Gesammelte Schriften. Bd. 15: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts 3525303173, 9783525303177 [PDF]


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Table of contents :
XV. BAND (Titelei)......Page 1
INHALT......Page 4
VORWORT (Karl Gründer)......Page 6
VORBERICHT DES HERAUSGEBERS. Einleitung zu den Bänden XV bis XVII (Ulrich Herrmann)......Page 10
ARCHIVE FÜR LITERATUR......Page 40
Schleiermacher......Page 56
Friedrich Christoph Schlosser......Page 76
Arthur Schopenhauer......Page 92
Eduard Gibbon......Page 114
Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig......Page 132
Hölderlinund die Ursachen seines Wahnsinnes......Page 141
Die romantischen Dichter......Page 156
Vorbemerkung......Page 155
I. Ludwig Tieck......Page 157
II. Novalis......Page 178
Zum Andenken an Friedrich Überweg......Page 189
Ludwig Uhland......Page 200
Aus F.W.J. Schellings Leben......Page 208
Mohammed......Page 212
Die Fürstin Galitzin......Page 217
Richard Wagner......Page 223
Goethe und Corona Schröter......Page 238
Heinrieb Heines Leben und Werke. Von Adolf Strodtmann. 2. Auflage, 2 Bände.Berlin 1873.......Page 244
Erste Jugendjahre und Universitätszeit......Page 245
Die Gedichte und Tragödien der Studentenjahre......Page 250
Heines Übertritt zum Christentumund die Entscheidung über seinen Lebensgang......Page 253
Die Reisebilder......Page 255
Das Buch der Lieder......Page 258
Paris und der Höhepunkt seines Lebens......Page 262
Das junge Deutschland und die Genossenschaft mit einer radikalen, durch ihnmitentwickelten Opposition......Page 267
Das Gefühl des Exils und die Rückschläge des Lebens......Page 272
Heine und Börne. Die Auflösung von Heines Verhältnis zur Opposition und diefortschreitende Zersetzung seiner Gesinnung......Page 276
Das tragische Ende einer reichen Dichternatur......Page 277
Der Pessimismus als die Weltansicht seiner persönlichen Lage und die letzte generelleKonsequenz seiner nihilistischen Kritik......Page 280
John Stuart Mill......Page 284
George Grote......Page 290
I. Entwicklung......Page 291
II. Radikale Politik......Page 293
III. Die "Geschichte Griechenlands"......Page 295
Otto Ribbeck......Page 298
Emilie Zeller......Page 304
Eduard Zeller......Page 306
DIE GNOSISMARCION UND SEINE SCHULE......Page 318
Jahresbericht über die im Jahre 1886 erschienene Literaturüber die Philosophie seit Kant......Page 336
Briefe von und an Hegel......Page 349
Jahresbericht von der 1887 und 1888 erschienenen Literaturüber die deutsche Philosophie seit Kant......Page 356
Bericht von deutschen Arbeiten über die auswärtigenachkantische Philosophie 1887—1889......Page 365
Diltheys Rezensionen aus dem Bericht über die deutsche Philosophie seit Kantfür die Jahre 1889 und 1890......Page 371
Jahresbericht über die nachkantische PhilosophieSchriften über Schelling, K. E. von Baer, Strauß und Vischer......Page 372
Das Hegel-Buch Kuno Fischers......Page 382
NACHTRAG Selbstbekenntnisse eines Phantasiemenschen. Karl Philipp Moritz......Page 395
ANMERKUNGEN......Page 411
PERSONENREGISTER......Page 415
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Gesammelte Schriften. Bd. 15: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts
 3525303173, 9783525303177 [PDF]

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Zitiervorschau

WILHELM DILTHEY GESAMMELTE SCHRIFTEN Von Band XV an besorgt von Karlfried Gründer

XV. BAND

V&R VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

ZUR GEISTESGESCHICHTE DES 19. JAHRHUNDERTS PORTRAITS UND BIOGRAPHISCHE SKIZZEN QUELLENSTUDIEN UND LITERATURBERICHTE ZUR THEOLOGIE UND PHILOSOPHIE IM 19. JAHRHUNDERT

Herausgegeben von Ulrich Herrmann

3., unveränderte Auflage

V & R VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Dilthcy, Wilhelm:

Gesammelte Schriften / Wilhelm Dilthey.Von Bd. 18 an besorgt von Karlfried Gründer und Frithjof Rodi. — Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Teilw. im Verl. Teubner, Stuttgart, und Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen NE: Gründer, Karlfried [Hrsg.]; Dilthey, Wilhelm: [Sammlung] Bd. 15. Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts: Portraits und biographische Skizzen, Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert / hrsg. von Ulrich Herrmann. -3.,unveränd.Aufl.-1991 ISBN 3-525-30317-3 NE: Herrmann, Ulrich [Hrsg.]

3., unveränderte Auflage 1991 © 1991,1970, Vandenhoeck &Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seinerTeile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hubert & Co., Göttingen

INHALT Vorwort zur Fortsetzung der „Gesammelten Schriften" Wilhelm Diltheys VII Vorbericht des Herausgebers: Einleitung zu den Bänden der Gesammelten Schriften XV—XVII ARCHIVE FÜR LITERATUR

XI 1

PORTRAITS UND BIOGRAPHISCHE SKIZZEN

17

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

17

Friedrich Christoph Schlosser

37

Arthur Schopenhauer

53

Eduard Gibbon

75

Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig . .

93

Hölderlin und die Ursachen seines Wahnsinnes

102

Die romantischen Dichter

117

Ludwig Tieck Novalis

118 139

Zum Andenken an Friedrich Überweg

150

Ludwig Uhland

161

Aus F. W. J. Schellings Leben

169

Mohammed

173

Die Fürstin Galitzin

178

Richard Wagner

184

Goethe und Corona Schröter

199

Heinrich Heine

205

John Stuart Mill

245

George Grote

251

Otto Ribbeck

259

VI

Inhalt

Emilie Zeller

265

Eduard Zeller

267

D I E GNOSIS. MARCION UND SEINE SCHULE LITERATURBERICHTE ZUR PHILOSOPHIE DES 19. JAHRHUNDERTS

279 .



.

297

Jahresbericht über die im Jahre 1886 erschienene Literatur über die Philosophie seit Kant 297 Briefe von und an Hegel

310

Jahresbericht von der 1887 und 1888 erschienenen Literatur über die deutsche Philosophie seit Kant 317 Bericht von deutschen Arbeiten über die auswärtige nachkantische Philosophie 1887—1889

326

Diltheys Rezensionen aus dem Bericht über die deutsche Philosophie seit Kant für die Jahre 1889 und 1890

332

Jahresbericht über die nachkantische Philosophie (1899)

334

Das Hegel-Buch Kuno Fischers

343

NACHTRAG:

Selbstbekanntnisse eines Phantasiemenschen

356

Anmerkungen

372

Personenregister

376

VORWORT zur Fortsetzung der „Gesammelten Schriften" Wilhelm Diltheys Bald nach dem Tode Wilhelm Diltheys haben seine Schüler Bernhard Groethuysen, Georg Misch, Herman Nohl und Paul Ritter, unterstützt durch den zum Testamentsvollstrecker bestellten Grafen Heinrich Yorck, mit der Herausgabe der Gesammelten Schriften begonnen. Von 1914 bis 1931 erschienen acht Bände, später kamen noch vier, herausgegeben von Otto Friedrich Bollnow, Herman Nohl und Erich Weniger, hinzu. Verlagsrechtliche und persönliche Schwierigkeiten brachten es mit sich, daß wichtige Stücke außerhalb der Gesammelten Schriften gedruckt wurden. Der unveröffentlichte zweite Teil des Schleiermacher-Werkes erschien, aufgrund von Vorarbeiten von Hermann Mulert herausgegeben von Martin Redeker, 1966 gleichzeitig im Verlag de Gruyter 8c Co Berlin und als Band XIV der Gesammelten Schriften. Im besonderen die ersten acht Bände der Gesammelten Schriften kann man als Werkstattausgabe kennzeichnen: der Kreis der unmittelbaren Schüler des alten Gelehrten, von diesem schon zu Lebzeiten an der Redaktion und Drucklegung seiner Arbeiten in einem ungewöhnlichen Maße beteiligt, gibt das Werk heraus, wie es der Autor etwa selbst bestimmt haben könnte. Die Ausgabe ist zu einem guten Teil auch eine redaktionelle Leistung, in der Art ihrer Sorgfalt pietätisch, ohne Absicht und Anspruch auf neutrale Vollständigkeit und distanzierte Objektivität kritischer Editionstechnik. Manches Veröffentlichte, besonders auch aus Diltheys Jugend, wurde nicht wiedergedruckt, weil man nichts mehr davon wußte oder weil man es für weniger erheblich hielt. Vieles aus dem Nachlaß blieb ungedruckt, weil frühere Fassungen und Fragmente als überholt erschienen durch die endgültigen Fassungen, die abgeschlossenen Arbeiten; weil aus der Nähe Entwicklungsstufen von sachlicher Bedeutung bloß nach ihrem technischen Zustand, dem Grade ihrer schriftstellerischen Vorläufigkeit und Unfertigkeit beurteilt wurden. Im Bewußtsein ihrer eigenen Geprägthedt durch die philosophischen Absichten und den literarischen Anspruch des mächtigen Greises fühlten sich die ersten Herausgeber in den kaum überschaubaren Massen des Nachlasses wie in der Werkstatt des Lebenden, in der sie mitgearbeitet hatten und wo sie sich daher auskannten. Am eindringlichsten, auch am längsten haben sich Georg Misch, der Schwiegersohn Wilhelm Diltheys, und sein Freund Herman Nohl um die Ausgabe gekümmert: geschlossene Stücke aus dem Nachlaß herausgehoben und abgeschrieben, einiges davon zum Druck gebracht, anderes wieder beiseitegelegt. An eine Fortführung der Ausgabe über die Bände I bis XII hinaus wurde vorerst nicht gedacht;

vin

Vorwort

diese aber wurden nach dem zweiten Weltkrieg vom Verlag Vandenhoeck & Rupretht in Gemeinschaft mit dem Verlag B.G.Teubner, in dem sie zuerst erschienen waren, unverändert neuaufgelegt (Band X übrigens erst dabei, 1958, eingefügt). Die Erben Diltheys hatten den wissenschaftlichen Nachlaß dem von Dilthey selbst begründeten Literatur-Archiv, das inzwischen an die Akademie der Wissenschaften zu Berlin gekommen war, übergeben. Nach dem zweiten Weltkrieg gehörte das Literatur-Archiv innerhalb der Akademie zum Institut für deutsche Sprache und Literatur, seit 1968 ist es ein Teil des zentralen Archivs der Akademie. Dieser Nachlaß besteht aus etwa 300 Konvoluten, die Paul Ritter bald nach dem Tode Diltheys inventarisiert hat. Auf dieses Verzeichnis beziehen sich die Quellenangaben in den Gesammelten Schriften und sonst. Persönlichere Papiere, änsbesondere Briefe, blieben bei der Familie: bei Max Dilthey in Berlin-Kladow, bei Clara und Georg Misch in Göttingen. Was sich in Berlin-Kladow befand, ist 1945 mit großer Wahrscheinlichkeit verlorengegangen. Die geringeren urschriftlichen Bestände in Göttingen, zu denen freilich auch eine Reihe von annotierten Handexemplaren und die wichtige Korrespondenz um die Ausgabe gehörten, vermehrten sich im Laufe der Zeit bei Misch und Nohl um Abschriften aus dem Nachlaß und Vorlesungsnachschriften auch von anderer Hand. Mit den Nachlässen von Nohl (gestorben 1960) und Misch (Georg Misch gest. 1965, Clara Misch gest. 1967) sind sie in die Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek zu Göttingen gekommen und bilden dort ein zweites kleineres Dilthey-Archiv. Im Jahre 1962 regte Herr Dr. Arnold Fratzscher von der Verlagsbuchhandlung Vandenhoeck & Ruprecht Überlegungen und Gespräche an zwischen dem Ehepaar Misch, dem Verlag und dem Unterzeichnenden, ob und gegebenenfalls wie die Ausgabe der Gesammelten Schriften fortgeführt werden sollte. Dabei und nach vorläufigen Nachforschungen im Berliner Nachlaß ergaben sich folgende Grundsätze: 1) Diltheys sich wieder erneuernde Bedeutung macht es dringend wünschenswert, die editorische Erschließung und Bereitstellung sainer philosophischen Hinterlassenschaft als Voraussetzung seiner Aneignung über den Zustand nach Abschluß der zwölf Bände Gesammelter Schriften hinauszuführen. 2) Der Nachlaß enthält noch manche ungedruckten Stücke, deren Herausgabe nunmehr — da aus der unmittelbaren Gegenwärtigkeit, in der Diltheys Denken und Lehren seinen letzten Schülern vor Augen stand, historische Distanz geworden ist mit dem Interesse an Herkunft, Entwicklung, Wirkungsgeschichte, spezifischer Aktualität — vorbehaltlos geboten ist. 3) Die früheren Schwierigkeiten für die Zusammenführung in eine Reihe sind fortgefallen oder überwindbar geworden. •4) Es wäre nicht nur unpraktisch, sondern auch unsachgemäß, die vorliegende Ausgabe durch eine umfassende historisch-kritische Ausgabe zu ersetzen; zweckmäßig ist vielmehr ihre Ergänzung durch Fortsetzung in weiteren, anzuschließenden Bänden.

