German Amok 3596158516, 9783596158515 [PDF]


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German Pages 256 [244] Year 2004

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Table of contents :
Buch......Page 2
Autor......Page 3
Zeit für infernalische Dekadenzen......Page 5
MANN UND FRAU, SIE LIEBEN SICH......Page 47
ROSA NIMMT EIN FUSSBAD......Page 64
GOURMET IN SOCKEN......Page 73
MAN DARF SIE NICHT BERÜHREN......Page 91
FAMILIENALBUM......Page 114
DIE FLEISSIGE MAGD......Page 148
DER RINGFINGER......Page 162
ASTHMATIKERSERIE......Page 183
HERRLICHES FLEISCH......Page 230
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Zitiervorschau

Feridun Zaimoglu

German Amok

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Feridun Zaimoglu, Schöpfer der »Kanak Sprak«, schlägt einen neuen Ton an. Bildreich, wortmächtig und mit grotesker Komik lässt er eine faszinierendabgründige Welt entstehen. Sein Ich-Erzähler, ein erfolgloser Maler und begehrter Lustsklave, will den Oberflächlichkeiten der Berliner Kunstszene entfliehen. Die Reise in die ostdeutsche Provinz entwickelt sich zu einer wahnwitzigen Höllenfahrt. ISBN: 3-462-03128-7 Verlag: Kiepenheuer & Witsch Erscheinungsjahr: 1. Auflage 2002 Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch Wieder eine Vernissage mit den immergleichen Gästen, die sich an den immergleichen Inszenierungen ergötzen: Kaskadenartig ergießt sich der Wortschwall des frenetischen Erzählers, und Häme und Spott schüttet er über die Bohemiens aus, die sich zu diesen Szene-Ereignissen einfinden. Ihm bleibt nur der Rückzug in sein wüstes Atelier, den Schauplatz schubhafter Schöpfungen. Doch »Mongo-Maniac«, seine auto-aggressive Nachbarin, ist dort eingedrungen und hat ihr Lager aufgeschlagen. Während sich ihr gegenüber die fürsorgliche Ader des Erzählers zeigt, geht er mit wachsender Härte seinen Alltagsgeschäften nach. Er befriedigt routiniert die »Kunstfotze«, Zentralfigur des Kunstbetriebs, wird kupplerisch für den Hodscha tätig und versucht sich als Schächter im Schlachthof. Erst die Beschäftigung als Bühnenbildner auf einem Theaterworkshop in Ostdeutschland scheint eine Perspektive zu bieten. Drei Wochen in einer ehemaligen Russenkaserne, ein Buto-Kurs zur Selbstheilung und das Proben eines experimentellen Stücks zur künstlerischen Bereicherung der Ost-Bevölkerung sollen sinnsuchende Westler wieder auf das Gleis bringen, erweisen sich jedoch als Irrweg. Dann erscheint die geläuterte »Mongo-Maniac«, sitzt dem Schwindel auf und verleitet den erzürnten Erzähler zu einer Bußpredigt alttestamentarischen Zuschnitts.

Autor Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel, wo er seither als Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist arbeitet. Er war Kolumnist für das Zeit-Magazin und schreibt für die Welt, die Frankfurter Rundschau, Die Zeit und Max.

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Zeit für infernalische Dekadenzen Die Kunstfotze ist nicht zu übersehen: ein ennuyantes Warzenmädchen, mittelgroß und mittelmäßig, in diesem Moment bis auf eine Perücke in Hauchrosa völlig nackt und deswegen für die älteren Herrschaften im Publikum eine Augenweide. Es ist ihr Abend und ihre Vorstellung, sie reißt ihr blödes Mäulchen auf, um vor versammelter Mannschaft (die Männer sind natürlich in der Mehrzahl!) eine Ansprache zu halten, an der sie wochenlang gefeilt haben muß. »… denn IHR sollt wissen, daß ich Euer Feind bin, ich stehe unbekleidet auf dem Sockel wie eine Marmorstatue, ich bin die große Sensation dieser Saison. Aber glaubt mir: viel lieber würde ich Nasenflügel aufschlitzen, Darmschlingen herausreißen, und den Haufen, der hier zur Kunstbegutachtung zusammengeströmt ist, einfach nur massakrieren …« Wunderbar! Ein paar Idioten spenden begeistert Applaus, doch man dreht sich nach ihnen um und bedeutet mit gravitätischer Miene, Ruhe zu geben. Die Kunstfotze ist noch lange nicht fertig, sie schmettert sich in Rage, der eingeweihte Bekanntenkreis duldet keine Unterbrechung und würde jeden Banausen aus dem Saal prügeln, wenn es denn sein müßte. Also bin auch ich still, wünsche ihr nur den Schamlippenkrebs. Ich werde es ihr angelegentlich wieder besorgen müssen, es kostet mich zwar immer einige Überwindung, aber ich bringe es schnell hinter mich. Ein wohlgehütetes Geheimnis. Ich hoffe, daß die Kunstfotze sich bald von einem anderen Loverboy verwöhnen läßt – es heißt, sie halte sich ein Haustier mit karnickelheißer Noppenzunge. »… das ist ein Ritus. Das ist keine Kunst. Ihr könnt hier nichts 5

kaufen. Geht weg und laßt mich alleine den Ritus abhalten …« Ihre Theateransprachen sind Anfängerkurse für verspannte Deliranten. Ich wende mich ab und schnappe mir ein Glas lauen Sekt. Wie nicht anders zu erwarten ist das Büffet verwüstet, allein schon deswegen lohnt es für die Berliner Kulturpest herzukommen. Die Pisser und Schabracken, Müllfresser und Nacktfotzenbeglotzer lassen kein noch so peinliches Subkulturevent aus. Sie ergötzen sich an der Tristesse all der netten Happenings. Was soll man machen, schließlich bin auch ich hergeeilt, keiner hat mich dazu überreden müssen. Parallel zum Hauptact läuft auf zehn Bildschirmen das Kunstvideo eines persischen Exilanten, der mit seiner Zwangsausbürgerung nicht einverstanden ist und nun alle Welt davon überzeugen will, was für ein freches Frettchen er doch sei. Er hat eine Drag-Queen als Hauptdarsteller verpflichtet, eine furchtbar zugeschminkte Existenz, sie kringelt Locken in ihre blonde Perücke und drückt ihre Hormontomaten-Titten zusammen, sie fordert den Kameramann auf, an ihren Warzen zu nuckeln, das Hohngelächter aus dem Off macht sie traurig. Jetzt will sie es wissen, jetzt zieht der Transvestit seine Protest-Onanie durch. Er schließt die Augen, fummelt an seinen Testikeln. Er ächzt und stöhnt wie ein drittklassiger Pornostar. Ich bin gelangweilt, ich habe für Geschlechtsverräter nichts übrig, denn sie neigen dazu, ihre Schwänze in aller Öffentlichkeit zu entblößen. Istafa sieht das anders, er hat sich neben mir aufgebaut und die Arme verschränkt, er zupft an seinem blondierten Geißbärtchen und macht den Eindruck, daß ihn jeder und alles angehe. In diesem Augenblick beschäftigt ihn die Frage, wieso Männer, die dafür keine große Verwendung haben, mit einem derart mächtigen Hodensack gesegnet sind. Ich kann ihm nicht weiterhelfen, es ist müßig, über fremde männliche Genitalien zu grübeln. Wie geht es ihm? Er weiß nicht so recht. 6

Wie geht es mir? Oh danke, nicht viel zu tun und professionell unglücklich, wenn er versteht, was ich meine. Du solltest dich nicht in die Malerei verbeißen, sagt er, der Zeitgeist – oder solle er lieber von Zeitgeistern sprechen? – hat die Leinwandschmiererei ausgesondert: Müll der Alten Welt! Er läßt mir gönnerhaft meine Fasson, jedem seinen Pinsel, haha, ich dürfe mich nicht sonderlich wundern, wenn die Ausstellungsmacher nichts von mir wissen wollen. Das wird vorübergehen, sage ich, die Video-Schickimickis haben bald abgewirtschaftet. Ach Gott, sagt er, du bist mir aber ein Apokalyptiker, und drängelt sich durch die Menge zur ersten Reihe, um die nackte Kunstfotze ungehemmt anzuglotzen. Schöne Zeiten: ein Anatolier nimmt einen HauptstadtTransvestiten in Schutz, zum Teufel mit ihm. Seine Eltern schneiden Rabattcoupons aus der Zeitung, und er, der Emporkömmling, schlüpft in Lederslipper mit deodorierten Einlegesohlen. -

Na, was macht die Kunst? Ach ja, Torri, der Freund der Kunstfotze, der nicht wahrhaben will, daß seine bemerkenswert unbegabte Freundin virtuell wie real ein Luder ist. Er läuft mir selten über den Weg, und bei jeder Begegnung muß ich in mich gehen und mir seine Sozialdaten in Erinnerung rufen: Frau Birgit Laarsen setzt dem Idioten Hörner auf, und ich helfe ihr dabei. Der Typ löffelt Bienenpollen zum Frühstück und glaubt, er sei besonders mutterwitzig. Wie lange wird ihre Ansprache dauern? Lange. Gestern nacht mußte ich mir zwei Durchläufe antun. Ich hab’ ihr gesagt, der Text ist scheißegal, leier’ einfach irgendeine kryptische Ode herunter. Die Leute schlucken es, die Leute werden dich anbeten. Ein bißchen Altes Testament, ein bißchen Kochrezept, und vergiß die Fremdwörter nicht, hab’ ich 7

ihr gesagt. Du wirst die Schweine um den kleinen Finger wickeln, du wirst ihr Star sein, hab’ ich ihr gesagt. Ist das echtes Blut? Wir betrachten stumm das einzige Ausstellungsstück im Saal: ein Monster-Teddybär liegt auf dem Rücken in einer roten Lache. Eine Riesenschweinerei. Es müssen welche hineingetappt sein, Schuhabdrücke unterschiedlicher Profile verteilen sich über den Linoleumboden. Echtes Schafsblut. Kommt doch gut, oder? Ein überdimensioniertes Plüschtier im eigenen Saft. Haut mich nicht unbedingt um. Ach, ich weiß nicht, ich find’s originell. Ihr Künstler müßt euch auch immer beharken. Gib doch einfach zu, daß ihr Happening ein Highlight ist! Wenn du wüßtest, Arschloch. Ich breche den Menschen gern das Herz. Es macht mir nichts aus, ihnen Gemeinheiten hinterherzuzischeln oder schadenfroh zu keckem, wenn sie eine Serie von Mißerfolgen einfahren. Nur, ich bin ein demaskierter Misanthrop. Man kennt mich, und es gibt einfach zu viele Idioten, die aus purer Gleichgültigkeit auf Mätzchen verzichten. Sie sprechen aus, was sie denken. Heimtücke als schöner Ausgleichssport hat ausgedient. Ich könnte in die Pfütze springen, auf den Teddykopf urinieren, und ich könnte dabei Fratzen schneiden und mein banales kleinherziges Leckverhältnis mit der Kunstfotze hinausposaunen. Na und? Wieder so ein Knallkopf, der in eine laufende Show hineinplatzt und um Aufmerksamkeit bettelt. »… Ich sage: Hier habt ihr euer unverkäufliches Exemplar, auf das ihr so lange habt warten müssen. Es wird in keinem Museum der Welt ausgestellt werden, denn noch heute nacht werden wir es abfackeln wie ein totes Baby, und es wird gut brennen, so gut, daß es keine Rückstände hinterlassen wird. Meine Kunst besteht darin, den Profitwerbern und 8

Kunstliebhabern meinen Arsch zu zeigen. Kein Scheck der Welt rettet den Teddybär, er ist mir ausgeliefert, er ist mein Kunstwerk, also steht es mir frei, ihn zu zerstören …« Die Kunstfotze erfindet die Kunst neu. Sie tut so, als müsse sie nur die richtige Formel aussprechen, und alle Fassaden und Oberflächen glitzerten in einem übersinnlichen Goldlack. Ihr Simsalabim besteht aus dem Quatsch, den sich duzfreundliche Kunsthallenkuratorinnen für die Gespräche mit jungen Talenten aufheben. Torri, ihr bekloppter Freund, hat ihr beigebracht, daß die potentiellen Käufer eine Geschichte, ein atmosphärisches Stück brauchen. Eine Künstlerin, die vorgibt, ihre Kunst sei unverkäuflich, betreibt optimale Verkaufspolitik. Das Schafsblut stinkt, mir dreht sich der Magen um. Ich stinke auch, mein letzter Geschlechtsverkehr liegt nur zwei Stunden zurück. Die alleinerziehende Kathrin, Sozialschmarotzer wie fast alle, die ich kenne, klopfte bei mir an, ich setzte ihr einen löslichen Cappuccino vor, und danach fickten wir still, einfach so. Sie hat ein Brustdrüsenproblem, sie hat sich Gewebe rausnehmen lassen müssen, weil ihre Brüste anschwollen und Milch absonderten. Eine Zeitlang mußte sie ihre besudelten BHs mehrmals am Tage wechseln. Doch sehr schnell hatte sie die Faxen dicke und entschied sich für die Operation. Ich liebe die sichelförmigen Narben unter ihren Brüsten, sie wecken mein zoologisches Interesse. Der unmodische Fick, den sie mir schenkt, läßt mich jedesmal die postkoitale Dusche vergessen. Angesichts dieser miesen Schnellimbiß-Inszenierung möchte ich einfach die Nase zuhalten – mein saftbenetztes Genital und das Schafsblut dampfen mir die Atemwege zu. - Ich habe gehört, deine Ausstellung ist verschoben, sagt Torri, der mir zeigen will, daß er zur Bosheit fähig ist. - Der Galerist hat sich in letzter Minute für einen schwulen Amerikaner entschieden. Er ist Hyperrealist und malt Eiklar auf 9

Leinwand, und er steckt mitten in seiner pinken Kartoffelphase. Ich bin raus. - Das tut mir wirklich leid. Was wolltest du eigentlich ausstellen? Sag ich dir nicht. Ach, komm schon. Jetzt, wo du doch auf deinen Kunstwerken sitzt, kannst du es mir verraten. Mein lieber Torri, Ideenklau gehört zum Geschäft. Du würdest es herumerzählen, und morgen weiß es die ganze Stadt. Laß mal. Wofür hältst du mich eigentlich? Für ein Schwatzmaul, aber das geht schon in Ordnung. Fick dich doch ins Knie. Und er rauscht davon. Er wird sich das Maul über mich zerreißen. Spätestens übermorgen bin ich zum Minusperformer gebrandmarkt und kann dann meine Brötchen damit verdienen, daß ich fetten Russenkindern perspektivisches Zeichnen beibringe. Nichts ist schlimmer als ein Künstler, der sich nicht rechnet. Ich bin unten durch, und ich stehe mit einem Sektglas in der Hand, starre auf die Blutlache und verfluche das ob der Darbietung der Kunstfotze erheiterte Publikum. »… psychologisiert mich, psychologisiert meine Kunst. Die Traumata meiner Kindheit piesacken mich, sie leiten mich, sie fachen mein Talent an. Vertraut der naheliegendsten Interpretation! Ja, es stimmt, der Teddy war und ist mein Liebstes, ich habe meinen Alptraum inszeniert, akzeptiert mich in meiner Primitivität …« Fotze! Alle Völkerschaften sind zusammengeströmt, und natürlich darf auch Rinni nicht fehlen. Sie gibt überall damit an, daß sie kurz vor ihrer End-Illumination sei und einen Gipsabdruck von ihrer 10

Aura machen könne. Der fade Heroismus einer blassen Erscheinung. Fast jeder hier im Saal kennt ihre miesen kleinen Geheimnisse. Ihr Straßenköterblondhaar, nichts weiter als ein läppischer Skalp, hat durch die Brathitze der Frisierhaube gelitten. Jeden Morgen massiert sie rohes Eiweiß in ihre Kopfhaut und ihre Achselhöhlen. Vor Jahren hat sie sich im Wahn eine Brustwarze mit der gezackten Schneide eines Brotmessers abgeschnitten. Sie ist durch und durch deutsch, gehört aber zu den Leuten, die sich einen Hundenamen zulegen, spätestens dann, wenn ein schmieriger Itaker oder ein Drogenneger sein Recht auf den ersten Bums geltend macht: Ausländer rein in meine Jungfrauenmöse. Sonst ist sie nichts Besonderes. Wenn sie den genetisch verunglückten Torri sieht, bekommt sie aus dem Stand einen Schluckauf. Er ist der einzige deutsche Mann, den sie als potentiellen Begatter gelten läßt. Zu spät, sie hat mich entdeckt, mit einem Teller butterbestrichener Weißbrotscheiben schwirrt sie heran. - Wo ist Torri? - Er hat mich aufgefordert, mich ins Knie zu ficken, und ist wütend weggegangen. Ach echt? Ihr hattet Streit oder was? Kann ich nicht behaupten. Torri ist der Kunstfotze nun mal treu ergeben und duldet keine Kritik an ihrer Kunst. Tja, was mußt du auch meckern. Immerhin hat sie das Büffet bezahlt … … und dich auch noch eingeladen. Als PR-Berater hätte ich ihr sicherlich davon abgeraten. Sie stopft sich den Mund voll und kaut blinzelnd. Wenn es eine Bekloppte gibt, die blinzelnd starren kann, dann ist es Rinni. Torri und Rinni. Rinni und Torri. - Ist schon mal jemandem aufgefallen, daß du beim Essen ein 11

besonders blödes Gesicht aufsetzt? - Du bist frustriert! Nein. Abgesehen von einem beschissenen Stofftier in Spaghettisauce gibt es nichts, was mir zusetzt. Du darfst nicht so streng mit der Kunstfotze sein. Sie hat ein Stück Anerkennung verdient. Schau doch, wie sie sich anstrengt. Echt süß. Ich habe ihr vorhin einen dicken Bussi gegeben und dreimal über ihre rechte Schulter gespuckt. Das machen Schauspieler vor der Aufführung, du weißt … Ist nicht wahr! Ich habe ihr dann auch noch aus Versehen viel Glück gewünscht. Sie war völlig außer sich. Ich meine, man kann sich doch mal vertun, es war wirklich keine Absicht. Du weißt, es bringt Unglück, wenn man vor dem act der Darstellerin die Daumen drückt. Ich wollte einfach nur nett sein, ich mag sie nämlich trotz ihrer Launen, ich denke … Wieso fällst du nicht auf der Stelle tot um? Du bist nicht lebenswert, du bist ein quasselnder Leichnam. Du kannst dich neben den Teddy legen, und keiner käme auf die Idee, in den beiden Körpern etwas anderes als anorganische Materie zu vermuten. Du bist unfickbares totes Fleisch. … der Vermieter hat mir gekündigt. Kannst du dir das vorstellen? Wie soll ich auf die Schnelle eine Wohnung finden? Wozu erzähl’ ich dir das überhaupt? Du überredest mich bestimmt gleich, daß ich vorübergehend bei dir einziehe, weil du dir davon ein paar heimliche Blicke auf meinen Hintern versprichst. Gott bewahre. Ich bin doch nicht lebensmüde. Beim Zivildienst hatte ich meine soziale Phase, ich habe es hinter mir. Ach, ist das so? Du bist wirklich asozial. Hauptsache, du sitzt in deiner Wichsbude und hast es warm. Und wenn dir irgendeine Konzeptkacke einfällt, ziehst du los und bekniest rotmundige 12

Bürgerschnepfen, damit sie es mit dir versuchen. Du bist dir auch nicht zu schade, um mit alten Weibern ins Bett zu gehen. Die Kunst geht vor, dafür kriegst du schon mal einen halbweichen Ständer, da mag dir der Trieb noch so brutal in die Socken fahren. Das klappt nicht immer, du Arsch. Ich habe gehört, du hast es mit Peter Reinach verdorben? Torri hat also getratscht. Braucht er gar nicht. Das spricht sich schnell rum in der Szene. Ach Muffchen, um der Wahrheit die Ehre zu geben, es hat mich selbstverständlich erschüttert, daß mich eine ultrahocherhitzte Tunte hat abblitzen lassen. Ja, ich will meine Bilder unters Volk bringen, aber nicht um jeden Preis. Weißt du, er wollte mein Arschloch, er hat gesagt: Junge, wir beide ziehen uns aus und treiben es im Stehen … Was, er hat dich sexuell belästigt? Er hat mir ein unmißverständliches Angebot gemacht. Ich habe abgelehnt, der scheiß Amerikaner nicht. Aber er ist doch verheiratet, er zeigt doch immer seine Familienfotos herum. Eine Scheinehe. Peter Reinach ist schlicht und ergreifend eine Klemmschwester. Du sagst das in einem Ton, als würdest du mächtig was gegen Schwule haben. Wieso bin ich hier? Der Tip kam von Songül, sie empfahl das Programm der Kunstfotze, und sie wollte auf jeden Fall reinschneien. Stell dir vor: Sekt und Kanapees für lau, vielleicht ein paar schnuckelige Männerbienen aus der Hip-Hop-Szene, die auch auf einen Sprung vorbeikommen, herumstehen und soo toll pubertär gestört sind. Ich bin saisonal verschossen in Songül, deshalb bin ich hier, obwohl ich weiß, daß sie sich nicht mit mir abgeben wird. Vorhin habe ich sie beim Spannen 13

erwischt. Ein Raplümmel nestelte an seinen losen Schnürsenkeln, der Bund seiner Windelscheißerhose rutschte kniewärts, und Songül hatte freie Sicht auf eine verpickelte Arschrinne. Sie steht auf so etwas. Ich habe damit gerechnet daß sie zu dem Lümmel rübergeht und ihm in die Backen beißt. Sie tut es aber nur hinter vorgezogenen Gardinen. Der Biß ins Männerfleisch ist ihr Tribut an den Feminismus, den sie als Kind von anatolischen Analphabeten bestimmt nicht buchstabieren könnte. - Weißt du, Rinni, statt mich mit einem alten Weibsstück wie dir abzuplagen, würde ich viel lieber Songül flachlegen. Wie oft hat sie dich eigentlich abblitzen lassen? Eigentlich bin ich ihr Typ, sie hat sich nur noch nicht zu einer positiven Entscheidung durchgerungen. Nach Freud ist sie auf der Schwelle zur posttranszendentalen Faktvision. So einen Schwachsinn hat sich Freud bestimmt nicht ausgedacht. Du legst es ihm nur in den Mund. Wie dem auch sei. Meinen Schwanz würde ich jedenfalls gerne mal bei Songül in den Mund legen. Du Ärmster, du hast es wirklich nötig. Aber denk lieber noch mal darüber nach. Entweder bist du doch lebensmüde, oder, wie es sich für einen Stubenhocker gehört, einfach nicht auf dem laufenden … Das klingt nach Tratsch. Sofort spitze ich die Ohren, versuche ein möglichst großes Desinteresse zu bekunden. Die Falle schnappt zu, Rinni kommt näher heran und flüstert blinzelnd. - Ihr Arzt hat ihr nicht bei allen Souvenirs von ihrem letzten Zypernurlaub helfen können. Du weißt ja, wie sie ist. Ich weiß. Nach fast jedem Urlaub im »sonnigen Süden« sucht sie einen freundlichen Gynäkologen auf, um sich eine von einem Südeuropäer gestiftete Blase wegpumpen zu lassen. Ihr 14

Hang zur Urlaubsschwangerschaft ist legendär. Was gab es denn diesmal? Junge oder Mädchen? Keine Ahnung. Wenn man sich schon nicht um die Gebote des Herrn schert, sollte man sich wenigstens die Ratschläge des Gesundheitsministeriums zu Herzen nehmen … Du meinst, sie hat …? Sie hat’s geschafft. Wenn du keinen Wert auf den Virus legst, kannst du sie getrost von deiner Liste streichen. Welch ein Schicksalsschlag! Songül, die Märtyrerin der Liebe! Sie liebte das Leben und geriet an einen tückischen Begatter! Eine Schande! Hat Gott es gewollt, kann Er derart grausam walten und wirken? Songüls letzte Worte. An meinem Sterbebett dulde ich keine roten Rosen …! Du bist ein Schwein. Rinni Rinni, was bist du doch für ein einfältiges Mädchen. Du willst dich bilden, du möchtest auch mitreden können. Also blätterst du in Glanzmagazinen, aber schon nach vier Seiten gibst du auf. Du gehörst zu den Glücklichen, die so wenig Bücher in ihrem Leben gelesen haben, daß sie sie an einer dünnen Haarsträhne abzählen können. Du mußt wirklich auf den Hund gekommen sein. Natürlich, erst die Absage und dann der chronische sexuelle Frust. Weißt du, zu Hause bekomme ich die sexuelle Vollverköstigung. Für Kummer ist einfach kein Platz in meinem Herzen. Du bist eine Seuche … Laß dir die Butterstullen schmecken. Und fröhliches Kotzen anschließend. Ich lasse sie stehen, die Hungereule. In ein paar Minuten wird es dann soweit sein: der große Auftritt vor der Kloschüssel. 15

Die ungehemmte Peristaltik ihrer Rachenmuskeln, angeregt durch die Spitze einer Pfauenfeder am Gaumenzäpfchen, würde die leicht angedauten Bissen hochtreiben. Sie scheißt aus dem Mund, ihr Magen ist ein völlig unnötiger Luxussack, man könnte ihn ihr entnehmen und einer Laborratte implantieren, und wenn man die Ratte an eine beliebige Körperstelle von Rinni annähte, hätte man ein harmonierendes Pärchen. Das Nagerduo könnte als Kirmesattraktion gutes Geld verdienen. RattenRinni prangte auf den Kotztüten der Fluggesellschaften, besonders die Hungerleiderländer der dritten Welt gewönnen mit Ratte plus Rinni einen imagemaximierenden Werbeträger. Kolossale Geschäftsidee! Natürlich würde ich eine stattliche Provision abzwacken. Als hätte sie meine Gedanken erraten und meine diebische Freude erfühlt, schauert ihr im dünnen Leibchen, sie ist einfach zu dürr, und das Gestell klappert, wann immer man ihr mit einem bösen Wörtchen in die Parade fährt. Der Tod umschmeichelt sie. Sie trägt ein bauchfreies Top, ihre Rippen zeichnen sich durch die Haut wie handgeschnitzte Holzgabeln. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß Torri sie anpoppt, einen christlichen Barmherzigkeitsfick traue ich ihm allerdings zu. Als chronischer Haschraucher neigt er manchmal zur aggressiven Menschenliebe, und dann würde er doch so gerne seinen Haschkeks mit den Beladenen und Neurodermitikern und Kotzkindern dieser Welt teilen. In diesem Moment hätte ich schreien können vor Glück, aber es bringt ja nichts, Gefühle zu emittieren. Meine Ausbeuter warten auf einen Kapillarriß in meinem Körperpanzer, sie sind aus bloßer Armut zu guten Beobachtern geworden. Wer seinen Nächsten liebt, zieht den Abschaum an. Die Naturen der Künstler in diesem abgewrackten Erlebniszentrum drängen auf Ausbeutung. Der Kunstfotze geht langsam die Puste aus, das macht ja nichts, sie hat brav ihr Ständchen dargebracht, und Torri, ihr treues Pürzelchen, bezaubert. Er wird ihr heute nacht zu Füßen 16

liegen und die Zehen einzeln ablutschen, seine Negerlippen eignen sich besonders gut für den dafür nötigen Saugglockeneffekt. »… Ich komme zum Abschluß meines Ritus, vielmehr des ersten Teils einer heiligen Handlung, und leite über zum zweiten Teil. Ich erkläre meine Kunst für null und nichtig, ich entziehe meinem Kunstwerk das Recht auf Exhibition und erkläre es zum Brennmaterial. Es sind alle Anwesenden eingeladen, Scheite ans Schafott abzulegen. Ihr dürft zündeln, habt keine Angst, macht einfach mit und habt Spaß!!!« Sie steigt hinab von ihrem Pfaffenpodest, Torri, der dienstbare Geist, streckt ihr die Hand entgegen, an der sich die selig karpfenmaulende Kunstfotze abstützt. Umstehende Claqueure verdrehen anerkennend die Augen, ein Hurenbock zündet eine Wunderkerze an, brennende Feuerzeuge werden hochgereckt, als gelte es, einem Popidol dabei zu helfen, eine Schneise ins Dickicht seiner Neider zu schlagen. Die Kunstfotze lüpft ihre Perücke, und eine auf Glanz polierte Nofretete-Glatze kommt zum Vorschein. Nun ist sie vollkommen nackt, das geometrisch gestutzte Schamdreieck, unverschämt gesund und ohne die kleinste lusttötende Filzkrause, zieht die Blicke auf sich. Ich erblicke eine stadtbekannte Frontlesbe, die in diesem religiösen Klima der Verzückung erliegt und ganz bestimmt nichts sehnlicher wünscht, als die Faust ins Möschen der Kunstfotze versenken zu dürfen. Sie beherrscht uns alle. Sie ist die himmlische Braut, mit der wir uns vermählen. Sie treibt ein paar Gestalten an, die dem Teddymonster eine große Galgenschlaufe um den Hals legen, und es quer durch den Saal auf den Hinterhof schleifen. Wie durch Zauberhand formiert sich eine Prozession, schreitet auf der Blutspur voran ins Freie. Ein Umzug der Knirpse und Knechte, die Gaunergene treiben die Meute an. Die nackte Avantgardehexe gluckst vor Vergnügen, sie weiß, daß sie mit der anschließenden Feuerhypnose die Kritiker beschwichtigen und sogar für sich 17

einnehmen wird. Rudolf Tankwart notiert sich Details, er ist ja so vergeßlich, und man soll es ihm auch ansehen, wie ihn das Spektakel angreift und angeht. Als Kunstkritiker lebt es sich bestimmt nicht schlecht, die Bierwampe wuchtet er durch die Kunst-Häuser als Zeichen seiner Unbekümmertheit. Er wird einen Teufel tun und die rutschige Spur verlassen, auf der sich die Sektsäufer – mich eingeschlossen – in Rucken drängen. Das Schwein verliert das Gleichgewicht und legt sich auf die Schnauze. Ein schöner dumpfer Aufschlag. Und schon wieder auf den Beinen. Das Gesicht rot gezeichnet, als hätte er eine monatsblutende Pussy angezapft. Er dankt den Umstehenden dafür, daß sie ihn nicht zertrampelt haben, er klopft sich den speckigen Mantel ab, ein Verlegenheitsreflex. Rudolf schaut sich suchend nach seinem Notizheft um, nichts zu machen, er kann auch schlecht auf der Stelle verharren, er, das geborene Herdentier, stolpert voran. Eine kleine Massenhysterie könnte ihn für immer und ewig in die Blutsuppe stampfen. Teddyrudolfs Fleischfett, in unförmigen Klumpen auf Kinn, Bauch und Hüften verteilt, hüpft auf und ab, er muß sich beeilen, das professionelle Gesicht verhangen und kunsternst, daß er ja nicht in den Verdacht komme, in Geilheit fast zu verrecken: Ihre Pobacken sind wirklich ein Grund, nicht an schlechter Laune zu sterben. Wann hat man schon eine splitternackte Hohepriesterin gesehen? Die Metze führt die Meute an, von Schönheit ergriffen, in Schönheit vereint, von Pornoliebe angetrieben, verteilen sich die Sexmelancholiker um den inzwischen am Marterpfahl fixierten Teddybär. Wie könnte man maßvoll sein in einer Welt der sich messenden Tolpatsche? Ein Stoffhexer geht in Flammen auf. Plüsch ist brennbar, und der Beweis ist erbracht, ein Hui und Ho hebt an, und weil das Pack nur darauf wartet, braucht es nur zu klatschen. Und wie es klatscht! Meine Ohren brennen, mein Geschlecht reagiert, ich will für immer einem billigen Spuk hingegeben sein. Nein, das geht zu weit! Zwei nackte Neger 18

zurren einen Brotbeutel auf, die Kunstfotze greift hinein, und zunächst sieht es aus, als hätte sie den Flammen kurz die Faust gereckt. Ich habe mich nach vorne gedrängelt und sehe es aus der ersten Reihe: sie wirft Samenkörner ins Feuer, es prasselt und zischt, und das Stofftieropfer schmilzt vor Rührung dahin. Sein Kopf löst sich aus der Verankerung, und der Restrumpf ist auch nicht mehr das, was er mal war, nämlich ein Bacchus im kolorierten Zuckersirup. Songül kann sich vom Anblick baumelnder Buschmannschwänze nicht losreißen, armes Kind das. Braune Bananen über petrolfarbenen Feigen: die ideale Negerplastik. Songüls gut verschnürter Fickschlitz, mit heißen Wachsfladen schmerzhaft enthaart, mit Babypuder bestäubt, schwillt zur dreifachen Originalgröße an. Ihr Proletenvater glaubt, sie sei so rein wie bei ihrer Geburt. Sie hat sich aber einen langen Fingernagel wachsen lassen und ihr Schamhäutchen durch beharrliches Stochern zersiebt. Neger kommen ihren Eltern nicht ins Haus. Jetzt läuft ihre Phantasie auf Hochtouren, ihre Möse ist ein Torfquelltopf, ideal für Sämlinge und Stecklinge. Die Kunstfotze befehligt ihre Armee, ihr hinterher treiben wir im Geschlechtsdunst, ihr hinterher, und wir postieren uns willenlos um das Osterfeuer und bewundern und beneiden ihre Proletenarchaik. Hat sie geweint, als ihr Teddy vom Bett fiel, sie war da vielleicht keine zehn Jahre alt? Jahre später bringt sie ihre Erwachsenen zum Lachen, und siehe, auch Rinni bleckt ihre von Magensäure zerfressenen Zähne, sie freut sich über die Maßen, und ohne Zweifel würde sie in diesen geilen Momenten ihren Darmtrakt beschwören, nicht mehr zu grimmen. Diese Kunst geht auf den Unterleib. Des Teddybärs Sägemehl ist in Rauch aufgegangen. Ich bin entspannt. - Was hältst du von dem Schauspiel? SONGÜL. Hätte ich mir denken können. Sie muß sich von den 19

verbotenen Aufwallungen erholen, den Negern schenkt sie keine Aufmerksamkeit. Die Höllenhunde haben sie provoziert. Was sie jetzt braucht, ist ein hochtheoretisches Gerüst. Ein Gummibärchen in Drachenblut. Eine Haßtranse beim Wichsen. Nackte Künstlerinnen sind Peepshow für lau. Du spinnst ja! Ach komm. Die Männer haben der Kunstfotze auf den Hintern geguckt. Die Frauen werden später einander erzählen, daß der schwarze Mann tatsächlich ein schwarzes Glied hat. Das ist mein Fazit. Das war hier Kunst, Mensch, hast du das nicht begriffen? Ich finde es sehr verwerflich, wenn du das Happening zu einer Wichsvorlage herunterredest. Also, ich bin jetzt echt geschockt, mir fehlen die Worte … Was regst du dich so auf? Ich habe es doch genau gesehen, daß du den Negern ständig auf die Schwänze geschaut hast. Ist doch nichts dabei, laß dich gehen … Im nächsten Moment reißt mir ihre Schlaghand den Kopf weg, die Sektflöte gleitet mir aus der Hand und zerspellt auf dem Boden. Ich schmecke das Nasenblut, ich sauge es von der Oberlippe weg und schlucke es sofort runter. Oh Gott, das tut mir leid, das wollte ich nicht. Bitte glaub’ mir … Ich glaub’s dir ja. Keine Panik. Halb so schlimm. Paßt wunderbar zum Blutbad, ich bin jetzt in die Ausstellung integriert. Und ich stammele wie ein zum Guten und Schönen bekehrbarer Gnom. Sie soll wissen, daß es keine Situation gibt, in der mein Blut gefriert. Die Schuldgefühle eines Lämmchens sind köstlich. Du hättest mich nicht provozieren dürfen. Ich habe mich nämlich auf die Kunst konzentriert. Außerdem habe ich mich 20

den ganzen Tag auf diesen Abend gefreut. Man bekommt ja sehr selten zu sehen, wie die Bilder für sich sprechen. Erstens spricht kein Bild für sich. Glaube mir, ich habe oft mein Ohr auf die Leinwand gedrückt und auf Komplimente gewartet. Nichts zu machen. Und zweitens hast du hier nur billiges Pornotheater erlebt. Da bin ich aber ganz anderer Meinung. Das alles war … sinnlich. Ich war die ganze Zeit beteiligt. Verwerflich. Sinnlich. Beteiligt. Es sind Urlaute ihres Quietschkiefers. Dieses moralisch daherredende Miststück ist mit allen Wassern gewaschen. Ich kenne keine andere Frau, die ihren Kajalstift dermaßen flink aus dem Guccitäschchen zückt wie sie. Die Jungfrauenmasche zieht bei allen Jungs. Bei aller Beschränktheit – sie kann nicht so blöd sein zu glauben, daß ihre Reize wirkungslos bleiben. Ist die gewrungene Bettdecke ihrer Pussy liebster Freund, oder macht sie es mit einem Lover, der sich eine Stunde vor dem vereinbarten Termin im Hotelzimmer einfindet, wegen der Dramatik, die er aus Erotikfilmen abgeschaut hat? Der Virus – nur ein Schönheitsfehler. Gibt es einen Unbekannten in deinem Leben, Songül? Wie meinst du das? Hast du einen Liebhaber, mit dem du dich heimlich triffst? Du legst es darauf an, dir einen zweiten Schlag einzuhandeln. Ich warne dich! Du kannst mich grün und blau schlagen. Es macht mir aber keinen Spaß zu bluten. Verrate mir bitte dein Geheimnis. Du hast zuviel Sekt getrunken. Nein. Songül, ich liebe dich. Mach dich nicht lächerlich. Hier, putz dir damit die Nase. Ich stopfe das Serviettenende in die Nase, der Stoff saugt sich voll. Sie bemuttert mich, und am liebsten würde sie sich mit mir in eine Likörstube begeben und Sachertorten bestellen, damit ich 21

endlich Ruhe gebe. Das Selbstzerfleischungsopfer braucht die weiche Medikation, Sex mit dem gierigen Subjekt kommt nicht in Frage. Songül liebt nicht unter ihrem Niveau. Ich weiß ja, daß es nur einen geben kann an deiner Seite und in deinem Herzen. Laß mich an den Panzerketten deiner Seele nagen! Laß mich in dein Ohr beißen! Du bist ein Komiker, du bringst mich zum Lachen. Ich würde deine Ohrmuschel mit einer Zartbitter-Schokoglasur überziehen und hauchdünne Mandelscheiben hineindrücken. Ich bin das Spiel satt. Lebe deine Kannibalenphantasien doch an der Kunstfotze aus. Ihr wärt ein nettes Pärchen. Ihr müßtet eure Schäferstündchen nicht mehr in aller Heimlichkeit abhalten. Ihr Freund weiß übrigens Bescheid. Er macht gute Miene zum bösen Spiel. Oder sagen wir doch lieber: er verarscht euch beide. Du bist ein Intrigant, es nützt dir aber nicht viel. Geh lieber malen … Das aufschäumende Mösenfleisch geht fauchend ab. Ich bin die Pfeife der Saison. Das Nasenblut tropft auf die weißen Turnschuhe, welch ein banales Rührstückmotiv. Die Besseren und Gerechten haben um das Starlett des Abends einen Kreis gebildet, es läßt sich feiern und loben, kleine Darreichungen wechseln den Besitzer, Handschmeichler und Glücksbringer, trockengepreßte Kleeblätter in Zellophanhülle, selbstgebastelte Sorgenpüppchen und Kaminkehrerfiguren aus dem Kaugummiautomaten. Torri hechelt wie ein japsendes Hündchen zum Büffettisch und apportiert ein halbes Dutzend Sektflöten, die er zwischen die Finger geklemmt hat. Er will sein Weibchen alkoholisieren. Um so größer die Wahrscheinlichkeit, daß es sich seiner Geilheit hingibt, später, wenn sich die Massen verlaufen und in andere Subkulturbaracken gesickert sind. Sie werden auf anderen Afterparties bis zum Morgengrauen süße entwaffnete Liebesbrigaden bilden, bis der Wille zum Sex, dessentwegen sie 22

ausgegangen sind und den sie in klebrigen Kußvarianten bekamen, sie zu Decke und Kissen heimtreibt. Zeit zu gehen. In meinen vier Wänden, in der Ausstellungshalde meines kleinen unerheblichen Glücks, wieder zurück, wieder da, wo meine vielen Bekannten ein Bohememilieu entdeckt zu haben glauben. Es stinkt hier nach Abfall und totem Haustier. Wenn ich aufräume, schmeiße ich alles weg, was mir in die Hände kommt, ich habe mich der radikalen Entsorgung von Mitbringseln verschrieben. Die Staffelei steht wie ein Marterpfahl mitten im Hauptzimmer, und der Boden ist mit Plastikplanen ausgelegt, sie haben sich mit der Zeit um die Staffeleibeine gewickelt. Und die Töpfe und Tuben und die Pinsel zerstreut auf aufgebockten Sperrholzplatten. Ich liebe das künstliche Licht von Halogenleuchten, die Sonne ist für mich zum Bespucken lästig, wer es nötig hat, kann sich auf seinem Badetuch ausstrecken und vor Wohlbehagen grunzen. Ich bin geladen, nach jeder Vernissage komme ich um vor Lungenweh, weil ich nicht zu den Vergnügungslemuren gehöre, die von einer Afterparty zur nächsten hetzen. In diesen Momenten ergebe ich mich meinen Allmachtsphantasien und spiele mit meinem Penis, es ist nichts weiter als eine Beschäftigung, deren Ablauf mir vertraut ist und deshalb eine Art Trost spendet. Und schon habe ich die Pornohefte aus der neutralen weißen Plastiktüte herausgeholt, willige Miezen auf Hochglanzpapier, was gäbe ich darum, so schön falsch zu lächeln wie diese Pornotussen, daß jeder zweite Mensch wieder an echte unverfälschte Gefühle glaubte. Der Handlung fehlt zwar ein Schuß Esprit, die beteiligten Körper kommen schnell zur Sache, aber es geht hier ja schließlich um Anschauung der wesentlichen Art, und auch der ganz besondere Ressortleiter unterrichtet den Onanisten im Editorial davon, daß das Titelmädchen sich entschlossen hat, den Künstlernamen Kim anzunehmen. Sie hieß Jane, für die geneigten Männer da draußen heißt sie ab sofort Kim, der Name hat einen 23

Gebrauchswert, nicht ohne Prestige, das muß ich schon zugeben. Kims Nase ist ein Alptraum, ein Organ, das dem ihres Freundes ähnelt, mit dem sie eine Runde macht, schließlich sind beide Nachtschwärmer, die sich nicht von falschen Vorstellungen leiten lassen. Wer wollte sich über Kims feuerrotes Hosenkleid in Stretch aufregen, zumal die Hosenbeine knapp über den Pofalten enden? Zu viele Cellulite-Dellen verunstalten leider die frolleinhafte Arschblässe, die Nuttenstrapse machen aber diese Appetithemmung mehr als wett. Ihr bester Freund läuft in schick zerschlissener Jeans herum, außer einem pornodebilem Grinsen fällt ihm auf den ersten beiden Seiten nichts ein. Kim verrät uns, daß sie zufällig an einem Sexshop vorbeigehen, und sie müssen albern auflachen, weil sie sich einen Ruck geben und ab sofort schamlos sein wollen. Also betreten sie das Geschäft und werden ernst: sie haben nämlich ein Erotikmagazin für Erwachsene aus dem Regal genommen und aufgeschlagen, ich würde sagen, sie hat die Führung übernommen und das Magazin blind aufgeschlagen, an ihm nagt das schlechte Gewissen, es könnte mit dieser unverbrüchlichen Freundschaft zu Kim in dem Sexshop ein Ende nehmen, er versteht auch nicht, wieso seine Hand so schnell von ihrer Hüfte zu ihrem unteren Brustumfang hochrutschen konnte. Ehe er sich’s versieht, hat Kim, die lustvoll angeheiterte Schwipsschnecke, seinen Hosenstall aufgeknöpft und sein Organ in den Mund genommen. Sein Organ ist ein Alptraum, es sieht aus wie das Röntgenbild einer Mastfettleber. Und tatsächlich: Kim und ihr bester Freund operieren mit geschlossenen Augen, sie malen sich aus, wie schön doch das Leben sein kann. Natürlich mischen bald die Umstehenden mit, ein Araber und ein Neger, freundliche Mitmenschen, die sich Kims Aufruf zur Teilhabe nicht lange widersetzen mögen. Und jetzt geht es los: Kim sagt: Ich liebe euch alle, Kim sagt: AAAH, wie gerne ich mit vollem Mund ficke (in englisch klingt es nicht so toll: OOOH, how I love fucking with my mouth full), 24

Kim sagt: Hey, du da, hör auf, meinen Hintern anzustarren, und stoß mir endlich deinen Kolben tief rein!, Kim sagt: Aaah, das gefällt mir. Drück zu, mein Schatz! Kim sagt: Bitte hört nicht auf, mich so zu ficken, niemals, ich bin so voll, Kim sagt: Die Geschäftsführerin wird sicher sauer sein, wenn wir Flecken auf ihre Hefte machen. Also darf kein Tropfen Sperma danebengehen. Kim sagt: Mmmm, ich liebe Schwanzsaft! Ende der Fotofolge. Hastig wische ich mich ab und verschwende keinen Gedanken an Kim, oder ich nehme es mir vor, und trotzdem bleibe ich an ihrem glücklichen Gesicht auf dem letzten Foto ihrer persönlichen Geschichte hängen. Ein besudeltes Gesicht, es gehört nicht zu einer Frau, die nach dem Orgasmus der Hengste eine Gottesanrufung ausstößt: In dir zu schwinden hast du mich verschwendet. Nein. Auch sie wird sich und ihre Eingänge zu den Eingeweiden putzen, dem Fotografen einen Klaps auf den Knackarsch geben und mit ihm, ihrem offiziellen Freund, in ihre Wohnlounge abziehen. Für morgen ist kein Drehtermin angesetzt, danke. Wie den Schmerz aus den Lenden vertreiben, um drei Uhr morgens und ohne die geringste Lust auf eine kleine Nachtskizze? Ich hülle mich in die Decke und stolpere über Malgerätschaften am Boden, entriegele die Klotür, klopfe einmal und reiße die Tür auf. Im nächsten Moment lasse ich vor Schreck die Decke fallen. Mongo-Maniac steht kerzengerade vor dem halbblinden Spiegel und umwickelt ihren Kopf mit Toilettenpapier, sie hält die Rolle wie eine Reliquie in der rechten Hand und löst eine große Papierschlaufe nach der anderen, die sie zu einem Turban um ihre Haare drapiert. Die Ziehstrippe der Neonröhre über dem Spiegel gerät in den Luftzug und pendelt hin und her. Ich wage nicht, sie anzusprechen, ich bin wütend, daß sie sich nicht an unsere Abmachung hält und auf mein Klopfen nicht reagiert hat. Wir teilen uns diese Toilette, die Verrichtungsklause verbindet 25

unsere Wohnungen, die Türen gehen nach innen auf, also schiebt man den Riegel vor und hat seine Ruhe vor dem ungebetenen Gast aus der Nachbarswohnung. Man muß nur jedesmal artig klopfen, damit man sichergehen kann, daß die Toilette frei ist. Mongo-Maniac gehört zu den unzurechnungfähigen Halbmenschen, ihr Hirnschaden berechtigt sie allerdings zu abnormem Verhalten, das ich nicht zur Anzeige bringen kann. Die Polizei ist nicht autorisiert, debilen Menschenmüll in die Heilanstalt wegzuführen. - Das Vogelnest auf deinem Kopf steht dir gut. Komm jetzt, ich muß aufs Klo, geh ins Bett, das war auch für dich bestimmt ein ermüdender Tag. Sie reagiert nicht, es ist, als würde ich auf einen lahmen Esel einreden. Bestimmt hat sie sich in ein Trugbild versponnen und glaubt, sie sei eine Rampenkönigin vor der Premiere eines heißersehnten Theaterstücks. Vielleicht hält sie mich für einen Lakaien, der ihr Kostüm schöngebügelt hat, oder für eine sprechende Schminkkommode. Ich komme von der Abart nicht los, immer gerate ich an die Kopftoten, die Verlausten, an die Abschäume dieser Welt. Jetzt vollführt sie eine Halbdrehung in Zeitlupe, auch wenn sie achtgibt, rutscht das blöde Ding auf ihrem Kopf zur Seite und entrollt sich. Sie sieht mich an, ich rechne damit, daß sie mir an die Gurgel geht, ich habe mich wieder einmal in eine üble Situation hineinmanövriert. - Hör mal, das hier bleibt zwischen uns, Ehrenwort. Ich werde wirklich niemandem ein Sterbenswörtchen sagen. Du wickelst dir Klopapier um den Kopf, na und, das ist deine Sache, das geht niemanden was an, am wenigsten mich. Glaub mir, ich wollte einfach nur vorm Schlafengehen ein Abendhäufchen machen, mehr nicht. Du weißt, die Tür hat kein Schlüsselloch, also konnte ich auch nicht wissen, daß du hier drin bist. Also, ich mache dir jetzt ein Angebot, wie wär’s, wenn ich einfach die Tür schließe und wir diese Begegnung ausblenden. Du drehst weiter an deinem Turban und ich … Sie macht 26

einen Ausfallschritt und gibt mir einen Stoß an die Schulter. Das haut mich um, sie schickt mich auf die Bretter. Ich schnappe nach ihrem Fuß, um sie zu Fall zu bringen, aber sie ist schon in meiner Wohnung, sie springt wie ein blindes Zicklein herum und prallt an den Wänden ab. Eine Besessene im akuten Wahnschub, gleich wird sie mit dem Brotmesser die Leinwände aufschlitzen, und weil sie der Furor treibt, zu guter Letzt mich wie ein Schwein abschlachten und ausweiden. Sie schluchzt laut auf, ruft irgendeinen fremden Gott um Hilfe, sie spricht die Worte in sich hinein, ich habe es satt, daß mir die Angstschauder die Wirbelsäule rauf- und runterjagen. Jetzt rüttelt sie an der Wohnungstür, wirft sich dagegen. Ich schreie sie an. - Du haust hier ab, und zwar sofort. Sonst rufe ich deinen Irrenarzt an. Hast du mich verstanden?! Sie hat mich nicht verstanden, es ist ihr schlichtweg egal, ob man sie einfängt und in einen Käfig steckt. Von einem Kerl, den sie mit einem leichten Schulterstoß gefällt hat, läßt sie sich nicht einschüchtern. Also rappele ich mich wieder hoch und zupfe zu allem Überfluß Staubflusen von der Hose. - Laß mich in Ruhe, bitte, ich will nur schlafen, geh’ zurück in deine Wohnung. Ich will nicht mit dir schlafen … Sagt sie. Und erneut hat sie mich überrumpelt. Wie zur Versicherung schaue ich mich um, aber nein, ich bin bei mir zu Hause, und sie ist eindeutig der Eindringling. - Du irrst dich, Mädchen. Weißt du nicht mehr, wie es war? Du hast mich zu Boden gestoßen und bist an mir vorbei in meine Wohnung gestürmt. Sieh doch, hier sind überall Bilder, und die sind von mir. Und um eins klarzustellen: ich bin der Friedensonkel, vor mir brauchst du keine Angst zu haben. Geh weg, bitte … Herrgott noch mal, kapierst du das nicht? Das ist meine Bude, 27

dort steht mein Bett, und genau da will ich reinkriechen. Du hast dich verirrt. Du brauchst nur durch das Klo durchzugehen, und schon bist du allein! Es ist sinnlos, sie zur Vernunft zu bringen, sie gleitet in die Hocke und wippt auf den Fersen. Ein eingemummelter Infektkörper. Ihr Papierturban ein Kopfkokon. - Wenn du einverstanden bist, gehe ich in deine Wohnung rüber, hole dein Bettzeug und richte dir hier eine Schlafstelle her. Ist es dir recht? Und ohne ihre Antwort abzuwarten, gehe ich los, und natürlich habe ich nicht mit diesem heillosen Durcheinander gerechnet, wozu sollte auch eine Irre stubenrein leben? Wozu braucht es eine Kloschüssel, wenn sie sich in der Duschkabine erleichtern kann. Steinharte Brotkanten in blauen Müllsäcken, leere Milchtüten zu Pyramiden und Quadern mit Stoffband zusammengeklebt, Wurfsendungen in mehreren Lagen und Sedimenten auf dem Boden geschichtet und alte, zum Teil nasse Hotelbadetücher daraufgeworfen. Kahle Wände. Ein selbstgezimmertes Kreuz in Christi Lebensgröße, in Zellophanfolie gewickelt, liegt im Eingangsbereich, so als hätte es dem Körpergewicht des Gepeinigten nachgegeben. Aber kein Heiland weit und breit. Mongo-Maniacs Schlafgrotte besteht aus zwei Umzugskartons, der adäquate Nistplatz für eine Knallnymphe. Sie hat sogar an eine Klappluke gedacht und auch Löcher in den Karton gebohrt, damit sie im Schlaf nicht erstickt. Als Raumteiler dient ein Paravent aus fünf dicken Holzplatten, die durch Scharniere zusammengehalten werden und mit Rauhfaser tapeziert sind. Die Vorder- und Hinteransicht des Paravents zeigen höhlenmalerische Kannibalismusszenen in Ölkreide. Na sieh einer an, ein krankes Hirn und eine verwandte Seele, das Dummerchen versucht sich in der Kunst. Es ist ein einziges Getümmel von Strichmännchen, von rechts oben ergießt sich der Homunculusstrom auf einen 28

entgegenströmenden Haufen knapp konturierter Barbaren, die die Irre mit gezähnten Genitalien ausgestattet hat. Eine Telefonzeichnung im großen Format, ich will mich davon nicht gefangennehmen lassen. Ich schleife die Kartons erst durch die Toilette und dann in meine Wohnung, ein zweites Mal werde ich meinen Fuß nicht in ihre Bruthöhle setzen, es kostet mich einige Anstrengung, und eine Klappluke reißt ein. Ich finde MongoManiac in derselben Haltung vor, wie ich sie verlassen habe, aber jetzt heftet sie ihren Blick auf mich. - Du hast schon seltsame Angewohnheiten. Ich kenne keinen Menschen, der sich zu Hause einrichtet wie ein Penner unter der Brücke. Also, so langsam kannst du mal deine Scheu überwinden. Ich mache dir deswegen keine Vorwürfe, ich kenne eine Menge sonderbarer Typen, sie nennen es nonkonformistisches Verhalten, ich nenne es schleichende Hirnerweichung. Weißt du, ich rede all diesen Blödsinn, um mit dir ins Gespräch zu kommen. Ich stelle ein Wir-Gefühl her. Du willst dich nicht mit mir unterhalten, wir bleiben Fremde, auch gut. Ich gehe jetzt ins Bett. Wenn ich mich vor ihr entkleide und in meine Pyjamahose schlüpfe, werde ich sie erschrecken oder unnötig aufregen. Ich mache einen Bogen um sie, schlage die Decke auf und lege mich langsam hin. Die Stille, dieses ungesunde brütende Schweigen, das von einem Eindringling ausgeht, ist niederschmetternd. Ich hätte sie mit zwei gezielten Fausthieben ernüchtern sollen. Statt dessen habe ich ihr ein Nachtasyl angeboten und eine Schuld eingestanden, von der ich auch sonst nichts wissen will. Ich bin der letzte, der einer Frau in Not zu Hilfe eilt, das bringt nur Scherereien mit sich. Es gibt sie, die Nattern, die ihr Unglück aus ihren Eingeweiden heraus- und hochpressen, und ein für Notleidende typischer Geruch hüllt die Umstehenden ein und macht sie zu Beteiligten, zu Komplizen wider Willen. Ich gehe meinem Nächsten aus dem Weg, denn er 29

entpuppt sich meist als ein Kämpferherz, das den reinigenden Brand braucht und mich ansteckt. Wieso lasse ich es zu, daß eine kranke Kreatur keine fünf Schritte von meinem Bett Unheil ausströmt? Ich könnte aufstehen und ihren Kopf um hundertachtzig Grad drehen und die Leiche kunstvoll im Umzugskarton unterbringen. Wann fängt eigentlich ein menschlicher Kadaver an zu stinken? Ich muß morgen im Standardwerk der Gerichtspathologie nachschlagen, dort müßte ich fündig werden. Aha, sie bewegt sich also, sie kriecht auf allen vieren in ihre Schlafgrotte, ich höre es rascheln, wahrscheinlich dreht sie sich im Kreis wie eine Katze, bevor sie sich einrollt. Wenn alles gutgeht, werde ich die heutige Nacht überleben und sie im Kalender ankreuzen als Stunden der Bewährung. - Ich finde, es zeugt von schlechtem Benehmen, wenn man keine gute Nacht wünscht. Ich hoffe, du hast einen gesegneten Schlaf, ich werde ihn jedenfalls haben. Falls du zu denen gehörst, die nachts vor Durst aufwachen – im Kühlschrank ist Milch und ansonsten gähnende Leere. Bedien dich. Morgen koche ich uns beiden einen richtig schönen Kennenlern-Kaffee, der wird schon deine Zunge lösen, und wenn du mich darum bittest, hole ich auch Buttercroissants vom Bäcker. Sie läßt sich von meinem Spott nicht aus der Reserve locken, wahrscheinlich hat sie in ihrem ganzen Leben noch nie über einen Witz gelacht. Es kann mir egal sein, morgen scheuche ich sie zurück in ihr Biotop und werde bei den Hausbewohnern so lange gegen sie intrigieren, bis man sie vor die Tür setzt. Schade, daß ich mich mit der Vermieterin überworfen habe, sonst hätte ich die Angelegenheit mit einem einzigen Anruf geregelt. Andererseits darf man ihr keinen Floh ins Ohr setzen, denn dann nimmt sie eine konsequente Flurbereinigung in Angriff, und ich bin meine Wohnung los. Ich lausche noch ein wenig in die Stille und schlafe über dem Gedanken ein, daß es Sinn macht, ein Sicherheitsschloß an meiner Klotür 30

anzubringen. Mongo-Maniac hat sich davongemacht, ich habe nicht damit gerechnet, daß sie bis zur versprochenen Therapiesitzung ausharrt, so flatterhaft wie sie ist. Der Morgen ist ein Greuel. Ich frühstücke auf dem Bügelbrett: eine Tasse Kaffee blond, einen Nachtrunk schwarz. Ich habe wenig Sehnsucht danach, bei der Irren anzuklopfen und ihr für ihre gelungene Vorstellung zu danken. Ihre Kartongrotten stehen wie zurückgelassene Kokons mir im Weg, ich trete nach ihnen, und weil ich für kurze Zeit mir einbilde, den Körper der Irren mit Tritten zu traktieren, empfinde ich eine mörderische Genugtuung. Sie will sich bei mir einnisten, sonst hätte sie ihr mobiles Totengrab in ihre Totenkammer zurückgeschleift. Wahrscheinlich war sie als Kind ein stilles Mäuschen, hatte nicht genügend Spielfläche, um ihre Hausrevolution anzuzetteln. Müßige Gedanken. Wahrscheinlich sammelt sie in einer Federmappe verdorrte Weberknechte oder läßt Tapetenkleister auf ihrer Stirn trocknen, damit es aussieht, als sei sie mit dem vernarbten Gesichtsgewebe für die Opferrolle auserwählt. Von einem Gott? Von einem Psychopathologen? Müßige Gedanken. Der Gebetsvorsteher Hodscha Seyfeddin will mich sehen, er ließ mir über seinen Sohn ausrichten, daß er sich in einem Studentencafe einfinden wird, um mir in Geschmack und Sinn entgegenzukommen, und in dieser ihm fremden Umgebung »eine nützliche Unterhaltung« anzugehen. Er glaubt, ich sei ein Luder der Nacht, ein fast abtrünniges Mitglied seiner Gemeinde. Bislang habe ich jedes Freitagsgebet ausgelassen, dann und wann muß ich für ihn beim Arzt oder beim Anwalt dolmetschen. Ich mache mich auf den Weg, bin blind für den Tag und die Jahreszeit, nur ein einziges Mal schaue ich konzentriert dem kolossalen Hintern einer Matrone hinterher, die Trauer trägt und 31

schnaufend ihre volle Einkaufstasche nach Hause schleppt. Ein Katzenregen setzt ein, es riecht plötzlich nach vergorener Milch, nach dem Schweiß von Handinnenflächen. Es macht keine Mühe, naß zu werden, doch die Qual des vagabundierenden Drecks, der jungen Berberpunks und der Schnapssäufer kann ich aus ihren verduckten Bewegungen ablesen. Ihr Haß auf die Bürger könnte bei diesen Witterungsbedingungen sehr schnell in freudlose Gewalteruptionen umschlagen: eine abgeschwächte Gewitterfront verwandelt das Pack in Kriminelle. Ich stelle mir vor, wie es wäre, sie einen nach dem anderen abzuknallen, vom Hochsitz meines Fensterplatzes aus den augenfälligen Menschenüberschuß zu liquidieren. Ein erhebendes Gefühl. Ich schaue stur geradeaus und ignoriere die Bettelei einer aufreizend leicht bekleideten Jungpennerin. Ob sie sich für zwanzig Mark bereit erklärte, in einem Hinterhof zwischen den Müllcontainern mir den Schwanz zu lecken? Ich sehe die vorgebeugte Gestalt des Hodschas hinter der Glasfront des Cafes, er hält, wie üblich, einen chinesischen Schlaf, weil er fast jede Nacht aus einem feuchten Traum erwacht und sofort das Gebot befolgt, nach dem der Gläubige nach dem Samenerguß eine Ganzkörperreinigung vornehmen muß. Danach aber ist er hellwach und zählt die Stunden bis zum Morgengebet. Ich bin sein Kontaktbereichsbeamter zur Außenwelt, sein sprechender Duden, der ihm die Unsitten und Verfallserscheinungen erklärt. Wenn er doch erkennte, daß uns allen die Machtübernahme der Barbaren bevorsteht! Er schrickt aus seinem Dämmerschlaf hoch, ich küsse ihm nach Barbarensitte die Hand und führe sie an die Stirn. - Du hast dir reichlich Zeit gelassen, ich warte schon so lange, daß mich die Müdigkeit alter Männer übermannt hat. Wie siehst du überhaupt wieder aus. Gibt es keine Frau in deinem Leben? Du könntest dich zu den Wegelagerern in Lumpen da draußen dazustellen, und es käme keiner auf die Idee, dir nicht eine Mark 32

zu geben. Du erweckst das Mitleid deiner Mitmenschen. Danke Hodscha. Mir geht’s gut. Wie ist es mit deinem Wohlbefinden? Ich will nicht klagen. Willst du etwas essen, das geht natürlich auf meine Rechnung. Ein Wasser reicht, ich habe keinen Hunger. Und, hast du endlich ein Bild verkauft? Einige interessierte Privatkunden haben sich angemeldet, ich werde es ihnen leichtmachen und mit dem Preis runtergehen. Du erzählst wieder Blödsinn. Wer hängt schon freiwillig ein Dämonenbild von dir an die Wand! Deine Dauerleihgabe habe ich nach nicht einmal einer Woche wieder abgehängt. Jedesmal wenn ich ins Wohnzimmer eintrat, erschrak ich mich zu Tode. So ist es eben mit der modernen Kunst. Man malt nicht mehr Berge und Täler oder dicke Bäuerinnen beim Ziegenmelken. Das langweilt die Leute. Die Menschen, mein Sohn, haben schon genug Sorgen im Leben, da mußt du ihnen nicht auch noch die Freizeit verderben. Wieso malst du Szenen der Teufelsaustreibung? Als du mir deine Bilder gezeigt hast, war mein erster Gedanke, daß du krank im Kopf bist und eine Zwangsmedikation brauchst. Du hast mir zwar lange erklärt, was es mit den Symbolen für eine Bewandtnis hat, aber ich bin nicht so richtig schlau daraus geworden. Lieber Hodscha, glaube mir, ich weiß, was ich tue. Ich muß mich nur ein wenig gedulden, das Neue braucht seine Zeit. - Du glaubst also, wenn sich genug Leute beim Anblick deiner Bilder erschrecken, wirst du zu einer Berühmtheit aufsteigen? Reden wir über etwas anderes. Du wolltest mich sprechen. Und deswegen sitzen wir uns jetzt gegenüber. Ich habe mir sagen lassen, daß es hier, in einem deutschen Vergnügungslokal wohlgemerkt, mit Hackfleisch gefüllte Auberginen gibt. 33

