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Gabriele Cappai (Hrsg.) Forschen unter Bedingungen kultureller Fremdheit
Gabriele Cappai (Hrsg.)
Forschen unter Bedingungen kultureller Fremdheit
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15633-0
Inhalt Vorwort. Gabriele Cappai Einleitung. Die empirische Erforschung des Fremden. Ein interdisziplinarer Ansatz
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Strategien im Forschungsfeld Gerd Spittler Wissenschaft auf Reisen. Dichte Teilnahme und wissenschaftlicher Habitus bei Heinrich Earths Feldforschung in Afrika
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Dida Badi Distanziemng und ethnische Vereinnahmung - Die Erforschung oraler Traditionen in der eigenen Gesellschaft 69 Dieter Neubert, Andreas Neef und Rupert Friederichsen Interaktive Methoden: Erfahrungen mit der Verwendung von „Participatory Rural Appraisal" (PRA) in der Forschung
II.
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Rekonstruktion und Verallgemeinerung Bruno Hildenbrand Fallrekonstruktive Forschung in Bauemfamilien und Familien psychisch Kranker: Die Unhintergehbarkeit von Fremdheit in der Sequenzanalyse und ihre Bewaltigung 129 Ulrich Oevermann Zur Differenz von praktischem und methodischem Verstehen in der ethnologischen Feldforschung - Eine rein textimmanente objektiv hermeneutische Sequenzanalyse von iibersetzten Verbatim-Transkripten von Gruppendiskussionen in einer afrikanischen lokalen Kultur 145
Inhalt
Elisio Macamo Wenn nichts verborgen bleibt - Ein Kommentar zur objektivhermeneutischen Auslegung meiner Gruppendiskussionen. Eine Stellungnahme zum Beitrag von Ulrich Oevermann
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Gabriele Cappai Der empirische Zugang zum kulturell Fremden am Beispiel Zeit. Ein rekonstruktiver Ansatz
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III. Deutungsmuster und kulturelle Vorgabe Shingo Shimada Die „dichte" Lebensgeschichte - Uberlegungen zu den Methoden der empirischen Sozialforschung im interkulturellen Kontext 265 Arnd-Michael Nohl Interkulturelle Kommunikation. Verstandigung zwischen Milieus in dokumentarischer Interpretation
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Rainer Kokemohr Kulturelle Prafigurationen sozialer Interaktion. Methodologische Fragen interkultureller Kooperation, diskutiert an einem Beispiel aus Kamerun
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Till Forster Mediale Fremde. Afrikanisch sehen - europdisch erkennen?
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Zu den Autoren
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Vorwort
Forschung in firemdkulturellen Kontexten stellt fur den Sozialwissenschaftler eine Herausforderung besonderer Art dar. Dieser muss zwei gefahrliche Klippen vermeiden: die des Festhaltens an einen traditionellen und rigiden Methodenkanon und die der Neigung zur Methodenimprovisation oder gar zur Methodenbeliebigkeit. Das Hauptproblem ist dabei, um bei der Seefahrermetapher zu bleiben und sie gleich ins Paradoxe zu wenden, dass man oft Schiffbruch erleidet, ohne es zu merken. Am Ende der Fahrt ins Fremde liegt das Produkt vieler Anstrengungen auf dem Tisch und, bis vielleicht auf wenige Kritiker, fragt man nicht mehr danach, ob das Forschungsobjekt und die Instrumente der Datensammlung und Dateninterpretation in einem Verhaltnis der Angemessenheit zueinander standen. Der Ethnologe wird zum Gesagten wahrscheinlich anmerken, dass er auf eine verdienstvolle Tradition der Feldforschung zuruckblicken kann, der soziologisch geschulte Forscher andererseits, dass eine ebenso glorreiche Geschichte empirischer Forschung seinen Riicken starkt. Zweifelsohne sind beide im Recht. Wie ware es aber mit der Behauptung, dass vor die Aufgabe von Forschung in fremdkulturellen Kontexten gestellt, beide voneinander lemen konnten, dass also die Sensibilitat fur das „Fremde", als Vorzug des Ethnologen, mit der Theorie- und Methodenkompetenz, als Auszeichnung des Soziologen, eine fruchtbare Synthese eingehen konnen. Eine Kompetenz, die sich, es ist gut daran zu erinnern, der qualitativ verfahrende Soziologe, derjenige also, der dem Ethnologen am nachsten steht, in barter Auseinandersetzung mit Kollegen innerhalb des Faches angeeignet hat. Angesicht der Komplexitat der angesprochenen Probleme, kann sich das vorliegende Buch dem Leser nicht anders als im Gestus der Bescheidenheit prasentieren: Es beabsichtigt anhand von Beispielen sowohl aus der eigenen als auch fremden Forschungspraxis die Wichtigkeit und auch die Unerlasslichkeit interdisziplinarer Zusammenarbeit unter Sozialwissenschaftlem zu veranschaulichen. Diese ist freilich eine Einsicht, von der die Beteiligten an einem SFB, in dessen Rahmen das Buch entstanden ist, nicht erst uberzeugt werden miissen. Wie andere, hat sich auch der Bayreuther SFB-560, „Lokales Handeln in Afrika im Kontext Globaler EinflUsse", als eine einmalige Chance erwiesen, Forscher zusammenzufuhren, die die Organisation des Lehr- und Forschungsbetriebes an Universitaten normalerweise trennt.
Vorwort
In diesem Zusammenhang sei dem friiheren Sprecher des Bayreuthers SFB-560, Prof. Gert Spittler und seinem Nachfolger Prof. Dieter Neubert flir die Unterstlitzung des Buchprojektes gedankt. Prof Neubert und Dr. Christine Scherer sei auch deswegen ein Dank ausgesprochen, weil sie entscheidende Schritte zur Veroffentlichung begleitet haben. Ein besonderer Dank gilt dann Jens Roschlein, der von Anfang an mit Fachkompetenz und bestandigem Einsatz sowohl die Gestaltung der Tagung als auch die daraus hervorgegangene Publikation begleitet hat und auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zur erfolgreichen Realisierung des ganzen Projektes geleistet hat. Gedankt sei schlieBlich Niels Schaefer, der bei der Textgestaltung immer wieder auftretende Probleme meisterhaft zu losen wusste. Bayreuth, im Januar 2008
Gabriele Cappai
Einleitung. Die empirische Erforschung des Fremden. Ein interdisziplinarer Ansatz Gabriele Cappai
Das Vorhaben, den Zusammenhang von empirischer Forschung und kultureller Fremdheit zum Objekt einer wissenschaftlichen Reflexion zu machen, bedarf heute eigentlich keiner Rechtfertigung. In einer Zeit, in der das Bewusstsein der gesellschaftlichen Koprasenz und gegenseitigen Bedingtheit von Eigenem und Fremden wachst und mit ihm das Bedlirfnis, diese Gleichzeitigkeit und Relation in seinen vielfaltigen Facetten und Artikulationen methodisch zu beleuchten, muss das Nachdenken liber Methode und Kultur geradezu als eine Selbstverstandlichkeit erscheinen. Man konnte nun anmerken, dass der Zusammenhang von Methode und Kultur, wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen und Akzentsetzungen, schon immer im Zentrum der Aufmerksamkeit von Ethnologie und Soziologie stand, so dass unser Vorhaben den Charakter einer Nacherzahlung dessen hatte, was in disziplininternen Diskursen bis heute mit relativer Kontinuitat stattgefunden hat. Geht nicht etwa die Geschichte der Ethnologie von den Griindungsvatem wie Boas und Malinowski bis zu zeitgenossischen Vertretem wie Geertz und seinen Kritikern Hand in Hand mit einem wachsenden Bewusstsein liber Moglichkeiten und Schranken empirischer Verfahren? Und ist nicht andererseits die Entwicklung der Soziologie von der „Chicago School" bis zu den heutigen phanomenologisch und wissenssoziologisch inspirierten empirischen 'Ansatzen von einer zunehmenden Sensibilitat fiir Differenz und kulturelle Fremdheit gekennzeichnet? Sind schlieBlich diese zwei Disziplinen nicht auch dadurch theoretisch, methodologisch und methodisch gewachsen, dass sie voneinander gelemt haben; dass sie in ihrer Vorgehensweise eine Sicht eingebaut haben, die typisch flir die jeweils andere war? Diese Fragen konnen nicht eindeutig mit „Ja" beantwortet werden. Auch deswegen nicht, weil von einem symmetrischen Lernprozess beider Disziplinen keine Rede sein kann. Konnte noch vor ungefahr 20 Jahren Rene Konig (1984) eine Vorbildfunktion der Ethnologie flir die Soziologie feststellen, so gibt es heute gute Griinde flir die Annahme, die Ethnologie konnte von einer dezidierteren Offnung gegenliber der Soziologie viel profitieren. Damit ist nicht gemeint.
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dass sich die Ethnologie, wie manche Soziologen heute fordem, nach einem Paradigma ausrichten sollte, das den Akzent auf Verfahrenstandardisierung, Validitat, Zuverlassigkeit und Reprasentativitat als conditio sine qua non fur Wissenschaftlichkeit setzt (Goldthorpe 2000: Kap. IV). Damit ist vielmehr die Tatsache gemeint, dass sich der Ethnologe nicht gegenuber jenen phanomenologisch und wissenssoziologisch begriindeten Ansatzen in der Soziologie versperren kann, die dem empirisch verfahrenden Forscher - zu Hause sowie in der Fremde - sowohl eine grundlagentheoretische Untermauerung als auch ein konzeptionell abgesichertes Forschungsinstrumentarium liefern, die komplementar zu den klassischen Methoden ethnologischer Forschiung stehen. Andererseits sollte der Soziologe von der Vorstellung Abschied nehmen, die metatheoretische Absicherung des eigenen Tuns sei per se Garantie fur gute Forschung. Auch sollte er sich von der verbreiteten aber falschen Meinung distanzieren, schon das Abschiitteln klassischer Gutekriterien und das Bekenntnis zur Flexibilitat und Offenheit gegenuber dem Forschungsgegenstand reiche aus, seinem Vorgehen das Siegel der Transkulturalitat zu verleihen. Dazu spater mehr. Die gegenseitige Befruchtung von Soziologie und Ethnologie ist unleugbar, sie muss aber eher als Resultat zufalliger, denn geplanter Begegnungen angesehen werden. In einer systematischen Zusammenarbeit beider Disziplinen bestehen aber die besten Chancen fur einen fruchtbaren Umgang mit dem Problem der empirischen Forschung unter den Bedingungen kultureller Fremdheit. Vor allem sollte sich diese systematische Zusammenarbeit nicht in programmatischen Erklarungen erschopfen, die an eine halbherzig gedachte und noch halbherziger praktizierte Interdisziplinaritat appellieren. Eine solche Zusammenarbeit konnte, weniger deklamatorisch aber daftir effektiver, an der Losung konkreter Probleme ansetzen, die dem Forscher im Feld, oder spatestens dann, wenn es um die Auswertung und Niederschrifl der Resultate geht, begegnen. Genau diese Einsicht lag unserer Konzeption zugrunde, als die Entscheidung fiel, Sozialwissenschaftler unterschiedlicher fachlicher Affiliation an einen „Tisch" einzuladen, um den Zusammenhang von empirischer Forschung und Kultur zu diskutieren. Es ist an dieser Stelle unmoglich, alle Themen zu benennen, die im vorliegenden Band Ausdruck gefunden haben. Versucht man dennoch diese jedoch nach wenigen Problematiken zu gruppieren, so ergibt sich folgende Themenkonstellation: Strategien im Forschungsfeld, Rekonstruktion und Verallgemeinerung, Deutungsmuster und kulturelle Vorgabe. Es ist dariiber hinaus moglich, einen weiteren Fragenkomplex zu identifizieren, der sich, oft offenkundig, gelegentlich aber verdeckt, wie ein roter Faden durch die Beitrage des Bandes hindurchzieht: gemeint sind hier die Phanomene von Nahe, Distanz und Verein-
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nahmung sowie die vom Forscher eingesetzten Strategien, um damit zurechtzukommen. Von unmittelbarer Bedeutung fiir unser Thema ist auch die Tatsache, dass viele der in diesem Band enthaltenen Beitrage das jeweils zur Diskussion gestellte Problem im Kontext einer bestimmten Methode der Datengenerierung bzw. Dateninterpretation behandeln. Diese Tatsache gibt wiederum manchen Autoren Anlass zu einer grundsatzlichen Reflexion liber die Angemessenheit von Verfahren wie dem biographischen Interview, dem Gruppendiskussionsverfahren, der teilnehmenden Beobachtung oder dem partizipativen Forschungsansatz als Instrumente der Erforschung fremdkultureller Phanomene und Lagen. Mit den genannten Themen und Problemen sind wir freilich weit davon entfemt, dem Leser ein voUstandiges Bild der Anforderungen zu vermitteln, denen Forschung in fremdkulturellen Kontexten zu geniigen hat. Dies ist aber auch nicht die Intention der vorliegenden Aufsatzsammlung gewesen, denn diese stand von vornherein im Zeichen einer Beschrankung auf eine kritische Reflexion liber die eigenen Erfahrungen im Feld bzw. liber die MogHchkeiten der wissenschaftlichen Verarbeitung dieser Erfahrungen. Bevor ich zu einer genaueren Charakterisierung der im Sammelband enthaltenen Aufsatze libergehe, erscheint es angebracht, an die eingangs unterstrichene AktuaHtat des Zusammenhangs von Methode und Kultur wieder anzuknlipfen. Es soil im Folgenden nicht allein darum gehen, kurz einige wichtige gesellschaftliche und wissenschaftliche Bedingungen zu umreiBen, die diese Aktualitat begrunden, sondem auch darum, klarzumachen, worin das Potenzial einer ethnologisch sensibilisierten Soziologie und einer soziologisch informierten Ethnologic besteht.
Disziplinen Wissenschaftliche Disziplinen legitimieren sich bekanntlich durch Arbeitsteilung. So will eine alte Tradition, dass sich die Soziologie mit eigenkulturellen, die Ethnologic hingegen mit fremdkulturellen Phanomenen beschaftigt. Diese Trennung ist heute mehr und mehr fragwlirdig geworden. Typische Orte der klassischen ethnologischen Feldforschung unterliegen heute einem Prozess zunehmender Ausdifferenzierung und Autonomisierung unterschiedlicher Handlungsspharen und erreichen dadurch im Bereich von Recht, Wirtschaft, Politik, Religion und Erziehung eine gesellschaftliche Komplexitat, die der klassisch geschulte Ethnologe allein kaum bewaltigen kann. Es handeh sich allerdings dabei um eine Komplexitat, die auch nicht mit soziologischen Theorien klassischen Zuschnitts erfasst werden kann.
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Prozesse der Demokratisierung, Verwissenschaftlichung und Monetarisierung finden immer mehr Eingang in lokale Wirklichkeiten und verandera Lebensstile, Wertorientierungen und Erwartungen mit einer Schnelligkeit, der empirisch und theoretisch schwer nachzukommen ist. Traditionelle Anschauungen und Verhaltensweisen verschwinden dabei keineswegs; sie gehen mit modemem westlichem Wissen und Artefakten eine eigentumliche Liaison ein und erzeugen dadurch einen gesellschaftlichen Synkretismus, der mit Forschungstechniken, die sich ausschlieBlich standardisierter Verfahren bedienen, kaum zu erfassen ist. In vielen nicht-westlichen Gesellschaften, aber auch in Landem der westlichen „Peripherie" ist die Koprasenz von Modemitat und Tradition nicht nur auf der sozio-strukturellen und kulturellen Ebene vorfindbar, sie materialisiert sich auch auf der PersonHchkeitsebene und kann dann am Verlauf konkreter individueller Schicksale nachgewiesen werden. Dem Soziologen und Ethnologen, der bereit ist, sein methodisches Instrumentarium an die Besonderheit des Forschungsobjektes anzupassen, liefert dies ein spannendes Forschungsfeld. Die Fragwurdigkeit des Festhakens an einer arbeitsteiHgen Logik zwischen Ethnologic und Soziologie wird andererseits auch dann klar, wenn wir den Blick auf modeme westliche Gesellschaften richten. Diese erfahren vor allem in der Weise von Enklaven- und Milieubildung neuartige Formen intemer Segmentierung, welche die fortschreitende ftinktionale Differenzierung auf eigentumliche Weise liberlagern. Insbesondere intemationale Migration zeichnet sich immer mehr als eine treibende Kraft in dieser Richtung aus. Vor allem in der Folge von und als Reaktion auf Einwanderung findet in westlichen Gesellschaften ein Traditionalismus wieder Eingang, den man irrigerweise als liberwunden erachtete. Dieser nimmt unterschiedliche Formen an: Als verstarktes Bediirfiiis nach ethnisch begrlindeten Grenzziehungen, als Wiedererstarken von Identitatsfragen, als Beanspruchung von Sonderrechten seitens Minderheiten oder als Revitalisierung fundamentalistischer Weltanschauungen. Fiir die Analyse dieser besonderen Mischung von Tradition und Modemitat in ein und derselben Gesellschaft, in ein und derselben Gruppe, in ein und demselben Individuum, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Soziologe und Ethnologe dringend angeraten. Ist aufgrund globaler Veranderungen Territorialitat nicht mehr das Kriterium fur die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem, erkennen wir also, dass das Fremde bereits im „Eigenen" anzutreffen ist, so diirfen wir andererseits nicht verkennen, dass Forschen in fremden Landem vom Wissenschaftler Leistungen besonderer Art abverlangt; es bedeutet nicht, zu ignorieren, dass es eine Ebene kultureller Differenz geben kann, die von den herkommlichen Techniken der Datengenerierung und Dateninterpretation nicht adaquat erfasst werden kann. Ist dies der Fall, dann ware die Schlussfolgemng nicht die, dass dem Kul-
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turrelativismus mit Methodenrelativismus zu begegnen sei, sondern die, dass kultureller Spezifitat durch Komplexitatssteigerung in der Gestaltung von Methodologien und Methoden beizukommen ist. Aus dieser Definition der Situation resultieren besondere Herausforderungen an den empirisch verfahrenden Forscher.
Theorien Das theoretische Potenzial der Soziologie, kulturelle Fremdheit zu erkennen, zu beschreiben und zu erklaren, darf nicht unterschatzt werden. In dem MaBe, in dem sich diese Disziplin empfanglich fur Phanomene wie Emergenz, Differenz und auch Abweichung zeigte, konnte sie „Modellierungen" des Sozialen vornehmen, die flexibel genug sind, Fremdheit zu erfassen.^ Diese Empfanglichkeit fiir das Fremde begegnet uns mit unterschiedlichen theoretischen Perspektivierungen und Akzentsetzungen in der Phanomenologie von Alfred Schiitz, in der Wissenssoziologie Karl Mannheims oder in der Ethnomethodologie von Harold Garfmkel und Aaron Cicourel. Ftir alle diese Autoren gilt, dass Fremdheit einer Situation entspricht, die nicht an territorial Grenzen, sondern an lebensweltliche Lagen gebunden ist. Betrachten wir diese unterschiedlichen Forschungsansatze genauer. Die phanomenologische Tradition, vomehmlich in der von Alfred Schiitz vorgelegten Interpretation, hat uns eindrlicklich vorgefiihrt, dass die Arbeit des empirisch verfahrenden Forschers auf „Rekonstruktion" abzielen soUte und dass diese Rekonstruktionsarbeit ihrerseits Sinnkonstruktionen alltagsweltlicher Subjekte zum Objekt hat. Schiitz beabsichtigte hiermit zweierlei zu betonen: dass theoretische Konstrukte keine Exklusivitat wissenschaftlichen Tuns sind, sondern bereits eine Prarogative handelnder Subjekte in der Alltagswelt darstellen und dass zwischen der Reflexivitat des Forschers und jener alltagsweltlicher Akteure eine strukturelle Kontinuitat besteht (Schiitz 1962).^ Trotz dieser strukturellen Verbindung zwischen Wissenschafts- und AUtagshandeln bleibt die Tatsache bestehen, dass wissenschaftliche Arbeit einer alltagsenthobenen Tatigkeit entspricht, die ihre gultigen Resultate dadurch erSchon seit ihren Anfangen hat die Soziologie das Fremde im „eigenen Zuhause" entdeckt. Die Chicagoer Schule ist sicherlich das kiarste Beispiel dafur gewesen. Hire Vertreter konnten zeigen, wie in ein und derselben Gesellschaft Milieus nebeneinender existieren konnen, die alle Charakteristiken einer „Gemeinschaft der Weltdeutung" aufweisen. Dazu: Lindner (1990). Schiitz tritt damit gegen Positionen an, die wie die Durkheimsche, die Trennung zwischen wissenschaftlichem Tun und Alltagshandeln als unantastbares Postulat annehmen: Der Wissenschaftler, so die Uberzeugung, sieht nicht nur graduell mehr, sondern er sieht grundsatzlich anderes als Handelnde in der Alltagswelt.
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zielt, dass sie auf Distanz zu ihrem Objekt geht. Schtitz selbst versucht der Notwendigkeit der Distanz zum Forschungsobjekt dadurch Rechnung zu tragen, dass er dezidiert Abschied von introspektiven Praktiken nimmt und Sinnverstehen als Motivunterstellung, mithin als Konstruktion und Idealisierung seitens des Forschers ansieht. Sozialwissenschaftler konnen nur in besonderen Situationen, und auch dann nur sehr fragmentarisch, Motive, Ziele und Uberzeugungen von Handelnden so erfassen, wie sie tatsachlich von diesen gemeint sind.^ Mittels der Analyse alltagsweltlicher Situationen und Prozesse konnen allerdings im Selbstverstandnis der phanomenologischen Perspektive Motive, Ziele und Uberzeugungen in ihrer Typizitat rekonstruiert werden. Schutz' Ansatz ist in zweierlei Hinsicht von unmittelbarer Bedeutung fiir die Forschung in fremdkulturellen Kontexten. Zum einen ist seine dezidierte Absage an die Introspektion gleichzeitig eine Absage an die naive Selbstsicherheit, mit der manche Forscher zu wissen glauben, was sich in den Kopfen der Menschen abspielt, und dabei einem platten Ethnozentrismus verfallen: Motivzuschreibungen sind eben mehr oder weniger gut begriindete Motivunterstellungen. Zum anderen impliziert Schtitz' Aufforderung an die Konstrukte alltagsweltlicher Akteure anzuschlieBen, dass der Forscher gehalten ist, Defmitionen der Situation und Typisierungen, so wie diese in einem bestimmten Milieu oder einer bestimmten Kultur vorgenommen werden, ernst zu nehmen. Schtitz' Ansatz fmdet allerdings dort seine Grenzen, wo es darum geht, die soziokulturelle Verankerung des Beobachters zu hinterfragen: Aus welchem Horizont heraus erbringt dieser seine Interpretationsleistung? Schutz versaumt es, diese Frage kritisch zu reflektieren und sein Hinweis darauf, dass dem Beobachter „Objektivitat" aufgrund der Enthebung vom Handlungsdruck zukommt, vermag sie nicht zu entscharfen. Die Frage nach der sozialen Verankerung des Beobachters hat bekanntlich die Wissenssoziologie mit Nachdruck ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit geruckt. Karl Mannheims (1985) These der „Seinsverbundenheit" von Wissen und Denken macht vor dem Wissenschaftler als Beobachter keinen Halt. Auch flir diesen gilt, dass die Seinslage nicht allein etwas tiber das historische Entstehen von Gedanken besagt, sondem auch konstitutiv in das Denkergebnis, in dessen Inhalt und Form, hineinragt (ebenda 239). Den Relativismus, der damit hereinzubrechen droht, versucht Mannheim mit dem „Relationismus" aufzufangen, dadurch also, dass unterschiedliche und auch diskordante Perspektiven im Hinblick auf ihre sozio-historische Bedingtheit beleuchtet und dadurch methodisch ^ Gegenuber denjenigen, die Verstehen als nicht verifizierbares Vorgehen abqualifizieren, betont Schutz (1962: 56) Verstehen „has nothing to do with introspection". Verstehen sei vielmehr das Resultat eines Lem- bzw. Akkulturationsprozesses in derselben Weise wie „Common-sense"Erfahrung in der natiirlichen Welt.
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kontrollierbar werden (ebenda 244). Die Benennung des Standortes, so Mannheim, besagt nichts liber den Wahrheitswert einer Aussage, sie besagt lediglich, dass diese Ausdruck einer „Teilansicht" ist: Es verhalt sich dabei wie bei dem Streit liber visuelle Gegenstande: „Dieser wird nicht dadurch geschlichtet, dass man eine unperspektivische Sicht konstruiert (was nicht mogHch ist), sondem so, daB man aus dem einen standortgebundenen Bilde heraus versteht, warum sich den andem dort, von jenem Standpunkte, die Sache so und nicht anders gibt" (ebenda 231)/ Mannheims Uberzeugung, dass „jede Aussage wesensmaBig nur relational formulierbar" sei (ebenda 230), impliziert also nicht das Opfer der „Objektivitat". Diese sei allerdings nicht direkt, sondem nur auf „Umwegen" zu erreichen. Es geht also nach Mannheim nicht darum, die Perspektivitat als etwas Missliches, aber Unvermeidbares zu entschuldigen, sondem damm, die Frage zu stellen „wie im Elemente dieser Perspektivitat Erkenntnis und Objektivitat moglich ist" (ebenda 255).^ Trotz mancher theoretischer Ungereimtheiten enthalt Mannheims Konzeption ein unschatzbares Potenzial im Hinblick auf eine kritische Reflexion der BeobachterroUe in Forschungssituationen. Vor allem jene heutigen Forschungsansatze, die den Beobachtungsstandort des Interpreten mitreflektieren und dadurch der Gefahr des Ethnozentrismus vorzubeugen versuchen, zehren theoretisch von dieser Konzeption/ Diese Ansatze sehen in der Standortgebundenheit des Interpreten ein echtes Problem, vertrauen aber gleichzeitig auf die Moglichkeit, dieses unter Kontrolle zu bringen. Freilich geht es hier nicht damm, zu glauben, die Perspektive des Forschers konne ganzlich kontrolliert werden, sondem darum zu erkennen, dass bei jeder Betrachtung des Fremden ein Vergleich im Spiel ist, dessen VergleichsmaBstab thematisiert werden muss. Dem wissenssoziologischen Programm fiihlt sich auch die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel und Aaron V. Cicourel verpflichtet. Indem diese die Aufmerksamkeit auf die Prozesse der „Herstellung" von Wirklichkeit richten, tragen sie dazu bei, Licht auf die Interessenbedingtheit von Motivunterstellungen zu werfen. Die Ethnomethodologen beschranken sich nicht darauf, hand"^ Dem mdglichen Einwand, dass es „Sichten" gibt, von denen aus der fragliche Gegenstand besser beleuchtet werden kann, entgegnet Mannheim, dass hier das Kriterium nur „die groBte Fassungskraft, die groBte Fruchtbarkeit dem empirischen Material gegeniiber" sein kann (ebenda 231). ^ Vor allem heutige Forscher, die sich dem „rekonstruktiven Paradigma" verbunden flihlen, schlieBen an Mannheims Position an und begreifen die „Aspekthaftigkeit" des Denkens als eine wertvoUe Ressource, an die der Wissenschaftler anschlieBen kann. Will man das Verhalten von Individuen und Gruppen in seiner Genese und spezifischen Orientierung nachvoUziehen, so hier die Annahme, muss man den Blick auf die sozialen Konstitutionsbedingungen des Erlebens und der Erfahrung von Handelnden richten. Dazu: Ralf Bohnsack (2003). ^ Beispielhaft dafiir: Ralf Bohnsack und Amd-Michael Nohl (2007).
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lungsgenerierende und handlungslegitimierende Alltags"theorien" zu beschreiben. Sie mochten auch die Mechanismen aufzeigen, durch welche diese generiert werden und zum Einsatz kommen. Dabei verweisen sie auf die eminent aktive Rolle sozialer Akteure gegenliber ihrer sozialen und kulturellen Wirklichkeit. Individuen sind keineswegs passiv gegeniiber Werten, Normen und Rollen, denn wie die Wirklichkeit immer wieder zeigt, besitzen Individuen die Fahigkeit, auch „anders" zu handeln, als der Gang der Ereignisse es verlangt. Menschen folgen nicht einfach Regeln des Verhaltens, sie sind auch in der Lage, sich Rechenschaft („to take account o f ) liber diese Regeln zu geben und diese gegebenenfalls so zu modifizieren, dass sie ihren praktischen Bediirfnissen entsprechen (Garfmkel 1967). Neben dem Faktum menschlicher Reflexivitat und Nicht-Konformitat des Handelns unterstreichen die Ethnomethodologen auch die grundsatzliche Emergenz und Kontingenz von sozialem Sinn. Die Annahme ist hier also, dass Werte, Normen und Konventionen keine Realitat sui generis darstellen, sondem als das Resultat von im Zuge menschlicher Interaktion stattfmdenden Symbolisierungsprozessen betrachtet werden miissen. Ein Problem stellt sich hier allerdings: werden Werte, Normen und Regeln als grundsatzlich im Prozess der Interaktion emergierende Phanomene angesehen, so besteht die Gefahr der Verfliichtigung dessen, was man „Kultur" oder „Sozialstruktur" nennt. Wogegen richtet sich dann, so fragen wir, „the power to act otherwise", die von den Ethnomethodologen als eine unerlassliche Prarogative sozialer Akteure angesehen wird? Deutet vielleicht diese Macht nicht auf ein Etwas, das man voraussetzen muss, damit man auch „dagegen" handeln kann? Es scheint, dass just die empirischen Experimente der Ethnomethodologen jene „harte" Wirklichkeit wieder einfuhren, die sie theoretisch zurtickweisen. Gerade der Versuch, eine „Normalitat" wieder herzustellen, die kiinstlich in Frage gestellt wurde,^ verweist auf jene unhinterfragte Welt von Routinen, gegenseitigen Erwartungen und Verpflichtungen, die wir Kultur nennen. Verstehen wir Kultur, wie die Phanomenologie, die Wissenssoziologie und die Ethnometodologie nahe legen, nicht als eine Eigenschaft, die Territorien, Nationen oder Ethnien wesensmaBig anhaflet, sondem als das Resultat fortwahrender sozialer Sinnbildungsprozessen, die Bestandigkeit in der Zeit haben,^ so ^ Ich beziehe mich hier auf die „Experimente" der Ethnomethodologen. Dazu: Garfmkel (1963). ^ Die Abkoppelung der Fremdheit von Territorium, Ethnie oder Nationalkultur, ist bereits in Alfred Schiitz' (1976: 91) Thematisierung des Fremden evident: „The applicant for membership in a closed club, the prospective bridegroom who wants to be admitted to the girl's family, the farmer's son who enters college, the city-dweller who settles in a rural enviroment, the 'selectee' who joins the Army, the family of the war worker who move into a boom town - all are strangers according to the definition just given, although in these cases the typical 'crisis' the immigrant undergoes may assume milder forms or even be entirely absent", hi ahnlicher Weise ist fiir Karl
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hat dies Konsequenzen fixr das Vorgehen beider, des Soziologen und des Ethnologen. Es gilt fiir beide nachzuvoUziehen, dass die Erforschung sozialer Wirklichkeit - sei nun diese als Lebenswelt, Sinnprovinz, Milieu oder einfach als Kultur defmiert - im Anschluss an die Definition der Situation alltagsweltlicher Subjekte und an den Kontextbedingungen, in denen diese Defmitionen stattfmden, zu geschehen hat. Dass dies alles nicht ohne angemessene Konzeptualisierungsarbeit seitens des Wissenschaftlers vonstatten geht, versteht sich von selbst. Clifford Geertz (1999: 39) hat diese doppelte Aufgabe in der ihm eigenen sprachlichen Pragnanz folgendermaBen beschrieben: „Sie besteht darin, Vorstellungsstrukturen, die die Handlungen unserer Subjekte bestimmen (...) aufzudecken und zum anderen ein analytisches Begriffssystem zu entwickeln, das geeignet ist, die typischen Eigenschaften dieser Strukturen (das was sie zu dem macht, was sie sind) gegenuber anderen Determinanten menschlichen Verhaltens herauszustellen". Die Aufdeckung von handlungsleitenden Vorstellungsstrukturen und die Beschreibung ihrer typischen Eigenschaften sind Aufgaben, die in den Zustandigkeitsbereich des empirisch verfahrenden Forschers fallen. Welche Methoden konnen diese Aufgabe gerecht werden? Dariiber, dass Systematisierung und Verallgemeinerung von im Feld generiertem Wissen nicht uber Mechanismen erledigt werden konnen, welche Daten von vomherein in messbare GroBen verwandeln, daruber also, dass in den Sozialwissenschaften die Interpretation von Sprache und Handlung jeder Messung und Zahlung vorgelagert ist, scheint mittlerweile der Konsens zu wachsen. Die Frage ist allerdings: welche Moglichkeiten stehen hier zur Verfagung?
Methoden Bietet sich die Gelegenheit dazu, so unterlassen es manche Ethnologen nicht, zu unterstreichen, „qualitative Methoden" hatten als Mittel der Datenproduktion und Dateninterpretation ihren Ursprungsort in der Ethnologic gehabt und warden heute auch in den Handen der Soziologen bei der Untersuchung komplexer Gesellschaften gute Dienste leisten.^ Gegen ein Primat der Ethnologic hinsichtMannheim die, fiir die Modeme typische Fragmentierung, gesellschaftlicher Semantik ein Phanomen, das seine Erklarungsgrundlage in der eigenen Gesellschafi: hat. So Mannheim (1985: 234): „Wir beginnen mit der Tatsache, daB dasselbe Wort, der gleiche Begriffim Munde sozial verschieden gelagerter Menschen und Denker meistens ganz Verschiedenes bedeuten" (Hervor. K.M.). ^ So Karl-Heinz Kohl (1993: 95): „Wahrend sich die Ethnologie damit [mit den neuen Methoden, G. C ] neue Studienfelder erschlieBt, die der traditionellen Facherteilung gemaB eigentlich zu den Domanen der Soziologie gehoren, bedient sich umgekehrt heute die Soziologie der auf dem Boden der Ethnologie entwickelten qualitativen Forschungsmethoden".
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lich der Entwicklung und Anwendung „qualitativer Methoden" ist nichts einzuwenden/^ wohl aber gegen die Annahme, die hier suggeriert wird, „qualitative Methoden" glichen einem in der Zeit unveranderten Werkzeugkasten, dessen Instrumente nie verrosten und die ihnen zugemuteten Aufgaben immer gut erfallen. Angemessener ware es hingegen, „qualitative Methoden" als ein Ensemble von Verfahren anzusehen, das einem standigen Prozess der Revision und Optimierung unterliegt bzw. unterliegen sollte. Vor allem sollte aber nicht tibersehen werden, dass Revisions- und Optimierungsprozess Hand in Hand mit der Bereitschaft gehen, „qualitative Methoden" im Hinblick auf ihre theoretische Fundamentierung zu reflektieren. Gerade diese Reflexion macht den relevanten Unterschied zwischen einer disparaten Ansammlung beliebiger Forschungsinstrumente und einem lockeren, jedoch interdependenten Zusammenhang von Forschungsverfahren aus. Man kann gewiss nicht behaupten, die Debatte uber „qualitative Methoden" der empirischen Sozialforschung sei in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Zeichen der Einstimmigkeit vorangetrieben worden. Es gab aber unter den Diskutanten wichtige gemeinsame Nenner. Einer von diesen besteht sicherlich darin, dass nicht-standardisierte Verfahren gegeniiber standardisierten den Vorteil aufweisen, sich dem jeweiligen Forschungsgegenstand anzupassen und so diesem nicht mit Kategorien und Relevanzfestlegungen begegnen, die ihm fremd sind. Im Hinblick auf die Erforschung fremdkultureller Lagen und Phanomene ist diese Flexibilitat nicht standardisierter Verfahren sicherlich ein unschatzbarer Zug qualitativer Methoden, der von den Kritikem standardisierter Verfahren frlihzeitig unterstrichen wurde. So betont Herbert Blumer (1976: 122) in einer programmatischen Schrift, der Wissenschaftler sei jemand, der sich im Verlauf seiner Arbeit von der Eigenart der untersuchten Phanomene affizieren und uberraschen lasst. Er sei also jemand, der im Forschungsprozess lernt, und wo dies notwendig erscheint, sich „in neue Richtungen bewegt, in die er friiher nicht dachte, und in der er seine Meinung dariiber, was wichtige Daten sind, andert, wenn er mehr Informationen und ein besseres Verstandnis erworben hat".^^ Bekanntlich ziehen Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss (1967) klare
^° Dabei soil der Beitrag, der die Soziologie zur Entwicklung der Methode der „teilnehmenden Beobachtung" als den Konigsweg ethnologischer Forschung leistete, nicht unerwahnt bleiben. Vor allem in den fiinfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde auf diesem Gebiet Grundlegendes geleistet. Siehe unter anderen: Vidich (1955); Schwarz und Green Schwarz (1955); Whyte (1955, hier insbesondere die methodologische Appendix); Dean (1954); Becker und Geer (1957); Trow (1957); Gold (1958); Becker (1958). ^' Diese Einstellung entspricht dem, was Blumer (1976: 128) „Inspektion" nennt: „Inspektion ist nicht an eine feste Art des Zugangs und des Vorgehens gebunden; sie beginnt nicht mit analytischen Elementen, deren Beschaffenheit im Voraus festgesetzt und wahrend ihrer Anwendung
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methodologische und forschungspragmatische Konsequenzen aus dieser Einsicht. 1st von „qualitativen Methoden" die Rede, so muss man mit einem verbreiteten Vorurteil aufraumen: der Rekurs auf nicht-standardisierte Verfahren gehe mit einer Minimierung oder gar Ausblendung von Forschungsstandards einher. Korrekter ware es hingegen, in der NichtStandardisiemng eine Entscheidung zugunsten einer Steigerung des Methodenbewusstseins zu erblicken. Von der Annahme ausgehend, dass Sozialitat bereits vor jedem wissenschaftlichen Zugriff ihre eigentiimliche Struktur und ihren typischen Verlauf besitzt, bemiiht sich der Forscher um einen kontroUierten Zugang zu ihr. Er richtet die Aufmerksamkeit auf jene Routinen und RegelmaBigkeiten, die das Leben von Menschen charakterisieren und versucht, die typischen „Methoden" ans Licht zu bringen, denen sich Menschen in Alltagssituationen bedienen, wenn sie Verstandigung unter Gesellschaftsmitgliedern anstreben. Sollen diese Standards und Regeln „sprechen", so mussen mogliche Vorannahmen, die an das zu untersuchende Objekt herangetragen werden, „schweigen". Anders als standardisierte Verfahren, die Validitat vor allem in der Optimierung der Messinstrumente suchen, sehen also nicht-standardisierte Verfahren ihre Berechtigung darin, dass sie sich um einen Anschluss an „naturliche" Standards bemlihen; dass die Forschungslogik die „Logik" alltagsweltlichen Handelns zu rekonstruieren versuchtNicht-standardisierte Verfahren verlieren schnell ihre Berechtigung, wenn sie allein auf die Offenheit ihrer Verfahren setzen und die Frage unbeantwortet lassen, mit welchem methodischen Instrumentarium sie die Sinnstrukturen bzw. kommunikativen Regelsysteme alltagsweltlicher Akteure zu rekonstruieren trachten. In den letzten drei Jahrzehnten wurden vor allem im deutschen Sprachraum wichtige Beitrage zur Beantwortung dieser Frage geliefert. Verfahren wie das biographische bzw. narrative Interview, das Gruppendiskussionsverfahren oder die objektive Hermeneutik bauen ganz bewusst auf die Einsicht, dass die Relevanzsysteme der Erforschten moglichst ungehindert ans Licht kommen sollen und dass dies am besten durch kontrollierte Kontextuierung von Sprachhandlungen, Verhaltensweisen oder Artefakten zu geschehen hat.^^ Dabei ist wichtig zu betonen, dass sich die Arbeit des Forschers nicht darin erschopfen kann, den „subjektiven Sinn", den Sinn, den Akteure mit ihrem Handeln verbin-
niemals uberprtift oder abgeandert worden ist; und sie entwickelt die Beschaffenheit der analytischen Elemente durch die Priifung der empirischen Welt selbst". ^^ So Matthes (2000: 24): „Statt es als projizierende Verallgemeinerung eigenkultureller Konzepte zu betreiben, ware es als kulturgeschichtlich informierte, vergleichend angelegte Reflexion auf jene Vorgange anzulegen, in denen sich gesellschaftliche Wirklichkeit(en) hier wie anderswo schon immer selber auf ihre(n) Begriffe(n) bringen" (Hervor. J.M.).
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den, wiederzugeben. Sozialwissenschaftlich gesehen ist Sinn weit mehr als das, was soziale Akteure mit ihrem Handeln intendieren oder realisieren. In Handlungen ist ein Uberschuss an Sinn vorhanden, den Akteure selten ganz iiberschauen. Der Wissensvorrang des Beobachters zweiten gegenliber jenem ersten Grades resultiert nicht daraus, dass der erste etwas sieht, was dem zweiten meistens verborgen bleibt. Er ergibt sich vielmehr daraus, dass der Beobachter zweiten Grades durch plausible Kontextualisierungen und durch Bezug auf die Praxis von Handelnden das zu explizieren vermag, was beim Beobachter ersten Grades meistens implizit bleibt. Aus diesem Unterschied ziehen jene Verfahren ihre Berechtigung, die nicht bei einem einfachen Nachvollzug von Motiven stehen bleiben, gleichwohl aber Sinnverstehen als Mittel zur Rekonstruktion von Genese und Funktion von Bedeutungszusammenhangen und Relevanzsysteme nutzen. Zur Wiirdigung der Leistung nicht-standardisierter Verfahren gehort aber noch eine Uberlegung, die sich unmittelbar an das Gesagte anschlieBt. Sozialwissenschaftliche Forschung vermag ihren Gegenstand in dem MaBe zu erfassen, in dem es gelingt, Distanz zu ihm schaffen. Mit dieser kontraintuitiven Bemerkung ist gemeint, dass verbale Akte, Verhaltensweisen und Artefakte dem Interpret zuganglich werden, indem er sich in eine Lage des methodischen Zweifelns versetzt. Die Notwendigkeit klinstlich erzeugter Distanz drangt sich umso mehr auf, wenn der Forschungsgegenstand einem bekannten Kontext entstammt, denn gerade diese Situation tauscht eine Nahe vor, die einer Fiktion entspricht. Die Tauschung besteht darin, dass wir dazu neigen, unsere „Verstrickung" in die Praxis einer bestimmten Kultur bzw. eines bestimmten Milieus als eine Art Garantie fur die Gewinnung zuverlassigen Wissens aufzufassen. Anders als der Ethnologe, fur den Distanz eine natlirliche Komponente im Forschungsfeld darstellt, ist der Soziologe, der in heimischen Kontexten forscht, der Tauschung besonders ausgesetzt. Dieser kann er nur dadurch entgehen, dass er Distanz zu seinem Forschungsobjekt durch ein methodisches Verstehen kiinstlich schafft. Wie Bruno Hildenbrand in diesem Band hervorhebt: „Auch bei der Analyse noch so vertrauten Materials wird die Anwendung von Verfahren der interpretativen Sozialforschung die beste Vertrautheit, die der bzw. die Studierende mit dem Fall hat, destruiert".^^ Insbesondere die von der objektiven Hermeneutik eingesetzten Interpretationsverfahren versuchen dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Dazu liefert Ulrich Oevermann in diesem Band ein gutes Beispiel.^'
^•^ Bruno Hildenbrand in diesem Band (S. 129). ^^ Die Anwendung interpretativer Verfahren, so Oevermann (2001: 79), schafft eine Distanz zum erforschten Objekt, die strukturell kaum zu unterscheiden ist von der Distanz, mit der wir bei der Erforschung fremdkultureller Lagen konfrontiert sind: „hn methodischen Verstehen simuliert man
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Kultur Qualitative Verfahren der Datenproduktion und Dateninterpretation sind besonders geeignet fur die Erforschung fremdkultureller Phanomene, weil sie darauf verzichten, eine ex ante Strukturierung des Falles vorzunehmen und weil sie, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg, Vorkehrungen fiir die Eindammung eines immer drohenden Ethnozentrismus einbauen. Diese Vorziige bezeichnen eine notwendige, jedoch keine ausreichende Bedingung fur empirische Forschung in fremdkulturellen Lagen. Im Folgenden mochte ich einige Uberlegungen hinsichtlich der Transkulturalitat qualitativer Methoden anstellen. Wie die vorangegangenen Ausfuhrungen gezeigt haben, gibt es gute Grlinde dafur, dass Sozialwissenschaftler jenen Methoden Praferenz geben, die eigens dazu gedacht sind, die Perspektive sozialer Akteure, ihre „Definition der Situation", zu rekonstruieren. Zu diesen Techniken der Datengenerierung gehoren in erster Linie Interviews, bei denen die Intervention des Fragenden minimiert und die Moglichkeit von Sinnstrukturierung seitens der Befragten maximiert wird. Ein Vorteil „offener", auf Erzahlung basierender Interviewtechniken ist, dass sich in ihnen die Perspektive des Untersuchten in einer Breite und Tiefe dokumentiert, die kein Fragebogen zu dokumentieren vermag. Durch Einzelinterview und Gruppendiskussion generierte Erzahlungen spiegeln oft ein Stuck sozialer Wirklichkeit in der Weise wider, dass in diesen der Erzahler als „Reibungsflache" sozialer und kultureller Prozesse erscheint. So betrachtet, bieten Erzahlungen die Chance, eine auf individuelle Meinungen und Motive beschrankte Forschung zu transzendieren und strukturelle Phanomene in den Blick zu nehmen, die ihrerseits motiv- und handlungsstrukturierend sind.^^ Die gelegentlich gehegte Erwartung, dass aus Erzahlungen die Genese, der Ablauf oder gar die Folgen von Handlungen erschlossen werden konnen, ist jedoch iiberzogen und fuhrt in der empirischen Forschung zu Verzerrungen besonderer Art. Insbesondere Forschung in fremdkulturellen Kontexten ist der Gefahr des Reduktionismus durch Forschungsstrategien, die auf eine einzige Methode der Datengenerierung setzen, besonders ausgesetzt. Auch die prosaischsten unter den Anthropologen wissen genau, welche Gefahren hinter der Annahme lauem, allein Interviews konnten den Forscher in die Lage versetzen, samtliche relevante Dimensionen einer Kultur zu erfassen/^ Forschung in fremden Kulturen ist
sich gewissermaBen als Fremder gegentiber einem Gegenstand, der einem praktisch durchaus vertraut sein kann". ^^ Dazu mehr im Beitrag von Gabriele Cappai in diesem Band (S. 241-261). ^^ So schon Beattie (1966: 83): „Much can be learnt of a community's moral and legal standards, for example, or about other explicit aspects of its culture, through set interviews with selected individuals or groups. But this way of doing Anthropology can only tell the enquirer what people
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auf eine komplexe Strategic angewiesen, welche die Berticksichtigung unterschiedlicher Informationsquellen und Datensorten auf den Plan ruft. Neben der Rekonstruktion von Sinnkonstrukten Handelnder gehoren hierzu auch soziostrukturelle Daten, sowie ethnographisches und geschichtliches Wissen uber das erforschte Milieu bzw. die erforschte Gruppe. Das Heranziehen von soziographischem und ethnographischem Material, sowie die Beriicksichtigung von historischem Wissen stellen nicht nur eine Voraussetzung fur gixltige Interpretation dar, sie sind auch bezuglich der Entscheidungen uber die anzuwendende Methode unverzichtbar. Verfolgt beispielsweise der Forscher die Absicht, durch die Rekonstruktion typischer biographischer Verlaufe im Medium von Erzahlung Phanomene wie Religiositat, solidarische Orientierung, oder familiare Abhangigkeitsverhaltnisse zu untersuchen, so muss gefragt werden, ob eine bestimmte Gesellschaft genug Anhaltspunkte fur die Blindelung lebensgeschichtlicher Erfahrung in einer Biographic wcstlichcn Zuschnittes bcreithalt. Die Tatsache, dass aufgrund der kolonialcn Vergangenheit und multiethnischcn Konstitution vieler asiatischer und afrikanischer Staaten ein System von gcsamtgescllschaftlich gcteilten Lcbcnslaufstrukturen nicht entstchen konnte, ist sicherlich eine wichtige Erkenntnis in Bezug auf die Anwendbarkeit biographischer Verfahren nach westlichem Modell.^^ Neben sozio-strukturcllcn gibt cs auch im engeren Sinne kulturelle Bedingungen fur die Anwendung erzahlanalytischcr Verfahren. Kultur entscheidet liber die Angemcssenhcit von Methoden in dem Sinne, dass empirische Verfahren nicht „greifen", wenn bestimmte Voraussetzungen in den Orientierungs- und Erwartungsmustern einer spezifischen Gruppe fehlen. Um diesen Gedanken nachzuvollziehen, miissen wir uns die Tatsache ins Bewusstsein rufen, dass alle im Westen entwickelten Befragungstechniken auf der Annahme der unhinterfragten Autoritat des Wissenschaftlers als Ausdruck eines ebenso unhinterfragt geltenden „System Wissenschaft" beruhen. Diesem System fuhlt sich der westliche Mensch zur Rechenschaft verpflichtet, nicht etwa deswegen, weil ansonsten auBere Mechanismen abweichendes Verhalten sanktionieren wtirden, sondem weil er diese Rechenschaftspflicht verinnerlicht und dadurch teilweise invisibilisiert hat.^^ Von diesen kulturellen Voraussetzungen konnen wir in ande-
think happens or should happen (...) It cannot tell him what actually happens, how the social and cultural institutions of the community fit together in a working pattern." ^^ Siehe in diesem Zusammenhang die Erfahrungen aus einem Forschungsprojekt in Singapore von Matthes (2005: 369). ^^ So Matthes (2000: 25): „Die offentliche Autoritat, die der Wissenschaft zukommt, vermag dieses Kulturmuster leicht zu mobilisieren; fur die Durchfiihrbarkeit und die VerlaBlichkeit von Befragungsverfahren zahlt jedoch vor allem die Intemalisierung dieses Musters ins individuelle BewuBtsein".
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ren Kulturen nicht ohne weiteres ausgehen.^^ Der Beitrag von Dida Badi in diesem Band tiber die eigene Forschungserfahrung bei den Tuareg liefert ein eindmcksvolles Zeugnis nicht nur dafur, dass der Wissenschaftler gegen das Misstrauen der beforschten Gruppe kampfen muss, sondem auch dafiir, dass der Forscher seinerseits zum Objekt eines eingehenden „Verhors" seitens der Gruppe werden kann. Kultur entscheidet aber auch noch auf eine subtilere Weise uber die Angemessenheit und Anwendbarkeit bestimmter Verfahren der Datenproduktion. 1st der Forscher nicht mit ausreichender Sensibilitat ausgeriistet, um zu erkennen, dass sich Forschung typischen Routinen, Rhythmen, Tabus und Geboten anpassen muss, erkennt also dieser nicht, dass es in einer Gruppe bestimmte Zeiten des Redens sowie des Schweigens gibt und dass er fiir den Erhalt wertvoUer Information auf den „gunstigen" Moment warten muss, so wird dieser Forscher im besten Fall knappe Antworten erhalten - also solche, die nicht im Relevanzsystem des Befragten eingebettet sind und die deswegen zwangslaufig den Charakter einer hoflichen „Abfertigung" haben werden.^° Erst die Kenntnis der im Alltag der beforschten Gruppe gliltigen kommunikativen Regeln ermoglicht einen methodisch kontroUierten Zugang zum Gegenstand der Forschung.^' Kultur muss aber nicht allein bei der Datengenerierung, sondem auch bei der Dateninterpretation beriicksichtigt werden. Erkennen wir, dass Kultur oft die Form bestimmt, in die bestimmte Inhalte gegossen werden, so muss der Forscher darauf achten, ob Form und Inhalt in einem Verhaltnis der Ubereinstimmung oder des Widerspruches stehen. Bezogen auf das Thema erzahlanalytischer Verfahren, muss der Forscher beriicksichtigen, ob bei einer biographischen Erzahlung bestimmte kulturell pradeterminierte Erzahlvorgaben im Spiel sein konnten, die das normative Ideal einer „guten" Erzahlung mittransportieren und welche bei der Rekonstruktion des Erlebten seitens des Erzahlers strukturierend wirken. Gerade dieser Fall steht in Shimadas Beitrag in diesem Band zur Diskussion. Am Beispiel der Biographic eines japanischen Topfers illustriert er, wie sich hinter einem scheinbar willenlosen Subjekt ein selbstbewusstes und gelegentlich auch entscheidungsfreudiges Individuum verbergen kann. Die Lehre, die wir aus dieser Beobachtung ziehen, ist, dass man bei der Interpretation einer biographischen Erzahlung nicht nur die semantischen Inhalte, sondern ^^ Dabei ist wichtig im Auge zu behalten, dass sich „mittlerweile zahlreiche Konzeptualisierungen aus der europaischen gesellschaftlichen wie auch sozialwissenschafthchen Begriffswelt anderswo verbreitet haben und dort hochst komplexe Bedeutungsverhaltnisse zu den angestammten eingegangen sind" (Matthes 2000: 21). ^° Dazu ausfuhriich Spittler (2001). ^' In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass die so genannten qualitativenVerfahren gerade als Antwort auf das Problem der De-Kontextualisierung von Information durch die Anwendung standardisierter Forschungstechniken entstanden sind.
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auch das in ihr implizit enthaltene und kulturell bedingte Erzahlmuster berucksichtigen muss. Methodenkritik, dies wurde aus den vorangegangenen Ausfiihrungen klar, kann sich nicht allein auf das Aufzeigen von Problemen und Widerspriichen richten, die sich eine auf Standardisierung und klassische Giitekriterien fixierte Forschung einhandelt. Diese Kritik macht auch gegeniiber jenen Verfahren keinen Halt, die eigens dazu entwickelt wurden, die Schwierigkeiten, mit denen konventionelle Methoden behaftet sind, zu iiberwinden.^^ Auch die Vertreter erzahlanalytischer Verfahren, trotz ihrer erbrachten Sensibilitat fur die „Eigenheit" des Forschungsgegenstandes, setzen auf die uneingeschrankte Transkulturalitat ihrer Methoden und vergessen dabei leicht, dass Kultur, sowohl bei dem Zugang zu den Daten als auch bei der Interpretation derselben eine wichtige Komponente im Forschungsfeld darstellt. Es ist moghch, dass man mit diesen Bemerkungen bei manchen Ethnologen offene Tiiren einrennt. Wer besser als sie kennt das Scheitern des mit ausgearbeitetem Forschungsdesign und vorgefertigtem Instrumentarium ausgeriisteten Forschers vor der Wirklichkeit des Feldes? Und wer besser als sie weiB, dass ein Feld nie dem anderen gleicht? Es ware aber keinem damit gedient, wenn man aus der Konstatierung der Notwendigkeit der Abstimmung der Methoden an die untersuchte Wirklichkeit das Bekenntnis zu einem radikalen Kontextualismus ableiten wlirde, der Methodenoptimierung mit Methodenbeliebigkeit verwechselt. Eine unleugbare Interdependenz zwischen sozialwissenschaftlicher und kultureller Begriffsbildung einzuraumen, bedeutet nicht dem absoluten Relativismus das Wort zu reden. Es bedeutet nachzuvollziehen, dass es sich bei dem Ubergang von gesellschafllicher Wirklichkeit zur wissenschaftlichen Begrifflichkeit um eine Ubersetzungsleistung handelt, die epistemologisch unter KontroUe gebracht werden muss.
Zu den Beitragen in diesem Band In seinem Beitrag Wissenschaft aufReisen. Dichte Teilnahme und wissens chaftlicher Habitus bei Heinrich Earths Feldforschung in Afrika richtet Gerd Spittler seine Aufmerksamkeit auf ein Problem, das die Geschichte der ethnologischen Forschung bis heute begleitet. Es handelt sich dabei um den Kontrast zwischen zwei unterschiedlichen Forschungsweisen: eine, die Datensammlung und Datenauswertung als zwei zeitlich und raumlich getrennte Tatigkeiten ansieht und ^^ Diese ist eine Frage, die mit aller Entschiedenheit Joachim Matthes (2000: 25) gestellt hat: „Wenig wird auch daruber nachgedacht, wie sehr der Bestand an sozialwissenschafthchen Forschungsmethoden in den Kulturmustem jener (europaischen) Gesellschaften griindet, in denen er entwickelt worden ist."
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eine andere, die es hingegen vorzieht, beide Tatigkeiten als eine Aufgabe zu betrachten, die am gleichen Ort und zur selben Zeit erledigt werden sollte. Spittler diskutiert Vorteile und Nachteile der beiden Verfahrensweisen und kommt zu dem Schluss, dass gute Forschung nur dann gegeben ist, wenn der Forscher seinen Feldaufenthalt nicht allein als Moglichkeit der Materialsammlung begreift, sondem dariiber hinaus diese Zeit auch fur die Auswertung der gesammelten Daten nutzt. Es macht namlich nach Spittler einen groBen Unterschied, ob die^ Forschungsresultate im Feld oder am Schreibtisch zu Hause textualisiert werden, denn nur im Feld bleibt der Forscher durch die Umgebung und die Menschen, die er untersucht, offen fur den Gegenstand seiner Untersuchung. Nur im Feld ist ihm die Moglichkeit gegeben, „dichte Teilnahme" auch auf die Operation der Dateninterpretation auszudehnen. Es sei gleich hervorgehoben, dass Spittlers Eintreten fur eine „dichte Teilnahme", als notwendige Voraussetzung gelungener Feldforschung, keine Entscheidung gegen Wissenschaft als ein Distanz schaffendes Verfahren impliziert: „Gute ethnologische Arbeit", so Spittler, „bedarf offensichtlich nicht nur der dichten Teilnahme, sondem auch eines wissenschaftlichen Habitus, der sie nicht nur erganzt, sondem zu ihr in einem gewissen Widerspmch steht".^^ Wie Datensammlung und Dateninterpretation Hand in Hand vor sich gehen konnen, illustriert Spittler an der beeindmckenden Forschungsarbeit des deutschen Ethnologen Heinrich Barth. Earths Forschungsreise auf dem afrikanischen Kontinent beginnt mit der Ankunft in Tripolis am 18. Januar 1850 und endet dort am 28. August 1855. Sein Forschungsplan ist nicht vorweg defmiert und unterliegt vielen Veranderungen, die sich im Laufe des Forschungsprozesses ergeben. Ein Umstand der, wie Spittler unterstreicht, heute die Chance einer Forschungsfmanziemng erheblich vermindem wiirde. Auch in einer Umgebung, die wissenschaftliche Arbeit schwer macht, gelingt es Barth, einen Habitus aufrechtzuerhalten, der der Forschung forderlich ist. Das Beispiel Earths liefert Spittler eine Kontrastfolie zu dem, was man als eine „normale" Forschungssituation bezeichnen konnte. In einer normalen Situation hangt Forschung nicht nur von der Ausbildung, Kompetenz und Kreativitat des Forschers ab; sie ist auch „in einen raumlichen, zeitlichen, materiellen und personellen Kontext" eingebettet. Wissenschaftler arbeiten meistens in Raumen (Arbeitszimmem, Labors, Eibliotheken, Archiven), die eine Abgrenzung gegeniiber der AuBenwelt ermoglichen, sie bleiben aber gleichzeitig im kommunikativen Austausch mit der „scientific community". Spittlers Beitrag zeigt, dass bei Barth das Fehlen dieser Voraussetzungen sich keineswegs abtraglich fiir seine Arbeit erwies. ' Spittler in diesem Band (S. 48).
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Earths groBe Leistung als Forscher besteht sicherlich darin, dass er die gegensatzlichen Haltungen von dichter Teilnahme und wissenschaftlicher Distanz am selben Ort gut zu kombinieren wusste. Darin unterscheidet er sich sowohl von denjenigen Feldforschern, die am Leben der einheimischen Bevolkerung intensiv partizipieren, aber wenig systematisch vorgehen, als auch von denjenigen, die sich methodisch gut absichem, jedoch die Praxis der dichten Teilnahme nur einseitig und selektiv zum Einsatz bringen. Der Beitrag von Dida Badi, Distanzierung und Vereinnahmung. Die Erforschung oraler Tradition in der eigenen Gesellschaft stellt ein Phanomen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, das bis heute in der Forschung unterbelichtet geblieben ist: es handelt sich um das Forschen in heimischen Kontexten und die daraus resultierenden Probleme der Distanz und der Vereinnahmung des Forschers seitens der Erforschten. Diese Probleme diskutiert Badi am Beispiel des Sammelns und Auswertens oraler Quellen bei zwei Tuareg-Gemeinschaften, die Nomadengruppen der Kel Adagh und die eher sesshafle Gruppe dQX Kel Azjer. Badis Analyse beginnt mit einer Charakterisierung der „Bewahrer" traditionellen Wissens und der Funktionen dieses Wissens fur die Gemeinschaft. Es werden dabei Personen identifiziert, die sich auf die Wahrung oraler Tradition und somit des Gruppengedachtnisses spezialisiert haben - eine Aufgabe, die, wie Badi unterstreicht, geschlechtsspezifisch organisiert ist. Das Forschen in heimischen Kontexten muss nach Badi gleichzeitig auf zwei Instanzen Riicksicht nehmen. Aus der Perspektive des Staates soil die Forschungsarbeit den Stammen und ihrer Geschichte keine Stimme verleihen, denn dies konnte die Staatsherrschaft in Frage stellen. Aber auch aus der Sicht traditioneller Hauptlinge darf der Forscher den „Geschichten" der „Beherrschten" nicht zu sehr Gewicht verleihen, denn dies wiirde die Gruppe auf die Ebene der Elite erheben.^"^ Angesichts dieses Dilemmas sollte nach Badi die Strategic des Forschers darin bestehen, „sich fur alle Geschichten zu interessieren'V^ seine Arbeit sollte als ein Beitrag zur Kenntnis der gesamten Gemeinschaft konzipiert werden. Im zweiten Teil des Aufsatzes geht Badi schlieBlich auf die Frage ein, ob bei der Feldforschung der einheimische Forscher gegeniiber seinem nichteinheimischen Kollegen im Vorteil ist. Ist der erste objektiver als der zweite? Eine Antwort auf diese Frage soil nach Badi nicht bei Personen, sondem in der Qualitat der von ihnen in Einsatz gebrachten Methoden gesucht werden: „Die Antwort", so Badi, „ist in der Effizienz der methodischen Herangehensweise zu suchen".^*^ Im selben Zusammenhang betont Badi einige zentrale Auf^^ Dida Badi in diesem Band (S. 77). ' ' Ebenda. ' ' Ebenda (S. 80).
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gaben des Forschers: Er soil sich bemiihen, seinen Gesprachspartner zu verstehen und dafur Sorge zu tragen, dass das Gesprach ungehindert lauft. Dabei sollte er sich gerade auf jene Fragen beschranken, die es ermoglichen, den Diskussionsfaden nicht abreiBen zu lassen. Wahrend des Gespraches soil der Forscher auch die kleinsten Bewegungen, das Lachen, das Zogem und die Position des Informanten nicht aus den Augen verlieren. Aber selbst dann, wenn alle Bemuhungen des Forschers darauf gerichtet sind, in das Leben der untersuchten Gruppe einzudringen, muss er zu dieser Distanz halten. Dies gilt insbesondere fur den einheimischen Forscher, denn bei ihm ist die Gefahr der Vereinnahmung am groBten. In ihrem Beitrag Interaktive Methoden: Erfahrungen mit der Verwendung von „Participatory Rural Appraisal" (PRA) diskutieren Dieter Neubert, Andreas Neef und Rupert Friederichsen Vorziige und Schwachen des Participatory Rural Appraisal, kurz PRA, eine Methode, die sich in der Entwicklungsplanung und Projektarbeit mittlerweile groBer Beliebtheit erfreut. Zweck der PRA ist es, in interdisziplinarer Teamarbeit, welche die Adressaten der Entwicklungsarbeit systematisch einbezieht, niitzliche Informationen im Hinblick auf die anstehende Projektplanung zu gewinnen. Einen Vorteil dieser Methode sehen ihre Vertreter darin, dass sie in relativ kurzer Zeit ermoglicht, lebensnahe und nutzerorientierte Erkenntnisse zu gewinnen, die in die Projektplanung einflieBen konnen. Ein weiterer Vorzug dieser Methode soil auBerdem darin bestehen, dass sie nicht der ublichen Logik der Arbeitsteilung zwischen Datenerhebung und Datenauswertung folgt. Vertreter der PRA gehen von der Annahme aus, dass „Gemeinschaften" eine Stimme haben, und dass bei der Konzipierung von Entwicklungsprojekten ihre Stimme zur Geltung kommen soil. Die Vorstellung ist, dass die lokale Gemeinschaft und nicht-staatliche Behorden oder Experten liber die zu planenden EntwicklungsmaBnahmen entscheiden sollen. Neben den genannten positiven Aspekten betonen die Autoren des Beitrages am PRA-Ansatz einige problematische Ziige: Die proklamierte Partizipation erweist sich oft als Ideologic vor allem dann, wenn Machtasymmetrien zwischen staatlichen Behorden, Experten und der Zielgruppe wirken; bei der Zielgruppe werden Erwartungen geweckt, die oft unmoglich erftillt werden konnen; interne Gruppendifferenzierungen, die unterschiedliche Interessen artikulieren, werden iibersehen. Ein Hindemis ftir eine effektive Zusammenarbeit zwischen Forscher und Zielgruppe ist dariiber hinaus die oft anzutreffende irrige Vorstellung der Gruppenhomogenitat. Diese Annahme verftihrt oft die Forscher dazu, interne soziookonomische Differenzierungen zu unterschatzen, die von groBer Bedeutung hinsichtlich der Zielbestimmung der EntwicklungsmaBnahmen sind. Tragt man diesen intemen Differenzierungen Rechnung, so ist es unmoglich.
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von einem grundlegenden gemeinsamen Interesse auszugehen, welches die lokale Gemeinschaft als Ganzes auszeichnen wurde. Trotz der aufgezeigten Unzulanglichkeiten nehmen die Autoren Distanz von einer pauschalen Ablehnung des PRA-Ansatzes. Dadurch, dass lokale Akteure als „Experten" der eigenen Situation betrachtet werden, mit denen der Forscher Probleme diskutiert und interpr.etiert, gestatten die PRA-Methoden einen schnellen und relativ zuverlassigen Zugang zum Forschungsfeld. Insbesondere dann, wenn PRA-Techniken mit anderen Methoden empirischer Forschung erganzt werden, erweisen sie sich als gute strategische Instrumente fur ein schnelles Vertrautwerden mit den Gegebenheiten vor Ort. Die Autoren heben gleichwohl einschrankend hervor, dass kurze Erhebungen, insbesondere unter den Bedingungen von Fremdkulturalitat, die Komplexitat des Feldes nur selten erschlieBen konnen. Der Zusammenhang von Nahe und Distanz in der Forschung steht auch in Bruno Hildenbrands Beitrag Fallrekonstruktive Forschung in Bauernfamilien und Familien psychisch Kranker: Die Unhintergehbarkeit von Fremdheit in der Sequenzanalyse und ihre Bewdltigung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Hildenbrands These ist, dass Fremdheit ein Ergebnis der notwendigen Distanzierungsbemiihungen des Wissenschaftlers in seinem Forschungsprozess ist. Auch bei der Analyse noch so vertrauten Materials, destruiert der Wissenschaftler durch sein Interpretationsverfahren die bestehende Nahe zum Fall. Diese Beobachtung wird von Hildenbrand dahingehend spezifiziert, dass Fremdheit nicht, wie ublich, mit einer dem Forschungsgegenstand eigenen Qualitat identifiziert wird: Fremdheit stellt sich im Forschungsprozess in dem MaBe „quasi automatisch" her, in dem diese Forschung auf die Rekonstruktion von verborgenen Sinnstrukturen abzielt und dabei sequenzanalytisch vorgeht.^^ Gegen eine wissenschaftliche Tradition, die bei Forschung in eigenkulturellen Kontexten die Notwendigkeit betont, den Fall kiinstlich zu verfremden, unterstreicht Hildenbrand, dass der Fall „allein durch die Differenz von alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Beschafligung mit dem Alltag fremd" wird.^*^ In seinem Beitrag geht Hildenbrand dann auf die praktischen Konsequenzen der Verfremdung durch den Forschungsprozess ein. Folgende Fragen stehen hier im Mittelpunkt: Was geschieht, wenn die untersuchten Subjekte wissen woUen, was bei der Studie herausgekommen ist? Eine zweite Frage, die sich unmittelbar daran anschlieBt, ist folgende: was geschieht, wenn die durch die Fallrekonstruktion erzeugte Distanz aus therapeutischen Grtinden aufgehoben werden muss? Diese zwei Fragen diskutiert Hildenbrand am Beispiel der Psy-
^^ Hildenbrand in diesem Band (S. 129). ^^Ebenda(S. 130).
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chose eines Menschen, dessen Anfalle im Kontext einer Familienbiographie analytisch durchleuchtet werden. Es wird dabei klar, dass die therapeutisch begrtindete „Aufhebung" von Fremdheit Risiken birgt, die eine verantwortungsvolle Forschung in Rechnung stellen muss. Hildenbrand zeigt sich sehr kritisch gegeniiber jenen Positionen, die dafiir eintreten, erforschte Subjekte an den Resultaten der Forschung zu beteiligen (kommunikative Validierung). Handigt der Forscher seinen Bericht den Beforschten aus, konfrontiert er sie mit verborgenen Sinnstrukturen und provoziert bei ihnen den Verlust der „naturlichen Selbstverstandlichkeit." Hildenbrand ist grundsatzlich der Ansicht, dass die Liicke zwischen Forscher und Subjekten der Forschung „niemals zureichend, sondem immer defizitar geschlossen werden" kann.^^ Kommunikative VaHdierung im Sinne der Akzeptanz der Resultate der Forschung kann kein Mittel sein, die Reziprozitatsliicke zu schlieBen, die sich zwischen Forschem und Subjekten der Forschung auftut. Dies bedeutet selbstverstandHch nicht, den Nutzen kommunikativen Austausches auszuschlieBen. Dabei kann es sich aber allein um die Vermittlung eines Wissens handeln, dass keine Handlungsorientierung anbietet: Die durch wissenschafthche Distanzierung erzeugte Fremdheit wird mit der Absicht an „den Fall zurlickgegeben", lebenspraktische Handlungskompetenzen zu erweitem. In seinem Aufsatz Zur Differenz von praktischem und methodischem Verstehen in der ethnologischen Feldforschung - Eine rein textimmanente, objektiv hermeneutische Sequenzanalyse von ilbersetzten Verbatim-Transkripten von Griippendiskussionen in einer afrikanischen lokalen Kultur beschaftigt sich Ulrich Oevermann mit der Interpretation eines in einem fremdkulturellen Kontext entstandenen Gruppeninterviews. Sein Beitrag kann als eine Illustration des Potenzials der „objektiven Hermeneutik" als jener Interpretationskunst angesehen werden, fiir die Bedeutungsstrukturen nicht mit der subjektiv wahrgenommenen Absichten und Zielen der Handelnden koinzidieren. Die Interpretation des Interviews erfolgt, wie beim objektiv hermeneutischen Prozedere iiblich, vor dem Hintergrund der Annahme, dass jeder Interakt eine bestimmte Menge von Bedeutungsmoglichkeiten enthalt, und dass die konkrete Realisation einer dieser Moglichkeiten letztlich vom Kontext des Interakts abhangt. Das sukzessive Heranziehen moglicher Kontexte - darunter auch unwahrscheinliche - im Zuge der Interpretation, gestattet unterschiedliche Lesarten des Interakts, welche die Sequenzanalyse zu falsifizieren bemiiht ist. Zweck der Sequenzanalyse ist es, alle Lesarten bis auf diejenige auszuschalten, die prazise den Fall in seiner Struktur zum Ausdruck bringt. 'Ebenda(S. 140).
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Angelpunkt von Oevermanns Interpretationsverfahren ist, dass der Interpret als Angehoriger einer bestimmten Kultur iiber Kompetenzen (in der Form von allgemeinem Regelwissen) verfiigt, die er bei der Explikation des Falls zum Einsatz bringt. Freilich ist dem Interpreten die konkrete Realisation dieser allgemeinen Regeln, d.h. der interne fallspezifische Kontext des Interakts nicht (oder nur selten) bekannt. Zur Rekonstruktion dieses fallspezifischen Kontextes ist es nach Oevermann erforderlich, jene Kontexte zu thematisieren, in denen dieser Interakt sinnvoll erscheint. Was geschieht nun, wenn sich, wie beim vorliegenden Fall, die Interpretationsleistung des Wissenschaftlers auf Phanomene bzw. Interakte bezieht, die nicht der eigenen Kultur entstammen? Wie verhalt es sich also, wenn dem Interpreten weder der exteme noch der interne Kontext der Interakte bekannt ist? Die Originalitat von Oevermanns Beitrag in diesem Band besteht sicherlich darin, dass in ihm die transkulturelle Reichweite der „Objektiven Hermeneutik" unter Beweis gestellt wird, indem dieses Verfahren auf eine Situation Anwendung findet, die vertraute kulturelle Kontexte transzendiert. Zur relativen Entscharfung der gestellten Herausforderung tragt die etwas paradox anmutende These Oevermanns (2001) bei, dass im Vergleich zur Analyse vertrauter Phanomene, sich die Analyse kulturell fremder Phanomene relativ unproblematisch ausnimmt: der These der notwendigen Verfremdung des Vertrauten durch wissenschaftliche Analyseeinstellung, der wir auch bei Hildenbrand begegnet sind, ist die These der „unproblematischen" Aneignung des Fremden komplementar. Wahrend namlich der wissenschaftliche Zugriff auf das kulturell Vertraute eine Distanzierungsanstrengung als Bedingung des Erkenntnisgewinns verlangt, der Forscher sich also in eine Position des methodischen Zweifels kiinstlich versetzen muss, ist unter der Bedingung von Fremdkulturalitat diese Anstrengung nicht erforderlich, denn Distanz ist hier durch das spezifische Objekt auf „naturliche" Weise gegeben. SchlieBlich noch einige Worte zu den Entstehungsbedingungen von Oevermanns Aufsatz. Auf die Anfrage des Herausgebers zu einem Beitrag fiir den geplanten Workshop zum Thema „Empirische Forschung unter den Bedingungen kultureller Fremdheit" im Rahmen des Bayreuther SFB, Lokales Handeln in Afrika im Kontext globaler EinflUsse, reagierte Herr Oevermann mit der Bitte, man moge ihm ein Interview zusenden, das er einer Interpretation nach dem Verfahren der „objektiven Hermeneutik" unterziehen wiirde. Die Entscheidung fiel auf eine im Rahmen einer Habilitationsarbeit entstandene Gruppendiskussion mit fiinf Bewohnem eines Dorfes iiber die Folgen einer Uberschwemmungskatastrophe. Dem Interview wurde eine Zeichnung beigefiigt, die vom urspriinglichen Interviewer als Gesprachsinitiierung verwendet wurde.