Vorwort

IX

5) Demgemäß werden die folgenden Bände kein Stück bringen, das in den Bänden I bis XIV schon steht, auch wenn bei gänzlicher Neuanlage manche Bände besser geschlossen und gegliedert werden könnten; gelegentlich werden sich Abbruche und Rückverweise nicht vermeiden lassen. 6) So wenig danach die Bande der Fortsetzungsreihe ihrem inhaltlichen Umfange nach und in ihrem Aufbau am Maßstabe moderner historisch-kritischer Gesamtausgaben gemessen werden dürfen — in ihrem Stil werden sie über die früheren Bände hinausgehen müssen im Sinne einer Annäherung an deren Erfordernisse und Verfahrensweisen. Heutige Herausgeber können nicht mehr Bescheid wissen und verfahren, wie es in der Werkstatt zuging. Sie dürfen sich redaktionelle Eingriffe nicht zutrauen, sie werden unter anderem auch genauere Zeitbestimmungen versuchen müssen. 7) Es ist deshalb notwendig, daß die erhebliche Arbeit mehrere verantwortliche Herausgeber und Mitarbeiter untereinander teilen. Zunächst erscheinen die Bände XV bis XVII, herausgegeben und eingeleitet von Ulrich Herrmann. Von den übrigen Vorarbeiten sind am weitesten gediehen die für einen Band mit Vorstufen zur „Einleitung in die Geisteswissenschaften" und Entwürfen zu ihrer Fortsetzung. Weitere Bände werden folgen, zum Schluß eine Briefsammlung und ein Band, der eine Nachlaßbeschreibung mit einem Editionsbericht verbinden soll und zwar so, daß dadurch für die quellenkritischen Fragen, die, bedingt durch die Entstehungsweise der Ausgabe, vorerst offen sind, der spätere Benutzer Auskunft finden kann. Die vorbereitenden Arbeiten für die Fortführung der Ausgabe fanden und finden in nicht hoch genug zu rühmender Weise Verständnis, Liberalität und Hilfsbereitschaft in der Berliner Akademie und der Göttinger Bibliothek und bei manchen anderen; sie werden ermöglicht von der Deutschen Forschungsgemeinschaft; sie werden gefördert von dem ebenso sanften wie unermüdlichen Drängen Herrn Dr. Arnold Frarzschers und dem entschiedenen Wunsch des Verlagshauses, das es sich zu seiner Ehre rechnet, das Werk Wilhelm Diltheys der gelehrten Welt so vollständig wie möglich darzubieten. Münster/Bochum, Sommer 1970 Karlfried Gründer

VORBERICHT DES HERAUSGEBERS Einleitung zu den Bänden XV bis XVII Wilhelm Dilthey ist in die Geschichte der Wissenschaften als Autor von „ersten Bänden", „Beiträgen", „Ideen", Fragmenten, als Verfasser von anonym und pseudonym erschienenen Arbeiten eingegangen, als Briefpartner des kongenialen Paul Grafen Yorck von Wartenburg — beider Briefwechsel zählt zu den wichtigsten geistesgeschichtlichen Dokumenten in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts —, als einer der Großen der deutschen Geistesgeschichte, der tradierend, umbildend, forschend, anregend und verwirrend zugleich auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie und in einer Reihe von Einzeldisziplinen Bedeutendes leistete, ohne seine Arbeiten zu einem auch nur vorläufigen Abschluß bringen zu können. Vom „Leben Schleiermachers" erschien 1867/70 lediglich der erste Band; die „Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883) blieb unvollendet, obwohl ein systematischer Teil über Logik und Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften bereits um 1880 fertig ausgearbeitet vorlag; wichtige Arbeiten erschienen in den Abhandlungen und Sitzungsberichten der Berliner Akademie der Wissenschaften — ein dem Rang des Autors entsprechender Publikationsort, jedoch ohne Zugang zu einem breiteren Publikum; zu einer Sammlung einiger seiner literaturwissenschaftlichen Abhandlungen — sie erschien 1906 unter dem Titel „Das Erlebnis und die Dichtung" — mußten ihn seine Schüler (Paul Menzer, Anna Tumarkin, Max Frischeisen-Köhler und Georg Misch) drängen — sie erlebte bis heute vierzehn Auflagen! Denn dies ist das Erstaunliche an der Wirkungsgeschichte seines Werkes: zunächst bedurfte es der Edition der „Gesammelten Schriften" durch die Schüler und deren Mitarbeiter (Georg Misch, Bernhard Groethuysen, Herman Nohl, Paul Ritter, Otto Friedrich Bollnow, Erich Weniger), um das zerstreute Werk vor dem Untergang zu bewahren. Danach setzte eine umfangreiche Dilthey-Rezeption ein, von der man zunächst glauben konnte, sie sei in der spezifischen geistesgeschichtlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Situation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg begründet. Aber auch in heutiger Perspektive und mit größerem historischen Abstand gewinnt Diltheys Werk in zunehmendem Maße an Eigenständigkeit und Aktualität1. Dazu bedarf es einiger Erläuterungen, die zugleich diese Ausgabe Diltheyscher Arbeiten, die von den Herausgebern der „Gesammelten Schriften" bisher beiseite gelassen worden waren, begründen. 1 Vgl. vom Hrsg. die »Bibliographie Wilhelm Dilthey". Weinheim/Berlin/Basel 1969. Diese Bibliographie in einer Reihe pädagogischer Bibliographien enthält nicht nur die Quellen und Literatur zur Pädagogik Diltheys, sondern sämtliche Veröffentlichungen von und über Dilthey (mit Einschluß der Übersetzungen und Ausgaben).

XII

Einleitung

Erich Rothacker veröffentlichte 1920 seine „Einleitung in die Geisteswissenschaften"2, den Titel von Diltheys berühmtem Buch von 1883 übernehmend, um dessen Intention damit in systematischer Absicht weiterzuführen3 und sich ihres wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrundes im neunzehnten Jahrhundert zu versichern. Er legt in eingehender historisch-systematischer Untersuchung dar, wie mit Diltheys Arbeiten die Geschichte der Geisteswissenschaften — als Geschichte ihres Selbstverständnisses und ihrer wissenschaftstheoretischen Begründung — in eine neue Epoche tritt. Die Kritik der spekulativen idealistischen Philosophie, vor allem im Sinne der Metaphysikkritik; das Vordringen des anglo-französischen Positivismus; „Zurück zu Kant", die Ausbildung der „positiven Einzelwissenschaften des Geistes" mit „positiver" deskriptiv-historischer, vergleichender, statistisch-quantifizierender und induktiv-experimenteller Methode in der politischen Historie, der Philologie, der Sprachwissenschaft, der (Kultur-)Anthropologie, Psychologie, Ökonomie, Soziologie usw.; grundlegende politische, soziale und wirtschaftliche Umwälzungen in Deutschland und im europäischen Staatensystem als Ausbruch einer neuen Epoche; ein Jahrhundert grundlegender naturwissenschaftlicher und technologischer Entdeckungen — das war die Konstellation, in der Dilthey sich auf die Frage der Grundlegung der Geisteswissenschaften richtete. „Das 19. Jahrhundert, das ist Hegel und Goethe, Schelling und die Romantik, Schopenhauer und Nietzsche, Marx und Kierkegaard, aber auch Feuerbach und Rüge, B.Bauer und Stirner, E. von Hartmann und Dühring. Es ist Heine und Börne, Hebbel und Büchner, Immermann und Keller, Stifter und Strindberg, Dostojewski und Tolstoi; es ist Stendhal und Balzac, Dickens und Thackeray, Flaubert und Baudelaire, Melville und Hardy, Byron und Rimbaud, Leopardi und d'Annunzio, George und Rilke; es ist Beethoven und Wagner, Renoir und Delacroix, Munch und Marées, van Gogh und Cézanne. Es ist die Zeit der großen historischen Werke von Ranke und Mommsen, Droysen und Treitschke, Taine und Burckhardt und einer phantastischen Entwicklung der Naturwissenschaften. Es ist nicht zuletzt Napoleon und Metternich, Mazzini und Cavour, Lassalle und Bismarck, Ludendorff und Clemenceau. Es erstreckt sich von der großen französischen Revolution bis 1830 und von da bis zum ersten Weltkrieg. Es hat Schlag auf Schlag zum Heil und Unheil der Menschen die gesamte technische Zivilisation geschaffen und Erfindungen über die ganze Erde verbreitet, ohne die wir uns unser alltägliches Leben überhaupt nicht mehr vorstellen können" — so umschreibt Karl Löwith den Horizont, innerhalb dessen man auch das Denken und Forschen Wilhelm Diltheys sehen muß 4 . Zeigt Rothacker, wie Dilthey aus dem Geiste der Historischen Schule zu verstehen ist; 2 Erich Rotbacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen 1920, 2. unveränd., durch ein Vorw. erg. Aufl. ebd. 1930 (Zitate nach der 2.Aufl). 3 Vgl. dazu Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. In: HB der Philosophie. Hrsg. von A.Baeumler und M.Schröter, Abt.2: Natur, Geist, Gott; Nr.C. München/Berlin 1927; selbständig unveränd. zuletzt Darmstadt 1965 (Zitate nach der letzten Ausgabe). * Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard. Zuletzt 5. Aufl. Stuttgart 1964, S. 8 f.

Einleitung

ΧΙΠ

zeigt Löwiths Buch, in welchem Sinne der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts zu akzentuieren ist; so zeigt sich in der Differenz zu beiden der spezifische Sinn des Diltheyschen Ansatzes einer „Kritik der historischen Vernunft": im Rückgang auf die weltgeschichtliche Entwicklung der abendländischen Kultur, die Geschichtlichkeit des Menschen und die Frage nach dem „Sinn" der Wissenschaft und ihrer „Bedeutung" für das „Leben" das Problem des Wirkangszusammenhanges von Individuum und Gesellschaft, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Sein und Sollen, von Wissenschaft, Religion und Weltanschauung, von Denken und Handeln im Hinblick auf ein „neues Weltalter" neu zu stellen. Es ging um die Grundlegung der „Wissenschaften vom Menschen, vom Staat und der Gesellschaft", der „moralisch-politischen Wissenschaften", der „Wissenschaften vom handelnden Menschen" 5. Die Ethik-Vorlesung vom Sommersemester 1890 in Berlin ist daher nach Dihheys damaligem Selbstverständnis der Abschluß seiner systematischen Gedanken*. Eine erste Übersicht über Dihheys Fragestellungen und Probleme vermittelt sein „Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften" von 18657. Hier wird unterschieden zwischen den „Wissenschaften der Außenwelt" („Die Naturphilosophie") und den „Wissenschaften des Geistes". Letztere werden in folgender Weise systematisiert8: I. Allgemeine grundlegende Wissenschaft des Geistes: Psychologie und Anthropologie; II. Die realen Wissenschaften des Geistes, vermöge deren nunmehr der Inhalt des Geistes erkannt wird: 1. Ethik, 2. Rechtsund Staatsphilosophie, 3. Religionsphilosophie, 4. Ästhetik'; III. Die Philosophie der Geschichte oder die Erklärung des Verlaufs geschichtlicher Erscheinungen aus seinen Gründen unter Anwendung deduktiver Methoden; IV. Der praktische Beruf der Wissenschaft des Geistes. — Dem Ganzen ist ein Kapitel über Logik vorgeschaltet, den Schluß bildet die „Metaphysik und philosophische Theologie" als eigener Hauptabschnitt. Die einleitende programmatische Bemerkung zu diesem Plan zeigt, wie Dilthey seine Untersuchungen durchzuführen gedachte: „Verhältnis des Planes dieser Vorlesung zu den Aufgaben der gegenwärtigen Philosophie: 5 Die wichtigsten Nachweise zur Genese des Programms der Geisteswissenschaften bei Dilthey habe ich in meiner Dissertation zusammengetragen, vgl.: Die Pädagogik Wilhelm Diltheys. Diltheys Entwurf der Erziehungswissenschaft im Zusammenhang mit seiner Theorie der Geisteswissenschaften als den Wissenschaften der menschlich-gesellschaftlichen Welt. (Diss. phil. Köln 1968) Göttingen 1970. 6 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg VS?7—1897. Hrsg. von Sigrid von der Schulenburg. (Philosophie und Geisteswissenschaften. Hrsg. von Erich Rothacker, Buchreihe Bd. 1) Halle 1923; Brief Nr.68 (Januar 1890), S.90. — Die Ethik erschien als Bd. X von Diltheys „Gesammelten Schriften", hrsg. von Herman Nohl, Stuttgart/Göttingen 1958. 7 Als Vorlesungsmanuskript gedruckt Berlin 1865. Ein Exemplar mit handschriftlichen Bemerkungen Diltheys stellte freundlicherweise das Literatur-Archiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Verfügung. 8 Im ff. die Kapitelüberschriften, a.a.O., S. 10 ff. ' Ähnlich noch in Diltheys einziger Vorlesung über Geisteswissenschaften (im Sommersemester 1883 in Berlin): Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften (Rechtsund Staatswissenschaften, Theologie und Geschichte).

