk mehr vorhanden ist. Gleichwohl gilt er mit einem angeblich schlichten Stil in schwarzer Tusche sowie mit zahlreichen Äußerungen zur Malerei als eigentlicher Initiator einer amateurhaften Literatenmalerei (wenrenhua oder shirenhua). Diese sollte im Gegensatz zur professionellen Malerei bis ins 20. Jahrhundert die ästhetisch dominante Richtung in China bleiben. Wegen seiner Bedeutung auf dem Gebiet der Malerei und Kunstphilosophie wird in einem zweiten Exkurs auch auf diese Thematik eingegangen. Da Su Shi jedoch nicht nur als Dichter und Künstler, sondern auch als eminenter Staatsmann in Erscheinung getreten ist (sein Wirkungskreis und seine Wirkungsmacht wären insofern – zumindest für die deutsche Kulturgeschichte – auch mit Goethe zu vergleichen36), blieb ihm das Auf und Ab des chinesischen Beamtenlebens nicht erspart; dies bedeutete insbesondere Verbannungen bzw. Strafversetzungen, die er durch den jahrzehntelangen Machtkampf zwischen »Reformern« und »Konservativen« erlitt. (Obwohl er dadurch eine Zeitlang der politische Hauptrivale von Wang Anshi wurde, sollen sich beide als Dichter und Personen durchaus 35
36
Zu Su Shi gibt es einige interessante Studien auf Deutsch und Englisch, wenn auch nicht genug, um seiner Bedeutung in der chinesischen Kulturgeschichte gerecht zu werden. S. u.a. Yoshikawa und Peter Bol, die zwar ältere aber immer noch lesenswerte Studie von LIN YUTANG: The Gay Genius. The Life and Times of Su Tungpo, New York: John Day 1947, MICHAEL FULLER: The Road to East Slope, Stanford: Stanford UP 1990, RONALD EGAN: Word, Image, and Deed in the Life of Su Shi, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1994, sowie ein lesenswertes Kapitel über Su Shi in: LI: Der Weg des Schönen, S. 297ff. Das Buch von Bi Xiyan: Creativity and Convention in Su Shi’s Literary Thought, Lewiston: Edwin Mellen 2003, ist mir leider erst nach Abschluß des Manuskriptes bekannt geworden. S. die Arbeit von LIU RUNFANG: Naturlyrik Su Shis und Goethes. Ein Vergleich ihrer ästhetischen Grundlagen, Frankfurt: Peter Lang 2002.
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geschätzt haben.37) Während seiner Verbannung (in die am Yangtse-Fluß unweit von Wuhan gelegene Stadt Huangzhou) lebte er am »Osthang« (dongpo). Den Namen dieses Domizils nahm er als Künstlernamen an und nannte sich fortan »der Alte vom Osthang«. Unter diesem Sobriquet ist er nicht nur in China, sondern auch hierzulande durch Übersetzungen, nämlich als Su Dongpo (bzw. in der älteren Umschrift Su Tung-p'o), am bekanntesten. Anders als bei seinem Lehrer Ouyang Xiu, läßt sich Su Shis Denken nicht so einfach einer einzigen, nämlich der konfuzianischen Schule zuordnen, vielmehr überschreitet er in einer beilspiellosen und die Gegensätze umfassenden geistigen Größe die engen Grenzen von Konfuzianismus, Daoismus und Chan-Buddhismus. Li Zehou versucht das Faszinierende an Su Shi dahingehend zu erklären, daß für ihn eine kaum lösbare Spannung zwischen konfuzianischem Engagement und der Einsicht in die Eitelkeit des menschlichen Lebens und seiner eigenen Aktivitäten vorgelegen habe. Die einzig offene Richtung für die Lösung dieser Spannung sei ein chan-buddhistisch motiviertes Streben nach Befreiung und Entsagung gewesen, dessen endgültige Erfüllung ihm jedoch versagt geblieben sei.38
Ästhetik existentieller Fragestellungen Su Shis durch häufige Verbannungen bedingtes Wanderleben ließ ihn die menschliche Existenz im Allgemeinen als eine – nur kurze – Reise verstehen. So findet sich interessanterweise die Zeile »Mein Leben ist nichts anderes als eine Reise« (Wu sheng ru ji er) nicht nur in einem, sondern in etlichen seiner Gedichte.39 Auch fragt er rhetorisch in einem für seine Lebensphilosophie wichtigen Essay – der »Inschrift zum Turm der Transzendenz« (Chaorantai ji) –, ob es denn einen Ort gäbe, an dem er nicht glücklich sein könne (Wu an wang er bu le?)40. Wenn bisher in der Poetik bzw. Ästhetik häufig von einer »Jenseitigkeit« die Rede war, so ist Su Shis Lebenseinstellung zwar auch von einer Jenseitigkeit bzw. Transzendenz bestimmt, die allerdings vor allem im existentiellen (und weniger im ästhetischen) Sinne zu verstehen ist: Ihm ging es um ein Transzendieren einseitiger 37
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Die Notwendigkeit von verschiedenen Reformmaßnahmen angesichts des schlecht funktionierenden Verwaltungs- und Steuerwesens wurde auch von Su Shi bejaht. Jedoch war er als Provinzbeamter direkt mit den negativen Auswirkungen der Reformen auf die ländliche Bevölkerung konfrontiert. Deshalb äußerte er sich dem Hof gegenüber kritisch zu den Maßnahmen, was ihm die Verbannung eintrug. S. auch BURTON WATSON: Su Tung-p'o: Selections from a Sung Dynasty Poet, New York: Columbia UP 1965, S. 86. LI: Der Weg des Schönen, S. 299f. YOSHIKAWA: An Introduction to Sung Poetry, S. 111. SHI SHENGWEI (Hg.): Su Shi wenxuan, Shanghai: Guji 1989, S. 140; vgl. EGAN: Word, Image, and Deed, S. 161. Kubin übersetzt: »[Ich habe] Grund zur Freude, wohin auch immer ich mich begeben mag.« S. Kubins Übersetzung und Interpretation in: EGGERT: Die klassische chinesische Prosa, S. 74.
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Parteinahme, um eine Überwindung des Verhaftetseins an den Dingen. So sieht Su Shi die Probleme der Menschen eben daher rührend, daß »sie innerhalb und nicht jenseits der Dinge wandeln«41. Diese Einstellung, welche versucht, die Welt in ihrer Gegensätzlichkeit – einschließlich kontrastierender Gefühlsregungen wie Freude oder Trauer über erlittene Not – zu transzendieren, ist maßgeblich von Zhuangzi (bzw. chan-buddhistisch) beeinflußt. Sie spricht auch aus einem seiner berühmtesten Werke, der (früheren) »Rhapsodie über [die Bootsfahrt zur] Roten Felswand« (Chibi fu)42. Darin hält er einem seiner Mitreisenden, der das übliche Klagelied über die Kürze des Lebens und Flüchtigkeit von Name und Ruhm anstimmt, die Weisheiten von Zhuangzi und des Yijing (Buch der Wandlungen) entgegen: Hast du den Wandel im Auge, Dann haben Himmel und Erde nicht einen Augenblick Bestand. Hast du das Unwandelbare im Auge, Dann ist alles – und sind auch wir – unendlich.43
Aus vielen anderen Arbeiten geht Su Shis Wertschätzung für die philosophischen Inhalte des klassischen Buch der Wandlungen und des Zhuangzi hervor, also die Gedanken des Wandels aller Dinge und des Transzendierens von Gegensätzen. Neben diesen für ihn wichtigen Klassikern hat Su Shi das Werk eines Dichters der Vergangenheit hoch verehrt und ihm bis heute zu bleibendem Ruhm verholfen: Tao Yuanming. In Taos Leben, indem dieser nämlich kompromißlos den Beamtengürtel abgegeben und sich trotz der damit verbundenen Not auf seinen Acker zurückgezogen hat, sah Su Shi sein eigenes Lebensideal verwirklicht. Dieses Ideal hat er für sich selbst trotz wiederholter Demissionen nie realisieren können, da er sich nie mit letzter Konsequenz aus der Beamtenlaufbahn zu lösen vermochte. 41
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Ebd. Kubin übersetzt: »Man ist in, statt außerhalb von ihnen [den Dingen] unterwegs.« Das Zitat enthält eine Anspielung auf Zhuangzi, Kap. 6; s. WILHELM: Dschuang Dsi, S. 91 (allerdings heißt es im Zhuangzi nicht »innerhalb der Dinge«, sondern »innerhalb der Regeln« wandeln). Es gibt eine frühere und eine spätere »Rhapsodie über die Rote Felswand«. In beiden wird von Bootsausflügen zu einer am Yangtse gelegenen Felswand erzählt, wo Anfang des 3. Jh. n. Chr. in einer Schlacht auf dem Wasser die Flotte des berühmten Feldherrn Cao Cao besiegt wurde, was Anlaß bietet, über das Vergehen der Zeit und die Flüchtigkeit von Ruhm zu sinnieren. Insbesondere die erste (und berühmtere) Rhapsodie diente als Vorlage für zahlreiche Gemälde von späteren Malern. Allerdings hatte sich Su Shi, was den tatsächlichen Ort dieser Felswand angeht, geirrt. Er vermutete sie in der Nähe von Huangzhou, wo er verbannt war. Infolgedessen spricht man von einer wen-chibi (literarischen roten Felswand) und einer wu-chibi (martialischen roten Felswand), wobei letztere und weiter flußaufwärts gelegene Stelle der historische Ort der Schlacht war. SHI: Su Shi wenxuan, S. 222, übers. nach: LI: Der Weg des Schönen, S. 301. Vgl. auch SCHWARZ: Der Ruf der Phönixflöte, S. 367.
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Doch in Tao Yuanmings dichterischem Werk sah er die Einfachheit, Offenheit und gleichzeitig natürliche Schönheit vollfüllt, die ihm selbst als ein im hohen Maße selbstreflexiver und selbstbewußter Dichter verwehrt schien. Dazu kommt, daß Su Shi achthundert Jahre nach Tao vor einem gänzlich anderen, nämlich vom Chan-Buddhismus (der zu Taos Zeiten sich in China noch gar nicht formiert hatte) geprägten, geistesgeschichtlichen Hintergrund lebte. Aus dieser Bewunderung für Tao Yuanming heraus schrieb er zu (fast) jedem von Taos Gedichten ein sogenanntes Antwortgedicht (he shi), in welchen er dem Usus dieses Genres entsprechend die gleichen Reimworte wie die seines berühmten Vorgängers benutze.44 In einem dieser Antwortgedichte auf Tao Yuanming, nämlich dem zweiten in der Serie »Nach dem Muster von alten Gedichten«45 geht er auch auf den im vorherigen Abschnitt bei Ouyang Xiu erörterten und seit Menzius beliebten Gegensatz von »Erfolg« (da) und »Not« (qiong) ein: Früher blieb mir der Erfolg versagt, Heute bin ich auch zufrieden in der Not. Dort, wo weder Erfolg noch Not hingelangen, In der Mitte zwischen diesen verweile ich.46
In diesen wenigen Zeilen finden wir den Unterschied zu Ouyang Xiu und vielen anderen, die ihre eigenen Nöte herausstellten und die daraus zu ziehenden konfuzianischen Konsequenzen betonten. Su Shi hingegen will sich – in Anlehnung an Zhuangzi – nicht von diesem Gegensatz, oder von überhaupt einem Gegensatzpaar, einfangen lassen, sondern versucht, an einem Ort dazwischen – oder jenseits von beiden Polen – zu verweilen. Die Wendung »zufrieden in der Not« läßt sich allerdings auch mit einem zentralen Thema von Tao Yuanming verbinden, und zwar dessen »Festigkeit in der Not« (gu qiong)47. Gleichwohl finden wir bei Su Shi, auch Anzeichen einer kühlen und abgeklärten Stimmung bzw. einer Sehnsucht nach Weltflucht oder nach Entkommen aus dem Beamtenleben mit seinem Kreislauf von Verbannung und Wiedereinsetzung. Dieser 44
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Die Praxis der Antwortgedichte beschränkte sich eigentlich auf den dichterischen Austausch unter Freunden. So hatten auch Bai Juyi und Yuan Zhen in der Tang-Zeit bereits einander derartige Antwortgedichte geschrieben. Das besondere an Sus He Tao shi ist die Tatsache, daß er auf diese Weise mit einem Dichter verkehrte, der schon längst (800 Jahre) tot war. Auf diese Weise machte er sich die (bereits zitierte) Aufforderung von Menzius zu eigen, sich die Dichter der Vergangenheit über deren Werke zu Freunden zu machen. Zu Tao Yuanmings Vorlage s. TAO: Der Pfirsichblütenquell, S. 148. SONG QIULONG: Su Dongpo he Tao Yuanming shi zhi bijiao yanjiu, Taibei: Shangwu 1982, S. 156. Dieser Ausdruck geht auf Lunyu, 15.1, zurück: Als Konfuzius bei einer Dürre von seinen Schülern gefragt wurde, ob auch der Edle Not erleiden müsse, antwortete er, der Edle bleibe »fest in der Not«. S. auch TAO: Der Pfirsichblütenquell, S. 21–22.
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eher melancholisch nostalgische Ton spricht auch aus vielen seiner ci-Lieder, einem Genre, dem er, wie erwähnt, eine ganz neue philosophische Tiefe verliehen hat.48 Das folgende ci-Lied ist repräsentativ dafür; es trägt den Titel »Ausdruck von Empfindungen« (zur Melodie »Räucherwerk brennen«, Xing xiangzi): Klar die Nacht, ohne Staub, Mondschein wie Silber. Laß den Wein dein Glas bis zum Rande füllen! Eitler Ruhm und eitler Reichtum Mühen vergebens den Geist. Ach – zum Galopp der Zeit, Zum Funken des Steins, Zum Traum vom Selbst. Zwar liegt mir an Literatur (wenzhang), Doch redete ich davon – wer bliebe mir nah? Besser sei froh und genieße das Wahre der Natur (tianzhen)! Wann kann ich heimkehren Und frei sein von Verpflichtungen? Mit – einer Zither, Einem Krug Wein, Einem Bach in den Wolken?49
Der erste, eher unpersönliche Teil des Liedes beginnt – wie auch meist die shiGedichte – mit einem Naturbild und rankt sich um das carpe-diem-Motiv: Eitel ist das Menschenleben; und das Streben nach Ruhm angesichts der feuerfunkenartigen Kürze der Zeit gleicht einem Haschen nach dem Wind.50 Die erste und letzte Zeile enthalten dazu noch bekannte Bilder aus dem Buddhismus, für den die Menschenwelt nur eine Welt des roten »Staubes« und das Selbst lediglich eine traumähnliche Illusion bedeutet, die uns die substantielle Wirklichkeit eines Selbst bzw. einer Person nur vorgaukelt. Das am Anfang gezeichnete Bild des klaren Mondes könnte durchaus für die Klarheit dieser buddhistisch inspirierten Einsicht stehen. Der persönlicher gehaltene zweite Teil bildet die Konsequenz aus dieser Erkenntnis der Flüchtigkeit der menschlichen Existenz: die Sehnsucht nach Weltflucht, wobei der Wunsch nach »Heimkehr« eine Anspielung auf Tao Yuanmings berühmte 48
49 50
Eine ausführliche Besprechung seiner ci-Lieder findet sich bei KUBIN: Geschichte der chinesischen Dichtkunst, S. 281ff, sowie bei RAINALD SIMON: Die frühen Lieder des Su Dong-po, Frankfurt: Peter Lang 1985. TANG GUIZHANG (Hg.): Quan Song ci, Hongkong: Zhonghua shuju 1977, S. 302. Das Bild »Galopp der Zeit« bezieht sich wörtlich (bei Su Shi heißt es: »Pferd inmitten einer Spalte«) auf eine Stelle im Zhuangzi (Kap. 22): »Das Leben des Menschen auf Erden ist schnell vorüber wie der Schein eines weißen Rosses, der durch eine Spalte fällt; im Augenblick ist es vergangen.« WILHELM: Dschuang Dsi, S. 230.
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Rhapsodie »Nach Hause zurück« enthält – Tao besingt darin, wie er endlich dem Beamtenleben entkommen und zum einfachen und wahren Leben heimgekehrt ist.51
Natürliche Kreativität und Regelhaftigkeit Su Shis eigentlich literaturtheoretischen Äußerungen gruppieren sich auch um die bereits angesprochenen philosophischen Grundgedanken des Wandels und der Transzendenz. Dazu kommt noch das ebenfalls aus dem Daoismus stammende Ideal einer künstlerischen Kreativität, die in ihrem Wesen nichts anderes darstellt als die Schöpfungskraft der Natur. Repräsentativ dafür ist ein kurzer Abschnitt, in dem er seine eigene Schreibkunst charakterisiert: Mein Schreiben ist wie tausend Kübel Wasser, das, ohne daß es sich einen Weg wählt, aus mir heraus hervorquillt. Es flutet und gurgelt über die ebene Erde an einem Tag mühelos tausend Meilen weit. Wie es sich windet bei Bergen und Felsen, wie es sich formt, wenn es auf Dinge trifft und sich ihnen anpaßt, das läßt sich nicht vorherwissen. Was ich jedoch weiß, ist, daß es immer dorthin geht, wohin es gehen soll, und immer dort hält, wo es nicht anders kann als anzuhalten, und das ist alles! Was den Rest betrifft, so kann selbst ich nicht erahnen [wie es sich gestaltet].52
In dieser Passage klingt ein Topos an, der später noch größere Bedeutung erlangen sollte: die Maßgabe einer »lebendigen Regel« (huo fa) bzw. einer natürlichen Regelhaftigkeit für alles künstlerische Schaffen. In der Qing-Zeit wird der Maler Shitao dazu sein Credo einer »Regel der Nicht-Regel« (wu fa zhi fa) verkünden. Su Shi bekennt sich hier zu einer daoistisch inspirierten Literatur- und Kunstauffassung: Das Schaffen gestaltet sich von allein und ist in seinen Ausformungen unvorhersehbar, es folgt dabei jedoch immer einer inneren Gesetzmäßigkeit (fa). Daß diese Auffassung trotz ihrer inspirierenden Bildhaftigkeit jedoch auch für ihn ein gewisses Klischee bedeutet haben mag, läßt sich daran erkennen, daß er fast die gleiche Formulierung benutzt, um die Dichtungen eines Freundes zu cha51
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S. TAO: Der Pfirsichblütenquell, S. 58. Die äußerst kunst- und bedeutungsvolle Parallelführung des Gedichts von Su am Ende der beiden Strophen, nämlich in den jeweiligen drei letzten Zeilen, die jeweils aus Drei-Wort-Zeilen bestehen (der jeweils drittletzten Zeile ist allerdings ein Füllwort vorgeschaltet), mit signifikanten Zeichenwiederholungen, läßt sich in der Übersetzung allenfalls andeuten, jedoch nicht richtig vermitteln. So tragen am Ende des ersten Teils die Drei-Wort-Wendungen »Galopp der Zeit« etc. alle das Zeichen zhong (Mitte) in der Mitte; die entsprechenden Wendungen am Ende des zweiten Teils (von »einer Zither« angefangen) führen alle das Zeichen yi (eins) an der ersten Stelle. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 310, vgl. BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 35.
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rakterisieren, wie am Anfang seines folgenden Briefes an Xie Minshi, der jedoch noch einige weitere erörternswerte Gesichtspunkte zum Thema »Gestaltung« (wen) enthält: Ich habe mir Eure Briefe, Gedichte und Rhapsodien genau angeschaut. Insgesamt gesehen sind sie wie ziehende Wolken und wie fließendes Wasser: Sie besitzen von Anfang an keine feste Substanz, gehen immer dorthin, wohin sie gehen sollen, und halten immer dort, wo sie nicht umhin können zu halten. Das Prinzip der Literatur ist Natürlichkeit. Dann ist ihre Gestaltung (wen) völlig unvorhersehbar. Konfuzius hat einmal gesagt: »Wenn Worte keine Form besitzen, dann kommen sie nicht weit.« Auch sagte er: »Worte sollen etwas vermitteln, und das ist alles.«53 Wenn nun Worte lediglich die Absicht [des Autors] vermittelten, so würde man gemeinhin annehmen, daß sie dann keine [literarische] Gestalt (wen) besäßen. Dies ist jedoch ein großer Fehler. Das Wunderbare in den Dingen zu suchen, gleicht dem Versuch, den Wind zu fesseln oder Schatten zu fangen. Einen, der in der Lage wäre, sich ein Objekt völlig im Geiste zu vergegenwärtigen, wird man unter Tausenden und Abertausenden vergeblich suchen, noch viel weniger würde man einen finden, der im Stande wäre, diesem Objekt durch den Mund oder durch die Hand Ausdruck zu verleihen. Die Bedeutung des Satzes, daß »Worte vermitteln«, ist genau diese: Wenn Worte in der Lage sind, etwas zu vermitteln, dann sind sie bereits unerschöpflich in ihrer Gestaltung. Yang Xiong (53 v. – 18 n. Chr.) liebte es, in schwierigen Worten zu sprechen, wodurch er seinen oberflächlichen Thesen eine literarische Gestalt (wen) verleihen wollte. Wenn er sich in klaren Worten ausgedrückt hätte, so hätte alle Welt [seine Oberflächlichkeit] verstanden. So etwas nennt man »Insektenschnitzerei« (diao chong zhuan ke). Seine Bücher Klassiker vom höchsten Geheimen (Taixuanjing) und Worte strenger Ermahnung (Fa yan)54 sind von dieser Sorte. Dabei klagte er nur über [die niedrige Qualität] seiner Rhapsodien. Wie konnte er nur? Er hat sein ganzes Leben lang nur derartig geschnitzt, hat dann lediglich die Melodie und Anordnung [der Werke, die er imitierte, nämlich das Buch der Wandlungen und die Gespräche des Konfuzius] verändert und seine Werke »Klassiker« (jing) genannt. Kann man das so machen?55
Im zweiten Absatz dieses Briefes geht Su auf zwei bekannte Formulierungen von Konfuzius zur Gestaltung und zur Vermittlungsfunktion von Worten ein, die er in ihrer Wertigkeit miteinander in Beziehung setzt. Seine Botschaft lautet: Vermittlung ist immer auch Gestaltung. Nur darf man das Augenmerk nicht zu sehr auf die Gestaltung lenken, dabei geht die Natürlichkeit und somit auch die lebendige 53 54 55
Zuozhuan, Xiang 25; Lunyu, 15.40; s. Kap. I.2. S. die kurzen Erläuterungen über Yang Xiong in Kap. I.7. YAN ZHONGQI: Su Shi lun wenyi, Peking: Beijing chubanshe 1985, S. 111; GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 307; vgl. FULLER: The Road to East Slope, S. 81, BOL: This Culture of Ours, S. 294 und LI: Der Weg des Schönen, S. 304.
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Vermittlung verloren. Übrig bliebe dann nur, was er an dem hanzeitlichen Literaten Yang Xiong bemängelt: »Insektenschnitzerei«, d.h. eine Beschäftigung mit Oberflächlichem und Nebensächlichkeiten. Das Thema natürliche Kreativität behandelt auch sein »Vorwort zu der Sammlung ›Reise nach Süden‹«56. Darin stellt er die These auf, daß Kunstfertigkeit (gong) nicht in einer erworbenen Fähigkeit besteht, sondern daß sie dann gegeben ist, wenn das Schreiben gleichsam wie ein natürlicher Impuls aus dem Dichter herauskommt: In der Vergangenheit wurde es nicht als kunstfertig (gong) betrachtet, schreiben (wen) zu können, vielmehr galt der als kunstfertig, der nicht umhin konnte, zu schreiben. [Es ist so wie mit den] Wolken über den Bergen und Flüssen, Blüten und Früchten von Pflanzen und Bäumen – in all ihrer Pracht sind sie voller Lebendigkeit, und dies manifestiert sich nach außen. Selbst wenn man wünschte, daß sie sich nicht so zeigten, es wäre unmöglich. Von Kindheit an habe ich unseren Vater über das Schreiben sagen gehört, daß die Weisen des Altertums nur etwas verfaßten, wenn sie nicht umhin konnten, dies zu tun. Deshalb hatten mein jüngerer Bruder Che und ich, obwohl wir viel geschrieben haben, nie dabei die Absicht, etwas zu verfassen.57
Das absichtslose Verfassen bzw. Schaffen wird hier von Sus Vater zwar den konfuzianischen Weisen des Altertums zugeschoben, in Wirklichkeit ist dieses Ideal jedoch ein daoistischer Gedanke.
Vermittlung des »inhärenten Musters« der Dinge Daß für Su Shi die neue Terminologie und die Konzepte des Neokonfuzianismus eine Rolle zu spielen beginnen, zeigt sich in einem »Brief an Yu Gua«. Hier wird der oben genannte Gedanke einer Vermittlungsfunktion von Literatur (bzw. von Worten) wieder aufgegriffen, allerdings eingepackt in die These, daß es immer dabei um die Vermittlung von »inhärenten Mustern«, »Ordnungsprinzipien« oder »Ideen«, also eben der den Dingen zugrunde liegenden, jedoch unsichtbaren li gehe: Die Dinge haben sicherlich ihr bestimmtes »inhärentes Muster« (li). Die Schwierigkeit, dieses zu vermitteln, besteht darin, daß man dieses Muster nicht erkennt; und wenn man es erkennt, dann liegt die Schwierigkeit darin, ihm durch den Mund oder durch die Hand Ausdruck zu verleihen. Doch das, was man Literatur (wen) nennt, bedeutet, dies zu vermitteln, und nichts anderes.58 56
57 58
Eine Sammlung von Texten, die er zusammen mit seinem Vater Su Xun und seinem Bruder Su Che verfaßte. YAN: Su Shi lun wenyi, S. 41; vgl. FULLER: The Road to East Slope, S. 54f. YAN: Su Shi lun wenyi, S. 99; vgl. FULLER: The Road to East Slope, S. 81.
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In seinen maltheoretischen Bemerkungen hat Su Shi ebenfalls auf die Wichtigkeit des Erfassens der li im Schöpfungsprozeß hingewiesen (s. dazu den Exkurs weiter unten), wobei allerdings deutlich wird, daß damit das einigende Grundmuster bei allen phänomenalen Unterschieden gemeint ist. So nimmt Wasser z. B. unzählige Formen an, in dem es sich den Formen der Erde anpaßt, doch lassen sich diese vielfältigen Transformationen alle auf das eine »inhärente Muster« von Wasser zurückführen.59 Wenn Su in der weiter oben zitierten Passage mit der gleichen Thematik erklärt, daß Vermittlung (da) immer auch Gestaltung (wen) bedeutet, so präzisiert er hier den Sachverhalt in zeitgenössischer Terminologie, nämlich durch den neokonfuzianischen terminus technicus »li«, denn beiden Begriffen, wen und li, liegt die Wurzelbedeutung »Muster« zugrunde. Wie jedoch das soeben erörterte »absichtlose Verfassen« mit der Vermittlung von »inhärenten Mustern« zusammengehen soll, ist eine andere und hier offen bleibende Frage. Ersteres läßt sich dem Daoismus zuordnen, letzteres – das »inhärente Muster« – gehört, wie bereits erwähnt, ursprünglich zum Begriffsinventar des Huayan-Buddhismus, von wo es in den Neokonfuzianismus gelangte und worin es dann zu einem zentralen Konzept avancierte. Allerdings lassen sich diese Überlegungen zum Wesen und der Funktion von Literatur – weder bei Su Shi noch bei anderen »Theoretikern« – in eine widerspruchsfreie »Theorie« gießen. Vielmehr ergänzen sich bei Ihnen meist Elemente aus dem Steinbruch der chinesischen Geistesgeschichte zu einer faszinierenden, facettenreichen und sich über die Jahre wandelnden Gestalt. Abgesehen von derart allgemeinem Aufgreifen neokonfuzianischer Terminologie scheint Su Shi nur wenige Berührungspunkte mit neokonfuzianischen Denkern gehabt zu haben. Höchstens die kosmologischen Spekulationen aus dem Buch der Wandlungen, die auch am Anfang des songzeitlichen Neokonfuzianismus stehen, haben wohl sein Interesse gefunden. Als hoher Literatenbeamter war er natürlich dem Konfuzianismus verpflichtet, doch als künstlerisch und ästhetisch hochsensibler Mensch fühlte er sich eher vom Geist des Daoismus angezogen, der, wie wir zu Anfang sahen, mehr Ansatzpunkte zu künstlerisch kreativem Schaffen bietet als der eher sozial und moralisch argumentierende Konfuzianismus. (Zu Zhu Xis Auseinandersetzung mit Su Shi siehe Kap. IV.4.)
Dichtung und Dharma Wie bereits mehrfach angedeutet war Su Shi auch stark vom Chan-Buddhismus beeinflußt. So pflegte er regen Kontakt mit Mönchen, die immerhin – und wiederum anders als er selbst, allerdings auch anders als sein Vorbild Tao Yuanming – ihre Variante einer Weltflucht verwirklicht hatten. Im folgenden Ausschnitt eines 59
FULLER: The Road to East Slope, S. 87. Der Thematik der Vermittlung von li ist bei Fuller viel Raum gewidmet, insbesondere S. 80–118.
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Abschiedsgedichts an einen befreundeten Chan-Mönch (Meister Canliao, Daoqian, 1043-ca.1116) werden einige buddhistische Topoi – wie Stille, Leere, Mitte, Dharma – im Zusammenhang der Dichtung angesprochen. Interessant ist auch eine Anspielung auf eine Äußerung von Sikong Tu (Su Shi gilt als derjenige, der Sikong Tus »Vierundzwanzig Qualitäten der Dichtung« in der Song-Periode zum Durchbruch verholfen hat), in welcher der wahre »Geschmack« von Dichtung mit einem »Geschmack jenseits von nur salzig oder nur sauer« verglichen wird: Soll die Sprache der Gedichte wunderbar sein, So darf man nicht Leere (kong) und Stille (jing) verschmähen. In der Stille vollendet sich alle Bewegung; In der Leere sind zehntausend Vorstellungen (jìng) enthalten. Betrachtet die Welt, wenn Ihr unter Menschen weilt; Meditiert über das Selbst, wenn Ihr auf umwölkten Gipfeln ruht! Salzig und sauer vermischen sich zu [Würzen], die man gerne schätzt; Doch die [buddhistische] Mitte besitzt den höchsten Geschmack und ist beständig. Dichtung und Dharma (fa) hindern einander nicht – Darüber würde ich gerne mehr von Euch erfahren.60
In diesem Gedicht findet sich eine Reihe von Anspielungen auf Gedanken des Mahayana-Buddhismus, von dem der Chan ja nur eine Spielart darstellt. Von überragender Bedeutung wurde im Mahayana die Vorstellung nicht nur einer Leere der sinnlichen Welt bzw. der Substanzlosigkeit jeglicher Entitäten, sondern vielmehr der Gedanke, daß es keinen wesenhaften Unterschied gibt zwischen Leere und Sinnenwelt, zwischen Nirvana und Samsara. Das gerade in der Tang- und Song-Zeit populäre »Herz-Sutra« (Xinjing) hat diesen Zusammenhang in einer berühmten Formulierung auf den Punkt gebracht: »Form (Sinnenwelt) ist Leere, und Leere ist Form« (Se ji shi kong, kong ji shi se).61 Auch sucht der sogenannte »mittlere Weg« der bereits in der Vor-Tang-Zeit von Indien nach China gelangten Madhyamika-Schule eine Mitte jenseits von Bejahung und Verneinung zu finden.62 Dies ist denn auch die Bedeutung der entsprechenden Zeile des zitierten Gedichts, die den »höchsten Geschmack« eben jener Mitte zuweist. Es handelt sich dabei im Grunde um eine buddhistisch orientierte Variante von Sikong Tus 60
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YAN: Su Shi lun wenyi, S. 157f; vgl. BEATA GRANT: Mount Lu Revisited – Buddhism in the Life and Writing of Su Shih, Honolulu: University of Hawai'i Press 1994, S. 98; vgl. RICHARD JOHN LYNN: »The Sudden and the Gradual in Chinese Poetry Criticism: An Examination of the Ch'an-Poetry Analogy«, in: PETER GREGORY (Hg.): Sudden and Gradual. Approaches to Enlightenment in Chinese Thought, Honolulu: University of Hawai'i Press 1987, S. 385. Vgl. MICHAEL VON BRÜCK: Weisheit der Leere. Sutra-Texte des indischen MahayanaBuddhismus, Zürich 1989, S. 239. S. FUNG YU-LAN: History of Chinese Philosophy, II, trans. Derk Bodde, Princeton: Princeton UP 1983, S. 296. In neueren Schriften wird diese buddhistische Schule Madhyamaka (und ihre Anhänger Madhyamika) genannt.
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Bemerkung; denn wenn dieser den wahren Geschmack »jenseits von nur sauer oder salzig« angesiedelt sieht, so ist die buddhistische Wahrheit in einer Mitte zwischen den Extremen Form/Wirklichkeit und Leere bzw. in einer Position der »Nicht-Dualität« (bu er) zu finden. Dies ist schließlich auch die buddhistische Version des Zhuangzischen Gedankens einer Überschreitung der Gegensätze, den Su Shi bereits verarbeitet hat. Das Gedicht endet mit der Beobachtung, daß sich Dichtung und buddhistisches Dharma nicht einander einschränkend gegenüberstehen. Da der chinesische Begriff für Dharma (fa) eine Doppelbedeutung besitzt, nämlich auch als »Regel« (im allgemeinen poetologischen Sinne) zu verstehen ist, ließe sich diese Zeile auch lesen: freimütige Dichtung und Regelhaftigkeit hindern einander nicht. Insbesondere in dem bereits erwähnten Sinne einer »lebendigen Regel« ist dies ein Gedanke, der in der späteren literaturtheoretischen Erörterung noch eine Rolle spielen soll, wobei auch das Wortspiel mit der Doppelbedeutung von fa (buddhistisches Dharma und Regel) signifikant bleiben wird. Trotz seiner weltzugewandten (ru shi) »konfuzianischen« Orientierung Zeit seiner aktiven Laufbahn – wie dies für chinesische Literaten selbstverständlich war – neigte Su Shi im Grunde seines Herzens, und wohl mitbedingt durch die zahlreichen Enttäuschungen und Tiefschläge, zu einer entsagenden, weltabgewandten (chu shi) Einstellung, wofür er im Daoismus und Chan-Buddhismus Orientierung fand. Vielleicht ist es gerade diese Mischung von – aus unserer gängigen Entwederoder-Warte aus gesehen – eigentlich inkompatiblen Elemente, die einen Gutteil des Reizes seines Œuvres sowie die Faszination seiner Person ausmachen.
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Exkurs 2: »Der vollständige Bambus im Herzen« – Su Shi und die Ästhetik der Bambusmalerei
Von Su Shi sind keine gesicherten Gemälde mehr erhalten. Der Überlieferung zufolge sollen seine bevorzugten Sujets Felsen, alte Bäume und Bambus in schwarzer Tusche gewesen sein. Mit seiner Vorliebe für Bambus war er jedoch zweifellos der Initiator des songzeitlichen »Bambuskults«63. Die damals einsetzende Bambusmanie hat jedoch auch noch verschiedene andere Ursachen und Hintergründe, die hier kurz dargelegt werden sollen. Zunächst umgibt der Bambus die Chinesen seit alters her in allen Bereichen des Lebens; er begleitet sie gleichsam von der Wiege bis zur Bahre. Auch verbindet er Schönheit und Symbolik mit Nützlichkeit: Der Bambus gilt als die nützlichste Pflanze weltweit. Im Hinblick auf chinesische Verhältnisse wurde einmal bemerkt: Wenn Bambus und alles, was aus Bambus gemacht ist, plötzlich aus China entfernt würde, würde die soziale Ordnung unterbrochen, das tägliche Leben des Volkes völlig aus den Fugen geraten und sein Lebensstandard reduziert auf den der Barbarei und armseligen Abhängigkeit.64
Das chinesische Sprichwort »Lieber Essen ohne Fleisch als ein Leben ohne Bambus« bestätigt diese Einschätzung. Heutzutage würde man die Beliebtheit des Bambus als Symbol allein an der Verbreitung von Bambusbildern (auch Steinabreibungen davon) in China erkennen können. Konkret besitzt der Bambus eine Reihe von markanten Eigenschaften, die sich einfach symbolisch – und somit auch ästhetisch relevant – deuten lassen (bisweilen auch aufgrund von Homophonie): Seine Geradheit (zheng) steht für Aufrichtigkeit; die Regelmäßigkeit der Knoten (jie) ist ein Zeichen der Verläßlichkeit und Integrität; die jadefarbene Reinheit bedeutet Lauterkeit; seine immergrüne Farbe (auch im Winter) verheißt Widerstandfähigkeit; die Tatsache, daß er innen hohl/leer (kong) ist, läßt sich buddhistisch als Verkörperung der »Lehre der Leere« oder daoistisch/konfuzianisch als Bescheidenheit interpretieren, und seine Flexibilität ist Zeichen seiner Festigkeit und Unverwüstlichkeit – er läßt sich biegen, doch kaum brechen.65 Schließlich 63
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KATHERINE BALL: Bamboo, Its Cult and Culture, Berkeley: University of Berkeley Press 1945, S. 8. W.C. WHITE: An Album of Chinese Bamboos, Toronto: University of Toronto Press 1939, S. 11. Ähnliche menschliche Tugenden werden der Pflaumenblüte, der Orchidee und der Chrysantheme zugeschrieben; zusammen mit dem Bambus werden sie die »vier Edlen« (si junzi) genannt. Sie stehen auch für die Abfolge Frühling (Pflaume), Sommer (Orchidee), Herbst (Chrysantheme) und Winter (Bambus).
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Exkurs 2: »Der vollständige Bambus im Herzen«
besteht eine enge Verwandtschaft zwischen der Bambusmalerei und der Schriftkunst – der Bambus ist mit dem Pinsel zu »schreiben« (xie) und nicht zu malen. Der Bambuskult im songzeitlichen China ist nicht nur auf Su Shis einschlägige Gemälde, sondern auch, und noch mehr, auf seine zahlreichen Äußerungen über die Bambusbilder seines Freundes und Vetters Wen Tong (gest. 1079, auch genannt Yuke) zurückzuführen. Wen Tong muß ein großer Meister seines Metiers gewesen sein. Es gibt zwar nur ein einziges von ihm überliefertes (oder vielmehr zugeschriebenes) Gemälde, das im Palastmuseum von Taipei zu sehen ist, doch macht gerade dieses ungewöhnliche Bild seine Meisterschaft deutlich. Die Blätter und Zweige sind – trotz Ausführung in monochromer Tusche – von einer erstaunlichen Differenziertheit und Lebendigkeit; doch überraschend ist vor allem die Form des Bambus. Es zeigt nämlich einen Ast, der nicht wie gewohnt gerade, sondern in Form einer S-Kurve gekrümmt von oben ins Bild hängt – was seiner sprichwörtlichen und symbolisch verstandenen Geradheit entgegensteht. (Daran sieht man allerdings wiederum, daß wohl auch in China nur der Kleingeist und der Lernende sich an die Regeln gehalten haben, der Meister jedoch darüber stand.) In einem Gedicht von Su Shi heißt es über Wen Tongs Kunst: Wenn Yuke Bambus malt, Dann sieht er nur Bambus und nie Menschen. Doch ist es nicht bloß so, daß er nie Menschen sieht, Wie in Trance hat er sich selbst vergessen. Er selbst ist zum Bambus geworden, Der dauernd frisch weiter wächst. Nun, da Zhuangzi nicht mehr unter uns weilt, Kann jemand diese Konzentration geistiger Kraft (shen) verstehen?66
In dem Satz »Er selbst ist zum Bambus geworden« liegt aus Su Shis Sicht die philosophische und eigentlich mystische Bedeutung von Wen Tongs Meisterschaft in der Bambusmalerei, denn er bedeutet eine Einheit von Subjekt und Objekt, um nicht zu sagen, eine Einheit des Menschen mit der Gesamtheit der Natur (tian ren he yi). Man könnte sagen, Wen Tongs Kunst beruhte auf einem »intuitiven Erfassen« (shenhui) der Dinge67. Geistesgeschichtlich bindet Su Shi diese magische Fähigkeit bei Zhuangzi an, und zwar in dessen verschiedenen Geschichten von Meistern hoher Kunstfertigkeit (Koch Ding, Radmacher Bian, Glockenständerschnitzer Qing, der bucklige Zikadenfänger etc.), die ihr Niveau in der Kunst durch Verinnerlichung des Dao erreicht haben. In der (bereits zitierten) Geschichte vom Glockenschnitzer Qing, dessen Meisterschaft daher rührte, daß er seine Natur mit der Natur des Baumes (aus dem ihn der Glockenständer gleichsam anblickte) ver66 67
YAN: Su Shi lun wenyi, S. 230; BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 41. S. zu dieser Thematik BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 49f und 64.
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einigte, finden wir Wen Tongs Fähigkeit, mit dem Bambus eins zu werden, gleichsam präfiguriert . Explizit deutlich werden diese Bezüge zu Zhuangzi in einer Rhapsodie von Su Shis Bruder Su Che über Wen Tongs Kunst, der »Rhapsodie vom Tuschebambus« (Mozhu fu). Darin läßt er Wen Tong auf Zhuangzis Geschichte von Koch Ding anspielen. Im Zhuangzi lobt der Fürst die Geschicklichkeit (ji) seines Kochs beim Zerlegen von Rindern, worauf der Koch erwidert: »Das Dao ist es, was dein Diener liebt. Das ist mehr als Geschicklichkeit« (jin hu ji)68. In Su Ches Rhapsodie nimmt Wen Tong in geschickter Weise darauf Bezug, als ein Besucher sich verwundert über Wen Tongs magische Fähigkeit in der Malerei äußert und ihn fragt, ob diese etwa daher rühre, daß er das Dao verinnerlicht habe. Darauf erwidert Wen Tong (Yuke) mit einem Lächeln: »Das Dao ist es, was ich liebe. Ich habe vom Bambus losgelassen (fang hu zhu). Als ich zurückgezogen am Südhang von Chongshan lebte, wohnte ich in einem Hain voller hoher Bambusbäume. Dort schaute ich und lauschte in Ruhe und ließ meinen Geist unbewegt. Am Morgen wanderte ich mit dem Bambus, am Abend waren sie meine Freunde. Ich aß und trank unter ihnen, verweilte und ruhte in ihrem Schatten. Wenn man die verschiedenen Formen des Bambus betrachtet, so sind sie sehr zahlreich (und er zählt sie auf) […] In diesen Formen ist der Bambus Bambus. Zunächst betrachtete ich ihn und war mir dessen gar nicht bewußt. Plötzlich vergaß ich den Pinsel in meiner Hand und das Papier vor mir; ich stand auf und malte einen Bambus nach dem anderen. Gibt es da einen Unterschied zu der unpersönlichen Schöpferkraft des Himmels (tianzao)?« Darauf erwiderte der Gast: »Ich habe davon gehört, daß der Koch Ding bloß Rinder zerlegte; doch einer, der sein Leben nährte (yang sheng), vermochte davon zu lernen (sein Fürst). Der Radmacher Bian machte seine Räder, und einer, der Bücher las (der Fürst, der ihm zuschaute), konnte diese Lehre annehmen. Es gibt nur ein einziges Ordnungsprinzip (li) in den zehntausend Dingen; der Unterschied liegt lediglich darin, von wo sie ausgehen. Wenn Ihr Euch nun diesen Bambusbäumen anvertraut und ich Euch für einen halte, der das Dao verinnerlicht hat, habe ich damit nicht recht?« Yuke erwiderte: »Ja, ja.«69
Su Shis eben zitierte Gedichtzeile »Er selbst [Wen Tong] ist zum Bambus geworden« wird hier von seinem Bruder gleichsam anekdotisch ausgemalt. Die Rhapsodie verdeutlicht, wie sehr die bekannten Geschichten aus dem Buch Zhuangzi den songzeitlichen Literaten als Inspiration und Orientierung für ihre Kunstreflexion dienten. Das eigentliche Thema dieser Rhapsodie ist jedoch die unergründliche Schöpferkraft der Natur – das Dao; es ist die Quelle nicht nur aller natürlichen, sondern auch aller künstlerischen Kreativität. Diese Thematik ist ebenfalls bereits 68 69
S. dazu den Abschnitt über Zhuangzi, Kap. I.5. BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 38f (mit chin. Original S. 100).
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Exkurs 2: »Der vollständige Bambus im Herzen«
im Zhuangzi angelegt und wurde später immer wieder aufgegriffen (in Lu Jis Wenfu, von Liu Xie etc.). Interessant an Su Ches Rhapsodie ist allerdings, daß derartige daoistische Einsichten neben neokonfuzianischen Betrachtungen und Begriffen, so vom Ordnungsprinzip (li), stehen. Diese Durchmischung philosophischer Orientierung und Begrifflichkeit (was durchaus dem Neokonfuzianismus als Synthese daoistischer und buddhistischer Elemente mit konfuzianischem Denken entspricht) zeigt sich auch in einem anderen Textausschnitt, in der Su Shi auf die Lehre, die er von Wen Tong empfangen hat, eingeht: Wenn junger Bambus zu sprießen beginnt, ist er nur ein Zoll lang, doch alle Knoten und Blätter sind bereits latent vorhanden. Die ganze Natur entwickelt sich so, seien es nun Grillen und Schlangen oder Bambus, der über hundert Fuß in die Höhe schießt. Heutzutage gestalten die Künstler den Bambus Knoten für Knoten und Blatt für Blatt. Wo bleibt da der Bambus? Folglich muß man, wenn man Bambus malt, diesen zuvor vollständig im Herzen haben (cheng zhu yu xiong zhong); im Augenblick des Malens konzentriert man sich und sieht dann vor sich, was man malen möchte. Auf der Stelle folgt man seiner Vorstellung und handhabt den Pinsel, um das Bild, das man gesehen hat, festzuhalten, einem Habicht gleich, der auf ein Kaninchen herabstößt. Ein Augenblick der Unschlüssigkeit, und es wäre dahin. Yuke (Wen Tong) hat mich dies gelehrt. Ich verstand wohl, was er meinte, konnte es aber nicht verwirklichen. Meine Hand gehorchte mir nicht, da es mir an Übung fehlte. Es gibt Dinge, mit denen man sich irgendwie vertraut fühlt; man versteht sie zwar, doch wenn man sie ausführen will, gelingt es einem nicht. Dies gilt nicht nur für die Darstellung von Bambus. [… Mein Bruder] Zeyou (Su Che) kann nicht malen; er begreift lediglich die Idee (yi). Ich begreife nicht nur die Idee, ich habe auch die Methode/Regel (fa) erlernt.70
Die letzten Sätze beziehen sich darauf, daß Su Che in seiner »Rhapsodie vom Tuschebambus« Wen Tongs Geheimnis intellektuell durchaus verstanden hat, doch (wie in Zhuangzis Geschichte vom Radmacher Bian) nicht in der Lage ist, es malerisch umzusetzen. Darüber hinaus verdeutlicht der Text eine Reihe von Punkten: Erstens, die genaue Beobachtung der Natur wird zu einem wichtigen Thema der Song-Zeit; sie geht auch mit einem zentralen Anliegen des songzeitlichen Neokonfuzianismus – nämlich der Ergründung von Ordnungsprinzipien (li) durch Untersuchung der Dinge (gewu) – einher. Zweitens, Spontaneität in der Ausführung einer Kunst (bereits als daoistisches bzw. chan-buddhistisches Gedankengut verortet), die eine intuitive Beherrschung der Methode/Regel (fa) voraussetzt, ist ganz von der Übung abhängig. Drittens und am wichtigsten in dieser Passage 70
YAN: Su Shi lun wenyi, S. 193f, Übers. LIN: Chinesische Malerei, S. 101f (mit geringf. Veränderungen); vgl, BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 37.
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ist der Satz, daß Wen Tong den »vollständigen Bambus im Herzen« gehabt habe. Diese zum geflügelten Wort gewordene Wendung (xiong zhong cheng zhu) will eigentlich sagen, daß ein Künstler ganz den Gegenstand seiner Malerei verinnerlicht haben bzw. daß er vor dem Malen bereits mit ihm eins sein muß.71 Diesem Gedanken des »vollständigen Bambus im Herzen« entspricht in anderen (und auch noch später zu behandelnden) Kontexten die Betonung der »Idee« (yi) bzw. der künstlerischen Konzeption im Schaffensprozeß, die am Ende der Passage ebenfalls angesprochen wird. Die genaue Beobachtung der Natur mit einer neokonfuzianischen Orientierung an den Ordnungsprinzipien der Dinge steht auch im Zentrum folgender Passage, die wiederum Wen Tong gilt: Ich war schon immer der Ansicht, daß Menschen, Tiere und Möbel eine unveränderliche Gestalt (xing) besitzen. Dagegen haben Berge und Felsen, Bambus und Bäume, Kräuselwellen, Nebel und Wolken keine unveränderliche Gestalt, sie besitzen jedoch ein unveränderliches inneres Wesen (li). Ungenauigkeiten bei der Gestalt fallen jedem auf, doch der Fehler beim inneren Wesen der Dinge sind sich oft selbst Fachleute auf dem Gebiet der Kunst nicht bewußt. Daher fällt es manchen Künstlern viel leichter, das Publikum zu täuschen und sich dadurch einen Namen zu schaffen, daß sie die Gegenstände ohne ihre unveränderliche Gestalt darstellen. Wenn man jedoch hinsichtlich der Gestalt einen Fehler macht, beschränkt sich dieser auf den einen besonderen Gegenstand; aber wenn das innere Wesen der Dinge falsch dargestellt wird, ist alles verdorben. Es gibt sehr viele Handwerker, die alle Einzelheiten der Gestalt nachzubilden imstande sind, doch das innere Wesen kann nur von Geistern höchsten Ranges verstanden werden. Auf Yukes (Wen Tongs) Gemälden von Bambus, Felsen und verdorrten Bäumen ist wirklich das innere Wesen erfaßt. Er begreift, wie diese Dinge leben und vergehen, wie sie sich krümmen und verflechten, eingeengt und behindert sind, und wie sie sich in Freiheit entfalten und gedeihen. Bei Wurzeln, Stielen, Knoten und Blättern gibt es unzählige Variationen, nichts ist gleich und doch immer angemessen; alles ist naturgetreu und überzeugt den menschlichen Geist. Es sind Zeugnisse von der Inspiration einer großen Seele.72
Wenn Su Shi schreibt, Berge, Felsen und Bambus etc. hätten keine unveränderliche Gestalt (im Gegensatz zu Menschen und Tieren), so soll das wohl heißen, daß sich ihr Aussehen je nach atmosphärischen Bedingungen und im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten verändert. Und Wen Tong war in der Lage, diese Verände71
72
Heute ist diese Formulierung eine sprichwörtliche Redensart (chengyu) geworden und wird auch in anderen Kontexten angewandt (z.B. hinsichtlich eines bestimmten Vorgehens bereits einen vollständigen Handlungsplan im Kopf entworfen zu haben). YAN: Su Shi lun wenyi, S. 198f, Übers. LIN: Chinesische Malerei, S. 103f; vgl, BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 42.
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Exkurs 2: »Der vollständige Bambus im Herzen«
rungen in seinen Bildern zu erfassen. Darüber hinaus besagt die Stelle, daß die Dinge in der Natur eine geistige Dimension besitzen, die bei gleichzeitiger Naturtreue einzufangen ist. Man ist hier an das bereits zitierte Wort von Gu Kaizhi erinnert, dessen Anliegen lautete: »Beschreibung des Geistigen durch die Form« (yi xing xie shen). Insofern scheint hier der Gegensatz zwischen Naturtreue und Ausdruck einer geistigen Dimension aufgehoben zu sein – man könnte in diesem Zusammenhang sogar von einem »spirituellen Realismus« sprechen. In einem oft zitierten Gedicht hat Su Shi seine ästhetischen Präferenzen in der Dichtung und Malerei auf den Punkt gebracht. Es beschwört die natürliche Kreativität als Quelle aller Kunst und spricht sich ebenso eindeutig gegen Regelkonformität aus: Wer ein Bild nach seiner Naturtreue beurteilt, Hat das geistige Niveau eines Kindes. Wer ein Gedicht nach Regeln (fa) verfaßt, Versteht nichts von Dichtung. Dichtung und Malerei beruhen auf dem gleichen Prinzip: Wie das Werk der Natur – klar und frisch.73
Wie allerdings aus den zuvor zitierten Passagen deutlich wurde, ist Su Shis Äußerung zur Naturtreue cum grano salis zu sehen. So sollte man aus der ersten Zeile keine direkte Ablehnung herauslesen, vielmehr kritisiert er (wie Jing Hao zuvor in seiner »Aufzeichnung über die Regeln des Pinselgebrauchs«, Bifaji) eine gänzlich an Naturtreue orientierte Sicht der Malerei, der eben ein Sinn für die geistige Dimension fehlt. Allerdings wußte auch Su Shi, daß sich aus reiner Vergeistigung und bloßem Vertrauen auf das Dao – als Prinzip und Ursprung aller natürlichen Kreativität – keine Kunst erzeugen läßt. Wie der Koch Ding bei Zhuangzi, der sein Messer jahrzehntelang schwingen mußte, bevor er dabei in einen spirituellen Bereich eintreten konnte, kommt es immer auch auf eine technische Beherrschung des Mediums an. Und eine intuitiv perfekte technische Beherrschung der Kunst läßt sich nur durch langes Üben und nach gewissen Regeln lernen, die dann erst der wahre Meister – im Erreichen eines »Kungfu« – hinter sich lassen bzw. überschreiten kann. So sagt Su Shi: Es gibt das Dao, und es gibt die Technik (yi). Hat man nur das Dao und keine Technik, dann mögen sich die Dinge zwar im Herzen formen, sie werden aber nicht durch die Hand Gestalt annehmen.74
73
74
YAN: Su Shi lun wenyi, S. 234; vgl LIN: Chinesische Malerei, S. 101, BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 26. YAN: Su Shi lun wenyi, S. 183; BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 37.
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Bekannt und einflußreich geworden sind schließlich auch ein paar Bemerkungen von Su Shi zur Gleichwertigkeit von Dichtung und Malerei. So sagt er über Wang Wei, den berühmten Dichter und Maler der Tang-Zeit, den Meister des unpersönlichen und von buddhistischen Gedanken erfüllten Landschaftsgedichts und gleichzeitig Ahnherr der Gelehrtenmalerei: Genießt man Mojies (Wang Weis) Gedichte, so sind darin Gemälde; Betrachtet man Mojies Gemälde, so sind darin Gedichte.75
In ähnlicher Weise heißt es in bezug auf Du Fus Gediche und Gemälde von Han Gan (ein tangzeitlicher Maler, der vor allem für seine lebendigen Pferdedarstellungen bekannt wurde): Du Fus Schriften sind Gemälde ohne Form; Han Gans Gemälde sind wortlose Gedichte.76
Dichtung und Malerei bedienen sich zwar unterschiedlicher Mittel, doch in ihren künstlerischen Zielen sowie in ihrer inspirierenden Wirkung sind sie sich gleich – beide verlangen vom Rezipienten ein »intuitives Erfassen« (shenhui). Mit Su Shi setzt eine Entwicklung ein, die drei Künste des Gelehrten, Dichtung Malerei und Schriftkunst, nicht nur als gleichwertig zu sehen, sondern sie in einem Werk – gleichsam zu einem Gesamtkunstwerk – zu integrieren. In den überlieferten Bildern sieht man diese Integration allerdings erst in der späteren Zeit deutlich manifest werden (ab der Yuan- und vor allem in der Qing-Malerei). Doch ist bereits aus der Tang-Periode eine Geschichte bekannt, welche der erfolgreichen Zusammenführung der drei Künste aus einer Hand und in einem Werk eine Bezeichnung verliehen hat. Der tangzeitliche Dichter, Maler und Kalligraph Zheng Qian soll einmal Dichtung, Schriftkunst und Malerei so geschickt in einem Bild vereinigt haben, daß der Kaiser Xuanzong sie bewundernd als die »drei Vollkommenheiten« (san jue) des Zheng Qian bezeichnete. Seither ist diese Formulierung zu einem geflügelten Wort für eine herausragende Verbindung dieser drei mit dem Pinsel auszuführenden Künste in einem Werk geworden.77 Wenn wir aus Su Shis Hand auch kein Werk »dreifacher Vollkommenheit« besitzen, so doch einige, nämlich Gedichte in eigener Handschrift, die zumindest als »zweifach vollkommen« gelten dürfen. Etliche der von Su Shi behandelten Punkte – z.B. Einheit von Regelbeachtung und Regellosigkeit sowie intuitive Beherrschung der Kunst (in Dichtung und Malerei) – bilden die zentralen ästhetischen Themen der nachfolgenden Epoche. 75 76 77
BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 25 (mit chinesischem Original). Ebd. MICHAEL SULLIVAN: The Three Perfections, London: Thames and Hudson 1974, S. 7.
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(Sie sind Gegenstand der nächsten Abschnitte sowie eines dritten Exkurses in die Ästhetik der Malerei der Qing-Zeit.) Su Shi hat in allen künstlerischen Bereichen – Dichtung, Kalligraphie, Malerei – derart prägend gewirkt, daß es – in Anlehnung an die sprichwörtliche Wirkung von Platon auf die europäische Philosophiegeschichte (nach Alfred North Whitehead) – nicht übertrieben wäre, die chinesische Ästhetikgeschichte der letzten neun Jahrhunderte als »Fußnoten« zu Su Shi zu betrachten.
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4. Erziehung und Tugend – Songzeitlicher Neokonfuzianismus und Literatur Eins der Hauptanliegen in der Praxis des Neokonfuzianismus war, den Gefühlen des Menschen nicht zu viel Bedeutung zuzumessen, um nicht zu sagen, sie zu unterdrücken. So wurde – nach den Vorgaben der klassischen Schrift »Maß und Mitte« (Zhongyong) – bei den »sieben Gefühlen« (Vergnügen, Ärger, Trauer, Freude, Liebe, Haß, Begehren) unterschieden, ob sie angebracht sind, harmonisch zum Ausdruck kommen und zu innerer Harmonie beitragen, oder ob sie überzogen wirken und deshalb nicht zu einem ausgeglichenen Gemütszustand führen; letzteres war auf jeden Fall zu vermeiden.78 Mit einem solchen Programm der Kultivierung bzw. Eindämmung der menschlichen Gefühlswelt läßt sich leicht vorstellen, daß neokonfuzianische Denker von allen vorangegangenen »Dichtungstheorien« am ehesten an den konfuzianischen Interpretationen des klassischen Buch der Lieder, nämlich dem »Großen Vorwort«, Gefallen finden mochten. Im »Großen Vorwort« wird nämlich ein Zusammenhang hergestellt zwischen einem »geordneten« Staatswesen einerseits und »korrekten« (zheng) Liedern andrerseits, wobei in diesen schickliche Gefühle bzw. eine politisch-moralische Gesinnung (zhi) zum Ausdruck kommen sollen. An diese Gedanken knüpften vor allem die Gebrüder Cheng und Zhu Xi an, von welchen letzterer eine ausführliche Einleitung zu den Liedern des Shijing verfaßt hat (s. dazu weiter unten). In diesem Abschnitt wird auf Beiträge wichtiger neokonfuzianischer Denker (Zhou Dunyi, Cheng Hao, Cheng Yi und Zhu Xi) eingegangen, wobei sowohl Aussagen zur Prosa als auch zur Dichtung angeführt werden. (Da das chinesische Schriftzeichen wen zwar meist im engeren Sinne Prosa bedeutet, aber auch für gestaltete Sprache im allgemeinen – und somit für Literatur im weiteren Sinne – steht, ist es im folgenden durchgängig als Literatur wiedergegeben.)
Zhou Dunyi Unter den Neokonfuzianern dominierten pragmatisch-moralisierende Ansichten zur Literatur, wozu Zhou Dunyi mit einer berühmt gewordenen Formulierung den Grundstein legte. Bevor wir seine der Literatur geltenden Worte aus seinem Tongshu (einem »durchdringenden« Kommentar zum Buch der Wandlungen) besprechen, lohnt es sich jedoch, zunächst die in der gleichen Schrift enthaltenen Abschnitte über Musik zu betrachten, da wir hier die neokonfuzianische Ästhetik in einer konzentrierten Fassung vorgeführt bekommen: 78
Zhongyong, Kap. 1. Ab der Han-Zeit wurden bereits die ideelle Natur des Menschen (xing) dem Yang und die Gefühle (qing) dem Yin zugeordnet. CHAN: A Source Book in Chinese Philosophy, S. 275–76.