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Oevermanns Beitrag besitzt etwas Herausfordemdes fur Forscher, die im Gegensatz zu ihm „am Ort waren" und den Akteuren im Feld in vivo begegnet sind. Kann der Interpret einem Interviewtext genau so viel oder gar Wichtigeres entnehmen als der Forscher, der diese Interviews durchgefiihrt hat und „das Feld" gut kennt? Um diese Frage zu beantworten, muss man den Forscher/ Interviewer selbst fragen, und genau das wurde hier getan. Elisio Macamo, der das von Oevermann interpretierte Gruppeninterview durchgefiihrt hat und die Situation vor Ort gut kennt, wurde gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Aus seiner kritischen Stellungnahme ist ein kurzer, aber, wie wir denken, aufschlussreicher Beitrag mit dem Titel Wenn nichts verborgen bleibt - Ein Kommentar zur objektiv-hermeneutischen Auslegung meiner Gruppendiskussionen. Eine Stellungnahme zum Beitrag von Ulrich Oevermann geworden. In seinem Beitrag Der empirische Zugang zum kulturell Fremden am Beispiel Zeit diskutiert Gabriele Cappai die im Aufnahmeland typische Zeitorganisation einer Migrantengruppe aus dem Mittelmeerraum vor dem Hintergrund ihrer im Herkunftsland vorangegangenen Sozialisationserfahrung. Wahrend in der Sphare der Produktion und Dienstleistung eine einsichtsvolle Anpassung an eine als „rationar' angesehene Zeitstrukturierung feststellbar ist, tut sich die Gruppe schwer, die Sphare der informellen Zeit, also die „Freizeit", einer Zeitstrukturierung zu unterziehen, wie sie das Leben in einer GroBstadt des Aufnahmelandes erfordem wtirde. Die Zeitorganisation der Gruppe nutzt Cappai in einem zweiten Schritt dazu, Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makroebene aufzuzeigen. Soil es bei der Rekonstruktion des Forschungsphanomens um mehr gehen als lediglich um die Benennung von Motiven, Beschreibungen und typologischen Klassifizierungen, verbindet also der Wissenschaftler mit seiner Forschung auch explanatorische Intentionen, dann, so Cappais Uberzeugung, sollte das Forschungsphanomen einer Mehrebenenanalyse unterzogen werden. Erst diese Analyse vermag zu zeigen, wie die traditionelle, aus der heimatlichen Alltagspraxis bekannte Zeitorientierung das Verhalten der Gruppe in der Aufnahmegesellschaft beeinflusst (Verhaltnis Makro-Mikro). Dadurch wird aber andererseits auch ersichtlich, wie die neue, im Aufiiahmeland angeeignete Zeitorientierung das Resultat einer Selektion darstellt, zu der die Gruppe im Verlauf von Interaktionsprozessen im Alltag gelangt (Verhaltnis Mikro-Makro). Zu diesen Ergebnissen kann freilich der Forscher nicht ohne angemessene Beriicksichtigung der Sicht der Akteure im Feld gelangen. Erst der Anschluss an ihre Wissenskonstrukte bzw. an ihre Definition der Situation gestattet es, jene Abstraktheit zu Ixberwinden, die alien jenen Erklarungsmodellen anhaftet, die bei der Untersuchung von Prozessen auf der Mikroebene dem okonomischen Erklarungsparadigma verhaftet bleiben. Der Bezug auf das Wissen der Akteure,
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vor allem auf das „implizite Wissen", gestattet es, tiefer sowohl in die Stmktur von Entscheidungen als auch in die diese Entscheidungen konditionierenden Phanomene einzudringen. Mit anderen Worten: Der Bezug auf das Wissen der Akteure im Feld gestattet es, Mikro- und Makroebene genauer und realistischer zu qualifizieren und dadurch jene Mechanismen zu identifizieren, die Handlungen generieren und verandem. Die Diskussion iiber den Umgang mit Zeit seitens der Gruppe nutzt Cappai in einem dritten Schritt dazu, zwei zusammenhangende Forschungsprobleme zu diskutieren. Diese sind Generalisierung und Ethnozentrismus. Generalisierung ist danri problematisch, wenn sie eine Homogenitatsannahme unterstellt, die von den Daten nicht getragen wird. Homogenitat erweist sich in dem Moment als falsch, in dem gezeigt werden kann, dass eine „Ubersetzung" von kulturellen Deutungs- und Handlungsmuster durch Akteure in Positionen bzw. Rollen stattfindet. Cappai zeigt diese Ubersetzungsleistung bei der untersuchten Gruppe am Beispiel der Dimensionen von Geschlecht und Generation. Ethnozentrismus besteht nach Auffassung des Autors darin, dass der Forscher die Kontrastfolie, aufgrund derer etwas als etwas sichtbar wird, nicht reflektiert. In der Thematisierung des Standortes des Forschers als Interpreten, in der Explikation seiner Standortgebundenheit, sieht der Verfasser des Aufsatzes einen Ausweg aus dem Ethnozentrismus. Shingo Shimadas Beitrag Die „dichte'' Lebensgeschichte - Oberlegungen zu den Methoden der empirischen Sozialforschung im interkulturellen Kontext beruht auf zwei methodologischen bzw. methodischen Grundvoraussetzungen: die erste ist, dass biographische Erzahlungen sozialen Akteuren die Moglichkeit geben, selbst zu Wort zu kommen; die zweite ist, dass die Sinnproduktion im Medium von Erzahlung nicht als individueller Akt betrachtet werden kann, denn sie enthalt stets eine soziale Dimension. Shimadas Absicht ist es, die Verschrankung von Selbst und Kultur, genauer: das Verhaltnis von Selbstkonzeptualisierung und vorhandenem kulturellen Erzahlmuster ins Zentrum der Analyse zu riicken. Dieses Verhaltnis wird von ihm am Beispiel der Lebenserzahlung eines japanischen Topfers illustriert. Gleich am Anfang des analysierten Interviews wird nach Shimada die Tendenz sichtbar, die die ganze Erzahlung pragt: „Das Selbst wird stets in der Zugehorigkeit zu unterschiedlichen Institutionen dargestellt, und auch die spateren Erfolge werden nicht durch die eigenen Leistungen erklart."^^ Im allgemeinen, so Shimada, gilt die theoretische Annahme, dass der Forscher nur dann in der Lage ist, tiefer liegende Erzahlstrukturen angemessen zu interpretieren, wenn dieser die Interpretationsarbeit als eine im Gespann von Shimada in diesem Band (S. 268).
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Wissenssoziologie und Geschichte zu vollziehende Tatigkeit begreift. Nur dann ist der Forscher in der Lage, die Dialektik von Anpassung an traditionelle gesellschaftliche Erwartungen und Abweichung von diesen Erwartungen richtig zu wiirdigen. Ist man in der Lage, die Oberflachenstruktur der analysierten Erzahlung zu durchschauen, so taucht hinter einem scheinbar willenlosen Subjekt ein selbstbewusstes und gelegentlich auch entscheidungsfreudiges Individuum auf. Um zu dieser tieferen Dimension zu gelangen, muss man allerdings zwischen der Anpassung des Erzahlers an normative Erzahlvorgaben im Sinne der Gestaltung einer „guten" Geschichte einerseits und einer tatsachlichen biographischen Entwicklung anderseits unterscheiden. Shimada wamt vor der Unterschatzung dieses kulturellen Gebots und weist dabei auf typisch westlichen Erzahlstrukturen hin: „Die in Deutschland haufig anzutreffende narrative Darstellung der ,Selbstverwirklichung' wiirde hier das Ziel der positiven Inszeniemng des Selbst verfehlen, weil sie als eine iibertriebene Selbstzentriertheit der Perspektive interpretiert wiirde".^' Aus der Interpretation der Biographic des japanischen Topfers zieht Shimada folgenden Schluss: „Bei der Interpretation eines Interviewtextes muss man nicht nur die semantischen Inhalte, sondem auch das in ihm implizit enthaltene und kulturell bedingte Erzahlmuster beriicksichtigen".^^ Verfahrt man auf diese Weise, dann lasst auch ein relativ „ungeplanter" Lebenslauf nicht den Schluss zu, Intentionalitat und Entscheidungbereitschaft seien hier nicht vorhanden. Bei dem analysierten Fall wird nach Shimada deutlich, dass die Biographic weniger als autonomes Verwirklichungsprojekt, als eine Weise der gesellschaftlichen Einbindung aufgefasst werden muss. Arnd-Michael Nohls Beitrag Verstdndigung zwischen Milieus in dokumentarischer Interpretation reflektiert das Thema der interkulturellen Kommunikation unter kompetenztheoretischer Perspektive. Es geht bei ihm genauer um die Frage der Fahigkeit des Wissenschaftlers, unter Bedingungen von Interkulturalitat mit den Beforschten kompetent zu interagieren. Ein grundsatzliches Problem in diesen Situationen sieht Nohl dann gegeben, wenn Forscher der Tatsache keine Rechnung tragen, dass ihre in Einsatz gebrachte Begrifflichkeit an den common sense der eigenen Gesellschaft gebunden ist. Gleichzeitig macht Nohl darauf aufmerksam, dass es unterhalb der gesellschaftlichen noch eine Ebene von Sozialitat gibt, welche die Handlungspraxis strukturiert. Es handelt sich dabei um die Sozialitatsebene von Gruppen und Milieus.
''Ebenda(S.271). ' ' Ebenda (S.272).
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Diese Feststellung veranlasst Nohl dazu, sich von jenen Positionen zu distanzieren, fur die interkulturelle Kommunikation unterschiedliche Kulturen, im Sinne von „Nationalkulturen", voraussetzt. Im Gegensatz zu dieser verbreiteten Auffassung fmdet sich interkulturelle Kommunikation nach Nohl „schon dort, wo Menschen aus unterschiedlichen Milieus aufeinander treffen".^^ Am Beispiel von zwei Gruppen von Jugendlichen - die erste mit Migrationshintergrund, die zweite hingegen ohne - geht Nohl dann der Frage nach, wie interkulturelle Kommunikation zu einem „Stolperstein" fur die Forschung werden konnte. Dabei ist das Gruppendiskussionsverfahren die Methode, anhand derer er typische milieuspezifische Kommunikationsstile zu rekonstruieren versucht. Bin interessanter Befund von Nohls Analyse ist, dass bei der Gruppe der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund der Forscher „auf die in der Gruppe iiblichen nahweltlichen Reziprozitatsbeziehungen verpflichtet" wird „ohne dass dessen Fremdheit auch nur in Betracht gezogen wird".^^ In diesem Verhalten dokumentiert sich nach Nohl die Tatsache, dass die Gruppe grundsatzlich assimilatorisch denkt und fundamentale handlungsrelevante Unterschiede nicht kennt. Zu dieser Gruppe bilden die in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen mit Migrationshintergrund einen maximalen Kontrast. Letztere thematisieren die Unterschiedlichkeit von Lebenslaufen und sozialen Positionen und nehmen den Forscher als einen Fremden wahr. Abgeschlossen wird Nohls Beitrag mit einer Analyse des Bedeutungsunterschiedes des Begriffes „Respekt" bei beiden Gruppen. Wahrend dieser Begriff bei den autochthonen Jugendlichen fur eine umfassende Reziprozitat steht, die alle sozialen Beziehungen - auch jene zu Fremden - strukturiert, ist derselbe Begriff bei der allochthonen Gruppe partikularistisch gemeint. Dadurch wird nach Nohl eine Trennung von innerer und auBerer Sphare dokumentiert. Von moralischen Zuschreibungen ist nur die erste, nicht die zweite Sphare betroffen. Bei dieser selektiven Einklammerung handelt es sich um eine Strategic, die den Jugendlichen erlaubt, mit ihrer sozialen Umwelt zurechtzukommen. Hauptbezugspunkt von Rainer Kokemohrs Beitrag Kulturelle Prdflgurationen sozialer Interaktion. Methodologische Fragen interkultureller Kooperation, diskutiert an einem Beispiel aus Kamerun ist eine Gruppendiskussion, die im Rahmen einer padagogischen Konferenz stattgefundenen hat und an der 16 Einheimische und zwei „WeiBe" beteiligt waren. Thema der Gruppendiskussion und der darauf folgenden Analyse sind Strategien der Rechtfertigung bzw. Ausblendung von Gewalt gegeniiber einem behinderten Kind seitens anderer Kinder.
^^ Amd-Michael Nohl in diesem Band (S. 290). ^^ Ebenda (S. 293).
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In Anlehnung an Berger und Luckmann setzt Kokemohrs Diskussion an der Unterscheidung von primarer und sekundarer Sinnwelt an: in fremdkulturellen Kontexten konnen Forscher nicht den Anspruch stellen, primare Sinnwelten zu rekonstruieren; sie konnen lediglich eine sekundare Sinnwelt „reprasentieren". Auf der Stufe primarer Sozialisation kann es weder die Vorstellung konkurrierender Welten noch Zweifel an der Existenz der „einen" Welt geben. Erst sekundare Sozialisation, so Kokemohr, ermoglicht es, die eigene Welt zum Thema zu machen, sie zu beschreiben, sie zu verteidigen oder auch sie in Frage zu stellen. Der explizite Bezug auf eine in primarer Sozialisation angeeignete Wirklichkeit ist nach Kokemohr immer nur in einer sekundaren Semantik realisierbar: „Jeder Versuch, eine Wirklichkeit primarer Sozialisation sprachlichsymbolisch zu reprasentieren, setzt eine Position der Differenz voraus, von der aus sie nicht als solche in den Blick genommen, sondem stets nur mittels des symbolischen Inventars einer sekundaren Wirklichkeit rekonstruiert werden kann".^^ Gleichwohl postuliert Kokemohr zwischen den beiden Wirklichkeitskonstruktionen keine radikale epistemische Zasur, denn fur den Einheimischen bleiben die symbolischen Mittel der Zuwendung zur eigenen Wirklichkeit von den Sedimenten seiner primaren Sozialisation „impragniert", anders hingegen die Position des Fremden, der gerade diese Sedimentierung nicht aufweisen kann. Am Beispiel der Behinderung illustriert Kokemohr, wie unterschiedliche kulturelle Perspektiven, die sich unterschiedlicher „prafigurativer" Elemente bedienen, unterschiedliche Defmitionen eines "gemeinsamen" Diskursobjekts liefem. Es handelt sich dabei um eine Definition, die freilich auch Konsequenzen im Hinblick auf die Praxis von Exklusion und Inklusion hat. Der padagogischen Sicht der „WeiBen", welche die Zuwendung zu den Benachteiligten reklamiert, steht die traditionsbedingte Sicht der Kameruner entgegen, die vor ungeahnten Konsequenzen mahnt. Kokemohrs Relativismus wird dadurch abgemildert, dass er die Moglichkeit einraumt, im Austausch mit einheimischen Interpreten zu sinnvollen Wirklichkeitsrekonstruktionen zu kommen. Kulturell determinierte Prafigurationen und Figurationspotenziale lassen sich am besten in enger Kooperation mit einheimischen Interpreten erschlieBen. Ob letztlich die vom Wissenschaftler vorgenommenen Interpretationen angemessen sind, kann, so Kokemohr, nur in fortgesetztem handlungspraktischen Austausch festgestellt werden. Kokemohrs Beispiel verfolgt die Absicht, nicht nur Differenz, sondem auch Konkurrenz der Sinnwelten zu zeigen. Die zwei kontrastierenden Positionen werden von ihm als ' Kokemohr in diesem Band (S. 308).
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das Produkt eines unterschiedlichen Konstruktionsvorganges zum Zweck kultureller Identitatsbehauptung angesehen. Till Forsters Beitrag Mediale Fremde. ,,Afrikamsch" sehen - „europdisch" erkennen? beschaftigt sich mit dem Phanomen der visuellen Kultur, also der Moglichkeit, dem Bildhaften Sinn zu verleihen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die Frage, wie sich visuelle Kultur in einer nichtwestlichen Gesellschaft aus einer ethnologischen Perspektive erfassen, beschreiben und analysieren lasst. Die zentrale Annahme ist dabei, dass die „visuelle Kultur afrikanischer Stadte, weder bloBer historischer Kontingenz geschuldet ist noch in den Idiosynkrasien der dort lebenden Menschen aufgeht. Sie ist in einem hohen MaBe gesellschafllich."^^ Diese Annahme wird dann allerdings von Forster im Zuge der Argumentation dahingehend spezifiziert und korrigiert, dass das „Visuelle" selbst und sein Wirken, ohne seine gesellschaftlichen Beziige und Abhangigkeiten in den Blick genommen wird. Es muss nach Forster die Wahmehmung, es muss die Aisthesis als ein eigenstandiger Modus des Erfahrens thematisiert werden. Forster spricht dem Visuellen einen besonderen ontologischen Status zu. Es gilt vor allem, dieses von der Sprache abzugrenzen: Das Visuelle, so Forster, kann nicht zu einem bloBen Reflex der Sprache gemacht werden; es reproduziert sich gesellschaftlich sowie in der Alltagserfahrung des Einzelnen anders als sprachliche Sinngebilde. So betrachtet, stellt nach Forster das Visuelle flir den empirisch vorgehenden Forscher eine doppelte Herausforderung dar: Zum einen muss die Frage beantwortet werden, wie weit Visuelles unverklirzt sprachlich wiedergegeben werden kann, zum anderen stellt sich das Problem, ob eine Ubersetzung des Visuellen zwischen Kulturen moglich ist. Forster versucht diesen Fragen unter Bezugnahme auf seine eigene Feldforschung in der Stadt Bamenda im Nordwesten Kameruns nachzugehen. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich dabei vor allem auf Bildtafeln als ein allgegenwartiges Medium kommerzieller Werbung. Als Kombination von Bild und Text stellen diese Tafeln meistens ein Resultat von Aushandlungsprozessen zwischen Auftraggeber und Maler dar. Ein Aushandeln ist in Forsters Sicht insofem unvermeidlich, als beide Akteure meistens unterschiedliche Intentionen artikulieren und unterschiedliche Wissensbestande zum Einsatz bringen. Die zentrale Frage ist hier: Wenn die Sprache in der Interaktion versagt, was tritt dann an ihre Stelle? Wenn die Sprache nicht weiter hilft, so Forster, dann muss auf Bilder zuriickgegriffen werden: Die Verstandigung uber Bilder fmdet im Medium von Bildem statt. Dabei erweist sich vieles als brauchbar: Verpackun-
^^ Forster in diesem Band (S. 330).
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gen, Ausschnitte aus illustrierten Magazinen, Femsehstars, oder eben andere Werbetafeln. Methodisch relevant ist in diesem Zusammenhang Forsters Annahme, dass man mit dem Befragen der in der Interaktion involvierten Akteure nicht weiter kommt und selbst die Beobachtung bald an ihre Grenzen stoBt. Die Kommunikation bleibt hier also auf die Dimension des Visuellen angewiesen.
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I. Strategien im Forschungsfeld
Wissenschaft auf Reisen. Dichte Teilnahme und wissenschaftlicher Habitus bei Heinrich Barths Feldforschung in Afrika Gerd Spittler
Einleitung Die Forschungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts waren und sind zwei Kritikpunkten ausgesetzt, durch die ihre wissenschaftlichen Ergebnisse in Zweifel gezogen werden. Der eine Kritikpunkt bezieht sich auf die Mobilitat, die eine grtindliche Forschung an einem Ort verhindere und daher nur oberflachliche Ergebnisse zeitige. Der zweite Vorwurf bezieht sich auf die fehlende wissenschaftliche Infrastruktur der Reisenden, die den Dilettantismus begunstige. Die Kritiken beziehen sich sowohl auf Natur- wie Kulturforscher. In diesem Aufsatz gehe ich nur auf die Probleme der ethnographischen Forschung ein. Am Beispiel des Afrikaforschers Heinrich Barths zeige ich, wie diese Schwierigkeiten gelost und aus der Not sogar eine Tugend gemacht werden konnte. Ein Vergleich Barths mit Malinowski, dem Grundervater der ethnologischen Feldforschung, zeigt, dass Barth die dichte Teilnahme am Leben der einheimischen Bevolkerung intensiver praktizierte als Malinowski (1). Wird diese Nahe aber nicht durch wissenschaftliche Distanz erganzt, dann sind die wissenschaftlichen Ergebnisse gefahrdet. Das wird beim Vergleich Barths mit seinem Begleiter Overweg deutlich. Im folgenden Kapitel (2) behandle ich die Frage, wie Barth trotz widriger Reisebedingungen die institutionellen Voraussetzungen fiir Wissenschaft etablierte und wie es ihm gelang, nicht nur seine Forschung durchzufiihren, sondem auch die Ergebnisse aufzuzeichnen, auszuarbeiten und zu sichern. Dariiber hinaus transformierte er die Reise zu einer wissenschaftlichen Institution (3), indem er das Potential unterschiedlicher Reisetypen (vor allem Karawane und kleine Reisegruppen) und die Kontakte mit seinen Mitreisenden nutzte. Last but not least blieb er trotz groBter Schwierigkeiten auch in ein wissenschaftliches Netzwerk in Europa eingebunden (4). Er fiihrte eine umfangreiche Korrespondenz mit europaischen Gelehrten, aus der zahlreiche Publikationen schon wahrend seiner Afrikareise resultierten. Im Schlusskapitel (5) fasse ich die Ergebnisse zusammen und gehe dariiber hinaus auf das Verhaltnis von Forschung im Feld und Ausarbeitung der Ergebnisse zu Hause ein.
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1. Dichte Teilnahme: Malinowski, Barth und Overweg Ethnographische Berichte uber fremde Volker haben eine lange Tradition. Die wichtigsten Autoren waren Reisende, Kolonialbeamte und Missionare. Als sich die Ethnologie Ende des 19. Jahrhunderts als Universitatsfach zu institutionalisieren begann, blieben die Ethnologen zunachst in den Universitaten und werteten diese ethnographischen Berichte fur ihre Theorien aus. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich zunehmend die Norm durch, dass Ethnologen selbst ins Feld gehen sollten. Damit verbunden war eine Abgrenzung gegeniiber den bisherigen Verfassem von Ethnographien. Ihnen wurde ethnologische Inkompetenz, Oberflachlichkeit, koloniale Interessen und - im Falle der Reisenden - der Unterhaltungscharakter ihrer Reiseberichte vorgeworfen. Alle wurden auBerdem dafur kritisiert, dass sie nicht nahe genug am Leben der Eingeborenen teilnahmen und daher nicht objektiv uber sie berichten konnten. Wenn wir wissen wollen, wie Feldforschung vor der Institutionalisierung der Ethnologie wirklich betrieben wurde, diirfen wir uns nicht auf die Aussagen der Grundervater der Ethnologie, die um die Institutionalisierung ihres Faches kampften, verlassen, sondem mlissen uns den Forschungsmethoden der Reisenden selbst zuwenden. Instruktiv ist hier ein Vergleich zwischen Bronislaw Malinowski, der wahrend des ersten Weltkrieges auf den Trobriandinseln seine Untersuchungen durchfuhrte und als Begrunder der modemen ethnologischen Feldforschung gilt, und Heinrich Barth, der als einer der bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste Afrikaforscher des 19. Jahrhunderts angesehen wird.^ Malinowski (1884-1942) studierte in seiner Vaterstadt Krakau Naturwissenschaften und Philosophic und wurde 1908 mit einer Arbeit liber Avenarius und Mach promoviert. Nach einem zweijahrigen Studium in Leipzig, u.a. bei Wilhelm Wundt und Karl Bticher, ging er nach London und studierte dort an der London School of Economics Ethnologie. 1914, als 30jahriger, begann er seine Feldforschung auf den Trobriandinseln, fur die er dann beruhmt werden sollte. In der Einleitung zu „Argonauten des westlichen Pazifik" („Argonauts of the Western Pacific" 1922, dt. 1979), die jeder Ethnologe kennt, formuliert Malinowski sein Credo fur eine angemessene Feldforschung. Es ist zum einen die „objektive, wissenschaftliche Sicht" des Ethnologen, die ihn von den „unbedeutenden Amateurarbeiten" (1979: 28) der Verwalter, Missionare und Handler Da es hier auch um nationale Sensibilitaten geht, fiihre ich einige nichtdeutsche Autoren verschiedener Nationalitat an, die diese Ansicht vertreten: Rodd (1926), Boahen (1964), Curtin (1964), Lhote (1967), Kirk-Greene (1970). Bis vor kurzem war die Anerkennung Barths in Deutschland geringer als die anderer deutscher Afrikaforscher wie Nachtigal, Rohlfs, Schweinfurth. Barth gereichte es zum Nachteil, dass er seine Reise im Dienste der englischen Regierung durchgefiihrt hatte. Auch war die Lektiire seines fiinfbandigen Reiseberichtes nicht durchweg unterhaltsam.
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abhebt. Wichtig ist vor allem die Methode, wobei der Nahe zu den Eingeborenen eine zentrale Bedeutung zukommt.^ Der Ethnologe soil den Kontakt mit WeiBen meiden, mitten unter den Eingeborenen leben und ihre Sprache sprechen. Der Titel des Kapitels, in dem Malinowski dies ausfiihrt, heiBt: „Das Leben in einem Zelt unter den Eingeborenen. Techniken, urn mit ihnen in Beriihrung zu kommen". Die ersten beiden Fotos im Buch zeigen das Zelt Malinowskis in der Nahe der Hlitten von Eingeborenen. Heinrich Barth (1821 bis 1865) wurde 1844 in Berlin in alter Geschichte mit einer in Latein verfassten Dissertation liber .die Handelsbeziehungen im alten Korinth promoviert (Barth 1844/2002). Danach unternahm er eine mehr als zweijahrige Reise um das Mittelmeer, deren Ergebnisse unter dem Titel „Wanderungen durch die Kiistenlander des Mittelmeeres" publiziert wurden (Barth 1849). Mit dieser Arbeit habilitierte sich Barth als 27jahriger 1848 in Berlin im Fach Geographie. Am bekanntesten wurde Barth durch seine daran anschlieBende fiinfjahrige Afrikareise von 1849 bis 1855. Die Forschungsergebnisse wurden 1857 und 1858 in einem funfbandigen Werk mit tiber 3500 Seiten publiziert: „Reisen und Entdeckungen in Nord- und Central-Afrika in den Jahren 1849 bis 1855". Neben einer Reihe von Aufsatzen erschien 1862 die „Sammlung und Bearbeitung central-afrikanischer Vocabularien" Barths Werk ist in vielen Disziplinen angesiedelt, wobei in erster Linie Geographie, Geschichte, Ethnographie und Linguistik zu nennen sind.^ Ahnlich wie Malinowski formuliert Barth im Anschluss an eine negative Erfahrung sein Feldforschungscredo, das allerdings nicht dieselbe Beriihmtheit erlangte wie Malinowskis Text. Barth reist zunachst als Mitglied einer vom britischen Foreign Office fmanzierten und von James Richardson geleiteten Expedition. Nach Richardsons Tod im Marz 1851 wird Barth die Leitung der Expedition iibertragen. Als weitere Wissenschaftler gehoren der Geologe Adolf Overweg und ab 1854 der Astronom Eduard Vogel dazu. Von den vier europaischen Teilnehmem iiberlebt Barth als einziger. Die Ausrustung der in Tripolis startenden Expedition, zu der neben ca. 50 Messinstrumenten Waffen, ein zerlegbares Boot, Zelte, Tische, Betten, Kochausriistung, Geschenke und Esswaren gehoren, wird auf 40 Kamele geladen, bevor sie ihren Weg durch die Sahara nimmt.
^ Dieses Postulat beruht auch auf den schlechten Erfahrungen einer ersten Feldforschung im Stiden von Neuguinea, die Malinowski ohne adaquate Sprachkenntnisse als „ambulant ethnologist of a short visit" (Malinowski 1915: 630) durchgefiihrt hatte. ^ Eine gute Ubersicht bietet der von Schiffers herausgegebene Band "Heinrich Barth. Ein Forscher in Afrika" (Schiffers 1967a). Siehe auch "Heinrich Barth et I'Afrique" (Diawara/Farias/Spittler 2006).
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Barth steht dem Expeditionsstil von vomeherein kritisch gegentiber, da das viele Gepack Rauber anziehe und die interne Organisation der Expedition Kontakte mit den Einheimischen verhindere. Als sich die Europaer nach einem Jahr voneinander trennen, empfindet Barth nicht Trauer, sondem Gliick. Die Trennung von Overweg im Januar 1851 veranlasst ihn zu folgendem Kommentar: „Ich setzte also nun meine Reise allein fort, war indes nicht sehr betriibt dartiber, da ich von Jugend an gewohnt gewesen, allein unter fremden Leuten zu wandem, und begann mich umso enger an meinen schwarzen Freund Gadjere anzuschlieBen" (Barth 1857, II: 14). Sein schwarzer Freund Gadjere ist ein Sklave des Tuareghauptlings Annur, der ihn auf der Reise nach Katsina begleitet und nicht nur Barths zahlreiche Fragen beantwortet, sondem ihn auch spontan auf Dinge hinweist, auf die Barth wahrend der Reise seine Aufmerksamkeit richten soil. Die nachsten vier Jahre reist Barth fast nur noch in afrikanischer Begleitung."^ Barth nutzt die erstbeste Gelegenheit, urn die Expedition zu verlassen. Als sich im Oktober 1850 die Moglichkeit bietet, mit einigen Tuareg nach Agadez zu reisen, sagt er sofort zu. Obwohl ihm alle seinen sicheren Untergang prophezeien, verzichtet er auf jede Ausriistung und personelle Unterstiitzung vonseiten der Expedition. Er reist mit mehreren Kel Ewey Tuareg unter Fiihrung von Hamma, dem Schwiegersohn des Tuareghauptlings Annurs. Barth schildert die erste Ubemachtung nach dem Aufbruch: "Um die Aufmerksamkeit der Eingeborenen so wenig als moglich auf mich zu ziehen, hatte ich kein Zelt mitgenommen und schiitzte mich diese Nacht unter dem natiirlichen Dache einer vorspringenden Felsmasse, wahrend die Kel-Owi rund um mich her schliefen" (Barth 1857, I: 410). Dieser unscheinbare Satz gibt ein Schlusselerlebnis von Barth wieder. Seine Geborgenheit gewinnt er aus der Anpassung an die Umwelt: Er schlaft inmitten der Kel Ewey und verzichtet auf ein Zelt, well es zu auffallig ware. Der wissenschaftliche Ertrag dieser einmonatigen Reise nach Agadez ist groB. Als erster Europaer liefert Barth eine Beschreibung der Geschichte und des Alltagslebens in Agadez, die bis heute eine wichtige Quelle darstellt. Die Parallelen zwischen Malinowski und Barth sind evident, nur ist bei Barth alles radikaler. Die Professionalisierung ist bei Barth insofem ausgepragter, als er bei Antritt seiner Reise als 28jahriger nicht nur promoviert, sondem habilitiert ist. Wahrend fiir Malinowski das Zelt den Gipfel der Anpassung an das Leben der Eingeborenen darstellt, ist es fur Barth ein Ausdmck europaischer Barth trifft Overweg 1851 und 1852 in Kukawa, der Hauptstadt der Bomureiches, wieder. Aber auch dort bleibt es bei kurzen Begegnungen, wahrend jeder seinen eigenen Untemehmungen nachgeht. Nur eine zweimonatige Expedition nach Kanem untemehmen sie gemeinsam. Mit Vogel bleibt Barth 1855 drei Wochen zusammen.
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Distanz.^ Wahrend Malinowski vom Ethnologen fordert, dass er Abstand zu den WeiBen halt, deren Haus aber gelegentlich als Refugium nutzen darf, trennt sich Barth leichten Herzens von seinen beiden weiBen Begleitern und reist die nachsten Jahre ohne europaische Begleitung. Wahrend MaHnowski stolz auf seine trobriandischen Sprachkenntnisse ist, beherrscht Barth sechs afrikanische Sprachen und arbeitet wahrend der ganzen Reise ohne Dolmetscher. Wahrend MaHnowski auf einen mehrjahrigen Feldaufenthalt, allerdings mit Unterbrechungen, hinweisen kann, reist Barth funfeinhalb Jahre ohne Unterbrechung in Afrika. In meinem Aufsatz „Teilnehmende Beobachtung als Dichte Teilnahme" betone ich, dass "dichte Teilnahme" ein wesentliches Element ethnologischer Feldforschung sei (Spittler 2001). Ich habe in frtiheren Aufsatzen darauf hingewiesen, dass sie im 19. Jahrhundert von vielen Forschungsreisenden, vor allem von Barth, intensiver praktiziert wurde als von den Ethnologen des 20. Jahrhunderts (Spittler 1987, 1996, 2006).' Gerade in dieser Radikalitat wird aber auch die Problematik der Methode deutlich, und dies ist hier das Thema. Wissenschaft als Institution kann unter diesen Bedingungen nur schwer aufrecht erhalten werden. Ein gutes Beispiel liefert Adolf Overweg, der naturwissenschaftliche Begleiter Barths. Nach der Trennung der drei Reisenden im Januar 1851 reist Overweg allein weiter. Er erkrankt am Tchadsee und stirbt am 27. September 1852 im Alter von 30 Jahren. Wie aus dem Tagebuch Richardsons hervorgeht, hat Overweg von den drei Reisenden den besten Kontakt zur einheimischen Bevolkerung und passt sich deren Lebensweise an. Er probiert nicht nur einheimische Gerichte aus, sondem kocht sie sogar selbst (Richardson, 1853: 189). Er untemimmt Ausfliige in die Dorfer und Hiitten, wo er freundlich aufgenommen wird (S. 222, 227). Im Gegensatz zu Richardson und Barth wird er z.B. zu einer Hochzeit eingeladen und erhalt dort Geschenke (S. 184).
Wie wir spater sehen werden, benutzt auch Barth haufig ein Zelt. Der Punkt ist nicht der Besitz oder Nichtbesitz eines Zeltes, sondem die Einsicht, dass das europaische Zelt nicht Nahe, sondem Distanz zur einheimischen Bevolkerung schafft. Barth reflektiert das an verschiedenen Stellen, Z.B.: „Wahrend wir mein Zelt aufschlugen - es war das einzige im ganzen Lager und damm, wenn auch unscheinbar und klein, doch hochst auffallig und hervorragend" (Barth 1857, II: 48). Bei einem anderen Anlass bemerkt er, dass sein Zelt bei den Auellimiden Tuareg "stets einen Gegenstand des lebhaftesten wissenschaftlichen Streites abgab" (I: 466). In dieser unterschiedlichen Beurteilung des Zeltes zwischen Barth und Malinowski driickt sich ein Epochenwandel aus. Wahrend Barth in vorkolonialer Zeit in Gebieten reist, die noch nie oder selten einen Europaer erlebt hatten, forscht Malinowski in der Kolonialzeit. Die Europaer wohnen in festen Stationen, und das Zelt ist hier in der Tat Ausdmck einer Annahemng an die "Eingeborenen". Siehe dazu auch Kirk-Greenes Artikel "Heinrich Barth. An exercise in empathy" (1970).
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Overweg ist von liebenswlirdiger Art und besonders gesellig.^ Sein Jagdeifer verschafft ihm Freunde und mehr noch seine Tatigkeit als Arzt. Die Patienten, auch viele Frauen, kommen oft von weither, um sich von ihm behandeln zu lassen. Er kann sich in Hausa mit den Einheimischen unterhalten. Aufgrund seiner dichten Teilnahme besitzt Overweg daher alle Voraussetzungen, tiber seine naturwissenschaftlichen Beobachtungen hinaus „mit den Sitten und Gebrauchen" bekannt zu werden und einen wichtigen ethnographischen Beitrag zu leisten, vor allem dort wo Barth, der Ethnograph der Expedition, nicht dabei ist. Das gilt vor allem fiir die Stadte Maradi und Tibiri, die zuvor kein Europaer betreten hatte und die Overweg als einziges Expeditionsmitglied zwei Monate lang besucht. Maradi und Tibiri sind die Hauptstadte zweier alter Hausakonigreiche, die von Usman dan Fodio in einem heiligen Krieg zu Beginn des 19. Jahrhunderts erobert wurden. Deren Herrscher zogen sich mit ihrem Gefolge in den Norden zurtick und fuhrten von dort aus wahrend des ganzen 19. Jahrhunderts Krieg mit dem Sokoto Kalifat. An den Besuch von Overweg kniipfen sich daher groBe Erwartungen. In einem Brief an Lepsius schreibt Barth: „Ich bin iiberaus begierig, was Overweg in Maradi ausgeforscht hat; eine ganz neue vollig unbekannte Welt dort und eine Reihe verschiedener Sprachen" (Gumprecht 1852: 334). Barth stellt allerdings bei Sichtung des Nachlasses nach Overwegs Tod fest, dass dessen Notizen nicht mehr hergeben als einige Namen (Barth 1857, II:. 427).^ Trotz der dichten Teilnahme am Leben der einheimischen Bevolkerung und den exzellenten Kontakten ist der wissenschaftliche Ertrag dieses zweimonatigen Aufenthalts nahezu null. Overweg versaumt es, seine Untersuchungen systematisch anzulegen und sie schriftlich zu fixieren und auszuarbeiten. Erhalten sind liber diesen Aufenthalt neben einigen Blattem mit Notizen nur zwei Briefe. Den einen habe ich oben zitiert, den anderen schrieb Overweg nach Beendigung seines Aufenthaltes in Maradi an Professor Ritter in Berlin (Gumprecht 1852: 337). In diesem Brief betont Overweg zwar, dass diese beiden Lan-
' iJber die Stadte Maradi und Tibiri, die er als erster Europaer betritt, berichtet er in einem Brief an seine Schwester: „A\\e Tage ging ich mit den Eingeborenen auf Jagdziige aus, auBerdem war meine Kost gut, so dass ich mich der besten Gesundheit erfreute (...) Es war daher sehr interessant fur mich, unter diesen Negem zu leben, die ihren afrikanischen Charakter von arabischem Einflusse unbeeintrachtigt beibehalten haben. Als ein Besucher aus den weit entfemten Landem der Christen wurde ich von dem Sultan und den Einwohnem mit der auBersten Giite aufgenommen; und da ich mich mit ihnen in ihrer Sprache unterhalten konnte, so wurde ich mit ihren Sitten und Gebrauchen wohl bekannt, und konnte ihnen dagegen einige Ideen von denen der Christen geben" (Richardson 1853: 339). ' Die Enttauschung gilt auch fiir den Verfasser dieses Artikels, der bei seinen Forschungen iiber das Konigreich Gobir von Overweg nur einige Blatter mit wenigen Stichworten im Hamburger Staatsarchiv fand.
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der von besonderem Interesse seien, berichtet dann aber nur wenig iiber sie. Auch Gumprecht, der den Brief publiziert, kann seine Enttauschung nicht verbergen und nennt „den Bericht dieses Reisenden ziemlich kurz und ungeniigend" (Gumprecht 1852: 336). Wie Richardson beschreibt auch Barth die guten Kontakte Overwegs zu den Einheimischen, sieht sie allerdings kritischer: „Herr Overweg hatte groBes Geschick, sich mit den Eingeborenen zu befassen und wiirde, wenn es ihm beschieden gewesen ware, gliicklich zuriickzukommen, gewiss einen interessanten, lebensvoUen Reisebericht entworfen haben. Aber er verlor eben dartiber fast alle seine Zeit fiir ernstere wissenschaftliche Untersuchungen. Dies ist besonders zu bedauem bei seiner Beschiffung des Tschadsees, wo sein Tagebuch, wie es jetzt vorliegt, iiber die interessantesten physikalischen Verhaltnisse nichts sagt" (Barth 1857, III: 145).^ An anderer Stelle kritisiert Barth Overweg dafur, dass er den einheimischen Herrschem zu sehr zu Diensten sei: „Er verlor daher mit der Reparatur oder vielmehr mit dem Versuche der Reparatur ihrer Uhren und dergleichen Dingen unendlich viel von seiner kostbaren Zeit (...) Solche Dienste hatte ich gleich von Anfang an abgelehnt und wurde daher als minder niitzHch betrachtet..." (Barth 1857, III: 8). Es sind aber nicht nur die Kontakte mit den Einheimischen, die Overweg an der Ausarbeitung seiner Notizen hindem. Es ist auch seine optimistische und lebensfreudige Natur, die ihn dies auf spater verschieben lasst. Er lacht iiber Barth, wenn dieser seine Notizen ausarbeitet und sagt ihm, dass man dies erst nach der Heimkehr machen solle (Barth 1857,11:422).'^ Barth kiimmert sich gewissenhaft darum, den Nachlass von Richardson und Overweg nach Europa zu senden. Das gut ausgearbeitete Tagebuch von Richardson dient dann als Grundlage fiir eine Publikation, die noch wahrend Barths Aufenthalt in Afrika erscheint (Richardson 1853). Overwegs Nachlass schickt Barth aus Afrika an August Petermann, der ihn zwar sichten, aber nur wenig verwerten kann. In seinem Nachruf auf Overweg unterscheidet Peter-
Overwegs Tagebuchfragmente uber den Tschadsee sind erst 1965 wieder entdeckt worden und wurden daraufhin publiziert und kommentiert (Overweg 1969, Konrad 1969, Schiffers 1969b). Sie sind ergiebiger als es die AuBerungen von Barth und Petermann vermuten lassen. ^° Barth dagegen ist sich des Risikos des Todes bewusst: „Es ist iiberaus zu bedauem, dass mein unglucklicher Gefahrte, der sich nie recht bewusst zu sein schien, dass sein Leben in Gefahr sei, die Ungewissheit seiner Riickkehr in die Heimath nicht in Erwagung zog und einen Bericht liber seine Forschungen ausarbeitete. Waren alle von ihm nach und nach gesammelten Nachrichten und gewonnenen Anschauungen zu den meinigen hinzugekommen, so wurden diese Lander jetzt viel besser bekannt sein, als es der Fall ist. Anstatt aber seine MuBestunden dazu zu benutzen, eine auch fur Andere lesbare Abschrift seiner Notizen zu machen, lieB er sie sammtlich fliichtig mit Bleistift auf kleine Papierschnitzel geschrieben, so dass sie selbst fiir ihn nach Verlauf einiger Zeit unlesbar werden mussten" (Barth 1857, III: 8f.).
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mann zwischen „vollstandigen, sorgfaltig und deutlich mit Tinte geschriebenen Joumal-Heflen" und „Journalhefte und Notizbiicher, deren Inhalt fast ausschlieBlich mit Bleistift geschrieben und groBtenteils unleserlich ist". Zu den ersteren gehoren die fast vollstandigen Tagebticher vom 9. November 1849 bis 22. Dezember 1850, d.h. die Zeit, in der die Reisenden zusammen waren. Fiir die spatere Zeit gehoren nur noch vier Monate zu diesem Typ, darunter das oben erwahnte Tagebuch iiber den Tschadsee (Petermann 1853: 212f).^^ Gute Ethnographie bedarf offensichtlich nicht nur der dichten Teilnahme, sondem auch eines wissenschaftlichen Habitus, der sie nicht nur erganzt, sondem zu ihr sogar in einem gewissen Widerspruch steht. Wir haben aus den Ausfuhrungen von Barth einige Merkmale kennengelemt: Man muss Wissenschaft emst nehmen und sich nicht durch andere Anregungen ablenken lassen. Man muss seine Beobachtungen und Gesprache schriftlich festhalten und schon unterwegs ausarbeiten. SchHeBlich muss man das Material auch sichern, damit es im Falle des Todes oder anderer Umstande nicht verloren geht. Diesen Fragen wende ich mich in den folgenden Kapiteln zu.
2. Wissenschaft trotz Reise Forschung hangt nicht nur von der Ausbildung, Kompetenz und Kreativitat des Forschers ab, sondem sie steht in einem raumlichen, zeitHchen, materiellen, fmanziellen und personellen Kontext. RaumHch: Wissenschaftler arbeiten nicht an beliebigen Orten, sondem in Arbeitszimmern, Labors, Bibiiotheken und Archiven. Diese Raume bilden auch eine Grenze gegeniiber der AuBenwelt. Nur wer berechtigt ist, darf sie betreten und mit den darin arbeitenden Wissenschaftlern Kontakt aufnehmen. Das ist einfach, wenn es sich um Raume handelt, die in eigenen Gebauden untergebracht sind. Schwieriger, und davon kann jeder Geisteswissenschaftler ein Lied singen, wird es, wenn man zu Hause im sozialen Kontext der Familie arbeitet^l ' Meine Ausfuhrungen beziehen sich hier auf Overweg als Ethnographen. Aber auch der Ertrag seiner astronomischen Ortsbestimmungen war im Vergleich zu den iiberiieferten Beobachtungen Vogels ungeniigend (Petermann 1858: 754f.). Schon friiher hatte sich Gumprecht beschwert, dass zwei Jahre lang keine astronomischen Ergebnisse der Reise geHefert wurden (Gumprecht 1852: 257). Moglicherweise ist die Nachsendung des Astronomen Vogel auch auf die schwachen Leistungen von Overweg zuruckzufuhren (Beck 1967: 161). ^ Der Historiker Gadi Algazi zeigt, wie im 15. und 16. Jahrhundert, als Wissenschaftler nicht mehr im Kloster oder im KoUeg lebten, sondem Familien grundeten und als Gelehrte zu Hause arbeiteten, die Studierstube als wissenschaftliches Refugium durchgesetzt wurde (Algazi 2003). In dieser Zeit entwickelte sich auch der Habitus der Zerstreutheit, der es dem Gelehrten ermoglichte, sich in einer nichtwissenschaftlichen Umwelt zu konzentrieren (Algazi 2001).
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Materiell: Diese Arbeitsraume besitzen eine der Arbeitsweise des Wissenschafllers angemessene Ausstattung: Schreibtische, Stiihle, Lampen, Regale, Blicher, wissenschaftliche Instmmente. Beobachtungen und experimentelle Ergebnisse werden protokolliert, Interviews werden niedergeschrieben. Das ganze Datenmaterial wird an speziell dafur vorgesehenen Platzen untergebracht und fiir zuktinflige Auswertungen und KontroUen gesichert. Zur materiellen Ausstattung gehort auch die Kontrolle iiber die Instmmente und Forschungsobjekte. Der Biologe ztichtet seine Mause und Fruchtfliegen, der Literaturwissenscjiaftler hat iiber einen Katalog Zugang zu den Biichem der Bibliothek, der Historiker kann sich ebenfalls die historischen Dokumente in einem Archiv erschlieBen. Zeitlich: Naturwissenschaftler haben haufig feste Arbeitszeiten wie andere Angestellte. Geisteswissenschafller sind hier freier. Aber auch sie versuchen, einen bestimmten Zeitrhythmus einzuhalten, den sie fur ihre wissenschaftliche Tatigkeit reservieren. Zur wissenschaftlichen Tatigkeit gehort auch eine zeitliche Planung iiber die Durchfuhrung, Auswertung und Publikation der Untersuchungen. Personell: Wissenschaft erfordert sowohl Kontakte mit anderen Wissenschaftlern wie Abgrenzung von Nichtwissenschaftlem. Man diskutiert mit anderen Wissenschaftlem taglich und auf Tagungen. Man steht mit ihnen in brieflichem Kontakt. Auf diese Weise wird die scientific community standig hergestellt. Andererseits darf man sich von Nichtwissenschaftlem wahrend der Arbeit nicht ablenken lassen. Wie ist Wissenschaft moglich, wenn dieser Kontext fehlt? Wenn weder Raum noch Zeit noch ausreichende materielle Mittel vorgesehen sind, wenn es keine anderen Wissenschaftler gibt, aber viele Menschen, die noch nie etwas von Wissenschaft gehort haben, einen bedrangen. Wenn die tagliche Zeitplanung erschwert wird, weil man standig auf andere Personen Rucksicht nehmen muss. Wenn die langfristige Planung iiber die Forschung unmoglich wird, weil man in den Reisezielen und im Reiseweg vollstandig von anderen abhangig ist. Wenn die fmanziellen Mittel unzureichend sind oder sich am falschen Ort befmden oder zum falschen Zeitpunkt eintreffen. War unter diesen Bedingungen nicht die etablierte Einteilung in Sammler, die in Afrika fem von jedem wissenschaftlichen Diskurs Material sammelten und Wissenschaftler, die in Europa in vemiinftig ausgestatteten Universitaten saBen (armchair anthropologists), dieses gesammelte Material vergleichend auswerteten und es damit erst in den Rang von Wissenschaft erhoben, gerechtfertigt? Dies war das Umfeld, in dem Barth und andere Reisende ihre Forschungen durchfiihrten. Wie konnten sie unter diesen Bedingungen Wissenschaft betreiben? War es die Hoffnung auf eine akademische Karriere nach ihrer Riickkehr?
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Dies spielte sicher eine Rolle, aber konnte kaum die jahrelange Aufrechterhaltung eines wissenschafllichen Habitus garantieren. Dies umso weniger, weil das Risiko, in Afrika zu sterben, groBer war als spater eine Professur zu erlangen. Das Risiko des Todes war allerdings fur viele eine Triebfeder, Aufzeichnungen zu hinterlassen, die ihnen zumindest posthum einen Nachruhm als Forscher und Entdecker sichem konnten. Doch konnte die Angst vor dem Tod nicht die regelmaBige und sorgfaltige Arbeit eines Wissenschaftlers garantieren. Dazu bedurfte es institutioneller Formen, die den wissenschaftlichen Betrieb wahrend der Reise sicherten. Earths Forschungsreise auf dem afrikanischen Kontinent beginnt mit der Ankunft in Tripolis am 18. Januar 1850 und endet dort am 28. August. 1855.^^ Sie dauert also iiber fiinfeinhalb Jahre. Earth ist wahrend seines Afrikaaufenthaltes insgesamt 625 Tage unterwegs und legt dabei 15 500 km zuruck (Schiffers 1967b: 19). Earth ist viel unterwegs, aber dennoch macht das Unterwegssein nur etwa ein Drittel seiner Reisezeit aus. In einigen Stadten halt er sich bei einem oder mehreren Aufenthalten langere Zeit auf: Agadez drei Wochen, Kano zwei Monate, Timbuktu sechs Monate, Kuka ein Jahr. Wie kann Earth diese Reise mit den Anforderungen der Wissenschaft verbinden? Earth reist auch nach der Auflosung der Expedition und der Trennung von seinen europaischen Eegleitem nicht voUig ohne Hab und Gut. Zu seiner Ausriistung, die sich zeitweilig auf ein einziges Kamel laden lasst, gehoren Zelt, Schreibtisch, Stuhl, Eucher, Tagebiicher und diverse naturwissenschaftliche Messinstrumente. Die naturwissenschaftlichen Messungen nehmen aber bei Earth nur einen untergeordneten Platz ein. Fiir seine historischen und ethnographischen Interessen sind Eucher am wichtigsten. In einem Erief an Lepsius zu Eeginn seiner Reise schreibt Earth: „Ich habe eine kleine hiibsche Reisebibliothek bei mir, aber ich wiinschte sie noch umfangreicher; so viel MuBe wird dem eifrigen afrikanischen Reisenden zu literarischem Studium gelassen." (Gumprecht 1852: 211). Wir wissen leider nicht genau, wie diese Eibliothek zusammengesetzt war.^"^ Eei den Eiichem geht es nicht nur um den unmittelbaren Nutzen durch den Inhalt der Lektlire, sondem auch um ihre symbolische Eedeutung. Mit einem Euch in der Hand wird die Wissenschaft materiell fassbar. Durch das Lesen kann man iiber einen langeren Zeitraum einen Kontakt mit ihr herstellen. Earths Aufenthalt in Afrika dient aber primar nicht dem Lesen, sondem dem Eeobachten und Fragen. Viele der Eeobachtungen und Gesprache ergaben sich nebenbei wahrend der Reise. Haufig fiihrt er seine Gesprache aber auch als systematische Interviews. Die wichtigsten Informanten in Agadez sind weitge^^ Barth kommt schon am 15. Dezember 1849 in Tunis an. Die Expedition beginnt aber erst nach der Ankunft von Richardson in Tripolis. ^^ Zu den Buchem, die Barth erwahnt, gehoren der Koran, Herodot und Cooley (1966/1841).
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reiste Kaufleute, die Barth wegen ihrer Kenntnisse und Bildung besonders hoch schatzt. Am meisten verdankt er dem Kaufmann Abd-Allah aus Tauat (Barth 1857, I: 459). Barth spricht ihm gegeniiber ausdriicklich seinen Dank aus und erwahnt die „ausgezeichnete Belehrung". Er hebt hervor, dass man das „ganze Vertrauen des Berichterstatters" genieBen muss, wenn man die Wahrheit erfahren will. Er beherrscht die Sprache der Eingeborenen und kann sich mit diesem Kaufmann flieBend in Arabisch und in Hausa unterhalten. AuBerdem uberpriift er die Angaben seiner Gesprachspartner an anderen Orten mit anderen Informanten. Wir haben es hier also mit einem systematischen Interview und nicht einem beliebigen Gesprach zu tun. Dazu gehort auch, dass der Ort festgelegt und der Gesprachspartner bezahlt bzw. mit Geschenken bedacht wird. Barth erwahnt auch, dass er mit dem Forschungsgegenstand voU vertraut ist und weiB, wonach er fragt. Das ist wohl ein Seitenhieb gegen Richardson und Overweg, denen es an historischen Vorkenntnissen mangelt. Die Bemerkung verweist aber auf etwas Allgemeineres. Bei der geringen Ausstattung mit Buchem und dem fehlenden Zugang zu Bibliotheken kommt es entscheidend darauf an, was man frilher gelesen und im Kopf behalten hat. Es gibt vermutlich keinen anderen Afrikaforscher, der mit ahnlich profunden Kenntnissen seine Reise antrat wie Barth. Anders als in Agadez verdankt Barth seine spateren Informationen weniger der Freundschaft mit Kaufleuten als mit islamischen Gelehrten. Er trifft an einem abgelegenen Ort einen Gelehrten, der nicht nur Aristoteles und Plato kennt, sondem sogar deren Werke in arabischer Ubersetzung besitzt.^^ Barth entdeckt auch mehrere, in Europa bisher unbekannte arabische Manuskripte, die er an Ort und Stelle liest und zum Teil exzerpiert (Klein-Franke 1967). Wenn Barth in Afrika die „Geschichte von Nationen" (Barth 1857, I.: 459) und nicht in der Hegelschen Tradition einen geschichtslosen Kontinent beschreibt, dann ist das auch der Perspektive seiner hochrangigen Gesprachspartner zu verdanken. Sie bilden fur ihn vor Ort die wesentliche scientific community. ^^ Wo fmden die Gesprache von Barth statt? Bei kurzen Aufenthalten wird er als Gast in einem bewohnten Privathaus untergebracht und muss sich schlecht ' So z.B. der Fulbe Faki Ssambo in Masena (Bagirmi): „Gewiss konnte ich es kaum erwartet haben, in einem so abgelegenen Orte, wie Masena es ist, einen Mann zu finden, der nicht allein in alien Zweigen der Arabischen Literatur wohlbewandert war, sondem selbst diejenigen Theile von Aristoteles und Plato, die in's Arabische iibertragen oder vielmehr ganz in den Isslam aufgenommen wurden sind, nicht nur gelesen hatte, sondem sie selbst handschriftlich besass, und dem ausserdem die griindlichste Kenntniss von den Landem beiwohnte, die zu besuchen er Gelegenheit gefunden hatte" (Barth 1857,111: 330f.). ' Das hat nicht nur Vor-, sondem auch Nachteile. Bei der Darstellung der von ihm durchreisten Regionen fmden die nichtislamischen und nichtstaatlichen Gesellschaften sicher weniger Beachtung als die islamischen Staaten.
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und recht arrangieren, wenn er Besucher zu Gesprachen empfangt. Oder er sucht sie in deren Wohnung auf. Bei langeren Aufenthalten wird ihm in der Kegel ein eigenes Haus zur Verfugung gestellt, in dem er Besucher empfangen kann. Das gilt zum Beispiel fiir Agadez und Timbuktu.^^ Das Haus dient aber auch als Refugium und als Schutz vor unliebsamen Besuchern. In Agadez verlasst Barth mehrere Tage lang sein Haus nicht. Er schutzte sich damit vor den zudringlichen Agadezer "Frauleins" und nutzt die Zeit zur Ausarbeitung seines Materials. AuBerhalb der Stadte schlagt Barth in der Regel sein Zelt auf.'^ Im Zelt schlaft er und arbeitet mit Tisch, Stuhl und Lampe. Er empfangt Besucher, um sie bei sich zu bewirten, er bestellt Sprachlehrer dorthin, um seine Sprachkenntnisse zu verbessem, er verabredet sich mit Gesprachspartnem, um sie zu interviewen. Das Zelt dient ihm aber auch dazu, um sich zunickzuziehen und von den Strapazen der Kontakte zu erholen. Manchmal traumt er dort von der Heimat.^^ Barth kann seinen Tageslauf nicht immer nach seinen eigenen Vorstellungen einteilen. Zwar versucht er, in seinem Haus oder seinem Zelt einen bestimmten Rhythmus einzuhalten, doch wird er dabei haufig unterbrochen. Besucher kommen nicht immer angemeldet und noch weniger zu einer bestimmten Zeit, sondem besuchen ihn, wie es ihnen passt. Noch weniger gelingt es Barth, einen langfristigen Reiseplan durchzuhalten. Am besten ist das moglich, wenn er mit einem kleinen, von ihm geleiteten Tross reist.^^ SchlieBt er sich dagegen einer Karawane an, dann ist er deren Zeitrhythmus unterworfen und muss sich auch im Weg nach ihr richten. Manches, was ihm interessant erscheint, kann er daher nicht besuchen, z.B. Assode, die Hauptstadt der Kel Ewey Tuareg. Die Reiseroute von Barth war von Anfang an nicht detailliert fixiert worden. Es war jedoch vorgesehen, dass die Expedition nach einem Aufenthalt im Sudan (Bomu und Hausaland) den Kontinent durchqueren und bis nach Mo9ambique vorstoBen wiirde. Dieser Plan erweist sich jedoch als unrealisierbar, spatestens mit dem Tod von Overweg. Barth entscheidet sich dafiir, von Bomu aus nach Westen, bis nach Timbuktu zu reisen. Vermutlich hatte er schon lange damit geliebaugelt, vielleicht schon seit Agadez, wo er die Verbindung der beiden Stadte entdeckt hatte. Ein so vager und standig modifizierter Forschungsplan wtirde heute als ein Scheitem des Projektes angesehen und die Beide Hauser sind heute als Barthmuseen eingerichtet und fur Touristen zuganglich. ^^ Jeder der drei europaischen Reisenden besitzt sein eigenes Zelt, wahrend die afrikanischen Mitglieder der Expedition in mehreren Gemeinschaftszelten untergebracht sind (Ritter 1851: 105f.). Barth beschreibt zu Beginn der Reise ausfiihrlich die Qualitat der Zelte (Barth 1857,1: 92). '^ So schreibt er im Dezember 1853 - er halt sich jetzt seit vier Jahren in Afrika auf- an seine Angehorigen in Hamburg: „Ich habe wieder zwei Tage drauBen verlebt, und zwar dies Mai in meinem eigenen kleinen, abgeschlossenen Zelte, wo ich von baldiger Abreise, von der Heimkehr und frohem Wiedersehen getraumt" (Gumprecht 1854: 395). ^° Zum Unterschied von Tross, Reisegruppe, Karawane und Expedition siehe Spittler (1996).
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Mittel dafiir gestrichen werden. Damals aber gab es in alien Himmelsrichtungen Neuentdeckungen zu machen und konnten friihere Forschungen korrigiert und vertieft werden. Barth konnte die britische Regierung iiberzeugen und Zusagen fiir weitere Mittel erhalten. Beobachtungen und Gesprache erhalten nur dadurch wissenschaflliche Relevanz, dass sie aufgezeichnet, ausgearbeitet, ausgewertet und sicher verwahrt werden. Die erste Stufe der Aufzeichnung bei Barth ist das Memorandenbuch. Dieses kraftig gebundene Notizbuch wird in der Satteltasche mitgefuhrt. Dort werden zu jedem Zeitpunkt die jeweiligen Beobachtungen und Gesprache eingetragen. In einem ruhigeren Augenblick werden diese Notizen ins Tagebuch iibertragen. Diese Angaben werden schlieBlich zu zusammenhangenden Texten ausgearbeitet, sobald ein langerer Zeitraum zur Verfugung steht. Barth schildert mehrfach die Anstrengungen der ersten Stufen, so z.B. wahrend der Durchquerung der Sahara: „Ich war bemiiht, im Zelte bei schwachem Lampenschein mein Tagebuch auszufiillen, das bei den langen Marschen, wo wir selbst nicht einmal unser Zelt aufgeschlagen hatten, wahrend der letzteren Tage von meinem Memorandenbuch nicht ins Reine geschrieben war. Denn das letztere hielt ich ununterbrochen den langen schwulen Tag hindurch auf dem Riicken meines Kameeles in groBter Vollstandigkeit" (Barth 1857, I: 295). Hier erfahren wir nicht nur etwas liber die verschiedenen Stufen des Schreibprozesses, sondem auch uber die Ausrustung: Memorandenbuch, Tagebuch, Lampe und Zelt. Der Zeitaufwand fiir das Schreiben muss enorm gewesen sein. Barth schreibt taglich im Durchschnitt 33 Tagebuchseiten (Schiffers 1967c: 512). Mit der Eintragung ins Tagebuch ist der Schreibprozess noch nicht abgeschlossen. Bei langeren Aufenthalten arbeitet Barth das Tagebuch zu systematischen Texten aus. Unterwegs geschieht das im Zelt, in Stadten in den Hausern, in denen er einquartiert wird. Auch dort pflegt er eine Mischung von Offenheit und Abgrenzung. In Agadez genieBt er die Kontakte, die ihm sein Tuaregbegleiter verschafft. Die Agadezer „Fraulein" dagegen werden ihm zu aufdringlich. Er bleibt in seinem Haus und arbeitet seine Forschungsergebnisse aus.^^ In Agadez hat Barth nur wenige Tage fiir die Ausarbeitung zur Verfugung. Manchmal steht aber auch ein ganzer Monat zur Verfugung, so z.B. im November 1850 in Tinteggana im Air, als der Aufbruch der Tuaregkarawane sich verzogert.
' „Die iibermtithigen Emgedesierinnen wurden mir indessen in der Abwesenheit des Landesherm so lastig, dass ich es fur besser hielt, einige Tage zu Hause zu bleiben, wodurch ich in den Stand gesetzt wurde, den mannichfaltigen Stoff der Belehrung, den ich zu sammeln Gelegenheit gehabt hatte, zu ordnen. Wahrend dieser Beschaftigung erfreute mich die Gesellschaft einer kleinen, niedhchen Art von Finken, welche in grosser Anzahl alle Zimmer in Agades heimsuchen und dort ihre Nester bauen, ganz ebenso wie in dem in alien Beziehungen Agades so schwesterlich zur Seite stehenden Tumbutu." (Barth 1957,1: 487 ff.)
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Es genligt nicht, die Berichte niederzuschreiben, sondem sie miissen auch sicher aufbewahrt werden. Barth ist fiir dieses Problem besonders sensibel. Bei seiner Mittelmeerreise (1845-47) war Barth nach einem Jahr ausgeraubt worden und hatte dabei fast alle seine Aufzeichnungen verloren. Sein Reisewerk konnte er fiir diese Phase nur aus der Erinnerung und den nach Deutschland geschickten Briefen niederschreiben. Wie kann er sich dieses Mai gegen einen solchen Verlust schutzen? Barth schickt seine Tagebiicher mit abgehenden Karawanen nach Tripolis, wo sie beim englischen Konsulat deponiert werden. Er beginnt damit im Air und halt sich regelmaBig an diese Praxis. Im November 1852 schreibt er in einem Brief an Bunsen (Petermann 1855: 7), dass er schon vier Tagebiicher nach Tripolis geschickt habe. In diesem Brief bestimmt er auch durch kursive Hervorhebung: „Nur bei meinem etwaigen Tode diirfen meine Tagebiicher in ihrer jetzigen Gestalt publiziert werden". Bei seiner Riickkehr nach Tripolis fmdet Barth alle seine Tagebiicher unversehrt vor (Barth 1855: 3 1 0 ) . ^2
Dariiber hinaus arbeitet Barth bei langeren Aufenthalten Berichte aus, die er zunachst mit Karawanen nach Tripolis und von dort nach London und Berlin schicken lasst. Den ersten groBeren Bericht schreibt er im Air: „Ich beschloss, den moglichst besten Gebrauch von dieser unfreiwilligen Mussezeit zu machen, um die vielfachen wichtigen Erfahrungen und Nachrichten, welche ich in Agades gesammelt, durchzuarbeiten und einen moglichst vollstandigen Bericht nach Europa zu senden. Denn es war mein eifriges Bemiihen, das Interesse des wissenschaftlichen Publikums fiir unsere Expedition zu erregen, damit die Englische Regierung sich berechtigt fiihlen konne, uns neue Mittel zu gewahren. Ohne diese waren wir nach unseren schweren Verlusten genothigt gewesen, sofort zuriickzukehren, ohne die Hauptzwecke unserer Sendung erreicht zu haben." (Barth 1857, I: 552). Die Texte werden also nicht nur aus Griinden der Sicherung der Forschungsergebnisse nach Europa geschickt, sondem auch als Nachweis einer „Leistungsbilanz", um weitere „Forderungsmitter' zu erhalten. In diesem Falle ist es notwendig, weil die Expedition in der Sahara ausgeraubt worden war und iiber keine ausreichenden Mittel fiir die Fortsetzung der Reise verfiigte.
^^ Diese Tagebiicher sind fast voUstandig erhalten, zum groBeren Teil im Staatsarchiv Hamburg, zum kleineren Teil in der Bibliotheque Nationale in Paris. Sogar die Memorandenbiichlein sind zum Teil erhalten (Schiffers 1967c).
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3. Wissenschaft als Reise Auch in einer Umgebung, die der Wissenschaft fremd gegeniiber steht, gelingt es Barth, einen wissenschaftlichen Habitus aufrechtzuerhalten. Die Reisesituation ist aber nicht grundsatzlich der Wissenschaft abtragHch, sondem bietet dem, der sie zu nutzen versteht, auch besondere Chancen: - Bei der Reise erlebt man standig Neues, man macht neue Beobachtungen, lemt fremde Menschen kennen. Das stimuliert die Neugier, die eine wichtige Grundlage wissenschaftlicher Arbeit bildet. - Reisebegleiter konnen zu wichtigen Informanten werden. Unabhangig von ihren jeweiligen Kenntnissen hat das auch mit der Besonderheit der Reisesituation zu tun. Die Reisenden haben freie Zeit, sie sind aus ihrem gewohnten Milieu herausgelost, die gemeinsamen Erfahrungen einer Reise verbinden sie.^^ - Wichtig sind auch die Reiseorganisation und die Transportmittel. Man kann mit einer Karawane, einer Expedition oder einer kleinen Reisegruppe reisen. Man kann zu FuB gehen, auf dem Pferd oder Kamel reiten, auf dem Fahrrad oder mit dem Auto fahren, sich mit einem Flugzeug, Schiff oder Zug fortbewegen. Vom Transportmittel hangt ab, wie schnell man reisen kann, was man sieht, wen man trifft, wie man sich konzentrieren kann. - Bei einer Reise werden verschiedene Orte miteinander verbunden. Dies regt dazu an, um iiber deren Beziehung untereinander nachzudenken und sie zu erforschen. - Last but not least ist die zeitweilige Trennung vom Wissenschaftsbetrieb nicht nur ein Mangel, sondem kann auch die Konzentration fordem. Barth ist ein Meister in der Kunst, das Potential der Reise fiir die Wissenschaft zu nutzen.^'^ Als Reisender, der in manche Gebiete als erster Europaer kommt, ist seine Neugierde groB und wird auch von den Einheimischen akzeptiert. Aber auch diese sind neugierig und stellen viele Fragen. Fiir sie ist er eine Sensation ersten Ranges wie „fur europaische Verhaltnisse eine Revolution in ^^ Auf diese Aspekte der Reise weist schon Simmel hin: „Die Reisebekanntschaft, solange sie wirklich nur eine solche ist und nicht einen von ihrer Anknupfungsart unabhangigen Charakter annimmt, entwickelt oft eine Intimitat und Offenherzigkeit, fiir die eigentlich kein innerer Grund zu finden ist. Hierzu erscheinen mir drei Veranlassungen zusammenzuwirken: die Gelostheit von dem gewohnten Milieu, die Gemeinsamkeit der der momentanen Eindnicke und Begegnisse, das Bewusstsein des demnachstigen und definitiven Wieder-auseinander-Gehens" (Simmel 1922: 500). ^"^ Das gilt nicht nur fur seine Afrikareise. Auch vor und nach seiner Afrikareise fuhrte er fast jedes Jahr ausgedehnte Studien- und Forschungsreisen im Mittelmeerraum durch. „Das Reisen war Barths eigentliches Element. Nur seinen eigenen Neigungen folgend, von keinem fremden Willen abhangig, kam er von solchen Untemehmungen, in denen er seinem Forschungs- und Untemehmungsgeiste freiesten Spielraum lassen konnte, stets erfrischt, gekraftigt und verjiingt zur Aufnahme seiner Tagesaufgaben zuriick" (Schubert 1897: 165).
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Paris" (Barth 1857, II: 48). Diese spezifische Reisesituation ruft zwar manchmal Misstrauen hervor, aber in der Regel schafft sie Kontakt und erlaubt von beiden Seiten Neugier und Fragen. Barth reflektiert haufig liber die Vor- und Nachteile verschiedener Reiseformen (Spittler 1996). Karawanen und Expeditionen sind GroBuntemehmen, die sich schwerfallig bewegen, auBerhalb der Stadte lagem und den Kontakt mit der Bevolkerung erschweren. Dies gilt besonders fiir die europaisch geleitete und ausgeriistete Expedition. Am meisten schatzt Barth das Reisen in kleinen Gruppen, wie er es zum ersten Mai bei sei^em Abstecher nach Agadez erfahren hatte. Selbst den Uberfallen, denen er vor allem bei der Reise durch die Sahara ausgesetzt war, kann er noch einen wissenschaftlichen Wert abgewinnen. In einem Brief an Lepsius schreibt er im November 1850: "Unsere Ungliicksfalle selbst haben dazu gedient, dieses Gewimmel zersprengter Stamme einigermaBen zu enthiillen" (Gumprecht 1852: 329). An vielen Stellen seines Werkes beschreibt Barth die Vor- und Nachteile der verschiedenen Transportmittel. Mehrfach vermerkt er die gute Ubersicht von der Hohe eines Reittieres aus. Das gilt nicht nur fur das flache Land, sondem auch fiir Stadte.^^ Barth reflektiert auch liber die Unterschiede zwischen den Reittieren. Die Einbindung in eine Tuaregkarawane erweist sich als besonders glinstig fiir die Konzentration des Forschers.^'^ Im Allgemeinen zieht Barth aber das Pferd dem Kamel vor, weil es weniger launisch ist und baumreiche Gebiete leichter zu durchqueren sind. (Barth 1857, II: 4). Das Pferd ist auch leichter lenkbar und bietet daher dem Reiter eine groBere Beweglichkeit, um sich innerhalb und auBerhalb der Karawane zu bewegen. Man kann mit verschiedenen Personen Gesprache fuhren und auch hinter der Karawane zurlickbleiben, um ein interessantes Dorf oder ein Feld genauer zu besichtigen. Der Zeitrhythmus des Reisens steht fur Barth nicht im Widerspruch zur Zeiteinteilung des Wissenschaftlers. Das bequeme und langsame Reiten auf dem Kamel erlaubt es ihm, sich ununterbrochen Notizen in sein Memorandenbuch zu machen (Barth 1857,1: 295). Anlasslich seines Besuches in Kano schreibt er: „Auch kann der Reisende zu Fusse sich keinen rechten Begriff von irgend einer Afrikanischen Stadt verschaffen, wahrend er zu Pferde einen Blick in alle Hofraume gewinnt, dadurch Augenzeuge der verschiedenen Geschafte und Scenen des Privatlebens wird und oft mit einem Blick die ganze Stadt beherrscht" (Barth 1857, II: 121). ^^ „Wahrend die faule Weise der Araber, ihre Kamele ganz nach Gefallen rechts und links abschweifen zu lassen, fiir den Reisenden ausserst ermiidend ist und seinen Geist wahrhaft angreift, gibt es ihm Ermuthigung, dem Marsche in ungeheure Entfemungen ruhig entgegenzusehn, wenn er die ganze Reihe Kameele, eines an das andere gebunden und alle von Einem Manne gefiihrt, ohne Halt und Unterbrechung in gleichmassigem Fortschritt dahin ziehen sieht. In diesem Gebrauche hegt ein tiefer Ernst, welcher sich der Seele des Reisenden mitteilt" (Barth 1857,1: 189).
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Im Gegensatz zur europaisch dominierten Expedition ermoglicht die Karawane Kontakte mit vielen Afrikanern. Es reisen in ihr Hauptlinge, Krieger, Kaufleute, Pilger und islamische Gelehrte. Da die Karawane wochen- oder monatelang unterwegs ist, lassen sich enge Beziehungen ankniipfen. Der von Simmel beschriebene Reiseeffekt wird bei diesen langen Reisen besonders wirksam. Personen, die Barth anfanglich misstrauisch oder feindlich gegeniiberstehen, werden zu seinen Freunden, die ihm wichtige Informationen liefem. Barth sammelt dabei nicht nur Informationen, sondem baut auch ein Netzwerk auf, auf das er im Laufe seiner Reise immer wieder zuriickgreifen kann. Barth sucht auch den Kontakt zu weniger einflussreichen Personen, z.B. Sklaven. Sie dienen ihm vor allem als Informanten und Sprachlehrer. Er nutzt die Zeit unterwegs und an den Haltepunkten, um neue Sprachen zu lemen. So lemt er wahrend der Karawanenreise durch die Sahara schon so weit Hausa, dass er dann ohne Dolmetscher nach Agadez reisen und sich mit dem Sultan unterhalten kann. Ich habe oben Barths Reflexionen uber die Konzentration in einer Tuaregkarawane erwahnt. Generell gilt, dass die mit der Afrikareise verbundene Distanz zum europaischen Wissenschaftsbetrieb und Gesellschaftsleben die Konzentration auf die Forschung nicht nur behindem, sondem auch fordem kann. Nach seiner Riickkehr nach Europa schreibt Barth wahrend seines Aufenthaltes in London an seinen Schwager von Schubert: „Wie sehne ich mich nach einem freien Nachtlager in der Wliste, in jenem unermeBlichen Raume, wo ohne Ehrgeiz, ohne Sorge um die tausend Kleinigkeiten, die hier den Menschen qualen, ich mich im HochgenuB der Freiheit nach Beendigung des Tagesmarsches auf meine Matte zu strecken pflegte" (Schubert 1897: 105).