XIV

Einleitung

1. Kant stellte das fundamentale Problem der Philosophie fest: durch welche Mittel und in welchen Grenzen ist eine Erkenntnis der in innerer und äußerer Wahrnehmung erscheinenden Welt möglich? — Fortbildung seiner Analyse des Erkenntnisvermögens durch Untersuchung der Voraussetzungen und Methoden der positiven Wissenschaften." 10 Größere Ausarbeitungen folgen mit der Basler Vorlesung über Logik vom Wintersemester 1867/68 n und dann in den bisher unveröffentlichten Manuskripten, die sowohl die Abhandlung von 1875 „Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat" und die „Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883) vorbereiten12. Hier zeigt sich in voller Klarheit die Umorientierung in der Grundlegungsproblematik der Geisteswissenschaften, deren methodologischer Ansatz bis heute fruchtbar ist, der zugleich aber den tieferen Grund aufdeckt sowohl für Diltheys persönliches Scheitern am Umfang der selbstgesetzten Aufgabe als auch für die gegenwärtige Krise der Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft, der „moralisch-politischen Wissenschaften". Rothacker betont mit Recht: „Es gibt also zunächst nur einen Weg zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (und er scheint mir kein Umweg zu sein und im übrigen .logischen' Charakters im strengen Sinne), und dieser führt durch die maximale gegenständliche Versenkung der Wissenschaftslehre in die großen Gedankensysteme der Geschichtschreibung, der Philologien, der Jurisprudenz und der übrigen Wissenschaften von den Kultursystemen und Organisationen der Gesellschaft"13 Gerade diese „maximale gegenständliche Versenkung" verhindert jedoch, was Dilthey sich als abschließendes Ergebnis erhofft hatte: daß die Philosophie in zweifacher Hinsicht — gegründet auf die „Wissenschaften der Natur und des Geistes" — eine „allgemeine Weltansicht" begründe: „sie begreift die Hauptformen der menschlichen Weltansicht aus ihrem Grunde im Menschen, und sie begründet, mit dem Grade von Evidenz, welcher dieser höchsten Aufgabe aller Forschung möglich ist, eine abschließende Weltanschauung" u . Georg Misch hat in seinem Vorbericht zum V. Band der „Gesammelten Schriften" dargelegt, wie Dilthey dieses sein Programm formulierte, präzisierte, modifizierte — zunächst in Anknüpfung an die Aufklärung und an die Philosophie 10

A.a.O., S. 3. Im Dilthey-Nachlaß des Literaturarchivs der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Fasz. C 97. 12 Diese Manuskripte finden sich u.a. in Fasz. C 12 und C 34 des Berliner Nachlasses. Ein Transkript von der Hand Georg Mischs gehört zum Göttinger Dilthey-Nachlaß und wird derzeit von Frith jof Rodi bearbeitet. — Die Abhandlung von 1875 wurde im V. Band der „Ges. Sehr." wiederabgedruckt, die „Einleitung" (1883) ebd. Bd. I. 13 Rothacker, Einleitung, a.a.O., S. 274. — Über Kultursysteme und Systeme der äußeren Organisation der Gesellschaft vgl. Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883), Ges. Sehr. I, S. 42 ff., 64 ff. 14 Dilthey, Logik und System (1865), a.a.O., S. 3. 11

Einleitung

XV

Kants15, dann Methodenprobleme der „positiven Wissenschaften" aufarbeitend, historisch-systematisch den Zusammenhang analysierend, „in welchem allmählich die geschichtliche Welt sich über den Horizont des menschlichen Geistes erhebt" le , schließlich noch einmal den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" zu erfassen suchend17. Das Ergebnis — heute als Rede von der „Geschichtlichkeit" auch zum unreflektierten Sprachgebrauch des naiven wissenschaftlichen Bewußtseins gehörend — kennzeichnet die gegenwärtige Problematik der Geisteswissenschaften und die damit im direkten Zusammenhang stehende geistige und kulturell-zivilisatorische Krise der Gegenwart, deren radikale Explikation nicht zuletzt das Verdienst Diltheys ist. Ihm selbst stand das Resultat seines Denkens — man mag es positiv oder negativ formulieren — deutlich vor Augen; in seiner Rede an seine Schüler zu seinem siebzigsten Geburtstag schloß er mit den Worten: „Ich habe versucht, im Sinne dieser universalhistorischen Betrachtung [von Niebuhr, Hegel, Böckh, Grimm, Mommsen, Ranke, Ritter] die Geschichte literarischer und philosophischer Bewegungen zu schreiben. Ich unternahm, die Natur und die Bedingungen des geschichtlichen Bewußtseins zu untersuchen — eine Kritik der historischen Vernunft. Ich ward endlich durch diese Aufgabe zu der allgemeinsten fortgetrieben: Ein scheinbar unversöhnlicher Gegensatz entsteht, wenn das geschichtliche Bewußtsein in seine letzten Konsequenzen verfolgt wird. Die Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, sie sei eine Religion oder ein Ideal oder philosophisches System, sonach die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend. Und dagegen erhebt sich das Bedürfnis des Denkens und das Streben der Philosophie nach einer allgemeingültigen Erkenntnis. Die geschichtliche Weltanschauung ist die BefreLerin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht zerrissen haben — aber wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden? An der Auflösung der Probleme, welche an dieses sich in langer Reihe anschließen, habe ich mein Leben lang gearbeitet. Das Ziel sehe ich. Wenn ich auf dem Wege liegen bleibe — so hoffe ich, werden ihn meine jungen Weggenossen, meine Schüler zu Ende gehen." le Die Zeugnisse dieser lebenslangen Forschungen liegen größtenteils noch unausgewertet im Dilthey-Nachlaß19 und werden die Grundlage weiterer Editionen in 15 Diese Impulse wirken noch nadi in der Formulierung der Aufgabe der Geisteswissensdiaften in Diltheys Nachruf auf Wilhelm Scherer (1886), jetzt Ges. Sehr. XI, S. 236 ff., bes. S.237f. le Das Problem einer „Kritik der historischen Vernunft". 17 Titel der Akademieabhandlung von 1910, jetzt Ges. Sehr. VII. 18 Ges. Sehr. V, S. 7—9, hier S. 9. " Der Nachlaß wird aufbewahrt im Literatur-Archiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Für die Auskünfte dankt der Herausgeber dem damaligen Leiter der Arbeiten im Literatur-Archiv, Herrn Kustos Friedrich Laubisch, und der derzeitigen

XVI

Einleitung

den „Gesammelten Schriften" bilden. Diese vorliegende Ausgabe soll nach der Erarbeitung der „Bibliographie Wilhelm Dilthey" 20 den Neudruck der von Dilthey selbst publizierten Arbeiten abschließen und den Weg verdeutlichen, den Rothacker als notwendig für die Grundlegung der Geisteswissenschaften bestimmte: die Aufarbeitung der Forschungsergebnisse und der Methodenreflexion in den Einzeldisziplinen. Die hier in drei Bänden mitgeteilten Essays, Zeitungsartikel, Rezensionen und Literaturbriefe entstanden oft aus aktuellem Anlaß, die Auseinandersetzung mit den dargestellten Problemen zeigt häufig die Spuren erster Aneignung; manches in Westermanns Monatsheften dient — in der zum Druck gegebenen Fassung — weniger der kritischen Würdigung und weiterführenden Anregung als vielmehr der Vermittlung und Verbreitung von Forschungsergebnissen, gemäß dem Programm der Monatshefte, „dem Mangel eines größeren Centralorgans für die nach Volkstümlichkeit ringende Bildung unserer Zeit abzuhelfen, und mit ernstem Wollen die Richtung zu verfolgen, deren Streben darauf geht, die Wissenschaft lebendig zu machen und sie in's Leben zu tragen"21. Bildung durch Wissenschaft — das war die Devise des neunzehnten Jahrhunderts. Freilich waren die persönlichen Motive Diltheys anfänglich durchaus trivial. Im Herbst 1857 schied er aus dem Schuldienst aus — er war zuletzt Lehrer und Adjunkt am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin —, um sich seinen theologischen und philosophischen Studien zur Vorbereitung auf Promotion und Habilitation widmen zu können. Zwar bekam er 1860 den doppelten Preis der Schleiermacher-Gesellschaft für seine Preisschrift über Schleiermachers Hermeneutik22, jedoch mußte er seinen Lebensunterhalt bis zur Berufung nach Basel im Jahre 1867 vornehmlich durch eigene schriftstellerische Tätigkeit bestreiten23. Diese äußere Not und die Absicht, seine ausgedehnte Lektüre planmäßiger zu gestalten (verbunden mit der willkommenen Bereicherung seiner Bibliothek), bewogen ihn, für die Preußische Zeitung und die Allgemeine Preußische (Stern) Zeitung als deren Fortsetzung, für die Berliner Allgemeine Zeitung (die Julian Schmidt redigierte), die Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben (mitbegründet und -herausgegeben von seinem Lehrer und Freund C. /. Nitzsch) und für Westermanns Monatshefte Artikel und Leiterin des Zentralarchivs der Akademie, Frau Dr. Chr. Kirsten. — Eine Dilthey-Sammlung aus dem Nachlaß von Herman Nohl verwaltet die Handschriftenabteilung der ÜB Göttingen, vgl. Vorwort; für Mitteilungen und Überlassung von Kopien gilt der Dank Herrn Dr. K. Haenel. 20 S. o. Anm. 1. 21 Westermanns Monatshefte, l.Bd. Braunschweig 1857, Vorwort S.V. 22 Die Preisaufgabe des Jahres 1859 lautete: „Das eigentümliche Verdienst der Schleiermacherschen Hermeneutik ist durch Vergleichung mit älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft, namentlich von Ernesti und Keil, ins Licht EU setzen." Diltheys Arbeit erschien — von Martin Redeker aus dem Nachlaß hrsg. — in Ges. Sehr. XIV, 2, S. 597—787. 23 Die Beendigung seiner ständigen finanziellen Sorgen durch den Ruf nach Basel wird entsprechend freudig begrüßt, vgl. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852 bis 1870. Zusammengestellt von Clara Misch, geb. Dilthey. 2. Aufl. Stuttgart/ Göttingen I960, Brief Nr. 111 an seinen Bruder Karl, Weihnachten 1866, S. 227.

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größere Abhandlungen zu liefern. Nur schweren Herzens ertrug er die zeitliche Belastung und das Unbefriedigende dieser Art literarischer Produktivität24. Daher ließ er seine Arbeiten durchweg pseudonym oder anonym erscheinen, wenn es auch offenbar nach einiger Zeit in Berlin ein offenes Geheimnis war, daß Dilthey die anonymen Literarischen Notizen, Literarischen Mitteilungen und (teilweise pseudonymen) Literaturbriefe in den Monatsheften verfaßte. Friedrich Spielhagen, von 1878 bis 1884 Herausgeber der Monatshefte, schrieb an den Verleger Friedrich Westermann in Braunschweig, daß Diltheys Universitätskollegen in Berlin über die publizistische Tätigkeit die Köpfe schüttelten und „ironisches Lächeln oder offenen Tadel" äußerten25. Nur einige wenige Aufsätze — besonders in der Spätzeit — erschienen unter dem vollen Namen; das meiste ging auf diese Weise für die Dilthey-Forschung, die Geschichte der Geisteswissenschaften und die ihrer Methodologie im neunzehnten Jahrhundert verloren. Mögen auch Diltheys Kollegen die Köpfe geschüttelt haben — gleichwohl sind diese Arbeiten für die Kenntnis der Entstehung des Diltheyschen Werkes ein unschätzbarer Gewinn und vermitteln dem Dilthey-Forscher im Hinblick auf die Differenzierung und den Umfang der Vorarbeiten zur „Einleitung in die Geisteswissenschaften" und der systematischen Abhandlungen zur Philosophie, Pädagogik, Ethik, Poetik und Historik besonders für die Zeit bis 1900 einen tieferen Einblick als die gelegentlichen Mitteilungen in den Tagebüchern und Briefen, im Briefwechsel mit Yorck und die ohnehin spärlichen Literatur- und Quellenangaben in seinen im Druck erschienenen Werken. Die systematische Bedeutung der größeren Arbeiten aus dem Umkreis dieser Studien, Skizzen und Berichte wurde von Dilthey im Rückblick auf sein Lebenswerk so hoch bewertet, daß er die Ausgabe seiner Jugendarbeiten plante. Sie sollten unter dem Titel „Zeitgenossen, Einleitung, Geschichte der Geschichte", „Geschichte der Entstehung des geschichtlichen Erfahrens" oder „Betrachtungen und Erinnerungen über den Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins im neunzehnten Jahrhundert"28 die eine Seite seines Forschens beleuchten, die für ihn im Zusammenhang mit seinen „Studien zur Geschichte des deutschen Geistes" (etwa seit 1900) und dem „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" (1910) immer wichtiger wurde. Die Betonung dieses Aspektes — seine Affinität zur Historischen Schule — hat jedoch die andere Seite u Ebd. Brief Nr. 32 an die Eltern, 27. 11. 1858, S. 53; Brief Nr. 37 an den Bruder Karl, März 1859, S. 64; Brief Nr. 55 an die Schwester Marie, Juni 1860, S. 127; Brief Nr. 57 an den Vater, August 1860, S.131; Brief Nr. 59 an die Mutter, 15.10.1860, S.132; Brief Nr. 64 an den Bruder Karl, März 1861, S. 157 (dazu Anm.70, Brief an Luise Scholz, Frühjahr 1861, S. 310); Brief Nr. 70 an den Vater, März 1862, S. 172f.; Brief Nr. 73 an den Vater, Juli 1862, S. 176. " Diese Äußerung Spielhagens in seinem Brief vom 8. 4. 1879, aufbewahrt im Archiv des Georg-Westermann-Verlages Braunsdiweig, wurde mitgeteilt von Wolfgang Ehekircher, Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte. Ihre Geschichte und ihre Stellung in der Literatur der Zeit. Ein Beitrag zur Zeitschriftenkunde. (Diss. phil. München 1950) Braunschweig 1952, S. 29. *· Vgl. Erich Weniger in seinem Vorwort zu Ges. Sehr. XI, S. VIII—X und Diltheys Entwürfe zu einer Einleitung dieser Aufsätze ebd. S. XIV—XIX.