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Erziehung und Tugend Im Altertum richteten die weisen Könige Zeremonien ein und kultivierten die moralische Erziehung. [...] Danach schufen sie Musik, um der Kraft des »Windes« (den Empfindungen des Volkes) aus allen acht Richtungen Ausdruck zu verleihen und um die Gefühle des Volkes zu besänftigen. Aus diesem Grund ist der Klang der Musik ruhig und nicht verletzend, harmonisch und nicht ungezügelt. [...] Aufgrund der Ruhe werden die Wünsche besänftigt, und wegen der Harmonie wird Ungestüm verschwinden. Friedfertigkeit und Mäßigung, diese bilden den Gipfel der Tugend. So wie die Welt verwandelt wird, erreicht die Ordnung Vollkommenheit. Dies ist es, was mit dem »Weg«, der Himmel und Erde entspricht und den höchsten Maßstab der Alten darstellt, gemeint ist. […] Die alte Musik besänftigte das Herz, doch die jetzige Musik verstärkt die Wünsche. Die alte Musik hatte einen zivilisatorischen Einfluß, doch die jetzige Musik verbreitet Unzufriedenheit.79 Musik hat ihren Ursprung in der Regierung. Ist die Regierung gut und ist das Volk glücklich, so werden alle Herzen unter dem Himmel in Harmonie sein.80 So wie der Klang der Musik ruhig ist, so wird das Herz des Zuhörers friedvoll, und so wie die Worte der Musik gut sind, so werden sie von denjenigen, die sie singen, geachtet. Das Ergebnis wird sein, daß Gebräuche verändert und Sitten [positiv] transformiert werden. Der Einfluß von verführerischen Klängen und leidenschaftlichen Worten ist ebenso groß.81
Eine Berufung auf die älteste Vergangenheit wie am Anfang dieser Passage war für einen Konfuzianer eine Selbstverständlichkeit, denn Alter bedeutete Autorität; davon abgesehen fällt an diesem Textbeispiel am meisten der Gedanke auf, daß Musik – und insofern alle Kunst – nicht ein primär ästhetisches Interesse verdient, sondern daß sie in den Dienst moralischer Kultivierung und politischer Nützlichkeitserwägung gestellt wird. Musik, und zwar nur diejenige, die sich durch Ruhe und Harmonie auszeichnet, übt eine entsprechende besänftigende und mäßigende Wirkung auf den Gefühlshaushalt, insbesondere auf die Wünsche des Menschen aus. Über diese Wirkung wird auch ein politischer Effekt erzielt: Eine harmonische Musik hat einen zivilisatorischen, die Sitten und Gebräuche positiv verändernden Einfluß. Zhou Dunyis bekannter gewordene Passage zur Literatur (wen) zielt in die gleiche Richtung: Literatur ist das [Fahrzeug], das den »Weg« trägt (wen yi zai dao). Wenn Räder und Deichsel [eines Wagens] geschmückt sind, ihn jedoch keiner nutzt, so ist der Schmuck umsonst. Umso nutzloser ist ein leerer Wagen. Literatur und Rhetorik sind Kunstfertigkeiten (yi), doch der »Weg« und die Tugend bilden die 79
80 81
ZHOU DUNYI: Zhouzi tongshu (SBBY Ausg.), 17, S. 4a; CHAN: A Source Book in Chinese Philosophy, S. 472–73 (für diesen und die beiden folgenden Abschnitte). Ebd., 18, 4b. Ebd., 19, 4b.
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DIE SONG-ZEIT Substanz. Wenn sich jemand ernsthaft um diese Substanz bemüht und kunstfertig darüber schreibt, dann wird das Ergebnis schön sein und deshalb auch geliebt werden; und wenn es geliebt wird, so wird es auch weitervermittelt. Die Würdigen können dann [diese Ziele, d.h. den »Weg« und die Tugend] lernen und erreichen; das ist Erziehung. Deshalb heißt es: »Wenn die Worte keine Form besitzen (wu wen), so werden sie nicht weit reichen.«82 Die Unwürdigen hingegen [...] wissen nicht, wie man sich um »Weg« und Tugend bemüht, und setzen, was ihre Fähigkeiten betrifft, Literatur und Rhetorik an erste Stelle. Doch das sind lediglich Kunstfertigkeiten und nichts weiter. Leider gibt es dieses Übel schon seit langem.83
Hier wird zwischen Äußerlichkeiten bzw. bloßen Kunstfertigkeiten, nämlich literarischen und rhetorischen, und dem Substantiellen, also dem »Weg« und dessen moralischer Wirkkraft (de – Tugend), unterschieden. Die These ist, daß ein Bemühen um ersteres für sich alleine ungenügend ist; Kunstfertigkeit hat nur ihren Sinn und Zweck, wenn sie der Substanz, dem »Weg«, dient. Zu beachten – wegen der Seltenheit – ist der Bezug auf das Schöne, welches allerdings getreu der konfuzianischen Tradition als Erscheinung des moralisch Guten vorgestellt wird. Die Ansicht bzw. Zhous Diktum, daß Literatur »Träger des Dao« sein soll, wurde zur maßgeblichen neokonfuzianischen Einstellung Literatur und Kunst gegenüber bis in das 20. Jahrhundert hinein, so daß der moderne Autor Zhou Zuoren, der Bruder des bekannteren Lu Xun, die Literatur in zwei große Richtungen einteilte: eine »expressive« (yanzhi), wobei das Charakteristikum yanzhi auf die Kernaussage des »Großen Vorworts« zurückgeht, nämlich »die Gesinnung auszudrücken«, und eine »moralisch-didaktische« (zaidao), die sich aus Zhou Dunyis Diktum ableitet, nämlich »den ›Weg‹ zu tragen«.84
Cheng Hao Im Gegensatz zu seinem um ein Jahr jüngeren Bruder Cheng Yi, der als ernster und unbeugsamer Moralist gilt, werden dem älteren Cheng Hao menschlich wärmere Züge nachgesagt. Im folgenden Textauszug, der in Zhu Xis neokonfuzianische Anthologie Jinsilu (Aufzeichnung über die naheliegenden Dinge) Aufnahme fand, entwickelt Cheng Hao den Gedanken, daß man sich nicht zu sehr der Literatur und Kunst (hier der Schriftkunst) hingeben soll, da dies der moralischen Gesinnung schade: 82 83
84
Zuozhuan, Xiang 25; LEGGE: The Ch'un Ts'ew, S. 517. S. Kap. I.2. ZHOU: Zhouzi tongshu, 28, S. 6a; GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 283; CHAN: A Source Book in Chinese Philosophy, S. 476. ZHOU ZUOREN: Zhongguo xin wenxue de yuanliu, Peking 1934, nach: DAVID E. POLLARD: A Chinese Look at Literature. The Literary Values of Chou Tso-jen in Relation to the Tradition, Berkeley: University of California Press 1973, S. 1–28.
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Erziehung und Tugend Diejenigen, die sich um die talentierte, doch oberflächliche Jugend sorgen, sollten diese nur dazu anhalten, die Klassiker zu lernen und Bücher zu rezitieren, und nicht Literatur zu verfassen. Die meisten Dinge, mit denen sich junge Leute vergnügen, zerstören nämlich ihren [moralischen] Willen (zhi). Zum Beispiel sind Schriftkunst und literarische Kompositionen die normalsten Dinge für einen Gelehrten. Doch wenn man sich ganz diesem Vergnügen hingibt, wird man seinen Willen verlieren. Leute wie Wang Xizhi, Yu Shinan, Yan Zhenqing and Liu Gongquan (bedeutende Kalligraphen) waren wirklich gute Männer, das ist wahr. Doch wer hat je einen guten Kalligraphen gesehen, der den »Weg« verstand? Wenn man sein ganzes Leben lang seine Energie nur diesem einen widmet, wird man nicht nur seine Zeit vergeuden, sondern wird auch am Verständnis des »Wegs« scheitern.85
Sein erzieherisches und moralisches Anliegen, das hier stark zutage tritt, hielt Cheng Hao jedoch nicht von dem Vergnügen ab, sich selbst bisweilen der Dichtung hinzugeben – wovor er gerade gewarnt hatte. Seine überlieferten Gedichte haben allerdings meist einen stark philosophisch belehrenden Charakter, wie auch das folgende Beispiel: »Bei Gelegenheit an einem Herbsttag geschrieben«86 In Muße lebend gibt es nichts, was sich nicht gelassen nehmen läßt, Beim Erwachen steht bereits die rote Sonne am östlichen Fenster. Alle Kreatur, wenn in Ruhe betrachtet, ist sich selbst genug; Die wunderbare Stimmung der vier Jahreszeiten teile ich mit allen. Der »Weg« durchwirkt alle Formen zwischen Himmel und Erde; Meine Gedanken dringen in die sich wandelnden Gestalten von Wind und Wolken. Nicht korrumpiert von Reichtum und Ehre, glücklich in Armut und niederer Stellung – Wer diese Haltung erreicht, ist ein Held.
Trotz des moralisierenden Pathos der letzten Zeilen scheint in diesem Gedicht eine bemerkenswerte Gelassenheit durch sowie eine Einstellung, die den Menschen in einer Einheit mit seinen Mitmenschen und sogar dem ganzen Universum sieht.
Cheng Yi Cheng Yi gilt als der strengste Neokonfuzianer. Ihm war jegliches – auch ästhetisches – Vergnügen moralisch anrüchig. Selbst das in der Song-Periode populäre 85
86
Jinsilu (SBBY Ausg.), 11.1b; Übers.: WING-TSIT CHAN: Reflections on Things at Hand. The Neo-Confucian Anthology Compiled by Chu His and Lü Tsu-ch'ien, New York: Columbia UP 1967, S. 262. WING-TSIT CHAN: »Neo-Confucian Philosophical Poems«, in: Renditions, Spring 1975, S. 11 (chin. Original und engl. Übersetzung).
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DIE SONG-ZEIT
Teetrinken soll er abgelehnt haben, und an der Malerei, die ebenfalls zu seiner Zeit eine Blüte erreichte, wollte er überhaupt kein Interesse finden.87 So hatte er auch für Leute, die sich mit Literatur beschäftigten, nicht viel übrig und meinte einmal lapidar: »Diejenigen, die sich nur mit literarischem Ausdruck beschäftigen, sind oberflächliche (lou) Leute.88« Ihm ging es um innere Qualitäten, demgegenüber Literatur und Kunst nur Äußerlichkeiten darstellten: Die Leute suchen nicht in ihrem Inneren, sondern im Äußeren; sie beschäftigen sich mit ausgedehnten Studien, mühsamem Auswendiglernen, kunstvollem Stil und eleganter Diktion, so daß ihre Worte gut gestaltet und schön werden. Deshalb haben nur wenige den »Weg« erreicht.89
Folgendes Gespräch zwischen ihm und einem Schüler läßt seine Strenge und sein Desinteresse an Literatur und Kunst noch deutlicher werden: Frage: »Schädigt das Verfassen von Literatur [der Kultivierung] des Dao?« Antwort: »Ja. Denn alles Verfassen von Literatur verlangt von einem, daß er seine Gedanken sammelt, sonst wird er keine Könnerschaft erreichen. Konzentriert man jedoch seine Gedanken [auf die Literatur], dann sind sie dadurch eingeschränkt. Wie könnten sie sich dann auf die großen Dinge wie Himmel und Erde ausweiten? Im Buch der Urkunden (Shujing) steht geschrieben: ›Sich mit Dingen zu vergnügen (wan wu), läßt einen sein Ziel vergessen.‹90 Sich mit literarischen Kompositionen zu beschäftigen, heißt, sich mit Dingen zu vergnügen. [...] Wenn die Alten sich dem Lernen widmeten, dann galt dies ganz dem Nähren ihrer Natur und ihren Gefühlen, sonst nichts. Doch wer sich heute mit literarischen Kompositionen beschäftigt, der kümmert sich einzig und allein um Wörter und Diktion, und zwar um den Ohren und Augen der Menschen zu gefallen. Da sie sich damit abgeben, Menschen gefallen zu wollen, was wären sie da sonst als Bühnenunterhalter?91« Frage: »Lernten die Alten das Verfassen von Literatur?« Antwort: »Wenn die Menschen die Sechs Klassiker sehen, so heißt es sofort, daß der Weise (Konfuzius) sich ja auch mit literarischen Kompositionen beschäftigte. Sie merken jedoch nicht, daß der Weise das, was in seinem Geiste vorhanden war, entfaltete und zum Ausdruck brachte, und daß es auf diese Art ganz natürlich zu Literatur wurde. Es ist so, wie es geschrieben steht: ›Derjenige, der Tugend besitzt, hat immer etwas zu sagen.‹92« 87 88 89 90 91
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LI CHI: »Chu Hsi the Poet«, T'oung Pao, 58 (1972), S. 57. Jinsilu, 2.1a; CHAN: Reflections on Things at Hand, S. 35. Jinsilu, 2.2a; CHAN: Reflections on Things at Hand, S. 38–39. LEGGE: The Shoo King, S. 348. Aus dem Kontext geht hervor, daß er den hanzeitlichen Rhapsodien-Dichter Sima Xiangru als Bühnenunterhalter bezeichnet. Lunyu, 14.5.
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Erziehung und Tugend Frage: »Warum wurden Ziyou und Zixia (Schüler des Konfuzius) für ihre literarischen Leistungen gelobt?«93 Antwort: »Wann haben Ziyou und Zixia je ihre Pinsel in die Hand genommen, um das Verfassen von Literatur zu lernen? Angenommen: ›Man betrachtet die Form des Himmels, so kann man daraus die Veränderung der Zeiten erforschen; man betrachtet die Formen der Menschen, so kann man die Welt gestalten.‹94 Sind dies etwa Formen literarischer Kompositionen?«95
Das Schreiben von Literatur war für Cheng Yi folglich eine Spielerei; sich derart »mit den Dingen zu vergnügen« konnte einen nur von den eigentlichen und wichtigeren moralischen Zielen im Leben abhalten. Dies ist der Cantus firmus, der allen Äußerungen der neokonfuzianischen Denker zum Verfassen von sowohl Prosa als auch Dichtung unterliegt. Von Cheng Yi sind demgemäß auch kaum Gedichte überliefert96. Dichtung stellt ihm zufolge nichts anderes dar als »müßige Worte« (xian yanyu), wobei er sogar Du Fu unter diejenigen einreiht, die »müßige Worte« machten. Er selbst bekennt sich ausdrücklich zum Nicht-Dichten: Ich schreibe keine Gedichte, und zwar nicht, weil ich es als verboten betrachte, sondern weil ich nicht um dieser Dinge willen müßige Worte machen möchte. So sagt man heute, daß es keinen gäbe, der wie Du Fu dichten könne. Doch was ist mit seinen müßigen Worten wie »Inmitten der Blumen – Schmetterlinge, tief zu sehen, / Die Wasserfläche berührend – Libellen, gemächlich schwirrend.«97 Was wollen diese Worte besagen?98
Zhu Xi Aufgrund von Zhu Xis Stellung in der damaligen Zeit, ganz zu schweigen von seiner enormen Wirkung auf die folgenden Epochen, kommt seinen Äußerungen zur Literatur naturgemäß ein besonderes Gewicht zu. In seinen umfangreichen klassifizierten Gesprächsaufzeichnungen gibt es zwei Kapitel, die sich ausschließlich und in der Art der »Gespräche über Dichtung« (shihua) mit literarischen Fragen beschäftigen.99 Wie es sich für einen Konfuzianer gehört, spielten dabei, was die 93 94 95 96
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Lunyu, 11.2. Yijing, Kommentar zu Hexagramm 22; s. WILHELM: I Ging, S. 447. Jinsilu, 2.14a; CHAN: Reflections on Things at Hand, S. 64–65. Laut W.T. Chan gibt es lediglich drei Gedichte in Cheng Yis gesammelten Werken, von denen er eins übersetzt in: CHAN: »Neo-Confucian Philosophical Poems«, S. 12. Die Zeile stammt aus dem Gedicht »Qujiang« (2); HYSIS, A Concordance to the Poems of Tu Fu, S. 308; vgl. V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, I, S. 130. Er Cheng yishu, Kap. 18; zitiert nach CHEN LIANGYUN: Zhongguo shixue piping shi, Nanchang: Jiangxi renmin 1995, S. 334. Kapitel 139 der Zhuzi yulei ist der Prosa und Kapitel 140 der Dichtung gewidmet.
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praktischen Aspekte seiner Äußerungen angeht, Lernen und das Nachahmen von Vorbildern die wichtigste Rolle. Ausführlich setzt sich Zhu Xi mit Thesen von Su Shi hinsichtlich des Verhältnisses von Literatur und dem »Weg« (dao) auseinander. Allerdings ist zunächst festzuhalten, daß die Neokonfuzianer, deren Schule auf Chinesisch als »Lehre des Dao« (daoxue) bezeichnet wird, von einem anderen Dao sprechen als Su Shi, welcher eher von einem daoistisch angereicherten Dao ausgeht.100 Während für Su Shi der Literatur eine wichtige Rolle zukommt, um gewisse Aspekte »seines« Dao zu verdeutlichen, läßt sich für Zhu Xi Literatur nicht vom (konfuzianischen) Dao trennen, da letzteres für ihn alles umfaßt. Insofern ist Literatur nur wie etwas, »das einem beim Essen hilft, den Reis zu schlucken«,101 das soll heißen: angenehmes Beiwerk, das aber nicht die nährende Substanz – den Reis, also das Dao – ersetzen kann. Für Zhu Xi kommt es demnach darauf an, die Prioritäten richtig zu setzen: Zuerst kommt die Moral – das Dao –, und daraus entwickelt sich alles andere. Demgegenüber möchte Su Shi der Literatur durchaus einen eigenen Wert zugestehen. Zhu Xi läßt zwar immer wieder deutlich werden, daß er Su Shis literarische Leistung anerkennt, doch ideologisch erscheint er ihm nicht fest genug bzw. zu fragwürdig. Bei der Lektüre seiner zahlreichen Bemerkungen zu Prosa und Dichtung hat man sogar den Eindruck, daß Su Shi gleichsam sein Lieblingsgegner darstellt, dem gegenüber er auch in folgender Passage Einwände vorzubringen hat: Der »Weg« (dao) ist Wurzel und Stamm der Literatur; Literatur bildet die Zweige und Blätter des »Wegs«. Wenn sie nur ihre Wurzel und ihren Stamm im »Weg« besitzt, so wird alles was sich daraus als Literatur ergibt, der »Weg« sein. Die literarischen Kompositionen der Weisen des Altertums wurden alle aus diesem Geist heraus geschrieben; ihre Literatur war deshalb der »Weg«. In unserer Zeit hat Dongpo (Su Shi) gesagt: »Was ich Literatur nenne, das muß Gemeinsamkeit mit dem ›Weg‹ besitzen (bi yu dao ju).« Das bedeutet aber, daß Literatur für sich selbst Literatur und der »Weg« für sich selbst der »Weg« ist, und daß, wenn es ans Schreiben geht, man einen »Weg« hernimmt und ihn da [in das Werk] hinein steckt. Darin liegt Su Shis großer Fehler. Nur ist seine literarische Sprache so wunderbar schön, daß dadurch dieser Hintergrund verborgen bleibt und man diesen Mangel nicht bemerkt. Der Grund für seinen Fehler liegt eben darin, daß er vom Verfassen von Literatur ausgeht und dann erst allmählich zu Prinzipien des »Wegs« gelangt, und nicht, daß er zunächst die Prinzipien des »Wegs« versteht und dann mit dem Schreiben beginnt. Auf diese Weise ist alles, was er schreibt, mangelhaft.102 100 101
102
GUO: Zhongguo wenxue piping shi, S. 190f. ZHU XI: Zhuzi yulei, Peking: Zhonghua shuju 1986, Bd. 8, 139, S. 3305; vgl. RICHARD JOHN LYNN: »Chu Hsi as a Literary Theorist and Critic«, in: WING-TSIT CHAN (Hg.): Chu Hsi and Neo-Confucianism, Honolulu: University of Hawai'i Press 1986, S. 338. ZHU: Zhuzi yulei, Bd. 8, j. 139, S. 3319; LYNN: »Chu Hsi«, S. 338.
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Wenn er auch Su Shi nicht schätzte, so hatte Zhu Xi doch eine hohe Meinung von dessen Lehrer Ouyang Xiu, wie aus folgender Passage, die auch zum Verhältnis von Form (bzw. Ausschmückung) und Substanz in einem Text Stellung nimmt, deutlich wird: Wenn man etwas verfassen will, muß man sich auf Substantielles stützen; das, was man sagt, muß eine klare Struktur haben, dann ist es gut. Es darf nicht auf Sand gebaut oder zierlich sein. Im Allgemeinen sollte ein Stück sieben Teile Substanz und drei Teile Form besitzen, so wie die guten Werke von Ouyang Xiu. Sie stützen sich eben auf Substanz und haben eine klare Struktur.103
Seine Äußerungen zur Dichtung bleiben weitgehend im Rahmen streng konfuzianischer Exegese; auch beschäftigt er sich viel mit der Überlieferung der Gedichte des klassischen Buchs der Lieder. In seinem Vorwort dazu heißt es: Jemand fragte mich einmal: »Warum wurden die Lieder geschrieben?« Ich antwortete: »›Wenn der Mensch geboren wird, ist er in einem [innerlich] ruhigen Zustand. Das ist seine Natur (xing), die ihm vom Himmel verliehen ist. Wenn er auf die Dinge reagiert und bewegt wird, so führt das zu Wünschen in seiner Natur.‹104 Hat man Wünsche, so geht dies nicht ohne Gedanken; hat man Gedanken, so geht dies nicht, ohne sie in Worte zu fassen; hat man Worte und ist nicht in der Lage, alles dadurch auszudrücken, so hilft man sich durch Seufzen und Ausrufe, und dabei entstehen ganz natürliche Resonanzen und Rhythmen, die man unwillkürlich schafft. Deshalb wurden die Lieder geschrieben.« Darauf fragte er weiter: »Wenn dem so ist, wodurch vermitteln die Lieder ihre Lehren?« Ich antwortete: »Dichtung entsteht dadurch, daß das Herz des Menschen von den Dingen bewegt wird und [die Empfindungen] in überfließenden Worten Form annehmen. Da das Herz sowohl zu Bosheit und Korrektheit bewegt werden kann, kann die Art, wie die Worte Form annehmen, richtig oder falsch sein. Nur der Weise, der eine obere Stellung innehat, wird in einer Art auf die Dinge reagieren, die immer korrekt ist, und so werden seine Worte immer etwas lehren können. [...] Konfuzius […] hatte selbst keine führende Stellung inne, so hatte er auch keine Möglichkeit, wie ein Kaiser oder König durch Mahnen und Warnen, Fördern und Absetzen zu regieren. Er nahm die Texte [der Lieder] her und, nachdem er sie kritisch bedacht, Verdoppelungen aufgehoben und diejenigen, die in Unordnung waren, geordnet hatte, beseitigte er diejenigen, die nicht genügten, um als Modell für das Gute, sowie diejenigen, die nicht ausreichten, als Warnung vor Schlechtigkeit zu dienen. Die Lieder folgten auch den Maßgaben der Einfachheit und Bündigkeit, so daß sie lange und weit den Weg weisen konnten. Was die Lernenden betrifft, so vermochten sie mit dieser Hilfe die gelungenen von den weniger gelungenen [Beispielen] zu unterscheiden; die Guten vermoch103 104
ZHU: Zhuzi yulei, Bd. 8, j. 139, S. 3320; vgl. LYNN: »Chu Hsi«, S. 347. Aus dem Musikkapitel (19) des Liji (Buch der Riten), Shisanjing zhushu, S. 1529.
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DIE SONG-ZEIT ten so diesem Modell zu folgen und die Schlechten konnten sich dadurch verbessern. Zwar war Konfuzius zu seiner Zeit kein Erfolg beschieden, seine Vorstellungen von einer guten Regierung verwirklicht zu sehen, doch wurden seine Lehren in alle Zeitalter verbreitet. Dies ist die Art und Weise, wodurch die Lieder ihre Lehren vermitteln.« 105
Trotz dieser Fixierung auf die moralisch beispielhafte Funktion der Gedichte des Buchs der Lieder sieht Zhu Xi auch die Bedeutung von Qu Yuan und den Verdienst der »Lieder von Chu«, wobei er implizit und ähnlich wie Liu Xie sieben Jahrhunderte zuvor die »Veränderung«, die Qu Yuan gebracht hat, als Leistung anerkennt: Was Qu Yuan angeht, so mag er wohl mit seinen Intentionen und seinem Verhalten die Grenzen von »Maß und Mitte« überschritten haben und wäre deshalb von seinem Charakter her kein Vorbild für andere. Doch alles, was er tat, geschah aus Loyalität zu seinem Fürsten, aus Liebe zu seinem Land und mit einem aufrichtigen Herzen. Was seine Schriften angeht, so mögen seine Worte und ihr Sinn wohl ungezügelt, dämonisch und von Klage und Unmut geprägt sein, so daß sie nicht zur Unterweisung taugen, doch sind sie alle aus einem ehrlichen Gefühl und tiefer Sorge heraus entstanden – Gedanken, die er nicht umhin konnte zu empfinden. Da er nicht wußte, daß er im Norden des Landes hätte lernen können, um den »Weg« des Herzogs von Zhou und des Konfuzius zu suchen, beschäftigte er sich mit den Ausläufern der veränderten (bian) Volkslieder und Hoflieder. Deshalb mögen rechtschaffene Konfuzianer und ernsthafte Gelehrte sich schämen, ihn zu loben. Doch wenn seine Schriften den verbannten Beamten, das verlassene Kind, die trauernde oder verlassene Ehefrau – nachdem die Tränen getrocknet sind – dazu bringen können, aus ihrer niederen Stellung heraus ihre Klagen anzustimmen, so daß ihr Himmel ihnen wohlwollend zuhört [...], wie könnten dann seine Schriften nicht genügen, die zwischenmenschlichen Beziehungen zu stärken [...]. Deshalb finde ich immer wieder Geschmack an diesen Gesängen und wage sie nicht als Lieder eines Barden zu betrachten.106
Obwohl Qu Yuans »Lieder des Südens« nicht an die »korrekten« (zheng) Standards des Buchs der Lieder heranreichen können – was sie allein deshalb nicht können, weil die »veränderten« (bian) Zeiten dies nicht erlaubten –, weiß er durchaus die Bedeutung, die durch diese erste »Veränderung« in der chinesischen Dichtungstradition erfolgte, zu schätzen. Qu Yuan diente Generationen von Literaten als beispielhafte Figur, um die gängigen Konflikte, in die sie als loyale Beamte am Hof oder in der Verwaltung gerieten, in klagende Verse zu fassen. Insofern 105
106
TAO QIUYING (Hg.): Song, Jin, Yuan wenlun xuan, Peking: Renmin wenxue 1984, S. 304–05; LYNN: »Chu Hsi«, S. 344–45. Zu Zhu Xis Interpretation der »Lieder« s. auch VAN ZOEREN: Poetry and Personality, S. 218ff. Zhongguo meixue shi ziliao xuanbian, II, S. 65; LYNN: »Chu Hsi«, S. 346–347.
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bewundert Zhu Xi hier auch und gerade die Person; mit anderen Worten, er betrachtet Dichtung als Zeugnis eines großen Menschen, womit er ganz auf der Linie der traditionellen personenbezogenen Sicht der Literatur liegt. Auch ging es ihm primär um den Nutzen, den das Befolgen moralischer Prinzipien bringt, und nicht so sehr um nutzlose Ästhetik wie in der Dichtung. Wenn allerdings dieses nutzlose Geschäft des Dichtens nicht zu vermeiden war, so sollte es wenigstens mit dem nötigen Fleiß betrieben werden: Heutzutage diskutieren die Leute nicht mehr moralische Prinzipien (yili), sondern widmen sich dem Schreiben von Prosa oder Dichtung; so sind sie bereits in eine niedere Kategorie gesunken. Erschwerend kommt hinzu, daß sie sich nicht die guten Schreiber, sondern die schlechten zum Vorbild nehmen. Im Dichten lernen sie nicht nach den Vorbildern der Sechs Dynastien (222–589) oder nach Li Bai und Du Fu, sondern nur von den ungehobelten. Doch selbst wenn sie gut gelernt haben, was ist der Nutzen davon? Geschweige denn, wenn sie nicht gut gelernt haben?107
Angesichts dieser Einstellung ist es nicht verwunderlich, daß Zhu Xi hin und wieder versuchte, dem Dichten zu entsagen, wie es ihm sein Lehrmeister Cheng Yi vorgemacht hatte; doch sind von ihm ca. 1000 Gedichte in zehn juan überliefert.108 Dies zeigt, daß zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen moralischer Strenge und dem Vergnügen, sich in Versen auszudrücken, eine enorme Spannung bestand, die doch – zum Glück – immer wieder in letztere Richtung sich aufzulösen trachtete. Auch war er, wie Wing-tsit Chan gezeigt hatte, in seinem Naturell wohl ein warmherziger, den Wein und den Gesang liebender und insofern nicht untypischer Literat.109 So blieb er trotz aller moralischen Appelle im Zusammenhang der Literatur und trotz seiner Prioritäten, daß nämlich zuerst die Moral und dann erst das Verfassen von Literatur kommt, ganz in der Tradition chinesischer Literatenbeamten, für die ihre Dichtung die interessanteren Facetten ihrer Persönlichkeit offenbarte. Er bewunderte die großen Dichter der Vergangenheit, vor allem die aus dem Wenxuan überlieferten, aber auch Li Bai und Du Fu, und regte dazu an, sich diese als Vorbild zu nehmen. Auch ist bekannt, daß er gerne nach ein paar Gläsern Wein gesungen haben soll, und zwar bezeichnenderweise mit Vorliebe Qu Yuans große Klage Lisao (Begegnung mit dem Leid).110 Schließlich wissen wir auch, daß Zhu Xi in frühen Jahren sehr dem daoistischen Denken verpflichtet war, und dazu fand er immer wieder, gleichsam in einer Hinterecke seines Herzens, zurück. Bei Gelegenheit reflektierte er gerne über die 107 108 109
110
ZHU: Zhuzi yulei, Bd. 8, j. 139, S. 3334. CHAN: »Neo-Confucian Philosophical Poems«, S. 13; LI: »Chu Hsi the Poet«, S. 56. WING-TSIT CHAN: Chu Hsi – New Studies, Honolulu: University of Hawaii Press 1989, S. 90ff. CHAN: Chu Hsi – New Studies, S. 93.
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Möglichkeit, sich aus dem weltlichen Betrieb herauszulösen und ein Leben in Abgeschiedenheit zu führen. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant und bezeichnend, daß er mit Su Shi, den er ansonsten am heftigsten attackierte, die gleichen dichterischen Vorlieben teilte: Von allen Dichtern der Sechs Dynastien ist ihm nämlich Tao Yuanming nicht nur mit seiner unverschnörkelten Natürlichkeit und Einfachheit, sondern wohl auch mit seiner Lebenseinstellung der liebste gewesen. Ein Antwortgedicht (d.h. ein Gedicht mit gleichen Reimen) auf ein Gedicht eines Freundes, das beim Besteigen des Südlichen Heiligen Berges (Hengshan in der Provinz Hunan) im Jahre 1167 entstanden ist, zeigt jedenfalls, daß er auch geistig nicht allzu weit von Tao Yuanming entfernt war: Was ist dieses Jahr geschehen, Daß ich umherziehe ohne jeglichen Grund? Es liegt daran, daß mein Herz die Weite sucht, Nicht daß meine Augen mehr von der Welt sehen wollen. Die wolkigen Gipfel enden hier, Ärmel flattern im Wind – unerträglich die Kälte. Jener einsame Vogel kennt meine Gedanken: Weit ist er gezogen und verschwindet nun – ohne Wiederkehr.111
111
Zitiert nach LI: »Chu Hsi the Poet«, S. 113–114 (Original und engl. Übersetzung).
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Wie bereits in den letzten Abschnitten dargelegt, besitzt die Lyrik der Song deutlich andere Züge als die der Tang-Zeit, vor allem die der Tang-Blüte. Wenn auch die prosodischen Regeln der Gedichte im neuen und alten Stil gleich blieben und eigentlich nie zur Debatte standen, sogar weitere und prosodisch nicht minder schwierige Formen (wie im ci-Lied) mit vergleichbaren Regeln entstanden, so änderten sich jedoch Stil, Diktion und Thematik erheblich. Von den Literaten der Song-Zeit wurde die Entwicklung dahingehend interpretiert, daß nach dem Gesetz der Wandlung auf eine »korrekte/orthodoxe« (zheng) Phase, nämlich die TangDichtung, eine »Veränderung« (bian) folgen mußte – ein Zusammenhang, der in der Han-Zeit schon für die Gedichte des Buches der Lieder aufgestellt wurde. Allerdings erkannten die sensiblen Song-Dichter auch, daß selbst Du Fu, obwohl er selbst kein Neuerer im eigentlichen Sinne war, diesem Muster entsprechend im Grunde eine immense »Veränderung« zur vorherigen Lyrik darstellte, daß er gerade durch seinen »veränderten« Stil zum großen Meister und ab der Song-Zeit für die Mehrzahl der Literaten zum »orthodoxen« Modell geworden war. Die Beziehung zwischen »Veränderung« und »Orthodoxie« erwies sich somit nicht als eine feste, sondern als eine relativ zu den Epochen einzuschätzende dynamische Größe, wobei das Verhältnis zwischen Orthodoxie und Veränderung sogar dazu neigte, sich immer wieder dialektisch ins Gegenteil zu verkehren. Die Dichter der Tang-Zeit hatten selbst kaum nach Regeln (fa) der Dichtung gefragt. Ansätze zu ihrer Erörterung liegen zwar in den Werken von Wang Changling und Jiaoran vor, doch schienen die Tang-Poeten eher aus der inspirierten Stimmung (xingqu) heraus gedichtet und somit die Einschränkungen der neuen Formen des Regelgedichts, die sich ja erst mit ihnen und durch sie etablierten, vor allem als Herausforderung an ihre Fähigkeiten betrachtet zu haben. Und das gebildete Publikum, das mit den formalen Besonderheiten vertraut war, schätzte den Könner, den Meister, der sich erst in der Beschränkung zeigt, und empfand bei der Lektüre das ästhetische Vergnügen, das auch wir beim Hören von Musik kennen, wenn wir z.B. dem formalen Aufbau – Durchführungen oder Umkehrungen – einer Bach-Fuge oder Beethoven-Sonate zu folgen verstehen. Die Frage nach den Regeln (fa), also die Methodendiskussion, erhob sich erst nach diesem goldenen Zeitalter: in der Nach-Tang-Zeit. Sie ist die eigentliche Periode der Reflektion über die Dichtung.
Regeln und Dichtung Der Begriff fa, der sich nicht nur als »Gesetz«, »Regel«, »Vorbild«, »Methode«, sondern auch verbal als »zum Maßstab bzw. Vorbild nehmen« übersetzen läßt,
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DIE SONG-ZEIT
hat seinen festen Platz in der politischen und religiösen Ideengeschichte Chinas. Neben den Konfuzianern und Daoisten war eine der wichtigsten Denkschulen des Altertums die »Schule des Gesetzes« (fajia) mit ihren als »Legalisten« bezeichneten Anhängern. Obwohl in der konfuzianischen Führungsschicht legalistisches Denken schon früh verpönt war, gab es dennoch Berührungspunkte hinsichtlich der jeweiligen Vorstellungen einer wohlgeordneten Gesellschaft. Anstatt der Macht eines absoluten Herrschers und der Anwendung rigoroser Strafgesetze, wie es die Legalisten forderten, befürworteten die Konfuzianer zwar eine Regierung durch moralisches Beispiel und moralische Legitimation des Herrschers, doch verlangten sie die Befolgung eines anderen, nicht minder elaborierten Regelwerkes: der Vorschriften der Riten und Etikette (li), welche die Verhaltensweisen der Menschen in fast allen Lebenslagen regelten. Die Verträglichkeit beider Schulen zeigt sich nicht zuletzt auch darin, daß nach dem Untergang der verhaßten Qin-Dynastie ihre legalistischen Gesellschaftsreformen und Verwaltungsmaßnahmen beibehalten wurden, was sich bis in die Gegenwart fortgesetzt und ausgewirkt hat. Insofern steht fa in diesem Kontext stellvertretend für eine politisch totalitäre Seite Chinas, d.h. für die in seiner Geschichte dominante konfuzianisch-legalistische, sich an festen Regeln und Vorschriften orientierende Tradition (und es erübrigt sich eigentlich darauf hinzuweisen, daß sich das kommunistische China hier nahtlos anfügt). Fa bezeichnete jedoch auch für die Denker des chinesischen Altertums mehr als nur Menschengesetz, nämlich das Gesetz der Ordnung des Kosmos. So heißt es im Guanzi, einem zwischen Konfuzianismus und Legalismus anzusiedelnden Text aus der Vor-Qin-Zeit (3.–1. Jh. v. Chr.): Daß sich die vier Jahreszeiten nicht ändern, die Gestirne sich nicht wandeln, daß es Nacht und Tag wird mit Schatten und Licht, mit dem Leuchten von Sonne und Mond, das heißt Gesetz/Regel (fa).112
Von dieser Auffassung des Guanzi ist es nicht mehr weit zu der der Daoisten. Im 25. Kapitel des Daodejing heißt es über das fa des Dao, des Urgrundes der Wirklichkeit: »Das Dao nimmt das Von-selbst-so-sein als Regel/Maßstab (dao fa ziran).« Das heißt, das Von-selbst-so-sein, das freie, spontane Walten, ist das Prinzip des Dao, ist das Gesetz, nach dem das Dao wirkt und sich offenbart. Es offenbart sich als Natur, und das chinesische Wort für »Natur« ist ziran: das, was »von selbst so« ist. Wir finden also schon im chinesischen Altertum folgende zwei Pole von fa abgesteckt: einerseits von Menschen erlassene bzw. tradierte Vorschriften und Regeln, so im Konfuzianismus/Legalismus, andererseits im Daoismus das Gesetz
112
Xinbian zhuzi jicheng, Taipei: Shijie shuju 1983, Bd. V, S. 254. Zu Guanzi s. W. ALLYN RICKETT: Guanzi, Princeton: Princeton UP 1985, und ROTH: Original Tao.
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des steten Wandels der Natur, die zwar spontan schafft, deren Wirken aber nicht ohne Gesetzmäßigkeit ist.113 Diese Spannung sollte in der Song-Zeit weiter wirksam bleiben. Geistesgeschichtlich war die Song-Dynastie die Epoche des Neokonfuzianismus; in ihm mischten sich zwar konfuzianische mit daoistischen und buddhistischen Einflüssen, doch zeigte er sich methodisch streng und förderte das Handeln des Menschen nach Vorschriften. Von Zhu Xi, der Hauptfigur des Neokonfuzianismus, ist der Satz überliefert: »Alles unter dem Himmel besitzt eine feste Regel (fa). Der Lernende muß gemäß deren Ordnung allmählich fortschreiten.«114 Der songzeitliche Literat Chen Shidao (1053–1101) hob in einer Definition von »Regel« ebenfalls den konfuzianischen Zusammenhang hervor: Will man das Dao praktizieren, muß man mit dem Guten (shan) anfangen. Die Geschicklichkeit von Meister Gongshu [einem legendären Handwerker115] war derart, daß selbst er ohne Lineal und Zirkel seine Kunstfertigkeit nicht anwenden konnte; das ist es, was man Regel nennt. Regeln sind die Beschränkungen der Alten. Der Edle vollendet sich selbst durch Regeln, und durch sich selbst vollendet er die Regeln. Beim Sprechen muß man sich die Alten als Lehrer, und beim Verhalten die Alten als Maßstab nehmen.116
Neben dem Wiederaufstieg des Konfuzianismus in der Form des Neokonfuzianismus verzeichnen wir in der Song-Zeit auch ein starkes Interesse am ChanBuddhismus. Als sinisierteste Form des Buddhismus, die im Kern daoistisches Denken im buddhistischen Gewand darstellt, übte der Chan einen enormen Einfluß auf die Kunst und Literatur der Song und auch auf den Neokonfuzianismus selbst aus. Sein Bezug zur Dichtung soll später noch ausführlicher erörtert werden. Für die Song und späteren Epochen ist es dabei besonders bedeutungsvoll, daß, wie im Zusammenhang von Su Shi bereits erwähnt, fa auch ein zentraler Begriff im chinesischen Buddhismus ist: damit wird der Sanskrit-Terminus Dharma übersetzt, der sowohl das buddhistische Lehrgebäude als auch die kosmische Ordnung sowie schließlich die Vielzahl der Phänomene bedeutet. Somit sind in ihm die beiden zuvor genannten Aspekte – menschliches und kosmisches Gesetz – inbegriffen, und so gesehen läßt sich fa als Dharma als ein buddhistisches Äquivalent zum chinesischen Dao verstehen, das für den konfuzianischen und daoistischen »Weg« steht, den »Weg« des Menschen (d. h. der Ethik) und der Natur. 113
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115 116
S. auch »Menschliche Gesetze und die Gesetze der Natur« in: JOSEPH NEEDHAM: Wissenschaftlicher Universalismus. Über Bedeutung und Besonderheit der chinesischen Wissenschaft, TILMAN SPENGLER (Hg.): Frankfurt: Suhrkamp 1979, S. 260–293. HU JINGZHI (Hg.): Zhongguo gudian meixue congbian, Peking: Zhonghua shuju 1988, II, S. 568. Menzius, 4A.1. »Zhang Shan xu«, zitiert nach CHEN: Zhongguo shixue piping shi, S. 360.
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Chan-buddhistische Terminologie, insbesondere der Begriff der »Erleuchtung« (wu, jap.: satori), womit der Durchbruch zu einer Einheitserfahrung und Erkenntnis der Nicht-Dualität gemeint ist, sollte nun als Vehikel dienen, um das Wesen der Dichtung, ihrer Regeln und Gesetze – ihr Dharma – zu erläutern und zu fassen. Daß dabei der Terminus für die Regeln der Dichtung der gleiche war wie für das buddhistische Dharma, erlaubte einen beispiellosen und beliebten (wort-) spielerischen Übergang aus dem Bereich der Poetik in den des Buddhismus, wie es in einem von Su Shis Gedichten bereits anklang. Insofern sollte im weiteren Verlauf die Diskussion um »Regeln« bzw. das Dharma der Dichtung eine besondere Bedeutung gewinnen. Was gehörte überhaupt zu den von den Song-Literaten erörterten Regeln und Methoden der Dichtung? Zunächst natürlich die prosodischen Regeln (gelü) der verschiedenen Formen des shi-Gedichts. Jedoch waren diese verhältnismäßig einfach zu meistern. Im Vordergrund des methodischen Interesses standen daher eher kompositorische Regeln: Regeln der Satzbildung im Vers, der Wortwahl bzw. der Platzierung von Zeichen sowie der strukturellen Ausbalancierung. Zu letzteren gehörte die zur Norm erhobene Abfolge der vier Verspaare im achtzeiligen Regelgedicht: 1. Einleitung, 2. Fortführung, 3. Wende und 4. Zusammenfassung (qi, cheng, zhuan, he), dann die nach dem Yin-Yang-Modell zu erfolgende Austarierung von Ansteigen und Sinken (qi fu), Öffnen und Schließen (kai he), Ruf und Antwort (zhao ying) sowie die ausgewogene Kombination von Szenerie mit Gefühl (jing und qing) und Fülle mit Leere (shi und xu). Schließlich gehörten auch stilistische Regeln dazu, z.B. das Vermeiden von Direktheit und das Erzielen einer suggestiven Wirkung durch Bilder oder literarische Anspielungen. Ein guter Teil der Diskussion um Regeln in der Song-Zeit galt vor allem der Frage: Wie kann ich mich an ein großes Vorbild anlehnen, ohne es direkt zu imitieren? Insbesondere die Poetengruppe, die sich um den aus der Provinz Jiangxi stammenden bedeutenden Literaten (und Schüler von Su Shi) Huang Tingjian (1045–1105) scharte und die deshalb als Jiangxi-Schule bekannt wurde, entwickelte ausgeklügelte Methoden und Regeln der indirekten Imitation. In der Praxis sah das z. B. so aus, daß man die Worte der Vorbilder benutzte, jedoch versuchte, ihnen einen neuen Sinn zu geben; oder man ahmte umgekehrt den Sinn nach, kleidete diesen aber in neue Worte.117 Auch war man bestrebt, den dichterischen Erzeugnissen nicht zu viel Schliff zu geben; kurzum, eine kultivierte Unbeholfenheit, bewußte Verstöße gegen die prosodischen Regeln und ein bisweilen sorgloser Umgang mit dem poetischen Vorbild charakterisieren die lyrischen Aktivitäten von Huang Tingjian und seiner Gefolgschaft sowie im gewissen Maße die Dichtung der ganzen Epoche.118 117 118
LIU: The Art of Chinese Poetry, S. 78. Zur Dichtung von Huang Tingjian s. KUBIN: Die chinesische Dichtkunst, S. 291–94. Kubin spricht davon (S. 292), daß Huang Tingjian den »Verstoß gegen die prosodischen Konventio-
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Übung und Spontaneität – Huang Tingjian
Belesenheit Zeichnete sich die eher »naive« Tang-Dichtung durch eine Einbettung von Gefühl (qing) in metaphorisch zu verstehende Naturszenen (jing) und dementsprechend durch eine Nähe zu den Gedichten des Shijing aus, so kennzeichnet die »sentimentalische« Song-Lyrik eine Betonung von rationalen Konzepten (li) und »Ideen« (yi) und somit eine entsprechende Ferne zum Buch der Lieder. Merkmale vieler Song-Gedichte, insbesondere derjenigen von Huang Tingjian (aber auch von Su Shi), waren Buchgelehrsamkeit und Liebe zur Allusion. Nun waren literarische Anspielungen seit alters her populär in der chinesischen Dichtung, doch erreichte diese Vorliebe bei Huang und der ihn umgebenden Dichtergruppe der JiangxiSchule eine neue Dimension; sie wurde sozusagen Programm. Der qingzeitliche Literat Wang Fuzhi, bemerkte einmal, daß die Verse von Su und Huang gänzlich abhängig von Büchern seien: »Wenn man ihnen die Bücher wegnimmt [auf die sie anspielen], dann ist da keine Dichtung.«119 Allerdings entsprachen die Gelehrsamkeit und das Bücherwissen auch einem (neo-) konfuzianischen Ideal, nämlich der Betonung des Lernens überhaupt. So heißt es in einem Text von Huang: Es gibt keinen Tag, an dem der Edle nicht lernt. Wie könnte es nur ein einziger Tag sein! Es gibt keine Stunde, in der er nicht lernt. Wie könnte es nur eine Stunde sein! Es gibt keinen Augenblick, in dem er nicht lernt. Lernen – das ist die Person selbst. Die Person selbst – das ist Lernen!120
Besonders beliebt als Vorbild war Du Fu, der Meister des Regelgedichts. Indem er sich einerseits penibel an die prosodischen Regeln gehalten, andrerseits jedoch sich darin so unnachahmlich frei bewegt hatte, glaubte man in seinen Werken die idealen Vorgaben gefunden zu haben, nach denen man sich dichterische Kunstfertigkeit aneignen könnte. So heißt es zum Dichten nach Du Fus Vorbild bereits bei Su Shi: Beim Erlernen der Dichtung nehme man sich Du Fu als Modell. [Seine Gedichte] besitzen Gesetzmäßigkeit (guiju). [...] Selbst wenn man beim Lernen nach Du Fu nicht [völlig] erfolgreich sein kann, so wird man doch nicht die erlernte Kunstfertigkeit verlieren.121
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121
nen zur Regel machte«. S. auch DAVID PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, Stanford: Stanford UP 1993. Die folgenden Ausführungen verdanke ich im wesentlichen dieser gut recherchierten Studie. Darin werden auch beispielhaft zahlreiche Gedichte von Huang analysiert, wodurch dessen besondere Dichtkunst deutlich wird. PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 56f. »You shi zhai«, HUANG TINGJIAN: Yuzhang Huang xiansheng wenji, 13.11a (SBCK); vgl. PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 57. YAN: Su Shi lun wenyi, S. 161.
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Künstlerische Alchimie Im Allgemeinen galt es, das Gelesene zu verinnerlichen und spontan damit umgehen zu lernen. Belesenheit, Verinnerlichung des Gelesenen und Fähigkeit des spontanen Umgangs damit zeichneten allerdings auch Du Fu selbst aus.122 Und so heißt es dann später im Anklang an diese Tradition bei Huang Tingjian: In den Kompositionen von Du Fus Gedichten und Han Yus Essays gibt es kein Wort, das nicht von irgendwoher stammt. Wahrscheinlich nur, weil spätere Generationen nicht genug gelesen haben, sagt man, Du Fu und Han Yu hätten diese Ausdrücke selbst geschaffen. Diejenigen von früher, die in der Lage waren, Literatur selbst zu schreiben, konnten die Zehntausend Dinge formen. Sie nahmen die Ausdrücke der Alten und ließen sie in Pinsel und Tusche einfließen – es war wie eine Pille von geistigem Zinnober (lingdan), welche Eisen in Gold verwandelt (dian tie cheng jin).123
Die berühmt gewordene alchimistische Metapher (»Eisen in Gold verwandeln«), der sich Huang am Ende dieses Zitats bedient, deutet auf eine vergeistigte – oder vielleicht besser vergeistigende – Qualität im Dichten bzw. im Nachahmungsprozeß hin. Huang und seiner Dichtergruppe ging es offenbar darum, durch die völlige Assimilierung von literarischen Vorbildern ein kreatives Schreiben zu ermöglichen, ohne sich unbedingt der Vorgaben bewußt zu sein oder sich dadurch eingeschränkt zu fühlen. Alchimistische Metaphorik spricht auch aus den bekanntesten Bildern, die über Huangs Methode der Nachahmung von Vorbildern beim Dichten überliefert sind: Die Idee eines früheren Dichters nicht zu verändern, doch eine eigene Sprache dafür zu schaffen, so heißt die Methode, die »Knochen auszutauschen« (huan gu). Sich an der Idee [eines früheren Dichters] zu orientieren (guimo), und sie [in eigenen Worten] zu umschreiben (xingrong), heißt »sich den Embryo anzueignen« (duo tai).124
Die beiden Bilder »die Knochen austauschen« und »sich den Embryo aneignen« stammen aus der daoistischen Alchimie. So galt es im ersteren Fall, durch langwierige äußere oder innere alchimistische Praktiken (durch Zubereitung von entsprechenden Elixieren oder Atemübungen) die sterblichen Knochen in diejenigen eines Unsterblichen zu verwandeln bzw. auszutauschen. »Sich den Embryo an122
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Ein berühmtes Verspaar von ihm wurde bereits zitiert: »Im Studium der Bücher habe ich zehntausend Bände zu Fetzen gelesen, / Wenn der Pinsel sich senkt, ist er wie vom Geist (shen) geführt.« V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, I, S. 20. S. dazu Kap. III.3.1. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 316; vgl. PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 66. Überliefert in: HUIHONG (1071–1128): »Lengzhai yehua«, GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 321; PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 156.
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eignen« heißt andrerseits, daß es der Adept durch Praktiken der inneren Alchimie (nicht nur Atemübungen, sondern auch Einhaltung von besonderen Diäten und Sexualpraktiken) vermag, einen geistigen Embryo in sich selbst aufzubauen, der in dem Augenblick, da er »stirbt«, sich in einen neuen und reinen »Geist-Körper« eines Unsterblichen verwandelt.125 In dem Zitat (die Worte werden Huang Tingjian von einem Chan-Mönch namens Huihong in den Mund gelegt) werden diese alchimistischen Bilder in ihrer dichtungspraktischen Bedeutung allerdings nicht ganz eindeutig entschlüsselt, so daß manche Kritiker die beiden Bilder einfach mit einer einzigen Bedeutung lesen, nämlich die Idee eines Gedichtes zu nehmen und sie in neue Worte zu packen.126 Andrerseits spricht einiges dafür, hier zu differenzieren. »Die Knochen austauschen« würde diesem gerade genannten Sinn entsprechen, nämlich einfach die Idee eines Vorbilds zu benutzen, ihr jedoch neue Worte zu verleihen. Das Bild »sich den Embryo aneignen« vermittelt hingegen die Vorstellung einer Aneignung von etwas Lebendigem, das sich zudem noch entwickelt. Eine Interpretation dieses Bildes hieße wohl, daß es bei dieser Methode eher darauf ankommt, den Sinn im Gedicht eines Vorgängers zu übernehmen, diesen sich aber – und zwar in neuem sprachlichem Gewand – zu eigenen Sinnhorizonten entfalten zu lassen.127 Doch lassen die alchimistischen Wendungen (Palumbo-Liu zufolge) weitere Interpretationen zu. »Knochen« (gu) wurde schon früher im Zusammenhang mit »Wind« (feng) diskutiert. Dabei ist »Knochen« diejenige Qualität, die einem literarischen Kunstwerk Substanz und Stärke der gedanklichen Struktur verleiht. »Wind« als emotionale Kraft stützt sich hingegen auf die strukturierende Funktion von »Knochen«, um die Vitalkraft (oder Energie, qi) zu kanalisieren. Feng und gu können somit als komplementäre Arten, qi zu manifestieren, betrachtet werden. Das Bild »sich den Embryo aneignen« ließe sich deshalb in diesem Zusammenhang möglicherweise als Versuch verstehen, das qi aus dem Werk eines anderen Dichters zu nehmen. Das hieße dann aber auch, daß qi als geistige Kraft nicht mehr als eine angeborene Größe (Cao Pis Talent oder Temperament) verstanden werden kann. Wenn das qi sich von einem anderen bzw. aus einem anderen Werk aneignen läßt, dann kann es nun auch gelernt und ein Talent (cai) somit eingeübt werden. Diese Spannung zwischen »Talent« und »Lernen« bzw. die Frage der Erlernbarkeit von Talent sollte in der Song-Zeit und danach noch ausgiebig diskutiert werden.128 125
126 127
128
LYNN: »Sudden and Gradual«, S. 386f; HOLMES WELCH: Taoism: The Parting of the Way, Boston: Beacon Press 1966, S. 109. PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 156. Die Passage von Huihong, die Guo anführt und Palumbo-Liu übersetzt, ist m.E. nicht eindeutig aufzuschlüsseln; folglich gibt es kontroverse Interpretationen zu der Textstelle und den Schlüsselbegriffen. Ich folge hier der Interpretation von LIN TONGHUA (Hg.): Zhonghua meixue da cidian, Hefei: Anhui jiaoyu 2000, S. 393. PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 178–85. S. zu dieser Thematik auch LYNN: »The Talent Learning Polarity«.
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DIE SONG-ZEIT
Huang Tingjians Vorstellungen von idealer Dichtung schwanken zwischen zwei Vorbildern: Du Fu und Tao Yuanming. Beide stehen für ihn für zwei unterschiedliche Ansätze: einen methodisch regelhaften bei Du Fu, und einen intuitiv natürlichen bei Tao Yuanming. Die beiden Modelle werden deutlich in einem berühmt gewordenen Verspaar (bezeichnenderweise aus einer Reihe von Sechs-WortVierzeilern, insofern beispielhaft für Huangs irregulären Stil): Du Fus Verse haben Augen, Tao Yuanmings Ideen liegen [im Klang] einer saitenlosen Zither.129
Mit den »Augen« in Du Fus Versen (ju yan) wird auf eine Besonderheit in dessen Lyrik eingegangen, daß nämlich bestimmte Schriftzeichen, meist das dritte im Fünf-Wort- und das fünfte im Sieben-Wort-Vers (also jeweils das erste Zeichen hinter der prosodischen Zäsur), als Bedeutungsfokus fungieren, d.h., sie ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich, blicken ihn wie »Augen« an, und aus ihnen entfalten sich die besondere Bedeutung sowie der ästhetische Reiz der jeweiligen Zeilen.130 Darin liegt dann aber auch eine methodische Orientierung, wiederum etwas, das sich nachahmen und – wie eine Regel – lernen läßt. Der Reiz von Tao Yuanmings Dichtung hingegen ist nicht zu fassen, so unhörbar wie der Klang einer saitenlosen Zither, die er seiner von Xiao Tong verfaßten Biographie zufolge gerne gespielt haben soll – eine Geschichte, die insofern gut erfunden ist, als sie seine Abgehobenheit von jeglicher weltlicher Zustimmung symbolisiert. Das heißt aber auch, Tao Yuanmings Verse sind so ungekünstelt, schlicht, echt und gut, das sie sich methodisch nicht auf den Punkt bringen und nachahmen lassen. Und so kreisen viele von Huangs Äußerungen über Dichtung um diese beiden Vorbilder, wobei er Du Fu bisweilen in die gleiche Kategorie wie Tao Yuanming einreiht, wie in folgender: Das Wunderbare an Du Fus Versen ist das Absichtlose in der Gestaltung. Sie sind ohne Absicht/Idee (yi) geschaffen, und doch wird die Absicht/Idee vollkommen klar.131
Steht hier die Einheit von Absichtslosigkeit und Vermittlung einer Absicht/Idee im Vordergrund, so geht es in der folgenden Analyse eines Gedichtes von Du Fu um 129 130
131
»Zeng Gao Zimian«, GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 320. Zum Thema »Augen im Vers« s. GÜNTHER DEBON: Grundbegriffe der chinesischen Schrifttheorie, S. 63ff, ders.: Chinesische Dichtung: Geschichte, Struktur, Theorie, Leiden: Brill 1989, S. 29f; s. auch CRAIG FISK: »The Verse Eye and the Self-Animating Landscape in Chinese Poetry, Tamkang Review, Vol. VIII, No. 1 (1977), S. 123–153. »Dayatang ji«, in: HUANG QIFANG (Hg.): Bei-Song wenxue piping ziliao huibian, Taipei: Chengwen 1978, S. 219; vgl. PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 35.
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Übung und Spontaneität – Huang Tingjian
regelhafte Elemente, an denen der Lernende sich orientieren kann. Gleichzeitig wird auch der Gegensatz von »korrekt« (zheng) und »verändert« (bian) in den anfangs erwähnten neuen Zusammenhang gestellt: Dieses Gedicht132 von Du Fu wurde von früheren Literaten als das Beste an Dichtung bezeichnet. Das heißt, seine strukturelle Anlage (buzhi) ist höchst korrekt in der Form (zheng ti). Dies ist genauso wie bei verschiedenen Verwaltungsgebäuden (mit Wohnhäusern, Hallen, Seitenflügeln): Die Dinge haben ihren festen Platz und dulden kein Durcheinander. [...] Alles andere ist veränderte Form (bian ti). Nun gleicht die veränderte Form ziehenden Wolken und fließendem Wasser. Sie beginnt ohne feste Substanz, entsteht aus feinsten Subtilitäten, scheint der himmlischen Schöpfung entrissen und kann nicht in einer festen Gestalt gefunden werden. Doch wenn wir korrekte Form als Grundlage nehmen, dann wirken darin natürliche Regeln (ziran fadu). Zum Beispiel bedingen beim kriegerischen Einsatz irreguläre und korrekte Truppenbewegungen einander. Wenn man am Anfang nicht weiß, was korrekt ist, und auf einen irregulären Weg gerät, dann wird es Durcheinander und am Ende eine Niederlage geben.133
Huang geht hier davon aus, daß es beim Dichten zunächst bestimmte fundamentale Richtlinien zu berücksichtigen gilt, wie bei der Anlage eines komplexen Gebäudes, die nicht willkürlich geschehen darf. Darin erschöpft sich jedoch der methodische Aspekt; und so gilt es, über derartige elementare und verinnerlichte Regeln und Methoden hinauszugehen und die »korrekte« Form zu »verändern«. Interessanterweise erläutert Huang diese »veränderte« und damit erst ideale Form durch ein Bild, das sein Freund und Lehrer Su Shi gebrauchte, nämlich Su Shis Vergleich seiner Schöpfungskraft mit »ziehenden Wolken und fließendem Wasser«. Erst diese Art des Dichtens wirkt, so Huang, als sei sie »der himmlischen Schöpfungskraft entrissen«. Diese Einheit von Regel und Transzendieren von Regeln wird hier mit dem Begriff »natürliche Regel« zu fassen versucht – ein Ausdruck, der später noch bedeutsam werden wird. Huang illustriert ihn am Beispiel militärischer Strategie, wobei es auf diesem Gebiet ebenfalls zunächst gilt, die Grundlagen zu kennen; erst dann vermag man intuitiv damit umzugehen. Regeln sind also nützlich als Grundorientierung. Nur durch rigorose Übung in der regelhaften Nachahmung anderer Dichter läßt sich formale Perfektion erreichen; doch müssen diese Regeln und Vorbilder am Ende zurückgelassen werden. 132
133
Es handelt sich um das Gedicht »Für Sekretär Wei in zweiundzwanzig Reimen«, aus dem oben in Fußnote 122 ein bekanntes Verspaar zitiert wurde. S. V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, I, S. 20, sowie Kap. III.3.1. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 320f. Diese Überlegungen von Huang anläßlich der Analyse des Du Fu-Gedichts ist von Fan Wen (fl. ca. 1090) überliefert, und zwar in seinem »Qianxi shiyan«; vgl. ADELE AUSTIN RICKETT: »Method and Intuition: The Poetic Theories of Huang T'ing-chien«, in dies.: Chinese Approaches to Literature, S. 104.