Du bist der Vorkoster, wenn sie dir schmecken, bestelle ich auch eine Portion. Ich habe wirklich keinen Hunger. Aber hau rein, Hodscha. Ich hau nicht rein. Ich sehe hier drin wie draußen keinen einzigen Menschen, der reinhaut. Mann und Frau hauen rein hinter der verschlossenen Schlafzimmertür und nachdem sie die Gardinen zugezogen haben. Das ist so eine Redewendung. Kann sein. Ich hau nicht rein. Lassen wir das doch einfach. Ich wollte dir nur sagen, daß ich erst vor einer halben Stunde gefrühstückt habe. Ich bin satt. - Es ist jetzt fast Mittag. Du stehst also um jene Zeit auf, in der die Werktätigen ihre Arbeit für die Mittagspause unterbrechen. Ich gehe spät ins Bett. Ich arbeite nachts. Du machst Nachtschicht in einer Fabrik? - Nein, ich meinte, ich male nachts. Aha. Ja. Ich habe dich hierhergebeten, weil ich deine Hilfe in einer besonderen Angelegenheit benötige. Ich darf auf deine Diskretion zählen? Klar doch. Meine Lippen sind versiegelt. Wenn nicht, sorge ich eigenhändig dafür, daß du mit einem Lippenpflock, wie ihn die Buschmänner tragen, herumläufst. Hodscha, es bleibt unter uns. Soll ich nun die Auberginen bestellen oder nicht. Was meinst du? Nimm die Auberginen, und hau …, und laß es dir schmecken. Ich traue den Ungläubigen nicht. Vielleicht zieht der Koch einen Popel aus der Nase und steckt ihn in den weichen Bauch der Aubergine. Ich würde es in meiner Sanftmut für eine 34

verkokelte Knoblauchzehe halten und essen. Hodscha, in der Küche arbeiten Afrikaner und Pakistanis. Das macht nichts. Sie wissen ja nicht, wer die Bestellung aufgegeben hat. Sie könnten denken, wir seien Deutsche mit einem Faible für exotische Speisen. Der erzürnte Afrikaner könnte seinen großen Zeh in den weichen Bauch der Aubergine stecken und fröhlich herumrühren. Hodscha, dann iß doch bei dir zu Hause. Mein Zuhause? Mein Zuhause, sagst du! Was ist mein Zuhause? Eine Baracke, ein Hinterzimmer der Moschee, das mir die geizigen Gläubigen gnädigerweise überlassen haben. Dschavit Bey stellt sich auf seine Hinterbeine, faßt mir an die Schulter und sagt: ›Hodscha, du wirst hier mietfrei wohnen können, also freue dich deines Lebens!‹ Die wenigsten entrichten einen monatlichen Mitgliedsbeitrag, ich lebe unter der Armutsgrenze, und der Hohlkopf Dschavit, der Gemeindesprecher in eigenen Gnaden, gönnt mir gerade mal eine bessere Bedürfnisanstalt. Alle diese Männer kehren nach den Gebeten zurück zu ihren Frauen. Das ist ein Zuhause. Du hast doch eine Frau, Hodscha … … eine Frau in der Heimat, verdammt noch mal! Was nützt mir eine Frau, die sich nicht meiner, sagen wir mal, männlichen Sorgen annimmt? Außerdem ist sie ausgeleiert. Ich brauche etwas Frisches … Du bist auch nicht mehr der Jüngste. Du erfrechst dich, mich darauf hinzuweisen, daß ich ein betagter, abgegriffener Mann bin … Nein, Hodscha, ich wollte dir doch nur Trost aussprechen. Bei dir bröckelt der Mörtel! Ich kann mir mit deinem Trost nichts kaufen. Ich brauche eine Frau, sonst komme ich um, das ist die Wahrheit. Wo steht es geschrieben, daß sich ein Hodscha wie ein christlicher Priester dem Zölibat verpflichten muß? 35

- Die Evangelen dürfen heiraten, und bei den Mormonen ist die Vielweiberei erlaubt. Die Mormonen bilden übrigens eine christliche Sekte … Ich weiß, wer die Mormonen sind. Ich bin kein Mormone, ich bin kein Evangele, und katholisch bin ich auch nicht. Ich bin dein Hodscha, und ich sehe es als deine Pflicht an, daß du für mich nach einer gefälligen jungen Braut Ausschau hältst. Was? Wie stellst du dir das vor? Dünne Fesseln soll sie haben, aus gutem Hause kommen und frei von Damenbart sein. Blond ist besser als brünett, aber daran soll es nicht scheitern. Hodscha, Moment mal, ich kann doch nicht herumgehen und meine weiblichen Bekannten fragen, ob sie sich von einem Hodscha ehelichen lassen wollen, der zudem schon verheiratet ist … - Es bedarf eines diplomatischen Geschicks. Und überzeuge sie davon, daß ich ohne Zuhilfenahme von Aufputschmitteln meinen ehelichen Pflichten nachkommen kann. Das geht nicht, das kann ich nicht machen. Wieso nicht? - Wir leben hier in einem anderen Kulturkreis. Der Mann darf der Frau nicht das Gefühl geben, daß er sie nur zum Reinhau …, ja zum Reinhauen benutzt. Du haust doch auch mit deinen vielen Freundinnen rein, oder nicht? Alle Kulturkreise hauen rein, also erzähl mir nichts. Hodscha, mein lieber Hodscha, erstens: ein Kuppler bekleckert sich hier nicht unbedingt mit Ehre, es gilt als unanständig, Menschen zusammenzuführen, weil, zweitens: jeder viel Wind macht wegen seines freien Willens. Man kann die Leute nicht zu ihrem Glück zwingen. - Das sind alles faule Ausreden. Du gönnst mir wie Dschavit mein kleines Glück nicht. Ich glaube, deine Bilder sind 36

Selbstporträts, du bist nämlich ein besessener Wald- und Wiesenkauz, der die Leute in die Nase und die Hinterbacken kneift. Ich kneife niemanden in die Nase. Wieso willst du dann nicht einem reifen Mädchen gut zureden. Du bittest sie einfach, sie soll sich ihr eigenes Bild von mir machen, sie soll meinen Mokka trinken und meinetwegen ihre Bedenkzeit haben. Da hast du den freien Willen. Ich blamiere mich. Du handelst gottgefällig, allein das zählt. Ich kann das nicht machen, tut mir leid. - Auch dir gebe ich Bedenkzeit. Ich bin tolerant, die Zeiten ändern sich, und ich gehe mit der Zeit. Also ziere ich mich auch nicht vor der Bräutigamschau. Ich muß jetzt aufbrechen, sonst komme ich zu spät zum Nachmittagsgebet. Gottes Segen. Mit flatternden Rockschößen eilt er zur Gemeindebetreuung. Der Fünfzigmarkschein, den er diskret auf dem Tisch zurückgelassen hat, soll mich anspornen bei der Suche nach einer geeigneten Bettgespielin. Vielleicht mache ich mit bei diesem Spiel, achte auf meinen Vorteil, rühre aber bestimmt keinen Finger. Es sollte mir doch leichtfallen, ihn eine Weile hinzuhalten und eine Art Vergütung einzustreichen. Paradies der Parasiten. Die Drogenethnos bilden eine freundliche Menschenkette, die Schwarzen sind geradezu rührend, beim Verkauf der in ihren Mundhöhlen versteckten Rauschkugeln geht es fast familiär zu. Sie sind auf der Hut, ein jeder hat sich an der Verkaufsfront bewährt, ein jeder steht vom Passantenstrom zurückgezogen vor dem Seiteneingang in einen Hinterhof. Ein sehr junges Talent ist dem Straßenabschnitt zugeordnet, der auch das Haus einschließt, in dem ich wohne. Er gefällt mir, er straft jeden Volkskundler 37

Lügen, der glaubt, der Afrikaner habe Rhythmus im Blut, es sei seine Natur. Dieser Afrikaner aber betreibt seine Geschäfte wie ein humorloser Zöllner, er weicht keinen Zoll von seinem Platz, seine prallen Hamsterbacken entspannen sich im Laufe des Tages. Im Augenblick greift er in seinen Mund, ein verlotterter Stammkunde hat ihm zuvor recht indiskret die dreifach gefalteten Scheine in die Hosentasche stecken wollen und sich eine heftige Ohrfeige eingefangen. Er muß warten, hier wird nach Vorschrift bedient. Der Afro ist sehr talentiert, findest du nicht auch? Schade, daß ich kein Junkie bin. Sonst würde ich mich gerne von ihm dazu überreden lassen, meine Schuld in Quickficks abzuzahlen. Du kennst einfach keine Scham. Komm mal her. Ich trete vom Fenster zurück, wirklich schade, daß ich den Crackmassai nicht weiter beobachten kann, dabei ist er einer meiner Lieblingsausspähobjekte. Die Kunstfotze betrachtet sich zufrieden in ihrem Kosmetikspiegel, nach der Begrüßungsfummelei wollte sie unbedingt ihre Augenbrauen zupfen, so lange, bis der hastig geschnupfte Koks auf ihren Unterleib zu wirken begann (in ihren Worten: Ich warte, bis Goebbels mit der Peitsche knallt). Es ist soweit, ich muß meinen Dienst antreten. Ich frage mich, wie sie es schafft, sich dermaßen schnell und unspektakulär zu entkleiden. Ihr verschmocktes Wohlwollen leidet zwar am erstbesten Hausierer, aber ihre Intimitätsschwelle ist sehr niedrig, und deshalb gilt sie in der Szene als ein nichtbürgerliches Geschöpf. Ich muß sie beleidigen, ihr Happening war eine Falle, die verseuchte Songül hat mir eine geklebt, daß mir übel geworden ist. Wann beginnt ihr Kampf gegen den unweigerlichen Tod? Bald werden sie und Rinni soviel Gewicht auf die Waage bringen wie die beiden fetten Oberschenkel der Kunstfotze. Schöne Vorstellung. 38

Das hier sind Cool Oral Care Strips. Frisch aus den USA importiert, hier sind sie noch nicht im Handel. Kannst du mir folgen? Slipeinlagen? Schlechter Scherz, aber nah dran. Was ich in Händen halte, sind Pfefferminzblättchen für den starken Raucher. Ich rauche nicht. Ich weiß, Herzchen. Du wirst trotzdem drei Mintblättchen auf der Zunge zergehen lassen, dann werden wir beide eine Minute warten, und schließlich wirst du mich lecken, und zwar heftig. Wir überspringen einfach die Phase 1 der zärtlichen Zungenmassage. Bist du bereit? Gib schon her … Sie zieht drei Blättchen aus dem kleinen Plastikspender, ich lege mir die Folien auf die Zunge, und der scharfe Mintgeschmack treibt mir Tränen in die Augen. Die Kunstfotze hat ihre Schenkel geöffnet, die Schamlippen zieht sie langsam auseinander, achtet aber genau darauf, keine unnötige Aufregung aufkommen zu lassen. Sie nickt mir zu, die Minute ist um, und also falle ich vor ihr auf die Knie, nicht ohne die Hose hochzuziehen, damit sie später nicht beult. Ich lege beide Hände auf ihre Oberschenkel, mein Kopf plumpst schwer auf ihren Bauch, aber unserer beider Deckung ist aufgerissen, und derlei kleine Patzer haben keine Bedeutung. Ihre Spalte verschwimmt zu einem Schmutzfleck, ich fürchte, ich bin weitsichtig. Ich bette mein Gesicht vorsichtig auf ihren Fingerknöcheln, strecke die mintbetäubte Zunge heraus und lege los, wobei ich, wie es sich gehört, Geräusche von mir gebe wie ein Kater beim Milchschlürfen. Rauf und runter, und um die angeschwollene Jadepille herum, in kleiner werdenden konzentrischen Kreisen nähere ich mich ihrem Altweiberkitzler, den ich kurz und scharf durch die Schneidezähne ansauge. Der Kunstfotze brennen die Sicherungen durch, sie jault tief aus den 39

Eingeweiden und stößt ruckartig ihr Becken hoch, daß ich vor Schmerz zucke: meine Nase reagiert nach Songüls Hieb empfindlich auf jede Art von Berührung. Mir fällt ein, daß ihr Name »Die letzte Rose« bedeutet, sie war also schon gezeichnet, bevor sie mit dem Liebeskeim verseucht wurde. Welch eine Gemeinheit! Sie wird wahrscheinlich sterben und mir durch die Lappen gehen, und die Wut darüber peitscht mich in die Gegenwart zurück. Ich bin wohl ein bißchen aus dem Takt gekommen, und meine Domina faßt mich am Zopf und gibt mir durch Ziehen und Drücken den Rhythmus vor. Ihre Möse ist glitschig, ich will ihren vergorenen Saft nicht schlucken, und er rinnt mir an den Mundwinkeln vorbei zum Kinn. Ihr Fuß klopft immer wieder gegen den Schlafkarton von Mongo-Maniac, die ich ihr verschwiegen habe. Sie könnte eine kranke Liaison konstruieren, außerdem geht es sie nichts an, ich wünschte, sie stürbe auf der Stelle, und ich würde sie in einem Umzugskarton verscharren und in der Nähe der Mülldeponie im Industriegebiet aussetzen. Die Schweine leben länger, die Verdorbenen steigen auf wie Wasserleichen. Meine Zunge schmerzt an der Wurzel, und zu meinem Entsetzen fange ich an, aus der Nase zu bluten. Aber ich darf nicht aufhören, die Kunstfotze ist nachtragend, außerdem fehlt zu ihrem billigen Filmorgasmus nicht viel. Fünf Minuten höchstens, wenn ich mich anstrenge weniger. Ich lege mich ins Zeug, sie zappelt und quält mich, meine Nase, meine Zunge. Jetzt beiße ich sie und werde grob, ich vergrabe meine Zähne in ihren Schamlippen, mein Haß fährt ihr in die Glieder. Sie ist verzückt, sie ist stolz auf ihren Lecklehrling. Hat sie nicht Geld und gute Worte investiert, um mich abzurichten, den leicht verdorbenen Malerkollegen? Manchmal bewundere ich sie wegen ihrer Fähigkeit, die Menschen nach ihren Handlangertalenten richtig einzuschätzen. Meistens aber bin ich froh, daß es vorbei ist, daß ich wieder aufstehen und meinen Mund ausspülen kann. Eine banale Verrichtung im Anschluß, und ich bin wieder soweit hergestellt, 40

daß ich mich von Obsessionen fernhalten kann. Das Porzellan des Waschbeckens ist von einem vertrübten Kalkbelag überzogen, in den Bartstoppeln und undefinierbare Partikel eingebacken sind. Man könnte sich die Zeit damit vertreiben, Phantasiegebilde hineinzuimaginieren. Zwei Lichtreflexe vom Modeschmuck der Kunstfotze springen auf der Wand über der Zahnbürstenablage hin und her. Ich habe für ihre Verhältnisse viel zu lange geschwiegen, das darf sie nicht länger zulassen. Es geht das Gerücht, daß dein Mann über uns beide Bescheid weiß … Ich weiß, was du von Torri willst. Er hat Kontakte, er kann dich einigen Galeristen vorstellen, also darfst du es dir mit ihm nicht verscherzen. Du solltest den Einfluß von Torri nicht überschätzen. Er wird dir so schnell keine Ausstellung verschaffen. Bilder müssen verkäuflich sein, und wenn sie das schon nicht sind, wenigstens genial. Dein Zeug ist ganz passabel … Abgesehen davon ist Torri gerade bei Rinni und fickt sie. - Das kann doch nicht wahr sein. Sie ist sechsundzwanzig, modisch magersüchtig und damit dünn. Er ist 38, er ist mit einer reifen Frau zusammen, weil er sich in der Gesellschaft älterer Frauen wohl fühlt. Zwei einfache Menschen, ein Bett. Ihr führt also eine offene Beziehung, wie nett … Was verstehst du schon davon? Oder bist du eifersüchtig? Keine Spur. Wie kommt er eigentlich zu seinem bescheuerten Kürzel? Theodor Oswald Richard Rommersbach. Seine Eltern sind katholisch. Das letzte Initial habe ich ihm verpaßt, weil ich ihn in gewisser Weise niedlich finde. Und wie nennt er dich, wenn ihr allein seid? Doch nicht etwa Kunstfotze, oder? 41

Mein Häschen, oder Mein Schatz. Donnerwetter, er muß dich ja wirklich lieben. Er sucht den gepflegten Umgang. Außerdem bin ich dabei, ihn darauf zu dressieren, daß er mich bei meinem Künstlernamen ruft. Das kannst du von ihm nicht verlangen – Mein Kunstfötzchen, reichst du mal bitte das Zuckerdöschen rüber? Oder, noch besser: Kunstfotze, da ist ein Einschreiben für dich, du mußt die Annahme quittieren, der Herr Briefträger hat es etwas eilig … - Er sträubt sich tatsächlich dagegen. Ich bin erstaunt darüber, daß sich Männer so genieren. Tu doch nicht so aufgeklärt. Mit Scham hat es nicht zu tun. Es ist einfach lächerlich. Ach was. Ohne PR läuft heute gar nichts. Je mehr Leute von mir als der Kunstfotze Bescheid wissen, desto besser für mich. Ob Briefträger oder Kunstkritiker, mein Name muß für alle Volksschichten eingängig sein. Hört, hört! Spar dir deine dummen Bemerkungen. Du hast mich schließlich gefragt. Ich habe mir den Namen übrigens patentieren lassen. Nein! Doch, Schätzchen. Du weißt doch: 1 % Talent, 99 % Sendungsbewußtsein! Jedenfalls habe ich nie daran geglaubt, daß ich mit minimalistischen Farbkompositionen großes Aufsehen erregen werde. Du spielst doch nicht etwa auf meine Bilder an? Wieso kaprizierst du dich überhaupt auf Farbe auf Leinwand? Ich verstehe es nicht. Soll ich etwa wie der Exilperser Monitore begaffen lassen, auf denen Perverse vor sich hinwichsen? 42

Sag das mal nicht zu laut. Sonst halten die Leute dich für einen Heterospießer. Ist mir doch egal. Mein Gott, wie scheißtolerant seid ihr doch alle. Ich lasse es nicht zu, daß mich Schwule und Lesben mit ihren Ausflüssen bespritzen. Hauptsache Ausscheidung und Blut. Da könnte ich ja kommen und eine öffentliche Massenbeschneidung als ganz dufte Performance verkaufen … Großartig! Was heißt das? Mein süßer Barbar, du bist da zufällig auf etwas gestoßen, das dich über Nacht zum gefeierten Star machen würde. Eine Massenbeschneidung! Herrlich! Du verarschst mich … Nein, ich meine es ernst. Stell dir das doch mal vor: Du lädst ein handverlesenes Publikum in die Kunsthalle ein, natürlich ist die Presse anwesend, und sie alle dürfen die Beschneidung von, sagen wir mal, zehn Knaben live miterleben. Noch besser: die Beschneidung findet in einem seperaten Raum statt, sie wird über Videokameras in den Zuschauerraum übertragen. Da ist soviel Provokationspotential drin: du erklärst das patriarchalische Fest par excellence zum hotten Event! Du hast sie doch nicht mehr alle. Ein hottes Event! Ich wäre für Jahre die Lachnummer, man würde auf mich zeigen und sagen: Das ist das blöde Schwein! Ich stünde auf der Todesliste von Amazonenbrigaden. Jede fünfte Frau würde davon träumen, mir den Schwanz abzuschneiden. Danke, nein, ich habe andere Pläne für meine Zukunft. Du hast keinen Mumm, und deswegen kommst du auch nicht von deinem Ruf eines Atelierstümpers los. Du tust mir schon ein bißchen leid. Ich will nicht darüber reden, verdammt noch mal. 43

Laß es mich wenigstens weiterspinnen. Du präsentierst dich als Volksaufklärer, du führst ein neues Passionsspiel in Deutschland ein. Eine rituelle Genitalfreilegung löst immense Ablehnungsreflexe aus. Aber es ist dein erklärtes Ziel, den staunenden Gaffer aufs freundlichste zu bedienen. Du setzt auf die Container-Kommunikation, du stellst eine zoologische Situation her … Mir wird schlecht! Deine Forderungen: Fremdheit muß operiert werden, das heißt Ethnochirurgie! Und: Fremdheit muß unterhalten, das heißt Erlebnispark bei freiem Eintritt … Der Koks hat dir das Hirn vernebelt. Sprich doch lieber Carlos an, und schlag ihm vor, daß du ihn und ein paar Drogenzombies ausstellen wirst: Crackhandel live! Wer ist Carlos? Der Drogenneger vor meiner Haustür. Er verscherbelt das Mamma Africa Feeling. Keine schlechte Idee. Aber die Beschneidung ist um einiges provokanter. Du hast da was im Gesicht … Ist es weg? Nein, du hast an der falschen Stelle gerieben. Rechts neben deiner Nase … jetzt ist es weg. Es sah aus wie Schamhaar. Kann gar nicht sein, du hast da unten nur harte Stoppeln. Es war ein Schamhaarkringel. Glaub’ es mir. Eine lose Wimper. Glaub doch, was du willst. Leihst du mir einen Pullover, es ist bestimmt kühl draußen. Willst du deinem Theodor Oswald unbedingt an die Nase binden, daß du bei mir warst? Über zero tolerance sind wir längst hinaus. Ich weiß, wo er steckt, und er weiß, wo ich stecke. 44

Zwei Zweisamkeitsleichen, null Eifersucht. Ich werde jetzt gehen. Ich denke, du findest dich hier zurecht, oder? Natürlich bin ich bereit, mit dir Händchen zu halten, bis du deinen Postcunnilingus-Trübsinn überstanden hast. Post … was? Der Existenzschmerz, der dem Mann das Herz zerreißt, wenn er eine Frau mit der Zunge befriedigt hat. Was für ein Blödsinn … Wieso? Ist genauso wahr wie die Posttranszendentale Faktvision. Also, ich rekonstruiere: Ich spreche mit Rinni, Rinni gibt es an Theo weiter, Theo erzählt es dir … eine schöne Wassereimerkette. Genau, Schätzchen. Was ist mit dem Pullover? Wir machen einen Handel: meine Geschenke gegen deine Leihgabe. Hier hast du ganz tolle Pigmente für deine sensible Malerei. Ich verabschiede sie mit einem feuchten Kuß, ich spucke ihr genüßlich in den Mund, das bin ich ihr schuldig, und sie ist derart hingerissen, daß sie erwägt, für eine zweite Runde hereinzukommen. Gott sei Dank besinnt sie sich noch auf die Vereinbarung, die sie mit ihrem offiziellen Freund getroffen hat. Man vergnügt sich aushäusig, das schon, man kommt aber rechtzeitig nach Hause, um bei einem Whiskey sour den Tag ausklingen zu lassen. Der Familiensinn bleibt von der Libertinage unbelastet. Carlos hat sich gerade gemacht wie ein preußischer Paladin. Er hat entspannte Gesichtszüge und geglättete Wangen: sein leerer Mundraum um diese Uhrzeit zeugt von einem Bombengeschäft. An seiner Stelle würde ich vor Freude kehlige Kriegslaute ausstoßen. Wahrscheinlich hat er sich nach einem kleinen häßlichen Massaker geschworen, nunmehr als ein Mann der Kälte sein Leben zu führen. Vielleicht hat der nicht 45

vollendete Hyänenkopf, von einem Hinterhofritzer in den stahlharten Bauch eintätowiert, mit diesem Schwur zu tun. Der Künstler verstarb leider zwei Tage vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag an den Folgen einer Wochenend-Ecstasyorgie. Auch ich sprach einmal bei ihm vor, das Foto eines frisch eingelochten Knastbruders hatte mich dazu inspiriert, zwei vom Augenwinkel herabfallende Tränen in die Haut brennen zu lassen. Er riet mir davon ab. Gemeinheit sei eine Gottesgabe und dürfe nicht angeschminkt werden, ich habe das auch nicht nötig. Er zitierte aus der Bibel: Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt … und drückte mir die Bestellkarte der Christlichen Schriftenverbreitung in die Hand. Alle sind hinüber, alle sind erledigt, wir haben kleine Handlungsspielräume, der eine stirbt jung, der andere wird alt und bläst sich auf. Aber auf den Drogenafro Carlo setze ich große Hoffnungen: er vergiftet jeden, der bezahlen kann, und er gehört zum Heer der Ausputzer in dieser für immer verfluchten und vergammelnden Metropole.

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MANN UND FRAU, SIE LIEBEN SICH Auf der Staffelei steht ein Querformat, an das ich mich nicht herantraue, das Motiv der quellenden Körper in der Vereinigung, von der sie sich fortreißen wollen, wenn es denn ginge, aber es ist schon zu spät. Ich habe die Haut der Frau mit großen Poren übersät, aus den kleinen Kratern müßte sie schwitzen, wenn es denn ginge, aber der Mann liegt auf ihr wie ein zusammengerollter Teppich und verstopft sie: überall und ohne die geringste Gnade im Leib. Die Rückseiten seiner Beine sind spärlich behaart. In seinen Kniekehlen ziehen sich blasse Wülste dahin, und dann noch blasse Adern des Alters. Die Frau, die er unter seinem Gewicht festhält, hat die Hände verschränkt zum Bittgebet und lächelt klug. Und lächelt listig, vielleicht. Ich kann nicht mehr machen aus dem Gesicht, es würde verlöschen oder eine alberne Fratze zeigen. Schönes Sterben nach teurem Sex. Der Mann und die Frau, sie haben sich bis zum Bühnenrand vorgebumst, und im rechten Hintergrund steht ein schiefer Beistelltisch, auf dem die üblichen Taschenutensilien verteilt sind: eine Zigarettenschachtel, ein Goldfeuerzeug, unbenutzte Kondome, Münzen, Scheine, eine Haarspange, Modeschmuck. Das Bild müßte sich verkaufen. Ich schreibe an der unteren Leinwandkante entlang den Titel: Leichte Verstimmung nach einer normalen Paarung. Den zweiten Titel wische ich mit Pinsel an die Seitenkante: polyphage konstruktion # 1/SB-Organbank. Das dürfte den herumgekommenen Kulturschnüfflern gefallen: Geschlechtsverkehr als Bauart, als Kunst am Organ. Der Künstler bricht in Bereiche ein, die ihn nichts angehen und von denen er nichts versteht. Aber die Begierde, das ist doch eine menschliche Situation, und der Künstler kommt zu seinen Bildern über die professionelle Kälte des Gerichtspathologen. 47

Die Kunstpassanten in der Galerie werden aus dem Häuschen sein, wenn auch der Ausstellungsmacher auf die sexuelle Melancholie dieser Tage eingeht, haben sie, die Kunden und Gaffer, einige schöne Gedanken für ihre Mittvierziger-Krise. Es muß aber ein Titel her, den das einfache dumme Volk auch versteht. Also trage ich eine weitere Markierung ein: Mann und Frau, sie lieben sich. Ich habe mich nach allen Seiten versichert. Die Proleten haben nichts übrig für Vollzugsschwäche, und also werde ich in die allgemeine Konsumflaute hineinplatzen und die Salons mit grellen Alarm-Großformaten dekorieren. Jetzt schon, da nichts mehr geht und nichts mehr drin ist für mich, da man mich fortscheucht wie eine Pferdebremse, spiele ich die Rolle des peripheren Kammerdieners formvollendet. Der tonangebenden Klasse bin ich als Flegel nur dann dienlich, wenn ich einen käuflichen Ausschuß zur Verfügung stelle. Wann werden sie mich kaufen, wann werde ich unentbehrlich sein in ihren Kreisen, wann werde ich an frisch epilierten Beinen von Kuratorinnen saugen können? Seht ihr nicht: ich bin euer Luder? Ich will an euren Hosensäumen kleben wie Gossenkot. Die deutsche Hitze ist unerträglich, die Temperaturen liegen bei fast vierzig Grad im Schatten. Den Hunden geht es ans Fell, die Alten verströmen einen Duft, als würden sie verfaulen: auf Wachtelbeinen schleppen sie ihr aufgeblähtes Gekröse zum Schnapsimbiß und werfen infame Blicke auf die mobileren Menschenmassen. Die führenden Bürger lassen sich nicht blicken, sie haben die Stadtmitte dem unmaßgeblichen Personal übergeben, für die Dauer der heißen Stunden, gegen Abend werden die wahren Herrscher zurückkehren. Die Sozialschlachten dauern an, rund um die Uhr. Ich stehe nicht zurück, ich habe sogar in meiner Güte MongoManiac mitgenommen, meine völlig ausgelaugte Untermieterin, die kranke Heilige der Kartongrotte. Das tote Herz. 48

Sie stahl sich wie erwartet in mein Zimmer, den Riegel an meiner Seite der Toilette habe ich abmontiert. Denn es hat keinen Sinn. Nichts bekommt einen Sinn dadurch, daß ich ihr meine Privaträume verweigere. Meinetwegen kann sie mein Geschirr und meine Wäsche benutzen, die Pigmentkörner fressen und dann verrecken. Ob sie Holzsplitter von ihrem Kreuz schneidet und so viele in ihren Rachen schiebt, bis sie endlich erstickt – oder sich an meinen Farben vergeht –, es geht mich nichts an. Sie hat sich mir angeschlossen, wahrscheinlich weil sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen weiß. Es wird sie nicht umbringen, wenn wir beide konsumieren gehen, schließlich soll Einkaufen einen heilsamen Einfluß auf miese Charaktere entfalten. Die Bellealliancestraße wird von alternativen Deutschen bevölkert, die über ihr entspanntes Verhältnis zu ausländischen Drogendealern viele Worte machen. Ein wahrhaft klingender Name: Bellealliance. Um einen stillgelegten Springbrunnen hat sich eine Gruppe von Zigeunermüttern gruppiert, sie schnattern laut durcheinander und haben keinerlei Bedenken, daß man sie verstehen könnte. Ein Bengel fuchtelt mit einem Mehrzweckkampfstab, unsere Blicke treffen sich, ich wende den Blick feige ab. Ich möchte ein unnützes Kleidungsstück im Designshop für Aufmüpfige über Dreißig erstehen, der Laden heißt »Jungblut (!)« und gehört einer Papierpussy aus der jungen, unheimlich fröhlichen Spießerkaste Berlins. Sie kennt mich flüchtig, wir hatten uns auf einer Fete heftig befummelt, sie hatte mir ans steife Glied gefaßt, aber bald jegliche Lust an der Kopulation verloren. Mongo-Maniac würdigt sie keines Blickes, für mich hat sie nur einen einsilbigen Gruß reserviert. An den Kleiderstangen hängt die zweite Wahl der Textilavantgarde, die Stoffe sind absichtlich zerschlissen und zerschlitzt, Ghettomode, wie sie nur Bürgertöchter ersinnen können. Den Schaufensterpuppen sind die Köpfe abgeschraubt, sie dienen im Ladeninneren lediglich der Dekoration. 49

Sucht ihr irgendwas Bestimmtes? Nein, wir schauen uns um. Oder, warte mal, ich möchte meiner Freundin ein T-Shirt schenken. - Ach, du hast eine neue Freundin. Das ist nur so dahergesagt. Sie ist eine gute Freundin von mir. Geht mich ja nichts an. Wir haben neue Ware reinbekommen. Echte Feger. Paillettenlettern auf Zebraimitat. Wirklich schrill. Gefällt dir so was? Ich glaube, sie zieht lieber schlichte Sachen an. Sie kann doch für sich sprechen, oder? Sie möchte sich nicht an unserer Unterhaltung beteiligen. Sie überläßt es mir, sie vertraut ganz auf meinen Geschmack. Ihr seid ja ein komisches Pärchen. Also, dort rechts im Regal sind die eher zeitlosen Shirts, wenn du verstehst, was ich meine. Schaffst du es allein? - Ich komme zurecht, ja. Vielleicht war es kein guter Einfall, Mongo-Maniac mitzunehmen, sie hat sich in die Sitzpille gezwängt und mustert die nackten Waden eines Kerls in Bermudashorts. Der anschwellende Lärm von Streitenden in einer unverständlichen Sprache treibt mich vor die Ladenschwelle. Als erstes fallen mir die schwarzen Möpse auf, die sich immer wieder zu kleinen Pulken verknäulen und auseinanderkläffen, und anstatt sie mit Fußtritten zur Ordnung zu rufen, läßt man sie gewähren. Im Zentrum einer Menschenmenge fallen zwei Frauen übereinander her: die Dickere der beiden faßt sich plötzlich an die Blusenkragen und reißt sie heftig an den Nacken, daß die oberen Knöpfe abspringen. Ihr hautfarbener Büstenhalter kommt zum Vorschein, die Männer lachen derbe auf. Die Dünne hatte bislang den Nachteil, nur mit einem Arm schlagen und abwehren zu können, im anderen hielt sie ihr Kind fest. Nun 50

setzt sie aber ihren Säugling als Kampfwaffe ein, sie benutzt seinen Kopf als Prügel, so daß die Dicke überrascht zurückweicht. Ich wende mich zur Papierpussy, sie ist mir nach draußen gefolgt und hat den Schlagabtausch ohne jede Gefühlsregung verfolgt. Hast du das gesehen? Nichts Besonderes. Wenn du wie ich zehn Jahre in diesem Viertel wohnst, überrascht dich gar nichts mehr. Die Zigeunerclans liegen miteinander im Streit. Ich warte eigentlich darauf, daß sie sich eine blutige Schießerei liefern. Verdammt, die Frau hat mit ihrem Baby auf die andere eingeprügelt. Die Männer hocken in der Wohnung, sie reißen die Fenster auf und drehen die Lautstärke bis zum Anschlag auf. Der Hausmeister ist ein junger Türke, er sagt, er kann absolut nichts machen, er hat Angst vor den Bagaluten … Sie lassen aber wenigstens dich in Ruhe, oder? Was, wenn nicht? Willst du deswegen eine Bürgerwehr hier aufmarschieren lassen? Das ist nicht der Punkt. Ich finde, das alles geht zu weit. Diese Menschen kennen die zivile Situation nicht, wie wir sie leben. Vielleicht ist es eine Frage der Zeit, bis auch sie sich mit den Verhältnissen arrangieren. Du redest geschwollen daher. Nein. Die Natur fordert eben ihr Recht. Du meinst, die können nicht anders, als sich ihr Recht mit Faustkampf zu erstreiten. Die Kinder sind ihr Eigentum, also können sie darüber bestimmen, ob sie sie zum Niederknüppeln zweckentfremden oder nicht. Du suchst wieder einmal Streit. Ich finde diese Sitten ja auch eigenartig. Da müssen sich eben einige gewaltige Zivilisationslücken schließen. 51

Und was, wenn nicht? Kann mir ja egal sein. Was, wenn die Barbaren beschlossen haben, an ihrer Barbarengewalt festzuhalten? Kinder zum Betteln zu schicken, sich gegenseitig anzubrüllen und lustlos zu ficken, gerne ohne Kondom und ohne Vorspiel? - Herrlich. Du wohnst nicht hier, du glaubst aber mir, einem quasi Alteingesessenen, eine Lektion über fremde Gebräuche erteilen zu können. Hallo du, du kannst ruhig mithören. Was ist nur mit deiner Freundin los? Ist sie taubstumm oder was? Nein, vielleicht ein bißchen. Sie kann auf sich aufpassen. Toll. Ich will dir mal was sagen: wir kennen uns alle hier im Viertel, verstehst du, und wir lieben uns nicht, wir gehen uns nur aus dem Weg. Friedliche Koexistenz oder so was. Wieso lasse ich mich überhaupt auf ein Gespräch darüber ein? Kann mir doch egal sein, und dir auch. Ich halte die Augen auf, bin neugierig, will wissen, was aus dem Ruder läuft. Einer von denen hat mir mal im Vertrauen gesagt: ›Ich verstehe euch nicht. Wieso schlagt ihr uns nicht? Wieso laßt ihr euch das gefallen?‹ - Sie prügeln sich gerne. Papierpussy hat nichts verstanden. Die Zigeunerjungs wären längst in ihren Laden eingebrochen, hätte sie nicht Schmuddelware im Angebot, die zu sehr an Unterschichtstextilien erinnert. Bedruckte Rippunterhemden, zu Miezenröcken umgeschneiderte Bundeswehrparkas, Straßcolliers mit einer ausgeflippten Metallschließe in Kakerlakenform, Männerohrringe aus Neonplastik, LederGlobetrotter, Filz-Bandana-Kopftücher, Umhängetaschen aus Eidechsenleder. Glamour für Kiezstars. Sie ist doch nur eine 52

mickrige Unternehmerin, und es würde ihr bei Gott nicht schwerfallen, ihre Ideen und Konzepte an einen Konfektionsgroßhändler heranzutragen. Ihr Leben stinkt. Dort draußen verläuft eine sichtbare Grenze zwischen den Ethnoclans und dem Laufsteg der Milchkinder, die sich weit weg vom Kinderzimmer an dem Alltagskitsch ihrer Eltern begeistern. Und ich wähle aus ihrem Angebot eine »zeitlose« Bluse ohne Ärmel, lasse sie vor den Augen MongoManiacs als »super« Geschenk einpacken und rühre den frischgebrühten Kaffee nicht an. Kaum sind wir draußen, geht der Streit wieder los, diesmal rühren sich die Männer, sie formieren sich zu zwei Reihen und fluchen ihre Dämonen aus dem Leib. Ihre Männlichkeit widert mich an. Glut. Glaube. Plünderung, das ist alles, das ist ihr verdammter Ehrenkodex. Mongo-Maniac lasse ich nicht aus den Augen, der Messerstecher-Bengel schnürt lächelnd heran, es könnte sein, daß er an einem Eindringling in sein Viertel ein Exempel statuieren möchte. Ich würde ihm mit größtem Vergnügen an die schmutzige Kehle gehen, aber nicht jetzt, bloß nicht. Reinheit und Verführung, ich murmele die Worte vor mich hin, während ich mit dieser kranken Kreatur, die ganz bestimmt Hilfe benötigt, zumindest eine kalte keimfreie Pflege, den Heimweg antrete. Sie hat das Geschenk angenommen, vielleicht schneidet sie die Bluse in Streifen und wickelt einen Verband um ihren Kopf. - Gut, ich verstehe dich, du hast dich zurückgezogen, du willst die Wärme deiner inneren Organe spüren, du willst ganz nah an deinen Eingeweiden sein. Du klagst sie alle an: den Markt, die Spießer, die Opportunisten und so weiter. Sie kotzen dich an, sie haben sich arrangiert, und du hast dich dazu entschlossen, es denen zu zeigen. Protest durch Normbruch. Kein Understatement. Du boykottierst sie alle: die Lehrer, die Kinderficker, die schlauen Alphabeten. Die leben ewig, und 53

wenn sie krank sind, gehen sie zum Arzt oder auf Kur, und schon können sie wieder an ihrer Arbeitsstelle sitzen. Die werben nur für sich, und sie kommen zu dir und empfehlen: die kompetente Nutzung aller Kanäle, das ist die Schlüsselqualifikation. Sie verschicken Werbebroschüren, du schlägst sie auf und liest: Unser Finanzierungsangebot: 1,9 % effektiver Jahreszins. Keine Bearbeitungsgebühr. Nutzen Sie die Vorteile unserer Kundenkarte! Bargeldlos, bequem und flexibel einkaufen! Wir gewähren auf alle Produkte 2 Jahre Garantie! Und hier ein kleiner Auszug aus unserem Warensortiment! Dann liest du: Mit unseren Anlagekonzepten haben Sie die richtige Vermögensstrategie, mit der Sie Ihre Vermögensziele erreichen. Ich kenne mich darin aus, ich weiß, wie dir zumute ist. Du hast einfach die Leitung zur aggressiven Außenwelt gekappt. Das ist fortgeschrittener Zen. Ich kenne einen Typen, der drückt die weggeworfenen, noch glühenden Kippen nicht aus, aus Angst, die Ledersohlen würden sich schneller verbrauchen. Unsinn alles! Du brauchst keine Legitimation, du hast dich der Depression kampflos ergeben. Die Leute können keine zwei Minuten genial sein, den Rest des Tages sind sie schlechtes Mittelmaß. Doch du, ja du, bist superlativisch, du willst nicht als Suppenwürfel enden, eine krankhaft übersteigerte Phantasie vielleicht, das könnte dein behandelnder Doktor in deinen Patientenbericht eintragen, aber sei’s drum. Was zählt das schon? Du oxidierst, ich oxidiere, kaum kommen wir mit Sauerstoff in Verbindung, laufen wir grün und blau an, und wo ist die Reinheit geblieben? Du hast die Argumente auf deiner Seite. Ich gebe dir recht: die Arrivierten verfaulen am eigenen Leib, und lieber will man Prolet bleiben, ein Prolet ohne Bildung, ein Prolet ohne Manieren, lieber ein Prolet als ein Schwätzer. Aber, und nun kommt die Einschränkung, wieso dagegenhalten? Was hast du von deiner radikalen Gesinnungstat? Ich sehe schon, es fiel dir nicht leicht, ich meine, 54

der Rückzug in deine Umzugskiste, dort bist du mit deinem Dachschaden allein, niemand kann dir Vorhaltungen machen. Die körperliche Verwahrlosung, alles klar, kenn’ ich, du hast von einem Tag auf den anderen beschlossen, deine Zähne nicht mehr zu putzen und deine Schnürsenkel nicht mehr zuzubinden. Gesinnungstaten haben keinen Wert. Es ist vorbei, sie haben uns alle eingemeindet und aus uns Reaktionäre gemacht, wir wollten mitspielen, und das haben wir nun davon: wir bilden einen einzigen Opportunistenhaufen. Wenn ich Polizeisirenen höre, weißt du, woran ich denken muß? Die holen Kriminelle ab oder schlichten einen Ehestreit, der ein bißchen ausgeartet ist. Nicht mehr Subversive. Na ja, es gibt immer wieder Razzien, das schon, aber daß der Staat einen gemeingefährlichen Polithaufen bekämpfen müßte, kann man nicht behaupten, die Zeiten sind vorbei. Vielleicht kommen sie zurück, und es ist dann toll angesagt, ein Staatsfeind zu sein. Nur, was hast du davon, jetzt? Nichts, verstehst du. Ich sage dir: Spuck das Wasser aus und komm wieder hoch. Die, lachen doch über deinen blöden Idealismus, die halten dich für voll geschädigt, und damit ist für sie das Thema durch. Oder bist du einfach leidensgeil? Kann ja sein, ich kenn’ dich kaum. Du tauchst unter, weil es ein tolles Gefühl ist, sich rauszuhalten. Nicht mehr ins Bett gehen, wie es normale Leute tun. Nicht mehr Auskunft geben. Keine verdammte Kommunikation. Wenn ich wollte, hätte ich jeden Abend eine Verabredung. Aufregende Leute, neue Bekanntschaften. Cocktails, bunte Pillen, Sex. Wir verjubeln unsere Jugend, und die alten Säcke amüsieren sich darüber. Wieso sterben die nicht weg? Keine Ahnung, wieso die Alten so lange am Leben bleiben? Sie ziehen sich keine Verletzungen zu, sie passen auf, wo sie hintreten, und sie rufen beim geringsten Herzstich ihren Hausarzt an. Diese Leute können den Deckel draufhalten, bei dir ist der Deckel weggeflogen. Das war doch immer so, die einen bleiben unversehrt, die anderen werden krank im Kopf. 55

Vielleicht bist du eine Gefahr für die Allgemeinheit, was weiß ich schon? Vielleicht spielst du nur dein eigenes Spiel und bist nur ein bißchen gaga. Ausgebrannt. Ich erzähl’ dir eine Geschichte. Eine Windhose saugt einen Krötenteich leer, und tausend Kilometer weiter regnet es über einem abgeschiedenen Dorf Frösche vom Himmel. Die Bauern schnappen völlig über. Sie füllen die Kirchen, sie rühren ihre Frauen nicht an, sie halten Ausschau nach dem Antichrist. Sie glauben nämlich, ihr Gott hat das Jüngste Gericht eingeleitet. So einfach. Und dann schreiben irgendwelche Wissenschaftler kluge Essays und analysieren die Religion. Für sie ist es auch so einfach. Dabei geht’s doch nicht um Gott oder nicht Gott, es geht auch nicht um kühne Marktanalysen. Nein, verdammt noch mal. Im dunklen Keller hat doch jeder Angst. Die Barbaren sind vielleicht Barbaren, aber es ist gut so, ihr Gott hat nicht sie auserwählt, sie müssen auf dem Feld schuften und den Mund halten, und sie kriegen einen krummen Rücken und sind irgendwann tot. Mehr kriegen diese Leute nicht zu sehen. Aber stell dir vor, an einem stinknormalen Tag regnet es Kröten vom Himmel, das ist ein einmaliges Ereignis, sie lassen Pflug und Maulesel stehen und rufen ihre Ahnen an, sie mögen doch bei wem auch immer Fürsprache einlegen. Sie heulen vor ihren Hausaltären, sie rühren auch die Mägde nicht mehr an, die Alte Welt und das Alte Leben kehren zurück. Sie brauchen keine Klugscheißer, die ihnen erzählen, daß es keine Erlösung gibt. Darin kennen sie sich bestens aus, in der Qual meine ich, sie haben ihr ganzes Leben damit verbracht, sich und andere zu quälen. Aber plötzlich winseln sie vor der Madonnastatue um Errettung. Tolle Effekte! Ich sage dir, das einzige, was zählt, ist der Jahrmarkt, die außergewöhnliche Attraktion. Wenn du in deiner blöden Grotte dahinvegetierst, träumst du schlecht, und du steckst auch die Leute mit deinen Alpträumen an. Es läuft darauf hinaus, daß man dich meidet. Ich kenne dich nicht, vielleicht gefällst du dir auch in der Rolle 56

der Aussätzigen. Aber, verdammt noch mal, werde doch bitte etwas normaler, nur ein bißchen, ich bitte dich … Mongo-Maniac geht neben mir her, ich habe sie angesehen, während ich sie beschwor, ein wirkliches richtiges Lebenszeichen zu geben, ich habe sie versehentlich berührt in meiner Wut, mein Unterarm streifte ihren nackten Arm, und sie ist zusammengezuckt, als sei ich ein Tier, das in seiner Maßlosigkeit gefangen, seinen Hunger nicht stillen kann. An ihrem Handgelenk entdecke ich frische Schnittspuren. Was nur ist in mich gefahren, daß ich derart mundschänderisch überkochen konnte? Sie bleibt stumm. Sie hat mir roten Hummerrogen mitgebracht. Ich bin nackt, sie bindet mir einen gestärkten Hummerlatz um und füttert mich mit der Hand. Ihre Finger bilden eine Schaufel, den Daumen benutzt sie, um den Brei zu den Fingerspitzen vorzustreichen. Es ekelt mich, ihr Hang zur Sexinszenierung widert mich an, ich empfinde nichts außer dem starken Bedürfnis, mein Geschlecht vor ihr zu verbergen. Ich will mich setzen, aber sie schüttelt den Kopf. Sie hat diese Szene genau durchchoreographiert, ich darf nicht aus der Rolle fallen. Ich weiß, daß sie sich mit ihrem kaltschößigen Lover Videofilme anschaut, sie sitzen wie zwei erniedrigte Kreaturen auf der Couch und schnaufen auf, weil ihnen wegen ihrer Versautheit die Luft wegbleibt. Jetzt füttert die Kunstfotze mich, ihr Standbild, das schöne Lebendgewicht. Ich mag nicht aufsehen, heute ist für sie ein ganz besonderer Tag, und sie hat die falschen Unterlidwimpern an ihre Jochbögen geklebt. Sie experimentiert mit Geschlechtsmerkmalen, wie sie mir einmal verraten hat, es zieht sie zu den Transvestiten, die ihr ganzes nichtsnutziges Leben todesgefährdet sind. Was sie von den Lesben unterscheidet, weiß sie nicht genau zu sagen. Mösen 57

leckt die Kunstfotze in Ausnahmesituationen. - Hat es dir geschmeckt, bist du satt? – Ja. Willst du eine Nachspeise? Ist mir egal. Ich friere, ich hole mal den Morgenmantel. Nein, bitte, laß das. Du willst mir das Spiel verderben. Es ist kalt hier, mein Gott. Ich laufe dir schon nicht weg. Du sollst hierbleiben. Setz dich. Setz dich doch bitte. Du kannst dich auch hinknien. Was dir lieber ist. Es ist mir kalt. Wir können das Spiel gleich fortsetzen. Ich will mich nicht anziehen, ich streife mir nur schnell den Morgenmantel über. Ist es dir peinlich? Wir haben es so oft gemacht, es ist nicht das erste Mal. Außerdem habe ich abgeschlossen. Leck mir den Hintern! Und sie dreht sich um und wartet, daß ich ihr den Rock herunterreiße, daß ich den Tangaslip aus ihrer Pospalte herauslutsche und durchbeiße, daß ich sie mit meiner Zunge verrückt mache. Es erregt mich. Der Rücken alter Frauen ist nicht so furchteinflößend wie ihre Fassade, und ich kann die Augen schließen und hoffen, daß sie nicht über die Schulter späht. Sie haßt die Vorstellung, der kopulierende Mann könnte ihren Anblick verschmähen. Sie hat alle Lichter angeschaltet, sie steht schließlich auf der Bühne. Ich lasse mich auf die Knie nieder und beiße ihr durch den Stoff in die Backen. Sie quiekt wie ein verschrecktes Schulmädchen, sie kann ihre Stimme verstellen, das gehört zum Programm. Ich lecke die Innenseiten ihrer Schenkel, das heißt, 58

ich will es tun und rolle die Zunge reflexartig ein. Ihre Strumpfhose ist statisch aufgeladen und versetzt mir einen Schlag. Sie braucht unbedingt eine radikale Lipidabsaugung, das Strumpfband schneidet tief in die Hüften, es sieht aus, als wüchsen ihr Männerbäuche aus den Seiten. Meine kleine Hingabe an ihr Sitzfleisch, meine ewigen Kußmund-Aufdrücke, mal naß, mal mit trockenen Lippen – es, belustigt sie, daß sie eine Weibeswollust vormachen kann, von der ich nachts träume, allein und nach einer ermüdenden Inspiration. Ich wühle meine Nasenspitze zwischen ihre Pobacken, ein Schwein mit dem Rüssel im Trog. Ihr Rücken durchgebogen, ein stämmiger Rumpf, den ich beidhändig umfange und umschmeichele. Meine Proletenhände pressen und kneten, und ich bin mir sicher, daß die Kunstfotze fasziniert auf sie starrt, sie gibt sich dem eingekauften rohen Mannsbild hin. Soll ich unflätig werden? Soll ich ihren Künstlernamen laut aufsagen? Das Licht läßt keinen wirklichen Willen zur Kopulation aufkommen, wir treiben es nur hinter zugezogenen Gardinen, ein kniender Mann und eine abgewandte Frau, und fast überall, unter den Sitzgelegenheiten, an den Teppichleisten, an den Stuhl- und Sessel- und Tischbeinen, fast überall Staubmäuse. - Leck mir endlich den Hintern! Komm, nimm mich. Sie ist der Zungenspielchen überdrüssig, also reiße ich heftig ihre Hinterbacken auseinander und bohre meine Zunge in ihre Rosette, so tief, wie ich kann und wie es eben geht. Wie geschmacklos. Da sie sich zu keiner Geschmacksrichtung durchringen kann, desinfiziert sie ihre Bikinizone mit einer hautfreundlichen Lotion. Nach jedem Stuhlgang benutzt sie routiniert einen umfunktionierten Deoroller, so flink wie sie ist, dauert es nicht einmal eine Minute, und sie zieht seufzend wie nach Schwerstarbeit ihren Schlüpfer hoch. Der Post-Urin-Tick kommt bei Männern an. Aber ein geschmackloses Geschlecht – ich weiß ja nicht, das würde ich mir als Frau zweimal überlegen. 59

Sie dreht sich abrupt um, ich rutsche ab und kann mich noch zusammenreißen, um nicht auszuspucken. Schön war das, aber mir reicht das soweit. Jetzt bist du dran … sagt sie, nimmt meinen Schwanz in den Mund, ist sehr ungeschickt, beschnittenen Männern darf man nicht in die Eichel beißen, sie sind da sehr empfindlich, sie kümmert sich keinen Deut darum, sie will mich einfach und handwerklich solide befriedigen, ich schließe die Augen, ich stelle mir eine gute Fee vor, und ich brülle ihr, ohne daß sie den Mund aufgemacht und mir drei Wünsche freigestellt hätte, ich brülle ihr im Geiste ins Gesicht: Laß mich bald kommen!, und nach vier oder fünf rohen Stößen in den Schlund der Kunstfotze ejakuliere ich, ja, denn es ist nichts anderes: eine klinische Ejakulation, frei nach Ratgeber. Natürlich hat sie danach Durst, und ich bringe ihr ein Glas Wasser. Es scheint für sie ausgemachte Sache zu sein, daß sie zum Verschnaufen eine Weile in diesem meinem armseligen Milieu bleiben darf, und sie mustert, wie beim ersten Mal, die fertigen und angebrochenen, und allesamt unausgestellten Bilder. Die Stuhlserie gefällt ihr, meine unverwechselbare Handschrift in Rot, Ocker und Altrosa. Hinten Tapete, unten Linol, dazwischen aus der Perspektive gestaucht ein Holzstuhl, weiß. Meine Phantasie reichte zu keiner anderen Komposition damals, und in das Sitzgestell hinein hatte ich auf jedem Bild ein Reptil skizziert. Doch dann übermalt. Dem Feigling verschlägt es den Atem bei allzuviel Symbolen, sie greifen ihn an, treiben ihm die in die Füße abgesackten Hochgefühle in die Lungen, und weil wenig Platz ist in ihm, ist die Hyperventilation sein Mittel, um abzukühlen. Eine unverständliche Philosophie, der meine Künstlerkollegen anhängen, diese Lumpen. Auch die Kunstfotze ist nicht frei davon, die Einflüsterin zu spielen, nach dem handwerklich soliden Sex. Ihr Rock, das sehe ich erst jetzt, ist im Knitterlook gehalten, so braucht sie ihre Zeit nicht damit zu 60

verschwenden, die Falten glattzustreichen. Sie neigt zu Vorsichtsmaßnahmen, zur Prävention und zu kleinen Plänen. Auch wenn sie aller Welt einen ihr eingegebenen Überschwang weismachen will – bevor sie das tut, was sie tut, geht sie ihre nächsten sieben Züge durch. Selbstverständlich bin ich ihr nicht gewachsen, sie verfügt über mein Geschlechtsorgan, meinen Mund, meine Hände. In ihrer Freizeit will sie sich langweilen, will sich herausbegeben aus den Freiheiten, die ihr ohne großes Zutun in den Schoß gefallen sind. Weil ich gerne zicke, weil sie sich ihren kleinen Malerversager mit einer Morgengabe gewogen hält, befriedige ich ihren Luxushang zum Zwang. Auspeitschen lassen möchte sie sich trotzdem nicht, dabei könnte ich ihr wirklich Übles antun. Aus ihrem Discotäschchen holt sie einen Dachshaarpinsel und zwei Pigmentnäpfe und strahlt mich an. Danke. Ich denke, auf deiner Palette fehlt eindeutig das Indigo. Ich hatte schon Entzugserscheinungen, ich habe mir die Bilder angeschaut und gedacht: wo bleibt das Blau, das ich so liebe? Wer bringt es mir vorbei, das Indigo. - Dir fehlt leider das Talent, richtig böse zu sein. Vielleicht bist du ja in mich verliebt, und du steuerst dagegen. - Ach komm, sag’ doch nicht so etwas. Ihr Handy klingelt in einer Tonfolge, die ich aus irgendeinem klassischen Stück kenne, aber ich komme nicht darauf. Sie sieht auf das Display, und ihre Augen nehmen den Glanz eines Frettchenblicks an. Sie bedeutet mir, keinen Mucks zu geben, winkt mich heran, ich presse mein Ohr an ihr hyperdynamisches Modell, aus dem Miguel, ihr auf den Gnadenstand eines Lovers erhobener Latinoboy, mit der Stimme eines Schmierenmelodramatikers spricht. Doch die Kunstfotze will 61

seine Entschuldigung nicht hören. Was interessiert sie, daß er seinen Kummer in Wodka und Rum und Wein und wieder in Wodka ersäuft habe, daß er mit einer mittelschweren Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden sei, daß er überhaupt eine sehr schwierige Zeit durchmache. - Kannst du dir vorstellen, was ich durchgemacht habe? Kannst du vielleicht zur Abwechslung aufhören, dich zu bemitleiden? Du bestellst mich in diese völlig unmögliche Discothek, in der nur Proletenweiber herumhängen, ich muß mich mit dem Barkeeper unterhalten, während du am anderen Ende des Saals einer Schlampe den Arsch tätschelst, natürlich war das nur eine freundliche Geste, ihr Südländer seid einfach nur herzlich und denkt euch nichts dabei … Du hast die Situation mißverstanden, ich … Laß mich ausreden, jetzt reicht es mir, verstehst du. Du hast in dieser Proletendisco eine Show abgezogen. Der DJ spielt dreimal hintereinander »Endless Love«, wie furchtbar, mein Gott, du bittest mich zum Engtanz, und dann sagst du mir, inmitten der Idioten auf der Tanzpiste, du sagst mir: Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich dich noch liebe. Ich glaube, wir sollten Schluß machen … Es tut mir leid, Birgitta … Birgit, ich heiße Birgit! Und weißt du, was mich am meisten aufgeregt hat? Du beendest unsere Affäre und hast dabei eine Erektion! Du drückst mir deinen Ständer in meinen Schritt, und dabei erklärst du in aller Seelenruhe, daß du nach irgendwelchen inneren Kämpfen beschlossen hast, zu deiner Frau und deinen drei Kindern zurückzukehren! Du hältst mich in deinen Armen und sagst: Birgitta, die Verantwortung ruft mich, es war eine schöne Zeit, wir waren ein Dreamteam, doch die Saison für das Dreamteam geht zu Ende. Was für ein Scheiß! Ich wollte nicht, daß es so ein Ende nimmt mit uns! Es tut mir leid … 62

Es tut dir leid? Hach, daß ich nicht lache! Du solltest Manns genug sein zuzugeben, daß es dich kein bißchen interessiert. Ich habe an diesem Abend dreimal geweint, dreimal das Gesicht gewaschen und dreimal mein Make-up aufgefrischt. Es war die Hölle! Ich hatte einen Weinkrampf wie schon lange nicht mehr! Ich habe dich verletzt, ich weiß. Deshalb rufe ich dich an. Ich kann es nicht wiedergutmachen, aber du sollst wissen, daß ich dich sehr sehr sehr gemocht habe … - Miguel, du bist ein Monster. Solche Leute wie dich sollte man einsperren, damit sie nicht das Leben von unschuldigen Menschen ruinieren können. Man sollte solche Männer wie dich erst gar nicht in dieses Land einreisen lassen. Ruf mich nicht wieder an, du Schwein! Und sie beendet das Gespräch, komischerweise tut mir dieser Miguel leid, obwohl er bei Birgit (und nicht Birgitta!) seine Standardnummer durchgezogen hat. Ich ringe um Worte, ich will, daß sich die Kunstfotze zum Teufel schert, oder wenigstens zu ihrem Freund. Sie hat ihn aus ihrem Leben gestrichen. Vorbei mit ihnen beiden, vorbei mit der Liaison, vorbei mit ihm. Wie war ich? Na ja … Ich bin mir sicher, daß sein bescheuerter Freund, der DJ, mitgelauscht hat. Ich gönne Miguel das Triumphgefühl nicht! Jetzt macht er bestimmt ein langes Gesicht. So, bevor ich gehe, möchte ich, daß du mich schleckst, diesmal ist meine Möse dran, darauf bestehe ich!