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nachhaltig in den Hintergrund gedrängt und für das Friihwerk zu einer einseitigen Interpretation geführt: die Auseinandersetzung vor allem mit der Philosophie (Logik der Natur- und Geisteswissenschaften), Ästhetik, Ethik, Psychologie, Pädagogik, Anthropologie, Poetik, Literaturgeschichte, Rechts- und Staatswissenschaften, Theologie, Kunstgeschichte und auch den Naturwissenschaften ist weitgehend aus dem Blick geraten. Die ganze Fülle der hier von Dilthey rezipierten Aspekte und hier konvergierenden Entwicklungen, die er dann in eigenen systematischen Arbeiten fruchtbar zu machen suchte, kommt erst mit dieser breiter angelegten Ausgabe seiner frühen Schriften zur Geltung, nachdem ein Teil des Diltheyschen Planes durch die Edition der Bände XI und XII der „Gesammelten Schriften" durch Erich Weniger realisiert worden ist27. Hier werden die Anregungen, Probleme und Quellen deutlich, die Dilthey bei seinem Programm der Vermittlung von Philosophie und Einzelwissenschaften, der Wissenschaftstheorie der Natur- und Geisteswissenschaften und der Begründung seiner Wissenschaftslehre der Geisteswissenschaften in dem oben bezeichneten Sinne vor Augen hatte.

Nachweis und Anordnung der Texte Zum Nachweis der Texte. — Die Dilthey-Forschung verdankt Erich Weniger eine detaillierte Bibliographie der Diltheyschen Veröffentlichungen von 1857 bis 1883. Diese Bibliographie konnte vervollständigt werden durch die Arbeiten des Herausgebers für die vorliegende Ausgabe und die „Bibliographie Wilhelm Dilthey" : durch Nachforschungen im Berliner Dilthey-Nachlaß, in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Göttingen (Dilthey-Sammlung aus dem Nachlaß Herman Nohls und Georg Mischs), die Auswertung der Korrespondenz mit dem Verlag Georg Westermann (Braunschweig, Werksarchiv) und schließlich durch die Sichtung von Zeitungen und Zeitschriften, in denen Veröffentlichungen Diltheys nachgewiesen sind oder vermutet werden konnten. Das Verzeichnis von Paul Ritter über die Bestände des Dilthey-Nadilasses in Berlin (vom März 1912) verweist unter Faszikel C 108 auf Korrespondenzen Diltheys mit Adolf Glaser, mit dem als Redakteur von Westermanns Monatsheften auch enger persönlicher Kontakt bestand, und auf Honorarabrechnungen des Westermann-Verlages für Beiträge Diltheys28. Obwohl die Honorarabrechnungen offenbar lückenhaft sind, ermöglichten sie auf Grund der quartalsweisen Umfangsbestimmung der gelieferten Beiträge nach Zeilen und Spalten bis auf wenige Ausnahmen eine genaue Bestimmung der anonymen Rezensionen Diltheys 27

Weniger hatte ursprünglich weiterreichende Pläne, vgl. Ges. Sehr. XI, S. V und S. VII. Seine Bibliographie in Ges. Sehr. XII, S. 208—213, zeigt jedoch, daß er die frühen publizistischen Arbeiten noch nicht ermittelt hatte. Ober die Nachweise dieser Aufsätze und Rezensionen vgl. die Vorberichte zu den Bänden XVI und XVII dieser Ausgabe und die „Bibliographie Wilhelm Dilthey" (s. o. Anm. 1). 28 Das von Paul Ritter angelegte Verzeichnis der Nachlaßabteilungen Α , Β und C befindet sich in einer Durchschrift auch in Göttingen; das Verzeichnis der im Berliner Nachlaß befindlichen Druckschriften (Abt. D) ist von der Hand Max Diltheys.

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für mehrere Jahrgänge. — Eine Gegenprüfung wurde möglich durch die Auswertung der Briefe Diltheys an die Redaktion der Monatshefte in Braunschweig, die Erich Weniger — ebenso wie die Honorarabrechnungen — unbekannt geblieben waren29. Diesen Briefen sind Bücherlisten beigegeben, die die Titel derjenigen Werke aufführen, die Dilthey zur Rezension anforderte. Vermerke zeigen, welche Bücher beschafft und an Dilthey weitergeleitet wurden, soweit sie nicht bereits als Rezensionsexemplare eingegangen waren; auch wurde vermerkt, wenn andere Rezensenten und Mitarbeiter um eine Anzeige gebeten worden waren (besonders in der Zeit Friedrich Spielhagens als Herausgeber). In den Fällen also, wo lediglich dieser Anforderungszettel einen Hinweis auf Diltheys Autorschaft gab, konnten die entsprechenden Beiträge in den Monatsheften dem Werk Diltheys nur mit Vorbehalt zugerechnet werden. — Schließlich fand sich im Werksarchiv des Westermanns-Verlages noch ein Honorarbuch (ab 1870), das Diltheys Beiträge von 1870 bis 1884 aufführt, so daß eine erneute Gegenprüfung möglich wurde30. Einziges neu festgestelltes Pseudonym war im Jahrgang 1870 „Georg Steven aus Kiel" (für den dort abgedruckten Aufsatz „Selbstbekenntnisse eines Phantasiemenschen"). Für die Bestimmung von Diltheys Anteil an Tageszeitungen war besonders hilfreich die Auswertung des Druckschriftenverzeichnisses des Nachlasses. Anfragen — unterstützt durch freundliche Hinweise der Abteilung Deutsche Presseforschung der Staatsbibliothek Bremen31 — führten zur Auffindung der Preußischen Zeitung und der Allgemeinen Preußischen (Stern) Zeitung (als deren Fortsetzung) in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel und der Berliner Allgemeinen Zeitung in der Universitätsbibliothek Greifswald. Der Nachweis der Artikel und Rezensionen wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht beide Bibliotheken in großzügigem Entgegenkommen die Zeitungen ausgeliehen hätten, so daß das Berliner Druckschriftenverzeichnis ergänzt und bisher Unbekanntes ermittelt werden konnte32. — Der Herausgeber konnte die Solesische Zeitung (Breslau), in der eine Rezension Diltheys im Jahre 1872 nachgewiesen ist, nicht einsehen. Die Jahrgänge für die Zeit der Tätigkeit Diltheys an der Breslauer Universität sind vollständig in der Universitätsbibliothek Warschau ermittelt worden. Eine Ausleihe war nicht mög!e

Die Briefe und Büdierlisten für Rezensionen werden im Werksarchiv des GeorgWestermann-Verlages in Braunschweig aufbewahrt. Dem Verlagshaus ist besonders zu danken für die kostenlose Überlassung von Kopien des gesamten Materials, Frau Elisabeth Eickhoff dankt der Hrsg. für freundliche Beratung und wiederholte Auskünfte. — Der Verlag verfügt weder über das Redaktionsarchiv nodi über ein Redaktionsexemplar der Monatshefte; beides verbrannte bei der Zerstörung des Redaktionsarchivs in Berlin im Zweiten Weltkrieg. *° Die „Bibliographie Wilhelm Dilthey" und die Quellennachweise in diesen Bänden der Gesammelten Schriften geben jeweils an, wie die einzelnen Beiträge gesichert sind. Die Artikel in der Allgemeinen Preußischen (Stern) Zeitung und einiges aus den Monatsheften fehlen noch in dieser Bibliographie. 51 Für Auskünfte aus dem unveröffentlichten Zeitungsstandortkatalog danke ich Frau Dom Nold und Herrn Dr. Elger Blühm. M Der besondere Dank gilt Herrn Erhart Kästner, früherer Bibliotheksdirektor in Wolfenbüttel, und Herrn Rodigast in Greifswald.

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lieh. Alle Jahrgänge zu verfilmen, was auch im Interesse westdeutscher Zeitungsarchive lag, überstieg die für die Dilthey-Ausgabe bereitgestellten Mittel33. Lediglich das aus den hier in Frage kommenden Jahrgängen in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin fragmentarisch Vorhandene — soweit nicht infolge Auslagerung im letzten Krieg verschollen — konnte durchgesehen werden. Es ergaben sich jedoch keinerlei Hinweise auf Dilthey-Beiträge, so daß auch von daher eine Verfilmung der Warschauer Bestände nicht geboten schien. — Basler Tageszeitungen wurden für diese Ausgabe und die „Bibliographie Wilhelm Dilthey" ebenfalls nicht herangezogen. Die Briefe der Basler Zeit berichten nichts von publizistischer Tätigkeit; Dilthey war stark belastet durch seine Vorlesungen, die Beendigung des zweiten Teiles des ersten Bandes seines „Leben Schleiermachers" und die Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, die dann zur „Einleitung in die Geisteswissenschaften" von 1883 führten. Ohne Ergebnis blieb die Durchsicht der Neuen Evangelischen Kircbenzeitung (Berlin)34. Auch in der Protestantischen Kirchenzeitung (Berlin) konnte über das von Weniger Ermittelte hinaus keine Veröffentlichung nachgewiesen werden, die von Dilthey stammen könnte oder ihm zuzuschreiben wäre. Das gleiche gilt für die Berliner Nationalzeitung, die für die Zeit von Diltheys erstem Berliner Aufenthalt bis in die 1890er Jahre durchgesehen wurde85. Eine Überprüfung von Kieler Tageszeitungen3' in der Kieler Landesbibliothek ergab keine Hinweise auf Veröffentlichungen Diltheys dort während des kurzen Aufenthaltes an der Kieler Universität. Das ohnehin schmale Feuilleton war ausgefüllt durch Berichte von Lokalereignissen, Erzählungen und besonders Berichten vom Kriege 1870/71. Abschließend kann noch einmal der Befund Wenigers bestätigt werden, daß Diltheys Anteil an den politischen Artikeln im Nachrichten- oder Kommentarteil der Tageszeitungen — besonders bei der Preußischen Zeitung, der Preußischen Allgemeinen (Stern) Zeitung und der Berliner Allgemeinen Zeitung — nicht ermittelt werden kann, da die Artikel durchweg anonym erschienen oder mit Si'glen versehen sind, deren Gebrauch durch Dilthey bisher nicht bezeugt ist. Da in keinem Fall ein Redaktions- oder Zeitungsverlagsarchiv festgestellt werden konnte — die Lage ist bei den Zeitschriften nicht anders —, war weder eine zusätzliche Überprüfung der bibliographischen Nachweise noch eine Ergänzung des Werkverzeichnisses möglich. Die Durchsicht der Zeitschriften brachte mit Ausnahme von Westermanns Monatsheften auf Grund der dafür gefundenen neuen Quellen keine Ergänzungen ss Für freundliche Auskünfte ist dem Vize-Direktor der ÜB Warsdiau, Herrn Mgr Adam Wroblewski, zu danken. — Das Buch von Carl Weigelt (150 Jahre Sdilesisdie Zeitung 1742—1892. Breslau 1892) behandelt lediglich den politischen Journalismus dieser Zeitung. 34 Vgl. Der junge Dilthey, Brief Nr. 32 an die Eltern, 27. 11. 1858, S. 53. 35 Für die Spätzeit waren hier Veröffentlidiungen zumindest geplant, vgl. die Quellennadiweise zu dem Aufsatz „Sdiulreform und Schulstuben" von 1890 in Ges. Sdir. VI, S. 306 f. 36 Es handelt sidi um die Kieler Zeitung und das Kieler Correspondenzblatt; für nützlidie Hinweise danke ich dem damaligen Leiter der Kieler Landesbibliothek, Herrn Dr. Olaf Klose.