4. Kontakte mit Europa: Korrespondenz, Publikation, Finanzierung Wir haben uns bisher mit Barth in Afrika beschaftigt, und es konnte der Eindruck entstehen, als sei Barth funf Jahre lang von Europa voUig abgeschnitten gereist. Dieser Eindruck triigt. Schon die Tatsache, dass ich hier gelegentlich aus Barths Briefen nach Europa zitierte oder Publikationen erwahnte, die wahrend seines Afrikaaufenthaltes entstanden, zeigt, dass durchaus ein Kontakt bestand. Aber wie war ein Kontakt mit Europa in einer Zeit und einer Region ohne Flugzeug, ohne Eisenbahn, ohne Auto, ohne Telefon, ohne eine institutionalisierte Post moglich? Die einzige Verbindung war die iiber Karawanen, die von Kano, Katsina, Zinder und Kuka aus die Sahara durchquerten und in Ghat, Murzuk und schlieBlich in Tripolis ankamen. Zwischen diesen Orten bestand eine einigermaBen regelmaBige Verbindung. Bei den Karawanen handelte es
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sich um Handels-, Pilger- und Sklavenkarawanen. Ihnen gesellten sich Kuriere bei, die streckenweise auch selbstandig und daher schneller reisten.^^ Oft dauerten Briefsendungen aber auch ein oder zwei Jahre, oder sie kamen nie an. Zeitweilig brach der Kontakt vollig ab, was einmal sogar dazu fiihrte, dass Barth fur tot erklart wurde und in der Zeitschrift fur allgemeine Erdkunde ein offizieller Nachruf erschien (Gumprecht 1855). Noch schwieriger war der Briefverkehr von Europa nach Afrika. Wahrend Barth wusste, welcher Karawane er einen Brief nach Norden anvertrauen konnte, batten die Absender in London und BerHn keinen Einfluss auf den Weg durch die Sahara. Die Sendungen wurden dann haufig monatelang in Murzuk oder Bilma deponiert. Auch erreichten sie ihren Bestimmungsort manchmal zu einem Zeitpunkt, zu dem Barth langst abgereist war. Trotz aller dieser Schwierigkeiten gab es eine Kommunikation zwischen Barth und seinen europaischen Auftraggebem und Kollegen. Ihr wollen wir uns jetzt zuwenden, wobei wir uns im Rahmen unserer Fragestellung weniger fur die diplomatische und die private als fiir die wissenschaflliche Korrespondenz interessieren.^^ Aus der Korrespondenz resultieren umfangreiche PubHkationen in Europa, wahrend Barth sich noch in Afrika aufhalt. Barth korrespondiert wahrend seines Afrikaaufenthaltes mit einer Reihe bedeutender Wissenschaftler in Berlin. Die meisten Briefe gehen an den Agyptologen Karl Richard Lepsius, viele richtet er auch an seinen Lehrer Carl Ritter, damals der bedeutendste Geograph in Deutschland, einige Briefe schickt er an Alexander von Humboldt. Weitere deutsche Gelehrte, an die Barth Briefe schreibt, sind der Naturwissenschaftler Christian Ehrenberg, der Archaologe Friedrich Gerhard und der Staatswissenschaftler Karl Dieterici. Wichtig ist auch die Korrespondenz mit Gelehrten in London. Barth richtet viele Briefe an den preuBischen Gesandten in London, Freiherr von Bunsen, der selbst ein Gelehrter war und Barth der britischen Regierung fur die Expedition vermittelt hatte, an den beruhmten Kartographen August Petermann, der damals noch in London wirkt, und an den Reisenden und Geographen Charles Beke. In den meisten Briefen wird tiber den Fortgang der Reise, iiber politische Verhaltnisse, tiber Schwierigkeiten und iiber das Wohlergehen des Reisenden berichtet. Diese Briefe sind heute eine wichtige Quelle zum Verstandnis der
^^ Wahrend eine Karawane zwischen zwischen Kuka und Murzuk 40 Tage benotigte, schaffte ein Kurier die Strecke mit Hilfe von Relais in 15 Tagen (Ritter 1851: 94). Von Murzuk gab es einen Sonnabendkurier nach Tripolis (S.120). hi einem Falle brauchte ein Brief von Kuka nach London nur 56 Tage, was als Sensation vermerkt wurde (Petermann 1854: 220). ^^ Die politische Seite der „Central African Mission" wird besonders von Boahen (1964) untersucht. Die private Korrespondenz harrt noch der Auswertung. Sie wurde bisher vor allem von von Schubert in seiner Barthbiographie (1897) verwendet.
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Reise Barths und seiner Begleiter. In alien Briefen wird aber auch mehr oder weniger lang tiber Forschungsergebnisse berichtet. Manchmal werden auch langere Berichte beigefugt. Der Inhalt der Briefe richtet sich auch nach der Qualifikation der jeweiligen Adressaten. Mit Lepsius korrespondiert Barth vor allem liber linguistische Fragen und schickt ihm auch gelegentlich Vokabularien, z.B. der Tuaregsprache. Die Briefe und Berichte Barths verbleiben nicht in den Arbeitszimmem der Gelehrten, sondem werden der Offentlichkeit zuganglich gemacht. Berichte iiber den Fortgang der Reise werden auf den regelmaBigen Sitzungen der „Royal Geographical Society of London" und der „Gesellschaft fur Erdkunde zu Berlin" vorgetragen. Kurzere Berichte werden in England in „Athen2eum" und im „Joumal of the Royal Geographical Society of London" publiziert. In Deutschland erscheinen solche Berichte zunachst (1851-52) in „Monatsberichte iiber die Verhandlungen der Gesellschaft fur Erdkunde zu Berlin", dann in der „Zeitschrift fur AUgemeine Erdkunde" (1853-55) und schlieBlich in „Mittheilungen aus Justus Perthes Geographischer Anstalt liber wichtige neue Erforschungen auf dem Gesamtgebiete der Geographic von Dr. A. Petermann" (1855). Es erscheinen nicht nur kurze Mitteilungen, sondem lange Abhandlungen, die sich insgesamt auf iiber 600 Seiten summieren. In englischer Sprache sind hier vor allem die 90seitige Abhandlung „Progress of the African Mission, consisting of Messrs. Richardson, Barth, and Overweg, to Central Africa" (Petermann 1851) und der Folienband „An Account of the Progress..." (Petermann 1854) zu nennen. Uber die Halfte des ersten Berichtes bezieht sich auf Agadez, der bis dahin sensationellsten „Entdeckung" Barths. Auf iiber 50 Seiten wird die Stadt beschrieben, ebenso Wege von Agadez nach anderen wichtigen Orten und eine Ubersicht iiber die Struktur der Tuareggesellschaft. Mehrere Kartenskizzen, darunter ein Stadtplan von Agadez, und ein Vokabular der dort gesprochenen Sprache, mit Ubersetzungen ins Hausa und Englisch und einem kurzen Vergleich mit der Sprache in Timbuktu, sind ebenfalls Teil des Berichtes. Dies sind die Friichte der oben erwahnten Niederschriften von Barth in Agadez und im ATr (August bis November 1850). Wie aus Ritters Dokumenten hervorgeht (Plewe 1965), wird die „Central African Mission" von deutscher Seite auch vor dem Hintergrund einer Konkurrenz zwischen England und Deutschland gesehen. Ritter und andere haben ein Interesse daran, die Leistungen von Barth, Overweg und Vogel als Leistungen der deutschen Wissenschaft bekannt zu machen, auch wenn die Expedition vom britischen Foreign Office ausgeschickt wurde. Barth selbst, der die Expedition der englischen Regierung nach dem Tode Richardsons loyal leitete, ist fiir diese nationale Konkurrenz nicht unempfanglich. Der letzte Satz im fiinften und letzten Band seines Werkes lautet: „Ich hoffe, dass diese gluckliche Erforschung
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des Inneren Afrika's stets als eine mhmvolle Errungenschaft Deutschen Geistes dastehen wird" (Barth 1858, V: 454). Dieser Satz fehlt in der im Prinzip identischen englischen Ausgabe! Ritter veroffentlicht 1851 eine erste Abhandlung von 50 Seiten in den „Monatsberichten iiber die Verhandlungen der Gesellschafl fur Erdkunde zu Berlin". Im folgenden Jahr erscheint ein Bericht von liber 200 Seiten aus der Feder von Thaddaus Gumprecht. Gumprecht, der als der kompetenteste deutsche Afrikageograph gilt^'^, kommentiert in einem umfangreichen FuBnotenapparat Barths Briefe und Berichte, vor allem durch Vergleiche mit den Berichten friiherer Reisenden. Die Fortsetzung der Reiseberichte wird in der „Zeitschrift fiir Allgemeine Erdkunde" publiziert, die ebenfalls von Gumprecht herausgegeben wurde. Aufgrund der liickenhafteren Korrespondenz werden die Berichte jetzt ktirzer und diinner. 1855 erscheint in der „Zeitschrift der DeutschMorgenlandischen Gesellschaft" ein Artikel iiber den Tarik as-Sudan unter dem Titel „Beitrage zur Geschichte und Geographic des Sudan, eingesandt von Dr. Barth" (Ralfs 1855). AUe hier genannten Publikationen basieren auf Briefen und Berichten von Barth, doch keiner tragt seine Signatur als Autor. Wie weit sind sic autorisiert? Im November 1852 schreibt Barth an Bunsen, dass eine „objektive Darstellung" seines Materials erst nach seiner Rtickkehr nach Europa erfolgen konne und dass seine Tagebticher nur im Falle seines Todes publiziert werden diirften (Petermann 1855: 7). Aber wie steht es mit seinen Briefen und Berichten? Die Situation ist unklar, wie aus einem Brief Ritters an Barth hervorgeht.^° Barth antwortet auf diesen Brief nicht, vermutlich weil er ihn in Afrika nicht erhielt. Ritter veranlasst weitere Publikationen schlieBlich auf eigene Verantwortung. Barth zeigt sich spater verargert liber die Veroffentlichungen und die an seinen Briefen vorgenommenen Erganzungen und publiziert erst 1859 wieder in der „Zeitschrift fiir Allgemeine Erdkunde" (Koner 1866: 10). Petermann wirft er nach seiner Ruckkehr vor, er habe sich so verhalten, als habe er die Reise selbst ausgefuhrt (Schubert 1897: 168). Alle hier erwahnten Abhandlungen erscheinen vor der Rlickkehr Barths nach Europa. Die Schnelligkeit, mit der die Forschungsergebnisse publiziert werden, ist selbst nach heutigen MaBstaben erstaunlich, um so mehr gilt dies. Gumprecht (1853) hatte eine Geographie Afrikas publiziert (Plewe 1965: 267). ^° „Sie haben natiirlich daruber zu bestimmen, ob Ilinen diese Art der Veroffentlichung durch den Druck gelegen ist, oder ob Sie sich denselben ganz vorbehalten wollen. Dieser erste Bericht war nothwendig, um das wahre Verbaltnis der Deutschen zur Englischen Expedition aufzuklaren (...) Da die femem Berichte nur wichtige Neuigkeiten mitzutheilen haben, so wird es von Ihrem Willen abhangen, wie diese, als Ihr Eigenthum, demnachst zu veroffentlichen sein werden. Immerhin bleibt es wiinschenswerth, dal3 nicht bios in England (...) sondem auch in Deutschland ein Organ zur grundlichen Bekanntmachung eroffnet bleibt" (Plewe 1965: 252).
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wenn man die Kommunikationsschwierigkeiten der damaligen Zeit beriicksichtigt. Barth forscht also nicht von der Welt isoliert in Afrika, sondem fmdet in Europa schon wahrend seines Forschungsaufenthaltes eine Resonanz, von der ein heutiger Forscher nur traumen kann. Er bleibt wahrend seines Afrikaaufenthaltes insofem Teil der scientific community, als er mit ihr korrespondiert und von ihr gebiihrend wahrgenommen wird. Aber wie steht es umgekehrt? Erhalt er kontinuierlich Briefe, ermuntemde und kritische Kommentare und Anregungen zu seinen Berichten, gedruckte Exemplare der auf seinen Forschungen beruhenden Abhandlungen und Karten, Bticher und Aufsatze anderer Autoren, die sein Forschungsgebiet betreffen? Mit anderen Worten: Wird er nicht nur einseitig von den europaischen Gelehrten wahrgenommen, sondem besteht auch eine Interaktion? Barth erhalt in den Karawanenzentren Kano, Zinder, Kuka in unregelmaBigen Abstanden und oft mit groBer Verzogerung von 1 bis 2 Jahren Sendungen mit Briefen, Zeitungen, Blichem, Geld und Waren, die als Geschenke dienen sollen. Vor allem Ritter geht in seinen Briefen ausftihrlich auf die personliche Lage von Barth (Einsamkeit in Afrika), auf die groBe positive Resonanz von Barths Arbeiten in Europa, auf das Lob groBer Gelehrter wie Alexander von Humboldt, auf die Bemiihungen um weitere Finanzierungen ein. Er informiert ihn iiber neue Veroffentlichungen, selbst liber Universitats-Intema. Er schickt ihm Zeitungen und neue Veroffentlichungen, einschlieBlich der Barth'schen (Plewe 1965). Es ist freilich unklar, wie viele dieser Briefe Barth erreichen. Barth schreibt am 13. August 1851 an Ritter, dass er noch keine Zeile von ihm erhalten habe. In der Tat beklagt sich Barth haufig dariiber, dass er keine oder nur wenige Nachrichten aus Europa erhalte oder dass sie mit groBer Verspatung ankommen. Auf dem zweiten Teil der Reise werden die Klagen noch starker. Barth auBert sich enttauscht, dass er, 1853 von Kuka auf dem Weg nach Timbuktu, weder in Zinder noch in Katsina Post vorfmdet.^^ Welche Auswirkungen haben diese Enttauschungen auf Barths Forschungen? In dem eben zitierten Brief klingt er deprimiert. An vielen Stellen hebt er aber auch hervor, wie er durch Schicksalsschlage angespomt wurde. Seit Timbuktu leidet Barth aber starker von seinem Abgeschnittensein von Europa. Am Ende seines Werkes geht Barth auf die Finanzierung seiner Reise ein (Barth 1858, V: 453). Die Kosten betrugen etwa 10.000 Taler. Das meiste wurde von der englischen Regierung zur Verfugung gestellt, 1000 Taler trug der preuBische Konig bei, 1.400 Taler Barth selbst, bzw. sein Vater. Dieses Geld Im Marz 1853 schreibt er an Bunsen: „Traurig ist es, unendlich traurig, dass alle die Kaflen [Karawanen], die in den letzten Monaten in Bomu oder in Sudan angekommen sind, nicht eine einzige Zeile aus der Heimath mir gebracht haben; der Sinn steht mir in der That nur halb so hoch und jeder lebendige Trieb zur Correspondenz fehlt" (Petermann 1855: 9).
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stand aber nicht seit Beginn der Reise zur Verfugung. Es ware viel zu riskant gewesen, eine solche Summe mit sich zu fiihren. Es war auch nicht im Sinne der Auftraggeber, eine funfjahrige Forschungsreise vorzufmanzieren. Die Gewahrung von Mitteln war vielmehr von Erfolgsmeldungen abhangig. Das aufwendige Berichteschreiben bei Barth ist nicht nur seinem wissenschaftlichen Ehrgeiz geschuldet, sondem hatte auch fmanzielle Griinde. Barths Bericht iiber Agadez und die Tuareg ist in dieser Hinsicht ein Erfolg und sichert den Fortgang der Expedition, wie Barth selbst vermerkt (Barth 1858, V: 452). Auch in Deutschland ist die weitere Mittelvergabe von den zugeschickten Berichten abhangig. Carl Ritter und Alexander von Humboldt dlirfen gelegentlich beim Konig uber die Reiseergebnisse vortragen und dabei hoffen, dass er etwas aus seiner Privatschatulle spendieren wiirde. Aufgrund der „herrlichen Berichte" ist auch die Geographische Gesellschaft zu Berlin bereit, auf Antrag Ritters 1000 Taler zu spenden. Dieses Geld kommt freilich nie bei Barth an.
Schluss Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, an welche institutionellen Voraussetzungen Wissenschaft gebunden ist: Finanzmittel, Arbeitsraume, Personal, Bibliotheken, Labors, Lagerraume fiir Forschungsmaterial, Austausch mit Kollegen, Abgrenzung von Nichtwissenschaftlern. Im Feld fehlen diese Voraussetzungen. Naturwissenschaften, die auf Feldforschung angewiesen sind (Agrarwissenschaften. Geologic, Okologie, Biologic, Ethologie, Polarforschung) losen das Problem dadurch, dass sic im Feld Stationen grtinden oder iiber Forschungsschiffe verfugen, in denen Wissenschaft im kleinen institutionalisiert wird und sich von anderen abgrenzt.^^ Solche Stationen existieren teilweise auch in den Sozialwissenschaflen, vor allem im kolonialen und nachkolonialen Kontext (z.B. das franzosische ORSTOM, bzw. IRD). In den Geistes- und Sozialwissenschaften sieht die Losung aber in der Regel so aus, dass kurze Aufenthalte im Feld mit langen Aufenthalten in den heimatlichen Wissenschaflsinstitutionen abwechseln. Fiir Barth gab es diese Losungen nicht. Er musste sich die Institution Wissenschaft selbst herstellen. Eine wichtige Voraussetzung war sein Habitus als ' Das ist eine grobe Charakterisierung, die einer genaueren Untersuchung bediirfte. Auch in den Naturwissenschaften gibt es immer wieder Debatten iiber das Verhaltnis von Labor- und Feldwissenschaften. Bei Wissenschaften, die der ethnologischen Arbeitsweise nahestehen wie die Ethologie, wird die Problematik noch deutlicher. Siehe z. B. das Buch „Wilde Schimpansen" von Jane Goodall (1991), wo auch in Fotos gezeigt wird, wie sich die Abgrenzung der Station gegeniiber den Untersuchungsobjekten nicht aufrechterhalten laBt.
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Gelehrter, der an personelle Voraussetzungen und an seine Ausbildung geknlipft war.^^ Diese Einstellungen waren verinnerlicht und nicht materieller Art. Sie bedurften aber zu ihrer Realisierung institutioneller Voraussetzungen, die in diesem Falle von Barth selbst geschaffen werden mussten. Dazu gehorten Finanzmittel, Raume (Zelt und Haus), Ausrlistung (Tisch, Stuhl, Lampe), ein kleiner Bucherbestand, Kontakte mit islamischen Gelehrten. Barth erfand zusatzlich das Reisen als wissenschaftliche Institution: er profitierte von der Struktur einer Kamelkarawane, von den Moglichkeiten, die das Reiten auf einem Pferd oder einem Kamel bot, von den Kenntnissen und Netzwerken seiner Mitreisenden. In einer Hinsicht war Barth allerdings in ein klassisches wissenschaftliches Netzwerk eingebunden: Das waren seine Kontakte mit europaischen Gelehrten, die zu einer umfangreichen Korrespondenz und Publikationstatigkeit wahrend seiner Afrikareise fiihrte. Wie wir gesehen haben, funktionierte das nur sehr unvoUkommen, vor allem, was die Korrespondenz von Europa aus mit ihm anging. Aber ohne dieses Netzwerk waren seine Forschungen sicher weniger erfolgreich gewesen. Vielleicht hatte er gar nicht iiberlebt oder seine Reise vorzeitig abbrechen miissen. Wichtig war fur ihn auch, dass er als Vertreter der englischen Regierung reiste, der befugt war, diplomatische Vertrage abzuschlieBen. Manchmal entstanden ihm daraus Nachteile, aber in der Regel war das flir ihn auch ein Schutz. Was bleibt in diesem Kontext noch von der „Dichten Teilnahme", die ich im ersten Kapitel beschrieben und in meinen friiheren Arbeiten iiber Forschungsreisende in den Mittelpunkt gestellt habe? Miissen meine friiheren Aussagen revidiert und ersetzt werden? Nein, sie bedurfen nicht der Korrektur, aber der Erganzung durch die Aspekte, die ich in diesem Aufsatz behandelt habe^\ Es bleibt allerdings die Frage, ob und wie dichte Teilnahme und wissenschaftliche Distanz, die ja in einem Gegensatz zueinander stehen, in einer Person miteinander verbunden werden konnen. Dass die Verbindung nicht selbstverstandlich ist, haben wir im Falle von Overweg gesehen. Die groBe Leistung von Barth besteht darin, dass er beides praktizieren konnte. Das zeigt sich auch in seinen Publikationen. Malinowski verbrachte sehr viel Zeit im Feld, aber die Ausarbeitung und publikationsreife Niederschrift erfolgte in Europa. Die Zeit, die dafur aufgewandt wurde, war sehr viel langer als die Zeit im Feld. Nach seinem Feldaufenthalt auf den Trobriandinseln von 1914-18 (mit Unterbrechungen) erschie-
^^ Earths Disposition zum Gelehrten zeigte sich schon als Schiller. Er lemte im Selbststudium arabisch und arbeitete die antiken Autoren fiir sich selbst durch. Seine reich ausgestattete Bibliothek erganzte er durch antiquarische Zukaufe (Schubert 1897: 5 f.). ^•^ Der Beitrag „Distanzierung und ethnische Vereinnahmung" von Dida Badi in diesem Band zeigt, dass auch einheimische Forscher ein Gleichgewicht zwischen Nahe und Distanz fmden miissen.
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nen die drei groBen Monographien von Malinowski 1922 (Argonauts...), 1929. (The sexual life of savages...) und 1935 (Coral Gardens and their Magic). Wahrend Wissenschaft und Feld wahrend der Reise einen Kompromiss eingehen, kommt die Institution Wissenschaft nach der Ruckkehr voll zu ihrem Recht. Der Ethnologe arbeitet dann in seinem Biiro, liest wissenschaftliche Literatur und diskutiert mit Kollegen. Es vergehen Jahre, bis er dann die Ergebnisse seiner Feldforschung publiziert. Das liegt auch daran, dass bei etablierten Wissenschaftlern viele andere Tatigkeiten anfallen. Aber auch fur Doktoranden, die sich nur mit ihrer Dissertation beschaftigen, gelten ahnliche Relationen. Einer einjahrigen Feldforschung entspricht eine drei bis vierjahrige Ausarbeitung der Dissertation zu Hause. Es ist interessant, diese Zahlen mit Barth zu vergleichen. Earth reiste fiinfeinhalb Jahre lang in Afrika. Nach seiner Ruckkehr 1855 veroffentlichte er nach zwei Jahren die ersten drei Bande, ein Jahr spater die restlichen beiden Bande. Das funfbandige Werk umfasst sowohl in der deutschen wie in der englischen Fassung iiber 3500 Seiten. Das war nur moglich, well groBe Telle des Werkes schon in Afrika ausgearbeitet wurden und in London nur einer Endredaktion bedurften. Barth hatte dafiir viel Zeit in Afrika. Es ging dabei aber nicht nur um Zeit. Wichtig war auch, dass er die Texte nicht losgelost von seinen unmittelbaren Eindrucken schrieb, auch wenn sie erst in London in die Form einer "objektiven Darstellung" des Materials gebracht wurden, wie Barth selbst formuliert. Ich halte das Ungleichgewicht zwischen Feldaufenthalt und Auswertung zu Hause, wie es fur unsere heutige wissenschaftliche Arbeit typisch ist, fur problematisch. Ein Feldaufenthalt sollte nicht nur dem Materialsammeln, sondem auch der Auswertung, der Reflexion und sogar dem Schreiben von publikationsreifen Texten dienen. Dichte Teilnahme ist auch fur diesen Teil der wissenschaftlichen Arbeit wichtig, nicht nur fur die „Datenerhebung". Es macht einen Unterschied, ob ein Text im Feld oder zu Hause geschrieben wird. Im Feld bleibt der Forscher durch die Umgebung und die Menschen, die er untersucht, beeinflusst. Zu Hause ist er nur noch dem Einfluss von Biichem und anderen Kollegen ausgesetzt. Ich schlieBe mit dieser Bemerkung, um deutlich zu machen, dass die dichte Teilnahme fur den Ethnologen zentral ist und bleibt. Ethnologische Feldforschung besteht nicht allein aus dichter Teilnahme. Aber sie besteht auch nicht nur in der Schaffung eines wissenschaftlichen Milieus. Es handelt sich vielmehr um die Kunst, die richtige Balance zwischen beidem zu finden.
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Distanzierung und ethnische Vereinnahmung - Die Erforschung oraler Traditionen in der eigenen Gesellschaft* Dida Badi
Einleitung Das Sammeln und die Auswertung oraler Quellen durch einen einheimischen Forscher wirft ein doppeltes methodologisches Problem auf. Ein Problem der Distanz gegenuber dem Forschungsgegenstand als wissenschaftlicher Voraussetzung fiir Forschung, und ein Problem der Vereinnahmung des Forschers durch die Beforschten. Kommt also, anders gesagt, den Ergebnissen einer Forschung, die ein einheimischer Forscher in seiner eigenen Kultur durchfiihrt, ein hoherer oder im Gegenteil ein geringerer Stellenwert zu als den von einem fremden Forscher erzielten? Ohne die Polemik aufzugreifen, die den einheimischen Forscher in Opposition zum auslandischen KoUegen bringt, schlage ich im Folgenden vor, von meiner Forschungserfahrung bei den Tuareg zu berichten. Ich gehe dabei von einem Vergleich zwischen zwei Gebieten aus: Dem Adagh des Ifughas im Grenzgebiet zwischen Algerien und Mali und dem Tassili n'Azjer im Grenzgebiet zwischen Libyen und Algerien. ^ Ich werde zunachst mein Forschungsthema darlegen (1) und dann die Bewahrer des traditionellen Wissens in einer Tuareg-Gemeinschaft beschreiben * Ich danke Gerd Spittler und Georg Klute fur ihre kritischen Kommentare. Die Ubersetzung ins Deutsche des franzosischen Manuskripts besorgte Christine Hardung. ^ Das erste Gebiet habe ich fiir einen Forschungsaufenthalt genutzt, um meinen Magister vorzubereiten, in letzterem fiihre ich meine derzeitigen Forschungen im Rahmen eines Promotionsvorhabens durch. Meine Forschungen bei den nomadischen Bevolkerungen des Adagh des Ifughas (Algerien, Mali) basieren auf drei Feldforschungsaufenthalten, einem ersten in der Zeit von Juli - September 1992, einem zweiten im August 1994 und einem dritten ebenfalls im August 1996. Diese Forschungen bildeten die Gmndlage fiir einen Magisterabschluss am Departement de langue et culture amazigh (berbere) der Universitat von Tizi-Ouzou in Algerien. Die Tatsache, dass ich selbst aus dieser Gegend komme, hat mich dazu veranlasst, iiber meine Stellung als einheimischer Forscher nachzudenken. Uber diese Erfahrung berichte ich in dem vorliegenden Text. Die Region Tassili n'Azjer habe ich 2000 aufzusuchen begonnen und habe dort insgesamt drei Monate verbracht. Daraus ist eine regionale Monographic entstanden, die 2004 publiziert wurde: Les regions de I'Ahaggar et du Tassili n'Azjer: Realite d'un myth. Meine Forschungen in diesem Raum haben sich vor allem auf die nomadischen Bevolkerungen konzentriert, werden sich aber demnachst im Rahmen meiner Promotion auch auf die sesshaften Gemeinschaften ausweiten.
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(2). Ich werde dann nach der Funktion traditionellen Wissens bei den beiden untersuchten Tuareggmppen fragen, den Kel Adagh und den Kel Azjer. (3) Ferner wird die Frage diskutiert, inwieweit mein Status als einheimischer Forscher fiir den Zugang zur Information vorteilhaft oder im Gegenteil von Nachteil war (4), des weiteren geht es um das Vorgehen bei der Datenerhebung (5). AbschlieBend werde ich die Herangehensweise des einheimischen Forschers mit dem seines fremden Kollegen in ihrem Zugang zur untersuchten Gruppe vergleichen. Ich werde an diese Fragen empirisch herangehen und lasse im Moment die theoretischen Pramissen zum Verhaltnis zwischen einheimischem Forscher und seiner eigenen Kultur beiseite.
1. Die Thematik Meine Arbeit liber die Traditionen der nomadischen Bevolkerungen des Adagh des Ifughas (Badi 2000) hat es mir ermogHcht, historische Erzahlungen zu untersuchen und eine Vorstellung von den verschiedenen Bevolkerungsgruppen zu bekommen, die in diesem Teil der Sahara aufeinander gefolgt sind. Den oralen Traditionen der meisten dieser Gruppen nach kommen sie aus dem Azjer. Aus dem Grund habe ich beschlossen, meine Forschungen auf diese Region auszudehnen, um mir ein mogHchst voUstandiges Bild von der Besiedlung der Sahara durch die Tuareg zu verschaffen und die sozio-politische Organisation dieser Bevolkerungsgruppen sowie die Veranderungen, denen sie unterlagen, zu untersuchen. Dieses Zuruckgehen in der Zeit hat meiner Forschung eine historische Tiefe verHehen, so dass sie zur historischen Anthropologic gerechnet werden muss und ich daher mein Forschungsprojekt „Ursprung und Griindungsgeschichten der nomadischen und sesshaften Gemeinschaften des Tassili n Azjer (Algerien / Libyen: Analyse und Interpretationen aus der Perspektive der historischen Anthropologic)" betitelt habe.^ Wahrend die Kel Adagh (iberwiegend Nomaden sind, trifft man im Azjer neben Nomaden auf sesshafte Gemeinschaften, die schon lange in dem Gebiet leben. Da die Prasenz der sesshaften Tuaregbevolkerungen in dieser Region Folge einer langandauernden kontinuierlichen Besiedlung ist, verlangt dies nach einer Vorgehensweise, die eine groBere historische Tiefe beriicksichtigen muss. Mein weiteres Vorgehen integriert die beiden wesentlichen Dimensionen, die den Raum Azjer konstituieren: auf der einen Seite eine vertikale Dimension, die Dieser etwas verallgemeinemd klingende Titel, der aber den derzeitigen Stand meiner noch am Anfang stehenden Forschung aufgreift, konnte dann entsprechend meiner fortschreitenden Kenntnisse iiber das Untersuchungsgebiet noch abgeandert werden.
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die frnhe Besiedelung durch sesshafte Gruppen berlicksichtigt und die man wie bei einer archaologischen Schichtaufnahme Ereignis nach Ereignis zuruckverfolgen konnte; auf der anderen Seite eine horizontale Beziehung zum Raum, die durch die Mobilitat der Nomaden bedingt ist. Diese Beziehung ist jedoch nicht willkiirlich, sondem sie erfordert eine neue Bestimmung des Raums innerhalb seiner jeweils neuen Grenzen. Die nomadischen Bevolkerungen des Tassili n Azjer zeichnen sich durch hohe Mobilitat aus, die sich entlang zweier Hauptachsen reaHsiert: die eine stellt ein Kommen und Gehen von Nordosten nach Siidwesten dar und bringt sie in Kontakt mit den Kel Ahaggar im Siiden sowie anderen arabophonen und berberophonen Gruppen Tripoiitaniens im Norden, weil sich ihre Region traditionell bis nach Libyen erstreckt. Von dieser Bewegung sind unter anderem die Fraktionen der Uraghen, Ifughas und Imenghassaten betroffen. Die andere Achse stimmt im WesentHchen mit den traditionellen okonomischen Austauschbeziehungen zwischen dem Azjer und dem Air uberein. Mit einbezogen sind hier aus Djanet, Ghat und selbst noch aus Ghadames stammende Sesshafte. Diese Bewegung, die in den letzten Jahren tendenziell nachgelassen hat, entspricht zweifellos einer alten Karawanenroute und einer wichtigen Achse der aufeinanderfolgenden Migrationswellen der Tuareg Richtung Siiden. Im Zentrum meines Ansatzes bei der Untersuchung der Kel Azjer steht die Frage nach dem kollektiven Gedachtnis. Ein solches Gedachtnis ist dynamisch und selektiv zugleich. Es ist dynamisch, insofern es Zeit und Raum umspannt, um sich eine Funktion in der Gegenwart zu sichem. Es ist selektiv, miissen doch im Prozess des kollektiven Erinnerns iiber die Zeit hinweg alle Ereignisse ausgeloscht werden, die man offenbar vergessen hat oder die man vergessen will, weil sie nicht mehr den unmittelbaren Interessen der Gruppe dienen. Das kollektive Gedachtnis ftmgiert als Barriere, die gegeniiber dem Forscher errichtet wird, um die Gemeinschaft vor jeder Stoning oder jedem Ubergriff von AuBen zu bewahren. In der Tat wird die Ankunft des Forschers eine Atmosphare des Argwohns schaffen und misstrauische Reaktionen hervorrufen, was einer Art von kollektivem Instinkt ftir das Uberleben der Gruppe entspricht. Die Anwesenheit des Forschers in der Gemeinschaft wird mit einem Versuch gleichgesetzt, jene Strategien aufzudecken, die mit Bedacht von ihr aufgestellt wurden, um sich zu schiitzen und ihre Homogenitat und ihre Identitat gegeniiber der restlichen Welt zu wahren. Der Forscher muss sich nun hinter diese Barriere begeben, um die Vergangenheit zu entdecken, muss in gewisser Weise einen Zeitsprung voUziehen, der iiber die scheinbare Koharenz des kollektiven Gedachtnisses hinausgeht, um dessen Grundlagen und konstitutiven Elemente herauszufinden. Dieses Gedachtnis ist bei den Bewahrern des traditionellen Wissens innerhalb der Gemeinschaft zu suchen.
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2. Die Bewahrer des traditionellen Wissens Es gibt im Azjer und weniger noch im Adagh keine Trager traditionellen Wissens und Spezialisten oraler Tradition im eigentlichen Sinn, deren spezifische Aufgabe es ware, Wissen liber alle Gruppen der Region zu wahren, zu erhalten und weiterzugeben, und die man insofern mit den Griots des subsaharischen Afrika gleichsetzen konnte. Bei den Tuareg handelt es sich um mehrere Personen oder Kategorien von Personen, die jeweils fur einen Bereich des traditionellen Wissens zustandig sind.
Die Weisen (imgharen) Es lassen sich einige wenige Personen ausfmdig machen, die sich auf die orale Tradition eines Teils des Azjer, dem Zentrum des Gebirgsmassivs, spezialisiert haben. Sie besitzen jedoch keine ausreichenden Kenntnisse liber die Gruppen, die sich beispielsweise im Osten befmden: das trifft auf Akhmadu ag Amannal in Amihru, im Landesinneren von Tassili, auf Ag Alkhessen im Dorf El Mizan bei Djanet, auf Aggag Abdellah von dem Dorf Iherir, auf Ammadu von den Ke! Tubren und auf Alkhaj Ghuma zu, wie liberhaupt auf beinahe den gesamten Azjer, insbesondere aber auf die Uraghen und ihre Abhangigen. Dagegen gibt es beinahe in jeder Lineage ein oder mehrere Individuen, deren Befahigung anerkannt wird, das Gedachtnis der Gruppe zu wahren. Am Ende einer Unterhaltung, die der Kontaktaufnahme dient, ist es im allgemeinen diese Person, an die die Gruppe den Forscher verweist. Solche Personen konnen Manner oder Frauen sein. Aufgrund ihres Alters, ihrer Weisheit und ihres Wissens werden sie von den Mitgliedem der gesamten Gruppe respektiert und geachtet, und oft sind es auch sie, welche ihre Gruppe nach AuBen reprasentieren. Es sind die Weisesten der Gemeinschaft, manchmal vereinen sie diesen Status mit dem des amghar der Gruppe. Stellt sich der Forscher einem dieser Weisen vor, so prlifl dieser ihn eingehend mit seinem Blick, wahrend er aufmerksam zuhort, was jener an Beweggrlinden vorzubringen hat. Dasselbe lasst sich fiir den Adagh sagen. Auch hier kann man auf Spezialisten der oralen Tradition eines Teilgebiets des Adagh, des Zentrums beispielsweise, treffen, die aber keine ausreichenden Kenntnisse liber die Gruppen etwa im Osten haben: das gilt flir Kola ag Saghid, im Zentrum des Adagh, fur Inguedda ag Hibba, flir Abu n Ekhya ag Atafa, beinahe fur den gesamten Adagh, aber insbesondere fur Mokhammed El Kheir liber die Ifughas und ihre Abhangigen. In den meisten Fallen beziehen sich die Informationen, die man von diesen Personen bekommt, ausschlieBlich auf Fragen, die ihre eigene Gruppe
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betreffen. Manche unter ihnen weigem sich, von anderen Gruppen zu sprechen, well sie dies als Einmischung in die Angelegenheiten anderer begreifen; sie machen geltend, dass das Wissen, das fur jede Gruppe, ihre Griindung und ihre Beziehungen zwischen den verschiedenen Mitgliedem kennzeichnend ist, als spezifischer Bereich der Gruppe geachtet wird und schwierig nach auBen zu tragen ist.
Die Informantinnen In Bezug auf den Besitz des traditionellen Wissens lasst sich in der Gesellschaft der Tuareg eine deutliche Tendenz zur Spezialisierung zwischen Frauen und Mannern feststellen. Wahrend die Manner das Wissen uber die AuBenwelt (die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen) zu beherrschen scheinen, neigen die Frauen eher dazu, sich auf das gemeinschaftsinteme Wissen zu spezialisieren (Griindermythos, Geschichte ihrer eigenen Gruppe). Diese SpeziaHsierung ist weitgehend auf die Erziehung zurtickzufuhren, die beide Geschlechter von Kindheit an erhalten haben. Bis ins Alter von 12 Jahren bleiben die Kinder beider Geschlechter in der Nahe der Mutter, die ihnen die Grundlagen der Tuaregkultur sowie auch die orale Geschichte und den sozialen Status ihrer Gruppe vermittelt. Vom 12. Lebensjahr an ubemimmt der Vater die Verantwortung fiir den Jungen und fuhrt ihn in alle Aktivitaten des Lebens auBerhalb des Camps ein, so etwa in die Techniken des Reisens in der Sahara. Das Madchen bleibt an die Mutter gebunden, deren Pflicht es ist, ihm die moralischen Werte und die weibliche Erziehung einzupragen, aus ihm die Garantin und Huterin der iiberlieferten Tradition zu machen, bis hin zu dem Moment, wo sie ein eigenes Zelt besitzt und ebenfalls eine zufriedene Mutter wird. Das Madchen verdankt seiner Mutter das Erlemen und die Weitergabe der materiellen Kultur, unter anderem die Instandhaltung des Zeltes, die Herstellung von Gegenstanden, die zum hauslichen Leben gehoren, z.B. die Anfertigung des Zeltdachs {ehakit'), der AuBenwand {esebe/) und der verschiedenen Bogen und Stutzen des Zeltes. Neben diesen technischen Kenntnissen iibermittelt und lehrt die Mutter ihrer Tochter alle Geheim-
^ Ehakit: Gegerbte und aneinandergenahte Schaf- oder Muflonhaute, aus denen das Zeltdach besteht. "^ Eseber. Eine etwa dreiBig Meter lange Matte, die das Zelt abschirmt. Sie herzustellen, ist eine miihsame und sorgfaltig auszuflihrende Arbeit von mehreren Monaten, die der Frau obliegt. Sie muss dafur Graser von etv^a einem Meter Hohe mit dem Namen afazzou {Panicum turgidum) fmden und diese mit Hilfe von dlinnen Lederriemen aneinander binden.
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nisse der immateriellen Kultur, wie die Gmndlagen der tende^-und imzac^Musik, die Lieder, die Poesie, die tifinagh^-Schiift und alle anderen Techniken weiblicher Verfuhrungskunst, das Schminken, das Haareflechten und insbesondere das Verwalten des bewohnten Raums, des Inneren und der unmittelbaren Umgebung des Zeltes, fur den ausschlieBlich sie verantwortlich ist und den der Mann sozusagen nur fiir kurze Zeit zwischen zwei Reisen betritt. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass sich die Art dieses traditionellen Wissens unterscheidet, je nachdem, ob es sich urn Schmiede, Kel Ullf oder die Gruppe der Noblen handelt. Jede dieser sozialen Gruppen hat ein Wissen, das nur ihr zu Eigen ist und eines, das sich auf die anderen Gruppen bezieht. So konnte man die Form des Wissens, iiber das die Frau verfiigt und das sie weitergibt, als „hausHch" und lokal verankert bezeichnen, wohingegen das vom Mann weitergegebene Wissen, obwohl aus dem lokalen Kontext stammend, durch die AuBeneinfliisse wie „beschmutzt" ist, weil der Mann immer wieder mit dem „Anderen" in Beziehung treten muss. Diese Wissensbestande konnten sogar zu einer gewissen Differenzierung zwischen den Empfangern der beiden Wissensarten fahren. Wahrend sich etwa das Wissen der Frauen an die Jiingsten richtet, um sie darauf vorzubereiten, der Welt die Stim zu bieten und ihre Identitat herauszubilden, ist das der Manner fiir die AuBenwelt bestimmt, um ein bestimmtes Bild, das sie sich von ihrer Gruppe machen, zu vermitteln. Das Wissen der Frauen ist authentisch und selbstverstandlich, wohingegen das der Manner konstruiert ist. Die Frauen versuchen nicht, ihr Wissen in den Vordergrund zu riicken, weil es schon seine eigene Offentlichkeit hat. Von Seiten des Forschers muss man es daher erst hervorrufen und suchen. Diese Aufgabe ist fiir einen Forscher, dem nicht schon in seiner Kindheit ein solches Wissen zugute kam, auBerst heikel. Wegen des matrilinearen Systems, das die Gesellschaft der Tuareg zumindest bei der Gruppe der Kel Azjer charakterisiert, bezieht sich das Individuum auf die Lineage seiner Mutter. Dies verleiht dem Wissen, das sich im Besitz der Frau befmdet, den Status eines „Referenzwissens", das es dem Individuum erlaubt, sich in seiner Herkunftsgruppe verankern zu konnen, selbst wenn es ^ Tende: Von Trommeln begleitete Gesange. Dieses musikalische Genre ist nach dem aus Holz gefertigten Morser benannt, der, iiber zwei seitliche Morser mit einer angefeuchteten Tierhaut bespannt, zu einem Schlaginstrument wird. ^ Imzad: Eine einsaitige Geige aus einer mit einer Tierhaut bespannten Kalebasse, einem Instrumentenhals / Griff (tabourit), der nur iiber die Saite aus Pferdehaar (einer Strahne aus dem Schweif des Tieres) gehalten wird, einem Steg aus zwei v-formigen Stockchen und einem ebenfalls mit Rosshaar gespannten Bogen aus einem geknimmten Zweig. ^ Tifinagh: Alphabet der Tuareg. Die Schrift besteht hauptsachhch aus Konsonanten. Es gibt dreiundzwanzig Konsonanten, aber nur einen Vokal und zwei Halbvokale. ^ Kel Ulli: Die Gruppe der Vasallen in der traditionellen Sozialstruktur der Tuareg.
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inzwischen auBerhalb der Lineage geheiratet hat. Ausgehend von dem, was bereits angesprochen worden ist, lasst sich die Frau in der Tuareggesellschaft nicht nur als Wahrerin des traditionellen Wissens ihrer eigenen Gruppe begreifen, sondem auch als fur dessen Weitergabe anerkannte Spezialistin. Das erklart die Leichtigkeit, mit der sie alle die an sie gerichteten Fragen erortert. So betrifft die historische Information, iiber die die Frau verfugt, nicht nur die Manner, sondem auch die Frauen, sind doch die Vorfahren, die Griinderinnen der Lineage und der Siedlungen, Frauen. Insofem ist dies ein weibliches Wissen und zugleich ein Wissen iiber die Frau.
Die 'bevollmdchtigten' Bewahrer der oralen Tradition Im Forschungsgebiet bin ich auf Gruppen gestoBen, bei denen es offenbar keine Trager der oralen Tradition gibt, oder vielleicht verstand ich es auch nur nicht, ihr Interesse fiir Erzahlung zu wecken. Diese Gruppen, die zu den „Abhangigen" {Kel Ulli) gehoren, haben mich an eine andere Person verwiesen, die sie als Kenner und Bewahrer ihrer oralen Tradition prasentierten und die der Gruppe angehort, deren Abhangige sie sind. Dieser Informant hat mir sehr oft Informationen gegeben, die eher die Anbindung genannter Gruppen an seine eigene Lineage rechtfertigen als deren eigentliche Grlindungsgeschichten erzahlen. Dieses Detail zeigt uns die Verfugungsmacht iiber traditionelles Wissen, insofem die schwachen Gmppen einen Diskurs iiber sich selbst kreieren miissen, der ihnen die Eingliederung in das politische und ideologische Schema ermoglicht, das im Inneren der Konfoderation maBgebend ist und das von der herrschenden Gruppe bestimmt wird. Tun sie es nicht, miissen sie ihr Wissen einfach fiir sich behalten. Dieser letzte Punkt ist umso wichtiger, als die Ideologic, die die Macht im Inneren dieser Gemeinschaft legitimiert, miindlich weitergegeben wird. Es handelt sich um eine hegemonial gewordene Geschichte, well sie die der dominanten Gruppe ist. Um eine gewisse Legitimitat anzustreben, braucht die geschichtliche Tradition der abhangigen Lineages die Absichemng durch die traditionelle Autoritat, die von den dominanten Lineages reprasentiert wird. Im gegenteiligen Fall wird sie von ihren eigenen Bewahrem, die iiber sie verfiigen und die sie von Generation zu Generation weitergeben, zuriickgewiesen, wie eine Familiengeschichte, die in den Bereich des Privaten gehort. Die dominante Geschichte ist prasent, selbst wenn sie nicht aufgeschrieben ist. Sie ist materialisiert und im taglichen Gebrauch der politischen Macht aufgewertet, die sie zugleich mitbegriindet.
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Ihre Nahe zur Macht, zu deren Legitimierung sie im Ubrigen beitragt, entbindet sie von der Notwendigkeit einer Verschriftlichung. Dennoch tritt bei naherem Hinsehen hinter dem formlichen Charakter der Lineagegeschichte eine andere Geschichte zutage, auch sie verborgen und wie von ihren eigenen Wahrem selbst zensiert, weil sie die aktuelle Ausiibung der Macht nicht mehr rechtfertigen kann. Aufgefallen war mir bei den Gruppen des Azjer das Bediirfnis, die Gruppengeschichte uber die Anerkennung durch die traditionelle politische Autoritat zu legitimieren. Daraus erklart sich zum Teil auch der Wunsch, den man bei den „Abhangigen" {Kel Ulli) versptirt, ihre Genealogien an die Griindervorfahren der noblen Gruppen oder zumindest an Personlichkeiten, die als Noble gehen, anzubinden. Dies fiihrt zugleich zu einer Hierarchisierung ihrer eigenen Geschichte, zu einer Geschichte in zwei Abstufungen: zu einer, die man mit BHck darauf, dass sie von alien anerkannt wird, durch die Bearbeitung des kollektiven Gedachtnisses der Gruppe in Umlauf bringen mochte, und zu einer, die zur etablierten sozio-politischen Ordnung in Widerspruch steht und von der Gruppe als Hindernis fiir ihre Integration in die dominante Ordnung angesehen wird. So konnte meine Herangehensweise, die „Geschichten" der Gruppen der Kel Azjer auf eine Ebene zu bringen, indem man sie schriftlich festhalt, von einigen als der Versuch verstanden werden, die verborgenen „Geschichten" oder das, was wir „private Geschichte" genannt haben, emeut zu iiberdenken, wenn nicht aufzuwerten, um sie in den Rang der offiziellen Geschichte zu heben, das heiBt, in die Geschichte der adligen Lineage, die bei den Kel Azjer die politische Macht ausubt. Es ist keineswegs meine Absicht, die Geschichte des Azjer verschriftlichen zu wollen. Mangels schriftlicher Quellen lieBe sich ein solches Unterfangen auch nur verwirklichen, wenn man sich ausschlieBlich auf orale Traditionen stutzte. Aus der Notwendigkeit also, die Vergangenheit der Kel Azjer zu verstehen, indem man aus ihrem kollektiven Gedachtnis schopft, erklart sich meine Vorgehensweise, mich wahrend der gesamten Forschung an deren orale Traditionen zu halten. Die Bestatigung der Autoritat der dominanten Gruppe ist das Resultat einer langen Entwicklung, die Ziige der Nivellierung und Homogenisierung lokaler Geschichten tragt, um ein koharentes Raster in einem bekannten politischen Territorium zu schaffen, dessen Grenzen tissaradh genannt werden. Diese Koharenz wird haufig eiferstichtig von der Gruppe gehiitet und gegeniiber anderen Tuareg-Foderationen, vor allem aber gegeniiber den Nationalstaaten, die die Macht der Gruppe tiber ihr traditionelles Territorium in Frage stellen, geltend gemacht. Im Kontext der algerischen Tuareg wird dieser Realitat eine andere hinzugefugt, Resultat einer Umgestaltung der Sozialstruktur im nationalen Rahmen, die nach neuen Kriterien fiir den Zugang zum sozialen Aufstieg
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verlangt. Genau wie im ersten Fall werden seltsamerweise auch hier die Geschichten, die diesen neuen sozialen Status nicht begninden konnen, verdrangt und einer Selbstzensur unterzogen. Die Referenz ist nicht mehr die Vergangenheit der Gruppe, sondem die der gesamten Nation: der nationale algerische Befreiungskrieg. In diesem Kontext spielt sich die Arbeit des Forschers ab. Man kann sich ohne weiteres die Enttauschungen bei seinen Versuchen vorstellen, die beiden „Schutzschilde", die sich vor ihm aufbauen, zu durchbohren. Fiir den Staat soil seine Forschungsarbeit nicht die „Geschichten" der Stamme rechtfertigen, die ihm seine Legitimitat und seine Macht iiber einen Teil des nationalen Territoriums streitig machen. Aus Sicht des traditionellen Hauptlingstums darf er die „Geschichten" der dominierten Gruppen nicht aufwerten, um sie nicht auf die Ebene der Geschichte der Noblen zu heben. In beiden Fallen handelt es sich um eine Logik des Besitzes und des Erhalts politischer Macht. So ist der Forscher iiberall unerwiinscht. Wird er sich mit den Schwachsten, das heiBt mit den Vasallen und den Beherrschten, verbiinden? Doch seine Rolle ist es nicht, eine Gruppe gegentiber einer anderen zu begiinstigen. Selbst wenn er es tate, konnten die im Kontext der traditionellen Hierarchic Schwachsten im neuen Kontext des Nationalstaats den Status wechseln und umgekehrt. Angesichts dieses Dilemmas muss die Strategic des Forschers darin bestehen, sich flir alle Geschichten zu interessieren, die auch seine Gesprachspartner interessieren. So defmieren sie mitunter Themen, die sie eingehender als andere mit dem Forscher erortert haben mochten. Seine Arbeit muss wie ein Beitrag zur Kenntnis der kulturellen Geschichte der gesamten Gemeinschaft erscheinen. Ein solches Wissen aber darf grundsatzlich nicht auf Kosten eines Teils der Gruppe zuungunsten eines anderen Teils gewonnen werden.
3. Zur Funktion des traditionellen Wissens in der Tuareg-Gesellschaft Bei meinen Feldforschungen ist mir klar geworden, dass neben dem politischen und sozialen Prestige, das der Besitz traditionellen Wissens verleiht, dieses als praktisches Wissen fiir die Bewaltigung des Alltags der Gemeinschaft genutzt wird.
Das traditionelle Wissen als Politikum Manchmal kennen die traditionellen Oberhaupter (Imgharen) neben den oralen Traditionen ihrer eigenen Stamme sehr genau die Traditionen jener Gruppen,
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die ihrer traditionellen Autoritat unterstehen. Diese Kenntnis hilft ihnen, die orale Tradition und insbesondere das Erinnem der Verwandtschaftsbeziehungen zu nutzen, um die verschiedenen Verbindungen zwischen den Gruppen zu starken. So begrtinden auch die Uraghen, deren Oberhaupt (amghar) zu den besten Spezialisten der oralen Tradition der Gruppen des Azjer zahlt, den Zusammenhalt ihrer politischen Gruppe liber Verwandtschaftsbeziehungen, die alle die Gruppe konstituierenden Stamme miteinander verbinden. Ebenso kennt auch der amghar der Imanan sehr genau die oralen Traditionen seines eigenen Stammes, auBerdem noch jene der seit jeher von ihm abhangigen Gruppen und in einer etwas ungenaueren Weise auch die der anderen Gruppen des Azjer. Die Wiederbelebung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen des Azjer begrtindet, so ist festzustellen, im Kontext des politischen Pluralismus in Algerien neue Beziehungen und politische AUianzen. Dass sich die modernen Parteien die alten Verfahren zunutze machen, verdeutlicht, inwieweit der Besitz des traditionellen Wissens in der Bestimmung der Beziehungen zwischen den verschiedenen parteipolitischen Stromungen, die sich das politische Terrain des Azjer teilen, zum Politikum wird. Denn in vielen Fallen basiert die Mitgliedschaft in diesen Parteien auf der Basis alter Verwandtschafts- oder Vassalitatsbeziehungen. Femer lasst sich feststellen, dass das traditionelle Wissen iiber seine Nahe zur traditionellen politischen Macht aufgewertet wird. Diese privilegierte Situation bringt es in Konkurrenz zur religiosen Orthodoxie.
Traditionelles Wissen und Bucherwissen der Kel Adagh und der Kel Azjer Am Anfang meiner Feldforschung hatte ich mir erhofft, im Adagh auf einige schriftkundige Gruppen und Spezialisten religiosen Wissens (so vor allem die Kunta und Kel Essuk), auf Manuskripte oder schriftliche, sich auf die Gruppe dieser Region beziehende Quellen zu stoBen, aber abgesehen vom Kitab Nawazil von Baye, einem 200-seitigen Manuskript, das sich religiosen Fragen widmet und das auf einigen Seiten die oralen Traditionen der Ifughas aufgreift, habe ich nichts weiter Wichtiges gefunden. Es gibt jedoch in der personlichen Bibliothek des Amanukal des Adagh, Intalla ag Attaher, ein neueres Manuskript von 20 Seiten, das in den 1970er Jahren auf dessen Wunsch von einem Mann namens Tesemmet, einem Spezialisten der oralen Tradition der Kel Adagh, verfasst worden ist. Dieses beinhaltet die Genealogie der Ifughas, der Nachkommen von Aitta und zusatzlich noch eine kurze Passage zu dessen Biographic. Das Manuskript ist im Adagh weit verbreitet und konnte selbst Quelle fur einige aktuelle Genealogien sein. Die Aufmerksamkeit, die dieses Manuskript hervorruft, ist der Beweis eines bestimmten, auf
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Seiten einiger Kel Adagh wiederauflebenden Interesses an oraler Geschichte, das mir wahrend meiner Reisen im Adagh auffiel. Die Gruppe der Kel Essuk, zu der zahlreiche Arabisch schreibende Schriftkundige zahlen, interessiert sich nicht fiir lokale Geschichte, zumindest haben sie iiber diese, die sie im Ubrigen mit Genealogien gleichsetzen, nichts geschrieben. Dennoch habe ich bei ihnen einige neuere Manuskripte geflinden, die auf Verbindungen zwischen den verschiedenen, iiber den gesamten von Tuareg bewohnten Raum verstreut lebenden FamiHen der Kel Essuk Bezug nehmen und ihre Bewegungen seit ihrem Aufbruch von ihrem Ausgangsort, der Stadt Essuk, bis hin zu ihren heutigen Wohnsitzen schildem. Diese Manuskripte wurden von ihren Gelehrten in der Absicht verfasst, in den verschiedenen Stammen der Kel Essuk das Bewusstsein der Zugehorigkeit zu einem groBeren und homogenen Ganzen zu starken. Um den Grund des Desinteresses der Kel Essuk an der Geschichte der Gruppen des Adagh verstandlich zu machen, bringen einige ihrer Schriftkundigen das Argument vor, es handle sich um profanes Wissen (musnet n eddunya), das nur in dieser Welt zu gebrauchen sei, durch Gott aber nicht gewtirdigt werde. Ein solches Wissen unterscheidet sich von religiosem Wissen (musnet n eddin), das vom Gottlichen (ihak imerkiden) belohnt wird. Von daher, so sagen sie, ist es mehr wert, sich mit einem Wissen zu beschaftigen, das eher belohnt wird als mit dem, das demjenigen, der es wahrt, nur in dieser Welt dient. Meiner Ansicht nach wirft dies das Problem der Funktion traditionellen Wissens im aktuellen Kontext auf, das ich weiter oben angesprochen habe. Im Azjer, wo die Existenz sesshafter Gemeinschaften dem koUektiven Gedachtnis eine groBere Tiefe verleiht, ist die Situation etwas anders. Wahrend im Adagh keine Gruppe ihren Ursprung in vorislamische Zeit zurtickreichen lasst, bringen die miindlichen Uberlieferungen im Azjer die heutigen Bewohner der sesshaften Zentren mit vorislamischen Grabmalern in Verbindung, wie etwa die Grabhiigel (tumuli), die sie als Graber der Griindervorfahren ihrer Dorfer prasentieren. Nach den vorlaufigen Daten meiner Forschung gibt es in diesen Zentren in jeder Lineage ein altes Manuskript von ein bis zwei Seiten, auf Arabisch al-Khabes genannt, das sich auf den Besitz der Palmhaine von Djanet, Iharir oder Aherher bezieht. Diese Dokumente werden sorgfaltig aufbewahrt und besitzen besonderen Wert. Da meine Forschungen liber die sesshaften Zentren des Tassili noch am Anfang stehen, werde ich in einem anderen Rahmen die fur das Milieu der Sesshaften angemessenen Forschungstechniken ansprechen.
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4. Seitenwechsel? Wie in der Einleitung angekiindigt, besteht die zweite wichtige Frage darin, herauszufmden, ob der einheimische Forscher seinen nicht-einheimischen Kollegen gegeniiber im Feld privilegiert ist oder nicht. Die Problematik, die sich hier stellt, ist die der Nahe zum Forschungsgegenstand. Diese Problematik schlieBt alle im Zusammenhang mit Objektivitat oder Subjektivitat stehenden Probleme ein, folglich auch die der Plausibilitat der Analyse der im Feld gesammelten Daten und das Vorgehen des einheimischen Forschers bei der Auswertung. Ist diese Distanzierung (oder Objektivierung) in bezug auf den Forschungsgegenstand bei einem einheimischen Forscher groBer oder geringer als bei seinem fremden Kollegen? Meines Erachtens ist die Antwort in der Effizienz der methodischen Herangehensweise zu suchen, die jeweils vom Forscher angewandt wird. Ein solches Vorgehen sollte vom Forscher beschrieben und vom Leser auf seinen eigentlichen Wert hin beurteilt werden. Die Herkunftsgruppe sollte vor ihren Mitgliedem, zu denen der Forscher gehort, eigentlich keine Geheimnisse haben: im Prinzip kann man ja gar nicht gegen das Interesse seiner Herkunftsgruppe arbeiten. Fur die gegnerische Gruppe jedoch ist der Forscher gefahrlich und wird entsprechend von ihr gefiirchtet. Von befreundeten Gruppen wird er dagegen instrumentalisiert, um ihre Freundschaftsbande mit der Herkunftsgruppe des Forschers zu starken. Der einheimische Forscher muss alle diese Tatsachen berticksichtigen, um dem Einfluss der einen oder anderen Gruppe zu entkommen, die versucht sein konnte, ihn auf ihre eigenen Interessen hin zu orientieren. Sobald die betreffende Gruppe herausfmdet, dass sie es mit einem einheimischen Forscher (in meinem Fall einem Tuareg) zu tun hat, ist dieser unmittelbar in die Beziehungen eingebunden, die die Tuareg-Gruppen untereinander unterhalten; schon gerat seine Tatigkeit als Forscher in den Hintergrund. Die Gruppe wird ihn also bitten, sich noch einmal vorzustellen, indem er seinen Vomamen, den seiner Familie (ehan) und anschlieBend den seines Stammes (tawsit) angibt. Handelt es sich um eine Gruppe, die in einem Gebiet lebt, aus dem der Forscher kommt, gentigt es, seine Abstammung zu nennen (die Vomamen seiner Mutter und seines Vaters), um direkt im Verwandtschaftssystem eingeordnet zu werden. Handelt es sich aber um eine Gruppe, die ein anderes Gebiet bewohnt als das, aus dem der Forscher stammt, muss dieser sich auf seinen Stamm beziehen. Es ist, als handle es sich um konzentrische Kreise, die, je mehr man sich von seiner Herkunftsregion entfemt, sich von der Fraktion (ehan) hin zur Konfoderation (akal) erweitem. Wenn die betreffende Gruppe eine Fraktion (ehan) der Lineage ist, zu der der Forscher (tawsit) gehort, sie sich aber in einem anderen Gebiet befindet, reicht es in diesem Fall aus, an den Namen seiner
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Fraktion zu erinnern. Diese Situation ist fiir den Forscher auBerst heikel, weil er alle friiheren Beziehungen in seine Uberlegungen einbeziehen muss, die zwischen seiner Herkunftsgruppe und der Gruppe bestehen, in der er forscht. Um diese Schwierigkeit abzuschwachen und seine Forschung zu einem guten Abschluss zu bringen, muss der Forscher im Voraus die Art dieser Beziehungen kennen. Sind letztere schlecht, muss er alles dafiir tun, seinen Gesprachspartnern die Forschung zu erklaren und sie von ihrem Nutzen zu iiberzeugen. Um den Zugang zur Gruppe zu erleichtern, begibt sich der Forscher haufig in die Obhut einer von den Mitgliedem der untersuchten Gruppe anerkannten weisen Personlichkeit. Diese kann aus derselben Gruppe oder einer ihr nahe stehenden sein. Sehr oft kann dieser Weise, der amghar (Alteste), die Rolle des Mittlers zwischen dem Forscher und den Mitgliedem der Gruppe iibemehmen. Meist hat er darin auch Erfolg. So habe ich die Empfehlung des Amghar des ^z/^r-Gebietes, namlich die von Ibrahim Ghuma in Anspruch genommen, um mir zu einigen Gruppen, insbesondere den Igaragriwen, Zugang zu verschaffen. Die Art der Beziehungen zwischen der Gruppe, aus der der Forscher stammt, und der Gruppe, in der er forscht, kann nur insoweit fiir ihn giinstig sein, wie die traditionellen Beziehungen zwischen den beiden Partien positiv eingeschatzt werden. In diesem Fall muss das Verhalten der Beforschten gegeniiber dem Forscher den Anforderungen der guten Beziehungen entsprechen, die beide Gemeinschaften verbinden. Auch kann die Anwesenheit des Forschers in dieser Gruppe Gelegenheit bieten, iiber dessen Vermittlung Verbindungen zu bekraftigen, so dass er, auch ohne es zu wollen, zum Reprasentanten seiner Herkunftslineage wird. In dieser Situation erinnert und betont die untersuchte Gruppe bei jeder sich bietenden Gelegenheit die guten Beziehungen, die zwischen den beiden Stammen bestehen und die Notwendigkeit, sie zu bekraftigen. Ist die untersuchte Lineage dieselbe wie die des Forschers, wird man aus der Uberlegung heraus, dass dessen Arbeit nur im Interesse des Stammes vonstatten gehen kann, ebenfalls versuchen, seine Tatigkeit ftir sich zu nutzen. Indessen muss sich der Forscher bewusst sein, dass die anderen nicht standig zur Verftigung stehen, dass sie ihren eigenen Beschaftigungen nachgehen und dass seine Anwesenheit sie auf keinen Fall storen darf. Die Beziehung des Forschers zur Gemeinschaft sollte von Momenten der Pause und der Ruhe begleitet sein, wo man Raum lasst, iiber alles und nichts zu reden, um die Atmosphare aufzulockern. Manchmal sind es gerade solche Momente der Entspannung, in denen man auf ein Detail stoBt, das Themen eroffiien kann, die bis dahin noch nicht angesprochen worden waren. In Momenten der Pause, wo die Wachsamkeit der Befragten sinkt, muss der Forscher, gertistet mit all den Triimpfen, die ihm sein einheimischer Status als Kenner der Sprache und der Kultur der Tuareg verleiht, in den Alltag der Gemeinschaft hineinfinden und auf
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keinerlei Weise provozieren: auBerhalb von strukturierten Gesprachen niemals Fragen stellen, die Misstrauen und Verlegenheit bei Gesprachspartnern hervorrufen konnten. Beobachten, diskutieren, Freundschaften knilpfen und Sympathien hervorrufen. Nichts von seinem v^issenschaftlichen Interesse an den beobachteten Dingen oder den informell eingeleiteten Gesprachen sichtbar werden lassen, im Gegenteil zeigen, dass einen alles wie selbstverstandlich interessiert. Dieses zweigleisige Vorgehen wahrend der Unterhaltungen kommt dem gleich, was die Ethnologen „teilnehmende Beobachtung" nennen.^ Der andere wesentliche Aspekt einer solchen Vorgehensweise ist folgender: Sie schafft einen wichtigen Ubergang, um mit dem Forschungsumfeld vertraut zu werden und sich von den sozio-politischen und kulturellen Herausforderungen innerhalb der Gemeinschaft, in der man forscht, eine Vorstellung machen zu konnen, selbst wenn diese noch alles andere als umfassend ist. Die Kenntnis dieser Gegebenheiten ist fiir den Verlauf der Forschung entscheidend. Es geht darum, die sensiblen Punkte herauszufmden, die offen anzusprechen man bei den dann folgenden Unterhaltungen vermeiden sollte, ferner diejenigen zu kennen, bei denen man gegebenenfalls seine Fragen vage formulieren muss, damit sie uberhaupt aufgenommen werden. Dass der Forscher die Sprache und das saharische Milieu kennt, ermoglicht ihm, Zeit zu gewinnen und nicht die Dienste eines Ubersetzers mit all den Problemen, die dessen Mitarbeit mit sich bringt, in Anspruch nehmen zu miissen. Denn der Ubersetzer konnte versucht sein, das von den anderen Gesagte umzuformulieren, damit es fur den Forscher verstandlicher wird. Fiir jemanden, der die Sprache nicht spricht, ist es in der Tat schwer einzuschatzen, ob die Begriffe, die der Ubersetzer gebraucht, mit denselben Emotionen befrachtet sind und das gleiche semantische Feld abdecken wie die, die er iibersetzt.
Ich habe die Methode der teilnehmenden Beobachtung nicht bewusst eingesetzt. Aufgrund meiner Kenntnis der Sprache und der Tuaregkultur, der ich selbst angehore, hatte ich wenig Probleme damit, die verschiedenen Situationen, in denen ich mich befunden, oft auch wiedergefunden habe, zu verstehen und zu verarbeiten, ohne deswegen in die Falle einer Leichtigkeit zu tappen, die man bei einer solchen fehlenden sprachlichen Barriere vermuten konnte. Denn die soziale und kulturelle Nahe kann bewirken, dass sich das Forschungsfeld zu sehr „von selbst versteht", was die Gefahr birgt, dass die Neugier nachlasst, dass der Wunsch, etwas zu „entdecken" und das Staunen des Forschers uber seine Umgebung verloscht. Dieser muss in der Tat Distanz aufnehmen und Abstand zu seinem Forschungsgegenstand gewinnen, um besser die Konstellationen verstehen zu konnen, denen er sich gegeniibergestellt sieht. Dennoch ist Beobachtung unersetzlich, um bestimmte Ereignisse zu begreifen, die nur einmal im Leben eines Menschen passieren, wie etwa die Amtsnachfolge des amanukal in einer TwrnQg-chefferie.
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5. Methoden der Datenerhebung Bei meinen Forschungen unter den Nomadengruppen des Azjer gait es, die Modalitaten zu benicksichtigen, in denen traditionelles Wissen weitergegeben wird. Ublicherweise geschieht dies entweder bei familiaren Treffen um die Feuerstelle vor dem Zelt oder bei den Zusammenkiinften ahal^^ am Rande des Camps. Das erste Treffen hat einen engeren Rahmen, da sich hier allein die Familienmitglieder versammeln, das heiBt die Mutter, die Kinder, manchmal der Vater. Dieses familiare Zusammentreffen eher privater Art ermoglicht der Mutter, ihrer Kindem die Grundziige der Tuaregkultur und das gesamte Wissen liber Familie, Lineage und unmittelbare Umgebung einzupragen. Auf diese Weise erwirbt das Kind erste Anteile seiner Identitat, die die Basis seiner Personlichkeit bilden werden, ist es eines Tages erwachsen. So sehr die Weitergabe wahrend der familiaren Zusammentreffen in eine einzige Richtung zielt, das heiBt von der Mutter hin zu den Kindem, so interaktiv voUzieht sie sich beim zweiten. Hier konnen alle Anwesenden mitwirken und die Gesprache beleben. Das Wissen ist in gewisser Weise plural und richtet sich an eine breitere Zuhorerschaft. Dieses zweite Zusammentreffen hat einen eher offentlichen Charakter, weil sich alle Mitglieder der Gruppe daran beteiligen. Es wird ahal genannt, was eine Form spielerischen und zugleich kulturellen Charakters des Zusammentreffens bezeichnet. Das in diese zweite Zusammenkunft hineingetragene und weiterverbreitete Wissen ist von einer zweiten Kenntnisebene. Es ist ein allgemeines Wissen, fur die ganze Gruppe bestimmt, und somit kein personliches und familiares mehr. Es hat sich aus der Summe aller oberen Schichten der privaten oder sagen wir familiaren Wissensbestande konstituiert, die wahrend der ersten Zusammentreffen erworben wurden. Es sind die Schichten, die sich vom ausschlieBlich personlichen Wissen eines jeden Familien-, genauer noch Zeltmitglieds, unterscheiden. Die Mitglieder der Gruppe setzen diese Wissensbestande in die Praxis um, mit dem Ziel, sie zu homogenisieren und zu vergesellschaften, um eine kollektive Identitat zu schaffen, die der gesamten Gruppe zu Eigen ist. Auf organisatorischer Ebene ist tibrigens ahal ein Abbild des familiaren Zusammentreffens, insofern alle anwesenden Personen um eine weibliche Person sitzen, die „Vorsitzende des a/za/-Treffens" (tamghart n ahal) genannt wird. Wie wahrend des ersten Zusammentreffens die Mutter, ist sie es nun, die den ° Ahal: Dieser Begriff, der vor allem unter den Tuareg des Ahaggar und des Azjer gebrauchlich ist, bezeichnet eine musikalische und poetische Veranstaltung, die dann stattfindet, wenn es wenig im Camp zu tun gibt, das heiBt in den heifien Vormittagsstunden oder am Abend nach Sonnenuntergang. Ahal wird als richtige Institution verstanden und gilt als Hohepunkt des kulturellen, kiinstlerischen und literarischen Lebens der Tuareg.