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DIE SONG-ZEIT
Eingeübte Spontaneität Huangs Ideal der Dichtung – als Einheit von Übung und Spontaneität, von Methode und Intuition – kommt in folgender Passage zum Ausdruck, wobei hier wieder das Beispiel Tao Yuanming ausschlaggebend ist: Es ist besser, wenn ein Gedicht in seinen regelhaften (lü) Seiten nicht zu ausgeglichen ist, als daß die Sätze zu schwach wirken. Auch sei man beim Gebrauch der Zeichen lieber nicht zu kunstfertig, so daß die Sprache nicht vulgär wirkt. Dies war die Stärke von Yu Xin (513–581), aber er war immer noch [zu sehr] bestrebt, gute Verse zu machen. Tao Yuanming hingegen war nicht besorgt um Richtmaß und Feilen, vielmehr fügt sich bei ihm alles von selbst. Gleichwohl, diejenigen, die geschickt sind im Umgang mit der Axt [d.h. im Feilen an Versen], bemängeln seine Unbeholfenheit (zhuo), und diejenigen, die penibel und konformistisch sind, bekritteln seine Ungebundenheit (fang). Konfuzius sagte: »Was Ning Wu angeht, so können andere ihn in seiner Weisheit erreichen, in seiner Torheit aber ist er unerreichbar.«134 Tao Yuanmings Unbeholfenheit und Ungebundenheit – wie könnte einer, der nichts davon versteht, darüber sprechen? [...] Man sagt [bei den Buddhisten]: »Wenn man mit dem Dharma-Auge (fa yan) die Dinge anblickt, dann gibt es nichts Vulgäres, das nicht echt wäre; wenn man mit dem weltlichen Auge die Dinge anblickt, dann gibt es nichts Echtes, das nicht vulgär ist.« Tao Yuanmings Gedichte lassen sich nur mit einem, der eine Einsiedlergesinnung hat, teilen.135
In dieser Passage klingt das Ideal der anfangs erwähnten »kultivierten Unbeholfenheit«136 an. So war Huang Tingjian bekannt dafür, daß er gerne gegen die prosodischen Regeln verstieß und irreguläre Muster (aoti) benutzte.137 Folglich heißt es auch programmatisch bei Chen Shidao, einem bereits genannten Schüler von Huang Tingjian: »Lieber unbeholfen als geschickt, lieber schlicht als blumig, lieber rauh als schwächlich, lieber ausgefallen als gewöhnlich.«138 Für dieses Ideal von 134
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Lunyu, 5.20. Der Zusammenhang ist, daß Ning Wu (7. Jh. v. Chr.), ein Beamter des Staates Wei, seine Pflichten »weise« erfüllte, solange das Staatswesen in Ordnung war. Nachdem der Fürst vom Thron vertrieben war, hatte er sich nicht zurückgezogen, sondern folgte in »törichter« Weise seinem Fürsten, brachte es aber zustande, daß der Fürst am Ende wieder eingesetzt wurde und die Ordnung im Lande zurückkehrte. S. LEGGE: Analects, S. 180. »Ti Yike shi hou«, HUANG: Bei-Song wenxue piping ziliao huibian, S. 228. So läßt sich auch Huangs kalligraphischer Stil charakterisieren, der ihn vielleicht noch mehr als seine Dichtung berühmt gemacht hat. S. POHL: Cheng Pan-ch'iao, S. 105ff. So verlangt, wie bereits erwähnt, die Prosodie des shi-Gedichts eine Zäsur nach dem 2. Zeichen in einem Fünf-Wort-Vers (bzw. nach dem 4. in einem Sieben-Wort-Vers); Huang liebte hingegen Aufteilungen nach dem Muster 3/2 oder 1/3 im Fünf-Wort- oder 3/4 im Sieben-Wort-Vers. S. NIENHAUSER: The Indiana Companion, I, S. 448. CHEN SHIDAO: »Houshan shihua«, in: Lidai shihua I, S. 311; vgl. GÜNTHER DEBON: Ts'anglang’s Gespräche über die Dichtung, Wiesbaden: Harrassowitz 1962, S. 20.
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Übung und Spontaneität – Huang Tingjian
Schlichtheit und Ungebundenheit war ihm Tao Yuanming das überragende Vorbild. Mit dem Dharma- oder »Regel«-Auge gesehen sind nämlich seine »vulgären«, d.h. unbeholfenen Züge einfach ein Zeichen seiner Echtheit. Gleichzeitig ist seine Natürlichkeit unnachahmlich. Das Ziel von Huang Tingjians Befolgen von »natürlichen Regeln« war also, so paradox es klingt, eine eingeübte Spontaneität. Sein Schüler Chen Shidao vergleicht den Lernprozeß und das daraus resultierende Ergebnis mit den alchimistischen Bemühungen, ein Unsterblicher (xian) zu werden, wobei das »Austauschen der Knochen« (huan gu) schließlich von allein geschieht: Das Dichten zu lernen, ist wie das Lernen, ein Unsterblicher zu werden: Ist die Zeit gekommen, tauschen sich die Knochen von alleine.139
Das heißt, das Erlangen höchster Kunstfertigkeit (die dichterische »Unsterblichkeit«) stellt sich nach langem methodischem Training am Ende von selber ein – ein Ergebnis, das der buddhistischen Erleuchtung (wu) entspricht. Die auf diese Weise angestrebte Qualität einer natürlich-spontanen Schaffenskraft wurde auch als »Eingehen ins Spirituelle« (ru shen) bezeichnet – eine Qualität, der wir bereits im Zhuangzi in der Parabel des messerschwingenden und in vergeistigter Weise einen Ochsen zerlegenden Kochs begegnet sind (und die auch schon im Buch der Wandlungen belegt ist140). Huang Tingjian erläutert diese Qualität des »Eingehens ins Spirituelle« in einem »Vorwort zu Daozhens Tuschebambus« am Beispiel berühmter Maler und Kalligraphen. Da der Text einiges an den bei Huang Tingjian so beliebten Anspielungen enthält, sei er im folgenden etwas ausführlicher erläutert. Zunächst führt Huang aus, daß, obwohl der Ursprung der Malerei des Tuschebambus im Dunklen liege, die Malerei in schwarzer Tusche auf Wu Daozi in der Tang-Zeit zurückgehe; dieser habe seinen eigenen Lehrer übertroffen, indem er sich durch alles in der Welt habe anregen lassen. Als erster großer Maler des Tuschebambus sei der songzeitliche Wen Tong141 anzusehen, dessen Bilder den Eindruck hinterließen, als seien sie von Geisterhand gemalt. Schließlich führt Huang noch die Schriftkunst des tangzeitlichen Kalligraphen Zhang Xu an, die Han Yu und auch Du Fu als gleichsam überirdisch gefeiert hatten. Wen Tongs Bambusbilder seien in ihrer geistigen Qualität mit Zhang Xus Kalligraphien vergleichbar. Daran anschließend nimmt er zu den Bambusbildern seines Zeitgenossen Daozhen, dem das Vorwort gilt, Stellung und meint:
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»Ciyun da Qin Shaozhang«, Houshanji (SBBY), 2.2b, zitiert nach RICKETT: »Method and Intuition«, S. 118; vgl. DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 21. Xicizhuan, II, 3; WILHELM: I Ging, S. 312. S. LYNN: »Sudden and Gradual«, S. 406f. Zu Wen Tong s. Exkurs 2 in Teil IV.
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DIE SONG-ZEIT Daozhen hat sich als Bambusmaler einen Namen gemacht. Er ist durch Wen Tongs Tor gegangen, doch nicht in sein Zimmer getreten [d.h., er hat von ihm gelernt, ihn jedoch nicht erreicht]. Wie kam das? Wu Daozi übertraf seinen Lehrer, indem er seine Fähigkeiten aus dem Herzen (xin) schöpfte; und so war alles, was er malte, wunderbar. Zhang Xu verfolgte keine anderen Kunstfertigkeiten als Kalligraphie und unterteilte somit nicht den Einsatz seiner geistigen Fähigkeiten. Deshalb war er in der Lage, ins Spirituelle einzutreten (ru yu shen). Wenn das Herz sich nicht durch äußere Dinge binden läßt, dann ist die Ganzheit (quan) seiner himmlischen Eigenschaften bewahrt (tian shou); dann kommen die Zehntausend Dinge erhaben hervor wie aus einem Spiegel. Wie könnte jemand, der bloß den Tintenstein leckt, am Pinsel kaut und mit gespreizten Beinen auf dem Boden sitzt, Kunst vollbringen? Deshalb sage ich, wenn Daozhen das Wunderbare von seinem Pinsel erlangen möchte, so sollte er versuchen, es vom Herzen zu bekommen.142
Wenn in dieser Passage davon die Rede ist, die wahre Kunst aus dem – »nicht durch äußere Dinge gebundenen« – Herz/Geist (xin) entstehen zu lassen, so daß die Phänomene »wie aus einem Spiegel hervortreten«, so haben wir hier einen buddhistischen Kerngedanken, nämlich daß der Geist (bzw. das Herz) als identisch mit der letztendlichen Wirklichkeit (nämlich der Buddhanatur) zu sehen ist, so daß sich die Dinge darin spiegeln. Doch dieser Gedanke birgt auch eine gewisse Verwandtschaft zu konfuzianischen Inhalten. Denn für Menzius, der zum wichtigsten Heiligen der Song-Neokonfuzianer wurde, ist das Herz ebenfalls von eminenter Bedeutung, nämlich als zentrale spirituelle Instanz im Menschen; so nimmt auch die Kultivierung des Herzens eine Schlüsselstellung in der neokonfuzianischen Praxis ein. Schließlich enthält dieses Zitat in seinen drei zentralen Sätzen gleich vier verschiedene daoistische Anspielung (auf Zhuangzi143); es sind allerdings jedes Mal kurze Einzelstücke, die Huang hier – zwar nicht in einem Gedicht, sondern einem prosaischen Vorwort – zu einem neuen Sinn und Kontext zusammenbastelt, ähnlich wie er dies in seinen Methoden, die »Knochen auszuwechseln« bzw. »sich den Embryo anzueignen«, fordert. Insofern verdeutlicht diese Passage einerseits Huangs Liebe zu gelehrsamer Allusion und seine Könnerschaft im schöpferischen 142
143
»Daozhen shi hua mozhu xu«, in: HUANG BAOHUA (Hg.): Huang Tingjian xuanji, Shanghai: Guji chubanshe 1991, S. 409f; PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 70. Das »Eintreten ins Geistige« ist eine Paraphrase einer Stelle aus Kapitel 19, wo von dem bereits vorgestellten buckligen Zikadenfänger die Rede ist, der über die Jahre seine Kunst derart vervollkommnet hat, daß Konfuzius über ihn staunend bemerkt haben soll, wer seinen Willen in dieser Weise gebrauche, bei dem »verdichtet er sich zu einer geistigen Macht« (ning yu shen). HYSIS, A Concordance to Chuang-tzu, S. 48, WILHELM: Liä Dsi, S. 59, MAIR: Zhuangzi, S. 262. Das »Wahren der Ganzheit der himmlischen Eigenschaften« (tianshou quan) bezieht sich ebenfalls auf Kapitel 19; WILHELM: Liä Dsi, S. 51, MAIR: Zhuangzi, S. 261. Der »Spiegel der Zehntausend Dinge« (wanwu zhi jing) bezieht sich auf Kapitel 13, HYSIS, A Concordance to Chuang-tzu, S. 33; MAIR: Zhuangzi, S. 196.
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Übung und Spontaneität – Huang Tingjian
Zusammenbau derselben, andrerseits läßt sie auch die in gleichem Maße daoistischen wie konfuzianischen und buddhistischen Grundlagen seiner Ästhetik erkennen, nämlich das Erlangen einer aus dem Herzen (xin) kommenden, intuitiven und sich somit ins Geistige erstreckenden Beherrschung der Kunst, die allerdings nur durch Kultivierung (bzw. wie im Chan durch Konzentration oder Meditation), d.h. nach langjähriger Übung, nicht zuletzt auch durch intensives Bücherstudium, erreicht werden kann. Bezeichnenderweise finden wir dabei in der vierten Anspielung eine Absage an eine oft gefeierte Idealfigur daoistischer Ästhetik: den kunstlosen Maler, der eben nicht durch fleißiges Üben und Kunstfertigkeit, sondern lediglich durch sein ungekünsteltes Wesen zu überzeugen vermag.144 Der ungezwungene daoistische Lebenskünstler ist offenbar nicht Huang Tingjians Vorbild. Kunst heißt vielmehr für ihn, sich zu bemühen, ins Geistige einzudringen, und zwar durch Übung, Lernen und völliges Vertrautwerden mit der dichterischen Tradition und ihren Regeln. Wenn wir hier die Praxis von Huang Tingjians Poetik als eingeübte Spontaneität charakterisiert haben, so heißt dies, daß es Kunstfertigkeit anzuwenden gilt, um den Eindruck von Spontaneität zu erzeugen. Wichtig ist allerdings dabei auch – wie Palumbo-Liu hervorgehoben hat –, daß die Kunstfertigkeit bemerkt und geschätzt wird; d.h., der Effekt der Spontaneität ist abhängig von der Fähigkeit des Lesers, die Kunstfertigkeit zu erkennen und zu verstehen. Von den Literaten der Nord-Song wurde somit verlangt, daß sie nicht nur mit den Texten der Alten völlig vertraut waren, sondern daß sie auch erkannten, wie diese Quellen manipuliert wurden. Dichtung konnte somit über das Ideal von Natürlichkeit hinausgehen und etwas erreichen, das ästhetisch reizvoller war als einfache Natürlichkeit bzw. Spontaneität.145 Aufgrund der starken Ausrichtung auf die Werke der alten Meister erleben wir in der Dichtung bei Huang Tingjian somit in ausgeprägtester Form die Tendenz einer »literaturgeschichtlichen Literatur«, denn ihr eigentlicher künstlerischer Gegenstand ist nicht so sehr die menschliche Welt der Gefühle und Stimmungen oder die natürliche Wirklichkeit, sondern die Werke der alten Meister. Sie in neuem Kontext zu verarbeiten, ihnen neue Horizonte zu vermitteln und sie auf diese Weise anzureichern, gleichzeitig aber die eigene Fähigkeit, über die Vorgaben scheinbar mühelos hinausgehen zu können, unter Beweis zu stellen, das war die nun bewunderte dichterische Kunstfertigkeit. In der Malerei wird in der Ming-Zeit mit Dong Qichang eine ähnliche Tendenz, nämlich die einer »kunsthistorischen Kunst«146, aufkommen, und zwar indem die Gemälde sich nicht mehr 144
145 146
Zhuangzi, Kap. 21; HYSIS, A Concordance to Chuang-tzu, S. 56; übers. MAIR: Zhuangzi, S. 293. S. auch Kap. I.5. PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 73–74, 85ff. MAX LOEHR: »Art-Historical Art: One Aspect of Ch'ing Painting«, Oriental Art N.S. 16 (Spring 1970), S. 35–37.
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auf die Natur, sondern in bildlichen Anspielungen auf Werke älterer Meister beziehen. Es fehlte allerdings nicht an späteren Kritikern der Praxis von Huang Tingjian, die diese Tendenzen als abwegig und einer wahren Dichtkunst als nicht förderlich betrachteten.147 Eingangs wurde bereits Wang Fuzhi zitiert, der die Buchgelehrsamkeit bei Huang und Su herausstrich. Ein anderer Kritiker war der mingzeitliche Wang Ruoxu, der sagte: Huang Tingjians Erörterung der Dichtung enthält die Bilder »sich den Embryo aneignen« und »die Knochen austauschen« sowie »durch eine Pille von geistigem Zinnober Eisen in Gold verwandeln«. Alle Welt hält dies für bemerkenswerte Formulierungen, doch wie ich das sehe, bezieht sich das nur auf geschicktes Plagiieren. Huang liebte es, herauszuragen. Er schämte sich, daß seine Dichtung von den Alten herkam. Deshalb erfand er diese Formulierungen und schuf derartige neue Begriffe aus sich selbst.148
Insofern schwankt die Bewertung von Huang Tingjian durch die Geschichte hindurch. Ähnlich wie Han Yus eigenwillige Verse wurde Huangs Werk mal gefeiert, mal als dichterische Verirrung verurteilt. Die verschiedenen Schulen der QingDichtung sollten sich vor allem darin unterscheiden, ob sie sich die »naive« Dichtung der Tang, oder die »sentimentalische« der Song, mit Su Shi und Huang Tingjian (trotz ihrer Unterschiede) als Hauptrepräsentanten, zum Vorbild nahmen.
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Mit Yan Yu und dessen Canglangs Gespräche über die Dichtung wird im nächsten Kapitel einer der schärfsten Kritiker von Huang Tingjians Dichtung auftreten. Gleichwohl wird deutlich werden, daß die Methoden und Strategien, die beide zum Erlernen der Dichtkunst vertreten, sehr ähnlich sind. WANG RUOXU: »Hunan shihua« (3), Xu lidai shihua, I, S. 523.
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6. Paradox und Dharma – Chan-Buddhismus und Dichtung in der Song-Zeit
Der weitere Verlauf der Diskussion um Regeln in der Dichtung wurde stark vom Chan/Zen-Buddhismus geprägt. Dieser hatte zwar in seiner mönchischen Ausprägung bereits in der Tang-Zeit einen Höhepunkt erfahren, doch seine Stellung im Geistesleben und sein entsprechender Einfluß auf Literatur und Kunst blieb in der Song-Zeit ungebrochen. Maßgebliche Literaten wie z.B. Su Shi und Huang Tingjian pflegten regen Kontakt mit Chan-Mönchen und waren zutiefst mit den Inhalten und der Praxis des Chan vertraut, wobei ihr Interesse am Chan sich durchaus mit ihrer ansonsten selbstverständlichen konfuzianischen Orientierung und ihren daoistischen Neigungen vertrug. Als Ergebnis einer Verschmelzung des Buddhismus mit der daoistischen Tradition ist der Chan-Buddhismus ohnehin zu der am typischsten chinesischen Form des Buddhismus geworden. Er zeichnete sich dadurch aus, daß er allem Intellektuellem, allem Buchwissen abhold war und sogar buddhistische Lehrschriften nicht mehr ernst nahm. So dienen im Chan bisweilen selbst heilige Schriften allenfalls dazu, um Feuer anzuzünden. Im eigentlichen Verständnis des Chan war eine erleuchtete Sicht der Wirklichkeit nicht durch besondere Übungen, wie z.B. Meditation, zu erlangen, vielmehr lag sie bereits darin, ganz im Moment, im Hier und Jetzt, zu leben. Ähnlich wie im Konfuzianismus und Daoismus ist somit auch hier das Alltägliche das Heilige bzw. Transzendente: »Wasser tragen und Brennholz hacken – all das ist nichts anderes als der wunderbare ›Weg‹.«149 Insofern läßt sich der Chan nicht einfach als eine Lehre der »immanenten Transzendenz« (neizai chaoyue) charakterisieren (mit diesem Etikett wird bisweilen der Konfuzianismus beschrieben150), sondern gleichsam als ein Weg der transzendenten Alltäglichkeit. Der Weg zur Buddhaschaft führte nicht mehr über den langen Weg der Selbstaufgabe oder ein Leben hinter Klostermauern. Buddha zu werden bedeutete gerade, nicht zu versuchen, Buddha zu werden. Es kam einfach darauf an, im alltäglichen Leben einen unverhafteten Geist zu bewahren, was beileibe nicht dasselbe ist, wie ein gewöhnliches, alltägliches Leben zu führen. Ähnlich wie der Daoismus als eine Lehre, die allem konzeptionellen Wissen abhold ist, liebt der Chan deshalb – wenn überhaupt – sich vornehmlich in Paradoxen zu äußern, denn nur so läßt sich deutlich machen, daß Worte die Erleuchtungserfahrung des Chan nicht ausdrücken können. Diese Besonderheit geht bereits 149 150
FUNG: History of Chinese Philosophy, II, S. 402; LI: Der Weg des Schönen, S. 221. So von dem Geistesgeschichtler der Princeton Universität Yü Ying-shih, s. MARTIN MILLER: Die Modernität der Tradition. Zum Kulturverständnis des Historikers Yu Yingshi, Münster: LitVerlag 1995, S. 23ff.
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aus seiner Gründungslegende hervor. Er soll damit begonnen haben, daß der Gautama Buddha bei einer Predigt einmal eine Blume in die Finger genommen (nian) und wortlos hochgehalten hat. Alle Jünger blickten verständnislos, nur Kasyapa soll darauf mit einem verständnisvollen Lächeln reagiert haben; folglich gilt er als der erste Patriarch des Chan. Wenn auch diese Geschichte eine Legende darstellen mag, so wäre sie doch gut und sinnvoll erfunden (und ist wirkungsgeschichtlich bedeutsam geworden); sie illustriert nämlich die Quintessenz einer Botschaft jenseits verbaler, insbesondere lehrschriftlicher, Vermittlung. Mit diesen Kennzeichen – Alltäglichkeit, aber auch Absichtslosigkeit, Natürlichkeit, Ungekünsteltheit, sogar Respektlosigkeit und letztlich Verstehen jenseits der Worte – sind bereits etliche Merkmale genannt, die nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Verwandtschaft zu, um nicht zu sagen Identität mit daoistischen Kerngedanken zu wichtigen kunst- und dichtungstheoretischen Elementen wurden. Das Verstehen jenseits der Worte (yan wai) wurde bereits bei Sikong Tu ausführlich erörtert. Im Chan-Buddhismus fanden Dichter, Maler und Kalligraphen nun eine Lehre (wenn auch eine der Nicht-Lehre), mit deren Hilfe sie ebenfalls über die suggestiven Qualitäten ihrer Künste sprechen (oder besser schweigen) konnten.151 Ein weiteres wichtiges Element kam hinzu, das allerdings auch bereits in daoistischen Fabeln wie der von dem in vergeistigter Weise einen Ochsen zerlegenden Koch im Zhuangzi angelegt ist: die Notwendigkeit langer disziplinierter Übung (gongfu) als Voraussetzung zum Eintritt in eine erleuchtete Sicht der Dinge. Zwar spielte gerade in der auf den Sechsten Patriarchen Huineng (638–713) zurückgehenden Südlichen Schule des Chan die plötzliche Erleuchtung (dun wu) eine zentrale Rolle, doch war diese plötzliche Erleuchtung eigentlich ohne Übung zu erzielen. Denn der plötzliche Durchbruch zur Erleuchtung sollte lediglich die Tatsache widerspiegeln, daß der Mensch (nach zentralen Auffassungen des MahayanaBuddhismus) von vornherein die Buddha-Natur besitzt und durch die Erleuchtung nur zu dieser Erkenntnis erwacht; sie durch Übung zu suchen, sei deshalb so nutzlos wie – so ein beliebtes Bild – auf einem Ochsen zu reiten, um einen Ochsen zu suchen. Doch war dies nur das Ideal. In Wirklichkeit sah es so aus, daß ein langjähriges rigoroses Training in Form von Meditation oder ähnlich hingebungsvoller Suche unumgänglich war, um den Durchbruch zur Erleuchtung zu erfahren. Dieses Bemühen um eine eigentlich »graduelle Erleuchtung« (jian wu) galt als Merkmal der sogenannten Nördlichen Schule des Chan. Von den beiden Schulen wurde die Südliche zwar als höherstehend bewertet152, doch sind sich die Ergebnisse in der Praxis gleich. Interessanterweise führt den Berichten von Chan-Meistern zufolge 151
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S. JAMES J.Y. LIU: Language – Paradox – Poetics. A Chinese Perspective, RICHARD JOHN LYNN (Hg.), Princeton: Princeton UP 1988. Die Unterscheidung diente in der Ming-Zeit Dong Qichang für eine Klassifizierung der Malereigeschichte in eine höherwertige Süd-Schule amateurhafter Literatenmaler gegenüber einer Nord-Schule professioneller Kunsthandwerker.
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Paradox und Dharma
die Erleuchtung – sei sie nun plötzlich oder graduell errungen – wieder zu einer neu gewonnen Natürlichkeit. Einer der Schüler des Sechsten Patriarchen, der Meister Qingyuan (gest. 740), hat dieses Verhältnis in einen berühmt geworden Ausspruch gefaßt: Bevor ich Chan dreißig Jahre studiert hatte, sah ich Berge als Berge und die Wasser als Wasser an. Als ich zu einem tieferen Wissen gelangte, kam ich zu dem Punkt, wo ich sah, daß Berge keine Berge und Wasser keine Wasser sind. Jetzt aber, wo ich seine Substanz begriffen habe, habe ich Ruhe. Einzig deshalb, weil ich Berge erneut als Berge und Wasser erneut als Wasser sehe.153
Die Quintessenz dieser Bemerkung ist, daß die Chan-Praxis mit ihrer intensiven Übung den Adepten zunächst in eine geistige Verunsicherung, wenn nicht sogar existentielle Krise stürzt, in der nichts mehr das Alte ist. Diese langdauernde Phase ist jedoch notwendig für das Erwachen; und dieses führt nicht einfach zu einer neuen Sicht der Wirklichkeit, sondern zu einer neuen Natürlichkeit.
Graduelle und plötzliche Erleuchtung Es gibt nun aus der Song-Zeit eine Fülle an Äußerungen, die das Dichtenlernen sowohl mit der Erleuchtungserfahrung des Chan (die auch Huang Tingjian erlebt haben soll) als auch mit dem Üben im Chan-Buddhismus vergleichen. Sie alle kreisen jedoch mehr oder weniger um den bereits bei Huang Tiangjian herausgearbeiteten paradoxen Kerngedanken der kultivierten Spontaneität (oder im Hinblick auf die Chan-Praxis als Einheit von gradueller und plötzlicher Erleuchtung154) wie z.B. folgende Zeilen aus einem längeren Sieben-Wort-Gedicht von Han Ju: Dichten zu lernen ist genau so, wie wenn man anfängt, Chan zu lernen: Vor der Erleuchtung gilt es, viele Methoden zu berücksichtigen. Eines Tages, wenn erleuchtet und mit dem Dharma-Auge sehend, Wird, der Hand vertrauend, alles, das man nimmt (nian), vollendete Dichtung sein.155
Der Terminus »der Hand vertrauen« (xin shou) drückt hier den Gedanken der eingeübten Natürlichkeit aus: So wie ein begnadeter Violinist nur deshalb gleichsam 153
154 155
Zitiert (aus dem Chuandenglu, 22) nach ALLAN WATTS: The Way of Zen, New Harmondsworth: Penguin 1957, S. 146 (mit chin. Original); vgl. DEBON: Ts'ang-Lang’s Gespräche, S. 32. Zu dieser Unterscheidung hinsichtlich der Dichtungspraxis s. LYNN: »Sudden and Gradual«. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 348; vgl. J.D. SCHMIDT: Yang Wan-li, Boston: Twayne 1978, S. 39; LYNN: »Sudden and Gradual«, S. 394; DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 22.
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DIE SONG-ZEIT
spielend seine Finger über die Saiten gleiten lassen, also der Hand vertrauen kann, weil er über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte ein intensives, methodisches Training absolviert hat, so wird der Dichter auch nur spielend »vollendete Stücke« schreiben können, wenn er jahrelang die Werke der Alten studiert und nach deren Regeln methodisch geübt hat. Insofern läßt sich (mit Richard John Lynn) der chan-buddhistische Terminus »Erleuchtung« auch als »perfekte intuitive Beherrschung des poetischen Mediums« betrachten.156 Ein Sieben-Wort-Vierzeiler von Wu Ke enthält eine ähnliche Botschaft: Dichten zu lernen ist völlig wie das Lernen des Chan: Man muß auf Bambus-Matten und Meditationskissen unzählige Jahre verbringen. Hat man schließlich alles selbständig verstanden, Lassen sich mühelos [Verse] nehmen und alles transzendieren.157
Lü Benzhong (fl. 1110), ein Mitglied der Jiangxi-Gruppe, erörterte ebenfalls diesen zentralen Gedanken, nämlich das Verhältnis zwischen Erleuchtung (wu) und Übung (gongfu), wobei er auf dem Gedanken abhebt, daß die Erleuchtung einen Anlaß bzw. Aufhänger benötigt. Dabei griff er auf eine berühmte Anekdote zurück, die in einem ebenso gefeierten Gedicht von Du Fu überliefert ist, nämlich daß der bereits erwähnte tangzeitliche Kalligraph Zhang Xu seine »künstlerische Erleuchtung« erfahren habe, als er ein junges Mädchen beobachtete, wie sie in vollkommener Weise einen Schwerttanz aufführte: Man braucht [beim Schreiben] einen Anlaß, bei dem die Erleuchtung eintreten kann (wu ru), dann wird man ganz natürlich alle Meister hinter sich lassen können. Das Prinzip des Eintritts der Erleuchtung liegt in der Übung, nämlich darin, ob man fleißig oder faul ist. Als Zhang Xu einmal den Schwerttanz von Gongsun Daniang158 gesehen hatte, erfuhr er eine plötzliche Erleuchtung hinsichtlich seiner Schriftkunst (bifa). Weil Zhang Xu sich mit gesammelter Aufmerksamkeit seiner Kunst widmete und sie keinen Augenblick im Inneren vernachlässigte, konnte er, als er mit der Situation [des Schwerttanzes] konfrontiert wurde, davon 156 157
158
LYNN: »Sudden and Gradual«, S. 394. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 345; vgl. SCHMIDT: Yang Wan-li, S. 40, und R. J. LYNN: »Sudden and Gradual«, S. 395. In GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 345–48, finden sich etwa ein Dutzend vergleichbarer Verse. Viele davon sind von Lynn übersetzt. Die meisten sind in der von Wei Qingzhi zusammengestellten songzeitlichen Anthologie Die Jadesplitter der Dichter (Shiren yuxie) enthalten. Für eine Auswahl aus dieser umfangreichen Anthologie s. die gleichnamige Übersetzung und Studie von KLÖPSCH: Die Jadesplitter der Dichter. Nach einem berühmten Gedicht von Du Fu, »Eine Schülerin von Gongsun Daniang beim Schwerttanz beobachtend« (Guan Gongsun Daniang dizi wu jianqi xing), HAWKES: A Little Primer of Tu Fu, Oxford, S. 188–199; HYSIS, A Concordance to the Poems of Tu Fu, S. 192; V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, II, S. 670.
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Paradox und Dharma [die Erleuchtung] gewinnen und war folglich in der Lage, Göttliches zu schaffen. Doch wenn jemand anderes den Tanz beobachtet hätte – wie hätte der davon profitieren können? Es ist nicht so, daß man dieses Ziel nur mit Schreiben und Lernen erreicht.159
Zwar braucht demzufolge die »Erleuchtung« einen Anlaß, bei dem sie eintreten kann, doch muß dem eine langjährige Übung und geistige Konzentration voraus gehen.
Lebendige Regeln Diese chan-buddhistische Orientierung – zusammen mit der Erkenntnis, daß sich ein unorthodoxer Stil (bian) in einen orthodoxen (zheng) verwandeln und daß Regeln oder Methoden deshalb im Grunde gar nichts Festes, Unwandelbares sein können – schlug sich in einem neuen Schlagwort nieder, welches die paradoxe Forderung einer eingeübten Spontaneität auf den Punkt bringt: »lebendige Regeln« (huo fa). Wir finden diesen Begriff zum ersten Mal bei Lü Benzhong erörtert: Beim Erlernen der Dichtkunst sollte man um die lebendigen Regeln wissen. Mit lebendiger Regel meine ich, daß man die Vorschriften (guiju) zwar völlig beherrscht, über diese jedoch hinausgehen kann, daß man unerschöpfliche Variationen findet und diese doch nicht im Widerspruch zu den Vorschriften stehen. Das ist der »Weg« [der Dichtung]: Er hat feste Regeln und hat sie doch nicht; er hat keine festen Regeln und hat sie doch. Wenn jemand dies versteht, dann kann man mit ihm die lebendige Regel erörtern.160
Lü Benzhongs Ausführungen lassen deutlich werden, daß der Begriff »lebendige Regel« ähnlich wie Huang Tingjians »natürliche Regel« eine typisch paradoxe Formulierung nach chan-buddhistischem bzw. daoistischem Muster ist, die die Gegensätze – das Regelhafte und das Überschreiten von Regeln – in sich zu vereinen sucht. Folgende Bemerkung von Yu Cheng (fl. 1200) weist in die gleiche Richtung, wobei dieser den Unterschied zwischen »lebendigen« und »toten Regeln« hervorhebt: Ein Text muß natürlich eine lebendige Regel besitzen. Wenn einer an den ausgefahrenen Spuren der früheren Dichter hängt und nicht deren Sprache zu verändern weiß, dann nennt man dies tote Regel. Wenn ich nur nachahme, dann hat das, was ich sage, keine Lebendigkeit jenseits des Moments meines Ausdrucks. Wenn da aber eine lebendige Regel ist, wenn man die Technik gebraucht, sich 159
160
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 369. Vgl. KLÖPSCH: Die Jadesplitter der Dichter, S. 94. GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 367; LYNN: »Sudden and Gradual«, S. 392.
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DIE SONG-ZEIT den »Embryo anzueignen« oder die »Knochen auszutauschen«, dann werden die Worte innerhalb meines Ausdrucksbereichs nicht tot sein. Der Tod meiner Worte gebiert meine Worte – das ist die lebendige Regel.161
»Tote Regeln« bedeutet also ein unkreatives Nachahmen der von den »orthodoxen« Meistern überlieferten Schemata. Interessant ist hier, daß Huang Tingjians regelhafte bzw. methodische Empfehlungen, »die Knochen auszutauschen« und »sich den Embryo anzueignen«, als kreative Formen der Imitation, nämlich als »lebendige Regeln« gewertet werden. Diese Ansicht sollte später nicht unwidersprochen bleiben (so von Yang Wanli). In einem Fünf-Wort-Gedicht von Zeng Ji (1084–1166) an Lü Benzhong (mit dem nicht gerade bündigen Titel »Nach dem Lesen eines alten Gedichts von Lü Juren [Lü Benzhong] sehnte ich mich nach ihm, so verfaßte ich dieses Gedicht, um es ihm zu schicken«) wird die von Lü angestoßene Diskussion über »lebendige Regeln« angesprochen: Dichten zu lernen ist wie die Praxis des Chan, Man achte darauf, keine toten Sätze zu bilden. Wenn man voller Schwung und Kraft alles schreiben kann, Dann hat man den Ort der Freude erreicht. Auch ist das Dichten wie das Lernen, ein Unsterblicher (xian) zu werden: Man gibt sich lange Zeit Mühe, ohne daß es etwas bringt. Doch dann sind auf einen Schlag Haare und Knochen ausgetauscht, Man muß nur dafür die Zauberformel aufsagen. Du sprichst von der lebendigen Regel, Deine große Absicht ist, den Menschen Erleuchtung zu bringen. Man hat immer gesagt, daß die Alten Alle diesem Weg gefolgt sind. Doch sprichst Du nicht nur darüber [d.h. die lebendige Regel] – Du hast auch gute Verse gemacht. […] Wie vom Wind geblasene Wolken, Die in jedem Augenblick eine andere Form annehmen; Wie der klare Klang von Zithern und Lauten, In dem alle Wunder enthalten sind.162
161
162
Zitiert nach PALUMBO-LIU: The Literary Theory and Practice of Huang Tingjian, S. 186. S. zu dieser Thematik auch KARL-HEINZ POHL: »›Tote und lebendige Regeln‹. Von der Regelhaftigkeit und Regellosigkeit (nicht nur) in der chinesischen Literatur und Kunst«, in: Zeichen lesen – Lese-Zeichen. Kultursemiotische Vergleiche von Leseweisen in Deutschland und China. SUSANNE GÖSSE, JÜRGEN WERTHEIMER (Hg.): Tübingen: Stauffenberg 1999, S. 141– 171. »Du Lü Juren jiu shi you huai qi ren zuo shi ji zhi«, zitiert nach CHEN: Zhongguo shixue piping shi, S. 364; vgl. LYNN: »Sudden and Gradual«, S. 392f.
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Paradox und Dharma
Dieses Gedicht enthält nicht nur den nun etablierten Vergleich der Dichtung zum Chan-Buddhismus, es ist auch gespickt mit Hinweisen auf andere in diesem Zusammenhang bereits erwähnte Topoi: Dichtung gleicht dem Erlernen der alchimistischen Kunst der Unsterblichkeit bzw. der Kunst des Auswechselns der Haare und Knochen usw. Wir sehen hier also, wie sehr in der Song-Zeit der Diskurs über Dichtung – hier wiederum in Form von Dichtung – sich chan-buddhistischer aber auch daoistisch-alchimistischer Analogien bediente, wobei die Metaphern der buddhistischen (plötzlich oder graduell errungenen) Erleuchtung (wu) und die der durch alchimistische Praktiken erlangten Unsterblichkeit (xian) auf das gleiche hinauslaufen und deshalb in ihrer Bedeutung für die Dichtungspraxis als austauschbar erscheinen.
Kein Dharma Der süd-songzeitliche Dichter Yang Wanli (1127–1206), der bisweilen zur JiangxiGruppe gezählt wird, machte sich als Meister der »lebendigen Regel« einen Namen.163 Von ihm gibt es ein paar Äußerungen, in dem die chan-buddhistische Orientierung des Dichtens am besten erfaßt und gefaßt erscheint. So erörtert er in einem Streitgespräch die bereits durch Zhuangzi bekannte Beziehung zwischen Wort und Ideen/Sinn (yi): »Was ist nun Dichtung?« Darauf antworten manche: »Man schätze Worte (ci), und weiter nichts.« Ich aber sage: »Die gut sind [in der Dichtung], kümmern sich nicht um Worte (qu ci).« »Dann schätze man Ideen (yi), und weiter nichts.« Ich aber sage: »Die gut sind, was Ideen angeht, kümmern sich nicht um Ideen.« »Wenn man sich nicht um Ideen kümmert, gibt es dann noch Dichtung?« Ich aber sage: »Kümmere dich nicht um Worte und kümmere dich nicht um Ideen, und Dichtung wird immer noch da sein.« »Doch wo ist dann noch Dichtung?« Ich aber sage: »Hast du nicht schon einmal Süßigkeiten und Tee gekostet? Gibt es einen, der etwa keine Süßigkeiten mag? Doch dabei verhält es sich so, daß Süßigkeiten zunächst süß, dann aber sauer schmecken. Beim Tee hingegen klagen die Leute, daß er bitter schmeckt. Doch bevor seine Bitterkeit zu Ende ist, ist seine Süße unübertrefflich. So verhält es sich auch mit Dichtung, und weiter nichts.«164
Yang Wanli plädiert dafür, sich weder um Worte noch um Ideen (bzw. den Sinn der Worte) zu sorgen. Sie stellen sich von alleine ein, wenn man nach daoistischem/ chan-buddhistischem Verständnis aufhört, danach zu suchen. Yang Wanlis Ver163
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SCHMIDT: Yang Wan-li, S. 56–77; hier finden sich auch zahlreiche Gedichte unter diesem Aspekt von Schmidt analysiert. »Yi An shigao xu«, GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, II, S. 401; vgl. SCHMIDT: Yang Wan-li, S. 47–48.
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DIE SONG-ZEIT
gleich guter Dichtung mit dem Tee, der zunächst bitter, dann aber süß schmeckt, zielt in die gleiche Richtung: Bei guter Dichtung erkennt man nicht sofort die Bedeutung bzw. sieht nicht die künstlerischen Ideen oder Intentionen; derartige Verse wirken vielmehr unscheinbar und vielleicht sogar nichtssagend. Erst nach längerem »Schmecken« bzw. Lesen und Rezitieren entfalten sie ihre Süße bzw. ihren wahren Geschmack (wei).165 Auch klingen hier wieder die Jenseits-Formulierungen an, die wir bereits von Sikong Tu her kennen (»jenseits des Geschmacks von salzig und sauer« etc.). Von Yang Wanli ist bekannt, daß er sich in seinen jungen Jahren stark an Huang Tingjian und anderen Dichtern der Jiangxi-Gruppe orientierte, im Alter hingegen bzw. nachdem er »Erleuchtung« erfahren hatte, sich von diesem Einfluß lossagte. Insofern ist er auch von all den hier vorgestellten Dichtern der radikalste hinsichtlich der Abkehr bzw. des Transzendierens von Vorbildern, so in folgenden Versen, die erkennen lassen, daß wahre Dichtung nur jenseits von Schulrichtungen und Regeln zu finden ist: Ich schäme mich für die, die Sekten und Schulen anhängen, Denn jeder Dichter hat seinen eigenen Charme. Halte nicht am Zaun von Huang Tingjian und Chen Shidao; Rage lieber hervor am Tor von Tao Yuanming und Xie Lingyun.166
Huang und dessen Schüler Chen gelten hier als die Repräsentanten von sich an Regeln orientierenden Schulen, wohingegen Tao Yuanming und sein Zeitgenosse Xie Lingyun unabhängige Meister darstellen. In einem weiteren Verspaar faßt er den Gedanken, sich von allen Vorbildern zu trennen, in unnachahmlicher Chan-Manier, nämlich in für die damalige Zeit eindeutig zu verstehende Chan-Bilder: Fragst du, was das Dharma/die Regel guter Dichtung ist? Da ist weder Dharma/Regel noch Almosenschale und Mönchsrobe.167
Die Botschaft des Chan ist nämlich: Da ist kein Dharma – keine Regel –, woran man sich festhalten könnte168; folglich gibt es auch nichts, das tradiert werden 165
166
167 168
ZHANG SHAOKANG und LIU SANFU: Zhongguo wenxue lilun piping fazhanshi, Peking: Beijing daxue chubanshe 1995, II, S. 82. »Ba Xu Gongzhong sheng gan shi shi«, zitiert nach CHEN: Zhongguo shixue piping shi, S. 369; vgl. SCHMIDT: Yang Wan-li, S. 44, und LYNN: »Sudden and Gradual«, S. 401. Zitiert in CHEN: Zhongguo shixue piping shi, S. 371; SCHMIDT: Yang Wan-li, S. 45. Der einflußreichen Madhyamika-Schule des Buddhismus zufolge sind alle Dharmas (alle Phänomene der Welt, und so auch die buddhistische Lehre oder höchste Wahrheit) »leer« (kong). D.h., da sie nur durch gegenseitige Abhängigkeit entstanden sind, kommt ihnen keine eigenständige und dauerhafte Präsenz zu. Insofern ist selbst die buddhistische Lehre
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kann. Dies kommt auch und gerade in der Metapher der Almosenschale und Mönchsrobe zum Ausdruck, denn diese Gegenstände waren traditionell die Insignien, mit denen im Buddhismus die orthodoxe Lehre (das Dharma) an die Lieblingsschüler weiter gegeben wurde. Besser, nämlich bildlich-metaphorisch, läßt sich der Gedanke, sich beim Dichten über die dichterischen Vorbilder, die als Verkörperung der wahren Dichtung und somit als regelhafte Anleitung gelten, hinwegzuheben, kaum ausdrücken. Deutete bei Yu Cheng die »lebendige Regel« noch auf ein Dichten nach denjenigen Regeln, die Huang Tingjian mit seiner alchimistischen Metaphorik aufgestellt hatte, so werden diese Vorgaben hier von Yang Wanli eindeutig zurückgelassen. Mit der später noch wirkungsreich werdenden Formulierung »kein Dharma« bzw. »ohne Regel« (wu fa) kehrt Yang Wanli in wahrem Chan-Geist gleichsam respektlos, aber bildhaft einprägsam, der Regel-Diskussion den Rücken. Die Erörterung der Dichtung am Beispiel des Chan ist hiermit nicht zu Ende. Auch sind hier nur einige der vielen in der Song-Zeit aktiven Dichter und Denker zu diesem Thema zu Worte gekommen. So spielt die Chan-Metapher auch eine wichtige Rolle bei dem bedeutendsten und nachwirkungsreichsten Theoretiker der Song-Zeit, bei Yan Yu und dessen im folgenden zu besprechenden Werk Canglangs Gespräche über die Dichtung. Das Thema Chan und Dichtung (und Malerei) wird uns also weiter, bis weit in die Ming- und Qing-Zeit hinein, begleiten.
»leer«, nämlich nur als ein Hilfsmittel zu sehen, das wie ein Floß – so ein beliebtes Bild – zurückgelassen werden kann, wenn der Fluß überquert bzw. Erleuchtung erlangt ist. Siehe auch die Ausführungen zu Fn. 61 und 62 weiter oben (Kap. IV.3) sowie den Abschnitt zum Buddhismus in der Einleitung.
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7. Orthodoxie und Inspiration – Yan Yus Canglangs Gespräche über die Dichtung
Canglangs Gespräche über die Dichtung ist eines der wichtigsten und einflußreichsten poetologischen Traktate in der chinesischen Literaturgeschichte. Neigte die chinesische Literaturbewertung schon immer zu einer rückwärtsgewandten Verklärung ihrer literarischen und kulturellen Größen, so findet diese Tendenz in Canglangs Gesprächen zwar nicht ihren Höhepunkt, doch wurde durch die darin erfolgte Kanonisierung der Tang-Blüte als absoluter Gipfel der Dichtung ein poetischer Archaismus grundgelegt, der dann in der Ming-Zeit – in Anlehnung an dieses Werk – zu voller Entfaltung kommen sollte. Über den aus der Provinz Fujian stammenden Autor Yan Yu ist wenig bekannt. Selbst seine Lebensdaten (ca. 1180 – ca. 1235) sind lediglich Annäherungen. Von ihm sind neben seiner Poetik eine kleine Gedichtsammlung, Bemerkungen zu Gedichten von Li Bai sowie ein Brief an seinen Onkel überliefert.169 Im Titel seiner Poetik steckt ein Teil seines angenommenen Künstlernamens »Der Flüchtige vom Canglang-Fluß« (Canglang buke). Das deutet auf eine Idealisierung eines Lebens in Verborgenheit hin, wobei die Anspielung auf bekannte klassische Quellen dieses noch unterstreicht: Der Canglang-Fluß hat nämlich eine enge Beziehung zu dem von seinem Fürsten verschmähten und deshalb die Verborgenheit suchenden Dichter Qu Yuan, dem Autor des Lisao.170 169
170
Im Deutschen liegt eine vollständige und gründlich annotierte Übersetzung von Canglang shihua vor: DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche über die Dichtung. Auf diese Vorlage wurde bei der eigenen Übersetzung oft zurückgegriffen, ohne dies immer in allen Einzelteilen zu kennzeichnen. Im Englischen gibt es Teilübersetzungen in STEPHEN OWEN: Readings, S. 391– 420, und in den verschiedenen Artikeln von Richard John Lynn (der überhaupt die Autorität in der westlichen Sekundärliteratur zu diesem Thema darstellt) wie »Orthodoxy and Enlightenment«, »The Sudden and the Gradual«, »The Talent Learning Polarity« etc. Nachdem Qu Yuan sein Amt verloren hat, wandert er am Fluß umher, als er einem Fischer begegnet, der ihm auf seine Klage über sein erlittenes Leid mit daoistischen Gedanken antwortet und zur Weltflucht rät. Darauf erwidert Qu Yuan mit einer (ungewöhnlich unbescheidenen) Lobrede auf seinen hohen Charakter und seine Lauterkeit und endet: »Ich habe gehört, ›Wer gerade sein Haar gewaschen hat, soll seinen Hut bürsten; wer gerade gebadet hat, soll seine Kleider ausschütteln‹. Wie könnte ich meine Reinheit dem Schmutz von anderen überlassen. Ich würde mich lieber in den Fluß werfen und im Bauch von Fischen landen, als mein leuchtendes Licht im Dunkeln und Staub der Welt zu verstecken.« Darauf lächelt der Fischer nur leise, paddelt hinweg und singt folgendes Lied: »Sind die Wasser des Canglang rein, / Wasch ich darin die Hutbänder. / Sind die Wasser des Canglang trüb, / Wasch ich darin die Füße.« Das Lied, das auch in Menzius, 4A.8, erscheint, bedeutet, daß ein rechter Mann sich in politisch geordneten Zeiten wohl als Beamter betätigen kann (die Hutbänder sind Zeichen eines Amtes), wohingegen er sich in unruhigen Zeiten eher zurückziehen sollte.
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Orthodoxie und Inspiration
Canglangs Gespräche steht in der zur Zeit der Südlichen Song noch jungen Tradition der shihua (Gespräche über Dichtung), die im Zusammenhang mit Ouyang Xiu, der dazu den Prototyp schuf, bereits erwähnt wurden. Kennzeichen dieses Genres ist ihr loser und unstrukturierter Aufbau; so stellen fast alle shihua eine ungeordnete Ansammlung von kritischen und mitunter durchaus geistreichen Apercus zu Gedichten anderer Poeten dar. Yan Yus Gespräche bilden gegen diesen Trend einen Sonderfall bzw. eine Mischform, und zwar insofern als in den letzten Kapiteln durchaus auch diese Tendenz zu sehen ist, andrerseits finden wir Teile, die im erörternden Stil und in ungewöhnlicher Kohärenz geschrieben sind. Das Werk gliedert sich in fünf Teile. Das erste Kapitel »Erörterung der Dichtung« (shibian) ist das wichtigste und auch dasjenige, welches dem Werk zu seinem Ruhm verholfen hat. Darin finden sich Anleitungen zum Lernen der Dichtkunst, die Vorstellung einer orthodoxen Tradition und ihrer Regeln, die Kanonisierung der Dichtung der Tang-Blüte, eine scharfe Kritik an den zeitgenössischen Tendenzen, insbesondere eine Verurteilung der Jiangxi-Schule und ihres Hauptprotagonisten Huang Tingjian, sowie eine Erörterung der Dichtung in Analogie zum ChanBuddhismus. Das zweite Kapitel »Formen der Dichtung« (shiti) behandelt alle möglichen Stile, Versformen und Periodenstile der Lyrik. Das dritte Kapitel »Regeln für das Dichten« (shifa) enthält Gebote und Verbote, die beim Dichten zu beachten sind, wie z.B. eine Liste von fünf »Grobheiten« bzw. Vulgarismen (su), die es zu vermeiden gilt (nämlich vulgären Stil, vulgäre Ideen, vulgäre Verse, vulgäre Worte und vulgäre Reime). Das vierte Kapitel »Kritik der Dichtung« (shiping) kommt den shihua noch am nächsten; es enthält kritische Anmerkungen zu den Werken vergangener Dichter und stellt die Größe von Li Bai und Du Fu heraus. Das letzte Kapitel »Textuntersuchungen« (kaozheng) weist lediglich philologische Anmerkungen zu einzelnen Gedichten und Sammelwerken auf. Im Zusammenhang der Jiangxi-Schule wurden im letzten Kapitel bereits Ähnlichkeiten zwischen dem Lernen der Dichtkunst und dem Üben im Chan bzw. der Vergleich des Durchbruchs zum spontanen künstlerischen Schaffen mit der buddhistischen Erleuchtung vorgestellt. Diese Analogie zwischen Dichtung und Chan greift Yan Yu auf, erweitert jedoch ihren Zusammenhang beträchtlich. Und diese Analogie ist es, die neben der Kanonisierung der Tang-Blüte-Dichtung das bekannteste, allerdings auch kontroverseste Element seiner Poetik darstellt. Daß dieses Thema im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden haben muß, wird auch erste Kapitel mit diesem (im folgenden als I. 4 numerierten) Teil beginnt.171 Nicht
171
Diese Geschichte ist in dem Stück »Yufu« (Der Fischer) enthalten und somit Teil der Lieder von Chu, sie ist aber auch in Sima Qians Biographie von Qu Yuan überliefert (Shiji, j. 84). S. DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 18, und HAWKES: The Songs of the South, S. 206f. Die Numerierung folgt der heutigen von Guo Shaoyu herausgegebenen Standardausgabe: GUO SHAOYU: Canglang shihua jiaoshi, Peking: Renmin wenxue chubanshe 1983. Guo
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nur das: nach dieser Anordnung würde das ganze Werk sogar mit dem Wort »Chan« beginnen. Insofern soll jener Teil auch am Beginn dieser Analyse stehen: (I. 4) Im Chan-Buddhismus gibt es ein Kleines und ein Großes Fahrzeug, eine Südliche und eine Nördliche Schule sowie einen heterodoxen und einen orthodoxen (zheng) »Weg«. Der Lernende muß dem höchsten Fahrzeug folgen, das wahre Dharma-Auge erlangen und Erleuchtung vom höchsten Grad (diyi yi) erfahren. [...] Eine Erörterung der Dichtung gleicht einer Erörterung des Chan: Die Dichtung der Han-, Wei-, Jin- und Tang-Blüte-Zeit bildet den höchsten Grad; die Dichtung ab der Dali-Periode (766–779, d.h. der Tang-Mitte) stellt das Kleine Fahrzeug des Chan dar und fällt bereits in die Kategorie des zweiten Grades. [...] Wer an der Dichtung der Han-, Wei-, Jin- und Tang-Blüte lernt, der gehört zur Linji-Sekte, und wer an der Dichtung ab der Dali-Periode lernt, gehört zur Caodong-Sekte des Chan. Allgemein gesprochen liegt der Weg des Chan in der wunderbaren Erleuchtung (miao wu), und der Weg der Dichtung liegt ebenfalls in der wunderbaren Erleuchtung. So ist die Gelehrsamkeit des Meng Haoran (689–740) weit geringer als die des Han Yu, jedoch überragt ersterer den letzteren in seiner Dichtung bei weitem; das liegt daran, daß sie von wunderbarer Erleuchtung getragen ist. Nur die Erleuchtung macht den Experten und die Grundfarbe. Es gibt jedoch verschiedene Tiefen und Ausmaße von Erleuchtung: Es gibt die gänzlich durchdrungene Erleuchtung, und es gibt die Erleuchtung, die nur ein teilweises Verständnis vermittelt. Die [Dichter der] Han- und Wei-Zeit stehen am höchsten, denn sie brauchten überhaupt keine Erleuchtung. [In der Zeit danach,] angefangen mit Xie Lingyun bis zu den Meistern der Tang-Blüte, kannten die Dichter die gänzlich durchdrungene Erleuchtung. Obwohl es andere gab, die Erleuchtung erfuhren, war es doch in keinem Fall die vom höchsten Grad.172
Der Hauptunterschied zwischen Yan Yus Erörterung der Dichtung in Analogie zum Chan und den im letzten Kapitel vorgestellten Vergleichen ist der, daß er verschiedene Schulen des Chan (und ihre verschiedenen Erleuchtungsmuster und -wege) mit den historischen Perioden der Dichtung bzw. den jeweiligen Periodenstilen in Beziehung setzt und daraus eine höchste Klasse bzw. Orthodoxie ableitet.
172
Shaoyu hält die in der Anthologie Jadesplitter der Dichter (Shiren yuxie) überlieferte Fassung bzw. deren Anordnung ( Teil I. 1 am Anfang) für die richtige, und inzwischen folgen so gut wie alle modernen chinesischen (und westlichen) Kommentatoren dieser Autorität. (Debons Übersetzung, die noch vor Erscheinen von Guos Ausgabe erarbeitet wurde, weist auf die Diskrepanzen hin, folgt aber dieser Ordnung nicht, sondern der früheren Standardausgabe von HE WENHUAN (Hg): Lidai shihua, Peking: Zhonghua shuju 1981, Bd. II, 685– 708.) Die Begründung liefert Guo zusätzlich in einem Aufsatz, dessen Argumente jedoch nicht hundertprozentig überzeugend sind: GUO SHAOYU: »Shi ce Canglang shihua de benlai mianmao« (Mutmaßungen über das ursprüngliche Aussehen von Canglangs Gesprächen über die Dichtung), in: GUO SHAOYU: Zhaoyushi gudian wenxue lunji, Shanghai: Gudian chubanshe 1983, II, S. 131–139. GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 11f; vgl. DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 57f.