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ROSA NIMMT EIN FUSSBAD Sie gaben ihr einen ins Schicksal aufscheinenden Namen, eine Übertreibung, wie sie sich bei lumpenproletarischen Familien großer Beliebtheit erfreut. Ihr Name, ins Deutsche übersetzt, lautete: Die Kämpfernaturen. Der Plural sollte Talente wecken und sie aus der Klassenzugehörigkeit lösen, er sollte ihr die Wege ebnen zu einem Ziel, einer gutbezahlten Arbeit, einem warmen, in Pastelltönen eingerichteten Nest. Mit sechzehn hat sie ein Bauarbeiter in den blutigen Wahnsinn penetriert. Eine Woche später sprach sie der väterliche Freund der Menschen an, auch er ein Opfer der Phantasie armer Eltern. Auf meinen Kopf schlägt nur der Fluch Gottes ein, sagte er, er haßte es, Hüte zu tragen. Seine Zunftbrüder zogen ihn deswegen auf, ein Zuhälter, der sich zur grauen Masse der Lohnempfänger in Unterschied setzen will, muß seinen Kopf in den Himmel aufragen lassen. Für die Freier hieß sie, die vom väterlichen Freund Auserwählte, schlicht Rosa. Junges, von Gott abgefallenes Fleisch. Ihr Zuhälter gab sie für eine Armenierin aus, der die Muttersprache von ihren Zieheltern aus dem Leib geprügelt wurde, in ihrem früheren Leben, und jetzt aber, liebe Freunde, schenkt sie euch Lust in tausend Stellungen, die bei euren Ehefrauen zu erbitten ihr euch schämen würdet. Rosa ist keine Latrinendirne, von Anfang an hat man ihr verboten, ihren Unterleib an zügigen Straßenecken zu verkühlen. Sie ist ihres väterlichen Freundes Augapfel, sie zieht die glattrasierten Herren an und hält sich an die Vereinbarung, alle Einkünfte beim Freund abzugeben. Sein Anschauungsunterricht war effektiv, er ließ »eine alte Nummer« kommen: eine vierzigjährige Nutte im Hausfrauenkittel, eine Spezialität des Hauses, es gibt Männer, die zeit ihres Lebens davon träumen, ihre Putzfrau beim Bodenschrubben anzufallen. Nur zeigt ihren 64

Bauch und die Rasierklingennarben am Nabel, Nur wird wieder aus dem Zimmer geschickt, und der Vaterfreund sagt, es sei nun einmal nicht alles Karamel in diesem Leben, er sagt tatsächlich Karamel. Mehr wollte sie mir damals nicht verraten, ich habe sie viermal besucht und mich dummerweise in sie verliebt, als ich ihr in der Konditorei Feuer gab und der Flammenschein ihre Haut um die kleine Nase erhellte. Ich durfte sie auch nie wieder ausführen oder privat treffen, und es wurde mir auch der Eintritt in das Etablissement ihres väterlichen Freundes verwehrt. Er befand, daß die Situation brenzlig wurde, ein junger Freier macht Dummheiten, und heute, nach vielen Jahren, gebe ich ihm recht und würde ihm aus Buße die Hände küssen. Ich habe es verwunden, ich war ja nur in die Idee verliebt, eine blutjunge Nutte, von der es hieß, sie sei Armenierin, kostenlos zur Verfugung zu haben, Liebe ist ein großes Wort. Ich habe sie auf Malkarton gemalt, sie faßt mit beiden Händen ihren kettchengeschmückten Hals, und es sieht aus, als würde sie sich erwürgen, es ist nur ein bißchen Leben in ihrem Körper. Ihre Haltung ist tadellos, ich habe sie nachgehübscht bis auf die Hängebrüste, an denen zwei Igel saugen: zwei Stachelkeulen auf nackter Haut. Sie nimmt ein Fußbad in einem Waschzuber, das Wasser ist in Kobaltblau gehalten. In ihrem Schamhaar steckt ein Plastikkamm, der Griff schwingt zu einem Männerkopf im Profil auf. Im Hintergrund ein aufgeklappter Wäscheständer, auf dessen Leinen zerdehnte Nylonstrümpfe hängen. Die Kunstfotze hat mir versprochen, einen Privatkunden aufzutreiben, der für diese Art der Mädchenmalerei nicht unempfänglich sei. Das großbürgerliche Ambiente spricht Daniel an, bei jeder sich bietenden Gelegenheit ereifert er sich über die Vasallen der Moderne, die auf hohen Barhockern einem halben Gedanken hinterhergrübeln. Daniel ist Volkes Kind und will, nach einigen fehlgeschlagenen Avantgardeprojekten, nunmehr nur noch in den Diensten des Volkes stehen. Doch er vertut sich, wie beispielsweise in der Wahl der Tagescafes und Abendkneipen. 65

Eine Verabredung am frühen Nachmittag ist für einen Menschen von Format eine Zumutung. Ich habe mich trotzdem darauf eingelassen, denn Daniel sprach am Telefon von einem echten Projekt mit der Aussicht auf eine schöne Stange Geld. Sobald ich eintrete, rucken die Köpfe alter Täntchen hoch, meine perfekt gespielte Verachtung scheint ihnen nicht viel auszumachen. Im Vorbeigehen bestelle ich bei der Kellnerin eine Apfelsaftschorle und den Butterkuchen »nach Muttern’s Rezept«. Daniel sitzt wie immer mit dem Rücken zur Wand und hat einen Stapel konservativer Zeitungen auf dem Marmortisch aufgetürmt. Es interessiert ihn nicht den Zipfel einer Schürze, daß man ihm vorwerfen könnte, ein regressiver Idiot oder ein Klumpreaktionär zu sein. Er wartet seit der ersten Stunde unserer Freundschaft auf eine scharfe Rüge, er legt es darauf an, mich zu provozieren, er glaubt, ich sei der letzte lebende Bolschewist auf deutschem Boden. - Ich weiß, was du denkst: Eine Milieukatastrophe! Die mittelbürgerlichen Inzuchtprodukte trinken in dieser besseren Kantine ihren grünen Tee, und du Ärmster mußt dich an diesen Ort herablassen! Aber, nun bist du hier, also setz dich doch bitte. Wir müssen sprechen. Schrei nicht so, das ganze Café hat es mitgekriegt. Na und? Die Leute sollen wissen, daß du, ein vielversprechendes Talent, normalerweise solche Gastwirtschaften wie diese hier nicht frequentierst. Du hast dich nicht verändert. Immer noch der alte Poser und Spötter. Wir wollen uns nicht streiten, ja. Du darfst jetzt nicht gleich hingucken, am Tisch gleich neben dem Eingang sitzt ein älterer Herr bei einem Glas Weißwein … Herrgott noch mal, ich hab’ dich doch gebeten, nicht hinzuschauen, was bist du doch für ein Rüpel. Jetzt weiß er, daß wir auf ihn aufmerksam geworden sind … 66

Da braucht er sich nicht zu wundern. Er trägt ein Toupet. - Haarausfall ist ein Phänomen unserer Zeit. Ich glaube, er hat einen Marder totgefahren, ihm das Fell über die Ohren gezogen und es auf seine Glatze gelegt. Das hat er nicht nötig, bei dem Geld, das er hat. Du kennst ihn? Sagt dir der Name Schirach etwas? Nein. Mein Gott, du kennst Schirach nicht? Gut, ich mache jetzt folgendes: Ich gehe zu ihm hin und sage: Sie heißen Schirach, und mein Freund heißt Daniel, er würde Sie gerne auf den Mund küssen, aber er traut sich nicht so richtig. Schirach sammelt Bilder, er hat seine Erbschaft zu Lebzeiten auszahlen lassen und fördert junge Künstler. Es heißt, er hätte eine goldene Nase und würde nur die Werke von Künstlern kaufen, die im Aufwind begriffen sind. Im Aufwind begriffen. Ja. Die Kunstbörse hält ihn für einen Seismographen. Was er ankauft und an die Wand nagelt, kommt groß heraus. Was wird das hier? Willst du mich ihm vorstellen? Ich habe gehört, deine Ausstellung ist abgeblasen. Ja, verdammt noch mal, das heißt aber nicht, daß ich mich bei irgendwelchen Glatzen einschleime. Natürlich nicht, wie konnte ich es vergessen. Du hast ja deinen Stolz. Dein Mäzen muß erst einmal bei dir vorsprechen, und erst, wenn sich herausstellt, daß sein Geschmack über jeden Zweifel erhaben ist, wirst du ihm eine frühe Skizze aus deiner hochabstrakten Phase überlassen! Ich habe noch nie abstrakt gemalt. - Ist egal, es geht ums Prinzip. Ich mache mir langsam Sorgen 67

um dich. Wir haben uns fast ein Jahr nicht gesehen. Und jetzt willst du mir weismachen, daß du dich in all der Zeit vor Sorge um mich verzehrt hast? Nun übertreib’ doch nicht gleich. Du hast jedenfalls mein Mitgefühl. Übrigens, findest du nicht auch, daß der Schirach mit diesem Bohemeschleifchen um den Hals zu dick aufträgt? Du hast dich tatsächlich mit mir verabredet, um meine Meinung über diesen blöden Schirach einzuholen. Ich fasse es nicht. Wieso bist du eigentlich so gereizt? Jetzt hab’ ich’s: Du brauchst einen zweiten Mann, der dir Rückendeckung gibt, während du Schirach betäubst und in den Kofferraum verfrachtest. Sei nicht albern. Zweite Möglichkeit: Ich verwickele ihn in ein Gespräch über die Newcomer der Szene. Dann kommst du, ich sage: Mensch Schirach, das ist der Aufsteiger vor dem Herrn, den müssen Sie unbedingt haben! Er gibt ein Porträt in Auftrag, drei mal zwei Meter, wir teilen uns das Geld, und alle sind superglücklich. Die schwergewichtige Kellnerin knallt meine Bestellung auf den Tisch, Daniel bringt der Futterneid schier um, ich will nicht so sein und gebe ihm eine Gabelspitze ab. Ich lege den Arm um den Kuchenteller. Bei dem Versuch, einen weiteren Bissen zu wildern, stößt Daniel den Zeitungsstapel um. Es ist ihm peinlich, daß sich die greisen Tanten nach dem Unruhestifter umsehen. Nur der große Gönner Schirach bleibt gelassen. Für die Finanzaristokratie ist es unerheblich, ob sich die Katzen um die Brotbrocken in der Milchschüssel balgen. Daniel, mein Lieber, nichts gegen deine Verstellungskünste, 68

aber glaubst du nicht auch, daß du hier auf verlorenem Posten stehst. Die Damen tuscheln die ganze Zeit, ich bin mir sicher, daß sie dich als infamen Witwenküsser entlarvt haben. Schirach meditiert über seiner Latte macchiato und interessiert sich kein bißchen für deine Sensibilitäten. Was machst du hier, was soll das ganze Theater? Theater, das ist das richtige Stichwort. Mal was von der Tanzwerkstatt Treptin gehört? Treptin? Hört sich für meine Ohren nach tiefstem Ostblock an. Respekt, mein Freund! Tatsächlich liegt das Kaff in Brandenburg, und es ist mir eine außerordentliche Freude, dir mitteilen zu können, daß die fünfzehnköpfige Jury des Treptiner Kunst Konzept Markt mich für würdig befunden hat, die diesjährige Tanzwerkstatt einzurichten. Ist das nicht famos? Du willst mir sagen, nach zehn Jahren und Dutzenden Bewerbungsschreiben hat man sich endlich deiner erbarmt. Letztes Jahr wolltest du Totenköpfe zu einer Pyramide aufschichten, deren Spitze sogar die Kirche auf dem alten Marktplatz überragen sollte. Man drohte dir mit einer Anzeige wegen Menschenverachtung … - Das ist nicht wahr. - Doch, du hast ein halbes Dutzend Leute gefragt, ob sie mit dir nachts auf den Friedhof schleichen und Särge knacken würden. Es hat sich herumgesprochen, und schließlich saßen zwei Zivilbullen bei dir in der Küche und sagten dir, wenn ihnen Fälle von Leichenschändung zu Ohren kämen, würden sie dich abholen und lebendig begraben. Du bist damals mit einer Verwarnung davongekommen. Die ganze Aufregung war doch Teil der Performance. Ich hatte nie vor, eine Schädelstätte zu errichten. Ich habe übrigens dich im Verdacht, du bist es gewesen, der mich bei den Bullen verpfiffen hat. 69

Blödsinn! Wenn du so dämlich bist, den Sohn des Polizeioberrats als Handlanger anzuheuern, brauchst du dich nicht zu wundern, daß die Bullen bei dir anklopfen. Der würde so eine Gemeinheit nicht begehen. Er haßt seinen Vater wie die Beulenpest. Das sagst du. Wahrscheinlich hat er es mit der Angst bekommen und sich an Papis Brust ausgeheult. Schließlich war es auch eine selten bescheuerte Idee. Du hast dich als Mongolenfürst kostümiert und behauptet, du würdest die Barbarenhorden anführen in ihrem Kampf gegen die byzantinische Dekadenz. Daß man dich nicht in die Gummizelle gesteckt hat, grenzt schon an ein Wunder … Ist ja gut. Nun endlich kann ich zeigen, was ich draufhabe. Das ist die Chance unseres Lebens! Unseres Lebens? Du bist hiermit offiziell als Bühnenbildner und meine rechte Hand eingestellt. Natürlich wirst du fürstlich belohnt werden. Alles der Reihe nach. Was hat dein krankes Hirn diesmal ausgebrütet? Weißt du, du solltest dich mir gegenüber eines anderen Tons befleißigen. Ich habe das Gefühl, du nimmst mich nicht ernst. Sei nicht so empfindlich, Mann. Erzähl endlich. Drei Wochen Buto-Workshop, zehn bis zwanzig Teilnehmer, eine ehemalige Russenkaserne als Unterbringung, in der verfallenen Sporthalle finden die Premiere und zwei Folgeveranstaltungen statt. Wir bieten den Butokurs als das ultimative Mittel zur Selbstheilung an und verpflichten die Leute als Statisten für unser experimentelles Stück. Der Eintritt ist frei, also werden wir jedesmal ein volles Haus haben. Hinter diesem Spuk steckt doch bestimmt die saubere OPP 70

TIKK … Sie ist nun mal ausgebildete Butotänzerin, und ich kann es auch ein bißchen. Natürlich bringen wir unser Kulturkapital ein. Wir haben Tanz, wir haben Theater, wir haben Musik und Kunst. Wir leisten richtige Entwicklungshilfe für den Osten … Was springt dabei für mich heraus? Ich kann es dir nicht genau sagen, aber mit tausendfünfhundert darfst du mindestens rechnen. - Du willst mich für einen Hungerlohn engagieren. War schön, mit dir zu reden, Daniel, meine besten Empfehlungen an die Frau Gemahlin. Warte. Ich stocke dein Honorar auf zwei fünf auf, mehr ist nicht drin. Du kriegst kostenlose Verpflegung, du bekommst das Malmaterial gestellt, und du hast endlich die Möglichkeit, deine Kunst einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wann soll die Party steigen? Morgen in zwei Wochen. OPP TIKK hat schon die Anzeige geschaltet, wir beschränken uns übrigens auf den Raum Berlin, ich habe keine Lust, irgendwelche Dorftrampel in die Geheimnisse des grotesken Theaters einzuführen. Wir sind schließlich keine Schaustellertruppe auf Kirmesbesuch. Nun gib mal nicht so an. Bislang hast du dich ja eher als Randalierprofi hervorgetan. Und jetzt packt dich der Ehrgeiz, ein Musical mit Autisten auf die Beine zu stellen. Himmel Herrgott, ich spreche von Buto unter professioneller Anleitung! Hast du je Buto erlebt? - Ein einziges Mal. Deine Angetraute stand am Seeufer, sie hatte mehrere Kleider übereinandergezogen, um sie herum standen ein paar Nackte herum und hoben Hirtenstäbe hoch, und die ganze Deppengruppe »besprach« das Wasser. Die Schaulustigen waren eingeladen, die Augen fest zu schließen und sich im Geiste vorzustellen, daß das Wasser weichen und 71

eine begehbare Schneise freigeben würde. Ich habe auf dem Absatz kehrtgemacht und bin in das Strandcafe rein, um das erlittene Trauma wegzusaufen. Und ich schwor: Nie wieder Buto! Nie wieder Verarschung! Du bist einfach ein schlechter Mensch. Ich war bei der Performance auch da und habe Fotos geschossen. Das Volk war begeistert. Quatsch! Plumpe Sonntagsausflügler haben Kunst erlebt und sich scheckig gelacht. Und weißt du was? Dieser Schirach hat einen mächtig an der Gondel. Wieso das denn nun schon wieder? Erst trinkt er Weißwein, dann Milchkaffee, und jetzt mampft er an seinem Krabbenbrötchen. Das ist eine perverse Reihenfolge. Der kommt doch nur wegen der Krabbenbrötchen her. Alles andere ist ihm egal. Ist er wirklich so reich? Von den Zinseszinsen kann er sich jeden Monat einen Ferrari kaufen. Ach was. Na jedenfalls muß der Mann nicht zum Arbeitsamt. Was ist jetzt, kann ich auf dich zählen? Ich trau dir nicht, Daniel, nichts für ungut und so weiter. Du wirst uns alle in die Scheiße reinreißen. - Ja oder nein? Das kann doch nicht gutgehen … Ja oder nein? – Ja.

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GOURMET IN SOCKEN Die kapitalistische Geste beherrscht sie perfekt: sie pflügt mit dem Arm durch die Luft, in hohem Bogen und gegen den Uhrzeigersinn, knickt in der Bewegung den kleinen Finger ein, und deutet wie eine saturierte Bestie auf einen Gegenstand. Und sagt: »Ich will dieses Ding nicht mehr, es gehört mir ja schon, was soll ich’s mir noch wünschen.« Damit geht sie ihm auf die Nerven, am liebsten würde er sich neben sie stellen und das kommunistische Gegenstück inszenieren: Der Konduktor weist die Volksmassen in die Zukunft! Aber sie ist ein humorloses Luder, und wenn es einmal vorkommen sollte, daß sie lacht oder sogar ein aus dem Schlund herauspolterndes Kehlenmeckern von sich gibt, dann nur, weil sich jemand aus ihrem großen Bekanntenkreis bis auf die Knochen blamiert hat. Ein schadenfrohes Luder. Er weiß bis heute nicht, wie er es mit ihr ganze sieben Jahre ausgehalten hat. Er hat ihr bei den Umzügen geholfen, die schweren Erbstücke mindestens vier Stockwerke runter- und raufgetragen. Es mußte immer eine Dachkammer sein, ein wichtiges Stimulans, das unabdingbare Milieu, in dem ihr die Silben und Worte und Ideen zufliegen, in dem sie wie von selbst die Poeme aufschreibt: der Titel fällt ihr immer als erstes ein. Er mußte ihren Gedichten lauschen, jahrelang, und ein Pokerface aufsetzen, so tun, als sei es das Natürlichste auf dieser Welt, Zeuge der Selbstentblößung einer Möchtegern-Dichterin zu sein. Jahrelang. Das soll ich mir mal bitteschön vorstellen. Doch er selbst ist ein Stümper: bei den Raufhändeln, in die er hineinkommt, schneidet er schlecht ab, er kann aus seinen feinen Händchen nicht mehr herausholen als eine viertelherzige Wucht. Zwei schlecht geschlossene Damenfäuste, die er von oben auf die Nasenwurzel niedersausen läßt. Einige Zufallstreffer machen 73

ihn zum Saisonhelden. Bis die wirklichen Schläger kommen. Sie schützen ihre Gesichter nicht, sie gehen nicht in Deckung, es ist ihnen einerlei, ob ihr Anblick die Mädchen abstößt oder ob sie von den Frauen der Flittchensorte angeschmachtet werden. Er ist kein Mannskerl, der mit dem Kanthaken die Stämme wendet, er gibt Obacht, er hat seine Wahrheiten: die Träumer schauen aus dem Fenster, die Realisten sind ab neun Uhr morgens barbiert und frisch. Wenn die Härte ihm zusetzt, trinkt er Glühwein mit Asbach, das macht Tränen in den Augen. Die Frauen nehmen an, jetzt aber übermanne die Schwermut einen harten Kerl. Eine Studentin, erzählt er, ist lustig geworden, hat Anstalten gemacht, seine Augen trockenzukriegen. Er ließ es nicht zu, fremde Hände an seinem Gesicht sind ihm zuwider. Ein Babyface. Die schöne, scheinbrutale Vorortvisage öffnet er für den Verzehr von Beilagen ohne Hauptspeise: Reis, braungebrannte Kartoffelecken, Basilikumpesto-Makkaroni, oder einfach nur Brotrinde. Davon kann er satt werden, und wenn die nächste Hungerwelle ihn überrumpelt, hat er das auf Heller und Pfennig abgezählte Kleingeld für zwei Laugenstangen in der Hosentasche. Er ist in zwei Strichen beschrieben: er macht sich zu viele Gedanken, und die Schläger dreschen munter auf ihn ein. Und die Fußnote: Ein Glücksfall, daß sie es sieben Jahre mit ihm aushielt. Ein Schwein, das er ist und immer bleiben wird, verdient keine derart intensive Zuneigung. Ich habe ihn um eine Aktsitzung gebeten, denn ich wollte ihn beschämen, und tatsächlich ist ihm der Kloß im Hals steckengeblieben. Ein Schwein, das immerzu frißt und langsam Fett an den Hüften ansetzt, ist ein dankbares Objekt. Er sagte zu, es will sich kaum jemand auf ihn einlassen. Sein Glied ist nicht der Rede wert, ich habe immerzu auf diese Stelle zwischen den weißen Leisten starren müssen, ich habe es ihn auch spüren lassen, daß mich sein Detail interessiert. Vielleicht spielte er mit 74

dem Gedanken, mir seinen Penis für einen lumpigen Blowjob zu überlassen, ich weiß es nicht. Ich hätte ihn höflich abgewiesen. Ich hätte ihm die Tür gezeigt, und er wäre rot vor Scham davongegangen, in der Gewißheit, daß ich seine sexuelle Offerte richtig ausgelegt und jedermann erzählt hätte. Eine niedergeschlagene Kreatur, nackt bis auf die blau-weiß gestreiften Socken, die er nicht ausziehen durfte, verhält sich im allgemeinen still. Und ich hatte genügend Zeit, mein Motiv auf meinem Skizzenblatt festzuhalten. Wir haben uns ohne große Worte verabschiedet, die Sitzung dauerte knapp zwei Stunden, weder habe ich ihm eine Pause noch ein Getränk angeboten. Auf meinem Bild steht er schlaff vor einem Regal mit Erdbeermarmeladengläsern, er würde sich gerne umdrehen und naschen oder vor Wut das Regal zerschlagen. Er saugt seine Oberlippe ein, seine Unterlippe berührt fast die Nasenspitze. Ihn quälen das Verlangen und das Verbot. Eine weibliche Hand reicht ihm von der Seite einen Teelöffel. Wenn er sich rührt, fährt er hoch aus dem Schlaf, und das Traumbild ist ihm für immer entglitten. Das Schwein ist inhaftiert. Bei Vollmond wechselt das Wetter, ein Wind wie der letzte Atem eines Toten peitscht durch die Straßenschneisen und trifft die Häuserfronten hart. Noch bevor sich die Luft ballt zum nächsten Zug, faucht es durch die Fensterfugen, und das Glas klirrt hell im Rahmen. Ihre Schattenspiele sind unheimlich. Sie kann ihre Hände aus dem Handgelenk heraus drehen, wie zwei unbegleitete Kinder machen sie, was sie wollen. Die Schatten ihrer Finger zucken über mein Ölbild der jungen Nutte Rosa, manchmal streckt sie die Hand ins Licht, um abzuhalten oder abzuschütteln, ich weiß es nicht. Sie wahrt Abstand, sie sitzt nicht auf der Bettkante, doch wenigstens traut sie sich aus ihrem Kartonhaus heraus. Eigentlich müßte ich ihr eine Hundeschüssel vorsetzen: ihre Krankheit, ihre Depression, ihr tierhaftes Brüten machen mich verlegen. Eine Essigflasche ist zerbrochen, ich habe sie in einem 75

Anfall von unverfälschtem Haß auf den Boden gefegt. Wenn Material zu Schaden kommt, hüpft mein Herz vor Freude, doch ich blühe bei erheblichen Hautabschürfungen und Prellungen, Kopfwunden, die nur langsam verheilen, und Stichverletzungen erst richtig auf. Ich bin es leid, den Menschen in meiner Umgebung mehr zu wünschen als einen erbarmungswürdigen Tod. Der Wind trägt aus der Nacht den Schrei eines besoffenen Alleingängers herbei, er klingt, als würde es ihn eine große Anstrengung kosten, nicht auf das Pflaster lang hinzuschlagen. Nun brüllt er fremde Gesänge, es wird der Türke von der Parterrewohnung sein. Nach den kehligen Lauten zu urteilen, singt er vom grausamen Schicksal, und ich höre, wie er eine Jungvermählte beweint, die ihm von den Flutwassern eines babylonischen Flusses entrissen wurde. Der kleine Mann trinkt seinen Schnaps und taucht ein in die Geschichte, er ist ein Tier, das seinen Stall verdreckt, den kleinen dicken Türken verwirren die Regeln der Moderne und betäuben seine eigenen Ausscheidungsdämpfe. Sein Wehgesang bricht plötzlich ab. Sein Bauernkummer wird ihn auch heute nacht nicht umbringen. Ein arbeitsloser Fremder, den die Nutten nicht gerne ficken, kann von sich zu Recht behaupten, daß er ein armes Schwein sei. Deutsche Freier ficken keine Türkenliebchen, die Bordellhygiene schreibt es vor, und wo bitte soll der Mann über Frauenhaut streichen dürfen, wenn auch sein Fünfzigmarkschein kein kleines Wunder bewirkt? Ich weiß, daß er Weib und Aufzucht in die Heimat geschickt hat: alle zwei Tage ruft er sie von seinem Handy aus an. Dafür muß er die Wohnung verlassen, die Straßenseite wechseln und auf der Bordsteinkante balancieren, um einen optimalen Empfang zu haben. Trotzdem schreit er abgehackte Silben in den Hörer, er kann sich nur laut unterhalten, und die Greise des Viertels schauen sich nach ihm um und schütteln den Kopf.

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Der ist auch wie du, einer, der was wollte von mir, kam vorbei und hat sich hingesetzt und ein Angebot gemacht, was ich nicht angenommen habe, das ist schweinisch … Meinst du den Türken? Du kennst ihn? Hat kein Glück gehabt, vier Uhr nachmittags an meiner Tür geklopft, hab ihn reingelassen, er saß und saß, hat Geld geboten für ’ne schnelle Nummer, ich habe nicht reagiert, meine Kakteen haben ihm gefallen … Clarissa redet. Ihr Irrsinn hat sie ins Zwangseisen gepreßt und läßt sie einen stinkenden Atem aushauchen. Das handgeknüpfte Perlenhalsband, das sie in meinem Zahnputzbecher fand und sich aneignete, ziert ihr hohles Brustbein. Ich habe ihr Orangen in Tüten gebracht, sie zupft die weiße Innenhaut der Schale in Streifen und stopft sie sich gierig in den Mund. Noch nie hat ein Mann sie berührt, ihr Duft betört die Frauen. Mein Verdacht erhärtet sich, in Gegenwart von Männern hat sie im Grunde nichts mitzuteilen, es ist der Fleiß der Selbständigen, der sie die Tage begehen läßt. Die Kinder des Türken haben sich vor Grauen geschüttelt, als sie ihnen Trockengebäck angeboten hat, von fremden Deutschen nehmen sie nichts Süßes und Bitteres an. Clarissa redet: in ihren Augen bin ich kein Mann, ein paar Tage reichen ihr, um mich nicht mehr als Freßfeind anzusehen. Ich könnte in Frauenfummeln auf dem Stuhl sitzen und die Garnspitze durchs Öhr fädeln, es fiele ihr nicht auf. Aus alter Anhänglichkeit kommt sie herbei und kriecht in ihre Kartons. Wir sind zwei tief errötete Jungfern, gefangen im Kodex, zwei verschämte Kreaturen, die mit flüchtigen Streifblicken vorliebnehmen müssen. Sie erzählt mir von ihren kleinen flüchtigen Begegnungen, sie erzählt also auch von dem Strohwitwer, der eine Gefälligkeit um vier Uhr nachmittags erbat, keine große Sache eigentlich. Statt daß er mit unwilligen Bunkernutten streitet und sich einen Korb holt, klingelt er doch gleich bei der deutschen Studentin. Ich habe ihm bei einer anderen Gelegenheit klarzumachen versucht, daß sie nicht 77

studiert, aber verdammt verwirrt sei. Der Türke hat keinen Sinn für derartige Subtilitäten. Frau ist Frau. Du hast ihn weggeschubst, oder nicht? Und er ist auf deine Kakteen gefallen. Das geschieht ihm recht. Was will er sich auch an dir versündigen. Verstehst du, das war doch eine erbärmliche Situation, er will sein Pfeifchen schneiden, er will sein Riemchen flottbekommen, und er sucht sich ein nettes wirres Mädchen aus … Sei doch still! Wieso? Du hast mir dein Herz ausgeschüttet, und ich nehme Anteil an deiner Schande. Oder empfindest du es nicht als Schande, wenn ein fremder Mann Liebesdienste verlangt wie von einer Professionellen? Hat nicht das bekommen, was er wollte. Schön. Dann ist doch alles gut. Oder nicht? Er wird wohl mit der Pinzette seiner Frau in der Heimat jeden Kaktusstachel einzeln herausgezogen haben. Das hat bestimmt weh getan … Egal. Egal! Hast du mit ihm danach gesprochen? Hat er sich vielleicht nachträglich entschuldigt? Nein. Na ja, er schämt sich. Obwohl, er ist ein solider Typ, es plagt ihn ganz sicher nicht sein Gewissen. Ist dir auch aufgefallen, daß er weiße Strümpfe trägt? Und seine Schuhe drückt er hinten ein, seine dicken Fersen machen ihm Probleme. Ich bin ihm einmal auf der Straße begegnet, und er hat sich darüber beschwert, wie schwierig es für ihn ist, auf diesen fetten Fersen zu gehen. Ich habe ihm gesagt, er soll sich die Fersen schlankoperieren lassen, das sei heutzutage nur ein schönheitschirurgischer Eingriff. Das war natürlich erstunken und erlogen. 78

Er hat dir doch nichts getan. Ich weiß, ich weiß. Er ist eine allgemeine Plage. Ich singe nicht in derselben Tonart wie er. Sagt man so. Verstehst du? Es sind die Eigenarten. Die Russen, zum Beispiel, können eine Stunde lang in der Hocke verharren. Wir haben es verlernt. Bei den Arabern und Persern dauert ein Lied schon mal eine halbe Stunde. Das ist so üblich. Der Mitteleuropäer kennt dagegen ein Standardmaß von vier bis fünf Minuten. Die Barbaren nehmen sich die Zeit, wir dagegen beweinen nicht mehr unsere Sterblichkeit. Verstehst du, das ist der Unterschied zwischen ihnen und uns … Vielleicht ist Talent etwas, das wie Roßhaar aus dem aufgeschlitzten Sesselpolster herausquillt oder aus dem Rostgitter der Nachtspeicherheizung herauspfeift. Ich habe kein Talent. Und ich bin nicht geübt darin, Clarissa eine Genesung, einen klaren Kopf einzureden. Der Türke hat mir nichts getan, ich könnte mich genausogut über einen Jogger auslassen: der Jogger erläuft sich kaputte Gelenke, und Clarissa, überhaupt gehen mir all diese Fitneß-Militanten auf die Nerven. Und Clarissa, noch eins: die Konsumorientierung hält das Subproletariat in Schranken, bislang haben sich die kämpfenden Truppen auch aus dieser Szene rekrutiert. Aber das ist vorbei. Der Sohn des Türken verbringt seine Zeit in der Spielhalle und sitzt in der Schuldenfalle. Ich würde am liebsten wie ein fliegender Kolportagebuchhändler mit Druckwaren hausieren gehen, ich würde an tausend Türen klingeln und einsame Herzen so lange beschwatzen, bis sie unter einen weiteren sinnlosen Vertrag ihre Unterschrift setzen. Denn sie ächzen gerne in den Sielen, ein anderes Leben ist ihnen verhaßt. Clarissa, ich möchte unablässig reden und deine Trübung aufhellen. Du hast da in deinem Zimmer ein kleines Kunstwerk 79

zusammengekritzelt. Sieht gut aus, würde seinen Käufer finden. Hast du mehr von dieser Sorte? Strichmännchen. Ja, Linienfiguren. Der lange Strich ist der Rumpf, zwei kurze Striche sind die Armstummel, zwei längere Linien sind die Beine. Eine kleine Blase drauf, und fertig ist das Männchen. Du hast Hunderte davon gezeichnet. Ich habe sogar einen Titel für dein Bild: Der Untergang des tragischen Clans. Wie findest du das? Braucht keinen Titel. In Ordnung. Ich will dir nur Mut machen. Aber du solltest keinen Rat annehmen von einem Nullkünstler wie mir. Wahrscheinlich hast du recht. Wechseln wir also einfach das Thema. Habe ich dir schon gesagt, daß ich bald für einige Wochen weg bin? Ich muß Geld verdienen, ich fahre in den Osten. Wohin? Nach Treptin. Ein Kaff jenseits der Grenze. Keine Ahnung, was mich dort erwartet. Ein Bekannter hat mich als Bühnenbildner angeheuert. Ich werd’s wohl machen. Ich komme mit. Oh, ich glaube, das geht nicht. Ich gehöre zum Stab der Künstler, weißt du, und dann ist da noch ein Haufen von Teilnehmern, die Geld abdrücken müssen. Geordnete Verhältnisse. So wie ich meinen Bekannten verstanden habe, ist die Mannschaft komplett. Es tut mir leid. Das habe ich nun davon, Clarissa dreht mir den Rücken zu und verschließt sich. Dabei wollte ich ihren Traum deuten, der sie heute nacht umgetrieben hat, ihre Instinkte haben den Vollmond und die Winde erahnt und Bilder aus dem Nichts gezaubert, und sie schrie, als hätte man ihr ein schartiges Metall an die Kehle 80

gedrückt und als würde man ihr die Luft aus den Lungen pressen und kleine Stücke Fleisch aus ihrem Hals herausschneiden. Sie verlor in ihrer Angst ihre vertarnte Stimme, ihren dünnen Faden Stimme, sie war heiser von dem Schrei, der die Nacht zerteilt hatte, und davor hatte sie sonderbare Worte aus einem halbversiegelten Mund gewispert. Ich sprach auf sie ein, ohne meine Rückenlage aufzugeben. Sie sagte: Ich liege in einer Felsspalte und mache Liebe mit einem fremden Mann, er schläft, sein Schlafgesicht ist flach, ich mache Liebe mit ihm, obwohl ich mich dagegen sträube, und da geht ein Hagel aus brennenden Pechkörnern nieder, ich finde keinen Unterstand, ich fange Feuer, und mein Körperbrand erhellt die Nacht. Sie verlangte eine Haarbürste, ich war wütend und wollte einfach weiterschlafen, schließlich stand ich auf und stolperte im Zimmer herum. Sie hat sich vor dem Toilettenspiegel die Haare gekämmt, sie glaubte, dadurch den schlechten Einfluß aus ihrer Kopfhaut herauszuziehen. Ich lasse ihr ihren Aberglauben, solange er nicht ansteckend ist. Sie macht mir weiterhin angst, und noch immer ertappe ich mich dabei, daß ich sie im Geiste bei ihrem Kreaturnamen nenne. Der Ärger, den sie durch ihre pure Existenz verursacht, überwiegt die Freude, einer kranken Frau das Leben zu dekodieren. Dabei bin ich doch nur irgendein Zimmernachbar, der ihr ein Obdach gegeben hat, und sie ist auf das Angebot eingegangen, um mit einer verwandten Kreatur ihre infizierten Träume zu teilen. In meiner Nähe sammelt sich Unrat, ich versinke und kann nichts dagegen unternehmen, ein Fluch liegt mir auf der Zunge, und das verbindet mich mit den Sozialparasiten meines Milieus. - Ich werde nicht lange wegbleiben, Clarissa. Bleib hier, wenn du magst. Vielleicht schreibe ich dir eine Postkarte, du mußt aber im Briefkasten nachschauen. Ich komme zurück, das verspreche ich dir. Außerdem habe ich noch einen kleinen Job, habe ich dir schon davon erzählt? 81

Der Hodscha spricht der Länge und Breite über die EliteArbeitsdrohnen, die ein halbwegs industrialisiertes Land aus den ehemaligen Hilfsvölkern rekrutieren und zu Zuchtzwecken in karzerähnlichen Räumen halten müßte. Der Lumpenrotte an den Grenzen eines Imperiums habe man zu allen Zeiten mit Feuer und Schwert Einhalt geboten: jeder wolle einen Unterschlupf finden und riskiere dafür auch mal die tödliche Konfrontation. Früher, in seiner unbesonnenen Jugend, hielt es der Hodscha für seine einzige Aufgabe, den Bolschewiken die Fratze zu reißen. Das Alter hat ihn milder gestimmt, also bekämpft er auf seine alten Tage die kriminelle Koalition der Eindringlinge. Er erinnert mich an eine vom Virus zerfressene Amourbekannte, die ihren blauen Faltenrock verbrannte, um den Pop und vornehmlich ihre Popphase für tot und erledigt zu erklären. Wie haben wir damals gelacht, und wie schade fanden wir ihr Siechtum, gegen das sie nicht das geringste auszurichten wußte. Dagegen ist er von grober Statur, dem Jenseits und der angedrohten Vergeltung für den Sündenfall schenkt er kaum Beachtung. Die heutige Libertinage schlägt ihm auf die Stimmung; andererseits ist er felsenfest davon überzeugt, daß die inländischen Barbaren von heute die effektivste Menschenwehranlage gegen die anbrandenden Horden stellen werden. Kein Grund zur Beunruhigung. Im Schmelztiegel aller Hasse wird ein Parasitenpatriotismus veredelt, der sich sehen lassen kann. Der Hodscha tritt das Gaspedal bis zum Blechboden durch, sein alter VW-Bus schafft nicht mehr als 110 km/h und vibriert auf der geraden Landstraße. Die Landschaft zieht dahin wie ein blasser Bandwurm, ich habe keine Augen für irgendwelche Schönheiten der Natur. Es ist mir lieber, daß ich in einer unbeleuchteten Unterführung abgestochen werde, als durch Wiesen und Felder zu streichen oder durch jahrhundertelangen Inzest verdummsauten Bauernrüpeln bei der Ernte zur Hand zu 82

gehen. Das Land ist die trostlose Strecke zwischen zwei Städten, mehr nicht. Hodscha, dein Sohn Ersin sagt: Wenn wir an die Macht kommen, schneiden wir den Ungläubigen die Kehle durch. Es wird ihm ergehen wie allen glühenden Spätkonvertiten. Wenn seine Kollegen die Macht an sich reißen - was nie eintreten wird –, werden sie ihn als allerersten an die Wand stellen. Das glaubst du? Wie alt ist der Mann? Achtundzwanzig. Er versucht aus der Scheiße wegzukriechen, aus der er quoll. Wie weit ist er gekommen? Ganze achtundzwanzig Ellen. Er ist immerhin dein Sohn, Hodscha … Man denkt nicht groß darüber nach, wenn man ein Kind zeugt. Ein Mädchen wäre mir sowieso lieber gewesen. Es hätte mir nicht solche Scherereien gemacht. Vergiß Ersin, das ist ein kleiner Spruchbeutel. Was ist mit meiner Zweitfrau? Bislang Fehlanzeige. Du kümmerst dich nicht darum, daran wird es liegen. - Nein, Hodscha, ich habe bei einigen Freundinnen angeklopft. Sie sind nicht interessiert. Entweder haben sie schon einen Freund, oder sie können sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, daß sie ausgerechnet an einen Hodscha geraten. Junge deutsche Frauen wandern nicht freiwillig in den Käfig. - Papperlapapp. Du stellst mich ihnen gegenüber bestimmt in einem ungünstigen Licht dar. Ich schließe meine junge Braut doch nicht weg. Ich werde sie ausführen, mit Samt und Seide beschenken. Wir werden feurige Nächte erleben. Du bist ein miserabler Werbefachmann. 83

Hodscha, ich mache dir keine Unehre. Wir reden hier nicht über Ehre. Wir reden über eine Zweitfrau. Wenn du der geeigneten Kandidatin verrätst, daß ich mein Monogramm in meine Oberhemden sticken lasse, wird sie nachdenklich werden. Die Romantik ist der beste Krampflöser. Ich werde dir ein Foto mitgeben, auf dem ich an einer Primel rieche, die Augen sind geschlossen, die Nase ziehe ich kraus, wie als flöge meine Seele zum Land des Sonnenuntergangs. - Um Himmels willen, Hodscha, das sorgt doch nur für schlechte Publicity. Du wirst mir schon eine Frau vermitteln. Weißt du, wie sich diese Mädchen einen Hodscha vorstellen: als vollbärtigen Prediger der Orthodoxie. Was passiert, wenn meine künftige Braut mein Porträtfoto betrachtet? Sie wird umdenken, weil sie einen Mann sieht, der sich die Visage nicht hat zuwachsen lassen. Mein fein gestutzter Gentlemanbart macht bestimmt Eindruck. Gibt es schon eine engere Auswahl? Ja, doch. Ist unter den Mädchen eines, von dem du denkst, daß es das Rennen machen wird? Ich glaube, ja … Muß ich dir alles aus der Nase ziehen? Wie heißt die Dame meines Herzens? Kunstfo … sie heißt Birgit oder Birgitta. Wie alt? Etwas über dreißig. Schon mal schlecht. Ich will kein ausgeleiertes Exemplar. Ist sie Jungfrau? Ah nein, sie war verheiratet, hat eine laufende Beziehung, mit der sie jedoch nicht glücklich ist. Sie hat ein, wie soll ich sagen, experimentelles Wesen. Bei mir ist jedenfalls Schluß mit den Experimenten. So wie du 84

sie mir schilderst, ist sie eine hochdepressive Kröte ohne Geist und Verstand. Ich wußte, ich kann mich nicht auf dich verlassen. Hodscha, ich kann doch nicht einfach losziehen und eine Schönheitskönigin anschleppen. Du darfst dich nicht so zimperlich zeigen … Schnauze. Wann stellst du sie mir vor? Bald, sehr bald. Hab ein bißchen Geduld. Wir sind in die heiße Phase eingetreten, ich bearbeite sie, und ihr Widerstand ist schon gebrochen. - Wird ihr außerehelicher Liebespartner nicht auf dumme Gedanken kommen? Wie meinst du das? Wäre ich an seiner Stelle und würde Wind von der Sache bekommen, riefe ich den Heiligen Krieg gegen den Nebenbuhler aus. Zwei Männer sind ein Mann zuviel für eine Frau. Ein Vorschlag, Hodscha: Bei dem Treffen mußt du mit deinen antiquierten Ansichten hinterm Berg halten. Sonst erschreckst du sie. - Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Arbeite daran, mein Sohn, es wird zu deinem Schaden nicht sein. Und schon zückt er einen Hundertmarkschein, den ich sofort in meiner Hosentasche verschwinden lasse. Es ist gar nicht so abwegig, den Hodscha mit der Kunstfotze zusammenzubringen. Unter seinem Prügelstock schwört sie ganz schnell der Kunst ab, und der Hodscha wird sich über kurz oder lang mit zivileren Umgangsformen anfreunden können. Der plebejische Rattenfaschismus hält die Tiere bei Brot und Wasser in ihren Koben, aus denen sie sich ganz sicher nicht heraustrauen. Was braucht der gemeine Mensch auch Grenzerfahrungen, wenn man ihm das Recht aberkennt, Gleichnisse und Abbilder zu machen von einem Leben jenseits seines Lebens? Bei dem Gedanken an die baldige Vermählung zweier Kreaturen muß ich unweigerlich 85

lächeln: nach einigen Katastrophen werden sie sich schon aneinander gewöhnen. Sie sind beide Eiferer, die sich gehen lassen wollen. Die Kunstfotze hat Gott durch das künstlich stimulierte Schreckerlebnis ersetzt, sie ist eine Vulgärpantheistin, die daran glaubt, daß der Impuls in jedem Ding und in jeder Bewegung steckt. Es wird Zeit, ihrer vergeblichen Verkünstlichung einen halb orthodoxen Rahmen zu setzen: zurück zum schlichten Ornament. Die Schaumgummiwürfel am Rückspiegel pendeln heftig, als der Hodscha vor der Verladerampe der Schlachthalle zum Stehen kommt. Er hat mich angewiesen, den Taubstummen zu mimen, er führt die Verhandlungen. Der Geruch von reichlich vergossenem Blut bereitet mir Übelkeit, ich atme durch den Mund und folge schweigend dem ortskundigen Hodscha, der den Kapo der Zerlegerkolonne mit einem kräftigen Handschlag begrüßt. Er ist Türke, er sieht aus wie eine zahnlückige Otter, und sein Haar hat die Farbe eines Hundes im Schatten. Natürlich hält er mich für einen Diener vieler Herren, natürlich wird er einen Teufel tun und seine Geringschätzung verbrämen. Er taxiert mich unverhohlen, der Hodscha faßt mich an der Schulter und blickt mir hart in die Augen. - Du bist mit sofortiger Wirkung Mehmet Efendi unterstellt. Seine Rechtschaffenheit ist Legende, man kennt ihn als einen Mann, der keine schwulen Worte macht. Ich habe ihm gesagt: Mehmet Efendi, es gibt da einen Jungen, der dir an Lebenserfahrung und Weisheit nicht das Wasser reichen kann. Dieser junge Mann ist von der Strömung der modernen Lügen mitgerissen worden. Nimm dich seiner an, zumal er in relativer Armut lebt und eine Arbeit bitter nötig hat. Mehmet Efendi hat nichts übrig für verweichlichte Denker, er erzieht dich zu einem Mannskerl, der hart zupacken kann. Ich übergebe dich hiermit seiner Schutzgewalt, mach mir keine Schande.

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Was für ein verlogenes Ritual, aber ich halte meinen Mund. Der Hodscha fällt beim Anblick von Blut in Ohnmacht, er darf aber nicht zugeben, daß er schwache Nerven hat. Der Kapo sprach ihn vor ein paar Tagen an, für eine größere Lieferung an ein islamisches Land sei man auf der Suche nach einem Schächter, die rituelle Schächtung sei nun einmal Teil des ausgehandelten Vertrags. Aufgrund seiner exponierten Stellung verbiete es sich für ihn, selber Hand anzulegen. Der Hodscha hat es wunderbar eingefädelt, er schlug mich vor und steht als edelmütiger Gönner dar. In meiner Situation kann ich auf fünfzehn Mark die Stunde nicht verzichten. Der Hodscha verzieht sich mit dem Versprechen, er werde mich in fünf Stunden wieder abholen. Kapo Mehmets Abscheu steht ihm ins Gesicht geschrieben. Um nur ja kein Wort mit mir wechseln zu müssen, verlegt er sich auf gestische Unterweisungen. Auf sein Barbarenzeichen hin lege ich Jacke, Pullover und Unterhemd ab und binde mir eine Metzgerplastikschürze um die Taille, in der ich aussehe wie ein Gnom in Ganzkörperschonern. Ich muß aufpassen, daß ich nicht auf den Schürzensaum trete, die breite Halsschlaufe scheuert an der Nackenhaut und wird sie bald aufreißen. Der Kapo drückt mir ein abgegriffenes Roßschlächtermesser in die Hand, Kratzer zieren die flachen Seiten der Klinge. Wir betreten die Schlachthalle, meine Holzclogs knallen auf den Fliesen, im Schein unzähliger Neonröhren hacken und reißen gut ein Dutzend hünenhafter Knochenhauer am Schlachtband, sie stehen breitbeinig auf dem Kachelvorsprung und vollführen punktgenaue Eingriffe am blutheißen Fleisch. Der Kapo stellt sich an den Anfang der Zerlegerreihe, entreißt mir das Messer, dessen schweißnassen Griff er mit angewiderter Miene am Hosenbein trockenreibt, und schlitzt das erstbeste Tier professionell an der Halsschlagader. 87

Es schaudert an den Flanken, der Ruck zuckt hoch zu seinem Hinterbein, das an der klirrenden Kette hängt, das Band läuft langsam weiter, der nächste Mann fixiert den unkontrolliert ausschlagenden zweiten Hinterlauf, das Band läuft weiter, der Zerleger schält den Kopf aus dem Fell, die Kuhhaut hängt für einen Moment wie eine schlaffe Ledermaske am Nackenstrang, bevor sie gelöst und auf eine Metallpalette hingeworfen wird. Ein derb aufgrölender Kerl kappt mit einer Chromzange die Vorderläufe am Kniegelenk, dann wird das Fell am Bauch aufgeritzt und vom Tier gezogen, das Band läuft weiter, der Zerleger am Bandende stößt hart hinein und zieht in die Länge durch, daß die Innereien aus der weiten Öffnung quellen. Auf den Därmen liegt ein appetitlicher Glanz, der Mann greift um die Darmschleifen herum und schneidet aus der Tiefe Pansen und Lungen heraus. Das Band läuft weiter, das Tier blutet allmählich aus. Der Kapo versetzt mir mit dem Messergriff einen Hieb in den Nacken, ich trete an den Vorsprung heran und erinnere mich an die Schächtungsformel, die mich der Hodscha auf der Fahrt immer wieder aufsagen ließ: Im Namen Gottes, im Namen Gottes, im Namen Gottes. Ich höre einen dumpfen Bolzenschuß aus der abseitigen Box, wenig später pendelt das aufgehängte Tier heran, es rollt mit den Augen, in seinem Augenweiß verlaufen aufgeplatzte Kapillargefäße, und bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, schlitze ich ihm im Namen Gottes die Kehle, die Blutfontäne aus der angestochenen Halsschlagader trifft mich mit voller Wucht auf dem Bauchpolster der Schürze, und ich muß das Spielbein anwinkeln, daß ich nicht aus dem Gleichgewicht komme. Ich warte auf den nächsten Bolzenschuß, er ist mein Zeichen, und ich bin bereit, ich blicke über die Schulter und sehe den fast versteinerten Kapo: in diesem Augenblick ist der Haß der einzige Leim, der ihn zusammenhält. Für einen dahergelaufenen Handlanger aus seinem Stamm hat er nichts übrig, er darf sich 88

vor seinen Zerlegern keine Blöße geben. Ein seltsamer Anflug von Scham läßt mich zu Boden blicken, in der Blutabflußrinne gurgeln die Strudel, aus dem Augenwinkel sehe ich einen Metzgergesellen, der ein grinsendes halbes Ferkel über der Schulter trägt, das er durch den Rüssel auf den Haken stülpt. Ich bin dran, und ich lasse zum zweiten Mal das Messer von rechts nach links sausen, eine Opfergabe nach der anderen wandert an der Bandkette weiter: sie sind die Schlächter, ich bin der Schächter. Es gibt nichts Schöneres als das majestätische Erhebungsgefühl eines Schaulustigen, der Teil eines Hinrichtungsapparates sein darf. Die hohe Frequenz der Tötungsdelikte stumpft den Menschen nicht ab, ich muß auflachen, der Gedanke, ein Serienmörder zu sein, der seiner legalen Kehlenschlitzerarbeit nachgeht, löst bei mir Heiterkeit aus. Ich genieße meinen delikaten Handgriff, und ich kann das hervorschießende Rinderblut kaum erwarten. Ich gebe mich der Phantasie hin, daß die Kunstfotze am Metzgerhaken zappelt und ihre Ideen widerruft, doch der Bolzenschuß hat sie betäubt und die Todesangst sie um den Verstand gebracht, ihr lallender Protest wird ihr nichts nützen, die Zerleger stimmen eine Mörderhymne an, meine Hand schnellt hoch … ein paar Minuten später hat sie es schon hinter sich, ein Tierarzt im Hygienekittel entnimmt Fleischproben von ihren Nierenzapfen, um sie auf Finnen zu untersuchen. Ich verscheuche den Gedanken und konzentriere mich auf die Schächtung, ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, bis ich spüre, daß mein eigener Urin in warmen Rinnsalen die Beine herunterläuft, der Strom will nicht versiegen, ich zittere am ganzen Körper, das Messer löst sich aus meiner entkrampften Kralle, die Rinder baumeln ungeschlitzt und ungeschächtet an mir vorbei, das Band läuft weiter. Das Band läuft weiter. Ich werde plötzlich nach hinten gerissen, der Kapo versetzt mir eine heftige Ohrfeige, er beschimpft mich als Hurensohn, er hat einen harten, fast 89

russischen Akzent. Ich brülle die Schächtungsformel heraus, daß es in der Schlachthalle hallt, ich schreie ihm den Namen Gottes ins Gesicht, dieser verdammte Verräter an seiner Sippe, am Anstand und an der Ehre seines Vaters und seiner Ahnen, ich möchte, daß ihn Gottes Zornhieb zerteilt und losgerissene Dämonen seine Lungen quetschen, dieser verfluchte Verräterhund. Ich schließe die Augen und stürze in den brennenden Teer der Finsternis.