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anderen nach ihrer Wahl das Wort erteilt und es entzieht, die die Redebeitrage einteilt und darauf achtet, dass die Regeln des Anstands respektiert werden. Das gesamte Treffen ist auf sie ausgerichtet, sie bildet das Zentrum, in deren Bannkreis die Teilnehmer stehen. Sie ist ausgezeichnet durch den Besitz ihres traditionellen Wissens, vor allem auf dem Gebiet der Poesie, der Musik, der Lieder, der Marchen, Legenden etc. Wahrend das familiare Zusammentreffen in einem fur die kulturellen Aktivitaten bestimmten, dem Zelt zugeordneten privaten Raum vonstatten geht, zu dem allein die Mitglieder der Kemfamilie {dat ehen) Zugang haben, fmdet das Zusammentreffen ahal in unmittelbarer Nahe zum Camp statt. Auch dieser Raum ist ein Abbild von ersterem, insofem er ausschlieBlich den kollektiven Aktivitaten der Mitglieder der Gruppe vorbehalten ist. Diese beiden Zusammenkiinfte, die der Weitergabe des traditionellen Wissens dienen, finden generell am Abend statt, das heiBt, in einem Moment der Entspannung, wenn die Tagesaktivitaten ihrem Ende zugehen. Denn der Tag ist dazu da, das Wissen, das in der Nacht erworben wurde, in die Praxis umzusetzen. Indem ich das Gesprach anderen Forschungstechniken, vor allem dem Interview und dem Fragebogen vorgezogen habe, woUte ich so weit als moglich die traditionellen Bedingungen und Kontexte wieder entstehen lassen, in denen sich normalerweise die Weitergabe des traditionellen Wissens vollzieht, um daraus Nutzen zu ziehen. Dadurch habe ich die Form der traditionellen Ubermittlung vorgezogen, die dem Zuhoren, dem sich Aneignen den Vorzug gibt. Die Person, die das traditionelle Wissen wahrt, reagiert fast unwillkiirlich, ihr Gedachtnis wird dadurch angeregt, dass ahnliche Voraussetzungen geschaffen sind, den traditionellen Gegebenheiten nahe, die sie gewohnt ist. So musste ich nichts weiter als zuhoren, selbst wenn ich den Eindruck hatte, vom Thema abzukommen. Dazu habe ich die qualitativen und quantitativen Methoden der Soziologen und Ethnologen den Gegebenheiten meines Forschungsfeldes angepasst. Es geht um das Gesprach, bei dem ich zwischen Gruppen-Gesprach und individuellem Gesprach unterscheide. Beim Gruppen-Gesprach wiederum unterscheide ich zwei Phasen. Die erste Phase beginnt mit der Ankunft des Forschers in einer Tuareg-Gemeinschaft. Diese Ankunft ruft die Neugier von alien Mitgliedem der Gruppe hervor, die sich um den Neuankommling scharen, um ihn zu begriiBen und nach Neuigkeiten zu fragen. Die Neuigkeiten beziehen sich hier auf Weidegrtinde und Gruppen in der Umgebung. Dieses Ritual folgt einer Rollenzuweisung, da nur die Weisen der Gemeinschaft, Frauen oder Manner, sich dem Fremden nahern konnen (in meinem Fall war ich ein Lineage-Fremder). Die Ankunft eines Fremden wird als Storung der Harmonic empftmden, gilt als Grund moglicher Unruhe fiir die betreffende Gruppe. Die Weisen, vor allem die Manner, sollten sich eigent-
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lich aufgrund ihres Wissens, das sie auf ihren Reisen ins Ausland (in den Sudan oder in andere saharische Oasen) erworben haben, von der Wirkung, die die Anwesenheit des Fremden unter ihnen hervorrufen konnte, nicht beirren las sen. Die Jiingeren sind zwar anwesend, halten sich aber ein wenig abseits nach der raumlichen Anordnung eines Halbkreises. In dessen Mitte befindet sich der Forscher und ihm gegeniiber die Weisen der Gruppe, die ihn befragen (man kann sich diese raumliche Anordnung leicht vorstellen). Die wahrend dieses informellen Treffens diskutierten Themen haben einen formlichen und verallgemeinernden Charakter. Es geht mehr um Allgemeinheiten, um Neuigkeiten uber Regen und Weidegebiete, dann ziehen sich alle zuriick, um spater wiederzukommen. Die zweite Phase des Gruppengesprachs fmdet nach dem Abendessen statt. Die Weisen, hier in ihrer RoUe als Kenner und Bewahrer des traditionellen Wissens, kommen zuriick, um ihre Kenntnisse zu erweitem und ihr eigenes Wissen mit dem zu bereichem, was der Fremde an Neuigkeiten ublicherweise mitbringen sollte. Hier ist der Fremde Quelle des Wissens, allerdings eines ungezahmten Wissens, das daher fiir das Einvernehmen der Gemeinschaft gefahrlich werden konnte. Um die unheilvollen Wirkungen des mitgebrachten Wissens zu neutralisieren und es fur die Gemeinschaft nutzbar zu machen, muss dieses liber die Weisen vermittelt werden. Dennoch kann es auch storend und disharmonisch wirken, weil es noch keinen Platz im Bestand des lokalen Wissens hat. Die Weisen konnen Frauen oder Manner sein, manchmal sind es sowohl Manner als auch Frauen, so in Amihru und Iharir. Wahrend dieser Zusammenkunft gruppieren sich alle in derselben raumlichen Anordnung wie wahrend des ersten Treffens: das heiBt, wiederum in einem Halbkreis, der sich aus den Jungen formiert, die nicht berechtigt sind, sich direkt an den Fremden (amagar) zu wenden. Allerdings ist dieser Kreis inzwischen kleiner geworden, weil die Jiingsten vermutlich schlafen gegangen sind. Die Hartnackigsten unter ihnen sind aber noch da. In der Mitte gegeniiber dem Forscher befmden sich die Wiirdentrager. Die bei diesem zweiten Zusammentreffen angesprochenen Themen sind tiefgehender als die wahrend des ersten Treffens. In der Diskussion, die sich bis in die tiefe Nacht ziehen kann, lassen sich alle Themen aufgreifen. Die Jungen, die die Diskussionen beobachten und mitverfolgen, intervenieren hin und wieder, um beispielsweise die Erzahler (ihrer Gruppe) anzuregen, eine der Geschichten zu erzahlen, die sie vorgetragen haben wollen. Das ist iibrigens ein Beweis, dass sich die Jungen fiir diese Geschichten interessieren. Zudem bietet sich hier Gelegenheit mitzuverfolgen, wie die Weitergabe oralen Wissens von den Altesten an die Jiingsten erfolgt: durch Lernen, das darin besteht, zuzuhoren und aufzunehmen, um die erworbenen Fahigkeiten in die Praxis umzusetzen.
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Wahrend dieses Zusammentreffens iiberlassen sich die Frauen bereitwillig dem Erinnem, um ungehemmt liber alle Themen zu sprechen, die ihnen in den Sinn kommen. Hingegen ist bei den Mannem eine gewisse Verlegenheit zu spiiren, dass die Frauen gewillt sein konnten, in der Diskussion sehr weit zu gehen. Die Manner, mehr als die Frauen auf politische Probleme und, liber ihre Beziehungen zur AuBenwelt, auf den Zusammenhalt der Gruppe bedacht, mogen diesen Moment unpassend fmden, um sensible Fragen zu behandeln, die dem Nicht-Sagbaren unterliegen. Die Leichtigkeit, mit der die Frauen orale Traditionen vermitteln, ist auf ihre traditionelle Rolle in der Tuareggesellschaft zuruckzufiihren, ihre Aufgabe, in der Gemeinschaft orales Wis sen zu wahren und weiterzugeben. Sie lasst sich aber auch damit erklaren, dass sich die Frauen im algerischen Azjer nicht um politische Fragen kiimmern, die die Manner beschaftigen. Politische Fragen, vor allem parteipolitische Fragen, gehoren nicht zum Bereich des intemen Wissens der Gruppe. Ftir den Forscher ist es dieses ,Nicht-Gesagte', das mehr als jeder andere Hinweis seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Um es zu verstehen, muss er unter den Anwesenden die fiir ihn interessantesten Personen hinsichtlich ihres sprachlichen Vermogens fiir spatere vertiefende Einzelinterviews ausmachen. Das Schliisselwort hier ist „gezielt ansprechen" in dem Sinn, dass man vom Allgemeinen zum Besonderen voranschreitet. Hat man bei einem informellen Treffen die auf ihr traditionelles Wissen hin interessantesten Informanten ausfmdig gemacht, sollte man sich das Sammeln oder Aufnehmen strukturierter Erzahlungen zur Hauptaufgabe machen. Man darf jedoch nicht aus dem Blick verlieren, dass es sich hierbei um eine Konstruktion mehrerer durch Zeit und Raum voneinander getrennter Elemente handelt, die durch die orale Tradierung umgestaltet und der selektiven Arbeit des kollektiven Gedachtnisses der Gruppe unterworfen worden sind, bevor sie bis zu uns gelangt sind, um dann innerhalb der betreffenden Gruppe eine ideologisch symbolische Funktion zu erfiillen. So wird es darum gehen, diese Geschichten einer Dekonstruktion zu unterwerfen, um Momente oder herausragende Ereignisse zu entschliisseln, die in der Vergangenheit das Leben der Gemeinschaft gepragt haben, Ereignisse, die von der Gruppe verdrangt oder sogar vergessen werden konnen. Hier setzt ein Frage- und Antwortspiel oder ein Dialog zwischen Forscher und Informanten ein. In diesem Vor und Zuriick versucht letzterer seinen Gesprachspartner zu ergrtinden, um die Emsthaftigkeit der Fragen zu priifen. Doch ist der, der am meisten reden muss, nattirlich der Informant, weil er die wichtigeren Dinge zu sagen haben sollte. Der Forscher hat eine doppelte Rolle: Auf der einen Seite muss er der Diskussion folgen, muss seinen Gesprachspartner verstehen und ihn, jedes mal wenn er in seinem Gedankengang abbricht, dazu anregen, diesen wieder aufzunehmen, um aus seinem Gedachtnis zu schopfen.
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Auf der anderen Seite muss er genau die Fragen stellen, die notig sind, um den Diskussionsfaden aufrechtzuerhalten. Zudem ist fiir den Forscher der Informant in seinen kleinsten Bewegungen, seinem Lachen, Zogern, Innehalten und in seinen Positionen (sitzend, sich auf den Ellenbogen stiitzend, ausgestreckt liegend, oder von einer Position in eine andere wechselnd) Gegenstand der Beobachtung.
6. Interaktives Befragen Kommt man zum ersten Mai in eine Tuareggemeinschaft so empfmdet man zunachst eine Barriere des Misstrauens und des Unverstandnisses. Diese Barriere kommt in der folgenden Frage zum Ausdruck, die sich immer wieder emeut stellt, wenn man versucht, mit einem Gruppenmitglied naher Kontakt aufzunehmen.
Wer bist du (mi temused?) Die Frage erinnert einen standig daran, dass man fiir die Gruppe, in der man forscht, im wahrsten Sinne des Wortes ein Fremder ist. Es gibt eine Grenze, die man als unantastbar bezeichnen konnte, als nicht uberwindbar, als handele es sich um die Schwelle eines Hauses oder um eine Privatsphare, die man verletzen will. Diese Frage ist fur den Forscher eine Art „Feuertaufe" oder Prufung, von deren Bestehen der Verlauf der Forschung abhangt. Wird es gelingen, der Gruppe ihr Misstrauen zu nehmen, oder wird sich diese, ganz im Gegenteil, mehr vor dem Forscher verschlieBen? Sich mit Geduld zu wappnen, ist fur den Forscher eine Tugend von grundlegender Bedeutung. Doch er muss sich bewusst sein, dass sich die Reaktion der Gruppe aus ganz normalen Schwierigkeiten erklart und von daher nichts AuBergewohnliches ist. Und er soUte verstehen, dass seine Anwesenheit, sein Auftreten, seine Sprache, seine Art, sich zu verhalten und manchmal selbst noch seine Ftihrer oder seine Begleiter ebenfalls Zeichen setzen, die Bedeutung besitzen, und die die Befragten negativ oder, im Gegenteil, positiv entschltisseln konnten. Eine Art Zeichensprache, die, ist sie negativ, in der Gruppe Misstrauen, wenn nicht gar Ablehnung hervorrufen konnte. Wenn es Ablehnung gibt, muss der Forscher in alle Richtungen denken und versuchen, das blockierende Element aufzudecken. Und dies, indem er zugleich beriicksichtigt, dass sein Gegeniiber, namlich die erforschte Gruppe, sich selbst Fragen stellt. Mit anderen Worten: Es
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gilt, sich immer wieder in Frage zu stellen, sein methodisches Herangehen und seine Argumente zu uberpriifen, bevor man sich der anderen Seite zuwendet. Es kommt aus all den erwahnten Grunden vor, dass sich die Gmppe dem Forscher gegeniiber vollstandig verschlieBt. Offnet sie sich, ist es natiirlich Gliick. VerschlieBt sie sich, ist das leider eine Katastrophe. Es ist aber nicht der Weltuntergang. Man muss beharrlich sein, darf sich nicht der Verzweiflung uberlassen, denn in solchen Fallen konnen ganze Tage, gar Wochen vergehen, bevor die Mitglieder der Gruppen am Ende doch beschlieBen, mit dem Forscher zu sprechen. Mit ihm zu sprechen, bedeutet, ihm die folgende zweite Frage zu stellen.
Was machst du (ma kanned?) Die Zeit, die vergeht, bevor die Mitglieder der Gruppe sich entscheiden, diese zweite Frage zu stellen, wird meiner Ansicht nach benotigt, um in der Gmppe Konsens dartiber zu erreichen, ob es richtig oder falsch ist, in Kontakt mit dem Forscher zu treten und auf welcher Ebene in der Hierarchic der Bewahrer traditionellen Wissens dieses geschehen sollte. Zwischen dem „wer bist du?" und dem „was machst du?" liegen Welten. Wahrend die erste Frage darauf abzielt, den Forscher einordnen zu konnen, um ihn in das System der traditionellen Beziehungen zwischen verschiedenen Tuareg-Gruppen zu integrieren, ihn gewissermaBen zu benennen, kommt es in der zweiten Frage darauf an, das Motiv fur seine Anwesenheit in der Gruppe zu priifen. Die untersuchte Gruppe dahin zu bringen, diese zweite Frage nach dem Motiv fixr seine Anwesenheit zu stellen, ist von Seiten des Forschers ein Kunststuck an sich, geht es doch darum, einen weiteren Schritt auf sie zuzugehen. Zugleich bietet sich damit dem Forscher auch Gelegenheit, die Beweggriinde fiir seine Anwesenheit zu erklaren und alle seine Energie zu mobilisieren, um seine Gesprachspartner vom Sinn seines Vorhabens zu liberzeugen, indem er auf deren Vorteil hinweist, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er konnte sein eigentliches Forschungsinteresse in einer Flille von Grunden aufgehen lassen, von denen er schon vorher weiB, dass sie die Gruppe interessieren werden (siehe Iharir). Es geht dabei um das, was einige Forscher „die Raffmesse des Anthropologen" nennen. Ein solcher Trick darf auf keinen Fall der Ltige gleichkommen, ist dies doch das Schlimmste in Beziehungen zu solchen Gesellschaften, welche dem gegebenen Wort tiefsten Respekt zollen. Die Antwort auf die gestellte Frage sollte den Beginn eines Dialogs, oder wie ich sagen wiirde, eine Diskussion unter den Befragten auslosen, die sich fiir
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die vorgebrachten Argumente interessieren. Hier muss der Forscher wachsam sein, um im Subtext der Diskussion Elemente zu erahnen, mit denen er eine allgemeine Debatte auslosen konnte, die zur Entspannung und schlieBlich zur Offenheit der Gesprachspartner fiihrt. Was hat man dir dazu gesagt (ma hakyenna mendam?) Diese Frage konnte auch folgendermaBen formuliert werden: „Was hat eine bestimmte Person dir zu diesem Thema gesagt?" Fiir den Informanten stellt sie sich im Anschluss an seine Erzahlung. Mit der Frage zielt er darauf ab zu erfahren, was einer der Informanten, mit dem ich mich zuvor unterhalten hatte, liber genau dieses Thema zu sagen wusste. Die Frage ist zweischneidig. 1) Der Informant taxiert den Forscher, um zu wissen, ob er vertrauenswurdig ist und um sicher zu gehen, dass die an ihn gegebenen Informationen vertraulich behandelt werden. 2) Der Informant achtet darauf, nicht in Widerspruch mit dem Gesprachspartner vor ihm zu geraten, konnte er sich doch mit ihm messen, wenn dieser auf dem Gebiet des Wissens Ansehen genieBt. Hieran wird offensichtlich, dass der SpeziaHst traditionellen Wissens seine Kenntnisse zu steigern sucht und dass diese sein Prestige begrunden. In seiner Antwort muss der Forscher vorsichtig sein und alle diese Komponenten berixcksichtigen. Ich selbst antworte gewohnHch auf diese Frage folgendermaBen: „Der Forscher gleicht einem Marabout oder einem Mediziner, er unterliegt der Schweigepflicht und ist daher verpflichtet, sich zuruckzuhalten. Um der Verschwiegenheit willen kann ich an wen auch immer nur solche Informationen von meinen Informanten weitergeben, die einmal aufgeschrieben wurden und im Geschichtsbuch endgiiltig festgehalten sind."
Was denkst du (ma s teslid?) Diese von den Gesprachspartnem gestellte Frage ist Ausdruck ihrer Anerkennung des Wissens des Forschers. Fur sie gleicht von jetzt an sein Wissensstand dem ihren. Und dies, obwohl gerade sie es sind, die das Wissen bis heute gewahrt haben, wohingegen er zuzuhoren hatte, um alles von ihnen zu erfahren. Meist wird diese Frage wahrend eines zweiten Forschungsaufenthalts gestellt, die der Forscher aufgrund seiner friiheren Erfahrung und seiner verschiedenen Forschungen, die er in anderen benachbarten Gruppen durchgefiihrt haben sollte, jetzt eigentlich in ihrer ganzen Dimension verstehen miisste. Und genau dann muss der Forscher eine Entscheidung treffen. Wird er seine Kenntnisse aufdecken oder ganz im Gegenteil erklaren, nicht mehr als seine Gesprachspartner zu
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wissen? Allerdings darf er dabei ein wichtiges Moment nicht aus den Augen verlieren: Wenn er sein Wissen iiber die behandelte Thematik darlegt, konnten seine Informationen in die lokale orale Tradition aufgenommen und integriert werden; sie stammen ja von jemanden, der als wissend und damit als vertrauenswlirdig gilt. All das, was der Forscher erzahlt, kann deshalb das traditionelle Wissen beeinflussen, vorausgesetzt, es liegt im Interesse der Gruppe. Hier verschafft sich der Forscher den Ruf eines Wissenden, dessen Gesellschaft die einflussreichsten Mitglieder der Gruppe suchen, in der Hoffnung, sich selbst oder ihre Gemeinschaft in den Buchem der „Geschichte" erwahnt zu fmden, die der Forscher verfassen und denen er zu Allgemeingiiltigkeit verhelfen sollte, die nur iiber das Geschriebene zu erreichen ist. Auch hier sind zwei Grundhaltungen von Seiten der Reprasentanten der untersuchten Gruppe moglich: Entweder sie nehmen die betreffenden Schriftstiicke, reinterpretieren sie in Form von Maximen, die fiir die anderen Mitglieder leicht zu integrieren sind und ftihren auf diese Weise das Verschriftlichte der lokalen oralen Tradition zu. Oder es werden diejenigen unter den Mitgliedem der Gruppe, die Zugang zu den Schriften haben, diese tibersetzen und in miindliches Wissen transformieren, das der Struktur der oralen Geschichte folgt. So ist dies ein orales Wissen, das uber seine Verschriftlichung wieder aufbereitet wurde oder durch diese hindurchgegangen ist, bevor es emeut wieder zu einem scheinbar oralen Wissen wird. In diesem Fall versucht die Gruppe, die Arbeit des Forschers fur sich zu nutzen. Die zweite mogliche Antwort des Forschers auf die gestellte Frage besteht darin, sich mit dem zu begnugen, was ihm seine Gesprachspartner gesagt haben. Diese Haltung bedeutet, dass der Forscher nicht mehr als die anderen weiB, sein Wissen daher immer erweitert und gesteigert werden konnte. Der Forscher konnte diese Frage als einen Beweis fur den Erfolg seiner von ihm angewandten Forschungsmethode und als Kronung seiner Bemuhungen ansehen, das Vertrauen und die Sympathie der Gruppe, in der er forscht, zu gewinnen. Sie ist fiir ihn Anlass des Stolzes und der Selbstzufriedenheit, der gegliickte Abschluss eines langen Prozesses des Hineinfmdens in die untersuchte Gemeinschaft, den er geduldig und sorgfaltig vorbereitet hat und mit Fingerspitzengefiihl angegangen ist. Und so ist der Forscher selbst in den Augen der Gemeinschaft ein Weiser geworden, jemand, den man fragt und um dessen Meinung man bittet, um das traditionelle Wissen zu bezeugen, fiir das bis dahin ausschlieBlich die Weisen der Gruppe zustandig waren. Anders gesagt, man wiederholt die Worte des Forschers, als ob es sich um eine iiberpriifte und beglaubigte Wahrheit von jemandem handelte, der Wissen, Buch- und traditionelles Wissen in einem besitzt. In dieser Situation ist die Gefahr groB, dass die orale Tradition an Wert verliert, sofern man versucht ist, das traditionelle orale, nicht verschriftlichte.
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von daher weniger wertgeschatzte Wissen durch ein Schrift- und damit universelles Wissen zu ersetzen. Dergleichen ist haufig der Fall, vor allem unter den Kel Adagh, die auf historische Personlichkeiten aus Nordafrika und ihre Rolle in der Lokalgeschichte setzen, wie etwa auf den Berberchef Kouseila, der den arabischen Eroberer Oqba Ibn Nafi in Biskra, in der Gegend des Aures-Gebirge in Nordafrika, unterworfen hat. Diese Schriftquellen wurden sicher mittels der oralen Tradition uber die Arabisch gebildeten Ineslemen^^ (Marabouts) weitergereicht. Man konnte dies als einen weiteren Beweis fur die Dynamik des kollektiven Gedachtnisses heranziehen, werden dartiber doch die schriftlichen Quellen, selbst wenn sie koharent verschriftlicht sind, in orales Wissen transformiert, das sich in das Raster der historischen Tradition der Gruppe einfiigt. Diese Realitat bringt uns dazu, orale Traditionen nicht als Fossilien zu begreifen, die uns von weit her erreichen, und die man, ohne dass sie den Transformationen oder Veranderungen der Zeit unterlegen waren, fiir bare Mtinze nehmen konnte.
Wozu client das, was du machst (ma yenfa a wa degh kenned?) So sehr das traditionelle Wissen den Einfluss seiner Trager und ihre Wertschatzung begriindet, so schwer lasst es sich angesichts der neuen Herausforderungen im heutigen, zunehmend von modemen Kommunikationsmitteln bestimmten Kontext als ein Wert behaupten, dessen Funktion als eine der Quellen eigener Geschichtskenntnis fur seine Bewahrer unbestreitbar ist. Die Leute sind es nicht gewohnt, einen einheimischen Forscher zu sehen, der ihnen mit einem Aufnahmegerat in der Hand Fragen stellt, die sie fiir reine Neugier nach banalen wertlosen Dingen halten. So verhalten sich gewohnlich nur Fremde, insbesondere Europaer. Dieses Unverstandnis lasst sich in die folgende, immer wiederkehrende Frage iibersetzen: „Wozu dient das, was du machst {ma infa a wa degh kenned?y\ Diese Frage driickt die innere Einstellung der saharischen Bevolkerungen aus, die angesichts des harten Uberlebenskampfs, den sie taglich fiihren, meine „intellektualisierten" Aktivitaten als Luxus betrachten. Diese Frage betrifft nicht den eigentlichen Wert traditionellen Wissens, sondem dessen Potential, demjenigen, der dartiber arbeitet, auf materieller Ebene etwas einbringen zu konnen. Es ist nicht allzu ersichtlich, welcher Nutzen sich daraus im lokalen Kontext ziehen lassen konnte. Es sind dies Dinge, die man zusatzlich zu alltag^ Ineslemen: wortlich, die Muslime. Dieser Begriff bezeichnet die auf das religiose Wissen der Muslime spezialisierte Gruppe. Die Herausbildung dieser Gruppe in der Sozialstruktur der Tuareg geht auf die Islamisierung dieser Gesellschaft zuriick.
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lichen Aktivitaten ganz selbstverstandlich lernt und nicht solche, denen ein Individuum seine gesamte Zeit widmet. Es ist ein Wissen, das Teil dessen ist, was die Identitat und Personlichkeit jedes Gruppenmitglieds ausmacht und das jeder wahren sollte. Seine Zeit damit zu verbringen, Leute zu befragen und dariiber seine RoUe in der eigenen Familie (reisen, die Tiere tranken und weiden, oder gegebenenfalls eine Funktion in der lokalen Verwaltung einnehmen, etc.) zu vemachlassigen, kann aus dem Forscher eine marginale Person machen, die man mit dem Begriff der „wer infa heret" bezeichnet, was so viel bedeutet wie „er taugt zu nichts". Der Forscher wird in den Augen der Gruppe zu einem angepassten Individuum, das nicht mehr zu seiner Identitat und seiner Kultur steht. Er situiert sich auBerhalb der lokalen Herausforderungen und nahert sich dem Status des Fremden an. In diesem Stadium kann man ihm einraumen, dass er, wie dies auch Fremde tun, Fragen stellt und sich fur die Eigenheiten des Alltags interessiert. Der Forscher verschafft sich die Reputation der Neutralitat, was bedeutet, dass seine Fragen kein Misstrauen hervorrufen. Auf diese Weise hat er leicht Zugang zu alien sozialen Milieus, ohne dass man ihn verdachtigt, im Auftrag der einen oder anderen Gruppe zu arbeiten. SchlieBlich verandert er die Form und den Ort der Weitergabe traditionellen Wissens, indem er mit modernen Aufnahmegeraten neue Methoden der Datenerhebung und Speicherung einfuhrt. Ublicherweise wird traditionelles Wissen in Form informeller Lemprozesse wahrend familiarer Zusammenkiinfte weitergegeben. Jetzt aber wird es zum Objekt des Begehrens fur seine Trager, die bis dahin anonym blieben, da sie im traditionellen Rahmen agierten, sich jetzt aber spezialisieren und in der Gemeinschaft als neue Berufsgruppe hervortun. Das traditionelle Wissen wird so zu einem Wertobjekt, das materiellen Wert besitzt. Diese Situation driickt sich insbesondere unter den Sesshaften von Djanet in dem Ausdruck ,^kfiq qf' - „ich habe es dir gegeben" statt „ich habe es dir beigebracht" aus, als ob es sich hierbei um ein Objekt handelt. Hier rechnet der Informant damit, dass er fur das, was er gegeben hat, entlohnt wird. Oder weiter: Jgdeh ak ay degh dimagh" - „Das muss jetzt reichen, ich habe dir genug davon gegeben." Und selbst hier treffen die Bewahrer traditionellen Wissens in bezug auf die Aufnahmetechniken, die der Forscher einsetzt, eine Wahl. Diese Wahl geht mit der Vorstellung einher, die sie sich davon machen, wie der Forscher ihr Wissen nutzt. Beispielsweise sind manche dagegen, dass man ihre Gesprache aufnimmt. Denn ihr Gesprach aufzunehmen hieBe, es zu reproduzieren, um damit auf immer zu ermoglichen, diese Kopie selbst in einem unangemessenen Kontext sprechen zu lassen. Sie ziehen es daher vor, ihre Worte direkt und vor ihren Augen in Geschriebenes transformiert zu sehen, das seine Authentifizierung und sein Fortbestehen ermoglicht, um in der Nachwelt fortzuleben. Dabei
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glauben sie, dass Verschriftlichtes viel Wert schaffender und wertvoller ist als Aufgenommenes. Sie bringen dies mit einer Maschine in Verbindung, also einer mechanischen Behandlung des Gesprachs, was ihm seine menschliche und gewichtige Seite nimmt. So kann sich der Forscher in den Augen der Gemeinschaft nicht anders rehabilitieren, als dass das Resultat seiner Arbeit sichtbar wird. Hier ruft er den Stolz seiner Lineage hervor, die darauf Anspruch erheben wird, dieses Resultat fiir sich zu vereinnahmen. Vor allem muss er seiner ganzen Gemeinschaft verstandlich machen, dass seine Arbeit darin besteht, Wissen tiber die Gesellschaft zu erwerben, das fiir diese bestimmt ist. Das macht den Hauptunterschied zu jenem Wissen aus, das von einem Fremden erworben wird, von dem man nur selten das Resultat erfahrt. Andere sind hingegen damit einverstanden, sich aufnehmen zu lassen, allerdings nur fur einen Teil des von ihnen Gesagten. In einem bestimmten Moment der Diskussion bitten sie den Forscher, das Aufnahmegerat abzustellen, weil das, was sie jetzt sagen werden, nicht aufgenommen werden kann. Sie fiihren so eine Hierarchisierung ihres Wissens herbei: einen Teil, der aufgenommen und reproduziert wird und damit von alien gehort werden kann, und einen zweiten Teil, der vertraulich und ausschlieBlich an den Forscher gerichtet ist, der es horen kann, aber nicht reproduzieren darf.
Schluss Wahrend des Forschungsprozesses gilt die Sorge des einheimischen Forschers dem Aufbau von Distanz gegenliber der Gruppe, in der er forscht. Seine Annaherung und sein Eindringen in die Gruppe mussen von einer gewissen Distanz ausgehen, die gewahrt werden soil. Demgegeniiber ist es Hauptaufgabe des fremden Forschers, diese Distanz zu iiberwinden, um sich der untersuchten Gruppe starker anzunahem. Aber das Bemtihen um Objektivitat bringt es fur beide Seiten mit sich, dass das Risiko dasselbe ist. Der fremde Forscher muss sich ein Herz fassen und auf die andere Seite wechseln, indem er Mitglied der untersuchten Gruppe wird, fur den einheimischen Forscher hingegen gilt es, gerade dies nicht zu tun, so dass er sich in seinem Bemiihen um Distanzierung mit seinem fremden KoUegen sozusagen wieder trifft. So lasst sich der Feldforschungsvorgang als Prozess der Annaherung zwischen Forscher und untersuchter Gruppe begreifen. Aber diese Annaherung darf eine bestimmte Grenze nicht iiberschreiten. Ein solcher Annaherungsprozess geht in drei Richtungen: 1) in Richtung der untersuchten Gruppe, deren Verge-
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sellschaftung man verstehen und deren Erinnerung man erfragen muss; 2) in die des Forschers selbst, der sein Vorgehen, seine Position zu objektivieren, unentwegt reflektieren sollte; 3) und schlieBlich in Richtung der Beziehung, die zwischen dem Forscher und der untersuchten Gruppe entsteht. Tatsachlich jedoch verlasst kein Forscher sein Forschungsfeld unbeschadet. Dieses wirkt auf ihn zuriick, manchmal verandert es ihn gar und er behalt auf immer Spuren und Narben zuriick.
Literatur Badi, Dida (2000): Etude des traditions orales des Touareg de TAdagh des Ifughas. Departement de langue et de culture amazigh de I'universite de Tizi-ouzou. Magisterarbeit, betreut von Rachid Bellil
Interaktive Methoden: Erfahrungen mit der Verwendung von „Participatory Rural Appraisal" (PRA) in der Forschung Dieter Neubert, Andreas Neefund Rupert Friederichsen
Einleitung Qualitative Methoden haben innerhalb der Praxis empirischer Sozialwissenschaft in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. Die schon lange gefuhrten Debatten iiber Methoden empirischer Sozialforschung haben inzwischen die empirische Praxis erreicht und insbesondere bei der Auswertung quaUtativen Materials wird ein umfangreiches und sehr differenziertes Instrumentarium herangezogen. Dies erfordert nicht nur umfangreiche Kompetenzen, sondem zugleich ein hohes MaB an Erfahrung, was zu einer entsprechenden methodischen Professionalisierung fuhrt. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass der Einsatz qualitativer Methoden nicht zuletzt wegen der komplexen und aufwandigen Auswertung zunehmend anspruchsvoUer und schwieriger wird. Zugleich haben sich die verschiedenen Formen von offenen und halbstrukturierten Interviews als dominante Erhebungsmethode in der Entwicklungssoziologie und anderen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen durchgesetzt. Neben dieser Professionalisierung bei der Anwendung qualitativer Methoden in den Sozialwissenschaften haben, von der Mainstream-Soziologie wenig bemerkt, in der Praxis der Entwicklungszusammenarbeit und der Entwicklungsforschung einzelne Elemente qualitativer Methoden an Bedeutung gewonnen und gehoren - wenn auch in deutlich veranderter Form - im Rahmen des Ansatzes „Participatory Rural Appraisal" (PRA) zum methodischen Standardrepertoire von Entwicklungsplanung und Projektarbeit. Diese Entwicklung begann in den 1980er Jahren mit dem Bemiihen, die hoch formalisierten und schematischen quantitativen Surveys durch lebensweltnahe Techniken zu ersetzen. Im Rtickgriff auf innovative Bereiche der Agrarforschung, der angewandten Ethnologic und der qualitativen Sozialforschung wurde das Methodenpaket des „Participatory Rural Appraisal" (PRA) entwickelt, das inzwischen ein gangiges Verfahren innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit darstellt. PRA stiitzt sich auf kurze Feldstudien eines interdisziplinaren Teams, in denen gemeinsam mit den Adressaten von EntwicklungsmaBnahmen planungsrelevante Informationen erhoben werden, die dann in eine nutzerorientierte Projektplanung miinden sollen. Die fiir die Entwicklungszusammenarbeit
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besondere Attraktivitat besteht in der schnellen und einfachen Auswertung und der Entwicklung konkreter Projektvorgaben. Schon seit Beginn der Entwicklung des Ansatzes wird dieser auch kritisch diskutiert, wobei dieses Methodenpaket nicht nur als schnell, sondera auch als wissenschaftlich schlampig angesehen wurde (Richards 1995); PRA haftet seitdem wie seinem Vorlaufer „Rapid Rural Appraisal" (RRA) der Verdacht an, „quick and dirty", also schnell und schmuddelig zu sein. Eine Besonderheit der einzelnen Instrumente des Methodenpakets wird allenfalls beilaufig erwahnt: sie haben ein ausgepragtes Moment der Interaktivitat. Die untersuchte Bevolkerung tritt nicht nur wie bei herkommlichen quantitativen und qualitativen Studien Ixblich bei der Datenerhebung in Interviews oder bei der Beobachtung mit den Durchfiihrenden der Untersuchung in Kontakt, sondem ist in den Analyse- und Bewertungsprozess der Aussagen aktiv eingebunden. Datenerhebung und Auswertung werden dabei eng verflochten und stellen einen Zwei-Wege-Prozess zwischen den Durchfiihrenden der Untersuchung und der untersuchten Bevolkerung dar. Diese besondere Eigenschaft ist iiber die Entwicklungszusammenarbeit hinaus auch fiir die Wissenschaft von Interesse. Deshalb soil im folgenden Beitrag die Nutzbarkeit der Interaktivitat der Methoden des PRA-Ansatzes fiir die Sozialwissenschaft im Allgemeinen diskutiert werden. Denn unabhangig davon wie PRA als Gesamtpaket bewertet wird, sind einzelne Methodeninstrumente fiir die Wissenschaft durchaus von Interesse, vordergriindig weil sie leicht anwendbar und schnell sind. Genauer besehen bietet jedoch die Interaktivitat neue, bisher wenig erschlossene Moglichkeiten fiir die Wissenschaft. Zugleich bringen die kurze Erhebungsdauer und die methodischen Prinzipien und Vorannahmen, die diesem Ansatz zugrunde liegen, eine Reihe von Gefahren mit sich, die nicht unterschatzt werden diirfen. Die Grundlage der folgenden Darstellung ist ein Forschungsvorhaben, das als Querschnittsprojekt in einem agrarwissenschaftlichen interdisziplinaren Projektverbund^ partizipative Forschungsansatze fordem und evaluieren soUte. In der Forschungspraxis wurde dabei besonders auf einzelne PRA-Instrumente zuriickgegriffen. Die Erfahrungen mit der Anwendung von PRA in einem interdisziplinaren Kontext werden hier ausgewertet, und bieten trotz des agrarwissenschaftlichen Kontexts gute Ansatzpunkte, Chancen und Probleme der Ubernahme von PRA-Instrumenten auch in der Sozialwissenschaft und der Entwicklungslanderforschung auszuloten. Da die PRA-Instrumente innerhalb der Soziologie nicht allgemein bekannt sind, werden sie in einem ersten Abschnitt vorgeSonderforschungsbereich (SFB) 564 „Nachhaltige Landnutzung und landliche Entwicklung in Bergregionen Siidostasiens", kurz „The Uplands Program", gefordert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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stellt, wobei auch auf deren Geschichte, den Entstehungskontext, die Zielsetzung und die Einbindung in eine umfassende entwicklungspolitische Programmatik eingegangen wird. PRA soil lokale Gemeinschaften einbeziehen und deren lokales Wissen produktiv nutzen. Dabei wird jedoch die wissenschaftliche Diskussion zu diesen Feldem nicht oder nur verkiirzt rezipiert. Zum Verstandnis der weiteren Argumentation miissen diese beiden Schliisselkonzepte diskutiert werden. Danach kann ausfuhrlich auf die Erfahrungen mit dem Einsatz von PRA-Instrumenten in der Forschungspraxis sowie auf bereits bekannte Kritik an dieser Methode eingegangen werden. Die Folgerungen zur weiteren Nutzung von PRA-Techniken in der Forschung bilden den Abschluss.
1. Geschichte, Zielsetzung und entwicklungspolitische Programmatik des „Participatory Rural Appraisal" (PRA) Das Ktirzel PRA steht zunachst fur ein Konzept der Datenerhebung und Planung. Zugleich ist die Entwicklung und Anwendung von PRA in eine breite Debatte um Partizipation in der Entwicklungszusammenarbeit und partizipativen Forschung eingebettet. Der Begriff der partizipativen Forschung wird dabei synonym zum in der Sozialwissenschaften gangigen Begriff der Handlungsforschung („action research") verwendet.^ Robert Chambers, der das Konzept PRA bekannt machte (Chambers 1994a; 1994b; 1994c), verweist darauf, dass in der Debatte iiber PRA drei Dimensionen zu unterscheiden sind; (1) PRA als eine spezifische Denkart („mindset"), die einen Wandel der Einstellung und des Verhaltens von professionellen Experten in der Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit einfordert; (2) PRA als eine grundlegende Programmatik oder „Philosophie", die auf die Ermachtigung („empowerment") der Armen im Entwicklungsprozess zielt; (3) PRA als eine Methodensammlung, die sowohl ein neues Vorgehen wie eine Reihe konkreter Untersuchungsinstrumente zur Verfiigung stellt (Chambers 1998: XIV). Obwohl es sich im Kern um ein Methodenpaket handelt, liegt der Erfolg des Konzepts in der Verbindung der methodischen Innovation mit dem Versprechen, damit die immer wieder geforderte Ermachtigung („empowerment") der Armen und Unterprivilegierten zu ermoglichen. Diese Verquickung methodischer Prinzipien mit dem entwicklungspolitischen Ziel pragt die Diskussion bis heute und macht es oft schwer, diese unterschiedlichen Strange zu unterschei^ Die Bezeichnung „partizipative Forschung" wird wohl vorgezogen, weil dies mit der entwicklungspolitischen Zielsetzung der Partizipation korrespondiert und sich so in die gangige entwicklungspolitische Terminologie einpasst.
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den. Haufig dominieren sowohl bei den Protagonisten des Ansatzes wie auch bei den pointierten Kritikem eher die politisch-normativen Elemente. Der entwicklungspolitische Siegeszug begann mit einer Aufsatztrilogie von Robert Chambers (Chambers 1994a; 1994b; 1994c) die beispielhaft fiir die genannte Verquickung von politisch-normativer Zielsetzung mit methodischer Innovation steht. Die damals formulierten Zielsetzungen gelten bis heute. Demnach ist PRA ein Ansatz, mit dem man von und mit der Bevolkerung uber das landliche Leben und dessen Bedingungen lemen kann (Chambers 1994a: 953). Das Lernen mit und von den „Armen" ist der Kempunkt des Programms und der Ansatzpunkt der Vertreter partizipativer Ansatze, die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik aufzuheben.^ In anderen Worten: Hier wird die Methode dem politischen Ziel der Emanzipation untergeordnet. Dahinter stehen offensichtlich Paulo Freires Ideen des Bewusstseinschaffens und der Ermachtigung durch die Verkniipfung von Erwachsenenbildung, Mobilisierung und kritischer Problemanalyse, die auf Handeln im Sinne einer Gesellschaftsveranderung gerichtet sind (Freire 1973). Diese Vorstellung wird einer politisch irrelevanten und auf sich selbst bezogenen Wissenschaft gegeniiber gestellt. Auch wenn sich die Formulierungen seit Freire geandert haben und weniger sozialistisch und klassenkampferisch klingen, bleibt die Parallele offensichtUch. „poor people are creative and capable, and can and should do much of their own investigation, analysis and planning; that outsiders have roles as conveyors, catalysts and facilitators; that the weak and marginalized can and should be empowered." (Chambers 1994a: 954). Interessanterweise wird jedoch in der weiteren Diskussion kaum auf den urspriinglichen Ideengeber des Konzepts, Paulo Freire, verwiesen. GewissermaBen abgemildert pragt die Diskussion liber Partizipation die sozialwissenschaftliche Entwicklungsdebatte und ist Bestandteil der gangigen entwicklungspolitischen Programmatik. Die Forderungen von Chambers trafen sich mit einer kritischen Debatte in der Entwicklungsforschung, bei der ein Mangel an Lebensweltnahe beklagt wurde. Der Entwicklungspolitik wurde vorgeworfen, liber die Kopfe der Menschen hinweg zu agieren und ihre massiven Probleme in der Umsetzung auf der lokalen Ebene systematisch zu libersehen. Anstelle der Dominanz von Forschungen auf der Makroebene und erganzenden Surveys wird seither ein akteursorientierter Ansatz propagiert (Bliss 1988; Elwert/Bierschenk 1988; Long 1989; 2001; Pottier 1993, zusammenfassend Neubert 2001). Interessanterweise wurden diese Uberlegungen gerade in der naturwissenschafllich gepragten Agrarforschung von einer Minderheit von Forschern zu
Campbell (2001) entwirrt genau diese Verkniipfung von partizipativen Forderungen und methodischen Problemen.
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einem Handlungsforschungskonzept zugespitzt, das seither als „partizipative Forschung" propagiert wird (z.B. Ashby 1995; Buhler et al. 2002; FalsBorda/Rahman 1991; Sumberg/Okali 1997; allgemein Selener 1997). In der Praxis partizipativer Forschung spielen PRA-Methoden eine wichtige RoUe, die somit auch als Forschungsinstrument eingesetzt werden. Auch wenn die Hoffnungen, die in diesen Ansatz gesetzt werden, wohl selten erfixllt werden (ElSwaify/Evans 1999; Neubert 2000), bieten die Erfahrungen der partizipativen Agrarforschung eine brauchbare Grundlage, den Nutzen von PRA-Methoden fiir die Sozialwissenschaft auszuleuchten. • Erst in jiingerer Zeit wird die Selbstverstandlichkeit des Ziels Partizipation in Zweifel gezogen, wie der pointierte Titel „Participation: the new tyranny?" zeigt (Cooke/Kothari 2001; siehe auch: Bevan 2000; Cornwall 2003; Neef 2003; Rhoades 1999). Da in unserem Beitrag der Schwerpunkt auf den methodischen Uberlegungen liegt, wird dieser Strang der Diskussion nicht weiter verfolgt. Das Methodenpaket PRA wurde seit Mitte der 1980er Jahre aus recht unterschiedlichen Quellen entwickelt und brachte Ideen aus der Handlungsforschung, der Agrarsystemanalyse, Feldstudien zu landwirtschaftlichen Betriebssystemen und der angewandten Ethnologie zusammen, die zunachst unter dem Kiirzel „RRA" („rapid rural appraisal") eingefuhrt wurden (Chambers 1994a). Mit der zunehmenden Betonung der Partizipation der beteiligten lokalen Bevolkerung wurde der Ansatz schlieBlich zur partizipativen landlichen Erhebung („participatory rural appraisal", PRA) weiterentwickelt. PRA wird inzwischen breit in der Entwicklungszusammenarbeit als Planungsinstrument eingesetzt und gehort inzwischen auch erganzend zu gangigen Surveys zum Methodenpaket der Armutsstudien der Weltbank, das ebenso in der Stadt wie auf dem Land eingesetzt wird (Booth et al. 1998; McGee 2000).' PRA ist in einer Reihe von Handblichem beschrieben und umfasst einen festen Kernbestand an Erhebungsinstrumenten und Prinzipien (Bechstedt 2000; Schonhuth/Kievelitz 1993; Veldhuizen/Waters-Bayer/Zeeuw 1997). Ein ideales PRA dauert zwei bis vier Wochen und wird von einem extemen Team (z.B. Entwicklungsexperten, landwirtschaftliche Bcrater, Forscher) und Dorfbewohnem (idealer Weise das gesamte Dorf) durchgefiihrt. Klassische qualitative Methoden wie informelle Interviews, Gruppendiskussionen, teilnehmende Beobachtung werden mit neuen Elementen, insbesondere aus der Agrarokosystemanalyse, verbunden. Daraus wurde der Kernbestand an PRA-Instrumenten entwickelt (die sogenannte „PRA-toolbox"). Es handelt sich dabei zumeist um visuell unterstiitzte Gruppeninterviews, bei denen Befunde in vor Ort skizzierte Neben PRA finden sich eine Reihe weiterer Bezeichnungen wie „participatory learning methods" (Palm), „participatory learning and action" (PLA) oder „rapid assessment procedures" (RAP), die im Grunde jedoch das gleiche Konzept verfolgen (Campbell 2001: 382).
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Diagramme und Karten verdichtet und diskutiert werden. Inzwischen umfasst dies einen Kern von Instrumenten, wie Dorfkarten, Mobilitatskarten, saisonale Kalender und Tagesablaufdiagramme, die Aufzeichnung der Dorfgeschichte oder Diagramme von Ressourcenfliissen. So genannte „Transekte" beruhen auf gemeinsamen Wanderungen durch unterschiedliche okologische Zonen, die dann in differenzierten Gelandeschnittzeichnungen verdichtet werden. Ein weiterer Bereich sind verschiedene Techniken der Bewertung und Prioritatensetzung („ranking", „scoring", „sorting") bei denen etwa Entwicklungsaktivitaten, Anbautechniken oder anderes verglichen wird. Fur die Sozialwissenschaft von besonderem Interesse ist dabei die so genannte „Wohlstandseinstufung" („wealth ranking") wobei lokale Schliisselinformanten nach lokalen Klriterien die Mitglieder des Dorfes in unterschiedliche Wohlstandskategorien einordnen. PRA stiitzt sich auf einige einfache Prinzipien. Die Nutzung unterschiedlicher Informationsquellen, die Einbeziehung moglichst unterschiedHcher Perspektiven, die Kombination mehrerer Methoden bzw. Erhebungsinstrumente und deren Triangulation soil eine Absicherung der Befunde gewahrleisten und Verzerrungen der Informationsbasis vermeiden. Dabei soil ein multidisziplinares Teams zum Einsatz kommen. Das Besondere ist, dass die erhobenen Daten vor Ort mit der untersuchten Bevolkerung gemeinsam diskutiert, gedeutet, analysiert und gegebenenfalls korrigiert werden. Dies soil im gemeinsamen Prozess eines schnellen progressiven Lemens erfolgen, dessen Ergebnisse am Ende des kurzen Feldaufenthaltes vorgelegt werden. Selbst ein vierwochiges PRA unterliegt engen zeitlichen Beschrankungen. Das PRA-Prinzip der „optimalen Ignoranz" zielt deshalb darauf ab, so genau wie notig zu fragen und in anderen weniger wichtigen Bereichen Ungenauigkeiten und blinde Flecken zu akzeptieren. Durch das „Sich Einlassen" auf das lokale Feld - das Team soil wahrend der Untersuchungszeit im Dorf wohnen - wird ein moglichst dichter und intensiver Kontakt des Untersuchungsteams mit der lokalen Bevolkerung angestrebt. Der Einsatz der genannten Untersuchungsinstrumente soUte moglichst flexibel und entsprechend den lokalen Moglichkeiten und Notwendigkeiten gestaltet werden. Das entscheidende Element ist die Einbeziehung der lokalen Bevolkerung in den Prozess, die nicht nur als Informant agiert, sondem den Prozess mitsteuert, Interpretationsangebote macht, Aussagen diskutiert und korrigiert, so dass am Ende ein gemeinsames Ergebnis steht. Diese Mitwirkung bietet zum einen Zugang zum lokalen Wissen, zu lokalen Vorstellungen und Prioritaten und zum anderen soil dadurch sichergestellt werden, dass das gemeinsame Planungsergebnis die Interessen und Vorstellungen der lokalen Bevolkerung reprasentiert. Auf diese Weise werden die Anstrengungen von Entwicklungsexperten, Organisationen sowie die entwicklungspolitischen Programme einer lokalen Uber-
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priifung unterzogen und gegebenenfalls angepasst oder gar zuriickgewiesen. Daneben bietet dieser Prozess die Chance fiir die oben schon mehrfach angesprochene Ermachtigung der Bevolkemng. Die dadurch geschaffene Kultur des offenen Lemens zielt nicht nur auf die Durchfiihrung des PRA, sondem auch auf eine veranderte Umsetzung der darauf folgenden Entwicklungsvorhaben. Daraus resultieren neue Rollen fur Experten, Planer und Mitarbeiter von Entwicklungsorganisationen und beteiligte Forscher. Sie befinden sich nicht mehr in einer herausgehobenen Position, aus der sie die Probleme erkennen, benennen und bearbeiten. Sie sollen vielmehr zu Partnern werden, die sich im gemeinsamen Diskussionsprozess mit der lokalen BevoIkerung gewissermaBen auf gleicher Augenhohe treffen und mit dieser Entwicklungsvorhaben gemeinsam entsprechend den lokalen Bedtirfnissen konzipieren und umsetzen. PRA war zugleich auch eine Reaktion auf die methodische Kritik von Sozialwissenschaftlern an der technokratischen konventionellen Entwicklungsplanung mit ihrem Fokus auf quantitative Daten und klassische Survey-Methoden. Diesem Ansatz wurde vorgeworfen, aufgrund methodischer Unzulanglichkeiten die spezifische Lebenslage marginaler Gruppen und Gemeinschaften zu ignorieren oder misszuverstehen (Fiege/Zdunnek 1993; Reichert/Scheuch 1992). Zudem versprach PRA den Prozess der Datenerhebung und -analyse bis zum Bericht und entsprechenden Empfehlungen erheblich zu verktirzen. Durch die intensivierte Kommunikation (im PRA Team und mit der lokalen Bevolkerung), schnelle Riickkopplung und Reflektion soUte der gesamte PRA Prozess in einem zwei bis vier Wochen dauemden Workshop vor Ort abgeschlossen werden. Der Prozess der Interpretation der Interviews wird durch die Einbindung von Vertretem der lokalen Gemeinschaft als Schliisselinformanten im Team entscheidend beschleunigt. Triangulation der unterschiedlichen Instrumente und die intensive Diskussion erlauben schon friih, potenzielle Widerspriiche und Probleme bei der Problemdefinition und der Losungssuche zu erkennen. Als hochst willkommener Nebeneffekt ist PRA nicht nur schneller, sondem vor allem auch billiger als ein konventioneller Survey oder der Langzeitansatz ethnographischer Feldstudien. Mit der Analyse und Ergebnisprasentation vor Ort entfallt der Bedarf an komplexer Kodierung und Verarbeitung von Daten. Da zudem lokale Angestellte der Entwicklungsorganisationen im Team mitarbeiten, dem nur ein oder zwei auslandische Experten oder Forscher angehoren, werden nochmals die Kosten reduziert. Partizipativ, lokal angepasst, schnell und billig, dies ist eine kaum zu schlagende Kombination. Gemessen an den Problemen herkommlicher Planungsmethoden ist PRA durchaus erfolgreich besonders bei kleineren Projekten auf der lokalen Ebene. Zudem kann damit die Forderung nach der Einbeziehung
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der lokalen Bevolkerung in entwicklungspolitische Planungsprozesse eingelost werden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen durchaus, dass Partizipation tatsachlich im Rahmen von Entwicklungsprojekten moglich ist. Dies ist sicherlich ein wesentlicher Grund far den Erfolg des Konzepts. All diese praktischen Vorteile konnen nicht dartiber hinwegtauschen, dass PRA aus der Sicht herkommlicher quantitativer Ansatze wenig prazise ist und Anforderungen wie Reprasentativitat und Wiederholbarkeit nicht erfiillt. Aus der Sicht der Vertreter qualitativ angelegter Feldforschung wird vor allem die geringe Untersuchungszeit bemangelt, die es nicht erlaubt, wirklich in die Tiefe zu gehen (Campbell 2001; Cornwall/Fleming 1995; Lachenmann 1997; Pettier 1997). Diese Kritik wird auf die bereits genannte griffige Formel gebracht, dass PRA eben schnell und schmuddelig („quick and dirty") (Richards 1995) sei. Die methodische Debatte begleitete die Verbreitung von PRA von Beginn an und auch aus den Reihen der Befurworter wurde vereinzelt schon sehr friih auf Probleme des Ansatzes hingewiesen (Mosse 1994). Auf die verschiedenen Einwande wird im Verlauf dieses Beitrages noch einzugehen sein.
2. Schlusselkonzepte: Lokale Gemeinschaften und lokales Wissen In der PRA-Literatur werden die Schlusselkonzepte der „lokalen" bzw. „indigenen Gemeinschaft" und des „lokalen" bzw. „indigenen Wissens" immer wieder genutzt, ohne auf deren genaue Bedeutung und die jeweilige wissenschaftliche Diskussion dieser Konzepte einzugehen. Im Grunde bleibt der Gebrauch dieser Begriffe vage. Dies beriihrt zwei zentrale Fragen fur die Verwendung von PRA, wer partizipiert und welches Wissen konnen die PRA-Teilnehmer tatsachlich einbringen. Partizipative Ansatze und insbesondere PRA implizieren, dass „Gemeinschaften" eine „Stimme haben" und entscheiden soUen. Dabei wird ein Gegensatz zwischen der lokalen Gemeinschaft und den AuBenstehenden, den Mitarbeitem von Entwicklungsorganisationen oder staatlichen Behorden unterstellt. Diese Perspektive ist allerdings blind far interne Differenzierungen der Gemeinschaft entlang von soziookonomischen oder politischen Unterschieden und unterschlagt deren interne Dynamik (Goetze 1999; Mosse 1994). In der PRAMethodik wird zwar darauf hingewiesen, dass es sinnvoU ist, im Verlauf des Feldaufenthaltes mit Mannern und Frauen, jungen und alten Menschen, Feldbauem und Hirten in getrennten Gruppen zu arbeiten. Gleichwohl bleibt die Unterscheidung oft an der Oberflache oder schematisch, weil andere Differenzierungen als die genannten (z.B. Zugehorigkeit zu unterschiedlichen Clans, unterschiedlich verteilte Landrechte oder politische Differenzen) iibersehen
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werden, beziehungsweise nicht nach anderen moglichen Differenzierungen gesucht wird. Zudem wird ausgeblendet, dass soziale Differenzen innerhalb eines Dorfes gerne in der Kommunikation mit AuBenstehenden unterschlagen werden, um sich als eine Einheit nach auBen zu prdsentieren. Nach innen ist diese GemeinschaftHchkeit eher eine Verhaltensauffordemng denn eine Tatsache (Goetze 1999). Aus kritischen Berichten iiber entsprechende PRA-Vorhaben wissen wir, dass Machtstrukturen auch dann wirken, wenn die Machtinhaber nicht an einer Diskussion teilnehmen. Mitglieder eines Dorfes zogem generell, heikle und oft gefahrliche Themen wie interne Probleme mit AuBenstehenden zu besprechen und eine Reihe von Themen gehoren - unabhangig von ihrem Konfliktstoff - ohnehin nicht nach auBen getragen (Scoones/Thompson 1994). Die Annahme, dass unter diesen Umstanden die Prioritaten der lokalen Bevolkerung benannt wiirden und eine Entscheidung der lokalen Gemeinschaft herbeigeftihrt wird, unterschlagt diese komplexen sozialen Verhaltnisse. Die von der PRA-Diskussion beschworene (Interessens-)Gemeinschaft ist zunachst eine Projektion der PRA-Protagonisten, die sich zwar mit der Selbstdarstellung von lokalen Gemeinschaften decken kann, aber deshalb nicht unbedingt die Realitat darstellen muss. Die Entwicklung der PRA-Methoden war eng mit der gleichzeitig in Gang gekommenen Diskussion iiber lokales Wissen verkniipft (Brokensha et al. 1980; Fals-Borda/Rahman 1991; Richards 1985; Warren et al. 1989), und lokales Wissen wurde zu einer Schliisselkategorie des PRA-Ansatzes. Die lokalen Technologien galten dabei nicht mehr als rtickstandig und iiberholt, sondem als gut an spezifische lokale Bedingungen angepasst und die Bauem wurden als eigenstandige Forscher angesehen, die durch Versuch und Irrtum angemessene Losungen ftir ihre Probleme entwickeln. Ebenso wie die oben erwahnte Kritik an der Entwicklungsforschung beinhaltete die Betonung lokalen Wissens auch eine Herausforderung gegeniiber dem herkommlichen positivistischen Wissenschaftsverstandnis und den damit verbundenen Anspriichen auf Uberlegenheit (Neubert/Macamo 2004). In PRA-Handbiichem und Projektberichten wird Wissen letztlich als unproblematisch und gewissermaBen gegeben angesehen. Der Korpus des lokalen Wissens wird nahezu wortlich als statischer Block begriffen. Dies steht im scharfen Kontrast zu den Befunden der Wissens- und Wissenschaftssoziologie und den Studien tiber lokales Wissen, die die Komplexitat der sozialen Prozesse bei der Produktion, Verteilung und des Gebrauchs von Wissen betonen (Antweiler 1998; Berger/Luckmann 1980; Schareika/Bierschenk 2004; Knon'-Cetina 1999; zusammenfassend Neubert/Macamo 2004). Das Ubersehen dieser Komplexitat des Wissens ftihrt zum methodischen Irrtum, dass lokales Wissen leicht zuganglich ist und mittels der richtigen In-
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strumente einfach zu erfragen sei (Lachenmann 1997), entsprechend der einfachen Formel: „Just ask, they know, and they are your friends" (Mosse 1994, zitiert ein unveroffentlichtes Manuskript von Pottier). Diese grob vereinfachte Konzeption des Wissens ignoriert Gmndeigenschaften von Wissen (Antweiler 1998; Bloch 1991): • •
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Wissen ist nicht einfach „da", sondem stellt selbst eine Interpretation dar, die ihrerseits nur interpretierend zuganglich ist. Wissen ist situiert, das heiBt es ist in einem spezifischen sozialen und kulturellen Kontext entstanden und kann in diesem sinnvoll interpretiert werden; zugleich ist es in seiner Aussagekraft zeitlich gebunden, unabgeschlossen und verandert sich laufend. Nur ein Teil des Wissens wird oral (oder schriftlich) weitergereicht. Ein anderer Teil ist eher unbewusst und in komplexe soziale Beziehungen eingebettet und mit mehrfacher Bedeutung versehen. (Baume auf einer Dorfkarte sind nicht unbedingt nur Baume, sie konnen religiose Vorstellungen oder Geschlechterverhaltnisse reprasentieren). Wissen ist, wie schon erwahnt, entlang von Machtstrukturen strukturiert und kann ein Mittel der Machtausiibung sein.
Das Versprechen der „schnellen" PRA-Instrumente verfiihrt die Forscher dazu, diese komplexen Beziehungen zu unterschlagen und die wenigen erhobenen Informationen im eigenen Deutungsrahmen zu interpretieren. Das scheinbar simple Erfragen von Wissen ist aber eine Illusion oder fuhrt sogar zur Erfmdung von Wissen. Wenn somit im Zusammenhang von Erhebungstechniken von „Gemeinschaft" oder „lokalem Wissen" gesprochen wird, miissen die hier skizzierten Implikationen der wissenschaftlichen Konzepte und ihrer Auspragungen in der lokalen Realitat immer bewusst sein und bei den Untersuchungen mit berticksichtigt werden. Es zeigt sich schon hier, dass die Anwendung des PRA-Pakets allein als Erhebungs- und Forschungsinstrument nicht ausreicht, weil die notwendige Kontextualisierung ohne flindierte Zusatzinformationen fehlt. Dies heiBt jedoch nicht, dass die PRA-Instrumente generell unbrauchbar sind.
3. Erfahrungen mit PRA-Instrumenten in der Forschung Beim Einsatz von PRA in der Forschung muss zunachst berticksichtigt werden, dass es sich urspriinglich um ein Planungsverfahren handelt, das erst im Rahmen der Diskussion liber partizipative Forschung vor allem von der Agrarfor-
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schung und dann fur die Wissenschaft als Erhebungsverfahren entdeckt wurde. Mit diesem Transfer der PRA-Methodik aus der Entwicklungsplanung und praxis in die Wissenschaft wird ein voUig anderer Bewertungsrahmen herangezogen. Der Beitrag von PRA-Methoden zur Forschung muss am Potenzial dieser Methodik zur Wissensproduktion gemessen werden. Die Einbeziehung der Bevolkerung ist kein Selbstzweck. Sie bietet ein Mittel, sich naher an die Lebenswelt der Untersuchten heran zu bewegen, um emische (lokale) Sichtweisen und lokales Wissen systematisch fiir die Forschung zu erschlieBen. Dies verspricht einen Zugang zu lokalen Problembestimmungen und zu lokalen Strategien der Problembewaltigung. Im Falle der Agrarforschung kann zudem beispielsweise der konkrete Umgang mit neuen Technologien untersucht werden (neue Pflanzensorten, verbesserte Nutztierrassen oder schonende Bodenbearbeitungstechniken). Gerade bei angewandter Forschung im Umfeld der Entwicklungspolitik oder Entwicklungszusammenarbeit wird es als wiinschenswert angesehen, dass die erzielten Erkenntnisse zur Verbesserung der lokalen Lebensverhaltnisse eingesetzt werden. Wird eine Verbesserung der Lebensbedingungen erreicht, so ist dies zunachst ein praktischer Erfolg. Fiir ein Forschungsergebnis ist es jedoch notwendig zu erklaren, warum bestimmte MaBnahmen greifen oder wirken, beziehungsweise warum sie nicht wirken. Forschung soil Erklarungen fur Veranderungen (oder Stabilitat) anbieten. Ein entscheidendes Kriterium fur ertragreiche Forschung ist die Generalisierbarkeit solcher Erklarungen (Mayntz 1985: 68; Metcalfe 2004), wobei damit nicht gemeint ist, dass die Befunde in Form von Gesetzesaussagen formuliert werden miissen. Eine prazise Analyse des Scheiterns eines Entwicklungsprojektes, die die Grlinde des Scheiterns aufdeckt, kann ein wichtiges Forschungsergebnis sein, auch wenn die Praxis erfolglos war. Entwicklungsprojekte werden dagegen an ihren konkreten Erfolgen gemessen. Die Grlinde fur Erfolg und Misserfolg sind meistens nicht entscheidend fur die Bewertung eines Projekts. Unsere hier prasentierten Erfahrungen stiitzen sich auf den bereits genannten Projektverbund mit dem Kurztitel „The Uplands Program", der von der Universitat Hohenheim federfuhrend organisiert wird. Das Untersuchungsthema „Nachhaltige Landnutzung und landliche Entwicklung in den Bergregionen Nordthailands und Nordvietnams" beschreibt ein gangiges Themenfeld interdisziplinarer Agrarforschung. Die Finanzierung erfolgt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 564, mit erganzender Finanzierung durch den „National Research Council of Thailand" und durch das Ministerium fur Wissenschaft und Technologic in Vietnam. Die deutsche Forschungsforderung ist vor allem auf Grundlagenforschung ausgerichtet, wahrend die durch die asiatischen Partner geforderten erganzenden
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Komponenten starker anwendungsorientiert sind. Insgesamt wurden zur Zeit der Untersuchung (2000-2006) acht Projekte in Vietnam und zwolf in Thailand durchgefuhrt (wobei fiinf Projekte Erhebungen an beiden Standorten durchfuhrten) die das gesamte Spektrum der Agrarforschung umfassen, namentlich Bodenkunde, Hydrologie, Okologie, Tierhaltung, Obstproduktion und -verarbeitung, Ressourcenrechte, landliche Finanzsysteme und Agrarhandel. In all diesen Projekten soUten zusatzlich zu spezifischen Forschungsfragen gewissermaBen als Querschnittsaufgabe auch partizipative Methoden erprobt werden. Einem gesonderten „Partizipations-Projekt" kam die Aufgabe zu, die anderen Projekte beim Einsatz von partizipativen Methoden zu unterstiitzen sowie die Moglichkeiten und Grenzen der Verwendung dieser Methoden zu untersuchen.^ Die Vorstudien zu diesem Projektverbund begannen im Jahr 1998 und das Projekt startete im Jahr 2000. Die prasentierten Ergebnisse basieren auf der empirischen Arbeit in diesem Partizipations-Projekt. Unabhangig von der disziplinaren Zugehorigkeit verfolgten die meisten Projekte des Verbundes konventionelle Forschungsansatze, so dass partizipative Forschung auf wenige Nischen und Teilaspekte beschrankt blieben. Einige Projekte lassen sich auf partizipative Ansatze ein, andere hingegen zogem oder lehnen diese vollig ab. Mit der gezielten Erprobung partizipativer Methoden soUte ein offensichtliches Problem in der Diskussion iiber partizipative Methoden der Agrarforschung systematisch angegangen werden. Zu Beginn des Projekts war die Diskussion iiber partizipative Methoden der Agrarforschung stark polarisiert und den Kritikem standen optimistische Befurworter des Ansatzes gegeniiber. Im Laufe der Projektarbeit zeigte sich, dass die PRA-Methoden im Rahmen des weiteren Konzepts der „partizipativen Agrarforschung" eine Art Einstiegsmoglichkeit boten, mit denen in einem zunachst konservativ ausgerichteten Forschungsumfeld erste partizipative Schritte unternommen werden konnten. Genau dieser Teil unserer Forschungsarbeit liegt den folgenden Uberlegungen zugrunde. Auch in unserem Fall bestatigt sich, dass PRA-Instrumente den erfolgreichsten Export der partizipativen Forschungsansatze in die Agrarforschung darstellen. Im „Uplands Program" wurde im Untersuchungszeitraum (bis heute) ein breites Spektrum von PRA-Instrumenten verwendet (u.a. Anbaukalender, Wohlstandseinstufung, Ressourcenflussdiagramme, historische Landnutzungsmatrix, diverse Bewertungstechniken, Dorfkarten, Tranksekte). Ob und wie PRA in die Forschungspraxis zu integrieren ist, wollen wir anhand von vier Fragen untersuchen.
^ Die Autoren des Beitrags wirkten in diesem Projekt mit.
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1) Wamm wurden PRA-Instrumente eingesetzt? 2) Welche Ergebnisse wurden damit erzielt? 3) Welche Probleme tauchten auf? 4) Wann und wie ist der Einsatz von PRA-Instmmenten sinnvoU?
Warum wurden PRA-Instrumente eingesetzt? Die zentrale Bedeutung der partizipativen Forschungskomponente im „Uplands Program" war durch eine Gutachterempfehlung zustande gekommen, so dass fiir die weitere Bewertung des Projekts ein deutlicher Druck entstand, dieser Forderung nachzukommen.^ Der Einsatz von PRA-Techniken erfolgte zeitweise auf diesen Druck bin, teilweise auch aus wissenschaftlicher Neugier neuen Instrumenten gegeniiber, gestarkt durch die Erwartung, durch diese schnell anwendbaren Methoden ohne groBen Vorlauf erste Daten zu gewinnen. Inzwischen gehoren PRA-Instrumente zum ublichen Methodeninventar des Forschungsprogramms. Allerdings werden vor allem einzelne isoHerte Instrumente wie Kartierungen, Transekte oder visualisierte Gruppendiskussionen eingesetzt. Die lokale Bevolkerung ist dabei, wie in der Methode vorgesehen, an der Interpretation der Daten beteiligt. Ein- oder mehrwochige PRA-Workshops, wie sie in Handbtichem beschrieben werden (im folgenden PRA-Handbuch), wurden lediglich ansatzweise im Rahmen der Vorbereitungsphase mit studentischen Arbeitsgruppen durchgefuhrt. Die Nutzung der isolierten PRA-Instrumente bietet einen einfachen und recht unproblematischen Weg, „partizipativ" zu sein. Dies kann mit wenig Aufwand und begrenztem Risiko umgesetzt werden und erlaubt zugleich einen ersten Einstieg zur Orientierung im lokalen Feld. Die partizipativen Techniken zielten zunachst darauf ab, lokale Perspektiven zu erkunden. Dies umfasst: • die Erhebung von Informationen zu lokalen Bedlirfnissen und Prioritaten, in der Vorbereitungsphase (1998/1999), • die Erhebung von lokalem Wissen zum jeweiligen Forschungsfeld einschlieBlich lokaler Taxonomien (z.B. Insekten, Bodenklassifikationen) und der Nutzungsgeschichte konkreter Felder, • die Beschreibung der lokalen Landnutzung, des Weidemanagements, der Ressourcen der Lebenshaltung und der lokalen Bedrohungen, ' Die Genehmigung des Sonderforschungsbereichs (SFB) erfolgt entsprechend den Regeln der DFG in Phasen zu drei Jahren. Damit werden die Gutachterempfehlungen und damit auch die Erprobung partizipativer Methoden vor der Weiterforderung evaluiert. Seit Juli 2006 befmdet sich der SFB in der dritten Phase.
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die Einschatzung von technischen Innovationen im Rahmen der bauerlichen Aktivitaten (on-farm) (z.B. Bewasserung, Schweinezucht).
Unsere Befunde zeigen, dass die PRA-Instmmente durchaus attraktiv sind und fiir Agrarforscher im Feld als willkommene Erganzung des Methodenspektrums angesehen werden. In friihen Stadien der Forschung bieten PRA-Instrumente besonders Forschern mit naturwissenschaftlicher Ausbildung eine Chance, mit den Bauem in direkten Kontakt zu treten. Die eingefuhrten und mit vielfachen Beispielen beschriebenen PRA-Instrumente bieten zunachst eine Art abrufbares Handwerkszeug („PRA-toolbox"). Dies gibt unerfahrenen Forschern ein Gefiihl der Sicherheit und das Wissen, auf erprobte Instrumente zuriickzugreifen starkt zugleich das Selbstvertrauen, das notwendig ist, um sich dem lokalen Feld ohne Angst zu nahem und ohne von dessen Komplexitat und Undurchschaubarkeit uberwaltigt zu werden.
Welche Ergebnisse wurden erzielt und wie wurden diese in den Forschungsprozess integriert? Daten zu konkreten landwirtschaftUchen Ablaufen und Zusammenhangen konnen einfach und durchaus systematisch mit Ressourcenflussdiagrammen oder Zeitlinien (Dorfgeschichte, Geschichte eines konkreten Feldes) erzielt werden. Diese Techniken sind zugleich offen genug, um auch unerwartete Elemente und Beziehungen aufzuzeigen. Beispielsweise konnten durch einfache Techniken ein zuvor unbekanntes Forschungsfeld fiir die Tierproduktion entdeckt werden oder es stellte sich heraus, dass ein Motor nicht nur fiir eine Dreschmaschine, sondem auch fur den Betrieb eines Bootes genutzt wurde. Dabei handelte es sich um einfache und wenig problematische Informationen, iiber die ohne Vorbehalte mit Fremden gesprochen werden konnte und die von Bedeutung fiir die Lebens- und Arbeitssituation der Bauem sind. Einige der Forscher waren von PRA-Instrumenten begeistert, weil sie neue Wege zur Kommunikation im Feld eroffheten. Ein vietnamesischer Forscher berichtete, dass durch eine strukturierte Diskussion mit einer Frauengruppe es moglich wurde, deren Sichtweise erstmals zu erheben. Anhand einer Wohlstandseinstufung („wealth ranking") konnte die ethnische Differenzierung eines Dorfes abgebildet werden, und bei der Diskussion zeigte sich auch, dass jede dieser Gruppen iiber eine eigene Fiihrungsstruktur verfiigte, die aus den offiziellen Angaben zu diesem Dorf nicht erkennbar war. Die weitere Nutzung von mittels PRA-Instrumenten generierten Daten wurde von den Forschern allerdings als problematisch erachtet. Die Daten sind
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nicht reprasentativ und bleiben oft ungenau. Einige der Forscher bezweifelten die Validitat der PRA-Instmmente. Eine spatere genauere Auswertung beispielsweise von Gmppendiskussionen erfordert entsprechende Kompetenzen, iiber die Agrarwissenschaftler mit rein naturwissenschaftlichem oder okonomischem Hintergrund nicht verftigen. Im Kontakt mit den Bauern forderte die Verwendung der aus der Entwicklungszusammenarbeit bereits bekannten PRA-Instmmente die Hoffnung auf die Verwirklichung konkreter Entwicklungsvorhaben. Erwartungen dieser Art sind Forscher im Feld sehr schnell ausgesetzt. Gerade beim Einsatz von PRATechniken war es noch schwerer, durch die Hinweise, dass es sich um Forschungsprojekte handle und nicht um konkrete Entwicklungsvorhaben, die Erwartungen zu dampfen. Gerade dann, wenn iiber langere Zeit in einem Dorf gearbeitet wird, stoBen aber Hoffnungen der lokalen Bevolkerung auf die Implementierung von Entwicklungsaktivitaten mit dem Interesse der Forscher zusammen, das allein auf die Forschung gerichtet ist. Fiir die Bereitschaft, mit den Forschem zusammen zu arbeiten, wird eine Gegenleistung erwartet. Dies wird auch sehr deutlich artikuliert. Zudem wird bei Forschungsaktivitaten zunehmend auf friihere Erhebungen anderer Forscher aus dem Projektverbund verwiesen. Die angestrebte Doppelung unterschiedlicher Erhebungen und die dadurch mogliche Triangulation kann dadurch durchaus an Grenzen der Mitwirkungsbereitschaft der lokalen Bevolkerung stoBen. Dies gilt natiirlich nicht nur fiir PRAInstmmente. Es bleibt aber dabei, dass die interaktions- und diskussionsintensiven PRA-Instrumente einen geeigneten Raum fur die Bevolkerung bieten, Vorbehalte zu artikulieren. Obwohl die PRA-Instrumente von den Forschern im GroBen und Ganzen als hilfreich betrachtet wurden, ist dies in den Forschungsberichten und Ergebnissen kaum erkennbar. Diese den Gutachtern oder der Fachoffentlichkeit prasentierten Ergebnisse orientieren sich an den quantitativen Surveydaten oder bio-physikalischen Messungen. Der Einsatz von PRA-Instmmenten mit ihren schnellen und einfach strukturierten Erhebungen generierte fiir die Forscher erste Informationen iiber das Untersuchungsfeld, das geschatzt wurde, jedoch im weiteren Forschungsprozess nicht systematisch verwendet wurde.