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In diesem Zusammenhang gebraucht er auch die aus dem »Großen Vorwort« bekannten Kategorien »korrekt« (zheng) und »verändert« (bian). Allerdings haben sie hier ihren ursprünglichen Kontext, nämlich ihre mimetische, d.h. die soziale oder politische Wirklichkeit widerspiegelnde Funktion, verloren, und so treten sie in ihrer Bedeutung im Vergleich zur Chan-Analogie zurück.173 Trotzdem scheint Yan Yu seine Thesen mit Bezug auf diese klassische »Korrektheit« untermauern zu wollen. Yan Yu unterscheidet zwischen einem Großen und Kleinen Fahrzeug (die es im Chan selbst gar nicht gegeben hat, wobei die Begriffe jedoch als chinesische Übersetzungen für Mahayana und Hinayana174 bekannte Größen waren), zwischen der Südlichen und Nördlichen Schule mit ihrer jeweils plötzlichen oder graduellen Erleuchtung, zwischen einem orthodoxen und einem heterodoxen Weg und schließlich zwischen der Linji- und Caodong-Sekte des Chan, die zwar beide eigentlich der Südlichen Schule angehören, wovon in der Song-Zeit die Linji-Sekte jedoch zur orthodoxeren Richtung avancierte.175 Diesen klassifizierten Schulrichtungen 173
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S. MAUREEN ROBERTSON: »Periodization in the Arts and Patterns of Change in Traditional Chinese Literary History«, in: BUSH und MURCK: Theories of the Arts in China. Mit dem Mahayana beginnt in der Zeit vom 1. Jh. v. – 2. Jh. n. Chr. eine von Indien ausgehende reformatorische und innovative Bewegung des Buddhismus, die dem Sinn des Wortes Mahayana gemäß (großes Fahrzeug zur Erlösung) allen Lebewesen Erleuchtung anbietet, im Grunde sogar (so im Lotus-Sutra, einer der wichtigsten Mahayana-Schriften) von der universellen Buddhanatur aller Lebewesen ausgeht. Zur Hilfe kommen dem normalen Menschen dabei die sogenannten Bodhisattvas, Wesen, die im Kreislauf der Wiedergeburten eine Stufe der Fast-Vollkommenheit erreicht haben, aber auf das letzte Eingehen ins Nirvana solange verzichten, bis daß alle Lebewesen Erlösung erfahren haben. Zwar ging der Mahayana-Buddhismus von Indien aus, sollte aber erst in China (und von dort auch in Japan und Korea) zur vollen Blüte gelangen. Im Gegensatz dazu ist die ursprüngliche und später abwertend Hinayana (kleines Fahrzeug) genannte Richtung mönchisch-asketisch orientiert, d.h. sie bietet nur dem Erlösung an, der sich selbst (als Arhat, chin. luohan) durch Befolgen des »Achtfachen Pfads« darum bemüht. Inzwischen (bei der buddhistischen Weltkonferenz von 1950) ist die von den betroffenen Schulen als diskriminierend und deshalb politisch nicht mehr korrekt empfundene Bezeichnung »Hinayana« offiziell aus dem Verkehr gezogen worden. Stattdessen spricht man nun von Theravada – der »Lehre der Älteren«. Linji und Caodong sind zwei der sogenannten »Fünf Häuser des Chan« (d.h. MeisterTraditionen), die sich nach der Buddhistenverfolgung am Ende der Tang-Zeit formierten. Die Linji-Schule geht auf den Meister Linji Yixuan (ca. 810–866) zurück. Gestützt auf die Mahayana-Lehre von der universellen Buddhanatur lehnte er das Sitzen in Meditation ab und entwickelte eine Methode, seine Schüler durch Stockschläge, Anbrüllen oder andere Schockbehandlungen zur Erleuchtung zu bringen. Seine Schule lebt in Japan als RinzaiSekte fort. Die Caodong-Schule geht auf die Meister Dongshan Liangjie (807–869) und seinen Schüler Caoshan Benji (840–901) zurück. Der Schulenname ist eine Zusammensetzung aus den ersten beiden Zeichen der beiden. Im Gegensatz zur Linji-Schule, die für ihre rätselhaften und antirationalen Lehrgespräche bekannt wurde, was in die sogenannte gongan-
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des Chan entsprechend konstatiert er unterschiedliche Erleuchtungsgrade, die für poetische Qualitäten und Fähigkeiten der jeweiligen Dichter stehen. Dabei gebraucht er den Begriff Erleuchtung in doppelter Weise176: Einerseits soll er offenbar – historisch – auf einen »naiv«-spontanen Zugang zur Dichtung hinweisen, den er den von ihm kanonisierten Dichtern zuschreibt. Die Poeten der Han- und WeiZeit dichteten in seinen Augen sogar in einem gleichsam »vor-erleuchteten«, unverbildeten »Urzustand« – sie hingen also nicht einmal von der Erleuchtung ab. Andrerseits, im Zusammenhang des Vergleiches zwischen Meng Haoran und Han Yu, kennzeichnet er damit den von ihm idealisierten naturbildhaften Stil der Tang-Blüte, wie er ihn von Meng Haoran am vollkommensten verkörpert sieht – im Gegensatz zu dem eher verkopften, konzeptuellen und prosaischen Stil der mittleren Tang wie bei Han Yu und dessen Gefolgsleuten in der Song. So wird auch Meng Haoran zusammen mit seinem Freund Wang Wei, dem vielleicht buddhistischsten Dichter der Tang-Blüte (dessen Name allerdings kurioserweise im ganzen Text nur zweimal und ganz am Rande fällt), in der Regel einer buddhistischquietistischen Schule zugerechnet. Im nächsten Abschnitt führt Yan Yu aus, welche Qualitäten ein »erleuchteter« Stil der Dichtung besitzen muß. (I. 5) Dichtung besteht aus einem anderen Stoff, sie hat es nämlich nicht mit Büchern (shu) zu tun. Und Dichtung kennt ein anderes Interesse, sie bezieht sich nämlich nicht auf rationale Prinzipien (li). Doch wenn man nicht viele Bücher gelesen und die Prinzipien nicht erforscht hat, so wird man den Gipfel nicht erreichen können. Das, was man »nicht auf der Straße der Prinzipien wandern« und »nicht in die Reuse der Worte fallen« nennt, bleibt das Höchste. Dichtung bedeutet, seinen Gefühlen und seiner Natur (qingxing) Ausdruck zu verleihen. Die [Meister der] Tang-Zeit verweilten allein in der inspirierten Stimmung (xingqu). Sie waren wie Gazellen, die sich des Nachts mit ihren Hörnern in die Bäume hängen, ohne Spuren zu hinterlassen, nach denen man sie fände. Darum sind sie so wunderbar und unfaßbar in ihrer kristallenen Klarheit und Durchlässigkeit – wie ein Klang im leeren Raum, wie das Farbenspiel im Antlitz, wie der
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Praxis (jap.: koan) einging, befürwortet die Caodong-Schule eher eine rationale Argumentationsweise und ein Sitzen in Meditation. Die Praxis der Caodong-Schule lernte der große japanische Zen-Lehrer Dogen (1200–1253) in China kennen und brachte sie nach Japan, wo sie als Soto-Sekte weiterlebt. Zur Entwicklung des Chan s. HEINRICH DUMOULIN: Geschichte des Zen-Buddhismus, 2 Bd., Bern: Franke 1986. Lynn zufolge besitzt der Begriff Erleuchtung für den Bereich der Dichtung zwei Aspekte: einen formalen, nämlich das Erreichen einer vollkommenen intuitiven Kontrolle des künstlerischen Mediums, und einen psychologischen oder spirituellen: das Erreichen eines geistigen Zustands, in welchem künstlerisches Subjekt, Objekt und das Medium der Kommunikation zwischen beiden zu einer Einheit verschmelzen. Beides zusammen zeige sich in einer Praxis, die in ihren vollkommensten Beispielen gleichsam mühelos, spontan und natürlich erscheint. LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment«, S. 219.
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Orthodoxie und Inspiration im Wasser gespiegelte Mond oder wie ein Bild in einem Spiegel: Die Worte haben ein Ende, doch ihre Bedeutung ist unerschöpflich. Die Dichter der gegenwärtigen Zeit machen hingegen merkwürdige Interpretationen; so besteht ihre Dichtung aus Prosa, aus talentierter Gelehrsamkeit und aus argumentativen Diskursen. Zwar ist diese Art von Dichtung nicht kunstlos, doch ist es nicht wie die Dichtung der Alten. [...] Bei Su Shi und Huang Tingjian kam es soweit, daß sie zuerst ihre eigenen Konzepte formten und danach Gedichte schufen. Hier erleben wir eine Veränderung (bian) des Tang-Stils. Huang Tingjians Bemühungen waren besonders wirkungsvoll; im Anschluß an ihn wurde nach den Regeln, die er aufstellte, gedichtet, und man nannte seine Gefolgsleute »Jiangxi-Schule«. [...] Darum habe ich mir angemaßt, Normen für die Dichtung festzulegen. Auch habe ich den Chan-Buddhismus als Analogie benutzt und den Ursprung der Dichtung zur Han- und Wei-Zeit zurückverfolgt. Deshalb sage ich mit aller Bestimmtheit, daß man sich die Dichtung der Tang-Blüte als Maßstab (fa) nehmen soll. Auch wenn ich damit auf Widerspruch bei meinen ehrenwerten Zeitgenossen stoßen sollte, werde ich nichts davon zurücknehmen.177
Dieser Abschnitt enthält die Passagen und Bilder in Yan Yus Traktat, die am wirkungsmächtigsten wurden, wie sein Wort von der »inspirierten Stimmung« (xingqu), aus der heraus die Dichter der Tang-Blüte dichteten. Seine Thesen werden auch am Schluß der Passage mit größtmöglicher Autorität vorgebracht. Die beiden Anfangssätze erkennen der Dichtung eine besondere Qualität zu, und zwar eine, die nicht mit Buchwissen und nicht mit Vernünftigkeit zusammenhängt. Wie etwa diese Qualität beschaffen sein muß, erläutert er mit geläufigen daoistischen Bezügen: Zhuangzis Bild der »Wortreusen« oder eine Paraphrase der aus Zhong Rongs Vorwort bekannten Formulierung, daß die Worte ein Ende haben, die Bedeutung jedoch unerschöpflich sei178. Neu und beeindruckend sind die Bilder, die er aus dem chan-buddhistischen Umfeld anführt: die Gazelle die sich des Nachts mit ihren Hörnern in einen Baum hängt, sodaß man ihre Spur nicht finden kann, der Klang im leeren Raum, das Spiegelbild des Mondes im Wasser etc. All diese Bilder vermitteln erstens eine suggestive, obertonreiche, ungreifbare, hintergründige und indirekte Qualität als höchstes Desiderat der Dichtung, wie wir es von dem Grundelement der »Andeutung« (xing) aus dem »Großen Vorwort« und Sikong Tus »jenseits«-Formulierungen her kennen, und zweitens die Forderung nach einer spur- und mühelosen Kunstfertigkeit: ein Transzendieren von Technik, wie in Zhuangzis Parabel von Koch Ding. Mit diesen Bildern idealisiert Yan Yu allerdings weniger eine daoistisch verstandene natürlich-spontane Kreativität; vielmehr verlangt er von einem Dichter, wie wir noch sehen werden, eine lange Übungspraxis mit entsprechendem Befolgen von Techniken und Regeln. Dieses 177 178
GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 26f; vgl. DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 61f. Bei Zhong Rong heißt es, das Geschriebene (wen) habe ein Ende, und an Bedeutung bleibe noch genügend übrig (you yu); s. Kapitel II.3.
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DIE SONG-ZEIT
Üben soll schließlich zu einer derartig hohen Meisterschaft bzw. Vollkommenheit im Kunstwerk führen, daß die Kunstfertigkeit, die dazu geführt hat, nicht mehr als solche erkannt werden kann. Jede Spur von Technik würde nämlich der ästhetischen Wirkung schaden. Mit diesen Bildern und Thesen steht Yan Yu in einer etablierten Tradition, die in den vorhergehenden Kapiteln – von Kerngedanken einer (im Yijing und Zhuangzi angelegten) daoistischen Ästhetik über Sikong Tu bis zur chan-buddhistischen Metaphorik in der Song-Zeit – vorgestellt wurde. Zwar bemüht er auch andere gängige und seit dem »Großen Vorwort« bekannte Thesen, daß nämlich Dichtung heiße, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, doch seine Botschaft ist nicht die einer expressiven Deutung der Dichtung (und erst recht keine mimetische, also Dichtung verstanden als Widerspiegelung der sozialen Wirklichkeit), sie steht vielmehr im krassen Widerspruch dazu. Stattdessen verlangt er vom Dichter eine quasi-religiöse Versenkung in seine Kunst – das Verweilen in einer »inspirierten Stimmung«, wie die großen Dichter der Tang-Blüte. Darüber hinaus schreibt er einer hohen Dichtung mit Attributen wie »Durchlässigkeit« und »kristallene Klarheit« eine fast mystische Wirkung zu und bescheinigt dem Leser solcher Kunstwerke ein gleichsam erleuchtetes Vergnügen.179 Verwirklicht sieht er all diese Qualitäten in der Dichtung der Tang-Blüte – sie bildet somit die neue Orthodoxie der Dichtung. Das Paradoxe ist allerdings, daß er am Anfang zwar betont, all diese von ihm beschworenen Qualitäten hätten nichts mit Buchgelehrsamkeit oder Vernünftigkeit (li) zu tun, jedoch könne man sein Ziel ohne diese zweifelhaften Tugenden nicht erreichen. So führt er heftige Angriff gegen seine Zeitgenossen, insbesondere gegen die Anhänger der Jiangxi-Schule, in deren prosaischen Gedichten er nichts anderes als Buchwissen und unpoetisch argumentative Diskurse vorgebracht sieht, doch teilt er mit ihnen im Grunde die Methode, durch welche großes Dichtertum erreicht werden soll, nämlich ein rigoroses Bücherstudium. Auch kennt er wie diese ein sich an der Tang-Blüte orientierendes orthodoxes Dharma (fa) der Dichtung. Diese Ähnlichkeiten zu dem von ihm so heftig angegriffenen Huang Tingjian werden – trotz all seiner Abgrenzungsbemühungen – im nächsten Abschnitt (mit dem nach Guo Shaoyu der eigentliche Text beginnt) noch deutlicher, wobei sich auch Yan Yus Vergangenheitsorientierung erweist: (I. 1) Für das Lernen der Dichtkunst ist Kenntnis/Urteilsvermögen (shi) das wichtigste. Man muß auf korrekte (zheng) Weise damit beginnen und nach Hohem streben wollen. Man nehme sich [die Dichter] der Han-, Wei-, Jin- und der Tang-Blüte-Zeit zum Lehrmeister und spiele nicht die Rolle von einem, der nach der Kaiyuan- (713–741) und Tianbao-Periode (742–755, d.h. nach der 179
James Liu spricht deshalb in diesem Zusammenhang von »metaphysischen« Ansätzen in der Dichtungstheorie; s. LIU: Chinese Theories of Literature, S. 16f.
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Orthodoxie und Inspiration Tang-Blüte) lebte. [...] Das Üben (gongfu) muß von oben nach unten und nicht von unten nach oben erfolgen. Zunächst lese man bis zur völligen Vertrautheit die Lieder von Chu; man rezitiere sie von früh bis spät und mache sie zur Grundlage. Sodann lese man bis zur völligen Vertrautheit die »Neunzehn Gedichte im alten Stil«, die [...] Yuefu-Balladen sowie [...] die Fünf-Wort-Gedichte der Hanund Wei-Zeit. Danach studiere man die Sammlungen von Li Bai und Du Fu so lange, bis sie – übereinander gestapelt – sich zum Kopfkissen formen, so wie man versucht, die Klassiker zu beherrschen. Dann erst befasse man sich ausgiebig mit anderen berühmten Dichtern der Tang-Blüte. All dies lasse man in seiner Brust ansammeln und gären. Nach einer Weile wird die Erleuchtung ganz von alleine eintreten. Und selbst wenn man das letzte Ziel des Lernens nicht erreichen sollte, wird man doch nicht den korrekten Pfad verlieren.180
Ähnlich wie die Anhänger der Jiangxi-Schule befürwortet Yan Yu ein hartes Bücherstudium. Nach derartiger Übung (gongfu) würde die dichterische Erleuchtung von allein eintreten, und so stellt sich für Yan Yu der korrekte, orthodoxe Pfad zur Meisterschaft dar. Vergleicht man dieses Üben mit der Praxis des Chan (was dort der Meditation entspräche), stößt man, wie bereits erwähnt, auf gewisse Widersprüche. So hält er die Südliche Schule mit ihrer Lehre von der plötzlichen Erleuchtung (und ihrem eigentlichen Verzicht der Meditationspraxis) für die orthodoxe; doch geht aus obigen Ausführungen, nämlich seiner Betonung des Übens, des Lernens und Bücherstudiums, hervor, daß er von Grund auf ein Gradualist ist, sich eigentlich also als Anhänger der Nördlichen Schule bekennen müßte.181 Ähnlichkeiten zur Praxis des Chan ergeben sich auch aus einer Stelle im dritten Kapitel: (III. 16) Beim Erlernen der Dichtkunst gibt es drei Stadien: Am Anfang kennt man nicht Gut und Schlecht. Werk um Werk, Seite um Seite, so schafft man seine Gedichte. Sodann kennt man Scham und Demut: Ein furchtsames Zögern kommt auf, und beim Schaffen tut man sich äußerst schwer. Ist man aber dann zur Klarheit durchgedrungen, so wird man unabhängig vorgehen und – der Hand vertrauend (xin shou) – das Richtige treffen; so wird alles den rechten Weg gehen.182
Diese Passage erinnert an die im letzten Kapitel von Qingyuan erwähnten drei Stadien beim Erlernen des Chan: von der naiven Natürlichkeit über den Prozeß der Selbstbewußtwerdung hin zu einer neuen Natürlichkeit. Grundlage von Yan Yus Übungspraxis ist zwar ein Befolgen von Regeln, doch keineswegs ein kritikloses Nachahmen, vielmehr erklärt er, wie im ersten Satz (von I. 1) betont, die Kenntnis bzw. das Urteilsvermögen (shi) zum Eckstein seines 180 181 182
GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 1; vgl. DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 59. S. auch LYNN: »Sudden and Gradual«, S. 407. GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 131; vgl. DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 84.
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DIE SONG-ZEIT
dichterischen gongfu. Hier appelliert er also – und im Gegensatz zu seiner sonstigen Vorliebe für daoistisch oder chan-buddhistisch unterlegte unergründliche oder ungreifbare Qualitäten – an kognitive, vernünftige Elemente, die eher der neokonfuzianischen Praxis seiner Zeit entsprechen dürften.183 Man vergleiche zum Beispiel folgende Äußerungen von Zhu Xi zum Thema Kenntnis/Urteilsvermögen: Daß man heutzutage alle möglichen Dinge nicht gut macht, liegt an einem Mangel an Kenntnis/Urteilsvermögen (shi). Nehmen wir einmal die Dichtung: Heute beeilt sich alle Welt, etwas zustande zu bringen, doch schafft keiner ein vollendetes Gedicht. Wenn jemand kein Urteilsvermögen hat, dann nimmt er etwas Schlechtes für etwas Gutes und etwas Gutes für etwas Schlechtes. Das hat auch damit zu tun, daß im Herzen Verwirrung herrscht anstatt einer leeren Stille. Ist man nicht leer und still im Herzen, so hat man keine Klarheit; hat man keine Klarheit, so besitzt man kein Urteilsvermögen. Ist man leer, still und somit auch klar, so kann man die guten Dinge richtig beurteilen. Selbst noch so kunstfertige Handwerker, wenn sie Vorzügliches schaffen, können dies ebenfalls nur, weil sie im Herzen leer sind und die Prinzipien deshalb klar sind; nur so kann das Exquisite gelingen. Herrscht im Herzen Verwirrung, wie läßt sich dann etwas sehen und erreichen?184
Hinsichtlich der Notwendigkeit gründlicher Kenntnis bzw. eines darauf basierenden Urteilsvermögens liegt Yan Yu somit ganz auf neokonfuzianischer Linie. Dieser Spannung zwischen chan-buddhistischer oder daoistischer Rhetorik einerseits und dem neokonfuzianischen Anliegen einer orthodoxen Lese- und Übungspraxis andrerseits begegnen wir in Yan Yus Traktat an vielen Stellen. Mit seinem rigorosen Übungsprogramm geht es Yan Yu um nichts weniger als eine völlige Aneignung der ganzen Tradition. Hier wäre man wiederum geneigt, an Parallelen zu T.S. Eliots moderne Thesen aus seinem bekannten Artikel »Tradition and Individual Talent« zu denken, da dieser nämlich ebenfalls eine vergleichbare Art von Traditionsaneignung von einem Dichter verlangt. Im Unterschied zu Eliot, der Kreativität und Innovation aus vollem Bewußtsein der Vergangenheit bzw. aus einer Traditionsvergegenwärtigung im Sinn hat, geht es Yan Yu allerdings ganz um ein Dichten im Stil der Alten. Folgende Stelle unterstreicht die anfangs erwähnte archaistische Grundtendenz seines Traktats: (III. 19) Man braucht gar nicht darüber zu argumentieren, ob ein Gedicht gut oder schlecht sei. Man setze einfach zur Probe seine Gedichte unter die der Alten. Wenn ein Kenner keinen Unterschied feststellen kann, dann ist man selbst wahrhaft wie einer der Alten.185 183
184 185
Ähnliche Thesen und Spannungen werden uns erst wieder in der Qing-Zeit, insbesondere bei Ye Xie, begegnen. ZHU: Zhuzi yulei, Bd. 8, j. 139, S. 3333. GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 138; vgl. DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 85.
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Orthodoxie und Inspiration
Es gibt nur wenige andere Stellen in Canglangs Gesprächen, die von einer allgemeinen bzw. ästhetischen Warte gesehen für uns heute noch interessant erscheinen. Dazu gehören Teile von Kapitel I, die ähnlich wie Kapitel III (»Regeln der Dichtung«) technische Aspekte hervorheben. Die ersten davon heißen sogar »Regeln der Dichtung«, und man mag sich darüber wundern, daß sie nicht im gleichlautenden Kapitel III aufgeführt werden. Überhaupt wirken die folgenden beiden Abschnitte mit ihrer Auflistungsstruktur wie ein Fremdkörper im ansonsten erörternden Kapitel I: (I. 2) Es gibt fünf Regeln (fa) der Dichtung: 1. formale Struktur (tizhi), 2. stilistische Kraft (geli), 3. geistiger Ausdruck (qixiang), 4. inspirierte Stimmung (xingqu), 5. musikalischer Rhythmus (yinjie).186 (I. 3) Es gibt neun Qualitäten (pin) der Dichtung: 1. hoch, 2. altertümlich, 3. tief, 4. weit, 5. groß, 6. mächtig-umfassend, 7. schwebend-enthoben, 8. traurig-fest, 9. kühl-anmutig. Es gibt drei technische Bereiche, auf die man achten muß: 1. den Anfang und das Ende [eines Gedichtes], 2. syntaktische Regeln sowie 3. »WortAugen« (wirkungsvolle Zeichen auf besonderen Positionen im Vers). Es gibt zwei allgemeine Muster: 1. fließend-ungezwungen oder 2. konzentriert-intensiv. Einen Gipfelpunkt gibt es in der Dichtung: Eingehen ins Spirituelle (ru shen). Wenn die Dichtung diese Qualität des Eingehens ins Spirituelle erreicht, so ist das das Höchste, es ist das Perfekte; nichts ist dem noch hinzuzufügen. Nur Li Bai und Du Fu haben dies erreicht; andere erlangten es nur in unvollkommener Weise.187
Die fünf Regeln klingen vage, doch läßt sich das Wesentliche wohl herausfiltern. So sind für ein literarisches Kunstwerk wie ein Gedicht folgende Aspekte wichtig: Form, (persönlicher) Stil, geistige (Ausdrucks-) Kraft, Inspiriertheit und musikalischer Wohlklang. Diese fünf Regeln besitzen eine gewisse Ähnlichkeit zu Kategorien, wie sie Liu Xie (bisweilen auch in seinen Kapitelüberschriften) geprägt hat, allerdings hatte dieser noch zu den einzelnen Begriffen ganze Kapitel geschrieben. Hier werden sie hingegen nur kommentarlos aufgelistet; in dieser unverschnörkelten (und unbefriedigenden) Nüchternheit erinnern sie eher an den Stil der Regelpoetik von Jiaoran. Das gilt insbesondere für die sich anschließenden neun Qualitäten (pin)188. Derartige Qualitäten – oder vielleicht besser Stimmungen – finden wir ebenfalls zum ersten Mal und in aller Kürze bei Jiaoran definiert, bevor Sikong Tu diese Liste auf vierundzwanzig erweitert, die Begriffe jeweils als Komposita setzt (wie 186 187 188
GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 7; vgl. DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 60. GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 7–8; vgl. DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 60f. Die Anzahl neun ist wohl dem gleichlautendem neunstufigem Beamtensystem (jiu pin) nachempfunden.
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DIE SONG-ZEIT
oben bei Yan Yu die Qualitäten 6 – 9) und über sie Gedichte verfaßt. Die darauf folgenden drei Bereiche gelten technischen Aspekten, die relativ klar sind, wie die Wichtigkeit, in einem Gedicht gut anzufangen und gut zu enden, das Beachten syntaktischer Regeln sowie schließlich ein besonderes Augenmerk für die Wortwahl bei zentralen Stellen im Vers (»Augen«)189. Die anschließenden zwei Muster erscheinen als Alternativen im Stil bzw. im kreativen Zugang, wie sie am besten und in antithetischer Weise Li Bai und Du Fu verkörpern: Li Bai steht für den »fließend-ungezwungenen« und Du Fu für den »konzentriert-intensiven« Stil.190 Die Abfolge in der Liste von zuerst neun, dann drei und nun zwei Elementen gipfelt schließlich eindrucksvoll in einem, letztem und höchstem: dem Eingehen ins Spirituelle (ru shen). Allerdings ist dieser Gipfel nur den zwei Größten, Li Bai und Du Fu, vorbehalten. Über diese höchste Qualität eines Kunstwerks ist in den letzten Kapiteln im Zusammenhang mit Huang Tingjian bereits einiges gesagt worden. Daran sehen wir allerdings auch wieder, daß in ihrer Zielsetzung, in ihrer Kanonisierung von bestimmten Dichtern und Perioden, ja sogar in ihrer Wortwahl, Yan Yu und Huang Tingjian viel miteinander gemein haben. Im Zusammenhang mit Li Bai und Du Fu sei auch wieder an die Widersprüchlichkeit in Yan Yus Analogie erinnert, daß gerade diese beiden Dichtergrößen – im Gegensatz zu Meng Haoran oder Wang Wei – überhaupt nicht von einer chan-buddhistischen Ästhetik im eigentlichen Sinne geprägt sind. Im vierten Kapitel seines Traktats reiht Yan Yu noch einmal ein paar wesentliche Elemente der Dichtung auf und setzt sie zu seiner Abfolge von Periodenstilen in Beziehung: (IV. 9) In einem Gedicht gibt es Diktion (ci), Vernunft (li), Ideen (yi) und Inspiration (xing). Die Dichter der Südlichen Dynastien (420–587) waren stark in Diktion, aber schwach in Vernunft. Die Dichter unserer Zeit sind gut in Vernunft doch schwach in Ideen und Inspiration. Doch die Dichter der Tang waren stark in Ideen und Inspiration, und Vernunft war einfach teil davon. In der Dichtung der Han- und Wei-Zeit sind Diktion, Vernunft, Ideen und Inspiration vorhanden, doch ohne Spur, daß man sie fände.191
Wie schon in seinem Kapitel I. 4 zu sehen, betrachtet Yan Yu die Dichtung der Han- und Wei-Zeit als die vollkommenste: Hier sind alle vier Elemente – Diktion, Vernunft, Ideen und Inspiration – anzutreffen, dazu noch in der von ihm idealisierten Weise: spurlos und natürlich-unverbildet, ohne erkennbare Zeichen bewußter Kunstfertigkeit – Dichtung gleichsam in ihrem von der Kultur noch unverdorbenen Naturzustand. Die Dichtung der südlichen Dynastien degeneriert dagegen (in 189 190
191
S. Kap. IV.5, Fußnote 130. S. zu diesen Begriffen den ausführlichen Kommentar bei DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 54–55, der Guo Shaoyus Erläuterungen übersetzt. GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 148; DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 86f.
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Orthodoxie und Inspiration
Übereinstimmung mit gängigen Einschätzungen) zu einer bloßen Beschäftigung mit schöner Diktion. Die Tang-Lyrik zeigt wiederum innere Qualitäten: Ideen und Inspiration sind ihre Vorzüge, dabei ist Vernunft/Logik ein unbewußt selbstverständlicher Teil ihrer Dichtung. Die Lyrik der Song isoliert erst das Element Vernunft, womit Yan Yu die prosaische, diskursive und argumentative Seite ihrer Dichtung im Visier hat. Leider kommt hier hinsichtlich der genannten vier Elemente deren Erläuterung, die für sich gesehen durchaus ihren Sinn und Reiz hätte, zu kurz; stattdessen werden die vier Elemente lediglich unkommentiert in den Dienst einer vergangenheitsverklärenden Sicht der Dichtung gestellt. *** Wie an manchen Stellen bereits deutlich wurde, ist Yan Yus Chan-Analogie nicht frei von Ambivalenzen und Widersprüchen. Daß sein Vergleich zwischen Dichtung und Chan hinkt bzw. daß er von einem möglicherweise falschen Verständnis des Chan ausgeht, ist von zahlreichen Kommentatoren immer wieder aufgezeigt worden.192 So entspricht sein Klassizismus bzw. seine Festlegung auf eine Epoche oder einen Periodenstil als orthodoxe Richtung überhaupt nicht dem Geist des Chan; dem war Yang Wanli nur etwa ein halbes Jahrhundert zuvor durchaus näher gekommen, als er davon sprach, daß es für die Dichtung überhaupt kein Dharma/ Regel gebe. Auch hält er die Gedichte von Li Bai und Du Fu, die ein durchaus anderes und sicherlich weltlicheres Gepräge als die Werke von Meng Haoran besitzen, jedenfalls nicht mit naturhafter Dichtung und chan-buddhistischer Geisteshaltung in Verbindung gebracht werden können, für das Größte. Hier zeigen sich also eine ganze Reihe von Widersprüchen, die in der Tat seine Analogie als mißglückt erscheinen lassen.193 Insofern ist auch Richard John Lynn zuzustimmen, wenn er die Chan-Metaphorik bei Yan Yu für eigentlich aufgesetzt hält und die Argumentationsweise, insbesondere die Festlegung einer klassischen Orthodoxie, eher neokonfuzianisch motiviert sieht. Gleichwohl hat Yan Yus Chan-Metapher ihre Wirkung nicht verfehlt, ganz abgesehen davon, daß sie offenbar dem Zeitgeist entsprach. 192 193
Zu diesen Kritiken s. auch DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 30–41. Nach Lynn sind in Yan Yus Chan-Analogie drei Dimension zu beachten: eine organisatorische, eine pragmatische (operational) und eine substantielle. In ersterem Fall bedeutet die Analogie, daß die Wahrheit des Chan und die der Dichtung in vergleichbarer Weise »organisiert« sind: Beide besitzen Regeln/Dharma (fa), welche es zu assimilieren und internalisieren gilt. Gleichzeitig hängt die Vermittlung dieses Dharmas von einer Abfolge erleuchteter Meister bzw. Patriarchen ab. Im zweiten Fall will die Analogie sagen, daß in der Praxis Chan und Dichtung in vergleichbarer Weise erlernt werden: In beiden Fällen spielt Übung und »Erleuchtung« eine Rolle, wenn auch deren Inhalte verschieden sind. In substantieller Sicht, schließlich, bedeutet die Analogie, daß die Wahrheit (Erleuchtung) des Chan und die der Dichtung durchaus ähnlich sind. LYNN: »The Talent Learning Polarity«, S. 405.
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DIE SONG-ZEIT
Yan Yu selbst hielt seine Chan-Analogie für das größte und innovativste Element seiner Poetik. So zeigt er in dem anfangs erwähnten Brief an seinen Onkel durchaus keine Bescheidenheit, wenn er schreibt: Was den Vergleich der Dichtung mit dem Chan angeht, so ist keiner der Sache näher gekommen. Dies ist etwas, das ich selbst geprüft und selbst verstanden habe, ein unbekanntes Stück Land, das ich selbst und ganz allein eröffnet habe. Nichts davon ist hinter den Hecken von anderen gestohlen oder als Speichel von anderen aufgeleckt. Wenn Li Bai und Du Fu wieder zum Leben erweckt würden, sie würden kein Wort davon ändern wollen.194
Doch wie bereits im letzten Kapitel deutlich wurde, war die Chan-Analogie ein längst etablierter Teil des damaligen literarischen Diskurses. Zwar hat Yan Yu diesem Vergleich eigene Akzente verliehen, so hat er ihn historisch um die Periodenstile erweitert sowie eindrucksvolle Chan-Bilder für die von ihm gepriesenen Qualitäten eingeführt; doch stellte die Chan-Analogie selbst zu seiner Zeit nichts neues dar, um nicht zu sagen, sie war bereits ein alter Hut.195 So hat Guo Shaoyu, der den Ursprüngen aller Chan-Referenzen in Yan Yus Werk minutiös nachgegangen ist, auch die Vermessenheit dieser Selbsteinschätzung hervorgehoben196. Auch gibt es Stimmen, die seinen »theoretisch« vorgebrachten Anspruch an der Wirklichkeit seiner eigenen Dichtung messen und dabei zu ernüchternden Ergebnissen kommen wie: »Wenn wir Yan Yus Dichtung lesen, sehen wir, daß er nicht in der Lage war, seiner eigenen Theorie zu folgen.«197 Gleichwohl war die von Yan Yu ausgegangene Wirkung beträchtlich. Wir sahen zwar, daß er mit seinen Kernaussagen ganz in der Tradition der von Sikong Tu begonnenen, die unfaßbaren, unerklärlichen, ja fast mystischen Qualitäten betonenden Dichtungsdeutung steht, doch wirkten seine in chan-buddhistisches Vokabular gepackten Bilder durchaus innovativ und bereichernd auf die nun folgenden Epochen. So meinte Wang Shizhen (1634–1711), der mit seiner noch zu besprechenden shenyun-Theorie sich ganz stark auf Yan Yu beziehen wird: Yan Canglang hebt bei seiner Erörterung der Dichtung vor allem die beiden Worte »Wunderbare Erleuchtung« hervor. Mit seinen Formulierungen »Nicht 194 195
196 197
GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 251. GUO SHAOYU: »Canglang shi hua yiqian shi-chan shuo« (Zur Beziehung zwischen Dichtung und Chan vor Canglangs Gesprächen über die Dichtkunst), in: GUO: Zhaoyushi gudian wenxue lunji, I, S. 192–217. S. ZHOU YUKAI: Zhongguo chanzong yu shige, Shanghai: Renmin chubanshe 1992, S. 270ff, SUN CHANGWU: Fojiao yu Zhongguo wenxue, Shanghai: Renmin chubanshe 1983, S. 355ff, und SUN CHANGWU: Chansi yu shiqing, Peking: Zhonghua shuju 1997. GUO: Canglang shihua jiaoshi, S. 256. ZHANG JIAN: Canglang shihua yanjiu, Taipei 1966, S. 11, zitiert nach OWEN: Readings, S. 394.
292
Orthodoxie und Inspiration auf der Straße der Vernunft einherstampfen«, »nicht in die Reusen der Worte fallen« und weiter: »die Gestalt im Spiegel«, »der Mond im Wasser«, »die Gazelle, die sich an den Hörnern aufhängt, ohne Spur, daß man sie suchen könnte« usw. usw. – mit alldem enthüllt er ein Geheimnis, das die Früheren noch nicht enthüllt hatten.198
Diese hohe Meinung sei hier nur stellvertretend für viele genannt. Jedenfalls wurde es nach Yan Yu Mode, Dichtung in den Begriffen »Erleuchtung« (wu) und »Dharma/Regel« (fa), »Talent« (cai) und »Lernen« (xue) oder Südliche und Nördliche Schule zu diskutieren, vom üppigen Gebrauch seiner Chan-Bilder ganz zu schweigen. Neben seiner in Anlehnung an den Chan-Buddhismus erfolgten Beschwörung der geheimnisvoll unergründlichen Qualitäten der Dichtung, um nicht zu sagen ihrer Mystifizierung, war es jedoch die Kanonisierung der Tang-Blüte und die Verurteilung der Dichtung der Song-Zeit, die am stärksten nachwirken sollten. Insofern haben wir in Yan Yu den Begründer einer Bewegung in der Dichtung, die auf Chinesisch als fugu (»zurück zum Altertum«) bezeichnet wird und die wir im Zusammenhang mit Chen Zi'ang und Han Yu Archaismus genannt haben. Für diese Bewegung, die sich in der Ming-Zeit zu einer erdrückenden Orthodoxie weiterentwickelte, sollte Yan Yu nicht nur zum Vordenker, sondern zum Hauptbezugspunkt werden.
198
HU CAIFU: Canglang shihua jianzhu, Shanghai 1937, S. 23, zitiert nach DEBON: Ts'ang-lang’s Gespräche, S. 11.
293
Teil V
Die Ming-Zeit (1368–1644)
1. Regel und Erleuchtung – Archaismus der Ming-Zeit
Die Ming-Zeit (1368–1644) ist eine Epoche nationaler Konsolidierung nach einer Zeit der Fremdherrschaft durch die mongolische Yuan-Dynastie. Politisch herrschte, insbesondere unter ihrem Gründer Zhu Yuanzhang (der unter der Devise Hongwu von 1368–1398 regierte), ein repressives Klima. Obwohl ihm durch die Beseitigung der verhaßten Mongolenherrschaft durchaus Verdienste zukamen, gilt Zhu Yuanzhang als einer der ärgsten Despoten in der chinesischen Geschichte. Insgesamt gesehen knüpft die Ming jedoch an die zivilisatorischen Errungenschaften der Song-Zeit an. So erleben wir das weitere Blühen einer städtischen Kultur, einhergehend mit Neuerungen auf dem Gebiet der Literatur, nämlich dem Aufkommen einer Erzählliteratur in der Umgangssprache. Die Ming-Zeit brachte vier große Romane1 hervor, deren Autorschaft allerdings zweifelhaft ist und deren literarischer Wert seinerzeit nur am Rande Gegenstand ästhetischer Erwägungen und Erörterungen bildete2 (weshalb sie in dieser Darstellung auch unberücksichtigt bleiben werden). Damals aufgrund ihrer »niederen« sprachlichen Qualität kaum beachtet (sie waren in der Umgangssprache verfaßt), werden diese Romane heute als Meilensteine einer autochthonen Erzähltradition gefeiert. Nachdem in der vorangegangenen Yuan-Zeit Marco Polos (in der Wissenschaft umstrittene) Reise nach China einen ersten Kontakt zwischen China und Europa hergestellt hatte, fand in der späten Ming-Zeit der Austausch zwischen beiden Kulturen im Zuge der Jesuitenmission einen frühen Höhepunkt. Aufgrund ihres Bemühens um Anpassung der christlichen Lehre an chinesische Verhältnisse und um Verständnis der geistigen Traditionen Chinas – bei gleichzeitiger Vermittlung europäischen Wissens an die Chinesen – lassen sich Matteo Ricci (1552–1610) und seine jesuitischen Mitbrüder als Pioniere eines interkulturellen Austauschs verstehen. Auch standen sie mit einigen wichtigen (und auch hier zu behandelnden) chinesischen Zeitgenossen in Verbindung. Vor dem Eintreffen der westlichen Missionare am Ende des 16. Jahrhunderts markieren neue Entwicklungen in der Philosophie das intellektuelle Klima der Epoche, nämlich im Neokonfuzianismus. Zwar galt während der Ming-Zeit zum 1
2
WU CHENG'EN (zugeschrieben; ca. 1506 – ca. 1582): Xiyou ji (Die Reise nach dem Westen); LUO GUANZHONG (zugeschrieben; ca. 1330 –1400): Sanguozhi yanyi (Geschichte der Drei Reiche); Jinpingmei (Pflaumenblüte in goldener Vase); Shuihu zhuan (Überlieferung aus den Sumpfgebieten bzw. bekannt in deutscher Übersetzung als Die Räuber vom Liangshan Moor). S. SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 422ff. So z.B. die Kommentare von Jin Shengtan (1610–1661); s. JOHN C.Y. WANG: Chin Sheng-t'an, New York: Twayne 1972. S. auch DAVID L. ROLSTON (Hg.): How to Read the Chinese Novel, Princeton: Princeton UP 1990.
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DIE MING-ZEIT
weitaus größten Teil die neokonfuzianische Orthodoxie, die mit Zhu Xi in der südlichen Song-Zeit begann, doch finden wir in dieser Periode mit Wang Shouren (1472–1528), besser bekannt unter dem Literatennamen Wang Yangming, einen ganz wichtigen Neuerer. Im mingzeitlichen Neokonfuzianismus wirkte sich der Einfluß des Mahayana-Buddhismus noch stärker aus als zuvor in der Song-Zeit. So erleben wir eine Abkehr von der rationalen Erfassung der äußeren Welt und eine Hinwendung zur inneren (moralischen) Welt des Menschen. Demnach gibt es keine abstrakten Ideen/Prinzipien (li) außerhalb des menschlichen Geistes/Herzens (xin): die Prinzipien sind im Geist, sie sind sogar identisch mit ihm (xin ji li). Unter Berufung auf zentrale Gedanken von Menzius sah Wang Yangming im Geist/Herz das Zentrum der Moralität des Menschen (anstatt, wie die SongPhilosophen behaupteten, in der vom Himmel stammenden menschlichen Wesensnatur, xing, die identisch mit den Prinzipien sei: xing ji li). Dieser Geist besitze die intuitive Fähigkeit der Erkenntnis des Guten (liangzhi). Wichtig wurde deshalb, wie im Buddhismus, die Arbeit am Geist z.B. durch Meditation. Aufgrund der konfuzianisch gegründeten moralischen Ausrichtung wurde jedoch die daraus resultierende Erleuchtung als moralische Erleuchtung und als spontane Einheit von Wissen und Handeln (zhi xing he yi) verstanden. Wie im Chan-Buddhismus, für den der Mensch schon von Anfang an mit der Buddhanatur versehen ist, tragen für Wang Yangming alle Menschen die Wesensanlagen von Yao und Shun, d.h. von konfuzianischen Weisen/Heiligen, in sich.3 Wangs Lehre sollte sich zwar erst am Ende der Ming-Zeit in größerem Maße auswirken, doch beobachten wir quer durch die Ming-Periode – auch in der Literaturkritik – ein besonderes Interesse am menschlichen Geist/Herzen. Im Bereich der Literatur wurde in der Ming-Zeit die in der Song-Dynastie begonnene Diskussion um Regeln fortgesetzt und im wesentlichen zwischen zwei Strömungen ausgetragen: einer dominanten, allerdings durchaus differenziert zu betrachtenden archaistischen Bewegung (fugu: »zurück zum Altertum«) – sie hielt an der orthodoxen Überlieferung (am Korrekten, zheng) fest und verteidigte deren Regeln – und einer Gegenbewegung von heterodoxen, »nonkonformistischen« Literaten.4 Gleichwohl werden wir sehen, daß die Grenze zwischen beiden Lagern alles andere als klar markiert ist. Insbesondere die ersten beiden Jahrhunderte der Ming-Zeit gelten als die Epoche des Archaismus. In der Dichtung orientierte man sich nicht mehr nur an der TangZeit, man war fixiert auf sie. Die archaistische Bewegung gründete einerseits auf 3
4
Zu Wang Yangming s. u.a. WING-TSIT CHAN (Übers.): Instructions for Practical Living and Other Neo-Confucian Writings by Wang Yang-ming, New York: Columbia UP o. D.; LUTHER GOODRICH (Hg.): Dictionary of Ming Biography. 1368 – 1644, New York, Columbia UP 1976, Vol. 1, S. 1408–1416. S. RICHARD JOHN LYNN: »Alternate Routes to Self-Realization in Ming Theories of Poetry«, in: BUSH und MURCK: Theories of the Arts in China, S. 317–340.
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Regel und Erleuchtung – Archaismus der Ming-Zeit
Yan Yus wichtigem literaturtheoretischem Werk Canglangs Gespräche über die Dichtung aus der Südlichen Song-Zeit, andrerseits auf der früh-mingzeitlichen Gedichtanthologie Kommentierte Auswahl von Tanggedichten (Tangshi pinhui) des Gao Bing (1350–1423), welche die enthaltenen Gedichte nach unterschiedlichen Graden der »Korrektheit« (zheng) und »Veränderung« (bian) – mitunter sogar »korrekter Veränderung« (zheng bian, z.B. bei Han Yu) – klassifizierte5 und so eine Reihe von empfehlenswerten Vorgaben lieferte. Die archaistische Bewegung kulminierte mit den sogenannten Früheren und Späteren Sieben Meistern der Ming. Im folgenden sollen die wichtigsten Vertreter der Früheren und Späteren Sieben Meister sowie deren Vorläufer (Li Dongyang) und ein Nachfolger gegen Ende der Ming (Hu Yinglin) einerseits chronologisch, andrerseits nach ihren Hauptthemen geordnet (Regeln, Erleuchtung, Ideen, etc.) vorgestellt werden.
1.1 Imitation und Intuition – Die Früheren Sieben Meister Li Dongyang Der geistige Ziehvater der Früheren Sieben Meister, insbesondere von deren Führer Li Mengyang, war Li Dongyang (1447–1516). Doch finden wir bei ihm noch eine deutlich andere Position als bei seinen Nachfolgern. Angesichts eines relativ sterilen Dichtungsstils während des 15. Jahrhunderts, der dadurch, daß ihn wichtige hohe Beamte aus der Regierung pflegten, »Kabinett-Stil« (taigeti) genannt wurde, betonte Li Dongyang Natürlichkeit des Ausdrucks, gleichzeitig aber auch Beherrschung der Kunst und Technik, z.B. von Rhythmus und Melodik. In der shi-Dichtung blieb er ganz an Yan Yus Thesen ausgerichtet, d.h., er zog die shi-Gedichte der Tang denen der Song-Zeit vor. Auf das Thema Regeln geht er im Zusammenhang mit der Forderung nach Natürlichkeit wiederholt ein: Die Menschen der Tang-Zeit sprachen nicht von Regeln der Dichtung. Die meisten dieser Regeln kamen aus der Song-Zeit, doch den Menschen der Song gelang es nicht, diese in der Dichtung einzuhalten. Die sogenannten Regeln gelten Feinheiten, welche einzelne Zeichen und Sätze betreffen, sowie der Kunstfertigkeit, Parallelismen zu verwenden und einen gedrechselten Stil zu schreiben. Doch will man Natürlichkeit und inspiriertes Interesse (tianzhen xingzhi) [in der Dichtung], dann braucht man nicht über diese Dinge zu sprechen.6 5
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GAO BING: Tangshi pinhui, Shanghai: Guji chubanshe 1982 (Nachdruck einer mingzeitlichen Ausgabe); Übersetzung der verschiedenen Vorworte und Kapiteleinführungen in: RICHARD JOHN LYNN: »The Canon of Tang Poetry: Gao Bing’s Tangshi pinhui«, unveröffentlichtes Manuskript. S. auch LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment«, S. 226, sowie LYNN: »Alternate Routes«, S. 322. »(Huai) Lutang shihua«, in: CHEN: Zhongguo lidai shixue lunzhu xuan, S. 625. Zu Li Dongyang s. GOODRICH: Dictionary of Ming Biography, Vol. 1, S. 877–881.
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»Inspiriertes Interesse« und Regelhaftigkeit scheinen sich demnach in der Dichtung gegenseitig auszuschließen. Allerdings geht Li Dongyang durchaus von der Notwendigkeit der Regeln aus, betont jedoch auch den Spielraum, den diese lassen: Das Regelgedicht hat [die gesetzmäßige Abfolge von] Anfang, Übernahme, Wende, Zusammenführung (qi, cheng, zhuan, he). Hält man sich nicht daran, so ist das Gedicht nicht regelhaft; doch darf man sich auch nicht daran klammern. Hält man sich beim Dichten starr an diese Regeln, so führt dies zu einem mühsamen Umgang mit dem Gegenstand. Das Resultat mag dann wohl geordnet sein, doch vermittelt es keine Idee von Lebendigkeit. Man muß die Regeln zwar als fest betrachten, doch sollte man gleichzeitig zwanglos mit dem Spielraum, den sie bieten, umgehen. So fließen [die Worte beim Dichten] mal über und schlagen Wellen, mal gibt es Veränderung, wodurch der Reiz des Merkwürdigen entsteht. Und so besitzt das Resultat eine wunderbare Natürlichkeit, die sich jedoch nicht erzwingen läßt.7
In dieser differenzierten Einschätzung knüpft Li Dongyang an den Topos »lebendige Regeln« an, der in der Song-Zeit bereits aufkam und der in der Qing noch eine Rolle spielen sollte. Li Dongyang erörtert auch das Thema »Ideen« (yi) in der Dichtung, das für die »Späteren Sieben Meistern« noch wichtiger werden und in anderem Zusammenhang ausführlicher zu besprechen sein wird. In folgender Passage betont er, daß in der Dichtung inhaltliche Aspekte gegenüber formalen zwar Vorrang haben, daß jedoch die Form auch den Inhalt (bzw. die Idee) des Gedichts in derartiger Weise zu vermitteln habe, daß gerade aufgrund des Zusammenklangs der beiden eine unwiderstehliche Wirkung entsteht: Beim Dichten darf man nicht die Ideen an der Diktion ausrichten, sondern muß mittels der Worte Ideen vermitteln. Wenn die Worte die Ideen vermitteln können, dann läßt sich [das Gedicht] singen und rezitieren, und dann wird es auch weiter überliefert.8
Eine besondere Präferenz hatte Li für den Balladen-Stil; so ist eine Sammlung von yuefu-Gedichten »im Stil des Altertums« (nigu) von ihm bekannt. In folgender Textstelle wird der Zusammenhang von natürlichem Ausdruck und Beherrschung der Technik betont; daneben klingt auch seine Vorliebe für die Ballade an: Das Gedicht im alten Stil und das Regelgedicht haben je einen eigenen Rhythmus, der jedoch wegen der Beschränkung der Zahl der Zeichen [pro Zeile] nicht 7 8
Ebd., S. 627–28. Ebd., S. 625f. Das Beispiel, das er im folgenden für diese Art von erfolgreicher Dichtung anführt, ist die Zeile »[Jenseits] des Yang-Passes gibt es keine alten Freunde mehr« aus Wang Weis bekanntem yuefu-Vierzeiler »Weicheng qu«; s. zu diesem Gedicht KUBIN: Die chinesische Dichtkunst, S. 180f. KLÖPSCH: Der seidene Faden, S. 83.
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Regel und Erleuchtung – Archaismus der Ming-Zeit schwer zu finden ist. Nur die yuefu-Ballade hat lange und kurze Sätze, also keine feste Zahl an Zeichen [pro Zeile], und ihre Melodik scheint deshalb zunächst schwierig zu erreichen zu sein. Doch auch sie hat ihren natürlichen Klang. Bei den Alten hieß es: »Melodik/Klang (sheng) beruht auf Rezitieren (yong).« Damit ist der Rhythmus unterschiedlicher Längen gemeint, nicht bloß das Rezitieren. Folgt man also den Längen und Kürzen, so läßt sich alles in Musik verwandeln; nur wenn die Verse zu lang oder zu kurz sind und deshalb keinen Rhythmus finden, wird keine Musik daraus. Diejenigen, die heutzutage hartnäckig an der Melodik von Gedichten im alten Stil festzuhalten versuchen, kopieren deren Töne und Längen Satz für Satz und Wort für Wort, und zwar stets mit der Befürchtung, daß ihnen etwas abhanden kommen könnte. Dies führt nicht nur zu einer beschränkten Qualität in Stil und Melodik (gediao), sondern auch dazu, daß menschliche Gefühle und Anlagen (qingxing) nicht angeregt werden. Nur wer Gedichte immer wieder rezitiert, der wird im Laufe der Zeit das Wesen der Dichtung begreifen. Gedichte aus dem eigenen Herzen und vorgetragen mit der eigenen Stimme sind mit Perlen zu vergleichen, die auf einem Teller rollen: Ganz von allein [umherrollend] werden sie die Regeln (fadu) [nämlich den Tellerrand] nicht überschreiten.9
Li Dongyang spricht sich somit eindeutig gegen das Nachahmen der alten Meister aus; vielmehr sollen Gedichte aus sich heraus eine im Rezitieren spürbare Melodik besitzen, durch die sie auf den Leser/Hörer anregend wirken. Obwohl zum Erreichen dieser Melodik Kunstfertigkeit (qiao) notwendig ist, läßt sich diese jedoch nicht durch einfaches Bemühen erlernen, vielmehr meint Li: Wenn die Geschicklichkeit – mit dem Herzen erfaßt und geistig verstanden – sich nicht von allein einstellt, wird einem auch tägliche Belehrung nichts nützen.10
Wie aus dem Bild der auf einem Teller umherrollenden Perlen, die ihren Rand nicht überschreiten, hervorgeht, besitzt für Li Dongyang alle große, d.h. aus dem Herzen kommende Dichtung eine Natürlichkeit, in der eine Regelhaftigkeit bereits enthalten ist. Dieses Thema natürlicher Regeln wird für die Ming und Qing den Grundton aller ästhetischen Diskussionen bilden.
Li Mengyang und He Jingming Unter dem Einfluß von Li Dongyang als hohem Hofbeamten und gleichzeitigem Verantwortlichen für die Staatsprüfungen wurde die Gruppe der Früheren Sieben Meister, von denen etliche unter der Oberaufsicht von Li Dongyang ihre Prüfungen ablegten, prominent. Die führende Figur dieser Gruppe war Li Mengyang (1475– 1529), der im Jahre 1493 unter Li Dongyang die höchste Prüfung zum jinshi bestand. Er war befreundet mit Wang Yangming und hatte einen bekannt gewor9 10
»(Huai) Lutang shihua«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 28. Ebd., S. 29.
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denen brieflichen Disput über Dichtung mit dem zweitwichtigsten Mitglied der Früheren Sieben Meister, He Jingming, über den später noch zu sprechen sein wird. Die Gruppe war aktiv in Peking in den Jahren 1500–1507, als Li Mengyang am Hofe in Peking im Amt war (d.h. in den Regierungsperioden Hongzhi, 1488–1505, und Zhengde, 1506–1522). Neben Li selbst waren dies: Wang Jiusi (1468–1551), Bian Gong (1476–1532), Kang Hai (1475–1541), Wang Tingxiang (1474–1544), He Jingming (1483–1521) und Xu Zhenqing (1479–1511). Von Li Mengyang ist der Kernsatz der archaistischen Bewegung überliefert: »Prosa muß sein wie die der Qin- und Han-Zeit, Dichtung wie die der TangBlüte.«11 Doch lassen sich Lis Bemühungen nicht einfach als Vergangenheitsfixierung charakterisieren. Sein eigentliches Ziel galt vielmehr dem Erreichen einer natürlichen Form. Nur glaubte er diese über das Nachahmen der Alten erlangen zu können, denn, so Li, die Formen der Alten basierten auf natürlichen Regeln. Über das Befolgen von Regeln äußerte er sich wie folgt: Worte müssen Regeln folgen, bevor sie passen und mit musikalischen Gesetzmäßigkeiten harmonieren können, so wie Kreise und Quadrate den Vorgaben von Zirkel und Richtscheit (guiju) entsprechen müssen. Die Alten gebrauchten jedoch Regeln, die sie nicht selbst erfunden hatten, sondern die von der Natur erschaffen waren. Wenn wir nun die Gedichte der alten Meister als Regel nehmen, so ahmen wir nicht wirklich jene nach, sondern richten uns nach dem natürlichen Gesetz der Dinge.12
Li Mengyangs Bemerkung liest sich wie eine geschickt formulierte Rechtfertigung für das Imitieren alter Meister. Doch wie Li Dongyang zuvor geht es ihm ebenfalls um eine natürliche Regelhaftigkeit, nur daß er diese in den Werken der Alten zu finden glaubt, da jene die Regeln ja nicht selbst erfunden hätten. Diese Art der Argumentation erinnert an das Konzept von fa als Regel der Natur, das im Zusammenhang der songzeitlichen Regeldiskussion aus dem Buch Guanzi bereits vorgestellt wurde. Für Li Mengyang gilt es, die Regel der Natur zu finden, und diese ist in den Regeln der vergangenen Meister überliefert. Heute ist man geneigt, diese Dichter in ihren Bemühungen um kunstfertige und regelhafte Verse zu belächeln. Doch man wird ihnen nicht ganz gerecht, wenn sie, wie üblich, nur als Nachahmer, reine Techniker oder Verseschmiede abgetan werden. So sei daran erinnert, was quer durch die Kulturgeschichte Chinas hindurch als Ideal künstlerischen Schaffens galt: Einklang von Form und Geist, von Struktur und Natürlichkeit. Für die Dichter der Nach-Tang-Zeit war dieses Ideal in der Tang-Zeit verwirklicht worden. In der Metaphorik des Chan-Buddhismus 11
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Li Mengyangs Biographie in Ming shi, Peking: Zhonghua shuju 1974, j. 286, S. 7348. Zu Li Mengyang s. GOODRICH: Dictionary of Ming Biography, Vol. 1, S. 841–845. »Da Zhou Zishu«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 52; LIU: The Art of Chinese Poetry, S. 80; vgl. LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment«, S. 232.
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gesprochen hatten die großen Tang-Dichter aus einem Zustand der »Erleuchtung« bzw. der »inspirierten Stimmung« heraus gedichtet. Nun galt es, durch Befolgen der aus ihren Werken ableitbaren Regeln – durch methodisches Üben wie auch in der Praxis der Chan-Meditation – zu einer ähnlichen Höhe zu gelangen. Derartige Bemühungen standen im Zentrum aller archaistischen Bewegungen, und Li Mengyang liegt mit seinem erklärten Ziel letztendlicher Nachahmung des natürlichen Gesetzes der Dinge – qua Nachahmung der Tang-Meister, die dieses Ziel bereits erreicht hatten – ganz auf dieser Linie. Wie bei Yan Yu richtete sich die Hauptkritik der Archaisten gegen die Dichtung der Song-Zeit. Diesen fehle es an Metaphorik, stattdessen würde ein diskursiver Stil – eine Sprache der Prinzipien bzw. der Vernunft (li) – gepflegt, welcher dem Wesen der Dichtung zuwiderlaufe. Diese Art der Kritik finden wir auch in folgender Passage bei Li Mengyang: Als die Dichtung die Tang-Zeit erreichte, waren bereits die alten Melodien verloren. Doch die Tang-Dichtung hatte selbst noch Melodien, die man singen konnte. Die größten Beispiele ließen sich sogar mit Musik begleiten. Doch die Menschen der Song legten Wert auf Vernunft/Prinzipien (li) statt auf Melodik, so gingen auch die Melodien der Tang-Zeit verloren. Huang Tingjian und Chen Shidao eiferten Du Fu nach und wurden große Könner genannt. Heute wirken ihre Worte verworren und ohne Duft, Farbe oder Bewegung. Es ist, wie wenn man in einen Tempel hineingeht und dort Figuren aus Holz sitzen sieht: Sie sind zwar gekleidet wie Menschen, doch kann man sie etwa als Menschen bezeichnen? Dichtung ist ein Überkreuzen und Vermischen von Metaphern (bi) und Andeutung (xing), und zwar indem man sich Dingen [als Vergleichsobjekt] bedient, um geistvolle Verwandlungen (shenbian) zu erzielen. Unauslotbare Wunder, die kaum in Worte zu fassen sind, erscheinen so plötzlich als Reaktion auf Berührung [mit den Dingen] und lassen Gefühle und Gedanken fließen. [...] Die Dichter der Song-Zeit legten Wert auf Vernunft/Prinzipien (li) und schrieben in der Sprache der Vernunft. So mißachteten sie »vom Winde verwehte Wolken oder mondbeschienenen Tau«; sie verwarfen derartige Bilder und schrieben stattdessen »Gespräche über Dichtung«, um die Leute zu belehren, und keiner wußte mehr, was Dichtung wirklich bedeutete. Doch hat es jemals Dichtung gegeben, die gegen die Vernunft verstößt? Wenn man andrerseits ausschließlich eine Sprache der Vernunft benutzt, so kann dabei nur Prosa herauskommen, und wo bleibt dann da die Dichtung?13
Li sieht hier in der Nutzung der sprachlichen Mittel, nämlich in Metaphern und Andeutungen (xing), den Schlüssel für die Gestaltungsmöglichkeiten und insofern 13
»Fou yin xu«, in: ZHANG SHAOKANG (Hg.): Zhongguo lidai wenlun jingpin, Changchun: Shidai wenyi 1995, S. 517; vgl. RICHARD JOHN LYNN: »Tradition and the Individual: Ming and Ch'ing Views on Yüan Poetry«, in: RONALD C. MIAO (Hg.): Studies in Chinese Poetry and Poetics, San Francisco: Chinese Material Center 1978, I, S. 329.
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auch den kreativen Ursprung aller Dichtung: In der über die Sprache erfolgenden rezeptiven Begegnung des Dichters mit den Dingen der Welt verwandeln sich Bilder zu »unauslotbaren Wundern« der Dichtung, die »Gefühle und Gedanken fließen lassen«. Von Li Mengyang gibt es einen schriftlich überlieferten Disput mit seinem Freund und Kollegen He Jingming (der im Jahre 1502 die Prüfung zum jinshi ablegte) über die damalige Hauptfrage aller Dichtungsdebatten, nämlich das Befolgen von Regeln. In einem an He Jingming gerichteten Brief vergleicht Li Mengyang das Verfolgen von Regeln beim Dichten mit dem Gebrauch von Zirkel und Richtscheit (gui ju) beim Bauen von Häusern: Der Gebrauch dieser Geräte sei mit Regeln zu vergleichen, die man nicht aufgeben könne; und diese Regeln ließen sich von den Alten lernen, jedoch ohne daß man ihre Worte nachzuahmen brauche, und er schließt: Was die Literatur der Alten angeht, so brauchten sie nur ihren Pinsel zu schwingen, um alle Qualitäten [der Literatur] zu erreichen. Doch wie sie abschlossen oder eröffneten, wie sie Pausen oder Akzente setzten, all dies war – Fuß um Fuß, Zoll um Zoll – nicht ohne Regeln, und das meine ich, wenn ich vom Rund des Zirkels und dem rechten Winkel des Richtscheits spreche.14
Diese Fixierung auf die den Werken der Alten (im wesentlichen Du Fu) zugrunde liegenden Regeln stellte He Jingming jedoch in Frage. Für ihn bildeten die Gedichte der alten Meister lediglich eine Vorlage zur Übung. Hatte man sich an diesen Beispielen genügend geschult, so konnte man sie getrost zurück lassen. Außerdem ging es ihm nicht um eine formale Nachahmung, sondern um eine geistige Orientierung an diesen Vorbildern: Was das Dichten in Bezug zur Vergangenheit betrifft, so haltet Ihr, Meister Kongtong (Li Mengyang), Euch völlig an die Muster der Alten. Wie bei einer eisernen Form hütet Ihr das überlieferte Modell mit jedem Fuß und jedem Zoll. Mir geht es hingegen darum, mich an das Material anzupassen, d.h., seinen Geist und Zustand zu verstehen und nach den Gegebenheiten zu gestalten, jedenfalls nicht bloß die äußere Form nachzuahmen.15
Hier wird deutlich, daß es in der Gruppe der Archaisten durchaus differenzierte Positionen gab. Gemeinsam war ihnen allen wohl die Orientierung am Alten; doch während Li Mengyang an den überlieferten Regeln und Formen der Alten festhielt, ging es He Jingming darum, ihren Geist zu verstehen und in der Auseinandersetzung mit ihnen – und zwar auf der Grundlage der eigenen schöpferischen Kräfte – auch formal etwas Neues und Eigenes zu gestalten. 14 15
»Bo He shi lun wen shu«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 47. »Yu Li Kongtong lun shi shu«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 37.