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MAN DARF SIE NICHT BERÜHREN Eine royalblaue Hintergrundtönung, sie steht in der Nacht. Manchmal ist es der Alptraum, der stärkt, aus dem man aufschreckt, wie als ahnte man die Anwesenheit eines Unbekannten. Sie mag nicht an ihre Instinkte verwiesen werden: Wenn sie denn eine Körperreparatur vornimmt – gespannt und gefaßt –, verläßt sie sich auf die Routine ihrer Handgriffe. Sie fällt an manchen Tagen, von Müdigkeit übermannt, in den Schlaf wie ohne Herz. Keine Reue. Keine Freude. Die fremden Männer laufen an ihr vorbei, ein junger Mann aber, das ist wirklich vorgefallen, hat ihr Spiegelbild im Schaufenster lange angesehen. Und sie wagte nicht, ihn fortzuscheuchen, ungemütlich zu werden. Wegzugehen, entschlossen, nicht hastig. Begehrt wie in den Filmen, die sie in Nachmittagsvorstellungen sieht, war sie eigentlich nie. Eine Hausfrau, nie. In Gedanken ein süßes Flittchen, die Zusprechung erlaubt sie sich und muß darüber schmunzeln, möglichst unbemerkt von anderen Menschen. Ich weiß nicht, was ihr vorgeschwebt haben muß, als sie mich ansprach. Sie hätte gehört, daß ich Fotograf sei, an dem weiblichen Körper ab unterhalb des Kopfes in diesem meinem Beruf kein Interesse zeigte. Die Lust, sie irrezuführen und es später als Spaß in Erinnerung zu rufen, überkam mich kurz. Ich sagte, ich müßte sie enttäuschen, von der Technik verstünde ich nichts und würde malen und auf einen prächtigen Durchbruch hoffen. Sie fragte, ob ich ein Nacktmodell suchte, ich gab vor, von Nacktheit in der Kunst abgestoßen zu sein. Es war mir unmöglich, ihr eine professionell herbeigeführte Nähe zu gestatten. Sie hätte mich nur testen wollen, sagte sie, ich sähe aus wie ein gieriger Mann. Nach diesem kurzen Wortwechsel verließ sie meinen Tisch. 91

Ihrer Anstiftung, eine anonyme Beleidigerin in meiner Phantasie in ein Lebensbild zu stellen, bin ich nicht ausgewichen. Bestimmt wollte sie mir die unterstellte Selbstsicherheit nehmen. Ihr Motiv interessierte mich nicht im geringsten. Ich malte sie aus dem ersten Eindruck, ihr verständliches Gesicht machte es mir leicht. Der Nacht ist sie, die Unromantische, einfach hinzugefügt. Sie will ihrer Hände sicher sein, deshalb hat sie sie fast anmutig hinter ihrem Rücken versteckt. Das schräg herabfallende Licht der Straßenlaterne fällt auf ihre nackten Schultern und ihren Hals. Ihr Verstand gebietet ihr, auch in dieser für ihre Verhältnisse maximal möglichen Obszönität, den Rest ihres reparierten Körpers bedeckt zu halten. Dem Mann, der sie berühren wollte, sollen die Finger verdorren. Nicht, daß es sie nicht nach Vereinigungen verlangte. Sie läßt die Gelegenheiten vergehen, die Macht, einem Kerkerhäftling einen Krug Wasser und trockenes Brot zu verweigern, gleicht ihrer Lustempfindung, an hormonell fehlgesteuerten Niedriglöhnern vorbeizuschlendern und deren Zurufen und Anerkennungspfiffen ausgesetzt zu sein. Ihnen aber ihr eigen Fleisch vorzuenthalten. In der Nacht an Sommertagen nimmt die Spannung zu: einige gutaussehende Männer fassen sich ein Herz, sprechen sie an, wollen sie in eine Konversation verwickeln, ihr vorgaukeln, daß sie wirklich nur einen unbestimmten Ausgang im Sinn haben. Sie müssen mit ihr nicht unbedingt ins Bett gehen, ein Flirt, ein Kuß, die Berührung ihres tadellosen Handrückens, der Anblick der Linie zwischen ihren Brüsten, es reichte schon. Sie ist keine Frau, die sich ohne Gewalt für einen Schnappschuß zur Verfügung stellte. Wenn ein Mann sie anspricht, taucht sie aus ihrer Vertiefung auf, in die einzusinken sie immer imstande ist, und wehrt das Gefühl ab, es versuchte der Fremde sie in eine Situation, ein Lebensbild, einzupassen. Den Ängsten ist sie ausgeliefert, in vielen Schatten und Arten wird sie von Ängsten befallen. Also lehnt sie auch die 92

friedfertigen Angebote ab. Die Freundinnen beneiden sie um die Kunst, den Männern zu gefallen, sie anzuziehen, ihre Unnahbarkeit auszuschmücken. Sie folgt keiner Ahnung, sie beflüstert in ritualisierten Lauten ihren Körper, daß es ihm gelingen möge, Exzesse abzuwehren. In Nächten findet sie einen Ausweg, ihr schönes Spiel der aufgesetzten Maske mit der Dunkelhaut des Tages zu umwittern. Sie haßt Stutzer und ihre Lappalien, und sie zieht beträchtliches Prestige daraus, daß in der Dämmerung die Galane ihr den Hof machen. Auf meinem Bild weist ihr Gesicht die Hennaverzierungen einer Barbarin auf. Der Modernität hat sie abgeschworen, ihr Verstand, versteckt und unverbraucht, hat die technischen Abläufe ihres Lebens für die Betrachter veredelt. Weswegen sollte sie sich schämen? Einem Mann, der ihr gegenübersaß und ein schmieriges Maul bekam vom geräucherten filetierten Aal auf seinem Teller, sagte sie: Du bist unwürdig. Der Zeuge dieses Vorfalls, ein Kellner in jener Bar, in der sie mich ansprach, beteuert, sie ginge ihm nicht mehr aus dem Kopf. Die royalblaue Tönung der Nacht entläßt sie aus jeder Umklammerung. Ihr Bildnis ist das einer Frau, die sich dem Alptraum verschmähter Lieben bis zum Tod ergeben hat. Das Geschmeiß heranbrummender Männer wird sie verscheuchen müssen, alle Tage ihres Lebens. Der Ehrenmann Hodscha und der Ehrenmann Kapo nennen mich »Teufels Zwillingsschwester«, meinen Geburtsnamen habe ich durch meinen Akt der Unreinheit verwirkt, und die ungeheure Beleidigung soll auf die unterstellte schwule Anlage meines Wesens anspielen. Als ich wieder zu Bewußtsein kam, saß ich im Beifahrersitz, der Hodscha hatte in seiner Wut seine Unterlippe zerbissen und holte zu einer Generalabrechnung mit den Menschensäuen meines Schlages aus. Er setzte mich vor der Haustür ab, nicht ohne mir mitzuteilen, daß er alle freundschaftlichen Bande kappte, wenn er nicht innerhalb der nächsten zwei Wochen zu 93

seiner Zweitfrau kommen sollte. Als erstes besehe ich die blauen Flecken und komme zu dem Schluß, daß der Nazikapo keine Skrupel hatte, auf einen bewußtlosen Körper einzuschlagen. Der Fronarbeit bin ich entkommen. Dem Türkenkapo hätte ich über kurz oder lang an der Metzgerkette das Fell über die Ohren gezogen. Die Hose klebt am Schritt, mein geschundener Körper stinkt nach Ausscheidung. Ich rühre Kaffeepulver ins lauwarme Wasser und stelle mich ans Fenster, in der Hoffnung, den Crackmassai bei seinen kleinen miesen Geschäften zu beobachten. Er hat seinen Posten verlassen, vielleicht gönnt er sich einen Ruhetag (was ihm nicht ähnlich sehen würde), oder er geht seiner Arbeit auf einem regeren Drogenumschlagplatz nach. Er würde mir fehlen, ich habe ihn im Geiste den erfolgreichen Eindringlingen zugeschlagen. Der Aufstieg auf der Karriereleiter ist ihm sicher, da ihn die Praxis in einer verfaulenden Metropole stählt, statt ihn seiner wildniserprobten Instinkte zu berauben. Wie enttäuschend anders dagegen verhält es sich bei einem weitläufig Bekannten: in seinem früheren Leben ein Linksexponierter, der seinen Groll auf das Kleingarten-fixierte Proletariat in sich hineinfraß und Tag für Tag vor dem Werkstor die Arbeiterklasse an sich vorbeiströmen sah. Die Proleten wollten von glorreichen Führern aus dem Fernen Osten nichts wissen. Die Vorstellung, daß die Gelbe Gefahr, ein Heer aus Abermillionen von Chinesen, den Marschbefehl in Richtung Mitteleuropa erhält, jagte ihnen eine Heidenangst ein. Die Proleten wollten nicht zur bewaffneten Volksmasse verschmelzen, höchstens eine Bürgerwehr bilden, damit die Belästigung ihrer geilen Töchter und Frauen durch eingedrungene Barbaren ein Ende finde. Die Proleten zeigten ihm, dem revolutionär Angewandelten, den Vogel, als er sie beschwor, nun doch endlich ihre lumpige Kasernendiktatur zu 94

errichten. Schlußendlich schwor er ab und schwang sich zum Gralshüter des Froschteichs und des Wachtelkönigs auf. Als Bürger eines Bürgerstaates setzte er seine gesammelten Opportunistenkräfte darein, die Freiheit gegen frühere und aktuelle Genossen zu verteidigen. Wenn er nur wüßte, daß wir, seine neuen Freunde, auf ihn und seinesgleichen spucken, daß wir für Verräter den gnädigen Genickschuß vorsehen. Natürlich kann er sich nicht mit dem Drogenafro messen: ein guter Preuße geht nicht ab von seiner Gesinnung und seinen Geschäften … Wenn du ihn wiedersehen willst, mußt du zur Leichenhalle … Mein Gott aber auch, kannst du denn nicht anklopfen, bevor du reinkommst. Habe ich dich etwa erschreckt? Das muß mir jetzt leid tun, oder? Was meinst du damit, ich müßte zur Leichenhalle? Der schöne Afrikaner ist leider tot, mein Schatz. Abgestochen. Steht unter Vermischtes im Regionalteil. Hat ihn wohl vorgestern nacht erwischt. Keine Zeugen, die Bullen jubeln: ein Dealer weniger. Es ist von einer milieuinternen Abwicklung die Rede. Schade eigentlich, ich hatte ihn schon ins Herz geschlossen. Was soll ich denn sagen? Ich habe ihn angezwinkert, und er grüßte nett zurück. Ich habe sogar ein paar Worte mit ihm gewechselt. Es war eine Frage der Zeit, bis ich ihn dahin gebracht hätte, wo ich ihn haben wollte … Du meinst an deine Pussy. Pfui. Friede seiner Seele und so weiter. Aber jetzt mußt du mir helfen. Ekelst du dich vor Blutegeln? Sag mal … Torri stellt sich etwas an, er will davon nichts wissen. Das erste Mal wollte er seinen Mann stehen, doch danach mußte er 95

sich übergeben. Wovon redest du eigentlich? Ich habe hier in meiner Tasche vier Blutegel, frisch von meinem Heilpraktiker. Du wirst sie mir auf das Kreuzbein ansetzen. Du bist doch nicht ganz bei Trost! Bitte, bitte. Es ist im Handumdrehen getan. Du mußt dir vorstellen, es sind eigentlich Ringelwürmer, nur mit dem Unterschied, daß sie sich vom Säugerblut ernähren. Ich habe mich schlau gemacht. Mein Heilpraktiker hat mir erzählt, daß der medizinische Blutegel nach einer Blutmahlzeit bis zu zwei Jahren hungern kann. Er verläßt häufig das Wasser und legt längere Strecken auf dem Trockenen zurück … Das interessiert mich alles nicht. Das verdammte Viech kann mir gestohlen bleiben! Komm, bitte. Soll ich dich weiter anbetteln? Du tust mir einen großen Gefallen damit. Anschließend verwöhne ich dich, das verspreche ich dir! Wozu soll das gut sein? Es ist ein wunderbarer Aderlaß. Außerdem kribbelt es am Rücken, wenn die Tierchen mit ihren Kiefern einen Schlitz in die Haut schneiden und wie kleine Babys nuckeln. Du bist ein perverses Luder! Sie hält vier Einwegspritzen in die Höhe, in deren dicken Kolben plumpe Würmer sich winden. Ich bin fasziniert. Die Kunstfotze hat ihren Oberkörper freigemacht und unnötigerweise ihren BH gelöst, so daß ihre schlaffen Brustsäcke wie zwei wassergefüllte Kondome herunterbaumeln. Ich folge ihrer Anleitung, schneide zunächst zwei Pflasterstreifen, vermittels derer ich eine dicke Mullbinde knapp unterhalb ihres Kreuzbeins festklebe. Dann streife ich die 96

Plastikhaube von der Kolbenspitze ab, setze sie auf der Rückenhaut auf und drücke den Kolben langsam herunter. Zwei Wimpernschläge später hat sich der Wurm festgebissen, und nach wenigen Handgriffen reihen sich vier schlauchartige Auftreibungen nebeneinander. Ich nehme mir vor, das Muster ihrer Rückenzeichnung in einem Bild zu verwerten: der Parasit saugt Blut aus seinem Wirt. Die Kunstfotze scheint der fast intime Kontakt mit Außenparasiten in einen Rausch versetzt zu haben; sie steht kerzengerade im Raum, hat die Augen geschlossen und leckt sich die Mundwinkel. Die Würmer saugen sich voll, der erste Egel fällt schon gesättigt ab, ihm folgen nach und nach die anderen Parasiten. Welch flexible und schmiegsame Körper! – bis um die zehnfache Größe aufgedunsen, kriechen sie instinktiv weg vom Blutspender, auf der Suche nach Sumpf und Morast, in die sie eintauchen könnten. Doch die Kunstfotze bückt sich flink und sammelt sie mit einem Papiertaschentuch ein. Wenig später höre ich die Toilettenspülung rauschen. - So, das wäre erledigt. Danke Schätzchen. Was grinst du denn so? Mutierte Blutegel im Klärbecken. Die Attacke der Killeregel aus der Kanalisation … Eine Stadt in Panik: Heilpraktiker im Netz der Fahndung … Ich glaube, deine Mami hat bei deiner Sauberkeitserziehung gepfuscht. Deine Phantasie ist etwas ungeraten. Woher stammen eigentlich die Blutspritzer? Deine süßen Würmer haben gekleckert … Jetzt mal im Ernst, ja. Hast du dich etwa geprügelt? Ich hatte keine Chance zurückzuschlagen. Sag mal, du weißt doch, was ein Hodscha ist, oder? Ein Pfaffe im Kaftan. Richtig. Ich kenne da einen Hodscha, mit dem ich dich bekannt machen will. Ich habe ihm von dir erzählt, und er würde 97

sich sehr gerne mit dir zu einem ungezwungenen Pläuschchen treffen. Hast du dich auf Eheanbahnungen verlegt? Der Hodscha ist ein Pfundskerl und vertritt einen moderaten Glauben. Er sieht auch einigermaßen gut aus. Ich verstehe dich nicht. Wozu das Theater? Wenn du mich loswerden willst, brauchst du es mir nur zu sagen, und du siehst mich nicht wieder. Du verstehst nicht. Du stehst doch auch sonst auf Grenzerfahrungen. Welche Frau kann schon von sich behaupten, daß sie was mit einem Hodscha hatte? Mach dich nicht lächerlich. Ich will keinen Rabbi, ich will keinen Hodscha, und mit einem Hinduheiligen will ich auch nicht ficken … Du kannst ihn dir wenigstens anschauen. Er gießt dir erst Kölnisch Wasser in die Hand, dann bietet er Gebäck und Zitronenlimonade an. Eine halbe Stunde, mehr nicht. Danach kannst du aufstehen, und wenn er nicht nach deinem Geschmack sein sollte, siehst du ihn auch nie wieder. Ich weiß nicht. Ich mache euch einen Termin für übermorgen. Vielleicht inspiriert er dich ja sogar, und du inszenierst eine authentische Klitorisbeschneidung mit anschließender Sahnetortenschlacht … – Das ist das Stichwort! Der Liebesakt, wenn man denn davon sprechen kann, reduziert sich auf die Reibung von entblößtem Gewebe: ich helfe der Kunstfotze bei der Herstellung einer Pseudovagina, und sie verscheucht, am besten mit festem Griff um mein erigiertes Glied, meine verheerenden Amputationsphantasien. Für die Zeitspanne von wenigen Minuten erregt sich unsere Haut, die ansonsten als organische Wehrbarriere auf jede Art der 98

Kontaktaufnahme mit allergischen Irritationen reagiert. Sie bittet mich, etwas zu sagen, ihr zu beschreiben, was ich in diesem Augenblick mit ihr anstelle, doch ich bleibe stumm, mein Mund ist unbeschäftigt diesmal, ich stecke in der Eingangspforte ihrer Eingeweide fest, ich liege auf ihrem Bauch und zerbeiße aus alter Gewohnheit das Kissen, um Wollust vorzutäuschen und um Gottes willen kein Wort sagen zu müssen. Die Kunstfotze mißt dem Koitus keine große Bedeutung bei, dafür hat sie mit zu vielen Männern geschlafen, nach der fünften oder sechsten Mundbefriedigung möchte sie mich oder einen Teil von mir in sich aufnehmen: der Luxus der Pervertierten. Ich verschiebe den Sex auf die Stunden der Dämmerung, und sie ist mit meinen Neigungen mittlerweile vertraut. Sie könnte Schaden nehmen aus einer einzigen Ablehnung oder einem vorschnellen Fick, einem heftigen Biß in die falsche Körperstelle oder meiner Selbstverliebtheit bei einer lustminimalen Vereinigung. Ihre Unschuldsmiene möchte ich mit einer Ohrfeige aus ihrem Gesicht vertreiben – sogar dann, wenn sie ihren Unterleib im Uhrzeigersinn rotieren und das Fremdorgan mahlen läßt. Sie schreit, ich soll endlich obszön werden, ich lege die Hand auf ihren Mund, mit der anderen umschließe ich ihren Hals und drücke zu, und vor Liebe preßt sie ihr Becken an meine Lenden und fügt sich der Gewalt. Ich stoße hart in sie hinein, immer wieder, und kein Wort kommt über meine Lippen. Clarissa schaut zu, sie mustert uns, so wie ein Schaulustiger zwei Verkehrstote betrachtet, die man aus dem Wrack gezogen und noch nicht mit einem weißen Laken zugedeckt hat. Sie trägt die Bluse, die ich ihr geschenkt habe, sie steht ihr wirklich gut. Auch die Kunstfotze hat sie bemerkt, ich will ihr entschlüpfen, doch sie umkrallt meine Pobacken und drückt mich wieder in ihr nasses Loch hinein. Clarissa kriecht in ihre Kartongrotte, die ganze Aufregung geht sie nichts an, vielleicht 99

ist ihr auch klargeworden, daß sie sich in meinem Haushalt mit der Rolle eines Haustiers zufriedengeben sollte. - Wir sind noch nicht fertig, Schätzchen, mach zu, meine Möse wird sonst kalt. Wieso höre ich auf sie? Wieso setze ich da an, wo ich aufgehört habe, wieso bin ich nicht starr vor Schreck erschlafft? Ich ficke die Kunstfotze, bis sie heulend wie ein Hippiekind auf den Wogen seiner Ekstase ihren Höhepunkt beschreit. Ich folge ihr mit einem erstaunlich natürlichen Orgasmus. Wir lösen uns nicht gleich, üblicherweise widerstrebt es uns beiden, nach dem Sex Zeit zu verschenken. Es ist das erste Mal, daß man uns in flagranti erwischt hat, die Gegenwart einer unfreiwilligen Augenzeugin hat in uns die niederen Instinkte geweckt. Zwischen unseren Bäuchen hat sich eine kleine Schweißpfütze gebildet, und als ich mich schließlich doch erhebe, schmatzt es unangenehm. - Ein Glas Wasser, bitte. Ich will sie loswerden, sie weiß es und quält mich ein bißchen. Andererseits berauscht sie sich an dem Streit, der nach ihrem Weggang vom Zaun brechen wird – sie spekuliert darauf, daß Clarissa und ich eine feste Beziehung haben und daß sie als Ferment die Zersetzungsprozesse beschleunigen wird. Dabei ist sie dem Tod von der Schippe gesprungen, wäre Clarissa nicht dazugekommen, weiß ich nicht, ob ich der Lust widerstanden hätte, ihren Hals so lange zuzudrücken, bis es ausgestanden wäre. Gerne hätte ich eine Totenwache gehalten und sie nach einer Stunde berührt, über ihren kalten Körper gestrichen mit dem Handrücken, bis ich des Spiels überdrüssig geworden wäre. Nach dem Volksglauben gehen widerspenstige Frauen nicht in das Himmelsreich ein; sie verrotten im Grab, sie vergehen einfach so, sie werden nicht einmal für wert befunden, in der Hölle ihre schrecklich banalen Sünden abzubüßen. Jetzt hat sie die gebotene Viertelstunde abgewartet, sie verabschiedet sich 100

mit zwei nassen Wangenküssen. Ich sage, sie soll sich für den Termin mit dem Hodscha bereithalten, und schließe hinter ihr die Tür. Zum Teufel. - Clarissa, ich weiß, du bist wach, ich möchte dir nur sagen, daß du in eine Situation hineingeplatzt bist, die mir nichts bedeutet. Also, sie bedeutet mir gar nichts, das mußt du mir wirklich glauben, ich meine, diese Frau, mit der ich … sie ist vorbeigekommen, und wir sind miteinander intim geworden. Das ist alles. Und ich werde sie nicht wiedersehen. Mein Blick fällt auf das Präsent der Kunstfotze, es sind diesmal keine teuren Farbpigmente oder andere Malutensilien, von denen sie weiß, daß ich sie mir nicht leisten kann: ein Holzreif umschließt ein grobmaschiges Ornamentnetz, in das bunte Glasperlen und Schwanzfedern des Adlers eingefädelt sind. Ein sogenannter Traumfänger. Nach dem Aberglauben der Indianer hält er die bösen Geister davon ab, ins Haus einzuwehen und doppeltes Unheil anzurichten. Der Kunstfotze wird es gleichgültig sein, ob mich das Elend durch die Hand schadhafter Geister heimsucht – solange ich ungeschont meine Tage verlebe, kann sie mich immer wieder für eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Sie hinterläßt eben gerne Spuren, man erinnert sich an sie wie an anhaltenden Kopfschmerz. Ich gehe in die Hocke und versuche durch ein Luftloch im Karton ins Innere hineinzusehen, ich rufe nach ihr, ich flüstere ihren Namen, damit sie nicht die Angst überkommt. Clarissa regt sich nicht. Als ich die Verschlußklappe an der Falz hochschlage, sehe ich erst die frischen Flecken auf der Bluse, dann die Glasscherbe, mit der sie sich stumm und fast neugierig Kratzer ins Handgelenk schneidet, ihr Gesicht, umrahmt von fettigen Strähnen, herabgesunken auf die Brust und wie bei einer Plastikpuppe eingedrückt. Sie läßt sich die Scherbe ohne Widerstand aus der Hand nehmen, ich lege ihre Hände in meine, ich beuge den Kopf, daß es sie auch keine Mühe kostet, ich lecke ihre Fingerkuppen und die Fingerglieder, ich gehe mit der 101

Zunge die Linien ihrer Handfläche nach, ich lecke das aus ihren kleinen Verletzungen herausrinnende Blut, soviel Sorgfalt lasse ich sonst nur der Leinwand zukommen. Ihre Handgelenke sind sauber, ich habe den Körperschmutz gewischt. Ich sage alle unmöglichen Trostsprechungen auf, ich sage, es werde alles gut, und sie werde sehen, sie und ich würden uns vor Ansteckungen vorsehen, ich würde auf sie achtgeben, und sie würde mich beschützen, ich reihe eine Beschwörung an die nächste und krieche langsam in ihre Höhle hinein, meine Kinderworte machen mir nichts aus. Sie legt sich auf die Seite und rollt sich ein, ich presse mich an ihren Rücken, und endlich verstumme ich und wühle mich durch ihr Haar und küsse ihren Hinterkopf, einmal. Jetzt ist es still. Clarissa. Im anderen Land. Wo sich früher eine sichtbare Grenze per Verfügung des Großen Bruders hindurchzog, stößt man heute, nach mehr als einem Jahrzehnt, auf eine doppelt und dreifach bewehrte Demarkationslinie. Sie ist eingeschnitten ins Land, dessen Eingeborene der Wolkenzüge überdrüssig geworden, wünschen und hoffen, die Neue Zeit möge ihnen doch auch einen anderen Himmel bescheren. Hatte ihre zerstörerische Avantgarde im Schein der Altarkerzen Verse mit dem Kirchenlatein vertauscht, so ist sie in den verwaisten Löchern verschwunden, die sie in den Tagen des Aufruhrs vorgab, stopfen zu wollen. Tieren kann keine Macht ein menschliches Antlitz verordnen. Die Betbrüder und schwestern waren nicht mehr als nützliche Idioten, dem Volk die Selbstbestimmung zu verheißen wie das leckere Sahneschäumchen: diese Lüge hat die Freiwillige Bürgerwehr von damals sehr bald überflüssig gemacht. Sie haben es verdient, erledigt zu werden. Man muß die Einöde jenseits der Mauern gnadenlos durchkapitalisieren, die dumpfen Werktätigen massenentlassen, den jungen Müttern ihre Kinderkrippenromantik um die Ohren schlagen und die Horden und Haufen der Untertanen, die die Eurasische Demokratische 102

Republik zu mäßigen versuchte, wieder auf die Straße treiben: hier gehören sie schließlich hin, das ist ihre Bestimmung. Sie sind zu Recht dazu angehalten worden, in der staatlich gelenkten Kleinkrämerwirtschaft dahinzudämmern, der Unbotmäßigkeit dumpfer Charaktere begegnet ein Staat am besten mit Morphium und Masse. Also marschierten sie und feierten Jahrestage, sie schworen Rache den Aggressoren am Tage, und am Abend saßen sie in ihren Spießerkaschemmen und glotzten wie das Vieh in den Koben Westfernsehen. Sie sind mit einer postbarbarischen Idee von der Aufhebung aller Verschwendungen in Berührung gekommen. Das hat nichts genützt, sie sind die echten Nachkriegsdeutschen, und man müßte sie eigentlich zum Schuttschaufeln und Trümmerschleppen verurteilen, daß sie endlich aufwachen, endlich aufwachen! Die Eingeborenen hinter den vielen Mauern sind derart in die fixe Idee der Allgegenwart einer Besatzungsmacht vernarrt, daß sie sich nicht ehrlich erinnern können: sie gleichen beknüppelten Feldbauern, die es nunmehr Herren gleichtun und mit Dreschflegeln patrouillieren. Wer wenig Spielraum hat, erzeugt unhaltbare Zustände. Im anderen Land; die charakterliche Nichteignung seiner Menschen für den richtigen Umgang mit Kapitalflüssen und herrlich ungelenkter Parasitenwirtschaft ist ein Fluch. Wie soll ein Täter resozialisiert werden, wenn er nie sozialisiert war? Der westdeutsche Liberaldemokrat glaubt, der Mensch seigut, wenn er richtig pädagogisch betreut werde. Was für ein Witz! Seine Ärmel sind gesäumt, damit er sich nicht bekleckere am Lumpenfraß der Proleten – der Verbrecher verdient eine Politik der heftigen Hand, der heftig wehrenden und hart schlagenden Hand. Die Eurasier brauchen das verhübschte Elend ihrer Frühzeit, es hält sie am Leben, und solange die Massenproleten ihre Lebensstützen regelmäßig beziehen können, ist doch alles gut. Ob jung oder alt, sie sind ein Volk der Säufer. Ein Krieg würde die Versager auf einen Schlag entsorgen; man könnte an 103

Stelle der abgetragenen Führerstatuen neue Denkmäler setzen, die Versager hätten wenigstens ihr Vaterland, für das sich verrecken ließe ohne große Umstände: und schon versetzte das Gemetzel alle nachkriegsdeutschen Säufer und Knechte in den Gnadenstand der Reinheit. Die besoffenen faulen Bengel könnten als dienstbare Geister ihres Volkes im Kugelhagel der Asiaten sterben, man wäre sie auf elegante Weise los. Die Journaille könnte gewohnt gekonnt den Menschenhumus Schönschreiben: Wer liebt, muß den Blutzoll entrichten! Wer liebt, muß für immer fallen! Im anderen Land führen die Straßen an kleinen Siedlungen vorbei. Man sollte in Dörfern nicht anhalten. An vielen Tankstellen versammelt sich in den Abendstunden die junge Brut, sie sind eines jeden Feind. Weil sie, die ostdeutschen Bengel, in der Überzahl sind, bleiben sie auch von der Abreibung verschont, die sie für einige Zeit besänftigen könnte. Man sollte sich mit vollem Tank auf den Weg machen. Es könnte sein, daß der Anblick lächerlich aufgedonnerten Menschenmülls einen Lachanfall provoziert, der üble Folgen nach sich zöge. Man sollte den Sehenswürdigkeiten und den Landeseigenheiten keine Beachtung schenken, und die Strecke zum Ziel in einer einzigen Anfahrt hinter sich bringen. Die riesigen Einkaufskomplexe und Megastores vor den Toren der Städte verdienen vielleicht einen anerkennenden Blick: sie haben dafür gesorgt, daß die Kleingewerbetreibenden in den Innenstädten in kürzester Zeit pleite gegangen sind. Jeden Samstagvormittag ergießt sich eine Kolonne von Insektenmenschen in die Warengroßlager. Die vollklimatisierten Kaufhäuser werden sehr bald zu Betonruinen zerfallen, und die jungen Barbaren können dann in ihre Jugendstätten einziehen, für die der Bürgermeister keine Miete erheben wird. Es sind die neuarischen Stützpunkte der nahen Zukunft. Der Himmel bleibt derselbe, den Boden machen sie nicht fruchtbar, die Knechte schwingen sich auf zu Besitzbeansprüchlern von Parzellen. Es ist vorgekommen, daß das Maultier den ihm umgehängten 104

Hafersack zu seinem eigentlichen Herrn und Meister verklärte. Last- und Nutztiere brauchen Führung. Natürlich habe ich mich nicht an irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen gehalten, ich fuhr per Anhalter durch das andere Land, ein schlechtrasierter Verschwörungstheoretiker im violetten Anzug nahm mich gleich mit, kaum hatte ich mich an die Autobahnausfahrt gestellt und mein Schild mit meinem Bestimmungsort hochgehoben. Treptin, sagte er, sei auf keiner Landkarte der Welt verzeichnet, das habe sich auch nach der Wende nicht geändert, weil es ein stilles Abkommen der westöstlichen Weltenlenker gebe, über diesen Ort Stillschweigen zu wahren. In unterirdischen Gewölben sei ein Forschungszentrum untergebracht, das den neugierigen Blicken entzogen allen parapsychologischen Phänomenen auf den Grund gehe. Bevor er mich kurz vor Treptin an einer Tankstelle absetzte, verlangte er »dreißig Westmark Beförderungs- und Unterhaltungsgebühr«. Er war in der Laune, sich mit mir anzulegen, und ich ließ ihm seinen Willen. Ich ging den überraschend gut asphaltierten Weg bis zum Dorfplatz, auf dem ein versiegter Wasserspeier in Gestalt eines Satyrs den Neuen Zeiten trotzte, und fragte Kittelbeschürzte dicke Frauen nach der Tanzwerkstatt. Sie beschrieben mir den Weg in einem umständlichen Kuhdeutsch. Nach einer weiteren halben Stunde Fußmarsch stand ich vor der Ruine einer ehemaligen Russenkaserne, deren Umfassungsmauer zerfallen und von versteppter Erde umgeben war. Auf einem kleinen Feldherrenhügel warb ein Reklameschild für digitalen Großformatdruck auf transluzentem Material. Seit meiner Ankunft ist einige Zeit verstrichen, ich sitze auf einem Felsbrocken vor dem grünspanzerfressenen Gittertor und warte, bis mich ein Einkehrender mitnimmt ins Haus. Im Hauptgebäude brennt Licht, die beiden Seitenflügel scheinen nicht bewohnt zu sein. 105

Ich will mich nicht unvorbereitet der kranken Brut aussetzen, die jetzt bestimmt den magischen Einflüsterungen Daniels und seiner Frau ausgesetzt ist. Eine milde Brise trägt Keime heran, ein Hund mit einem Fell in der Farbe vertrockneten Gestrüpps schnürt an den Mauerresten entlang und beginnt unvermittelt zu bellen. Der Stein trifft ihn hart in der rechten Lefze, er jault auf und knurrt mich an, ich werfe aber schon den zweiten Stein, der sich ins gelbtrübe Auge bohrt. Der Köter hat seine Vorderläufe in den Boden gestemmt, sein Nackenfell ist aufgerichtet, mein Absatz kracht in seine Schnauze, der Tritt nimmt ihm jede Angriffslust. Als habe ihn ein Nachtmahr gestreift, prescht er in die Dunkelheit. Ich schaue dem fliehenden Schatten nach und gehe belustigt über den Hof bis zur Holztür des Hauptgebäudes, die unverschlossen ist, weil elektrisierte Spinner immer ein immenses Gottvertrauen an den Tag legen. Im Erdgeschoß regt sich keine Menschenseele. Ich ziehe mich am Handlauf die Treppen hoch, bleibe auf halber Höhe stehen und lausche Daniels Kulturerklärungen: er spricht wie durch ein stimmaktiviertes Kehlkopfmikrophon, er legt sich ins Zeug, als sei er der König der Zigeunergeiger, er möchte das müde Publikum zur Tat anstacheln. - Hey, was machst du da? Der Schreck fährt mir in die Glieder, ich drehe mich um und sehe einer Frau direkt in die Augen, allerdings steht sie eine Stufe tiefer, muß mich also um eine Kopflänge überragen. Im ersten Moment denke ich, daß sie dem Busch Afrikas entstammt, bei genauerem Hinsehen entdecke ich eine schmutzig-braune Schönheitsmaske auf ihrem Gesicht, sie sieht aus, als hätte sie es in Lagunenschlamm getaucht. Ich bin der Bühnenbildner und bin soeben eingetroffen. Und wieso gehst du nicht hinein? Wollte ich ja, ich habe nur kurz verschnauft, das Treppensteigen nimmt einem den Atem. 106

Was du nicht sagst … Sie würdigt mich keines weiteren Blickes und rauscht an mir vorbei, ich halte es für das beste, ihr zu folgen und bei meinem Eintreten so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen. Als ich im maximal illuminierten Gesprächsraum stehe, starren sie mich trotzdem alle an. Istafa strahlt über das ganze Gesicht, der Verteidiger von aus Protest onanierenden Tuntentalenten darf in einer solchen Spiritistenrunde nicht fehlen. Auf der Vernissage der Kunstfotze verhielt er sich mir gegenüber recht reserviert; jetzt freut er sich wohl, mich wiederzusehen. Daniel hat sich an einer Schiefertafel aufgebaut, auf der mit römischen Zahlen markierte Spiralen eine Galaxie darstellen sollen. Er hat das Wort Galaxie in Majuskeln aufgeschrieben und dreimal unterstrichen. Seine Frau OPP TIKK sitzt ihm zur Seite, sie ordnet den Stoß Papiere auf ihrem Schoß und steckt wie üblich in Leder mit Nieten und Fransen. Gut zwei Dutzend Schulbänke sind zu einem großen Hufeisen formiert, die Teilnehmer streichen Butter und Sirup auf dicke Brotkanten, ein Idiot macht sich Notizen, zwei breiige Frontlesben haben ihre Beine ineinandergeschlungen und streicheln einander, demonstrativ schamlos in der vorwiegend männlich besetzten Vollversammlung. Die Schlammaske hat sich zu einer Gruppe von Lumpenkünstlern gesellt, nach ihrer Schmierigkeit zu urteilen müssen es ostdeutsche Schalmeispieler sein. Der Rest besteht aus Parasiten, die zu disparat sind, um es zum Faschisten zu bringen, aber in der richtigen Verfassung, um es nach einigen Jahren erfolgloser Heilssuche ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Daniel stellt mich vor, die nüchterne Berufsbezeichnung »Kunstmaler« provoziert Gelächter, er muß das Mißverständnis ausräumen, daß ich nicht herbestellt sei, um der Fassade der Russenkaserne einen neuen Anstrich zu pinseln und zu bürsten. Ich würde auf einem Feld operieren, das mir bis jetzt nicht ganz eingängig sei, als Multitalent fiele mir der Anschluß an eine Gruppe von Gleichveranlagten bestimmt nicht schwer. Der 107

widerliche Anflanscher! Natürlich herrscht nach seinen weihevollen Worten erst recht Unklarheit darüber, was denn nun meine Rolle in den Mysterienspielen der nächsten Wochen sein könnte. OPP TIKK will nicht zurückstehen, sie hat auch zu lange geschwiegen. - Er macht euch komplett! Ihr wißt: Kortex und Kodex, that’s the point. That’s the reason why he is mit uns at this place. Er wird Seelenreinigen mit uns allen. You know: There is no ›I‹ in teamwork … Die befriedete Meute frohlockt und bricht in Jubel aus: das Exotenenglisch hat alle Zweifel zuckerkaramelisiert, es interessiert sie nicht, ob mein Job darin besteht, alle Grashalme der Umgebung krötengrün anzumalen oder jede volle Stunde laut anzuzeigen. Die Meisterin hat ihrer aller Egozentrik in die Schranken verwiesen, sie hat sie belehrt, daß sich Dummheit bezahlt macht, daß es ihnen nicht zusteht, einen klaren Gedanken zu fassen. OPP TIKK nestelt zufrieden an ihrem Silberskarabäus, sie dreht ihn unentwegt an ihrem kleinen Finger. Mittlerweile hat sich Daniels Verwirrung gelegt, und er lächelt seiner fast zwergwüchsigen Frau zu, die es immer wieder schafft, ihn als ihren Hausneger dastehen zu lassen. Es ist ja nicht so, daß OPP TIKK nicht ein verständliches Deutsch sprechen könnte, sie hat Volkshochschulkurse besucht und in peinlich kalkulierten Amouren mit Nichtausländern ihre Sprachdefizite größtenteils behoben. Unter Künstlern erfreut sich jedoch Deutsch als Verkehrssprache keiner großen Beliebtheit, und die Unterweiser in Seelenreinigung, vor allem sie, dürfen und müssen radebrechen. - Wir danken dir, OPP TIKK, für deine Erhellung. Da unsere Gruppe jetzt vollzählig ist, können wir zur Tat schreiten. Heute abend tun wir aber gar nichts, ihr sollt erst einmal ankommen, verschnaufen, euch in euren Zimmern einrichten, und wenn euch danach ist, eine kleine Erkundungstour unternehmen. Die Zimmerbelegung erfolgt nach euren Wünschen, es sind sieben 108

Einzelzimmer frei, der Rest muß sich also auf die verbleibenden zehn Großräume verteilen. Ich glaube, das ist kein Problem, Sinn und Zweck unseres Workshops besteht ja darin, daß wir zueinander finden und die Kunst erlernen, in der Gruppe zu agieren. Noch eine wichtige Mitteilung: Die Frauen haben hier das Sagen! Wir, die Männer, ordnen uns ihnen freiwillig unter, wir ziehen uns zurück und erheben keinen Anspruch auf Herrschaft. Wer sich mit dieser Fundamentalmaxime nicht anfreunden kann, soll es hier und jetzt sagen und gleich von hier verschwinden … Willkommen in der Hippiekommune. Ein männlicher Feminist ist in etwa so abartig wie ein kastrierter Kapaun; hinzu kommt, daß er eine kommode Position einnimmt: längst haben die Schlampen der Metropolen die Gossennuttentarife verinnerlicht und verfügen über eine Art Gewissen: zäh und gleichzeitig biegsam wie Dildogummi. Daniels Worte haben aber den schäbigen Gruppensaal in einen Hort der Geschlechterverständigung verwandelt. Die beiden Frontlesben schauen drohend in die Runde, es wird sich bestimmt kein Mann freiwillig der drohenden Kastration aussetzen, sollte er seine Bedenken öffentlich äußern wollen. Vielleicht täusche ich mich auch, denn der Idiot, der sich Notizen macht, hebt die Hand zu einer Wortmeldung. Die Schlammaske richtet sich auf ihrem Stuhl auf, die verliebten Lesben ballen ihre Hände schon mal zu Fäusten. Ich hab zu ner andren Sache ne Frage. Machen wir ne paritätische Aufteilung auf, also alles gerecht nach Mann und Frau, oder wohnen Männer mit Männern in nem Zimmer und Frauen mit Frauen? Danke, Mauritius Pink. Wenn ich dich richtig verstehe, willst du wissen, ob die Frauen unter sich bleiben wollen oder in den Gruppenzimmern einen Geschlechtermix zulassen. Wir Männer richten uns in dieser Frage natürlich auch nach den Frauen. OPP TIKK, vielleicht kannst du uns in diesem 109

Punkt erhellen. Gendermix o.k., no problem. It’s a question of personal interest, we will see, women will decide über this point. Also, ich will mal so sagen: allein, daß der Typ so n Ding zur Sprache bringt, zeigt doch, daß er ganz klar n Macker ist. Ich hab keine Lust, daß mich n Kerl anstarrt, wenn ich Lust hab, nackt auf dem Bett zu liegen. Ich will kein Typ in meinem Zimmer … Nach den Molkereiprodukten zu urteilen, die sie vor sich auf der Schulbank verteilt hat, schwört die Frau auf vegetarische Kost. Sie hört sich an, als würde sie an einem Mörtelbrocken kauen. Ich erkenne in ihr sofort die chronische Nörglerin, sie hat sich in den Kurs aus dem alleinigen Grund eingeschrieben, um so viele Menschen wie möglich, vorzugsweise Männer, der fatalen Neigung zur Unsensibilität und animalischer Triebhaftigkeit zu bezichtigen. Ich setze sie auf meine Todesliste. No, no, Pink is a smart guy. Please, relax, jeder muß relaxen. Genau, darin liegt das große Geheimnis: daß wir die Gemeinschaft suchen, nicht aus einem Bedürfnis, aus einem Verlangen oder einer Notsituation heraus, sondern weil wir entspannt sind und weil die Entspannung unserer wahren Natur entspricht. Gleichzeitig werden wir in den japanischen Ausdruckstanz eingeführt, hauptsächlich von OPP TIKK, die, wie ihr wißt, auf diesem Gebiet der Tanzkunst das sogenannte Zeichen des Leuchtsterns erhalten hat. Wir dürfen zu Recht gespannt sein. OPP TIKK hat sich durch die Off-Theater Japans durchgebumst und aus der Gunst der Jungregisseure leider keinen Profit schlagen können – selbst für die zweitwichtigste Nebenrolle in einem Bürgerschauhaus reichte es nicht. Wenigstens hat sie die Zeichen der Zeit erkannt und rechtzeitig einen Europäer 110

geheiratet, den sie alsbald durch einen Deutschen ersetzte, der einem jungen Deutschen Platz machte, der Daniel weichen mußte. Die Erfahrung von drei gescheiterten Ehen und einer gelebten offenen Beziehung mit Trauschein hat sie gelehrt, daß das Ziel die Mittel heiligt. Sie hört nicht genau hin und ist scheintolerant. Hier, in einer westdeutsch inspirierten Enklave im anderen Land, im Wirrwarr der Eklektizismen, wird sie in der Rolle des Menschenwärters vollends aufgehen. Mauritius Pink bahnt sich einen Weg durch die kleinen Gruppen, die sich stehenden Fußes erregt unterhalten, doch OPP TIKK hat für heute genug von enervierenden Grundsatzfragen. Sie hakt sich bei mir unter und drückt ihren Zeigefinger auf mein Handgelenk, um mir den Puls zu fühlen. Was meinst du, werden wir diesen Haufen bändigen? Ich habe so meine Zweifel. Drei Wochen sind eine lange Zeit. Ja, ich weiß. Gibt’s Neuigkeiten? Ich habe gehört, deine Ausstellung ist verschoben. Sie ist nicht verschoben, sie ist gestrichen. Pech. Ach ja. Das ist jetzt genau eine Periode her, daß ich in Berlin war. Die Stadt fehlt mir. Trotz der Pleiten fühlt man sich ganz aufgehoben. Quatsch. Du haust doch regelmäßig ab. Wie mir zu Ohren kam, zuletzt mit einem jungen Holländer. Ich brauche Abwechslung in meinem Leben. Du kennst Daniel, wenn er mich ins Kino einlädt, erzählt er allen Leuten, daß wir die Nacht durchgemacht haben. Mit ihm ist nicht viel los, im Bett langweilt er mich zu Tode. Bist du belegt? Nein, ich habe keine feste Freundin. Wirklich schöne Aussichten. Wir beide werden unseren Spaß haben, meinst du nicht auch? OPP TIKK, das geht nicht. Daniel ist ein Freund. Hör doch auf. Du hast keine Freunde. Außerdem hat es dich 111

auch nicht davon abgehalten, mich zu ficken, als Daniel und ich frisch verheiratet waren. - Du hast mich verführt damals. Strenggenommen haben wir auch nicht miteinander gefickt. Wir haben uns gegenseitig geleckt. Ich verstehe. Was hältst du von Nane? Wer soll das sein? Sie hat Heilerde aufgelegt, damit läuft sie stundenlang herum. Sie ist Dänin, die haben bekanntlich lockere Sitten. Ich glaube, Schwedinnen sagt man eine gewisse Lockerheit nach. Nane sieht doch aus wie eine arische Spitzenzüchtung. Der Haken an der Sache: sie hat bisexuelle Ansichten. Ob sie damit kokettiert oder tatsächlich mit Männern und Frauen ins Bett geht, wird sich noch zeigen. Nimm dich vor ihr in acht! Ich bin Kunstmaler, vergiß das nicht, ich muß arbeiten, deshalb bin ich ja hier. Sie zwackt mich in die Flanke und versucht mir zuzuzwinkern, dabei schließt sie beide Augen. Vier Männer bilden eine Putztruppe und schwärmen in alle Winkel aus, um die Etage von Spinnweben und Rattenködeln zu reinigen. Istafa muß es erst mit sich ausmachen, ob er ihrem Beispiel folgen will, er steht untätig herum und wird von Mauritius Pink angesprochen. Ich frage mich, wie man sich in Gottes Namen nach einer gefährdeten Tierart nennen kann. Daniels Vorschlag, im Erlebnisgasthof »Zur Goldenen Aue« hausgemachte böhmische Knödel zu verspeisen und dabei Eddy, dem singenden Kellermeister und Hausmusikanten, zu lauschen, wird fast einstimmig abgelehnt. Nur Pink enthält sich der Stimme. Im Vorbeigehen rempele ich die Vegetarierin absichtlich an, und als sie schon zum Lamento ansetzen will, zische ich und blase Luft in ihr Schrumpfgesicht. Die Fronten sind klar gezogen, sie weiß, daß ich auf die Gelegenheit warte, ihr das Genick zu brechen 112

oder wenigstens heftigen Schmerz zuzufügen. Ich bekomme auf ausdrücklichen Wunsch ein Einzelzimmer, ich habe keine Lust, mich mit Frauen herumzuschlagen, die ihren nackten Körper ausspielen. Die Wände sind feucht, der Schimmel zeichnet Flecken an der Decke, in die man, wenn man nur lange genug stiert, Jesusgesichter hineinphantasieren kann. Zwei Spinnen sind schnell zertreten, anderes Ungeziefer läßt sich nicht entdecken. Ich muß ohne Kissen auskommen, durch die dünne Matratze spüre ich den kalten Betonboden. Die vergilbte Tüllgardine aus Zonenzeiten starrt vor Schmutz. Ich bin einem Haufen Irrer als Dompteur zugestellt. Eine eindeutig schlechte Gesellschaft.

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FAMILIENALBUM Auf das erste Blatt des Skizzenblocks zeichne ich nicht, der Aberglaube hält mich davon ab. Der Versuch, den Landschaftsausschnitt, den ein flüchtiger Blick aus dem Zimmerfenster erfaßt, in wenigen Bleistiftstrichen zu skizzieren, mißlingt gründlich. Die Natur lohnt nicht, festgehalten zu werden, sie ist nicht mehr als der Boden, der die Exkremente aufnimmt, die Nährstoffe von endgültigem Unrat scheidet, und das verwertbare Material allen Geschöpfen bereitstellt, die davon kosten wollen. Die Primitiven gehen ohne festes Schuhwerk, ihre Fußsohlen sind benetzt von Spaltprodukten der Verwesung. An ihren Händen klebt das Blut kleiner Schädlinge, daher sollte man sie aus einigem Abstand grüßen, ohne auf ihre Kulturmethoden der Begrüßung einzugehen. Die verpfuschten Skizzen versehe ich mit einem roten X und setze trotzdem meine Signatur darunter. Mein nächster Angang gelingt, die im Rund ungelenk geschmierten Buchstaben ergeben ein Gesicht, das mir bekannt vorkommt: meine Cousine zweiten Grades, eine Frau, die Heilmagnetiker und Handaufleger mit zweifelhaften Sondergratifikationen aufsuchte, zeit ihres Lebens. In Erinnerung geblieben sind mir ihre Weihkessel aus eigener Herstellung, ihr dreitägiger Neapelausflug hatte ihr wahnwitzige Ideen eingegeben. Sie stanzte Löcher in den Bauch einer leeren, peinlich sauber ausgewaschenen Konservendose, hakte Ketten hinein, die zu einer großen Öse zusammenliefen, und hängte an jedes Glied der Kette eine Muttergottes aus Elfenbein. Statt Weihrauch verbrannte sie Mistel, es sollte gegen Maloggio, gegen den bösen Blick helfen. Auch hat sie ein Gefahremblem in den Oberarm gestochen mit glühender Nadelspitze: weil sie zu ihrem Körper stand, ohne wirklich je körperlich zu sein, mußte 114

sie diesen ihren Körper mit ungewöhnlichen Chiffren versehen. Denn sie war für Krankheiten anfällig. Ihre vorübergehende Taubheit, die den Ärzten ein Rätsel aufgab; die Steißbeinwehen, daß ihr das Sitzen trotz der Stützpolster und der aufblasbaren Hämorrhoidenringe zu einer Marter wurde; die Verspannungen, so als hätte man ihr eine Nackenschelle angelegt; ihre Hautausschläge, die auf Ärger oder eine Abweisung folgten: Sie war weit davon entfernt, zu ihrem Körper ein technokratisches Verhältnis zu kultivieren, wie es in zivilisierten Gegenden doch üblich sein sollte. Also eine Primitive, die bei der geringsten Gefahr ihre mobilen Alimente an sich riß und – noch schlimmer – auf das wenige, das sie besaß, stolz war. Armut entbindet: die Wellblechhüttenmoral der Zukurzgekommenen. Den Reichen fehlt es allein an einem Mittel gegen den körperlichen Verfall. Den Lumpen aber ebenso. Aus dem chronischen Notstand läßt sich also keine Vergünstigung im Sinne eines Tugendmehrwerts ableiten. Ihr Mann vertrat diese Ansicht, doch er konnte sie nicht überzeugen. Er sagte: Der heilige Franziskus war ein Irrer, nach heutigen Maßstäben würde man ihn zur lebenslangen Psychiatrie-Unterbringung verurteilen, ohne Aussicht auf eine Lockerung des Maßregelvollzugs. Ein aufrechter Deutscher, ein Bollwerk gegen die primitiven Bräuche, denen die Gesellschaft, in der er zu leben gezwungen war, aufsaß. Doch gegen die schleichende Erweichung seiner Frau konnte er nichts ausrichten, er war machtlos. Er machte immer mehr den Eindruck eines über die kalte Jahreszeit gekommenen Trebegängers. Dem Geschlechtsverkehrentzug seiner Frau begegnete er mit maßvollem Tadel. Er sagte: Franziskus war ein Hund des Friedens. Es half alles nichts, sie verkümmerte zu einem Geschöpf und hielt sich schließlich ein junges Nichts, das als Nachwuchsschriftstellertalent gehandelt wurde. Der Titel seines humoresken Erstlings lautete: Start in die Grillsaison. Es gab nichts zu lachen. Ihr Mann überging die Liaison, erwog aber, dem Jungspund alle Knochen brechen zu lassen. Das war 115

es nicht wert. Schließlich verklebte er auf der Leimrute ihrer Temperaturfühligkeit und fing an, ihre Passion der Krankheiten der Reihe nach nachzuempfinden. Sein rechtes Ohr fiel zu, das statische Rauschen verursachte Kopfschmerzen, die halbseitige Taubheit fraß seine Selbstsicherheit und seine Würde an. Bevor er sich schlafen legte, träufelte er Glycerinlösung ins Ohr, in der Hoffnung, der verklumpte Schmalzpfropfen möge sich verflüssigen. Daß sein Körper Sekrete absonderte, war ihm zu Recht peinlich, seine Frau machte seine Ausflüsse zum Gegenstand ihrer Behauptung, der Europäer erlebe das byzantinische Stadium seines Niedergangs. Er konnte und wollte ihr nicht folgen, er suchte einen Hals-Nasen-OhrenSpezialisten auf, und nach einer Ohrspülung war er vollends wiederhergestellt. Schicksals Schelle, sagte seine Frau, die sich nun das Vokabular eines eingedrungenen Vorderasiaten aneignete, mit dem zu speisen der aufrechte Deutsche schlicht ablehnte. Ein Buhler, egal aus welchem Kulturkreis, kam ihm nicht ins Haus. Ehrenwerte Ausgänge sind selten. Er bat mich um ein Familientableau. Wir entsprachen den Wünschen seiner Frau. Sie ist nackt, so als wollte sie ihre Banausie ausstellen, er ist bekleidet wie ein moralisch einwandfreier Zivilist. Er krümmt seine Füße nach innen, er hat Schuhgröße sechsundvierzig, immer wenn er schwimmen geht, versteckt er seine Füße vor den schadenfrohen Mädchen. Es liegt eine Todesahnung in ihren Gesichtszügen, wenige Monate später erlag er einem Herzinfarkt. Ich habe sie in Kontrast zu einer tiefroten Stofftapete gesetzt und ihre Körperkonturen dick aufgetragen. Die beiden Figuren sind von einem dünnen Schmierfilm überzogen, es könnte auch der Morgentau sein. Der Mann spannt sich, auf dem Sofa ist nur so viel Platz, daß sich seine rechte und ihre linke Seite berühren. Vielleicht schmerzte ihm auch der Hautriß unterhalb seines Steißbeins, er hatte die Krankheiten seiner Frau noch nicht vollständig durchlitten. Ich sehe das skizzenhafte Gesicht der 116

Frau, das ich aus der Erinnerung heraus gezeichnet habe. Ich lasse so viel Spucke herabfallen, bis die Buchstaben verschlieren. Unkenntlichkeit steht ihr gut. OFF TIKK ist untröstlich, ihr Wehklagen hallt durch den ganzen Stock, Daniels Trostsprechung geht im allgemeinen Lärm unter, die Seelenreiniger sind im Flur zusammengeströmt und stellen Vermutungen darüber an, welcher Mann das Zeug zum Attentäter habe. Es herrscht Einigkeit darüber, daß nur ein Mann zu dieser Art von Niedertracht fähig und willens sei. Der verhauchte Mitschreiber versichert in einer Lautstärke, die ich ihm nicht zugetraut hätte, er könne einen solchen barbarischen Akt als erklärter Tierfreund nicht übers Herz bringen. Ich pflüge mich durch die Meute, der Biokost-Sesamkringel liegt mir schwer im Magen, und sehe dem geschundenen Vieh in die Augen. Es fängt sofort an zu knurren, ich knurre zurück und unterdrücke meine Lust, es vor den Augen der Irren mit gezielten Tritten auf seinen Schädel zu lynchen. Sein Auge ist entzündet und wirkt wie eine nässende Eiterpustel, ich entdecke zu meiner Freude weitere klaffende Wunden an seinen Hinterbacken, die nicht von mir zugefügt sein können. Es scheint, als hätten sich die derben Dorfjugendlichen einen Spaß daraus gemacht, die Labradorhündin durch Feld und Tal zu hetzen. Ein abgebrochener Armbrustpfeil steckt dem Vieh im Fleisch, den Schaft muß es unterwegs verloren haben. OPP TIKK steigert sich in die Hysterie, den Schweinen, die ihr Hündchen derart zugerichtet haben, wünscht sie, Gott möge sie mit Blindheit und biblischen Plagen treffen. Als ihr das Alte Testament nicht mehr genügt, fällt sie in ihre Muttersprache zurück und befeuert die anonymen Attentäter mit kurzsilbigen Krachsalven. Das Tier wird den heutigen Tag nicht überleben, auch wenn sich nun in aller Schnelle ein Samariterkommando formiert, um den nächstbesten Veterinär aufzusuchen. Ich stelle mir den Tierarzt vor, wie er um Worte ringt und den Irren im Behandlungsraum eröffnet, er könne nichts anderes tun, als dem 117

Hündchen weitere Qualen zu ersparen und es einzuschläfern. OPP TIKK ist nunmehr zur Schmerzensmutter geadelt und kann in der Drecksstadt Berlin, in irgendeiner Drecksbar, irgendwelchen kunstehrgeizigen Dreckszivilisten eine nette Geschichte erzählen. Ihr Exotenenglisch verzaubert die deutschen Männer, die bei ihren Puffbesuchen eigentlich an den Schlitzaugen vorbeiziehen, weil sie glauben, daß es sich dabei um hübsche Transvestiten handelt, geschlechtsoperiert und mit Silikon und Kollagen zur Frau gerichtet, aber immer noch heimlich Mann. Ich habe das Vieh in der Dunkelheit nicht als OPP TIKKs Schoß- und Leibgardenhündin ausmachen können, dabei ist sie mir vertraut. Sie brachte sie zu den Schäferstündchen mit, und weil das Vieh in seiner Eifersuchtsrage sich zu einem heftigen epileptischen Anfall hineinkläffen konnte, strich sie ihm Valiumtinktur auf seine Lefzen. Wir warteten zehn Minuten ab und gaben uns dem Liebesspiel hin … OPP TIKK delegiert ihre Vollmacht an Daniel, der feierlich kundtut, Mauritius Pink sei zu seinem Vize erhoben, und so bedauerlich der Vorfall auch sei, man müßte das Programm einhalten. Wahrscheinlich hätte ich OPP TIKKs Offerte nicht abweisen dürfen, sie hat wohl Daniel die halbe Nacht bearbeitet und mit der Offenlegung seiner kleinen Geheimnisse gedroht, so daß Daniel vor dem drohenden Gesichtsverlust nichts anderes übrig blieb, als ihrem Spätzchen zu Willen zu sein. Er ist im Grunde seines Herzens ein grundgütiger Kinderficker, man sollte mit ihm genauso verfahren wie mit den räudigen Kötern im Orient: den Lauf der Waffe in den Anus bohren und abdrücken. Jedenfalls bin ich in der Hierarchie zum bloßen Handlanger degradiert. Von Pink droht den beiden keine Gefahr, er ist ein Wicht mit Großmachtphantasien. Ich habe gelernt, daß ich mir als Kultursöldner keinen Charakter leisten kann. Daniel ruft die Meute auf dem 118

Appellplatz vor dem Hauptgebäude zusammen und läßt mich und den Vize Kieselsteine auf den Boden streuen. Die Adepten laufen auf und ab, die Schlammaske verzieht keine Miene, die Lesben unterdrücken erst ihren Schmerz, quieken aber dann doch auf wie Ferkel auf Pille. Hiernach stülpen sich die Adepten Chirurgenhandschuhe über und ertasten geschälte Zwiebelknollen. Dann soll jeder die Augen schließen, die Hand in eine Obstkiste mit Styroporflips tauchen und sich vorstellen, wie »die Gefühle« von den Fingerspitzen zu einer Ameisenkolonne transformiert werden, die auf unsichtbaren Minipfaden hoch zur Schulter krabbelt, sich durch Brust und Bauch einen Weg bahnt, um am und im Genital ein angenehmes Brennen zu erzeugen. Dieses Gefühl wiederum sei der göttlich inspirierte Appetit auf Sex, schlechthin das Gefühl der aller Hemmnisse befreiten Menschen. Er leckt sich vor Lüsternheit die Lippen und schaut der Schlammaske auf die Brustspitzen, die durch das fast transparente T-Shirt stechen. Ich bin nicht so dumm gewesen, die Augen geschlossen zu halten, Daniels Einlullung zeigt Wirkung, und die Adepten wiegen sich hin und her wie unschuldige Lämmer. Vor Wohlbehagen ist dem Vize die Brille auf die Nasenspitze gerutscht, die artifizielle Entrückung zeichnet in die Gesichter der Meute einen äußerst verschlafenen Ausdruck. Die Irritation ist Programm. Daniel gibt die Anweisung, Übungen in Angriff zu nehmen mit dem Ziel, »die Seele am Zipfel zu packen«. Er läßt Kleiderbügel verbiegen, Stoffe zerschleißen, Papier knüllen, Schnürsenkel reißen, Löcher in Plastiktüten bohren. Wir sollen daraus die Erkenntnis gewinnen, daß man die Materie kaputtmachen kann, daß wir in unserem alltäglichen Leben von großen Gebäuden und gigantischen Bauwerken eingeschüchtert würden, aber auch gestapelte und aufgetürmte Materie habe keine wirkliche Konsistenz, sie sei schlichtweg von Menschenhand geformter toter Stoff. Ich bin beeindruckt, daß diese banalen Anleitungen aus der Bastei- und Werkstoffkunde 119

auf großen Parasitenhunger stoßen. Daniel hat zur Feier des Tages seine Bottinen angezogen, die er mittels eines Knopfziehers knöpft und am Absatz mit Ziersporen versieht: ein Dandy im Glück, der verkleidete Hanswurst und Meister aller Vulgärfassungen. Die Sockenbündchen schneiden ihn in die Wade ein, und er kratzt sich einfältig an den geröteten Körperstellen. Er bittet die von den Übungen schweinisch schnaufende Meute in den Fakirsitz und wünscht, einem jeden möge nun aus seinem Schoß eine Lotusblüte entwachsen: er drückt die Handkanten aneinander, wie als wollte er Wasser schöpfen. Doch der Andachtsmoment schlägt nicht an, OPP TIKK und ihr Frauenbataillon kommen mit quietschenden Reifen auf dem Hof zum Halten und quellen aus dem Auto heraus, und tatsächlich, sie sind ohne Hündin zurückgekehrt. OPP TIKK wirft mir das Flohhalsband ins Gesicht, ihr Faustschlag geht ins Leere, dafür versetze ich ihr einen Hieb auf den Mund. Du bist der Mörder, du hast sie auf dem Gewissen. Ich hasse dich, mein Gott, wie ich dich hasse! Hau ab, ich will dich hier nicht sehen, du bist ein böser Mensch, du bist krank … Ich weiß nicht, wovon du redest. Wo ist Leila? Sie ist tot, du Schwein, du hast sie getötet. Sie hat dich angeknurrt, als sie dich sah, sie hat mir ihren Mörder gezeigt, was bist du nur für ein Mensch, oh Gott, sie ist tot, tot, tot … Ich nehme sie in die Arme, erst sträubt sie sich, doch ich halte sie in einer festen Umklammerung, schließlich vergräbt sie ihr Gesicht in meiner Halsbeuge und schluchzt hemmungslos, ihr Augenwasser und das Blut ihres wunden Zahnfleischs nässen mich bis auf die Haut. Eine Kreatur zu umarmen, die man verabscheut, ist ein seltsames Gefühl, es erregt mich, ich könnte auf der Stelle Leilas Herrchen entkleiden und grob in sie eindringen, bis sie unter meinen Stößen zu ihrer alten geheuchelten Sanftmut zurückfindet. Daniel macht seine Ansprüche geltend, er streichelt ihr wie einem Kleinkind über 120

das Haar, sie entwindet sich uns beiden und sagt, sie würde diese Nacht allein sein wollen, Daniel solle sich einen anderen Schlafplatz suchen. Er winkt mir zu, der Vize schließt sich uns an, und wir verziehen uns in das Soldatenpferch im Seitengebäude, Ich will von dir eine ehrliche Antwort. Warst du’s? Nein, ich habe mit der Sache nichts zu tun. OPP TIKKs Instinkte trügen sie eigentlich nie. Sie schwört Stein und Bein darauf, daß du Leila all diese schrecklichen Wunden beigebracht hast. Das kann doch nicht dein Ernst sein. Sag mal, was soll das alles? Du lockst mich in den Osten mit großen Versprechungen, du sprichst von einer künstlerischen Herausforderung, du sprichst davon, daß ich als deine rechte Hand immense Gestaltungsmöglichkeiten haben würde. Und nach nicht einmal einem Tag stehe ich da als Hundemörder. Ich wohne in einer Baracke, mein Zimmer wimmelt von Ungeziefer, du führst dich auf wie ein Religionsstifter und bringst einer Handvoll Perversen Gymnastikübungen bei. Und vor allem: Ich habe hier nichts zu suchen … Immer mit der Ruhe. OPP TIKK hat Leila über alles geliebt, sie steht noch unter dem Schock. Vielleicht solltest du ihr in einer ruhigen Minute erklären, daß du tierlieb bist … - Daniel, ich bin nicht tierlieb. Ich mag keine Haustiere und ich mag keine Zimmerpflanzen. Ich gehe auch nicht in den Zoo, um irgendwelchen bedrohten Tierarten dabei zuzusehen, wie sie mir zusehen. - Gut, das tut alles nichts zur Sache. Wichtig ist allein, daß wir jede unnötige Aufregung vermeiden müssen. Ob du meine rechte oder linke Hand bist, ist auch nicht weiter wichtig. Wir müssen zusammenhalten, du hast richtig erkannt, daß die Kursteilnehmer, sagen wir mal, etwas eigen sind. Was du hier hast, sind die billigen Ränge. Mach dir doch 121

nichts vor. Sie sind ungeschliffen. Du, Mauritius und ich müssen zusammenhalten. Äh, entweder ganz oder nur Pink. - Was? Ich meine, nenn mich entweder bei meinem vollen Namen, also Mauritius Pink, oder, wenn es dir zu lang ist, dann schlicht Pink. O.k., ich werd’s mir merken. Ihr kennt euch nicht so richtig, oder? Nein. Ich weiß nur, ich bin der Bühnenbildner, was immer das auch heißen mag. Und Pink ist, nun ja, deine rechte Hand. Darunter kann ich mir alles und nichts vorstellen. Erklär’ du es ihm, Pink. OPP TIKK und Daniel sind die Projektleiter, soviel steht schon mal fest. Ich bin dafür zuständig, daß die Kunst zur Geltung kommt, daß also das seelenerbauende Moment nicht zuviel Platz einnimmt. - Aha. Pink formuliert die Protokollpapiere, die wir der örtlichen Presse zuspielen. Er wacht darüber, daß wir den Vormittag mit Entspannung und Auflockerung verbringen, um nachmittags an der Tanzaufführung zu feilen. Er ist der technische Hallenleiter und der Produktionsassistent in Personalunion. Na ja, das klingt alles eher nach keinem als nach einem wirklichen Konzept. Wir greifen auf die darstellerischen Urtechniken der Verkörperung des Schamanismus zurück. Es wird ein Mix unterschiedlicher Stilelemente: Buto, Expressionsmime der deutschen Zwanziger, Performance Art, afrikanische Transformationsbilder, und immer wieder Buto. 122