Welche Probleme tauchten auf? Beim Einsatz von PRA-Instrumenten in der Forschung lassen sich eine Reihe konkreter Probleme benennen. Kommunikationsprobleme: Beim Einsatz der PRA-Instrumente wird mit der Bevolkemng in der jeweiligen Nationalsprache kommuniziert (thailandisch,
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vietnamesisch), wobei in der Kegel eine Ubersetzung ins Englische - der Arbeitssprache der Forscher ~ erfolgen muss. In einigen Fallen ist sogar eine zweistufige Ubersetzung notwendig, von einer lokalen Sprache, beispielsweise Hmong, ins Vietnamesische und dann ins Englische. Dies verlangsamt die Interaktion und behindert die Spontaneitat der Kommunikation und reduziert das Verstandnis aller Beteiligten. Besonders die wichtigen Gesprache der lokalen Beteiligten untereinander bei der Diskussion einer Frage, beim Zeichnen einer Karte, dem Entwerfen eines Diagramms, sind somit nicht mehr direkt erschlieBbar. Gerade diese Diskussionen bieten aber einen direkten Zugang zum Verstandnis der jeweiligen Aufgabe. Spontane AuBerungen und Bewertungen der lokalen Verhaltnisse, Aussagen zu dem, was wichtig und unwichtig ist, was zu welchen Kategorien zusammengefasst werden kann, gehen, da sie kaum alle direkt iibersetzt werden konnen, als Informationsquelle schnell verlorQn. In diesen Fallen erschwerter Kommunikation wird eine grundlegende Aufgabe beim Einsatz von PRA in der Forschung deutlich. Das Ergebnis eines PRA-Instrument ist eben nicht nur die Dorfkarte, das Diagramm, eine Matrix mit der Bewertung von Innovationen, sondem der gesamte Diskussionsprozess, der zu diesem Ergebnis fiihrt. Flir wissenschaftliche Zwecke muss dieser Prozess moglichst genau dokumentiert werden (siehe auch Campbell 2001: 384). Dies erfordert eine wohlorganisierte Arbeitsteilung im Team, bei der einige Teammitglieder den Prozess systematisch beobachten und entsprechend dokumentieren. Im Falle erschwerter Kommunikation ist insbesondere die Dokumentation in der lokalen Sprache unabdingbar. Voraussetzungen fur die Umsetzung von PRA: PRA-Instrumente arbeiten sehr stark mit Diskussion und Visualisierung durch Zeichnungen, Diagramme und andere Darstellungsformen, wobei vor Ort verftigbare Materialien genutzt werden. Beispielsweise werden Mengenangaben nicht unbedingt in MaBzahlen, sondem groBen oder kleinen Kreisen auf einer Tafel symbolisiert oder durch unterschiedlich groBe Haufchen z. B. mit Mais- oder Getreidekomem. Dies soil Visualisierung und Quasi-Quantifizierung auch mit des Lesens und Schreibens unkundigen Partnem ermoglichen. In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass von Forschem mitgebrachte Utensilien wie Filzstifte, Flipcharts, Pappkartchen in bestimmten lokalen Kontexten extrem exotisch sein konnen und zunachst den Kommunikationsprozess eher hemmen als fordem (Mosse 1994). Zudem erfordert die Visualisierung von Tatbestanden auch spezifische Erfahrungen der Entschltisselung von Grafiken oder Diagrammen - Campbell (2001: 383) spricht von visueller Alphabetisierung -, die nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden konnen. Diese Probleme tauchten jedoch in unserem Forschungsfeld kaum auf Zum einen ist die Alphabetisierungsrate in Thailand und Vietnam recht hoch; zum anderen gab es zuweilen unter Verwaltungsleuten wie
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auch im Dorf bereits Erfahrungen mit Entwicklungsprojekten und zum Teil auch mit PRA-Techniken. Lokale PRA-Routine: In einigen Fallen waren PRA-Instrumente lokal schon soweit bekannt, dass sich die Antworten an den friiheren Diskussionen orientierten. Beispielsweise war in einem Fall im Rahmen eines Armutsbekampfiingsprogrammes in jedem Dorf eine Liste der lokalen Armen erstellt worden. Diese Liste war dann auch das Kernstiick der Informationen, die im Rahmen einer Wohlstandseinstufung gegeben wurden. Zudem konnen die PRATechniken einen Teil ihrer lokalen Attraktivitat verlieren. Das Erstellen einer Dorfkarte, einer Dorfgeschichte oder einer Analyse der Lebensbedingungen konnen beim ersten Mai fur die Beteiligten interessant sein, well sie die Gelegenheit haben, sich nach auBen darzustellen und im Diskussionsprozess auch etwas uber sich zu erfahren, das vorher noch nicht als explizites Wissen vorhanden war. Der Reiz dieser Instrumente schwindet durch Wiederholung allerdings recht schnell. Selbst wenn andere Instrumente mit anderen Fragestellungen zum Einsatz kommen, ist das Prinzip der Gruppendiskussion jedoch das gleiche und kann zur Ermiidung fiihren. Hinzu kommt, dass gerade durch die Bedeutung von Gruppenprozessen immer eine groBere Anzahl von lokalen Teilnehmern an den Erhebungen notwendig ist. Wenn wiederholt PRAs in einem Dorf durchgefilhrt werden, wird es zunehmend schwieriger, Mitwirkende zu fmden, die von den Instrumenten noch nicht gelangweilt sind. Wahrend fur einige Mitwirkende das spielerische Umgehen mit Zeichnungen mit Filzstiften oder Skizzen im Sand einen gewissen Informations- und Unterhaltungswert aufweist, kann von anderen Teilnehmern das spielerische Element als Ausdruck mangelnder Emsthaftigkeit interpretiert werden. Standardisierung von PRA-Instrumenten: Das Angebot an Instrumenten des PRA-Handbuchs wird oft als eine Palette vorgefertigter Methoden aufgefasst. Die Bereitschaft und die Kreativitat der Forscher, diese Instrumente an die jeweilige Forschungsfrage und Situation im Feld anzupassen, ist in der Praxis begrenzt. In unserem Fall suchen die jungen und oft wenig erfahrenen Forscher nach festen Vorgaben und Handlungsanleitungen, die Ihnen Sicherheit bei der Anwendung der Instrumente bieten sollen. In anderen Fallen werden PRAs von Experten durchgefiihrt, die mit einem verfestigten Ablauf ihr bereits weitgehend vorgefertigtes Programm ztigig abspulen. In beiden Fallen geht eine Starke des Ansatzes, flexibel und offen fiir neue Fragen und Situationen zu sein, verloren, und die besondere Offenheit fur Unerwartetes wird nicht voll ausgenutzt oder sogar bewusst vernachlassigt. Die Illusion der Partizipation: Fiir die Anwender von PRA-Instrumenten besteht die Gefahr zu glauben, dass allein die Nutzung von PRA-Techniken Partizipation herstellen wurde. Dies ist aber eine Illusion. Die lokale Bevolke-
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rung ist zwar mit diesen Techniken in Forschungsaktivitaten involviert und ihre Perspektiven und Sichtweise werden diskutiert und dokumentiert. Der Forschungsprozess und dessen Logik bleiben von diesen punktuellen Zusammentreffen mit Bauem aber weitgehend unbertihrt. Weitergehende Forderungen der Befiirworter von partizipativen Forschungsansatzen, wie die Einbeziehung von Nutzem in den Forschungsprozess selbst einschlieBlich der Diskussion und Entscheidungen woriiber und wie geforscht wird, konnen auf diese Weise nicht eingelost werden. Es muss deshalb deutlich zwischen der Einbeziehung von Nutzem in den Forschungsprozess und der Erhebung von Daten iiber deren Sichtweisen und Perspektiven unterschieden werden. Zunachst sind die meisten der PRA-Instrumente nur Mittel der Datensammlung und unterscheiden sich nur in der Art, wie die lokalen Sichtweisen erhoben werden. So gesehen sind sie nur ein leichter - und durchaus risikoreicher - Weg zur ErschlieBung stark vereinfachter qualitativer Datenerhebung. Das besondere interaktive Moment dieser diskussionsorientierten PRA-Instrumente mit der Einbeziehung der untersuchten Bevolkerung in den Analyse- und Bewertungsprozess ist methodisch interessant. Die Verwendung von PRA-Instrumenten sollte aber nicht automatisch mit partizipativer Forschung gleichgesetzt werden, insbesondere wenn diese nur punktuell zum Einsatz kommen. Lokale politische Korrektheit. Die Antworten der lokalen Bevolkerung sind nicht nur wie bei Interviews generell durch strategisches Antwortverhalten und soziale Erwunschtheit beeinflusst, es zeigt sich auch ein Phanomen, das man als „lokale politische Korrektheit" bezeichnen konnte. Da PRAInstrumente zumeist auf Gruppendiskussion setzen, sind die Ergebnisse und Aussagen immer auch offentlich. Dies ist den Beteiligten bewusst. Sie achten deshalb noch mehr als in Einzelinterviews darauf, offiziellen Sichtweisen nicht zu widersprechen. In einem Fall in Vietnam gab die Dorfkarte genau die Angaben der lokalen Behorden wieder. In dieser Darstellung wurde zunachst cine illegale Siedlung, deren Bestehen auch den lokalen Behorden nicht verborgen geblieben war, einfach ausgeklammert. Bei einem anschlieBenden Transekt versuchten die Vertreter der lokalen Bevolkerung einen Weg zu wahlen, der um diese Siedlung herum fuhrte. Der daraus entstandene Umweg war allerdings so offensichtlich, dass die Siedlung in diesem Fall letztlich doch von dem Untersuchungsteam entdeckt wurde. In der gleichen Region wurde die Landverteilung entsprechend dem neu angelegten Kataster angegeben. Erst nach langerem Aufenthalt im Dorf wurde deutlich, dass die formale Landverteilung der lokalen Behorden de facto durch die traditionellen Ftihrer unterlaufen wurde, die Nutzungsrechte ohne Beriicksichtigung der neuen Besitzurkunden vergeben hatten. „One shot'' Charakter. PRA-Workshops und einzelne Instrumente werden iiblicherweise einmal durchgefuhrt. Diese punktuelle Erhebung weist offensicht-
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liche Risiken auf. Es werden aktuelle Probleme und Fragen in den Vordergrund geschoben und diese einmalige Erhebung ist offen fiir zufallige Einfliisse. GemaB den PRA-Handbuchem ist der Workshop der Beginn eines langerfristigen Projekts, das auf die PRA-Planung folgt. Etwaige Missverstandnisse und verschiedene Deutungen konnen so spater aufgedeckt und bei Bedarf korrigiert werden. Beim Einsatz von PRA zur einmaligen Datenerhebung fehlt die Moglichkeit im Verlauf weiterer Projektarbeit entsprechende Anpassungen vorzunehmen. Im Falle des „Uplands Program" konnte dieses Risiko gemildert werden. Agrarforschung bezieht sich meist auf langerfristige Prozesse und erfordert kontinuierliche Erhebungen und damit auch regelmaBige Kontakte mit der Bevolkerung im Untersuchungsgebiet. Auf diese Weise lassen sich voreiHge Schlusse korrigieren. Moderatoreneinflilsse und Prozessdynamik: Eng mit dem Problem des „one shot" Charakters verbunden ist der Einfluss der Moderatoren und die Dynamik des Diskussionsprozesses. Die PRA-typischen Gruppendiskussionstechniken bringen in der Regel besonders wichtige und grundlegende Probleme und allgemeine Deutungen hervor, sofern diese in der Offentlichkeit diskutiert werden konnen. Fehlen solche zentralen Probleme und Deutungen ist das Ergebnis weitaus offener. Eine Diskussion kann durch das Insistieren einiger weniger Teilnehmer, durch ein ad-hoc iiberzeugendes Argument, durch eine besonders provokative Stellungnahme oder durch ein besonders greifbares Beispiel fokussiert werden und so Probleme in den Vordergrund bringen, die ansonsten kaum diese Bedeutung erlangt hatten. Auf solche Prozesse kann ein Moderator maBigend einwirken und somit seinerseits den Gang der Diskussion mitbestimmen. Je nach Diskussionsverlauf und Steuerung durch den Moderator konnen die Befunde dann deutlich variieren. Fehlende Kontextualisierung: In der qualitativen Forschung stiitzen sich Interpretationen meistens auf ein dichtes Kontextwissen. Erst durch Kontextualisierung konnen isolierte Aussagen angemessen interpretiert werden. Diese Kontextualisierung erfordert die Bezugnahme auf lokale soziale, kulturelle Bedingungen und historische Erfahrungen. Gerade in fremdkulturellen Kontexten erschlieBt sich der Kontext nicht durch kurze Erhebungen. Deshalb betonen ethnologische Arbeiten die Bedeutung ausgedehnter Feldforschungen im Sinne einer „dichten Teilnahme" (Spittler 2001). Der Einsatz von PRA-Techniken steht dem diametral entgegen und kann zu Missverstandnissen und Fehleinschatzungen fuhren (Pottier 1997). Diese Fehlinterpretationen konnen die PRAtypischen Partizipationsprozesse selbst betreffen. David Mosse berichtet von einem indischen partizipativen Entwicklungsprojekt, das die Aktivierung der lokalen Bevolkerung vor allem tiber PRA-Techniken erreichte. Was von den Beteiligten (zunachst) als erfolgreiche partizipative Mobilisierung verstanden
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wurde, folgte im Kern eher einer Patron-Klient-Logik. Die Mitwirkung an partizipativen Aktivitaten war gewissermaBen die Gegenleistung der lokalen Klienten dafur, dass sie Zugang zu bezahlter Arbeit und HilfsmaBnahmen im Rahmen des Projekts erhielten (Mosse 2004: 65Iff; ahnlich auch Oppen 1992). Neben den bereits genannten PRA-typischen Problemlagen gibt es einen weiteren Komplex methodischer Probleme, die sich bei der Nutzung von PRATechniken zeigen, die aber auf gmndsatzliche Widerspriiche partizipativer Forschung verweisen. Geweckte Erwartungen: Der Einsatz von PRA-Instrumenten, insbesondere Fragen nach lokalen Problemen, Bediirfnissen und Prioritaten verstarkt, wie bereits erwahnt, die Gleichsetzung von Forschungsaktivitaten mit Entwicklungsprojekten, was entsprechende Erwartungen auf konkrete Hilfe hervorruft. Dieses Missverstandnis ist leider nur schwer auszuraumen. Zunachst erleichtert dieses Missverstandnis den Zugang zur Bevolkerung, die in der Hofftiung auf ein Entwicklungsprojekt bereit ist, sich auf die Anfragen der Forscher einzulassen, auch wenn diese viel Zeit beanspruchen und oft wenig sinnvoll erscheinen. Diese Konstellation wirkt sich auch auf die Befunde aus. Flir die Bevolkerung ist der Anreiz groB, durch gezielte strategische Antworten auf Entwicklungsprobleme zu verweisen, die entsprechende Hilfen nahe legen. In unserem speziellen Fall zeigt sich ein weiteres Problem. Besonders in der Vorbereitungsphase des Forschungsprogramms sowie bei der Planung weiterer Forschungsphasen wurden PRA-Instrumente auch dazu eingesetzt, lokale Bediirfnisse zu ermitteln, mit dem Ziel die Forschung danach auszurichten. Was ftir die Planung von Entwicklungsvorhaben plausibel und brauchbar ist, erwies sich, nicht ganz iiberraschend, ftir die Planung eines Forschungsprogramms als weniger nutzlich. Die genannten Bediirfnisse und Prioritaten bezogen sich tiberwiegend auf konkrete Entwicklungsprobleme, auf die ein breit angelegtes Entwicklungsprojekt antworten konnte. Daraus ergaben sich jedoch kaum sinnvolle Forschungsfragen. Selbst dann wenn lokale Probleme in Forschungsfiragen zu tiberftihren waren, Probleme bei der Fischhaltung, Umstellung auf leistungsfahigere Maissorten, passten sie teilweise nicht zu den Kompetenzen des Forscherteams, betrafen in der Forschung eher periphere oder anwendungsbezogene Felder, die nicht dem Forderkriterium der wissenschaftlichen Innovation entsprechen^ oder waren schwer in ein konsistentes Gesamtprogramm zu fassen, was eine Voraussetzung ftir die erfolgreiche Beantragung koordinierter Forschungsprogramme ist (siehe auch Neef/Heidhues 2005). Die in der partizipativen Forschung immer wieder geforderte gemeinsame Planung von ForschungsDas „Uplands Programm" erhalt seine Forderung im wesentlichen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die nur Vorhaben fordert, die besonders innovativ sowie wissenschaftlich „exzellent" sind.
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vorhaben mit den Nutzern ist also nicht nur methodisch, sondem auch strukturell kaum umzusetzen, da die Interessen der lokalen Bevolkerung nur schwer mit der Festsetzung von Forschungsthemen zu verbinden sind. Widersprilchliche Perspektiven, Bedurfmsse und Probleme: Damit verbunden ist auch das Problem widerspruchlicher Perspektiven innerhalb der lokalen Bevolkerung. Mit der Vorstellung einer lokalen Gemeinschaft wird ein grundlegendes gemeinsames Interesse der untersuchten Bevolkerung impliziert. Dies ist allerdings eher die Ausnahme als die Kegel. Vielmehr gibt es eine Reihe moglicher Interessenkonflikte, F^ldbauem kontra Hirten, Subsistenzbauem kontra marktorientierte Bauem oder Interessendivergenzen zwischen Wassernutzem am Ober- und Unterlauf eines Flusses. Die Hoffnung, dass durch gemeinsame Diskussionsprozesse im Rahmen eines PRA-Workshops diese Interessen zu einem Ausgleich gefuhrt werden, so dass eine zum Ende des Workshops prasentierte Entscheidung fiir eine MaBnahme auf breiter Zustimmung beruht, ignoriert die lokalen Machtverhaltnisse (Neef^Heidhues 2005). Wendet man die PRA-Instrumente im Bewusstsein dieser Probleme an, konnen zumindest off en vorhandene Kontroversen erfasst und beschrieben werden. Uberbetonung lokaler Losungen: Von PRA-Techniken wird erwartet, moglichst schnell und direkt lokale Perspektiven zu erfassen. Die radikalen Verfechter der PRA-Methode neigen zu einer Romantisierung oder Mystifizierung der so ermittelten Ergebnisse als authentisches lokales Wissen. Dies ist ebenso unangemessen wie die Disqualifizierung der Ergebnisse als unwissenschaftlich durch PRA-Kritiker. Die mit PRA ermittelten Ergebnisse umfassen lokale Perspektiven, lokale Problemanalysen oder lokale Losungen. Sie miissen im Forschungszusammenhang mit anderen Perspektiven von Experten oder anderen Forschungsbefunden konfrontiert werden. Die genannten Probleme verweisen darauf, dass PRA-Instrumente zwar schnell und einfach umzusetzen sind, aber eben auch ungenaue Ergebnisse erbringen. Der Einsatz von isolierten PRA-Instrumenten, aber auch die Durchfuhrung vollstandiger PRA-Workshops ist durch die hier genannten Probleme belastet. Radikal formuliert verbindet PRA die Nachteile von qualitativer und quantitativer Forschung. PRA ist wenig strukturiert, wenig systematisch, unexakt, nicht reprasentativ und vorgenommene Quantifizierungen sind fragwurdig. Zugleich fehlen die Kontextualisierung und die notwendige analytische Tiefe. Es besteht eine Neigung, einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhange zu postulieren. Der Charakter einmaliger Studien ohne Kontextwissen gleicht dem kurzen Aufenthalt eines Fallschirmspringers, der aus dem Nichts auftritt und nach einem kurzen Kontakt, ohne zu erkunden wo er ist, wieder verschwindet. Unsere Erfahrungen beim Einsatz von PRA im Forschungszusammenhang decken sich mit den wenigen Studien zur Nutzung von PRA-Instrumenten in der
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Forschung (Campbell 2001; Richards 1995). Die Forschung auf der Basis von PRA-Techniken ist von vielfaltigen Problemen belastet und den Gefahren massiver Verkiirzungen der Deutungen und Fehlinterpretationen ausgesetzt. Die Hoffnung, schnell und unaufwendig umfangreiche quantitative Erhebungen und muhsame qualitative Studien zu ersetzen, erfullt sich nicht. PRA-HandbuchWorkshops, von zwei oder mehr Wochen mit einer Reihe unterschiedlicher Erhebungsinstrumente von einem erfahrenen Team durchgefiihrt, konnen diese Mangel zwar nicht kompensieren, die auftretenden Probleme jedoch deutlich reduzieren. Je besser das vorab vorhandene Kontextwissen ist, desto eher sind verlassliche Ergebnisse zu erwarten. Auch im Rahmen von Entwicklungsprojekten lassen sich Unzulanglichkeiten, insbesondere die Ungenauigkeit der Ergebnisse, im weiteren Projektverlauf noch bearbeiten. Der Einsatz einzelner PRAInstrumente im Rahmen eines Forschungsprojekts ist aber diesen Problemen voll und ganz ausgesetzt: Forschung allein gestiitzt auf PRA-Instrumente ist nicht sinnvoll.
JVann und wie konnen PRA-Instrumente hilfreichfur die Forschung sein? Die vorangegangene Kritik macht deutlich, dass PRA-Techniken gerade wegen ihrer einfachen Anwendbarkeit deutliche Unzulanglichkeiten aufweisen. Deshalb liegt es nahe, sie als Forschungsinstrument abzulehnen. Damit wiirden jedoch auch Chancen verschenkt, die diese Instrumente bieten. Im Grunde gilt fur PRA das Gleiche, wie fur jede andere Methode auch. Die Frage ist, wann und wie PRA-Instrumente eingesetzt werden konnen, wann sie welchen Beitrag fiir ein Forschungsvorhaben leisten konnen und mit welchen klassischen sozialwissenschaftlichen Methoden sie sinnvoll verknupft werden konnen (Rocheleau 2003). Zunachst haben PRA-Instrumente ihre Bedeutung im Zusammenhang mit der Forderung nach mehr Partizipation der lokalen Bevolkerung in Entwicklungsprojekten erhalten. Mit dem Konzept der partizipativen Forschung soil die Forderung nach Partizipation auch in die Wissenschaft hinein getragen werden. PRA eroffnet mehr als konventionelle Methoden die Chance, Partizipationsprozesse zu organisieren und mit der Erhebung und Analyse von Daten zu verbinden. Es gelingt zwar kaum mittels PRA die weitreichenden Zielsetzungen partizipativer Forschung vollstandig zu erreichen, auch wenn dies manche Vertreter des PRA-Ansatzes versprechen. Trotzdem kann es mit PRATechniken gelingen, die lokale Bevolkerung in einem groBeren Umfang als mit anderen Methoden am Forschungsprozess zu beteiligen. Zudem erlaubt PRA, die Bevolkerung in die Analyse von Befunden einzubeziehen.
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Zugleich sind die genannten Kritikpunkte nicht einfach beiseite zu schieben. PRA-Workshops und -Instmmente sind als alleiniges Forschungsinstrument ungeeignet und mtissen mit anderen Methoden kombiniert werden. Die Notwendigkeit der Kombination von PRA-Instrumenten mit anderen Methoden bietet allerdings auch fiir konventionelle (nicht-partizipative) Forschungsvorhaben interessante Chancen und methodische Erweiterungen. Diese sollen hier nochmals zusammengefasst werden. Erste Orientierung im Feld: PRA-Techniken bieten einen schnellen Zugang zu Befunden iiber das Untersuchungsfeld und eroffnen die Chance, sich schnell mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut zu machen. Die Informalitat der Methode erlaubt Improvisation und ad-hoc Korrekturen und somit einen Einsatz ohne umfangreiche Vorarbeiten. Zudem sind die PRA-Techniken auch thematisch offen angelegt und bieten Raum fiir unerwartete Befunde. Karten und Kalender erschlieBen die lokalen raumHchen Strukturen und den Jahresrhythmus. Zudem lassen sich auch erste Informationen zum jeweiHgen Forschungsthema sammeln. Dieser Zugang zum Feld ist immer dann hilfreich, wenn keine oder wenig Erfahrungen in der jeweiHgen Region und im jeweiHgen Themenfeld vorhanden sind. Solange den Forschem bewusst ist, dass es um eine erste Kontaktaufnahme geht und nur erste vorlaufige Ergebnisse mogHch sind, die in weiteren Schritten noch genauer zu untersuchen und zu differenzieren sind, erleichtem PRA-Techniken den Einstieg in Forschungsarbeit. Zugang zu lokalen Perspektiven: Gerade fur Naturwissenschaftler aber auch fiir Forscher, die bislang vor aUem mit standardisierten Erhebungsinstrumenten gearbeitet haben, eroffnen PRA-Techniken recht einfach und schneH Zugang zu lokalen Sichtweisen. Wiederum sind auch diese ersten Ergebnisse nur dann sinnvoll zu nutzen, wenn die umfangreichen methodischen Probleme bewusst sind und beriicksichtigt werden. Interaktivitdt von PRA-Techniken: Gangige Forschungskonzepte, sowohl in der quantitativen wie in der qualitativen Forschung, trennen den Erhebungsprozess von der spateren Analyse und Interpretation. Interaktionen zwischen Forschem und Untersuchten oder Informanten sind wesentlich durch die Logik der Datenerhebung bestimmt. Bei standardisierten Fragebogen, offenen Interviews wie auch bei der Beobachtung geht es vor allem um die Antworten bzw. Verhaltensweisen der Untersuchten. Kommentare der Forscher oder Diskussionen zwischen Forschem und Untersuchten sollen moglichst vermieden werden. Die (ethnologische) Feldforschung setzt auf kontinuierliche Prasenz, wodurch eine Vielzahl von Interaktionen im Rahmen des Alltagshandelns zustande kommt. Im Rahmen der Feldforschung konnen durchaus auch erste Interpretationen der Befunde in weiteren Interaktionen zur Sprache kommen, aber dies
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erfolgt in der Regel indirekt, versteckt in Gesprachen und wird zudem nicht systematisch betrieben. PRA-Techniken brechen erklartermaBen mit dieser Vorgehensweise. In der Selbstbeschreibung verweisen die Vertreter von PRA auf die Bedeutung der Partizipation, der Teilhabe der lokalen Bevolkerung am Forschungsprozess. Allerdings ist die Forderung nach Partizipation nur schwer einzulosen. Forscher und lokale Bevolkerung verfolgen oftmals unterschiedliche Ziele. Forschung zielt auf Erkenntnisgewinn, der eben nicht automatisch in eine Verbesserung von Lebensverhaltnissen miindet. Genau diese Verbesserung erhoffen sich aber die lokalen Beteiligten in der Regel. Wegen dieses Widerspruchs bleibt die Steuerung der Forschung durch die Beteiligten ein unerreichtes Ziel. Der Blick auf die Partizipation am Forschungsprozess unterschlagt aber das besondere Moment der Interaktion. Gerade die Interaktivitat der Situation ist ein neues methodisches Element, das neue Optionen eroffnet. Daten werden erhoben und gemeinsam offen diskutiert und interpretiert. Die Erstellung einer Landnutzungskarte, die Erfassung der Nutzungsgeschichte eines Feldes, die Identifizierung und Kommentierung der Eigenschaften und Bedeutung von Insekten oder Pflanzen verandem den Erhebungsprozess. In diesen Interaktionen wird gemeinsam von Forschem und lokaler Bevolkerung bzw. lokalen Experten liber ein Phanomen diskutiert mit wechselseitigen Kommentaren, Erklarungen und Nachfragen. Zugleich sind die jeweiligen Aussagen, Bewertungen und Beflinde selbst wieder Datenmaterial, das interpretationsbediirftig ist. Beispielsweise beschreibt eine Dorfkarte nicht einfach die Realitat, sondem gibt wieder, wie sich ein Dorf, beziehungsweise die Meinungsfiihrer des Dorfes, sehen und nach auBen prasentieren woUen. Es ist dabei besonders wichtig zu reflektieren, dass diese Interaktionen wesentlich durch lokale Konflikte und Machtkonstellationen beeinflusst werden.^ Die interaktive Qualitat von PRA-Instrumenten mit der intensiven und gemeinsamen Diskussion von Forschern und lokaler Bevolkerung ist allerdings bei einem Erstbesuch kaum zu erreichen. Sie erfordert einen gewachsenen intensiven Kontakt und eine etablierte Beziehung zwischen den Forschern und der lokalen Bevolkerung. Eingebettet in einen solchen stabilen Forschungsrahmen Diese lokalen Divergenzen werden von Bierschenk und Oliver de Sardan (1997) zum Thema einer Erhebungsmethode gemacht, die ahnlich wie ein Handbuch-PRA auf einer zeitlich eng begrenzter Feldforschung im Team beruht. Sie setzen vor allem auf Interviews, Beobachtung und Gruppendiskussionen, wobei erste Befunde auch lokal zuriickgekoppelt werden. Gemeint ist das Konzept ECRIS („Etude collective pour la identification des conflits et groupes strategiques"), das allerdings mit dem Konzept der strategischen Gruppen (Bierschenk 1988; Evers/Schiel 1988) ein fest gefiigtes Themenfeld und einen Interpretationsrahmen vorgibt. De facto nutzt auch diese Methode die Interaktion zwischen Forschem und Untersuchten, was aber von den Autoren nicht gesondert benannt wird.
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verlieren PRA-Instrumente ihren „One-shot" Charakter und die PRAInstrumente werden zu einem Mittel einer strukturierten Kommunikation. Diese Einbindung von PRA in einen langeren Forschungsprozess kommt dann auch dem eigentlichen Paradigma der partizipativen Forschung wieder naher. Zugleich andert sich die Anwendung der Instrumente. Die Gesprache werden intensiver und differenzierter. Spatestens dann muss auch die Dokumentation angepasst werden. Zum einen mtissen die Interaktionen genauer erfasst werden (z. B. durch Audioaufnahmen) und durch systematische Beobachtung sowie durch erganzende offene Instrumente, wie ein Feldtagebuch, das eben nicht nur die inszenierten Kommunikationen im Rahmen der Anwendung von PRA-Instmmenten umfasst, sondem auch die begleitenden Interaktionen im Umfeld. Die Produkte der PRA-Instrumente wie Karten, Diagramme, Tabellen sind dann nur noch ein Ergebnis unter anderen, die dann gemeinsam mit anderen Daten systematisch ausgewertet werden mtissen. Diese Auswertung erfolgt, anders als beim PRA-Handbuch, durch die Forscher auch getrennt von der lokalen Bevolkerung. PRA-Instrumente, die in dieser Weise genutzt werden, sind dann weder schnell noch schmuddeHg („quick and dirty"). Sie bieten eine weitere MogHchkeit zur Methodentriangulation. Je weiter ein derartiger Forschungsprozess getrieben wird, desto mehr sozialwissenschaftliche Methodenkompetenz ist notwendig. Sie konnen dann nicht mehr beilaufig von jungen Agrarforschern mit rein naturwissenschaftHcher Ausbildung genutzt werden. Der Einsatz von PRA zur Triangulation kann im kleinen MaBstab mit ausgewahlten Instrumenten erfolgen, wie im „Uplands Program". Eine andere Form ist die Erganzung standardisierter quantitativer Erhebungen im groBen MaBstab. Dies wurde in einer Studie zur Armut in Uganda im Rahmen eines landesweiten Armutsbekampfungsprogramms gemacht, in dem eine klassische soziookonomische Armutsanalyse mit sechzig PRA-Workshops kombiniert wurde (Uganda Participatory Poverty Assessment Process 2002). Die partizipativen Ergebnisse waren allein zu heterogen und instabil fiir eine representative Aussage; die in den PRA-Workshops erstellten Listen von wichtigen Griinden fur Armut blieben weitgehend zufallsgesteuert, was auf das Fehlen einer klaren lokalen Deutung von Armut hindeutet. Aber die Workshops konnten vereinfachte Schlusse aus den quantitativen Erhebungen korrigieren. Beispielsweise wurde durch die partizipativen Studien deutlich, dass der zunachst sehr positive bewertete Anstieg des privaten Konsums vor allem auf das Brauen, den Verkauf und den Genuss von lokalen Alkoholika beruht, was nicht ohne weiteres als eine Verbesserung der Lebenssituation zu interpretieren ist. Zudem boten die PRA-Studien ein deutlich differenzierteres Bild der Armut als die Surveys. Dieses Beispiel zeigt, dass die Kombination der beiden Ansatze ein vertieftes Verstandnis von
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Armut ermoglicht hat und eine verktirzte Analyse verhindert (McGee 2000; 2004). Feedback und Validierung vorldufiger Forschungsergebnisse: Eng verbunden mit der interaktiven Qualitat von PRA-Instrumenten ist ein moglicher weiterer methodischer Schritt. Denn die offene Diskussion von Ergebnissen und Interpretationen bietet gewissermaBen ein Forum fur das Testen von Deutungen und Hypothesen seitens der Beforschten und fuhrt gewissermaBen eine Metaebene der Kommunikation iiber Befunde ein. Als wichtiger Nebeneffekt wird auch die forschungsethische Aufgabe der Transparenz von Forschungsergebnissen gegentiber den Beforschten wahrgenommen. Im Rahmen eines Projekts iiber die Untersuchung der Bewertung und den Umgang mit Katastrophen wurden wichtige Deutungen, die das Ergebnis vorangegangener Intensivinterviews waren, einer Gruppe zuvor Befragter prasentiert. Die anschlieBende Diskussion konnte die Deutungen erhebHch inhaklich anreichern und zugleich deren Grundaussage bestatigen.*^ Diese Vorgehensweise erlaubt gewissermaBen einen diskursiven Test von Forschungsergebnissen und Hypothesen. Visualisierung ist besonders fordedich in Forschungssituationen, die durch Sprachschwierigkeiten belastet sind. Aber auch bei gesicherter sprachlicher Kommunikation bietet VisuaHsierung einen Weg, die Diskussion zu fokussieren oder zuzuspitzen. Wenn PRA-Instrumente entweder wegen dem durch sie eroffheten leichten Zugang zum Feld oder den zuletzt beschriebenen interaktiven Moglichkeiten genutzt werden, durfen deren Schwachen und die damit verbunden Probleme nicht ausgeblendet werden. Es geht vielmehr darum, in Kenntnis dieser Schwachen die Instrumente kritisch reflektierend einzusetzen und entsprechend der jeweiHgen Erfordemisse anzupassen und weiter zu entwickeln. Besonders die Fragen lokaler Differenzierung und lokaler Machtstrukturen miissen immer gegenwartig sein, wenn eine nicht haltbare Utopie homogener lokaler Gemeinschaften vertreten werden soil.
Es handelt sich um das Projekt „Die lokale Wahmehmung, Pravention und Bewaltigung von Krisen und Katastrophen im Siiden Mosambiks im Kontext globaler Einfliisse" im Rahmen des von der DFG geforderten Sonderforschungsbereich 560 „Lokales Handeln im Kontext globaler Einflusse" in Bayreuth (Macamo 2003).
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4. Folgerungen zur weiteren Nutzung von interaktiven Methoden in sozialwissenschaftlicher Forschung PRA als Methodenpaket, so wie es in Handbiichern beschrieben wird, bleibt gemessen an Anforderungen der empirischen Sozialforschung (quantitativ und qualitativ) wissenschaftlich ungenau, so wie es die Kritiker schon friih formuliert haben. Eine streng nach Handbuch durchgefuhrter PRA-Workshop ist kein adaquater Ersatz fiir profunde qualitative oder quantitative Forschung. Es fehlt sowohl an Reprasentativitat und Systematik als auch an der notwendigen Tiefe und einer proflinden Kontextualisierung der Ergebnisse. Dieses Problem tritt im Grunde verscharft auf, da PRA-Workshop in der Praxis kaum noch die ursprunglich vorgesehene Zeit von 2-4 Wochen erreichen. In der Praxis dauem diese Workshops oft nur wenige Tage. Fiir die Triangulation verschiedener Methoden, und insbesondere fur die Uberprufung durch wiederholtes Aufgreifen der Themen und die moglichen Reflexionsphasen fehlt unter diesen Bedingungen die Zeit, was die Schwachen dieses Ansatzes nochmals verstarkt. Der isolierte Einsatz einzelner Instrumente potenziert diese methodischen Schwachen. Dieser Befund ist wenig iiberraschend und entspricht der hier schon mehrfach erwahnten Kritik von der wissenschaftlichen Seite. Ebenso werden die Erwartungen an Partizipation letztlich nicht erfullt. Der iibliche Hinweis, dass dies durch mehr Partizipation zu beheben sei, geht an den eigentlichen Problemen vorbei. Partizipation, dies zeigen auch die Erfahrungen mit PRA, ist nicht das Allheilmittel fiir Entwicklung (Neubert 2000). Lokale Gemeinschaften sind in interne Konflikte verwickelt und durch Hierarchien und Machtstrukturen gepragt, die einer einfachen Partizipation „der lokalen Bevolkerung" im Wege stehen. Zudem erweist sich die Hoffnung auf die alleinige Nutzung lokalen Wissens als Weg zur Losung von Entwicklungsproblemen als ungerechtfertigte Romantik. In vielen Fallen fehlt es gerade an lokalen Losungen und Moglichkeiten. Mit dieser kritischen Einschatzung soil nicht die Forderung nach Partizipation generell zuriickgewiesen werden, es geht vielmehr um realistischere Zielsetzungen. Die hier nochmals komprimiert vorgetragene Kritik an PRA legt den Schluss nahe, dass dieser Ansatz unbrauchbar ist. Aber ebenso wie bei der Forderung nach Partizipation muss die Frage gestellt werden, was eigentlich mit diesem Methodenpaket beziehungsweise mit den Instrumenten erreicht werden soil. Als Alternative zu anderen Methoden der empirischen Sozialforschung sowie als „das" Instrument zur partizipativen Mobilisierung versagt PRA offensichtlich. Fiir die empirische Sozialforschung bietet PRA aber ein erganzendes methodisches Angebot, das eben nicht allein, sondem in Kombination mit anderen Methoden eingesetzt werden kann. So genutzt ist PRA sehr innovativ und
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bietet neue Impulse fiir die Durchfuhrung empirischer Forschung. Mit der Interaktivitat des Forschungsinstrumentariums, kombiniert mit Visualisierung von (Zwischen)Ergebnissen, erschlieBt PRA neue Moglichkeiten hinsichtlich von Methoden, die nicht nur fiir die Entwicklungsplanung hilfreich sind, sondem auch das Instrumentarium der empirischen Sozialforschung bereichem. Dabei konnen einzelne PRA-Instrumente, wie auch ein kompletter PRAWorkshop in zwei ganzlich unterschiedlichen Forschungssituationen sinnvoll zum Einsatz kommen. Zum einen bietet PRA eine Moglichkeit, in ein zuvor wenig bekanntes Forschungsfeld beziehungsweise in eine unbekannte Forschungsregion einzusteigen. So angewandt erschlieBt PRA schnell und ungenau erste Informationen und Problemsichten, die zur weiteren Orientierung der Forschung dienen. Diese Form des PRA kann trotz ihrer Suboptimalitat wegen ihrer vorbereitenden Funktion fiir nachfolgenden Forschungen hingenommen werden. Die soliden und differenzierten Befiande sollen in diesem Fall ohnehin erst spater erbracht werden. In dieser Weise kann PRA auch ohne umfassende Ausbildung in der empirischen Sozialforschung verwendet werden. Die hier benannten Begrenzungen und Fehlerquellen miissen aber reflektiert und durch nachfolgende Forschung kompensiert werden. Zum anderen erganzen PRA-Instrumente herkommliche Methoden in Forschungssituationen, die Methodenkompetenz, Felderfahrung und Kontextwissen erfi)rdem. Diese Nutzung ist dann nicht mehr ungenau und zugleich anspruchsvoll. Beide Verwendungen haben ihre Berechtigung. Die Durchfiihrung und vor allem die Anforderungen an die Qualitat der Ergebnisse miissen jedoch dem jeweiligen Einsatzgebiet angemessen sein. Die Verwendung der gleichen Methode in unterschiedlichen Forschungsphasen ist keineswegs ungewohnlich. Standardisierte Erhebungen werden sowohl als Pre-Test wie bei einem Survey eingesetzt, und offene Interviews konnen sowohl explorativ wie auch als Kernmethode einer Studie, beispielsweise als Tiefeninterviews, verwendet werden. Empirische Sozialft)rschung ist inzwischen in den beiden groBen Strangen der quantitativen und qualitativen Methoden sehr festgefiigt. Auch in der qualitativen Forschung hat sich inzwischen durch zunehmende methodische Differenzierung ein fest umrissener Katalog bewahrter Vorgehensweisen herausgebildet. Dazu ist es niitzlich, sich an die kreativen Urspriinge der empirischen Sozialfi)rschung zu erinnern. Die Studie iiber die Arbeitslosen von Marienthal, die gewissermaBen einen paradigmatischen Startpunkt bildet, prasentiert eine Vielfalt von Methoden, die weit liber die heute dominierenden standardisierenden und verschiedenen Formen der offenen Interviews hinausgehen (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975). Die Nutzung von PRA-Instrumenten kann ein sinnvoUer Wiedereinsteig in kreative Methodenentwicklung und -nutzung sein.
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Dabei muss die Anwendung von PRA-Instmmenten keineswegs auf landliche Bevolkemngsgmppen in Entwicklungslandem beschrankt sein. Mit einer entsprechenden Anpassung und Weiterentwicklung der Instrumente sind diese auch in vollig anderen Umfeldern einzusetzen. Dies weiter auszuloten und systematischer zu erproben ist eine bisher noch wenig genutzte Option.
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II. Rekonstruktion und Verallgemeinerung
Fallrekonstruktive Forschung in Bauernfamilien und Familien psychisch Kranker: Die Unhintergehbarkeit von Fremdheit in der Sequenzanalyse und ihre Bewaltigung Bruno Hildenbrand
1. Fremdheit als dem Forschungsgegenstand inharent und als Produkt der Methode Als Hochschullehrer kommt man haufig in die Verlegenheit, Studierende zu beraten, die eine fallrekonstmktiv angelegte empirische Magisterarbeit oder Dissertation planen und die sich die Datenerhebung dadurch erleichtern wollen, dass sie Falle aus ihrem sozialen Nahbereich rekrutieren. Rat man davon ab, diesen Weg zu gehen, dann ist der Grund dafiir nicht der, dass das Fremde sich leichter erschlieBen lasst als das Vertraute, da bei fremden Fallen die fur die Forschung erforderliche Distanz von vome herein gegeben ist. Zwar ist auch dieses Argument zutreffend. Der zentrale Grund dafur, vor diesem Vorgehen zu warnen, ist jedoch ein anderer: Auch bei der Analyse noch so vertrauten Materials wird die Anwendung von Verfahren der interpretativen Sozialforschung die bestehende Vertrautheit, die der bzw. die Studierende mit dem Fall hat, destruiert. Dies deshalb, weil die Familie X aus dem Bekanntenkreis der Forscherin oder des Forschers nun zum „FaH" wird und so in Distanz zum Forscher geriickt wird. Die verschiedenen, jeweils auf Sequenzanalyse hinauslaufenden methodischen Zugange (dazu weiter unten in diesem Abschnitt) fiihren ztigig das Werk der Zerstorung von Vertrautheit mit den zu untersuchenden Personen fort, und die voreingerichtete Vertrautheit der Studierenden mit ihrem Fall bleibt auf der Strecke. Von dem Vorgehen, Falle fur eine wissenschaftliche Arbeit im sozialen Nahbereich zu rekrutieren, rate ich daher primar nicht aus methodischen, sondem aus ethischen Griinden ab. Fiir die Frage nach der Besonderheit von empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung (hier: der interpretativen Forschung) unter der Bedingung kultureller Fremdheit legt dieses Eingangsbeispiel folgende Antwort nahe: Fremdheit ist nicht nur eine fallweise dem Forschungsgegenstand eignende Qualitat, sondem sie stellt sich im Forschungsprozess in dem MaBe quasi automatisch her, in dem diese Forschung sequenzanalytisch stattfmdet, und das auch in jenen Fallen, die dem Forscher vertraut erscheinen.
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Bruno Hildenbrand
Unter Berufung auf Alfred Schtitz (1971) etwa ware zu argumentieren, dass der sinnhafle Aufbau der sozialen Welt als eine Welt von sozialen Konstruktionen sich darstellt und jede sozialwissenschaftliche Annaherung an diese Welt zu Rekonstruktionen alltagsweltlicher Konstruktionen, mithin zu Konstruktionen zweiten Grades fiihrt. Wixrde man nun als notwendige Bedingung des Abstands zwischen den Konstruktionen ersten Grades und jenen zweiten Grades die Fremdheit einfiihren, dann ware man eben bei jener Setzung angelangt, dass jede interpretative, das heiBt sozialen Sinn rekonstruierende Sozialforschung aus der reflexiven Distanz und damit aus einer Position der Fremdheit heraus betrieben wird. Der Fall muss nicht kiinstlich fremd gemacht werden, wenn der Forscher in der AUtagswirklichkeit forscht, der er qua Gesellschaftsmitglied angehort. Der Fall wird allein durch die Differenz von alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Beschaftigung mit dem Alltag fremd. So auch in der strukturalen Perspektive (Oevermann 1991). Unter Struktur wird hier ein Regelapparat verstanden, der Handlungen und Orientierungen eines Falls immer wieder erwartbar hervorbringt. Diese Strukturen sind den Akteuren nicht explizit bewusst, sie werden hinter ihrem Riicken wirksam. Werden sie ans Tageslicht geholt, hat dies bezogen auf den Fall den Effekt einer Verfremdung. Die phanomenologische Perspektive eines Alfred Schtitz, methodologisch fruchtbar gemacht in der Ethnomethodologie und in der Konversationsanalyse, und die strukturale Perspektive, wie sie z. B. in der Strukturalen (Objektiven) Hermeneutik zum Tragen kommt, fiihren beide zu der Forschungsoperation der Sequenzanalyse. Akteure produzieren sozialen Sinn, indem sie standig Entscheidungen treffen. Sie bilden so Strukturen aus, die aus Sicht der Konversationsanalyse und der Ethnomethodologie als allgemeine, fallunabhangige Strukturen begriffen werden, wahrend aus Sicht der Strukturalen Hermeneutik es um fallspezifische Strukturen in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem geht. Hierunter wird folgendes verstanden: Wenn die Autonomic eines Individuums, eines Paares, einer Familie sich in der Bewaltigung von Krisen zeigt (Oevermann 2001), dann ist die sequenzanalytische Rekonstruktion solcher Prozesse das geeignete Verfahren zur Analyse von Individualitat einer konkreten Lebenspraxis. Wichtig ist, dass unter einer Abfolge von Sequenzen nicht ein einfaches Nacheinander von Entscheidungen verstanden wird. Sequenzen und ihre Abfolge entfalten sich als sinnstrukturierte Prozesse, die eine Struktur erzeugen, reproduzieren oder transformieren, indem Moglichkeiten wahrgenommen, gegeneinander abgewogen, verworfen bzw. gewahlt werden. Struktur und Prozess „fallen in eins", Struktur entsteht und wird verandert im Prozess. Drei Sequenzabfolgen sind erforderlich, um einen Entscheidungsprozess vollstandig
Die Unhintergehbarkeit von Fremdheit in der Sequenzanalyse und ihre Bewaltigung
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zu rekonstruieren: (1) Die vergangene Sequenzstelle, in welcher Moglichkeiten eroffnet werden; (2) die aktuelle Sequenzstelle, in welcher eine Moglichkeit ausgewahlt und realisiert und insofern Wirklichkeit voUzogen wird; (3) eine weitere Sequenzstelle, in welcher aus den eroffneten neuen Moglichkeiten eine realisiert wird. Damit werden gleichzeitig neue Moglichkeiten eroffnet.^ Das Ergebnis ist die Rekonstruktion einer Fallstruktur, die den Akteuren als solche nicht bewusst ist. Es handelt sich um eine soziale Sinnstruktur, die im Verborgenen wirkt. Ans Licht geholt, erscheint sie als Distanz zum oberflachlich Beobachtbaren, mithin als fremd. In diesem Beitrag mochte ich vor ^llem auf praktische Konsequenzen dieser Verfremdung im Forschungsprozess zusteuem. Sie manifestieren sich z. B. darin, dass die Untersuchungssubjekte, seien es nun Mitglieder einer Familie oder eines Dorfes, wissen wollen, was denn „bei der Studie herausgekommen ist", kurz: sie wollen den Forschungsbericht lesen. Das hier zu verhandelnde allgemeine Thema bezieht sich mithin auf die Interaktion von Wissenschaft und Lebenspraxis unter der Bedingung, dass erstere aufgrund ihrer Erkenntnisinteressen (Herausarbeiten von Strukturen alltaglicher Lebenspraxis) und aufgrund der damit verbundenen methodischen Verfahren (Sequenzanalyse) Verfiremdungsprozesse erzeugt, die fur den Austausch von Wissenschaft und Lebenspraxis spezifische Losungen erfordem.
2. Ein Fallbeispiel: Die Familie Finis In diesem Abschnitt will ich am Beispiel der Genogrammanalyse zeigen, was an verborgenem sozialem Sinn herausgearbeitet werden kann, wenn man methodisch stringent sich der Sequenzanalyse bedient. Es handelt sich um eine Bauemfamilie, zu der ich auf dem Wege nicht von Forschung, sondem von Supervision Zugang erlangte (Hildenbrand 1996). Die dabei verwendeten familienbiographischen Daten haben wir im Sinne der Klinischen Soziologie^ sequenzanalytisch ausgewertet. Im Folgenden stelle ich die Ergebnisse in narrativer Form vor, da es hier nicht um die Frage des handwerklichen Vorgehens, sondem um die Erzeugung von Fremdheit durch Sequenzanalyse geht, was sich am Ergebnis derselben nachweisen lasst.^ ' Vgl. Bergmann (1985), Hildenbrand (2005c, 2005a). ' Unter Klinischer Soziologie verstehen wir in Anlehnung an Oevermann eine im Namen soziologischer Theorie und Methodik durchgeftihrte Tatigkeit, die bezogen auf Problemstellungen und Krisen in praktischen Kontexten beratend, evaluierend und evtl. intervenierend aufgrund eines Auftrags aus dieser Praxis durchgefuhrt wird. Vgl. Hildenbrand (2005b). ' Zum Handwerk vgl. Hildenbrand (2005c, 2005a.).
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Es handelt sich um eine Bauemfamilie aus dem Frankischen (Personennamen, Region und Orte sind anonymisiert), die von ihrem Hausarzt an den niedergelassenen Psychiater Dr. A. iiberwiesen wird. Das prasentierte Problem bezieht sich auf den zweitaltesten, zum Zeitpunkt der Uberweisung 30jahrigen Sohn Paul, der seit drei Jahren haufig den Arbeitsplatz wechselte, im Zusammenhang mit den Wechseln zu Alkoholexzessen neigte und seit dem Friihjahr 1994 vage Bedeutungs-, Beziehungs-, Verfolgungs- und Beeintrachtigungsideen sowie Allmachts- und Ohnmachtsphantasien auBert. Ein Blick auf das Genogramm der Familie zeigt folgendes:
In der GroBeltemgeneration des Indexpatienten besteht der Hof als ein Mischbetrieb mit Obstbau, Weinbau, Milchwirtschaft und Ackerbau.^ Die Verantwortung fur den Hof wird im wesentlichen von der aus einer Gastwirts- und Weinbaufamilie eingeheirateten Bauerin Emmy gelegen haben, denn der Betriebsleiter Anton war als Landtagsabgeordneter der herrschenden konservativen Partei sowie spater zusatzlich als Verwaltungsratsvorsitzender einer staatlichen VersiZum agrarsoziologischen Hintergrund dieser Fallrekonstruktion vgl. Hildenbrand u. a. (1992).
Die Unhintergehbarkeit von Fremdheit in der Sequenzanalyse und ihre Bewaltigung
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cherungsgesellschaft haufig abwesend. Diese starke Stellung auf dem Hof wird die Bauerin aus zwei Grtinden besonders gepflegt haben: (1) Mit gesteigerter Verantwortungsbereitschaft kann sie den aus der Sicht einer bauemstolzen Familie bestehenden Makel, der darin besteht, dass sie aus einer Familie mit geringerem Ansehen im Dorf in eine der ersten Familien im Dorf eingeheiratet hat, tilgen; (2) sie starkt damit ihre Position gegentiber ihrem Ehemann, der es bei seinen Hauptstadtaufenthalten in barock-kathoHscher Manier mit der eheHchen Treue nicht besonders genau genommen haben soil. Auch die Geburt von sechs Kindem, darunter drei die Hofnachfolge sichernden Sohnen, tragt zur Sicherung ihrer Position auf dem Hof bei. Biographisch ist die Familie in dieser Generation vor die Aufgabe gestellt, den erreichten lokalen sozialen Status einerseits hinsichtlich der vollbauerlichen Tradition an die nachste Generation weiterzugeben. Andererseits jedoch muss auch der aus der politisch herausgehobenen Stellung des Bauem resultierende Anspruch bewahrt werden. Zunachst kiindigt sich in diesem Bereich eine vortreffliche Losung an. Der alteste Sohn und Hoferbe Anton II, als Nachfolger schon durch seinen Vomamen deklariert, sucht seine Auseinandersetzung mit dem anspruchsvoUen vaterlichen Vorbild nicht auf dessen eigenem Gebiet, der Politik. Hier kann er nur verlieren. Seine Strategic ist eine andere. Zunachst schneidet er aus dem Hof die besten Stiicke, also den Obst- und Weinbau, heraus, der Ackerbau- und Milchviehbereich wird ausgesiedelt. Statt in der Politik bringt er es in der Springreiterei zur Meisterschaft, und dem Anspruch des Hofes auf eine herausgehobene Position im Dorf tragt er mit dem Posten des Feuerwehrhauptmanns Rechnung. In der Wahl der Ehefrau Hanna folgt er exakt dem vaterlichen Vorbild. Er sucht sich eine seinem Stand nicht angemessene Wirtstochter, die ihm schon aus Stolz, nach oben geheiratet zu haben, wie schon seine Mutter seinem Vater, den Riicken freihalt und die iiberdies als Wirtstochter die Ubersicht iiber einen groBen Haushalt gelemt hat. Die beiden nach dem Altesten geborenen Tochter Gretel und Anna werden auf ebenbiirtige Hofe verheiratet, insofem folgt die Familie dem traditionalen bauerlichen Muster. Hiermit scheint jedoch der Vorrat an sinnlogisch adaquater Weiterentwicklung dieser Bauernfamilie aufgebraucht zu sein. Die Teilung des Hofes scheint es zwar auf den ersten Blick ermoglicht zu haben, gleich zwei Sohne mit je einem Vollerwerbsbetrieb auszustatten und ihnen so die Selbstandigkeit zu sichern. Bei naherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es bei der Hofteilung verdeckt um etwas anderes ging: Der Anspruch der standig um ihre Position kampfenden Altbauerin auf Macht scheint sich so verselbstandigt zu haben, dass sie - auch nach dem Tod ihres Mannes unmittelbar nach Hofteilung und Aus-
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siedlung - mit der notigen Basis ausgestattet werden muss. Diese Basis ist der Hof mit Ackerbau und Milchwirtschaft, an dem sie bis kurz vor ihrem Tod im Jahre 1994 festhalt und auf dem sie die beiden unverheiratet gebliebenen jiingsten Kinder Berti und Christel (der jtingste Sohn Paul starb im Alter von 4 Jahren an einem durchgebrochenen Blinddarm) als Arbeitskrafte abhangig beschaftigt. Erst 1991, 90jahrig, iibergibt sie den Hof an Berti, der zu diesem Zeitpunkt bereits 58 Jahre alt ist und der, legt man die iibliche Spanne eines Arbeitslebens zugrunde, nur noch wenige Jahre die Position als Betriebsleiter wird genieBen konnen. In der folgenden Generation bricht die noch zwei Generationen vorher stattliche bauerliche Tradition dieser Familie vollends zusammen. Vier Kinder werden geboren. GemaB der lokalen Erbsitte erhalt der Alteste, Toni, den Weinund Obstbaubetrieb. Er ist (1994) 31 Jahre alt und noch unverheiratet, was ganz im Gegensatz zur bauerlichen Tradition steht, der zufolge Hofiibemahme und Heirat zusammenfallen miissen, da der Hof beide Positionen, die des Bauem und die der Bauerin, besetzt haben muss. Als Begriindung gibt er an, er habe aufgrund der Arbeitsbelastung fur Frauen noch kein Interesse aufbringen konnen. So kann man annehmen, dass dieser Zustand so lange anhalten wird, bis er als Heiratspartner uninteressant geworden sein wird. Auch sein Vorname scheint im librigen Programm zu sein: Trug sein Vater noch den vaterlichen Vomamen, so hat es bei ihm nur zum Toni, dem kleinen Anton, gereicht. Die drei folgenden Briider Paul, Karl Friedrich und Florian lernen Backer, Schmied und Zimmermann und wechseln damit in die Arbeiterschicht. Es gehort wenig Mut zu der Prognose, dass dieser Hof in der nachsten Generation in fremde Hande gegeben werden und damit diese Familientradition beendet sein wird. Kommen wir nun zu der Frage: Welche Bedeutung hat Pauls psychotische Episode im Rahmen dieser Familienbiographie? Zwei Annaherungen an diese Frage sollen versucht werden: (1) Zunachst uber die kritischen Ereignisse innerhalb der Familienbiographie im zeitlichen Zusammenhang mit Pauls Krise, dann (2) iiber die Inhalte von Pauls Wahnvorstellungen. Wir beginnen mit dem letztgenannten Punkt. Paul ist der Ansicht, er sei nicht der Sohn seines Vaters, sondem seines GroBvaters, des Landtagsabgeordneten. Seine Namensgleichheit mit dem 1943 verstorbenen Onkel mag ihn dazu bewegt haben, die Generationsebene zu wechseln, und moglicherweise treffen er und die Familie sich in der impliziten Annahme, dass er den fruhzeitigen Verlust in der vorigen Generation zu ersetzen habe. Von seiner wahren Abstammung, so Paul, wisse das ganze Dorf, indes traue sich niemand, die Wahrheit auszusprechen, denn alle im Dorf seien aufgrund ihrer Homosexualitat zum Schweigen verurteilt. Seine Kusine, die Toch-
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ter seiner alteren Tante Gretel, habe er neulich aufgefordert, ihn Onkel zu nennen. Warum wird gerade diese Kusine zur herausgehobenen Person im Rahmen dieses Wahns? Hierzu ist eine Erlauterung notwendig. Man plant, die Flachen des vor kurzem zum Betriebsleiter aufgestiegenen Berti an dessen Schwester Gretel und ihren Mann zu verpachten, die ihren Hof in unmittelbarer Nachbarschaft bewirtschaften. Fur die beiden auf dem Hof verbliebenen Ledigen Berti und Christel hatte dies zur Konsequenz, dass sie vorzeitig ohne Hof dastehen. AuBerdem wiirde dies bereits jetzt zu einem Ende der bauerlichen Tradition in diesem Familienzweig fuhren. Wenn Paul nun behauptet, er sei der Sohn seines GroBvaters, dann bringt er zwei Dinge zusammen, die die Hofkontinuitat begrtinden: In dem Anspruch auf Hofnachfolge ist er gleichrangig mit seinem Onkel, denn er ist ja in Wahrheit dessen Bruder, und er hat diesem gegenuber den Vorzug, einer jiingeren Generation anzugehoren, die das Arbeitsleben noch vor sich hat. Diese Konstruktion kann jedoch nur als Wahnhafte gelingen. Gleichwohl: Wenn Paul seine Kusine in der beschriebenen Weise anspricht, dann meldet er implizit seine Anspriiche gegenuber jenen an, die sich zum Totengraber des zweiten Hofs der Familie machen, indem sie dessen Land einem fremden Hof einverleiben. Dass Paul seit drei Jahren in seinen Arbeitsverhaltnissen unstet ist und ausgerechnet 1994 psychotisch entgleist, fmdet seinen Sinn in den krisenhaften Veranderungen in der Familie in diesem Zeitraum. Vor drei Jahren wurde der Hof an den Onkel libergeben, und 1994 stirbt die GroBmutter. Damit kommt die lange hinausgeschobene Frage, was mit diesem Zweig der Familie werden soil, wieder auf die Tagesordnung. Es gehort nun aber zur Fallspezifik der Familie Finis, zu tabuisieren und zu mystifizieren, dass die Biographien von zwei Angehorigen, namlich denen, die bei der Mutter bleiben mussten und nicht heiraten durften, obwohl dieses alte bauerliche Muster nach dem zweiten Weltkrieg immer schwerer zu vermitteln war, dem Machtanspruch ihrer Mutter geopfert wurde. Fur diese Vermutung der Tabuisierung und Mystifizierung spricht im tibrigen, dass ausgerechnet die Biographie jener Person, die bis zu ihrem Tod und darlxber hinaus die groBte Prasenz in der Familie hat, namlich Emmy, von den Angehorigen so gut wie nicht erinnert wird - ihre Herkunft bleibt uber ein paar biographische Daten hinaus dunkel. Emmys Machtanspruch, um diesen Gedanken wieder aufzunehmen, wiederum resultiert aus dem unklaren Verhaltnis ihrer Ehebeziehung und hangt damit mit den Nebenbeziehungen ihres Mannes zusammen. Die beiden Ubriggebliebenen zahlen den Preis dafiir, dass der Vater ein Doppelleben fuhrte, und liber diesen Preis muss geschwiegen werden.
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Wozu wird, wenn diese Hypothese plausibel ist, Pauls Krankheit einmal gut gewesen sein? Die aus der familienbiographischen Rekonstruktion sich ergebende Antwort lautet: Sie diente dazu, auf eine spezifische, verschrobene Weise auf das tabuisierte Familienthema und auf die Notwendigkeit der Veranderung hinzuweisen. Paul erfullt damit einen Familienauftrag.
3. Empirische Forschung und Klinische Praxis Das Faszinierende fallrekonstruktiver Arbeit im Kontext von Therapie besteht darin, dass hier Fallstrukturhypothesen nicht nur aufgestellt, sondem auch getestet werden konnen: Aus der Hypothese folgt eine Intervention, und wenn diese gelingt, gewinnt die Hypothese an Plausibilitat. Weiter oben haben wir jedoch ausgefiihrt, dass der fallrekonstruktive Forscher aufgrund des Verfahrens der Sequenzanalyse unweigerlich Fremdheit erzeugt. In Termini des Therapeutischen gesprochen: Fallrekonstruktion zieht Distanz nach sich. Therapie aber defmiert sich aus einer spezifischen Dialektik von Nahe und Distanz: Sie besteht aus distanzierenden Verfahren des Fallverstehens einerseits, zu denen zentral sequenzanalytische Verfahren gehoren, andererseits aber aus Prozessen der Begegnung, also aus solchen der Herstellung von Nahe, die unverzichtbar ist, um das Klientensystem in seiner Notlage zu erreichen und ihm jenen affektiven Rahmen zu geben, der es ihm ermoglicht, Strukturtransformationen herzustellen (Welter-Enderlin/Hildenbrand2004). Die durch Fallrekonstruktion erzeugte Fremdheit muss im Folgenden wieder aufgehoben werden. Wie brisant diese Aufgabe ist, hat die Darstellung der Familie Finis gezeigt. Ihre Fallstruktur gleicht einem Vulkan, der jederzeit zum Ausbruch kommen kann. (Die psychotische Krise von Paul kann, will man in diesem Bild bleiben, als Ausbruch eines Nebenkraters betrachtet werden, der dem Ausbruch des Hauptkraters vorausgeht bzw. diesen verzogert). Mit dieser Thematik der Aufhebung von Fremdheit, die, so zeigt der Fall Finis, erhebliche Risiken in sich birgt, will ich mich abschlieBend befassen. Forschungspraktisch zeigt sich die hier verhandelte Problematik in dem mitunter an den Forscher gerichteten Ansinnen, den Forschungsbericht ausgehandigt zu bekommen. Folgt man den Prinzipien professioneller Verantwortlichkeit, die die American Anthropological Association 1971 formuliert hat (Spradley 1980: 20ff.), dann ist dies nicht nur legitim, sondem unverzichtbar. Im Entvmrf des Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschafl fiir Soziologie vom 13.3.92 (DGS-Informationen 2/92: 14ff.) fehlt im Ubrigen diese Fordemng.
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Handigt der Forscher seinen Bericht den Beforschten aus, konfrontiert er sie mit ihren verborgenen Sinnstruktxiren. Er provoziert das, was mein psychiatrischer Lehrer Wolfgang Blankenburg als „Verlust der natiirlichen Selbstverstandlichkeit" bezeichnet hat (Blankenburg 1971). Die damit verbundenen ethischen Probleme habe ich oben angesprochen und im Einzelnen andemorts ausgefuhrt (Hildenbrand 1999b). Hier will ich mich mit der Frage nach der spezifischen Struktur der Interaktion, die mit der Aushandigung eines Forschungsberichts an die Beforschten verbunden ist, befassen. Auf einer abstrakteren Stufe ist dies die Frage nach der Interaktion zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis.^ Ich werde dieses Thema zunachst nicht direkt, sondem vom Rande her angehen. Die Frage, ob eine Person, iiber die eine andere Person einen Text, eine Biographic geschrieben hat, geneigt ist, sich mit diesem Text zu konfrontieren, wird auf eine interessante Weise bei Jurek Becker in seinem Roman „Der Boxer" behandelt. Im Prolog zu diesem Buch weigert sich der Held, Aron, gegentiber dem Ich-Erzahler, seine in fiinf griinen Heften vor ihm liegende Lebensgeschichte zu lesen, die der Ich-Erzahler geschrieben hat. Dafiir fiihrt er drei Grunde an: (1) Angenommen, die Geschichte in diesen Heften sei tatsachlich seine, Arons, eigene Geschichte. Warum soil er, Aron, diese Geschichte dann lesen, wo er sie doch kenntl (2) Angenommen, Aron soil diese Geschichte lesen, um sie zu loben. Auch dies weist Aron zuruck, er will sich nicht anmaBen, als Fachmann diese Geschichte zu beurteilen. (3) Soil aber Aron diese Geschichte lesen, um sie zu autorisieren, dann ist auch dies nicht moglich, denn dies konnte eine unendliche Geschichte werden (Becker 1979: 7-13). Im ersten Argument wird deutlich, dass Texte, die die Wirklichkeit 1:1 abbilden, die Lektiire nicht lohnen. Biographien, die mit literarischen Mitteln verfasst sind, sind dem gegentiber keine Abbildungen von Wirklichkeit, sondem gestalten die Wirklichkeit auf der Basis einer Kunstlehre. Das haben sie, wie erwahnt, mit sozialwissenschaftlichen Fallrekonstruktionen gemein - gleichgultig, ob man dem postmodemen „Diskurs" folgt und kiinstlerische bzw. wissenschaftliche Erzeugnisse als Erfmdungen betrachtet, wie Hastrup (1992, vgl. Hildenbrand 1999b: 268-271) dies tut, oder ob man die Kunst darin sieht, gleichsam als Geburtshelfer latente, den Akteuren verborgene Sinnstrukturen ans Tageslicht zu fordem, wie dies in der Objektiven Hermeneutik und der daran angeschlossenen „klinischen Soziologie" (Oevermann 1990, Hildenbrand 2005b) angenommen wird. Die Differenzen liegen im Abstand zwischen der kiinstlerischen Freiheit des Schriftstellers und der methodischen, materialorientierten Kontrolliertheit des Wissenschaftlers. ' Vgl. zum folgenden Hildenbrand (1999b).
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Im zweiten Argument wird das Thema Fachlichkeit angesprochen. Ob eine Fallrekonstruktion - ich iibersetze wiederum auf das vorliegende Thema - gelungen ist, kann nicht der „Fair', also der Untersuchte-als-Leser, selbst entscheiden. Dies ist Aufgabe der Profession. So ganz nebenbei und sicher unbeabsichtigt stellt hier Jurek Becker die argumentativen Mittel bereit, die es erlauben, ein methodologisches Konzept zu kritisieren, das der „kommunikativen Validierung". Dieses geistert seit Jahren durch das Feld der qualitativen Sozialforschung. „Eine ,kommumkative Validierung' der Interpretationen versuchten wir dadurch, dass wir vielen Familien spater schriftliche, zusammenfassende Darstellungen der Ergebnisse des Projekts tibermittelten, in denen sich die Eltem weitgehend wiederfanden", heiBt es bei Wahl, Honig und Gravenhorst (1982: 190). Die methodologische Naivitat dieser Auffassung wird im Licht der bisher in diesem Aufsatz angestellten Uberlegungen deutlich, man denke an Arons Argument Nr. 1: Wenn die Untersuchten sich in der zusammenfassenden Darstellung der Ergebnisse wieder fmden, so konnte man iiberspitzt sagen, dann heiBt das zunachst nur, dass den Forschern eine Nacherzahlung der Erzahlungen der Untersuchten gelungen ist. Das heiBt aber auch: Die wissenschaftlich-analytische Distanz, das Fremdmachen ist nicht erreicht worden. Auch Uwe Flick widmet in seiner Ubersicht iiber Theorie, Methoden und Anwendungsbereiche der qualitativen Forschung dem Konzept der „kommunikativen Validierung" einen Absatz und sieht darin vor allem als Vorzug einen „Gewinn an Authentizitat" sowie den Umstand, „dass das Subjekt die Strukturierungen der Aussagen im Sinne der gesuchten komplexen Zusammenhange (...) selbst vor(nimmt)" (Flick 1995: 245). Hier kann „kommunikative Validierung" als Konzept offenbar dann bestehen, wenn die Fallstruktur eine Art Nacherzahlung des Falles darstellt, die die Untersuchten mit ihren eigenen Erkenntnismitteln uberpnifen konnen. Dann tritt aber emeut das erste Argument Arons auf den Plan: welchen Nutzen soil es haben, eine Geschichte zu lesen, die man schon kennt? Bezogen auf die empirische Forschung: Welchen Sinn soil es haben, Fallstudien anzufertigen, deren oberstes Kriterium „Authentizitat", verstanden als: auch die Beobachteten verstehen den Text, darstellt? Aber Flick verlangt von den Beobachteten auch, dass sie die Tragfahigkeit der angestellten Strukturhypothesen kommentieren. Orientiert an der kognitiven Psychologic, stellt er hier einen Kurzschluss her zwischen alltagsweltlichem und wissenschafllichem Denken. Dass hier eine Kontinuitat besteht, hat Schtitz (1971) dargelegt; dass aber zwischen alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Verstehen menschlichen Handelns auch Unterschiede, und zwar im Grad der Artikulation, logischen Koharenz, Relevanz bestehen, hat er ebenfalls gezeigt. Wissenschaft erzeugt Konstruktionen zweiten Grades.
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Das Konzept der „kommunikativen Validierung" hat vor allem in padagogischen und sozialreformerischen Zusammenhangen groBe Beliebtheit erlangt. Hier besteht offenbar eine groBe Bereitschaft, die Grenzen zwischen Wissenschaft und politischer Praxis zu verwischen und die klassische Frage „Auf wessen Seite stehen wir?" unreflektiert so zu beantworten: nattirlich auf der Seite der Benachteiligten. Davor hat aber ein Altmeister der fallrekonstmktiven Forschung, Howard Becker, eindringlich gewarnt (Becker 1987: 158). Er halt es fiir sinnvoll, abweichendes Verhalten aus einer distanzierten Perspektive zu betrachten. Noch dezidierter als Howard Becker hat sich in dieser Richtung Elias geauBert(1987). Diese Nahe qualitativer Sozialforschung zu sozialpolitischem u. a. Handeln weist auf ein Grundproblem dieser Art Sozialforschung hin. Soziologinnen und Soziologen, die es gewohnt sind, mit massenstatistischen Daten zu arbeiten, gelangen mittelbar liber die Versendung von Fragebogen an Tausende von Menschen, und die Datenerhebung iiberlassen sie bezahlten Interviewerinnen und Interviewern. Feldforscherinnen und Feldforscher treten unmittelbar via Interviews und teilnehmende Beobachtung, teils uber langere Zeit hinweg, mit einer begrenzten Anzahl von Forschungssubjekten in Kontakt. „Falle" sind eben nicht nur „Falle", sondem Personen und Personengruppen mit je eigenen Geschichten. Bei aller wissenschaftlichen Distanz schiebt sich vor den Fall die personale Beziehung, ohne die ein lebensgeschichtliches Interview kaum, eine Feldforschung schon gar nicht zu haben ist. Und damit entsteht ein Reziprozitdtsproblem: Betrachten wir mit Marcel Mauss, also unter tauschtheoretischen Gesichtspunkten (Mauss 1978), das Gewahren von Zutritt zu einer Familie oder zu einem Dorf im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Forschung als eine Gabe, dann zieht diese Gabe notwendig die Erwartung einer Gegengabe nach sich. Diese Gegengabe muss erfolgen, soil die Reziprozitat als grundlegende Form von Sozialitat nicht verletzt werden. Der Impuls, als diese Gegengabe, die der Gabe Interview und Teilhabe am alltaglichen Leben einer sozialen Einheit wie Familie oder Dorf zu folgen hat, den Text zu betrachten, der liber diese soziale Einheit entstanden ist, lasst sich auf diese Weise nachvollziehen. Je nach beruflichem Selbstverstandnis des Forschers oder der Forscherin kann diese Suche nach Ausgleich auch mit moralischen Argumenten einer „subjektorientierten Sozialforschung", einer analogen Wurdigung der Forschungssubjekte als Experten ihrer eigenen Lebenspraxis oder mit anderer Rhetorik aufgeladen werden. Mit dem letzten Argument des oben zitierten Aron, warum er die fiinf grlinen Hefte nicht einsehen will, wird deutlich, dass eine Reziprozitatsllicke notwendig bleiben muss. Aron sagt, er sehe sich nicht in der Lage, den Text zu autorisieren. Ich verstehe dies so: Der Verfasser muss selbst die Verantwortung
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fiir seinen Text ubemehmen, und diese Verantwortung betrifft auch die Liicke zwischen Forscher und Subjekten der Forschung. Diese Liicke kann niemals zureichend, sondem immer nur defizitar geschlossen werden.