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Es gab darüber hinaus noch zahlreiche andere Themen, die von den Archaisten zum ersten Mal in die Diskussion gebracht wurden und die in der Folgezeit in den »Gesprächen über Dichtung« eine Rolle spielen sollten, z.B. das Thema der Bildlichkeit. So werden im folgenden in dem Begriff yixiang die bereits erwähnte »Idee« (yi) mit »Bild« (xiang) zusammengeführt, wobei der Akzent darauf liegt, daß ein Bild eine Idee transportieren soll. Wang Tingxiang, einer der »Früheren Sieben Meister« meint hierzu: Bei der Dichtung lege man mehr Wert darauf, daß ein Ideen-Bild (yixiang16) durchscheine, als daß man sich an [die Beschreibung von] Tatsachen hält. Deshalb spricht man vom [Bild des] Mondes im Wasser, von der Reflektion im Spiegel. Diese lassen sich mit eigenen Augen sehen, doch lassen sie sich schlecht als Tatsachen verifizieren. Die »Dreihundert Gedichte« (des Shijing) drücken sich durch eine Mischung von Vergleich (bi) und Andeutung (xing) aus; das heißt, die Ideen zeigen sich in Worten. Das Lisao stellt seinen Sinn mit Hilfe von Allegorie (yu) dar, ohne dabei das innerste Gefühl [des Dichters] zu enthüllen.17
Die metaphorische Umsetzung der künstlerischen Ideen in einem sprachlichen Kunstwerk wird hier mit der Spiegelung – z.B. des Mondes im Wasser – verglichen. Das gespiegelte Bild ist nicht das wirkliche Objekt und läßt sich insofern auch nicht »verifizieren«; und doch läßt es sich als Spiegelung erkennen. Ähnlich die metaphorische »Brechung« im Gedicht: Im dichterischen Bild (yixiang) kann der dem Werk zugrunde liegende Sinn verstanden oder zumindest erahnt werden.
Hu Yinglin Bei einem der späten (in der Wanli-Periode, 1573–1619, aktiven) Archaisten, Hu Yinglin (1551–1602)18, finden wir Ansichten, die denen von He Jingming vergleichbar sind. Hu (der die Prüfungen zum jinshi nie bestand) ist Autor eines umfangreichen kritischen Werkes über Dichtung mit dem Titel Shisou (Dickicht der Dichtung), in welchem er sich mit der ganzen formalen und historischen Breite der Dichtkunst – von den Anfängen bis in die Ming-Zeit – auseinandersetzt. Interessant sind z.B. die Metaphern, mit denen er Dichtung vergleicht, so die organischen Bilder in der folgenden Passage: Die Sehnen und Knochen (d.h. die Struktur) eines Gedichts sind wie Wurzel und Stamm eines Baumes; Muskeln und Fleisch (Inhalt und Wortwahl) sind wie Zweige und Blätter. Der farbige Glanz (seze) und der geistige Nachklang 16
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Yixiang bedeutet heute »Bild« wie im Englischen »image« (so auch »Imagismus«: yixiangzhuyi). »Yu Guo Jiafu xueshi lun shi shu«, in Chen, Zhongguo lidai shixue lunzhu xuan, S. 652. GOODRICH: Dictionary of Ming Biography, Vol. 1, S. 645–647.
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Ein Gedicht ist demnach ein organisches Ganzes, wobei jedoch dem Glanz und »geistigen Nachklang« (shenyun) besondere Bedeutung zukommen: Sie machen den eigentlichen ästhetischen Reiz – den Blütenduft, um in Hu Yinglins Bildlichkeit zu sprechen – eines Gedichts aus. Das Wort vom »geistigen Nachklang«, dem wir hier noch ganz beiläufig begegnen, sollte in der nachfolgenden Qing-Zeit zum Programm eines ihrer wichtigsten Literaten – Wang Shizhen (1634–1711)20 – werden. Ein zentrales Thema bei Hu Yinglin ist der Zusammenhang von Regel (fa) und Erleuchtung (wu): Von den Diskussionen über die Dichtung seit der Han- und Tang-Zeit habe ich von Yan Yu das eine Wort »Erleuchtung« und von Li Mengyang das eine Wort »Regel« übernommen. Diese beiden Begriffe bilden den großen Angelpunkt der Dichtung seit tausend Zeitaltern. Man kann das eine nicht zugunsten des anderen aufgeben. Hat man nur Regeln/das Dharma ohne Erleuchtung, so ist man wie ein junger Mönch, der sich an die Regeln/das Dharma klammert; Erleuchtung, die nicht von Regeln/dem Dharma ausgeht, ist hingegen eine Wildfuchs-Heterodoxie (waidao yehu).21
Hu Yinglin beschreibt den Zusammenhang zwischen Regel und Erleuchtung in der Weise, wie er bereits im Kontext der Vorstellung des Chan-Buddhismus und der von ihm beeinflußten Literaturkritik der Song-Zeit deutlich wurde: Erleuchtung ist nicht ohne methodische Disziplin bzw. Beherzigung der Regeln, nämlich des Dharmas, zu haben. Wenn sie nicht auf diszipliniertem Üben in der korrekten Überlieferung aufbaut, kann sich jede Attitüde als »Erleuchtung« geben. Eine derartige Entwicklung sollte sogar gegen Ende der Ming-Zeit die neokonfuzianische Lehre von Wang Yangming befallen, nämlich eine Degeneration seines Denkens im sogenannten »verrückten Chan« (kuang Chan), was hier von Hu, der diese Entwicklung noch selbst erleben sollte, als »Wildfuchs-Heterodoxie« bezeichnet wird.22 19
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HU YINGLIN: Shisou, Shanghai: Guji 1979, S. 206; vgl. LYNN: »Tradition and the Individual«, S. 330–331. Zu dem qingzeitlichen Wang Shizhen (1634–1711) s. Kap. IV.6 sowie die zahlreichen Arbeiten von Richard John Lynn; er ist nicht zu verwechseln mit dem mingzeitlichen Wang Shizhen (1526–1590), einem der »Späteren Sieben Meister«, über den weiter unten noch zu sprechen sein wird. HU: Shisou, S. 100; vgl. LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment«, S. 235. S. Kap. V.2.
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An anderer Stelle schreibt Hu über die Beziehung von Regel und Erleuchtung: Herr Yan [Yu] vergleicht das Wesen der Dichtung mit dem Chan – wie treffend. Hat man im Chan einmal die Erleuchtung erfahren, werden alle Regeln leer. Dann verkörpern selbst wütendes Schlagen und zorniges Gebrüll nichts als das höchste Prinzip. Wenn man dichterische Erleuchtung erfahren hat, dann begreift man auf einmal alle zehntausend Bilder, und selbst das Stöhnen und Grunzen, mit welchem man auf die Welt reagiert, ist völlig natürlich.23
Mit anderen Worten, in der Erfahrung der dichterischen – wie auch in der buddhistischen – »Erleuchtung« heben sich alle Regeln auf und ist das künstlerische Schaffen nichts anderes als das Schaffen der Natur. In folgender Passage gebraucht Hu Yinglin die von Yan Yus Canglangs Gespräche bekannten chan-buddhistischen Bilder, um die Dialektik von Regel und Erleuchtung zu fassen: Das Wesentliche in der Dichtung geht nicht über zwei Prinzipien hinaus: Das erste ist Form und Klang (tige shengdiao), das zweite ist inspirierte Bildhaftigkeit und bewegender Geist (xingxiang fengshen). Was Form und Klang betrifft, so gibt es Leitlinien (ze), denen man folgen kann; für inspirierte Bildhaftigkeit und bewegenden Geist gibt es hingegen keine Methode (fang), an der man sich festhalten könnte. Deshalb sollte ein Dichter einfach versuchen, die Gestaltung (ti) korrekt, den Stil (ge) nobel, den Ton (sheng) kraftvoll und die Melodik (diao) fließend zu halten. Nachdem man einige Zeit praktiziert und Erfahrung gesammelt hat, wird alle würdevolle Zurückhaltung sich vollständig wandeln und werden sämtliche formalen Spuren wegschmelzen, sodaß inspirierte Bildhaftigkeit und bewegender Geist ganz von selbst hervorragend werden. Man kann dies mit Blumen in einem Spiegel oder dem Spiegelbild des Mondes im Wasser vergleichen: Form und Klang sind wie Spiegel und Wasser; inspirierte Bildhaftigkeit und bewegender Geist sind wie Blumen und Mond: Das Wasser muß klar und der Spiegel hell sein, nur so können Blumen und Mond in ihrer Schönheit hervortreten. Wie könnte man sie in einem blinden Spiegel oder trüben Wasser zu sehen versuchen? Deshalb muß man zuerst Regeln (fa) beachten und die Erleuchtung (wu) nicht zu forcieren versuchen.24
Wie zuvor bereits Wang Tingxiang vergleicht Hu hier ebenfalls wesentliche Aspekte der Dichtung mit dem Prozeß der Spiegelung, wobei der Vergleich ursprünglich aus dem Buddhismus stammt: Dort ist der Geist (xin) der Spiegel, in dem sich – sofern der Geist klar bzw. leer ist – die wahre Soheit (Sansk.: tathata) bzw. die Buddhanatur widerspiegeln kann. Hu gibt hier dem Vergleich jedoch die 23 24
HU: Shisou, S. 25. Ebd., S. 100; vgl. LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment«, S. 235; LIU: Chinese Theories of Literature, S. 132.
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Wendung, daß Form und Klang eines Gedichts den Spiegel und die inspirierten dichterischen Bilder die Widerspiegelungen darstellen. Das soll heißen, daß die inspirierten Bilder sich nur dann einstellen, wenn Form und Klang des Gedichts (der Spiegel) »klar« sind, was für ihn heißt, daß Form und Klang nach klaren »Leitlinien« bzw. Regeln gemacht sein müssen. Getreu chan-buddhistischer Theorie und Praxis ist auch in der Kunst die Erleuchtung nicht zu erzwingen; allerdings läßt sie sich, so Hu Yinglin, durch methodisches Üben vorbereiten, und so sollte das Nachahmen alter Meister und Befolgen poetischer Regeln zur dichterischen Erleuchtung führen, mit anderen Worten, zu einer Einheit von Wissen und Handeln (zhi xing he yi) bzw. zu einer intuitiven Beherrschung der Kunst des Dichtens25. Diese Methode war und ist in China (und wohl nicht nur dort) die übliche Praxis für das Erlernen einer jeden Kunst; das Besondere ist vielleicht nur, daß sie auch und gerade für die Dichtkunst gilt. Anknüpfend an die Diskussion über Regeln in der Song-Zeit bilden demnach für die Archaisten der Ming-Periode Erleuchtung und Regel (fa – das Dharma, auch der Dichtung) eine untrennbare Einheit. Wir sehen hier auch, daß sich die chan-buddhistisch inspirierte Art, über Dichtung zu sprechen, die wir in der Song-Zeit von Huang Tingjian bis zu seinem schärfsten Kritiker Yan Yu beobachten konnten, in der Ming-Zeit einer ungebrochenen Beliebtheit erfreute. Für die Archaisten war das Dichten jedoch mehr als nur eine rein literarische Praxis: Wie Richard John Lynn verschiedentlich betont hat, war es ein erzieherisches Unterfangen bzw. eine geistige Praxis der Selbstkultivierung im Sinne des Neokonfuzianismus, dem die Literaten trotz der Vorliebe für den chan-buddhistischen Jargon verpflichtet blieben.26 Das Nachahmen der Verse der großen Meister bedeutete, ihren großen Geist zu absorbieren und sich mit ihnen zu identifizieren, denn, wie schon in anderem Zusammenhang betont, herausragende Dichtung war für die chinesischen Literaten fast immer auch gleichbedeutend mit einem herausragenden, moralisch gebildeten Charakter. Richard John Lynn zufolge ging es letztlich darum, kulturell gebilligte, persönliche, moralische und intellektuelle Qualitäten zu erlangen, die sich an einem ganz bestimmten, in der Vergangenheit erreichten stilistischen Maßstab orientierten. Lynn hat diese Funktion der kulturell orientierten Selbstkultivierung des Dichtens pointiert beschrieben: »Der Dichter verwirklichte sich selbst als ein kultureller Idealtypus, und zwar dadurch, daß er seinen Charakter, seine Sensibilitäten, Gefühle und Ideen in der akzeptierten Versform äußerte: dem Stil der Tang-Blüte.«27 Zusammenfassend läßt sich sagen: Für die Archaisten führte das stete Üben (gongfu) nach festen Regeln einerseits zum Erlangen eines hohen Grades der Meisterschaft, d.h. zur Perfektionierung der Form, andererseits dazu, daß man 25 26 27
LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment«, S. 219ff. Ebd. LYNN: »Alternate Routes«, S. 325.
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sich die ganze orthodoxe Tradition aneignete, ja daß man ihr zugehörig wurde. Somit bildeten die fa, die Regeln (und nicht nur für die Archaisten, wie noch deutlich werden wird), gleichsam den roten Faden, der sich durch die Tradition aller klassischen Künste Chinas zieht.
1.2 Emotion und Intention – Die Späteren Sieben Meister Die Späteren Sieben Meister waren ca. ein halbes Jahrhundert nach ihren Vorgängern in Peking aktiv (d.h. in der Jiaqing-Periode, 1522–1566) und versuchten, an deren Denken und literarischen Praktiken anzuknüpfen, wobei es durchaus auch zu neuen Ansätzen kam. Sie gruppierten sich zunächst um Li Panlong (1514– 1570), der im Jahre 1544 die jinshi-Prüfung ablegte und danach in Peking ein Amt bekleidete. Neben Li zählten folgende Literaten zu der Gruppe: Xie Zhen (1495–1575), Xu Zhongxing (1517–1578), Liang Youyu (ca. 1520–1556), Zong Chen (1525–1560), Wu Guolun (1529–1593) und Wang Shizhen (1526–1590). Li Panlong28 hatte ähnliche Ansichten wie Li Mengyang hinsichtlich der Nachahmung alter Meister sowie der Präferenz des Tang- gegenüber dem Song-Stil in der Dichtung. Xie Zhen (der bei weitem älteste und einzige der sieben, der nie die Prüfung zum jinshi schaffte) läßt sich hingegen als der eigentliche Neuerer der Gruppe verstehen; so standen seine Ideen auch denen von He Jingming näher.
Xie Zhen Ein Gegenstand, dem sich Xie Zhen (Künstlername: Siming) in seinem umfangreichen Werk »Simings Gespräche über die Dichtung« widmete, ist der Zusammenhang zwischen Gefühl (qing) und Szenerie (jing) – eins der zentralen Themen der chinesischen Poetik (das in der Qing-Zeit bei Wang Fuzhi noch eine wesentliche Rolle spielen soll): Das Schreiben von Gedichten basiert auf Gefühl und Szenerie. Keines von beiden kann für sich selbst ein Gedicht vollenden, und keines von beiden ist gegen das andere gerichtet. Jedesmal wenn wir auf Höhen steigen und unsere Gedanken schweifen lassen, dann treffen wir uns im Geiste (shen) mit den Alten, loten wir weit und nah aus und verbinden dies mit Trauer oder Freude. Diese Empfindungen entstehen dabei ganz zufällig – sie lassen dort, wo es vorher keine Spuren gab, Formen entstehen und rufen ein Echo hervor, wo vorher kein Klang ertönte. Bei ein und derselben Szenerie können Gefühle durchaus unterschiedlich sein, und diese zu beschreiben ist mal schwierig und mal leicht. [...] Wenn wir etwas betrachten, so mag es äußerlich [für alle] das Gleiche sein, doch die Reaktion darauf im Innersten ist bei jedem unterschiedlich. Nun soll man alles daran setzen, Innen und Außen zu einer Einheit werden zu lassen, sodaß es keinen Raum zwischen dem gibt, was ins Herz hinein geht und was aus ihm heraus kommt. 28
GOODRICH: Dictionary of Ming Biography, Vol. 1, S. 845–847.
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DIE MING-ZEIT Die Szenerie ist bloß der Ehevermittler der Dichtung, doch das Gefühl ist ihr Ungeborenes. [Wenn beide] sich vereinigen und zu Dichtung werden, so lassen sich mit ein paar Worten zehntausend Formen erfassen; dann wird darin eine alles überbordende Urenergie (yuanqi) manifest.29
Die Einbettung von Gefühl in Szenerie gehört zu den Grundmerkmalen der chinesischen Lyrik und macht viel von ihrem Reiz aus. Zum besseren Verständnis von Xie Zhens Ausführungen vergegenwärtige man sich den Zusammenhang anhand eines bekannten tangzeitlichen Beispiels: Zhang Jis (ca. 765 – ca. 830) berühmter Sieben-Wort-Vierzeiler »Ankern bei Nacht an der Ahorn-Brücke«. Eine Übersetzung könnte etwa lauten: Der Mond sinkt, eine Krähe krächzt, Frost erfüllt den Himmel, Ahorn am Fluß und Fischerleuchten stören den bedrückten Schlaf. Beim alten Suzhou außerhalb der Stadt – der Hanshan-Tempel: Zur halben Nacht dringt sein Glockenton an das Gästeboot.30
Das Gedicht zeichnet das Bild einer spätherbstlichen, abendlich-kühlen Szenerie: Ein Boot ankert an einem Fluß (oder Kanal) bei der Stadt Suzhou in Hörweite zu dem berühmten Hanshan-Tempel. Der Mond versinkt gerade am Horizont, eine Krähe krächzt, der Himmel ist frostig, und auf dem Fluß flackern Fackeln von Fischerbooten. Plötzlich tönt zur halben Nacht der Klang der Tempelglocke zum Reisenden im Boot herüber. Das ist die Szenerie, die mit wenigen Schriftzeichen skizziert wird und bereits ein Stimmungsbild fröstelnder abendlicher Einsamkeit eines Reisenden vermittelt. Wie und wo geschieht nun die Einbettung von Gefühl in diese Szenerie? In der zweiten Zeile heißt es, daß die Schatten der Ahornbäume am Fluß zusammen mit den Fackeln der Fischerboote den bedrückten Schlaf des Reisenden in seinem Gästeboot stören. Es ist einzig dieses eine Schriftzeichen »bedrückt« (chou), welches eine Gefühlsregung andeutet, dabei jedoch so unbestimmt, daß es Anlaß für eine ganze Reihe von Assoziationen liefert (z.B. Heimweh, da durch das »Gästeboot« eine Reise fern der Heimat suggeriert wird). So werden hier in der Tat Szenerie und Gefühl zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, und es ist diese Offenheit, oder besser dieser Andeutungsreichtum hinsichtlich der dem Gedicht zugrunde liegenden Gefühlswelt, der eben den ästhetischen Reiz des Gedichts, allerdings auch die Identifikationsmöglichkeit mit den Lesern, ausmacht. 29
30
XIE ZHEN: »Siming shihua«, in: DING FUBAO (Hg.): Lidai shihua xubian, Peking: Zhonghua shuju 1983, Bd. 3, S. 1180; LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment«, S. 234; LIU: Chinese Theories of Literature, S. 40–41; SIU-KIT WONG: »A Reading of the Ssu-ming shih-hua«, Tamkang Review 2 (Nr. 2/3, 1971/2), S. 240. S. z.B. HERDAN: The Three Hundred T'ang Poems, S. 426, oder KLÖPSCH: Der seidene Faden, S. 214.
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Regel und Erleuchtung – Archaismus der Ming-Zeit
Anhand dieses konkreten Beispiels lassen sich Xie Zhens Überlegungen zu dieser für die chinesische Dichtung so zentralen Thematik vielleicht besser nachvollziehen: Für Xie Zhen – wie für viele seiner Vorgänger – entsteht ein Gedicht durch das Eingehen des Dichters auf die Welt. Dabei wirkt die objektive Umgebung, die für viele Betrachter gleich sein mag, als Auslöser (»Ehevermittler«) der von Betrachter zu Betrachter jeweils unterschiedlichen Empfindungen (das »Ungeborene« im Inneren des Dichters). In dieser ans Magische grenzenden Begegnung zwischen Ich (Gefühl) und Welt (Szenerie) wird für Xie Zhen eine »Urenergie« manifest, die jeweils neue Formen und Klänge entstehen läßt. An anderer Stelle schreibt Xie Zhen in Anlehnung an buddhistische Vorstellungen, daß das Herz (xin) des Dichters wie ein Spiegel wirke, in der sich die Welt widerspiegele; demgegenüber gleiche das Licht einem geistigen Funken (shen), der sozusagen die dichterische Intuition auslöse. Das »Geheimnisvolle der Dichtung« sei dann schließlich, so Xie Zhen, daß es in der Verschmelzung von Außen und Innen »weder ein Ich (wo) noch eine dingliche Welt (wu)« für sich alleine gibt.31 Hier haben wir, wie auch James Liu feststellt, eine ans Metaphysische grenzende Widerspiegelungsthematik der Dichtung, die (völlig anders als die sich am Realismus orientierende abendländische Widerspiegelungstheorie) daoistischem oder buddhistischem Denken verpflichtet ist, denn schließlich liegt diesen Überlegungen implizit zugrunde, daß sich im menschlichen Geist/Herz nichts anderes als das allumfassende Dao bzw. die Buddhanatur widerspiegelt.32 Von dieser zentralen Thematik abgesehen drehte sich die literarische Diskussion in der Mitte des 16. Jahrhunderts um das altbekannte Thema der Befolgung von Regeln. Neben der »Erleuchtung« trat jedoch nun ein neuer Begriff in den Diskussionen hervor, der noch mehr dazu beitrug, ein flexibles Verständnis von Regeln bzw. von deren Anwendung zu fördern, und zwar ist dies die bereits erwähnte »Idee« oder »Intention« (yi), d.h. die künstlerische Konzeption des Dichters, die sich im Kunstwerk verwirklicht. Damit hätten wir nun, im Gegensatz zur vorherigen »metaphysischen«, eher eine expressive Thematik. Entsprechende Tendenzen gab es auch in der Maltheorie, in welcher etwa ab der Yuan-Zeit der Terminus xieyi – Skizzieren von Ideen – auftaucht, und zwar im Sinne eines spontanen, inspirierten Ausdrucks des Künstlers. Wiederum sind von Xie Zhen dazu vergleichbare Ausführungen zu lesen. So differenziert er z.B. hinsichtlich der Anwendung dieses Begriffs, nämlich ob die Idee dem kreativen Akt vorausgeht oder ihm nachfolgt: Beim Dichten gibt es die Idee/Intention (yi), die den Worten voraus geht, und die Idee, die den Worten folgt. Die Menschen der Tang-Zeit beherrschten beides. 31
32
XIE: »Siming shihua«, S. 1181; LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment«, S. 234; LIU: Chinese Theories of Literature, S. 41; WONG: »A Reading of the Ssu-ming shih-hua«, S. 240. LIU: Chinese Theories of Literature, S. 41–42.
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DIE MING-ZEIT Ihre Verse waren einerseits elegant und besaßen Nachgeschmack, andrerseits waren sie natürlich und hinterließen keine Spuren ihrer Kunstfertigkeit. Die Menschen der Song-Zeit mußten hingegen zuerst eine Idee bestellen; so gingen sie auf der Straße der Vernunft (li) einher, und ihren Versen fehlte jegliche geistige Anregung. [...] Beim Dichten schätzten es die Dichter der Song-Zeit, zuerst eine Idee [des Gedichts] festzulegen. Doch wie hätte Li Bai für seine hundert Wein-Gedichte zunächst alle Ideen dafür festlegen können, um sie dann in Worte zu fassen? Hier entsteht die Idee in der Folge des Pinsels, sie kann nicht [vorher] festgelegt werden.33
Wie alle Archaisten spricht sich Xie Zhen hier gegen ein Übergewicht des Konzeptionellen in der Dichtung aus, wie es in der Song-Zeit durchaus anzutreffen war. Demgegenüber zitiert er im weiteren Verlauf befürwortend eine Passage aus Liu Yiqings Neuer Bericht von Reden aus der Welt (Shishuo xin yu), wo es heißt: »Literatur entsteht aus Gefühl; Gefühl entsteht aus Literatur (wen sheng yu qing, qing sheng yu wen)«34. Das heißt, Empfindungen, und nicht Ideen, sind der Ursprung aller guten Dichtung. Darüber hinaus bringt Xie Zhen in obiger Textstelle die Unterscheidung zwischen Tang- und Song-Dichtung in einen neuen konzeptionellen Rahmen. Galt bisher die Meinung von Yan Yu, daß die große TangDichtung aus inspirierter Stimmung (xingqu) geboren sei, demgegenüber die Song-Gedichte rational angelegt seien, so führt Xie Zhen den Unterschied darauf zurück, daß bei den Tang-Gedichten die Ideen im Prozeß des Schreibens bzw. aus der Dichtung heraus entstünden, wohingegen bei den Song-Poeten der Usus vorherrsche, Gedichte nach Ideen anzufertigen, d.h., daß bei ihnen Konzeptionelles bzw. Ideen dem Schreiben vorausgingen35. Wenngleich dies wiederum nur die altbekannte Idealisierung der Tang-Dichtung in anderer Begrifflichkeit darstellen mag, so bereichert Xie Zhen die Thematik um einen neuen und interessanten Aspekt. Durch die »Idee«, die aus der Dichtung entsteht, rückt nämlich der kreative Akt des Schreibens wieder in den Vordergrund. Dieser Aspekt ist auch Gegenstand der nächsten Textstelle, die in Form eines fiktiven Dialogs zwischen einem Adepten und Meister Siming (ihm selbst) gehalten ist: Jemand fragte: »Was das Dichten angeht, so ist es einfach, eine Idee zu haben; das Ausführen in Worten ist jedoch schwer. Doch Worte und Idee gehören zueinander und lassen sich nicht trennen. Widmet man sich ausschließlich der Idee, so gerät man in den diskursiven Bereich und verfällt dem Fehler des Stils der Song-Zeit; ist man geschickt mit Worten, so leiden Kraft und Form (qi ge) und 33
34 35
XIE: »Siming shihua«, S. 1149; s. auch GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 112; WONG: »A Reading of the Ssu-ming shih-hua«, S. 242f. Ebd. So auch die erwähnten Thesen zur Schriftkunst und Malerei; s. Exkurs 1 in Teil II.
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Regel und Erleuchtung – Archaismus der Ming-Zeit man gerät ins Fahrwasser des Spät-Tang-Stils. Mir sind diese Fehler oft unterlaufen. Was würdet Ihr mir raten?« Darauf entgegnete Meister Siming [Xie Zhen]: »Heutzutage liebt man es, beim Dichten alle möglichen großen Konzepte zu haben; man wickelt sie in Sätze ein, so daß sie arg in Not geraten. Auf diese Weise können die Worte nicht kommunizieren, und die Idee läßt sich nicht verstehen. [...] Was aus unserem Inneren heraus kommt, ist begrenzt – und das sind die Ideen, die den Worten voraus gehen. Wenn man, andrerseits, mal ohne Erfolg an einer Zeile arbeitet, so soll man seinen Geist nicht damit ermüden; vielmehr soll man die Bücher liegen lassen und sein Herz öffnen, und plötzlich wird einem die Zeile gelingen. Wenn die Idee infolge des Schreibens entsteht und erblüht, so ist sie unerschöpflich; sie dringt in einen Bereich spirituellen Wandels (shen hua) ein – etwas, das man absolut nicht durch Nachdenken erreichen kann. So kommt man vom Wort zur Zeile, und ein Reim vollendet die Zeile – es geschieht alles wie von selbst, und so sind sowohl Zeile als auch Idee perfekt. Laß einfach die Quelle ihr Lied mit dem Bambus spielen, und laß den Klang des Geplätschers in dein Ohr dringen; besteige die Stadtmauer, um aufs Meer zu blicken, sodaß die gewaltige Szenerie deinen Blick erfüllt – hier ist das, was von außen kommt, unbegrenzt, und hier finden wir die Ideen, die auf die Worte folgen.«36
Der Kern von Xie Zhens Gedanken ist, daß das Innere des Menschen nicht unbedingt in der Lage ist, nach Belieben aus sich selbst heraus künstlerische Ideen zu produzieren. Demgegenüber kann in der inspirierten Begegnung mit der Außenwelt eine Vielzahl an Ideen entstehen, die dann in einem daoistisch verstandenen kreativen Prozeß des Schreibens, nämlich in unauslotbar wunderbarer Weise, ihre Wirkung auf Autor und Leser zu entfalten beginnen. Außerdem wirken Gedichte, die nach Ideen gefertigt sind, bemüht, d.h., sie lassen störende Spuren ihrer Entstehung zurück – ein Umstand, der seit Yan Yu bei den chinesischen Kritikern höchstes Mißfallen erregte. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Xie Zhen die ästhetisch wirksame »Idee« im kreativen Akt des Schreibens angelegt findet. Insofern spricht er sich nicht für ein bewußtes Steuern, sondern eher für ein daoistisch verstandenes Entstehenlassen künstlerischer Kreativität aus.
Wang Shizhen Nach Li Panlongs Tod avancierte Wang Shizhen (1526–1590)37 zum Führer der Späteren Sieben Meister der Ming. Neben Xie Zhen ist er der interessanteste der Späteren Sieben, und bei ihm finden sich Beobachtungen zu einer ganzen Reihe von Themen, welche die künstlerische Kreativität betreffen. 36 37
XIE: »Siming shihua«, S. 1219; vgl. WONG: »A Reading of the Ssu-ming shih-hua«, S. 243. Zu dem mingzeitlichen Wang Shizhen – nicht zu verwechseln mit dem qingzeitlichen Wang Shizhen (s. Kap. VI.4) – s. BARBARA KRAFT: »Wang Shih-chen (1526–1590) – Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Ming-Zeit«, Dissertation, Universität Hamburg, 1955; s. auch GOODRICH: Dictionary of Ming Biography, II, S. 1399–1405.
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Folgende beiden Textstellen erinnern an Su Shis Gedanken, daß nämlich natürliche Kreativität sich selbst ihre Wege bahnt bzw. von selbst dorthin geht und von selbst dort anhält, »wo sie nicht umhin kann zu halten«. Darin eingebettet ist die ebenfalls bekannte Überlegung, daß ein Gedicht als Ergebnis einer Verschmelzung von Innen- und Außenwelt zustande kommt, ohne daß diesem dann ein erkennbares »Ich« innewohnt. Die »ichlose« Dichtung war das Ideal der Tang-Blüte (insbesondere bei Wang Wei und Meng Haoran) und ist es auch für die Archaisten der Ming geblieben: Alle menschliche Literatur (wen) beruht auf folgenden beiden grundlegenden Möglichkeiten, daß einerseits die Innenwelt in Bewegung gerät und mit der Außenwelt eine Verbindung herstellt – dies betrifft etwa zwei oder drei von zehn; daß man andrerseits von der Außenwelt herkommt und mit der Innenwelt eine Verbindung herstellt – das sind etwa sechs oder sieben von zehn. Diese Verbindung muß ganz natürlich geschehen, dann gibt es auch kein Ich darin. [Das Schreiben] geht dahin, wohin es gehen soll. Wenn die Ideen ausgeschöpft sind und zum Halten kommen, so muß ich ihnen dabei nicht nachhelfen: Sie halten dort, wo sie nicht umhin kommen zu halten. [...] Nun läßt sich menschliche Geschicklichkeit nicht mit himmlischer [natürlicher] Geschicklichkeit vergleichen. Menschen können [von der himmlischen Geschicklichkeit] wissen und auch darüber räsonieren, doch wenn sie darüber diskutieren, so fallen sie dabei oft in einen dornigen Graben – wie soll ihnen dabei himmlische Geschicklichkeit gelingen? Menschliche Geschicklichkeit scheint schwer, ist aber leicht; himmlische Geschicklichkeit scheint leicht, ist aber schwer.38
Die gerade zitierte Passage gilt zwar eher der Prosa (wen), doch macht Wang Shizhen in folgendem Text deutlich, daß die schaffensästhetischen Prinzipien in Dichtung und Prosa nicht verschieden sind: Dichtung neigt zu festen Formen, Prosa neigt zu runder Offenheit. Vom Gattungsstil her gesehen, gibt es somit Unterschiede, doch sieht man beide vom Standpunkt der Anwendung, so sind sie ein und dasselbe. Man kommt entweder von der Außenwelt und stößt auf das Innere, oder man kommt von der Innenwelt, die sich nach außen zeigen will. Wie diese beiden Wege zustande kommen, mag zwar unterschiedlich sein, doch wie sie sich in einer Idee vollenden, sind sie eins. Die Idee ist der Angelpunkt von Dichtung und Prosa. Wenn bewegt, dann äußert sie sich, wenn vollendet, hält sie an (d.h. wird sie zur Dichtung). Sie äußert sich darin, wo sie sich äußern muß, und hält dort, wo sie nicht umhin kann zu halten. Seit alters her hat man dies gesagt, und damit ist das wichtigste in Kürze gefaßt.39
38 39
»Tao Maozhong jingxin tangcao xu«, in: ZHANG: Zhongguo lidai wenlun jingpin, S. 540. »Eryouyuan ji xu«, in: ZHANG: Zhongguo lidai wenlun jingpin, S. 541.
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In dieser (auch wieder an Su Shis Bemerkung anknüpfenden) Textstelle nimmt die »Idee« für Wang Shizhen eine zentrale Stellung – den »Angelpunkt« – im künstlerischen Prozeß ein: Das Verschmelzen von Innen- und Außenwelt manifestiert sich in ihr. Bei Xie Zhen erfolgte die Diskussion über »Ideen« in der Dichtung losgelöst vom Begriff der Regel. Einen Zusammenhang zwischen beiden Konzepten finden wir nun bei Wang Shizhen. Er schreibt: Ich lege mich beim Schreiben nicht auf Dichtung oder Prosa fest, allerdings befürworte ich auch keine Vermischung der beiden. Die Idee soll einfach dem Schreiben vorausgehen und das Schreiben der Idee folgen. Regeln dürfen die Vitalkraft (qi) nicht beeinträchtigen, und das Talent darf nicht die Regeln in Mitleidenschaft ziehen.40
Hier werden der Vitalkraft und dem Talent des Dichters (bzw. Prosa-Autors) Regeln gegenüber gestellt, und zwar so, daß beide Seiten sich möglichst ergänzen und fördern sollen: Zwar darf die Vitalkraft nicht durch Regeln eingeschränkt werden, doch soll das Talent sich auch nicht auf Kosten der Regeln entfalten. Wie im folgenden deutlich wird, ist Einseitigkeit zu vermeiden. So sind Regeln einfach als Mittel zu betrachten, die eine Zeitlang einem nützlichen Zweck dienen, dann aber getrost beiseite gelassen werden können – wie in dem beliebten buddhistischen Bild von der Lehre (dem Dharma) als Fährboot, das nach Überqueren des Flusses bzw. nach Erlangen der Erleuchtung zurückgelassen werden kann: Schätzt man die Regel [über alles], so läßt man sich von der Regel gebrauchen; auf diese Weise beschneidet und verletzt man seine Vitalkraft (qi). Will man [nur] eine Idee vermitteln, dann wird man von der Idee gebraucht: Am besten läßt man sie frei und gibt sie auf, wie ein Fährboot [nachdem der Fluß überquert ist]. Man hüte sich vor den Schwierigkeiten des konzeptionellen Denkens (si); besser vertraue man seinem Herzen und vollende die Dinge auf diese Weise. [...] Ich komme von der Idee her und nähere mich so der Regel. Ist die Idee da, dann wird gleichzeitig mit ihr auch eine Regel aufgestellt. Regel und Idee verschmelzen somit zu einer Einheit. So gibt es für Ideen kein Rezept, und Regeln besitzen keine eigene Substanz. Ideen kommen zu lassen, ist schwer, doch [wenn sie da sind,] sie auszudrücken, ist leicht. Sich Regeln anzunähern ist leicht, doch wenn man sie genauer betrachtet, ist es schwierig [sie anzuwenden].41
Hier finden wir ein anderes Verständnis der Idee als bei Xie Zhen, und zwar steht bei Wang Shizhen die »Idee« gleichsam stellvertretend für den subjektiven Geist 40 41
»Yiyuan zhiyan«, in: CHEN: Zhongguo lidai shixue lunzhu xuan, S. 699. »Wuyue shanren wengao xu«, in: ZHANG: Zhongguo lidai wenlun jingpin, S. 538–39; HU: Zhongguo gudian meixue congbian, II, S. 577.
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des Autors, der die sinnvolle Verwendung einer Regel abwägt und insofern auch nicht mehr an von vornherein festgelegte Regeln gebunden ist. Mit Wang Shizhen (und zuvor schon bei Xie Zhen, wenn nicht schon bei Li Dongyang und He Jingming) beginnt in der mingzeitlichen Diskussion über Dichtung insofern eine Abkehr von archaistischen Grundprinzipien, nämlich eine gewisse Unabhängigkeit vom obligatorischen Vorbild der alten Meister. Ein Problem bei den literaturkritischen Debatten im kaiserlichen China ist allerdings die schillernde Vieldeutigkeit der Begriffe, und dieser begegnen wir auch bei der »Idee«. In folgender Bemerkung finden wir beispielsweise einen etwas anderen Aspekt von yi betont, nämlich die Bedeutung als objektiver »Sinn« – auch und gerade einer Regel (wie der »Sinn« eines Wortes). Das Zitat stammt von dem früh-mingzeitlichen Autor Xu Bozu (aktiv ca. 1400), der von seinen Zeitgenossen als »Xu, der kleine Du (Fu)«, also als handwerklicher Könner seiner Kunst, apostrophiert wurde: Eine Regel läßt sich in Worte fassen; der Sinn (yi) einer Regel läßt sich hingegen nicht aussprechen. Vorzügliche Literaten erfassen den Sinn einer Regel, wenn sie diese gebrauchen; mittelmäßige Literaten erreichen jedoch beim Gebrauch von Regeln nur eine Ähnlichkeit [zu den Anforderungen der Regeln]. Ich selbst halte mich kaum an Regeln beim Dichten. Wie es gerade kommt, fange ich an; wie es gerade kommt, höre ich auf. Wie es gerade kommt, öffne und schließe ich; wie es gerade kommt, lasse ich die Sprachmelodie auf- und niedersteigen und setze Pausen. Wie es gerade kommt, wird die Sprache leicht oder schwer, hoch oder tief. Dort, wo der Sinn hinreicht, finden sich immer entsprechende Worte. Ich habe mich noch nie an Regeln gebunden gefühlt; auch habe ich Regeln nie völlig verworfen. Die Meister der Kunst des Altertums waren wie der Koch Ding: [Ihre Werke] kamen hervor, indem sie ihrem Herzen und ihren Händen folgten. Da ist kein anderes Geheimnis dabei – auch sie hatten ihre Regeln. Wenn man von diesem Standpunkt aus alle Künste unter dem Himmel betrachtet, so hat es noch nie einen Meister einer Kunst gegeben, der eine vergeistigte/göttliche (shen) Könnerschaft ohne Regeln erreicht hätte.42
Xu Bozu zufolge hatten und haben alle großen Meister ihre regelhaften Vorgaben, und zwar als eine Orientierungs- und Trainingsbasis. Nur zeichnet sie ein flexibler Umgang damit aus: Sie fühlen sich weder daran gebunden, noch werden sie völlig verworfen. Stattdessen wird beides gelten gelassen. Bei Wang Shizhen und Xu Bozu scheinen also zwei Aspekte in yi angelegt zu sein: einerseits die leitende »Idee« im künstlerischen Schaffensprozeß – das »Ich« des Dichters, das ohnehin ab der späten Ming-Zeit sich zu regen beginnt –, andererseits der »Sinn« von Regeln, der nur intuitiv zu erfassen ist und der dann (in daoisti42
Zitiert von dem qingzeitlichen Zhu Yizun in dessen »Jingzhiju shihua« nach ZHAO YONGJI (Hg.): Gudai shihua jingyao, Tianjin: Guji 1989, S. 407.
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schem und chan-buddhistischem Sinne) die Regeln selbst überflüssig werden läßt. Bei Xu Bozu ist sogar von einer Beziehung zwischen Regel und ihrem Sinn die Rede, die ganz dem bekannten Vergleich des Verhältnisses zwischen Wort und Sinn mit dem Fisch- und Hasenfang aus dem Zhuangzi entspricht.43 An der Regel festzuhalten, hieße, um in Zhuangzis Bild zu bleiben, nur die Reuse und nicht den Fisch vom Fischfang mit nach Hause zu bringen. Stattdessen, so meint Xu Bozu, kommt es auf den Sinn von Form und Regeln an. Wer diesen erfaßt hat, braucht an dem Buchstaben der Regel nicht mehr festzuhalten. Vergleichen wir die Funktion der beiden hier vorgestellten Konzepte – »Erleuchtung« und »Idee/Sinn« – im künstlerischen Schaffensprozeß miteinander, könnte man den Unterschied dahingehend auf den Punkt bringen, daß »Erleuchtung« der intuitiven, und »Idee« (zumindest den bei Wang Shizhen zu beobachtenden Ansätzen zufolge) der bewußten Kontrolle des künstlerischen Mediums gilt. Ein aus der »Erleuchtung« geschaffenes Werk läßt in idealer Ausformung keine Spuren methodischen Schaffens mehr erkennen; führt andererseits die künstlerische »Idee« die Hand beim Schreiben – und lenkt auch so die Regeln –, dann verlieren letztere ihre normierende, einschränkende Wirkung und werden stattdessen zum Werkzeug in der Hand des Künstlers/Dichters, das er nach eigenem Gutdünken einzusetzen versteht. Im Archaismus der Ming-Zeit finden wir also bei den Früheren und Späteren Sieben Meistern eine Entwicklung von vergangenheitsorientiertem, regelgebundenem Dichten hin zu Ansätzen von Subjektivität bzw. Expressivität in der Dichtkunst. Diese Tendenzen sollten zwar erst gegen Ende der Ming mit den Literaten der Gongan-Schule voll zur Entfaltung kommen, doch läßt sich hier bereits erahnen, daß die Unterschiede – obwohl wir diese in einer analytisch-historischen Darstellung betonen – in Wirklichkeit nicht so groß gewesen sein mögen.
43
WILHELM: Dschuang Dsi, S. 283.
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2. Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming
Für ein Verständnis der literaturkritischen und ästhetischen Debatten im China des 16. Jahrhunderts (etwa die fünfzigjährige Spanne zwischen 1670–1720) ist zunächst wieder das historische, soziale und intellektuelle Umfeld der Epoche zu skizzieren. In der Mitte des 16. Jahrhunderts (vor allem in den Regierungsperioden Longqing, 1567–72, und Wanli, 1573–1619) erreichte die Ming-Zeit eine kulturelle Blüte, die etwa bis zur Jahrhundertwende andauerte. Die Dynastie währte dann noch knapp fünfzig Jahre, bevor die kriegerischen Mandschuren im Jahre 1644 die von innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Eunuchencliquen und Beamten geschwächte Ming hinwegfegte und die Qing-Dynastie gründeten. Begünstigt wurde die kulturelle Blüte in der Mitte und zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von einem außenpolitisch relativ friedlichen Umfeld – weder die Niederlassung der Portugiesen in Macao im Jahre 1557 noch der Einfall der Japaner in Korea (1590) hatten kriegerische Folgen – sowie von einer bemerkenswerten Zunahme des Wohlstands einer vor allem vom Handel geprägten städtischen Bevölkerung. Drei Entwicklungen sollten für das kulturelle Klima eine besondere Wirkung entfalten: 1. Der Buchdruck hatte in seinen frühesten Formen als Blockdruck bereits in der Tang-Zeit begonnen und in der Song-Zeit mit beweglichen Lettern (bzw. Zeichen) einen Standard erreicht, der Gutenbergs Erfindung in China um Jahrhunderte vorwegnahm; in der Ming führte dessen Weiterentwicklung zum Aufleben einer städtisch geprägten Literatur, die jedoch nicht mehr einzig dem klassischen elitären Literatenmilieu galt, sondern Literatur als geistreiche Unterhaltung für ein breites, gebildetes städtisches Publikum zur Verfügung stellte. In der Ming-Zeit beobachten wir somit das Aufkommen der bereits zu Anfang des letzten Kapitels genannten umgangssprachlichen Romane und Novellensammlungen, wobei letztere vor allem auf das Wirken von Feng Menglong (1574–1645) als Sammler und Autor zurückgehen. Das für die Bühne gemachte Singspiel (zaju) hatte sich bereits in der vorangegangenen Yuan-Zeit etabliert und erreichte mit dem romantisch angelegten Päonienpavillon (Mudanting) des Tang Xianzu (1550–1616) ebenfalls einen neuen Höhepunkt. Das Interesse der Bildungsschicht war somit gespalten: Einerseits hing man nach wie vor den durch die Klassiker (und der damit verbundenen Schriftsprache) gesetzten Präferenzen an; andrerseits war man nicht mehr abgeneigt, sich von leicht lesbaren Romanen und kurzweiligen Novellen – mit Liebesthematik nicht nur zwischen Menschen, sondern häufig auch zwischen Menschen und Geistern – unterhalten zu lassen.
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Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming
2. Der Buddhismus erfuhr eine bemerkenswerte Renaissance durch das Wirken des Mönchs Zhuhong (1535–1615), dessen Lehre die wohl größte Neuerung auf dem Gebiet des Buddhismus seit der Song-Zeit darstellte. Ursprünglich ein Mönch der Chan-Schule vertrat er eine Position der Verschmelzung des elitären Meditationsbuddhismus (Chan) mit dem eher volkstümlichen Buddhismus der Schule des »Reinen Landes« (Jingtu). War der Chan-Buddhismus eine zwar allem Intellektuellen enthobene, dafür gleichwohl eine intellektuell höchst anspruchsvolle Lehre, so bietet die Schule des »Reinen Landes« einen intellektuell eher schlichten und rituell orientierten Erlösungsbuddhismus. Grundelement des letzteren ist die Anrufung des Amitabha-Buddha, welcher im »Paradies des Westens« thront (Westen ist hier als Indien zu verstehen, woher der Buddhismus kam). Allein die gläubige Anrufung des Buddha-Namens genüge, um erlöst zu werden, konkret: um in seinem Paradies – dem »Reinen Land« – wiedergeboren zu werden, wo die Erlangung der endgültigen Buddhaschaft dann nur noch ein Kinderspiel sei. Zhuhong trug erheblich zur Popularisierung des Buddhismus sowie zu einer Vermittlung zwischen Buddhismus und Konfuzianismus bei. Die von ihm erreichte Zusammenführung der beiden großen chinesischen buddhistischen Schulen sollte den Buddhismus in China bis heute prägen. 3. Die Interpretation des Neokonfuzianismus durch Wang Yangming hatte (als Synthese von Konfuzianismus Menzius’scher Prägung und Chan-Buddhismus) das subjektive, intuitive »Wissen vom Guten« (liangzhi) des einzelnen Menschen in den Vordergrund gestellt und desweiteren betont – analog zur Lehre des MahayanaBuddhismus von der universalen Buddhaschaft –, daß das Zeug zum konfuzianischen Weisen in jedermann angelegt sei: die Straßen seien sogar voll von potentiellen Weisen. Während noch bei Wang Yangming jedoch lediglich eine Neigung zu einer derartig subjektivistischen Auffassung der klassisch konfuzianischen Lehre festzustellen war, so wurde diese Tendenz bei seinen Nachfolgern voll ausgefahren, um nicht zu sagen ins Extrem gesteigert. Dies geschah vor allem bei seinen direkten Schülern Wang Ji (1498–1583) und Wang Gen (1483–1541), deren Lehre als Taizhou-Schule bekannt ist (so genannt nach der Heimat von Wang Gen), sowie bei deren Nachfahren, von denen sich vor allem Yan Jun (Mitte des 16. Jh.) und schließlich Li Zhi (1527–1602) als unkonventionelle Denker einen Namen machten. Kennzeichen dieser auch als »linke« oder subjektivistische Schule der Wang Yangming-Lehre bekannten Richtung ist ein Ablehnen aller Autorität durch die Klassiker, vielmehr war der einzelne selbst dafür verantwortlich, sich in seinem Herzen/Geist (xin) mit dem »Prinzip des Himmels« (tianli) zu identifizieren. Insbesondere in der Auslegung durch Wang Gen – und parallel zu Zhuhongs Popularisierung des Buddhismus – erfuhr der Neokonfuzianismus eine Bewegung weg von der klassischen Elite hin zum allgemeinen Volk, denn, so Wang Gen, der normale Mensch bzw. jedermann sei bereits ein Weiser. Desweiteren trug dieser neue Neokonfuzianismus offenbar deutliche Züge einer religiösen Bewegung, die
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weite Schichten der Bevölkerung erfaßte44, und schließlich ging damit auch ein Bemühen um eine breit angelegte Volkserziehung einher. In diesem Zusammenhang steht auch das Ansinnen, eine Verbindung (wenn nicht sogar eine Einheit) zwischen den drei Lehren Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus zu finden (san jiao he yi); dies sollte überhaupt zu einem wichtigen Element der ming-zeitlichen Geistesgeschichte werden. Unter anderem waren Jiao Hong45 (1541–1620), ein enger Freund von Li Zhi und Vordenker der GonganSchule, sowie der ursprünglich daoistische Mönch Lin Zhao'en (1517–1598) diesem Ziel verpflichtet. Die von Lin Zhao'en gegründete Bewegung einer »Lehre der Drei in Einem« (Sanyi jiao) blieb lange einflußreich46 und wirkte auch auf die in diesem Kapitel zu behandelnden Protagonisten ein. Es versteht sich von selbst, daß eine wie bei der Taizhou-Schule ins Extrem neigende Auslegung der altehrwürdigen Lehre der konfuzianischen Klassiker nicht widerspruchslos blieb. So wurde sie auch bereits von Zeitgenossen als eine nur milde verbrämte Form der Selbstsucht verurteilt. In der Tat wurden von den Nachfahren der Taizhou-Schule Thesen geäußert, die für die damalige Zeit revolutionär klangen: Es sei kein Wert mehr zu legen auf Zurückhaltung, vielmehr seien die menschlichen Gefühle und Triebe naturgemäß und sollten somit voll ausgelebt werden; kurzum, Selbstausdruck statt Selbstbeschränkung sei gefragt, und selbstbezogen zu sein, entspreche den Prinzipien der menschlichen Natur. Von qingzeitlichen Kritikern wurde später hier ein folgenschwerer Zusammenhang aufgestellt, daß nämlich die Zügellosigkeit der damaligen Intellektuellen die Dynastie von innen ausgehöhlt und somit den Fall der Ming herbeigeführt hätte. Doch auch unter den Zeitgenossen gab es Kritiker dieser Richtung; unter ihnen sei hier stellvertretend der im letzten Kapitel ausführlich gewürdigte Wang Shizhen (1526–1590) zitiert: Was schließlich zu den starken Übertreibungen [der Vertreter dieser Schule] führte, war, daß sie ihre Lehre dazu nutzten, um einen Kult des Heroismus zu fördern, und daß sie den Kult des Heroismus dazu nutzten, um einer uneingedämmten Selbstsucht zu frönen. Ihre Künste hatten nichts an sich, das einen Menschen hätte zum Handeln bewegen können, und da ihnen jegliche Überzeugung und Anteilnahme fehlte, fanden sie sich zusammen im Trommeln, Hörnerblasen und Flügelschlagen, brachten damit Volksscharen auf die Beine […], so daß sie nahe daran waren, eine Katastrophe auszulösen, wie es zuvor die Bewegungen der »Gelben Turbane« oder der »Fünf-Scheffel-Reis-Sekte« [in der späten Han44
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WM. TH. DEBARY: Sources of Chinese Tradition, Vol. I (rev. ed.), New York: Columbia UP 1999, S. 864–85. EDWARD T. CH'IEN: Chiao Hung and the Restructuring of Neo-Confucianism in the Late Ming, New York: Columbia UP 1986. LIU TS'UN-YEN: »Lin Chao-en: The Master of the Three Teachings«, T'oung-Pao, Nr. 53: 4–5 (1967), S. 253–278.
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Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming Zeit] getan hatten. Zwar hatte der Wechsel von Wang Yangmings Lehre zur Taizhou-Schule (Wang Gen) noch keinen allzu großen Schaden verursacht, doch mit dem Übergang von der Taizhou-Schule zu Yan Jun verrottete alles, fiel auseinander und ließ sich nicht mehr zusammenfügen.47
Yan Jun wird meist mit Li Zhi in Verbindung gebracht, und so kulminierte diese Entwicklung mit dem Auftreten dieses – nach allgemeiner Einschätzung – bedeutendsten Individualisten und Nonkonformisten in der chinesischen Geistesgeschichte.
2.1 Ikonoklasmus und Relativismus – Li Zhi Li Zhis ikonoklastische Einstellung kommt bereits in den Titeln seiner beiden Hauptschriften zum Ausdruck, dem 1590 erschienenen Fenshu (Buch zum Verbrennen) und dem im Jahre 1600 veröffentlichten Cangshu (Buch zum Verstecken). Andrerseits mag die Wahl der auch selbstironisch wirkenden Titel von einer Vorausahnung begleitet gewesen sein, denn beide Bücher, die in kurzen Texten konventionelle Moralvorstellungen widerlegen und von einer wesentlichen Einheit der drei Lehren – Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus – ausgehen, waren zeitweise (auch in der darauffolgenden Qing-Zeit) verboten. Nachdem Li Zhi im Jahre 1602 aufgrund einer Anklage inhaftiert wurde, nahm er sich im Gefängnis das Leben. Die spätere Bewertung von Li Zhi und seinen Vorläufern schwankt naturgemäß nach politischer Couleur: Wird ihr Wirken von den einen als früher – und leider gescheiterter – Versuch gefeiert, die europäische Moderne um Jahrhunderte vorwegzunehmen (so avancierte Li Zhi auch während der jüngsten Epoche der VR China zu einem Vorreiter des Materialismus und Vorzeigedenker der chinesischen Geistesgeschichte48), steht es für andere (wie für den bereits zitierten Wang Shizhen) als Zeichen einer dekadenten Haltlosigkeit und Beliebigkeit, die dazu beitrug, das innere gesellschaftliche Fundament der Ming-Zeit zu zerstören, wodurch die derart geschwächte Dynastie dem Ansturm der Mandschuren keinen Widerstand mehr entgegen zu setzen wußte. Wie dem auch sei, Li Zhi hat sich auch in die literarischen Debatten seiner Zeit eingemischt und dadurch nachhaltig auf seine Zeitgenossen – so auf die YuanBrüder von der Gongan-Schule – gewirkt. Auch traf er mit dem damals wichtigsten Europäer in China, dem Jesuiten Matteo Ricci, zusammen. Daß er trotz seines 47
48
Zitiert nach WM. TH. DEBARY: »Individualism and Humanitarianism in Late Ming Thought«, in: WM. TH. DEBARY (Hg.): Self and Society in Ming Thought, New York: Columbia UP 1970, S. 178. In DeBarys Artikel findet sich eine ausführliche Darstellung der Lehren der Hauptvertreter der Taizhou-Schule. S. WILFRIED SPAAR: Die kritische Philosophie des Li Zhi (1527 – 1602) und ihre politische Rezeption in der Volksrepublik China, Wiesbaden: Harrassowitz 1984.
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Ikonoklasmus weitgehend an den klassischen Lehren orientiert blieb, zeigt sein kurzer Bericht über das Zusammentreffen mit Matteo Ricci: Ricci ist ein Mann aus den fernen Westlanden. Von dort bis nach China sind es mehr als hunderttausend (chinesische) Meilen. Er segelte zunächst über das Meer nach Indien und war schon über vierzigtausend Meilen gefahren, als er zuerst von der Existenz Buddhas erfuhr. Nachdem er nach Kanton gekommen war, erfuhr er erst, daß es im Lande unserer großen Ming-Dynastie einstmals Yao und Shun und danach den Herzog von Zhou und Konfuzius gegeben hat. Er lebte fast zwanzig Jahre zu Zhaoqing bei Kanton und las die ganze Literatur unseres Landes. […] Er ist ein Mann, der seine Meinung äußert. Im Innern ist er ganz klar und außen ganz schlicht. Wenn eine Gesellschaft von mehreren zehn Leuten durcheinander redet, und alle gegenseitig ihren Standpunkt wahren, steht er bei Seite und läßt sich nicht zur Einmischung provozieren und in Verwirrung bringen. Unter den Menschen, die ich gesehen habe, ist keiner ihm vergleichbar. […] Aber ich weiß nicht, wieso er hierher gekommen ist. Ich bin schon dreimal mit ihm zusammen gewesen und weiß schließlich doch nicht, wozu er hierher gekommen ist. Sollte es etwa sein Wunsch sein, auf Grund seiner Lehre unsere Lehren des Herzogs von Zhou und von Konfuzius zu ändern, dann wäre das allzu töricht. Ich glaube, darin besteht nicht (der Zweck seines Hierseins).49
Man könnte parallel dazu – und im Rückblick auf Li Zhis eigenes Schicksal – hinzufügen, wenn es Li Zhis Anliegen gewesen sein sollte, die überkommenen Lehren in China zu ändern, so wäre das womöglich ein ebenso prekäres, jedenfalls zum Scheitern verurteiltes Unterfangen gewesen. Gleichwohl zeigt seine Einschätzung von Ricci, daß er diesen aufgrund von Charaktereigenschaften bewunderte, die wohl zum Teil jedenfalls auch auf ihn selbst zugetroffen haben. So kritisch sein Denken gegenüber der konfuzianischen Tradition gewesen sein mag, so knüpft Li Zhi doch wesentlich bei Wang Yangmings Betonung des »intuitiven Wissens« – welches sich wiederum ganz an Menzius orientiert – an, so auch seine berühmt gewordene »Theorie vom kindlichen Herzen/Geist« (tongxin shuo). Sie trägt deutliche Spuren von Menzius, aber auch von Zhuangzis Zivilisationskritik. Der Text hat auf die Literaturdiskussion stark eingewirkt und soll deshalb in seinen einzelnen Teilen etwas ausführlicher vorgestellt werden: Das kindliche Herz ist das wahre Herz. Das kindliche Herz zu negieren heißt, das wahre Herz zu negieren. Das kindliche Herz ist unverfälscht und rein, es ist das ursprüngliche Herz (benxin) von Anfang an. Wer sein kindliches Herz verliert, der verliert auch sein wahres Herz. Wer sein wahres Herz verliert, ist kein wahrer Mensch mehr. […] Doch wie geht das kindliche Herz verloren? Am An49
Aus einem Brief an einen Freund; Übers. von Wolfgang Franke (mit geringfügigen Veränderungen) in: GÜNTHER DEBON und WERNER SPEISER (Hg.): Chinesische Geisteswelt – Zeugnisse aus drei Jahrtausenden, Hanau: Werner Dausien 1987, S. 270–71.