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der bereits bei Weniger ausgewiesenen Veröffentlichungen. In der Deutschen Zeitschrifl für christliche Wissenschaß und christliches Leben und in den Preußischen

Jahrbüchern erschienen Beiträge oft anonym*7, in der Zeitschrift Im neuen Reich kann nur der Artikel über Klaus Groth im Jahrgang 1871 als gesichert gelten. Die dafür benutzte Sigle wird Im neuen Reich nur für diesen einen Artikel und dann nicht mehr benutzt38. Zur Anordnung der Texte. Die Bände der Gesammelten Schriften wurden bisher, soweit sie Aufsatzsammlungen darstellen, weder streng chronologisch noch streng thematisch gegliedert. Auch für die vorliegende Ausgabe mußte ein Kompromiß zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Textanordnung gefunden werden39. Der erste Band bringt vor allem Portraits und biographische Skizzen, verstreut in Westermanns Monatsheften und verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften, aus der gesamten Schaffensperiode Diltheys. Der folgende Band vereinigt vor allem Aufsätze und Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften von 1859 bis 1874 mit Abhandlungen und Rezensionen aus der Berliner Allgemeinen Zeitung, deren Nachweis unsicher ist, die aber in der Mehrzahl wohl von Dilthey stammen 40. Der Schlußband teilt die Literarischen Notizen und Mitteilungen sowie die Literaturbriefe und Berichte zur Kunst aus Westermanns Monatsheften mit. Der Umfang der publizistischen Tätigkeit Diltheys, die sich seit 1867 nach dem Weggang aus Berlin auf die Monatshefte konzentrierte, wird hier so geschlossen überschaubar. Zugleich stehen die Arbeiten damit in den beiden letzten Bänden dieser Neuausgabe in einer wenn auch nicht strengen chronologischen Anordnung. Wie in den bisherigen Bänden der Gesammelten Schriften werden auch hier die Texte unverändert wiederabgedruckt;.dies gilt auch für die von Dilthey wiedergegebenen Zitate. Lediglich Orthographie und Interpunktion wurden dem heutigen Gebrauch angeglichen. Mcfct aufgenommen wurden einige Arbeiten Diltheys, die sowohl den Rahmen dieser drei Bände gesprengt hätten als auch in andere sachliche Zusammenhänge gehören, die erneute Nachlaßforschungen notwendig machen. Es handelt sich um Diltheys einzigen literarischen Versuch, die Novelle „Lebenskämpfe und Lebensfriede'', die 1867 in Westermanns Monatsheften erschienen war. Es wurde auch a.uf die für Diltheys Erlebnisbegriff so wichtige Abhandlung „Über die Einbildungskraft der Dichter" — 1877 in der Zeitsarifl für Völkerpsychologie erschienen — verzichtet, da sie zusammen mit den Umarbeitungen in den verschiedenen Auflagen in der Sammlung „Das Erlebnis und die Dichtung", wo sie unter dem " Vgl. für die Preußisd>en Jahrbücher die Bemerkung von Erich Weniger in Ges. Sdir. XI,ω S.VI. Für die Oberprüfung aller Beiträge Im neuen Reich, die mit Y oder D (in versdiiedenen Drudttypen) gekennzeidinet sind, danke idi dem jetzigen Direktor der HerzogAugust-Bibliothek in Wolfenbüttel, Herrn Dr. Paul Raabe. 39

Eine dironologisdie Übersidn über sämtlidie Veröffentlidiungen Diltheys mit Einsdiluß der Arbeitspläne, Briefe u n d Vorlesungen gibt der erste Teil der „Bibliographie Wilhelm D i l t h e y · des Hrsg.s. 40 Vgl. besonders den Brief a n d e n Vater v o m Juli 1862, i n : D e r junge Dilthey, Brief N r . 73, S. 176.

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Titel „Goethe und die dichterische Phantasie" erschien, und abweichenden unveröffentlichten Nachlaßmanuskripten zur Poetik Gegenstand eigener editorischer Arbeiten mit einem synoptischen Abdruck der Textvarianten werden muß. — Alles von Dilthey Edierte wurde ebenso ausgeschieden — es gehört in pädagogische bzw. philosophische Zusammenhänge — wie seine Dissertation von 1864, deren zweiter Teil in deutscher Fassung von Redeker im zweiten Bande des „Leben Schleiermachers" (Ges. Sehr. XIV, 1) mitgeteilt wurde. Auch die selbständig erschienenen Grundrisse zur Philosophie (Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften, 1865; Biographisch-literarischer Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie, 1885 u. ö.) stehen im Zusammenhang mit zu erwartenden Editionen von Texten zur Philosophie (insbesonders Logik und Erkenntnistheorie) und zur Theorie der Geisteswissenschaften (vor allem der zweite Band der „Einleitung in die Geisteswissenschaften" mit den dazugehörigen Vorstudien), so daß ein erneuter Abdruck hier unzweckmäßig gewesen wäre. Zu diesem Band*1 I. Am 16. Januar 1889 hielt Dilthey seinen Vortrag über Archive der Literatur, der diesen Band einleitet. Der Text des Vortrages wurde in der Deutschen Rundschau11'2 abgedruckt, eine veränderte Fassung — mit besonderer Betonung der hier herausgearbeiteten Aspekte für die historisch-philosophische Forschung — erschien in dem von Dilthey mitherausgegebenen Archiv für Geschichte der Philosophie43. Der Vortrag eröffnete nach Diltheys Angabe die Zusammenkünfte einer „Gesellschaft für deutsche Literatur", die sich besonders als Förderergesellschaft für literarhistorische Forschungen verstand. In dieser Zeit erfolgten die Gründungen von Gesellschaften und Archiven, die Diltheys Anregungen zu verwirklichen suchten: 1889 das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, 1891 die Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin, 1903 das Schiller-Nationalmuseum in Marbach44. Diese Abhandlung eröffnet diesen Band, weil sie bis in die technischen Voraussetzungen hin einen Einblick gibt in die Schwierigkeiten, denen sich der Biograph 41 Für Diltheys Publizistik sei grundsätzlich verwiesen auf die Abhandlung von Bodo Sartorius von Waltershausen: Die Publizistik Wilhelm Diltheys, in: BU. f. dt. Philos. 12 (1938/39), S. 50—93. Der Verfasser beschäftigt sich vornehmlich mit den Bänden XI und XII der Ges. Sehr., bringt aber eine Fülle von Materialien und Verweisen, die auch für weitere Ausführungen des hier vorliegenden Abschnittes dieser Einleitung herangezogen werden müssen. — Zur Publizistik im 19. Jahrhundert allgemein vgl. Kurt Koszyk, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. (Abh. u. Materialien zur Publizistik, Bd. 6) Berlin 1966. — Literatur zu einzelnen Zeitungen und Zeitschriften weisen nach: Karl Bömer, Internationale Bibliographie des Zeitungswesens, Leipzig 1932; Fritz Franzmeyer (Bearb.), Presse-Dissertationen an deutschen Hochschulen 1885—1938. Hrsg. v. Walther Heide. Leipzig 1940. 42 58. Bd., Berlin 1889, S. 360—375. " 2.Bd., Berlin 1889, S. 343—367; wiederabgedruckt in Ges. Sehr. IV, S. 555—575. 44 Vgl. Paul Raabe, Quellenrepertorium zur neueren deutschen Literaturgeschichte. (Slg. Metzler, Realienbücher für Germanisten, Abt. B) 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 8 f., mit weiterer Literatur.

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in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gegenüber sah. Zwar schließt Dilthey sich in seinen biographischen Skizzen dieses Bandes teilweise an größere Werke an (dadurch können die Abhandlungen zum Teil auch als Rezensionen gelten), es handelt sich aber auch um Originalarbeiten, die die im Vortrag genannten äußeren Schwierigkeiten der Textbeschaffung und Nachlaßbenutzung zu bewältigen hatten45. Die Rezension des Hegel-Buches von Ku.no Fischer zeigt, wie fruchtbar und anregend auch in gelegentlichen Mitteilungen die eingehende Kenntnis der Handschriften ist. Vor allem aber die großen Arbeiten über Schleiermacher und Hegel zeigten Dilthey die Notwendigkeit zentraler Literaturarchive, die nicht zuletzt dann die in seinem Vortrag angeregten Arbeiten übernehmen sollten, die z.B. Dilthey selbst mit der Herausgabe von zwei Bänden der Briefe Schleiermachers (1861/63) und sein Schüler Herman Nohl mit der Edition der theologischen Jugendschriften Hegels (1907) leisteten. Auch als Vorsitzender der Kommission der Berliner Akademie der Wissenschaften für die Vorbereitung der Kant-Ausgabe der Akademie konnte Dilthey seine Intentionen vielfältig fördern; er hat auch immer wieder Briefe und Akten publiziert, um Beiträge zur Lösung strittiger Fragen zu liefern oder bei aktuellen Problemen den historischen Bezugsrahmen aufzuzeigen (Ein Brief A.W.Schlegels an Huber, 1861; Die Rostocker Kant-Handschriften, 1889/90; Ein Gutachten Wilhelm von Humboldts, 1899; Urkundliche Beiträge zu Herbarts praktischer pädagogischer Wirksamkeit, 1900; Drei Briefe Schleiermachers an Gaß, 1901). Um eine möglichst große Publizität seiner Anregungen zu erreichen, wählte Dilthey wohl als Publikationsort Rodenbergs ,Deutsche Rundschau', die unstreitig die deutsche Nationalrevue war, den ausländischen Vorbildern — Revue des deux mondes und Quarterly Review — durchaus ebenbürtig40. Julius Rodenberg hatte es sich als Herausgeber besonders angelegen sein lassen, wie Haacke im einzelnen nachweist, die hervorragendsten Vertreter der Wissenschaften und Künste, die in der Rundschau zu Wort kommen sollten, als Mitarbeiter zu gewinnen. In der Rundschau veröffentlichten u. a. G. Keller, C. F. Meyer, Storm und Fontane ihre Novellen zum erstenmal, neben Dilthey steuerten u. a. Herman Grimm und K.Hillebrand glänzende Essays bei, die bedeutendsten Germanisten der Zeit Zählten zu den Autoren: Burdach, Ermatinger, Heusler, Köster, R. M. Meyer, 4S

Vgl. Diltheys Bemerkungen nodi in seiner Aufsatzsammlung „Das Erlebnis und die Dichtung", 14. Aufl., Göttingen 1965, S. 318 ff. " Vgl. Fritz Sdilawe, Literarische Zeitsdiriften, Teil I: 1885—1910. (Slg. Metzler, Realienbücher für Germanisten, Abt. D) 2. Aufl., Stuttgart 1965, S. 9 ff., mit weiterer Literatur; Wilmont Haacke, Julius Rodenberg und die Deutsche Rundschau (Beiträge zur Publizistik, Bd. 2) Heidelberg 1950, bes. im Kap. 5, S. 154 f., über Diltheys geistesgeschichtlidie Aufsätze; Harry Pross, Literatur und Politik. Geschichte und Programm der politischliterarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet seit 1870. Olten/Freiburg i. Br. 1963, bes. S. 28 ff. „Die geglückte Nationalrevue", S. 149—152 das Programm der Rundschau; der dritte Herausgeber der Rundschau von 1919 bis 1961, Rudolf Pechel, gab einen Querschnitt durch die Rundschau in Form bedeutender Beiträge heraus: Deutsche Rundschau. Acht Jahrzehnte deutschen Geisteslebens. Hamburg 1961 (darin S. 261—272 Diltheys Abhandlung über Anna von Helmholtz).