Mensch Pink, überleg’ doch mal: Wir sind hier im dunklen Osten. Die kennen nur Zonenplaste und Kombinatskunst. Und dann kommst du und erzählst ihnen was von Transformation. Die halten dich doch sofort für einen Agenten der Gauckbehörde, der sie abwickeln will. Ich werde mich mit dem hier gängigen Vokabular vertraut machen. Außerdem dürfen wir uns dem Massengeschmack nicht beugen, das steht schon mal fest! Die Typen hier haben uns nicht gerufen, Pink. Die gehen mit beim Holzhackerfest und grölen bei original Böhmischer Blasmusik. Alles andere ist für sie Wendeimperialismus. Das muß uns egal sein. Wir haben hier einen ganz klaren Kulturauftrag. Davon dürfen wir nicht abweichen. Im Westen halten wir uns doch auch nicht daran, daß sich das Publikum von der ersten bis zur letzten Minute amüsiert. Richtig, deshalb hat die Stadt dir und OPP TIKK die Gelder gestrichen. Ihr habt vor leeren Bänken gespielt. Das hier ist ein verdammtes Entwicklungsland, nein, schlimmer noch, wir sind im Busch. Gib den Feldfellachen Gott und Teufel, Schlecht und Recht, und sie feiern dich ab. Ich versteh’ deinen Standpunkt: Komplexitätsabbau durch Regression. Ist nicht neu. Mach es für die Doofen einfach, das sind die Abonnenten, ihr Applaus wird die Klugen mitreißen. Aber so läuft es nicht. Daniel hat mir zugesichert, daß wir experimentell arbeiten werden, und deshalb bin ich hier. Na, dann hat Daniel jedem etwas anderes versprochen. Halt. Es ging von Anfang an um einen Cocktail der Stile und Tanzprägungen … Du und Pink gefällt euch in der Rolle des Volkserziehers. Ihr verschwendet eure Kraft an den Buschmännern. Für die hören die Experimente mit dem Plumpsklo auf. 123

- Als Moslem verstehst du ja was davon. - Ich könnte dir jetzt eine reinhauen, Daniel. Ich könnte auch zu der Schlammaske gehen und ihr sagen, daß du ihr vorhin auf die Titten geglotzt hast. Andererseits überrascht es mich, denn du hast bekanntlich andere sexuelle Präferenzen. Wußtest du, Pink, daß unser verehrter Massa auf unbehaarte Knaben steht? - Du verdammter Denunziant … Wir balgen uns lustlos auf dem Steinboden, unser Haß ist nicht echt, wir täuschen ein Temperament vor, von dem wir wissen, daß es die Schaulustigen beeindrucken könnte. Pink macht auch deshalb keine Anstalten, dazwischenzugehen, er würde zermalmt werden, es wäre Daniel und mir gerade recht, wenn es diesen Westentaschen-Intellektuellen dahinraffte. Er ruft uns in Zimmerlautstärke zu, mit dem Wahnsinn aufzuhören, und als hätten wir auf ein Zeichen gewartet, lassen wir es auch augenblicklich bleiben. Zum Mittagessen wird Rübenmus als Hauptspeise serviert, wer will, kann sich Butterkartoffeln aus der großen Schüssel nehmen. Dazu gibt es naturtrüben Apfelsaft in Holzhumpen und zum Nachtisch einen Obstsalat mit Pinienkernen und ganzen Erdnüssen. Die Meute ist damit beschäftigt, sich in eine Seelentiefe hineinzuringen, es wird am Tisch kaum gesprochen, vielleicht besinnen sich die Bälger auch der großelterlichen Erziehungsmaßnahmen, die sie vom Hörensagen kennen: die Brut hat zu schweigen, es sei denn, sie wird angesprochen und muß Mitteilung machen. Ich werde den Verdacht nicht los, daß sich die Aufklärung ausgependelt hat, und wenn ich mir die Früchte einer halbherzigen Libertinage ansehe, hat er, der Aufruhr der Bürgerkinder, ganze Arbeit geleistet. Die Kreaturen sind anfällig für Domestikationsmaßnahmen, die Restriktion wird sie nicht umbringen, die Erlösung ist keine hohle Parole mehr. Jeder Budenzauberer könnte diesen Haufen um den 124

kleinen Finger wickeln, sie ausnehmen, sie ficken, sie zu tödlichen Selbstzerfleischungen antreiben. Ihr Selbstwertgefühl ist ihnen eine Last, und sie visualisieren das primitive Paradies als gottgefügte Feudalgesellschaft. In der Hölle schmoren die Leibeigenen. In meine Gedanken platzt Istafa mit der Nachricht, Songül habe eine Lebensweltänderung vollzogen und mit einem gewissen Miguel angebandelt, für den sie alles stehen und liegen lasse und in seine schöne Heimat auswandere. Sieh einer an. Der Latinoboy löst sich von der Kunstfotze, er erzählt ihr, er habe sich zu der Entscheidung durchringen müssen, endlich die Verantwortung für seine Frau und Kinder zu übernehmen, um nach einer Interimsmonogamie eine infizierte Türkin zu angeln. Sie wird ihm ihr kleines Geheimnis verschwiegen haben. Natürlich haben die Primitiven aus dem Lumpenkontinent auch ihre Vorurteile, einer Orientalin trauen sie keine Schweinereien zu, nur bei den deutschen Frauen sind sie vorsichtig, die Ansteckungsgefahr hat sich bis in ihre Drogendörfer herumgesprochen. Songül bietet ihre verdreckte Schleimhauthöhle jedem Mannskerl an, der einigermaßen gut tanzen kann, ohne der Frau auf die Füße zu treten. Die Salsaneger finden Asyl in den Herzen der früh entjungferten und desillusionierten Amazonen, wenigstens dort. Als ich Istafa zuflüstere, die Länder, in denen das warme Mittelmeerklima vorherrsche, seien das Feld, auf dem Songül ihre Viren säen wolle, verzieht er angewidert das Gesicht und setzt sich weg. Bei seinem Anblick muß ich an einen Ausspruch meines Vaters denken: Beringte Männer sind verhinderte Kapitalverbrecher. Ich melde mich vom Nachmittagsprogramm ab, ich habe nicht die geringste Lust, daneben zu stehen und wie ein Animateur eine niedrige Touristenklasse zu mittelmäßigen Leistungen 125

anzupeitschen. Daniel entläßt mich mit der Aufforderung, ich solle durchs Gelände streifen und mir Ideen für die ultimative Bühnengestaltung holen. Der Kasernenhof gleicht einer heißen Pfanne, ich stolpere durch die Räume des rechten Seitenflügels und entdecke eine Längswand, die mit Pin-up-Modellen aus der BILD-Zeitung tapeziert ist, ein erstaunlich fortschrittlicher Akt, die Russenrekruten hätten viel leichter zur ostdeutschen Variante, der Super-Illustrierten, greifen können. Einige Hochglanzseiten stammen aus dem Playboy, ein armes Schwein hat vergessen, das Foto seiner üppigen Verlobten in Unterwäsche abzuhängen. - Ich wußte, ich würde dich hier finden. Es ist offensichtlich, daß OPP TIKK ihren Groll nicht gänzlich verwunden hat, doch sie liebäugelt mit einem Versöhnungspetting, und ich bin ihr den Gefallen schuldig. Sie wahrt erst einmal den Abstand, ihre Augen sind rot unterlaufen. Ich kenne ihren Trick, sie bohrt ihre spitzen Handknöchel so lange ins Augenweiß, bis die Lider anschwellen und sie jeden glauben machen kann, sie habe ihren Kummer bitter verweint. Also konzentriere ich mich auf meine tiefsitzende Abneigung und spüre die Erregung in meinen Lenden. Weißt du, daß du umwerfend aussiehst, wenn du traurig bist? Du konntest nie Komplimente machen. Dafür hast du einen zu schäbigen Charakter. Kann sein. Soll ich mich dir zu Füßen werfen, damit du mir glaubst? Das wäre schon mal ein Anfang … Sie fährt zusammen, als ich mich auf den Bauch lege. Ich lecke ihre frisch lackierten Zehennägel und schlucke einige Bäuschchen der Watte herunter, die sie beim Lackieren zwischen die Zehen gesteckt hat. Sie hat einen hohen Spann, ihre Fußknöchel sind zierlich, ich streife die Sandalette ab, und 126

sie knickt ihren Fuß zur Seite, daß ich ihre weichen Ballen saugen kann. Es wird Zeit für eine Beinenthaarung, es kostet mich trotzdem keine große Überwindung, ihre Waden naßzubeißen, in ihre Kniekehlen fest reinzubeißen. Sie nimmt mich unter ihren Rock auf, ich brauche nichts weiter zu tun, als an ihrem Kitzler, mit dem sie reichlich ausgestattet ist, zu lecken und zu saugen wie an der Zitze einer Wölfin. Am Orgasmus scheitern ihre Schauspieltalente, das weiß ich noch aus alten Tagen, und als sie kommt, still und unspektakulär, bin ich mir gewiß: ich erlange Verzeihung. Der Vize Pink in Ausübung seiner Amtsgewalt und im Bewußtsein seiner Pflichten als Kulturkommissar: er hat sich gerade eine Notiz gemacht, als Daniel zu einer Art Obrigkeitskritik ansetzte, um wohl den Berliner Bohemelinken bekömmlichen Fraß vorzusetzen. Es sind nicht wenige unter den Adepten, die es leid sind, einem uninspirierten Meister Folge leisten zu müssen. Hinter Daniels Rücken zischen und lästern sie und nennen ihn Sri Uganda: ein zum Leben erwachter Götze, unfähig, in der eurasischen Einöde den Kult der Postbarbarei zu zelebrieren. Die Menschen werden an den Waren getestet, ruft er im Schneidersitz, die Testverlierer, und das ist die überwiegende Menge, müssen lebenslang ihre gestreckte Terrine auslöffeln und bleiben ausgeschlossen. Ein Kerl im weißen Prophetenkaftan steckt sich gelangweilt eine Zigarette an, die Lesben halten Händchen und schauen in Richtung der Dorfjugendlichen, die an der Eingangspforte herumstehen und Maulaffen feilhalten. Sie haben die sitzenden Irren so lange mit Kastanien beworfen, bis ihnen ihre mangelnde Treffsicherheit peinlich auffiel und sie von dem Jux abließen. Sie bereuen ihre zahlenmäßige Unterlegenheit, am liebsten würden sie uns Westtouristen am nächstbesten Baum aufknüpfen, sie haben ja sonst nichts anderes zu tun, als Kolkraben von den Feldern zu scheuchen. Pink ist besorgt, er hat Daniels Bitte ausgeschlagen, 127

ins Dorf zu fahren und Lebensmittel einzukaufen: mit seinem Aussehen sei er das geborene Opfer der Ostjungschweine, das waren seine Worte. Ich habe mich in ihm getäuscht, es imponiert mir, daß er zu gelegentlichen Vehemenzen neigt. Heute morgen hat er sich Wodka auf die Stirn gerieben, es sei der direkte Weg, um den Alkohol dem Körper zuzuführen, er sagte es in einer vernehmlichen Lautstärke, und die Schlammaske drehte sich daraufhin verwundert um und starrte ihn mit großen Augen an. Sie ist von nicht wenigen Männern als ein Objekt der Begierde ausgemacht, dabei tut sie nichts, um zu gefallen oder die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In einem Tischplausch über die Verhängnisse der Liebe bemerkte sie ohne Zusammenhang, die Liebe sei wie ein Klettverschluß, wenn man ihn zu oft auf- und zumacht, leiert er aus. Der Vegetarierin fiel keine richtige Entgegnung ein, sie hatte sich aggressiv für eine generelle Bestrafung der Männer ausgesprochen, die es wert seien, daß man sie wie Dreck behandelte. Ich glaube, in diesem Augenblick hat Pink entschieden, Nane, die Schlammaske, um Liebe anzubetteln. Ich räume ihm allerdings keine allzu großen Chancen ein, er ist im Schreck vor der Reife ein Kindskopf geblieben. Er hat mir gebeichtet, daß er ins Schwärmen komme, wenn er lese, daß irgendwelche Kalaschnikow-Rüpel im fernen Afghanistan Buddhastatuen zu Steinklumpen zerschießen. Lange Zeit gab Pink sich einer höheren Sache hin, bis er anfing, morgens in seine halbleere Kaffeetasse zu flüstern, daß er seines Schwellencharakters überdrüssig sei. Es folgte ein Lichtvermeidungsgelübde, das er sechs Tage befolgte, aber am siebten Tage brach, es machte einfach keinen Sinn, in einem dunklen Keller zu hocken und schmutzigen Gedanken wehrlos ausgeliefert zu sein. Seinen jetzigen Namen hat er sich in der Finsternis zugelegt. Er sucht nach einer Gelegenheit, um Nane seine Geheimnisse – die Spinnereien eines lebensunwerten Bürgerbalgs – anzuvertrauen, sie mit seinem Mut zur konkreten 128

Poesie zu beeindrucken. Sie ist multitolerant, ich traue ihr aber kleine Hexereien zu. Ich finde eine paralysierte Schildkröte im Gewächs, das aussieht wie Unkraut oder witterungsfeste Pflanzen, sie kommt nicht vom Fleck und macht auch keine Anstalten, den Kopf einzuziehen, als ich sie hochhebe und kurz mit dem Gedanken spiele, sie als lebendes Geschoß gegen die jetzt lärmenden Jungparasiten am Tor einzusetzen. Ihre Stummelbeine und ihr Hals sind mit Zecken besetzt, das dumme Tier wird bei lebendigem Leibe leergesogen. Die Zeckenkörper sind zur Linsengröße aufgequollen und tiefschwarz. Ohh, ist sie putzig! Kann ich sie bitte auch mal haben? Sie wird bald tot sein. - Was? Siehst du die schwarzen Masern, das sind alles Zecken, sie haben das Tier angezapft. Ich gebe ihm noch ein, zwei Tage. Das ist ja schrecklich. Wir müssen was tun. Mein Gott, du mußt was unternehmen … Ich werde die Schildkröte einfach weglegen. Im Dschungel gibt es keine Versorgungslücke. - Was? Vergiß es. Du willst also die Schildkröte retten, ist es so? Aber natürlich. Sie ist noch ein Baby, mein Gott, sie muß ja unglaubliche Schmerzen haben. Gut, dann geh in die Küche und besorge uns Olivenöl. Und einen Abreibeschwamm. Ein Kosmetikschwämmchen tut’s auch. Ach ja, ein Glas brauche ich auch noch. Nane eilt davon, sie ist tierlieb, und ihr Respekt vor dem natürlichen Darwinismus kennt klare Grenzen, ein geplagtes Tier kann sie schlecht seinen Peinigern überlassen. Ich drehe die Schildkröte hin und her, ich klopfe ihr auf den Panzer, sie 129

scheint sich in ihr Schicksal ergeben zu haben und blinzelt träge. Ein Stoßtrupp mit Daniel an der Spitze bewegt sich auf die lärmenden Jugendlichen zu, wenn schon der Kontakt mit Einheimischen unvermeidlich ist, will man ihn auch verhältnismäßig herstellen. Die Lesben führen Eisenstangen mit sich, der Vize streckt seine Pfefferspraydose in die Höhe, die ostdeutschen Schalmeispieler stoßen Schlachtrufe aus, die Meute erprobt sich in der Kunst der Konfliktsimulation. Bevor es zum Zusammenstoß kommen kann, weicht der Pulk der Übermacht, ein typisches Verhalten eigentlich, Feigheit kennt der Ostdeutsche aus den vierzig Jahren der Untertanenrepublik, er wird einen Teufel tun und diesen seinen Charakterzug ausbrennen, nur weil er mit seinesgleichen vereinigt wurde. Aus sicherem Abstand bewerfen sie ihre Feinde mit abgeschliffenen Feldsteinen, eine kahle Göre schmettert in ihrer Wut Arierverherrlichungsparolen und wagt sich gefährlich nahe heran. Der Vize ergreift die Chance zum minimalen Heldenmut und hüllt sie im Nu in Reizgas ein. Sie weint auf der Stelle los, man mag sich ihren Keuchhusten nicht anhören, und daß sie bald erstickt, wagt man gar nicht zu hoffen. Der ostdeutsche Dorfblock zieht sich ungeordnet zurück, natürlich verspricht man baldige Vergeltung, auf deren Ausmaß ich gespannt bin. Als wollte sie den kriegerischen Akt erst ausklingen lassen, taucht Nane genau in diesem Augenblick auf, sie hat auch ihre Schönheitsmaske abgewaschen, einige vertrocknete Schlammbröckchen verkleben ihren Haaransatz an der Stirn. Hier, ich hab alles mit, was du mir aufgetragen hast. Schön. Du hältst die Stummelbeine fest, ich gieße das Öl darauf, wir lassen es ins Glas abfließen. Dann wiederholen wir die Prozedur. Den Hals reibe ich ihr mit dem Schwamm ab, sonst kriegt sie Öl in die Augen und wird uns noch blind. Ist es so fest genug? Du mußt die Finger wegnehmen, sonst bekommen die Zecken nichts ab. Faß sie an den Panzerlöchern an, ja genau … So, und 130

jetzt die hinteren Beinchen … Hab keine Angst, du tust ihr schon nicht weh, sie ist schließlich kein Plüschtier … Das brauchst du mir nicht zu sagen, ich bin mit Tieren aufgewachsen. Ekelst du dich nicht vor den Zecken? Schon ein bißchen. Können die nicht auf uns überspringen? Ich glaube, die springen nicht wie Flöhe, die lassen sich höchstens auf den Wirt herunterfallen. Das Land hier gilt als Zecken-Hochrisikogebiet. - Ach ja, wer sagt das denn? Niemand. Ich habe es in einer Broschüre über Zeckenschutzimpfung gelesen … Was passiert jetzt? Jetzt hältst du sie noch mal fest … genau, das Ölbad scheint ihr zu gefallen … und nun ist der Hals dran … ich glaube, das müßte erst mal reichen. Jetzt setzen wir uns einfach auf den Hosenboden und halten eine Weile den Mund. Wenn wir Glück haben, passiert bald das, was ich hoffe, daß es passiert. Sie läßt die Schildkröte nicht aus den Augen, und manchmal vergißt sie, für lange Sekunden, zu atmen. Unweigerlich halte auch ich den Atem an, ich spüre, wie mir der Schweiß von den Achseln herunterrinnt, ich bereue, daß ich eine solche Situation heraufbeschworen habe. Wohin wird Clarissa in meiner Abwesenheit abgetrieben sein? Ich habe etwas Geld dagelassen, genaugenommen war es Hodschas Kupplergebühr, doch sie hat geschworen, es nicht anrühren zu wollen. Als ich sie fragte, wieso sie ihre Haarspitzen anbeißt und herunterschluckt, schaute sie weg, es hatte mich nicht zu interessieren. Die Moralerosion treibt die Vagina-bemoosten Modelle an die frische Luft, Clarissa aber, die vom kranken Blut Durchströmte, kauert dumm und nichtssagend in ihrem Karton. Das ist ein Wunder! Sieh doch, die Zecken fallen ab! Na, dann können wir ja einpacken und gehen. 131

Du hast sie gerettet, du hast sie geheilt. Das ist ein Wunder! Mit Wunder hat es nichts zu tun. Olivenöl tötet die Zecken, wieso weiß ich auch nicht. Es ist nicht allein das Öl. Du wolltest die Schildkröte retten, du hast ihr Gutes gewünscht, und es hat geholfen. Ich tauche jeden Morgen nach dem Aufwachen in meine Matrix und stärke meine Kräfte und Reflexe. Das ist Heilung. Das ist Hokuspokus. Da kann ich genausogut eine tote schwarze Katze über die linke Schulter werfen und mir weismachen, es hätte mich großartig erfrischt. Du glaubst nicht an Wunder? Ach was. - Komm mit, ich will dir etwas zeigen. Sie packt mich an der Hand, ihre Hand ist klamm und seltsam pockig, sie fühlt sich an wie kalte Kirmesmandeln. Bestimmt inszeniert sie einen Schwindel, um mich auf ihr Zimmer zu holen, das sie, wenn ich richtig erinnere, auch nicht allein belegt hat. Im Flur begegnen wir der Vegetarierin, ich finde es schade, daß ich ihr in Nanes Gegenwart schlecht einen Schreck einjagen kann. Im Moment bin ich populär und ich will es nicht verschleudern. Als wir schließlich in ihrem Zimmer stehen, zeigt sie auf eine halb lebensgroße Gipsmadonna, der sie billige Rosenkränze aus Plastik um den Hals drapiert hat. Ein Puppenkopf, umrahmt von mehreren Lagen Schweiß- und Schamtüchern, ist auf einen bemerkenswert unsensibel modellierten Hals aufgesetzt, die Wimperntusche verschmiert die Augen zu schwarzen Schlitzen, aus den inneren Augenwinkeln quellen rote Schlieren herunter und gefrieren zu einem Pfropfen. Eine dicke Schicht Fixiermittel hat den Augenblick festgehalten, in dem einer Wüstenmagd eine bedauerliche Mitteilung gemacht wurde. Ich trete näher heran, um den Bartschatten der Mutter Gottes zu inspizieren. - Genaugenommen hat Gott zwei Wunder am Gesicht Marias 132

gewirkt: Sie weint Bluttränen und sie hat einen Dreitagebart. Das haut doch jeden Ungläubigen um. Wieso soll einer Frau der Bart sprießen? Das läuft nicht unter einem paranormalen Phänomen, das läuft unter Blödsinn. Bei einer Jesusstatue kann man es noch durchgehen lassen, aber bei Maria? Außerdem glaube ich, daß ihr Schimmel auf dem Gesicht wuchert. Wenn du näher herantrittst, wirst du merken, daß der Belag auf statt unter dem Fixierfilm wächst. Und die Bluttränen? Ich hab mal einen Film gesehen, in dem ein Chemiker die Wunder Gottes als billigen Schwindel entlarvt hat. Deine Blutreliquie hat bestimmt einen Hohlraum, aus dem mittels Schläuchen rotgefärbte Flüssigkeit in die Augen gepumpt wird. Auf Wunsch weint deine Maria bittere Bluttränen. Eigentlich ist mir das alles egal. Ich hab die Figur von meinem Exfreund, dem sie kein Glück gebracht hat. Sein Vater ist irgendwann zum Katholizismus konvertiert, seine Frau wollte ihm ein besonderes Geschenk machen, sie hatte ihn auch jahrelang bearbeitet, von Spott abzulassen und in die Kirche einzutreten. Wahrscheinlich hat sie die Mariafigur auf einem Trödelmarkt gekauft. Jedenfalls war ihr Mann nicht froh über das Geschenk, er hat es beim nächstbesten Sperrmülltermin entrümpelt. Der Sohn hat es sich geschnappt, er hielt es für eine gute Idee, Marias Kopf flachzuschleifen und eine Glasplatte darauf zu montieren. Aber er brach sich das Bein und hielt es für ein Zeichen Gottes. Jetzt ist es meins. Eine hübsche Geschichte … Wieso wolltest du mir eigentlich Wunder andrehen, die dann doch keine sind? Ich weiß nicht. Ich glaube, ich war dir dankbar, daß du das Schildkrötenbaby gerettet hast. Da dachte ich, ich muß dir einfach meinen Glücksbringer zeigen. Mir bringt sie nämlich Glück. 133

Deine Maria ist ein Massenprodukt. Made in Taiwan. - Na und? Die meisten Heiligen sind doch sowieso fast nur Männer. Maria ist die einzige Ausnahme unter den Erwählten. Du bist wirklich leichtgläubig. Du brauchst nur zehn Jahre durch die Gegend zu streifen und unbeirrt zu verkünden, daß der Flügel eines Engels dich gestreift hat. Es werden sich genügend Deppen einfinden, die dir glauben und Gefolgschaft leisten. Vielleicht mache ich das sogar. Der Kurs hier langweilt mich zu Tode. Ich habe mir, was weiß ich, etwas anderes versprochen. Daniel ist ein Idiot. Er schaut dir auf die Titten. Ich habe es bemerkt. Außerdem ist er ein gottverdammter Päderast. Du scheinst ihn auch nicht besonders zu mögen. Das hat damit nichts zu tun. Ich teile nur nicht seine Ansichten und Neigungen. Man sollte auf den Kinderfick die Todesstrafe setzen. Kinder sollten frei herumlaufen können, ohne Angst, vom Spielplatz in den Wald gelockt und vergewaltigt zu werden. Die Perversen versauen die Gesellschaft. Ich habe sie satt. Dann denkst du doch auch, daß man die beiden Lesben in einem Internierungslager einsperren sollte. Es ist ihr Leben. Solange sie sich nicht in aller Öffentlichkeit lecken, kann es mir egal sein. Und die männlichen Homosexuellen? Widerliche Geschlechtsverräter. Perverses Pack. Du bist ein Faschist, weißt du das? Glaub ich nicht. Ich stehe für mich ein. Aber du bist ein süßer Faschist … Sie küßt mich, ich habe es kommen sehen und mich dagegen gesträubt, das einfachste wäre, sie zu stoßen, daß sie auf ihre 134

Blutreliquie fällt und eine spitze Gipsscherbe sich in einen Rückenwirbelnerv bohrt. Ihre Bettdecke hat sie zur Hälfte umgeschlagen, ein ordentliches Mädchen. Als sie ihren Mund öffnet, um ihre Zunge auszufahren, schlägt mir ein Gestank entgegen, als hätte ich mich über ein Pissoir gebeugt. Ja, ich weiß, ich hätte dich warnen sollen. Ich mache eine Urintherapie, das ist zwar sehr gesund, hält aber vom Zungenküssen ab. Ich hoffe, du mußt dich nicht übergeben. Nein, so schlimm ist es nicht. Du willst mir doch nicht sagen, daß du deinen eigenen Urin trinkst? Ich habe ungeheure Magenschmerzen, und ich traue der Pharmakologie nicht über den Weg. Ich habe es mit Meditation und Heilkräutern versucht, es hat alles nicht geholfen. Auf Anraten meiner Homöopathin trinke ich morgens und abends jeweils ein halbes Glas Urin. Mal sehen. Na dann, wir sehen uns, ich muß mich um meine Arbeit kümmern. Bleib doch noch ein bißchen. Du mußt mich auch nicht küssen … Ich bleibe ein bißchen, wir fummeln aneinander, sie scheint den Urin aber am ganzen Körper auszuschwitzen und trotz ihrer rührenden Versuche, mich mit ihrem stinkenden Mund in Stimmung zu bringen, kann ich sie nicht penetrieren. Das Noppenkondom in der Schweißhülle bleibt ungeöffnet. Sie erzählt, daß sie die Therapie in zwei Tagen absetzen werde, ihre Homöpathin habe ihr zwar davon abgeraten, sie gebe aber immer weniger auf deren Ratschläge. Wir könnten es also bald wieder miteinander versuchen. Dann wechselt sie das Thema und verrät mir, daß sie nach dem Studium der Weltreligionen für eine Mönchsdiktatur tibetanischer Prägung eintrete, die Weisen und Kundigen sollten das Volk leiten, dem es nicht gegeben sei, zu einem vernünftigen Maß zu finden. Sie teile grundsätzlich meine Skepsis, ich sollte meine geistige Schieflage überdenken. 135

Nachts, viel später, das Mondlicht, gebrochen von den Lamellen der Holzläden, erhellt notdürftig einen kleinen Winkel meines Zimmers: mein Koffer ist aufgeklappt, das wenige an Wäsche durchwühlt. Bevor mir die Augen vor Müdigkeit zufallen, nehme ich mir vor, mich in acht zu nehmen. Jemand war hier. Er wollte, daß ich weiß, daß er hier war. Er will mir Harm antun. Seine Heiligkeit Sri Uganda döst auf zwei aneinandergeschobenen Containern für Bioabfälle, er hat die Hände auf seinem Tonnenbauch gefaltet und träumt wohl von einem Krötenbiotop vor der eigenen Strandvilla. Es scheint, als würde er für die Werbetafel Modell liegen, die ein Spaßvogel diesseits des Eingangstors für alle Adepten gut sichtbar angebracht hat: TREPTIN, DIE KEIMZELLE DER FREUNDLICHKEIT!!! Der vormittägliche Einweisungskurs ist ausgefallen, oder die Meute ist ausgeschwärmt, um Energiebuchen zu umarmen und sich an anderen Ressourcen der Natur zu laben. - Bleibe immer in der Nähe des sonnenbeschienenen Meisters, mein Sohn, da ist moralische Gefährdung ausgeschlossen! Soviel ich weiß, ist dir die Meisterwürde aberkannt worden … Ach ja, der undankbare Pöbel hat sich einem Weibe unterworfen. Auch nicht schlecht. Jetzt habe ich viel freie Zeit und kann mir überlegen, wie ich aus diesem Schlamassel ungerupft hervorgehen könnte. Ich habe nämlich so meine Zweifel, ob wir die Aufführung zustande kriegen. Zwei Wochen sind eine lange Zeit. Das sagt sich so. Das sind alles Amateure, und vor allem sind sie stur und lassen sich keine Anleitung gefallen. Daniel, ich will ja nicht klugschwätzen, aber ich habe es dir schon damals gesagt: Mit Irren kannst du keine komplexen Rollen einstudieren, die kriegen Tanztheater nicht hin. Du hast 136

dich einfach von OPP TIKK an der Nase herumführen lassen, sie hat dich bearbeitet, und du warst Feuer und Flamme. Das hilft uns nicht weiter. Du hast jedenfalls deinen Kredit verspielt. OPP TIKK hat dich erst mal machen lassen. Du hättest den Haufen von Anfang an härter drannehmen müssen. OPP TIKK ist nicht das Problem. Dieser scheiß Pink macht mir Sorgen. Er ist harmlos. Da wär’ ich mir nicht so sicher. Der läßt sich in meinem Windschatten nach vorne ziehen. Hör mal, er trinkt Vitaprompto aus putzigen Glasdöschen, weil er immer tut, was seine Mutter ihm sagt. Er weiß nicht, wo vorn und hinten ist. Auch ein Fehler, ihn zu deinem Vize zu ernennen … Er bringt die Leute gegen mich auf. Hier ein Wort, dort eine Verleumdung, und schon kursieren Gerüchte über irgendwelche Vorlieben, die ich haben soll. Na, ich weiß nicht. Ich würde mir an deiner Stelle über ihn keine Sorgen machen. Ich mache mir aber Sorgen, und zwar andauernd. Wenn wir dieses Projekt in den Sand setzen, brauche ich mich nie wieder zu bewerben. Du hättest die Irren härter antreiben sollen. Schluß damit. Ich habe da eine Idee für unsere Premiere. Ich halte viel davon, auf der Bühne dem Publikum den Rücken zuzukehren. Das hat Miles Davis auch immer gemacht. Publikumsbeschimpfung ist aus der Mode gekommen, Daniel. Denk dir etwas anderes aus. Wie findest du den Titel: Ost Hütte – West Palast? Schlecht. Wirklich schlecht. 137

O.k. Ich habe viel Zeit, es wird mir schon was einfallen. Ich sage es dir im Vertrauen: wenn du nicht aufpaßt, zieht OPP TIKK ihr Programm durch und heimst auch am Ende das Geld und die Lorbeeren ein. Ich meine, du hast eine Psychoberatung hier durchgezogen, die Meute nennt dich hinter deinem Rücken Sri Uganda … Sri Uganda? Ja. Deine Frau hat dich locker und geschmeidig ausgespielt, mein Lieber. Du hättest das Gesindel aus den Löchern treiben sollen … Jetzt fängst du schon wieder damit an. Mein Gott, wir ziehen nicht in den Krieg, also kannst du dir auch deinen Militärjargon sparen. Hast du denn überhaupt eine Idee für die Bühnengestaltung? Ich bin dabei. Solange ich nicht weiß, was und in wie vielen Aufzügen aufgeführt wird, kann ich schlecht für den richtigen Hintergrund sorgen. Falscher Ansatz. Handhabe es postmodern, es geht alles, Stimmigkeit als Element des Plüschtheaters haben wir gar nicht nötig. - Ja, dann. Noch etwas: Ich würde es dir wirklich hoch anrechnen, wenn du dich herumhörst und mir über die aktuelle Stimmungslage berichtest. Ich soll für dich herumspionieren. So in etwa. Dafür drücke ich ein Auge zu, wenn du dich wieder an meiner Frau vergreifst. Daniel, du wirst langsam paranoid. - Du hast mich schon verstanden. Jetzt laß mich bitte in Frieden … Der Putsch der Autisten gegen den offiziellen Spielleiter hat Daniels Sinne geschärft, er sieht zwar gelegentlich Gespenster, 138

seine Bodenhaftung ist aber um einiges besser, als man ihm zutraut. Seinen Besitz, und darunter fällt die promiske OPP TIKK, weiß er mit Nebenbuhlern zu teilen, sie haben ihm jedoch für die Nutzung ein Entgelt zu entrichten. Jetzt fällt mir wieder ein, wieso ich gegen jede Vernunft OPP TIKKs sexueller Belästigung nachgab, die Erinnerung an ihr verrecktes Schoßtier erfüllt mich mit Zuversicht, daß sie allesamt, ob Lehrer oder Anlernling, angreifbar sind. Daniel hat gezögert, aus einem effektivitätsscheuen Gesindel eine Kaderriege, eine vandalistische Vereinigung zu schmieden: der Angestellte im Drama seiner Verunsicherung. Er macht ein großes Getue um die Kunst, um seine Kunst, die er auf die Bühne hieven will, dabei war er in all den Jahren nur der nützliche Idiot einer Quasitaiwanesin, die um einiges besser fintiert als er. Ihm fehlt die Marktgängigkeit, er ist nicht nichtdeutsch, nicht amerikanisch schwul, nicht ethnisch different, der Gedanke an dionysische Blut- und Bodentheatralik erschrickt ihn zu Tode. Er beelendet mich, sein Kulturdreck ist Postmilleniumsscheiße, den Einheimischen wie den Eindringlingen keinen zweiten Blick wert, sein verdienter Niedergang sollte mich also nicht weiter beschäftigen. Ich habe ihm verschwiegen, daß ich vorhabe, eine große Stellwand mit nackten Miezen zu bekleben und in der Basketballhalle im linken Seitengebäude dem Publikum vorzusetzen. Eine billige Provokation für die billigen Neudeutschen, die Nachahmung der Mauer als Pornowall. Als ich in die sogenannte Pornokammer eintrete, leise, um nichts und niemanden aufzuschrecken, treffe ich den Vize mit heruntergelassenen Hosen an, sein Rücken ruckt im Rhythmus seines auf- und abfahrenden Handgriffs. Er hat sich als Vorlage ein besonders dralles Fleischstück ausgesucht. Ich will mich schon diskret davonmachen, als mein Blick auf seine sandverklebten Wadenhaare fällt. Jede Barmherzigkeit ist im Nu aus meinem Herzen gewichen. 139

- Was für ein Zufall. Ich war auf der Suche nach dir … Er läßt sich vor Schreck auf den entblößten Hintern fallen, der Schmerz fährt ihm ins Kreuz, er stöhnt auf. Weil er sich ungeschickt anstellt und es unbedingt im Sitzen anstellen will, verknäult sich der Hosenbund in den Gummizug seiner hellblauen Unterhose. Ein Erdwurm könnte nicht schöner kriechen, am Boden macht Pink jedenfalls eine bessere Figur als aufrecht und auf zwei Beinen. Soll ich vielleicht rausgehen, mich räuspern und noch mal reinkommen? Nein, ist schon gut. Himmel, ist mir das peinlich. - Wieso? Weil ich dich beim Onanieren erwischt habe? Oder weil du dir dabei Nanes liebliche Figur vorstellst? Ich finde das jetzt nicht lustig … Ich habe auch keinen Witz gemacht. Also, es ist doch völlig normal, daß du dir einen Platz aussuchst, um dich ungestört selbst zu befriedigen. Du kannst ja nicht wissen, daß du dabei von mir in flagranti erwischt wirst. Natürlich werde ich dich nicht verpetzen, es bleibt unter uns. Sicher? Sicher. Und was Nane anbetrifft: Sie steht nicht auf platonische Liebe. Entweder zeigst du Initiative oder du vergißt die Angelegenheit. Sie steht nicht auf Typen, die sie dumm anschmachten wie Wichser … das ist mir jetzt rausgerutscht. Klar. Ich war bei Daniel. Er ist außer sich, daß er nichts mehr zu melden hat. Geradezu niedergeschlagen. Das geht auf seine Kappe. Er hätte mit den Leuten etwas nachsichtiger sein sollen. Schließlich hat er es nicht mit professionellen Tänzern zu tun. Hab ich ihm auch gesagt. Mehr klare Anweisungen und weniger Eso-Tiraden. Es fällt ihm ungeheuer schwer, sich einen 140

Fehler einzugestehen. Ich traue ihm nicht weiter, als ich spucken kann. Er tut immer nur so als ob. Dachte wohl, du und ich, wir bieten ihm das fertige Konzept, und er schmückt sich damit und geht an die Presse. OPP TIKK hat mir übrigens Daniels Job angeboten. Ich glaube nicht, daß er darüber in helle Freude ausbrechen wird. Und, wirst du die Leitung übernehmen? Ich bin noch, wie soll ich sagen, in der Entscheidungsfindungsphase … Ja, das sehe ich. Du willst mich doch nicht auf die Sache von vorhin festnageln? Die Sache von vorhin ist völlig belanglos. Ich denke, du solltest es machen. Sonst geht hier alles den Bach runter. Und du? Ich bin der Bühnenbildner, schon vergessen? Du würdest mich also nicht anfeinden, wenn ich Daniels Platz einnehme? Das klingt aus deinem Mund etwas zweideutig. Heißt das, daß du in Daniels Ehebett an OPP TIKK kuscheln wirst? Himmel, wo denkst du hin! Ich respektiere sie als freie Künstlerin. Red’ nicht so einen Scheiß daher. Was glaubst du, wann werden die Ostgören wiederkommen? Heute nacht. Oder morgen nacht. Ich habe der »Dorfgendarmerie« Bescheid gegeben, daß wir unseres Lebens nicht mehr sicher sind. Der Bulle sagte mir, ich soll mich nicht so wichtig nehmen, das seien nur neugierige Burschen, und in Sachen Völkerverständigung wolle er sich am allerwenigsten von einem dahergelaufenen Wessi belehren lassen. Na dann mußt du als neuer Chef eine Nachtpatrouille 141

zusammenstellen. Nimm auch zwei Frauen, die sind intuitiv und riechen die Gefahr, die schlagen an wie Kettenhunde. Werd’ ich machen. Noch irgendwelche Tips für den Umgang mit neuroseerfahrenen Leuten? - Hetz’ sie durchs Gelände, streich’ die Besinnungsstunden. Ein hartes Training ersetzt tausend Ansprachen. Pfeif was auf die Seelenreinigung, du bist schließlich kein Kaminkehrer. Wehrsport ist unter diesen Bedingungen keine Übertreibung. Wehrsport? Ab sofort sind deine Adepten Wehrsportler, sag es ihnen, das wird sie motivieren … Eigentlich bin ich nicht gut darin, Sozialparasiten den gewundenen Weg zum Erfolg auszuleuchten; andererseits gefällt es mir mitanzusehen, wie diese gebildeten Bürgerbälger ihrer Klassenmoral gemäß sich in kleinen dummen Fraktionen ballen, um einer parlamentarischen Kultur das Wort zu reden. Mich plagen im Moment andere Sorgen: wie komme ich an Pornohefte, aus denen ich die abgebildeten Fleischportionen herauszuschneiden und auf die Stellwand zu kleben gedenke? Wenn ich das zerstrittene Führungsgremium darauf anspreche, werden sie mir garantiert die Idee auszutreiben versuchen, sie haben ja ihre Bedenken und Skrupel, und die züchtige Bedeckung des weiblichen Genitals ist in ihren Augen mit allen Mitteln zu verteidigen. Ich sehe schon den Onanisten Pink eine Feuer- und Schwertrede wider den frauenausbeuterischen Aspekt meiner Bühnengestaltung halten, und Daniel wird ihm selbstverständlich beispringen, um sich reinzuwaschen. Dieser Vize hat sich gegen Ende des Gesprächs einen vertraulichen Ton herausgenommen, ich werde ihn wohl darauf hinweisen müssen, daß er sich einen anderen Deppen suchen soll, mit dem er nach Herzenslust fraternisieren kann. Die eigentliche Frage aber lautet: Wer ist versiert in der Kunst der orientalischen Fernexekution? Heute morgen erwachte ich 142

aus einem unruhigen Schlaf, es war noch zu früh, um aufzustehen, und als ich die Knopfleiste der Bettdecke zum Fußende drehen wollte, fiel, wie ich zunächst glaubte, ein zerknüllter Papierfetzen heraus. Ich griff danach und fuhr vor Schmerz zusammen. Ein kleiner Papierstreifen war zu einem Dreieck gefaltet, darin befand sich eine Rosine, durch die eine rotköpfige Stecknadel gestochen war. Man hatte in bewußt ungelenker Kinderschrift neben einem umgekehrten Satanistenkreuz zwei Worte notiert: GUTE REISE! Der anonyme Schreiber wünschte mir den baldigen Tod, soviel verstand ich, und wer immer sich in der Exekution per Schleichpost versuchte, er mußte sich auskennen in den Künsten des schwarzen Hexerschadens. Die sogenannte Musska ist ein Verwünschungstext in arabischen Lettern, der von einer meist weiblichen Dämonendienerin in unmittelbarer Nähe von Unrat oder über der Kloschüssel auf Papier, Pergament oder Lumpenstoff geschrieben wird. Man sagt, Luzifer führe dabei ihre Hand, und weil er gelegentlich zu groben Scherzen aufgelegt sei, müsse die ihm ergebene Seele besonders aufpassen, daß das Unheil sich nicht gegen sie richte. Der Auftraggeber muß die Musska am besten dort anbringen, wo sie das Opfer berühren und ihre üblen Kräfte entfalten kann. Die durchstochene Rosine stellt aber eine interessante Abweichung von der klassischen Verfluchungsform dar, vielleicht hat man ja auch etwas Voodoo beigegeben, damit die böse Absicht doppelt besiegelt sei. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, wer mich derart hassen könnte, daß er meinen Tod in Raten herbeihext. Ich ließ die üblichen Verdächtigen im Geiste aufmarschieren, um schlußendlich nur OPP TIKK einen ausgeprägten Sinn für Heimtücke zu bescheinigen. Natürlich hat sie mir meine Beteuerungen nicht abgenommen, sie ist nicht derart verblendet, daß sie ihre dienstbaren Geister in gut und böse einteilte und Konsequenzen zöge. Wieso sollte sie sich nicht von mir lecken lassen, wenn sie weiß, daß ich ihre Labradorhündin mehr oder 143

weniger auf dem Gewissen habe? Weshalb sollte sie ihr jungenhaftes Becken nicht Daniels Mund entgegendrücken, wo sie sich fest darauf verlassen kann, daß ihr Lumpenkerl trotz seines Grolls wegen seiner Absetzung auf ihre Haut nicht verzichten kann. Unsere Werkstattbaracke ist steingewordener Bolschewismus, Berlin gleicht einem offenen Verwesungsfeld, die Menschen in Ost und West ducken und treten, wo sie nur können; aber mit einer Frau, die auf eine Tradition jahrtausendelanger Intrigantenpraxis zurückgreift, kann es kein Eurasier aufnehmen. Wenn Gott einen Finger hätte, um ihn den Sündern ins Auge zu stoßen, wären die Heiligen einäugig und das einfache Volk wäre blind. OPP TIKK jedoch verstünde es, davonzukommen und ihre Schlechtigkeit sogar vor dem Großen Buchhalter zu verbergen. Es wird schlagartig still, als ich abends in den Gemeinschaftsraum eintrete, die Lesben spucken demonstrativ aus, der Vegetarierin bereitet mein Anblick körperliche Schmerzen, Daniel und Istafa schleichen sich hinter meinen Rücken, schließen die Tür und erstarren zu zwei Portalfiguren. Sie wollen sichergehen, daß mir die Fluchtwege versperrt werden. Mir fällt auf, daß sich die Männer der Meute von ihren Stühlen erhoben haben, sie stieren mich feindselig an. Ich rühre mich nicht, eine unbedachte Bewegung und ich bin tot. Der Vize, wer denn sonst, ergreift das Wort. Hast du uns etwas zu sagen? Nein. Was ist denn passiert? Ich frage dich noch mal: Gibt es etwas, was wir wissen sollten? Scheiße, überlaßt den Kerl uns beiden, und wir plätten ihm seinen Schwanz mit dem Bügeleisen, daß er ihn einrollen kann. Das ist die ältere der Leckschwestern, sie markiert den kessen 144

Macker, ich traue ihr jede Gewalttat zu. Nane bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen und schluchzt auf. Pink genießt seine Rolle als Meister der Irren, er mag mich jedoch nicht unsanft anfassen, da mir im Eifer meiner Verteidigung die Sache von vorhin herausrutschen könnte. - Also, Nane behauptet, sie sei von dir unsittlich berührt und gegen ihren Willen angefaßt worden. Sie behauptet weiterhin, du habest sie unter Androhung roher Gewalt zur Fellatio zwingen wollen. Dazu sei es aber nicht gekommen, weil sie sich nach einem Tritt in – nun ja – deinen Schritt habe losreißen können. Wir haben Rat gehalten, nicht wenige unter uns wollten gleich die örtliche Polizei benachrichtigen. Ich habe mich dafür eingesetzt, daß wir uns zunächst anhören sollten, was du zu deiner Verteidigung vorzubringen hast … Ich kann es nicht glauben. Meine Güte, das kann doch nicht wahr sein … Ich hab dich Mistkerl in Nanes Zimmer verschwinden sehen. Du Schwein hast sie dann vergewaltigt! Die Vegetarierin. Ihr großer Auftritt: Dafür hat sie ihr ganzes Leben verpfuscht, daß sie endlich jetzt einen Mann als Frauenschänder entlarven kann. Nane hat mich mit aufs Zimmer genommen, weil sie mir ihre Gipsmadonna zeigen wollte. Wir haben uns über Wunder unterhalten, dann hat sie mich geküßt. Sie war es, die den ersten Schritt getan hat! Jetzt drehst du den Spieß um, mein Lieber. Verdammt Daniel, du kennst mich, ich würde so was nie im Leben tun … Ich kenne dich leider nicht gut genug. Hört mal zu, Leute, jetzt ist das Maß voll. Gestern Hundemeuchler, heute Vergewaltiger, was kommt denn noch alles? Nane, wie kannst du nur so niederträchtig sein! Das ist 145

doch die reinste Seifenoper hier. Das Spiel ist aus … Nane taucht auf aus ihrem Versteck ihrer Hände, die sie nun wie eine Musterschülerin halb auf die Tischkante legt, die Krähenfüße um ihre Augen zerfurchen zu Bachbetten, sie kräuselt den sonnenverbrannten Nasenrücken, und … sie gibt ein gespieltes Männerknurren von sich, dem eine Lachsalve folgt. Zur Feier der Verhandlung hat sie ihre Schlammaske abgetragen, um so mehr strahlt ihr Fuchskneifgesicht kurz vor der Offenbarung. - Hey Freunde, ich danke euch, wirklich, ihr wart auf meiner Seite, ihr habt mich ohne Ausnahme verteidigt. Die Sache ist nur die, ich habe mir das alles tatsächlich nur ausgedacht. Ein Testlauf. Ihr wißt, was ein Testlauf ist. Seitdem ich hier bin, fühle ich mich unwohl, ich war voller Zweifel, ich wußte nicht, ob ich es schaffen würde, mit euch zusammenzuleben. Wir sind ja eine Art Familie, aber es ist eine Menge in meinem Kopf durcheinandergeraten. Ich mußte unbedingt wissen, daß ich auf euch zählen kann. Jetzt fühle ich mich markiert und auf Gottes Liste gesetzt. Er hat mir überhaupt nichts getan, es war so, wie er es geschildert hat. Er glaubt nicht an Wunder, aber er hat einer Schildkröte das Leben gerettet, und ich habe mich ein bißchen in ihn verguckt. Wir haben schön geschmust, er war zurückhaltend, ich wollte unbedingt mit ihm schlafen. Vielleicht schaffen wir beide das auch. Ein Testlauf. Wirklich nur ein Testlauf … Nach Nanes Unbedenklichkeitserklärung herrscht Stille, man hört nur den zurückgehaltenen und dann in einem Stoß ausfahrenden Atem. Jemand schluckt vernehmlich. Es ist der Augenblick, in dem ich jedes Recht der Welt habe, verrückt zu spielen, mannhaft aufzuspulen. Ich bleibe sitzen. Ich starre Nane an. Plötzlich springt OPP TIKK auf, zieht ihr paillettenbesetztes T-Shirt hoch und zeigt ihre Brüste. Es geht alles sehr schnell, ich spekuliere darauf, daß sie sich in ihrer Wut nur mit einer für 146

ihren Kulturkreis typischen Zornesgeste zu behelfen wußte. Chef Pink kommt auf seine Kosten, er starrt die entblößte Exotin an und wird sich wohl, nach Nanes ungewöhnlich inszeniertem Liebesbekenntnis, umorientieren müssen. Weil Daniel in unmittelbarer Nähe steht, muß er einen Kopfhieb einstecken, Istafa ist geistesgegenwärtig genug, zur Seite zu springen, und schon eilt OPP TIKK mit peitschenden Fransen und klickenden Nieten davon, der Hüftbund ihres T-Shirts steckt zwischen ihren malmenden Zähnen. Ich bleibe sitzen. Ich starre Nane an, offenen Mundes.