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Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming fang eines Menschen stehen Hören und Sehen, das er über Ohren und Augen wahrnimmt. In dem Maße, wie diese [Informationen] in ihn eindringen und sein Inneres einnehmen, geht das kindliche Herz verloren. Später nehmen Argumente und Meinungen sein Innerstes ein, und so geht das kindliche Herz [weiter] verloren. Im Laufe der Zeit nehmen Argumente und Meinungen sowie Informationen täglich zu, und sein Wissen wird dementsprechend täglich breiter; dann lernt er die Vorzüge eines guten Rufes zu schätzen und möchte diesen unter allen Umständen verbreiten, lernt er die Nachteile eines schlechten Rufs kennen und möchte diese unter allen Umständen vermeiden, wodurch das kindliche Herz verloren geht. Was Argumente, Meinungen und Informationen betrifft, so erwirbt man sich diese durch Bücherstudium und Kenntnis moralischer Prinzipien. Natürlich haben die Weisen des Altertums auch Bücher studiert! Doch bei ihnen wäre das kindliche Herz auch noch vorhanden gewesen, wenn sie kein Bücherstudium betrieben hätten; und wenn sie sich dem Bücherstudium widmeten, verhinderten sie doch, daß das kindliche Herz verloren ging – nicht wie die heutigen Gelehrten, die durch vieles Bücherstudium und Kenntnis moralischer Prinzipien nur das kindliche Herz verdecken. […] Wenn nun Informationen, Argumente und Meinungen das Herz besetzen, dann ist die Sprache dementsprechend; sie kommt dann nicht mehr aus dem kindlichen Herzen. Selbst wenn diese Sprache kunstvoll ist, was bringt sie mir? Ist es nicht einfach so, daß eine falsche Person eine falsche Sprache spricht, falsche Dinge tut und falsche Texte schreibt? Wenn ein Mensch also falsch ist, so ist alles, was er tut, falsch. […] Obwohl es auf der Welt vorzügliche Literatur gibt, ist diese doch aufgrund von falschen Menschen in Vergessenheit geraten und wird von späteren Generationen kaum noch wahrgenommen. Warum? Von aller vorzüglichen Literatur auf der Welt gibt es keine, die nicht aus einem kindlichen Herzen stammt. Wenn das kindliche Herz bewahrt bliebe, dann kämen Argumente und Meinungen nicht zum Zuge und setzten sich Informationen nicht fest, dann gäbe es keine Zeit und keine Menschen, die nicht literarisch gebildet wären, dann gäbe es keine wie immer geartete sprachliche Schöpfung, die nicht Literatur wäre.50
Hier bezieht sich Li Zhi ganz explizit auf verschiedene zentrale Aussagen von Menzius wie z.B.: »Ein großer Mann bewahrt sein kindliches Herz«51. Auch klingen Menzius’ Ausführungen zum »ursprünglichen Herzen« (benxin) an (Menzius, 6A.10), so in dessen Gleichnis von den Wäldern auf dem Kuhberg (6A.8), worin er deutlich macht, daß unser ursprünglich zum Guten neigendes Herz durch den Kontakt mit der Außenwelt und den Mangel an Pflege verloren geht. Zum Zweck der Bildung (xuewen) sagt Menzius: »Die Bildung dient uns zu nichts anderem, 50
51
»Tongxin shuo«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 117–118; vgl. SPAAR: Die kritische Philosophie des Li Zhi, S 149–153; YANG YE: Vignettes from the Late Ming – A Hsiao-p'in Anthology, Seattle: University of Washington Press 1999, S. 26–28. Menzius, 4B.12. Menzius benutzt allerdings ein Wort für Kind, das eher die Bedeutung »Säugling« (chizi) trägt. Demgegenüber deutet Li Zhis tong auf das eigentliche Kindesalter hin. Im Sinne sind sich jedoch beide gleich.
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als nur dazu, unser verloren gegangenes Herz zu suchen« (6A.11). Und ähnlich wie bei Li Zhi (und Wang Yangming) ist auch bei Menzius das intuitive »Wissen vom Guten« (liangzhi) das, »was die Menschen wissen, ohne sich dessen zu besinnen« (7A.15). Li Zhis Ideen besitzen allerdings auch einen eindeutig zivilisationskritischen Impuls mit Anklängen an Zhuangzi. Kernpunkt in seiner Argumentation ist der Gedanke, daß das von der Gesellschaft und ihren moralischen und literarischen Präferenzen noch unverbildet gebliebene menschliche Herz – nämlich das kindliche Herz – in der Lage sei, aus sich heraus, also spontan, sprachlich etwas zu schaffen, das als Literatur gelten könne. Dieser aus der Wang Yangming-Lehre, dem ChanBuddhismus und Daoismus stammende primitivistische Standpunkt dient ihm dazu, die konfuzianische Vorliebe für die traditionell hochgeschätzte und maßstabsetzende Literatur des Altertums als Fehler zu entlarven. Stattdessen meint Li Zhi, bringe jede Zeit gute Literatur hervor, so auch die aus seiner Sicht jüngste Epoche mit ihren umgangssprachlichen Romanen: Warum soll sich dann die Dichtung nach den Vorgaben des Altertums und des »Kompendiums der Literatur« (Wenxuan) richten? Warum soll die Prosa sein wie die der Vor-Qin-Zeit? Als die Zeit der Sechs Dynastien anbrach, änderte sich die Situation und entstand das »Gedicht im neuen Stil« (jintishi), dann änderten sich die Zeiten wieder und ließen die »Überlieferungen von Merkwürdigkeiten« (chuanqi: Novellen in klassischer Sprache), die Dramentexte, Singspiele, Das Westzimmer (Xixiangji), [den Roman] Die Räuber vom Liangshan-Moor (Shuihuzhuan) und den Prüfungsessay (»Achtgliedrigen Aufsatz«) entstehen. […] All diese Werke sind beste Literatur aus alter und neuer Zeit; man darf sie nicht allein nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung beurteilen. Deshalb meine ich, daß ein kindliches Herz ganz von sich aus Literatur entstehen lassen kann. Was soll man da nur von den Sechs Klassikern, von den Gesprächen (des Konfuzius) oder von Menzius sprechen? Und was die Sechs Klassiker, die Gespräche und Menzius angeht, so wurden diese entweder von Geschichtsschreibern überbewertet oder ernteten exzessives Lob von Beamten. Und andrerseits zeichneten wohl pedantische Jünger und unwissende Schüler nur aus der Erinnerung auf, was sie von ihren Lehrern gehört hatten; dabei verstanden sie manchmal den Anfang, aber nicht das Ende, manchmal begriffen sie den späteren Teil, vergaßen aber den früheren – wie sie es gerade vernahmen, so zeichneten sie es in den Büchern auf. […] Wie kann man somit diese Schriften als höchste und alle Zeiten überdauernde Ansichten ausgeben? So bilden die Sechs Klassiker, die Gespräche und Menzius nur einen Vorwand für die sogenannten Gelehrten des Dao [die Song-Neokonfuzianer] und ein Versteck für Scheinheilige. Sie können niemals mit den Äußerungen des kindlichen Herzens auf eine Stufe gestellt werden. Ach! Wo finde ich einen Weisen, der sein kindliches Herz noch nicht verloren hat, so daß ich mit ihm über Literatur reden könnte?52 52
Ebd.
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In den abschließenden Passagen klingen Ideen aus dem Zhuangzi an, so z.B. dessen Kritik an der Kultur gegenüber der Wertschätzung von Substanz53, oder in dem bekannten Satz (am Ende seines Gleichnisses von den Fischreusen und Hasenfallen): »Wo finde ich einen Menschen, der die Worte vergißt, auf daß ich mit ihm reden kann?«54 Interessant sind hier desweiteren Li Zhis Position eines historischen Relativismus, daß nämlich die Literatur einer jeden Epoche ihre eigenen Maßstäbe setzt, sowie die nur angedeutete Epocheneinteilung. Beide Standpunkte sollten später Standard der Literaturbetrachtung werden. Insgesamt gesehen muß zu Li Zhis Argumentation in diesem einflußreichen Essay allerdings kritisch angemerkt werden, daß nicht nur der literarische (oder künstlerische) Primitivismus eine fragwürdige Position ist, sondern daß auch die Verbindung, die er von dort zu einem – durchaus gerechtfertigten – historischen Relativismus zieht, logisch nicht schlüssig ist und insofern nicht ganz überzeugt. Wie dem auch sei, die Attacke auf die altehrwürdigen literarischen Standards in diesem Essay genügte wohl, um ihn zu einem gefeierten Dokument einer neuen Schule werden zu lassen, die eben Neuigkeit und Zeitgemäßheit als »moderne« Maßstäbe propagierte. Die für seine Zeit gewiß revolutionäre Idee eines historischen Relativismus ist indes sehr wohl überzeugend, und es war dieser Gedanke, der am meisten aus seinem Essay ausstrahlte und von den jüngeren Gefolgsleuten wie den YuanBrüdern bereitwillig aufgenommen und weiter ausgestaltet wurde. Seine Kritik setzt jedoch nicht nur bei der Literatur an. Das eigentlich Ketzerische an Li Zhi war, daß er angesichts der intuitiven moralischen Fähigkeiten jedes Menschen auch die Relevanz von Konfuzius für spätere Epochen, und somit auch für seine eigene, verneinte: Ein Mensch trägt in dem, was ihm von der Natur mitgegeben ist, seine eigene Bestimmung in sich und hat es nicht nötig, erst die Lehren eines Konfuzius anzunehmen, um sich zu vervollkommnen. Bräuchte man immer etwas von Konfuzius, dann wäre es doch im hohen Altertum, als es noch keinen Konfuzius gab, unmöglich gewesen, ein wahrer Mensch zu werden. […] Übrigens hat Konfuzius niemals gelehrt, man solle »von Konfuzius lernen«.55
Aus heutiger Sicht spricht aus seinen Thesen nur der common sense, in seiner eigenen Epoche brachten sie ihm indes Verfolgung ein (nicht anders als Kritikern der christlichen Lehre im mittelalterlichen und früh-neuzeitlichen Abendland). Doch Li Zhi relativierte nicht nur historisch die konfuzianischen Lehren und stellte so ihre Bedeutung in Frage, er hielt den Ersten Kaiser der Qin-Dynastie, der sich 53 54 55
Zhuangzi, Kap. 16; WILHELM: Dschuang Dsi, S. 175. Zhuangzi, Kap. 26; WILHELM: Dschuang Dsi, S. 283. »Da Geng Zhongcheng«, YE QINGBING und SHAO HONG (Hg.): Mingdai wenxue piping ziliao huibian, Taipei: Chengwen 1979, Bd. II, S. 619; vgl. SPAAR: Die kritische Philosophie des Li Zhi, S. 106f.
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durch die Verbrennung der konfuzianischen Klassiker und Verfolgung der konfuzianischen Gelehrten für alle Zeiten als Erzbösewicht aller Konfuzianer einen Namen gemacht hat, für den größten aller Kaiser.56 Dies ist eine Aufwertung von Qin Shihuang, die dieser in der chinesischen Geschichte nur noch einmal, nämlich in der Kulturrevolution unter Mao, erfahren sollte. In seinem Essay über das »kindliche Herz« zeigte sich bereits, daß Li Zhi den Stil des Prüfungsaufsatzes verteidigte. Zu diesem Thema hat er sich auch in einer weiteren Schrift geäußert, die den Gedanken eines historischen Relativismus weiterführt: Was den zeitgenössischen Prüfungsaufsatz (shiwen) angeht, so bildet dieser die literarische Form, mit dem unsere heutige Epoche die Gelehrten wählt. Es ist nicht die Epoche der Alten. Wenn wir nun von heute das Alte betrachten, so ist das Alte natürlich nicht das Heute. Wenn man jedoch von einem späteren Zeitpunkt auf das Heute zurückblickt, so wird das Heute wiederum alt sein. Deshalb heißt es, die Literatur steige und falle mit der Zeit. Steigen und Fallen ist eine Sache der Beurteilung. Ist einmal ein Urteil festgelegt, dann wird es einfach in die späteren Zeiten übernommen. Aber ist das nicht willkürlich? […] Deshalb wurde nach der Popularität des »Fünf-Wort-Gedichts« das »Vier-Wort-Gedicht« als eine alte Gattung der Dichtung betrachtet; und nachdem in der Tang-Zeit das Regelgedicht aufkam, war das »Fünf-Wort-Gedicht« (im alten Stil) veraltet. Für uns sind heute bereits die »Gedichte im neuen Stil« der Tang-Zeit veraltet; so besteht kein Zweifel daran, daß [für die Menschen] nach zehntausend Jahren unsere jetzige Zeit ebenso alt wie die Tang-Zeit sein wird.57
Li Zhis Argumentation wirkt auf einen modernen Leser durchaus überzeugend, denn unsere literarischen Urteile und Präferenzen sind bekanntlich zeitgeistbedingt. Insofern gibt es keine dauerhaft gültigen Standards. Für Li Zhis Epoche war der Prüfungsaufsatz neu und attraktiv als Genre. Allerdings liegt eine unverkennbare Ironie der Geschichte eben darin, daß einer der größten Nonkonformisten der chinesischen Geistesgeschichte eine Literaturgattung verteidigt, die von späteren Generationen als das Nonplusultra stereotyper und konformistischer Literatur gegeißelt werden sollte (mehr dazu weiter unten im Zusammenhang mit der GonganSchule). In einer anderen Schrift äußert sich Li Zhi näher dazu, wie er die beim Verfassen von Literatur angestrebte Natürlichkeit (den in seinem Essay über das »kindliche Herz« angeklungenen »Primitivismus«) versteht, daß nämlich große Kunst aus einer gleichsam daoistisch verstandenen spontanen Kreativität hervorzugehen hat. Li Zhi unterscheidet hier anhand eines Wortspiels zwischen »verwandelnder Kunst« und »Künstlichkeit«; beides wird auf Chinesisch hua-gong gesprochen, 56 57
GOODRICH: Dictionary of Ming Biography, S. 811. »Shiwen houxu«, in: YE: Mingdai wenxue piping ziliao huibian, S. 626.
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wobei die erste Silbe hua jedoch im ersten Fall »verwandeln« und im zweiten Fall »bemalt« bedeutet; das zweite Zeichen gong ist hingegen weniger als »Kunst«, sondern eher als »Kunstfertigkeit« zu verstehen. Die Stücke »Pavillon der Mondverehrung« (Baiyueting von Guan Hanqing) und »Das Westzimmer« (Xixiangji von Wang Shifu) stellen verwandelnde Kunst dar; das Stück »Die Geschichte der Pipa-Spielerin« (Pipaji von Gao Ming) ist hingegen nur künstlich. Was die Künstlichkeit angeht, so versucht sie, sich die verwandelnde Kunst von Himmel und Erde anzueignen, versteht aber nicht, daß Himmel und Erde überhaupt keine Kunst haben. Was der Himmel hervorbringt und was die Erde wachsen läßt, alle hundert Blumen und Gräser, wenn die Menschen dies sehen, gefällt es ihnen sehr; doch wenn sie nach dieser Kunst suchen, finden sie nichts. […] Wenn man weiß, daß die Schöpfung kunstlos ist, dann versteht man auch, daß selbst Götter und Weise nicht wissen können, wo die verwandelnde Kunst am Werke ist, geschweige denn, wie man sie erlangen könnte. Von dieser Warte aus gesehen mag Künstlichkeit auch noch so ingeniös sein, sie bleibt doch zweitklassig.58
Die »verwandelnde Kunst« geschieht analog zu dem Schaffen von Himmel und Erde – man kann sie sich weder zum Vorbild nehmen, denn sie ist eigentlich keine Kunst, noch läßt sich ihr Wesen und Wunder ergründen. »Künstlichkeit« ist hingegen ein bemühtes Nachahmen dieser natürlichen Kreativität. Hier liegt Li Zhi ganz auf der Linie einer traditionell daoistisch orientierten Ästhetik. Die hier bei Li Zhi gezeigten Argumentationslinien sollten später von der Gongan-Schule fast gänzlich übernommen werden. Dies gilt auch und gerade für seinen historischen Relativismus sowie die Ansätze eines literarischen Primitivismus, wobei, wie schon erwähnt, sich die beiden Positionen nicht unbedingt logisch auf eine Linie bringen lassen. Li Zhi war jedoch nicht an einer einheitlichen und in sich stimmigen Lehre interessiert – ebensowenig wie seine Nachfolger von der Gongan-Schule. Sein Anliegen war in erster Linie vielmehr anzuecken und aufzurütteln. Mit diesem Bemühen war er durchaus erfolgreich, insofern besitzt sein Werk eine normabweichende Frische, auch es trug wesentlich zu einer höchst lebhaften und unkonventionellen Blüte in der chinesischen Literatur- und Geistesgeschichte bei, die allerdings aufgrund der politischen Umbrüche nicht lange währen sollte.
2.2 Individualität und Authentizität – Die Gongan-Schule Aufgenommen und weiterentwickelt wurden Li Zhis unkonventionelle Ideen von dem etwa vierzig Jahre jüngeren Yuan Hongdao (1568–1610) und seinen beiden Brüdern, dem älteren Yuan Zongdao (1560–1624) und dem jüngeren Yuan 58
»Za shuo«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 120.
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Zhongdao (1570–1624), die kollektiv nach ihrem Heimatort Gongan in der heutigen Provinz Hunan als die Gongan-Schule (Gongan pai) oder die »drei Yuan von Gongan« genannt werden. Alle drei Yuan-Brüder waren talentierte Literaten, die ihre Fähigkeiten und Kenntnisse der konfuzianischen Tradition durch Bestehen der Beamtenprüfungen früh unter Beweis stellten – so nahmen alle drei die höchste Hürde, indem sie die Prüfung zum jinshi bestanden, Yuan Zongdao sogar als erster auf der Liste. Unter ihnen entwickelte sich Yuan Hongdao, der an Jahren mittlere, zum Wortführer und profiliertesten Denker und Schriftsteller der drei. Nach Bestehen seiner jinshi-Prüfung (1592) nahm Yuan Hongdao den direkten Kontakt zu Li Zhi auf. Wie nachhaltig Li Zhis Einfluß auf Yuan Hongdao war, macht eine Passage bei seinem jüngeren Bruder Zhongdao deutlich: Nachdem der Herr [Yuan Hongdao] Li Zhi begegnet war, begann er zu verstehen, daß durch alles Sammeln von Klischees, halsstarriges Festhalten an Konventionellem und Angebundenbleiben an die Sprache der Alten nichts Brillantes hervorgebracht werden konnte. Von da ab fühlte er sich großartig und leicht wie eine Feder im Wind oder wie ein großer Fisch, der sich in der Tiefe tummelt. […] Die Alten umzukrempeln und nicht von ihnen umgekrempelt zu werden – wenn man beim Schreiben nach diesem Prinzip verfährt, fließen die Worte eins nach dem anderen direkt aus dem Herzen.59
Die drei Yuan und Li teilten über die Jahre unterschiedlich starke Neigungen zum Buddhismus bzw. zu dem Gedanken einer Versöhnung von Buddhismus und Konfuzianismus. So war der älteste der drei Brüder (Yuan Zongdao) bereits ein Gefolgsmann von Lin Zhao'en, dem Meister der »Einheit der drei Lehren«, gewesen. Daneben hatten sie mit Li Zhi eine Vorliebe für die neue umgangssprachliche Roman- und Dramen-Literatur sowie für Volkslieder gemein; sie argumentierten stark gegen den Einfluß der Archaisten mit deren Präferenz für die Dichtung der Tang-Blüte und machten sich schließlich auch gemeinsam stark für den Stil des damaligen Prüfungsaufsatzes, bekannt als shiwen, »zeitgemäße Prosa«, später auch baguwen, »achtgliedriger Aufsatz«, genannt. Wenn wir Li Zhi als hauptsächlichen theoretischen Ideengeber für Yuan Hongdao herausgestellt haben, so stand ihm eine nicht weniger bedeutende Figur als ästhetischer Einfluß zur Seite. Das literarische und künstlerische Werk von Xu Wei (1521–1593), eines höchst unorthodoxen individualistischen Autors und Künstlers (Maler und Kalligraph), stellte nämlich ebenfalls eine wesentliche Inspiration für Yuan Hongdao dar. Xu Wei ist eine – auch heute noch – schwer zu beurteilende Person, die immerhin Züge zum Wahnsinn zeigte60. So soll er sich an verschiedenen Körperstellen (sogar bis zur Selbstkastration) verstümmelt haben; 59
60
»Miaogaoshan Fasi bei«, YUAN ZHONGDAO: Yuan Xiaoxiu wenji (Zhongguo wenxue zhenben congshu), Shanghai 1936, S. 299; zitiert nach LI: Der Weg des Schönen, S. 362–63. S. den Eintrag zu Xu Wei in GOODRICH: Dictionary of Ming Biography, S. 609–612.
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auch hatte er seine dritte Frau erschlagen, wofür er nur knapp (durch Fürsprache von Gönnern) der Hinrichtung entkam. Gleichwohl wurden nicht nur seine vier Singspiele61 sowie seine theoretische Abhandlung zum südlichen Singspiel62, sondern auch sein künstlerisches Werk, insbesondere seine ungezügelte Kalligraphie und seine ungestümen und in ihrer skizzenhaften Wildheit geradezu genialen Tuschemalereien (hauptsächlich von Pflanzen- und Vogelmotiven) von vielen späteren Literaten hoch geschätzt63. In einer für sich selbst geschrieben Grabinschrift äußert sich Xu Wei in folgender (und relativ moderaten) Weise über sich selbst: (Xu) Wei hat sich nie besonders um Recht und Sitte gekümmert. Er konnte manchmal abrupt aus der Rolle fallen, ohne sich je an [die Maßstäbe] konfuzianischer Gelehrter gebunden zu fühlen. Und wenn er einmal die Grenzen überschritt, die Recht und Sitte ziehen, so sträubte er sich auch dagegen, [hinterher] den Beschämten [zu spielen]. Er suchte nach einem Mittelweg zwischen Schmutz und Reinheit, und selbst wenn man ihm den Schädel gespalten hätte, wäre man seiner nicht [wirklich] habhaft geworden.64
Yuan Hongdao hat die Entdeckung von Xu Weis Werk in einer (nicht ganz faktengetreuen) Biographie festgehalten, die zu seinen am meisten gefeierten Schriften gehört und auch in die qingzeitliche Prosasammlung Guwen guanzhi (Das Beste an alter Prosa) aufgenommen wurde, in der sie – als zweitletzter Text – fast den Schlußpunkt setzt65.
Kritik am Nachahmen des Altertums bei den Archaisten Die Kritik der drei Yuan-Brüder galt in erster Linie dem bis in ihre Tage reichenden Einfluß des Archaismus. Die »Früheren« und »Späteren Sieben Meister« hatten die Normen für die Dichtung an das Vorbild der Tang-Blütezeit geknüpft und empfahlen, diese alten Vorgaben nachzuahmen (fugu) bzw. sich an die daraus abzuleitenden Regeln (fa) zu halten. Yuan Hongdao versucht zwar, ein positives 61
62
63
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Sisheng yuan (Vier Schreie eines Affen); s. JEANNETTE FAUROT: »Four Cries of a Gibbon: A Tsa-chü Cycle by the Ming Dramatist Hsü Wei (1521–1593)«, Diss., UC Berkeley, 1972. K.C. LEUNG: Hsü Wei as a Drama Critic – An Annotated Translation of the Nan-tz'u hsü-lu, Eugene: University of Oregon Press 1988. Ein großer Verehrer von Xu Weis Malerei und Kalligraphie war z.B. der qingzeitliche »Exzentriker« Zheng Banqiao, der sich selbst als »Laufender Hund [Lakai] unter Xu Weis Tor« (Xu Qingteng menxia zougou) stilisierte; s. POHL: Cheng Pan-ch'iao, S. 14, 92, 107f. GUO DENGFENG (Hg.): Lidai zixuzhuan wenchao, Taipei: Taiwan Shangwu 1965, S. 347; Übers. von WOLFGANG BAUER: Das Antlitz Chinas – Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München: Hanser 1990, S. 382. »Xu Wenchang zhuan«; Übersetzungen davon finden sich in YE: Vignettes from the Late Ming, S. 53ff, und HUNG MING-SHUI: The Romantic Vision of Yuan Hung-tao, Late Ming Poet and Critic, Taipei: Bookman Books 1997, S. 81ff.
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Element in deren Bemühungen zu sehen, stellt jedoch fest, daß sie schlußendlich auf ein Plagiieren hinauslaufen: In neuerer Zeit haben einige Literaten wieder die fugu-Theorie bemüht, um [den Niedergang der Literatur] zu überwinden. Der fugu-Gedanke an sich ist durchaus richtig. Doch ist es dazu gekommen, daß man das Plagiieren als fugu bezeichnet, daß man einzelne Sätze und Wörter nachahmt und diese zu harmonisieren trachtet und die Szenerie vor den eigenen Augen verwirft zugunsten irgendeiner abwegigen Formulierung.66
Die Yuan-Brüder wollten in der Dichtung wieder der »Szenerie vor den eigenen Augen« zu Recht verhelfen. Kunst entsteht durch die Begegnung des Künstlers mit der Welt und nicht durch Kopieren vergangener Dichtung. Dies wird in einem Text deutlich, in dem Yuan Hongdao auf ein Gespräch mit seinem Zeitgenossen, dem berühmten Maler und Kunst-Theoretiker Dong Qichang (1555–1636), anspielt. Hinsichtlich Dong Qichangs Könnerschaft – und in Erweiterung dessen – meint Yuan Hongdao: Ein guter Maler lernt von den Dingen und nicht von den Menschen. Der gute Gelehrte lernt von seinem Herzen, nicht von einer Lehre, und wer gut ist im Dichten, der lernt von der Vielfalt der Bilder und nicht von früheren Dichtern.67
Ebenso wie der Maler sich an der Natur anstatt an den Formen der Vergangenheit orientieren sollte, so kommt es für den Dichter darauf an, die Bilder, die die Welt liefert, literarisch zu verarbeiten. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß Dong Qichangs Gemälde aus heutiger Sicht einerseits extrem an der Vergangenheit, nämlich an den Vorbildern der Yuan-Dynastie, orientiert wirken (Max Loehr spricht von »kunsthistorischer Kunst«), sie andrerseits aber auch neue Ideen und Veränderungen der jeweiligen Vorbilder beinhalten.68 Es bleibt somit ein gewisser Widerspruch, daß nämlich Dong Qichangs Bilder keineswegs den Eindruck vermitteln, er habe sich an der Natur orientiert, vielmehr hat er offenbar – ähnlich wie Huang Tingjian in der Dichtung der Song-Zeit – mit bildlichen Anspielungen gearbeitet und die Vorbilder der Vergangenheit kreativ verändert. Insofern spiegelt sein künstlerisches Werk ebenfalls die Spannung zwischen Nachahmung alter Meister und Neugestaltung durch eigene Ideen wider. 66
67
68
»Xuetaoge ji xu«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 206; Übers. SCHMIDTGLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 445. »Xu Zhulin ji«, in: YE: Mingdai wenxue piping ziliao huibian, S. 646; Übers., SCHMIDTGLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 446; vgl. CHAVES: »The Panoply of Images«, S. 352: S. LOEHR: »Art-historical Art«, S. 35f, und WAI-KAM HO: »Tung Ch'i-ch'ang’s New Orthodoxy and the Southern School Theory«, in: F. MURCK (Hg.): Artists and Traditions, Princeton: Princeton UP 1976, S. 125–126. Zu Dong Qichang s. auch Exkurs 3 in Teil VI.
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Ein Schlüsselbegriff bei Yuan Hongdao mag hier eine Erklärung bieten: die künstlerische »Idee« (yi), deren Bedeutung bereits im letzten Kapitel bei den Archaisten ausführlich gewürdigt wurde. Sie ist es, die trotz Anlehnungen an vergangene Meister im kreativen Prozeß eine Umgestaltung (bian) und Neuerung bewirkt. Im Vorwort zu Yuan Hongdaos Schriften, geschrieben von seinem jüngeren Bruder Zhongdao, wird auf diesen Zusammenhang zwar kurz, doch prägnant, eingegangen: Seit der Song- und Yuan-Zeit wurden Dichtung und Prosa immer verdorbener, spießiger und verworrener. So traten dann in unserer Dynastie Edle hervor, um diese Tendenzen zu korrigieren: Prosa sollte sein wie die der Qin- und HanZeit, Dichtung wie die der Tang-Blüte (Li Mengyang). So wußte man nun zum ersten Mal, daß es Regeln der Alten gab. Das Ergebnis waren jedoch Plagiate überall – wie Fälschungen von Dreifüßen und anderen antiken Gefäßen. Man ahmte nämlich bloß die äußere Form nach und kümmerte sich nicht um Geist und inneres Wesen. Da trat unser Herr [Yuan Hongdao] hervor und erschütterte diese Verhältnisse. Er zeigte, daß die Idee (yi) sich die Regel (fa) zum Diener machen müsse, und nicht – umgekehrt – die Regel sich die Idee zum Diener machen dürfe. So fegte er mit einem Mal die schlechten Angewohnheiten etablierter Konventionen beiseite, und das Licht der Dichtung und Prosa erstrahlte wieder in neuem Glanz.69
Wenn es also ein Dichter versteht, die Regeln zum Diener seiner Ideen zu machen, so würde sich mit Regeln durchaus kreativ umgehen lassen. Bei (dem mingzeitlichen) Wang Shizhen hörten wir bereits im letzten Kapitel, die künstlerische Idee sei der Angelpunkt von Dichtung und Prosa; auch hieß es, man müsse sich beim Schaffen von der Idee und nicht von den Regeln leiten lassen. Der Gedanke einer den Schaffensprozeß leitenden künstlerischen Konzeption oder Vorstellung – die »Sphäre der Ideen« (yijìng), so die moderne chinesische ästhetische Begrifflichkeit, die sich ja aus tangzeitlicher buddhistischer Terminologie entwickelt hatte – tritt in dieser Epoche nun verstärkt hervor. Auch sieht man hier, daß sich gewisse Grundpositionen der Gongan-Schule durchaus mit Ansichten einiger der späten »Archaisten« vereinbaren lassen. Im unmittelbaren Anschluß an die eben zitierte und Dong Qichang betreffende Passage bringt Yuan Hongdao noch einen weiteren Aspekt hinsichtlich des Nachahmens der Alten ins Spiel; er betont, daß Nachahmung der Dichtung der Tang-Zeit nur bedeuten dürfe, den Geist der Neuerung nachzuahmen, der diese auszeichnete, nämlich daß sich die Tang-Dichtung ganz wesentlich von ihren Vorgängern unterscheidet. Nur daran gilt es, sich zu orientieren; also sollte dann auch die Botschaft für die Dichtung der eigenen Epoche lauten: sich von ihren Vorgängern zu unterscheiden: 69
»Zhonglang xiansheng quanji xu«, in: YE: Mingdai wenxue piping ziliao huibian, S. 713f.
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DIE MING-ZEIT Die Dichtung der Tang nachzuahmen (fa), kann dies etwa bedeuten, sich an ihre Strukturen Satz für Satz und Wort für Wort zu halten? Es bedeutet nichts anderes, als deren Besonderheit nachzuahmen, nämlich daß die Tang-Gedichte nicht wie die Gedichte der Han, Wei oder der Sechs Dynastien sind.70
Allerdings waren die Yuan-Brüder nicht ohne eigene Vorbilder aus der Vergangenheit. Nahmen sich die mingzeitlichen Archaisten vor allem die Gedichte der TangBlütezeit von Du Fu, Li Bai, Wang Wei etc. als Muster, so bevorzugten die YuanBrüder demgegenüber die Dichtung der mittleren Tang und der Song-Zeit. Der älteste der drei Brüder ging sogar so weit, im Namen seines Studios (»Bai-Su-zhai«) eine homage auf Bai Juyi aus der mittleren Tang-Zeit und den song-zeitlichen Su Shi anklingen zu lassen. Insofern ließe sich bei den Yuan-Brüdern womöglich ebenfalls von einem – sich lediglich an anderen Vorbildern orientierenden – Archaismus sprechen.
Schlüsselkonzepte: Historischer Relativismus, »Authentizität«, »angeborenes Naturell« und »Würze« Bei Li Zhi sind wir bereits dem Gedanken der historischen Bedingtheit von Orthodoxie und literarischem Geschmack begegnet; mit anderen Worten: Literatur und intellektuelle Trends sind zeitgeistbedingt. Yuan Hongdao bemerkt zu diesem Thema folgendes: Es ist die Zeit, die die Literatur vom Altertum zur Moderne vorwärts treibt. Das Kriterium »schön« oder »häßlich« folgt der Zeit, nicht den Augen des Menschen. […] Das Altertum bezieht sich auf die alte Zeit, und heute haben wir die jetzige Zeit. Die Leute, die an der Sprache des Altertums festhalten und vorgeben, Menschen des Altertums zu sein, sind Leuten ähnlich, die Sommerkleidung im strengen Winter anziehen. […] Die Leute, die Talent haben, beugen sich Regeln und wagen nicht, ihr Talent zu erkunden; und diejenigen, die kein Talent besitzen, nehmen ein paar oberflächliche Formulierungen und reimen sie zu einem Gedicht zusammen. […] Es ist eine Schande, daß Dichtung so tief gesunken ist.71
Sprache – die Umgangs- und Schriftsprache – verändert sich; doch wer weiß, wie die Sprache der Vergangenheit, an der sich gewisse Kreise der Ming-Zeit immer wieder ausrichten wollten, wirklich ausgesehen hat? So wie die alten Texte auf die heutige Epoche befremdend wirken, so werden auch die heutigen Texte auf zukünftige Epochen altertümlich und schwerverständlich wirken. Deshalb soll die Schriftsprache einer Epoche für die Zeitgenossen eingängig sein und sich nicht an einem vergangenen Ideal orientieren. Der älteste der drei Brüder, Yuan Zongdao, 70 71
»Xu Zhulin ji«, in: YE: Mingdai wenxue piping ziliao huibian, S. 646. »Xuetaoge ji xu«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 205–06; vgl. HUNG: Romantic Vision of Yuan Hung-tao, S. 106, 108.
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Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming
führt in folgender Passage diesen Gedanken einer historischen Relativität am Beispiel der Sprache noch ausführlicher aus. Die Sprache stellt den Geist des Menschen dar, und das Schreiben stellt die Sprache dar. Doch Schreiben und Sprache haben sich auseinander entwickelt; selbst wenn man klar und flüssig schreibt, so fürchte ich, daß es nicht dem entspricht, was aus dem Munde kommt, geschweige denn, was im Geist vorhanden ist. Deshalb sagte Konfuzius in Bezug auf schriftliche Gestaltung (wen): »Worte sollen verständlich sein, und das ist alles.«72 Etwas schriftlich zu gestalten heißt also, verständlich zu sein. Ursprünglich waren keine der schriftlichen Zeugnisse der [legendären Herrscher] Yao und Shun und der Drei Dynastien (Xia, Shang und Zhou) unverständlich. Doch wenn die Menschen von heute die alten Bücher lesen und diese nicht unmittelbar verstehen können, so meinen sie, die alten Texte seien merkwürdig und dunkel; heute schreibe man hingegen in leichtem und freiem Stil. So wie es die die alte und neue Zeit gibt, so gibt es auch eine alte und neue Sprache. Was man heute als merkwürdig und dunkel empfindet, wer weiß, ob es nicht damals einfach in den Gassen gesprochen wurde?73
Anhand konkreter Beispiele zeigt hier Yuan Zongdao, daß die Sprache des Shujing nicht mehr die des Zuozhuan, und die des Zuozhuan nicht mehr die des Shji ist. Warum soll man also heute beim Schreiben die gleiche Sprache benutzen wie im Zuozhuan oder im Shiji? In einem Brief (an Qiu Tan) nimmt sein Bruder Yuan Hongdao diese Argumentation auf, wobei auch eins seiner wichtigsten Kriterien für gute Kunst und Literatur anklingt: Authentizität (zhen). Wenn Dinge authentisch (zhen) sind, werden sie gemeinhin geschätzt. Wenn ich authentisch sein will, dann kann mein Gedicht nicht dem deinigen gleichen und schon gar nicht dem eines Mannes aus dem Altertum! Die Tang-Zeit hatte ihre eigene Dichtung, und sie mußte nicht den Stil des Wenxuan nachahmen. Und von den Perioden der Tang, der Frühen Tang, der Blütezeit, der Mittleren und Späten Periode, hatte jede ihre eigene Dichtung. […] Man fühlte sich keineswegs daran gebunden, wie Li Bai und Du Fu zu schreiben. Und in der Song-Zeit war es ebenso. […] Heute nun wollen die Edlen, daß die ganze Welt vom Tang-Stil erfaßt wird, und sie lasten es der Song-Zeit als Fehler an, daß sie nicht den TangStil pflegte. Doch wenn man der Song-Dichtung als Fehler anlasten wollte, daß sie nicht im Tang-Stil geschrieben ist, dann müßte man doch ebenso der TangDichtung anlasten, daß sie nicht dem Stil des Wenxuan, und dem Wenxuan, daß es nicht den Stilen der Han- und Wei-Zeit folgt. Und daß sie nicht im Stile der »Dreihundert Lieder« (des Shijing) geschrieben ist, müßte man der Han-Dichtung als Fehler anlasten, ebenso wie man den »Dreihundert Liedern« zum Vorwurf machen müßte, daß sie nicht wie die Knotenschnüre (mit denen man in der Frühzeit Nachrichten übermittelte) und die Vogelspuren (welche man zum Vorbild 72 73
Lunyu, 15.40. »Lun wen«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 196.
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DIE MING-ZEIT für die Schriftzeichen genommen haben soll) sind. Sollte man da nicht am besten zu nichts als einem Blatt weißen Papiers zurückkehren und die einzelnen Schulen der Dichtung alle samt und sonders wegwischen wie mit einem Staubwedel?74 Die Kraft (qi) der Dichtung ist von Epoche zu Epoche zurückgegangen; deshalb hat das Altertum mehr Tiefe und ist das Heute dagegen dünner. Doch das Außergewöhnliche, das Wunderbare, die Kunstfertigkeit und Vielfalt der Dichtung – all dies ist von Epoche zu Epoche blühender geworden. Deshalb hat das Altertum einen unauslotbaren Gefühlsreichtum und kennt das Heute keine Szenerien, die nicht zu beschreiben wären.75
Dies ist einer der am meisten zitierten Texte der Gongan-Schule, weil er das Anliegen der Archaisten sehr anschaulich ad absurdum führt. Darin zeigt Yuan Hongdao, daß es theoretisch unvernünftig ist, sich prinzipiell an der Vergangenheit zu orientieren, denn, so seine Frage, was wären die Vorbilder für die einzelnen Epochen der Vergangenheit selbst gewesen? Man würde bei sukzessiven Rückschritten in der Tat bei den Knotenschnüren und Vogelspuren landen. Anstatt sich also an gestern zu orientieren, muß gute Literatur authentisch oder echt (zhen) sein, d.h., sie darf kein falsches Gesicht, z.B. das eines Autors der Vergangenheit, tragen. In diesem Text wird jedoch auch deutlich, daß sich in Yuan Hongdaos Sicht die Literatur hinsichtlich ihrer Aussagekraft durchaus differenziert weiter entwickelt hat. Für Yuan besaßen die Schriften der Alten mehr Substanz, Tiefgang und Kraft, dafür stünden den Autoren seiner Zeit vielfältigere Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. In folgendem Textausschnitt sieht er das Bemühen seiner Zeitgenossen, den Mangel an Substanz durch Schmuck auszugleichen, als einen Verlust an Authentizität und dem Versuch gleich, der natürlichen Schönheit durch Schminke nachzuhelfen. Das Ergebnis sei nicht nur ein Mangel an Substanz, sondern meist eine noch größere Häßlichkeit: Wenn die Männer des Altertums Literatur schrieben, suchten sie nicht nach Schmuck (hua), sondern nach Substanz (zhi). Wir hingegen mögen versuchen, dies mit allen Kräften zu erlernen, nur, so fürchte ich, wird es uns an Authentizität (zhen) mangeln. […] Mit Substanz verhält es sich wie mit dem Gesicht [von Frauen]. Wenn sie meinen, ihr Gesicht sei nicht schön genug, versuchen sie, sich mit Rouge und Puder zu schminken; doch wird es sicherlich ihre Schönheit verringern und ihre Häßlichkeit vermehren.76 74
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Übers. (mit geringfügigen Veränderungen) SCHMIDT-GLINTZER: Geschichte der chinesischen Literatur, S. 444f. »Yu Qiu Changru«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 209f; vgl. JONATHAN CHAVES: Pilgrim of the Clouds – Poems and Essays by Yüan Hung-tao and His Brothers, New York, Weatherhill 1978, S. 16f. »Xingsuyuan cungao yin«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 203. CHIH-P'ING CHOU: Yüan Hung-tao and the Kung-an School, Cambridge: Cambridge UP 1988, S. 49.
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Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming
Beim Thema Authentizität ist man an Li Zhis eben angeführte Unterscheidung zwischen »Künstlichkeit« und »verwandelnder Kunst« erinnert. Authentische Kunst trägt Züge bzw. besitzt eine Kraft, wie Li Zhi sie der verwandelnden Kunst zuschreibt. Darüber hinaus bedeutet Authentizität für Yuan Hongdao auch, daß Literatur immer neu und außergewöhnlich zu sein hat, d.h., sie soll das zum Ausdruck bringen, was andere nicht zum Ausdruck bringen konnten: Wenn Literatur (wenzhang) neuartig (xin) und außergewöhnlich (qi) ist, so hat sie keine feste Form, sondern bringt nur das zum Ausdruck, was andere nicht ausdrücken können. Alle Regeln für Satzbau, einzelne Zeichen oder Melodik strömen aus der eigenen Brust; so entsteht wahrhaft Neues und Außergewöhnliches.77
Ein weiterer Schlüsselbegriff der Gongan-Schule – und einer, der mit Authentizität eng verwandt ist – ist das »angeborene Naturell« (xingling). Der Begriff war bereits in dem von Yuan Hongdao gemeinten Sinne von einem der Vorgänger der Gongan-Schule, nämlich Jiao Hong, in die Diskussion gebracht worden (und sollte von qingzeitlichen Kritikern, wie von Yuan Mei, wieder aufgegriffen werden). So schrieb Jiao Hong: »Dichtung hat keinen anderen Zweck, als die individuelle Sensibilität eines Menschen zu vermitteln.«78 In seinem Vorwort zu den Gedichten seines jüngeren Bruders Zhongdao schreibt Yuan Hongdao zu diesem Thema: Wohin seine Fußspuren gelangten, und das war fast die halbe Welt, dahin folgten seine Gedichte und Prosastücke, sodaß sie von Tag zu Tag Fortschritte machten. Ihm ging es im wesentlichen darum, sein angeborenes Naturell (xingling) auszudrücken und sich nicht durch Formen und Muster einengen zu lassen. Was nicht aus seinem Innersten herausströmte, das war ihm gar nicht erst wert, aufgezeichnet zu werden. Manchmal, wenn seine Gefühle mit einer »Sphäre/Vorstellung« zusammentrafen (qing yu jìng hui), schrieb er in einem Moment tausend Worte, und zwar so natürlich, wie das Wasser, das nach Osten fließt, so daß es die Seele des Lesers gefangen nimmt. Darunter gibt es manche hervorragende, aber auch manche weniger gelungene Passagen. Über die hervorragenden braucht man nicht eigens zu reden, doch auch die weniger gelungenen Passagen haben ihren ganz eigenen Charakter und zeugen von sprachlicher Kreativität. Ich selbst mag diese weniger gelungenen Passagen ganz besonders gern.79
Der Begriff xingling (»angeborenes Naturell« oder »individuelle Sensibilität«) ist allerdings keine Neuschöpfung der Ming-Zeit; die Wendung taucht bereits 77 78 79
»Da Li Yuanshan«, in: YE: Mingdai wenxue piping ziliao huibian, S. 666. »Yayuge ji xu«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 135. »Xu Xiaoxiu shi«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 211; vgl. CHAVES: »The Panoply of Images«, S. 358.
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DIE MING-ZEIT
an prominenter Stelle (im ersten und letzten Kapitel) in Liu Xies Geist der Literatur auf80. Allerdings gebraucht Liu Xie die beiden Schriftzeichen eher allgemein und in einem nicht-individualisierenden Sinne etwa als »menschliche geistige Fähigkeiten«; demgegenüber wird der Begriff bei Yuan Hongdao zum individuellen Merkmal und zur Manifestation der vielschichtigen Gefühlswelt eines Dichters. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß das damit durchaus verwandte Wort »Gefühl/Leidenschaft« (qing) gegen Ende der Ming-Zeit (auch und gerade im Zusammenhang mit dem Aufkommen der umgangssprachlichen Literatur) höchst populär wurde; so soll es Yan Jun (der unorthodoxe Vorgänger von Li Zhi) bereits auf seine Fahnen geschrieben haben81, auch taucht es bei Feng Menglong und Tang Xianzu als zentraler Begriff auf. Letzterer erklärt sogar qing zur Grundlage seines Werkes; so schrieb Tang im Vorwort zu seinem Singspiel Der Päonienpavillon: »Etwas mag zwar nicht der Vernunft entsprechen, doch kann es sehr wohl dem Gefühl entsprechen.«82 Diese Tendenzen korrelieren in der Ming-Zeit mit dem Aufkommen des Neokonfuzianismus der Wang Yangming-Schule, die ja eine Trendwende von »vernünftigen Prinzipien« hin zur Subjektivität des eigenen Herzens – mit seiner ganzen komplexen Gefühlswelt – hin einleitete. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch ein letztes Schlüsselwort für Yuan Hongdao erwähnenswert: Würze (qu). Lin Yutang, ein großer Verehrer von Yuan Hongdao in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erklärt qu als »fesselnd, würzig, Interesse weckend. Eine Szene, ein Mensch besitzt oder entbehrt qu. Im besonderen bezeichnet qu ein künstlerisches Vergnügen, zum Beispiel Tee trinken oder den Wolken zusehen«83. Yuan Hongdao führt selbst dazu aus (wobei er an Menzius und Li Zhi mit deren »Theorie vom kindlichen Herzen« anknüpfte): Was für die Menschen im Allgemeinen am schwersten zu erreichen ist, ist Würze (qu). Würze ist wie Farbe über einem Berg, wie Geschmack im Wasser, wie der Glanz einer Blume, wie der Anmut einer Frau. Selbst ein Redegewandter kann das nicht beschreiben; nur einer, der dies im Herzen begreift, versteht, was damit gemeint ist. Würze, die von Natur aus kommt, ist tief; kommt sie hingegen aus Gelehrsamkeit, so ist sie flach. Kinder kennen das Wort »Würze« nicht, doch was immer sie auch machen, geschieht mit Würze. […] Die glücklichste Zeit im Leben eines Menschen ist eben die des Kindes; und wenn Menzius davon 80 81
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S. SHIH: The Literary Mind and the Carving of Dragons, S. 2–3, 12–13. C.T. HSIA: »Time and the Human Condition in the Plays of T'ang Hsien-tsu« in: DEBARRY: Self and Society, S. 250. Zitiert nach LI: Der Weg des Schönen, S. 369. Das Zitat hat seinen Sinn darin, daß in dem Stück Der Päonienpavillon eine der zentralen Figuren vom Tode aufersteht. Im Glossar zu LIN YUTANG: Weisheit des lächelnden Lebens, Hamburg: Rowohlt 1986 (The Importance of Living, 1936), S. 493.
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Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming spricht, daß man »nicht das Herz eines Kindes verlieren« dürfe, oder wenn bei Laozi von der Fähigkeit eines Säuglings die Rede ist, so zeigt das darauf hin.84
Allerdings ist anzumerken, daß qu mit anderen Konnotationen bzw. in anderen Verbindungen bereits seit langem ein etabliertes Wort im ästhetischen Diskurs gewesen war. So heißt es schon in Yan Yus Canglangs Gespräche, daß die großen Dichter der Tang-Blüte aus xingqu heraus, d.h. in einem Zustand inspirierten Interesses, schrieben. Für Yuan Hongdao trägt qu hingegen eher eine individuellere, gefühlsbetonte Komponente.85 Am treffendsten paßt wohl für ihn ein Verständnis von qu, wie es Su Shi einmal formuliert haben soll, als er sagte: »Das was der Norm widerspricht, doch in Einklang mit dem Dao ist, das ist ›Würze‹« (fan chang he dao wei qu)86.
Verteidigung des »Achtgliedrigen Aufsatzes« (baguwen) Wie bereits bei Li Zhi erwähnt, tut sich auch bei Yuan Hongdao ein interessanter Widerspruch hinsichtlich der Präferenz für den »Prüfungsessay«, den sogenannten »Achtgliedrigen Aufsatz« (baguwen), auf87. Die Gongan-Schule und auch Li Zhi wurden von modernen Literaten der 4.-Mai-Bewegung – so von Lu Xuns Bruder Zhou Zuoren oder Lin Yutang – als Vorreiter einer modernen, individualistischen Literatur enthusiastisch gefeiert, wobei der Umstand, daß sie sich auch für den Prüfungsaufsatz stark machten, in der Regel unerwähnt blieb. Nach der Kritik von Gu Yanwu (1613–1682) und anderen früh-qingzeitlichen Denkern, die den Stil des Prüfungsaufsatzes und das ganze Prüfungssystem verurteilten88, wurde nämlich der »achtgliedrige Aufsatz« für die moderne Epoche zum Synonym für Rückständigkeit und intellektuelle Borniertheit. Deshalb soll hier der Vorliebe der Yuan-Brüder für dieses Genre mit ihrem Widerspruch zur modernen Einschätzung etwas näher nachgegangen werden. Folgende zwei Zitate zeigen Yuan Hongdaos Wertschätzung des Prüfungsaufsatzes: Die Funktion des Schreibens von Prüfungsaufsätzen liegt darin, herausragende Leute zu finden. Sind [die Aufsätze] nicht zeitgemäß, so können sie nicht her84
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»Xu Chen Zhengfu huixin ji«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, 121; vgl. LIU: Chinese Theories of Literature, S. 81, HUNG: The Romantic Vision of Yuan Hung-tao, S. 87–88. Die Zitate sind aus Menzius, 4B.12, Laozi, Kap. 20. S. LIU: Chinese Theories of Literature, S. 81, der qu mit »gusto« übersetzt. Überliefert in HUIHONG: »Lengzhai yehua« (CSJC), j. 5, S. 46; zitiert nach WAI-KAM HO (Hg.): The Century of Tung Ch'i-ch'ang. 1555–1636, Seattle: University of Washington Press 1992, I, S. 5. Derselbe Widerspruch zeigt sich auch bei dem qingzeitlichen »Individualisten«, Zheng Banqiao; s. POHL: Cheng Pan-ch'iao, S. 91ff. Kritisch am Prüfungssystem war auch der Roman Rulin waishi von Wu Jingzi (1701–1754); in deutscher Übersetzung (von Yang Enlin und Gerhard Schmitt); Der Weg zu den weißen Wolken – Geschichten aus dem Gelehrtenwald, Weimar: Kiepenheuer 1989.
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DIE MING-ZEIT ausragen; und wenn sie nicht die Möglichkeiten des Neuen ausschöpfen und bis ans Äußerste an Wandlungsfähigkeit gehen, so sind sie nicht zeitgemäß.89 Wenn man heutzutage dichtet, geschieht dies meist als Überrest vom Schreiben von Prüfungsaufsätzen. Ansonsten versucht man, wenn das Talent dafür nicht genügt, sich in Dichtung, und zwar um die eigenen Schwächen im Schreiben von Prosa zu verbergen. Deshalb sind Gedichte meist nicht kunstfertig gemacht. Was die zeitgenössische Prosa (den Achtgliedrigen Aufsatz) angeht, so lernt man ihn von Kindheit an, und überall in der Welt findet er Beachtung. Deshalb ist die zeitgenössische Prosa um ein hundertfaches mannigfaltiger als die Dichtung.90
Yuan Hongdao sieht also im Prüfungsaufsatz, seinerzeit auf chinesisch meist als »zeitgenössische Prosa« (shiwen) bezeichnet, nicht nur besondere Möglichkeiten eines zeitgemäßen Ausdrucks, sondern auch das Potential, Wandlungsfähigkeit bis zum Äußersten auszuspielen. Es ist interessant zu sehen, daß der »achtgliedrige Aufsatz« in der späten Ming am heftigsten von einer Gruppe verteidigt wird, die Wai-kam Ho beschreibt als »die unwahrscheinlichste Quelle, die rebellischste Fraktion der spät-mingzeitlichen Gesellschaft – die Anti-Archaisten und Individualisten, die im shiwen irgendwie wahre ästhetische Verdienste sahen trotz seiner zugegebenen Fehler und Mängel.«91 Wai-kam Ho versucht zu diesem Phänomen folgende Erklärung: Der grundlegende literarische Wert von shiwen (zeitgenössische Prosa – der »Achtgliedrige Aufsatz«) ergibt sich nicht aus seiner Substanz, sondern aus seiner Methode, seiner Vereinigung von zwei scheinbar gegensätzlichen Konzepten, nämlich »Regel« (fa) und »Veränderung« (bian). Shiwen wurde in Regeln geboren, unveränderbaren Regeln, und wurde wiedergeboren in stilistischen Veränderungen, selbst-erneuernden Veränderungen. Die Vitalität von shiwen hing fast gänzlich ab von der dauernden Umbildung seines Stils. So sprach man immer von shiwen als von einem vorherrschenden Stil einer gewissen Regierungszeit, einem Jahrzehnt, oder sogar einem Jahr – deshalb der Name Prosa im »zeitgenössischen Stil« oder »Periodenstil«.92
Auch Tu Ching-i erklärt die Vorliebe für den Prüfungsaufsatz in diese Richtung: [Die Schreiber der Ming-Zeit] wurden so vertraut mit den Mustern des baguEssays, daß Regeln und minutiöse Vorschriften der Form nicht mehr länger eine Fessel zu sein schienen. Nur nachdem einer dieses Stadium erreicht hatte, war 89
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»Shiwen xu«, in: YE: Mingdai wenxue piping ziliao huibian, S. 647; vgl. CHOU: Yüan Hungtao and the Kung-an School, S. 42. »Hao Gongyan shi xu«, in: YE: Mingdai wenxue piping ziliao huibian, S. 649; vgl. CHOU: Yüan Hung-tao and the Kung-an School, S. 43. WAI-KAM HO: »Tung Ch'i-ch'ang’s New Orthodoxy«, S. 125–126. Ebd.
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Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming er als Meister in der Lage, den Essay subtil zu verfassen. In diesem Sinne, und entgegen gemeinläufiger Ansichten vom bagu-Essay, wurde die Kreativität des Schreibers nicht vollständig unterdrückt. Indem sie zur zweiten Natur wurde, diente die Form als ein Mittel, durch welches man Unterschiede in der Emphase und, vielleicht, in der Persönlichkeit ausdrücken konnte.93
Eine Erklärung für das mingzeitliche Verständnis des Prüfungsaufsatzes mag man wieder in dem bereits erwähnten und auch bei Yuan Hongdao thematisierten Zusammenspiel von »Idee« und »Regel« finden. Weiterhin stellt dieses Zusammenwirken das Bindeglied zu den von modernen chinesischen (und westlichen) Literaturhistorikern gleichfalls gerne kritisierten Archaisten – nämlich aufgrund deren Neigung zu Regelkonformität – dar. Für Yuan Hongdao, Li Zhi sowie einige der »Archaisten« galt es offenbar, sich mit Ideen (yi) und Wandlungsfähigkeit (bian) durch das Dickicht der Regeln des »achtgliedrigen Aufsatzes« zu bewegen. Die Vorschriften dieses neuen literarischen Genres stellten somit – wie das Regelgedicht in der Tang-Zeit – eine zeitgemäße Herausforderung an die Literaten dar, und der Könner zeigte sich, wiederum wie bei Goethe oder Du Fu, in der Fähigkeit, spielerisch kreativ diese Beschränkungen zu meistern.
Rezeption und Nachwirkung der Gongan-Schule Die Neuerungen der Yuan-Brüder blieben eine Zeitlang en vogue. Als erste Nachfolger traten Zhong Xing (1574–1624) und Tan Yuanchun (ca. 1585–1637) auf, die kollektiv als Jingling-Schule bezeichnet wurden (benannt nach dem Herkunftsort der beiden Protagonisten). Allerdings war die Meinung der Kritiker, so die von Qian Qianyi (1582–1664)94, einem weiteren spät-mingzeitlichen Gefolgsmann von Yuan Hongdao, daß sich die »theoretischen« Positionen der Jingling-Schule, die auf der Linie der Gongan-Schule lagen, nicht mit der »Praxis« bzw. ihren eigenen dichterischen Werken deckten. So sollte diese Schule auch keine weitere Wirkung entfalten. Die Meinungen über die Gongan-Schule blieben geteilt. Ihre kurze essayistische Prosa (Reiseberichte, Skizzen etc.), die sie trotz ihres Eintretens für die umgangssprachlichen Romane in gepflegtem schriftsprachlichem Stil verfaßten, wurde sehr wohl geschätzt95, nicht so sehr hingegen ihre Dichtung. Und was ihre Ansichten 93
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TU CHING-I: »The Chinese Examination Essay: Some Literary Considerations«, Monumenta Serica 31 (1974–75), S. 404. Qian Qianyi führte die Ideen der Yuan-Brüder weiter und verbindet (auch in seinen Lebensdaten) die Ming- und Qing-Zeit. Zu seinen ebenfalls eher nonkonformistischen Ansichten zur Literatur s. K.L. CHEN: »Not Words but Feelings«: Ch'ien Ch'ien-I (1582–1664) on Poetry«, Tamkang Review, 6.1 (April 1975), S. 55–75. S. auch NIENHAUSER: The Indiana Companion, I, S. 277–279. Zum Prosawerk von Yuan Hongdao s. die Ausführungen von Kubin und Eggert in EGGERT: Die klassische chinesische Prosa, S. 96–102, 158–160.
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DIE MING-ZEIT
zur Literatur betrifft, so wurden diese in ihrer eigenen Epoche und von den tonangebenden qingzeitlichen Literaten meist als zu radikal kritisiert. Die Herausgeber der orthodoxen kaiserlichen Bibliothek der »Vollständigen Bücher der vier Schatzkammern« (Siku quanshu) urteilten differenziert kritisch: Die Gongan-Schule initiierte einen feinen und ungewöhnlichen Klang, und die Jingling-Schule (ihre Nachfolgerin) plädierte wiederum für einen obskuren und schroffen Stil. Viele literarische Ansätze jenseits des Kanons konkurrierten und bildeten ein großes Stimmengewirr. Prunkvolle und filigrane Kunst betört das Herz; wachsames Denken hingegen nimmt Anteil am Schicksal des Landes. Die Ming-Dynastie ging aufgrund dieser geistigen Situation zu Grunde.96
Dies ist eine Einschätzung, die vor allem in der Qing-Zeit dominierte: Die subjektivistischen Tendenzen unter den Intellektuellen – von der Philosophie bis zur Literatur – hätten zur Dekadenz und somit zum Verlust gesellschaftlicher Wachsamkeit geführt, und dies hätte schließlich den Fall der Ming durch die fremdländischen Mandschuren und die Errichtung von deren Qing-Dynastie bewirkt. Ebenfalls kritisch äußerten sich die Herausgeber der Ming-Geschichte (Mingshi), allerdings mit einem anderen Vorwurf, dem der Oberflächlichkeit, der jedoch – und dies entspricht wiederum der allgemeinen Einschätzung – vor allem dem lyrischen (und nicht dem essayistischen) Teil des Œuvres der Yuan-Brüder gilt: »Doch wird [der Gongan-Stil] mit seinem Scherz und Spott, mit seiner gemischten Breite und ordinären Sprache von Oberflächlichen als bequem empfunden.«97 Betrachtet man die landläufige chinesische Auffassung, Stil sei die Person selbst, so wäre diese Einschätzung eines oberflächlichen Stils in der Dichtung auch als ein vernichtendes Charakterurteil zu werten. Yuan Hongdao war jedenfalls eine schillernde Figur, die vielleicht auch und gerade zu provozieren liebte. So sagte er einmal über sich selbst: Was Gedichte angeht, so spiele ich einfach mit dem Pinsel, laß mein Herz nach Belieben ausdrücken und laß meinen Mund nach Belieben sprechen. Die Menschen lieben Tang-Gedichte, so sage ich einfach, daß es aus der Tang-Zeit keine guten Gedichte gebe; sie lieben Qin-Prosa, so sage ich einfach, daß es aus der Qin-Zeit keine gute Prosa gebe. […] Weil ich eine tiefe Abneigung gegen die Mißstände hege, mag ich auch in meinem Versuch, die Verhältnisse zu verbessern, etwas über das Ziel hinaus geschossen sein.98
So erklären sich manche Übertreibungen in seinem Urteil vielleicht auch aus dieser Lust und Freude an der Provokation. 96 97 98
Siku quanshu zongmu, Taipei: Yiwen yinshuguan 1964, Bd. 5, S. 105. Mingshi, Bd. 24 (juan 288), S. 7398. »Yu Zhang Youyu«, in: GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 210–211.