4. Auswege aus dem Problem der Reziprozitatsliicke Aushandigen einer Fallstudie an die Beobachteten und kommunikative Validierung sind keine Mittel, die Reziprozitatsliicke zwischen Forschem und Beforschten zu schlieBen. Im besten Fall bringen die Untersuchten das notige MaB an Ignoranz gegeniiber dem Text auf, im schlimmsten Fall fiihrt die Lektiire zu einer existentiellen Krise, vor der nicht einmal Feldforschungsexperten gefeit sind (Hastrup 1992). Fine fiir die Forscherin oder den Forscher bequeme Losung eroffnet sich, wenn eine Familie oder ein Dorf schon die Tatsache an sich, einer wissenschaftlichen Untersuchung fiir wert befunden zu werden, als symbolische Gegengabe ansehen. Das ist aber die Ausnahme. Was bleibt dann als Losung? Geht es um „Problem"-Familien, dann kann ein Angebot des Forschers darin bestehen, mit den Beratem oder Therapeuten iiber die Ergebnisse der Fallstudie zu sprechen, wenn die Familie dies wiinscht. Erleichtert wird dieses Angebot dadurch, dass professionelles und wissenschaftliches Fallverstehen prinzipiell derselben Logik folgen (WelterEnderlin/Hildenbrand 2004). Die Forscherin kann aber auch den Handlungsrahmen (Bateson 1981, Goffman 1980, Hildenbrand 1999a) wechseln und nach Abschluss der Studie als Beraterin oder Therapeutin auftreten. Dies setzt aber voraus, dass ihr (ihm) dafur die fachlichen und institutionellen Mittel zur Verfiigung stehen. Denkbar ist auch, der Familie zu vermitteln, dass sie mit ihrer Teilnahme an der Studie z. B. einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der psychiatrischen Versorgung geleistet hat - das ist die oben erwahnte symbolische Gegengabe. Die Frage bleibt hier, ob eine Familie sich mit einer so wenig greifbaren Gegengabe zufrieden gibt, und ob der Forscher selbst einen Ausgleich hergestellt sieht. SchlieBlich gibt es die Moglichkeit, mit der Familie iiber die Ergebnisse der Studie zu sprechen, die Aushandigung eines Textes zu ersetzen durch einen kommunikativen Austausch. Dies ware auch eine Losung fiir Gemeindestudien. Ist der Fall jedoch eine Familie mit einer strukturellen Einschrankung ihrer lebenspraktischen Autonomic, kurz: eine Problemfamilie, dann wird dadurch der Rahmen der Beratung oder Therapie betreten, ohne dass dafiir von der Familie eigens eine Autorisierung verlangt und gegeben wurde. Diese Moglichkeit
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scheidet also schon deshalb aus, well sie in sich einen Kunstfehler darstellt/ Bei anderen Familien, deren Problembelastung die lebenspraktische Bewaltigungskompetenz nicht tiberfordert (kurz: die mit ihren Problemen selbst zurechtkommt), kann dieses Angebot sinnvoll sein, wird aber, soweit meine eigenen Erfahrungen reichen, nicht genutzt. Letztlich wird man sich als Sozialforscher der Tatsache stellen mtissen, dass die Rtickvermittlung von Forschungsergebnissen auch bei Fallrekonstmktionen nur als vermittelte fachlich vertretbar ist. Im Fall von Problemfamilien sind es Beratung und Therapie, die als Vermittlungsinstanzen eingeschaltet werden konnen. Sie verfiigen iiber die erforderlichen Vermittlungskompetenzen zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis in Gestalt eines therapeutischen Habitus. Bei Fallen, in denen eine beratungs- oder therapierelevante Problemlage nicht vorliegt, stellt sich die Frage der aufklarerischen Kompetenz der Soziologie. Wieso, konnte man fragen, soil soziologisches Wissen nicht zur Steigerung rationaler Handlungskompetenz alltaglich Handelnder eingesetzt werden konnen? Ist nicht die fallrekonstruktive Forschung, bei der das Besondere nicht im Allgemeinen aufgeht und der Fall als Fall damit nicht verschwindet, sondem in der Dialektik von AUgemeinem und Besonderem erhalten bleibt, geradezu pradestiniert dafiir, auch der konkreten Lebenspraxis Orientierungsmoglichkeiten zu bieten? In der Tat sind modeme Gesellschaften durch ein Vordringen reflexiver Bildungsprozesse charakterisiert: „Prozesse reflexiver Identitatsbildung gewinnen an Bedeutung, wenn gesellschaftliche Bedingungen die Voraussetzungen fur eine konventionelle Identitatsbildung untergraben" (Giegel 1988: 225). Giegel zahlt fur solche reflexiv gesteuerten Bildungsprozesse acht Rationalitatsansprtiche in Form von Fragen auf: (1) Sind sie partiell oder systematisch? (2) Werden in die reflexive Distanz auch die sozialen Beziehungen einbezogen? (3) Hat der Reflektierende Zugang zu den Problemzonen seiner Identitatsbildung? (4) Welches Verhaltnis gewinnt der sich Bildende zu den reflexiv eroffneten Optionen der Lebenspraxis? (5) Nimmt er AnstoBe durch Vorgaben von auBen auf? (6) Ist er entscheidungsfahig? (7) Stiitzt er sich auf eine tiefer liegende Sinngrundlage? (8) Ist dieser Prozess zeitlich begrenzt oder diffus ausgeweitet? (Giegel 1988: 226-232). Nehmen wir zwei Beispiele aus dem Bereich unserer Studien iiber Modernisierungsprozesse in der Landwirtschaft. Hier sind die Bedingungen fur einen Bedeutungszuwachs reflexiver Identitatsbildung in gesteigertem MaBe gegeben, ' Kockeis-Stangl spricht von einer „Verschrankung der Validierungsfiinktion nachgehender Gesprache" (mit den Informanten) mit „eventuellen Beratungs- und Aufklarungsfunktionen" (1982: 362). Die Problematik des Rahmenwechsels zwischen Wissenschafl und Beratung bzw. Sozialpolitik wird hier nicht gesehen.
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zu nennen ware nur der beschleunigte soziale Wandel im Bereich der Produktionsintensivierung, Auflosung der traditionalen Generationenverpflichtungen, Sinnverlust der Landwirtschaft in der Industriegesellschaft, Verstadterung des Dorfes etc. Am Verhaltnis des wirtschaflenden Bauern zu seinen Eltern einerseits, zu seiner Ehefrau andererseits steigem sich die Konfliktpotentiale im Bereich der Generationenbeziehungen, eingerahmt und vielfach verscharft durch die weiteren, o. g. Problemzonen. Im Fall Berger (Hildenbrand u. a. 1992: 80-83) beobachten wir die lebenspraktisch kompetente Auflosung einer Konfliktsituation, in der durch Traditionsbruch die liber sieben Generationen wahrende Familien- und Hoftradition gesichert werden kann: Weil das Altbauempaar die Ehefrau des designierten Hofnachfolgers nicht akzeptiert, schlagt dieser zunachst das Erbe aus, zieht aus dem Dorf weg und verdient den Lebensunterhalt fur sich und seine Familie in abhangiger Beschaftigung. Er kehrt auf den Hof nach 12 Jahren zuruck, als die Eltern aufgrund zunehmender Hinfalligkeit nicht mehr umhin kommen, die Schwiegertochter zu akzeptieren. Dieses Konfliktlosungsmuster bildet dann das Modell fiir die Losung einer anders gearteten Krise in der kommenden Generation. Es wurde erleichtert durch die giinstige Arbeitsmarktsituation im deutschen Siidwesten in den 50er Jahren, heute stellten sich die Verhaltnisse moglicherweise anders dar. Anders im Fall Peters (Bohler und Hildenbrand 1997: 123-137). Dort kann der wirtschaftende Bauer aufgrund einer familiengeschichtlich spezifischen Problematik seiner Frau nicht die notige Unterstlitzung zukommen lassen, damit diese gegen die Xante ihres Mannes die Oberhand iiber den Binnenbereich des Hofes gewinnen kann. Die daraus resultierende chronische Paarproblematik wird nicht, wie im obigen Fall, dadurch aufgelost, dass der Ehemann sich fur seine Frau und gegen seine Herkunftsfamilie entscheidet, auch nicht dadurch, dass die Herkunftsfamilie dank Einsicht in die materiale Rationalitat bauerlichen Wirtschaftens in ihren Anspriichen zurucktritt. Das fiir diese Familie spezifische Losungsmuster besteht in einem langjahrigen Alkoholismus des Betriebsleiters, der ihn handlungsunfahig macht, d. h. es besteht in einer Problemverlagerung. Im Fall Berger greifen die traditionalen Autonomicvorstellungen des Landwirtssohnes, der auf einem angesehenen Hof sozialisiert worden ist und der warten kann, bis seine Stunde gekommen ist. Im Fall Peters waren diese Vorstellungen - es handelt sich um einen ehemaligen Realteilungsbetrieb mit entsprechend schwachem Humankapital, bezogen auf vollbauerliches Wirtschaften - im Ansatz nicht vorhanden. Berger benotigte damals reflexive Bildungsprozesse nicht, weil die Tradition ihn (noch) trug; Peters sind sie nicht zuganglich, weil er die von Giegel
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formulierten acht Voraussetzungen in kaum einem Punkt erfiillt. Er benotigt Therapie. Zwischen diesen Fallen lassen sich durchaus solche vorstellen, denen reflexives Wissen in gesteigertem MaBe eine Stiitze im Sinne der Erweiterung der Autonomie der Lebenspraxis bieten kann. Nur wird dieses Wissen im giinstigen Falle keine Handlungsorientierungen bieten, sondem es wird den Bereich der lebenspraktischen Deutungspotentiale erweitem, und zwar in Fallen, deren Autonomie so weit ausgestaltet ist, dass sie souveran damit umgehen konnen. Bin solcher Umgang mit reflexiven Bildungsprozessen wird die Lebenspraxis nicht entwerten, sondem es wird zu einem Verstandigungsprozess zwischen Lebenspraxis und Reflexion (Doxa und Episteme) und damit zu einem offenen Prozess der Herstellung von Rationalitat und Ordnung kommen (Waldenfels 1985: 45ff.). AuBerhalb dieses Virtuosentums reflexiv gestutzter Lebenspraxis, also fur die iiberwiegende Mehrheit der Bevolkerung, behalten die Professionen als die berufenen Vertreter der Vermittlung zwischen Doxa und Episteme ihre Bedeutung. Sie allein sind in der Lage, die durch wissenschaftliche Distanzierung erzeugte Fremdheit so an den Fall zuriickzugeben, dass diese fur eine Erweiterung lebenspraktischer Handlungskompetenzen fruchtbar gemacht werden kann.
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Zur Differenz von praktischem und methodischem Verstehen in der ethnologischen Feldforschung - Eine rein textimmanente objektiv hermeneutische Sequenzanalyse von iibersetzten Verbatim-Transkripten von Gruppendiskussionen in einer afrikanischen lokalen Kultur Ulrich Oevermann
I. Methodologische Vorbemerkung Die folgende objektiv hermeneutische Sequenzanalyse der Anfange von zwei Gruppendiskussionen mit afrikanischen Eingeborenen in Mocambique anlaBlich der Folgen einer Hochwasserkatastrophe geben mir, auf Einladung des SFB „Lokales Handeln in Afrika im Kontext globaler EinflliBe" in Bayreuth^ eine willkommene Gelegenheit, die Moglichkeiten der Verwendung von Verfahren der objektiven Hermeneutik in der ethnologischen Feldforschung und im methodischen Verstehen des Fremden zu erproben und zu demonstrieren. Dies geschieht sozusagen unter „verscharften" Bedingungen. Denn ich habe bewuBt darauf verzichtet, mehr iiber den Untersuchungsgegenstand dieser lokalen afrikanischen Gemeinschaft bzw. Kultur zu erfahren, als aus dem mir vorliegenden, zu analysierenden Transkript von zwei Gruppendiskussionen selbst hervorgeht. Ich weiB auch bis jetzt, also bis zum druckfertigen AbschluB der Materialanalyse nicht mehr. Noch verfuge ich iiber irgendwelche Kontextinformationen, die uber die eines normalen Zeitungslesers hinausgehen. Ich kann daher hier das Prinzip der objektiven Hermeneutik in reiner Form einhalten, das darin besteht, exteme Kontextinformationen uber einen konkreten, zu analysierenden Gegenstand in den Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt erst dann zu benutzen, wenn die konkreten, immanent vorgehenden Materialinterpretationen bereits abgeschlossen sind, damit die berlihmt-beruchtigte hermeneutische Zirkularitat, die fiir das praktische Verstehen fraglos konstitutiv ist, im methodischen Verstehen so weit wie moglich vermieden wird. In der objektiven Hermeneutik verfahrt man in der sequenzanalytischen ErschlieBung eines vorliegenden Datums, einer Ausdrucksgestalt, nach Moglichkeit so, daB fiir die Interpretation
AnlaB war der Workshop „Empirische Forschung unter den Bedingungen kultureller Fremdheit" vom 2 2 . - 2 3 . M i 2004.
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des ersten Elementes einer Sequenz keine Kontextinformationen verwendet werden (Wissen iiber den „auBeren Kontext") und fur die Bestimmung aller nachfolgenden Elemente nur solche, die aus der kumulativen Sequenzanalyse selbst resultieren („innerer Kontext"), also rein immanent erschlossen worden sind. Erst wenn man auf diese Weise zu einem Ergebnis gekommen ist, fiigt man es in das existierende anderweitige Wissen iiber den Gegenstand ein und vergleicht es kritisch mit diesem, so daB eine nicht zirkulare, unabhangige Geltungsuberpriifiing wirklich moglich ist. Was die weiteren Bestimmungen und Begriindungen der Methodologie der objektiven Hermeneutik anbetrifft, verweise ich auf die einschlagigen Veroffentlichungenl Aus der Sicht der objektiven Hermeneutik ist die analytische und kategoriale Trennung von praktischem und methodischem Verstehen entscheidend. Ftir das praktische Verstehen, z.B. im Alltag, sind die mentalen Operationen der Introspektion und des Nachvollziehens des Fremdpsychischen unerlasslich. Deren Bedingung der Moglichkeit ins rechte Licht zu riicken, ist gewohnlich Gegenstand der philosophischen Hermeneutik. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, darin bestehe zugleich eine fur die erfahrungs wis sens chaftliche Geltungsbegriindung brauchbare Methodologie. Im praktischen Verstehen kann man sich schnell irren und verfugt dann nicht liber eine kritische Methode der Geltungsiiberpriifung. Im praktischen Verstehen bezieht man sich entsprechend auf den subjektiv gemeinten Sinn der Handlungstheorien. Ihn kann man nur in der Unmittelbarkeit der Praxis selbst nachvoUziehen. In der expliziten methodischen Geltungstiberpriifung dagegen muB man sich auf das Datum, das man zur ErschlieBung von theoretischen Modellen und zu deren Uberprlifung benotigt, als Ausdrucksgestalt beziehen und daraus schliiBig zu iiberprufungsrelevanten Aussagen gelangen. Gegenstand dieser ErschlieBung ist deshalb nicht der subjektiv gemeinte Sinn eines Akteurs, mit dem man eine Praxis teilt oder mit Bezug auf den man nachvollziehend eine gemeinsame Praxis simuliert, sondem die objektive Bedeutungsstruktur einer einzelnen Handlung oder AuBerung oder die latente Sinnstruktur einer ganzen Sequenz von AuBerungen. Warm immer man methodisch kontrolliert SchliiBe iiber den subjektiv gemeinten Sinn eines Handelns Ziehen will, muB man zuvor den objektiven Sinn der Ausdrucksgestalt erschlossen haben, in der sich dieses Handeln als Praxis verkorpert hat oder protokoUiert ist. Im Unterschied zum praktischen Verstehen erfolgt dieses ErschlieBen handlungsentlastet in forschender MuBe und nicht unter dem Praxisdruck der Zugehorigkeit zur Realzeit des zu untersuchenden Gegenstandes selbst. Ein durch die Forschung mogliches Entlastet-Sein von diesem Hand-
• Von diesen Publikationen erwahne ich nur die mir am wichtigsten erscheinenden: Oevermann u.a. (1979), Oevermann (1993; 1996a; 2000a; 2001a; 2002/2004; 2004a; 2004b).
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lungsdruck wurde nicht richtig genutzt werden, wenn man darin nur paraphrasierend und methodisch unkritisch den subjektiv gemeinten Sinn der beteiligten Handelnden nachvollzoge. Diese Differenzierung von praktischem und methodischem Verstehen - das erste vollzieht sich zudem notwendigerweise immer unter den Bedingungen einer praktischen Bindung an eine Wertpramisse, das zweite genau umgekehrt unter der Bedingung des unvoreingenommenen Blicks und der Distanzierung von einer solchen Wertbindung - ist nun sehr folgenreich fiir die Problematik und Methodik des Verstehens des Fremden und damit fiir die ethnologische Forschung. Gewohnlich wird das Verstehen des Fremden fur schwierig gehahen gegentiber dem Verstehen des Eigenen. Das trifft aber nur zu, wenn man sich auf das praktische Verstehen beschrankt. Fiir es gih trivialerweise, daB man das Eigene ja schon immer verstanden hat, sonst ware es nicht das Eigene, wahrend fremd nur dasjenige ist, was man noch nicht verstanden hat, sonst ware es nicht das Fremde. Entsprechend ist fur das praktische Verstehen des Fremden die Uberwindung der historischen Distanz zum Gegenstand das Hauptproblem, wie eben fiir den Reisenden in einer fremden Welt oder den Femhandel betreibenden Kaufmann, den Missionar oder den erobemden Krieger. Fiir das methodische Verstehen gilt aber umgekehrt, daB das Vorwissen, das das praktische Verstehen des Eigenen als immer schon problemlos moglich erscheinen laBt, sich wie ein opazisierender Schleier vor das Objekt des Verstehens legt. Das Fremde stellt das methodische Verstehen insofem vor ein viel geringeres Problem, als von vomherein ein das praktische Verstehen ermoglichendes Vorwissen gar nicht vorhanden ist, so daB jener opazisierende Schleier gar nicht erst zur Herstellung einer kiinstlichen Naivitat entfernt werden muB, sondem - mit Riickgriff auf die Universalien des sprachlich vermittelten Rekonstruierens von Bedeutung und das „mundane reasoning" - die objektive Sinnstruktur der Ausdrucksgestalten des Fremden geduldig und ohne abkiirzendes Vorwissen erschlossen werden muB, also etwas getan werden muB, was beim Verstehen des Eigenen angesichts der immer schon gegebenen praktischen Bekanntheit des Gegenstandes den meisten Anhangem konkurrierender sinnverstehender Methoden in der Sozialforschung iiberfliissig zu sein scheintl Die hiesige Aufgabe gibt mir auch die Gelegenheit, unter den genannten riskanten Bedingungen das Verstehen des Fremden mit den Methoden der objektiven Hermeneutik auszutesten. Mit dem iiblichen Vorgehen in der ethnologischen Feldforschung kontrastiert das idealtypische Vorgehen in der objektiven Hermeneutik noch in einer anderen Hinsicht. Es wird darin strikte zwischen den Verfahren der Datenerhe' Vgl. dazu Oevermann (2001b).
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bung mit den beiden Bereichen der Techniken der Protokollierung und des sozialen Arrangements, das mit der Erhebung verbunden ist, und den Verfahren der Datenauswertung getrennt. Hinsichtlich der ersten Gruppe von Verfahren besteht der Hauptunterschied zwischen standardisierten und nicht-standardisierten Verfahren. Alle quantifizierenden Verfahren sind notwendig standardisiert und haben von daher, was die Prazision der Anschmiegung an den Gegenstand anbetrifft, erhebHche Nachteile. Ihre Vorteile Hegen - bezogen auf die Fallzahlen nur in der Okonomie der Datenauswertung. HinsichtHch der zweiten Gruppe von Verfahren ergibt sich der wichtigste Unterschied zwischen subsumtionslogischen und rekonstruktionslogischen Verfahren. Alle quantifizierenden Auswertungen sind wiederum notwendig subsumtionslogisch und d.h. fiir Strukturerkenntnisse im Gegenstandsbereich der sinnstrukturierten Welt nur bedingt geeignet. Da nun eine Datenauswertung moglichst unabhangig von der Datenerhebung sein sollte, damit sie - zur Sicherung von Intersubjektivitat - in Gestalt verschiedener Verfahren sich auf von ihr unabhangig hergestellte Daten mehrfach und wiederholt beziehen kann, sind Beschreibungen als Daten nur bedingt geeignet, weil in ihnen, durch ein intelligentes interpretierendes Subjekt durchgefiihrt, immer schon eine vorgreifende Datenauswertung stattfmdet, die sich nachtraglich nicht mehr von der bloBen Datenerhebung trennen laBt. Alle Phantasien des Konstruktivismus treffen also auf Beschreibungen partiell tatsachlich zu. Demgegenliber sind geratevermittelte Aufzeichnungen, sofem sie, wie bei Tonbandaufzeichnungen von Sprechhandeln der Fall, leicht notierbar sind und entsprechend leicht transkribiert werden konnen, bei weitem vorzuziehen. Sie erlauben eine uber die Beschreibung hinausgehende nicht-zirkulare ErschlieBung der objektiven Sinnstrukturen eines authentischen Protokolls der protokollierten Wirklichkeit selbst. Fast alle aus Beschreibung bestehenden Datenerhebungsverfahren stammen mehr oder weniger aus dem 19. Jahrhundert, in dem es gute Aufzeichnungsgerate noch nicht gab. Die Daten der ethnologischen Feldforschung bestehen in der Kegel weitgehend aus Beschreibungen. Im hiesigen Fall dagegen haben wir es mit einer Transkription einer geratevermittelten Aufzeichnung zu tun, also mit einem aus der Sicht der objektiven Hermeneutik fur nicht-zirkulare ErschlieBungen sehr geeigneten Datenmaterial. Das angewandte sequenzanalytische Verfahren der ErschlieBung erfordert nun aber pro Einheit der raumlichen und zeitlichen Ausdehnung einer den zu untersuchenden Gegenstand verkorpemden Praxis zum einen sehr viel Zeit fiir die Rekonstruktion und zum anderen sehr viel Raum fiir die Darstellung. Man kann deshalb immer nur „kleine" Ausschnitte von moglichen Protokollen des zu einem komplexen Gegenstand gehorenden Geschehens grtindlich analysieren. Das haben viele Forscher - meines Erachtens irrtiimlich - fiir einen groBen Nachteil gehalten.
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Insbesondere in der ethnologischen Feldforschung besteht ja der Untersuchungsgegenstand in der Regel in der Totalitat einer komplexen, ganzen Kultur oder doch zumindest Teilkultur. Angesichts dessen halten Ethnologen gewohnlich die objektive Hermeneutik fiir ungeeignet und ziehen es vor, bei ihrer die ganze Kultur erfassenden ethnographischen Datenerhebung zu bleiben. Aber worin besteht diese die Totalitat des Gegenstandes erfassende Datenerhebung? Im Grunde genommen im Kern in der nachtraglichen Beschreibung eines Gesamteindrucks, den der Feldforscher wahrend seines Feldaufenthalts als Beobachter und Teilnehmer gewonnen hat. Dieser Gesamteindruck wird dann durch weitere gesammelte Daten und Spezialbeschreibungen amplifiziert und erganzt. Im Kontrast dazu ist das Vorgehen der objektiven Hermeneutik in der Diskussion der Bayreuther Tagung sehr plastisch mit einem „hit-and-run" Vorgehen verglichen worden, so als ob der objektive Hermeneut schnell ins Feld lauft, eine kleines ProtokoU aufzeichnet und sich dann ebenso schnell wieder in seine Studierstube begibt, um dieses ProtokoU langwierig auszuwerten. Das ist natiirlich in mehrfacher Hinsicht eine Karikatur. Auch und gerade der objektiv hermeneutisch prozedierende, fallrekonstruierende Forscher orientiert sich daran, mit dem Begriff der Fallstrukturgesetzlichkeit die Totalitat seines Untersuchungsgegenstandes im Sinne von dessen innerem Zusammenhang und dessen innerer Bildungsgesetzlichkeit als eine historisch gewordene zur Geltung zu bringen tiber eine bloB klassifikatorische Kombination einer Merkmalskonfiguration hinaus. Wenn man es als Forscher mit einem komplexen und hoch aggregierten Gegenstand wie einer ganzen Kultur oder einer autonomen Vergemeinschaftung zu tun hat, dann muB man nattirlich iiber einen Gesamteindruck verfiigen, und dann empfiehlt es sich immer, ein wie auch immer abgekiirztes Gesamtprotokoll oder einen integrierten Gesamtbericht anzulegen, in dem gewohnlich die gegenwartigen Zustande und Lebensbedingungen und die historische Entstehung des aktuell Vorfmdbaren einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Jedoch ist das noch nicht ein zur Generierung von Modellbildungen und zur Geltungsuberpriifung geeignetes Datenmaterial, sondem nur eine erste Orientierung und Annaherung. Sie dient auch dem objektiven Hermeneuten als unverzichtbare Basis fur die Auswahl und Bestimmung von konkreten ProtokoUen und Ausdrucksgestalten, die dann zum Gegenstand von methodisierten Feinanalysen gemacht werden, die ihrerseits als voneinander getrennte, unabhangige exemplarische Zugange zur Totalitat der Kultur spater in einer Strukturgeneralisierung zusammengefiigt werden. Entscheidend ist nun aber, daB man ohne die differenzierte und zugleich distanzierte, eine objektivierte typische und exemplarische Ausdrucksgestalt einer Kultur betreffende Feinanalyse, nach Moglichkeit in Gestalt einer Sequenzanalyse, nicht bis zur wirklichen ErschlieBung vordringt und nicht uber eine bloBe Be-
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schreibung, aus der niemals eine gtiltige Erklarung sich ergeben kann, hinausgelangt. Aber um diese genauen natiirlichen Protokolle zur Verfiigung zu haben und sie auch genau und detailliert auszuwerten, darf man keineswegs im Sinne von „hit-and-run" auf die Herstellung eines Gesamteindrucks als Bezugspunkt verzichten. Wichtig ist es nur, daB man auch diesen Gesamteindruck in einem formlichen, seinerseits detailliert analysierbaren Protokoll niederlegt, gewissermaBen einem „Logbuch" der Kulturerfassung, und dann darin die exemplarischen Analysen, von Mai zu Mai eine Strukturgeneralisierung erweiternd, einhangt. Die Feinanalysen tragen die Last der eigentlichen, sequenzanalytisch in Permanenz sich vollziehenden fallibilistischen Uberpriifung von Konjekturen, Vermutungen und Annahmen, die in den Gesamteindruck schon mehr oder weniger implizit eingegangen sind. Abgekiirzt ausgedrtickt: Aus der Sicht der objektiven Hermeneutik kann die Herstellung eines informierten Gesamteindrucks durch Feldkenntnis nur nutzlich sein, aber ohne eine vertiefende Feinanalyse von geeigneten Protokollen, die immer nur einen kleinen Ausschnitt aus der Totalitat des Lebens einer Kultur abdecken konnen, wird man den ErkenntnisprozeB nicht wirklich vorantreiben. Vor allem aber sollte man aus einem vorausgehenden Gesamteindruck stammende Uberzeugungen nicht als Kontextuierungen in die Begrlindung von ErschlieBungen im konkreten RekonstruktionsprozeB einflieBen lassen. Die genaue, Itickenlos erschlieBende und im Sinne des Totalitatsprinzips jede Partikel einer zu analysierenden Ausdrucksgestallt motivierende Sinnrekonstruktion bildet die methodologische Grundlage fur eine aufschlussreiche Erklarung und Theoriebildung, sie wird aber haufig als umstandlich, unnotig aufwandig und vor allem als von der Herstellung eines Gesamteindrucks abfiihrend miBverstanden. Wie weit bei dieser auf dem Totalitatsprinzip beruhenden Feinanalyse eines vergleichsweise kleinen Materialstiicks, einer geratevermittelten Aufzeichnung eines Gruppengesprachs von vergleichsweise geringer Dauer, der in jedem Falle nicht-zirkulare, weil von einem extemen Kontextwissen voUkommen unabhangig und unbeeinfluBt, zudem von einem dem analysierten Gegenstand vollkommen fremd gegeniiberstehenden Forscher erarbeitete Erkenntnisgewinn reicht, kann jeder Leser, sofem er sich auf deren etwas miihsame Lekture einlasst, aus der nachfolgenden textnahen Sequenzanalyse am besten selbst ersehen. Der Gegenstand und die ihn erschlieBenden Operationsschritte liegen offen vor ihm, so daB der gesamte ForschungsprozeB bis ins letzte Detail kontrollierbar nachvollzogen werden kann. Nichts bleibt verborgen. Eine letzte Bemerkung zum Problem von iibersetztem Datenmaterial. Selbstverstandlich ist es immer vorzuziehen, die Daten in ihrer Originalsprache zu analysieren. Aber man kann nicht alle Einzelsprachen dieser Welt beherrschen, und es gibt, wie hier, Konstellationen, in denen der puristische Verzicht
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auf die Moglichkeit, verlaBliche Ubersetzungen als Ersatz zu akzeptieren, den dadurch entstehenden Erkenntnisverlust in keinem angemessenen Verhaltnis mehr zum Gewinn einer moglichen Fehlervermeidung bzw. der Vermeidung eines Fehlerrisikos erscheinen lassen. Wichtig ist nur, daB man, wenn man Ubersetzungen benutzt, diese auch konsequent und stur wortlich emst nimmt und wie Primartexte behandelt und nicht standig die Interpretationen auf einen generalisierten Verdacht von Ubersetzungsfehlern bin relativiert. Denn wenn die Ubersetzung tatsachlich fehlerhaft oder schief sein soUte, dann bemerkt man das nur, sofem man sie wie einen originalen Text detailliert und unter der wie auch immer kiinstlich naiven Voraussetzung behandelt, sie sei in sich konsistent wie ein muttersprachliches Datum. Bis auf ganz wenige, vemachlassigenswerte formale Details gab mir die mir zur Analyse vorgelegte Transkription unter dem Gesichtspunkt intemer Konsistenz keinen AnlaB, Ubersetzungsschwachen oder gar -fehler zu unterstellen, so daB ich es flir gerechtfertigt halte, sich auf sie verlassen zu konnen.
II. Sequenzanalyse des Materials einer ersten Gruppendiskussion vom 7. September 2002 in Mocambique mit 5 Bewohnern eines Dorfes iiber die Folgen einer LFberschwemmungskatastrophe Die Sequenzanalyse beginnt am Anfang des Transkriptes, das seinerseits, so vermute ich, mit der Bandaufnahme einsetzt, d.h. an der Stelle der aufgenommenen Gruppendiskussion, an der der Recorder-Knopf gedrtickt wird. Wir miissen also als erstes den Anfang des zu analysierenden Transkripts in der protokollierten Wirklichkeit lokalisieren. Wir werden sehen, daB die protokollierte Wirklichkeit im voUen Gange ist, die Bandaufnahme oder das Transkript also einen mehr oder weniger willkiirlichen Anfang setzt"^. Der Anfang dieser protokollierten Wirklichkeit selbst ist entweder identisch mit der Eroffhung der ihr entsprechenden Praxis oder er besteht in der deutlich markierten Teileroffnung eines Praxissegments bzw. der thematischen Eroffnung eines neuen Abschnitts.
Exkurs zum Problem des Anfangs Das Anfangsproblem ist eines der interessantesten und zugleich am wenigstens beachteten in der Sozialforschung. Es wird erst durch die Sequenzanalyse auf"^ Da das Driicken der Recording-Taste von alien Beteiligten beobachtet werden kann, wird diese bloB technische Initialisiemng zu einer sozialen, vom Protokollanten mit seiner Apparatebetatigung vollzogenen.
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geworfen und geht in der ublichen klassifikatorisch-subsumtionslogischen Datenauswertung unter. Es hat eine faktische und eine methodologische Seite. Seine auBerordentliche Allgemeinheit und Virulenz in alien Disziplinen der Erfahrungswissenschaften mag exemplarisch mit dem Verweis auf Peirce' wichtige erkenntnistheoretische Einsicht, daB jegliche Erkenntnis aus einer vorausgehenden erschlossen worden ist und deshalb eine spontane Intuition eine Illusion ist, oder auf die Urknalltheorie in der Physik und auf die Leistung des Monotheismus, durch die das vor ihm ungeloste Problem der Bestimmung eines absoluten Anfangs der Schopfung (jede Anfangskonstruktion warf zuvor die Folgefrage auf, wer diesen Anfang, z.B. das Schopfungsei in den agyptischen Mythen, geschaffen hatte) mit einem Schlage durch die Konstruktion eines einzigen, allmachtigen, vor alien Zeiten existierenden Gottes gelost wurde, ins BewuBtsein gerufen werden. Obwohl also im Gegenstandsbereich unserer Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt alles schon im Sinne einer evolutionaren Kontinuitat auf etwas Vorausgehendes zuriickgeht, sind die Eroffnungen und BeschlieBungen historisch-konkreter Praxis, welcher Ausdehnung auch immer, von allergroBter Bedeutung. Was sie begrenzen, ist von auBerordentlich unterschiedlicher Reichweite: bezogen auf das individuelle Leben z.B. von der Geburt bis zum Tode, so daB die Geburt als eine Eroffnung und der Tod als eine BeschlieBung zu sehen sind, aber auch von der fliichtigen BegriiBung eines entfernt Bekannten bis zur sogleich darauf erfolgenden, und im auBersten Falle schon mit der eroffnenden BegriiBung dann zusammenfallenden Verabschiedung bzw. BeschlieBung, wenn die erofftiete Praxis interaktionell leer bleibt. Und selbst bei der scheinbar auBersten Ausdehnung der individuellen Lebenspraxis von der Geburt bis zum Tod laBt sich immer noch nach weiteren vorausgehenden Eroffnungen fragen, z.B. der Einnistung der Blastozyte als dem Beginn der Embryogenese, oder sogar der Festlegung der sozialen Identitat des noch nicht gezeugten Lebens durch die soziokulturellen Bedingungen der Paarbildung der Eltem. Jede konkrete Praxis setzt eine verbindliche Eroffnung und BeschlieBung voraus, die einem elementaren Algorithmus folgen, aber diese Begrenzung ist zugleich in eine iibergeordnete jeweils schon eroffhete Praxisstrecke eingeordnet. Das ist die hierarchische Einbettung nach „oben". Zugleich hat jedes Element innerhalb einer auf geregelte Erofftiung und BeschlieBung angewiesenen Sequenz praktischen Handelns in sich gleichzeitig sowohl die Funktion der Eroffnung als auch der BeschlieBung. Jedes einzelne Sequentialisierungselement, z.B. ein einzelner Akt, eroffnet aufgrund bedeutungserzeugender Regeln Moglichkeiten des sinnlogisch wohlgeformten AnschlieBens und schlieBt zugleich durch Vollzug von Wirklichkeit bis dahin durch vorausgehende Akte eroffnete Moglichkeiten als nicht mehr moglich aus.
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Methodisch folgt aus diesen Feststellungen fiir die Sequenzanalyse einerseits, daB die in der sozialen Wirklichkeit selbst operierenden Eroffnungs- und BeschlieBungsoperationen beriicksichtigt und, wenn moglich, fiir die Einteilung der zu analysierenden Segmente auch verwendet werden soUten. Andererseits lassen sich aber die realen fallspezifischen Strukturgesetzlichkeiten der Reproduktion bzw. Transformation problemlos auch dann ermitteln, wenn die Sequenzanalyse nicht an der realen Eroffnungsstelle, sondem mitten in einer eroffneten Sequenz beginnen sollte. Dies deshalb, weil, wie ausgefiihrt, auch die einzelnen Sequenzelemente innerhalb einer eroffneten Sequenz Eroffnungs- und BeschlieBungsfunktionen fur den Verlauf ubemehmen, wenn auch nicht fiir die Sequenz als ganze. An jeder Sequenzstelle kann eine schon im Sinne eines vorgepragten Verlaufsmusters eroffnete Praxissequenz prinzipiell der Moglichkeit nach ihren routinisierten Ablauf, Neues hervorbringend, andem. Entscheidend ist methodisch nur, daB die Sequenzanalyse das erste Element eines zu analysierenden Segments als Element mit NuU-Kontext behandelt, d.h. kein Wissen liber den extemen Kontext eingesetzt wird. Wiirde man das tun, dann ergabe sich daraus eine vermeidbare hermeneutische Zirkularitat. Erst wenn man nur das Kontextwissen einsetzt, das aus der kumulativen Sequenzanalyse immanent resultiert, und das als Wissen iiber den in dieser Weise „intemen" Kontext von Sequenzstelle zu Sequenzstelle zunimmt und immer pragnantere und fallspezifischere Verlaufsmuster reprasentiert, in denen sich am Ende eine in einer Fallstrukturhypothese formulierbare erste Fallstrukturgesetzlichkeit konturiert, schmiegt sich die Fallrekonstruktion an die reale zukunftsoffene Sequentialitat von aneinandergeketteten Sequenzstellen an, an denen jeweils vollziehende Auswahlen aus eroffneten Moglichkeiten stattfmden, und erschlieBt so nichtzirkular die Gesetzlichkeit dieses Verlaufs, der im Normalfall als Transformation, im Grenzfall als Reproduktion der Fallstruktur zu gelten hat. Sobald man jedoch vorgangiges Kontextwissen zur Entschllisselung der ersten, insbesondere der allerersten Sequenzstelle(n) einsetzt, und/oder zur Dechiffrierung einer bestimmten Sequenzstelle das Wissen liber nachfolgende Sequenzstellen verwendet, wird die reale Zukunftsoffenheit von Handlungssequenzen und von Praxis generell methodologisch nicht mehr zum Ausdruck gebracht, sondern zirkular vorzeitig geschlossen und damit verzerrt. Dieser Flexibilitat der Sequenzanalyse bezliglich der Wahl ihres Anfangs bzw. der Entscheidung liber die Begrenzung des zu analysierenden Segments steht gegenliber, daB die Interpretation eines einzelnen Akts oder einer einzelnen AuBerung nicht allein die Funktion von deren objektiver Bedeutung als freistehenden, isolierten Elementen, sondem wesentlich eine Funktion von deren jeweils k.ter Stellung in einer Sequenz von n Elementen ist. Ende des Exkurses
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Wir beginnen also die Sequenzanalyse, ohne zuvor etwas uber den realen Anfang des von der Tonbandaufnahme aufgezeichneten Geschehens zu wissen^ Die erste zu analysierende AuBerung ist sofort als eine erkenntlich, die keine Eroffnungsfunktion hat, sondem an ein vorausgehendes Geschehen explizit anschlieBt. Am: er^ hat gesprochen wir miissen ihm eine Antwort geben @ (5) @^
Eine mannliche Person^ die sich als Reprasentant einer Gruppe ausgibt, indem sie auf diese mit „wir" verweist, der sie also selbst zugehort, driickt die Verpflichtung dieser Gruppe aus, einem anderen, in das „wir" nicht eingeschlossenen Sprecher auf dessen AuBerungen hin eine Antwort geben zu miissen. Dieser erste Redebeitrag enthalt auBer den schon genannten die folgenden Prasuppositionen und Implikationen. Diese andere Person, auf die als dritte Person verwiesen wird, muB etwas gesagt haben, was eine Antwort herausfordert. Eine einfache Frage, die immer eine Antwort erfordert, kann das nicht gewesen sein, viel mehr muB es sich um eine langere Argumentation handeln, die aber eine Fraglichkeit aufwirft. DaB „wir eine Antwort geben miissen", verweist auf eine Verpflichtung, die aus einer konversationellen Regel folgt. Diese andere Person muB nicht zwingend auBerhalb der Gruppe stehen, aber mit dem Argument, das sie vorgetragen hat, hat sie sich faktisch gegen die Gruppe gestellt oder doch deutlich aus ihr ausdifferenziert. Am ehesten wiirde passen, daB es sich um einen Fremden handelt, der zur Gruppe gesprochen hat. Denn die Verpflichtung zur Antwort, die von Am angefuhrt wird, womit er sich selbst zumindest fiir diesen Sprechakt auch zum Anfiihrer der Gruppe aufwirft, setzt voraus, daB durch die AuBerungen des „Dritten" die universelle Regel einer Abfolge von Proposition und Opposition, zumindest aber von Argument und Gegenargument in Gang gesetzt worden ist. Das mir vorliegende Transkript ist wie folgt „ediert": „ Wann ist/war die Katastrophe? Erste Gruppe: Mitglieder der lokalen Gemeinschaft Gruppendiskussion vom 7. September, 2002; Zahl der Teilnehmer: 5. Transkript: VGDl." Nach diesen Uberschriften beginnt der erste Akt der aufgezeichneten Interaktionssequenz ^ Ich iibemehme hier „wortlich" die mir vodiegende Verschriftung. ^ In der Transkription werden die Bohnsack'schen Notationen benutzt. Einklammerung durch @ bedeutet darin Lachen bzw. lachend gesprochen und die Zahl in der runden Klammer bezeichnet die Dauer in Sekunden. ^ ErschlieBbar werden im Transkript die Interaktanten in der Reihenfolge ihres Auftretens fortlaufend mit den Buchstaben des Alphabets bezeichnet, wobei ihr Geschlecht mit dem kleinen nachgestellten Buchstaben indiziert wird. Am ist also der zuerst vorkommende Sprecher und mannlich. Vielleicht ist ja der Anfang des Segments so gewahlt worden, daB die mit A bezeichnete Person der erste Sprecher in der protokollierten Praxis ist.
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Des weiteren ist klar, daB Am zwar die Verpflichtung der Gruppe zur Antwort auf den „Dritten" expliziert, sie aber nicht selbst auszufuhren gedenkt, sondem als implizite Aufforderung an die Gruppe adressiert. Er fuhrt also als „Gesprachsregisseur" in dieser Situation die Gruppe nicht nur dadurch, daB er expliziert, was jetzt gegeniiber einem Dritten zu tun ist, sondem vor allem auch dadurch, daB er implizit eine Aufforderung an die Gruppe richtet, die befolgt werden muB, wenn er seine Autoritat wahren will. Er wird schlieBlich in dieser Aktion auch zum Vermittler zwischen der Gruppe und dem Dritten dadurch, daB er nicht selber die von ihm ausgedriickte Verpflichtung im Sinne einer konversationellen Regel wie selbstverstandHch zur Ausfiihrung bringt, sondem gewissermaBen padagogisierend-didaktisch an die Gmppe delegiert. Er benennt aber kein Gmppenmitglied, sondem iiberlasst es den Gmppenmitgliedem, sich zur Beantwortung zu melden. Eine besondere Bedeutung kommt dem vergleichsweise lang andauemden Lachen von 5 Sekunden zu, in das Am seine impHzite Aufforderung an die Gmppe auslaufen laBt. Woher riihrt dieses Amusement? Es kann sowohl dem „Dritten" wie der Gmppe wie auch der von seiner Auffordemng heraufbeschworenen Konstellation gelten - so als ob er sagen woUte: Nun seht mal zu, wie ihr mit dieser delikaten Situation klar kommt. Das Lachen kann an den Dritten adressiert bedeuten: Du hast dich weit aus dem Fenster gelehnt, Dir wird eine angemessene Antwort zuteil. Es kann aber auch bedeuten: Er hat gar nichts von uns verstanden, macht ihm das jetzt klar. An die Gmppe adressiert kann es bedeuten: Da seht ihr, wie wir behandelt und verstanden werden. Wie auch immer: Auf jeden Fall erhebt sich Am mit seinem Amusement liber die Situationskonstellation und signalisiert seine gespannte Erwartung, welches der Ausgang der Auseinandersetzung liber die verschiedenen Standpunkte zwischen der Gmppe und der dritten Person sein wird. Denn daB die dritte Person einen Standpunkt vertritt, der mit dem der Gmppe, aus welchen Grlinden auch immer: einer inhaltlichen oder sozialen Differenz geschuldet, kontrastiert, wird durch das Lachen von Am unterstrichen. Bf: na ja eine Uberschwemmung ist in der Tat ein Gast (.) der uns Sorge macht (...)
Ein weibliches Gruppenmitglied iibemimmt die Aufgabe, der dritten Person die Antwort zu geben. Sie leitet ihre AuBerung mit dem Signalement einer Konzession ein: „na ja". Damit wird entweder der dem Argumentationsgegner bzw. partner unterstellten Erwartung eines dramatischen Widerspruchs oder einer gravierenden Problematik das Gewicht genommen oder eine Verandemng der Gewichtung des von ihm vorgetragenen Argumentes eingeleitet. Bezogen auf den Inhalt der Antwort, daB namlich eine Uberschwemmung ein Gast sei, der der Gruppe Sorgen mache, wird damit festgehalten, daB diese Sorge doch ganz
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naturlich sei und nicht weggeleugnet werden konne. Also muB die dritte Person etwas vorgetragen haben, was entweder diese Sorge relativiert, in Frage gestellt oder nicht richtig nachvollzogen hat. Die emphatische Betonung „in der Tat" bedeutet eine Bekraftigung dieser Sorge angesichts vorausgehender Relativierungen oder die Bestatigung einer Interpretation, die der „Dritte" als zu bezweifelnde Annahme in Frage gestellt hatte: ob sie denn wirklich zutrafe. Sie hat zum Inhalt, daB die Uberschwemmung metaphorisch als ein Gast personalisiert wird. Das Thema der vorausgehenden Interaktionen bezog sich also auf eine Krise der Gruppe, zu der eine immer mal wieder sich ereignende Uberschwemmung der AnlaB bzw. Inhalt war. Das AusmaB und die Art dieser Uberschwemmung wird alien Beteiligten, auch der dritten Person, als Problem bekannt sein. Es ist damit auch klar, daB dieses Krisenthema der wahrscheinlichste Grund der Zusammenkunft zwischen der Gruppe und der dritten Person ist. Eine Uberschwemmung ist in der Kegel immer mit Lebensgefahr fiir die Betroffenen und mit groBen Schaden an Hausern, Einrichtungen, Vieh, Pflanzenanbau und Lagergut verbunden, auf dem Lande noch mehr als in der Stadt. Sie ist zunachst also immer eine Katastrophe. Aber je nach den geographischen und landschaftsmorphologischen Bedingungen kann sie auch positive Folgen haben, z.B. dann, wenn sie eine Diirre beendet oder wenn sie fruchtbares Schwemmland mit sich bringt und ablagert, wie das z.B. regelmaBig mit dem Wechsel der Jahreszeiten im Nildelta geschieht. Als ein Naturphanomen, potentiell eine Naturkatastrophe, ist eine Uberschwemmung im Prinzip feindlich und zerstorerisch, sie kann aber auch unter bestimmten Umstanden freundlich und erwiinscht, zumindest ntitzlich sein: z.B. dann, wenn sie 1. berechenbar im Jahresrhythmus erscheint und wenn sie 2. produktiv genutzt werden kann, entweder zur Wasserbewirtschaftung oder zur Anschwemmung fruchtbaren Bodens. Diese beiden Bedingungen sind beispielhafl am unteren Nillauf erfiillt. Diese Ambivalenz katastrophaler und positiver Wirkungen wird auch in der Metapher des „Gastes" ausgedriickt. Ein Gast ist nicht dasselbe wie ein Freund oder ein Verwandter. Er kann ein Fremder sein, den man eingeladen hat oder der um Herberge ersucht hat: z.B auch der Kunde eines Beherbergungsoder Bewirtungsbetriebs, z.B. einer Gastwirtschaft. Als Fremder bzw. AuBenstehender ist ein Gast potentiell ein Feind, der durch Regeln der Anerkennung zu einem befristeten Freund wird, entweder, indem er bezahlt, oder indem er durch Gastfreundschaft aufgenommen wird. Im Lateinischen z.B. bedeutet hostis zugleich Gast und Feind und damit eine ahnliche strukturelle Ambivalenz wie das Naturphanomen „Uberschwemmung". Man muB sich den potentiellen Feind, der uns begegnet, durch Gastfreundschaft vom Leibe halten, wie z.B. in der Figur des Commandatore, des steinemen Gastes in der SchluBszene des „Don Giovanni", verkorpert. Die Metapher des „Gastes" ist also zum einen
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durch diese formale Analogic zur Ambivalenz der Uberschwemmung motiviert. Zum anderen driickt sich in ihr das anthropomorphisierende Verhaltnis zur Natur aus, die ein gefahrlicher Feind ist und zugleich eine Instanz, mit der man sich gut stellen muB, weil man sie braucht. Denn der Sprecher sagt hier ja nicht „ist wie ein Gast", sondem „ist ein Gast", er verwendet also den Terminus „Gast" nicht explizit als Metapher, sondem affirmativ als rcalistisches Pradikat. Er deutet also die Uberschwemmung nach dem sozialen Muster des praktischen Umganges mit einem wiederkehrenden Fremden, der als Gast zu behandeln ist, dessen potentielle Gefahrlichkeit man durch gastfreundlichen EinschluB in die eigene Gemeinschaft, gewissermaBen in die Sittlichkeit der Reziprozitat, binden kann. Dieses Bemiihen um den Gast, das das Potential der Feindlichkeit im Hintergrund zu bannen versucht, wird nun explizit benannt. Der Gast bereitet „Sorge", d.h. man, also jeder, der an der Stelle des „wir," der Gemeinschaft steht, die im „uns" indiziert ist und fur die der Sprecher auftritt, muB sich vor den Gefahren hiiten, die der Gast mit sich bringt. Dies wird mit Hilfe des unbestimmten Artikels „ein" generalisierend iiber Uberschwemmungen ausgesagt. Dieser Gast macht der Gruppe Sorgen. Er ist zwar willkommen, sonst ware er kein Gast, aber er ist auch problematisch. An dieser Stelle eine kurze Anmerkung zur Notation der Transkription. WiiBte man, daB der hinter dem Wort „Gast" notierten kurzen Pause eine Stimmsenkung vorausging, dann lieBe sich der Relativsatz, in dem die Sorge ausgedriickt wird, als ein nicht-restriktiver deuten, der gewissermaBen erganzend hinzugefiigt wird. Dann ware die Ambivalenz deutlich zum Ausdruck gebracht, der zufolge die Uberschwemmung einerseits eine willkommene Ankunft bedeutet, andererseits aber auch eine, die Sorgen bereitet. Wiirde dagegen die Stimme bei „Gast" nicht gesenkt, sondem auf gleicher Hohe verbleiben oder gar gehoben werden, dann ware klar, daB der Relativsatz als ein restriktiver zu verstehen ist, also eine Eigenschaft ausdruckt, die eine bestimmte Uberschwemmung wie einen spezifischen Gast kennzeichnet. Dann ware eine Uberschwemmung eben unter den Gasten einer, der Sorge macht, wahrend es andere gibt, die weniger problematisch sind. Das wiirde akzentuieren, daB man der Uberschwemmung mit Bangen entgegensieht, daB man aber gar nicht anders kann, als sie wie einen Gast zu binden und so unter Umstanden sogar in den eigenen Vorteil zu kehren. Dann ware die Thematisiemng der Uberschwemmung primar unter dem Gesichtspunkt ihrer negativen Folgen zu verstehen. Diese Differenzierung mag manchem als iibertrieben erscheinen, sie ist aber fur die Einschatzung der Haltung der Beteiligten zu dem Problemthema der Gmppendiskussion von zentraler Bedeutung.
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....man kann wahrend einer Uberschwemmung iiberhaupt nichts machen und nun regnet es (5) nicht so viel was uns zu schaffen macht ist die Uberschwemmung; wenn zu viel Wasser kommt miissen wir umziehen und dann folgen wir dem Wasser^ aber die letzte Uberschwemmung °von° 'Am: von 2000-"
„Die Sorge", die der „Gast" bereitet, wird aber weniger unter dem Gesichtspunkt einer unmittelbaren Gefahr gesehen als unter dem einer Untatigkeit, die er verursacht. Darunter wird man wohl primar die Lahmung von Tatigkeiten im Zusammenhang mit der Bebauung der iiberschwemmten Felder verstehen miissen. Man ist zur Untatigkeit verurteilt: Entweder: man kann gegen die Gefahren nichts tun, oder: man wird in den Routinetatigkeiten - der Bodenbearbeitung unterbrochen. Das „wahrend" deutet eher auf die zweite Lesart der Unterbrechung bin. Das ist insofem bemerkenswert, als mit Uberschwemmungen sich ja auch ganz akute Lebens- und Zerstorungsgefahren verbinden, die hier aber gar nicht thematisch zu sein scheinen. Der Sprecher hatte sich demnach also an die Uberschwemmungen als wiederkehrende Phanomene schon gut eingestellt und Techniken und Praktiken der Krisenbewaltigung entwickelt. Man miisste nun nach dem „und" weitere Ausfiihrungen iiber das, was Sorge macht, erwarten. Hier taucht nun aber ein erhebliches Notationsproblem fiir die Segmentierung auf. Man kann die folgenden Zeilen auf unterschiedliche Weise „intonieren". (1) Und nun regnet es, nicht so viel. Was uns zu schaffen macht, ist die Uberschwemmung Oder: (2) Und nun regnet es nicht so viel. Was uns etc. Oder: (3) Und nun regnet es. Nicht so viel, was uns zu schaffen macht, ist die Uberschwemmung. Durch das „nun" unmittelbar nach dem fortfiihrenden „und" wird die Erwartung der Benennung eines weiteren, auf die Uberschwemmung folgenden Problems geweckt. Das konnte, allerdings sachlich wenig plausibel, im fortdauernden Regen bestehen. Man wurde dann eher eine Formulierung wie „und nun regnet
„Dem Wasser folgen" ist eine wortwortHche Ubersetzung einer Tsonga-Redewendung. Diese bedeutet, dass man die Felder bestellt, die nach dem Abzug des Wassers verfiigbar werden. (Aus dem Transkript iibemommene Anmerkung)
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es immer noch" erwarten. Denn es ist ja letztlich der Regen, der in Afrika, wo die Moglichkeit einer iibermaBigen Schneeschmelze im Gebirge nicht gegeben ist, eine Uberschwemmung verursacht. Also muB man etwas vermuten, was der Uberschwemmung folgt. Das konnte z.B. der aussetzende Regen und der Beginn einer langeren Dtirreperiode sein, die zur extremen Eintrocknung der vorher uberschwemmten Boden fuhrte. Dieser Vermutung entspricht das an sich dafiir „schwache" „nicht so viel", das ja nur ein „wenig", aber noch nicht ein „zu wenig" signalisiert. AuBerdem ist die lange Pause zwischen dem „regnet es" und dem „nicht so viel" in hochstem MaBe erklarungsbediirftig, weil von der Verbalplanung her kaum motiviert, denn die adverbiale Mengenbestimmung ist ja genau das, woraufhin der ganze Satz gebildet wurde. Ohne sie wiirde der Satz genau das Gegenteil ausdrlicken. Deshalb ist die lange Unterbrechung dieser sachlich sehr engen Verbindung im Satz so befremdlich. Bei alien drei oben genannten Moglichkeiten bleibt ein unerklarlicher Rest. Bei (1) ist zum einen unerklarlich, warum das „nicht so viel" beilaufig nachgestellt ware, zum anderen aber - und vor allem - der offene Widerspruch zwischen der geringen Mengenangabe und der Uberschwemmung als Hauptproblem. - Bei (2) wtirde die AuBerung uber den geringen Regen immerhin ein zweites Problem, das der nachfolgenden Dtirre, wie undeutlich auch immer, thematisieren, und dann die generalisierende Bemerkung liber das Problem der Uberschwemmung die eingangs von Bf eingefiihrte Sorge der Gruppe noch einmal bekraftigen. Bei (3) wurde das „und nun regnet es" als Fortfuhrung der iJberschwemmungsursache einzuordnen sein, was allerdings, nimmt man die spateren AuBerungen hier schon gegen die Anweisungen der Sequenzanalyse hinzu, sachlich, da das „nun" ja temporal als synonym zu „jetzt" zu verstehen ist, eine mehr als zweijahrige Regendauer unterstellen wiirde, somit also kaum plausibel ist. Die nachfolgenden AuBerungen wtirden sich aber, jenem ersten AuBerungsteil widersprechend, auf die Relativierung der Probleme der Uberschwemmung gegenuber groBeren Schwierigkeiten in der nachfolgenden Diirre beziehen'^ Wir interpretieren also vorlaufig diesen AuBerungsteil im Sinne einer Klage iiber zu wenig Regen nach der eigentlichen Uberschwemmung. Die weiteren AuBerungen von Bf bezeugen einen routinisierten Umgang mit der Uberschwemmung. Das steht in einem gewissen Kontrast zu der Betonung des Problems, das sie bedeutet. Die Routine besteht darin, dem Hochwasser durch Umzug in hoher gelegene Gebiete auszuweichen „und dann", d.h. danach, dem Wasser zu folgen, also dem abziehenden Wasser, und dann, so darf man schlieBen, den wieder vom Wasser befreiten Boden zu bearbeiten. Dieser '° Wobei die deutsche Wortstellung „nicht so viel, was..." im Sinne von „Was uns nicht so viel zu schaffen macht..." ungewohnlich ware. Die hier behandelte hiterpretationsschwierigkeit verweist demnach zusatzlich noch auf ein mogliches Ubersetzungsproblem an dieser Stelle.
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Routine wtirde entsprechen, daB Uberschwemmungen entweder in jahreszeitlich regelmaBigem Rhythmus oder aber, wenngleich unregelmaBig, so doch haufiger und jedenfalls erwartbar und in erwartbaren AusmaBen in dem Siedlungsgebiet der Gruppe vorkommen, so daB man auf sie eingestellt ist. Sie sind dann zwar immer noch AnlaB zur Sorge, aber zugleich auch Lieferant fruchtbaren Schwemmlandes. Denn daB man die hoher gelegenen Gebiete, in die man vor dem Hochwasser ausweicht, wieder verlasst, indem man dem abfallenden Wasser zu Tal folgt, bezeugt, daB es im Tal, wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund des Schwemmlandes, weitaus fruchtbarer ist als auf den Hohenziigen. Entsprechend ware die „Gast"-Metapher auch tatsachlich eine pragnante Fassung dieser Ambivalenz, mit der man dem Hochwasser begegnen muB. Die Sprecherin Bf will aber offensichtlich neben der Schilderung des routinisierten Umgangs mit den Uberschwemmungen auch herausstellen, daB diese bei aller Routine ein groBes Problem darstellen. Dann leitet sie mit dem adversativen „aber" nach der Schilderung der Routine im Umgang mit den Uberschwemmungen einen Kontrast zu einer besonderen Krise ein: Die letzte Uberschwemmung von 2000, also von vor zwei Jahren, mufi etwas Besonderes gewesen sein. Demnach tragt sie nun etwas zur Thematisierung der Besonderheit der letzten auBergewohnlichen Uberschwemmung bei, die wahrscheinlich auch der AnlaB der Gruppendiskussion ist. Auffallig ist, daB sie die Jahresdatierung dieser besonderen, erst zwei Jahre zuriickliegenden Uberschwemmung nicht selber benennen kann, und ihr hier Am wie selbstverstandlich mit der Nennung der Jahreszahl 2000 beispringt. Auch hier erweist sich Am als Fiihrer und Coach der Gruppe in deren Prasentation in der Gruppendiskussion. Bf hatte in Antizipation ihres Datierungsproblems eine Umschreibung „von vor zwei Jahren" wahlen konnen. Vielleicht hatte sie das auch vor und Am kam ihr zuvor. Dann hatte er dafur gesorgt, daB das Datierungsproblem von Bf offenbar wurde. DaB ihr das selbst wahrscheinlich peinlich ist, wird durch das Absinken auf einen leisen Tonfall indiziert, so als ob sie ihr Versagen in der Reduktion der Lautstarke schon ankiindigt. Jedenfalls konnen wir hier vorsichtig den SchluB ziehen, daB zumindest Bf ihre Erinnerungen zeitlich nicht nach Jahreszugehorigkeiten des Erinnerten und nach Jahreszahlen ordnet, ihr episodales Gedachtnis also nicht zugleich chronologisch geordnet ist. Was war nun an der Uberschwemmung von 2000, also von vor zwei Jahren, so besonders und unerwartet? Bf: ja, von 2000 (.) sie hat uns ausgetrickst...
Bf bestatigt zunachst die Jahresangabe von Am als die, die auch sie gemeint hat, und nimmt damit quasi offiziell die Hilfe bzw. das Coaching von Am an, womit
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sie ihn als Anflihrer der Gruppe bestatigt. Dann kennzeichnet sie das AuBergewohnliche der Uberschwemmung von 2000 damit, daB diese die Gemeinschaft, zu der sie gehort, „ausgetrickst" habe. Diese Redeweise impliziert zum einen, daB die Routinen im Umgang mit den gewohnlichen Uberschwemmungen in diesem Falle unerwartet versagt haben, und zum anderen, daB die Uberschwemmungen tatsachlich wie ein Gegenspieler zur Agrarkultur der Gemeinschaft von Bf aufgefasst werden, diese Kultur sich also mit ihrer Natur, der sie durch Bodenbearbeitung ihre Lebensmittel abringt, personalisierend auseinandersetzt wie in einem Dialog mit einem tendenziell feindlichen Gegner, den man giinstig stimmen muB. „Austricksen" setzt eine Kooperation zwischen konkurrierenden Interessenten voraus, in der nicht primar Solidaritat, sondem Vorteilsund Interessenmaximierung als Regulativ gelten und das Raffmement von tauschenden Tricks gmndsatzlich zu gewartigen ist, jedenfalls durch Regeln nicht klar verboten ist. „Austricksen" kann ein Manover sowohl in einem spielerischen Wettbewerb sein als auch in einer feindlichen Auseinandersetzung. Letzteres diirfte hier am ehesten zutreffen. ... man hat uns in der Tat gesagt das Wasser kommt aber wir haben gemeint wir kennen uns sehr gut damit aus es wird wie friiher sein das Wasser wird nicht zu weit kommen die WeiBen miissen uns nicht retten aber nur weil wir an frtihere Uberschwemmungen dachten aber diese war anders (.)....
Die Siedlungsgemeinschaft wurde tatsachlich vorgewarnt. Das „in der Tat" laBt erkennen, daB schon vorher jemand in der Diskussion darauf hingewiesen haben muB, daB eine rechtzeitige Vorwamung erfolgte und deshalb die groBe Uberraschung bei diesem Mai nicht nachvollziehbar sei. Das „man" als Subjekt der Vorwamung verweist auf auBerhalb der Gemeinschaft positionierte Instanzen einer anderen, modemisierten Welt oder Sphare staatlicher Institutionen oder intemationaler Organisationen. Diese Vorwamung hat die lokale Gemeinschaft aber nicht beachtet oder sie war nicht deutlich genug. Die Gemeinschaft hat sich auf ihr Erfahmngswissen und ihre Routinen verlassen. Sie war der Uberzeugung, ihr Erfahrungswissen reiche aus und sei sehr gut, so daB sie in dessen Licht die Vorwarnungen relativieren konnte. Interessant ist das Kriterium fiir die Uberschreitung des gewohnlichen MaBes der Uberschwemmung, fur die Schwelle, von der an die Krise der Uberschwemmung nicht mehr durch die eigenen Praktiken bewaltigt werden kann, sondem ihre Bewaltigung an besser ausgestattete und effizientere Instanzen der Krisenbewaltigung delegiert werden muB: Wenn das Wasser so hoch kommt, daB die WeiBen sie retten miissen. Mit diesem Argument ist die mit der eigenen Kultur kontrastierende Modeme und entwickelte Welt automatisch in die Krisenwahrnehmung der eigenen Lebenswelt eingeschlossen. Wenn es so kritisch wird, dafi die eigenen Krisenbewdltigungskapazitdten, die eigenen Routinen der Krisenbewaltigung nicht ausrei-
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chen, damn gibt es andere, aufdie man sich verlassen kann. Nach diesem Kriterium werden also zwei Krisentypen oder -ebenen deutlich unterschieden: Diejenigen, die man selbstdndig bewdltigen kann und mufi und diejenigen, bei denen man auffremde ,, emergency "-Hilfe angewiesen ist. Diese Krisen kommen den Katastrophen des Lebens gleich, in denen Katastrophenhilfe aus einer anderen, durchrationalisierten Welt- oder Kultursphdre intervenieren mufi. Der Abstand der beiden Kulturen ist als Dimension selbstverstandlicher Abhangigkeit schon tief verinnerlicht. Diesen beiden voneinander geschiedenen, aber zugleich aufeinander bezogenen Welten entsprechen zwei verschiedene Kategorien von Wissen: Das eigene Erfahrungswissen und das verwissenschaftlichte bzw. formalisierte und biirokratisch angewandte Wissen der modemen Welt. Die Krise des Hochwassers von 2000 iiberstieg die Krisenbewaltigungsmoglichkeiten der eigenen Kultur einschlieBlich des eigenen Erfahrungswissens. Fremde Hilfe war erforderlich und wird selbstverstandlich erwartet. Das Hochwasser von 2000 hat die Siedlungsgemeinschaft vollstandig iiberrascht in seiner Starke. Ihre Routinen und Erfahrungswissen wurden uberstiegen und gerieten in eine schwere Krise. Das Ergebnis davon war, von der Uberschwemmung ausgetrickst worden zu sein. Diese Krise konnte man nicht mehr selber losen. Das lag vor allem daran, daB die Gemeinschafl gefangen in ihrem Erfahrungswissen glaubte, es werde so sein wie bei friiheren Uberschwemmungen. DaB es schlimmer kommen konnte, wurde nicht als hypothetische Moglichkeit konstruiert und antizipiert, weil - so konnen wir schlieBen ein methodisches ErschlieBungsverfahren fiir diese Konstruktion auBerhalb des tradierten Erfahrungswissens nicht zur Verfiigung stand. Die bisherige Argumentation von Bf gibt zu erkennen, daB wahrend des auBergewohnlich starken Hochwassers von 2000 tatsachlich Betroffene von den „WeiBen", also international en Hilfsorganisationen mit ihrem Gerat gerettet wurden. Dock diese katastrophale Krise der unmittelbar drohenden Lebensgefahr ist nun schon Idnger vorbei. Woriiber wird also noch geredet, wenn nicht ilber Erinnerungen daran? Ganz offensichtlich Uber Probleme, die als Folge dieser aufiergewohnlichen Uberschwemmung entstanden sind und die bei friiheren nicht zu verzeichnen waren. ...wir dachten wir konnten nach dem Abzug des Wassers ihm folgen und den Boden bearbeiten aber es ist schwer der Boden ist sehr hart wissen sie...
Nach der elementaren Krisendiagnose, daB die Uberschwemmung von 2000 anders war, d.h. anders als alles, was man bisher erfahren hatte, und damit eine wirkliche massive Krise bzw. eine Katastrophe, kehrt die Argumentation kontrastiv zu den tiberraschend gescheiterten Erwartungen auf der Grundlage des tradierten Erfahrungswissens zuriick. Man erwartete wie friiher, den vom Was-
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ser frei gegebenen fruchtbaren Boden bearbeiten zu konnen, indem man dem fallenden Wasser sofort nachfolgte. Aber das ging offensichtlich nicht wie fruher. Und nun folgt eine Schilderung der Harte des Bodens, in den man durch die tradierten Bearbeitungstechniken nicht eindringen konnte. Diese Schilderung verwundert, weil sie auf der einen Seite die nach der Uberschwemmung eingetretene Hdrte des Bodens als etwas erscheinen Idfit, das es nachfrilheren Uberschwemmungen nicht gegeben hat, also neu war, ohne dafi dafUr plausible Grunde angegeben werden oder fur den Zuhorer angebbar wdren. Auf der anderen Seite wird die Harte des Bodens so vorgetragen, als ob das schon immer der Fall gewesen ware, jedenfalls nicht als etwas Neues oder Ungewohnliches hingestellt. Das kommt vor allem in der Prasens-Form des mit „aber" eingeleiteten Satzes zum Ausdruck. Der Zuhorer erwartet namlich nach der kontrastiven FoHe „wir dachten (...)" das tatsachlich auch explizierte „aber (...)", jedoch so, daB dieses „aber" die Angabe einer spezifischen neuen, die tradierten Erwartungen enttauschenden Bedingung einleitet, die die Kontrastivitatserwartung auch erfiillt. Dieses notwendig Besondere und Bestimmte hatte zumindest die Vergangenheitsform erforderlich gemacht: „aber es war (ganz anders)". Stattdessen erfolgt die Angabe einer noch andauernden Bedingung im Prasens, so als ob sie schon immer da gewesen ware. Der Sprecherin kommt es demnach darauf an, die dritte Person auf ein akutes, anhaltendes Problem aufmerksam zu machen, das als von der Besonderheit der Uberschwemmung von 2000 verursacht ausgegeben wird, ohne daB plausibel wird, wieso dieses Problem nicht schon bei frtiheren Uberschwemmungen eingetreten ist. Denn daB der Boden nach dieser Uberschwemmung besonders hart bzw. spezifisch barter vom Wasser hinterlassen wurde als frtiher, ist wenig einsichtig. Woran konnte das liegen? Letztlich lieBen sich dafiir nur zwei Parameter anfiihren. Zum einen das ungewohnte AusmaB der unmittelbar nach der Uberschwemmung durch ausbleibenden Regen erfolgenden Diirre, durch die die angeschwemmte und durchfeuchtete Erdoberflache sehr schnell austrocknet und verkarstet und zum anderen der durch die Wasserbewegung angeschwemmte Boden, der stark feinteilig und wenig humushaltig ist und durch die Durchfeuchtung stark verdichtet das Wasser nicht festzuhalten vermag und so beim Austrocknen stark verkarstet. Da aber ein solcher Boden bei jeder Uberschwemmung in vergleichbarer Weise angeschwemmt wird, er in seiner Eigenart also bei dieser besonderen Uberschwemmung nicht qualitativ verschieden gewesen sein kann, bleibt als Moglichkeit zur Erklarung der Bodenharte bei diesem zweiten Parameter nur tibrig, daB bei dieser Uberschwemmung besonders viel Erde angeschwemmt wurde, so daB sich eine fiir die Bearbeitung mit der Hacke undurchdringlich dicke Schicht iiber den alten, schon durch vorausgehende Bearbeitung gelockerten und vom Wurzelwerk der abgeemteten Pflan-
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zen durchdrungenen Boden gelegt hat, eine Schicht, die nach dieser Uberschwemmung einfach viel dicker war als sonst. Eine Versalzung des Bodens durch Meerwasser konnen wir ausschlieBen, denn das Hochwasser wird nicht auf einem plotzlichen Anheben des Meeresspiegels beruhen konnen. - Diese beiden Moglichkeiten oder Parameter werden auch bei den anderen Uberschwemmungen im Spiel gewesen sein. Es ist wenig plausibel, daB sie sich bei der katastrophalen Uberschwemmung von 2000 so radikal geandert haben, daB die Bodenbearbeitung unerwartet schwer geworden ist. Worauf aber konnte der Sprecher mit dieser Interpretation der unvorhersehbaren, das Erfahrungswissen transzendierenden Krisenkonstellation hinauswollen? Wenn der Boden zur Bearbeitung zu hart geworden ist, dann kann es, unter der Bedingung der Bodenbearbeitung durch bloBe Handarbeit mittels manuell zu bedienender Hack- und Grabgerate, nur einen Ausweg geben: Die Anwendung von modemen Maschinen der Bodenbearbeitung: also von Traktoren und von durch Traktoren zu bedienenden Pfliigen, Grubbem und Samaschinen. Mit der Kraft dieser Maschinen wiirde man den hart gewordenen, aber gleichwohl sehr fruchtbaren Boden hinreichend aufbrechen, auflockern und bearbeiten konnen. Es miiBte dann nur noch das Bewasserungsproblem gelost werden. Damit zeichnet sich als zentrale Thematik der Gruppendiskussion die durch die letzte, angeblich auBerordentlich ungewohnliche und starke Uberschwemmung ausgeloste Krise bzw. Katastrophe ab. Diese Krise Idfit sich in die folgenden Momente bzw. Krisenkonstellation zerlegen: (!) Die Uberschwemmung ist lebensgefahrlich, wenn das Wasser im FluBtal schnell steigt und die dort seBhafte Bevolkerung nicht schnell genug auf die umliegenden Hohen ausweicht oder diese nicht ausreichen. Diese Gefahr wird nur am Rande als Moglichkeit erwahnt, indem die normalerweise nicht notwendige Errettung durch „WeiBe", d.h. durch die modeme Welt, im Extremfall erfolgen miiBte. (2) Die Uberschwemmung zerstort die Hauser und die Unterkunfte, so daB die betroffenen Menschen obdachlos werden. Diese Moglichkeit ist bisher nicht erwahnt worden. (3) Die Uberschwemmung zerstort und verdirbt die landwirtschaftlich erarbeiteten Vorrate und die Gebrauchsgegenstande oder tragt sie fort; und die Uberschwemmung zerstort und verdirbt die noch nicht geemteten Feldfriichte auf dem Acker. Diese Moglichkeit ist bisher ebenfalls noch nicht erwahnt worden. (4) Die Uberschwemmung hinterlasst neues Schwemmland, das einerseits die Fruchtbarkeit des Bodens erhohen kann, das aber andererseits auch die Oberflache des vorher bearbeiteten Bodens uberdecken kann und unter der Bedingung,
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daB unmittelbar mit dem Abzug des Hochwassers eine Durre beginnt, schnell und stark verkarsten kann, so daB (a) die mit einem schnellen Wasserabzug erfolgende Bearbeitung des noch durchfeuchteten Bodens nicht Schritt halten kann und auf einen immer harteren Boden trifft oder (b) der Boden auf neue Weise, bei besonders stark anschwellenden und wieder abschwellenden Uberschwemmungen in so groBer Dichte und so schnell verkarstet, daB eine Bodenbearbeitung mit traditionelien manuellen Hilfsmitteln kaum mehr moglich ist. Diese Moglichkeit (4) wird bisher vor allem vorgetragen, wobei noch nicht zu entscheiden ist, ob primar die Variante (a) oder die Variante (b) vorherrscht. Angesichts dieser hier schon erschlieBbaren Problemlage drangt sich vor allem die Frage auf, wie man das Entstehen der Variante (4b) ixberhaupt erklaren kann. Es ist aber klar, daB von den Betroffenen des Siedlungsgebietes diese Variante besonders stark gemacht wird. Das geht schon daraus hervor, daB die tibrigen, naheliegenden Krisenkomponenten einer Uberschwemmung nur am Rande und summarisch erwahnt werden und mit der strukturellen Ambivalenz des „Gastes" gedeutet werden. Deshalb drangt sich allmdhlich im Gang der Interpretation die Vermutung auf, dafi die in der Gruppendiskussion Versammelten einem dort anwesenden Dritten, der nicht zu ihnen gehort, klar machen wollen, dafi sie dringend landwirtschaftliche Technik benotigen, um das Verkarstungsproblem zu losen, das sie wahrscheinlich, wenn auch vielleicht in geringerem Mafie, schon immer gehabt haben. Die Gruppendiskussion liefe dann aus der Sicht der versammelten Einheimischen darauf hinaus, statt oder zusatzlich zu der Hilfe hinsichtlich der Krisenkonstellationen (1) bis (3) HilfsmaBnahmen zur Losung des Problemkreises (4) zu erlangen. Sie wiirden dann den anwesenden Dritten, der vor Beginn des Transkripts gesprochen und seine Meinung zum vereinbarten Gruppendiskussionsthema vorgetragen hat, als eine Instanz betrachten, die bei der Gewahrung der geforderten Hilfe niitzlich sein kann. Und es wiirde nicht Wunder nehmen, wenn sie als Gruppe der Einheimischen unter Leitung von Am sich vorab zu einer Strategic einer Selbstdarstellung verabredet hdtten, die fiir eine erfolgreiche Einforderung von Hilfen zur Losung von (4) gunstig ware. Das wurde die Aufforderung von Am zu Beginn des Transkripts und insbesondere das sie begleitende lang anhahende Lachen nachtraglich gut erklaren konnen. Verfolgen wir nun, nachdem wir tiber eine erste Fallstrukturhypothese verfugen, etwas weniger detailliert und schneller voranschreitend, die weitere Gesprachsentwicklung. Bf fahrt zunachst in ihrer Antwort auf den Dritten fort:
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....der Boden im FluBtal ist nicht wie hier oben sobald das Wasser weg ist und du dich nicht anschickst die Felder zu bestellen kannst du den Boden nicht mehr mit den bloBen Handen bestellen du kannst deinem Haushalt nicht mehr helfen (5) das ist alles was ich zu sagen habe.