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DIE FLEISSIGE MAGD Der Zugehfrau entging keine Münze. Sie stülpte die Außentaschen der Jacken und Mäntel um, sie befingerte alle ausgemusterten Lederbörsen, die ich wegzuwerfen nicht übers Herz brachte, nach Zehn- oder Zwanzigmarkscheinen. Ab und zu überkam mich die Lust, diese Ostblocksklavin für den Putz meiner Räume zu heuern, sie war sehr hilflos, illegal und für jede Art niederer Arbeit dankbar. Ihr arisches Aussehen verhalf ihr zu einem relativ ungestörten Lebenslauf, mit der Zeit überwand sie die Scheu vor schlendernden Ordnungskräften und fragte junge Polizisten nach dem Weg. Die Männer halfen ihr gern, ihre Sexualnot ist ja derart groß geworden, daß sie jeder noch so unansehnlichen Frau unzweideutige Angebote machen. Im Falle der Ostsklavin brauchte sich also keine mutige Familie und kein Pastor einzufinden, die sie auf dem Boden versteckt, bis bessere Zeiten kommen. Mir blieb es immer ein Geheimnis, wie sie es geschafft hat, ein fehlerfreies Deutsch zu erlernen. Sie bewahrte ihre Scham, wie sie armen, der Not und Pein knapp entronnenen Kreaturen, in einem Schönen Neuen Land, in das einzudringen keine große Mühe gekostet hat, zu eigen ist. Hätte sie mir ein Märchen aufgetischt, daß sie Mann und Kinder in ihrer Heimat durchfüttern mußte, daß ihr Verlobter aufgrund einer frühen Berufsverkrüppelung nicht in der Lage sei, sich nach Deutschland hineinschmuggeln zu lassen und für fünf Mark fünfundvierzig die Stunde auf irgendeiner Baustelle der Hauptstadt zu schuften – ich hätte sie umgehend vor die Tür gesetzt. Sie war mittelmäßig, und sie dachte nicht im geringsten daran, über die Lektüre von Büchern oder den Besuch von Theateraufführungen ihren durchschnittlichen Geist unter einer polierten Oberfläche zu verbergen. Kein Portier der Welt hätte vor ihr die Mütze gelüpft, kein Kavalier ihr den Vortritt 148

gegeben. Nach dem Putzen nahm sie ihr Geld entgegen und verschwand unverzüglich, so wie es sich gehört. In den zwei Jahren unserer Bekanntschaft konnte sie sich auf eine relativ sichere Beschäftigung verlassen, sie kam vorbei, und wenn sie mich zu Hause antraf, machten wir meist einen Termin für den nächsten Tag aus. Während sie im Hintergrund ihrer Arbeit nachging, stand ich vor der Staffelei, nur um etwas zu tun zu haben. Ich bin ihr nur deshalb auf die Schliche gekommen, weil sie die angeschlagene Spardose – ein Fund aus dem Sperrmüll – von Mal zu Mal entleerte. Ich weiß nicht, wieso sie so dumm war zu glauben, es würde schon nicht auffallen, Fünfmarkmünzen sind schwere Geldstücke und lassen sich, wenn man die Spardose auch nur gelegentlich damit speist, zu einer guten Summe sparen. Als ich sie zur Rede stellte, gab sie ihr Vergehen unumwunden zu. Das war ein Fehler, sie hätte, wie es die Art der Eingeborenen ist, meinen Vorwurf entrüstet von sich weisen müssen. Ich hätte nicht weiter darauf bestanden und Clarissa des Diebstahls bezichtigt. Nein, Clarissa war damals noch nicht eingezogen. Bestimmt wäre ich ob meiner Verdächtigung beschämt gewesen und hätte ihr, der Notleidenden, ein großzügiges Trinkgeld zugesteckt. Wieso hat sie ihre Schuld eingestanden, sofort, ohne Ausflüchte? Sie sagte, sie sei in meiner Schuld, und ich hätte allen Grund, der Ausländerbehörde Bescheid zu geben. Ich sagte, sie solle mir einen Vorschlag machen, wie sie gedächte, diese Schuld abzutragen. Sie verstand. Sie legte ihre Kleider ab. Ich gab ihr Anweisungen, was sie zu tun hatte und welche Obszönitäten sie in Zimmerlautstärke von sich geben sollte. Ich drehte sie auf den Bauch und fickte sie grob, es war meine Art, einer Nutte die Möglichkeit zu geben, dem Wunsch des Kunden entsprechend kein Lebenszeichen zu geben. Die Ostblocksklavin stellte sich tot, sie sagte die ihr von mir in den Mund gelegten Sätze in einem verhältnismäßigen Ton auf, der Beischlaf lief zu meiner 149

völligen Zufriedenheit ab. Danach fragte sie mich, wie oft sie zum Putzen und anschließenden Ficken kommen müßte, ich hätte sie ja jetzt in der Hand. Ich überlegte kurz und sagte: Zehnmal müßten genügen. Also arbeitete sie ihre Schuld ab, ich bezahlte sie auch weiterhin für das Putzen. Ich hatte damit gerechnet, daß sie über Nacht verschwand, aber sie liebte das Viertel und hatte Angst vor einem Umzug. Sie hielt sich an die Abmachung, sie war ein diszipliniertes Mädchen. Als ich ihr ein elftes Mal vorschlug, natürlich gegen Bezahlung, sagte sie mir, sie würde dabei erbrechen müssen, und es würde ihr nicht gefallen, anschließend sauberzumachen. Es leuchtete mir ein, daß sie mich nie wieder aufsuchen wollte, es war von Anfang an nur ein kleines Abenteuer gewesen. Ich bin ein miserabler Zeichner von Menschenrücken, aber ich versuche es trotzdem, im Moment langweile ich mich, vielleicht will ich mich auch von der falschen Beschuldigung erholen. Die Schulterblätter der Ostsklavin geraten mir zu klein, sie hatte beachtliche Schultern, wie man sie bei Arbeitsmägden auf alten Schwarzweißfotos sieht. Ihr Gesicht entartet zum Phantombild, ich bin darüber erheitert, ohne daß ich wüßte warum. Wir haben damit gerechnet. Wir wußten, daß die Ostbrut anrücken würde, um uns mit einer Strafe zu bepfeffern, sie ist primitiv, sie muß jede Ehrabschneidung und jede Verletzung ihrer Hoheitsrechte ahnden: ohne Augenmaß, ohne richtige Planung. Die Jugendlichen waren nicht gekommen, um die Fenster einzuschmeißen, sie wollten Tote stapeln auf dem Kasernenhof. Die Wehrsporttruppe West, von Chef Pink auf mein Anraten in die Nacht geschickt, verhinderte Schlimmeres. Die ältere Lesbe war in einen Faustkampf verwickelt, sie verdrosch einen Angreifer nach allen Regeln der Kunst, bis die Wucht einer Eisenkette, jenseits ihres Blickfeldes und hinterrücks geschwungen, sie jäh zu Boden riß. Sie hat einige herabsausende Stiefelabsätze abbekommen, sie steigt in meiner Achtung. Istafa ist übel zugerichtet, ein Dornring hat sich immer 150

wieder in seinen Oberkörper eingegraben, die Wunden werden auch ohne die nötige ärztliche Vernähung verheilen. Daß man die Westenklave gegen das Ostpack hatte erfolgreich verteidigen können, stärkt die Truppenmoral. Ich ließ mich erst sehen, als das Scharmützel ausgestanden war, ich redete mich mit einem schweren Schlaf heraus; dabei hatte ich durch die unzureichend abgeschrägten Ladenlamellen meines Fensters einen guten Ausblick auf die Kämpfe. Erstaunlich Pinks Könnerschaft im Umgang mit der Pfefferspraydose: erst legte er einen feinen Sprühregen auf die Bestie, dann gab er ihr mit einer Eisenstange den Ritterschlag. Ich habe zwar keine Knochen splittern hören, der eine oder andere Prolet wird sich jedoch in Zukunft das Lachen wegen häßlicher Zahnlücken verkneifen müssen. Ihr Dorf wird keine heimkehrenden Helden feiern. Daniel befürchtet, der Zwischenfall könnte sich herumsprechen und »die kunstbegeisterten Massen« davon abhalten, zur Premiere zu kommen. Die Ostdeutschen sind perfekte Geheimnisträger, Spitzeldienste sind heuer nicht mehr gefragt, und es steht ihnen nicht der Sinn danach, gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen randalierenden Volksgruppen hochzuspielen: ihr Gewissen ändert je nach Lichteinfall die Farbe – von Untertanengelb über Ressentimentocker bis zum Wechselfälscherrot. Ich wünsche Daniel Pest und Kragenschmutz an den Hals, es fällt mir nicht ein, ihn zu beruhigen. Alles wird gut. Der Stern des Meisters ist gesunken, Pink hat in kurzer Zeit eine erstaunliche Karriere vom vergrämten Intellektgnom zum Führer einer Wach- und Schließgesellschaft herbeigestritten. Jedenfalls ist das seine Version, und ich möchte ihn nicht in diesem Glauben schwächen. Der Wind hat umgedreht, ich bin bei allen Adepten wohlgelitten, die Vegetarierin hat mir sogar steinharten Vollkorn-Marmorkuchen angeboten, den ich annahm und heimlich in meiner Hosentasche zu Krumen zermalmte. Nane bin ich im geschlechtergemischten Duschraum begegnet, die 151

Schalmeispieler nahmen sich viel Zeit mit dem Shampoonieren ihrer Haare und beäugten heimlich ihre leicht asymmetrischen Brüste. Ich drehte ihr den Rücken zu, seifte mich ausgiebig am ganzen Körper. Jetzt liege ich im Bademantel auf der Matratze, ich muß zwischendurch eingenickt sein, ich bin längst trocken, und es fröstelt mich. Was könnte ich OPP TIKK antun, was könnte sie aus der Bahn werfen? Seit ihrem japanisch inszeniertem Abgang ward sie nicht mehr gesehen, ich halte es für unwahrscheinlich, daß sie abgereist ist, sie wird wohl in irgendeinem Unterschlupf über ihre Möglichkeiten nachdenken, wie sie die formbare Materie Pink dergestalt kneten kann, daß er als ihr Schoßgeschöpf kenntlich wird. Es wird wohl das beste sein, die Liaison zwischen Herrin und Knecht abzuwarten. Die Brandblasen an meinen Händen mutieren langsam zu Striemen. Ich habe die »Musska« am Ursprung ihrer Unheilsverkündung, über einer Kloschüssel, verbrannt, dabei züngelte die Flamme hoch bis zu meinen Ellenbogen, und die Asche wehte mir in die Augen. Der Siegel des Fluchs ist, wie ich hoffe, gebrochen, ganz sicher bin ich mir nicht. Ich habe mit der Stecknadel die Blasen platzen lassen, ich kann wegen der Schmerzen die rechte Hand vorläufig nicht ballen. Die Tür wird aufgerissen, und auf der Schwelle steht Nane, sie hat sich für diesen besonderen Anlaß des Ablaßhandels vom Lagunenschlamm gereinigt und einen Perlmuttschimmer mit kußfestem Naßeffekt auf ihre Lippen gezaubert. Das Versprechen der Neuen Kosmetik: keine Lippenstiftspuren an Zigarettenfiltern und Glasrändern. Der Präzisions-Eyeliner in Tiefschwarz garantiert einen perfekten Lidstrich. Makellos getrennte Wimpern ohne Klumpen per Volumen-Mascara. Der Abdeckstift mit cremiger Mine überfarbtönt kleine Sorgenfältchen, die Teintgrundierung hilft, einzelne Gesichtspartien zu modellieren. Die Regenerierende Nachtpflegecreme enthält Nanokapseln mit Vitamin A und fördert die Zellerneuerung, ein besonders sanft hautschälender 152

Aktivstoff verfeinert das Hautbild. Das Vitalisierende Augenkonturgel hilft, die Haut zu entschlacken und Tränensäcke abschwellen zu lassen. Ein fertig vorperforierter Anti-Pickel-Patch für die Nacht, die Spezialcreme für jugendliche Problemhaut am Tage. Das Hautfestigende Brust-Massage-Öl erhöht die Spannkraft der Busenhaut und verbessert die Gewebestruktur. Nanes zweite Haut, eine kosmetikstimulierte Verwandlung. Hallo. Bevor du mich zum Teufel jagst, laß mich nur eins sagen: Es tut mir leid. Es tut dir leid. Ja wirklich. Es war nur ein dummes Spiel, es hat mich weitergebracht, aber ich glaube, wenn ich noch einmal die Wahl hätte, würde ich es nicht tun. Das mußt du mir glauben! - Ich glaube es dir. - Vertragen wir uns wieder? Wir haben uns ja nicht gestritten. Wir haben danach aber auch kein Wort mehr miteinander gesprochen. Ich ertrage diese Anspannung nicht. Du siehst sehr hübsch aus … Findest du? Darf ich reinkommen? Klar. Ich habe wie versprochen die Urintherapie abgesetzt. Hast du Lust? Ich brauche nur den Gürtel meines Bademantels aufzuknoten, und schon bin ich nackt. Warte, rühr dich nicht, ich mach das schon … Ich habe sie satt, diese dummen Frauen: sie schicken Liebesbriefe an Serienkiller in Hochsicherheitstrakten; sie 153

bewirten jahrelang ihre Parasitenmännchen und himmeln hüftschwingende Hinterhofstars an; ihre Haustiere heißen Krümelchen und Weißpfötchen, sie nehmen sie liebestoll in den Arm, jeden Morgen, wenn sie das vergorene Sauerkraut und drei getrocknete Aprikosen gegessen, still und heimlich abgeführt und trocken getupft und frisch geschminkt ihrem Ehemann gegenüber Platz genommen haben. Und eines Tages stolpern sie über ihre Prothesen und brechen sich das Genick – wer sollte Mitleid mit ihnen haben? Nane gleitet zwischen die Lenden ihres süßen Faschisten und vergeudet ihren Perlmuttschimmer an einen Penis, der herkömmlich ist und den sie in ihren herkömmlichen Mund nimmt, auf daß zwei Körper von ungewöhnlichen Gefühlen in Anspruch genommen werden. Unabwendbar, sie nicht zu bumsen, ich liege unten, sie kriecht hoch zu meinem Mund, und tatsächlich, ich schmecke nur einen Hauch von Urin, der aber von ihrer Parfümwolke fast überdeckt wird. Alles wird gut. Sie nimmt meinen bespeichelten Penis in sich auf und beginnt mich ohne Übergang, hart zu reiten. Sie wird den Liebesdienst, so schnell es geht, hinter sich bringen, sie hat mir nicht einmal ihr Noppenkondom angeboten; sie wird meinen Orgasmus erfühlen und zur rechten Zeit abspringen, weniger aus Gründen der Verhütung, als vielmehr um sicherzugehen, daß ich den Samenerguß nicht simuliere. Es geschieht wie vermutet. Nane liegt zu meiner Linken, es sind nicht einmal fünf Minuten vergangen, sie steckt sich eine Zigarette an, nimmt zwei Lungenzüge und drückt die Zigarette versehentlich auf der Decke statt in der Verschlußkappe aus, die ich ihr gereicht habe. Weißt du, ich habe es geahnt, und ich wollte es trotzdem ausprobieren. Du bist wirklich ein schlechter Liebhaber. - Was? Reg’ dich ab. Vielleicht bist du noch gehemmt, vielleicht habe ich dich mehr verletzt, als du zugeben willst. 154

Das war soeben doch nur ein Entschuldigungsfick. Du brauchst mich also nicht zu psychologisieren. - Was du dir nicht alles zurechtlegst … Jedenfalls war es das erste und auch das letzte Mal. Morgen kommt mein offizieller Freund, ab morgen kennen wir uns beide nur flüchtig. Ich werde wie verwandelt sein, du wirst mich nicht wiedererkennen. Wieso ziehst du dich nicht an und haust wieder ab? Genau das hatte ich auch vor. Und üb’ noch ein bißchen, das kann noch was werden. Man muß es ihr lassen, sie hat mich aus dem Tritt gebracht. Eine ganze Stunde lang habe ich den Koitus ein ums andere Mal rekonstruiert, ich habe die Bewegungsabläufe in Einzelbilder unterteilt und eingefroren. Ich gab schließlich auf, es wollte sich kein grobmotorischer Abstimmungsfehler ermitteln lassen. Also war Nane von Anfang an auf Sabotage aus. Die Rudelmutter OPP TIKK weist den Ludern den Weg, und wenn ich an die versprochenen Tausender kommen will, muß ich mich fügen: dem geltenden Frauenrecht und anderen semibolschewistischen Sitten vor Ort. Im allgemeinen Durcheinander hat der Tagesübungsplan gelitten, und da der Premierentermin näher rückt, stecken die Kursoberen die Köpfe zusammen und beraten darüber, wie sie eine abendfüllende Aufführung hinbekommen. Da ich dem Fußvolk zugeschlagen werde, bin ich von den Treffen ausgeschlossen. Nur Pink läßt sich herab, mir die neuen Erkenntnisse und Richtlinien mitzuteilen. Man hat sich darauf verständigt, transmutierende Körperbilder zu streichen und auf klassischen Butotanz zu setzen. Wie das gehen soll und was das für die Irren für Folgen hat, ist nicht ganz klar. Ich beschließe, Pink aufzusuchen, ich halte es für das beste, ihm reinen Wein einzuschenken; er ist nunmehr auch Kassenwart, ich benötige seine Zustimmung für den Erwerb von vielleicht fünfzig Pornoheften. Sein Zimmer 155

liegt am dunklen Ende des Flurs und wird von den Adepten gemieden, sie sprechen Pink, wenn sie denn was von ihm wollen, beim gemeinsamen Abendmahl an. Er ist einfach zu unglamourös, ein Nichts, eine Verschwendung der Evolution. Schon von weitem hört man den unglaublichen Krach, den er zu genießen vorgibt, dabei klingt die Musik nach einer Gruppe von Musikwissenschaftlern, die an Alpenhörnern reiben und raspeln. Bei Pop und seinen Untersegmenten kommt nur Negertanz heraus. Sagt Pink. Er sei nicht unbeweglich, er wolle nur nicht die Füße aufstampfen im Rhythmus fremder Volksmusik. Die Tür ist angelehnt, ich gebe ihr einen Stoß, und sie geht in ihren Angeln knarrend auf: Chef Pink sitzt auf einem komischerweise pink angestrichenen Stuhl und schaut Istafa dabei zu, wie er eine Zirkelspitze immer wieder in den Posterdruck sticht, zwei miteinander harmonisierende Kompatrioten bei der Arbeit. Ich trete ein, Pink bedeutet mir, still zu sein und Istafa von seinem Tun nicht abzulenken. Bei der Nachbildung handelt es sich um Lovis Corinths »Selbstbildnis mit Panama-Hut«, die vom Betrachter aus rechte Gesichtshälfte ist leicht weggedreht und verschattet, seine Pupillen sind wie bei einem panischen Tier zu den Augenwinkeln verdreht. Das Gesicht ist unversehrt geblieben, der Rest verschwimmt unter Istafas unermüdlichen Einstichen zu einer pointillistischen Komposition. Ich kann es nicht mehr mit ansehen und nehme Istafa den Zirkel aus der Hand. Probt ihr für die Premiere, oder seid ihr nur übergeschnappt? Laß ihn mal machen. Er ist noch nicht fertig … Womit ist er nicht fertig? Das siehst du doch. Wir sind Augenzeugen einer Handlung, die man üblicherweise aus zweiter Hand erfährt. Istafa, willst du weitermachen? Nein. Ich glaube, ich bin durch. Danke. 156

Gern geschehen. Es war wirklich sehr interessant. Ich muß gestehen, zwischendurch schauderte es mich doch … - Pink, Himmelherrgott, stell’ diesen verdammten Lärm ab, Mann … so, und jetzt erklärt mir mal, was hier gespielt wird. Oh, das ist eine sehr, sehr ernste Angelegenheit … meinst du nicht auch, Istafa? Das will ich meinen. Gut, es ist kein Spiel. Was also soll ich von einem denken, der in ein Poster einsticht, während ihm der rechtmäßige Besitzer dieses Posters dabei seelenruhig zusieht? Istafa gehört zu der äußerst seltenen Menschenart der Herostaten. Er versetzt die Museumsdirektoren dieser Welt in Angst und Schrecken. Er ist ein Kunstvandale, ein Held der direkten Aktion. Ein Fall für den Psychiater, also … Spotte nicht über einen tätigen Bürgerrächer im Hinterland der Kunst! Und wie siehst du das, Istafa? Es ist ungefähr so, wie Pink es sagt. Ich mache Kulturschande weg. Müll muß weg, das beleidigt doch das Volk. Da muß man den Kopf darüber schütteln … Kunst kommt von Können … die Kunst darf den kleinen Mann, den Steuerzahler nicht abstrafen … Aha. Deshalb schleichst du dich in Pinks Zimmer und zerstörst sein Poster. Ich hab’ ihn erst um Erlaubnis gefragt. - Was? Ja, das hat er. Ich fand es ungeheuer nett, daß er mich von dem geplanten Vandalenakt unterrichtet hat. Da habe ich ihm vorgeschlagen, er möge es doch bitte in meiner Gegenwart tun. Er ist schon etwas aus der Art geschlagen, normalerweise sind Bilderhasser, wie soll ich sagen, ausgeprägte Individualisten. 157

Wißt ihr was, ihr habt euch gefunden. Ich gehe raus, und ihr springt beide ins Bett, ihr habt ja was zu feiern … - Du hast keine Ahnung. Also ein paar Fakten für den Banausen: Der 52jährige Kurt Walmen schüttet ein »UniversalAbbeiz-Fluid« über Rubens »Höllensturz der Verdammten«, in Münchens Alter Pinakothek. Er gibt sich als Philosoph aus. Er sagt, er habe mit dem Gedanken gespielt, den Bodensee von Meersburg bis Konstanz mit einer chemischen Substanz zu färben. Der 38jährige Arie van Dyck sticht mit einem Tafelmesser dreizehnmal auf Rembrandts »Die Nachtwache« im Amsterdamer Rijkmuseum ein. Das sind nur zwei Beispiele, nachzulesen in einschlägigen Standardwerken über Kunstzerstörung. Die Zeitungen haben tagelang darüber berichtet. Du siehst, Istafa ist kein Einzelfall. Das beruhigt mich ungemein. Sei mir nicht böse, Istafa, wenn ich dich trotzdem für einen Spinner halte. Ich habe Schlimmeres gehört. Erzähl ihm doch bitte, wie raffiniert du vorgegangen bist, als du als Museumswärter eingestellt warst. Hab halt von morgens bis abends rumgehockt, in meinem schönen Wachmannanzug, bin herumgegangen, hab mich wieder hingesetzt. War gar nichts los, ich mein, die Leute sind in Scharen an den Bildern vorbeigezogen und hatten keinen richtigen Blick dafür. Bis auf irgendwelche Kunststudenten mit Extraerlaubnis, damit sie ein Bild abpausen können. Ich hab mich hingesetzt … Komm doch bitte zu dem interessanten Teil der Geschichte … Ich hab die Depotbilder im Keller zerstört, weil die ausgestellten Dinger, an die kam ich nicht ran, ich mein, die waren auch meist verglast und abgesichert. Ich wollte meinen Job auch nicht verlieren, hab ich aber doch, das war wegen ’ner Stellenstreichung. Erzähl doch bitte, wie du die Bilder beschädigt hast. 158

So ’ne richtige Beschädigung war’s ja nicht, ich bin mit ’ner Zitronenhälfte über die Politur … … über die Abschlußfirnis … Ja, darüber bin ich mit ’ner halben Zitrone rüber, oder ’nem halben Apfel, oder manchmal hab’ ich den Schuh und den Strumpf ausgezogen, und bin mit der Fußsohle rüber. Du bist krank, Istafa. Nein, das ist er sicherlich nicht. Er hält sich ja noch rührend zurück. Ein Freund von ihm allerdings … Ich dachte, das sollte unter uns bleiben! Ach komm, Istafa, was ist schon dabei? Laß es mich erzählen, bitte. - Gut. Also, sein Freund ist in fremde Wohnungen eingebrochen, nur um die Bilder an den Wänden mit Schwefelsäure zu bespritzen. Es war ihm völlig egal, ob es sich dabei um Originale oder Imitate, um geschmackssichere Bilder oder kitschige Aquarellmitbringsel aus dem Urlaub handelte. Er hat, wie du mir gesagt hast, auch nichts mitgehen lassen … Wenn Geld oder Schmuck herumlag, hat er zugelangt. Ein unerhebliches Detail. Dieser Mann war auf seine Art ein Nachahmungstäter. Er hat die aktenkundigen Kunstschänder imitiert, er beschloß jedoch, die Vandalenakte in privater Umgebung zu vollbringen. Ein feiger Psychopath. Irgendwann stand er bei einer Säureattacke zu dicht an dem Objekt, und er bekam mehr als nur ein paar Spritzer ab. Seitdem ist er entstellt, er mußte von seiner heimlichen Leidenschaft Abstand nehmen. Man hat ihn nie zu fassen gekriegt, der Haß auf jede Art der Bildnismachung brennt aber weiter in seinem Herzen. 159

Du schilderst ihn, als würdest du ihn kennen, Pink. Nein, aber ich kann seine Motive sehr gut nachvollziehen. Und deshalb ehrt es mich auch ungemein, daß Istafa sich an diesem meinem Poster vergriffen hat. Eigentlich bin ich hergekommen, um mit dir über mein spezielles Problem zu reden. Na, dann schieß’ mal los. Am liebsten unter vier Augen. Ich wollte sowieso aufbrechen. Man sieht sich. Ich höre ihn polternd davontrollen, den höflichen Kunsthasser. Pink macht Anstalten, die Alpenhorn-Arhythmie aufzudrehen, ich falle ihm in den Arm, er läßt sich wieder schwer auf seinen Stuhl fallen. Das Thema ist zugegebenermaßen etwas pikant … – Nur zu. Mir ist da eine Idee gekommen, wie ich die Bühne gestalten könnte: ich werde eine Mega-Hartfaserplatte mit Pornoszenen bekleben. Pornohefte sind nicht billig, Pink, ich brauche also fünfhundert Mark für die Materialbeschaffung. Ist dein Ansatz nicht gewagt? Bestimmt ist er das. Andererseits klingen mir deine Worte im Ohr: Urtechniken, Schamanismus, afrikanische Transformationsbilder … Ich dachte dabei nicht unbedingt an Kopulationspraktiken. Du sagtest, du seist hier, weil du experimentell arbeiten willst. Wir dürften uns dem Massengeschmack nicht beugen, hast du gesagt. Ich kenne meine Motive. Also bin ich in mich gegangen, und als ich intuitiv die Pornokammer aufsuchte und dich beim Onanieren erwischt habe … Fang nicht wieder damit an. 160

Nichts liegt mir ferner, als dir deswegen einen Vorwurf zu machen, Pink. Ich will dir nur erklären, woher ich meine Anregungen nehme … - Ist schon gut. Er hat es eilig, mich loszuwerden, er bringt aus den Tiefen seiner Hose eine Chromspange zum Vorschein, aus der er fünf Hundertmarkscheine zieht. Ich muß die Entgegennahme quittieren, somit macht er sich mitschuldig an meinem Vergehen wider den ostdeutschen Krämergeschmack. Er fordert mich auf, die Ausgabenbelege aufzubewahren, auch bei unlauteren Geschäften seien Kassenbons für die finale Abrechnung notwendig. Pink, das weiße Gewissen. Nach dem Putsch kommt er sich vor wie ein Katastrophenmelder, zum ersten Mal in seinem Leben ist er in die Entscheidungspflicht genommen, seine äußerst anfechtbare Position bereitet ihm Kopfschmerzen. Er traut niemandem, mir am allerwenigsten, und natürlich will ich ihn benutzen. Um so verständlicher, daß er sich zum Gönner von Kreaturen aufschwingt, die statt Menschen Gegenstände schänden. Ich kann mir vorstellen, daß Istafa Stacheldraht um seinen Schädel wickelt, jede Nacht, aus Angst, die schmutzigen Gedanken könnten auf den Rest des Körpers überspringen. Ein Büßer, Pinks Clown. Der Voodoo-Faltzettel hat mir Angst eingejagt. Ich mache es mir zum Prinzip, die Bettdecke auszuschütteln und unter der Matratze nachzusehen, ob nicht eine weitere Exekutionspost Unheil wirkt. In dieser Nacht warte ich vergeblich auf Eingebungen. Ich sehne mich nach meiner Mongo-Maniac, nach Clarissa. Wenn die Nachtigall Maulbeeren ißt, verstummt sie, heißt es. Ich will sie wiedersehen, ich will ihr schöne Worte sagen. Vor einem Männerkuß ekelt es sie.

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DER RINGFINGER Der Mann meiner älteren Schwester behauptet, er habe den Silberring mit der Glaseinlassung einem Toten abgenommen: die Leiche lag, wie für die baldige Entdeckung präpariert, auf einem ursprünglich hellen Segeltuch ausgestreckt, das von Blut und den Verwesungssäften fast vollständig verdreckt war. Nur die vier Zipfel, an denen die beiden Mörder das mit ihrem Opfer beschwerte Tuch gepackt hatten, wiesen keine Flecken auf. Er sei vom Wege abgekommen, es hätte ihn plötzlich überkommen, nicht mehr der Nase lang zu wandern, er habe sich einfach in den Busch geschlagen. Manche fürchten sich vor dem Kellerdunkel, ihm schlotterten aber die Knie, kaum daß er von der Lichtung abkomme. Seine Angst zu besiegen sei seine klare Absicht gewesen an jenem Spätnachmittag. Keine zwanzig Schritte querfeldein stieß er auf den abgestochenen Hippie und war für die kurze Dauer seiner Totenschau erstaunlich ruhig. An das Gesicht kann er sich nicht erinnern, er habe Probleme damit, die Lebenden eines direkten Blickes zu würdigen, bei einem Toten mache er keine Ausnahme. An dieser Stelle seiner Erzählung streift er immer die Zigarettenasche ab, wie um für die Kunstpause einen offensichtlichen Grund zu haben. Eigentlich horcht er in sich hinein, ob ihn der Mut verlassen hat, oder viel wahrscheinlicher, ob er vermag, in der zehnten oder zwanzigsten Fassung ein neues Detail zu erinnern. Die Leiche des jungen Mannes, sagt er, ist mir aus der Froschperspektive erinnerlich, ich ging einem Impuls folgend sofort in die Beuge, und so fiel mir also gleich auf, daß der Junge in Todesangst die Zehen gekrümmt hatte, jeder stirbt ja anders. Vielleicht verfällt man in existentiellen Situationen in Primatengebärden, das kann möglich sein. Du spinnst, sagt dann immer meine Schwester, die auf eine Groschenblattliebe schwört und von Geschichten, die 162

nicht sie erzählt, auch nichts wissen will. Ich bin dann doch aufgestanden, sagt mein Schwager, aber nur, um diesen Silberring vom Finger des Toten abzuziehen, und das war alles andere als einfach. Wegen der kalten Jahreszeit trug ich dicke wollene Handschuhe aus Armeebeständen. Sie halten zwar warm, man kann aber damit nicht arbeiten, ihr wißt schon, was ich meine. Der Tote hatte wegen der Kälte oder der natürlichen Totenstarre richtige Wurstfinger, das Fleisch quoll zu beiden Seiten des Ringes auf, und ich habe mit aller Kraft gezogen, was hätte ich auch tun sollen? Ein normaler Mensch wäre einfach weggegangen oder hätte die Polizei benachrichtigt, sagt meine Schwester, aber da du die Geschichte erfunden hast, macht das nichts. Ich bin jedenfalls dageblieben, sagt mein Schwager, ich wollte unbedingt diesen schweren Ring, der Stein mag nicht echt sein, aber wenn man lange genug hineinschaut, entdeckt man etwas, das aussieht wie die Unschuld, mir wird dann ganz warm ums Herz. Ich habe also an dem Ring gezogen, und dann hatte ich ihn in der Hand, aber er steckte noch an dem Finger. An dieser Stelle beugt er sich zum Aschenbecher vor, mein Blick schweift ab zum Schondeckchen auf dem Sofakopfpolster, das einen Fettabdruck aufweist. Ich bin, wie gesagt, ein ängstlicher Mensch, trotzdem kam es mir in dem Augenblick nicht in den Sinn, wegzulaufen. Ich habe auch nicht daran gedacht, daß mich ein Wanderer entdecken könnte. Was hätte ich auch dem Polizeibeamten im Verhörzimmer sagen wollen? Wer Leichen fleddert, macht sich meines Wissens strafbar, ich war also eindeutig im Unrecht. Ich habe es einfach zu Ende gebracht. Der Finger war abgegangen, der Tote hatte sein Leben und alles hinter sich, nicht ich hatte ihn auf dem Gewissen. Ich wollte den Ring, und ich bekam ihn nach einiger Anstrengung auch. Den Finger habe ich erst in die Manteltasche gesteckt und an einem sicheren Ort, etwas weiter weg, vergraben. Friede seiner Seele. An dieser Stelle kredenzt meine Schwester selbstgemachte 163

Limonade oder selbstgekochte Feigenmarmelade in Kaffeeuntertassen. Wir trinken oder löffeln schweigend und betrachten still den Silberring am kleinen Finger meines Schwagers. Wie oft habe ich diesen Ring wohl gezeichnet? Mein Schwager findet die bildnerische Kunst der Neuzeit abartig, sogar entartet. Er lehnt es rundweg ab, Modell zu sitzen, er wolle vor dem Pinsel eines mittelmäßigen Malers sicher sein. Ich zeichne den Ring einer geäderten Frauenhand an, experimentiere mit Licht- und Dunkeleffekten. Die Unschuld am Boden des falschen Steins ist pure Erfindung: mein Schwager hängt dem Glauben an, das Unglück lasse sich mit einem Handstreich abwehren. Eine beringte Hand richtet nichts aus gegen die Kraft, die uns zu Boden drückt. Keine Hand. Kein Körper. Keine Beschwörung. Die Irren reden immer weniger miteinander, man weiß nicht, worüber man sich verständigen könnte, die großen Worte sind nach Daniels Wegfall als Einweiser ausgegangen. Beim Abendessen erkundigt sich Nane bei den Schalmeispielern, was den Niedergang ihrer Republik herbeigeführt habe. Es sei mit rechten Dingen zugegangen, hebt einer an, dessen Kinnlinie eine Art friesischer Bartkranz ziert, der Zerfall war peinlich, wir haben weggeschaut, kein Stil. Vom Sozialismus, ausgerechnet von einer solchen Gesellschaftsformation, habe man doch am allerwenigsten eine Stilsicherheit zu erwarten. Sagt Nanes Freund. Im Nu hat er die Irren gegen sich aufgebracht, der Idiot weiß nicht, womit er es verdient hat. Gesellschaftsformation … pah! Sein regimekritisches Vokabular entnimmt er dem Mauldreck, den Sportmoderatoren gemeinhin von sich geben, er glaubt, sein schöner Kapitalismus beweise eben das beste Händchen bei der Mannschaftsaufstellung. Er 164

trumpft neben seinem Luder auf, dessen Schamlippen er, wie Nane in einem ihrer sinnenberauschten Momente verriet, vor dem Ficken mit rosenwassergetränkten Wattebäuschchen bestreicht. Seine Instinkte sind intakt. Bei seiner Vorstellung schaute er jeden Mann – und jede Frau! – einzeln an, bis sein Blick an mir hängenblieb. Ich widere ihn an, er läßt es mich merken. Er weiß, daß es ihn große Überwindung kosten wird, mich auf meine Nebenbuhlerei direkt anzusprechen – aber er wird es letztendlich doch tun. Nane braucht ihm ihren völlig belanglosen Seitensprung nicht zu beichten, er scheint einfach auf eine lange Erfahrung mit nuttenähnlicher verdorbener Ware zurückblicken zu können. Er weiß es. Er wird mich nicht aus den Augen verlieren, seine Nane blüht bei einem doppelten Begehren auf. Wie erwartet, ist sie mir gegenüber alles andere als reserviert, sie neckt mich in Gegenwart ihres Freundes, der vor unverhohlener Aggressivität seine Rechte ballt und öffnet. Ein Skandalon, im ursprünglichen Sinne, ist ein Stellholz an einer Falle, die zuschnappt, sobald es berührt wird. Der ausgestellten Falle kann ich nur ausweichen, wenn ich Nanes Geltungssucht mit hündischer Verehrung begegne, doch der Rüde in mir will sie unbedingt decken. Ich beschränke mich allein auf kulturspezifische Angelegenheiten, wenn sich denn ein Gespräch nicht vermeiden läßt; es stachelt sie an, sie muß ein Stück Haut berühren: als ihr Freund gerade abgelenkt war, hat sie ihren Finger in meinen Hintern gebohrt, die Unterhose drang in meinen Anus, die plötzliche Penetration riß ihn leicht ein. Sogar an meiner Hose habe ich einen kleinen Blutfleck entdeckt. Es geht zu wie im Zigeunerzelt, Nanes Freund Shanti – eine schlechte Mischung dreier Rassen – kann sich für die kommenden Raufhändel nicht unbedingt auf seine Körperkraft verlassen. Den Totschläger aus Notwehr sieht man ihm an.

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Pink hat den heutigen Tag im großen Jahresplaner an der Wand des Gemeinschaftsraums rot umkringelt: keine Sperenzchen mehr, es wird ernst, die Adepten haben ihre zugewiesenen Rollen einzustudieren, wer murrt, fliegt raus. Ich bin Nane als »Beobachter« zugestellt, an Zufall mag ich nicht glauben. Shanti streckt aus seiner geballten Faust Zeige- und Mittelfinger heraus, sein Daumen schnellt in die Senkrechte, und er drückt symbolisch ab. Ich mime den tödlich Getroffenen, greife mir an die Brust. Die Ermahnung folgt auf dem Fuß, für Kinderkastenspiele habe man keine Zeit, die Duellanten sollen bitteschön ihren Kampfhahntrieben in ihrer Freizeit nachgeben. Sagt OPP TIKK. Die Adepten zerstreuen sich. Nanes Schauort ist ein feuchter Kellerraum, ich gehe durch knöcheltiefes verbracktes Wasser und stoße gelegentlich an treibende Klumpen und dümpelnde Mäusekadaver. Die fünfzehn Minuten Vorbereitungszeit sind verstrichen, und nun muß ich mich, wie der seiner Meisterin Eingebungen raunende Pink erklärte, im Schauort einfinden und auf die Privatvorführung warten. Ich verharre still in einer Ecke und starre mit aufgerissenen Augen auf die Schemen, ich rechne jeden Augenblick damit, angepackt und zu Boden gerissen zu werden. Wo hält sich verdammt noch mal Shanti auf? Gerade als ich beschließe, kehrtzumachen, löst sich die bis auf die Augen bandagierte Nane von der Wand und stößt Käuzchenlaute aus. Du bist das ideale Schloßgespenst, du wirst dem Ostpöbel richtig Angst einjagen. Wie findest du meinen Freund? Shanti ist zuckersüß. Hast du ihm von unserem Techtelmechtel erzählt? Natürlich nicht. Wie kommt es, daß er mich mit seinen Blicken tötet? Das bildest du dir doch nur ein. Wärst du an seiner Stelle nicht 166

eifersüchtig? Ich würde dich verschleiern und zu Hause einsperren. Den Schlüssel für deinen Jungfrauengurt würde ich in meinem hohlen Absatz aufbewahren … Und wie weiter? Abends komme ich mit dem erlegten Wild in die Höhle zurück, lehne die Keule an die Wand und trommele mir auf die Brust. Du bist stolz auf mich. Ich schließe dich auf, du wimmerst, ich verstehe. Ich setze an der Kehle des Tiers an und schlitze es der Länge nach auf. Du legst dich in die warme Bauchhöhle und badest im Blut … Und dann? Und dann rauscht der edle Wilde Shanti herein, steckt mich in den Tierbauch und näht ihn wieder zu. Ach komm, du hast es verdorben! Ich? Schätzchen, dein Freund macht mich äußerst nervös. Du scheinst die ganze Sache ja zu genießen. Sei nicht kindisch. Wir sind frisch zusammen, und ich möchte ihn wegen eines Sommerflirts nicht verlieren. Zumal sich der Flirt nicht lohnt. Ich bin ein miserabler Liebhaber. Das ist dir nahegegangen, nicht wahr? Ich bin nun mal ehrlich, oder sollte ich wie eine Nutte einen Orgasmus vortäuschen? - Laß uns lieber an deiner Rolle weiterarbeiten. Nein, keine Lust. Shanti wird jeden Moment hier auftauchen. Nein, er weiß sich zu benehmen. Er ist ins Dorf einkaufen gefahren. Wir sind ungestört. Wobei denn? Komm her. Ich wate durch das Brackwasser ihr entgegen, ich rechne mit 167

einem Zungenkuß, einer über die Verdorbenheit hinwegtäuschenden Umarmung, einer intimen Geste, die nicht erlöst und nicht verbindet. Die den Dreck um meine Füße nicht veredelt in einem lächerlichen Akt der Liebesalchimie. Nicht die Kälte nimmt. Mein Herz ist voll, es kann keiner derart lügen, daß es überschäumte. Daß ich mich einem harmonischen Maßwerk verschriebe, eingeweiht in etwas, das mit einem heilen Körper anfängt: ein Körper ohne Schmutz, daß ich nicht länger die Nase zuhalten müßte. Nicht länger ausgesetzt den Ausdünstungen von Krüppeln. - Halt. Keinen Schritt weiter. Und sie nimmt meinen Zeigefinger und steckt ihn sich zwischen den Stoffstreifen hinein, sie hält mich auf Abstand, zwischen uns nur meines Armes Länge, ihr zangenhafter Griff um mein Handgelenk lockert sich erst, als ich den vorgegebenen Rhythmus von selbst einhalte. Ich bin der Motor einer Befriedigungsprothese, die in eine Vulva hineinfährt und sich zurückzieht, das stumpfe Messer ihrer Begierde. Es wäre eine Schande, dieses Spiel zu unterbrechen, sie braucht dafür ja auch nur einen Finger von mir. Sogar in diesen Augenblicken, da sie unten schmatzt vor Nässe, steht sie kerzengerade, sie steht im Lumpenflickenkostüm in einer verseuchten schwarzen Brühe, sie biegt sich nicht. Es ist vorbei, sie stößt noch kurz meinen Finger tief hinein, dann schlägt sie mir die Hand weg. - Du kannst gehen, in ein paar Minuten folge ich dir nach. Das war eine schöne Vorstellung. - Ja. Meine Folgsamkeit ist ein Frevel. Statt daß ich die Blicke breche, den Kreaturen den Atem nehme, sind sie es, die mich verbrauchen. Ihre Experimente ermatten. Als erstes spritze ich unter dem Strahl eines Wasserschlauchs den Dreck von meinen Füßen ab, und ich wage nicht, an dem benutzten Finger zu 168

riechen, den ich leicht abspreize. Langsam treffen die Adepten und ihre »Beobachter« im Gemeinschaftsraum ein, Pink hat sich wie einst Daniel vor der Schiefertafel aufgebaut. Natürlich sind die Spiralen und Galaxien, die der abgesetzte Chef in der Blüte seiner Herrlichkeit gezeichnet hatte, weggewischt. Obwohl die Irrengemeinde noch nicht vollzählig ist, wird die Vollversammlung eröffnet, Pink will keine Zeit vergeuden. Er ruft: Umpflanzschock, und hält inne, wir starren ihn an, in Erwartung hehrer Grundsätze, die er denn bestimmt objektiv zu belegen weiß. Er sagt: Als wir hier ankamen, wußten wir nicht, was uns erwartete. Die damalige Projektleitung hat es versäumt, uns in die Bräuche eines fremden Landes einzuweihen. Außer halbgarer Esoterik und sportlicher Betätigung hat man uns nichts angeboten. Ihr habt dagegen aufbegehrt, es war euer gutes Recht, euch gegen die Führungsschwäche eines Mannes aufzulehnen, der sich selbst nicht im klaren darüber war, was er eigentlich wollte. OPP TIKK hat ihn immer wieder ermahnt, von der Verrührung nicht in Einklang zu bringender Stilelemente abzulassen. Ich habe Daniel ins Gewissen geredet und ihn daran erinnert, daß ich hier sei, um ein klassisches, ich möchte fast sagen, orthodoxes Butotanztheater vorzubereiten. Es hat alles nichts geholfen. OPP TIKK tat das einzig Richtige, sie wandte sich von Daniels Hirngespinsten ab und beauftragte mich mit der Konzeptrealisierung. Wir alle haben in kürzester Zeit große Fortschritte gemacht. Wir sind kein loser Haufen mehr. Wir haben den Umpflanzschock überstanden, und wir haben unsere Wurzeln in diesen trockenen Boden geschlagen. Danke fürs Zuhören. Was für eine famose Feiertagsrede, was für eine Umdichtung! Die Irren liegen Mauritius Pink zu Füßen, er hat ihrem nutzlosen Treiben einen Sinn gegeben, die Toten mit einem Kabbalismus für Arme zum Leben erweckt. Nun ist das komplette Radaupack zu einer einzigen Wehrsporttruppe West geadelt, ich muß 169

lächeln, meine Rechnung geht auf. Von Daniel fehlt jede Spur, und es fällt niemandem ein, sich nach seinem Verbleib zu erkundigen. Vielleicht ist er mir zuvorgekommen und nach Berlin, zu altem Dreck und in den gewohnten Kadaverkiez, abgereist. Es würde ihm ähnlich sehen. Nun erstatten »die Beobachter« Bericht, und als ich an der Reihe bin, geht die Lüge leicht über meine Lippen: ich lobe ausdrücklich Nanes groteske Mumienkrämpfe, ich lasse mich sogar zu der Empfehlung hinreißen, man möge ihr eine zentrale Rolle auf den Leib zuschneiden. Damit habe ich wohlwissend dafür gesorgt, daß sie in den nächsten Tagen OPP TIKKs Kritik vermehrt ausgesetzt sein dürfte. Das Geschwätz der Seelenreiniger, die jetzt keine mehr sein wollen, zieht sich in die Länge. Schließlich dürfen wir uns für eine Stunde zurückziehen. Shanti wartet vor meiner Zimmertür, die er aufstößt, als er mich kommen sieht. Shantis Reserven sind aufgezehrt, dem Augenschein zum Trotz ist er ein Nervenwrack und steht kurz vor dem gewaltversprechenden Ausbruch. Ich bin neugierig, ich folge ihm in mein Zimmer, ich werde so lange schweigen, bis er mein Schweigen bricht. Ich habe mich vorhin gefragt, was mit deiner Hand passiert ist. Wie bitte? Hast du dich verbrannt? Ach so … ja. Wie kann das nur passieren? … Du bist ungeschickt … Hat deine Hand Feuer gefangen, als du dir eine Zigarette anzünden wolltest? Ich rauche nicht. Schön für dich. Weißt du, was mich jetzt brennend interessiert? Du wirst es mir bestimmt sagen. 170

Was genau, mein Freund, ist vorhin zwischen dir und Nane vorgefallen? - Du warst doch dabei, als ich mich über ihre kleine Darbietung im Kellerloch ausgelassen habe. Was soll also die Frage? Sehe ich aus wie ein Idiot? Hör mal, ich will mich hinlegen, ich bin zu müde für unsere Fragestunde. Du könntest auch ein Nickerchen gebrauchen. Du siehst nicht gut aus. Hast du dich an meine Freundin herangeflanscht? – Ja. … Wie war das? Ich sagte: Ja, mein Freund, ich habe deine Freundin gefickt, und sie hat es genossen. Sie hat sich diesen meinen Zeigefinger in ihre Muschi gesteckt. Willst du mal riechen? Du bist eine Drecksau … Viel schlimmer. Ich bin eine hundsgemeine Drecksau. Du willst dich mit mir anlegen? Sehr gut, ich habe darauf gewartet, jetzt sind wir allein in meinem Zimmer, und ich will deinen Arsch. Shanti, du gefällst mir, seitdem du hier bist, kann ich an nichts anderes denken, als wie ich dich ficken kann. Ich steh’ auf dich. Aber, du kannst es aussuchen, wer wen zuerst ficken darf. Ich habe mir heute morgen sogar für dich den Arsch epiliert. Willst du zuerst ran? Nane ist mir egal, ich will dich. Magst du es im Liegen oder im Stehen? Du dreckige Schwuchtel … Recht so, es macht mich an, wenn du obszön wirst. Ich zieh’ mich aus. Willst du, daß ich deinen Schwanz einseife, oder … Er versagt mir seine Sympathie; ehe ich meinen Schritt 171

aufgeknöpft habe, ist er in Angst und Schrecken aus dem Zimmer geflüchtet. Ein willensgelähmter Geck! Dabei hätte ich es mir schon vorstellen können, ihn an seinem wunden Punkt zu penetrieren, es wäre für uns beide das erste Mal gewesen. Ich bin der Kindereien in diesem Armenhospiz überdrüssig, es hätte mich angeregt, einem Pärchen mit reinen Gliedmaßen zu Diensten zu sein. Ich will nur noch schlafen, ich verschwende flüchtig einen Gedanken an das getrocknete Eigelb an Shantis Bartstoppeln, rund um den Mund. Der Exorzist verschwendete seine Magien an all diese Irren. Würde man ihres Geistes Störungen enthüllen, käme nur der bröckelige Untergrund der Konvention zutage. Sie hauchen keinen Dampf heraus, sie bilden sich nur ein, daß es Sinn macht, wenn sie atmen, unentwegt atmen. Ob sich Nane, die Bandagierte, im Kellerdunkel reckt oder OPP TIKK ihr Becken streckt jede Nacht, einem Liebhaber, irgendeinem Mann ohne Gesicht: es bedeutet am Ende nichts. Ich bin das Männchen, das sie benutzen, sie sind die Weibchen, die ich benutze. Kein Gott stützt diese Konvention. Ich sagte: Pink, ich muß morgen in aller Frühe los, da schlafen die Ostgören ihren Suff noch aus, ich kann mich unbehelligt durchs Dorf schlagen. Es dauert nicht lange, gib mir zwei Tage, ich schaffe das Material an, ich komme wieder, vielleicht in Begleitung. Vor meiner Haustür türmt sich der Abfall, die Mülltüten sind zu Füßen des Containers einfach abgelegt und vom streunenden Getier angerissen und zerfetzt worden. In die rote Zone wagt sich nunmehr auch die Müllabfuhr nicht hinein, die Drogenethnos feiern die neue Autarkie. An der Bushaltestelle stehen die Hehler und werben für ihre Produkte. Ein Kindmädchen, keine fünfzehn Jahre alt, ist der Hit der Saison: wie die nutzlosen dummen Gören ihrer Generation ist sie von zu Hause ausgerissen, hat ihre Abenteuer erlebt, die ihr Freundchen ihr versprochen hatte, und dem sie von einem Fotzenhändler einige Knochen brechen ließ. Als begehrtes Kapital der Straße 172

bleiben ihr ganze zehn Jahre – wenn sie die Finger von den Drogen läßt. Man hat sie mir angeboten, ein Loch fünfzig Mark, zwei Löcher hundert, die Benutzungsgebühr aller drei Löcher beträgt hundertfünfzig Mark. Ich sagte, im Augenblick nicht, aber kann ich einen Blick auf die Ware werfen? Ohne Frage, sie ist wirklich entzückend, man kann nach ihr süchtig werden. Ich war versucht, meine Ankunft in der stinkenden Metropole außerplanmäßig zu gestalten, aber es zog mich fort, zum Abschied beglückwünschte ich den Händler zu seinem Fund. Natürlich habe ich gehofft, Clarissa in ihrer Schlafgrotte vorzufinden. Mein Zimmer ist verwüstet, die Staffelei nimmt sich aus wie ein zerbrochenes Galgengerüst, an den Bildern entdecke ich seltsamerweise keinerlei Schäden. In mein Bett ist uriniert worden, ich ziehe die Bezüge ab und trage sie zur illegalen Müllkippe herunter. Die Wände sind mit Strichmenschen bekrakelt, Buntstiftstummel liegen verstreut auf dem Boden. Kein System. Keine zündende Idee. Nur die Auswürfe einer Fieberphantasie, der sie ausgesetzt sein muß seit meinem Verschwinden. Für alles gibt es eine Entschuldigung, im besten Falle eine Erklärung. Sie muß die ganze Zeit über in meinen vier Wänden gehaust haben, ihr Zimmer sieht unbenutzt aus. Die braun angelaufenen Tamponzapfen hat sie in das Waschbecken geworfen und sie mit Bananenschalen bedeckt. Ich weiß nicht, ob es mir recht ist, hinter ihr sauberzumachen, ihr Abfall ist schließlich ihr Besitz. Ich lege mich auf die nackte Matratze, wegen des scharfen Uringeruchs halte ich mir erst die Nase zu und bekomme anschließend einen heftigen Hustenanfall. Es kann nicht sein, daß ich untätig auf Clarissas Rückkehr warte. Als ich die neutrale weiße Tüte hervorhole, um die Pornohefte auf brauchbares Material zu sichten, erlebe ich eine unangenehme Überraschung: sie hat sich die Mühe gemacht, jede einzelne Seite in kleine Schnipsel zu zerreißen. Zumindest hat Clarissa eine vage Vorstellung von Frauenwürde und handelt konsequent bei Verstößen. Aus purer Langeweile 173

wähle ich die Handynummer der Kunstfotze, die nach dem ersten Klingeln abnimmt. Nein, wie schön, ja, ich bin kurz in der Stadt, nein, gegen ein Treffen jetzt gleich hat sie nichts einzuwenden, ja, auch ich habe nichts einzuwenden gegen ein Wiedersehen, meinetwegen an einem neutralen Ort, nein, soviel ist nun wieder auch nicht passiert. Ich packe die Tampons und die Bananenschalen in die Pornohefttüte und mache mich auf den Weg. Kaum habe ich meinen Abfall abgelegt, macht sich der nicht angeleinte Kampfhund eines Penners dran, seine Schnauze hineinzuwühlen. Er hat altes Blut gerochen. Das auf Luder geschminkte Mädchen dreht immer noch seine Kreise, es wird lernen müssen, daß der Ehrenkodex der Männer ihnen gebietet, erst bei Einbruch der Nacht von den Diensten einer Minderjährigen Gebrauch zu machen. Ihr Händler ist kein Ethno, seltsam, daß er mit den handelsüblichen Normen nicht vertraut ist. Die Kunstfotze bietet mir ihren frischrasierten Schädel zum Kuß an, von meiner gierig darüber schleckenden Zunge tropft der Speichel, sie zuckt zusammen und schaut sich um. Es ist dasselbe Spießercafe, in dem Daniel mich für Treptin geködert hat. Ich muß dir ja wirklich gefehlt haben. Ich finde Spucke allerdings alles andere als erotisch. Oder willst du hier Aufsehen erregen? Seit wann gibst du was auf die Meinung deiner Mitmenschen? Erzähl doch mal, bist du im Osten erfolgreich? Du weißt Bescheid. Du hast dich nicht von mir verabschiedet. Aber du warst so blöd oder so leichtsinnig, dem Gemüsehändler deine Treptiner Adresse zu hinterlassen. Dort gehe ich immer einkaufen. Werd ich mir merken. Irgendwas stimmt nicht mit dir. 174

Ich kann nicht klagen. Ich habe genommen, was ich kriegen konnte. Ein Butoworkshop. Eine Irrenmeute erlernt einen exotischen Tanz. Daniel hat’s verpfuscht … Typisch! … Ja. Seine Frau ist nicht besser. Ein gewisser Pink hat das Kommando übernommen, ich weiß nicht. - Wieso bist du schon zurück? Die haben mich als Bühnenbildner engagiert. Ich muß Material beschaffen, dann fahre ich zurück. Willst du nicht wissen, wie es mir geht? Miguel ist mit der verseuchten Songül über alle Berge. So ist es. Jammerschade, daß man ihn abschreiben muß in Zukunft. Übrigens, ich bin frisch verliebt, du mußt mir gratulieren. Also hat es doch zwischen euch gefunkt, ich wußte es! Wovon sprichst du? Du bist aber noch nicht zum Islam konvertiert, oder? Ich habe mit mir gerungen, ob ich mich mit dir treffen wollte. Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich zum Teufel gewünscht habe. Schade, und ich dachte, das Unwahrscheinliche wird wahr. Der Hodscha hat es also vermasselt. Ach, er ist für sein Alter gar nicht so schlecht. Er sollte sich aber seinen Bart abrasieren, er sticht beim Küssen … Nein … Doch. Ich fand ihn süß, und so … männlich, so unschuldig auf seine Art. Ein Gentleman, du hattest schon recht, es gab keine Übergriffe von seiner Seite, ich mußte ihn regelrecht verführen. Sagen wir mal, wir wären auch garantiert im Bett gelandet, wenn nicht sein Sohn dazwischengefunkt hätte. Das ist ein übler Eiferer. 175

Ich kann mit jedem, das ist kein Problem. Er ist aber mit einem Messer auf seinen Vater losgegangen. Es war furchtbar, Gott sei Dank ist nichts passiert. Ich habe Reißaus genommen. Der Hodscha ist ein verständnisvoller Mensch, ich habe ihm gesagt: Solange uns dieser Messerbube observiert, kann ich mich nicht frei fühlen. Wir sind darin übereingekommen, daß ein Verhältnis unter diesen Umständen unmöglich ist. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, daß ich mich in den Hodscha verlieben kann. Du hast ihn für später aufgehoben. Sei nicht so realistisch. Wer ist also deine neue Flamme? Rate doch mal. Ich hasse das! Wenn du nicht freiwillig damit herausrückst, mußt du dich seiner schämen. Ist er verkrüppelt? Hat er ein relativ kleines Begattungsorgan? Ich hab’s: Du hast endlich den Crackmassai herumgekriegt! - Der ist längst tot und in seine Heimat überführt. Ich war bei den Trauerfeierlichkeiten dabei, herzzerreißend, wie sich seine Freundin oder Frau an den offenen Sarg festklammerte, man mußte sie gewaltsam wegziehen. Ich war der einzige Weiße, man hat mich angeguckt, als sei ich höchstpersönlich für die Sklaverei verantwortlich. Wieso treibst du dich dort auch herum. Nun sag schon, wer ist der Glückliche? Sein Name wird dir nichts sagen, er heißt Michael. Ich kann’s nicht glauben. Du traust dich wieder an die Männer deines Volkes heran. Allein das ist schon eine kleine Sensation … Kein Künstler. Es wird immer besser. Er geht einem bürgerlichen Beruf nach. 176

Ich bin beeindruckt. Heißt das, daß du ab sofort nicht mehr Kunstfotze genannt werden willst? Schade um den originellen Namen. Soweit sind wir noch nicht, Herzchen. Natürlich bewundert er meine Werke, er besah sich meine Zeichnungen in der »Berlingalerie«, wollte sich vor seiner Entscheidung ein persönliches Bild von der Künstlerin machen. Wir haben uns bei mir eingefunden … … und schon strich er über deine Werkstattpatina … Wie unerzogen! Nein, so leicht sollen es die Männer nicht haben. Ich dachte: Er sieht ja wirklich nicht schlecht aus, aber der Schnurrbart muß ab. Der Bart hätte gestochen … Und hat er ihn abrasiert? Noch am selben Abend. Um deiner Frage zuvorzukommen: er mußte sich noch einige Tage gedulden. Irgendeine neue Eroberung im kahlen Osten? Keine. Kleinigkeiten. Aha. Auf mich wirst du vielleicht für länger verzichten müssen, ich bin gut versorgt, und ich muß gestehen, ich habe mich nicht sonderlich nach dir gesehnt. Alte Verhältnisse nutzen sich erstaunlich schnell ab. - Jetzt hast du mich aber gekränkt. Und ich dachte, ich könnte meine Willkommensnummer abstauben … Die Kunstfotze scheint sich mit dem Gedanken vielleicht doch anfreunden zu können, ich schaue mich schon nach der Kellnerin für die nächste Longdrinkbestellung um. Wieland, der gute alte Kaffeehauspsychopath, mißversteht meinen rudernden Arm als Einladung und läßt sich auf den Stuhl neben mir fallen. Der Zauber des Augenblicks ist verflogen, die Kunstfotze legt einen großen Geldschein auf den Tisch und sucht das Weite. Wieland blättert in einem Bildatlas des Sonnensystems. … Wasser is n Grundelement, is überall, sogar auf dem 177

Merkur, an den Polen hat man Bilder gemacht, wo ne nächtliche Eisbeschichtung genau zu erkennen is … auf dem Mars hat man natürlich das meiste Wasser … hier … die Schlucht hier ist vier Kilometer tief … und da unten sind Fließspuren, und das sind dunkle Sedimente, die sich nur unter Wasser ablagern können … da ist mal richtig Wasser gewesen, sonst wäre die Form gar nicht erklärbar … heute: alles eingefroren und unter Staub … jetzt wollen die Russen ’ne neue Sonde hochschicken … die Sonde hängt an einem schwarzen Heliumballon … weil der Ballon schwarz ist, wird das Gas von der Sonne erhitzt und dehnt sich aus … der Ballon steigt auf und wird vom Wind umhergetrieben … wenn’s dunkel wird, sinkt er ab, und die Sonde landet … Dafür hat man unten so ne Art Feder aus Trichtern rangehängt, das bremst die Landung, damit die Sonde nicht kaputtgeht … dann bohrt die Sonde ein Loch und nimmt eine Bodenprobe … am nächsten Morgen steigt sie wieder auf und wird woanders hingeweht … Du gehst mir mächtig auf die Nerven, Wieland. Verzieh dich! … die Jupitermonde, Mensch, der Jupiter und seine Monde … hier ist ein Bild, wie eine riesige Eisscholle aus festem Schwefel über einen See aus flüssigem Schwefel treibt … Hau ab, Mann! … was muß das für ein romantischer Abend sein, man sitzt an einem See mit pechschwarzem Wasser aus Schwefel … und Wellen hast du nur, wenn mal ein Stück vom Eisberg abbricht oder Erdbeben ist … Erdbeben ist ja dauernd … der ganze Mond wird ständig von den Gezeiten durchgewalkt … ist alles Reibungswärme … Du Arsch hast mir einen Fick versaut. Ich warne dich, du stehst jetzt sofort auf, oder ich tue dir noch was an. … ich hab ne tolle Geschäftsidee: man sollte anbieten, daß sich n Selbstmörder auf den Titan schießen lassen kann … der kann doch noch prächtige Wunder erleben und über Funk der 178

Bodenstation erzählen, was er so sieht … würd ich sofort machen … Ich packe seinen Kopf mit beiden Händen und versetze ihm mit meinem Kopf einen schönen Stoß auf die Nase, er bricht widerlich effeminiert zusammen. Alles geht so schnell, daß es den Studenten an den Nebentischen nicht einfällt, mich am Verlassen dieses fluchbeladenen Lokals zu hindern. Sie halten kurz inne und rücken die Köpfe wieder zusammen, ihr Gesprächsstoff geht nicht aus. Ein Sozialparasit hat das bekommen, was er verdient hat – der abgerissene Exekutor, der seine Führerträume visualisierte, rauscht ab. Was soll ich unternehmen in den Stunden, die ich verbringen muß, bis ich davon ausgehen kann, daß Clarissa von ihrer Unternehmung zurück sein müßte? Die milieuderangierten Neppmücken rücken nach und nach an, die Zuhälter scheuchen ihre Manövriermasse von einem Territorium zum nächsten. Die Geschäfte laufen gut, bis der Boden zu heiß wird oder ein paar slawische Hungermäuler ins Revier einbrechen. An einer Straßenecke kommt es zu einer Menschenstauung, die Freier drängeln sich um Ostware, die Türkenväter haben an zwei nicht mehr ganz so frischen Blondinen Gefallen gefunden. Ihr Besitzer ist nervös ob der ethnischen Übermacht der Gegenseite, darf sich aber seine Autorität nicht ankratzen lassen. Er beschaut die Freier und schickt nach kurzer Beratung mit seinen Neppnymphen einige ungewaschene Gastarbeiter weg. Das verbliebene dreckige Dutzend wird in einfachen Worten dazu aufgefordert, die Gier zu zügeln und in Dreiergruppen zum Nordfriedhof zu schlendern. Als ob das Viertel nicht befreites Gebiet wäre, als ob die Ordnungskräfte was darauf geben würden, daß der Kaufkontakt auf den Straßen überhand nimmt. Die mittelständischen Bürger sind längst weggezogen, sie übergaben die verwitterten Häuser den multikriminellen 179

Elementen, und die Eindringlinge verstehen es prächtig, sich in den Wirtskörper einzubohren. Ich bin erstaunt, anscheinend bin ich nicht auf dem laufenden, die Konvention des schicklichen Nuttenverkaufs gehört der Vergangenheit an. Man handelt vor den Augen nichtkrimineller Anwohner am hellichten Tag. Ich gehe auf den Zuhälter zu, er winkt ab in der Annahme, er müßte einen weiteren Kunden auf später vertrösten. Doch dann erkennt er mich, in besseren Zeiten hat er mir den Posten des stillen Teilhabers offeriert, er zog aber sein Angebot zurück, als er erkannte, daß mich die Mädchen als Maskottchen verlachten. Ich erkundige mich bei ihm nach einer irren Frau, die wenig bis gar nicht spricht und erst gegen Abend von ihren Ausflügen nach Hause zurückkehrt. Er sagt, mit solchen Kreaturen würde er sich um Gottes willen nicht abgeben, da seien seine Geschäfte davor. Ich frage, ob er eine Quelle für preiswerte Sexmagazine kenne, er muß über meine Einfalt lachen und wischt sich die Freudentränen aus den Augen. Ein aktuelles Heft geht für fast dreißig Mark über den Ladentisch. Anspruchsvolle Literatur für die Liebhaber obsessiverer Penetrationen koste zuweilen das Fünf- bis Zehnfache. Ich möchte an das herkömmliche Zeug, er sagt, es würde mir nicht das Kreuz brechen, wenn ich zehn Mark pro Heft ausgebe. Dreißig Magazine für acht Mark das Stück von Freund zu Freund. Wir besiegeln den Handel mit einem Handschlag, wir verabreden uns für morgen zur gleichen Uhrzeit, er will mir die Ware in sogenannten Kindersärgen – kleinen Bananenkisten – übergeben. Dann hält er auf den Friedhof zu, die erregten Ethnos im Schlepptau. Sein Lachen schallt mir hinterher, in seinen Augen bin ich eine Schmeißfliege, ein heruntergekommenes Barackensubjekt, dem die Angst des Onanisten vor der Entdeckung ins Gesicht geschrieben steht. Er muß die Schweißperlen auf meiner Stirn mißverstanden haben.

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Ich trete den Heimweg an und halte unterwegs Ausschau nach dem Kindsmädchen, ich bin in der Stimmung, wenigstens ein Loch zu benutzen, und es bei der Gelegenheit zu fragen, wie das Parfüm heißt, das es aufgelegt hat. Woher nur kommt der Dreck, wieso häuft er sich an oder dringt ein in die Haushalte? Wenn es stimmt, was die Vertreter der Obrigkeit an Erkenntnissen unterbreiten, fängt es an mit einer eingeworfenen Fensterscheibe, mit Schmierereien auf den Häuserfronten, mit einer nicht geahndeten Prügelei auf dem Schulhof. Eine Straße verkommt und animiert die Hyänen des Viertels zu organisierter Schattenwirtschaft, die Gören der Popgeneration entwachsen dem Zugriff ihrer charakterlosen Eltern und fallen bald in die Zuständigkeitsareale ihrer Poponkel ein: die Träume werden wahr. Was, wenn der Menschendreck nur der natürliche Auswurf der auf ästhetische Standards kapitalisierten Gegenden wäre? Dann würde man den Wildwuchs hinnehmen nicht als Fehler des Systems, aber als Folge schöner Maßnahmen. Ohne Heroin und lockere Sitten kein Pop. Vielleicht macht man sich in den höheren Klassen Gedanken darüber, wie der Staat Steuern auf die noch illegalen Bedürfniserweckungsindustrien erheben kann. Ich würde meine Gewinnmarge aus der Differenz zwischen vorgegebenem und tatsächlichem Einkaufspreis für die Pornohefte ungern mit dem Staat teilen. Das Friedhofsgatter steht sperrangelweit offen, der glückliche Händler steht Schmiere und schützt vor Tätlichkeiten gegen seine Aktivposten. Keiner kommt auf die Idee, sich darüber zu wundern, daß sich Moslems mit weißen Häkelkäppis auf dem Hinterkopf auf einem christlichen Friedhof herumtreiben. Die Toten stört es wenig, sie haben ihre Notzuchten hinter sich. Ich kaufe beim Gemüsehändler Tomaten, Oliven und Schafskäse ein, er erkundigt sich wie üblich nach Frau und Kindern, ich sage, das hätte Zeit und bei der Schwemme an negerfreundlichen Türkenflittchen wäre mir eine deutsche Frau 181

viel lieber. Er ist gerührt und umarmt mich innig, ich habe ihm aus dem Herzen gesprochen oder nach dem Munde geredet, je nachdem. Er ist Mitglied im ultrarechten Männerwehrverein gegen Anpassung, seine erwachsenen Töchter hat er kurz vor einer Katastrophe in die Heimat geschickt, sie hatten angefangen, Lidschatten aufzutragen und deutschen Männern schöne Augen zu machen. Ihre Jungfernhäutchen waren intakt, als der Vater sie fast volljährig aufrechten Türken übergab, es heißt, sie seien glücklich. Arme Songül. Ich warte. Ich habe eine Rose in ihre Schlafgrotte gelegt: verdächtig rot, eine noch nicht aufgeblühte Knospe. Vielleicht. Ich warte.