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Ursprünglichkeit und Eigenheit – Nonkonformismus am Ende der Ming
Wollte man der Gongan-Schule abschließend gerecht werden, würde man wohl aus heutiger Sicht – und im Gegensatz zu den Zeitgenossen oder den nachfolgenden Qing-Literaten – eher das Positive betonen. So wäre zunächst auch die Neuerung eines historischen Relativismus als wegweisend zu würdigen. Desweiteren wirkten die Yuan-Brüder nicht nur mit ihren Kernbegriffen wie zhen, xingling und qu, sondern auch mit ihren unkonventionellen Gedichten und Prosastücken in erneuernder und erfrischender Weise auf die literarische Szene. Diese Wirkung wurde im 20. Jahrhundert wiederentdeckt, als die Gongan-Schule auf einige der Literaten der 4.-Mai-Bewegung eine große Faszination ausübte.99 Letztere liebten besonders den spielerisch unterhaltenden und natürlich-echten Stil der klassischen Kurzprosa (xiaopin wen) der Yuan-Brüder.100 Auch war es deren Verdienst, die Beziehung zwischen wen und Dao aufgebrochen zu haben. Man erinnere sich, daß seit der Song-Zeit das Diktum von Zhou Dunyi galt, wen, die Literatur, habe Dao, dem konfuzianischen »Weg«, zu dienen. Insofern erreichten Yuan Hongdao und seine Brüder eine Befreiung der Literatur von der Einengung durch die konfuzianische Moral. Dazu betonten sie den Wert von Volksliteratur, Volksliedern und umgangssprachlichen Texten. Was die Nachahmung der Vergangenheit angeht, so polemisierten sie heftig gegen die Orientierung der Archaisten, daß man nämlich in der Prosa der Qin- und Han-Zeit, in der Dichtung der Tang-Blüte zu folgen habe. Anstatt der Tang-Blüte nahmen sie sich vielmehr die großen Dichter der Tang-Mitte und Song-Zeit zum Vorbild. Mit dieser Orientierung an Bai Juyi und Su Shi könnte man ihnen allerdings in gewissem Sinne, und wie bereits erwähnt, einen lediglich an anderen Vorbildern orientierten Archaismus vorwerfen. In der Nachfolge der Gongan-Schule sollte jedenfalls der Unterschied der Orientierung – Tang-Blüte oder Song – als entscheidendes Merkmal der Literaten der folgenden Epoche noch an Bedeutung gewinnen.
99
100
S. DAVID E. POLLARD: A Chinese Look at Literature. The Literary Values of Chou Tso-jen in Relation to Tradition, London: Hurst & Co. 1973; LUTZ BIEG: »Die Bedeutung Yüan Hung-tao's für Chou Tso-jen: ein Ming-Literat als Identifikationsfigur«, in: RODERICH PTAK und SIEGFRIED ENGLERT (Hg.): Ganz allmählich: Aufsätze zur ostasiatischen Literatur, insbesondere zur chinesischen Lyrik. Festschrift für Günther Debon, Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt 1986, S. 34–48. S. z.B. HERBERT BUTZ: Yüan Hung-tao’s »Reglement beim Trinken« (Shang-cheng) – ein Beitrag zum essayistischen Schaffen eines Literatenbeamten der späten Ming-Zeit, Frankfurt: Haag u. Herchen 1988.
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Teil VI
Die Qing-Zeit (1644–1911)
1. Philologie und Poetik – Kulturelle Tendenzen der Qing-Zeit
Die Qing-Dynastie (1644–1911) ist die letzte Epoche des kaiserlichen China, die jedoch in ihren mehr als zweieinhalb Jahrhunderten den schmerzhaften und konfliktreichen Übergang vom traditionellen China in die Moderne mit einschließt. Insofern stellt diese – von Chinesen als Fremdherrschaft empfundene – Epoche alles andere als eine Einheit dar. War das ausgehende 17. Jahrhundert noch von Kämpfen geprägt, um die Machtbasis der neuen mandschurischen Herrscher im Inneren zu konsolidieren, so zeigt sich bereits in der einundsechzig Jahre dauernden Herrschaft des unter der Devise Kangxi regierenden Kaisers (1662–1723), daß das vom Krieg geschwächte Reich auf eine Phase materieller Prosperität und auch kultureller Blüte zusteuerte. Unter seinem Sohn, dem Yongzheng-Kaiser, blieb diese Tendenz erhalten. Sie führte sogar unter der darauffolgenden Regierungszeit des Qianlong-Kaisers (1736–96), der seinen Großvater an Regierungslänge hätte überholen können, jedoch aus Pietätsgründen nach sechzig Jahren zurücktrat (um wie auch die modernen Nachfolger der chinesischen Kaiser dann umso effektiver hinter den Kulissen zu regieren), zu einem Höhepunkt an Stabilität und Prosperität. So gesehen bildet die lange und meist friedliche Periode der genannten drei Herrscher eine Pax Sinica und in gewisser Weise sogar ein »goldenes Zeitalter«. Allerdings begannen sich auch in der späteren Qianlong-Zeit negative Tendenzen zu zeigen – und zwar von einer Bücher-Inquisition1 bis zu horrenden Korruptionsfällen –, so daß die Qianlong-Periode und überhaupt das 18. Jahrhundert den Höhepunkt, aber auch die Trendwende dieser Entwicklung markiert. Im 19. Jahrhundert erreichte dann China aufgrund des aggressiven imperialistischen Vorgehens der Westmächte im Opiumkrieg (1839–42), allen voran England, und auch wegen verheerender Unruhen und Aufstände im Inneren (z.B. der Taiping-Aufstand, 1850–64) einen Tiefpunkt seiner Entwicklung. Der von Sun Yat-sen betriebene republikanische und vor allem nationalistische, nämlich han-chinesisch motivierte, Widerstand gegen die Mandschu-Herrschaft führte schließlich zum Ende der Dynastie im Jahre 1911 und zum Beginn einer chinesischen Republik, die jedoch aufgrund einer Gemengelage von innen- und außenpolitischen Faktoren für Land und Bevölkerung keine wesentliche Besserung brachte. Für die Gelehrten der frühen Qing-Zeit bildete das unrühmliche Ende der MingDynastie eine traumatische Erfahrung. Ihnen war klar, daß die Eroberung durch die Mandschus nur den geschichtlich vorprogrammierten Abschluß eines inneren 1
LUTHER CARRINGTON GOODRICH: The Literary Inquisition of Ch'ien-lung, New York: Parragon 1966.
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DIE QING-ZEIT
Zerfalls bedeutete, der sich in den chaotischen politischen Zuständen am Ende der Dynastie manifestierte. Für die konfuzianisch gebildete Elite war ein Schuldiger für das Versagen der Ming schnell gefunden. Wie bereits im letzten Kapitel deutlich gemacht, wurde die neokonfuzianische Schule von Wang Yangming, insbesondere die seiner Schüler in der späten Ming, als »dekadent« und »subjektivistisch« kritisiert und für den Fall der Ming verantwortlich gemacht. Vor diesem Hintergrund war eine Trendwende im Geistesleben der Qing-Zeit nichts Überraschendes. Die Qing-Herrscher förderten den Song-Neokonfuzianismus und machten die Auslegung der Klassiker nach Zhu Xi zur Grundlage der Staatsprüfungen. Insofern erlebte die Song-Philosophie, insbesondere unter kooperationswilligen Chinesen, eine neue Blüte. Unkooperationswillige hingegen – Mingloyalisten – wandten sich nicht nur von der Ming-Philosophie ab, sondern auch von den offiziell sanktionierten Song-Lehren. Sie opponierten gegen abgehobenes, spekulatives Philosophieren und befürworteten stattdessen eine Rückwendung zu den Klassikern selbst bzw. zu den Erklärungen und Kommentaren aus einer Zeit, die derjenigen der eigentlichen Klassiker am nächsten lag, d.h. der Han-Dynastie. Dabei bemühte man sich um textkritische Untersuchungen der Klassiker und suchte Auslegungen durch etymologische, phonologische und epigraphische Beweismaterialien zu unterstützen. So wurden z.B. sechzehn Kapitel des altehrwürdigen Klassikers Buch der Urkunden (Shujing) als spätere Fälschung entlarvt. Die Wirkung, die diese Entdeckungen hatten, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Nun konnte – trotz heftiger Gegenreaktionen – vieles, was früher als sakrosankt galt, in Zweifel gezogen werden. Diese Bewegung einer hanzeitlich orientierten Gelehrsamkeit wird als »Han-Lehre« (Hanxue) bezeichnet (es ist auch der heutige chinesische Ausdruck für »Sinologie«). Insgesamt gesehen bedeutete die Abkehr vom Ming- (und Song-) Neokonfuzianismus hin zur HanGelehrsamkeit (in den Worten von Benjamin Elman) eine Bewegung »von der Philosophie zur Philologie«2. Betrachtet man die Philosophie als die Seele oder den Geist einer Epoche, so ist die Literatur meist das Medium, in welchem dieser Geist am lebendigsten seinen Ausdruck findet oder sich widerspiegelt. Sieht man einmal vom Roman Der Traum der roten Kammer (Hongloumeng) ab, so hat die Literatur der Qing-Zeit – zumindest in sinologischen Kreisen – vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gefunden. Das hat sicher auch damit zu tun, daß sie in der Lyrik – der traditionell in China am höchsten bewerteten Gattung – keine Neuerungen, d.h. keine neuen Formen und kaum herausragende Dichterpersönlichkeiten, hervorgebracht hat. Insgesamt läßt sich sagen, daß der Zeitgeist nicht in der klassischen Lyrik, d.h. der orthodoxen Literatur, sondern in einer unorthodoxen Literaturform, den umgangssprachlichen Erzählungen und Romanen, seinen Ausdruck fand. 2
BENJAMIN ELMAN: From Philosophy to Philology. Intellectual and Social Aspects of Change in Late Imperial China, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1984.
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Philologie und Poetik
Entgegen der landläufigen Einschätzung der Qing-Literatur als nur mäßig interessant, darf man mit Recht das literarische Leben der Qing als bunter und vielfältiger als das aller vorangegangenen Dynastien bezeichnen. Allein bedingt durch die langen Jahre der Stabilität und Prosperität unter Kangxi, Yongzheng und Qianlong erlebte das Buchwesen einen bedeutenden Aufschwung. Dazu trugen auch die großen Kompilierungsprojekte bei: vor allem die unter Kangxi initiierte Enzyklopädie Gujin tushu jicheng (Sammlung von Bildern und Schriften aus alter und neuer Zeit) und die vom Qianlong-Kaiser in Auftrag gegebene monumentale Sammlung Siku quanshu (Vollständige Bücher der Vier Schatzkammern), die praktisch die wichtigsten bis dato erfaßten (orthodoxen) Schriften zu den Klassikern sowie zur Philosophie, Geschichte und Literatur vereinigte. So gab es also ein enormes Anschwellen von Literatur jeglicher Art. Nicht nur umgangssprachliche, sondern auch eher klassische Werke wurden in Massendrucken verbreitet, ein Umstand, der die hohe Lesefähigkeit in der Qing widerspiegelt, wenn er nicht auch dazu beitrug. Wie bereits angeklungen, kann man zwischen einer orthodoxen, klassischkultivierten (ya) und einer unorthodoxen, umgangssprachlichen – und bisweilen als »vulgär« (su) eingestuften – Literatur unterscheiden. Zur ersteren Kategorie gehörte die Lyrik und die schriftsprachliche Prosa, zur zweiten das Singspiel oder Musikdrama (eigentlich eine Mischform von klassischer und umgangssprachlicher Literatur, abgesehen von der nicht mit überlieferten Musik), die Erzählung und der Roman. Es gab zwar gewaltige stilistische Unterschiede zwischen der orthodoxen und umgangssprachlichen Literatur, doch von literatur-soziologischen Aspekten her gesehen gibt es auch einige Gemeinsamkeiten, und zwar: – Beide Literaturformen wurden von der kulturellen Elite geschaffen; d.h., beide spiegeln das Wertesystem der Elite wider. – Es gab häufig populäre Fassungen von orthodox-klassischen Schriften z.B. von Geschichtswerken oder Klassikern. – Die umgangssprachliche Literatur – obwohl als »vulgär« für das Volk gedacht und abgewertet – erfreute sich großer Beliebtheit nicht nur bei den weniger gebildeten Massen, sondern ebenso stark bei der Elite: von Kaufleuten bis zum Kaiser wurde sie gelesen.3 Für die orthodoxe Literatur (Lyrik und klassische Prosa) galten gewisse Merkmale, die sich von ihrer ästhetischen Wirkung und Bewertung auch auf die Malerei ausdehnen lassen, und zwar: – der stete Bezug zu vergangenen Meistern und Modellen; – die enge Beziehung, die zwischen kreativer Genialität und moralischer Kultiviertheit (oder Charakter) gesehen wurde; 3
RICHARD J. SMITH: China’s Cultural Heritage – The Ch'ing Dynasty, 1644–1912, Boulder: Westview Press 1983, S. 190–93.
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DIE QING-ZEIT
– die theoretische Erörterung, die Wert auf Merkmale wie »Lebendigkeit« (sheng), »Bewegung« (dong), »Geist/Vitalität« (shen oder qi) und »Rhythmus/Wohlklang« (yun) legt. So verlangt der Kritiker Liu Dakui (1698–1780) folgendes für die Komposition klassischer Prosa: Mehr als alles andere muß Literatur nach starker Vitalität (qi) streben; doch wenn es keinen Geist (shen) gibt, der die Vitalität kontrolliert, dann wird sie zu wild und weiß nicht, wie sie zur Ruhe kommt. Geist ist der Herr über die Vitalität, und Vitalität ist die Anwendung von Geist. [...] Geist und Vitalität sind die feinsten Bestandteile von Literatur. Melodik und Rhythmus (yinjie) sind gröbere Elemente, und Diktion und Syntax (ziju) sind die gröbsten.4
Liu Dakui gehört zu einer Gruppe von Autoren, die nach ihrem Herkunftsort in der Provinz Anhui als Tongcheng-Schule bezeichnet wird (und die von der westlichen Sinologie noch mehr Erforschung verdient). Zu ihr sind noch Fang Bao (1668–1749) und Yao Nai (1732–1815) zu zählen. Letzterer verlangte von der Prosa, ähnlich wie Liu Dakui, folgende acht Grundelemente: Geist (shen), rationale Prinzipien (li), Vitalität (qi), Geschmack (wei), Form (ge), Regelhaftigkeit (lü), Wohlklang (sheng) und Farbigkeit (se), wobei er die ersten vier als feine oder essentielle (jing) und die letzten als grobe (cu) Elemente bezeichnete.5 Vergleichbare Aussagen findet man, wie wir sehen werden, auch zur Lyrik. Allerdings zählt die Lyrik nicht zu den herausragenden Künsten der Qing-Zeit; stattdessen erlebte die Lyrik-Theorie und -Reflexion einen erstaunlichen Aufschwung, wenn nicht sogar einen neuen Höhepunkt. Die literaturkritischen Schriften der Qing, die »Gespräche über die Dichtung« (shihua), übertreffen in Umfang und Rahmen alles, was in den vorangegangenen Epochen auf diesem Gebiet entstanden war. Aus dieser Flut von theoretischen und kritischen Schriften ragen jedoch nur ein paar bemerkenswerte und wichtige Werke hervor, von denen wiederum nur eins oder zwei systematisch genannt werden können. Der Großteil besteht aus Sammlungen beiläufiger Gedanken zur Dichtung in der shihua-Tradition. Die wichtigeren »Theorien« kreisen um ein oder zwei Schlüsselbegriffe, wie z.B. um shenyun (geistiger/unergründlicher Nachklang) bei Wang Shizhen (1634– 1711), wobei Wangs Ideen ganz in der mit Yan Yu einsetzenden Tradition der Deutung von Dichtung in chan-buddhistischer Terminologie stehen. Yuan Mei (1716–1798) versteht Dichtung hingegen als Ausdruck des »angeborenen Naturells« (xingling) des Dichters – ebenfalls Elaborierung einer bereits bestehenden Auffassung, nämlich der von Yuan Hongdao und der Gongan-Schule der Ming. 4
5
GUO: Zhongguo lidai wenlun xuan, III, S. 434; SMITH: China’s Cultural Heritage, S. 194; LIU: Chinese Theories of Literature, S. 96. YAO NAI: Guwenci leizuan, Peking: Zhongguo shuju 1986, Bd. I (Vorwort), S. 26.
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Philologie und Poetik
Diese Sicht der Literatur könnte man, um M.H. Abrams’ Terminologie zu entlehnen, »expressiv« nennen – im Gegensatz zur ersteren, die unter seine Kategorie »transzendental-mimetisch« fallen würde (d.h. Widerspiegelung einer ideellen, geistigen Realität)6. Wang Fuzhi (1619–1692), ein weiterer unabhängiger und kritischer Gelehrter von hohem Ansehen, hat wichtige Anmerkungen zu dem bekannten Topos einer Einheit von Gefühl (qing) und Szenerie (jing) im Gedicht geschrieben. Shen Deqians (1673–1769) Theorie ist bekannt als gediao-Theorie (wobei ge Form, diao Melodie bedeutet). Seine Ideen stellen eine Weiterführung der mingzeitlichen archaistischen Anschauungen dar, nämlich die der »Früheren und Späteren Sieben Meister«. Shen Deqians Anschauung ist sowohl formalistisch, als auch moralisch-didaktisch. Seiner Ansicht nach sollte Dichtung nach den Mustern der Tang verfaßt werden und einen moralisch belehrenden Einfluß haben. Shen Deqian war ein Schüler von Ye Xie (1627–1703), dessen poetologisches Traktat »Vom Ursprung der Dichtung« (Yuan shi) zu den systematischsten und deshalb bedeutendsten literaturkritischen Werken der Qing-Zeit gehört.7 Der ganzen Fülle an literaturtheoretischen oder -kritischen Äußerungen kann auch diese Überblicksdarstellung nicht gerecht werden, stattdessen werden im folgenden die wichtigsten Figuren in chronologischer Reihenfolge mit ihren zentralen Aussagen vorgestellt, und zwar Wang Fuzhi, Ye Xie, Wang Shizhen und Yuan Mei, einschließlich eines dritten Exkurses zu Malerei, sowie schließlich – gleichsam als Überleitung in die moderne Epoche – Wang Guowei (1877–1927).
5 7
ABRAMS: Spiegel und Lampe, S. 56. Für einen Überblick zu all den hier genannten Autoren und Werken s. LIU WEI-PING: »The Development of Chinese Poetics in the Ch'ing Dynasty«, erschienen in sechs Folgen in Chinese Culture: (1) XXVI, Nr.4, Dez. 1985, S. 1–40; (2) XXVII, Nr.1, März 1986, S. 49–74; (3) Nr. 3, Sept. 1986, S. 41–96; (4) Nr. 4, Dez. 1986, 55–78; (5) XXVIII, Nr. 2, Juni 1987, S. 13–57; (6) Nr. 3, Sept. 1987, S. 1–28.
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2. Szenerie und Gefühl – Wang Fuzhi
Wang Fuzhi (alternative Namen: Jiangzhai, Chuanshan) stammt aus einer Beamtenfamilie aus der heutigen Provinz Hunan. Schon früh machte er als erfolgreicher Kandidat bei den Staatsprüfungen auf sich aufmerksam. Die Prüfung zum juren schaffte er im Jahre 1642 im Alter von 23 Jahren. Allerdings brachte er es nicht zum regulären Beamten, da bald nach seiner Prüfung das Land von den Kämpfen zwischen den mandschurischen Eindringlingen und ming-loyalen Truppen heimgesucht wurde. Wang stellte sich auf die Seite der Ming-Loyalisten und kehrte nach deren endgültiger Niederlage in seine Heimat zurück, um bis zu seinem Tode im Jahre 1692 im Verborgenen zu leben und zu schreiben. Mit seinen philosophischen Erörterungen zur »materiellen Kraft/Vitalkraft« (qi) in der Nachfolge des songzeitlichen Neokonfuzianers Zhang Zai sowie mit seinen Ausführungen zu einer han-chinesischen Nationalität (in Abgrenzung zu den Mandschuren) gilt er in der volksrepublikanischen Geistesgeschichte als »Protomaterialist« und »Protonationalist« und deshalb als »fortschrittlich«. Allerdings waren seine Bücher wegen der qing-feindlichen Tendenz während der Qing-Zeit kaum in Umlauf. Erst nach Ende des Kaiserreiches wurde ihm der gebührende Ruhm zuteil, dies auch, weil er mit seinen zahlreichen Schriften zu den Klassikern und zu vielen anderen Aspekten der Philosophie, Geschichte und Literatur zu den profiliertesten Autoren des späten kaiserlichen Chinas zählt.8 Wangs Ideen zur Literatur sind in zahlreichen Schriften verstreut. Im folgenden wird lediglich auf ein Werk eingegangen: das »Jiangzhai shihua« (Gespräche über Dichtung aus dem Ingwerstudio)9. Dieses Werk weist zwar eine Fülle an Einsichten und Ideen zur Dichtung und Prosa auf, hat aber den – aus unserer heutigen Sicht gesehenen – Nachteil, der fast allen »Gesprächen über Dichtung« als Genre eigen ist, daß es unsystematisch angelegt ist und lediglich eine Aphorismensammlung darstellt. 8
9
S. ALISON H. BLACK: Man and Nature in the Philosophical Thought of Wang Fu-chih, Seattle: University of Washington Press 1989. Diese Schrift ist nicht von Wang Fuzhi selbst in dieser Form zusammengestellt worden, sondern wurde erst später aus verschiedenen Einzelteilen zusammengesetzt und fand so Aufnahme in die autoritative Sammlung Qing shihua (Qingzeitliche Gespräche über Dichtung), S. 1–22. Die gängige Fassung besteht aus zwei Teilen (im folgenden als A und B gekennzeichnet): dem »Shiyi« (Erläuterungen zu den Liedern) und dem ersten Teil (neibian) des »Xitang yongri xulun« (Erörterungen zum Zeitvertreib in der Abendhalle). Eine freie Gesamtübersetzung (mit Originaltext) bietet SIU-KIT WONG: Notes on Poetry from the Ginger Studio, Hongkong: Chinese UP 1987; eine Teilübersetzung (mit Original) hat OWEN: Readings, S. 451–491. S. auch SIU-KIT WONG: »Ch'ing and Ching in the Critical Writings of Wang Fu-chih«, in: RICKETT: Chinese Approaches to Literature, S. 121–150.
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Szenerie und Gefühl – Wang Fuzhi
Verschmelzung von Szenerie und Gefühl Der vielleicht dauerhafteste Topos während der gesamten chinesischen Literaturgeschichte lautet, daß Dichtung die Gesinnung (zhi) bzw. die Gefühle (qing) des Autors zum Ausdruck zu bringen habe. Damit einhergehend lief allerdings auch die Diskussion darüber, wie dies am besten zu bewerkstelligen sei, denn bekanntlich wirkt direkter Gefühlsausdruck platt und unpoetisch. So haben wir seit den frühesten Gedichten des Liederklassikers das Stilmittel des andeutungsreichen Naturbildes bzw. Natureingangs (xing), wodurch ein Zusammenklang von innen und außen, d.h. menschlicher Gefühlswelt und Welt der Natur, erreicht wird. Dabei wird diese Beziehung zwar unterschiedlich gefaßt, beinhaltet jedoch eine gängige Dichotomie, nämlich die zwischen »Ich« (wo) und Dingwelt (wu). Unter das »Ich« fallen im chinesischen Sprachgebrauch eine Reihe von Termini wie Gefühl (qing), (moralische) Gesinnung (zhi), Herz/Geist (xin) oder Intention/Idee (yi); auf der Seite der Außenwelt steht neben wu für »Dinge« meist nur ein Begriff: Szenerie (jing), was oft, jedoch nicht nur, ein Naturbild beinhaltet. So wurde und wird auch immer noch gerne ein chinesisches Gedicht auf die Weise analysiert, daß man bestimmte Zeilen, Verspaare oder Gedichthälften entweder dem inneren oder äußeren Bereich zuordnet. Wang Fuzhi gilt als einer der großen Literaten Chinas, die diesem bekannten Topos durchaus eigene Nuancen abgewonnen haben. So betont er zunächst den (nicht neuen) Gedanken, daß Gefühl (qing) und Szenerie (jing) ganz eng miteinander verschränkt sind: Obwohl Gefühl und Szenerie sich aufteilen lassen, indem das eine zum Bereich des Herzens/Geists (xin), das andere zu den Dingen der Außenwelt (wu) gehört, so läßt Szenerie doch Gefühl entstehen, und Gefühl erwirkt eine Szene. Ob man von Trauer oder Freude berührt wird, ob man auf Blühen oder Welken trifft, so ist das eine in der Wohnung des anderen verborgen.10
Die Art der Verschränkung beider Elemente wird hier nicht weiter argumentativ angegangen, sondern eher bildlich angedeutet: So wie wir das Gefühl der Trauer mit dem Welken in der Natur, Freude hingegen mit Blühen in Verbindung bringen, wohnt gleichsam das eine im anderen; beide Bereiche lassen sich nicht einfach auseinander dividieren. Und noch mehr als dieses: Wang Fuzhi zufolge sind Gefühl und Szenerie lediglich verschiedene Aspekte der Dichtung, die aber im Endeffekt eine einzige poetische Wirklichkeit darstellen. Wenn zudem das Zusammenwirken von Gefühl und Szenerie in der Dichtung gelungen ist, spiegelt es eine Qualität wieder, die im Chinesischen als shen – wörtlich göttlich, hier vielleicht am besten als »übernatürlich/unergründlich« zu verstehen – bezeichnet wird: 10
»Jiangzhai shihua«, A.16; Qing shihua, I, S. 6; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 52; OWEN: Readings, S. 490.
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DIE QING-ZEIT Gefühl und Szenerie sind zwar zwei verschiedene Bezeichnungen, doch in Wirklichkeit kann man die beiden nicht voneinander trennen. In unergründlicher/ göttlicher (shen) Dichtung verbinden sich beide in grenzenlos wunderbarer Weise. Sind Verse [lediglich] geschickt gemacht, dann findet man eine Szene in der Gefühlsdarstellung (qing zhong jing) und Gefühl in der Szenerie (jing zhong qing).11
In weniger gut gelungenen Versen sind also beide Bereiche zwar ineinander verwoben, allerdings noch in ihren jeweiligen Bestandteilen unterscheidbar. Die meisterhaften hingegen bilden eine magische Einheit, und sie sieht Wang am unergründlichen Wirken des Dao teilhaben: Wenn die im Inneren gehegten Gefühle zum Ausdruck kommen, wenn man auf Szenen trifft, die belebend auf den Geist wirken, wenn man Dinge verkörpern und so ihr unergründliches Wesen (shen) einfangen kann, dann entstehen Verse von magischer Kraft, die am Wunder des verwandelnden Werks der Natur teilhaben.12
Abgesehen von der beliebten Tendenz zur Mystifizierung, die wir bei chinesischen Literaten quer durch die ganze Geschichte hindurch beobachten können, drängen sich bei diesen Formulierungen im chinesischen geistesgeschichtlichen Kontext weitere Assoziationen und Vergleiche auf. So wird man an das Yin-Yang-Modell oder an die sogenannte ti-yong-Formel (Substanz-Funktion), die im chinesischen Denken, insbesondere im Bereich der Kosmologie und Weltdeutung eine so große Rolle spielen, erinnert. Yin und Yang stellen zwar ebenfalls unterschiedlich definierbare Kräfte dar, doch läßt sich das Dao nicht in Yang- oder Yin-Einzelteile zerlegen, vielmehr erzeugt ihr Zusammenspiel das unergründlich sich wandelnde und verwandelnde Werk der Natur, das sich in einer dynamischen Einheit offenbart. Die bei den Neokonfuzianern so beliebte ti-yong-Formel bietet sich ebenfalls als Vergleich an, denn diesem Denken zufolge sind ti (Substanz, Wesen) und yong (Funktion, äußere Manifestation) nur zwei Aspekte der Wirklichkeit, die jedoch »nicht [als] zwei« getrennt gesehen werden dürfen (ti-yong bu er). So findet man in neokonfuzianischen Schriften (und Wang gehört auf jeden Fall zu dieser Tradition) auf Schritt und Tritt Formulierungen, daß X (z.B. xing, die menschliche Natur) und Y (z.B. li, das metaphysische Ordnungsprinzip) zwar verschiedene Bezeichnungen seien, daß sie jedoch in Wirklichkeit ein und dasselbe darstellten. Wangs Formulierungen hinsichtlich Gefühl und Szenerie entsprechen genau diesem Muster. (Die angedeuteten kosmologischen Hintergründe kommen zwar in seinen »Gesprächen über Dichtung aus dem Ingwerstudio« nicht explizit zum Ausdruck, 11
12
»Jiangzhai shihua«, B.14; Qing shihua, I, S. 11; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 85; OWEN: Readings, S. 472f. »Jiangzhai shihua«, B.27; Qing shihua, I, S. 14; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 112; OWEN: Readings, S. 483f; LIU: Chinese Theories of Literature, S. 43.
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Szenerie und Gefühl – Wang Fuzhi
das Interesse daran läßt sich jedoch in Wangs anderen Werken dokumentieren.13) Man hat es hier in gewisser Weise mit durchgängigen und übergreifenden Denkmustern – Einheit in der Dualität/Vielfalt, Unergründlichkeit des natürlichen Wandels – der chinesischen Geistesgeschichte zu tun. Wang erläutert seine Gedanken gerne anhand von frühesten Gedichten, so wie zu folgender Gedichtstrophe aus dem Buch der Lieder, an der er mehr als nur die gekonnte Vereinigung von Gefühl und Szenerie, von Innen- und Außenwelt, hervorhebt: Damals, als wir losmarschierten, Waren die Weiden zart und grün; Nun, wo wir heimkehren, Fällt der Schnee in dichten Flocken.14
Dieses (längere) Gedicht erzählt von Soldaten, die in den Kampf ziehen und dann später zurückkehren. Bemerkenswert ist für Wang, daß das traurige Gefühl in der ersten Zeile (das Verlassen der Heimat, um ins Feld ziehen zu müssen) mit einer hellen, frühlingshaften Szenerie in der zweiten Zeile verknüpft wird, wohingegen dem freudigen Gefühl der Heimkehr in der dritten Zeile ein eher dunkles, winterliches Naturbild in der letzten Zeile entspricht. Wang hebt hervor, daß diese Art einer umgekehrten Spiegelung von Gefühl in Szenerie die jeweilige emotionale Wirkung auf den Leser – bzw. das Gefühl der Trauer oder der Freude – nur erhöht. Sui-kit Wong hat in seinen Studien zu Wang Fuzhis poetologischen Schriften wiederholt argumentiert, daß es sich beim Zusammenklang von qing und jing um eine Einheit von emotionaler und visueller Erfahrung des Dichters handelt. Dies ist eine durchaus sinnvolle Deutung von Wangs sparsamen und sich an bekannten Mustern orientierenden Formulierungen. »Theoretisch« hat Wang Fuzhi diesen Gedanken nicht weiter ausgeführt, vielmehr argumentiert er meist von einem praktisch-kritischen Standpunkt aus, nämlich indem er Gedichtbeispiele (Zeilen, Verspaare, Strophen) vorführt und diese kurz bespricht. Wang Fuzhis »theoretische« Ansätze zu Gefühl und Szenerie besitzen allerdings auch Anknüpfungspunkte an hiesige Ideen und Themen, wie z.B. an T.S. Eliots These vom notwendigen objective correlative für den Ausdruck von Gefühlen in der Dichtung, die dieser in seinem Essay »Hamlet and His Problems« bekannt gemacht hat.15 Der 13 14 15
S. hierzu die erwähnte Studie von Black. LEGGE: The She King, S. 261 (Nr. 167); »Jiangzhai shihua«, A.4 und B.24. »Die einzige Art, Emotionen in der Kunst auszudrücken, besteht darin, ein »objektives Korrelat« zu finden; mit anderen Worten, einen Satz von Gegenständen, eine Situation, eine Kette von Ereignissen, die für diese besondere Emotion als Formel dienen kann; und zwar in einer Weise, daß wenn die äußeren Fakten, die sich in sinnlichen Erfahrungen beschränken müssen, gegeben sind, die Emotion unmittelbar hervorgerufen wird.« ELIOT: The Sacred Wood, S. 100.
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DIE QING-ZEIT
Unterschied zu Wang besteht wohl im wesentlichen darin, daß Eliot dichterzentriert argumentiert, wohingegen für Wang Fuzhi, wie Siu-kit Wong verschiedentlich betont, das Gedicht eher einen Prozeßcharakter besitzt und gleichsam, wenn in meisterhafter Weise verfaßt, in seinem Zusammenspiel von subjektiven und objektiven Elementen eine mikrokosmische Spiegelung von makrokosmischen Abläufen und Zusammenhängen darstellt. Mit anderen Worten, für Wang würde ein Dichter, wenn er denn auf die Suche nach »objektiven Korrelaten« ginge, seine Mission bereits verfehlt haben, denn im gelungenen Gedicht bilden Geist und Gefühl des Dichters mit den Objekten eine Einheit.
Die Rolle der »Idee« im Schaffensprozeß Wang bringt schließlich noch einen anderen Aspekt in seine Überlegungen vom Zusammenklang von Gefühl und Szenerie mit ein, nämlich den inzwischen bekannten Begriff der »Idee« (yi, auch Intention, Konzeption) als steuerndes Element: Szenerie wird durch Gefühl zu einem Ganzen, und Gefühl wird aus der Szenerie erzeugt. So sind beide von Anfang an nicht zu trennen und entsprechen einander aufgrund der »Idee« (yi). Teilt man sie jedoch in zwei Einzelbestandteile, dann werden die Gefühle keinen anregen (xing) und wird die dargestellte Szenerie nicht der tatsächlichen Szene entsprechen.16
Hier wird einerseits wieder die Unauflöslichkeit der zwei Elemente Gefühl und Szenerie betont, andrerseits haben wir in der »Idee« gleichsam eine leitende Instanz für die Zusammenführung der beiden Bereiche. Hier stellt sich allerdings die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gefühl und Idee bei Wang Fuzhi, der auch bereits Alison Black nachgegangen ist. Black meint, der Unterschied bestehe in erster Linie zwischen Unartikuliertem (qing) und Artikuliertem (yi). So sei qing ein »formatives Element« in der Erfahrung des Dichters, das zu Dichtung führe, wohingegen yi ein »formatives Element« in der Dichtung selbst darstelle; auch verbinde yi die einzelnen Elemente eines Gedichts, nämlich Worte und Zeilen, zu einem Ganzen17. Somit wäre yi die künstlerische Idee, die aus der Begegnung von Gefühl und Szenerie entsteht und die sich in verbaler Bildlichkeit ausdrückt. Daß die »Idee« als führend im künstlerischen Schaffensprozeß vorgestellt wird, ist nichts Neues mehr, denn ähnliche Gedanken fanden wir bereits in den Schriften der mingzeitlichen Archaisten und der Gongan-Schule formuliert. Bei Wang heißt es weiter zu diesem Thema: 16
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»Jiangzhai shihua«, B.17; Qing shihua, I, S. 11; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 91; OWEN: Readings, S. 475. BLACK: Man and Nature in the Philosophical Thought of Wang Fu-chih, S. 268.
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Szenerie und Gefühl – Wang Fuzhi Gleich ob in Dichtung oder längerer Prosa, die »Idee« (yi) ist in allem das Wichtigste. Die »Idee« ist wie ein Feldherr, und eine Truppe ohne einen Feldherrn ist bloß wie ein Haufen Krähen.18
Allerdings stellt sich bei dieser Thematik wiederum die Frage, wo im Schaffensprozeß die Idee ins Spiel kommt: als Voraussetzung oder Ergebnis? Bekanntlich wurde diese Frage auch bereits bei den Archaisten der Ming-Zeit aufgeworfen. Wang meint in einem konkreten Fall: In [der Anfangszeile eines Gedichts aus dem Buch der Lieder] »Pflücket, pflücket Wegerich«19 erscheint die »Idee« vor den Worten, und sie ist noch erkennbar, nachdem die Worte [verklungen sind]. Sie bewegt sich ungezwungen [durch das Gedicht] und schafft auf ganz natürliche Weise eine Atmosphäre (qixiang).20
Hintergrund dieser Passage bildet die in der chinesischen Geistesgeschichte seit Zhuangzi und dem Buch der Wandlungen bekannte Diskussion um das Verhältnis von Wort (yan) und Idee (oder Sinn, yi). So hatten wir beispielsweise bei Xie Zhen bereits erfahren, daß die Idee den Worten vorausgehen oder nachfolgen kann. Nun erscheint allerdings Wang Fuzhis kryptische Bemerkung im Vergleich dazu höchst interpretationsbedürftig; man könnte sie so auslegen, daß er wie Xie Zhen die künstlerische Idee als Ausgangspunkt von Dichtung – vor den Worten – versteht, daß jedoch diese Idee im Leser – also nach den Worten – gleichsam weiter nachschwingt, daß sie insofern diejenige Instanz ist, die den Sinn eines Gedichtes transportiert.
Der kraftvolle Gestus Im Zusammenhang mit der »Idee« als formatives Element in der Entstehung von Dichtung bringt Wang Fuzhi einen weiteren und bisher weniger beachteten Aspekt oder Begriff ins Spiel: den »kraftvollen Gestus« (shi): Die »Idee« ist am wichtigsten, ein »kraftvoller Gestus« (shi) ist am zweitwichtigsten. Der »kraftvolle Gestus« ist das unergründliche Prinzip (shenli) innerhalb der »Idee«.21 18
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»Jiangzhai shihua«, B.2; Qing shihua, I, S. 8; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 58; OWEN: Readings, S. 457. Lied Nr. 8, LEGGE: The She King, S. 14, (deutsche Übers.: VICTOR VON STRAUSS: Schi-king. Das kanonische Liederbuch der Chinesen, Nachdruck, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969). »Jiangzhai shihua«, A.3; Qing shihua, I, S. 4; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 13; OWEN: Readings, S. 485. »Jiangzhai shihua«, B.3; Qing shihua, I, S. 8; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 61; OWEN: Readings, S. 459.
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DIE QING-ZEIT
Die Übersetzung »kraftvoller Gestus« für shi spiegelt die Verwendung dieses Begriffes in Erörterungen zur Kalligraphie wider, denn dort wird vom Pinselstrich verlangt, daß ihm shi innewohne, womit eine überzeugende Kraft der Ausführung gemeint ist. Bemerkenswert ist hier die Wendung shenli: Der »kraftvolle Gestus« wirkt in »unergründlicher« (shen) Weise als ordnendes und gleichsam leitendes Prinzip (li) in der künstlerischen Idee. Das heißt, obwohl Wang die »Idee« als wichtigstes betrachtet, sieht er diese durch eine gewisse Kraft der Ausführung (shi) bedingt. Leider bleibt die Wendung »unergründliches Prinzip innerhalb der Idee« wie so viele solcher Formulierungen und Begriffsbildungen (nicht nur bei Wang Fuzhi) schillernd und unklar, allerdings auch – und wie Gedichte selbst – anregend und offen für weitere Deutungen. Der Begriff shi selbst ist ebenfalls schwierig: Er spielte bereits in vor-qinzeitlichen strategischen Werken, wie in Sunzis Die Kunst des Krieges (Kapitel 5), eine wichtige Rolle. In jenem Zusammenhang wird das Wort dafür verwandt, um das Kräftespiel und die Dynamik von gewissen Stellungen und natürlichen Gegebenheiten in einem Kampf zu beschreiben. Einem höher gelegenen Platz wohnt zum Beispiel eine andere »Kraft« oder »Tendenz« (so eine andere Übersetzung für shi) inne als einer niederen, die dann ein geschickter Kämpfer auszunützen versteht. In der Poetologie fanden wir diesen Begriff auch bereits in Liu Xies Geist der Literatur (in Kapitel 30) diskutiert. Dort hat er in etwa die Bedeutung einer Kraft oder Tendenz, die in der Wahl eines Genres oder eines formalen Stiles (ti) gleichsam angelegt ist und sich somit weiter ausnutzen läßt. Schließlich hat der Terminus auch in der Maltheorie eine Bedeutung, wie der nächste Abschnitt bei Wang zeigt: Ein Malkritiker hat einmal [über ein Bild] gesagt: »Auf einem Quadratfuß der ›kraftvolle Gestus‹ (shi) von zehntausend Meilen!«22 Das Wort »kraftvoller Gestus« sollte man beachten. Wenn man ohne diesen »kraftvollen Gestus« zehntausend Meilen auf einen Quadratfuß zusammenziehen wollte, entstünde nur ein Bild, wie man es als Überblick über die Welt am Anfang eines Atlas findet.
Hier kommt eine andere Nuance in der Bedeutung von shi zum Vorschein, daß es sich dabei nämlich nicht nur um eine überzeugende Kraft der Ausführung handelt, sondern auch um eine suggestiv wirkende Qualität im Kunstwerk selbst. Wang erläutert den Begriff in unmittelbarem Anschluß daran auch mit einem Beispiel aus der Dichtung: Will man einen Fünf-Wort-Vierzeiler schreiben, so sollte, bevor wir unsere Gedanken umzusetzen beginnen, dieser [»kraftvolle Gestus«] das leitende Prinzip 22
Nanshi (Komp. Li Yanshou), Peking: Zhonghua shuju 1875, juan 44, Bd. 4, S. 1106. In diesem locus classicus des bekannten Satzes fehlt allerdings das Schriftzeichen shi für »kraftvoller Gestus«.
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Szenerie und Gefühl – Wang Fuzhi sein. Nur die Dichter der Tang-Blüte verstanden das Wunderbare dabei, wie in folgendem Beispiel: »Wo, mein Herr, kommt Ihr her? Ich bin ein Mädchen aus Hengtang. Haltet Euer Boot und laßt mich fragen: Sind wir vielleicht aus dem gleichen Ort?«23 Hier scheint die Kraft (qi) des Geschriebenen ins Unerschöpfliche auszustrahlen; und selbst dort, wo nichts geschrieben steht, spürt man die »Idee«.24
In dem angeführten Gedichtbeispiel wird mit wenigen Worten viel gesagt; so finden wir eine Situation (eine Szene) vor, mittels welcher in suggestiver Weise die Gefühle von Sehnsucht und Heimweh vermittelt werden. In den knapp gehaltenen Vierzeilern25 kommt es demnach am meisten darauf an, diese expressive Kraft und suggestiven Qualitäten zur Wirkung zu bringen. Dann, so schließt Wang, spürt man eine in alle Richtungen ausstrahlende Lebendigkeit in den Versen.
Tote und lebendige Regeln Bei den Archaisten der Ming-Zeit fanden wir die »Idee« im Zusammenhang mit Regeln (fa) für die Dichtung diskutiert. Wang Fuzhi äußert sich ebenfalls über Regeln, jedoch in einer Weise, die in seiner Zeit den Ton anzugeben beginnt, nämlich daß es auf eine »lebendige Regel« bzw. auf eine »Regel der Nicht-Regel« ankommt, wie in folgender Passage: Wenn es Regeln gibt, die berechtigt sind, warum sollten wir die brechen wollen? Wenn es sich jedoch um Regeln handelt, die keine Regeln sind (fei fa zhi fa) – gegen sie läßt sich in unerschöpflicher Weise verstoßen, und am Ende gibt es da gar keine Regel mehr. [Die Regeln von Jiaoran, Gao Bing und anderen ...] sind tote Regeln. Tote Regeln werden von Kleingeistern aufgestellt.26
Im Kontext dieser Passage unterscheidet Wang zwischen einerseits sinnvollen und natürlichen Regeln, die man gar nicht zu brechen gedenkt, und angeblichen Regeln andrerseits, die sich in Regel-Poetologien (wie von Jiaoran und Gao Bing) finden, die sich jedoch bei näherem Hinsehen als nicht verallgemeinerbar herausstellen, denn gerade bei großen Dichtern lassen sich zu viele Verstöße dagegen feststellen; d.h., daß diese Regeln dann auch gar keine Regeln darstellen können. 23
24 25
26
CUI HAO: »Changgan qu« (erste Hälfte des Liedes), vgl. HERDAN: The Three Hundred T'ang Poems, S. 407, sowie KLÖPSCH: Der seidene Faden, S. 135. »Jiangzhai shihua«, B.42; Qing shihua, I, S. 19; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 154. Das zitierte Beispiel ist allerdings nur die Hälfte des auf Frage und Antwort basierenden Gedichts. »Jiangzhai shihua«, B.13; Qing shihua, I, S. 10; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 83; OWEN: Readings, S. 471f.
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Solche Regeln sind in seinen Worten »tote Regeln«. In diesem Zusammenhang geht Wang auf die bekannte Maßgabe zur Bildung von Gedichten (und ProsaAufsätzen) ein, nämlich auf die (bereits vorgestellte) Regel, daß die vier Verspaare eines achtzeiligen Regelgedichts (lüshi) bestimmten strukturellen Vorgaben zu folgen hätten: 1. Öffnen. 2. Weiterführen, 3. Wenden, 4. Schließen. Anhand dieses Beispiels will Wang zeigen, daß selbst solche allseits akzeptierten Regeln nicht starr, sondern flexible gehandhabt werden müssen: Öffnen, Weiterführen, Wenden, Schließen – [diese vier Richtlinien] gelten zusammen als eine Regel [für die Komposition von Dichtung und Prosa]. Doch wenn man diese Regel an den Regelgedichten der Tang-Frühzeit und TangBlüte prüfen wollte, welchen Dichter würde man dann schon finden, der dieser Regel treu gefolgt wäre? Nichts ist wichtiger an einer Regel, als einem Gedicht eine vollendete Struktur/Kohärenz (cheng zhang) zu verleihen; doch wenn man sich an diese vierteilige Regel hält, wird keine vollendete Struktur zustande kommen. [...] Wenn das Öffnen nicht einfach bloß ein Öffnen, und das Schließen nicht einfach bloß ein Schließen ist, dann erst wird die Lebenskraft (shengqi) [das Gedicht] magisch durchdringen, und so wird eine vollendete Struktur entstehen und zum Ausdruck kommen.27
Man könnte sagen, daß es in der Tat eine Grundregel darstellt, einem Gedicht eine kohärente Struktur zu verleihen, daß sich jedoch andrerseits eine gute Struktur nicht durch mechanisches Befolgen von derartigen Regeln erreichen läßt. So nutzt Wang das bekannte Wortspiel, daß das chinesische Zeichen fa sowohl das buddhistische Dharma als auch (poetische) Regel bedeutet, um zum Schluß alle Regelhuberei vom Tisch zu wischen: Beispiele zeigen, daß selbst diejenigen, die von Regeln sprechen, keine Regelhaftigkeit erzielen. Die Buddhisten sagen deshalb: »Wenn man das Dharma (die Regel) aufgeben soll, um wieviel mehr erst das Nicht-Dharma (die NichtRegel)?«28 Verfährt man als Literat auf diese Weise, wird man die Hälfte schon verstanden haben.29
Mit anderen Worten, der Gedanke an Regeln sollte am besten von Anfang an aufgegeben werden – geschweige denn der Versuch des Anhaftens an Regeln, die in seinen Augen eigentlich gar keine sind.
27
28 29
»Jiangzhai shihua«, B.18; Qing shihua, I, S. 12; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 95; OWEN: Readings, S. 478. Aus dem »Diamant-Sutra« (Jin'gang jing), Abschnitt 6. »Jiangzhai shihua«, B.20; Qing shihua, I, S. 12; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 100.
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Szenerie und Gefühl – Wang Fuzhi
Hermeneutische Ansätze Noch ein letzter Punkt ist in Wang Fuzhis »Gesprächen über die Dichtung« erwähnenswert. Gleich zu Anfang seines Traktats geht er auf die klassische Auslegung der Gedichte aus dem Buch der Lieder – deren unterschiedliche Funktionen – ein, nämlich auf das Diktum von Konfuzius, daß die Lieder geeignet seien, anzuregen, zu beobachten, Geselligkeit zu empfinden und Unmut auszudrücken. Allerdings lenkt Wang die Aufmerksamkeit des Lesers auf das bisher eher als nebensächlich angesehene Wort »geeignet« (keyi): [Konfuzius sagte:] »Die Lieder sind geeignet anzuregen (xing); geeignet, um zu beobachten (guan); geeignet, um Geselligkeit (qun) zu empfinden; geeignet, um Kummer/Unmut (yuan) auszudrücken.«30 Damit ist alles ausgeschöpft. [...] Was den Ausdruck »geeignet« (keyi) angeht, so bedeutet er, daß jede [dieser vier] Möglichkeiten anwendbar ist. [...] Der Autor bringt [in einem Gedicht] einen stimmigen Gedanken (yizhi zhi si) zur Wirkung, und jeder Leser weiß diesen aufgrund seiner Gefühle in eigener Weise zu erfassen. [...] Der Spielraum menschlicher Gefühle kennt keine Grenzen; doch kommen in jeder Begegnung die eigenen Gefühle zum Tragen. Das ist das Wertvolle an der Dichtung.31
Im weiteren Kontext dieser Stelle wird deutlich, daß »geeignet« bedeutet, diese vier Möglichkeiten oder Funktionen der Dichtung nicht jeweils für sich allein stehend zu betrachten, sondern sie auch miteinander zu verbinden und schließlich ihre ineinander verschränkte Wirkung und Deutung dem Leser anheim zu stellen. Der Autor mag zwar in einem Gedicht ein bestimmtes Gefühl oder einen »stimmigen Gedanken« zum Ausdruck gebracht haben wollen, doch der Leser besitzt eine gewisse Autonomie, nämlich in der Art, wie er mit seiner ihm eigenen Gefühlswelt darauf reagiert. Insofern räumt Wang gleichsam Leerstellen im Gedicht ein, oder anders gesagt, er gewährt eine Art von Ambiguitätstoleranz im Lesen. Damit schränkt er – zumindest in gewisser Weise – die übliche starre orthodoxe Auslegung der altehrwürdigen Gedichte ein, wenn er auch sicher nicht einer subjektivistischen Lesart, wie sie heute in manchen literarischen Zirkeln (vor allem im Poststrukturalismus) Mode geworden ist, das Wort reden würde. Wang Fuzhi steht mit den meisten seiner hier vorgestellten Äußerungen ganz in der Tradition der chinesischen Dichtungskritik. Und doch hat er eigene Akzente gesetzt, indem er bestimmte Vorstellungen schärfer durchdacht und pointierter formuliert hat: die Verschmelzung von emotionaler und visueller Erfahrung, den Vorrang der künstlerischen »Idee« im Schaffensprozeß, das Ablehnen von »toten Regeln« u.ä. So betont er auch die persönliche Erfahrung des Dichters als Aus30 31
Lunyu, 17.9. »Jiangzhai shihua«, A.2; Qing shihua, I, S. 3; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 7; OWEN: Readings, S. 453f.
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gangspunkt aller Dichtkunst, indem er sagt: »Was man am eigenen Leibe erfahren hat, und was die eigenen Augen gesehen haben, das sind die Grenzen eines eisernen Tores (d.h. die unumgänglichen Voraussetzungen).«32 Aus dieser Position heraus wendet er sich vehement gegen die beliebte »Schulenbildung« (menting), wie sie z.B. bei den mingzeitlichen Archaisten üblich war. Wangs Philosophie einer prozessualen Kosmologie hat sicher auch Pate gestanden bei seinen poetologischen Formulierungen; so faßt Siu-kit Wong, wahrscheinlich der beste Kenner seines dementsprechenden Œuvres, Wangs Ansichten in folgender Weise zusammen: »Dichtung ist ein Prozeß, in der Tat ein natürlicher Prozeß, in welchem das menschliche Herz in eine spirituelle Verbindung mit der physischen Welt tritt und Lieder daraus entstehen.«33 Wang Fuzhis Gedanken zur Dichtkunst spiegeln im Kleinen die Besonderheiten der chinesischen Literaturtheorie und -kritik wider: Wir begegnen meist kurzen, fast kryptischen, bisweilen mystifizierenden Formulierungen. Es mangelt an Klarheit und Systematik (im Vergleich zu unserer europäischen Tradition); doch besitzen seine Wendungen und Aphorismen eine hohe suggestive Kraft, und so bleibt auch eine anregende Wirkung auf den Leser nicht aus.
32
33
»Jiangzhai shihua«, B.7; Qing shihua, S. 9; vgl. WONG: Notes on Poetry, S. 69; OWEN: Readings, S. 465. WONG: Notes on Poetry, S. 112f.
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3. Außenwelt und Innenwelt – Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung« So wie Wang Fuzhis eben behandelte Schrift wurde der poetologische Traktat »Vom Ursprung der Dichtung« (Yuan shi) von Ye Xie (1627–1703)34 ebenfalls in die umfangreiche Sammlung Qing shihua aufgenommen, doch aufgrund seiner Systematik und seiner nicht auf einen Schlüsselbegriff fixierten Behandlung des Themas – des Wesens der Dichtung und der inneren Qualitäten des Dichters – unterscheidet er sich deutlich von den eher impressionistischen shihua. In der Tat wird er wegen seines systematischen Ansatzes von zeitgenössischen chinesischen Literaturhistorikern häufig mit Liu Xies Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen verglichen. Jedoch besitzt Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung« längst nicht den ausgefeilten und ausgewogenen Aufbau des Letztgenannten; der Text ist vielmehr teils als Abhandlung teils als Dialog mit einem nicht näher genannten Gesprächspartner angelegt und erinnert hierin an neokonfuzianische Schriften in Dialogform. Im folgenden wird ein Überblick von Yes Poetik anhand von Übersetzungen hauptsächlich aus dem »Inneren Kapitel« (neipian) seines Yuan shi gegeben.35
Orthodoxie und Veränderung Der erste Teil behandelt die verschiedenen Perioden der Blüte und des Verfalls der Dichtung, wobei sich Ye um eine Neueinschätzung der Geschichte der chinesischen Dichtung bemüht. Er vergleicht den historischen Entwicklungsprozeß der Dichtung mit einem Strom und unterscheidet dabei »Quelle« und »Lauf«. Die »Quelle« sind die »Dreihundert Gedichte« des Buches der Lieder. In seinem »Lauf« gibt es verschiedene Phasen der Blüte (sheng) und des Verfalls (shuai), 34
35
Ye Xie (alternative Namen: Yiqi, Hengshan) entstammt aus einer Literatenfamilie in Jiaxing in der Provinz Zhejiang. Vater und Mutter hatten beide einen Namen als Dichter. Sein Vater, Ye Shaoyuan (1589–1648), diente kurze Zeit im Ministerium für Arbeit, zog sich jedoch nach dem Fall der Ming als Mönch in ein buddhistisches Kloster zurück. Ye Xie bestand die jinshi-Prüfung im Jahre 1670 und diente von 1675–77 als Magistrat von Baoying in Jiangsu, wo er in Zeiten von Krieg und schlechter Ernte das Leiden der Bevölkerung zu lindern versuchte. Dadurch soll er höhere Beamte verärgert haben, was zu seiner Entlassung führte. Daraufhin zog er sich nach Hengshan in Jiangsu zurück. Seine literarischen Werke in dreiunddreißig juan sind als Yiqi wenji erschienen. S. GOODRICH: Dictionary of Ming Biography, II, S. 1579; NIENHAUSER: Indiana Companion, 920–21. Eine vollständige Übersetzung (mit Original) des neipian sowie von Teilen des waipian gibt OWEN: Readings, S. 493–581. Für eine Übersetzung relevanter Teile und Diskussion von Ye Xies Traktat s. POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«. Der vorliegende Abschnitt basiert weitgehend auf diesem Artikel.
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der Orthodoxie oder Korrektheit (zheng) und der Heterodoxie oder Abweichung (bian) – ein Konzept, das auf die Dichtung des Buches der Lieder in dessen »Großem Vorwort« angewandt und hier bereits ausgiebig behandelt wurde. Ye Xie attackiert die Anschauungen der Archaisten der Ming-Zeit, die nur an der Vergangenheit orientiert sind und nur einige wenige Zeiten orthodoxer Blüte gelten lassen wollen. Stattdessen behauptet er, daß im historischen Verlauf einander abwechselnder Phasen von Blüte und Verfall sich die Dichtung immer reichhaltiger, vielfältiger und besser entwickelt habe. Insbesondere sieht er für die sogenannten orthodoxen Perioden – gleichsam nach der Dialektik von Yin und Yang – einen Niedergang voraus und behauptet, daß Dichtung erstarre und verfalle, wenn sie in Form und Inhalt auf eine Orthodoxie fixiert werde. Demgegenüber seien die Zeiten der Abweichung (bian) die eigentlich kreativen Perioden, die schließlich zu einer neuen Blüte führten. So steht Abweichung (bian) nicht im Gegensatz zu Korrektheit (zheng), denn gibt es keine Abweichung, so verwandelt sich Korrektheit in eine rigide Orthodoxie, die schließlich nicht zu einer Blütezeit, sondern zu einer des Verfalls führt. Insofern nimmt Ye Xie in seiner Beurteilung der Geschichte der chinesischen Dichtung eine Sichtweise ein, die an die von Li Zhi und Yuan Hongdao erinnert, da er jede Epoche für ihre Verdienste anerkennt, nicht nur ausschließlich die Tang oder Song, wie es von den verschiedenen konkurrierenden Dichtungsschulen der späten Ming und frühen Qing gesehen wurde. Im Anschluß an diesen entwicklungsgeschichtlichen Teil geht Ye Xie auf verschiedene Aspekte des Dichtens und der Dichtung ein; so vergleicht er in einer groß angelegten Analogie den Prozeß des Gedichteschreibens mit dem Bau eines Hauses, wobei er fünf verschiedene Schritte unterscheidet: 1. Legen des »Fundaments« (ji), 2. Sammlung von »Material« (cai), 3. Anwendung »künstlerischen Geschicks« (jiangxin), 4. Auftragen von »Farbe« (se) und 5. Verwendung von »Variationen« (bianhua). Der erste Schritt – das Legen des Fundaments – ist in seinen Augen der wichtigste. Laut Ye Xie bildet die Empfindungsfähigkeit des Dichters die Grundlage allen Dichtens. Er bezeichnet dies als »Größe des Herzens« (xiongjin, wörtlich Brust und Kragen), ein Ausdruck, der von Du Fu stammt36. Ye Xie zufolge kann sich nur auf dieser Basis dichterische Fähigkeit entwickeln, so daß der Dichter in der Lage ist, auf die Welt mit Mitgefühl und moralischer Stärke einzugehen. Du Fu ist für Ye Xie von überragender Bedeutung, und zwar nicht nur wegen seiner »Größe des Herzens«, d.h. seines konfuzianischen Mitgefühls und seiner Sorge um Land und Volk (you guo you min), für die seine Dichtung bekannt ist, sondern auch und gerade aufgrund seiner unnachahmlichen Fertigkeit und Vielseitigkeit im Schreiben. Vom Standpunkt dichtungsimmanenter Werte hebt Ye an anderer Stelle auch Han Yu und Su Shi hervor und behauptet, neben Du Fu hätten 36
Das Wort taucht im ersten seiner »Acht Klagegedichte« auf; s. HYSIS, A Concordance to the Poems of Tu Fu, II, S. 201; vgl. V. ZACH: Tu Fu’s Gedichte, II, S. 462.