Sie geht nun auf die Differenzen in der Bodenbeschaffenheit „hier oben" und dort unten im FluBtal ein. Damit gibt sie 1. zu erkennen, daB die Gruppendiskussion oben auf der Anhohe stattfmdet, wohin die Gruppenteilnehmer offensichtlich nach der Uberschwemmung von 2000 geflohen sind. Das impliziert 2., daB eine Riickkehr in das FluBtal seitdem nicht moglich war. Dabei bleibt 3. unentschieden, ob sie friiher sowohl unten im FluBtal als auch oben auf den Hohen, wo sie vor dem Hochwasser sicher waren, gesiedelt haben und den Wohnort je nach dem jahreszeitlichen oder durch die unregelmaBigen Uberschwemmungen vorgegebenen Rhythmus routinemaBig gewechselt haben^^ oder ob sie friiher im FluBtal gesiedelt haben und durch das ungewohnliche Hochwasser und dessen Verkarstungsfolgen zu einem langeren Verbleiben auf den Anhohen gezwungen waren. 4. operiert Bf jetzt mit einem der beiden Parameter zur moglichen Erklarung der ungewohnlichen Verkarstung in Folge des Hochwassers. Der Boden im FluBtal sei ganz anders als der Boden hier oben, d.h. auf den Hohen. Allerdings erfahrt man von Bf nicht, wie der Boden „hier oben" beschaffen ist und auch nichts dariiber, daB doch der Boden, der durch Uberschwemmungen im FluBtal angeschwemmt wird, letztlich von den Hohen stammen muB, also rein mineralogisch gesehen mit dem Boden „hier oben" identisch sein muB. Bf hat also nicht eine systematische, letztlich auf biochemische und mineralogische Eigenschaften der Bodenbeschaffenheit abgestellte Unterscheidung im Kopf, sondem eine rein pragmatisch-funktionale. Sie meint eigentlich nicht die Bodenbeschaffenheit als solche, sondem die Bearbeitbarkeit des Bodens in Abhangigkeit von der Landschaftsmorphologie. Den Boden im FluBtal bestimmt sie vor allem so: Man muB ihn rasch nach Verschwinden des Hochwassers bearbeiten, solange er noch feucht ist und bevor er verkarstet, sonst wird er fur die Handarbeit zu hart. Das ist offensichtlich nach dem Hochwasser von 2000 eingetreten. Wir wissen immer noch nicht, ob die Bearbeitung bei diesem Hochwasser zu spat erfolgte, z.B. weil es immer noch weiter regnete und deshalb die Umsiedlung zu spat vorgenommen wurde, oder ob diese Uberschwemmung ganz neue Bedingungen fiir das Schwemmland schuf Interessant ist auch, daB sie die traditionelle Bodenbearbeitung hier dramatisiert als eine mit „bloBen Handen" erfolgende, als ob der Boden mit der nackten Hand, ohne Vermittlung Dazu wiirde der Begriff des „Umziehens" passen, der von Bf schon friiher gebraucht wurde. Umziehen kann man nur in schon vorhandene Behausungen, sonst muB man vor einer Gefahr fliehen.
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eines manuellen Gerates, bearbeitet worden ware. Diese Dramatisierung soil wahrscheinlich die Forderung nach den erlosenden Landmaschinen untersttitzen. Bf beendet ihre Ausftihrungen mit einer expliziten Koda, die nach einer Pause von 5 Sekunden ausgesprochen wird - ein Vorgang, der zeigt, daB die Diskussion in groBer Disziplin und Ruhe erfolgt, in der die Rede des Einzelnen von der Gruppe im hohen MaBe respektiert wird. Denn eine Pause von 5 Sekunden ist sehr lang in einer Gruppendiskussion und wird normalerweise als implizite Aufforderung fur einen „tum" bzw. einen Redebeitragswechsel von anderen genutzt. Diese explizite Koda, sie habe alles gesagt, was sie zu sagen habe, entspricht genau der urspriinglichen Aufforderung von Am, eine Verpflichtung zur Antwort an den Dritten einzulosen, und sie prasupponiert, daB im Prinzip jeder der anwesenden Einheimischen sich entsprechend auBem muB. Vorher hat sie das Resume ihrer Krisendarstellung gezogen: Die Problemlage ist so kritisch, daB man seinem Haushalt nicht helfen kann. Darin spricht sich der Kempunkt des Lebenssinns der Gruppenmitglieder aus: Man ist fur die Gemeinschafl in Gestalt der eigenen Familie bzw. Verwandtschaft da und verantwortlich, ein soziales Gebilde das - analog zum Begriff des „ganzen Hauses" - als Haushalt bezeichnet wird, also als die sowohl okonomisch wie sozial wie kulturell definierte kleinste koUektive Lebenseinheit, der man angehort. Wenn man fur diese Einheit nicht mehr da sein kann, dann hat das individuelle Leben tendenziell seinen Sinn verloren. Damit ist die geschilderte Krise als die schlimmstmogliche bezeichnet worden, als eine Krise, die nur noch vom unerwarteten Tode iibertroffen werden kann. Das weitere Material werde ich jetzt nur noch gezielt auf Zusatze zur und auf Abweichungen und Modifikationen von der bisher erarbeiteten Fallstrukturhypothese betrachten. Cm: meiner Meinung nach war die Uberschwemmung friiher ein Gast aber diese Uberschwemmung von 2000 (.) hat uns nicht gezeigt dass sie ein Gast ist sie hat uns den Tod gezeigt sie hat uns alles weggenommen und dann als das Wasser weg war blieb nur ()....
Als nachster meldet sich ein mannlicher Teilnehmer Cm zu Wort. Auch er signalisiert indirekt, daB jeder der anwesenden Einheimischen seine Meinung zu dem von dem Dritten angesprochenen Thema der Gruppendiskussion sagen soil. Er klassifiziert ebenfalls die Uberschwemmung von 2000 als eine ungewohnlich Starke. Sie sei nicht mehr als Gast zu werten wie die vorausgehenden Uberschwemmungen, denn sie habe den Tod mit sich gebracht und alles Hab und Gut weggenommen. Damit hat sie das iibliche Schema der Ambivalenz von Zerstorung und von Produktivitat einseitig zugunsten der Zerstorung verlassen. Cm hat somit mit einer einfachen und klaren, umfassenden Formulierung die
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Krisenkonstellationen (1), (2) und (3) der Sache nach benannt, so daB er sich sofort der Krisenkonstellation (4) im weiteren widmen kann. Wir werden damit in unserer Vermutung bestdrkt, dafi es der Gruppe auf Hilfsmafinahmen hinsichtlich dieser Krisenbewdltigung (4) vor allem ankommt. ....es gibt zwei Arten von Erde es gibt Erde fiir Nahrungspflanzen und Erde die nur darauf wartet abgeftihrt zu werden....
Zur Vorbereitung seiner Darlegungen zur Krisenkonstellation (4) fuhrt er eine ahnlich fUnktionale Unterscheidung zwischen den beiden Boden auf den Anhohen und im FluBtal ein wie zuvor schon Bf. Sie fallt noch etwas allgemeiner aus und wird dabei fast teleologisch, so als ob die beiden Boden durch unterschiedliche fUnktionale Auftrage gepragt seien. Die oben sind dazu da, „abgefuhrt" zu werden, die unten haben den Zweck, Nahrungspflanzen wachsen zu lassen. Wiederum bleibt dabei vollkommen unberlicksichtigt, daB ja gerade, weil die Boden auf den Anhohen „den Zweck erfullen", abgeftihrt zu werden, sie mit den Boden fiir Nahrungspflanzen identisch sind. Die Klassifikation, die Cm vornimmt, ist also nicht eine systematische, vom unmittelbaren funktionalen Lebenszusammenhang abstrahierende, sondem eine pragmatisch-konkrete, um nicht zu sagen „praxiszentrische". ....(3) nach dieser Uberschwemmung ist die Erde fiir Nahrungspflanzen trocken geworden wenn du den Boden mit der Hacke bearbeitest wird diese Erde nicht reif und deshalb kann nichts wachsen jedenfalls nicht gleich....
Nach dieser vorbereitenden Unterscheidung folgt eine klare, plastische Beschreibung des eigentlichen Problems, mit dem die Gruppe nach der auBerordentlichen Uberschwemmung vor zwei Jahren bis jetzt zu kampfen hat. Die Erde im FluBtal war so verkarstet, daB sie sich nicht mehr angemessen bearbeiten lieB. Besonders anschaulich ist die fast erotische Verwendung des Attributes „reif' fiir die AufschlieBung der Erde mit der Hacke, damit sie fahig ist, den Samen der Nahrungspflanzen zu empfangen. Diese anschauliche Beschreibung driickt das enge, geradezu partnerschaftliche Verhaltnis der Kultur, der der Sprecher angehort, mit der Natur aus, mit der man sich in Analogic zur sexuellen Reproduktion austauscht und von der man genahrt wird. Dieses SichAustauschen mit der Natur ist durch die Verhartung des Bodens unterbrochen und stark behindert worden. Das ist der eigentliche Kern der Krise, iiber die hier gesprochen wird. Das Wachstum der anzubauenden Pflanzen ist stark verzogert. ....ich personHch habe nur jetzt 2002 etwas emten konnen aber angefangen habe ich 2000 mit einem Pflug und dann ein Traktor und jetzt sehe ich was wie vor der Uberschwemmung das ist das AusmaB meines Leidens....
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Nach der verallgemeinerten Zustandsschilderung wird diese durch die personliche Erfahrung mit der Krise exemplarisch konkretisiert. Personlich hat Cm nach der Uberschwemmung von 2000 erst im Jahre 2002, also im Jahr der Gruppendiskussion, wieder etwas emten konnen. Er wird demnach wahrend zwei Jahren, 2000 und 2001 liber keine eigenen Lebensmittel verfiigt haben. Es ist nicht klar, ob er, wenn er berichtet, daB er im Jahre 2000 erst mit einem Pflug (also von Ochsen gezogen) und dann mit einem Traktor angefangen habe, damit einen Beginn vor der Uberschwemmung oder nach ihr meint, wie uberhaupt die zeitliche Ordnung der berichteten Entwicklung nicht so explizit ist, daB sie jemand, der im konkreten Kontext nicht heimisch ist, nachvollziehen konnte'^ Jedenfalls hat ihm selbst die Benutzung dieser Maschinen angesichts der Harte des Bodens wenig gebracht. Vielleicht will er damit die Problematik dramatisieren. Auch der nachfolgende Satz iiber das, was er aktuell feststellen kann, ist vor allem hinsichtlich seiner zeitlichen Strukturierung nicht eindeutig zu entziffem. Es kann damit gemeint sein, daB er jetzt keinen Effekt des Gebrauchs der seit 2000, also seit der groBen Uberschwemmung eingesetzten Maschinen sieht, es kann aber auch gemeint sein, daB er erst jetzt, nach zwei Jahren, etwas sieht, was eine allmahliche Annaherung (und damit cine Riickkehr) an die Zustande vor der groBen Uberschwemmung verspricht. In beiden Lesarten wiirde, wenn auch unterschiedlich gestuft, das „AusmaB seines Leidens" zum Ausdruck kommen. ...diese Uberschwemmung ist nicht wie friiher friiher kam das Wasser und als es ging konnte man leicht den Boden bearbeiten das ist nicht passiert (.) die Leuten (sic!) haben versucht dem Wasser zu folgen aber dann kam wieder viel Regen und jetzt ist alles Wald das war ailes Ackerland von hier bis ^ Am: bis in die Stadt-^ Cm: das war alles Ackerland das man bestellt hat
Cm schlieBt vorlaufig, indem er noch einmal durch Kontrastierung mit den friiheren Uberschwemmungen, auf die man eingestellt war, die Besonderheit der groBen Uberschwemmung als Krisenquelle herausarbeitet. Wahrend friiher der Boden nach der Uberschwemmung leicht zu bearbeiten war, war es dies mal ganz anders. Die Leute hatten versucht, wie iiblich den Boden nach dem Abzug des Wassers zu bearbeiten, aber es sei nicht gegangen. Er fugt jetzt ein bisher in der Diskussion nicht genanntes ursachliches Element und eine bisher nicht genannte Auswirkung der Krise hinzu. Die Bearbeitung des Bodens nach der Uberschwemmung ist offensichtlich durch einen neu einsetzenden Regen unterbrochen worden. Aber das kann nicht erklaren, wieso der Boden fiir die Bear'^ Das entspricht dem, was in einem anderen Zusammenhang der Forschung iiber schichtspezifischen Sprachgebrauch Basil Bernstein mit „restringiertem Kode" und ich im Anschlufi daran mit „Strategie der minimalen Verbalisierung" bezeichnet haben. Vgl. Oevermann (1972).
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beitung letztlich zu hart geworden ist. Es konnte nur erklaren, daB die Leute aus Angst vor einer neuerlichen gefahrlichen Uberschwemmung das Tal wieder verlassen haben und sich zu spat erst an die Bodenbearbeitung zurlickbegeben haben oder aber gar nicht erst zur rechtzeitigen Bodenbearbeitung gelangt sind. Immerhin muB dieser Regen auch dazu beigetragen haben, das nicht bearbeitete Ackerland schnell verbuschen zu lassen, so daB es jetzt als „Wald" bezeichnet wird. Diese schnell einsetzende Verbuschung dehnt sich offensichtlich iiber das ganze bebaubare Gebiet bis in die nachste Stadt aus. Wiederum greift Am in sprachlicher Hilfestellung dort ein, wo eigentlich der topographische Name der Stadt fallen miiBte, den er aber moglicherweise selbst nicht kennt, denn er wahlt auch nur eine Umschreibung. Aus dieser Hilfestellung laBt sich, insofem sie analog zur Benennung der Jahreszahl im Beitrag von Bf erfolgt, bekraftigend erschlieBen, daB Am so etwas wie der intellektuelle oder gar institutionelle Anfahrer der Gruppe der Einheimischen ist, der zugleich als Vermittler zwischen ihr und der dritten Person fungiert. ...Aber nun arbeitet keiner da wenn du da was machen willst musst du fiir 1,5 ha 500 000 Mts^^ hinblattem wo fmdest du so viel Geld das sind unsere Probleme aber friihere Uberschwemmungen wenn sich das Wasser zuriickzieht sat man SiiBkartoffeln das war Reichtum alles wurde geemtet was man wollte diese Uberschwemmung war nicht wie die von 77 wenigstens hat man die Felder nachher bestellen konnen aber jetzt ist alles trocken....
Cm setzt seine Argumentation nach dem Schema der Kontrastierung der Folgen der katastrophalen Uberschwemmung von 2000 mit denen der frliheren Uberschwemmungen, auf die sie eingestellt waren, in der dritten Wiederholungsrunde fort. Das adversative „aber" ist durch diese Kontrastierung zum friiheren Zustand des FluBtals als Ackerland motiviert. Jetzt arbeite dort niemand mehr, es sei denn, man konne fiir 1,5 ha den Gegenwert von ca. 20 € „hinblattem". Den Einheimischen wird gelaufig sein, was damit gemeint ist. Als auBenstehender Sequenzanalytiker ohne konkretes Kontextwissen laBt sich aus dem inneren, sequenzanalytisch erschlossenen Wissen nur vermuten, daB das Leihen von Maschinen, die fiir die Bearbeitung des hart gewordenen Bodens notwendig sind, diese Kosten verursacht. Nebenbei wird man dabei indirekt dariiber informiert, daB die friiher tibliche Bodenflache fur einen „Haushalt" wahrscheinlich 1,5 ha betrug, eine FlachengroBe, die fur eine wirtschaftliche Agrarproduktion viel zu klein ist und ohnehin fiir die Subsistenzwirtschaft kaum ausreichte. Eine Bearbeitung mit Maschinen ware erst bei einer viel groBeren Flache wirtschaftlich. Daraus ergibt ^^ Metical ist die mosambikische Wahrung (1 Euro = 24 000 Mts). Die meisten Bauem leben unter der offiziellen Armutsgrenze, d.h. weniger als $1 pro Tag. (Aus dem Transkript iibemommene Anmerkung).
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sich die Frage, ob diese geringe GroBe der Bearbeitungsflache der Knappheit des fruchtbaren Bodens in Relation zur Siedlungsbevolkerung oder den tradierten Bearbeitungstechniken geschuldet ist, die eine groBere Flache nicht erlauben. Ware letzteres der Fall, dann wurde die aktuelle Krise zugleich das Problem einer grundlegenden Anderung der Landwirtschaft in dieser Region aufwerfen. Diese Frage ist fUr eine entwicklungsplanerische Einschdtzung der L6sungsmoglichkeiten der aktuellen Krise von zentraler Bedeutung. In die resiimierenden Formel „das sind unsere Probleme" ist diese Frage unausgesprochen eingeschlossen. Dann beginnt eine in Cm.s Rede vierte Reproduktion der die akute Krise bestimmenden „fruher-jetzt" Kontrastierung. Nach friiheren Uberschwemmungen stellte sich agrarischer Reichtum ein. Gemeint ist damit wahrscheinlich weniger, daB durch tiber die Subsistenz hinausgehende Produktion Erlose am Markt erzielt werden konnten, sondem eine tippige Selbstversorgung. Jetzt wird die die Krise verursachende Uberschwemmung von 2000 mit einer anderen krisenhaften, ungewohnlichen kontrastiert, die sich 1977 ereignete. Sie wird dramatisierend als Vergleich herangezogen, weil sie zwar schlimm war, so darf man vermuten, so schlimm jedenfalls, daB sie sich per Jahreszahl tief ins kollektive Gedachtnis eingegraben hat, aber doch langst nicht so schlimm wie die von 2000. ....man dachte mit so viel Wasser wird man die Familie nachher gut emahren konnen aber es tut so (auf Bild zeigend) es ist trocken wenn das Wasser geht muss man arbeiten konnen....
Die Uberschwemmung von 2000 hat alle Erwartungen und alles Vorwissen gesprengt. Im Lichte des tradierten Erfahrungs wis sens hatten die Einheimischen urspriinglich die ungewohnliche groBe Wassermenge gemaB der Gastmetapher und in der Logik der Steigerung eines Zusammenhangs auf einem Kontinuum des Bekannten als VerheiBung kunftiger Fruchtbarkeit wahrgenommen und interpretiert. Der Sprecher betont dabei seine Verpflichtung, als Mann der Ernahrer der Familie sein zu mussen. Als dieser hat er sich jener Erwartung urspriinglich hingegeben, die sich als schreckliche Illusion erwies. Indem er auf ein offensichtlich fur alle Diskutanten sichtbares Bild verweist, identifiziert er darin die Tauschung: „es tut so", „als ob" konnte man erganzen. Das „es" verweist wohl auf den NaturprozeB, den man falsch eingeordnet und dem Erfahrungswissen illusionistisch assimiliert hat. Im scharfen Kontrast zur Erwartung war der Boden nach der Uberschwemmung fur die Einheimischen nicht fruchtbar, sondem durch Verkarstung verschlossen.
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Exkurs zu zwei bildlichen Darstellungen in Gestalt von Strichzeichnungen Die in dieser Einschaltung zu interpretierenden Darstellungen waren dem Transkript beigelegt. Uber ihre Herkunft und Verwendung ist mir sonst nichts bekannt. Ihre Interpretation ist hier erforderlich, weil die Diskutanten von dieser Stelle an den Verweis auf die Bildinhalte in ihre Argumentation einbeziehen, der Darstellungsinhalt der Bilder also indirekt zum propositionalen Gehalt der Sprechakte wird. Ich kann auch tiber die GroBe der Bilder nichts sagen, sondem bin ausschlieBlich auf die Kopie angewiesen, wie sie hier wiedergegeben ist. Man kann aber aus den Verweisen in den transkribierten Sprechakten erschlieBen, daB diese bildliche Darstellung fiir alle Teilnehmer sichtbar im Raum der Gruppendiskussion angebracht worden sein muB. Es handelt sich um zwei Strichzeichnungen auf einem Blatt. Sie stellen also als Bild eine Einheit dar und sind durch einen vertikalen Strich, der integrales Darstellungselement des gesamten Bildes ist, auf der gemeinsamen Darstellungsflache voneinander getrennt, so daB ihre Kontrastivitat betont wird. Es handelt sich zwar nicht um kiinstlerische, jedoch durchaus um gekonnte Darstellungen, die bemiiht sind, das Wesentliche des Darstellungsinhalts pragnant herauszustellen, was bekanntlich durch Zeichnungen viel besser moglich ist als durch Fotos. Der Kontrast bezieht sich auf den Zustand wahrend des akuten, iiberraschend heftigen Hochwassers einerseits und den Zustand der Landschaft nach dem Abzug des Hoch-
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wassers, also auf den Gegensatz, der bei friiheren Uberschwemmungen im Sinne der „Gast"-Metapher einer zwischen Zerstorung und Produktivitat war und sich nun, fiir die letzte katastrophale Uberschwemmung als unerwartete Auflosung dieser Gast-Ambivalenz erweist, weil sich mit dem Abzug nicht Produktivitat einstellt, sondem die Krise (4) und die Zerstorung weiter anhalt, jedenfalls bezogen auf das Niveau der zur Verfiigung stehenden tradierten LandbauTechniken. Das Bild liest sich von links nach rechts entsprechend der alphabetischen Schrift des Okzidents, also nicht entsprechend der arabischen oder anderer im Islam verbreiteter Schriften. Auf dem linken, ersten Bild ist das akute Hochwasser in seiner lebensgefahrlichen Dramatik dargestellt. Das weite Land steht bis zum Horizont unter Wasser. Es regnet heftig und Blitze am Himmel verweisen auf heftiges Unwetter. Das Wasser steht bis zu den Hiittendachem, schwemmt die Hiitten schon fort und hat schon Baume entwurzelt. Die Menschen treiben hilflos im Wasser und recken beide Arme, um Hilfe flehend, nach oben. Mobiliar treibt auf dem Wasser, und ein Vogel, der aussieht wie eine Mo we, schwimmt friedlich auf dem Wasser, so als ob die Landschaft ihren ursprlinglichen Biotop schon vollstandig geandert habe. Diese Darstellung umgreift also typisierend die Krisenkonstellationen (1), (2) und (3) gewissermaBen auf einen Blick. Dagegen bezieht sich die rechte Darstellung auf den Zustand nach dem Abzug des Wassers und damit auf die in der Gruppendiskussion im Vordergrund stehende Krisenkonstellation (4). Das weite kahle Land ist von einem sonnigen Himmel iiberstrahlt, die Erde ist deutlich durch Trocknungsrisse als verkarstet gekennzeichnet. Ihre undurchdringliche Harte wird suggestiv dargestellt, indem die beiden Menschen, eine Frau und ein Mann, also ein Ehepaar, als Reprasentanten eines Haushalts, mit groBem Schwung und groBer Wucht ihre Hacke auf die Erde niederschlagen, aber trotz des groBen Kraftaufwandes nicht in sie eindringen konnen. Viel mehr prallt die Hacke von der Erde ab wie von Metall, so daB nur ein paar Erdkrumen auf der Oberflache wegspritzen. Die Vergeblichkeit der Bodenbearbeitung ist drastisch veranschaulicht. Zwei Baume und ein Baumchen sind zu sehen, sie sind verdorrt im ausgetrockneten Boden unter der gleiBenden Sonne. Der Kontrast zum belaubten Baum auf der linken Darstellung gibt zu erkennen, daB die dem Hochwasser folgende Diirre zur Verdorrung selbst der Baume gefuhrt hat. Die Darstellungen sind gelungen in ihrer Pragnanz'^ Sie teilen genau zwischen den Krisenkonstellationen (1) bis ^^ Neben der Leserichtung in der Bildanordnung, deren sachliche Sequenz ja durch den Bildinhalt vorgegeben ist, ist fur die Darstellung vielleicht noch interessant, daB die Hautfarbe der dargestellten betroffenen Menschen nicht markiert wird, die Einheimischen also, die an anderen Merkmalen durchaus als solche erkennbar sind, in der Zeichnung den WeiBen assimiliert werden.
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(3), die in der Gruppendiskussion nur am Rande thematisiert werden, und der Krisenkonstellation (4), die im Mittelpunkt steht. Ende des Exkurses zur Bildinterpretation Cm hat in seinem Verweis auf das rechte Bild nicht die Tauschung zeigen wollen, der sie alle unterlagen, sondem das, was die Enttauschung verursachte: die enorme unerwartete Eintrocknung und Verkarstung des Bodens. Die Bilder zeigen nur, was tatsachlich der Fall war und sich ereignete, sie zeigen nicht die enttauschten ursprunglichen Erwartungen. DaB diese Erwartungen sich nicht erfiillten, daB also das Erfahrungswissen, auf dem diese Erwartungen beruhten, dramatisch scheiterte, darin vor allem besteht die aktuelle Krise. Vom Sprecher wird diese Enttauschung bzw. Desillusionierung^^ nicht primar auf die empirische Widerlegung einer bis dahin geltenden, die Praxis leitenden Uberzeugung zuriickgefuhrt, sondem auf das Tauschungsmanover der Natur, die „so tut als ob", z.B. durch ungeheure Regenmengen zukiinftige Fruchtbarkeit zu verheiBen, also zu „tricksen", wie schon Bf ausgefuhrt hatte. Der Umgang mit der Natur wird also analog zu einer sozialen Interaktion mit einem Gast ganz realistisch interpretiert. Nach diesem Modus ist die Enttauschung von Erwartungen nicht ein Vorgang empirischer Falsifikation von Uberzeugungen, sondem ein HineinGelegt-Werden durch die trickreich (iberlegene Natur. Dieser Modus der Wissensgeneriemng und -anwendung ist innerhalb der Lebenswelt der Einheimischen einer des geschmeidigen und sensiblen Umgangs mit der Natur, aber keiner, der systematisch und methodisch kalt die Naturvorgange abgehoben vom praktischen Handlungsdruck rational aus Beobachtungsdaten auf der Folic einer theoretischen Konstmktion von Moglichkeiten erschlieBt. Dieser Vorgang einer Tauschung, in der die Natur erfolgreich war, laBt sich natlirlich im Bild nicht pragnant darstellen. DaB die Natur so getan hat als ob, ist eben auch tatsachlich eine Projektion durch den interpretierenden Menschenverstand und keine beobachtbare, im Bild darstellbare Realitat. Cm.s Einstellung, von der Natur getauscht worden zu sein, kommt auch in der schlussfolgemden Verallgemeinerung zum Ausdruck, man miisse, wenn das Wasser gegangen sei, arbeiten konnen. Als ob das, was sich nach der Uberschwemmungskatastrophe eingestellt hat, namlich die Verkarstung des Bodens ' Wir werden hier auf das allgemeine Problem der dialektischen Differenz zwischen Enttauschung und Desillusionierung als eines an der Oberflache identischen Problems analog zu der Differenz zwischen dem halbvoUen und dem halbleeren Glas gestofien. Eine Enttauschung besteht im Verlust einer Hoffnung durch Nicht-Erfiillung einer Erwartung im Anschlul3 an eine abweichende oder unerwartete Reaktion des sozialen Gegeniiber bzw. des Schicksals. Als Desillusionierung laBt sich das identische Geschehen unter dem Gesichtspunkt interpretieren, daB die Enttamung einer Erwartung als Illusion - analog zum Scheitem einer Annahme an der empirischen Realitat fur die Zukunft im Sinne der Aufklarung sehr niitzlich ist.
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mit der Folge der Unbearbeitbarkeit, im Sinne geltender Normen und Vereinbamngen sich nicht gehort. ....aber diesmal kam keine Unterstiitzung die einzigen Projekte waren auf der StraBe die StraBen die beschadigt wurden....
Dazu paBt auch, daB er nach dieser Feststellung unmittelbar zu der weiteren libergeht, diesmal sei keine Unterstiitzung gekommen. Diese Feststellung unterstellt eine gangige Routine, der zufolge immer dann, wenn nach Uberschwemmungen der Boden verkarstet ist, fremde Unterstiitzung von auBen kommt. „Diesmar' unterstellt sprachlich zwingend die Existenz von vorausgehenden gleichen oder ahnlichen Konstellationen. Das kann aber allein deshalb schon nicht sein, weil offensichtlich dieses AusmaB an Verkarstung noch nie da gewesen und etwas ganz Neues ist. Diese Inkonsistenz in der Argumentation von Cm laBt sich nur in dem Deutungsmuster auflosen, in dessen Sinne Cm davon ausgehen kann, daB immer dann, wenn iiberraschende, nach dem Weltbild der eigenen Kultur und dem eigenen Erfahrungswissen unvorhergesehene Krisen entstehen, Unterstiitzung von auBen erfolgt und erfolgen muB. Fremde Unterstiitzung ist somit der generalisierte Mechanismus der Krisenbewaltigung. DaB das konkrete „diesmar' in der Erfahrung von Cm kein „anderes, vorausgehendes Mai" faktisch zum Korrelat haben kann, verschwindet als logische Inkonsistenz, sobald man unter „diesmar' nicht mehr die konkrete katastrophale Uberschwemmung versteht, sondem eine von der eigenen Praxis nicht mehr zu bewaltigende Krise, also eine Katastrophe, als Exemplar eines allgemeinen Falls oder als „token" eines „type". Zu ihr gibt es sicherlich ein vorausgehendes Korrelat, eine vorausgehende Krise, welcher Art auch immer. Und mit Bezug auf sie gilt der Erfahrungssatz, daB dann eine Unterstiitzung von auBen kommt. An diesem Analyseergebnis laBt sich exemplarisch die Problematik einer Entwicklungshilfe ablesen, die nicht voUkommen strikte den Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe einhalt, wie er letztlich aller professionaHsierten Praxis als stellvertretender Krisenbewaltigung auf der Basis eines Arbeitsbiindnisses zwischen dem professionaHsierten Experten und seinem Klienten zugrunde liegt.^^ Die einzige Unterstiitzung, die nach der Katastrophe erfolgte, bestand in der Reparatur der StraBen, wahrscheinHch unter dem Gesichtspunkt, weitere HilfsmaBnahmen durch Transporte zu ermoglichen. Cm halt aber entweder diese Unterstiitzung fiir weniger wichtig oder aber fiir zu einseitig, jedenfalls fiir
' Vgl. dazu Oevermann (1996b; 1997; 2000c; 2002; 2003a; 2005a).
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nicht ausreichend.'^ Das eigentlich zentrale Problem, ndmlich die Bearbeitung des verschlossenen Bodens durch Maschinen, ist fur ihn ungelost geblieben, aber offensichtlich nur durch Unterstutzung von aufien losbar. Darin ist immer noch das eigenttimliche Problem eingeschlossen, daB ja diese Unterstiitzungsforderung von der Uberzeugung gepragt sein muB, daB die durch Uberschwemmungen verursachte Fruchtbarkeit des Bodens als solche erhalten geblieben sein und nach wie vor im Boden „stecken" muB. Die Krise besteht dann darin, daB diese verschlossene Fruchtbarkeit durch die tradierten Bodenbearbeitungstechniken im Unterschied zu friiher nicht mehr geoffnet werden kann. Dann aber miiBte man nicht von einer radikalen Differenz zwischen friiherer und aktueller Krisenkonstellation, sondem von einer graduellen Differenz in der Verkarstung des an sich gleich gebliebenen Schwemmlandes ausgehen, die bei dieser Uberschwemmung, aus welchen Griinden auch immer - extreme Austrocknung, zu spat begonnene Bearbeitung, Verhartung durch libermaBige Durchfeuchtung, zu groBe Bestandteile einer angeschwemmten Erde, die die Feuchtigkeit nicht halten kann, zu groBe Schicht neuen Schwemmlandes, etc. - die Schwelle der nachfolgenden Nicht-Bearbeitbarkeit extrem iiberschritten hat. Auch an dieser Stelle stoBen wir wieder auf die kategoriale Differenz zwischen einer wissenschaftlich-methodischen Analyse von Krisenkonstellationen und einer lokalen, im Modus tradierten pragmatischen Erfahrungswissens anthropomorphisierenden Naturdeutung, die sich an die lebenspraktischen Funktionen unmittelbar anschlieBt. ....das ist unser Problem wenn das Wasser geht mtissen wir dem Wasser folgen diesmal war das Wasser so schnell man hat nicht schnell genug fliehen konnen
Cm resiimiert hoch organisiert seine Argumentation mit der SchluBfolgerung, auf die es ankommt, obwohl der eigentliche Inhalt der Losung fiir das, was „unser Problem" ist, namlich die Unterstutzung in Gestalt der Verfugbarkeit liber landwirtschaftliche Maschinen, an dieser Stelle unausgesprochen bleibt, aber vom sachlichen Kontext her jedermann klar sein muB. Er laBt dann der Zusammenfassung des Problems noch einmal, ebenfalls zusammenfassend, in einer letzten, der siebten „fruhere-akute Krisenkonstellation"-Gegenuberstellung den fiir die lokale Gemeinschaft zentralen Erfahrungsgrundsatz: "Wenn das Wasser geht, mussen wir ihm folgen, um den fruchtbaren Schwemmboden zu bearbeiten" folgen, um dann noch einmal den Charakter der akuten Krise darzustellen:
^^ An dieser Sequenzstelle laBt sich nachtragHch fiir den Gebrauch des „diesmar' eine wenn auch schwache weitere Lesart einfugen: Es ware dann bezogen auf die Hilfen, die in den vorausgehenden Phasen der Katastrophenentwicklung schon erfolgt sind.
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Dieses Mai sei das Wasser so schnell gewesen, daB man nicht schnell genug habe fliehen konnen. Darin nimmt der Sprecher nun eine eigentiimliche und unerwartete Problemverschiebung vor. Denn der Zuhorer erwartet an dieser Stelle eigentlich, wenn schon auf die Schnelligkeit der Wasserstandsbewegung abgehoben wird, ein Argument beziiglich der Schnelligkeit im Abzug des Wassers, wodurch dann die nachfolgende Bodenbearbeitung nicht rechtzeitig vor der Verkarstung hat erfolgen konnen. Stattdessen wird aber von der Schnelligkeit des steigenden Wassers gesprochen, denn nur vor dem muBte man schnell fliehen. Sofern diese Schnelligkeit des Fliehens nicht eingehalten werden konnte, bedeutete das letztlich den Tod, wenn nicht eine Errettung durch fremde Unterstlitzung erfolgte, Oder zumindest doch die EinbuBe von Hab und Gut, das man nicht schnell genug zum Abtransport zusammenraffen konnte. Cm argumentiert hier also plotzlich beziiglich der Krisenkonstellationen (1) bis (3) und nicht mehr (4), ohne daB das auch nur ansatzweise kontextuiert ware. Das muB einen Grund haben, der nur spekulativ vermutet werden kann, so erratisch ist an dieser Stelle die Problemverschiebung. Vielleicht ist Cm doch die Krisenkonstellation von (1) bis (3) din dieser Stelle viel starker in Erinnerung und subjektiv von viel groBerer Bedeutung als die Krisenkonstellation (4), denn schlieBlich ging es bei ersteren um Leben und Tod. Vielleicht will Cm aber unbewuBt auch davon ablenken, daB, wenn das Wasser schnell kam, es wahrscheinlich auch schnell ging, und der VerkarstungsprozeB danach von der lokalen Gemeinschaft unterschatzt wiirde, so daB die daraus folgende Bestrafling durch die Natur das Schuldgefuhl eines Versaumnisses hervorruft und zum Verschweigen desselben fiihrt. Beide Lesarten wurden darauf verweisen, dafi die in der Gruppendiskussion vor dem „ Britten '' in den Mittelpunkt gestelite Krisendarstellung in starkem Mafie strategisch prdpariert ist, damit eine Unterstlitzung in Form der Gewdhrung von landwirtschaftlichen Maschinen erfolgen kann, die zwar auch fUr die Bewdltigung der akuten Krise von Bedeutung ist, vor allem aber fur die Losung eines langfristigen Problems der Effektuierung der landwirtschaftlichen Produktion. Auf diesen Punkt lenkt nun auch ganz konsequent Am, der sich damit endgiiltig als der eigentliche Leiter der Gruppendiskussion erweist, in seiner folgenden Intervention die Aufmerksamkeit. Am: vielleicht sollten wir zum nachsten Punkt kommen denn jeder wird das gleiche sagen man sieht auf der Tafel das Wasser alles ist tiberschwemmt aber unsere Sorge ist das andere Bild das Wasser ist da alles ist uberschwemmt aber nun ist das Wasser weg jetzt wollen wir das andere Bild wir wollen die Felder bestellen das Wasser ist weg (.) wir schaffen es nicht wir wollen unterstiitzt werden beim Bestellen der Felder wir haben keine Werkzeuge mit bloBen Handen kann man diesen Boden nicht bearbeiten...
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Am treibt die Diskussion voran. Er scheint somit einen klaren Plan tiber die organisierte Abfolge von zu erledigenden Problempunkten und vor allem far den zu erreichenden Zweck im Kopf zu haben. Er weiB schon, daB alle, die noch nicht an der Reihe waren, seinen urspriinglichen Auftrag zu erfullen, dem „Dritten" eine Antwort zu erteilen, das Gleiche sagen werden. Das verweist ganz stark auf vorausgehende Absprachen oder zumindest doch darauf, daB das zu prasentierende Problem schon haufig diskutiert wurde. Man kann also zum nachsten Punkt libergehen. Sofem er selbst nun diesen Punkt einfiihrt, tut er aber nichts anderes, als die Krisenkonstellation (4) anzusprechen, die von den beiden Sprechem der Gruppe zuvor auch schon herausgearbeitet wurde. Der nachste Punkt besteht also nur in einer von Am prasentierten strategischen Zuspitzung des schon Gesagten. Er verweist dabei vor allem auf die Systematik der Problemdarstellung in den beiden bildlichen Darstellungen, was vermuten laBt, daB er wesentlich an der Bildprasentation beteiligt war. Explizit betont er, daB die Sorge vor allem dem Sachverhalt auf dem zweiten, rechten Bild gilt, also der Krisenkonstellation (4). „Unsere Sorge ist das andere Bild" spricht far einen anschaulichen Konkretismus. Wiirde man namlich diese AuBerung wortlich nehmen, dann miiBte man annehmen, daB die Sorge die Gestaltungsweise bzw. die Qualitat des Bildes zum Inhalt hat. Darum geht es aber gar nicht. Im Gegenteil: Die Qualitat des Bildes fur die Prasentationszwecke wird selbstverstandlich als gegeben unterstellt. Entscheidend ist der Bildinhalt. Dieser stellt den propositionalen Gehalt der durch die Krisenkonstellation (4) hervorgerufenen Sorge dar: „Der verschlossene Boden laBt sich nicht offnen. Die tradierten Bodenbearbeitungspraktiken versagen." Daraus zieht Am ganz explizit die SchluBfolgerung, auf die es in der Gruppendiskussion gegeniiber dem Dritten ganz offensichtlich ankommt: Die Forderung von Unterstutzung bei der Bodenbearbeitung, die nicht mehr mit den tradierten Techniken, sondern nur mit moderner Maschinentechnik vollzogen werden konne, die sich die lokale Gemeinschaft nicht leisten kann. Es bleibt dabei immer noch als Problem offen, worin denn die gravierende Differenz zwischen den Folgen der Uberschwemmung von 2000 im Vergleich zu alien vorausgehenden beztiglich der Probleme der Bodenbearbeitung bestehen soil, wo es doch im Grunde genommen nur um eine graduelle Differenz gehen kann. Immer mehr schdlt sich deshalb heraus, dafi die lokale Gemeinschaft unter FUhrung von Am anldfilich der katastrophalen Folgen der letzten Uberschwemmung die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen will, eine langfristig anstehende Modernisierung ihrer Landwirtschaft durch UnterstUtzung von aufien einzufordern, die in Krisen, die man nicht mehr selbst bewdltigen kann, als selbstverstandlich erwartet werden kann.
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...selbst wenti sie wahrend der Uberschwemmung hier waren und Hauser bauten was macht man wenn man nach Hause geht und nichts zum essen hat? Kann man da einschlafen? Was braucht man? Wir wollen diesen Weg der Unterstiitzung beim Bestellen der Felder einschlagen das ist das Bild wo wir uns befinden die Uberschwemmung ist langst vorbei wir die hier gebHeben sind wollen Unterstiitzung beim Bestellen der Felder ( )
Diese geforderte und bisher nicht erfolgte Unterstiitzung kontrastiert er nun, um deren Vordringlichkeit zu unterstreichen, mit Untersttitzungen, die wahrend der akuten Uberschwemmungskatastrophe tatsachlich erfolgten. Wahrend zuvor schon Cm die StraBenreparaturprojekte erwahnt hatte, hebt Am jetzt auf die Ersetzung der zerstorten Hauser (Krisenkonstellation (2)) ab. Was niitze der Hausersatz, wenn man nichts zu essen habe. Damit wird die Unterstiitzung bei der Bodenbearbeitung zur obersten Prioritdt erhoben. Daran ist vor allem bemerkenswert, dafi eine Unterstiitzung in Form der direkten Nahrungsmittelhilfe nicht angestrebt wird. Im Gegenteil: Man will eine Unterstiitzung, die eine bessere Selbstversorgung ermoglicht. Das ist nun deshalb wichtig, weil hier im Kern der Ansatz fur das Projekt einer fremden (Entwicklungs-)Hilfe zu sehen ist, die die Ermoglichung einer Selbsthilfe, einer lebenspraktischen Autonomie zum Ziel hat. Wir konnen also als zentrales Ergebnis festhalten, dafi auf der einen Seite wie selbstverstdndlich fremde Unterstiitzung bei der Bewdltigung von Krisen erwartet wird, die die eigenen Krdfte iibersteigt. Darin kann ein Keim fiir die gewohnheitsmdfiige Anpassung des eigenen Lebens an fremde Hilfe und damit eine Gewohnung an Abhdngigkeit gesehen werden. Auf der anderen Seite aber gibt eine solche Krise, deren Bewdltigung die eigenen Krdfte iibersteigt, hier den Anlafi dazu, eine Unterstiitzung zu fordern, die ein Hochstmafi an Selbstdndigkeit durch agrarische Selbstversorgung mit der Aussicht auf eine Uberschufiproduktion fiir den Markt ermoglicht. Es ist interessant, dafi dieses Konzept fiir eine Hilfe zur Selbsthilfe hier ganz klar vom Klienten einer Entwicklungshilfe vorgetragen wird im Kontrast zu Hilfen, die weniger vordringlich eingeschdtzt werden und solche sind, die die Abhdngigkeit eher vertiefen als beseitigen. Am betont explizit, daB die lokale Gemeinschaft diesen Weg der Hilfe zur Selbsthilfe ganz bewuBt einschlagen will. Den Ausgangspunkt und AnlaB dazu bietet die im Bild 2 plastisch dargestellte Problematik. Die Uberschwemmung selbst, mit ihren Krisenkonstellationen (1) bis (3), sei langst vortiber, jetzt komme es auf das Bestellen der Felder an, das durch die Krisenkonstellation (4) verhindert werde. Am bringt also prazise zum Ausdruck, daB die von ihm gefiihrte lokale Gemeinschaft nach vome blicken will, ihre Zukunft bewaltigen will, nicht depressiv dem in der Vergangenheit Erlittenen nachhangt. Er betont dabei, daB dies der kollektive Wille der Gruppe sei, derjenigen, die „hier" geblieben sind. Schwer entscheidbar ist dabei, ob sich das „hier" auf die Exis-
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tenz auf den Anhohen oder auf die Existenz in der gesamten Region mit dem Schwerpunkt der Sesshaftigkeit im fruchtbaren Tal bezieht. Ich gehe heuristisch von der hoheren Plausibilitat der letzteren Lesart aus. Dann wiirde sich die lokale Gemeinschaft der Gebliebenen scharf kontrastieren zu denjenigen, die friiher zu ihr gehorten, aber vor der katastrophalen Uberschwemmung mit ihren Folgen endgtiltig geflohen sind, also ihre lokale Kultur verlassen haben und um den Preis der Entwurzelung wahrscheinlich in die Stadt gegangen sind. Auch die Betonung dieser Kontrastierung sprichtfur den Willen, die eigene lokale Kultur autonom beizubehalten und weiterzuentwickeln. Dm: unsere Bitte um Unterstiitzung beim Bestellen der Felder geht nicht zu Ende (.) hier sind wir oben es gibt keine Uberschwemmung wir haben zwei Probleme selbst wenn es hier regnet wird nichts iiberschwemmt was uns zu schaffen macht ist das Bestellen der Felder wenn wir Werkzeuge hatten wiirden wir jetzt Kiirbisblatter essen aber ohne Maisbrei kann man nicht viel anfangen....
Bin nachster mannlicher Teilnehmer meldet sich zu Wort. Er schlieBt sich an die Bitte um Unterstiitzung von auBen beim Bestellen der Felder an. Diese Bitte gehe nicht zuende. Diese Bitte muB demnach also schon friiher ausgesprochen worden sein, sie werde immer wieder vorgetragen. Dann nimmt er kontextuierend eine Feststellung vor, die alien bekannt, also trivial ist und deshalb argumentationslogisch einen spezifischen Sinn haben muB. In Verbindung mit der Betonung der Hartnackigkeit der Bitte um Hilfe kann der Zusammenhang nur sein, daB die Existenz „hier oben", durch das Hochwasser und seine Folgen erzwungen oder - weniger plausibel - dauerhaft im Kontrast zur Existenz der unten Siedelnden, die erbetene Hilfe nicht iiberflussig macht, weil man der unmittelbaren Not der Uberschwemmung entronnen ist, sondem weiter oder erst recht bestehen laBt. In der Folge wird das Argument mit dem Hinweis gefiihrt, hier oben gebe es keine Uberschwemmung. Das klingt auf den ersten Blick nach Erleichterung gegenuber der Existenz unten. Jedoch stiinde diese Lesart im offenen Widerspruch zum Hauptduktus der Argumentation, denn es geht ja gerade darum, die Dauer der Hilfsbediirftigkeit zu begrtinden. Deshalb drangt sich eine andere Lesart auf: Weil es hier oben keine Uberschwemmungen gibt, gibt es auch keinen so fruchtbaren Boden wie unten, deshalb ist eine dauerhafte Existenz „hier oben" so problematisch, daB man so bald wie moglich wieder zuriick muB nach unten oder zumindest im Wechsel mit unten eine Existenz fiihrt, die das Land unten bebaut und oben iiber Rtickzugsmoglichkeiten vor dem Hochwasser verfugt. Nur bei dieser Lesart ist der weitere AnschluB plausibel, man habe „zwei Probleme", denn diese systematische Aufzahlung muB sich ja zwingend aus dem zuvor Ausgefuhrten ergeben. DaB es selbst dann, wenn es „hier oben" regnet, keine Uberschwemmung gibt, wird nicht etwa als Vorteil gesehen, son-
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dem als Nachteil, well die Uberschwemmungen fur die Fruchtbarkeit des Bodens unerlaBlich sind. Wieder ist der Grundgedanke der, der aus der Uberschwemmung die Ambivalenz des Gastes macht. Zu bemerken ist noch die adversative Konstruktion: "selbst wenn ..., dann nicht..." fiir das Verhaltnis von Regen und Uberschwemmung angesichts dessen, daB es ohne Regen gar keine Uberschwemmung in diesem Gebiet geben kann. Der Sinn dieser AuBerung kann unausgesprochen nur im impliziten Verweis auf die Seltenheit des Regens „hier oben" bestehen und in der Wiinschbarkeit des Regens als solchen. Aber der grundsatzlich segensreiche Regen hat „hier oben", „selbst wenn" er sich ereignet, nur wenig produktive Folgen. Deshalb muB man, wenn eben moglich, unten im FluBtal ansassig sein. Aber dort liegt momentan das zweite Problem, obwohl es nach der systematischen Anktindigung nicht mehr eigens als zweites eingefiihrt wird: Man kann unten gegenwartig die Felder nicht bestellen, wegen der von den vorigen Rednern schon dramatisch geschilderten Harte des Bodens. Damit ist klar, daB Dm auf dasselbe hinauswill wie schon die Vorredner: auf eine Begriindung einer hohen Dringlichkeit einer technischen Hilfe fur die Bodenbearbeitung im Flufital Explizit wird der Mangel an addquaten Werkzeugen benannt. Waren die vorhanden, dann hatte man auch geniigend zu essen. Maisbrei wird sozusagen als Grundnahrungsmittel angefiihrt, ohne das kann man keine regelmaBigen Feldarbeiten verrichten. Dann wird die dringend benotigte Unterstiitzung bekraftigt: ....wir brauchen Unterstiitzung wenn die Leute von auBerhalb uns untersttitzen und Gott sie unterstiitzt werden wir Mais emten ( ) wir essen nur das was wir selber emten wir kaufen keine Lebensmitteln das ist nicht unser Leben
Diese Unterstiitzung wird selbstverstandlich als eine von auBerhalb unterstellt, also als Entwicklungshilfe hochstwahrscheinlich. Wenn sie erfolgt, und wenn sie zudem mit Gottes Segen versehen ist, also eine gesegnete Gabe, ein akzeptables Opfer (ein neues religioses Beschworungselement in der Argumentation), dann wird auch geniigend Mais da sein. Am SchluB seiner Argumentation fiigt Dm ein weiteres wichtiges und sehr allgemeines Begriindungsargument an. Diese erbetene auswartige Hilfe ist namlich entscheidend dafiir, die eigene autonome kollektive Existenzform weiter fiihren zu konnen. Sie besteht in einem auf Landbau beruhenden Selbstversorgungssystem, das man unbedingt beibehalten will. Die lokale Gemeinschaft will autark bleiben. Sie will nicht verbunden mit Spezialisierung fiir den Markt produzieren, um mit dem Erlos selbst das Ubrige am Markt zu kaufen. Denn die Komplementarseite dazu, Lebensmittel zu kaufen, ist die Teilhabe an einer arbeitsteiligen Wirtschaft, in der man ein marktvermitteltes Einkommen erzielen muB. Der Sprecher will stattdessen an der archaischen, aber autonomen Form der Selbstversorgung festhalten. Aller-
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dings bemerkt er nicht, dafi mit der gewilnschten Hilfe Produkte gefordert werden, die man nur kaufen kann und fur die man entsprechend, wenn man selbstdndig bleiben will, ein durch eigene Wertschopfung erworbenes Einkommen einsetzen konnen mufi. Das setzt notwendig Teilhabe am System der arbeitsteiligen Wirtschaft voraus. So wird in diesem Weltbild die geforderte Hilfe aufparadoxe Weise eine bedingungslose Hilfe zur Aufrechterhaltung einer archaischen Autonomie. Ef: ich mochte nur das Bestellen der Felder unterstreichen wir sind wahrend der Uberschwemmung hierher gekommen bei der Uberschwemmung von ::::: Am: von 77 Ef: 77 nicht jetzt 2000....
Jetzt meldet sich das fiinfte und letzte Mitglied der Gruppe, eine Frau, zu Wort. Damit sind alle der Aufforderung von Am gefolgt, dem „Dritten" eine Antwort zu geben. Sie unterstreicht wiederum als Hauptproblem den Krisentyp (4)\ die Bearbeitung des harten Bodens. Sie weist sich aus als jemand, der urspriinglich im Tal sesshaft war und von der Uberschwemmung vertrieben wurde - „hierher", auf die Anhohe. Sie will dann iiber den „restringierten Kode" hinaus explizit sein und die Uberschwemmung mit einer Jahresangabe spezifizieren. Dabei hat sie, wie die lange Dehnung fiir die Praposition „von" bezeugt, Schwierigkeiten, die richtige Jahreszahl zu identifizieren, wie das schon bei Bf zu bemerken war. Wie dort so springt ihr Am auch hier als Coach sofort bei und nennt das Jahr 1977, von dem wir schon erfahren haben, daB in ihm ebenfalls eine schwere Uberschwemmung zu verzeichnen war. Aber die Sprecherin korrigiert ihn sofort, sie hatte nicht die Uberschwemmung von 1977, sondem die von 2000 gemeint'l Am hat also als Coach zu friih eingegriffen und dazu noch eine falsche Vermutung ausgesprochen. Er nennt das Jahr 1977 wahrscheinlich, well er die Aussage „hierhergekommen" als dauerhaften Umzug hierher, in die Ansiedlung auf der Anhohe, interpretiert^^ Anscheinend laBt er implizite die Flucht vor dem Hochwasser von 2000, weil dessen Folgen als Krise noch akut sind, als dauerhafte Umsiedlung noch nicht gelten. Interessant ist, daB Ef, kaum daB Am die falsche Jahreszahl genannt hat, die zutreffende Korrektur vomehmen und
^ Auch hier besteht ein Transkriptionsproblem. Man konnte namHch, wenn die in der hitonation horbare Segmentierung eine ware, die ein Komma zwischen dem „77" und dem „nicht" erheischte, statt zwischen dem „nicht" und dem Jetzt", von der gegenteiUgen Lesart ausgehen, nach der dem Am zugestimmt wird. Ich entscheide mich hier gegen diese Lesart, weil in ihr die kontrastierende Nennung „nicht jetzt 2000" nicht motiviert ware. ^ Darin steckt die hnplikation, daB zumindest Am davon ausgeht, die Flut von 1977 habe eine dauerhafte Ubersiedlung einiger Mitglieder dieser Kultur auf die sicheren Anhohen nach sich gezogen.
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das Jahr benennen kann, das ihr zuvor spontan nicht sogleich eingefallen war. Indem sie den Kontrast von 2000 zu dem lange zuriickliegenden 1977 durch den Zusatz des Zeitadverbs „jetzt" unmittelbar vor der Zahl 2000 spontan betont und damit explizit Am korrigiert, wird deutlich, daB die Krise des Hochwassers von 2000 aufgrund seiner akuten Folgen noch nicht abgeschlossen ist, sondem im BewuBtsein der lokalen Gemeinschaft anhalt. Es ist diese anhaltende Krise, veranlaBt durch die Harte des Bodens, die das BewuBtsein der lokalen Vergemeinschaftung pragt. ....damals sind wir nach dem Abzug des Wassers ins Tal gegangen und dem Wasser gefolgt auch diesmal haben wir es so gemacht aber es sieht aus wie dort (Bild).;..
Ef will unterstreichen, wie wichtig es fur das Leben ihrer Gemeinschaft ist, die Felder im FluBtal bebauen zu konnen. Um die Hindemisse davor als Krise herausheben zu konnen, will sie offensichtlich darlegen, daB sie ungeduldig darauf wartet, wieder ins FluBtal auf Dauer tibersiedeln zu konnen, woran sie durch den harten, unbearbeitbaren Boden gehindert wird. Jetzt fiihrt sie, nach der irreftihrenden Unterbrechung durch Am, auf diese eingehend, aus, daB das nach der Uberschwemmung von 1977 ganz anders war. „Damals", dies Zeitadverb bezieht sich auf 1977, sind sie dem „Wasser gefolgt". Auch diesmal haben sie es so gemacht, also der Gewohnheit nach, aber - und nun zeigt sie auf die rechte Darstellung - „es sieht aus wie dort (Bild)". Auffallig ist, daB sie den Hinweis auf die bildliche Darstellung mit „dort" und nicht „hier" versieht, obwohl das Bild doch ftir alle sichtbar im Raum angebracht ist. Das „dort" ist wahrscheinlich dadurch motiviert, daB es sich im Kontrast zu ihrer - ungeliebten - Anwesenheit „hier oben" auf das Tal unten bezieht. Der Horer erwartet nun den Kontrast, der sich 2000 nach dem Abzug des Wassers zu der Uberschwemmung von 1977 ergeben hat. ....wir haben 77 Mais gesat Bohnen Kiirbis SiiBkartoffeln und alles haben wir geemtet aber jetzt kann man alles saen was man will nichts wird geemtet
Er wird auch sogleich ausgearbeitet. 1977 wurden alle Friichte, die gesat wurden, auch erfolgreich geerntet, aber jetzt, nach 2000, sat man vollstandig vergeblich. Die durch die Uberschwemmung von 2000 verursachte Krise der Harte des Bodens dauert also schon 2 Jahre an. ....ich weiB nicht was in diesem Wasser ist man muss zunachst die Bodenkruste zerbrechen am besten mit einem Traktor dann kann man es mit einem Pflug probieren ( ) die Leute die so verfahren haben haben Mais geemtet aber der Boden ist hart hart ist der Boden wir sind Menschen vom Tal hier oben ist nicht unsere Heimat hier wachst nicht so viel mochten wir sagen.
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Ulrich Oevermann
Zur tatsachlich offenen und schwierigen Frage, was denn diese Harte des Bodens und in ihrer Folge dessen Unfruchtbarkeit verursacht hat, wird jetzt von Ef eine neue Hypothese hinzugefagt. Sie fragt sich, was in „diesem Wasser" enthalten ist. Sie vermutet darin also irgendwelche ungewohnlichen Stoffe, die den Boden haben hart und unfruchtbar werden lassen. Diese wenig plausible Vermutung weist jedoch der Uberschwemmung von 2000 einen besonderen, vorher nie zu beobachtenden Effekt und Charakter zu. Man mtisse die Bodenkruste mit dem Traktor zerbrechen, dann konne man einen Pflug einsetzen. Diejenigen, die das gemacht haben, haben wenigstens Mais geemtet. Dann schlieBt sie mit einer lapidaren, die Krise herausstellenden Feststellung. Die Harte des Bodens wird rhetorisch durch Iteration noch einmal dramatisch zum Ausdruck gebracht. Dann stellt sie ihre Wir-Gruppe dagegen als eine, die doch ins Tal gehore, also zu diesem Boden, der sich jetzt so schlecht bearbeiten laBt. Hier oben, auf der Anhohe, fiihlt sie sich fremd, das sei nicht die Heimat ihrer Gemeinschaft. Mit dem kargen Boden hier oben konnen sie sich nicht anfreunden. Auf ihm wachst nicht so viel. Sie sehnt sich nach dem Leben im FluBtal. Damit ist klar: Eine Bewdltigung ihrer Krise ist nur denkbar, wenn ihre Gemeinschaft Traktoren und dazu passende Landmaschinen zur Bodenbearbeitung erhdU. Da sie diese wohl kaum selbst bezahlen konnen, fordern sie praktisch entsprechende Hilfe von aufien. Nachdem Ef geendet hat, sind alle Gruppenmitglieder zu Wort gekommen. Alle haben mehr oder weniger deutlich die Notwendigkeit hervorgehoben, daB sie fiir die Bearbeitung des in Folge der Uberschwemmung zwei Jahre vorher geharteten, verkarsteten Bodens Traktoren und dazu passende Landmaschinen benotigen. Nur so lasse sich die gegenwartige Krise losen. Das wird direkt kaum so deutlich ausgesprochen, aber es liegt ganz in der Linie der indirekten Argumentationen. Die Krisenkonstellationen (1) bis (3) sind nicht mehr aktuell. Aber wodurch die Krisenkonstellation (4) wirklich entstanden ist, ist nach wie vor nicht wirklich klar. Vor allem bleibt unklar, warum hier als scharfe kategoriale Differenz zu den vorausgehenden Uberschwemmungen herausgestellt ist, was eigentlich doch als ein Phanomen auf einem Kontinuum der Intensitat von Uberschwemmungen interpretiert werden miiBte. Von daher bietet sich der Schlufi an, dafi die Einheimischen diese faktisch Ja vorliegende Krise von 20002002 zum Anlafi zu der Forderung nehmen und mit moglichst starker Kontrastierung zu den vorausgehenden Uberschwemmungen dringlich erscheinen lassen wo lien, dass endlich ihre landwirtschaftliche Produktion von Grund auf zu mechanisieren sei und dazu entsprechende Hilfe zu erfolgen habe. Cm: ja der Grund weshalb unsere Felder trocken sind hat mit dem Meer zu tun (6) das Meer hat zu gemacht wahrend der LFberschwemmung der Dreck konnte nicht ins Meer abflieBen viel Dreck kam
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von weit her mit dem Wasser aber das Meer hat einfach alles ausgespuckt der Dreck hat sich dann auf unseren Feldem versammelt das Meer war zu....
Nachdem jeder Anwesende einen Beitrag geleistet und seine Ansicht kundgetan hat, meldet sich Cm als erster zum zweiten Mai und steuert speziell etwas zur Beantwortung der entscheidenden Frage bei, wieso nach der letzten, ungewohnlich starken Uberschwemmung der Boden sich bis zur Grenze der Unbearbeitbarkeit in bisher nie da gewesener Weise verhartet hat. Das habe mit dem Meer zu tun, das zugemacht, also das vom Regen herrlihrende Hochwasser nicht aufgenommen habe. Das ist nun eine ganz und gar unplausible Hypothese, die auf einer aus Landsicht positionszentrisch verzerrten Einschatzung der Relationen zwischen den Volumina von SiiBwasser und Salzwassergewassern herriihrt. Durch den Stau, jetzt wird die Hypothese schon etwas plausibler, habe der Dreck, also die Menge der Schwemmpartikel, nicht ins Meer abflieBen konnen. Cm stellt sich das Problem demnach so vor, daB dieses Mai besonders viel Erde angeschwemmt und liegen geblieben sei, so daB der alte Boden stark liberdeckt wurde und der neue besonders hart austrocknete, weil er das Wasser aufgrund seiner Feinteiligkeit und fehlender Humusgliederung nicht halten konnte. Diese angeschwemmte Erde kommt ihm fremd vor. Sie sei von weit her, also weit aus dem Landesinneren, das wahrscheinlich als unfruchtbar vorgestellt wird, gekommen. Die unplausible Vorstellung vom nicht aufhahmefahigen Meer wird noch einmal anthropomorphisierend verstarkt. Das Meer sei so aufnahmeunwillig gewesen, daB es den Dreck ausgespuckt und also zuriickfluten lassen habe. ....wir wissen nicht wo der Dreck her kam vielleicht aus Chokwe^*^ dieser Dreck hat sich angehauft nun um die Felder zu bestellen musst du richtig graben der richtige Boden ist weit unten mit bloBen Handen ist es schwer....
Die im Lichte des Erfahrungswissens sich ergebende Ratselhaftigkeit der Bodenverhartung spiegelt sich in den Vermutungen iiber die Herkunft des vom Wasser hierher transportierten Drecks. Dieser als „Dreck" gehasste Boden hat sich in dicken Schichten iiber den „richtigen", fruchttragenden Boden gelegt, so daB man tief graben muB, um an diesen zu gelangen. Wieso aber dieser neue „Dreck" grundsatzlich anders sein soil als der zuvor angeschwemmte fruchtbare Boden, wird mit keinem Worte angesprochen, also wohl auch nicht gedacht. Die Annahme, dafi diese radikale Differenz zwischen den Boden nur gemacht wird, um die Krise so dramatisch erscheinen zu lassen, dafi man bei dieser Gelegenheit endlich fremde Hilfefiir die Mechanisierung der Landwirtschaft erfolgreich
^° Chokwe ist eine ca. 120 km vom Dorf entfemte Region (aus dem Transkript iibemommene Anmerkung).
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fordern konne, also strategisch ein zutreffendes intuitives Wissen ilber die Ursachen der Trockenheit verborgen wird, ist wenig plausibel, bevor nicht Hinweise dafur im Text selbst markiert sind. Vielmehr spricht die Differenzierung zwischen den Boden fur ein funktional-pragmatisches, dem unmittelbar gegebenen Lebenszusammenhang verhaftetes Vorgehen an Stelle eines distanziertmethodischen, praxisentlasteten Denkens. ....ein Traktor kostet 1 Million denn mit den Handen kann man den Boden nicht bestellen deshalb wiederholen wir uns immer wieder wir bitten um Unterstiitzung bei dieser anderen Uberschwemmung (Bild).
Die Losung des Problems in Gestalt eines Traktor wird indirekt angesprochen. Er verursache Kosten von 1 Million. Gemeint sein kann damit nicht der Kauf eines Traktor, legt man die Relation von \ € = 24 0000 Mts zugrunde^^ Fiir 41,66 € kann man auch gebraucht keinen Traktor kaufen, sondem nur einen leihen. Cm will mit der Angabe des Preises fiir die Mietkosten wahrscheinlich indirekt darauf hinweisen, daB die lokale Gemeinschaft diese Kosten nicht aufbringen kann und daB sie dafiir eine Unterstutzung benotigt. Cm deklariert seine Bitte um diese Unterstutzung selbst um den Preis einer - ihm eher peinlichen Wiederholung. Auffallig ist, daB er die Ursache fur die Krise, zu deren Bewaltigung die Unterstutzung benotigt wird, als „diese andere Uberschwemmung" bezeichnet und dabei offensichtlich auf eins der beiden Bilder zeigt. Meint er mit „anderer" das Unerwartete und Ungewohnliche der Uberschwemmung von 2000 und zeigt dabei auf das linke Bild, oder meint er damit das andere Bild rechts mit dem verharteten Boden, ein Bild, das sich so bisher nicht ergeben hat? Das ist vom Text her nicht zu entscheiden. Dm: Dire Abbildung stimmt unsere Vorfahren haben immer gesagt eine Uberschwemmung ist wie ein Schwiegersohn er kommt hierher um die Braut abzuholen und dann kehrt er zu sich nach Hause zuriick die Uberschwemmung ist weg....
Der dritte mannliche Sprecher meldet sich auch noch einmal zu Wort. „Ihre" Abbildung treffe zu. Damit wird klar, daB die beiden Zeichnungen vom nicht geduzten „Dritten", also vom von auBen Kommenden, angefertigt und mitgebracht wurden, wer immer das auch sei - er kommt im Transkript als Sprecher nicht vor. Es wird an die Vorfahren als Quelle des Erfahrungswissens erinnert. Sie haben immer gesagt, eine Uberschwemmung sei wie ein Schwiegersohn, der komme, um die Braut abzuholen und dann wieder zu sich nach Hause zu gehen. Dann sei die Uberschwemmung wieder weg. Dieser plastische Vergleich ist
' Vgl. Anmerkung 13.
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aufschlussreich und bestatigt die Metapher des Gastes. Tatsachlich ist der Schwiegersohn ebenso ambivalent wie ein Gast. Auf der einen Seite holt er eine Frau als Braut und nimmt damit ihre Fruchtbarkeit, auf der anderen Seite hinterlasst er einen Brautpreis und das Recht, aus seinem oder einem anderen Stamme eine Frau fur die eigenen Sohne zuruckzubekommen. Ein Schwiegersohn raubt also etwas und sorgt zugleich fiir Reichtum^l In dieser strukturellen Ambivalenz verkorpert sich ganz allgemein die strukturelle Ambivalenz der sexuellen Reproduktion in Gestalt der kulturierten Partnerschaft. Wahrend fiir die Deszendenz bzv^. Affiliation die sozialisatorische Eltem-Kind-Beziehung als Vergemeinschaftungsform die Sozialbiologie der symbiotischen Brutpflege in die Kultur hinein bloB typengleich verlangert, stellt die AUianz des menschlichen Paares eine ganz andere, fiir die Natur unbekannte Vergemeinschaftungsform dar, well sie nicht aufgrund von biogrammatischen Pragungen, sondem von Heiratsregeln und affektiven Bindungen auf Dauer gestellt ist und als solche prinzipiell der potentiellen Feindschaft von exogamen Gruppen abgerungen ist, so daB man sagen kann: je mehr ein Paar einer ursprunglich feindlichen Beziehung zwischen Verwandtschaftsgruppen abgerungen ist, desto enger und stabiler ist es aneinander gebunden^l Uberschwemmung, Gast und Schwiegersohn werden hier als analoge strukturelle Ambivalenz gesehen. Es ist gut, wenn der potentiell feindliche Schwiegersohn wieder verschwindet, nachdem er die Braut genommen hat. Sein Verschwinden ist fruchtbar wie das Verschwinden des Hochwassers. Es entspricht dessen Ambivalenz: Einerseits hinterlasst es den fruchtbaren Schwemmboden, andererseits aber bringt es todliche Gefahren mit sich und verhindert, solange es anwesend ist, die Bodenbearbeitung. Ohne den Schwiegersohn keine Fruchtbarkeit, aber man muB Sorge dafiir tragen, daB seine Anwesenheit wegen ihres gleichzeitigen feindlichen Potentials begrenzt ist. Aber die Uberschwemmung von 2000 hat offensichtlich dieses Muster der Ambivalenz verlassen und eine dauerhafte Krise hinterlassen. Sie ist zwar auch gegangen wie der Schwiegersohn mit seiner Braut, aber sie hat keinen Brautpreis und keine Fruchtbarkeit, sondem Feindschaft hinterlassen. Bezeichnet der Sprecher die beiden kontrastiven Abbildungen als zutreffend, well sie diesem Auseinanderbrechen der strukturellen Ambivalenz entsprechen und nach einer iiberbordenden, gefahrlichen Uberschwemmung einen unbebaubaren verkarste^^ Es verkorpert sich darin der Reichtum, der durch den Frauentausch zwischen exogamen Gruppen in der Reziprozitat von dessen funktioneller Endogamie konstituiert wird - ein Tausch, der auf der Basis der Gebrauchswertindifferenz dem okonomischen, auf Gebrauchswertdifferenz gegriindeten Aquivalententausch konstitutionslogisch vorausgeht. ^^ Diese These laBt sich ableiten aus der in meinem Forschungsschwerpunkt entwickelten Theorie tiber die StrukturgesetzHchkeit der odipalen Triade und durch einen Vergleich zwischen Mythen schriftloser Kulturen erharten, in denen das Problem der Paarbildung ein zentrales darstellt. Die Ableitung ist kompliziert und kann hier nicht dargestellt werden.
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ten Boden zeigen? Das miiBte man aus dem ganzen Sachverhalt schlieBen, um den es geht. Aber sprachlich schlieBt sich an diese Zustimmung die Auslegung mit der Metapher des Schwiegersohnes an, die offensichtlich nur auf die gewohnliche Uberschwemmung zutrifft, die in den Bildem ja gerade nicht gezeigt worden ist. - Bin ahnliches Fehlen von sprachlicher Kontrastivitat kennzeichnet auch den AnschluB an die weitere Rede, in der es sachlich um den Kontrast der bis in die Gegenwart eine Krise hervorrufenden Uberschwemmung von 2000 zu den vorausgehenden geht. ....wir haben weniger Kraft aber mussen die Felder bestellen wir hungem den Boden im Tal kann man mit bloBen Handen nicht bearbeiten wenn wir da unterstutzt werden konnten beim Bestellen der Felder die Uberschwemmung hat das Gras verbrannt die Regenfalle 2001 haben alles wieder kaputt gemacht nirgendwo sind die Felder bestellt worden unsere einzige Unterstiitzung sind unsere Hande wir haben nichts zum Bestellen der Felder Dm: selbst Ochsen konnen wir nicht emahren das Gras ist abgebrannt
Ich nehme an, daB trotz der nicht vorhandenen sprachHchen Markierung eines Kontrastes, z.B. durch eine adversative Konjunktion oder ein entsprechendes Zeitadverb, wie z.B. „dieses Mai", am Beginn dieses Segments eine sachHche Kontrastierung vorgenommen wird. „Dieses Mai" haben wir weniger Kraft, z.B. weil man hungem muBte. Damit wird die Schwierigkeit, den Boden zu bestellen, nicht allein auf dessen Harte zurtickgefuhrt, sondem zusatzlich auf die fehlende Kraft der Bevolkerung. Es wird also die Problemschilderung stdndig ein wenig um den Hauptkern der These von dem Boden, der mit blofien Handen nicht mehr zu bearbeiten ist, variiert, um dann aber konstant auf die identische praktische Schlufifolgerung hinauszulaufen, die prdzise in der Forderung nach Unterstiitzung in Form landwirtschaftlicher Maschinen besteht, ohne dafi dies klipp und klar ausgesprochen wird. Dm fuhrt hier auf einen moglichen Einwand zusatzlich noch an, daB durch den 2001 nachfolgenden Regen die Aktivitaten so eingeschrankt wurden, so viel Zerstorung iiber den Schaden von 2000 hinaus angerichtet wurde, daB alles Gras verbrannt wurde.^"^ So konnten auch Ochsen, die man als Zugtiere ja statt der Traktoren hatte einsetzen konnen, nicht emahrt werden.^^
^"^ Hier ist wohl der folgende Zusammenhang gemeint: Unter dem Hochwasser wird das Gras tendenziell erstickt, und bevor es sich nach Abzug des Wassers erholen kann, wird es von der nachfolgenden sengenden Sonne „verbrannt". ^^ Warum die letzte Zeile von Dm in der Verschriftung nicht in den fortlaufenden Text von Dm integriert wurde, sondem eigens noch einmal mit „Dm" initialisiert wurde, ist mir nicht klar. Ich kann dem auch keine Bedeutung zumessen, zumal sich die letzte Zeile argumentativ vollstandig schltissig an den vorausgehenden Text anfligt.
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Am: man muss uns keinen Traktor schenken auch Geld fiir Benzin geniigt es ist besser als 1 Million bezahlen.
Am beschlieBt das vorliegende Transkript, aber wohl kaum die Gruppendiskussion mit einem an den „Dritten" gerichteten Kommentar zu den vorgetragenen Stellungnahmen. Er soil der Beruhigung des AuBenstehenden dienen, an den sich die Bitte um Unterstutzung letztlich von der Pragmatik der Konstellation her richtet, gleichgiiltig, ob dieser „Dritte" institutionell dafur zustandig ist oder nicht. Ein Traktor mtisse nicht geschenkt werden, so weit miisse man nicht gehen, wobei mir unklar ist, ob die Betonung bzw. Emphase auf „schenken" liegt oder auf „Traktor". Lage sie auf „Traktor", dann konnte es fiir ihn ein Geschenkaquivalent geben, lage sie auf „schenken" dann konnte die Hilfe auch in einer anderen Form bestehen, z.B. im mietkostenlosen Leihen. Ein Aquivalent wird konkretisiert: Es konne auch Geld fiir Benzin gegeben werden, um den Traktor zu betreiben. Auch eine solche Aquivalenzrelation deutet darauf hin, daB nicht an die kostenlose Vergabe von Traktoren, sondern an ein mietkostenloses Verleihen gedacht ist, worauf auch der wiederum genannte Geldbetrag von 1 Mill. Mts als Aquivalenzbetrag verweist. DaB an dieser Stelle von Am Benzin an Stelle von Diesel als Treibstoff fur Traktoren genannt wird, verweist entweder auf seine sachliche Ignoranz in Details der Agrarproduktion oder aber auf den schwer erklarbaren Umstand, daB in dieser Region tatsachlich Traktoren mit Benzinmotoren im Betrieb sind (oder aber auch auf die in diesem Punkte fehlerhafte Ubersetzung). DaB Geld fiir Benzin immer noch besser sei als 1 Million bezahlen, ist rein argumentationslogisch eine materiale Tautologie und insofern ein Scheinargument. Seine Funktion erhalt es deshalb einzig und allein aus dem Umstand, daB es aus der Sicht von Am vielleicht doch zumutbar sei, wenn die Einheimischen sich fur 1 Million einen Traktor fur Feldarbeiten leihen statt ihn umsonst zur Verfugung zu haben, sofern ihnen nur der Treibstoff bezahlt wiirde. Am begibt sich also am Ende dieses ganzen Argumentationsdurchganges sofort in die Position eines pragmatischen „bargainings", in der er allerdings zu friih Forderungshohen aufgibt, die sich zwingend an die dramatischen Krisendarstellungen anschlossen.