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ASTHMATIKERSERIE Was bewegt einen Menschen dazu, Maler zu werden, was stößt ihn an, die Macht, die die alltäglichen Beschäftigungen über ihn haben, abzuschütteln? Ist es so, daß ihn die Tiefpunkte und Verlorenheiten über die Maßen sensibilisieren? Eine bürgerliche Lüge, eine Lüge, erfunden aus dem alleinigen Grund, die Bürger zur falschen Anschauung anzustiften. Ich habe nichts dergleichen erlebt: keinen fickenden Vater und keine schlagende Mutter. Keine Materialschlacht. Der Pflastermaler mag vielleicht noch nicht ausgeträumt haben, es kann noch was werden aus ihm, wenn er denn will. Ich habe mich wach geschlafen, das ist wahr. Während einer Zugfahrt von der stinkenden Hauptstadt in eine Metropole im Süden verriet mir ein klassisch gekleideter Herr, daß ein Mann ihm das Leben gerettet hatte. Es war das erste und letzte Mal, daß der Herr sein Spray zu Hause liegengelassen hatte, und natürlich bekam er auch prompt einen Asthmaanfall. Der Mann stülpte ihm ohne Umschweife eine Plastiktüte über Mund und Nase und schrie ihn an, zu atmen, bloß das Atmen nicht zu vergessen. Das Kohlendioxyd der ausgestoßenen Atemluft beruhigt die Lunge. Der Herr überlebte, es ist, sagte er, als sei ich wiedergeboren worden. Als er mir die darauffolgende Gottessuche mit der Katechetenerlösung auseinandersetzte, verlor ich sofort das Interesse. Kaum war ich ausgestiegen, vergaß ich ihn und sein zweites reines Leben, ich mußte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Wenige Wochen später stand ich vor einem Kunstobjekt: die Wachsfigur eines zu Tode Gemarterten saß auf einem Stuhl, seine Hände waren an der Rückenlehne gefesselt, sein Oberkörper war nach dem Eintritt der ewigen Bewußtlosigkeit nach vorne gesackt. Es gelang mir nicht, das Objekt frontal anzusehen, ich weiß nicht mehr genau, 183

vielleicht stand eine Traube von Museumsbesuchern vor der Figur, und ich wollte nicht dazutreten. Vielleicht verlor ich die Lust wegen der brutal politischen Aussage, die der Künstler in die Situation hineinimaginierte. Der Figur ins Gesicht zu starren war unmöglich, es wurde von einer übergestülpten Plastiktüte verhüllt. Ich bin noch kurz herumgegangen und habe die lächerliche Plastikmoderne der Amerikaner verhämt. Man sollte die deutschen Museen von diesem Unrat reinigen. Die Kapitulation erleben wir jeden Tag aufs neue, es bedarf einer Umstellung, einer neuen Ausrichtung. Ich will es bei diesen Worten belassen. Noch in derselben Woche vermalte ich meine Farbbestände für die »Asthmatikerserie«. Menschen aller Klassen, Lumpen und Eindringlinge, eine alte Frau mit ödematös aufgedickten Beinen, der Gemüsehändler, damals ohne Vollbart; die damaligen Günstlinge der Straßentendenzen, und, als einzige Zeitungsfotovorlage, ein toter Ehemann, erschossen von den Mordbuben, die seine Frau gedungen hatte. Ich habe sie alle jeweils mit einer Plastiktüte versehen und auf kleine Formate gemalt. Es war, als würden sie ein erstes oder zweites Mal durch meine Hand sterben. Ich hole die verbliebenen zwei Asthmatiker aus meinem Bilderfundus, sie wirken aussageschwach und unbeholfen: die provokanten Puppen eines Malers, der erschrecken will, ohne es zu können. Die anderen Bilder habe ich übermalt, es gelang mir auch damals nicht, sie als Werkschau in einer Galerie unterzubringen. Ich habe keinen langen Atem und von Inspirationen will ich nichts wissen. Immer dann, wenn ich eine Dreiviertelrealität darstelle, werde ich zum Propagandisten. Die Zeitungen gleichen heute Hofbulletins, ich lese sie nicht. Ich schaue weg und tue so, als würde ich beim Malen entgiften, als könnte ich nicht anders, als dem Ruf folgen. Kein Privatkunde kann meinen Blick brechen, das nehme ich ihnen übel, das ist meine einzige Inspirationsquelle. 184

Sie hat sich fast unmerklich verändert, die Ruhe ihrer gewöhnlich flatterhaften Hände verrät sie: in die Unordnungen anderer Menschen hineingeraten, mußte sie sich wohl gegen die Angebote erwehren. Ich möchte mir nicht vorstellen, daß ein Mann sie gegen ihren Willen berührt haben könnte, andererseits ist meine bei ihrem Anblick aufflammende Eifersucht völlig unbegründet. Das bißchen Wind trägt das Straßengerede der Passanten herein, ich weiß nicht mehr, als sie anzusehen. Es ist wie im Anfang, es ist, als stünde sie einem Fremden gegenüber, der sie anketten und wie ein Leierkastenäffchen vorzeigen wird. Sie reißt an ihrer Nagelhaut, selten habe ich sie ohne Blut auf ihrer Haut erlebt. Sie betrachtet die Asthmatikermotive, scheinbar unberührt, die Fingerkuppen hat sie im Mund, ich muß mich nun endlich von meinem Bett erheben. Clarissa … Dein Freund ist zurück. - Hallo. Ich freue mich sehr, dich zu sehen, Clarissa. Ich habe deinen Namen immer wieder laut ausgerufen, du weißt, ich habe da einen Auftrag im Osten, und man hat mir ein Einzelzimmer gegeben. Ich war ungestört, ich habe an dich denken müssen, ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Nein, ich weiß es doch. Aber ich behalte es für mich, weil ich Angst davor habe, dich zu erschrecken. Das wollte ich dir immer sagen: Ich habe Angst, daß du dich umdrehst und weggehst. Verstehst du mich? – Ja. Wir haben uns so lange nicht gesehen, und vielleicht ist es komisch, daß ich derart redselig werde. Vielleicht mußt du dich erst an mich gewöhnen. Ist es so? Ich habe dir etwas in dein Schlafzimmer gelegt … nein nein … du kannst hierbleiben … ich meine, da ist ein Geschenk in dem Umzugskarton. Eine Rose. Klar, eine Rose. Eine rote Rose. Wie ist es dir denn ergangen in der Zwischenzeit? 185

Gut. Hab’ hier geschlafen. Ich war zeitig zurück, ich bin die Straßen auf- und abgegangen, war auf der Suche nach dir. Ich habe wirklich unmögliche Leute gefragt, ob sie wüßten, wo du steckst. Du bist wie ein Phantom. Wo treibst du dich eigentlich herum? Das kann ich dir nicht sagen. Wieso denn nicht? Ich bin für dich inzwischen fast durchsichtig, du kennst mich mittlerweile in- und auswendig. Das stimmt nicht! – Was? Die Frau, die dich besucht. Diese Dreckshefte … Die Kunstfo … Birgit bedeutet mir nichts, ich habe sie aus meinem Leben gestrichen. Und … die Hefte …, verdammt, die haben sich im Laufe der Zeit angesammelt. Ich bin eben kein Mönch. Außerdem hast du sie ja unbrauchbar gemacht. Ich hatte einen Wutanfall. Das macht nichts. Es waren sowieso nur alte Ausgaben. Also, was machst du tagsüber? Ich sitze in den Cafes. Gut. Und dann? Ich lese Zeitung. Clarissa, hast du ein Verhältnis? Ich meine, wie soll ich sagen, bist du verliebt? Etwas. … Du liebst eine Frau, nicht wahr? Sei nicht böse. Bin ich nicht. Ich könnte zwar meine ganze Wohnungseinrichtung zertrümmern, aber nicht jetzt. Vielleicht später, wenn du nicht da bist. Wie sehr liebst du diese … Frau? Ich bin etwas verliebt. Das hatten wir doch schon. Ihr seid also zusammen. 186

Nicht richtig. Sie ist verheiratet. Wir treffen uns heimlich. - Mein Gott, du überraschst mich. Ihr Mann weiß also nichts von ihren lesbischen Neigungen. Es ist ein richtiges Geheimnis. - Er kümmert sich nicht darum, mit wem sie schläft. Sie möchte es vor ihren Freundinnen geheimhalten. Sie ist bisexuell. Sie ist grausam, sie läßt sich von dir lecken. - Was? Birgit. Mein Gott! … mein Gott … dieses durchtriebene Luder! Und ich dachte … Weißt du, daß sie ihre Liebhaber wechselt wie Unterwäsche? Die Frau verschleißt ihre Sexpartner in einem sagenhaften Tempo. Aber wahrscheinlich kennst du sie ja besser als ich. Sie will sich nicht festlegen, das hat sie mir von Anfang an gesagt. Ich mache mir keine Illusionen. Clarissa, ich will nicht schlecht über deine Freundin reden. Andererseits hast du dich ausgerechnet in eine nymphomanische Qualle verschossen. Ich habe ein ganz klares Arbeitsverhältnis zu Birgit. Ich bin chronisch knapp bei Kasse, sie nutzt es aus, und ich hatte bis jetzt nichts dagegen einzuwenden. Laß uns mal das Thema wechseln, sonst drehe ich durch. Nimmst du mich diesmal mit? Deswegen bin ich vor der Zeit zurückgekommen. Es gibt da allerdings ein kleines Problem. Wir sind in einer ehemaligen Russenkaserne untergebracht, alle Zimmer sind belegt. Da wir schlecht deine Umzugskartons mit in den Osten schleppen können … würde es dir etwas ausmachen, mit mir in einem Bett zu schlafen. Ich werde dich nicht anrühren, Clarissa. 187

Ich bin mir nicht sicher. Oder wir rollen für dich eine Isomatte auf, eine überzählige Decke werde ich schon auftreiben. Du hast dann die Wahl. - Gut. Ich lade dich zum Essen ein. Hab’ keinen Hunger. Ein Salat? Eine heiße Suppe? Die Decke fällt mir auf den Kopf, ich muß hier raus. Kommst du mit? Bitte. Ich will nichts essen. Da fällt mir ein, daß ich beim Gemüsehändler eingekauft habe. Ich nehme die Tüte mit, wir legen uns auf irgendeine Wiese, und wenn du Appetit hast, kannst du mitessen. Ich werde keinen Appetit haben. Hör auf damit! Ist ja gut. Vergessen wir das. Gehen wir einfach spazieren. - Gut. Wie kann ich eine Frau begehren, die nur noch Haut und Knochen ist? Das verbliebene Fleisch benagt sie wie ein hungriger Hund. Sie hat ein perverses Vergnügen daran, ihre unempfindliche Haut aufzuschürfen, ihre Augenwinkel sind zerkratzt, ihre Handgelenke mit farbigen Halstüchern verbunden. Sie würde einen Mückenstich zu einer schwärenden Wunde aufreißen und dabei nichts empfinden. Was geht im Kopf der Kunstfotze vor, wenn Clarissas Mund zwischen ihren Schenkeln verschwindet? Bei der nächstbesten Gelegenheit werde ich ihr weh tun, ich werde in ihre Schamlippen beißen und eine kurzzeitige Kiefersperre vortäuschen, daß sie endlich von verbotenen Liebesspielen abläßt. Was hätte ich schon davon, sie würde sich die Wunde heillecken lassen von ihrer Gespielin … Der Horizont in Pastellschlamm eingeweicht, wie aus einem Edelnuttentraum. Auf den Straßen treiben die Südländer ihre Kleinkinder vor sich 188

her, was den Erwachsenen an Farbe fehlt, machen die zahlreichen Töchter und Söhne wett. Die Straßenecken sind eingenommen von Rudelmännern, die angesichts junger Mütter die Augen niederschlagen, bei deutschen Frauen jedoch ihre Lenden spannen. Es ist keine zwei Generationen her, da hatten ihre Vorfahren gepfiffen und Lärm geschlagen, wenn ihr Ochse harnte. Und bald lernte der Ochse zu harnen, wenn der Bauer ihn anpfiff. Es scheint, als sei der bedingte Reflex von Tier auf Mensch übergegangen. Der Geschlechtselan wird den Türkenbengeln noch vergehen, nicht wenige liegen bald im Rinnstein, und ihre Väter, wenn sie denn zurückgekehrt sind und im Teehaus ihres Dorfes die Zurückgebliebenen unterhalten, werden ihre Worte bedächtig wählen und sagen: Die Vergangenheit malt mit goldenen Stiften. Der Gemüsehändler auf der anderen Straßenseite macht wilde Zeichen, ich laufe schnell herüber und nehme einen Zettel in Empfang. Die Kunstfotze bittet mich, sie dringend anzurufen, neben zwei auseinanderfallenden Flügeln eines Herzens hat sie ein großes Fragezeichen gemalt. Ich halte es für nicht sehr wahrscheinlich, daß sie Wind von Clarissas Enthüllung bekommen hat, sie will sich nur um einen Termin anbetteln lassen. Weshalb sollte ich sie mit anderen Ellen messen, bloß weil sie ihre Herkömmlichkeit mit Bisexualität verdünnt? Denkst du über Birgit nach? Sei ihr nicht böse, sie kann nichts dafür, daß ich mich in sie verliebt habe. Schon gut. Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt? Ich war in einer Art Pflegegewahrsam. Eine Wohngemeinschaft halb und ganz verrückter Frauen. Sie gab uns Zeichenunterricht, dabei sind wir uns nahegekommen. Es hat also nicht gleich gefunkt? Bei mir schon. Sie brauchte etwas Zeit. Sie ist in solchen Dingen äußerst raffiniert. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hat, einen Mann … oder eine Frau 189

klarzumachen, geht sie auf Abstand. Und sie wartet. Wie eine Schwarze Witwe. Der Zettel, den dir der Gemüsemann vorhin zugesteckt hat, der stammt von ihr. Nein. Bevor wir uns morgen in den Osten aufmachen, muß ich noch einen Bekannten wegen einer geschäftlichen Angelegenheit treffen. Er hat mir eine Nachricht zukommen lassen. Was für eine Nachricht? Na ja, er hat das Treffen um eine Stunde verschoben. Sagst du mir die Wahrheit? Ich lüge nur in Notfällen. - Ist das jetzt ein Notfall? Wenn du so willst, ja. Ich esse, ohne einmal aufzublicken, ich biete Clarissa nicht eine Krume Brot an, der Vollsättigung hat sie vor langer Zeit abgeschworen. Sie liegt auf dem Rücken und wartet, daß ich endlich mit der ekligen Beschäftigung fertig werde. Es soll sie quälen. Von den garantiert gelatinefreien Gummibärchen, die ich in meiner Jackentasche finde, will sie nichts wissen, ich leere die Tüte und streiche sie glatt, um irgend etwas zu tun zu haben. Um diese Zeit sind auf der Parkwiese die Singles in der Überzahl, sie beäugen sich gegenseitig und ziehen eine Verpaarung dann doch nicht in Betracht. Clarissa nimmt keine Notiz von den kläglichen Balzversuchen in ihrer Umgebung, und auch mir ist nicht danach zumute, vor dieser Kulisse romantisch zu werden. Die Sonne geht bald unter, und wir werden uns wieder auf den Heimweg machen. In geschlossenen Räumen faßt sie sich an den Hals und zupft an der Haut, im vergeblichen Bemühen, die Luftröhre zu weiten. Ihr panisches Grundgefühl kann für ihr Begleitpersonal lebensgefährlich 190

werden, es müßte sich davor hüten, ihr zu nahe zu kommen oder sie versehentlich zu berühren. Um so mehr bleibt es für mich unbegreiflich, wie sich Clarissa dazu überwinden konnte, ihren Körper einer verdorbenen Kreatur anzubieten. Sie schlägt meine Einladungen ins Kino oder ins Theater aus, ich kann sie nur zu banalen Spaziergängen überreden. Wäre sie eines Tages nicht mehr da, hätte ich meinen Frieden. Sie ist das prädestinierte Opfer eines Sexualdelikts, die Männer erkennen in ihr ein unbedarftes, von den Seuchen der Stadt nicht angestecktes Mäuschen, das sie ins Gebüsch zerren und nach Herzenslust schänden wollen. Es bedarf keiner großen Überredungskünste, sie zum Mitgehen zu bewegen, vielleicht nimmt sie das Glas Wasser an, in das der fremde Mann Schlafpulver gerührt hat. Ich habe stechende Blicke aufgefangen von jungen Frauen, die mich aus ganzem Herzen haßten in dem Glauben, ich hätte dieses arme Mädchen verhext. Wie schützt sie sich vor der Geilheit der Parasiten, wie entrinnt sie den Türkenbengeln an den Straßenknotenpunkten? Sie ängstigt sich zu Tode. Eine Künstlerin kommt zur rechten Zeit, es ist Clarissa lieber, ihre Pussy an einer anderen Pussy zu reiben und zu glauben, das sei die große unerfüllte Liebe, von der alle Menschen schwärmen. Ihre Unschuld ist meiner Männerliebe nicht wert. Zu Hause schützt sie Müdigkeit vor und kriecht schlängelnd in ihre Höhle, sie legt sich auf die Rose, sie bedeutet ihr nichts. Ich stelle ein Asthmatiker-Bild auf die Staffelei und mache mich daran, in die weiße Plastiktüte ein lüstern grinsendes Kindergesicht hineinzumalen. Ich trage die fix gemischte Fleischfarbe auf, verstreiche sie bis an die Kontur der Kopfvorderansicht. Die Pigmentreste am Zwingenende des Pinsels lösen sich auf und verlaufen in die satte Farbportion an der Pinselspitze. Karmesinrot ist zäh, es verdirbt jede Mischung, ich muß die Borsten gründlich auswaschen. Als ich mich 191

umdrehe, wütend über die unwillkommene Unterbrechung, die mir fünf Minuten am Waschbecken bescheren wird, pralle ich mit Clarissa zusammen. Vor Schreck mache ich einen Rückwärtssatz und halte mich mit einer Hand an der Staffelei fest. Sie hat ihren Strickpullover ausgezogen, ihren BH gelöst, ein unregelmäßiger Farbstreifen verläuft zwischen ihren kleinen Brüsten, die fast vollständig von den Warzenhöfen eingenommen werden. Es ist ein abscheulicher Anblick, und trotzdem komme ich nicht umhin, ihren knabenhaften Oberkörper anzustarren, schließlich sehe ich eine solche Anomalie zum ersten Mal. Ihr Hosenbund hängt auf den Hüftknochen, sie beulen die Haut aus wie zwei verwachsene Knochensporne. Im Puff würde ich sie keines zweiten Blickes würdigen, auch wenn sie mich mit einem Preisnachlaß lockte. Plötzlich macht es für mich Sinn, daß sie sich Männern verschließt, die Kunstfotze ist in der Wahl ihrer Sexpartner nicht wählerisch. Was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun, Clarissa? Wenn es dich glücklich macht, eine nackte Frau zu sehen, wieso soll ich dir den Gefallen nicht tun? Du bist nur halbnackt. So … jetzt bin ich ganz nackt. - Um Gottes willen! Der ganze Schambereich ist mit kreisrunden Brandnarben übersät, die Schamlippen haben sich zu zwei Runzeln zusammengezogen und offenbaren ein dunkles Schleimhautloch. Jemand hat ihr brennende Zigaretten aufgedrückt. Wer hat dir das angetan? Niemand. Ich habe mir das Ding da wegmachen wollen. Verdammt … du bist ja richtig krank … das ist ja pervers … 192

Ich bin darüber hinweg, das ist schon lange her. Verdammt … verdammt. Hör auf damit, es ist ja nicht deine … Öffnung. Du bist tatsächlich ein Mongo-Maniac, ich wußte es. Was bin ich? - Nichts. Lassen wir das. Du darfst mich nicht berühren. Ich schließe die Augen, und dann kannst du das tun, worauf du Lust hast. Das kann doch nicht dein Ernst sein! Ich tu das freiwillig, du zwingst mich ja nicht dazu. Sag mir, was ich machen soll. Dreh dich um … gut … und du bleibst in dieser … Stellung, bis ich fertig bin … nein warte, ich weiß was Besseres. Beug deinen Oberkörper vor … das war zuviel … ja, das reicht. Und jetzt ziehst du deine Pobacken auseinander. Gut, bleib so. Clarissa gehorcht, ihre Rückenpartie ist gar nicht so übel, ich habe eine Szene arrangiert, die mir aus den Pornoheften vertraut ist. Es geht schnell, ich gebe mir alle Mühe. Auf ein Wort von mir beginnt sie sich anzuziehen. Ich betrete die gemeinsame Toilette, um mir die besudelte Hand sauberzuwaschen, ich höre, wie Clarissa den Riegel vorschiebt, die Tür auf ihrer Wohnungsseite ist allerdings unverschlossen. Ich gehe durch ihr Zimmer auf den Flur, öffne meine Wohnungstür und schließe hinter mir ab. Sie hat die Lichter gelöscht und ist im Karton verschwunden, die Rose liegt auf der Oberkante der Leinwand, den Stengel hat sie wie zum Hohn behalten. Eine wirklich symbolische Tat! Ich wünsche ihr gute Nacht, Clarissa wünscht mir dasselbe, und ich schlafe mit dem äußerst befriedigenden Gedanken ein, daß ich die Gespielin der Kunstfotze zur Schande animiert habe. Der Kunstfotze ist es nicht peinlich, Clarissa aber wirkt in der Gegenwart ihrer Domina wie ein bestrafter Hausneger, und ich, 193

ich sage irgendeinen nichtssagend überheblichen Satz: Daß ich sie beide nun ja nicht vorzustellen brauche, und nicht allein deswegen, weil Clarissa einmal in einen laufenden Koitus hineingeplatzt sei. Sie kennen sich, sie haben lange miteinander zu tun gehabt, ihrer heiligen Lesbenallianz tut der Männer Spott keinen Abbruch. Sie wollen einander anfassen. Clarissa hat heute morgen, als sei ihr keine Schande zugefügt worden, mit mir sogar an einem Tisch gesessen, ich holte ein paar Kleinigkeiten zum Frühstück, und sie aß ein hartgekochtes Ei. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, die Kunstfotze anzurufen und sie herzubestellen. Sie drängt auf keine Entscheidung, sie will ihren Liebling aber auch nicht mit mir teilen. Ich machte ihr diesen Vorschlag, sie bot im Gegenzug ihren nackten Anblick an, wenn ich versprechen würde, der Kunstfotze nie wieder, nie mehr, auf den Leib zu rücken. Ich will es mir überlegen. Es ist tröstlich, daß ich keinen vollkommenen Verzicht üben muß, ich will sie beide gerne bedienen, ihre Zehen einzeln küssen und lecken, sie können sich zu meinen Herrinnen aufschwingen – ich verlange aber, daß sie mich belohnen mit ihrer erhitzten Haut. Die Kunstfotze wird den Nichteinmischungsgrundsatz unannehmbar finden, sie wartet einige Tage ab, sie läßt es geschehen, das ist ihr Prinzip. Ich biete selbstgerührten Pulverkaffee mit Kaffeeweißer an, die beiden Frauen haben sich vorgenommen, nichts anzunehmen. Ihr Gespräch dreht sich um die Geschehnisse des letzten Tages, um die aktuellen Drogentoten, um die kosmetische Kunst, was auch immer das heißen mag. Es geht das Gerücht um, daß das Massenpublikum, der Fäkalaufführungen und der undeutschen Kakophonie überdrüssig geworden, den Spieß umdreht und die darstellenden Künstler während der laufenden Performanceakte angreift: der gemeine Bürger diktiert den Geschmack. Ich behalte meine Meinung für mich, die Kunstfotze ist außer sich vor Wut: es will ihr scheinen, als falle man zurück in dunkle Zeiten der 194

unbedingten Volksbelustigung. Wer keine Witzchen macht, wer keine programmatische Vollverquatschung versucht, ist der Fraß der Sponsoren. Aus ihren Worten entnehme ich, daß auch sie gemäß den Vorgaben der Galeristen umstellen muß. In wenigen Wochen sind ihre beliebten Teddybären in Filmblutlache aus der Mode gekommen. Die Zukunft gehört aber weiterhin den Stümpern, das war nie anders, da irrt sie sich. Sie starren mich unverblümt böse an, ich sage Clarissa, sie solle sich bis in einer Stunde reisefertig machen, von der Kunstfotze verabschiede ich mich mit einem kühlen Händedruck: ich werde mich melden, wenn ich aus dem Osten zurück bin, sie hat genügend Zeit, ihren bürgerlichen Kerl zu verbrauchen. Es ist das erste Mal, daß sie mich mit leeren Händen besucht, diese Quelle darf nicht versiegen. Der Fotzenhändler ist pünktlich, ein Geschäftsmann steht zu seinem Wort. Er riecht nach verschmortem Gummi und sieht aus, als käme er direkt aus der Spätschicht. Die Übergabe der Ware findet ohne große Worte statt, er läßt das Geld in der Innentasche seines Markenanzugs verschwinden. - Wie laufen die Geschäfte? Sie laufen eben, was geht es dich an? Habe ich dir was getan? Ich habe dir nichts getan. Habe ich es dir gegenüber an Respekt fehlen lassen? Nein. Also, was ist los? Machen die Mädchen dir Kummer? Die sind schön ruhig, die wissen, was ihnen blüht, wenn nicht. Das Problem ist die Konkurrenz. Die schläft nicht und so weiter … - Die Albaner? Die Albaner. Mann gegen Mann? 195

Schön wär’s. Sie schicken kleine Kinder los, die die Nutten mit Säure attackieren. - Die imitieren die Kunsthasser. Interessiert mich nicht. Sie ziehen meine Ware aus dem Verkehr, und das kann ich nicht haben. Wie in drei Teufels Namen können die nur so was tun … Sag das nicht noch mal in meiner Gegenwart! Was denn? Diesen Fluch. Streich ihn aus deinem Vokabular. Das bringt eine dicke lange Nagelkerbe in dein Sündenregister. Er bekreuzigt sich. Ich weiß nicht, wovon er spricht, wahrscheinlich eine Kultureigenheit, von der er nicht wegkommt. Ich muß ihn nicht verstehen, ich muß seine Arbeitsweise nicht verstehen. Wichtig ist nur ein halbwegs gepflegter Umgang. Ich muß los. Da ist nur noch eine Sache. Ich muß den Ankauf der Magazine belegen. Wärst du so freundlich, mir eine Quittung von 500 Mark auszustellen? Du hast dann was bei mir gut. Nix Quittung. Es läuft entweder zu meinen Bedingungen, oder gar nicht. Du bist doch nicht ganz dicht. Sogar als Pornohefthöker beruft er sich auf seine eigenen Geschäftskonditionen. Ich trage schwer an der Last, erwäge, sofort nach Hause zurückzukehren. Clarissa würde es mir jedoch nicht verzeihen, und ich will es nicht darauf ankommen lassen, daß sie mir die partielle Verfügungsgewalt über ihren männerunberührten Körper wieder entzieht. Ich hege große Hoffnungen auf einen vollständigen Mißbrauch. Ich setze mich auf eine Parkbank und teste die Sexmagazine auf ihre Qualität: es sind relativ alte, abgegriffene Ausgaben, auf dem freien Markt würden sie höchstens als Kiloware weggehen, für meine Zwecke sind sie aber genau richtig. Frauen mit blonden Perücken lassen 196

sich mißbrauchen, in einem anderen Heft tragen dieselben Pornonutten pechschwarzes Exotenhaar. Die Männer sind von der Straße oder vom nächstgelegenen Asylantenwohnheim aufgelesen, die Pakistanis und Afrikaner machen während des Akts ein sehr ernstes Gesicht. Die Hefte sind aus einer Zeit, als dem Analverkehr noch der Ruch der sodomitischen Teufelei anhaftete, ich entdecke nicht einen einzigen freigelegten Anus. Immer wieder blicke ich über die Schulter aus Angst, einem daherkommenden Spaziergänger könnte es gefallen, sich neben mich zu setzen und mitzublättern. Ich verabscheue falsche Anteilnahme. Zu Hause erwarten mich beide Frauen, sie stecken wieder in züchtiger Kleidung, ihrer Wangen Röte verrät sie. Ihre Spielchen dauerten wohl bis kurz vor meiner Ankunft an. - Ich wollte mich richtig von dir verabschieden. Laß dich umarmen. Sie schafft es, ihr Bein in meinen Schritt zu drängen, Clarissa schaut demonstrativ in eine andere Richtung. Ihre Zunge kitzelt kurz über meine Lippen, dann ist sie auch schon weg. Was ist in den Tüten drin? Finger weg! Das sind Pornohefte, aber nicht zum eigenen Gebrauch. Ich werde den Bühnenhintergrund mit einer Großkollage von Fickeinstellungen zukleistern. Und die Leute lassen es dir durchgehen? Ich habe die offizielle Erlaubnis, ja. Hat die Kunstfotze über mich gelästert? - Sie hat gesagt, ich soll mich vor dir in acht nehmen. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Sie weiß, daß ich mich vor dir ausziehe. Und, wie hat sie darauf reagiert? Normal. Sie möchte unbedingt, daß du mich für die Peepshow bezahlst. - Das werde ich nicht tun, Clarissa. Wir beide haben eine 197

Vereinbarung, sie hat ihre Nase nicht in unsere Angelegenheiten zu stecken. Gilt dein Angebot noch? - Ja. - Gut, worauf wartest du noch? Die Kunstfotze hat sie gebrandmarkt, Clarissas Körper ist mit Bißmalen gezeichnet. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, sie sei mit harter Hand geprügelt worden, aber es sind doch nur die Zeichen der Liebeswut, in die sich die Meisterin und ihre Magd in der Hitze ihrer Umarmungen hineinsteigern. Wahrscheinlich beißen und zerren sie aneinander in aller Stille, sie schlagen ihre Zähne in das fremde vertraute Fleisch, und der Schmerz und die Wollust und der Schmerz fluten ihre Schlitze an, bis sie endlich fortgespült werden wie Abwasserschaum. Diesmal wird Clarissa Zeugin meiner Selbstbefriedigung, ich habe sie angewiesen, mir dabei zuzusehen, und ich wende den Blick nicht ab. Als ich fertig bin, stellt sie sich hinter meinen Rücken und reißt mich an den Haaren: sie kennt es nicht anders, für den Orgasmus muß man büßen. Sie schlüpft in einen Rock, den ich an ihr noch nie gesehen habe, die Kunstfotze wird sie ab sofort mit kleinen Aufmerksamkeiten überschütten. Ich frage sie, ob sie mir einen Teil der Last abnehmen wolle, und bekomme keine Antwort. Wir stellen uns an die Autobahnausfahrt, und erst nach anderthalb Stunden elender Warterei unter dem Nieselregen dürfen wir in einen Familienwagen einsteigen. Der Fahrer ist unterwegs zu einer geschäftlichen Verabredung, er sagt, er fahre gerne nach Mitteldeutschland, das Vaterland sei teilvereinigt, und der Pole solle sich unbedingt vorsehen, er müsse büßen für die Vertreibung, die Geschichte wälze sich über niedrige Völkerschaften hinweg. Clarissa bleibt stumm, und ich unterhalte den Fahrer mit einer Lügengeschichte nach der anderen. Ob er sich unter Stirnaufbohrung etwas vorstellen 198

könne? Er habe da so eine vage Idee, ich solle keine Fragen stellen und einfach meine Geschichte erzählen, verdammt noch mal. Ich kam zu früh auf die Welt, sage ich, und mußte gleich in den Brutkasten, das half alles nichts, meine Scheitelfontanelle wuchs sich nicht fest, man konnte unter dem Säuglingsknorpel die Hirnhaut pochen sehen. Die Ärzte stellten einen Über- oder Unterdruck fest, ich weiß es nicht genau, und also bohrten sie ein Loch in meine Stirn und sorgten für ein künstliches Ventil. Der Fahrer geht in sich und fragt, ob ich jetzt meine mentale Behinderung damit entschuldigen wolle, und wenn nicht, könne er sofort anhalten und mich und meine Freundin rauswerfen. Clarissas Intervention kommt wie gerufen, sie bittet den Fahrer in einer schwierigen Frage um Rat: Habe er zur gleichgeschlechtlichen Liebe zwischen Frauen eine klare Meinung, und wenn ja, welche? Den Rest unserer Strecke ergeht sich der Fahrer in einer Schimpfarie, er lenkt weiterhin beidhändig, hat aber mittlerweile seine perforierten Lederhandschuhe ausgezogen und klammert sich an das Lenkrad, daß die Knöchel weiß hervortreten. Schließlich dürfen wir an einer geeigneten Stelle aussteigen, er bemerkt zum Abschied, die Bekanntschaft mit uns beiden habe ihn richtig gefreut, wenn es mehr von unserer Sorte gebe, würde unser Vaterland, das deutsche, sehr schnell genesen. Das zerfallene Mauerwerk der Westenklave hat nichts von einer Befestigungsanlage, die sie für die Eingeschlossenen darstellt, und auch an diesem frühen Abend haben sich der Werktätigen Söhne nicht zum Sturm versammelt. Wer will, kann das deutsche Element schlechthin, die Ahnung eines kollektiven Aufbruchs, der dann doch nur verdirbt und zertritt, vor dieser Kulisse in sich aufsteigen lassen: der rauhe Wind, ein Hügel, die gottverlassene Ruine, das Pack vor den Toren. Ich inhaliere tief und rieche doch nichts, in diesem Winkel Deutschlands dünstet der Boden nicht einmal Dunggestank aus. Clarissa hat mir wie üblich die Führung überlassen, der 199

Eigensinn bringt ihr doch nur Scherereien. Im linken Seitenflügel brennt diesmal Licht, ich steuere das Hauptgebäude an. Clarissa, bevor wir hier durch diese Tür eintreten, möchte ich dir ein paar Dinge sagen. Vielleicht ist es auch zu spät dazu. Du wirst in den nächsten Tagen eine Menge Irre kennenlernen. In gewisser Weise sind sie in ihrem Irrsinn, wie soll ich sagen, fortgeschrittener als du. Ich weiß, du hörst es nicht gern, wenn ich dir eine kranke Veranlagung unterstelle. Gegen das Irrenkollektiv da drin bist du kerngesund. Laß dich nicht anmachen. Laß dir von denen nichts einreden. Bleibe in meiner Nähe, und es wird dir nichts zustoßen. Du wirst dich sogar von den Strapazen der letzten Zeit erholen können. Ich bin kein Kind. Gewöhn’ dir langsam einen anderen Ton an. - Wie du willst. Sag mir nicht, ich hätte dich nicht beizeiten gewarnt. Nur eins. Wer ist hier für alles verantwortlich? Schwierige Frage. Bis zu meiner Abreise hatte ein gewisser Pink, Mauritius Pink, den Posten des Projektleiters inne. Sein Vorgänger Daniel konnte sich nur ein paar Tage behaupten, dann wurde er von der Meute abgesetzt. Doch die Fäden zieht eine Frau namens OPP TIKK, sie ist mit Daniel verheiratet, nimmt es aber nicht so genau mit dem Ehegelübde. Sie macht es mit jedem? Vielleicht auch mit jeder. Ein guter Ersatz für die Lesbenmutter Birgit. Man darf Kindern nicht die böse Wahrheit sagen: Clarissa springt mich von hinten an und drückt mir augenblicklich den Adamsapfel zu, sie hängt an mir wie ein Buckel, sie macht sich schwer, und obwohl ich mit den Armen rudere wie verrückt, 200

kann ich sie nicht abwerfen. Schließlich lasse ich mich nach hinten fallen, sie zappelt unter meinem Gewicht. Ich komme auf die Füße, meine Fausthiebe auf ihren Unterleib schlagen die Gewalt aus ihrem dürren Leib. Sie krümmt sich, sie ist still, aber sie weint nicht. Ich will weiter weh tun, es ist aber der Mühe nicht wert, ich stoße sie mit der Schuhspitze an und sage ihr, sie solle jetzt kein Drama machen und aufstehen. Die Müdigkeit zeichnet Schattenhalbmonde um ihre Augen, in ihr Gesicht. Der Inhalt einer Tüte hat sich über den Boden verteilt, ich sammle die Magazine auf, während Clarissa durch den Stoff ihres Rocks ihre angeschlagene Möse massiert. Wir steigen die Treppen hoch, ich will das Material erst in meinem Zimmer ablegen. Die Meute hat sich wohl zurückgezogen, es ist erstaunlich still. Ich stoße die Tür auf und sehe Pink auf allen vieren kauern, OPP TIKK steht hinter ihm und bestreicht einen Dildo mit Gleitcreme, es ist der Augenblick vor der Einführung durch die Hand der Meisterin. Sie fahren herum, Pink stöhnt auf, nicht ob der Erregung und der Wollust, nicht weil sich der Plastikpenis schmatzend in seinen Anus bohrte: er ist entsetzt, daß ich ihn ein zweites Mal bei einer sittlich delikaten Beschäftigung erwische. Vom Onanisten zum penetrierten Haussklaven ist kein langer Weg, er hat den Dämon in seine Brust einziehen lassen. Clarissas Schluckauf ist derart heftig, daß ihre Lider reflexartig zucken, wie als würde sie neben einem Schmied stehen, der den Hammer auf den Amboß schlägt. Ich gebe ihr die nötige Zeit, der Anblick zweier Parasiten, die sich der dämonischen Penetration hingeben, hat sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Trotz der Zuchtkosungen der Kunstfotze, ihrer Himmlischen Braut, taut Clarissas Wesen bei romantischer Fremdeinwirkung auf. Wir sind in ein Notquartier eingezogen, mein Einzelzimmer ist nach der Schändung ein Hort der Gottlosigkeit. Wenn ich den umlaufenden Gerüchten Glauben schenken soll, sind die Betriebslaien weiterhin im Amt; mancher Adept, der dem Reglement der Neuen Strenge nicht 201

gewachsen war und sich nach Daniels Belehrungen gesehnt hat, ist in die Hippiekommune des alten Meisters im Seitenflügel eingekehrt. Nanes Freund Shanti gehört zu den ersten Überläufern, und er ist auch der einzige, der zwischen den Biotopen hin- und herpendelt. Seine Frau mag er zu Recht nicht aus den Augen lassen. Zudem gehört er zu der Komparserie, man hat ihm eine lächerliche Rolle als kostümierter stummer Darsteller auf den Leib geschrieben. Nane bedachte Clarissa mit einem geringschätzigen Blick, ich habe sie als meine offizielle Freundin vorgestellt. Sie flüsterte mir ins Ohr, es jucke sie an ihrem süßen Popo, wir müßten aufpassen: Ihr Freund hat sie bei einer innigen Umarmung mit einem ostdeutschen Schalmeispieler überrascht, und es ist ihr nur mit allergrößter Mühe und einer vorgespielt lüsternen Nacht gelungen, ihn von einer Abreise abzubringen. Sie sagte, es sei ihr mit mir ernst, und ich solle ihren Willen zur Leidenschaft nicht unterschätzen. Eine Sumpfblüte des sterbenden Systems, es werden sich viele Männer finden, die sie rühmen werden ob ihrer Niedertracht. Ich beobachte, ich warte auf meine Gelegenheiten. Clarissa erahnt meine Lust und zieht sich aus, es ist reizvoll, daß der Schluckauf ihr ins Fleisch fährt und es immer wieder zittern läßt. Sie kann sich auf ihre Stellung nicht konzentrieren, ihre vergeblichen Versuche, dagegen anzusteuern, sind rührend. Sie knickt in den Knien ein, zieht dann ihren Rücken gerade. Laut meiner Anweisung spielt sie an ihren Brüsten, ich komme nicht zum Höhepunkt. Clarissas Nuttenerschöpfung ernüchtert mich. Ohne sich anzukleiden, legt sie sich auf die Matratze und schläft schnell ein. Ich entkleide mich vollständig und schmiege mich an ihren knochigen Rücken, ich will sie nicht mißbrauchen, der Kopf meines nicht erigierten Glieds verschwindet zwischen ihren Pobacken. Ihr Haar riecht nach Staub, ich will nicht mehr atmen. Als ich aus einem dunklen Schlaf aufschrecke, ist sie nicht mehr 202

da, in der Kuhle ihres Körperabdrucks im Laken erkenne ich getrocknete Blutstropfen. Sie wird sich herumtreiben, wie eine morphinisierte Hündin streunen und am Gestrüpp schnüffeln. Ich überprüfe die Pornoheftstapel, sie sind nicht zerschnipselt: ein Beweis meiner Macht über Clarissa. Wer, wenn nicht der schwärenausbrennende Heilmagier könnte sie aus ihrem Wahn herausreißen? Istafa begegne ich im Flur, ich habe gerade einem Gedanken nachgehangen, der mit ihm und seinem Tod zu tun hatte. Er lernt seinen Bühnentext und sagt ihn vor sich her, Pinks Mißbrauch Schutzbefohlener zeigt Wirkung, sein Pharaonenwahn korrespondiert vortrefflich mit der Kleinheit der Geschöpfe, Ich werde ihm die Huldigung schuldig bleiben, ich mache mich auf die Suche nach diesem Geschlechtsverräter. Schließlich treffe ich ihn im Seitengebäude in der Pornokammer, er unterweist gerade eine Handvoll Irrer in der Schaukunst der plötzlichen Erstarrung. Die Wand ist kahl, die nackten Frauen sind verschwunden. Die Irren versuchen sich in der Figur »Königskreatur der weißen Schönheit«, sie sollen mit geschlossenen Augen aus einem dunklen Kern heraus die pigmentfreie Farbvollendung eines Menschen phantasieren und erst dann wieder die Augen öffnen, wenn sie in diesen Menschen »hineingestiegen« sind. Der blasse Teint der Phantasiegestalt ist das wahre Schönheitsideal. Sagt Pink, OPP TIKKs Puppe. Er fügt hinzu, daß es töricht sei, weiße Haut, »die gottgegebene weiße Haut«, der Sonne auszusetzen, um anderen Rassen nachzueifern. Die Irren sind wie betäubt, sie lauschen nicht, sie nehmen auf, müde der Auflehnungen, müde der zwiespältigen Gefühle. Ich beneide Pinks Geschick, die Kreaturen erfüllen ihren Verwendungszweck. Kein Widerstand. Er faßt mich kameradschaftlich an der Schulter, er geht mit mir hinaus auf den Hof. Ich weiß, daß er das Licht sucht, weil er nichts verstecken will, weil seine Exklusivität keiner Heimlichkeiten mehr bedarf. 203

Du bist also zurück. Mit einer weiblichen Begleitung. Ich glaube nicht, daß sie wirklich deine Freundin ist. Sie ist nicht so … überragend, daß du mit ihr angeben könntest. Wieso lügst du also? Big brother Pink. Du hast dich sehr verändert. Du bist jetzt der unangefochtene Chef und läßt dir einen Kunstpenis in den Hintern schieben. Wenn das deine Anhänger wüßten … … würde es sie nicht weiter stören. Du kannst es bei der Abendversammlung zur Sprache bringen. Das wird sehr lustig! Du hast die Irren gut im Griff. Sie würden nichts Widernatürliches an deiner Abart finden, auch wenn ich es ihnen verraten würde. Abart? Ich dachte, solche Witzbolde wie du seien ausgestorben. Uns gibt es noch, Pink, täusch dich mal nicht. Wir warten nur auf eine Blöße, auf einen Fehltritt, und schon bilden wir die erste Reihe am Schafott und jubeln dem Henker zu. - Du hast doch bestimmt etwas auf dem Herzen. - Ich kann dir keine Quittung vorlegen wegen der Sexmagazine. Der Großhändler hat mit sich feilschen lassen, aber als ich ihn um einen Kassenbon bat, hat er mir nur lange ins Gesicht geschaut … Das war aber nicht abgemacht! Ich weiß, du mußt eben deine Ausgabenrechnung frisieren. Ich bin doch nicht der Buchhalter irgendeines Ganoven. Danke. Ich bin mit reichlich Material zurückgekommen, du kannst dich selbst davon überzeugen. Es könnte aus deinem Privatbesitz stammen. Was? Ich habe es aus erster Quelle für einen einmaligen Vorzugspreis beschafft. Interessiert mich nicht. Ich kann keine krumme Tour 204

durchgehen lassen. Die fünfhundert Mark werden dir von deinem Künstlerhonorar abgezogen. Mach mich nicht wahnsinnig, Pink! Der Zahlungsempfänger war ein Zuhälter, Mann, der schwingt nicht einfach die Kurbel der Registrierkasse und schreibt dir eine Quittung mit Datum und Stempel. Das ist nicht meine Sache. Wir müssen alle ein Opfer bringen. Das wird dir jedenfalls eine Lehre sein, dich das nächste Mal nicht mit irgendwelchen Gangstern einzulassen. Sei froh, daß ich deine Pornokulisse durchgehen lasse. Mit kleinen Änderungen natürlich. Änderungen? Die Genitalien, ob vor, mitten oder nach dem Geschlechtsakt, werden geschwärzt. Die Augen der Frauen werden mit schwarzen Balken versehen. Man darf uns nicht der Vertreibung von unsittlichem Schrifttum beschuldigen. Es ist sowieso hart an der Kante, wir wollen nicht für unnötigen Ärger sorgen. Du meinst, OPP TIKK will sich keinen Ärger aufhalsen? Erinnerst du dich noch an Daniels Worte?: Hier haben Frauen das Sagen, wir Männer fügen uns. Insofern hat sich an der Grundeinstellung nichts geändert, ob dir das paßt oder nicht. OPP TIKK und ich haben das Konzept ein wenig modifiziert und es den Kursteilnehmern vorgestellt, sie gehen mit uns d’accord. Unser Stück besteht aus drei Aufzügen: Harmonie – Erholung – Totalgas. Der letzte Akt wird im großen Saal, im Showroom, aufgeführt, die Darsteller setzen sich Duschhauben auf, aus monströsen Düsen strömt tödliches Gas, das den Schauspielern nichts anhaben kann. Ende der Vorstellung. Pink, du kannst doch nicht die Judenvernichtung zu einer billigen Metapher verkitschen. - Die ganze Welt ist ein einziger Duschraum, in den wir, die Geschorenen, Entflöhten und Nackten, hineingetrieben werden. 205

Es geht hier nicht um irgendeine Duschkabine, mein Gott. Du hörst dich an wie ein verdammter Schulfuchs. Nach Auschwitz ist das Gas als Metapher tabu! Du hast gut in der Schule aufgepaßt. Geh mir nicht auf die Nerven mit deinem Pfadfinder-Antifaschismus. Ich bin konsequent. Ich setze der Selbstzerfleischung der Deutschen, unserem Selbsthaß, die gegenaufklärerische Übertreibung entgegen. Colonial Beauty ist das Stichwort. Du kannst als Fremder nicht mitreden. Glaubst du, ich bin irgendwelchen Medienhyänen nicht gewachsen? Die haben keine Ahnung, die kriegen von mir die komplette Theaterkritik auf zwei Seiten, sie brauchen dann nur noch ein bißchen umzuformulieren, und schon haben sie ihren schönen Artikel. Wir treffen uns um sieben zur Lagebesprechung. Sei pünktlich, für Gäste herrscht Anwesenheitspflicht. Nimm sie mit, sie gefällt mir. Schlagartig wird mir klar, daß Pink hinter der Fernexekution steckt, er verfügt über das nötige Wissen und die monströse Bildung, die ihn sehr bald zu schwierigen Themen und Herausforderungen getrieben haben muß. Sein eiserner Entschluß, sich aus der Historie als einer Requisitenkammer zu bedienen, entspringt einer intellektuellen Leichtfüßigkeit. Seine Gedanken verkettet er zu Großmolekülen, an diesem Prinzip der Polymerisation hält er fest und manövriert sich und seine Schutzbefohlenen um die ewigen Klemmen des Lebens. Das neugotische Schrecknis ist um einiges aufregender als die Halbstarkenmobilität der Neuzeit, es sind ja die Tage der Finalen Volksreinigung. Daß der Vergleich der Gaskammer mit der Welt an und für sich nicht statthaft ist, interessiert ihn nicht. Kein Toter geht ihn etwas an. Er hat plausible, fast logische Argumente zur Hand, wieso er das Stück, sein Stück, mit dieser hohlen Metaphorik anreichern will. Die Qual seiner Selbstsuche hat ein Ende, da er als Erster Penetrierter seiner 206

Schaustellertruppe das Opfer dargebracht hat. Seine Verschwulung ist ein schlechtes Zeichen, er höhlt den Volkskörper in der gleichen Weise aus, wie er zuvor invaginiert, wie er eingemöst wurde. Seiner Härte werde ich ausweichen müssen. Die Ästhetik der Gegenreformation ist auch bei den anderen Tribunen Programm, das im Fritierfett der Künstlichkeit, ihrer Sitten und Dogmenbrüche, gebraten ist. OPP TIKK hat die Knöpfe ihres schwarzen Mantels mit Stanniolpapier umkrümpelt, die Farbe ihres Lippenstifts soll, wie sie mir sagt, einem sogenannten bleeding heaven cocktail nachempfunden sein. Ein Kosmetiker habe atemlos zugesehen, wie der über den Eiswürfel geträufelte Kirschsaft im Bols Blue Cura9ao heruntergeblutet sei, und ihr, OPP TIKK, sofort versprochen, dieser Farbe nachzuspüren. Diese Geschichte soll mich davon ablenken, daß eine aufgetakelte Nikotinnymphe ohne Talent, ohne Anstand, ohne den dafür notwendigen Naturschwanz, eine große Lästerung zu inszenieren bereit ist. Wir unterhalten uns über die Empörungen dieser Tage, in den Zeitungen wird darüber gestritten, ob der Krankenschwester ein Vorwurf zu machen ist, weil sie sich geweigert hat, einem Obdachlosen Blut abzunehmen. Sie hat zu ihrer Verteidigung bemerkt, die Gesundheit der normalen Bürger gehe vor, bei Risikogruppen müsse sie sich an die Vorschriften halten. Ich bin von der zeitlosen Haltung der Krankenschwester angetan, OPP TIKK widerspricht mir und will dann ob meiner Heftigkeit das Thema wechseln, es muß mit dem Teufel zugehen, wenn ihre Liebe zum Humanen mehr als nur eine formale Verpflichtung ist. Sie hat die Pornokammer vom Unrat gereinigt, Daniel, der gute, ermattete Daniel, hat sich dazu erweichen lassen. Er darf sie wieder anrühren, sie mit seinem Saft beschmutzen und sich benetzen mit ihrem Vaginalschaum – er darf ihr die Worte eines Reumütigen, eines gelegentlichen Hasardeurs wider ihre 207

Bestimmungen, ins Ohr flüstern; er darf verstehen, daß er seine Frau nicht für sich beanspruchen kann, vielleicht riecht er am getrockneten Samen eines fremden Mannes zwischen ihren Schenkeln. Wer hat sich auf seine Seite geschlagen? Die, die sich nicht straffen, die schnell ermüden … Sie sind die Scheiße der Parasiten, sie sind es nicht wert, daß man sie in den Körper integriert, der gute Wille ist an ihnen verschwendet. OPP TIKK spielt mit dem Gedanken, sie der Kaserne zu verweisen, ich bestärke sie darin: Kein Unbefugter darf sich in der Zone, in unserer Zone, aufhalten. Sie fragt mich über Clarissa aus, ich spucke geringschätzig aus. Hast du Lust auf Penisspiele? Du meinst, ob du mir einen Dildo einführen darfst? Ich bitte dich, OPP TIKK, du willst mir nicht wirklich weh tun, das weiß ich. Hast du es mal ausprobiert? Nein, das ist furchtbar. Du weißt also nicht, was es heißt, von einem Mann gefickt zu werden? Das ist wirklich ein Erlebnis. Ich bin nicht schwul, um Gottes willen! - Es geht bei dieser Sache nicht darum, wer du bist, sondern was du fühlst. Ob du die vielen Erregungen empfangen willst. Das ist immer die Hauptsache. Was du mit deiner natürlichen Ausstattung anstellst, und welche Mittel du dir einführst, im geheimen wie im offenen. Was du annimmst, gehört dir. Das ist mir zu hoch, OPP TIKK. Nein. Du verstehst mich. Dir gefällt nur die Vorstellung nicht, deinen Körper einem anderen Menschen anzuvertrauen. Er könnte einen Fehler machen. Er könnte dir Schmerzen zufügen, und du könntest unvermutet erregt, angestachelt oder von der Lust traumatisiert werden. Wenn du kalte Hände hast, reibst du sie, oder bläst deinen warmen Atem in die Faust, oder? 208

Ja, und? - Das verbindet dich mit jedem anderen Menschen auf der Welt. Was dich von allen anderen trennen wird, ist deine Lust auf Verschwendung. Ach komm, wieso versuchst du mich zu missionieren? Es ist doch alles ganz einfach, ich möchte auf keinen Fall von einem Mann oder von der Nachbildung eines Schwanzes gefickt werden. Du bist ein Spießer. Der kleine Junge, das bist du immer gewesen. Ja vielleicht. Du bist bestimmt weitergegangen als ich. Deshalb läßt du die Puppen tanzen, und ich bin ein erfolgloser Künstler. Mir kommen die Tränen, mein Herz. Hör mir auf mit Grenzüberschreitung. Es gibt nur einen einzigen Grund für deine Mißerfolge: deine Normalität. Du bist die zweite Frau, die mir das sagt … … und ich werde nicht die letzte sein. Etwas anderes: Pink hat mir von deiner Bühnengestaltung erzählt. So wie du es dir vorgestellt hast, wird es nicht gehen. Ich weiß, ich muß mit dem Retuschierpinsel arbeiten. Ich füge mich. Immer schön artig bleiben, nicht wahr? Schade, daß du mich so schnell langweilst. Was soll ich tun? Dagegen protestieren, daß man in meine künstlerische Freiheit eingreift? Lächerlich! Du hast vor einer eingebildeten Kröte gekuscht … Das sagst du? Pink ist doch dein Mann, du hast ihn eingesetzt. Mein Mann? Niemand ist mein Mann. Es hat sich sonst keiner um diesen eher symbolischen Posten gerissen, und Pink war zufällig in der Nähe. 209

Genau. Er ist ein Befehlsempfänger, mehr nicht. Also konnte ich auch schlecht gegen eine Anweisung von dir verstoßen. Ich bin mehr Mann als du, Pink und Daniel zusammen. Was euch fehlt, ist Charakter. Schön, wieso bist du dann nicht in deinem Kulturkreis geblieben, wo es dort doch nur so von Charakterkerlen wimmelt? Ich verbrauche Männer gerne. Hier habe ich eine größere Auswahl. Das wird die Ausländerbehörde aber nicht gerne hören. Ich muß jetzt gehen, OPP TIKK. Ich stehe jederzeit zu deiner Verfügung, aber bitte streiche jedes Hilfsmittel aus deinem Programm. Sie ruft mir nach, sie werde nach mir schicken, wenn ihr danach sei, sie lacht rauh auf. Ich passe Clarissa ab, die von der Kleinhändlerin im Dorf mit einer Tüte Obst zurückkehrt. Ihr Appetit überrascht mich, doch sie erklärt, sie habe für »die Kommune« eingekauft. Fett ist ein Geschmacksträger und ein Suchtstoff – die Menschen, wenn sie denn in einnehmender Gewandung dahergehen, zeigen mit ihrer Beleibtheit, daß sie über die Mittel verfügen, zu prassen und zu schmatzen, wann immer es ihnen gefällt. Diesem barbarischen Muster hat Clarissa abgeschworen, sie lebt das verlogene christliche Modell der Auszehrung, die letzte Empörung kommunistischer Hungerstreiker. Ich beiße in einen gespritzten Hormonpfirsich, er schmeckt nach nichts, den Bissen spucke ich aus und presse das offene saftige Fruchtfleisch auf das rechte, dann auf das linke Auge. Ich bete zu Gott, daß mich OPP TIKK dabei beobachtet, sie soll wissen, daß ich in den Grenzen der Heterosexualität zu Phantasiespielen aufgelegt bin. Ich erkenne zu viele labile Punkte in Clarissas Skelett, sie kommt mir vor wie ein alter ausgedienter Hund der Familie, den man nicht vor der Tür schlafen lassen mag. Meine Zuneigung nährt sich aus 210

der Gewißheit, daß sie so wenig wie möglich spüren möchte, auf ihrem hohen Zivilisationsniveau trifft man keine Entscheidungen und ringt nicht um Fassung. Man kommt den Krankheiten zuvor und beißt sich weg, bis das Körpermaß, das von der neutralen Vernunft diktierte, der unspektakulären Umgebung entspricht. Jedes Milieu wird ein Unruheherd bleiben, also stumpft Clarissa ihre Wahrnehmung ab, eine bewundernswerte Unternehmung. Ich frage sie, wieso sich der Schluckauf über Stunden erhalten kann, und sie antwortet, es habe auch Erholungspausen gegeben, in denen sie aber maßlos schlucken mußte, der Speichel sei ihr ausgegangen und ihr Rachen wund. Es gäbe immer wieder Tage in ihrem Leben, an denen die Röhre zwischen Mundhöhle und Magen ihr Probleme bereite. Ihre Askese schädigt sie. Der Bürgervorsteher ist in Begleitung des Truppführers des Löschkorps erschienen, um sich ein Bild von der Kunstarbeit zu machen. Sie erwecken den Eindruck, als wollten sie bei einem Unglücksfall Erstmaßnahmen einleiten: der Bürgermeister hat über seinen glänzenden Polyesteranzug eine Warnweste übergezogen, der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr rückt seinen Helm mit Nackenschutz gelegentlich gerade. Ihre hoch sichtbare Warnkleidung soll uns bedeuten, daß es sich um einen offiziellen Besuch handelt, daß sie ihre laufenden Geschäfte nicht unterbrochen haben, um einer Irrenkompanie in einer verfallenen Kaserne beim Exerzieren zuzusehen. Den vorbeistürmenden, kalkweiß körperbemalten Statisten schenken sie keine große Beachtung, von einer Führung durch die Räume wollen sie absehen. Ich bin dazu ausersehen, das ausgefeilte Kunstkonzept in einnehmenden Worten zu beschreiben; Pink geht davon aus, daß sie sich an Ort und Stelle von der Richtigkeit ihrer Investition überzeugen wollen. Er sah es nicht ein, wieso er die Dorfdelegation in Empfang nehmen sollte, und stellte für diesen Anlaß eine rangniedrige Charge ab. Ich 211

plappere nach, was mir Pink über den Dreiakter erklärte, Harmonie, Erholung, Totalgas, und dichte hinzu, daß unsere Schautruppe den gasförmigen Aggregatszustand der Träume und Alpträume nachstelle. Sie sind an meinen Ausführungen nicht interessiert, sie reagieren nicht und stellen keine Gegenfragen, die mich überführen könnten. Sie mögen sich nicht länger mit mir befassen und bitten mich, sie zum »Chef der Unternehmung« zu bringen. Da ich weiß, wie sehr es Pink ärgern wird, komme ich ihrer Bitte nach, vielleicht hat er sich ja auch zu einem Nachmittagsfick mit OPP TIKK zurückgezogen. Ich lasse die ostdummen Dorfbonzen in der Gemeinschaftsküche alleine, ein heißes Getränk lehnen sie ab und legen erst mal ihre rohen Hände auf den Tisch. Ich treffe Pink in seinem Zimmer bei einer komplizierten Rechenübung an, er sagt, er würde kommen, wenn er dafür Zeit erübrigen könnte. Er berauscht sich still an seiner Macht. Ein Gottesanbeter, der ein Insekt bei lebendigem Leibe zwischen seinen Kiefern zerhackt, fühlt dessen Schmerz nicht nach, er ist kein Betrachter seines Opfers. Empfindsamkeit ist Gottes oder anderer Götzen Sache, die Funktionsträger senden höchstens Positionslichter in die Nacht aus und warnen die Tiere vor. Pink hat Istafa verboten, sich in sein Zimmer einzuschleichen und die Reproduktionen an den Wänden zu beschädigen, sein Kontakt mit den Irren ist bis auf die professionellen Zusammenkünfte gekappt. Ich warte mit den Ostdeutschen eine Dreiviertelstunde, sie nehmen von mir nicht einmal ein Glas Leitungswasser an. Wir warten. Als Pink endlich eintritt, schauen sie auf, und ihre Hände gleiten langsam unter den Tisch, der Kommandant nimmt seinen Helm ab und legt ihn auf seinen Schoß. Schön, daß Sie sich hierherbemüht haben. Leider bin ich, sind wir alle bei der Arbeit und in Eile. Also, was kann ich für Sie 212

tun? Sie sind der Truppenführer? Wenn man so will, ja. Dann sind Sie unser Ansprechpartner … Das hätten wir also geklärt. Sagen Sie mir bitte, was Sie zu uns führt? Wollen Sie sich vielleicht für das Benehmen Ihrer Jugendlichen entschuldigen? Nein. Wie Sie bestimmt wissen, ist der Mob hier aufmarschiert und hat uns das Leben schwergemacht. Wir haben uns selbst verteidigen müssen, Ihre Polizei war uns keine große Hilfe. Es ist nicht meine Polizei, es ist die Polizei aller Bürger. Sie hilft, wo sie nur kann, bei geringfügigen Fällen allerdings möchte sie nicht eingreifen. Sonst käme sie ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nach, und die Verbrecher wären bei ihrer Arbeit völlig ungestört. Geringfügigkeit? Ich bitte Sie, das war hier kein Ehestreit. Der Mob hat uns überfallen. Wir reden von mehrfachem versuchten Totschlag! Deshalb sind wir nicht hierhergekommen, Herr … Pink, Mauritius Pink. Herr Pink, ich bin nicht nur in meiner Funktion als Bürgermeister hier. Es gibt bestimmte Regeln, wie man miteinander umgehen kann und meiner Überzeugung nach auch muß. Ich … - Meines Wissens hat die Kultur Konzert Direktion alle nötigen Genehmigungen eingeholt. Ich sehe nicht, wo das Problem liegt. - Junger Mann, es geht nicht um das Formelle … Na also. 213