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Seuffert, Stammler, Suphan, Walzel, Georg Brandes". Dilthey veröffentlichte in der Rundschau seinen Nachruf auf Wilhelm Scherer (1886), eines der wichtigsten Dokumente für die Probleme der Grundlegung der Geisteswissenschaften nach dem Erscheinen seiner „Einleitung" von 1883; seine große Rezension der Literaturgeschichte seines Freundes Julian Schmidt (1887); seine grundlegende Abhandlung über die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe (1892); die Abhandlung über Eduard Zellers Jugendjahre, die zugleich in Diltheys historische und theologisch-philosophische Studien über die Historische Schule einführen (1897); den Nachruf auf Anna von Helmholtz (1900), eines der Meisterwerke Diltheyscher Biographik, ein Paradigma der Verflechtung von äußerer und innerer Biographie, von Wissenschafts- und Geistesgeschichte wie sein späterer Nachruf auf Eduard Zeller; den Nachruf auf seinen Freund und Förderer Otto Ribbeck48, der in diesem Band erneut abgedruckt wird; schließlich in den Jahren 1900/1901 die drei großen Abhandlungen über die Berliner Akademie, die Aufklärung im Staate Friedrichs des Großen und — eines seiner zentralen Forschungsgebiete seit seinen ersten frühen Arbeiten über die deutschen Geschichtsschreiber, besonders Friedrich Christoph Schlosser —: Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt, ergänzt durch die Abhandlungen über die Anfänge der historischen Weltanschauung Niebuhrs (1911). In diesen letzten Jahren seiner Arbeit beschränkte Dilthey seine Publikationen fast ausschließlich auf die Sitzungsberichte und Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften und auf die Rundschau. II. Die Abhandlung über Schleiermacher aus dem Jahre 1859 war Diltheys erster größerer biographischer Versuch und zugleich sein erster Beitrag in ,Westermanns Monatsheften'. 1. Diltheys Essays in ,Westermanns Monatsheften'. Diltheys Beiträge in den Monatsheften gliedern sich in vier Abteilungen: die Portraits und biographischen Skizzen, die Literaturbriefe, die Literarischen Mitteilungen (zusammen mit einzelnen verstreuten Rezensionen) und die Rezensionen aus dem Bereich der darstellenden Kunst49. Die Monatshefte — ihr Programm wurde oben kurz ange47 Schlawe, a.a.O., S.U. Vgl. Julius Rodenberg, Die Begründung der „Deutschen Rundschau". Berlin 1899 (mit dem Programm der DR). — Eine Mitarbeiterliste findet sich bei: Walter Paetow, „Deutsche Rundschau" 1874—1899. Berlin 1899, S. 28—37. — Die im folgenden genannten Abhandlungen Diltheys finden sich fast alle in früheren Bänden der Ges. Schriften. 48 Otto Ribbeck war Dekan der Philos. Fakultät in Kiel, als Dilthey im Winter 1867/68 als Nachfolger von Friedrich Harms dorthin berufen wurde. Die Berufungsakten liegen im DZA Merseburg, Rep. 76 V a, Sekt. 9, Tit. IV, Nr. 1, Bd. 1. Vgl. den Abschnitt „Philosophie" von Peter Rohs in: Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665—1965, Bd. 5, Teil 1, Neumünster 1969, bes. S.68f. — Die Akten zeigen, daß Dilthey ursprünglich an dritter Stelle hinter Überweg und Lazarus stand; beachtenswert ist das Dilthey unterstützende Gutachten der Theologischen Fakultät in Kiel. 4 * Im einzelnen nachgewiesen in meiner „Bibliographie Wilhelm Dilthey", s. o. Anm. 1. Ober die Monatshefte vgl. die Dissertation von Ehekircher, s. o. Anm. 25.

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deutet50 — gehören mit der Deutschen Rundschau, den Grenzboten, den Preußischen Jahrbüchern (auf die unten einzugehen sein wird), der Gegenwart und der Deutschen Revue zu den großen Zeitschriften der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die bis weit in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts erschienen und die literarische Bildung in Deutschland maßgeblich mitbestimmten. „Sie repräsentieren das Bildungsinteresse des oberen Bürgertums und verbanden demgemäß in charakteristischer Weise und mit Maß politischen Liberalismus mit kulturellem Konservatismus." 51 Adolf Glaser — mit Dilthey aus der gemeinsamen Berliner Studienzeit befreundet62 — leitete die Monatshefte von 1856 (dem Gründungsjahr) bis 1878 und von 1884 bis 190753. Ihm gelang es in ähnlicher Weise wie Rodenberg, Mitarbeiter zu gewinnen, deren Beiträge rasch den Ruf der Monatshefte begründeten: u.a. Herman Grimm, Riehl, Scheffel, Hebbel, Jensen, Rosegger. Vor allem Wilhelm Raabe und Theodor Storm veröffentlichten in den Monatsheften zahlreiche Erzählungen. Auerbach, Brehm, Curtius, Dahn, Fontane, Kl.Groth, Hey se, Macaulay, Sc&äc&iwg, Spielhagen, Julian Schmidt traten hinzu. So konnte der Verleger 1874 sagen: die Monatshefte „sind für Deutschland genau dasselbe, was die Revues und Reviews für andere Nationen sind, und ihre Mitarbeiter, die nach Hunderten zählen, repräsentieren die deutsche Belletristik und populär-wissenschaftliche Literatur in so vorzüglicher Weise, wie eis in Deutschland überhaupt möglich ist."54 Dilthey s Arbeiten — pseudonym oder anonym erschienen — hatten an diesem Erfolg bedeutenden Anteil. Neben seinen Rezensionen sind es vor allem die biographischen Skizzen, die in den Monatsheften einen besonderen Akzent setzten. Sie bilden zugleich eine wichtige Vorarbeit für seine selbständigen historischen Untersuchungen und Forschungen zum Problem der Grundlegung der Geisteswissenschaften. 2. Dilthey s Biographikss. Das Problem der Individuation ist das Kernproblem der Geisteswissenschaften und ihrer Methodologie. Dilthey ist über historischbiographische Forschung dieser Frage nachgegangen, das erste — und aufs Ganze gesehen — bedeutendste Ergebnis seiner Historiographie und Biographik sind seine Arbeiten über Schleiermacher. m

S.o.S. XII. Sthlawe, a.a.O., S. 9. 112 Vgl. Der junge Dilthey, Brief Nr. 12, März 1854, S. 24. 51 83

Von 1878 bis 1884 waren Friedrich Spielhagen und Gustav Karpeles leitende Redakteure, vgl. die Einleitung zu Bd. XVI dieser Ausgabe. 84 Zitiert in: Hundert Jahre Georg Westermann Braunschweig. Braunsdiweig 1938, S. 96 (dort S. 95—104 über die Monatshefte). 55 Wenig ergiebig ist die Abhandlung von Joachim Müller, Dilthey und das Problem der historischen Biographie. In: Arch. f. Kulturgesch. 23 (1932), S. 89—108. — Nützliche Literaturhinweise finden sich bei Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Probleme. Bern 1948, S. 103 ff., 141 ff.

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Bereits in seiner Heidelberger Studienzeit hörte er eine Vorlesung über Schleiermachers Dogmatik (bei Schöberlein)se und studierte bei dem von Schleiermacher und Neander beeinflußten Ulimann. In Berlin umgab ihn in seinen akademischen Lehrern auf dem Gebiet der Theologie die Schleiermacher-Schule (besonders Twesten), er beschäftigte sich mit Rothe und Hengstenberg5"1. Neben seinen Arbeiten über die frühchristlichen Systeme, aus denen sein Artikel über Marcion und die Gnosis entstand, und die mittelalterliche Philosophie sah Dilthey sich so früh auf Schleiermacher verwiesen58. Die Arbeit an Schleiermachers Philosophie und Theologie ließ ihn bis zu seinem Lebensende nicht mehr los. Insofern ist dieses erste Ergebnis seiner Arbeiten von Interesse, wenn Dilthey auch von diesem Aufsatz — wie übrigens von allen seinen frühen populären Arbeiten — keine hohe Meinung hatte: ein „schlechtes Ding", „solcher Plunder"59. Gleichwohl stehen Diltheys biographische Arbeiten unter einem weiterreichenden Anspruch, den er in den Vorreden zum ersten Band seines Leben Schleiermachers (1867/1870) formulierte: „Es gilt also den Zusammenhang ihrer [sc. der früheren Generation] Lebensergebnisse mit unsren heutigen Aufgaben herzustellen, dem Bleibenden in ihnen eine erneute Wirkung in der Gegenwart zu schaffen. Die Kontinuität unsrer geistigen Entwicklung hängt davon ab, in welchem Maße uns das gelingt. Mit der eignen Arbeit an den wissenschaftlichen Aufgaben der Gegenwart muß sich zu diesem Endzweck geschichtliche Forschung verbinden. Im Umfang dieser umfassenden Aufgabe liegt auch dies Leben Schleiermachers und seine Absicht."60 „Denn in dem Verhältnis des Einzelnen zu der Gesamtheit, in welcher er sich entwickelt und auf die er zurückwirkt, liegt der Schwerpunkt der Biographie wie des Lebens selber; zumal aber die Biographie eines Denkers oder Künstlers hat die große geschichtliche Frage zu lösen, wie ganz zerstreute Elemente der Kultur, welche durch allgemeine Zustände, gesellschaftliche und sittliche Voraussetzungen, Einwirkungen von Vorgängern und Zeitgenossen gegeben sind, in der Werkstatt des einzelnen Geistes verarbeitet und zu einem originalen Ganzen gebildet werden, das wiederum schöpferisch in das Leben der Gemeinschaft eingreift." β1 59

Diltheys Heidelberger Studienzeugnis (im Göttinger Dilthey-Nachlaß) weist folgende theologisdie akademisdie Lehrer aus: Ulimann, Umbreit, Schenkel, Sdiöberlein und Hundeshagen. 57 Vgl. Der junge Dilthey, passim. — In Breslau wurde Dilthey dann Nadifolger von Braniß, der ebenfalls in der Schleiermacher-Nadifolge steht. Braniß war Lehrer des Grafen Yorck. — Die Unterlagen zu Diltheys Berufung nadi Breslau finden sidi im DZA Merseburg, Rep. 76 Va, Sekt. 4, Tit. 4. Dilthey stand auf der Berufungsliste an zweiter Stelle hinter Rudolf Haym. 58 Vgl. D e r junge D i l t h e y , Brief N r . 4 3 , 1 3 . 7. 1859, S. 77; Tagebuch 1859, S. 90ff.; Brief Nr. 47, März 1860, S. 103; Brief Nr. 51, 18. 3. I860, S. 110. 59 D e r junge D i l t h e y , Brief N r . 36, M ä r z 1859, S. 62. 80 V o r w o r t z u m ersten H a l b b a n d des ersten Bandes v o n Leben Schleiermachers, Berlin 1867, S.V. 61 Vorwort zur vollständigen Ausgabe des ersten Bandes von Leben Schleiermachers, Berlin 1870, S. I.

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Wie vollkommen Dilthey die Lösung dieser Aufgabe gelang, zeigt die Rezension des ersten Bandes des Leben Schleiermachers und Rudolf Haym62, dessen Buch über die Romantische Schule gleichzeitig erschienen war. Das Leben Schleiermachers begründete den Ruhm des jungen Gelehrten, es leuchtete nach den Worten seines Freundes Ernst von Wildenbruch „wie eine Aureole" über seinem Haupt 63 . Der Zusammenhang von Individuellem und Generellem begründet das logische Problem der Geisteswissenschaften. Die Erfassung des Individuellen auf der Grundlage seiner Anthropologie und Strukturpsychologie in der Form der Biographie bedeutender historischer Persönlichkeiten erschien Dilthey als „die am meisten philosophische Form der Historie" e4. In der Biographie wird die Realität der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt erfaßt, ihre Strukturanalyse in den Systemen der Kultur und der äußeren Organisation der Gesellschaft hat in der Darstellung des Individuums als dem „Kreuzungspunkt" und bewegenden Zentrum dieser Systeme ihren Erfahrungshintergrund. In der Rezension der Raphael-Biographie seines Freundes Herman Grimm** schreibt Dilthey: „Wo der Biographie so möglich wird, die Erforschung der Wechselwirkung eines großen Individuums mit seinen Vorgängern und Zeitgenossen als Problem zu stellen: da ist sie an Bedeutung jeder anderen größten historischen Aufgabe gleich; da arbeitet sie durch die Einzeldarstellung jedesmal an der fortschreitenden Lösung einer der ersten und allgemeinsten Fragen der Geschichte: der Stellung der produktiven Individuen zu dem Volksgeiste, welchem sie angehören, der Zeit, in der sie emporkommen, der voraufgegangenen Reihenfolge von Geschlechtern und Leistungen, welche die Grundlage ihrer Arbeit bilden." ββ Wenn es Dilthey um eine Grundlegung der „moralisch-politischen Wissenschaften", der „Wissenschaften vom handelnden Menschen", ging, die Absicht seiner Forschungen in diesem Sinne eine „Kritik der historischen Vernunft" war, so mußte das Zentrum der zu leistenden Forschungen auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, der Pädagogik, der Soziologie, Jurisprudenz, der Theologie usw. liegen. Das Handeln des Menschen im anthropologisch-soziologischen Kontext und das dieses Handeln begleitende • l In: Preußische Jahrbücher 26 (1870), S. 556—604; wiederabgedruckt in: den., Gesammelte Aufsätze. Berlin 1903, S. 355—407. Haym schrieb am 22.4.1870 an seinen Freund Wilhelm Sarader: „Idi muß Dir also klagen, daß idi einen großen Schmerz darüber gehabt habe, daß Dilthey mir nun doch mit seinem ersten Bande Sdileiermacher zuvorgekommen ist. Er hat zum Teil dasselbe Material gehabt und aus diesem Material vielfach gerade dasselbe mitgeteilt wie idi. Es ist fast, wie wenn wir Zwei über dasselbe Thema geschrieben hätten, und ich kann mir nicht verhehlen, daß bei ihm vieles reichlicher und besser ist als bei mir." In: Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms. Hrsg. v. Hans Rosenberg. (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 27) Berlin/Leipzig 1930, Brief Nr. 225, S. 275. M Ernst von V/ildenbruch, Wilhelm Dilthey. [Rede zu Diltheys 70. Geburtstag.] In: Ders., Gesammelte Werke, 16. Bd., Berlin 1924, S. 421. M Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), Ges. Sehr. V, S. 225. a In: SöbZeM'jcfce Zeitung, Nr. 302 vom 2. 7.1872, S. 1 ff. M Eine ähnliche Stelle findet sich in Leben Schleiermachers, 2.Bd., l.Halbbd. (nach 1870), Ges. Sehr. XIV, 1, S. 26.