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Außenwelt und Innenwelt –Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung«
diese beiden Dichter die größten Veränderungen bewirkt und auf die späteren Perioden der chinesischen Dichtungsgeschichte den größten Einfluß ausgeübt.
Natürliche Regeln Das theoretische Kernstück von Ye Xies Traktat beginnt mit der bekannten Fragestellung, ob es feste Regeln (fa) der Dichtkunst gebe. Genauer formuliert: Kann man das Schreiben von Gedichten dadurch lernen, daß man sich an Regeln hält, die von der Dichtung der Tang- oder Song-Zeit stammen? Ye Xie verneint dies und unterscheidet zunächst zwischen lebendigen und toten Regeln. In der Dichtung beziehen sich tote Regeln auf überlieferte und unverzichtbare Regeln wie z.B. Tonregeln oder Regeln für den Aufbau eines Regelgedichtes. Wie auch Wang Fuzhi erachtet Ye tote Regeln zwar als notwendig doch eher unbedeutend, denn folgt man beim Dichten immer nur jenen überlieferten Regeln, dann können Gedichte niemals ein adäquater Ausdruck der Persönlichkeit des Dichters oder der Zeitumstände sein. Lebendige Regeln oder »natürliche Regeln« (ziran zhi fa) unterliegen dagegen dem unergründlichen inneren Weltgesetz und sind im großen Wandel der Natur beobachtbar. In der Dichtung bzw. in der Hand des Dichters zeigen sie sich durch »künstlerisches Geschick der Wandlungsfähigkeit« (jiangxin bianhua), sind aber mit Worten nicht ausdrückbar. So führt Ye Xie aus: Wenn Leute sagen: »Alle Angelegenheiten und alle Dinge haben Regeln. Warum soll ausgerechnet die Dichtung keine Regeln haben?«, so ist das richtig. Jedoch gibt es tote und lebendige Regeln. Was tote Regeln betrifft, so ist das, wie wenn jemand fragen würde, da man die Schönheit einer Frau lobt, ob sie tatsächlich Augenbrauen über ihren Augen habe, ob Nase und Mund in der Mitte des Gesichtes seien, ob sie sich tatsächlich mit Händen betätigte und mit ihren Füßen laufe. Nun, Schön und Häßlich haben zehntausend Erscheinungsformen, doch diese paar Normen sind unverzichtbar. Das sind tote Regeln. Eine überirdische Schönheit läßt sich anhand dieser Kriterien jedoch nicht finden. Ebenso verhält es sich mit Opfern und Festen in Tempeln und am Hofe oder mit Banketten von Literaten und gewöhnlichen Leuten: Dabei gibt es [Höflichkeitsformen] des Verbeugens und des Anderen-den-Vortritt-Lassens, man hat Sitzordnungen und trinkt einander zu. Das ist überall so, und dies sind auch tote Regeln. [Opfer,] bei denen man mit den Göttern kommuniziert, [Umgangsformen,] die Liebe und Achtung ausdrücken sind jedoch nicht darunter. Gibt es also für eine überirdische Schönheit überhaupt Regeln? Verhält es sich nicht vielmehr so, daß in solchen Fällen konstante Merkmale wie Ohren, Augen, Mund und Nase in göttlicher/geistiger (shen) Weise erhellt werden? Und lassen sich Regeln solcher geistiger/göttlicher Erhellung etwa in Worte fassen? Gibt es Regeln für jene Opfer, bei denen man mit Göttern und Geistern kommuniziert, sowie für jene Umgangsformen bei Empfängen, die Liebe und Achtung ausdrücken? Verhält es sich nicht vielmehr so, daß jene Opfer und Höflichkeitsformen von [echter] Empfindung und Vermittlung [von Gefühl] getragen sind.
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DIE QING-ZEIT Und lassen sich Regeln für solche Empfindungen und Vermittlungen etwa in Worte fassen? Tote Regeln können von einem Mann auf der Straße benannt werden, doch lebendige Regeln lassen sich, da lebendig, nirgendwo fassen. [...] Beim Dichten kann man also von anderen Regeln sprechen, solchen, die geistig/göttlich erhellt und jenseits von Geschicklichkeit und Kraft angesiedelt sind Ich will diese [Regel] »Wandlungsfähigkeit und Geist des Hervorbringens« (bianhua shengxin) nennen. Was ist das für eine Regel, die der Wandlungsfähigkeit und des Geistes des Hervorbringens? Wenn wir tote Regeln als feste Größen (ding wei) und lebendige Regeln als leere Begriffe (xu ming) bezeichnen, so kann man von einem leeren Begriff nicht sagen, daß es ihn gibt, ebenso läßt sich von einer festen Größe nicht sagen, daß es sie nicht gibt. Letzteres (tote Regeln) ist das, was wir in Worte zu fassen versuchen, wenn wir anfangen zu lernen; ersteres (lebendige Regeln) – das künstlerische Geschick der Wandlungsfähigkeit (jiangxin bianhua) – läßt sich jedoch nicht in Worte fassen.37
Diese auf den ersten Blick etwas abwegig anmutenden Beispiele sollen zeigen, daß tote Regeln – Rituale im gesellschaftlichen oder religiösen Bereich sowie normale Proportionen eines Menschen – selbstverständliche Konstanten darstellen, die an sich weder Geist noch Anmut vermitteln können. Gleichfalls sind die festen Regeln des Dichtens wie Tonregeln, Parallelismen, Aufbau etc. für Ye Xie nicht der Rede wert: »Selbst in der Dorfschule beim Lesen der [Standardsammlung der] Tausend Gedichte hält man es nicht für nötig, darüber ein Wort zu verlieren.«38 Regeln sind also nicht feste Größen, nach deren Maßstab man Kunstwerke schaffen könnte, vielmehr ergeben sich diese – und zwar als »lebendige Regeln« – aus dem Werk selbst, d.h. aus der Wandlungsfähigkeit und dem schöpferischen Talent des Künstlers.
Objektive Aspekte der Dichtung Um dieses Konzept einer »lebendigen Regel« weiter auf die Dichtung anzuwenden, unterscheidet Ye Xie zunächst zwischen objektiven oder materiellen Aspekten der Dichtung (zai wu zhe) und subjektiven oder persönlichen Eigenschaften des Dichters (zai wo zhe). Die objektiven, materiellen Aspekte, die die äußere Welt widerspiegeln, sind 1. Prinzip (li), 2. Faktizität (shi) und 3. Gestalt (qing). Nach Ye Xies Meinung kann man die Vielfalt der materiellen Welt anhand dieser drei Aspekte ordnen. Sie können allgemein wahrgenommen werden, denn alles auf der Erde ist von »Prinzip«, »Faktizität« und besonderer »Gestalt« bestimmt. Aufgrund der Vieldeutigkeit dieser Termini bzw. der einzelnen Zeichen, die einem Sinologen in vielerlei philosophischen und theoretischen Kontexten begegnen, müssen bei ihrer Übersetzung ins Deutsche jedoch auch unterschiedliche Bedeutungsnuancen 37
38
»Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 574f. Vgl. OWEN: Readings, S. 500ff, und POHL: »Tote und lebendige Regeln«, S. 160f. Ebd.
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Außenwelt und Innenwelt –Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung«
mit berücksichtigt werden. So läßt sich der neokonfuzianische Terminus li (»Prinzip«) nicht nur als »Wesensstruktur«, »Wirkungsvermögen« oder »platonische Idee« eines Dinges übersetzen, sondern muß auch als »moralisches Prinzip« sowie in seiner vor-neokonfuzianischen Bedeutung von »Vernunft« und »Ordnung«, in der ihn zum Beispiel Liu Xie verwendet, verstanden werden. Shi bedeutet (neben der Verwendung in dichtungstheoretischen Schriften als »Anspielung/Allusion«) hier »Tatsache« oder »Ereignis«, kann aber, eher philosophisch, auch die »Aktualisierung« oder »Realisierung« von li in der Welt bezeichnen. Shi spielt im Neokonfuzianismus zwar keine große Rolle, doch ist das Begriffspaar li-shi, wie im Zusammenhang der Song-Literatur bereits erwähnt, ein zentrales Konzept im Huayan-Buddhismus, der den Neokonfuzianismus entscheidend beeinflußt hat. Im Huayan hat diese Paarung eine ähnliche Bedeutung wie ti und yong, nämlich als Substanz und Erscheinung, wobei die beiden Bestandteile des Begriffspaars wie Wasser und Welle als untrennbare Einheit gesehen werden. Der so wichtige Terminus qing wird in diesem Zusammenhang ausdrücklich nicht in seiner gewöhnlichen Bedeutung von »Gefühl« gebraucht, sondern in seiner frühen Bedeutung, nämlich als tatsächlicher Zustand eines Dinges nach seiner Aktualisierung (qingzhuang), wie er z.B. im »Großen Kommentar« zum Yijing und auch bei Menzius verwendet wird. Allerdings klingt die Bedeutung »Gefühl« an manchen Stellen durchaus mit. Ye Xies Modell lehnt sich ganz stark an die Kosmologie und Weltdeutung der songzeitlichen Cheng-Zhu-Schule des Neokonfuzianismus an; Dichtung ist für ihn insofern lediglich ein Teil dieses Gesamtmusters (wen) der Wirklichkeit. Und wiederum in Übereinstimmung mit neokonfuzianischer Philosophie ist die Kraft, die alles in der Welt in Bewegung hält, die Vital- (oder materielle) Kraft qi. Ye Xie führt hierzu aus: »Prinzip«, »Faktizität« und »Gestalt«, diese drei Worte haben große Bedeutung. Himmel (qian) und Erde (kun) erhalten durch sie ihre feste Position (ding wei); Sonne und Mond bewegen sich nach ihnen. Und sogar Gras, Bäume, Vögel und Tiere werden nicht vollständig sein, wenn eines der drei fehlt. Nun ist die Literatur (wenzhang) das, wodurch die Gestalten (qingzhuang) von Himmel und Erde und der Zehntausend Dinge ausgedrückt werden. Doch selbst wenn diese drei (wesentlichen Elemente) vorhanden sind, muß es etwas geben, das sie kontrolliert und hält, ordnet und verbindet. Das ist die Vitalkraft (qi). Tatsächlich funktionieren li, shi und qing aufgrund des Wirkens der Vitalkraft. Um ein Beispiel anzuführen: Daß sich Bäume und Grashalme entwickeln können, liegt an ihrem »Prinzip«. Daß sie sich entwickelt haben, das ist ihre »Faktizität«. Daß sie hohen und üppigen Wuchs aufweisen und, nachdem sie sich entwickelt haben, auf tausenderlei Arten gedeihen, das ist ihre »Gestalt«. Wie könnte dies alles geschehen, wenn es kein qi gäbe, das dies bewirken würde?39 39
»Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 576. Vgl. OWEN: Readings, S. 505f, und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 11.
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Hieraus entsteht auch der entscheidende Bezug zu Ye Xies Konzept einer »lebendigen Regel«, denn die »Vitalkraft« als die bewegende Energie im kreativen Agieren von Himmel und Erde wirkt nicht nach festen Regeln, sondern spontan. Nur auf diese Weise kann das vollendete Muster (wen) von Himmel und Erde und der Zehntausend Dinge entstehen: Wie könnte es jemals Regeln geben, die die Lebenskraft (qi) lenken. Wenn dem so wäre, dann würde die Schöpfung von Himmel und Erde ihre spontan sich verbreitende Lebenskraft aufgeben; alles wäre dann durch Regeln beschränkt. Flora und Fauna in all ihren Erscheinungsformen würden es nicht wagen, über die [Beschränkungen] der Regeln hinauszugehen, und würden es genauso wenig wagen, nicht den Regeln zu entsprechen. Auf diese unerträgliche Weise unterdrückt, würde die Schöpferkraft von Himmel und Erde allmählich aufhören.40
Wie wird nun dieses kosmologisch orientierte Modell des Neokonfuzianismus auf die Literatur angewandt? Zunächst finden wir bei Ye Xie (wie auch in Liu Xies Geist der Literatur) vielfältige doppeldeutige Bezüge zwischen Literatur und dem Muster (wen) kosmischer Ordnung. Desweiteren betonen die beiden ersteren Elemente in seinem Modell, »Prinzip« und Faktizität«, eine rationale und faktische Genauigkeit eines Gedichtes, letzteres, »Gestalt«, seine individuelle Ausformung. Wenn sich schließlich in der Dichtung durch li, shi und qing die Mannigfaltigkeit, Natürlichkeit und Gesetzmäßigkeit der Welt widerspiegeln sollen, dann müssen auch in ihr lebendige, natürliche – und keine festen oder toten – Regeln inhärent und wirksam sein. Folglich reichen in Ye Xies Augen die »universalen« Kategorien li, shi und qing aus, um die organische Gesetzmäßigkeit der Welt und – als Widerspiegelung davon – der Dichtung zu umfassen. »Tote« Regeln auf dieses »lebendige« Muster, durch das die Vitalkraft pulsiert, anzuwenden, so Ye Xie, fördere nicht die Vermittlungsfähigkeit von Worten, sondern behindere sie eher. In der Dichtung führten solche »toten« Regeln nur zu Kopien und Stereotypien, d.h. sie endeten in einer leblosen Struktur.
Subjektive Aspekte der Dichtung Im Anschluß an diese gleichsam kosmologische Einbettung der Dichtung in einer Außenwelt (zai wu zhe) geht Ye Xie zur Innenwelt psychologischer Aspekte über, nämlich zu den psychisch-charakterlichen Erfordernissen eines Dichters. Den drei objektiven oder materiellen Aspekten eines Gedichtes entsprechen nämlich vier subjektive oder persönliche Qualitäten (zai wo zhe) eines Dichters, die im Zusammenwirken mit den drei materiellen Aspekten poetische Kompositionen hervor40
»Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 576. Vgl. OWEN: Readings, S. 506, und POHL: »Tote und lebendige Regeln«, S. 162.
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Außenwelt und Innenwelt –Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung«
bringen. Diese persönlichen Eigenschaften sind: 1. »Talent« (cai), 2. »Mut« (dan), 3. »Urteilskraft« (shi) und 4. »Kraft« (li). Ye sagt von diesen Qualitäten: Besitzt man kein Talent, dann kann man Ideen nicht ausdrücken; hat man keinen Mut, dann können sich Pinsel und Tusche nicht frei bewegen; ohne Urteilskraft lassen sich keine Entscheidungen treffen; und ohne Kraft kann man kein selbständiger Meister werden (zi cheng yi jia).41
Unter diesen vier ist ihm die Urteilskraft die wichtigste Eigenschaft, denn sie erlaubt dem Dichter, die innere Ordnung (li), Tatsächlichkeit (shi) und individuellen Gestalten (qing) in der Welt und der Dichtung zu erkennen. Dabei wendet Ye die neokonfuzianische »Substanz-Funktion«-Formel (ti-yong) auf das Verhältnis von Urteilskraft und Talent an, legt dabei aber den Akzent, der zu seiner Zeit eher auf Talent lag, auf die Urteilskraft. Er schreibt: Urteilskraft kommt vor Talent; Urteilskraft ist die Substanz (ti), Talent ihre Funktion (yong). Wenn nicht genügend Talent vorhanden ist, sollte man zuerst die »Dinge untersuchen« und versuchen, Urteilskraft zu erlangen. Hat man keine Urteilskraft, dann sind li, shi und qing nicht klar vor Augen. Richtig und falsch, möglich und unmöglich, alles wird in Unordnung sein. Wie könnte man von einem Dichter ohne Urteilskraft erwarten, daß er Talent im Schreiben zum Ausdruck bringt?42
Hier vergleicht Ye Xie die Fähigkeit der Urteilskraft mit der neokonfuzianischen Methode des »Untersuchens der Dinge« (ge wu) und behauptet, daß man Urteilskraft brauche, um das Wesen der Dichtung und der Dinge dieser Welt zu ergründen. Weiter heißt es zu diesem Thema: Nur wenn man Urteilskraft besitzt, wird man wissen, was man verfolgen, wofür man kämpfen und was man entscheiden muß. Und wenn man später Talent, Mut und Kraft [dazu erlangt hat], dann wird man sicher zufrieden mit sich selber sein. »Die Welt mag einen dann verachten oder loben«, es wird ihm nichts ausmachen. [...] Der »Weg« [dies zu erreichen] ist der des [Klassikers] Daxue (Die Große Lehre), der mit der »Untersuchung der Dinge« beginnt.43 Wenn man die Lieder und Schriften der alten Meister singt und liest, sollte man jedes auf 41
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»Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 571. Vgl. OWEN: Readings, S. 560, und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 12. »Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 579. Vgl. OWEN: Readings, S. 513, und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 13. In der klassischen Schrift »Die Große Lehre« (Daxue), die zu den Kerntexten des Neokonfuzianismus zählt, wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen Ordnung und Friede auf der Welt einerseits und charakterlicher (moralischer) Kultivierung andrerseits. Die charakterliche Kultivierung beginnt mit dem »Untersuchen der Dinge« (ge wu). D.h., nur der in seiner Persönlichkeit Kultivierte ist dazu berufen, am (politischen) Ordnen der Welt mitzuwirken. LEGGE: Analects, Great Learning and Doctrine of the Mean, S. 358.
367
DIE QING-ZEIT »Prinzip«, »Faktizität« und »Gestalt« hin untersuchen, dann wird man alle Formen und die Vielfalt aller Gestaltungen verstehen und beherrschen.44
Mut erachtet er ebenfalls als wichtig für die Entwicklung von Talent: Ein weiser Mann des Altertums hat einmal gesagt: »Der Erfolg von Literatur liegt im Mut.« Wie kann »Literatur, die Tausende von Jahren Bestand haben soll«, bestehen, wenn man keinen Mut hat? Deshalb behaupte ich, daß Pinsel und Tinte zurückschrecken, wenn man keinen Mut hat; und wenn der Mut sich selber versteckt, wie soll dann das Talent Fortschritte machen. Nur Mut kann Talent hervorbringen.45
Wie erwähnt stand in der literarischen und künstlerischen Diskussion zu Ye Xies Zeiten (sowie in der Epoche davor, nämlich seit Yan Yu diese Thematik angestoßen hatte) Talent an erster Stelle.46 So nimmt auch in seinem Modell dieser Begriff eine wichtige – doch nicht die wichtigste – Position ein. Über Talent sagt er: Talent bedeutet, daß nur ich das Talent besitze, etwas zu wissen, das kein anderer weiß, daß nur ich in der Lage bin, etwas auszudrücken, das kein anderer ausdrücken kann. Wenn ich der schöpferischen Kraft meiner Gedanken freien Lauf lassen kann, [...] wenn ich Worte zusammenfügen kann, in denen das höchste »Prinzip« waltet, in denen die zehntausend »Tatsachen« genau behandelt werden und in denen die »Gestalt« tiefgründig Ausdruck findet, dann kann man dies Talent nennen.47
Kraft (li) schließlich ist notwendig für die Bewahrung des Talents. Ohne sie kann man kein kreativer und selbständiger Meister werden, der die Prüfungen der Zeit besteht. Er schreibt: Talent muß von Kraft getragen werden. Wenn die Kraft groß ist, dann kann Talent sich festigen. Werke können nur dann Tausende von Generationen überdauern, wenn das Talent von höchster und unzerstörbarer Festigkeit ist. [...] Deshalb sage ich, daß der, der »durch Worte in Erscheinung treten will« (li yan)48, Kraft besitzen muß, ansonsten kann er kein selbständiger Meister werden.49 44
45
46 47
48 49
»Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 584. Vgl. OWEN: Readings, S. 528, und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 13. »Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 581. Vgl. OWEN: Readings, S. 519, und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 13f. S. hierzu auch LYNN: »The Talent Learning Polarity«. »Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 581. Vgl. OWEN: Readings, S. 520f., und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 14. Zuozhuan, Xianggong 24.1; LEGGE: The Ch'un Ts'ew, S. 505. »Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 582. Vgl. OWEN: Readings, S. 522f., und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 14.
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Außenwelt und Innenwelt –Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung«
Resümierend sagt Ye Xie über die vier subjektiven Qualitäten eines Dichters und deren Zusammenhang: Man muß die Dinge im Inneren aufgrund seiner Urteilskraft verstehen und sie mittels Talent zum Ausdruck bringen. Nur mit Mut kann Talent aufrechterhalten und nur mit Kraft können (die Aufgaben) vollendet werden.50
In Yes Erörterung der persönlichen, inneren Qualitäten eines Dichters nimmt also die rationale Fähigkeit der »Urteilskraft« den höchsten Rang ein, auch bleibt die ansonsten recht häufige Forderung nach Ausdruck von »Gefühl« unerwähnt. Gelegentlich verwendet Ye in seinem Traktat das Zeichen qing in seiner Bedeutung von Gefühl, aber innerhalb seines wichtigen, systematischen Teils weist er qing dem äußeren, materiellen Bereich zu und gibt er diesem Terminus als »Gestalt« einen eher objektiven als subjektiven Inhalt. Dennoch bleibt bisweilen eine Doppeldeutigkeit erhalten, die wahrscheinlich nicht zufällig ist. Trotz Yes klarer Kategorisierung von materiellen versus persönlichen Aspekten bleibt ein etwas unbefriedigender Eindruck zurück, da er sich offenbar nicht viele Gedanken über die Verbindung dieser zwei Bereiche macht. In der Tat wird der Leser bis auf die oben erwähnte lapidare Aussage, daß beide Bereiche zusammenfließen müssen, um poetische Kompositionen hervorzubringen, und daß ein Dichter Urteilskraft braucht, um die drei materiellen Aspekte zu untersuchen, vergeblich nach handfesten Hinweisen bezüglich ihrer Verbindung Ausschau halten. Im Unterschied zu anderen Denkern der späten Ming und frühen Qing spricht Ye Xie auch nicht über solch zentrale Begriffe wie »Idee« oder Imaginationskraft des Dichters. Selbst der Vitalkraft (qi) als Agens zwischen dem materiellen und dem persönlichen Bereich kommt in seiner Systematik ein eher kosmisch wirkender, unpersönlicher Aspekt zu.
Die Wirkung lebendiger Regeln Nachdem er sich von der Welt hat berühren und inspirieren lassen, die Tradition der Dichtung aufgenommen und die großen literarischen Werke der Vergangenheit als Widerspiegelung der Mannigfaltigkeit und der natürlichen Gesetze der Welt erkannt hat, kann der Dichter – nicht von toten, sondern vielmehr von lebendigen, natürlichen Regeln geleitet – sich seiner Kunst widmen. Wie diese natürlichen Regeln als Grundlage aller wunderbaren Muster (wen) in der Natur wirken, hat Ye Xie in einem eindrucksvollen und vielfach zitierten Bild, dem der Wolken über dem Berg Tai (Taishan), veranschaulicht: 50
»Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 583. Vgl. OWEN: Readings, S. 526, und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 14.
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DIE QING-ZEIT Wind, Wolken, Regen und Donner bilden die großen Muster (wen) der Natur. Ihre Wandlungen sind unerschöpflich und unergründlich. Sie verkörpern die höchste Offenbarung des Geistes und die großartigsten Muster in der Natur. Ich will darüber von einem besonderen Standpunkt aus sprechen. Die Wolken über dem Taishan erheben sich aus dem winzigsten Rauchfetzen, und bevor der Morgen vorüber ist, bedecken sie die ganze Welt. Ich wohnte einst ein halbes Jahr am Fuße des Taishan und wurde vertraut mit seinen Wolkenformationen. Manchmal erheben sie sich, wie gesagt, aus dem kleinsten Rauchfetzen und strömen hinweg, um alle Winkel der Erde zu überfluten; manchmal versuchen alle Gipfel sich durch sie hindurchzukämpfen, doch verschwindet dann selbst der höchste Gipfel in ihnen. Manchmal vergehen Monate im Schatten der Wolken, und dann verfliegen sie plötzlich während einer kurzen Mahlzeit. Mal sind sie schwarz wie Lack, mal weiß wie Schnee, mal riesig wie die Flügel des [mythischen] Vogels Peng, [die über beide Enden des Horizontes herabhängen,] mal durcheinander wie wirre Haarsträhnen. Mal scheinen sie wie dicke Klumpen für sich allein in der Luft zu hängen, mal folgen sie einander in stetem und feinem Fließen. Wenn sich plötzlich schwarze Wolken zusammenballen, sagen die Ansässigen nach ihren Regeln das Wetter voraus: »Es wird regnen!« Doch regnet es gar nicht. Dann wiederum zeigen sich sonnenbestrahlte Wolken, und nach ihrer Regel verkünden sie: »Es wird schön werden!« Doch dann regnet es. Der Zug der Wolken hat unendlich viele Möglichkeiten, keine zwei nehmen den selben Weg, und in ihrem Aussehen und Wesen ist ebenfalls jede von der anderen verschieden. [...] Dies ist das natürliche Muster von Himmel und Erde – es ist ein vollkommenes Werk. Wollte man nun das Entstehen dieses Musters von Himmel und Erde an Regeln anbinden, dann müßte der Taishan, bevor er seine Wolken ausschickte, erst alle Gruppierungen von Wolken einberufen und sich mit ihnen beraten: »Ich will euch Wolken ausschicken, um das große Muster von Himmel und Erde zu bilden. Die eine Wolke hier soll zuerst gehen, die andere ihr folgen, diese soll hochsteigen und jene niedersinken. Eine soll sich von der Sonne anstrahlen lassen, und eine andere soll sich wie eine Welle kräuseln. Diese hier soll gegen den Strom hereinschweben und jene eine Rolle vorwärts machen. Diese soll den Anfang und jene den Schluß bilden, und diese hier schließlich soll [hinterher schweben und] mit dem Schwanz wackeln.« Würden sie auf diese Weise ausgeschickt und wieder zurückgebracht, dann besäße keine einzige Wolke eine Spur von Frische, und wenn das Muster von Himmel und Erde auf diese Weise entstünde, dann wäre der Taishan eine Last für Himmel und Erde und die Wolken eine Last für den Taishan – keine Wolke würde jemals hervorkommen.51
51
»Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 577. Vgl. OWEN: Readings, S. 509, und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 15f. Eine Übersetzung findet sich auch in STEPHEN OWEN: Traditional Chinese Poetry and Poetics, S. 114–116.
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Außenwelt und Innenwelt –Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung«
Dieses Bild veranschaulicht besser als alles andere Ye Xies Ideal von Dichtung als eines lebendigen, organischen Musters, das nicht von Regeln abhängig ist, die aus »orthodoxen« Modellen oder Perioden abgeleitet sind. Vielmehr sieht er Dichtung in jeder neuen Epoche mit jedem neuen Dichter, der von der Welt und ihren Geschehnissen bewegt wird, lebendig werden und dabei eigene Regeln erschaffen. In dem eben vorgestellten Bild spontanen, ungekünstelten Schaffens finden sich auch Anklänge an daoistisch inspirierte Konzepte natürlicher Kreativität, wie wir sie aus Lu Jis Wenfu oder von Sikong Tu her kennen. Insofern beinhaltet Ye Xies Theorie, die auf den ersten Blick mit ihrer Betonung von »Prinzip«, »Faktizität«, »Gestalt« und »Urteilskraft« ziemlich, wenn nicht sogar überaus rational erscheinen mag, auch eine Tendenz zu unausdrückbarer »Vergeistigung«, die uns in der Geschichte der chinesischen Literaturkritik inzwischen wohlvertraut ist.
Poetische Unergründlichkeiten Wie bedeutungsvoll dieser letztgenannte Aspekt für Ye Xie ist, geht aus einem Teil seines Traktats hervor, in dem er sich eher praktisch mit vergangener Dichtung auseinandersetzt. Wie schon erwähnt, begegnen wir bei Ye Xie kaum dem in der chinesischen Dichtungstheorie so beliebten Allgemeinplatz, daß Dichtung in Gefühl gründe, auch spricht er wenig von der Verschmelzung von Szenerie (jing) mit Gefühl (qing), eine Formulierung, die zwar auf tangzeitliche Theoretiker zurückgeht, doch nach Xie Zhen und Wang Fuzhi in der Ming- und Qing-Zeit eine inflationäre Verwendung fanden. Allerdings setzt er sich in Passagen damit auseinander, in der er sein System praktisch-kritisch anwendet (und zwar auf Zeilen aus Gedichten von Du Fu). Die Gelegenheit ergibt sich, als sein Gesprächspartner sich auf die chan-buddhistisch geprägte, intuitive Sicht der Dichtung beruft, auf ihre suggestiv-evozierende Qualitäten verweist und Ye Xies Betonung von Rationalität und Faktizität kritisiert: Die Art, wie Ihr diese drei Begriffe li, shih und qing entfaltet habt, kann man wohl als bis ins kleinste Detail gehend und umfassend bezeichnen. Diese drei Worte sind ohne Zweifel wichtige Grundbegriffe eines Gebildeten. Spricht man aber über Dichtung, dann hat gewiß der eine Begriff qing eine unveränderliche Bedeutung [nämlich als Gefühl], doch li und shi scheinen für die Dichtung nicht wichtig zu sein. Die Konfuzianer der alten Zeit sagten schon: »Von den Dingen dieser Welt gibt es keines, das nicht li besäße.« Doch was die Dichtung betrifft, so mag man sie wohl nicht als ein Ding behandeln wollen. Wenn man von der höchsten Ausformung der Dichtung spricht, so liegt das Wunderbare dabei in einer grenzenlosen Suggestivität und in einer Subtilität der Gedanken. Es ruht in einem Bereich, der zwischen dem Ausdrückbaren und Unausdrückbaren liegt; es weist auf etwas hin, das nicht gänzlich verstanden werden kann. Die Worte meinen dieses, und die Bedeutung meint jenes; dafür gibt es weder feste An-
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DIE QING-ZEIT haltspunkte noch eine feste Form. Es hat nichts mit abstrakten Erörterungen zu tun und ist mit herkömmlicher Logik unerklärbar. Es führt den Leser in einen entfernt verborgenen und nicht fest umrissenen Bereich. Das ist ihre höchste Ausformung. Wenn man alles über den Kamm des Prinzips scheren wollte – wobei man li als festes Maß annimmt –, dann hat man zwar Substanz (shi) doch keine Leere (xu), dann kann man an etwas festhalten doch entsteht kein Wandel. [Das Ergebnis ist dann] hölzern und steif oder gar völlig verdorben. Das ist dann dasselbe, wie wenn pedantische Gelehrte Schriften auslegen, wie wenn Schullehrer literarische Regeln erklären. [...] Ich fürchte, daß all dieses den Zielen eines Dichters zuwider ist. Und was schließlich die »Faktizität« (shi) betrifft: Es gibt auf der Welt sicher Fälle, wo sich das Prinzip (li) nicht in Fakten (shi) erblicken läßt. Doch wie könnten wir in der Dichtung, wo man noch nicht einmal das li der Dichtung erfassen kann, versucht sein, alle konkreten Fakten zu überprüfen? Und Ihr behauptet nun fest, Prinzip und Fakt hätten dieselbe regelhafte Bedeutung in der Dichtung wie Gestalt/Gefühl (qing), sodaß auch nicht die kleinste Differenz zwischen ihnen sei. Ich muß sagen, da habe ich meine Zweifel. Was sagt Ihr dazu?52
Darauf antwortet Ye Xie: Ihr laßt nur das Prinzip, über das man sprechen kann und das man fassen kann, als li gelten und wißt nicht, daß das höchste li das ist, das man in Worten nicht ausdrücken kann. Auch laßt Ihr nur konkrete Fakten, als shi gelten, doch wißt Ihr auch, daß die nicht existierenden Fakten, die Quelle alles Faktischen sind?
Ye Xie will hier wohl sagen, daß in Dichtung literarische Realität entsteht und daß in der Literatur das Nichtexistente in unendlich vielgestaltiger Weise existent, d.h. zum Faktum werden kann.53 Er fährt fort: Über das Prinzip, das sich in Worten ausdrücken läßt, kann alle Welt reden. Warum sollte ein Dichter noch darüber Worte verlieren? Von prüfbaren Fakten kann alle Welt berichten, warum sollte ein Dichter davon erzählen? Es gibt ganz gewiß so etwas wie eine unaussprechbare Vernünftigkeit und unbeschriebene 52
53
»Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 584f. Vgl. OWEN: Readings, S. 529f., und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 24f. Vgl. hierzu Aristoteles: »[...] daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte [...]. Denn der Dichter und der Geschichtsschreiber unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt [...]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.« ARISTOTELES: Poetik, Stuttgart: Reclam 1982, S. 29.
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Außenwelt und Innenwelt –Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung« Tatsächlichkeit, welchen man durch wortloses Begreifen eines »Ideen-Bildes« (yixiang) begegnen kann. Dann werden li und shi ohne Ausnahme hell vor einem leuchten.54
Im Anschluß daran versucht Ye Xie durch eine Analyse von Zeilen aus Gedichten von Du Fu zu zeigen, daß die betreffenden Zeilen – obwohl sie nicht konventioneller Logik, also dem li, entsprechen – doch nicht absurd sind, daß vielmehr die Zeilen, oder besser die Bilder, eine evozierende Kraft besitzen, die den Leser in die Lage versetzt, die poetische Szene zu erfahren oder intuitiv zu begreifen.55 »Prinzip« und »Faktizität« sind also nicht rational herauslösbare Elemente eines Gedichts. Ganz im Gegenteil, in ihrer poetischen Verwirklichung sind li und shi etwas Ungreifbares, welches das unergründliche, organisch-lebendige Muster der Welt widerspiegelt. Mit diesem Verständnis von li ist Ye Xies Ideal gar nicht so weit entfernt von Yan Yus aus der Song-Zeit, der zwar in seinem Canglangs Gespräche davor warnt, »in die Reusen der Worte zu fallen und auf der Straße der Vernunft/Prinzipien (der li) zu stapfen«, worin es jedoch von den Dichtern der von ihm so bewunderten Tang-Blüte heißt, »sie schätzten Ideen und Inspiration, doch in ihren Werken war li (Vernunft/Prinzip) immer eingebettet«.56 Ye Xies Betonung, daß ein Gedicht »Prinzip«, »Faktizität« und »Gestalt« von Dingen oder Ereignissen in der Welt beinhaltet, legt die Vermutung nahe, seine Sicht der Dichtung sei mimetisch (im Sinne einer Widerspiegelungstheorie). Im Kontext der gerade zitierten Passage zeigt sich jedoch, daß es ihm keineswegs um eine realistische oder gar naturalistische Widerspiegelung der Wirklichkeit geht, sondern um die Widerspiegelung einer tieferen Realität, die sich nur intuitiv fassen und begreifen läßt. Von dieser Warte gesehen, ließe sich Ye Xies Theorie der ganz zu Anfang erwähnten »transzendental-mimetischen« Kategorie von M.H. Abrams zuordnen.57 Allerdings läßt sich auch zeigen, daß man Ye Xie, wie viele große Kritiker, kaum auf eine singuläre Sicht der Literatur festlegen kann, d.h. es sind mimetische, expressive und pragmatisch-didaktische Elemente in seiner Theorie enthalten.58 Neuere chinesische Arbeiten (insbesondere der 70er und 80er Jahre) haben ihn allerdings in bewährter ideologisch motivierter Vereinfachung zumeist 54
55
56 57
58
»Yuan shi« in: Qing shihua, II, S. 585. Vgl. OWEN: Readings, S. 532, und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 25. S. eine Übersetzung dieser Analyse bei OWEN: Readings, S. 532ff, und POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 24ff. DEBON: Ts'ang-lang's Gespräche, S. 86 Bei Abrams wird diese von ihm auf Platon zurückgeführte Sichtweise so beschrieben: »Diese Theorie bezeichnet die eigentlichen Kunstobjekte als die Ideen oder Formen, denen man sich vielleicht über die Sinnenwelt nähern kann, die aber letztlich transempirisch sind, eine unabhängige Existenz in ihrem eigenen idealen Raum beanspruchen und nur dem geistigen Auge zugänglich sind.« ABRAMS: Spiegel und Lampe, S. 55. POHL: »Ye Xie’s ›On the Origin of Poetry‹«, S. 27f.
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DIE QING-ZEIT
als Protomaterialisten und frühen Realisten eingestuft (er ist – wie bei Wang Fuzhi deutlich wurde – nicht der einzige chinesische Denker, dem diese zweifelhafte Ehre zuteil wurde).
Ye Xies Stellung in der poetologischen Diskussion seiner Epoche Zum Schluß soll Ye Xies Position kurz im Kontext der Poetiken der Ming- und frühen Qing-Zeit beurteilt werden. Vereinfacht betrachtet begegnen wir in dieser Zeit der Spannung zwischen Individualisten und Archaisten. In seiner Ablehnung von Modellen der Vergangenheit und seinem Ruf nach einem persönlichen Ansatz eines jeden Dichters in einer jeweils neuen Epoche verbindet Ye Xie vieles mit den Individualisten. Seine Haltung der Vergangenheit gegenüber ist jedoch nicht so radikal wie die der Gongan-Schule, denn er verlangt z.B., daß ein Dichter sein Material (cai) von den Alten zu sammeln und so seine Individualität auf der Grundlage der Klassiker und der gesamten Dichtungstradition aufzubauen habe. Nur so könne ein Dichter ein wahrer »selbständiger Meister« werden. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal liegt in seiner stark konfuzianischen Ausrichtung. Ye besteht nämlich darauf, daß ein Dichter zwar auch seine Gefühle und »individuelle Natur«, aber mehr noch, und zwar auf der Basis der »Größe des Herzens« (xiongjin), seinen moralisch kultivierten Geist ausdrücken soll. In der Kombination dieser beiden Merkmale könnte man seine Position bis zu einem gewissen Grad mit der seines »Vorbildes« Han Yu vergleichen, welcher als ein konfuzianischer Konservativer Ye Xies Ideal eines »selbständigen Meisters« in der Literatur exemplifiziert. Eine Ähnlichkeit zwischen Yes Gedanken und denen der Archaisten liegt darin, daß weder er noch jene Wert auf Gefühlsausdruck in der Dichtung legen. Außerdem erweist es sich als eine Besonderheit von Yes Traktat, daß er trotz der Verwendung einer rational organisierten Terminologie und vernünftiger Prinzipien letztlich, wie in obigen Ausschnitten zitiert, auf deren »Unerklärbarkeit« verweist. Doch befindet er sich damit im chinesischen Kontext in bester Gesellschaft. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist das intuitive Erfassen des eigentlichen Wesens der Dinge und nicht deren intellektuelles Begreifen ein Charakteristikum der chinesischen Philosophie und Literaturkritik. Diese Vorstellungen, die bei Sikong Tu und Yan Yu deutlich hervortreten, waren insbesondere unter den Ming Archaisten populär, die, wie Richard John Lynn argumentiert, ihre poetischen Ansichten in der Nachfolge Yan Yus in chan-buddhistischer Terminologie und Metaphorik auszudrücken liebten, obwohl sie eher neokonfuzianischen Werten und entsprechender Methodik verpflichtet waren.59 Und genau hier liegt wohl das Besondere, welches Ye Xies Traktat trotz seiner offensichtlichen Ähnlichkeiten zu solchen Ideen von den kritischen Schriften der Archaisten unterscheidet. Er beruft sich 59
LYNN: »Orthodoxy and Enlightenment«.
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Außenwelt und Innenwelt –Ye Xies »Vom Ursprung der Dichtung«
nämlich nicht auf Yan Yu als Quelle seiner Ideen – obwohl er dessen Betonung der Urteilskraft (shi) übernimmt – und geht nicht weiter auf dessen Chan-Analogie für die Dichtung ein. Stattdessen verwendet er rationale Begriffe und eine Systematik, die dem philosophischen Vokabular des Cheng-Zhu-Neokonfuzianismus der Song-Zeit entstammen. Doch zeigen seine kritischen Erläuterungen, seine Betonung des unnennbaren li und der unprüfbaren shi, wie auch der Nachdruck auf der suggestiven Wirkung dichterischer Bilder, daß er den Theorien der Yan Yu-Nachfolger, d.h. der Archaisten, näher stand, als er selber wohl zuzugeben bereit gewesen wäre. Vielleicht könnte man seine Theorie, mit aller Behutsamkeit und Vorsicht gegenüber solch pauschalen Einordnungen, als eine neokonfuzianisch pragmatische »Abweichung« (bian) der gewöhnlich am Chan-Buddhismus orientierten »transzendental-mimetischen« Sicht der Dichtung betrachten, vermischt mit einigen expressiven Elementen – oder auch als eine elaborierte Variante der bekannten Formel von der Verschmelzung von jing und qing in der Dichtung, d. h. von äußerer Welt (Landschaft) und Ich des Dichters (Gefühl). Die analytische Art und Weise, in der er sich diesem Unerklärbaren, dieser einzig durch Intuition erfaßbaren Qualität der Dichtung annähert, erinnert ebenfalls stark an neokonfuzianische Methodik. Yes Ansatz steht jedenfalls in deutlichem Gegensatz zu den üblichen Praktiken der »Gespräche über Dichtung« mit ihren nur wenig differenzierten Kommentaren und Bewertungen, die jeglicher Analyse oder eingehender Interpretation entbehren. Ye Xies Ausführungen (gerade auch seine hier nicht behandelte Erläuterungen von Zeilen aus Du Fu-Gedichten) stellen vielmehr den Versuch einer kritischen Vorgehensweise dar, die einen als fast modern anmutet.
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Exkurs 3: »Die Regel der Nicht-Regel« – Ästhetik der Malerei in der Qing-Zeit
In diesem Abschnitt soll wieder ein ergänzender Seitenblick auf kunstphilosophische Betrachtungen in der Malerei jener Epoche geworfen werden, um zu zeigen, daß gewisse Fragen – so nach Regeln oder der Rolle der »Idee« im Schaffensprozeß – als grundlegend ästhetische quer durch alle Künste gestellt wurden und man vergleichbare Antworten darauf fand. In der Qing-Malerei läßt sich der gleiche Gegensatz zwischen archaistischen und nonkonformistischen Künstlern (und ihren »Theorien«) beobachten wie in der Dichtung. Dies begann bereits in der späten Ming-Zeit mit dem Auftreten von Dong Qichang, einem guten Bekannten der Yuan-Brüder. Dong Qichang kommt der »Verdienst« zu, die chinesische Malereigeschichte – analog zur Geschichte des Chan-Buddhismus – in zwei Strömungen unterteilt zu haben, eine Südliche Schule amateurhafter Literatenmaler, und eine Nördliche Schule professioneller Maler. Davon ist die Südliche Schule die von ihm höher bewertete. Deren Beginn setzt er mit Wang Wei aus der Tang-Zeit an und läßt sie über die großen Maler der Fünf Dynastien und der Nördlichen Song, vor allem Dong Yuan und Juran sowie die vier großen Meister der Yuan (Huang Gongwang, Ni Zan, Wu Zhen und Wang Meng), bei sich selbst enden. Dagegen werden die Maler der Nördlichen Schule eher als geschickte Kunsthandwerker eingestuft.60 Dong Qichangs Einfluß auf die spätere Epoche der chinesischen Malerei ist enorm (allerdings wird seine Rangordnung von der heutigen Kunstgeschichte nicht mehr geteilt). Man kann seine Position und Argumentationslinien in mancherlei Hinsicht mit der von Yan Yu – aber auch mit dessen Gegenspieler Huang Tingjian – auf dem Gebiet der Dichtung vergleichen, wobei er ebenso wie diese beiden der Chan-Terminologie verpflichtet war.61 Ihm ging es zwar um eine Anlehnung an die großen Maler der Vergangenheit (vor allem Dong Yuan, Juran und die Vier Großen Yuan-Meister), doch sprach er sich nicht für deren direkte Nachahmung aus; vielmehr sollten die alten Modelle gründlich studiert werden, um die innere Dynamik ihrer Gemälde 60
61
S. SUSAN BUSH: The Chinese Literati on Painting, S. 158ff. S. auch WAI-KAM HO (Hg.): The Century of Tung Ch'i-ch'ang. 1555–1636, Seattle: University of Washington Press 1992, sowie HO: »Tung Ch'i-ch'ang’s New Orthodoxy and the Southern School Theory«. Dong Qichang führte im Namen von zwei seiner Studios das Wort Chan: »Studio der ChanMalerei« (Huachan shi) und »Studio der Chan-Tusche« (Mochan xuan). Seine wichtigste Schrift, in der er seine Aufteilung der Malereigeschichte analog zum Chan-Buddhismus erläuterte, heißt »Huachan shi suibi« (Pinselnotizen aus dem Studio der Chan-Malerei). Eine moderne Ausgabe findet sich in: Biji xiaoshuo daguan, Bd. 7, Taipei: Xinqing shuju 1960. HO: The Century of Tung Ch'i-ch'ang, I, S. XXXV.
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Exkurs 3: »Die Regel der Nicht-Regel«
und die besonderen Eigenschaften ihres Pinselstrichs und ihrer Kompositionen zu verstehen. Das Ziel dieser Studien lag schließlich darin, über das Erfassen des Wesens der Meister eine eigenständige und durchaus individuelle Kunst hervorzubringen, wobei sich allerdings in den Gemälden (hier nun direkt analog zu Huang Tingjian) der kunstvolle Umgang mit dem bildlichen Rohmaterial, nämlich über bildliche Anspielungen auf die Werke der vergangenen Meister, herauslesen und bewundern lassen sollte. Seine Kunstauffassung war – vergleichbar zu Diskussionen im Bereich der Literatur – ebenfalls von einer dialektischen Durchdringung der beiden Konzepte Regel (fa) und Veränderung (bian) geprägt.62 Allerdings – und dies ist seinen leicht bizarr erscheinenden Gemälden durchaus anzusehen – wirkt seine Malerei völlig losgelöst von der Natur: Der kreative Prozeß fand somit nicht mehr über eine Begegnung des Künstlers mit der Außenwelt, sondern mit der Malerei der alten Meister statt. Dong Qichang soll zwar einmal gesagt haben: »Es gibt Dinge, die sich lernen lassen: Lese zehntausend Bücher und wandre zehntausend Meilen (li)!«63 Seinen Bildern nach zu urteilen scheint dabei der Akzent jedoch eher auf dem Studium der Bücher – wiederum wie bei Du Fu, Huang Tingjian und anderen in dieser Nachfolge – gelegen zu haben. Max Loehr hat in dieser Hinsicht, wie bereits erwähnt, von einer »kunsthistorischen Kunst« gesprochen. In der Qing-Zeit wurde das Feld des Archaismus in der Malerei von den sogenannten Vier Wang besetzt; dies sind Wang Shimin (1592–1680), Wang Jian (1598–1677), Wang Hui (1632–1717) und Wang Yuanqi (1642–1715). Sie malten in Anlehnung an Dong Qichangs Vorgaben im Stil der Yuan-Maler. Dabei vermochten sie zwar hin und wieder eigene Akzente zu setzten, doch blieben sie im großen und ganzen in ihren stereotypen Kompositionen den Mustern der Alten verpflichtet. Von Wang Hui ist folgendes Wort überliefert: Benutze den Pinselstrich und die Tusche der Yuan-Meister; bringe dazu die Berge und Täler der Song-Meister; dann bereichere das Ganze mit dem geistigen Widerhall der Tang-Meister – das ist dann ein großes Werk.64
Gegen diese Vergangenheitsorientierung regte sich natürlich Widerstand, und so gilt die Qing-Periode nicht nur als eine Zeit des Archaismus in der Malerei, sondern auch als eine Epoche großer nonkonformistischer Maler, welche den schon in der Literatur geäußerten Gedanken der »Regel der Nicht-Regel (wu fa zhi fa)« aufgriffen, weiter ausformulierten und künstlerisch überzeugend umsetzten. Unter den Malern der frühen Qing, die sich gegen den archaistischen Trend der Zeit wand62
63
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Wie im Zusammenhang der Gongan-Schule von Wai-Kam Ho bereits dargestellt, s. HO: »Tung Ch'i-ch'ang’s New Orthodoxy and the Southern School Theory«, S. 125–126. Zitiert nach RICHARD EDWARDS: The World Around the Chinese Artist. Aspects of Realism in Chinese Painting, Ann Arbor: University of Michigan 1987, S. 105. Zitiert nach POHL: Cheng Pan-ch'iao, S. 22.
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DIE QING-ZEIT
ten, ist an erster Stelle Shitao (ca. 1641–1717, auch unter seinen buddhistischen Mönchsnamen Daoji und Yuanji bekannt)65 zu nennen – einen der bedeutendsten Literaten-Maler in der chinesischen Kunstgeschichte überhaupt. Er reagierte auf die Kopiermanie seiner Zeitgenossen mit dem Diktum: »Die Nicht-Regel als Regel, das ist die höchste Regel (wu fa er fa, nai wei zhi fa)«66. Zu Dong Qichangs Aufteilung in Süd- und Nord-Schule meinte er einmal lapidar: Man spricht von der Nord- und Süd-Schule in der Malerei und von dem Stil der beiden Wang (Wang Xizhi und dessen Sohn Wang Xianzhi) in der Kalligraphie. Zhong Rong sagte einmal: »Nicht daß ich nicht den Stil der beiden Wang habe, bedaure ich, sondern vielmehr, daß die beiden Wang nicht meinen Stil haben.« Gehöre ich nun zur Nord- oder Süd-Schule? Oder gehört die Schule zu mir? Fragt man mich, so lache ich nur und antworte: »Ich habe meinen eigenen Stil.«67
Allerdings ist diese Position der Behauptung eines eigenen Stils und eigener Regeln auch nur eine vorläufige. In der Aufschrift zu einem 1691 datierten Bild führt Shitao aus, wie man selbst diesen individualistischen Standpunkt hinter sich zurück lassen kann: Früher habe ich einmal die vier Wörter »ich gebrauche meine Regel« gelesen und mich darüber gefreut; denn wenn die Maler unserer Zeit ausschließlich sich darin üben, das Leichentuch der alten Meister zu tragen, und zudem auch die Kritiker sagen: »Der Stil des Sowieso entspricht der Regel, der Stil des Sowieso entspricht ihr nicht«, so ist das zum Erbrechen! Wenn also dieser Herr seiner eigenen Regel zu folgen vermochte – überragt er damit nicht bereits die gewöhnlichen Maler? Aber heute bin ich umgefallen und habe erfaßt, daß dies doch auch wieder nicht so ist, denn unter dem unermeßlich weiten Himmelszelt gibt es nur eine Regel. Wer diese erfaßt hat, für den wird, wo er auch gehen mag, alles zur Regel. Warum da so unbedingt von Eigenem sprechen! – Wenn das Gefühl erwächst, dann hebt sich die Kraft; und wenn sie sich hebt, entwickelt sie und schafft sie auch das Maß, den Weg der Äußerung. In Wirklichkeit ist es ja nur dieses eine Bewußtwerden, dann kann man unerschöpflich gestalten, und es wird auch nicht eine Regel dafür geben. Als ich jetzt diese vierundzwanzig Blätter malte, suchte ich in keiner Weise mit den alten Meistern übereinzustimmen, und habe mir auch nicht meine Regeln bestimmt. Es war in allem so: Das unbewußt Geistige in uns kam in Bewegung, es wurde geboren, gehoben von der Kraft und entwickelte sich auf dem Wege der Äußerung, um so Gestaltung und Regeln zu vollenden. 65 66
67
Zu Shitao s. auch FRANCOIS CHENG: Fülle und Leere, S. 135–179. Zitat aus Shitaos »Hua yulu« (Kap. 1), YU JIANHUA (Komp.): Zhongguo lidai hualun leibian Peking: Renmin meishu 1986, II, S. 148; vgl. LIN: Chinesische Malerei, S. 147, 149 (Lin Yutang übersetzt »Methode« statt »Regel« für fa). Zitiert (mit geringfügigen Veränderungen) nach LIN: Chinesische Malerei, S. 165, und POHL: Cheng Pan-ch'iao, S. 22.
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Exkurs 3: »Die Regel der Nicht-Regel« [...] Ach, spätere Kritiker mögen dies als meine Regel oder als Regel der alten Meister bezeichnen; meinetwegen können sie sie auch als Allerweltsregel (tianxia ren zhi fa) bezeichnen.68
Shitao läßt sowohl die Regel als auch das »Ich« als Leitinstanzen im künstlerischen Prozeß zurück. Ihm wird, »wo er auch gehen mag, alles zur Regel«. Diese »eine Regel«, die »Allerweltsregel«, ist nichts anderes als das Dao, aus dem heraus er schaffen will. Wir haben hier also ein Transzendieren von Regel und Ich gepaart mit der Vorstellung einer mystischen Einheit (allerdings ohne eine mystisch entrückte Sprache) des Künstlers mit der Welt. Dem entspricht auch der Anfang von Shitaos berühmten »Traktat über die Malerei« (Hua yulu), wo er das mysteriöse und unendliche Potential des »Einen Strichs« (yi hua) gleichsam als Uranfang und Urgrund aller künstlerischen Wandlungsmöglichkeiten beschwört.69 In einem Ausschnitt aus einer anderen Gedichtaufschrift hebt er den Gedanken hervor, daß die eigene künstlerische Idee (yi) erst Regeln schafft: Es sage keiner, man besäße die Regeln der alten Meister [antrainiert] im Arm; Die Regeln der Alten gibt es [heute] nicht ein zweites Mal. Doch hat man [seinen] Geist mit dem Geist [der Alten] vereint, dann sind alle Dinge gleich; Wenn man mit der [eigenen] Idee [deren] Ideen durchdringt, dann liegt die Idee klar vor einem. Tausend und abertausend Gipfel – wie ein einziger Pinselstrich; Mal kreuz, mal quer – so schafft die [eigene] Idee erst Gesetzmäßigkeit (lü). 70
In dieser Aufschrift geht es um eine Einheit von Regelhaftigkeit und Regellosigkeit, wobei diese Einheit nur über eine geistige Vereinigung mit den alten Meistern – aber auch mit dem Kosmos (tian ren he yi) – erreicht werden kann. Die Aufschrift ist zudem typisch für Shitao, indem sie (wie in der vierten Zeile) zwar Wortspielerei enthält, doch dadurch auch Weisheiten vermittelt, die letztlich nicht nur der Kunst der Malerei gelten. Vergleichbares klingt an in einer 1760 datierten Bildaufschrift von Zheng Xie, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Banqiao (1693–1765), einem der so68
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CHEN ZHUAN: »Yuji shanfang hua wailu«, in: Meishu congshu, Taipei 1963, I, Nr. 8, S. 79; übers. nach VICTORIA CONTAG: Zwei Meister chinesischer Landschaftsmalerei Shih-t’ao und Shih-ch’i, Baden Baden 1955, S. 84f (mit geringfügigen Veränderungen); vgl. JAMES CAHILL: The Compelling Image: Nature and Style in Seventeenth-Century Chinese Painting, Cambridge, Mass.: Harvard UP 1982, S. 185. Zur Übersetzung dieses bedeutenden und lesenswerten Traktats s. LIN: Chinesische Malerei, S. 147ff, und CONTAG: Zwei Meister chinesischer Landschaftsmalerei, S. 55ff. Aufschrift zu Bild 69, in: Zhongguo meishu quanji, huihuabian, IX (Qingdai, I), Shanghai 1990, S. 71.
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DIE QING-ZEIT
genannten »Acht Sonderlinge von Yangzhou« (Yangzhou ba guai). Er schreibt über die Regeln des Malens: Die Regeln für das Malen von Orchideen lautet: drei Stengel und fünf Blätter. [...] Doch sind dies die Regeln für Anfänger; der eigentliche »Weg« [des Malens] von Orchideen ist nicht so. Nur braucht man ein ganzes Leben, um ihn zu erlernen. Die guten Maler des Altertums nahmen sich das Wirken der Natur zum Vorbild. Und so male auch ich, wie der Himmel Leben gibt. Alles, was nötig ist, ist ein wenig Urenergie (yuanqi), die sich verdichtet und etwas entstehen läßt. [...]
Und er fügt folgendes Gedicht hinzu: Wie könnte ich behaupten, daß meine Bilder keine Vorbilder hätten? Auch ich hatte eine Zeit, als Anfänger zu lernen. Ich will malen, bis daß ich das kreative Wirken des Himmels mir enthüllt – Nicht nach einem modernen und nicht nach einem alten Stil, nur nach dem Wissen des eigenen Herzens.71
Regeln und Vorbilder sind demnach zwar wichtig für die Lernphase, doch gilt es, sie beizeiten zurückzulassen. Wie bei Li Mengyang finden wir hier den Hinweis, daß sich die Alten »das Wirken der Natur zum Vorbild nahmen« (fa ziran), mit der Konsequenz, deshalb nicht ihre Werke zu imitieren, sondern es ihnen in dieser Intention gleichzutun. Dann wird sich dem Maler »das kreative Wirken des Himmels« enthüllen. In einer anderen Bildaufschrift – mit dem bezeichnenden Titel »Wirrer (luan) Bambus, wirre Orchideen und wirre Felsen« – verwirft Zheng Xie, wie Shitao vor ihm, den Gedanken, in der Malerei käme es auf eine Orientierung an alten Meistern an: Worte, die Himmel und Erde erzittern lassen; Texte, die erschrecken wie Donner und Blitz; Sprache, die Geister und Dämonen beschimpft; Malerei, weder im neuen noch im alten Stil. All diese Ziele sind nicht mit Allerweltsaugen zu verfolgen. Deshalb: Nimm Dir keine Vorbilder vor dem Malen, Und laß auch keine Vorbilder für andere nach dem Malen zurück.72
Dies ist nicht einfach ein klares Bekenntnis zur Eigenständigkeit in der Malerei, wie wir es von den Yuan-Brüdern auf dem Feld der Dichtung kennen, es ist eine 71
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ZHENG XIE: Zheng Banqiao ji, Shanghai: Guji 1979, S. 222. Vgl. POHL: Cheng Pan-ch'iao, S. 141; zu Zheng Xies Ansichten über Dichtung und Prosa s. POHL: Cheng Pan-ch'iao, S. 64–95, zu seinem Verhältnis zu Shitao, S. 136ff. ZHENG: Zheng Banqiao ji, S. 167; zitiert nach POHL: Cheng Pan-ch'iao, S. 176.
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Exkurs 3: »Die Regel der Nicht-Regel«
Äußerung, die zusammen mit der pittoresk-lebendigen Kalligraphie gleichsam das Selbstbildnis eines echten Sonderlings – nämlich als Bild eines durcheinandergewürfelten Haufens von Bambus, Orchideen und Felsen – vermittelt.73 Davon abgesehen werden hier alle Künste angesprochen; sie bilden für die Literaten des 18. Jahrhunderts – gerade mit der in dieser Periode verstärkt zu beobachtenden Durchdringung von Malerei, Kalligraphie und Dichtung in einem Kunstwerk – eine natürliche Einheit. Für diese Einheit spricht auch, daß in dieser Zeit eine Reihe von Nachahmungen oder Fortsetzungen von Sikong Tus »Vierundzwanzig Qualitäten der Dichtung erschienen«, die sogar in die anderen Künste – Malerei und Kalligraphie – ausgreifen. (Eine von Yuan Mei verfaßte Fortsetzung von Sikong Tus »Qualitäten der Dichtung« wird im Abschnitt über ihn weiter unten noch ausführlich gewürdigt.) Von einem Yang Jingzeng ist ein Werk mit dem Titel »Vierundzwanzig Qualitäten der Schriftkunst« (Ershisi shupin) bekannt, und von einem Huang Yue gibt es dementsprechend »Vierundzwanzig Qualitäten der Malerei« (Ershisi huapin).74 Aus Huang Yues Zyklus sei hier das erste seiner Gedichte angeführt, gerade auch um zu zeigen, daß es für die drei Künste übergreifende Themen gegeben hat. Der Titel des Gedichts hat die erste der berühmten »Sechs Regeln« der Malerei von Xie He (5. Jh.) zum Gegenstand: »Widerhall der Vitalkraft« (qiyun) Schwer sind die Sechs Regeln [der Malerei] Am schwersten ist der »Widerhall der Vitalkraft« Die Idee geht dem Pinsel voraus; Das Wunderbare liegt jenseits des Gemalten. So wie der Ton in den Saiten ruht, So wie der Rauch zu Wolken wird – Des Himmels Wind – kühl so kühl, Des