Meine Gemeinde zählt 578 Seelen. Die Alten und der Großteil der jungen Leute sind geblieben. Ich kenne andere Gemeinden, die sogar um die Hälfte geschrumpft sind, weil die Bürger dem Ruf des Westens gefolgt sind. Die Zeiten haben sich geändert, das habe ich mitbekommen. Junger Mann, das mag ja sein, aber gewisse Sitten ändern sich nicht. Um es kurz zu machen: Es wäre nur anständig gewesen, wenn Sie sich am Anfang bei mir vorgestellt hätten. Ich hätte Ihnen meine Hilfe angeboten. Wir brauchen aber keine Hilfe, wir kommen schon selber zurecht. Und nennen Sie mich bitte nicht »Junger Mann«, der Altersunterschied ist schon so ersichtlich. - Sie verstehen nicht, Herr Maurius. Unsere Gemeinde, der ich vorstehe, war zu allen Zeiten sehr gastfreundlich. Ich bin, ehrlich gesagt, etwas enttäuscht, daß Sie nicht vorbeigeschaut und nett guten Tag gesagt haben. Nicht Maurius. Mauritius bitte! Mein Freund hier heißt Scherf, und ich bin Karl Sombert. Freut mich, wirklich. Ich muß mich jetzt wohl um meine Arbeit kümmern. Herr Maurius. Die Gebäude hier stehen auf dem Gemeindegelände. Im Volksmund heißen sie einfach die Russenkaserne, aber die Russen sind nur eingezogen, davor war das hier ein Sanatorium und anfänglich ja als eine Art kulturelle Begegnungsstätte konzipiert. Der baufällige Zustand sollte Sie nicht täuschen, das ist das Werk der Roten Armee, die hier gehaust hat wie die Schweine. Es ist meine Pflicht als Bürgermeister, dafür zu sorgen, daß die Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden. Deshalb habe ich auch gleich einen Experten mitgebracht. Kai, bitte. Ja. Ich bin der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr und Ausbilder auf Standortebene. Innerhalb unserer Dorfstaffel 214

nehme ich die leitende Position ein. Wir haben ein Tragkraftspritzenfahrzeug, da ist Platz für acht Truppmänner. Die restlichen vier müssen auf Privatfahrzeuge zurückgreifen. Wir sind dafür da, den Brandschutz sicherzustellen … Wir zündeln nicht mit Feuer! Was ist mit der Premiere? Ah ja. Da ist ein Fackelzug geplant. Sehen Sie. Wir werden also anwesend sein müssen. So oder so. Wären Sie bei unserem Bürgermeister vorbeigekommen, hätte er Sie sicherlich auch davon unterrichtet. Jetzt bin ich ja im Bilde, und das reicht mir. Ich denke … Plötzlich heult der Meldeempfänger des Kommandanten auf, er stülpt sich seinen Helm über und zieht den Kinnriemen bis zum Hals. Er müsse sofort zur Feststation, und wahrscheinlich würde die Feuerwehr ausrücken müssen, um einen Keller unter Wasser auszupumpen, der Rohrbruch sei nicht so selten, wie man denke. Vielleicht sei es auch nur ein Containerbrand. Sie stoßen die Tür auf und stürmen an OPP TIKK vorbei, die Pink böse ansieht und den Kopf schüttelt. Er hatte einen denkbar schlechten Auftritt, sie ist enttäuscht, und Pink geht langsam auf, daß er seiner Herrin bis auf weiteres nicht zusehen darf, wie sie ihm einen schwarzen eingecremten Dildo langsam in den After einführt. Ich halte es für das beste, dem Schwein Pink nicht beizustehen. Kaum bin ich die halbe Treppe runtergestiegen, brüllt OPP TIKK los. Daniel liegt auf dem Boden, er hat die Hände im Nacken verschränkt und mustert die Decke, von der sich kleine steife Farbplatten lösen, wenn ein Luftzug durch den Raum braust. Vielleicht liest er Orakel aus den Zeichen der Verwahrlosung, vielleicht steht er auch nur unter dem Eindruck irgendwelcher Halluzinogene. Ich stoße ihn mit der Schuhspitze an, ich bin ihm keine Höflichkeit schuldig. 215

Was wartest du eigentlich die ganze Zeit ab? An deiner Stelle wäre ich von hier auf Nimmerwiedersehen abgehauen. Du bist ein Versager, deine Frau betrügt dich, ein lebensunwerter Wurm mimt den Führer der Brigaden. Du liegst herum. Schön, daß du bei deinem alten Kumpel vorbeischaust. Und ich glaubte schon, du würdest mit meinen Feinden kollaborieren. Du brauchst keine Feinde, du schießt dich selber ab. Aber du hattest recht: dieser verdammte Pink versaut alles. Gerade eben hat er den Bürgermeister verprellt. Er kam, um sich darüber zu beschweren, daß wir ihm keinen Höflichkeitsbesuch abgestattet haben. Pink hat ihm mehr oder weniger gesagt, er soll sich zum Teufel scheren. Das glaube ich nicht. Doch. OPP TIKK putzt ihn gerade runter, endlich mal. Und noch was: Ich habe von ihm fünfhundert Mark fürs Bühnenmaterial bekommen, dann bin ich nach Berlin und hab’s sehr billig erstanden. Jetzt sagt mir Pink, weil ich ihm keine Quittung vorlegen kann, wird er mir das Geld von meinem Honorar abziehen. Das lasse ich mir nicht gefallen. Der Mann überspannt den Bogen. Daniel, du hast mich angeheuert. Da kann nicht ein anderer kommen und mich herunterhandeln wollen. Richtig, das geht nicht. Also, was unternimmst du jetzt? Was soll die Frage? Ich habe keine Kompetenzen, Mensch! Ich stehe schlechter da als du, das ist dir doch klar, oder? Willst du wieder nach oben? Wenn du die Projektleitung meinst … sicher. Du wirst also jetzt schön aufstehen, in deine Ausgehkleidung schlüpfen und dann den Bürgermeister aufsuchen. Du hältst mit ihm ein schönes Pläuschchen unter Männern, du sagst ihm, da 216

habe sich ein einfacher Kader der Amtsanmaßung schuldig gemacht, du seist der Truppenführer. Truppenführer? Ja, das wird ihm gefallen. Du entschuldigst dich bei ihm förmlich für dein Versäumnis. Und dann wirst du dem Feuerwehrkommandanten einen kurzen Besuch abstatten und auch ihm liebe nette Worte flüstern. Der ist wohl die rechte Hand des Bürgermeisters, den hat er auch mitgebracht. Und was bringt mir das Ganze? Denk doch mal nach, Mann! Ich gehe in der Zwischenzeit los und preise dich als selbstlosen Retter in der Not. Die Irren kriegen ein ganz schlechtes Gewissen, weil sie dich geschaßt haben. Und ausgerechnet du verhandelst mit den Dorfossis darüber, daß sie die Premiere doch nicht absetzen, wie sie eigentlich nach dem Gespräch mit Pink beschlossen hatten … Das stimmt ja so nicht. Du bist zu blöd, Daniel. Jetzt hast du die Chance, Schicksal zu spielen. Ich trickse nur ein bißchen, und ich bin sicher, daß dich die jubelnde Meute in einer Sänfte in den Tempel hineintragen wird. Du und dein verdammtes Pathos! Dein toller Realismus hat dich nicht weit gebracht. Apropos, meine Ausputzerdienste werden dich natürlich etwas kosten. Du möchtest mein Vize sein, stimmt’s? Quatsch. Ich will, daß du auf mein Honorar einen Tausender drauflegst. - Das ist nicht so einfach, wie du dir vorstellst. Ja oder nein, Daniel? Ich kann nicht willkürlich über die Kasse verfügen. - Ja oder nein? – Ja. 217

Die Irren der Künstlerkolonie West kommen gegen meine Macht nicht an, die Schlechtes will und Schlechtes wirkt. Daß es diese Macht nicht gibt und nur der Summe ihrer aller Schlechtigkeiten gleichkommt, wollen sie nicht glauben. Sie erwecken den Anschein, als seien sie in banale Verrichtungen verstrickt, als dämmerten sie von einer Entspannung zur nächsten. Nane hat Schlamm und Urintrunk abgeschworen und probiert es mit Epilationsstreifen auf ihrem Gesicht. Ihrer Pfirsichhaut entsprießt ein Jünglingsflaum, einige wenige Borsten wachsen aus den kleinen Muttermalen. Sie sagt, ein Liebhaber, der ich schon irgendwie sei, müsse daran denken, der Frau Geschenke zu machen, sie könne sich nicht daran erinnern, von mir eine Rose, einen Ring und schon gar nicht eine Packung Epilationsstreifen bekommen zu haben. Ich erzähle ihr von Daniels Rettungsaktion, sie ist verblüfft, in einer halben Stunde weiß es das ganze Irrenkollektiv. Mehr braucht es nicht, daß das Gerücht die Runde macht. Pink hat sich in seine stille Kammer verzogen, OPP TIKK dirigiert die Meute. Clarissa liegt auf der Matratze, sie reibt an einer glasierten Keramikscheibe, in die Metallsplitter eingearbeitet sind. Man kann sich an den Spitzen verletzen, aber das wird sie bestimmt nicht davon abhalten, ihre Hände an die Scheibe zu drücken. Ich gehe durch das Zimmer und öffne das Fenster, auf dem Brett mehren sich die toten Insekten: Weberknechte, Stubenfliegen, eine Hornisse. Ich werde mich für dich nicht mehr ausziehen. Clarissa, ich möchte das auch nicht mehr. Es ist zu … schäbig. Ich will’s nicht mehr. - Ich weiß. Es war von Anfang an nicht recht. Soll ich mir vielleicht ein anderes Zimmer aussuchen? Nein. Was hast du dir da um den Hals gehängt? Sieht aus wie ein Glücksbringer. 218

- Es ist ein Mikrofon für freundliche Wesen, die mich schützen. Ich dachte, der Schutzengel hockt wie ein Vogel auf der rechten Schulter. Wir haben nicht nur einen Schutzengel und einen Schadensteufel. Tausende Wesen stecken in der Luft. Natürlich. Man nennt sie auch Schmutzpartikel. Red’ nicht so … schlecht. Ich glaube daran. Woran denn, Clarissa? Das ist ein Tachyonenempfänger! Ein was? Ich empfange Nachrichten aus der Welt jenseits unserer Realität. Sie sprechen durch dieses Mikrofon, damit ich sie auch verstehe. Aha. Und was flüstern dir diese Geister? Kannst du mit dieser Scheibe die Zukunft deuten? Ich kann damit sehen, wer eine gute oder schlechte Aura hat. Also ist dieser Empfänger auch eine Brille. Und welche Farbe hat meine Aura? Knallrot oder limonengelb? Ich verrate dir nichts. Auch gut. Woher hast du denn dein neues Schmuckstück? Sage ich dir nicht. In Berlin hattest du nur das Perlenhalsband, du mußt es also hier bekommen haben. Laß mich raten, du hast dafür viel Geld bezahlt, nicht wahr? Das ist nicht wichtig. Klar. Man hat dich übers Ohr gehauen, Clarissa, du bist irgendeinem Ossibetrüger auf den Leim gegangen. Aber alle Achtung, die lernen schnell. Bald laufen hier auch Jesuskopien in weißen Kutten herum, das ist nur eine Frage der Zeit. Wieso hast du denn nicht mich gefragt, bevor du diesen verdammten 219

Keramikklumpen gekauft hast? Du mischst dich nicht mehr in mein Leben ein. Mein Gott, das will ich auch gar nicht. Du machst aber eine Menge Dummheiten, und jemand muß dich bemuttern. Clarissa, dir ist doch klar, daß du nicht ganz zurechnungsfähig bist, oder? Ich meine, du bist labil, du bist geistig … etwas gestört, tut mir leid. - Kümmer du dich um deine Sachen. Du bist doch eine Nutte, du fickst mit meiner Freundin, damit sie dir Farben schenkt. - Nicht das schon wieder. Die Kunstfotze gehört dir. Ich habe es dir versprochen. Aber was kann ich denn dafür, wenn sie so verdorben ist. Sie fickt fast mit jedem, der ihr über den Weg läuft. Hör auf! Hör auf, hör auf, hör auf …! Ist ja gut. Ich wollte mich hinlegen. Darf ich? Ich soll weggehen? Nein. Bleib doch. Das ist doch unser beider Zimmer, wir beide kommen schon miteinander zurecht. Wir schaffen das. In Friedenszeiten ist eine Leiche ein Problem, es liegt nahe, Clarissa den Toten zuzurechnen. Sie ist eine Fremde, sie ist wesenhaft fremdartig, wie jene, die in dieses Land hineinströmen, wird ihre Fremdheit nicht vergehen. Ich denke an den Hodscha, der mir weismachen wollte, daß im Falle seines Sohnes der Apfel weit vom Stamm gefallen sei. Ich weiß es besser. Wenn es hart auf hart geht, besinnt sich der ganze Stamm auf die Schwerttänze seiner Alten Welt. Der Geruch der Muttermilch, die im Wind wogenden Friedhofszypressen, die vergorene Stutenmilch in den Holzhumpen. Die Entführung der Jungfrau aus der Lehmhütte ihrer starrsinnigen Eltern. Bluträchende Männerbünde. Die deutschen Fremden werden 220

glauben, sie seien sich schuldig, aus dem Klima der Verunsicherung heraus- und in die Totalität einzubrechen. Die Eindringlinge werden unglücklich bleiben, und ihr Unglück ist unser Verhängnis. Eine Inquisition, daß sie endlich ihren Heimatsitten abschwörten, gibt es nicht, die Toleranz hat die Menschen verblendet. Eine Macht, die Schlechtes will und Schlechtes wirkt, die den Wehrlosen ihre Empfindsamkeiten ausbrennt – sie wird die Rettung sein. Und doch liege ich mit einer geistesgestörten Lesbe im Bett, sie preßt die gespreizten Finger an eine leblos materielle Sonnenscheibe, an der sie sich zu erwärmen hofft. Das Glück einer Perversen und Fremden ist nicht mein Glück, es macht sie unnahbar. Es ist das eingetreten, was OPP TIKK als Ausjätung des Memmen bezeichnet. Schon bevor Daniel von seinen Bitt- und Bettelbesuchen zurückkam, war Pink ohne Rücksprache mit den Adepten von OPP TIKK für eine null und eine nichtige Existenz erklärt worden. Er habe keine Qualitäten zur Häuptlingschaft. Sagte sie, die sich eines exotisierten Militärjargons bedient, je näher der Premierentermin rückt. Sie trieb die Irren im Versammlungssaal zusammen und ließ den ob seines Glücks rotwangigen Daniel lang und breit über seine diplomatischen Vorstöße berichten. Ja, er habe bei beiden vorgesprochen und sich für die Amtsanmaßung eines unterstellten Kaders entschuldigt. Ich muß lachen, er hält sich doch tatsächlich an meine Vorgaben. Sie hätten volles Verständnis gezeigt und ihm empfohlen, den Lump bei beiden Ohren zu packen und in den Staub zu stoßen, der in dieser Gegend recht mineralhaltig sei. Dann hätten sie in der Dorfschenke auf die neue Völkerverständigung angestoßen, dazu habe die Heimatgruppe Zeulenroda zünftig geblasen und georgelt, zum Spanferkelschmaus habe er aber nicht dableiben wollen und sich mit den Worten empfohlen, er müsse nun sofort damit anfangen, den Kitt des sozialen Organs der Schautruppe zu festigen. Die Irren geht die öffentliche Versöhnung der Eheleute wenig an, 221

Shanti meldet sich zu Wort und ergreift Partei für Pink, dessen »wehrsporttechnische Qualitäten« er preist. Man versteht ihn nicht richtig, und man will auch nicht so genau wissen, was er damit meint. OPP TIKK sagt ihm ins Gesicht, von einer peripheren Figur der Schicksalsgemeinschaft lasse sie sich bei Gott nichts sagen. Sie übergibt feierlich das Wort an Daniel, den im Festanzug sitzenden, frischgebackenen Narrenführer, der erklärt, an dem Konzept werde sich nichts ändern, Harmonie, Erholung, Totalgas, das ginge in Ordnung, man müsse die avantgardistischen Impulse durch national-gardistische Eingaben ergänzen. Von seinen ehemals hippiesken Anwandlungen keine Spur, er möchte den Ostdeutschen, die denken, Westdeutschland sei Gringoland, eine Lehre in patriotischer Gesinnung erteilen. Die Idee stählt den Körper, der Krieg als Zuchtherr nimmt eine sinnvolle Siebung vor: diese weitverbreitete Überzeugung wolle er bebildern. Keine Einwände. Die Irren gleichen durch die wochenlangen Übungen geprügelten Hunden, sie sind froh, wenn sie ihre Rollen einigermaßen befriedigend mimen, die Ideen sind ihnen egal. Auch Clarissa ist anwesend, es ist das erste Mal, daß sie sich um das Treiben in der Russenkaserne schert. Ihr Mikrofon für die freundlichen Entitäten aus dem Jenseits erweckt Nanes Interesse, sie unterhalten sich tuschelnd, aber vernehmlich über Kraftfelder, die der normalen Wahrnehmung nicht zugänglich sind. Daniels Ausführungen rufen bei mir eine lähmende Langeweile hervor, ich habe es geahnt und mich in Türnähe hingesetzt. Ich mache, daß ich wegkomme, es ist die rechte Zeit, um Pink aufzusuchen. Die Memme steht mitten in ihrem Zimmer in einem schwarzseidenen Morgenrock und pafft an einem Zigarrenstumpen, er sieht aus wie ein fideler Kiezpate, der sein spätes Frühstück eingenommen hat und nun hofhält. Tja, Pink, was soll ich sagen, das Blatt hat sich also gegen dich 222

gewendet. Es tut mir nicht leid um dich. Mein Freund, du bist wenigstens der erste, der sich blicken läßt. Ich habe es von Anfang an gewußt, daß ich nicht mehr bin als ein Statthalter. Man soll nicht in einen Ehekonflikt eingreifen. Du scheinst nicht gerade erschüttert zu sein. Wieso denn? Ich tauge höchstens als Berater. Wenn ich das schon höre: Projektleiter! Am Arsch. Na, trampelt Daniel auf meiner Leiche herum? Ich würde es ja verstehen. Er hält eine patriotische Ansprache, er ist sichtlich bewegt von seinen Worten. Wenigstens wird er von dir bestimmt keine Quittungen verlangen. Weiß ich nicht. Daran hab’ ich gar nicht gedacht. Natürlich nicht, du bist ja so selbstlos. Kann ich dir Wein anbieten? … na ja, klar. Er geht ein paar Schritte zu einem Metallschrank, der feine kurze Morgenrock rutscht hoch und entblößt seinen nackten Hintern zur Hälfte, ich muß wie hypnotisiert hinsehen, und auch wenn ich es nicht wahrhaben will, erregen mich seine Hinterbacken, die er frisch rasiert haben muß. Er stützt sich auf dem Schrank ab und verharrt in dieser Stellung, ich kann nicht anders, als mich hinter ihn zu stellen und meine Hose aufzuknöpfen. Wenn er auch nur den geringsten Versuch unternimmt, mich zu berühren oder zu streicheln, werde ich so lange auf ihn einschlagen, bis sein Hinterkopf eine blutige Breimasse ist. Er verhält sich still. Ich lasse einen großen Tropfen Spucke auf meine Eichel fallen und suche und finde das Loch, in das ich fast zärtlich eindringe, erst verschwindet der Kopf, dann langsam mein ganzes Glied im heißen Schlauch. Er verhält sich still, überläßt einen Teil seines Körpers seinem 223

neuen Herrn, von dem er weiß, daß er ihm weh tun wird, wenn er ihn anschwulen wollte. Es sind meine Regeln, es ist meine Gier, seine Wollust geht mich nichts an, und trotzdem umgreife ich mit einer Hand seinen erigierten Schwanz, und mit jedem Stoß fährt sein Glied durch meine Handzwinge. Aber er hält den Mund, das Schwein, er beißt sich auf die Zunge, daß ihm auch kein Laut entfahre, weil er weiß, daß ich ihn zu Tode prügelte, ohne Gnade. Ich ficke ihn wie ein Vergewaltiger, und er stößt mit dem Kopf immer wieder an die Wand, doch es macht ihm nichts aus, und mir ist es egal. Er kommt vor mir in meine Hand, ich lasse ihn ausfließen und verstreiche seinen Samen an seinen Schenkeln, an seinem weichen Bauch, und stoße die Fingerspitze in seinen Bauchnabel, ich will in ihn eindringen, wo immer es geht, nur nicht in seinen Mund. Sein Gesicht mit den schauenden Augen ist tabu. Als mein Saft herausschießt, bleibe ich an seiner tiefsten Stelle, er soll das Mannwasser behalten, damit es später aus ihm herausschmiert in seine Unterhose. Ich habe keinen ersten Gedanken der Flucht, ich rutsche heraus und trockne mein feuchtglänzendes Glied an seinen Hinterbacken, die mir sogar jetzt, im Zustand der Erschlaffung, verführerisch erscheinen, ich knöpfe meine Hose zu, ich gehe in die Hocke und binde den losen Schnürsenkel zum Knoten. Als Pink sich umdreht, sucht er in meinem Gesicht nach einem Zeichen der Scham oder der Wut, doch ich lächele ihn an und zwinkere ihm zu. Es hat mir gefallen, Pink, wirklich. Ich hatte noch nie ein schwules Luder gefickt, du hast mich sozusagen entjungfert. Was wirst du jetzt machen? Ich meine, wenn du mich erpressen willst, dann … Wer denkt denn an so etwas! Ich werde jedenfalls bestimmt noch einmal vorbeikommen und dich gebrauchen. Andersrum 224

kommt übrigens nicht in Frage. Und wenn ich nicht will? Sei nicht kokett, Pink. Du hast es genossen. Mir ist es auch egal, ob du es willst oder nicht. Du hast einen Heterosexuellen verführt, damit kannst du in den Berliner Klappenklos punkten. Wenn du mich ficken willst, mußt du das nächste Mal darum bitten. - Du bist nicht in der Lage, Forderungen zu stellen. Und jetzt schenk mir Wein ein. Er tut wie geheißen, im Grunde ist auch er wie die Ostdeutschen nur als Nutztier zu gebrauchen. Wenn er sich fügt, durchströmt ihn ein Gefühl der Pflichterfüllung, er ist ein liederlicher Sklave, der in seiner Zweighütte siecht und von großen Willensakten träumt. Ich nehme das Weinglas entgegen, unsere Hände berühren sich flüchtig, ich muß wieder lächeln, weil Pink zusammenzuckt aus Angst, ich könnte diese zufällige Berührung falsch und zu seinen Ungunsten interpretieren. Was weißt du über Tachyonen? Wie kommst du jetzt darauf? Frag nicht. Weißt du was darüber? Wenn man die Welt der derzeit bekannten physikalischen Gesetze an der Vakuum-Lichtgeschwindigkeit spiegelt, erhält man einen Bereich, in dem sich Teilchen und elektromagnetische Strahlen mit Geschwindigkeiten zwischen 300000 bis 600000 Kilometer pro Sekunde bewegen. Die Teilchen laufen unter dem ominösen Namen Tachyonen. Ich stell’ mich also vor den Spiegel, und mein Spiegelbild spricht zu mir und bewegt sich, nur etwas schneller. Ist es das? Ähh, nicht ganz. Diese Teilchen jenseits der Nullinie und unseres Ereignishorizontes sind reine Fiktion. Sie haben keinen Kontakt mit unserer Realität. 225

Ist auch gut so. - Willst du dir einen sogenannten Tachyonenempfänger kaufen? - Was? Aha, ertappt! Laß es bleiben. Irgendwelche Eso-Spinner vertreiben das Zeug. Ist nutzlos, taugt zum Spielzeug. Ich habe mir sagen lassen, daß sich einige Idioten dafür um einige tausend Mark rupfen lassen. Ich denke nicht im Traum daran. - Fein. War’s das? Wieso, Pink, gibst du dir soviel Mühe, beschäftigt zu sein und den Besuch abwimmeln zu müssen? Du hast doch jetzt jede Menge Zeit. OPP TIKK will mich sehen. - Der nächste Orgasmus wartet … Blödsinn. Ich bin als Vize immer noch eine operative Zelle. Hah! Operativ ist gut, das bist du wirklich. Du hast die Wechselfälle und die Wirren erstaunlich unbeschadet überstanden. Ich halte mich zurück. Genau das meine ich ja. Du hetzt die Leute aufeinander los, schaust dir die Hahnenkämpfe aus sicherer Entfernung an und stellst dich mit dem jeweiligen Gewinner gut. Pink, wieso sollten wir uns jetzt streiten, wo du doch von mir frisch gefickt worden bist. Wie wäre es, wenn ich Lust hätte, dich zu ficken? Nicht so gut. Ich habe es dir ja schon gesagt, du bist das passive Luder, und ich bin der aktive Rammler. Eine klare Rollenverteilung. Wenn wir uns daran halten, haben wir beide Spaß daran. Du weißt nicht, wie es ist, von einem Mann gefickt zu werden. 226

Ach, Pink, du solltest deine Quellen besser kaschieren. Du mußt nicht immer OPP TIKK nachplappern. Sag es mir jetzt auf den Kopf zu: Willst du meinen Schwanz, oder nicht? Ich hasse Spielchen, ich kann mir auch einen anderen Arsch besorgen … Sollen wir eine Zeit verabreden? Wie du willst. Ich kann … am besten abends … nun ja, morgens ist auch gut. Wir sollten vielleicht einen schweren Gegenstand hinter die Tür schieben, damit … … wir nicht auf frischer Tat erwischt werden. Gute Idee. Nur eine Sache: es ist für uns beide von Vorteil, wenn wir unser Pläsierchen geheimhalten. Ich glaube, das stimmt, ja. Von mir erfährt es keiner. Von mir auch nicht, Pink. Bis morgen früh dann. Und ich bitte dich, keine Duftseife, kein Parfüm und keine Strapse. Sei einfach der Mann, der du bist … Im Seitengebäude kümmere ich mich um den probürgerlichen Pornowall, wie ihn Daniel in einem seiner heiteren Momente bezeichnet hat. Die durch Sperrholz verstärkten Hartfaserplatten sind ein Meter achtzig hoch und an Industrieroller-Leisten montiert. Vier Platten nebeneinander stellen die Kulisse für einen der beiden ersten Aufzüge dar, die Entscheidung steht noch aus. Der letzte Akt, an sich schon recht heikel, soll keine weitere Angriffsfläche für Kritik bieten. Ich reiße die Begattungsszenen grob aus den Magazinen und klebe die Schnipsel auf das Holz, ohne mich um eine logische Abfolge oder eine saubere Reihung zu kümmern. Das Auge nimmt sowieso nur das grobkörnige Material wahr. Nach der Premiere wird man den Pornowall zu Brennholz zerhacken oder 227

aber mit Stiefeln eintreten. Die Fleißarbeit ödet mich bald an, ich zwinge mich dazu, wenigstens eine Stunde durchzuhalten. Von der Kälte sind meine Finger klamm, und nach einem vergeblichen Versuch, eine feuchte Negerinnenvagina in Großaufnahme aus der Mitte einer wilden Massenorgienszene zu reißen, lasse ich es für heute sein. Mir fällt ein, daß es zu Pinks letzten Beschlüssen gehörte, in die Aufführung das Element des Schattenspiels einzuführen. Hinter einer von einem halben Dutzend Lichtquellen angestrahlten Leinwand sollen ausgesuchte nackte Adepten miteinander ringen. Die anfangs widerspenstige Vegetarierin widersprach nicht, auch sie ist längst Teil des befriedeten Menschenmülls. Alles wird gut, ein jeder befolgt nach einer Reihe von Scheingefechten die Regeln, alles geht weiter. Ich habe die Widerspenstige aus den Augen verloren, vielleicht hat sie ihre körnergefüllten Weckgläser eingepackt und ist in die Drecksstadt Berlin zurückgefahren. Wer würde sie schon begütigen oder sogar zurückhalten wollen? In der Westwehrenklave ist ein jeder allein und muß selber darüber entscheiden, wen er ausbeuten oder von wem er sich mißbrauchen lassen will. OPP TIKK stößt sich allein an der Verunglimpfung des Andenkens ihrer verreckten Hündin, alles weitere überläßt sie dem Lauf der Tage, dem Zug der Wolken. Sogar der Hodscha, den ich wirklich vermisse, könnte in diesem Pfuhl der Wollüste sehr schnell die Heilige Schrift aus dem Sinn verlieren. Es ist gut, daß er von meinen sodomitischen Neigungen nichts erfährt, er verweigerte mir den Handschlag und würde mich den Steinmarder Beelzebubs nennen. Draußen hat es zu dunkeln begonnen, und ein Hund aus dem Dorf schlägt an, sein Gebell hört sich an wie das Gebrüll eines Kleinkindes. Der Wind ist daran schuld, er trägt heran und verzerrt unterwegs, am Ende weiß man nicht, woher man gerufen wird und wohin der eigene Schrei schallt. Ich gehe über den Hof, bleibe an der Einlaßpforte stehen, ich schaue hinaus, so lange, bis ich glaube, vom Starren dumm zu werden. Zeit für das 228

Abendmahl.

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HERRLICHES FLEISCH Es steckt keine große Idee dahinter, keine Verwicklung, die die eigene Existenz aufwühlte, kein Dunkel und kein Wahn. Dem heutigen Fleißmaler will allein die Abbildung des Gebrauchsgegenstandes gefallen: er malt Tassen und Gläser, und ein weggeworfenes Feuerzeug ist ihm als Ikone des Konsums gut genug. Er ist ein Kind der Kleinheit, die er vermehrfacht und ins entdeckende Licht taucht. Er stapelt alte Kaffeedosen übereinander, und die Angst plagt ihn, das Blech könnte glänzen wie edles Metall, es könnte hinausweisen auf eine überstehende Ordnung der Metaphern. Die konkrete Situation, das ist sein Lieblingswort und die Geschichte nichts weiter als eine Verkettung von Daten und verwehenden Zyklen. Den heutigen Künstler interessiert die Materie nicht, das Wissen um die Oberflächenspannung genügt ihm; mit Hilfe der Tricks und Aufstrichtechniken, die jeder Professorbürokrat einer Kunstakademie beibringen kann, gelingt dem Fleißmaler eine halbwegs befriedigende Darstellung seines Motivs. Man muß ihre Kunstwerke hinaustragen auf die Straße, sie aussetzen dem Regen, der Hitze und der Wut der Passanten: die Zerstörung dieser billigen Motive ist heilige Pflicht. Die Physiognomie des Menschenknechts trägt die Handschrift des großen Meisters: die Abbildung des menschlichen Antlitzes treibt, in Mißachtung des Bilderverbots, zur Vollendung an. Von den Körpern muß man erzählen, von eingedrückten oder noch heilen, von kasteiten und begehrten, von denaturalisierten und geschlechtsverratenen Körpern. Pinks Rücken, vom Nacken bis zu den behornten Fersenhäuten, geht mir nicht aus dem Sinn, ich entdecke eine Spur von begehrender Kraft in meinen Gefühlen. Es ist die Leichtfertigkeit, mit der er sich als zu fickendes Opfer darbot, er nahm sich keine Freiheiten heraus und überließ es 230

mir, ihn so zu behandeln, wie ich es für richtig hielt. Ich habe ihn verhältnismäßig behutsam benutzt, es machte ihm nichts aus, zu meinem Gegenstand zu werden. Es steht außer Frage, daß er ein Lump ist, seine Bisexualität ist nur ein Mittel, in Bereiche jenseits seines trockenen Wissens vorzustoßen, ein Luder zu werden, das seinen Körper ins Spiel bringt. Er wird herangezogen zum Gebrauch, den Benutzer treibt nicht die Lust, aber der Wille zur schnellen Entleerung an. Ohne Kopf und Vorderseite würde er genauso von Nutzen sein. Ich schlage das Skizzenheft auf, und finde auf der letzten Seite eine Notiz von Clarissa: »Wenn es meine Hand ist, die du gezeichnet hast, wenn es mein Finger ist, an dem dieser Ring steckt, bist du ein Monstrum! Du hättest mich fragen müssen, ob du ein Stück von mir zeichnen darfst, und ich hätte es dir bestimmt nicht erlaubt. Weil ich mir nicht sicher bin, daß es meine Hand ist, habe ich das Blatt nicht zerrissen.« Clarissa, die ehrbare Seele! Vielleicht sollte ich ihr die Geschichte von meinem Schwager erzählen, von dem Ring, den er einem Toten abgenommen zu haben vorgibt. Es ist wirklich sehr einfach, die Parasiten zu erschrecken, wie könnten sie sich schon gegen den Peiniger zur Wehr setzen? Pinks Rückenansicht zeichne ich in kräftigen strahlenden Farben als Rumpf auf einem Pfahl: eine Strohpuppe, ein noch warmer Restkörper vor einem leeren Bücherregal. Eine vor Symbolen strotzende Skizze, eine Buntstiftübung, die nur den Zweck erfüllt, mich vor einer Dummheit zu bewahren. Ich suche die Beschäftigung, um nicht aufzuspringen und Pink darum zu bitten, daß er sich mir für die kommenden Tage überlassen soll. Wenn mein Begehren nachließe, würde ich neue Fickspiele erfinden, und meine einzige Bedingung wäre, daß er sich nicht umdreht, daß er weiterhin als Gegenstand zur Verfügung steht. Er ist attraktiv, weil er meinen Ehrgeiz anspricht, in Liebe und Leben fleißig zu sein, und nicht mehr. Mein Kopf bleibt verschlossen, und die Idee von der 231

Herrlichwerdung des Fleisches, der Materie, bedarf keiner Anteilnahme. Ich werde dieses Skizzenblatt Pink schenken, und ich weiß, daß er jedes unnütze Papier mit Künstlersignatur annimmt, in einem Bildhalter fixiert und aufhängt. Er setzt sich gerne fremden Einflüssen aus. Ein unschuldiger Knabenkuß würde Pink von einer Reinheit überzeugen, die ihn von all den Untaten losspräche, wie wir sie provozieren. Er glaubt, ich müßte auf mein Gewissen nehmen, daß er zum Luder geworden ist, dabei habe ich nichts weiter getan, als mich an seinen milchweißen Pobacken zu befriedigen. Die Unbefangenen gehen wie die Ratten in die Falle. Ich komme zurecht, den Menschen, die Bedürfnisse in mir wecken, die ich nicht hätte, wenn es diese Lumpen nicht gäbe – ihnen bin ich keinen Dank schuldig. Die Kulissen stehen, der Pornowall ist fertig beklebt, und OPP TIKK, die mit den Stümpern ringende, überträgt mir die Aufgabe, Premierenankündigungsplakate auf die Außenmauern der Kaserne zu kleistern. Ich rühre gestampfte Glühbirnen in den Kleister, damit die jungen Ostproleten sich die Finger beim Abreißen wundschneiden. Der Klebstoff tropft vom Quast auf den Besenstiel, kräftige Windstöße lassen die dünnen Plakate fahrig aufflattern, wenn ich die oberen Ecken auf der kleistertriefenden Wand angesetzt habe. Ich bin ungestört, der Bürgermeister hat die Jugendmeute seiner Gemeinde wohl davon überzeugen können, daß sie das Westkollektiv wenigstens bis zur Premiere in Ruhe lassen sollte. Daniel gilt als mehrfacher Wundertäter, Nane, ausgerechnet die sexfaschistisch veranlagte Nane, macht ihm schöne Augen. Shanti ist diese neue Entwicklung natürlich nicht verborgen geblieben: er übt sich also weiterhin in der plumpen Aufsicht über seine Nutte. Wir alle hüten uns jetzt, einen Tag vor der Premiere, die Atmosphäre zu trüben, unter der falschen Bettdecke erwischt zu werden. Plötzlich steht Clarissa an meiner Seite, ich habe sie nicht kommen sehen, sie sieht aus, als hätte sie eine vierzigtägige Fastenkur hinter sich. Die 232

Mikrofonscheibe schlackert zwischen ihren Brüsten. Der Blick eines naiven Friedenspreisers. In der Drecksstadt Berlin hätten die Hyänen der endlos langen Straßen, die minderjährigen Banditen der Hinterhöfe, ihre engen Kreise um sie gezogen, denn wie es auch in den Heiligen Schriften heißt: Die Gottlosen sind verkehrt vom Mutterleibe an, Lügenredner irren vom Mutterschoße aus. Mutterleib und Verbrecher finden zueinander, ganz sicher. Morgen ist es soweit. Wie lautet denn dein Text, Clarissa? ›Ich will in diese Sache nicht hineingezogen werden. Laßt mich in Frieden! Ein Alptraum reicht mir!‹ Das ist ja geradezu lyrisch. Pink ist ein Dichter, ich wußte es. Mußtest du vor Daniel treten und deinen Text aufsagen? Ich bin später dran. Ich habe ja keine tragende Rolle. Ich auch nicht. Ich soll von der hohen Plattform eines Baugerüsts auf die vorbeigehenden Gäste wild schimpfen. Daniel hat gesagt, wir müßten dafür nicht proben, er vertraut auf meine schmutzige Phantasie. Haben sich schon irgendwelche Toten bei dir gemeldet? Darauf antworte ich dir bestimmt nicht. Nein, ich meine es ernst. Es interessiert mich ehrlich, ob das … Mikrofon etwas taugt. Ich hätte es mir sonst nicht geholt. Verstehe. Also, sag schon, stehst du in Verbindung mit dem Jenseits? Das geht nicht so schnell, ich muß einfach geduldig sein. Hoffentlich bist du am Ende nicht enttäuscht, wenn die Leitung tot bleibt. Wieso machst du dich über mich lustig? Ich sorge mich nur um dich, Clarissa, versteh das doch 233

endlich. - Ja. Bist du wegen morgen aufgeregt? Nein. Ich habe keine große Rolle. Das hast du mir schon gesagt. Egal. In ein paar Tagen sind wir hier wieder weg. Es reicht mir auch, ich kann all diese Irren nicht mehr sehen. Ich weiß nicht, ob ich mitkommen will. Was? Willst du vielleicht in diesem stinkenden Ostdorf heimisch werden? Die Bauern werden dich nicht lieben, Clarissa. Auch wenn du dich vollständig anpassen würdest, hättest du keine Chance. Sie jagen dich aus dem Dorf. Ich will nicht im Dorf bleiben. Aha. Du ziehst in eine andere Stadt. Das ist gar nicht so dumm. Hab’ ich mir auch überlegt. Der Dreck schüttet uns zu, wir können dagegen nicht angehen. Red’ nicht so einen Mist. Ich möchte dich nicht mehr sehen, ich möchte Birgit nicht sehen, ich möchte weg von euch … Kann sein, daß du uns nicht magst, aber deswegen brauchst du doch nicht gleich die Stadt zu verlassen. Ich glaube, du weißt einfach nicht, was du willst. Du bist wie Streu im Wind, Clarissa. Mein Gott, jetzt werde ich aber lyrisch. Laß dir einfach Zeit mit deiner Entscheidung. In der Zwischenzeit kannst du ja deinen Meldeempfänger ans Ohr halten, bis sich ein guter Geist deiner erbarmt und zu dir spricht. Du bist doch so armselig. Nein, ich lasse mir nur nicht jede Spinnerei gefallen. Was soll ich davon halten? Das Dingsbums um deinen Hals ist doch nur Schrott. Clarissa, die Leitung ist tot, und du wartest wie eine Bekloppte auf das Klingelzeichen. Überleg doch mal! 234

Es stimmt nicht, daß sich noch keine Seele geregt hat. Ich habe eine Nachricht erhalten. Ich muß einen Erdstrahlen-Entstörer bauen. Es ist nicht zu fassen. Und wofür genau soll dieser … Entstörer gut sein? Er neutralisiert den Erdmagnetismus. Und du glaubst an diesen Unsinn? Du glaubst nicht daran, du bist ungläubig. Es geht ja nicht um mich. Ich erhalte keine Bauhinweise für einen Neutralisator, weil ich nicht wahnsinnig bin. Ich hätte dich nicht hierher mitnehmen sollen, die Irren haben dich angesteckt. Ich lasse mich nicht anstecken. Das denkst du. Du bist das geborene Sündenzicklein. Laß mich einfach in Ruhe. Du tust, was du tust, und ich tue, was ich tun muß. Herrgott noch mal, du bist auf dem besten Wege durchzudrehen. Was würde dein Psychobetreuer denken, wenn er von deinen neuen Hirngespinsten hören würde? Du würdest Pillen und Spritzen kriegen, und an dein Bett gefesselt werden, damit du dir nichts antust. Sieh dich doch mal an: es vergeht kein Tag, an dem du dich nicht schneidest. Morgen ist die Aufführung, da mußt du einigermaßen klar im Kopf sein. Herrgott, weg ist sie. Durch den Empfänger lebt sie im Stand der Gnade, sie kann sich mit höheren Wesenheiten besprechen, und doch gleicht sie selbst immer mehr den Geistern, die an einer armseligen Existenz Gefallen gefunden haben. »Der Gott, in dessen Hand ich mich befinde, so gehen die Überlieferungen des Gottesfreundes, wird am Tage, da in die Posaunen der Atem der Vernichtungsengel fährt, schwangere Frauen dazu bringen, ihre Last fallen zu lassen, die Last des Mutterleibes, denn der Auslöschungsschall gibt den 235

Ungläubigen den Großen Schrecken ein. Und an diesem Tage, kurz vor den ewigen Stunden, sind neunundneunzig von hundert wankend nicht im Götzendienst, und es wird ihnen nicht helfen der Starrsinn. Er wandelt im Gewände seines Zorns, und Er ward im Anfang wie am Ende, vom Anfang bis zum Ende, unter euch, die ihr den Krug Wasser an den Mund führtet, ohne zu danken. Scheitans Mehl verdirbt zu Kleie. Dieses ist Sein Wort. Und die Gesandten sprachen Wahrheit. Der Gottesfreund sagte euch: ›Was rauft ihr eure Haare, was zerschlagt ihr eure Tongefäße, jetzt da mein Herr keine Opfergaben mehr annimmt? Ihr kommt nun in Scharen aus euren Ruhestätten, und die Äcker sind voll der Toten, die nicht zum Dung taugten der Erde und die der brechende Himmel nicht annimmt. Denn ein jeder hat ein Hemd aus Menschenfleisch, ein jeder von euch verdient es vor seinem Angesicht, in Ketten und Eisen gelegt zu werden, ein jeder von euch im Volk der hartherzigen Rudeltiere müßte weinen, wenn die Pforten Seiner Barmherzigkeit verschlossen sind. Der Hure Beichte ward nie angenommen.‹ Der Gott, in dessen Hand ich mich befinde, sagt euch über das Feuer, daß seine Flammen ewig züngeln und seine Scheite niemals schwelen, daß der Rauch über der Sünderverbrennungsstelle niemals wird von einer gnädigen Brise verweht werden, daß Gott, der Herr, alle Kräfte davon abhält, dies hungrige Feuer zu löschen. Denn dieses ist Sein Wort, möge er gepriesen sein: Es wird Funken sprühen wie trockenes Holz. Und die Stolzen und Mächtigen wird man in die Sündenhorte treiben und mit Eisenknüppeln schlagen, und die Frauen wird man an ihren Stirnlocken hineinführen, jene, die ihm Blößen zeigten und ihr Schamtuch ablegten, dem daherkommenden Zöllner und Wucherhändler beizuwohnen. Wartet auf die Strafe, die sicher kommt über euch, und nicht sollt ihr vor Seinem Thron vorbringen die Lügen: ›Allmächtiger, wir kannten dein Wort nur ungenügend, wir waren des Lesens und Schreibens nicht kundig, unsere Augen, vertrübt in Sorge 236

um unsere Nachkommen, sahen und erkannten nicht Deine Zeichen.‹ Der Gott, in dessen Hand ich mich befinde, macht Seine Versprechen wahr, und es gibt keine Hand, die Seine könnte beugen, und keine Macht über Ihm, die seinen Ratschluß könnte brechen. Ihr sagtet in jenen Tagen: ›Was könnte mir hier zustoßen, als daß ich über trockenen Zweig stolperte? Was könnte mir dort an Vergeltung zufallen, als daß meinem kalten Leichnam die Luft zum Zerfallen versagt bliebe? So sind die Zeiten!‹ Gott aber spricht an diesem Tag des Großen Erdstoßes: Wo ist eure Zuversicht, daß alles Leben zu Staub zerfällt am Ende? Das Ende gebe Ich euch, wie Ich euch den Anfang gab aus dem tiefsten Herzen meiner Gnade! Ich verteilte gerecht, wie es nie die Art eurer Götzen war, die ihr aus eurer Hände Spendung knetet, und in dies Menschenwerk stopft ihr tote Augen, auf daß die Törichten davor knien und den Boden küssen. Wo sind sie heute geblieben, eure Fürsprecher? Schaut her, wie Meine Engelsdiener eurer Hände Spendung zu den Feuerscheiten gesellen. Und der Gottesfreund sagte: Der Gott, in dessen Hand ich mich befinde, sprach zu euch zu euren Lebzeiten, und ihr habt nicht nachgelassen im Dienst an Tonscherben, die ihr auftürmtet zum Teufelskörper. Eure Knie scheuertet ihr wund im falschen Glauben. In eure Ohren hat der Versucher Zinn eingegossen, daß ihr nicht hörtet. In eure Augen hat er den Sand der Blendung gestreut, daß ihr nicht sehet. In eure Münder hat der Verfluchte den zähen Harz gestrichen, daß ihr nicht preistet. In fremden Händeln habt ihr euch verbraucht, und weniger als das Geringste hat es euch eingebracht. Eure Hände versteckt ihr an diesem Tage Meines Zorns in den Falten eurer Kutten und schreit: ›Diese unsere Gliedmaßen sind abgestorben, wir erkennen sie nicht, es ist anderer Frevler Fleisch.‹ Er aber erkennt die Tücke und scheidet sie von Hingabe. In Seinen heiligen Worten sähet ihr keine Beschreibung eurer Teufelsdienerei, als Er sprach: Nicht den Hunden sollt ihr überlassen das Heiligtum! Ihr aber dachtet, es 237

sei der Hundsköpfige, der wahllos die Gaben verteilt, und dem Gottesfreund schenktet ihr keinen Glauben. Die Abwendung vom Greuel fiel euch schwer, wie es meinem Herrn unmöglich ist, an diesem Tage sich von euch nicht abzuwenden. Es ist Endgericht, und die Mäuler der Hölle weit aufgerissen! Die Kröten nagen an den Brüsten der Metze, und ihre Buße ward jetzt nicht angenommen in seinem Angesicht. Die Niederfahrt in den Höllenhort und in den Schoß des Widersachers, eures Oberhaupts, wird schrecklich sein. Verflucht sei der Niedrige, dessen Fratze tausend Male weist! Verflucht sei der Niedrige, der umherging wie ein hungriger Hund und den Fraß schnappte! Verflucht sei der Niedrige, den mein Herr fesselt, seine böse Gewalt zu löschen wie einen geringen Funken! Der Gott, in dessen Hand ich mich befinde, spricht zu euch, Seinen Knechten: Was seid ihr rosenkranzfromm, wenn ihr den Elenden an eurer Flanke vorbeiziehen laßt? Habt ihr seine Brotbitte nicht vernommen? Oder tatet ihr, als ginge euch eurer geringsten Brüder Leid nichts an? Euer Königsstolz aber gleicht dem närrischen Traum des Bettlers, der glaubt, er gurte sich mit Säckeln, prallgefüllt mit Goldmünzen, und da er vom Schlaf auffährt, den Besitz zurückläßt im Traum! Also wird euch das Feuer heute durch eure Nabel einfahren, denn der Herr des Thrones hat es befohlen. Das Flammenverlies ist eng, und dies ist der Tag des Endgerichts! Der Gottesfreund spricht: Möge mein Herr gepriesen sein, denn Er hat den Bösen Anstifter geknebelt, und seine Feuerkrone schmilzt dahin …« Morgen wird es geschehen, ich müßte mich verstecken vor der Heimsuchung, denn es kann nicht sein, daß der Irren Verderbnis in einer einzigen Aufführung einfach so verpufft. Viel zu lange sind wir an diesem Ort geblieben, und auch wenn wir so taten, als lebten wir einem Kunstwerk zu, das wir nur fügen müssen, wir lebten und leben falsch. Wohin es mich auch verschlägt, sie 238

sind schon vor mir dagewesen: das Gezücht der Hundsköpfe, die Parasiten. Morgen setzt man mich in ein Baugerüst, und ich werde schimpfen können auf die Besucher, aber sie sind es nicht, die ich verfluche. Morgen wird es geschehen, ich glaube daran. Der Mummenschanz beginnt mit einem kleinen Feuerwerk auf dem Kasernenhof, die Ostdeutschen, vom jahrzehntelangen bolschewistischen Drill geprägt, drängen sich zu einer Halbmondformation zusammen. Einige erwecken den Anschein, als harrten sie eines barschen Appells, um an einer Bonzenloge vorbeizudefilieren. Kein Wimpel- oder Wurstverkäufer weit und breit. Also starrt das hergelockte Ostpack auf die kostümierte Westmeute. In zerrissener weißer Gewandung humpeln die Adepten im Kreis, sie ergehen sich in irrsinnigen Monologen, sie ziehen einander an Stoffzipfeln und Haaren, ein logischer Ablauf ist nicht ersichtlich. Nane steht starr in einigem Abstand und orchestriert den Haufen durch vogelähnliche Lockrufe. Die Männer betrachten ihren knapp beschürzten Hintern und grinsen. Sie sind also nicht umsonst hergekommen. Das Löschkorps der Freiwilligen Feuerwehr besteht fast ausschließlich aus den Jugendlichen, die uns lynchen wollten. Doch jetzt sind sie einfach nur nett, sie wachen über die Ordnung, die einzuhalten nicht einem einzigen Besucher schwerfällt. Sie haben ihren Frieden mit uns gemacht, vielleicht denken sie auch nur, daß sie nach unserem Abzug die Russenkaserne als Neuarischen Stützpunkt in Anspruch nehmen werden. Daniel hat dem Feuerwehrkommandanten die Hand gegeben, die dieser einfach ignorierte. Der Handschlag eines Zivilisten ist nichts wert, und es ist wichtig, daß seine Truppmänner ihn auch in Zukunft für einen ganzen Kerl halten. Der Bürgermeister hat sich in letzter Minute entschieden, wegen eines hartnäckigen Schnupfens verhindert zu sein. Das Dorfvolk darf teilnehmen und belustigt sein, die Aufführung dient ja zu dessen Belustigung. OPP TIKK streicht herum wie eine 239

Vagabundin, sie hat am Frühstückstisch erklärt, sie stünde für den Rest des Tages nicht zur Verfügung, sie wolle herumgehen und goutieren, sie habe in den letzten Wochen sogar fast ihre Kraftreserven aufgebraucht, und nun wolle sie a part of the audience sein. Please. Man klatschte ihr Beifall, dieser Hure aus der Drecksstadt. Die Skepsis steht ihr ins Gesicht geschrieben, und als sich unsere Blicke begegnen, winkt sie mich herbei. Du machst ein Pudelgesicht, mein Lieber. Bist du denn so traurig, daß wir unser Camp verlassen? Ach nein, ich glaube, ich freue mich darüber. Wie abgefeimt! Wie kannst du nur so herzlos sein … OPP TIKK, du hast doch bestimmt das nächste Projekt am Laufen. Weißt du, ich werde mir mein Honorar schnappen, Daniel zum Teufel jagen und an die griechische Küste fliegen. Wie ich hörte, gibt es da sehr süße Jungs, die dich für ein Taschengeld in den siebten Himmel ficken. Wieso nicht gleich Afrika, dort gibt es größere Schwänze? Mal sehen. Lust auf eine letzte Vorstellung? Wir können uns ein Zimmer aussuchen und auch sicher sein, daß wir nicht gestört werden. Ich habe mich auf eine lange heftige Kopulation vorbereitet, doch OPP TIKK zieht es vor, sich von mir lecken zu lassen. Es gibt mir Trost, mich nicht wie üblich beeilen zu müssen. Sie revanchiert sich mit einem speichelvollen Mund, wie ihn nur reife Frauen haben können. Ich spritze in ihr Gesicht ab, es ist der Orgasmus eines gesunden Mannes. Wie sind wir doch alle von unserer natürlichen Wollust abgekommen, wie töricht und gottlos ist doch nur die Fleischbumserei unserer Genitalien! Wir löffeln die Erbsensuppe, wir stecken die Schnauzen in die gestreckte Volksgrütze. Ich könnte es OPP TIKK ins Ohr oder in ihre 240

abgetropfte Vagina hineinsagen, was machte es schon für einen Unterschied. Ich knöpfe mich zu, ein nächster Termin wird sich ganz sicher einstellen. Bestimmt. Sie laufen alle durcheinander, fallen übereinander her, stellen in lebenden Bildern Szenen von Eintracht und Entzweiung nach, die Singles finden zu ihren Nächsten, und die Nächsten entdecken der Liebe Spur in ihren Herzen: grotesk, wie sie sich an den Brustkorb fassen und die Arme entgegenstrecken, wie sich diese verdammten Irren zu fruchtbaren Schößen verwandeln, in die die Harmonie ihre Sporen streut. Die Ostdeutschen können eine Altarkerze nicht von einem Kunstharzdildo unterscheiden, und also sind sie ob des kunstunterlegten Wirrwarrs verdutzt. Ihre Ideologie besteht aus der politischen wie tatkräftigen Desinfektion fremder Keime – jetzt aber spielt man ihnen Theater vor, und sie müssen sich zusammenreißen, daß ihnen die Hand nicht ausrutscht. Von Harmonie verstehen sie nicht viel, der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, alles Weitere wird von der Nachhut, vom jungen Mob, geregelt. Scheu sind sie, freundlich abwesend sind sie, sie blicken immer wieder zu ihren tüchtigen Truppmännern, die sich beharrlich weigern, das Zeichen zum Gegenschlag zu geben. Diese ganze Aufführung gehört eigentlich wegrandaliert, die Courage der Zivilisten braucht zur finalen Entfachung eines Kommandos, einer brüllenden Führungskraft. Ich würde gerne diese Nutztiere antreiben. Sie haben gegen uns nicht die geringste Chance, das Kapital hat uns gestählt, der dumme Volkswille ist keine gängige Münze. Das werden sie noch schlucken müssen, es ist dafür noch nicht zu spät. Heute verfolgen sie das Schauspiel des Irrenkollektivs, und sehr bald werden auch sie in der Verlegenheit sein, ihre Haut zu Markte zu tragen und dafür die lebenserhaltenden Pfennige zu bekommen. Was wollen sie? Wollen sie etwa zurück zu ihrem Pflugscharensozialismus? Nach der Harmonie 241

die Erholung, es ist soweit, in einer halben Stunde werde ich Schimpfarien herunterschmettern können, mein Herz schäumt über. Daß wir uns unter einer Fahne versammeln, gefällt uns allen, heute werden wir nicht schwach. Und sogar Pink schlüpft aus seiner üblichen Rolle als atonaler Artist, er steht Daniel zur Seite und vermeidet jeden Blickkontakt mit mir, es könnte ihm die Kraft, die ihm seine Brauchbarkeit zuführt, abführen. Er ist mein Luderknabe, ob er es wahrhaben will oder nicht. Das Spiel der Irren hält sich nicht an die Regeln. Der ostdeutsche Kern der Schautruppe wedelt mit Papierwimpeln, sie bekennen sich in diesem Moment zum Staatswappen ihrer untergegangenen postbarbarischen Republik. Keine Freude. Der Ostpulk hat sich längst freigemacht von den einstigen Reflexen, einige Truppmänner wollen schon auf die Volksverräter losstürmen, ihr Kommandant ergreift als erster die Initiative und reißt jedem Schausteller einzeln die Wimpel aus den zuckenden Händen. Endlich ist es für die Fackelträger soweit, in schwarzer Sturmtracht reihen sie sich auf und singen ein altes Wanderlied, es paßt nicht so recht zu ihrer Kostümierung. Das Ende der Erholung ist eingeleitet, die Statisten kommen aus ihren Verstecken, es sind totalharmonisierte Spinner kurz vor der Vergiftung, sie lassen sich fallen und kugeln über den Boden, die Schmerzenslaute ihres Erwachens sind unerträglich. Mir bleibt wenig Zeit. Ich renne zum Hauptgebäude und die Treppen hoch, mein lächerliches Harlekinkostüm habe ich gleich heute morgen gebügelt und auf die Matratze ausgelegt, ich möchte mich eigentlich nicht umkleiden, nicht diese verdammte Theatermaske auflegen. Ich stemme die Tür auf, ich gehe hinein. Sie liegt regungslos auf dem Rücken, ihre Hände sind zu Greifkrallen gespreizt, der Körper wie mit Wucht hinabgeschmettert und zerbrochen. Kein Leben. Auch wenn sie die Augen geöffnet hält, an ihr ist nichts Menschliches mehr. Ein Stück. Eine Puppe. Und nicht weit von ihr das Spielzeug, 242

das sie zusammenbaute, weil es ihr die Geister einflüsterten, weil sie sich auf dieselbe Frequenz eingestellt hatte. Es ist nichts weiter als ein rechteckiger Kasten, der von einem kunstvollen Drahtgeflecht in Form eines Blütenkelchs bekrönt ist. Sie muß es heute beschafft haben, von einem dreckigen Dealer aus dem Dorf, der ihr vielleicht über den Kopf gestreichelt hat und alles Gute gewünscht dieser Einfältigen. Ein Geschäft. Nichts Persönliches. Sie hat den Gegenstand entgegengenommen, sie stand ja kurz vor ihrer Offenbarung. Ihr Geschenk. Ihr Besitz. Ihr Kopf ist doch nur ein kleines Depot für den Wahn gewesen, und jetzt ist er leer, es ist einfach so passiert. Ihr Todesamulett hat sich gelöst, die Kette muß bei einer heftigen Erschütterungswelle gerissen sein. Ich lege mich zu ihr und strecke mich an ihrer Seite, ich reibe mein Gesicht an ihrer kalten Schläfe. Clarissa. Hast du das erwartet, hast du damit gerechnet, daß es dich verbrennt? Schau dich doch an, es hätte gereicht, wenn du mit der Scherbenkante, mit der Messerspitze, mit der Klingenschneide an dir geritzt hättest, nur ein bißchen, nur so tief, daß dein Blut pfropft auf der Mädchenwunde. Es hätte gereicht, du hättest es ausgehalten. Ich küsse sie an den Fingern und an den Stellen, die wie eingedrückt wirken, ich küsse sie dort, wo der Strom in sie hineinfuhr, als sie die Blüte umgriff, im Moment ihrer Offenbarung. Ihr Mund ist ein dünner Strich, die Lippen sind verschwunden. Es ist, als hätte sie sich für ihren Tod die richtige Zeit ausgesucht, ich höre die Buhrufer Lärm schlagen. Ich stehe auf, schließe die Tür und schiebe die Matratze mit dem verdammten Kostüm dahinter. Es kommt mir nicht richtig vor, daß meine Füße in Schuhen stecken, ich reiße an den Schnürsenkeln, bis ich herausschlüpfen kann. Vor dem Neutralisator knie ich nieder und strecke die Arme aus. Clarissa.

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ENDE

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