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Selbst- und Weltverständnis wird auf der Grundlage biographischer Forschung analysiert, da hier der unmittelbare Zusammenhang von individuellen Motiven und Antrieben, Idealen und Lebensplänen und gesamtgesellschaftlicher Entwicklung gegeben ist. Damit stehen einerseits Psychologie und Anthropologie bei der Grundlegung der Geisteswissenschaften im Frühwerk, besonders in der „Einleitung" von 1883, im Vordergrund, und die „Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft entspricht der Stellung der Anthropologie innerhalb der theoretischen Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortschritt der Anthropologie und die wachsende Erkenntnis ihrer grundlegenden Stellung auch die Einsicht vermitteln, daß die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in seinem geschichtlichen Milieu, ein Höchstes von Geschichtschreibung ist, gleichwertig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geschichtlichen Darstellung, die aus breiterem Stoff gestaltet."67 Andererseits steht damit die Biographie auch zentral am Anfang der hermeneutischen Problematik der Grundlegung der Geisteswissenschaften im Spätwerk, besonders im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" und den vorbereitenden Studien dazu, sofern die Erfassung der geistigen Welt im Verhältnis von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen ihre größte Realität und Gewißheit in der Darstellung der Wirkungszusammenhänge von Ich und Welt in der Autobiographie und Biographie gewinnt: „Leben erfaßt hier Leben", wie Dilthey gelegentlich sagte. „Wie könnte man nun leugnen, daß die Biographie für das Verständnis des großen Zusammenhanges der geschichtlichen Welt von einer eminenten Bedeutung sei! Ist es doch eben das Verhältnis zwischen den Tiefen der menschlichen Natur und dem universalen Zusammenhang des ausgebreiteten historischen Lebens, das an jedem Punkt der Geschichte wirksam ist. Hier ist der ursprünglichste Zusammenhang zwischen dem Leben selbst und der Geschichte*e8 Zugleich wird deutlich — und darin liegt der Fortschritt in der Erfassung der geistigen Welt im Spätwerk —, daß das Individuum nur partiell der geistigen Welt angehört, nur „Kreuzungspunkt" von Systemen ist, die allein aus dem Lebenszusammenhang des Individuums und seiner Verwirklichung und Darstellung nicht zureichend verstanden werden können. Auch hier stellt sich der Zusammenhang mit Diltheys frühen Arbeiten unmittelbar her. In den Tagebüchern heißt es im Jahre 1861 β β : „Aber zwischen diesen Gruppen der menschlichen Wesen [die durch ,vielfache Bande der Wechselwirkung' verbunden sind] wirkt erregend, sie gegenseitig aufklärend und mit bedeutendem Inhalt versehend, die bewegte Atmosphäre geschichtlichen Seins. Zwischen den kräftigen Gestalten und Gruppen, wie sie, mit Antrieben und Strebungen, ihrer inneren Natur und ihren Verhältnissen entsprungen, die Erde füllen, walten die regsamen Kräfte aller Geister, die je wahrhaft gelebt haben. Wunderbar, wie sie, wehrlos gegen den Anprall des Lebens, doch das gegenwärtige Leben beherrschen, bildsam und doch mit unsäg·' Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), Ges. Sehr. I, S. 33. 48 Aufbau der Geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Plan der Fortsetzung (1910/11), Ges. Sehr. VII, S. 247. e » Der junge Dilthey, S. 143.

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licher Zähigkeit überraschen Versuchen widerstreben." Das bedeutet, daß in der Erkenntnis universalhistorischer Zusammenhänge der geistigen Welt die „festen Beziehungen in der Selbstbiographie schwinden"70, und daß „neue Kategorien, Gestalten und Formen des Lebens, an die wir uns wenden müssen und die am Einzelleben selbst nicht aufgehen"71, gefunden werden müssen. Aber auch diese Forschungen bleiben zurückgebunden an individualpsychologische, anthropologische und biographische Untersuchungen, ohne die die Vermittlung der geistigen Welt mit der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gelingen könnte. Diese Vermittlung — in der Weise der biographischen Historiographie und der „Studien zur Geschichte des deutschen Geistes", die die Arbeiten am „Aufbau" begleiten — zwischen dem Individualleben und der geistigen Welt im universalgeschichtlichen Sinne, leistete Dilthey in seinen biographischen Studien, die das Korrelat zu seinen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Erörterungen bilden. Dies begründet die Bedeutung der hier wiederabgedruckten Portraits und biographischen Skizzen für das Verständnis der theoretischen Arbeiten zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. III. Dilthey nahm in den Jahren seines ersten Berliner Aufenthaltes regen Anteil am politischen Geschehen der liberalen Strömungen in der Neuen Ära Preußens72. Er gehörte zum linken Flügel der Liberalen und lebte in regem persönlichem Umgang und Gedankenaustausch mit den politischen Führern und Publizisten der Fortschrittlichen und (National-)Liberalen: Haym, J. Schmidt, Wehrenpfennig, H. Baumgarten, F. Duncker, Hausser, Bennigsen, Treitschke, Droysen u.a. 73 . Rudolf Haym gehörte bereits zum Paulskirchen-Parlament von 1848 und war 1866/67 als Mitglied des preußischen Landtags einer der Mitbegründer der nationalliberalen Partei. 1858 gründete er die Preußischen Jahrbücher, die er bis 1864 als Herausgeber betreute74. Sein Nachfolger wurde Wilhelm Wehrenpfennig, der die Jahrbücher, zusammen mit Heinrich von Treitschke seit 186775, bis 1883 leitete. Wehrenpfennig war 1859 bis 1862 Leiter des Literarischen Büros im preußischen Staatsministerium gewesen, gehörte zu den führenden Mitgliedern der nationalliberalen Rechten und war seit 1879 im preußischen Unterrichts70

Aufbau, Plan der Forts. (1910/11), Ges. Sehr. VII, S. 252. Ebd. S. 251. Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische BriefSammlung. l.Bd.: Die Sturmjahre der preußischen Einigung 1859—1870. Hrsg. v. Julius Heyderhoff. Bonn/ Leipzig 1925 (darin ein Brief Diltheys an Hermann Baumgarten S. 89 f.). Vgl. auch von Heyderhoff, Rudolf Haym und Karl Twesten. Ein Briefwechsel über positive Philosophie und Fortschrittspolitik 1859—1863. In: Preuß. Jbb. 161 (1915), S.232—256. — Zur Historiographie: Hundert Jahre Historische Zeitschrift 1859—1959. Hrsg. v. Theodor Schieder. ( = HZ Bd. 189) München 1959, bes. die Abh. von Schieder, S. 1 ff. 7S Vgl. Der junge Dilthey, passim. 74 Vgl. Diltheys Briefe an Rudolf Haym 1861—1873. Mitgeteilt von Erich Weniger. (Abh. d. preuß. Akademie d. Wissenschaften, 9. Jg., Berlin 1936, phil.-hist. Kl., Nr. 9.) Weitere Angaben s. u. Anm. 90 ff. 75 Vgl. Ernst Leipprand, Heinrich von Treitschke im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1935. 71 72

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ministerium tätig. Julian Schmidt hatte von 1848 bis 1860 zusammen mit Gustav Freytag die Grenzboten, ebenfalls ein liberales Organ des höheren Bürgertums, redigiert; für die letzten Jahrgänge war er leitender Redakteur der Berliner Allgemeinen Zeitung, eines der kurzlebigen Blätter des Liberalismus während der Neuen Ära Preußens7'. Ludwig Hausser, neben Schlosser und Gervinus Historiker in Heidelberg, gehörte zum Ausschuß des 1859 gegründeten £>e»fsc&en Nationalvereins (einer Honoratiorenvereinigung zur Förderung der nationalstaatlichen Einheit des Reiches), dessen Vorsitzender, Rudolf von Bennigsen (1842—1902), später zeitweise auch Führer der Nationalliberalen im Reichstag war77. Dilthey erwähnt die Teilnahme an einem Festessen des Ausschusses des Nationalvereins am 11. 3. 1860 in seinem Brief an den Vater vom 12. 3. I86078. In diesen Kreisen traf Dilthey auch Franz Duncker — den Bruder des Historikers Max Duncker —, den Mitbegründer des Nationalvereins und der Fortschrittspartei, Max Weber, Vater des Heidelberger Soziologen, damals Redakteur des Preußischen Wochenblatts. Dilthey empfing von hier seine Impulse zur Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung Sybels, Giesebrechts, Droysens, Häussers, Macaulays, Buckles u.a.m., die er in den /VeK/fcc&erc Jahrbüchern, der Preußischen Zeitung, der Nationalzeitung, der Berliner Allgemeinen Zeitung und in Westermanns Monatsheften veröffentlichte. Seine Erinnerungen an deutsche Geschichtsschreiber in der geplanten Sammlung „Zeitgenossen" 79 skizzieren die Wendung der deutschen und preußischen Politik und die damit verbundene Neuorientierung der politischen Geschichtsschreibung. Der geistesgeschichtliche Zusammenhang mit der ersten nationalen politischen Bewegung in Deutschland und der damit verbundenen Geschichtsschreibung der Historischen Schule sollte in einer Folge von Aufsätzen für die Preußischen Jahrbücher hergestellt werden; die Abhandlungen erschienen dann unter dem Titel „Deutsche Geschichtsschreiber" in Westermanns Monatsheften. Der Aufsatz über Schlosser, der in der Nationalzeitung und in den Preußischen Jahrbüchern erschien, ist für Diltheys Staats- und Geschichtsauffassung in dieser Phase seiner politischen Publizistik besonders aufschlußreich80. Er charakterisiert zugleich die Zeitschrift, in der er erschien. IV. Im Gegensatz zu Westermanns Monatsheften, die sich als bewußt unpolitisches Blatt fast ausschließlich den kulturellen Interessen des Bürgertums zuwandten, wurden die Preußischen Jahrbücher als politisches Organ der Liberalen und Liberal-Nationalen konzipiert und standen damit der Historischen Zeitschrift nahe, die 1858/59 unter der Leitung Heinrich von Sybels ins Leben trat. Die ersten entscheidenden Herausgeber und Publizisten waren Haym, Wehrenpfennig und 71

Dazu in der Einleitung zum nächsten Band dieser Ausgabe, der die Zeitungsartikel bringen wird. Über Julian Schmidt vgl. Diltheys Rezension von Schmidts Literaturgeschichte in der Deutschen Rundschau 52 (1887), jetzt Ges. Sehr. XI, S. 232 ff. 77 Vgl. Karl Twestens Gründungsentwurf der nationalliberalen Partei bei a.a.O., S. 500 ff. 78 D e r junge Dilthey, S. 108—110. 79 80

V o n Erich Weniger aus d e m N a c h l a ß h r s g . in G e s . Sehr. X I , S. 215 ff. V g l . Westphal, a . a . O . , S. 236 ff., 2 4 8 ff., 278 ff.

Heyderhojf,

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Treitschke, die die Jahrbücher zu einem festen Bestandteil der politischen Publizistik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts machten. Dazu trugen auch diejenigen Mitarbeiter bei, die als Historiker ohnehin der historisch-politischen Publizistik nahestanden wie zum Beispiel Max Duncker, Theodor von Bernhardt, Bernhard Erdmannsdörffer (ein Studienfreund Diltheys), Hermann Baumgarten, Ludwig Hausser in Heidelberg und Georg Waitz in Göttingen. Bedeutende Vertreter ihrer Disziplinen unter den Autoren der Jahrbücher waren A. Springer und L. Friedländer, D. F. Strauß, Eduard Zeller und Christoph Sigwart, Robert von Mohl und Gustav von Schmoller (der bedeutendste Vertreter der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie81)82. Das erste Heft der Jahrbücher erschien im Januar 1858. In Hayms Aufruf zur Begründung der Jahrbücher vom l.Mai 1857 hieß es83: „Die konstitutionelle und nationale Partei in Preußen entbehrt augenblicklich eines Organs für den Ausdruck ihrer Gesinnung, ihrer Ansichten und Bestrebungen . . . Es wird die Aufgabe dieser Monatsschrift sein, die Gegenwart des deutschen Lebens, die Entwicklung desselben aus den Bedingungen unserer Vergangenheit, im Hinblick auf die Ziele der Zukunft teilnehmend und bewußt zu begleiten." So wird sowohl die politische Einstellung der Zeitschrift deutlich als auch ihre Absicht, aus dem historischen Bewußtsein der „Bedingungen unserer Vergangenheit" heraus tätig in das politische Leben der Gegenwart einzugreifen. Hier zeigt sich die enge Verknüpfung von Geschichte und Politik, die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die für die Historiographie dieser Zeit in ihren hervorragenden Vertretern kennzeichnend ist84. Dieser Impuls zur politischen Praxis — ähnlich wie der Impuls zur „Bildung durch Wissenschaft" im Programm der Monatshefte — hat aber auch hier Wissenschaft zur Voraussetzung und bildet in Diltheys Entwurf einer Grundlegung der „moralisch-politischen Wissenschaften", den „Wissenschaften vom handelnden Menschen", im historisch-systematischen Verfahren seiner wissenschafts- und geistesgeschichtlichen Studien eine entscheidende Komponente. Wie sehr Dilthey damit auch Tendenzen seiner Freunde und Zeitgenossen aufgreift, zeigt ein Rundschreiben Hayms von Oktober 1857 an die Mitarbeiter der Jahrbücher: Ein Organ wie die Jahrbücher „muß sich auf den Boden der Wissenschaft stellen, jener lebendigen Wissenschaft, welche gleich weit von totaler Gelehrsamkeit wie von übersichtiger Spekulation entfernt ist. Die deutsche Wissenschaft hat gegenwärtig das unverkennbare Bestreben, sich dem Gesamtleben der Nation näher zu befreunden und den Bedürfnissen desselben entgegenzukommen. Sie fühlt, daß dort die Wurzeln ihrer Kraft liegen und daß sie dorthin befruchtend zurück81

Vgl. Ges. Sehr. XI, S. 254—258. Vgl. Westphal, a.a.O., S. 52—96: Die Mitarbeiter. M Bei Westphal, a.a.O., S. 307—309. 84 Vgl. dazu die paradigmatisdie Untersuchung über Droysen von Jörn Riisen, Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens. (Diss. phil. Köln 1966) Paderborn 1969; für den Zusammenhang von „Zeitgeschehen und Geschichtschreibung" im 19. Jahrhundert vgl. die Abh. dieses Titels von Fritz Ernst, in: Welt als Geschichte 17 (1957), S. 137—189. 88

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wirken muß. Ihre vorwiegend geschichtliche Haltung, ihr Sinn für das Tatsächliche und Wirkliche, ihr Bemühen um allgemeine Verständlichkeit macht sie zur natürlichen Bundesgenossin derjenigen, welche eine vernünftige und sittliche Entwicklung unserer praktischen Verhältnisse anstreben. Ihr Pathos ist nicht verschieden von dem praktischen und nationalen Pathos. Ihre Interessen lebendig und ununterbrochen mit der Bewegung der Zeit zu verknüpfen, ist eine Aufgabe, die um so ausführbarer erscheint, je mehr die politischen Parteien ihren Streit unter sich beizulegen und zu dem einen Ziel des Fortschritts und der nationalen Wohlfahrt zusammen zu wirken angefangen haben. Der Lösung dieser Aufgabe soll die neue Zeitschrift gewidmet sein. Sie will dem Leben dienen, indem sie der lebendigen Wissenschaft dient." 85 In diesem Zusammenhang müssen auch Diltheys Beiträge zu den Preußischen Jahrbüchern verstanden werden, in denen sich — besonders im Schlosser und in der Abhandlung über Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit (1862) — in Diltheys Geschichtschreibung seine Orientierung im Sinne dieses von Haym skizzierten Programms der Jahrbücher ausdrückt, die man noch bis zur Jahrhundertwende in Diltheys pädagogischen Schriften weiterverfolgen kann86. Dilthey begrüßte das Erscheinen der Jahrbücher lebhaft, in ihnen findet für ihn „dieser Zusammenhang der Politik [der Liberalen] mit den allgemeinen geistigen Bewegungen und mit den der Politik benachbarten Wissenschaften, der Staatswissenschaft und Geschichte, seinen Ausdruck"87. Für ihn sind die Jahrbücher damals „denn doch die vornehmste deutsche Zeitschrift"88, an deren Entwicklung er lebhaften Anteil nahm. Es bestand sogar die Absicht, ihn zum Mitredakteur zu machen8e. Dazu kam es auf Grund der Belastungen durch seine zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten jedoch nicht, aber er blieb mit dem Herausgeber Haym weiterhin in einem freundschaftlichen Verhältnis. Rudolf Haym war in diesem Berliner Kreise der Liberalen einer der großen alten Männer des deutschen Liberalismus90. Dilthey erinnert sich um 1900 noch lebhaft an seine frühen Begegnungen mit Haym und die Zusammenarbeit für die 85

Westphal, a.a.O., S. 310 f. Vgl. dazu auch Hermann Lübbering, Politik und Pädagogik bei Wilhelm Dilthey. Diss. phil. (masch.schr.) Frankfurt 1953. 87 Ges. Sdir. X I I , S. 123 aus Diltheys Anzeige der Jahrbücher in der Allg. Preußischen (Stern) Zeitung 1861; vgl. auch die „Bibliographie Wilhelm Dilthey" für 1861/62 mit den vollständigen Nachweisen. 88 D e r junge Dilthey, Brief N r . 68, 23. 11.1861, S. 166. 88 Ebd., Brief N r . 74, November 1862, S. 179: „Bei einem neulichen Circular v o n Häußer-Sybel — worüber völlig Sdiweigen natürlidi bitte — über die Preußischen J a h r büdier, das H a y m , Wehrenpfennig u n d ich bekamen — ich q u a möglicher künftiger Mitredakteur, falls ich nämlich Zeit habe." Dilthey trat dann in die Redaktion der Jahrbücher nicht ein, d a er sich ein Augenleiden zugezogen hatte, seine Arbeiten z u r Philosophie des 10. u n d 11. Jahrhunderts nicht fortsetzen konnte u n d daher einen neuen Ansatz seiner Arbeiten bewältigen mußte (vgl: Brief a n Haym vom Frühjahr 1863, mitgeteilt bei Erich Weniger [Abhh. d. preuß. Ak. d. Wiss., Jg. 1936, Nr. 9, Brief Nr. 11, S.27f.]). M Vgl. Hans Rosenberg, Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus. (Beiheft 31 der Histor. Zeitschrift) München/Berlin 1933. 88

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Jahrbücher91: Man traf sich im Kreise mit Max Duncker, Droyscn, Hausser und Treitschke zum politischen Gespräch, oder „wir fanden uns in dem stillen Arbeitszimmer von Julian Schmidt, die Wände gefüllt mit zierlichen Dichterbänden, durch die großen runden Brillengläser blickten in dem mächtigen Haupt treuherzige schalkhafte Augen: der lieber zuhörte als sprach, und wenn er sprach, so knapp und so kurz. Oder ich sehe Sie [Haym] in meinem Studierzimmer, wo Sie Ihres Amtes als Redakteur der Jahrbücher walten, besonders gedenke ich eines harten Vormittags, wo Sie mein übermäßig angeschwollenes Manuskript über Schlosser mir zusammenstrichen, um es dem Raum der Jahrbücher anzupassen. Schere und Bleistift des Redakteurs der Jahrbücher waren in ganz Deutschland gefürchtet." "'Sein Briefwechsel mit Haym aus den Jahren 1861 bis 1S7303 zeigt die Nähe der gemeinsamen politischen Überzeugungen, aber auch das Trennende, worauf schon Erich Weniger in seiner Einleitung zum Briefwechsel hingewiesen hat94. Der Kontakt zu Haym ließ sich nicht intensivieren, da Dilthey nicht in die Redaktion der Jahrbücher eintreten konnte und — nachdem Haym 1866 Reichtagsabgeordneter geworden war — 1867 von Berlin nach Basel überwechselte. Persönliche Verstimmungen waren sicherlich nicht eingetreten95, aber Diltheys Annäherung an die politische Linie Bismarcks in der Breslauer Zeit wird eine Entfremdung von Haym befördert haben; Diltheys Interesse an politischen Tagesfragen ließ schließlich mehr und mehr nach. Höhepunkt der Freundschaft zwischen Dilthey und Haym war eine gemeinsame Reise in die Schweiz und nach Oberitalien im August 1863 gewesen. Dilthey mußte diese Reise unternehmen, um sein Augenleiden auszuheilen und um sich zu erholen. Haym berichtet in seiner Autobiographie „Aus meinem Leben" von dem Eindruck, den Dilthey damals auf ihn machte: „Sowohl über die politischen Dinge, wie über literarische und philosophische Fragen hatte der geistreiche Freund immer seinen eigenen Gesichtswinkel, von dem sie sich neu und anders darstellten, als ich sie bisher gesehen; Dinge und Menschen nahmen bei ihm, so schien es mir, die Farbe eines reizbaren Gefühls oder einer Stimmung an und verzogen sich dadurch gelegentlich ins Paradoxe, wogegen ich dann die einfachere Ansicht des nüchternen Verstandes zu vertreten und midi mit skeptischen Gegenbetrachtungen zu wehren hatte."" In dieser Charakterisierung werden die Konturen des späteren Schleiermacher-Biographen und des sensiblen Psychologen, Literaturinterpreten, Geistesgeschichtlers deutlich — kaum eines Mannes der Tagespolitik und des ParteiEngagements. Und doch ist der Hinweis auf Diltheys enge Beziehungen zu Rudolf Haym und zu den Politikern der Neuen Ära mehr als eine Marginalie in der Biographie des jungen Dilthey. Leonhard von Renthe-Fink hat darauf hingewiesen, daß das sich bei Dilthey und Yorck entfaltende Geschichtsbewußtsein „gemeinsame Anschau91 Vgl. das von Weniger mitgeteilte Nachlaß-Manuskript über Rudolf Haym in Ges. Sehr. XI, S. 224—226. M 04 *- Ebd., S. 225. S. o. Anm.75. A.a.O., S. 5 f. 05 Vgl. Diltheys Briefe an Haym 1867 und 1873, bei Weniger a.a.O., S. 32 ff. *· Rudolf Haym, Aus meinem Leben. Berlin 1902, S. 283 f.

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ung" einer ganzen Generation ist97. Demgemäß muß gerade für Diltheys Forschungen zur Geschichte der Geisteswissenschaften im neunzehnten Jahrhundert, seine Auseinandersetzungen mit der Romantik, mit Hegel und der Historischen Schule, schließlich für den historisch-politischen Ansatz seiner Theorie der Geisteswissenschaften und die Bemühungen um eine historisch wirksame, auf Gestaltung der Zukunft drängende Vermittlung von Theorie und Praxis in den Geisteswissenschaften als den Wissenschaften der menschlich-gesellschaftlich-geschichtlichen Welt — also den im weiteren Sinne ,Handlungs'- und Sozialwissenschaften — der Zusammenhang mit den wissenschaftlichen und politischen Einflüssen und Impulsen in Diltheys frühen Berliner Jahren, der Zeit der Formulierung seiner Konzeption einer „Kritik der historischen Vernunft", präsent gehalten werden. V. In der Nationalzeitung veröffentlichte Dilthey nur einige wenige Aufsätze, darunter seinen Scfc/osser-Aufsatz von 1861/62. Die. Nationalzeitung war ursprünglich ein liberal-radikales Blatt, dann in der Neuen Ära liberal-konservativ und mit der Fortschrittspartei durch Franz Duncker als Verwaltungsratsmitglied der Nationalzeitung verbunden98. Politischen Rückhalt fand die Zeitung in der Neuen Ära bei der am 9. Juni 1861 gegründeten Fortschrittspartei, die der Zeitung ihr liberales Gepräge gab. Diese Partei war von Friedrich Zabel mitbegründet worden; er war zugleich von der Gründung der Nationalzeitung im Jahre 1848 bis zu seinem Tode 1875 erster Chefredakteur des Blattes. Zabel, geboren 1802, hatte Geschichte und Philosophie studiert und gehörte als Theologiestudent in Berlin zu den Hörern Schleiermachers**. Sein Nachfolger (bis 1890) als Chefredakteur war der nationalliberale Führer der hessischen Fortschrittspartei und Reichstagsabgeordnete Friedrich Dernburgi0°. Einer der späteren Redakteure, Karl Frenzel, Korrespondent für Kultur- und Kunstangelegenheiten in Wien und Berlin101, war der Adressat der Diltheyschen Abhandlung über „Schulreform und Schulstuben", die in der Nationalzeitung zusammen mit weiteren Aufsätzen zur Schulkonferenz von 1890 erscheinen sollte102. Der schulpolitische Tenor dieser Abhandlung wird noch deutlicher, wenn man ihn auf dem Hintergrund der nationalliberalen Haltung sieht, die auch die Zeitung, für die er bestimmt war, vertrat, wenn auch weitaus gemäßigter, „zahm", als Dilthey selbst103. Dieser Aufsatz — wie die übrigen geplanten — erschien dann doch nicht in der Nationalzeitung. *7 Leonhard von Renthe-Fink, Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck. (Abhh. d. Ak. d. Wiss. in Göttingen, phil.histor. KL, 3. Folge, Nr. 59) 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 57; dort S. 62—67: Die Beziehungen zwischen Haym und Dilthey. •8 Über die Nationalzeitung vgl. Kurt Koszyk, op. cit.; Ernst Gerhard Triebe, Die Geschichte der Berliner Nationalzeitung in den Jahren 1848 bis 1878. (Wesen der Zeitung, Bd. 2, 4) (Diss. phil. Leipzig 1933) Leipzig 1933; Walter Lotze, Das Feuilleton der Nationalzeitung von 1848 bis 1910. (Diss. phil. Leipzig) Würzburg 1933 (Teildruck). 10 »» Vgl. Triebe, a.a.O., S. 200 ff. ° Ebd., S. 207 f. 101 Vgl. vor allem die Arbeit von Lotze und die Schrift: Zur Erinnerung an die 25jährige Tätigkeit des Herrn Dr. Karl Frenzel in der Redaction der „Nationalzeitung". Berlin 1886. 102 10S

Vgl. Ges. Sehr. VI, S. 307. Vgl. Briefwechsel mit Yor