III. Sequenzanalyse einer zweiten Gruppendiskussion am 8.11.2002 mit 8 Teilnehmern, bestehend aus Amtstragern aus demselben Dorf in Mocambique, wiederum iiber die Folgen der Uberschwemmungskatastrophe Die im folgenden zu analysierende Gruppendiskussion fmdet zwei Monate spater zum selben Thema statt, dieses Mai allerdings mit Amtstragern einer nicht
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weiter spezifizierten Qualifikation und Funktion aus demselben Dorf. Da es um dasselbe Thema geht, kann die folgende Sequenzanalyse zum einen als willkommene Instanz der Uberpriifung der Ergebnisse der vorausgehenden Untersuchung dienen, zum anderen konnte sie im Prinzip sehr viel abgekiirzter dargestellt werden, da das aus der ersten Analyse erarbeitete Wissen als „inneres Kontextwissen" herangezogen werden konnte, sofem man beide Analysen als eine zusammenhangende Einheit auffaBte. Ich behandle jedoch die Analyse des zweiten Gruppengesprachs als von der des ersten unabhangig, benutze also deren Ergebnisse nicht zur ErschlieBung in der folgenden Sequenzanalyse, sondem fiihre sie allenfalls als Vergleich mit dem hier Erschlossenen an. Es konnen daher die beiden Analysen als voneinander unabhangige ErschlieBungen desselben Gegenstandes gelten. Es ist zu erwarten, daB die in dieser Diskussion sich auBemden Amtstrager den Standpunkt der von der Katastrophe betroffenen lokalen Gemeinschaft, der sie selbst angehoren, elaborierter und deutlicher vertreten als die Betroffenen in der vorausgehenden Diskussion und daB deshalb die folgende Analyse als Uberpriifung sich besonders eignen wird.^^ Am: (stellt die Anwesenden vor und bietet [sic!] um Wortmeldungen)
Dieses Transkript beginnt ersichtlich mit dem realen Beginn der Gruppendiskussion, dem selbstverstandlich einbettende Eroffiiungen, z.B. informelle BegrtiBungen, etc., vorausgegangen sein konnen. Wiederum gibt es offensichtlich einen Anfiihrer der Diskutanten, dessen Funktion sich hier in der formellen Eroffnung der Sitzung kundtut, die aus der Vorstellung der Anwesenden besteht. Eine solche Vorstellung setzt voraus, was wir schon - aus anderen Griinden - bei der vorausgehenden Gruppendiskussion unterstellen mussten: DaB es, mit dem AnlaB der Gruppendiskussion zusammenhangend, einen Fremden oder „Dritten", also einen AuBenstehenden in Relation zu der eingeladenen lokalen Gemeinschaft von Dorfangehorigen gibt, der hier ersichtlich den Eingeladenen nicht bekannt ist und dem seinerseits die Eingeladenen nicht als bekannt vorausgesetzt werden konnen, sonst ware die Vorstellung unnotig. Von dem vorstellenden ersten Sprecher Am muB angenommen werden, daB er - als Vermittler - sowohl den auBenstehenden Fremden als auch die aus dem Dorf eingeladenen Amtstrager kennt und insofem eine herausgehobene Position einnimmt, die mit der Leitung der Gruppendiskussion, zumindest aber mit ihrer Organisation maBgeblich betraut ist. Die wortliche Rede des Vorstellungsaktes ist nicht ^ Wiederum zitiere ich die editorische Uberschrift des mir vorliegenden Transkripts: „Passage: Wann ist die Katastrophe, Gruppe: Amtstrager aus dem Dorf, Gruppendiskussion vom 8. 11. 2002, Zahl der Teilnehmer: 8, Transkript: VGD2."
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verschriftet, dieser Akt nur in einer zusammenfassenden Beschreibung protokolliert. Die Transkription selbst beginnt mit einer ersten Wortmeldung eines der Amtstrager, der damit als erster der Aufforderung von Am folgt. Die Struktur des Beginns und damit die gesamte pragmatische Anlage der Veranstaltung ist hier also, wenngleich als Beginn explizit markiert, durchaus ahnlich strukturiert wie in der vorausgehenden Gruppendiskussion. Bm: vielen Dank ich mochte sagen dass das was auf dieser Seite steht (Uberschwemmung) ist alltaghch die Katastrophe ist da (Trockenheit) das ist eine groBe Katastrophe das Wasser kommt und geht und wir konnen die Felder bestellen und emten unser Leben ist da (beim Bestellen der Felder) das ist sehr wichtig denn da richten wir unser Leben ein wir konnen satt werden
Der erste Redner bedankt sich explizit far die Worterteilung. Er erweist sich damit schon - im deutlichen Unterschied zur vorausgehenden Diskussion - als getibter Diskutant. Diese Art der Einleitung gibt auch zu erkennen, daB es sich bei der Gruppendiskussion nicht so sehr um eine Erhebung zu Forschungszwecken, sondem eher um eine praktische, in die Logik administrativer Prozesse der Problembewaltigung eingespannte Veranstaltung mit von vomherein funktionsmaBig differenzierten Gesprachsrollen handelt. Der Redner behalt seinen quasi offiziellen Redestil bei, indem er explizit seinen Beitrag als das rahmt, worauf es ihm in seiner Eigenschaft - wahrscheinlich als Amtstrager - ankommt („ich mochte sagen"). Er drtickt damit seinem Beitrag den offiziellen Stempel einer protokoUarisch festzuhaltenden, den Zweck der Veranstaltung erfuUenden AuBerung auf Sofort nimmt er mit dem AuBerungsteil „das, was auf dieser Seite steht" einen deiktischen Bezug auf etwas, was alien anderen Beteiligten sichtbar vorliegt. Es wird sich um die zweigeteilte bildliche Darstellung handeln, die schon in der ersten Gruppendiskussion als Darstellung der zwei Phasen der Uberschwemmungskatastrophe zur Veranschaulichung diente. Wir haben also auch in dieser Hinsicht einen wichtigen VergleichsmaBstab zur Verfugung. In Klammern ist vom Transkribenten dieser Verweis als einer auf das linke, erste Bild, also die Darstellung des Hochwassers, eingefugt, was auch aus der ausgedriickten Sache selbst indirekt hervorgeht. Denn wir wissen schon aus der ersten Diskussion, daB die Betroffenen das Hochwasser als solches, selbst bei seinen moglichen ungewohnlichen AusmaBen, die eventuell zu fremdgestlitzten RettungsmaBnahmen notigen, fur „alltaglich", also fiir nicht iiberraschend halten. Wenn es die iiblichen Erwartungen iibersteigt (wie auf dem linken Bild dargestellt) und moglicherweise Tote fordert und eben zu RettungsmaBnahmen von auBen zwingt, dann wird das offensichtlich immer noch als „alltaglich" hingenommen, als etwas, mit dem man als Bewohner dieser Region auBersten Falles rechnen muB. Jedenfalls ist die durch ein Hochwasser selbst ungewohnten AusmaBes bedingte Krise zumin-
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dest fur diesen Sprecher noch keine Katastrophe. Die stellt sich erst bei der nachfolgenden Trockenheit ein, die, wie auf dem zweiten, rechten Bild dargestellt, auf das er in der Folge verweist, zur extremen Verkarstung des Bodens fiihrt. Das deiktische „da" verweist kontrastierend auf das zweite Bild. Dort ist dargestellt, worin die Katastrophe besteht. Mit wenigen Worten hat also dieser Sprecher prazise kontrastierend die noch zum Alltag gehorende Krise von der Katastrophe abgehoben, die auf dem zweiten Bild dargestellt ist und die, so durfen wir in Kenntnis der ersten Diskussion unterstellen, in der unerwarteten Trockenheit nach der ungewohnlich groBen Uberschwemmung von 2000 besteht und sich nun schon das zweite Jahr ungebrochen hinzieht. Damit ist sofort klar, worum es der Dorfgemeinschaft in der Krisenbewaltigung aktuell geht. In der ersten Gruppendiskussion muBte das viel mehr aus den mehr indirekten AuBerungen erschlossen werden. Vor allem war in ihnen zwischen der Tatsachendarstellung und der indirekten strategischen Zurichtung der Argumentation viel weniger gut zu trennen. Nach der AuBerung dieses Sprechers muB nicht einmal angenommen werden, was noch eine Prasupposition in der anderen Diskussion war: daB die extreme Verkarstung des Bodens ursachlich auf eine unerwartet starke Uberschwemmung zuriickgeht. Hier wird vielmehr auf eine offensichtlich ungewohnliche nachfolgende Trockenheit verwiesen. Nach der Bestatigung der Kontrastivitat der Aussage der bildlichen Darstellungen und einer einfachen, unmissverstandlichen Bestimmung der Trockenheit als der eigentlichen Katastrophe fuhrt der Sprecher kontrastiv zu dieser Katastrophe pragnant aus, in welcher alltaglichen, gewohnten Abfolge sonst die Uberschwemmungen verlaufen. Das Wasser komme und gehe. Sobald das Wasser verschwinde, so konnen wir aus dieser Darstellung von RegelmaBigkeit erschlieBen, konne man die Felder bestellen. Anbau und Ernte seien dann problemlos moglich und das sei die Lebensgrundlage der lokalen Gemeinschaft. Der Sprecher zeichnet damit auch in wenigen pragnanten Strichen das Bild einer an die konkreten kleinraumigen Naturverhaltnisse angepassten Subsistenzwirtschaft. Im AuBerungsteil „emten unser Leben da" verweist wiederum das deiktische „da" auf das rechte Bild. Das ist insofern interessant, als die konkrete Darstellung j a die Katastrophe trifft, also gerade den Zustand des Bodens, der keine Feldbestellung und keine problemlose Abfolge von Anbau und Ernte mehr erlaubt. Der Sprecher verwendet also wie selbstverstandlich in einem Schritt erheblicher Abstraktion den Bezug zur Zeichnung argumentativ als Bezug zu dem Zustand, der einer Uberschwemmung wie selbstverstandlich folgen miiBte, aber nach 2000 nicht gefolgt ist, wobei er den Bezug zur Uberschwemmung von 2000 wie selbstverstandlich als gegebenes gemeinsames Kontextwissen unter-
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stellt und auch aufgrund der Zweckbestimmung der Gruppendiskussion offensichtlich unterstellen kann. Yl: meinen Sie damit dass sie wahrend einer Uberschwemmung keine Unterstiitzung brauchen?
Um wie viel klarer und praziser diese Katastrophenbestimmung aufgrund der Explizitheit der Rede hier ist als in der gesamten ersten Gruppendiskussion, mag man daran ermessen, daB sich hier sofort der auBenstehende „Dritte", YP^, einschaltet, und zwar mit einer Frage zur impliziten praktischen SchluBfolgerung und strategischen Absicht hinter der These des Sprechers. Ganz analog zur objektiven Hermeneutik unterscheidet Yl hier klar zwischen dem objektiven Sagen und dem subjektiven Meinen von etwas. Was objektiv gesagt wurde, hat er gehort, was aus der objektiven Bedeutung des Gesagten erschlieBbar subjektiv gemeint war, dessen mochte er sich explizit vergewissern. Darauf kommt es ihm an. Und darauf muB es vor allem demjenigen ankommen, der iiber die HilfsmaBnahmen zur Bewaltigung einer Katastrophe in der Region dieser lokalen Gemeinschaft zu befmden oder sich zu informieren hat. Wenn ndmlich, wie der Redner ausgefuhrt hatte, die aufdem linken Bild dargestellte Uberschwemmung, selbst in diesen exorbitanten Ausmafien, „alltdglich'' ist, dann liegt es nahe, dem Redner zu unterstellen, er fordere fUr die Bewaltigung der Uberschwemmung selbst keine Unterstiitzung. Bm: die Leute finden Zuflucht hier oben dass es zum Tode kam hat nichts mit der Uberschwemmung zu tun die Leute haben einfach zu spat auf die Nachricht reagiert sie sind an fruhere Uberschwemmungen gewohnt sie haben gedacht es wird so sein normalerweise stecken wir ein Pfeil in den Boden und kontroUieren den Wasserstand im Tal gibt es einige Berge wo wir uns retten konnen selbst 1955 sind viele dort geblieben sie sind nicht weggegangen aber diesmal war die Uberschwemmung anders 1977 blieben viele im Tal diese Uberschwemmung (2000) hat alles ubertroffen das Stecken von Pfeilen hat sehr wenig geholfen das war nicht die iibliche Uberschwemmung
Der Sprecher Bm hat die Einschaltung von Yl sehr gut verstanden. Er geht vorsichtigerweise nicht direkt auf sie ein, denn ihre SchluBfolgerung konnte mit dem darin angesonnenen Unterstutzungsverzicht fur die lokale Gemeinschaft prekar werden. Bm hat mit seinem scharfen, prazisen Kontrast ja zunachst, ahnlich wie die BeteiHgten der ersten Gruppendiskussion, darauf hinweisen wollen, daB der Schwerpunkt der Unterstiitzungsbedurftigkeit in der Bewaltigung der Folgen der Verkarstung des Bodens bestehen miisse. Statt dessen beantwortet er die Einschaltung mit einer langen, ausfiihrlichen Interpretation der ^^ Offensichtlich sind die Transkribenten einer Regel gefolgt, der gemaB die der lokalen Gemeinschaft nicht zugehorigen „Dritten" oder Fremden sukzessive mit den Buchstaben des lateinischen Alphabets von dessen Ende her eingefiihrt werden.
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Problemlage. Er weist indirekt darauf hin, daB die Uberschwemmungen insofera alltaglich sind, als die im FluBtal davon Betroffenen normalerweise „hier oben", also in der Ansiedlung auf der Anhohe, wo auch die Gruppendiskussion stattfmdet, „Zuflucht" fmden konnen, er verweist also auf eine Routine der Krisenbewaltigung. DaB es - dieses Mai, so miissen wir wohl erganzen - zu Todesfallen kam, habe mit der Uberschwemmung nichts zu tun gehabt. Das ist nun ein sehr merkwiirdiges Argument, weil ja diese Todesfalle faktisch hochstwahrscheinlich direkte Folgen der Uberschwemmung waren: also Ertrinken und todliche Verletzungen durch im Wasser treibende Gegenstande. Der Sprecher macht im folgenden indirekt klar, was er faktisch meint: Der Tod infolge der Uberschwemmungen sei nicht zwingend gewesen, nicht notwendig. Wenn namlich die Leute friiher auf die Nachricht, d.h. auf die von auBen, wahrscheinlich tiber Radio oder Flugblatter kommenden Wamungen reagiert hatten, waren sie auch nicht zu Tode gekommen. Und sie haben auf diese Wamungen nicht reagiert, weil sie ihren Gewohnheiten und ihrem Erfahrungswissen gefolgt sind und mehr getraut haben als den von auBen, d.h. von Fremden, die gar nicht in der konkreten Lebenswelt ihrer lokalen Gemeinschaft verankert sind, stammenden Informationen, die sie far abstrakt und unzutreffend, eben nicht konkret erfahrungsgesattigt gehalten haben. Insofem ist also fiir den Sprecher die eigentliche Ursache fiir die Todesfalle das Nicht-Befolgen der Wamungen und nicht die Uberschwemmung selbst. Darin liegt nattirlich eine gewisse Inkonsequenz, die sich wie folgt auflosen laBt: Die Uberschwemmung von 2000 ist namlich auch fiir diesen Sprecher insofem nicht „alltaglich" gewesen, als sie - zugegebenermaBen - die dem Erfahmngswissen der lokalen Gemeinschaft entsprechenden Erwartungen weit iiberschritten hat. DaB namlich die Wamungen von auBen erfolgen mussten, war schon ein Zeichen fur die AuBeralltaglichkeit dieser Uberschwemmung. Aber ganz offensichtlich legt der Redner MaBstabe an, die das naive Vertrauen in das lokale Erfahrungswissen schon (iberwunden und iiberschritten haben. Man muB eben den letztlich auf methodischen Geltungskriterien wissenschaftlicher Analyse bemhenden universalistischen Datenanalysen mehr Vertrauen schenken als diesem lokalen Erfahrungswissen, das damit tendenziell entwertet wird. Und der Sprecher sagt damit auch, daB die auf die Uberschwemmungen bezogenen Wamungen von auBen schon eine hinreichende Unterstiitzung bei ungewohnten Uberschwemmungen sind. Weiterer Unterstiitzungen bedarf es dann nicht, denn ein Befolgen dieser Wamungen sei ausreichend fur die Vermeidung von Todesfolgen. Das jedenfalls ist zwingend die implizite Unterstellung seiner Rede. Im weiteren geht er auf Einzelheiten des gewohnheitsmaBigen Umgangs mit den Uberschwemmungen ein, auf Praktiken der Wasserstandskontrolle, die dem lokalen Erfahrungswissen entsprechen: Das Markieren des Wasserstandes
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durch in den Boden gesteckte Pfeile. Das ist in sich ja schon eine aus einem komplexen lokalen Erfahrungswissen abgeleitete MaBnahme, die der Erfahrung entspricht, daB man bei Eintreten eines Hochwassers, selbst dann, wenn man die lokale Umgebung sehr gut kennt, sehr schnell die Kontrolle iiber die tatsachliche Wasserstandshohe aufgrund der schnell durch das flieBende Wasser eintretenden Veranderungen verlieren kann. Es werden nun die ungewohnlich massiven Uberschwemmungen von 1955 und von 1977 erwahnt, fiir deren Bewaltigung jene Praktiken noch ausgereicht haben. Aber die Uberschwemmung von 2000 hat eben alles iibertroffen. Jedenfalls alle Hochwasser, die in der doch immerhin fast ein ganzes Menschenleben zurtickreichenden kollektiven Erinnerung, liber die dieser Amtstrager explizit besser verfiigt als die Mitglieder der vorausgehenden Diskussion, bis dahin registriert sind. Damit hat aber der Sprecher entgegen seiner ursprunglich weitreichenden und tendenziell die Autonomic der lokalen Kultur gegeniiber der Abhangigkeit von fremder Hilfe betonenden Interpretation der Alltaglichkeit der durch die Uberschwemmungen als solche hervorgerufenen Krisen zugeben mtissen, daB die Uberschwemmung von 2000 eben doch auBeralltaglich war, aber beztiglich der daraus folgenden Unterstiitzungserfordemisse von ihm in praktischer Hinsicht noch zur Alltaglichkeit zu zahlen ist. Interessant ist dabei der Wechsel im Gebrauch der Personalpronomen. Solange thematisch ist, daB seine lokale Gemeinschaft den Wamungen nicht gefolgt ist und damit, bomiert im eigenen Erfahrungswissen, unnotig Todesfalle in Kauf genommen hat, spricht er von den Einheimischen in der dritten Person, so als ob er selbst gar nicht dazugehorte. Er signalisiert damit die Differenz seiner eigenen Aufgeklartheit gegeniiber dem Kulturzustand der Einheimischen. Sobald er jedoch die eingespielten Praktiken zur Kontrolle des Wasserpegels detailliert schildert, wechselt er zum kollektiven „wir" als Referenz auf die Gemeinschaft, der er sich selbst auch zurechnet. Fur Bm sind also die Krisenkonstellationen (1), (2) und (3) keine Katastrophen im eigentlichen Sinne, sondern durch Routinen der eigenen Kultur zu bewdltigende Krisen. Cm: ich mochte auch was sagen jeder von uns hat seine Meinung viele denken wir haben alle die gleiche Meinung nur weil zwei Leute dasselbe sagen die Leute unten im Tal haben ihre Meinung wir hier oben auch (.)....
Die formliche Anmeldung seines Beitrages in Verbindung mit der hinzufiigenden Partikel „auch" kiindigt an, daB Cm als zweiter Redner dem ersten widersprechen bzw. dessen Beitrag um etwas Wesentliches erganzen will. Dem entspricht die dem eigentlichen Argument vorausgeschickte nichtssagende Generalisierung, jeder in der anwesenden Gemeinschaft habe seine Meinung. Diese AuBerung macht nur Sinn, wenn Cm betonen will, daB er anderer Meinung ist als sein Vorredner Bm und diesen Dissens hinter der Meinungsvielfalt diploma-
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tisch versteckt. Zugleich will er den von ihm selbst konstruierten Irrtum unterbinden, die lokale Gemeinschaft sei einer Meinung, nur weil zwei Leute dasselbe sagten. Dies ist eine typische Argumentation fiir die Strategie, eine widersprechende Meinung zu auBem und dies gegen die Befiirchtung, als querulatorischer Dissenter oder Verrater an der Gemeinschaft zu gelten, als normale Meinungsvielfalt auszugeben. Ganz offensichtlich will Cm einen Standpunkt vertreten, der dem des Vorredners Bm widerspricht. Diese Meinungsverschiedenheit wird indirekt in die zwischen den Bewohnem bzw. Siedlern unten im Tal und der lokalen Gemeinschaft „hier oben" eingefugt, wobei offensichtlich unterstellt ist, daB der vorausgehende Sprecher die Meinung derer im Tal wiedergegeben hat, wahrend er den Standpunkt der „hier oben" auf der Anhohe Siedelnden vertritt. ....eine Uberschwemmung ist eine groBe Katastrophe sowohl die Uberschwemmung als auch die Trockenhei^^ das sind grofie Katastrophen....
Man miiBte demnach erwarten, daB dieser Sprecher nicht so sehr die Uberschwemmung als solche problematisiert, weil er als Siedler auf der Anhohe vor ihr ja nicht zu fliehen braucht, sondem eher deren mittelbare Folgen. Von daher diirfte er sich aber vom Standpunkt des Vorredners kaum unterscheiden. Genau das aber tut er, wie schon vermutet. Er betont namlich, daB eine Uberschwemmung als Ganzes, in alien ihren Teilen, eine Katastrophe sei und nicht nur die nachfolgende Trockenheit. Beides, also beide in dem Doppelbild dargestellten Tatbestande, stellen Katastrophen dar. Das wird vom Sprecher mit Emphase betont. Das ist nun fur einen auf der Anhohe Siedelnden, zumal wenn er dabei auch noch einem urspninglich im FluBtal Siedelnden widerspricht, zunachst schwer nachvollziehbar, weil er ja vor der Uberschwemmung nicht eigens fliehen muB bzw. durch sie nicht obdachlos wird. Die Krisenkonstellationen (1) und (2) existieren ftir ihn also gar nicht erst. Halten wir vor allem die praktische Konsequenz dieses Widerspruchs fest: Wenn namlich die Uberschwemmung als solche, d.h. das Hochwasser, nicht als alltaglich, sondem als Katastrophe eingeschatzt wird, dann ist es auch legitim, zur ihrer Bewaltigung fremde Hilfe zu fordem. ....unser Problem ist dass wir keinen Platz haben unsere Halbseligkeiten aufzubewahren wir konnten unten im Tal die Felder bestellen und die Emte hierher bringen....
Katastrophal ist die Uberschwemmung als solche fiir den Sprecher weder wegen der Todesgefahr (Krisentyp 7) noch wegen der Zerstorung der Hiitten und Hau^ Hervorhebung im Transkript.
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ser (Krisentyp 2), sondem vor allem, well die geernteten Vorrate unten im FluBtal vernichtet werden (Krisentyp 3). Es wird also genau die Folge der Uberschwemmung als katastrophal eingeklagt, die diejenigen am meisten treffen, die auf der Anhohe siedeln, aber im FluBtal ihre Felder bestellen. Sie sind nicht von den Krisenkonstellationen (1) und (2), sondem (3) und (4) betroffen. Deshalb ist anzunehmen, daB Cm hier indirekt gegen Bm die Option fur die Einforderung von fremder Hilfe zur Bewaltigung der Krisenkonstellation (3) offen halten will. Das Problem der Gruppierung, zu der er gehort, ist entsprechend, daB kein Platz fiir die Speicherung der „Habseligkeiten", d.h. vor allem der Emte, auf der Anhohe besteht. Wenn ein solcher Platz bestiinde, dann konnte die Gruppe im Tal die Felder bestellen und die Emte nach oben ins Dorf bringen. ....dann wiirden wir die gleiche Meinung haben....
Ware diese Bedingung erfiillt, dann hatten die Siedler oben auch die gleiche Meinung wie die Siedler unten, die namlich, die vom Vorredner herausgestellt wurde, wonach die eigentliche Katastrophe die Trockenheit des Bodes nach der Uberschwemmung von 2000 sei. Das Eigentumliche an diesem Dissens ist die geringe Systematik und die Partikularitat des Urteils, die sich mit dieser Artikulation des Standpunktes verbindet. Denn wenn der Bezugsgruppe des Sprechers Cm sich die Uberschwemmung als Katastrophe auswirkt, weil sie ihre Emte nicht in Speichem auf der Hohe unterbringen konnte, dann gilt das ja fiir die Siedler im Tal mindestens ebenso, denn diese verfugen ja erst recht nicht iiber Speicher auf der Hohe. Und umgekehrt gilt ja die Bedingung, daB der Boden im Tal wegen des extremen Eintrocknens nicht mehr bearbeitet werden kann, ebenfalls fiir beide Untergmppen. Das Einzige also, was beide Gmppen unterscheidet, ist, daB die Gmppe des aktuellen Sprechers, die offensichtlich auch an der Bebauung des Talbodens partizipiert, aber auf der Anhohe siedelt, spezielle Speicher auf der Anhohe zum Katastrophenschutz benotigt und dies betont wissen will. Wir konnen also festhalten: Rein sachlich gelten die katastrophalen Folgen der Krisenkonstellation (3) fur beide Fraktionen: die im Tal und die auf den Anhohen Siedelnden, gleichermaBen, sofem sie beide im Tal die Friichte anbauen; ja, die Krisenkonstellationen (1), (2) und (3) waren far die im Tal Siedelnden sogar wesentlich gravierender. Das einzige plausible Motiv dafur, daB hier ein Sprecher der zweiten Fraktion implizite das Gegenteil davon behauptet, sehe ich darin, daB subjektiv diese Fraktion ihr - moglicherweise schon friiher, anlaBlich der Flut von 1977, spatestens aber 2000 vemrsachtes - Umsiedeln auf die sicheren Anhohen als das Andauem eines krisenhaften Provisoriums oder Sonderzustandes interpretiert, sich insofem also als Opfer einer Katastrophe sieht.
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die darin, daB sie noch nicht in den Normalzustand zumckkehren konnte, einen gravierenden Grund fiir das Einfordem fremder Hilfe anerkannt wissen will, wahrend die zum Alltag der Wohnung im Tal Zuruckgekehrten als schon diesem Krisenstatus Entronnene gesehen werden, die nur noch als an der Beseitigung der Dtirrefolgen Interessierte gelten. ....wenn die Uberschwemmung uns alles wegnimmt ist das eine Katastrophe wir brauchen einen Komspeicher wir konnten unten arbeiten und hier oben unser Leben haben ich will nur sagen dass ich sehr wohl die Katastrophe in der Uberschwemmung sehe sie ist ein Problem fiir uns und fur die Leute da unten
Nun wird die Unterstiitzungsforderung konkretisiert: Die Gruppe, die vom Sprecher vertreten wird, benotigt einen Komspeicher auf der Anhohe im Dorf, damit sie ihre Ernte sicher vor dem Hochwasser bergen kann. Fiir diese Gruppe wird klar zwischen dem „arbeiten" im Tal und dem „unser Leben haben" hier oben, d.h. im Dorf geschieden. AbschlieBend betont der Sprecher noch einmal, worauf es ihm ankam: Die Uberschwemmung als solche ist ebenfalls als eine Katastrophe zu werten, zu deren Bewaltigung und vor deren Schutz, so wird implizite herausgestellt, fremde Hilfe notig ist. Und dann wird, jenes Problem der sozialen, aber nicht sachlichen Differenz zwischen denen unten und denen oben abschlieBend aufgreifend, betont, daB - im Gegensatz zum Vorredner - fiir beide Siedlungsgruppen, die unten und die oben, nicht nur die Trockenheit des Bodens nach der Uberschwemmung, sondem diese selbst in ihren unmittelbaren Wirkungen (vor allem hinsichtlich Krisenkonstellation (3)) als katastrophal zu gelten haben. Damit wird klar, daB es zwischen den beiden Untergruppen der unten und der oben Siedelnden nach der Uberschwemmung von 2000 einen schwer einzuordnenden Dissens oder Konflikt liber die Prioritaten der aus den katastrophalen Folgen dieser Uberschwemmung sich ergebenden MaBnahmen gegeben haben muB, die von der lokalen Gemeinschaft selbst nicht realisiert werden konnen und Hilfe von auBen erforderlich machen. Zugleich muB nach dieser Uberschwemmung eine gewisse Spaltung zwischen diesen beiden Fraktionen eingetreten sein. Die „angstlicheren" oben Gebliebenen sehen ihre Situation als weiterhin hilfsbediirftig auch im Hinblick auf die Krisenkonstellation (3) Sin, weil sie nicht zur Normalsiedlungsform zuriickkehren konnten. Am: Wo siehst du denn die grofite Katastrophe? Im Wasser oder beim Bestellen der Felder? Hier sind wir im Wasser das ist unser Gast (.) unser Mais ist weggeschwemmt worden was miissen wir tun damit wir unsere Sachen wieder haben? Wir mussen wieder aufstehen hier beim Bestellen der Felder
DaB der „Moderator" bzw. Gruppendiskussionsleiter Am jetzt eingreift, deutet darauf hin, daB Cm mit seinem Widerspruch gegen Bm ein „heiBes Eisen" in-
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nerhalb der lokalen Gemeinschaft angefasst hat, das „gekuhlt" werden muB. Am stellt Cm in direkter Adressierung vor die Entscheidung, worin er die „groBte Katastrophe" sieht, im Hochwasser oder beim Bestellen der Felder. Cm hatte ja beide Zustande fiir eine Katastrophe gehalten und dabei die einseitige Einschatzung von Bm, der nur die Trockenheit des Bodens als eine Katastrophe gelten lieB, korrigiert, aber er hatte nicht eine Gewichtung der beiden Katastrophen vorgenommen, die Am ihm nun abfordert. Indem dieser das tut, will er offensichtlich seinerseits Cm zu einer Korrektur seines Urteils bringen und zumindest zu einer hoheren Gewichtung des „Katastrophenwertes" der Trockenheit des Bodens fiir die Bestellung der Felder zurtickkehren. Er zeigt dabei wieder auf die beiden Darstellungen, die ja genau die beiden Katastrophen, die Cm als gleichwertig bzw. gleich schlimm angesprochen hatte, drastisch veranschaulichen. In dieser Phase der Gruppendiskussion artikulieren die Zeichnungen schematisch pragnant die Differenz in der Einschatzung dessen, was vor allem als Katastrophe im Gefolge der Uberschwemmung von 2000 anzusehen ist und was vor allem eine entsprechende HilfsmaBnahme von auBen erforderlich macht. Hier - auf dem ersten Bild links - sei das Hochwasser, „unser Gast", also das Hochwasser in seiner ambivalenten Normalitat, das alles mitgenommen habe. Die Frage sei nun, wie man an die weggeschwemmten Sachen wieder herankame. Die Antwort darauf und die Losung des Problems seien, daB man beim erfolgreichen Bestellen der Felder und durch es wieder aus der Krise aufstehen miisse. Damit legt Am ganz klar das Hauptgewicht auf die Zukunft der Problembewaltigung der lokalen Gemeinschaft durch die Riickkehr zu einer erfolgreichen Feldbestellung. Damit ist auch die Trockenheit des Bodens, die diese Feldbestellung, wie wir aus der ersten Diskussion schon wissen, mit den traditionellen Anbaumethoden unmoglich macht, zur Hauptkatastrophe deklariert. Alle anderen Aspekte der Uberschwemmungskrise treten dahinter zurtick, vor allem wohl deshalb, weil sie in ihrer Wirkung schon der Vergangenheit angehoren, wahrend die Folgen des stark eingetrockneten Bodens anhalten. Indirekt hat also Am Cm darin zurecht gewiesen, daB er vom Wesentlichen der Zukunftsbewaltigung mit fremder Hilfe abgelenkt und damit sich nach auBen strategisch, was die erfolgreiche Einforderung fremder Hilfe anbetrifft, ungeschickt verhalten habe. Cm: habe ich die Sachen durcheinander gebracht?
Cm hat diese Zurechtweisung wahrgenommen und fragt deshalb - im Ton schuldbewuBt - ob er etwas durcheinander gebracht, also einen eventuell geordneten strategischen Plan gestort habe.
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Am: du hast recht die Uberschwemmung unser Gast kommt und totet und nimmt unseren Mais aber wie kriegen wir das wieder?
Am lenkt nach dieser hoflichen Demutsgeste sofort ein. Cm habe recht. Die Uberschwemmung als der ambivalente, weil ebenso segensreiche wie gefahrliche und feindHche Gast nehme alles mit. Aber nun sei die Frage, wie man an den weggeschwemmten Mais wieder herankame. Im Hintergrund geht es Am also primar um die Wiederbeschaffung des Hauptnahrungsmittels Mais durch den Wiederanbau und die kunftige Bestellung der Felder. Implizite plddiert damit Am auch gegen eine Nahrungsmittelhilfe von aufien, fur ihn hat die Hilfe bei der kilnftigen Feldbestellung Prioritdt und damit die Hilfe zur Selbsthilfe. Cm hatte zuvor daneben die Notwendigkeit angemessener SpeichermogHchkeiten herausgestellt, was Am als „ruckwartsgewandt" erscheinen lassen mochte, denn nun sei ja der Mais weg und es miiBte erst neuer her. Dadurch hat fur Am die Feldbestellung Vorrang. Fiir Cm aber, der dabei an kunftige Uberschwemmungen - vielleicht ahnlichen AusmaBes - denkt, ist das Anlegen von Komspeichem zur Rettung der Emte vor dem Hochwasser ebenso wichtig. Cm: das meinte ich vielleicht habe ich mich nicht richtig ausgedriickt wir miissen in der Tat arbeiten davon hangt unser Leben ab wir miissen essen 1 das ist das richtige Leben aber wir miissen unsere Emte aufbewahren falls das Wasser kommt dann kann die Emte uns helfen ^
Cm betont nun die voile Ubereinstimmung mit Am. Er fugt eine weitere Unterwerfungsgeste hinzu. Er habe sich vielleicht missverstandlich ausgedriickt. Er wiederholt dann inhaltlich zur Bekraftigung den Konsens: Es komme darauf an, dafi sie selbst etwas zum Essen produzieren. Das sei das richtige Leben. Aber dann wiederholt er insistierend nach einem adversativen „aber" seinen Standpunkt: Man mlisse die Emte aufbewahren vor dem Wasser, dann behalte man das „richtige Leben", dann helfe einem die Emte, dann habe man sich mithin selber geholfen. Zwischen Am und Cm wird also ein partiell verdeckter, hartnackiger Prioritatenstreit iiber die Einforderung fremder Hilfe ausgetragen: Soil der Bau von Kornspeichern ebenso ho he Prioritdt haben wie die Anschaffung von Landmaschinen zur Feldbestellung? Am: hier und da (Bild) was magst du am liebsten?-'
Am unterbricht Cm. So wichtig ist es ihm, in diesem verdeckten Streit die Oberhand zu behalten vor dem anwesenden „Dritten". Er setzt Cm wiedemm, eine zweite Runde der verdeckten Konfrontation einlautend, die Pistole auf die Bmst und zwingt ihn rhetorisch zu einer Entscheidung, die dieser gar nicht treffen will: Er soil sagen, was ihm lieber, d.h. wichtiger ist: Das auf dem linken
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Oder rechten Bild Dargestellte. Wortlich genommen ist diese Frage unsinnig, denn auf beiden Bildem ist eine Katastrophe, also ein nicht wiinschenswerter Zustand dargestellt. Man konnte also allenfalls fragen: Was findest Du weniger schlimm? Angesichts dieses „wortlichen Unsinns" muB die Sequenzanalyse unter der Annahme, daB die Akteure von der Pramisse ausgegangen sind, ihre Rede sei nachvollziehbar und widerspmchsfrei verstandlich, eine Art Konsistenzmaxime einfuhren. Ihr zufolge laBt sich erschlieBen, daB Am in dieser zur Entscheidung zwingenden AuBerung ausdriicken wollte, welche Katastrophenbewaltigung Cm wichtiger sei, diejenige, die auf das im linken, oder diejenige, die auf das im rechten Bild Dargestellte reagiert? Am hat zuvor ja schon klar zu erkennen gegeben, daB ihm die Bewaltigung der Katastrophe des vertrockneten Bodens am wichtigsten ist und daB er fur die Gruppe gegeniiber dem „Dritten" die dazu passende Unterstiitzung erreichen mochte. Cm gerat durch dieses Manover in eine schwierige Lage, well er nun vermeiden muB, als jemand zu erscheinen, der die lokale Gemeinschaft darin behindert, die gegenwartig vordringliche Untersttitzungsforderung wirksam vorzutragen: MaBnahmen zur Ermoglichung der Feldbestellung. Eigentiimlicherweise ist in dieser Gruppendiskussion noch mit keinem Wort von dem Inhalt solcher MaBnahmen gesprochen worden. Sie mtissen aber alien Beteiligten im Prinzip bekannt sein, damit diese Auseinandersetzung iiberhaupt gefiihrt werden kann. Aus der ersten Diskussion wissen wir, daB sie im wesentlichen in der Anschafftmg von Landmaschinen zur Bodenbearbeitung bestehen. Daruber mufi von den hier Diskutierenden in ihrer AUtagswelt, moglicherweise unter Fuhrung von Am, schon verschiedentlich - moglicherweise auch strittig - diskutiert worden
Cm: am liebsten Felder bestellen @.@
Cm kann nun nicht anders, als seinen Standpunkt aus den oben genannten Griinden ungewoUt aufzugeben und zu konzedieren, daB auch ihm, wie der von Am vertretenen Fraktion, wahrscheinlich von im FluBtal urspninglich Siedelnden, es am liebsten ware, wenn sie alle die Felder wie sonst erfolgreich wieder bestellen konnten. Das ergibt sich ganz einfach aus der Natur der Sache. Cm konnte nun zur Rettung seines Standpunktes nur noch vorbringen, daB gleichwohl langfristig es auch wichtig ware, durch den Bau von geeigneten Speicherraumen auf der Anhohe die bosen Folgen moglicher kiinftiger Uberschwemmungen vorsorglich aufzufangen. Aber die fast demagogische Altemativenkonstruktion von Am laBt ihm dazu kaum eine Chance. Die anderen Teilnehmer quittieren diesen demagogisch errungenen Sieg von Am mit einem Lachen, woraus zu schlieBen ware, daB Cm als Vertreter einer Minderheitsmeinung auf
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der Strecke geblieben ist. Gleichwohl bleibt bestehen, daB es sich bei diesem Konflikt sachlich um einen Scheinkonflikt handelt, denn die beiden Alternanten schlieBen sich j a keineswegs aus: Man kann das eine tun, ohne das andere lassen zu mtissen. Eine genuine Alternative ergibt sich erst dann, wenn far eine fremde Hilfe von vomherein begrenzte Mittel zur Verfiigung stehen und nun zu entscheiden ware, ob diese mit Prioritat fur die Anschaffung von Landmaschinen verwendet werden sollen oder fur den Bau von Speichergebauden. Das erste ist notig, damit die unmittelbaren Folgen der Katastrophe bewaltigt werden, das zweite, damit Vorsorge fiir kiinftige vergleichbare Krisen getroffen wird. Am: deshalb sagen wir die Gaste haben alles zerstort sie sind nun weg was nun? Wir wollen jetzt L Cm: das sage ich doch wir wollen unsere Felder bestellen ^
Am zieht sofort die praktische Konsequenz aus seinem rhetorischen, durch das Lachen der Gruppe besiegelten „Sieg", indem er eine explizite SchluBfolgerung einleitend mit der Konjunktion „deshalb" vorbringt: Er formuliert diese SchluBfolgerung durch „wir" als eine gemeinsame der Gruppe und offizialisiert damit im Stile eines politischen Anfiihrers seinen eigenen Standpunkt. Die damit gemeinte MaBnahme bezieht sich auf die unmittelbar anstehende Zukunft. Wiederum wird die Uberschwemmung selbst als Gast und damit als ein ambivalentes, d.h. nicht nur katastrophales Naturereignis deklariert. Jetzt werden daraus sogar mehrere Gaste, die gewissermaBen als Kollektiv eine verheerende Wirkung erzielt haben. Bevor Am die aufzustellende Forderung ausformulieren kann, die wahrscheinlich ausgehend von der vordringlichsten Notwendigkeit, die Felder bestellen zu konnen, sich der Sache nach auf die Unterstiitzung durch Landmaschinen richten soil, wie auch schon in der ersten Gruppendiskussion, wird er von Cm unterbrochen, der jetzt die Gelegenheit ergreifen will, nicht als jemand zu erscheinen, der iiber seinen Standpunkt, man brauche beztiglich der jederzeit wieder moglichen Katastrophe einer Uberflutung auch Speichergebaude, die vordringlichsten MaBnahmen aus dem Auge verliert. Deshalb fallt er Am eiligst ins Wort, um dessen voraussehbare Forderung seinerseits zu bekrafligen. Er versieht diesen seinen Standpunkt mit der expliziten Markierung, daB er nichts anderes die ganze Zeit gesagt habe und versucht so, die Ecke zu vermeiden, in die Am ihn zu stellen versucht hat. Dm: aber da war eine Frage von unserem Gast da (Yl) der gefragt hat ob uns nicht geholfen werden darf wenn die Uberschwemmung kommt mO(al
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Nun schaltet sich ein vierter Teilnehmer Dm ein und leitet seinen Beitrag mit einem adversativen „aber" ein, d.h. er widerspricht dem Ergebnis der vorausgehenden Schein-Einigung zwischen Am und Cm. Er versucht den Standpunkt von Cm noch einmal aufzugreifen und nicht untergehen zu lassen. Das tut er, indem er auf die Reaktion des „Dritten", des Yl, auf die erste AuBerung von Bm rekurriert, der darin eine mogliche Implikation des Standpunktes zu klaren versuchte, demzufolge die eigentliche Katastrophe die Austrocknung des Bodens sei und entsprechend die Katastrophenhilfe sich vor allem darauf zu beziehen habe und wahrend der Uberschwemmung selbst eine Hilfe nicht erforderlich sei. Dm formuHert diese Frage von Yl geschickt um und fiihrt sie so ad absurdum: Dieser habe gefragt, ob wahrend der Uberschwemmung nicht geholfen werden durfe, also eine Unterstiitzung verweigert werden wiirde. Diese „reductio ad absurdum" wird von den Teilnehmem sofort durch ein ausgiebiges, lang anhaltendes Gelachter quittiert. Es reagiert sehr prazise und sensibel darauf, daB Am im Grunde genommen eine falsche Alternative konstruiert hat, der zufolge die Hilfe bei der Bodenbearbeitung die Hilfe bei der Uberschwemmung ausschlieBe bzw. eriibrige. Insofem springt Dm Cm bei, indem er die Relevanz von dessen Standpunkt gegen Am mit Rekurs auf die zuspitzende Frage des Yl bestarkt: Die darauf bezogene Frage von Yl sei noch nicht beantwortet. Indem er sie durch die Umformulierung von „Unterstutzung nicht brauchen" zu „Untersttitzung nicht gewahren diirfen" mit einem sachlich absurden propositionalen Gehalt versieht, gewinnt er kontrastiv dazu die unstrittige Relevanz fiir Uberlegungen zur Beseitigung der unmittelbaren katastrophalen Folgen einer starken Uberschwemmung zuriick. Das lange Gelachter kann auch als Bestatigung fur die auBerordentliche Geschicklichkeit und den Witz dieses Manovers interpretiert werden, das die Einschaltung des „Dritten" sich geschickt zunutze macht. Dieses Gelachter verweist darauf, daB in der Kultur dieser lokalen Gemeinschaft groBer Wert auf Wortwitz und rhetorische Geschicklichkeit im Vortragen von Argumenten bei strittigen Beratungsthemen gelegt wird und dariiber hinaus Strittigkeiten mit groBer Behutsamkeit und Diplomatic ausgetragen werden. Jedenfalls konnen bei allem Streit die Anwesenden sofort in die Gemeinsamkeit des GenieBens eines Wortwitzes umspringen. Cm: die Katastrophe *Am: nein jetzt rede ich '-
Cm ist natiirlich diese Unterstiitzung durch Dm nicht entgangen. Er nimmt Anlauf zu einer Ausfuhrung, die seinen Standpunkt dazu, was alles als Katastrophe zu werten ist, deren Bewaltigung HilfsmaBnahmen von auBen erforderUch macht, weiter erlautem soil. Dabei wird er von Am, seinem argumentativen Gegenspieler, der diese Chance zunichte machen will, sofort unterbrochen. Am
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nimmt jetzt ganz autoritar seine herausgehobene Position ins Spiel bringend das privilegierte Rederecht des Anfuhrers in Anspruch und fahrt Cm schroff, aber erfolgreich iiber den Mund. Aber dieser Erfolg ist nur von kurzer Dauer, denn sofort schaltet sich Dm wieder ein und setzt sich mit einer langeren Rede zur Unterstlitzung des Standpunktes von Cm durch. Dm: ich habe nur dem beigepflichtet was er gesagt hat er hat den Eindruck erweckt als ob er alles gemischt hat er hat gesagt die Uberschwemmung sei eine Katastrophe weil sie zu einer Katastrophe wird wenn die Sachen die wir unten am Tal emten dort lassen und der Gast kommt und nimmt alles mit....
Dm geht dabei sehr diplomatisch vor, indem er scheinbar bestatigt, Dm habe alles durcheinander gebracht, wie dieser j a selbst schon demiitig als Moglichkeit konzediert hatte. Aber gleichzeitig sagt er, Cm habe nur einen entsprechenden Eindruck erweckt, als ob er alles gemischt habe. In Wirklichkeit aber habe er etwas ganz Vemiinftiges gesagt. Und das wird von Dm noch einmal prazisierend ausgefiihrt: Die Uberschwemmung als solche sei, so habe Cm gesagt, eine Katastrophe, weil sie die Emte unten im Tal mit sich nahme und vernichte. Explizit wird der Standpunkt von Cm vor allem in der pseudo-begriindenden Formulierung bekraftigt: „....sei eine Katastrophe weil sie zu einer Katastrophe wird, wenn...". Wiederum wird dieses Argument mit der Metapher der Uberschwemmung als Gast in seiner Ambivalenz belegt. Dieser zeigt sich als Feind, wenn er die ganze Emte mitnimmt. Dann namlich, so konnte man erganzen, niitzt auch die ganze Feldbestellung nichts. Der Streit kann also letztlich nur darum gehen, ob man primar MaBnahmen einleiten will, die die kiinftigen Ernten vor der Vemichtung schtitzen sollen, oder solche, die die gegenwartige Versiegelung des Bodens durch extremes Austrocknen auflockem sollen, damit eine aktuelle Feldbestellung fur eine zukiinftige Ernte wieder moglich ist. Eine einfache Uberlegung zeigt, daB beides gleichermaBen notwendig ist, aber dann, wenn knappe Ressourcen eine Entscheidung zwischen beiden Altemanten erzwingen sollte, was im ixbrigen hier in der Diskussion gar nicht geklart wird, ein letztlich untiberwindbares Dilemma entsteht, dessen pragmatische Auflosung, wie von Am angestrebt, nur von zeitlich begrenzter Wirkung sein kann. Zundchst einmal mufi man, um uberhaupt wieder etwas zu essen zu bekommen und sofern man fremde Nahrungshilfe aus Grunden der Aufrechterhaltung der Autonomie des eigenen Lebens vermeiden will, den Boden wieder fruchtbar machen. Der Bau von Komspeichern wtirde selbstverstandlich keine Nahrungsmittel herbeischaffen oder sichem. Dazu ist es beziiglich der vergangenen Ernten zu spat. Insofem hat kurzfristig die Bereitstellung knapper Mittel zur Feldbestellung absolute Prioritat. Aber langfristig niitzt der Erfolg dieser Feldbestellung nichts, wenn irgendwann wieder eine mit 2000 vergleichbare Uberschwemmung eintritt und
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die Emte vemichtet. Es ist also offensichtlich in der „community" entlang der Differenzierung von „unten" und „oben" ein Prioritatenstreit liber MaBnahmen mit verschiedenen Fristigkeiten und dariiber entstanden, ob man im Falle knapper Ressourcen alles auf die Beseitigung unmittelbar manifester Not oder auf die Vorsorge fur den Fall kiinftiger, im zeitlichen Eintreten nicht sicher prognostizierbarer weiterer Katastrophen verwenden will, ein Streit, der sich gemaB einer praktischen Logik nur kurzfristig giiltig auflosen laBt oder durch Auflosung der falschen Alternative selbst in Gestalt einer Forderung nach beiden UnterstlitzungsmaBnahmen gleichzeitig. Am's Standpunkt ist demnach kurzfristig rational, aber langfristig irrational, sofern er dazu angetan ist, die energische Forderung nach einer langfristig wichtigen Errichtung von Speichergebduden gegentiber den „Dritten " zu unterminieren. ....was brauchen wir eigentlich? Wir miissen also wenn wir unten arbeiten brauchen wir einen Platz hier oben wo wir unsere Emte aufbewahren konnen....
Ahnlich wie Am spitzt Dm nun seine Argumentation auf ihre Nutzanwendung zu mit der Frage: „Was brauchen wir eigentlich?" Das Wortchen „eigentlich" soil die Zuspitzung auf das Wesentliche markieren. Aber Dm kommt dabei inhaltlich zu einer konkurrierenden Folgerung. Die „community" derjenigen, die unten arbeiten und oben siedeln, braucht einen Speicherplatz fiir die Emte „oben" in ihrem Dorf Dm unterstutzt damit ganz klar die Forderung von Cm. ....ich will nicht sagen dass die Uberschwemmung die einzige Katastrophe ist wenn das Wasser weg ist miissen wir die Felder Bestellen aber wenn der Boden hart ist was konnen wir machen?....
Unmittelbar nach diesem Vortrag bemuht sich Dm um eine Differenzierung seines Standpunktes zur Vermeidung der schon in der Auseinandersetzung zwischen Cm und Am thematischen MiBverstandnisse. Er wolle nicht behaupten, daB die Uberschwemmung als solche die einzige Katastrophe sei. Damit betont er noch einmal die Gleichrangigkeit der beiden Katastrophen vom Typ (3) und (4), die auf den beiden Bildem kontrastiv zueinander dargestellt sind. Die Bestellung der Felder sei wichtig. Man erwartet nach dieser Vorbereitung ein adversatives „aber", das eigentlich ein Argument der Unterstlitzung der Gewichtung der Uberschwemmung als Katastrophe einleiten miiBte. Stattdessen folgt dem „aber" die ratlose Frage, was man denn machen konne, wenn der Boden hart geworden sei. So als ob man vor diesem Problem ohnehin kapitulieren miisse. ....Ich will nicht sagen dass die Leute vom Ausland uns nicht helfen sollen well in Mosambik keine Katastrophe stattfmdet doch die gibt es (auf Bild zeigend) well dort Menschenleben verloren gehen im Wasser ist auch eine Katastrophe (.) das mochte ich nun sagen
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Immer, wenn jemand die Formulierung gebraucht, „ich will nicht sagen...", dann muB man ein adversatives „aber" als nachfolgend erwarten. Mit dieser Formulierung schiitzt sich der Sprecher vor einer unerwiinschten Unterstellung. So vorausgehend, als er bei der Untersttitzung von Cm den Eindruck vermeiden wollte, er halte die Uberschwemmung als solche fiir die einzige Katastrophe. Es erfolgt hier aber kein „aber". Er will hier den tendenziell gegenteiligen Eindruck vermeiden, der mit der provokativen Frage von Yl sinngemaB iibereinstimmte: Er sei der Meinung, das Ausland brauche keine Hilfe in der Uberschwemmungskatastrophe anzubieten, weil man - wer auch immer - so tun miisse, als ob es in Mocambique keine Katastrophen gabe. Er will damit sagen, daB er als Burger von Mocambique durchaus bereit sei, die Hilfsbedtirftigkeit dieses Landes in Katastrophenfallen anzuerkennen. Wortlich spricht aus dieser Vorsorge das BewuBtsein, zu einem gewissen Nationalstolz verpflichtet zu sein. Er widerspricht damit auch den Implikationen des Standpunktes von Am und Bm im latenten Streit zwischen den beiden Fraktionen der lokalen Gemeinschaft. Er insistiert wie Cm darauf, daB die akuten Gefahrdungen und Begleiterscheinungen der Uberschwemmung unabhangig von der danach eingetretenen Trockenheit durchaus auch eine anzuerkennende Hilfsbediirftigkeit bedingen. Mit dem Verweis auf das linke Bild bekraftigt er diese Katastrophendiagnose. Sie besteht vor allem in der Lebensbedrohung (Krisenkonstellation (1)). Das sei auch eine Katastrophe. Mit diesem „auch" setzt er sich implizite von dem Standpunkt von Am und Bm ab. Ausdrticklich betont er seine eigene Position. Damit wogt die zahe Auseinandersetzung zwischen den beiden Fraktionen weiter hin und her. Em: Eine Uberschwemmung ist wie wenn man einen Gast hat der dann bei uns stirbt da muss man ihn beerdigen deine Nachbam konnen sich nicht davor driicken dir zu helfen weil das dein Gast ist du hast einen Sterbefall bei dir du musst was machen
Ein nachster Sprecher, der fiinfte. Am nicht mit gerechnet, meldet sich zu Wort und erweitert die Gast-Metapher, die der Charakterisierung der Uberschwemmungskatastrophe gedient hatte. Eine Uberschwemmung, also nicht nur die von 2000, sei nicht nur wie ein Gast, der einen heimsucht, sondem wie einer, der wahrend des Besuches stirbt. Was wird damit zum Ausdruck gebracht? Wie er explizit ausfiihrt, geht es dann darum, daB die Nachbam bei der Erledigung dieses Sterbefalles, also der Bestattung des Toten, helfen mtissen. Sie konnten sich davor nicht driicken. Damit wird eine solche Tendenz der NichtBeteiligung als moglich und problematisch unterstellt, woraus hervorgeht, daB diese Nachbarschaflshilfe durchaus auch als lastige, aber gemeinschaftlich notwendige Pflicht angesehen wird. Per Analogic soil also mit dieser Ausweitung der Metapher zum einen klar gemacht werden, daB die Krise oder Katastrophe einer Uberschwemmung die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen, das fun-
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damentale Gesetz der Reziprozitat erfullenden Solidaraktion erforderlich macht. Denn weil die Toten bestattet werden miissen, fallt auch der Gast unter die Verpflichtung der Nachbarschaftshilfe bei einem Sterbefall. Alle mussen sich dann wechselseitig unterstiitzen. Zum anderen wird jetzt die Ambivalenz der GastMetapher um den folgenden Aspekt erweitert. Korrelativ zur latenten Feindlichkeit des Gastes erscheint jetzt die latente Feindlichkeit der Toten, die man sich zuzieht, wenn man sie nicht angemessen bestattet. Im Normalfall muB man einen Gast, gerade um die latente Feindlichkeit nicht manifest werden zu lassen, gastfreundlich empfangen und beherbergen. In dem MaBe, in dem man dieser Verpflichtung nachkommt, kann man auch damit rechnen, ihn wieder loszuwerden bzw. ist er verpflichtet, die Gastfreundschaft nicht zu iiberziehen. Dabei aber kann es einem passieren, daB wahrend der Beherbergung der Gast, der damit ein Teil des eigenen Hauses geworden ist, stirbt. Dann muB man ihn bestatten wie einen eigenen Angehorigen. Denn auch der potentielle Feind muB angemessen bestattet werden.^^ In der Hauptsache, so vermute ich, will der Sprecher hier seinem Grundgeftihl von Angemessenheit Ausdruck verleihen. Wenn es zu einem solchen gesteigerten Fall kommt, daB der Gast nicht in einem angemessenen Zeitraum wieder verschwindet, sondem durch seinen Tod endgiiltig dableibt, also - um in der Logik der Metapher zu bleiben - seine Fruchtbarkeit, die an das Verschwinden notwendig gebunden ist, endgtiltig verliert, so wie diese besondere Uberschwemmung von 2000, die nicht einen fruchtbaren, sondem nicht zu bearbeitenden, toten Boden hinterlassen hat, dann mussen analog zur universalen Bestattungspflicht, in der Logik eines universalen Reziprozitats-Gebots alle Menschen zusammenstehen, dann ist man entsprechend auch legitimiert, Hilfe aus dem Ausland zu erwarten. Dann reichen die eigenen Krafte nicht mehr zur Krisenbewaltigung, dann mussen auch die Nachbam, d.h. hier: das Ausland bzw. die intemationalen Hilfsorganisationen sich beteiligen. Es geht dem Sprecher also ganz offensichtlich darum, diese Hilfe so zu legitimieren, daB ihre Gewahrleistung nicht de-autonomisierend als Anzeichen von Abhangigkeit, Unerwachsenheit, Zur-Last-Fallen u.a. gedeutet werden kann. Der Sprecher kampft also mit dem Problem, in dem sich universell alle objektiv Hilfsbedtirftigen befinden: Wie erhalte ich meine Autonomic, wenn ich durch ^^ Man miiBte hier eigentlich diese universale Pflicht der Bestattung theoretisch ableiten. Sie ergibt sich letztHch aus dem BewuBtsein von der EndHchkeit des Lebens und einer daraus zwingend folgenden nicht still stellbaren Bewahrungsdynamik. Sie wiirde zur Unertraglichkeit gesteigert werden, wenn man die Toten einfach liegen lieBe wie zu entsorgenden Miill. Deshalb ist die Bestattungspflicht als eine kulturelle Universalie anzusehen. Man muB sie analytisch von der Trauer trennen, die etwas ganz anderes ist, namlich die notwendige Reaktion auf die objektlos gewordene Bindung an andere Exemplare derselben Gattung. Trauer ist deshalb - im Unterschied zur Bestattung - auch ein Phanomen bei den subhumanen Gattungen. Vgl. dazu Oevermann (1995; 2001c; 2003b).
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Annahme von Hilfe als objektiv Hilfsbediirftiger und als zur Dankbarkeit Verpflichteter mich deklariert habe. Bei dieser auBerordentlich interessanten und aufschluBreichen Erweiterung der Metapher des Gastes hat der Sprecher explizit von Uberschwemmungen generell gesprochen. Es ist aber der Sache nach klar, daB er sich hier auf die Besonderheiten der Uberschwemmung von 2000 bezieht, die Bewaltigung ihrer katastrophalen Folgen aber in die Allgemeinheit, ja Universalitat der Reziprozitatsverpflichtung einftigt. ....wir brauchen Unterstiitzung und zwar beim Bestellen der Felder....
Nach dieser allgemeinen, in Metaphem veranschaulichten solidaritatsethischen Einleitung kommt er sofort und sehr prazise zu den konkreten Folgerungen: Die lokale Gemeinschaft braucht vor allem Unterstiitzung beim Bestellen der Felder. Mit ihren eigenen Bordmitteln schafft sie das angesichts der Verhartung des Bodens nicht mehr. ....wenn die Leute von AuBerhalb uns Hauser bauen was werden wir essen? Wollen wir in schonen Hauser verhungem? Wir mtissen arbeiten man kann Lebensmitteln von AuBen bekommen aber fiir wie lange? Wie viele Kilometer wird dieses Essen laufen? Wie viele Tage werden wir es essen?....
Diese Forderung wird nun in geschickter Kontrastierung zu der schon anlaBlich dieser Uberschwemmung von 2000 gewahrten Katastrophenhilfe untermauert. Als ob den Sprecher die Uberlegung leitet, wie man das unterstellbare Argument von auBen: „Wir haben Euch doch schon so viel Hilfe gewahrt, wann soil das ein Ende haben" entkraften kann. Dabei geht es natiirlich auch wieder darum, wie man bei Zunahme der erwarteten Hilfe die damit verbundene Gefahr der De-Autonomisierung vermeiden kann. Die einzelnen Hilfsarten werden durchdekliniert: Die Hilfe beim Wiederaufbau der Hauser (Krisenkonstellation (2)) ist sicher schon und gut, aber sie lost nicht das Problem der Nahrungsbeschaffung. Nahrungshilfe von auBen (Krisenkonstellation (3)) ist auch gut und schon, aber sie kann nicht auf Dauer gelten, irgendwann mufi die Selbstdndigkeit der lokalen Gemeinschaft durch funktionierende agrarische Selbstversorgung wiederhergesteUt sein. ....Sehen Sie wir ziehen Walder auf unseren Feldem hoch (.) das ist eine groBe Katastrophe eine Katastrophe jedoch die handelt es sich....
Die aktuelle Katastrophe, um deren Losung es nach Meinung des Sprechers im Hier und Jetzt der Gruppendiskussion gehen muB, besteht - und hier wendet er sich beschworend direkt an den „Dritten" - darin, daB auf dem Boden, der eigentlich fur die Bebauung genutzt werden miiBte, jetzt Walder entstehen, also
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die Verbuschung massiv einsetzt. „Wir ziehen Walder hoch" dramatisiert diesen Vorgang, indem es ihn in die objektive Verantwortung der lokalen Gemeinschaft stellt, als ob sie durch ihr Verurteilt-Sein zum Nichts-Tun willentlich die Verbuschung betreiben. Darin kommt sehr plastisch zum Ausdruck, wie eng die Lebenspraxis der lokalen Gemeinschaft mit der umgebenden Natur als durchaus ambivalentem, sowohl feindlichem wie lebensspendendem Partner verzahnt ist. Die Gemeinschaft ist dafur verantwortlich, was mit dem wertvollen Boden, mit dem ihre Lebenswelt bestimmenden Angebot der Natur geschieht. Dieser jetzt eingetretene Zustand der Verbuschung, so richtet der Sprecher sich jetzt indirekt auch an die eigene, in Fraktionen geteilte Gruppe, sei untragbar: Eine Katastrophe sei dies auf jeden Fall und zwar die akute. Die Ubersetzung oder die Transkription sind hier wahrscheinlich fehlerhaft. Das adversative „jedoch" ist schwerlich als motiviert zu rekonstruieren^^ wenn eine dazu erforderliche Spezifizierung dieser Katastrophe in Differenz zu irgendeiner Vorerwartung fehlt. ....um eine Katastrophe die einer Situation ahnlich ist wie wenn man sagen wiirde in diesem Haus ist jemand gestorben das erste was man da tut ist Hilfe zu leisten....
Dann stellt der Sprecher einen die Katastrophe qualifizierenden Vergleich an, indem er zu seiner Deutung dieser Katastrophe als Analogic zum Fall des sterbenden Gastes zuruckkehrt. AUerdings laBt er jetzt die Verknlipfling des Sterbefalls mit dem Gast weg und analogisiert ganz allgemein zu einem Sterbefall in einem Haus, aus dem sich die Notwendigkeit der Nachbarschaftshilfe ergibt. Worauf es ihm also ankommt, ist das Prinzip der solidarischen Hilfe der Volkergemeinschaft, wofur die Nachbarschaftshilfe ein konkret-anschauliches Beispiel ist. ....wir fangen beim Bestellen der Felder an da helfen wir weil nur das Bestellen der Felder bringt uns voran
Das Bestellen der Felder sei fur diese solidarische Hilfe der - sowohl zeitlich wie sachlich - vorrangigste Inhalt. Nur diese MaBnahme bringe - in der gegenwartigen Situation - wirklich weiter. Diese Aussage Iduft sehr klar auf eine fremde Hilfe bei der Bestellung der Felder hinaus. Und entsprechend kann sie letztlich nur in der Zur-Verfugung-Stellung von technischem Gerdt zur Feldbestellung bestehen, obwohl das in dieser Gruppendiskussion an keiner Stelle explizit gesagt wird, als ob man diese Schlufifolgerung dem Dritten Uberlassen
Am ehesten ist diese Stelle noch so aufzulosen, daB man das Segment „eine Katastrophe jedoch die" fiir eine abgebrochene Aufierung halt, und den darin begonnenen Gedanken mit „(jedoch) handelt es sich um eine Katastrophe..." fortsetzt.
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wollte, um nicht zu sehr ah Bittsteller dastehen zu miissen. Zwei sprachliche Eigenttimlichkeiten sind bei der Explikation dieser Forderung zu verzeichnen. Zum einen wird die zeitliche Reihenfolge der HilfsmaBnahmen umgedreht. Die schon gewahrten - und vom Sprecher ja selbst erwahnten - Hilfen bei der Errettung der Menschen vor dem Ertrinken (Krise (1)), beim Wiederaufbau der Behausungen (Krise (2)) und bei der Wiederbeschaffung der verlorenen Nahrung (Krise (3)) werden jetzt implizit dadurch, daB die Hilfe bei der Feldbestellung (Krise (4)) an die erste vorrangige Stelle riickt, zeitlich und sachlich nachgeordnet, als ob sie noch gar nicht erfolgt waren. Der Sprecher hat sie also als bereits vollzogene schon aus dem Auge verloren und denkt moglicherweise schon an die nachste Uberschwemmung. Zum anderen spricht er von „wir" als dem kollektiven Subjekt des Helfens, so als ob er die Gemeinschaft zur wirksamen Nachbarschaftshilfe antreiben will oder als ob er sich an die Stelle derjenigen setzen will, die die Hilfe von auBen zu gewahrleisten habe. Liegt das daran, daB er hier gewissermaBen als Amtstrager schon zum Funktionar wird? Fm: jetzt sollen die anderen mich anhoren ich will das unterstiitzen was hier schon gesagt wurde...
Zahlt man Am zur Gruppe der diskutierenden Amtstrager hinzu, dann haben zwei Teilnehmer noch nicht gesprochen. Fiir sie wird es schwierig, sich zu beteiligen, weil eigentlich alles Notwendige zur Katastropheninterpretation fiir den AuBenstehenden, von dem man Hilfe erwartet, schon gesagt worden ist. Wie Fm als siebter Sprecher sich bei seiner Wortmeldung explizit in Szene setzt, gibt zu erkennen, daB die Gruppendiskussionssituation fur alle so definiert ist, daB sich jeder beteiligen muB. Und nach Moglichkeit soil jeder sich erst dann zum zweiten Mai zu Wort melden, wenn alle einmal gesprochen haben. Fm kann kaum anders, als sich dem, was schon gesagt worden ist, anzuschlieBen. ....die Katastrophe ist tatsachlich da beim Wasser aber die friiheren Uberschwemmungen haben uns abgestumpft bis wir von dieser Uberschwemmung iiberholt wurden....
Fm ruckt die Katastrophendefmition kausal gerade. „Tatsachlich" sei die Katastrophe dort, auf dem linken Bild. Er will damit wahrscheinlich sagen, mit dem Hochwasser beginne die Katastrophenkette ihren ursachlichen Gang. Wiederum rekurriert er auf den Ausnahmecharakter dieser Uberschwemmung von 2000 und unterscheidet davon die vorausgehenden Uberschwemmungen, deren Krise sie selbstandig hatten bewaltigen konnen. Wahrend aber die anderen Diskutanten, vor allem auch in der ersten Gruppendiskussion, das bis dahin bewahrte Erfahrungswissen und die daraus folgenden Krisenbewaltigungsroutinen kontrastiv gegen die darin nicht vorhergesehene Katastrophe von 2000 setzten und
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somit als Katastrophe das erscheinen lieBen, was in diesem Erfahrungswissen keinen Platz hatte, wahrend Krisen darin durchaus vorgesehen sind, interpretiert dieser Sprecher dieses Erfahrungswissen als Folge einer Abstumpfiing, also einer unachtsamen Gewohnung. Diese Interpretation impliziert, daB man es eigentlich auch in der lokalen Gemeinschaft hatte besser wissen konnen. Man hatte sich durch das lange Ausbleiben von Katastrophen nur nicht einluUen lassen durfen. Damit wird faktisch an dieser Stelle thematisch, aus welchen Erfahrungsquellen sich welches Wissen ergeben kann. Bildet nur das lebenspraktisch Erfahrene die Erfahrungsbasis, dann hatte man von solchen Katastrophenmoglichkeiten nicht abgestumpft nur wissen konnen, wenn man sie als reale selbst erfahren hatte oder wenn weit zuriickliegende iiber Generationen als Erinnerungen und damit als historisches Wissen weitergegeben worden waren. Das ist bei oraler Tradition viel schwieriger als in einer Schriftkultur. Man kann aber auch solche realen Moglichkeiten wie in der experimentellen Forschung oder durch Daten systematisch und methodisch analysierende SchluBfolgerungen jenseits der konkreten lebenspraktischen Erfahrung simulieren und entsprechend konstruieren, so daB sie, wenn sie sich tatsachlich ereignen, nicht unerwartet kommen. Ganz offensichtlich steht der hier in Rede stehenden Kultur diese Wissensquelle nicht oder nur sehr begrenzt zur Verfiigung. Sie ist dazu auf Informationen aus einer anderen Kulturlogik angewiesen. Sehr plastisch wird das abrupte Beenden der Abstumpfiing durch eine traumatische Krise mit einem Uberholt-Werden gleichgesetzt. Die Uberholung durch die Uberschwemmung von 2000 bedeutete, daB das bis dahin relevante Erfahrungswissen beziiglich des Umgangs mit Uberschwemmungen partiell auBer Geltung gesetzt wurde. ....aber als die Katastrophe da war haben wir gesehen wie die Leute aus anderen Lander mit uns geweint haben (.) wir haben gesehen wie die Leute aus anderen Landem mit uns geweint haben wegen der Uberschwemmung dort (auf Bild zeigend) sie haben uns geholfen sie haben uns gepflegt sie haben uns emahrt sie haben Hauser fiir uns gebaut (.) und dann gingen sie fort....
Dieses im Sinne der traumatischen Krise^^ Uberrascht-Werden von etwas, was im Wissen, das grundsatzlich der Sphare der Routine zugehort, nicht vorgesehen war, hat als Katastrophe der lokalen Gemeinschaft Menschen in anderen Landem zu einem groBen Mitleid veranlaBt, aus dem heraus sie dann Hilfe fur die Losung der Krisenkonstellation (1), (2) und (3) anboten. Interessant ist hier, wie ^ Ich beziehe mich hier auf das von mir vorgeschlagene Modell von drei universellen Krisen: (1) der traumatischen Krise, in der sich die Natur- und Leiberfahrung konstituiert, (2) der Entscheidungskrise, in der sich die rehgiose Erfahrung konstituiert und (3) der Krise durch MuBe, in der sich die asthetische Erfahrung konstituiert. Vgl. Oevermann (1996c; 2001 d; 2003b; 2004c; 2005b).
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konkret der Sprecher sich die Motivation der anonymen Heifer vorstellt. Er sieht sie vor Mitleid weinen, obwohl er sie ja gar nicht hat sehen konnen. Er stellt sich die anonyme Hilfe fremder Lander als eine vor, die von konkret betroffenen, mitleidenden Menschen angeboten worden ist. Das Problem besteht nun aber darin, daB sie nach diesen Hilfen wieder fortgegangen sind und nicht gesehen haben, welche Katastrophe nun - nachfolgend als Spatwirkung der Uberschwemmung - liber die lokale Gemeinschaft hereinbrach. So gesehen besteht die Katastrophe ganz wesentlich in dem zu friihen Abbruch der auswartigen Hilfe. ....nun ist die Katastrophe da die geblieben ist die Diirre wir haben keine Kraft die Erde zu erwecken der Boden ist vertrocknet das Wasser dort hatte Kraft genug den Boden trocken zu legen (.)....
Die Katastrophe habe nach dem Weggang der Hilfe vom ersten auf das zweite Bild gewechselt, sie sei jetzt da, auf dem zweiten Bild, in Gestalt der Dtirre. DaB sie als lokale Gemeinschaft keine Kraft haben, den Boden zu „erwecken", wiederum eine Sprache der ambivalenten Partnerschaft mit der Natur, kann zum einen damit zusammengebracht werden, daB sie vor Hunger geschwacht sind, zum anderen aber - und wahrscheinlich auch eher gemeint - damit, daB ihnen die Krafte der mechanischen Maschinen, z.B. der Traktoren, fehlen. Dem Wasser wird komplementar dazu die Kraft zugeschrieben, den Boden trocken zu legen. Das ist eine eigentiimliche Deutung. Denn sie fiihrt die Verkarstung des Bodens auf eine aktive Kraft zuriick. Es hatte doch naher gelegen, diesen Vorgang als Folge des Fehlens einer aktiven Kraft zu sehen, gewissermaBen als den Vorgang eines Ersterbens. Aber es entspricht der Auffassung einer ambivalenten Natur als Partner, daB sie in ihren feindlichen Aspekten eine Kraft zur Erzeugung von Widerwartigkeiten aufwendet. Man muB ihr also in dieser Hinsicht immer entgegenwirken. Das Erwecken des Bodens durch Feldbestellung ware dann die Gegenkraft zu der des Wassers in seiner Feindlichkeit. ....deshalb sagen wir dort (auf Bild zeigend) ist die zweite Katastrophe und wir bitten die Leute von AuBerhalb uns zu helfen denn wenn sie uns verlassen werden wir absterben sie haben die Kraft die Erde zu erwecken uns miissen sie helfen beim Bestellen der Felder mit ihrer ganzen Kraft wenn sie uns einfach so verlassen dann sehen wir da die zweite Katastrophe ( )....
Der Sprecher zieht nun die Konsequenzen aus seiner Deutung. Die zweite Katastrophe sei dort, auf dem Bild rechts, zu sehen. Damit gelingt ihm auch die einzig richtige Synthese, in der sich der falsche Streit zwischen den beiden Fraktionen auflosen laBt. Man gewinnt ja nichts fiir die Bewaltigung dieser zweiten Katastrophe, wenn man die erste der Uberschwemmung selbst mit ihren unmittelbaren Folgen (die Krisenkonstellation (1), (2) und (3)) vergiBt oder verleug-
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net. Entscheidend ist, daB diese zweite Katastrophe erst spater sich bemerkbar macht, wenn die Trager der Hilfe fur die Bewaltigung der ersten Katastrophe schon wieder weg sind. Aus diesem Grund ist natiirlich die zweite Katastrophe, sozusagen die Spatfolge der ersten, im Hier und Jetzt der lokalen Gemeinschaft akut und muB unmittelbar iiberlebensnotwendig bewaltigt werden. Wenn namHch die dazu notwendige Hilfe von auBerhalb nicht erfolgt, dann ist die lokale Gemeinschaft dem Tode geweiht. „Die Leute von Aufierhalb" haben die Kraft, den Boden zu erwecken. Gemeint ist hier natiirlich: Sie verfUgen iiber die entsprechenden Maschinen. ...das sind die Worte die ich sprechen mochte (.) ich will nicht iiberziehen das was wir dort sehen (auf Bild zeigend) ist die zweite Katastrophe^^ die unser Leben verwaist die Leute von AuBerhalb konnen uns helfen wir wissen das beim Bestellen der Felder
Der Sprecher beschlieBt, in der Pragmatik eines offiziosen, tendenziell formalisierten Debattenbeitrags, seine Rede durch eine explizit markierte Koda: Er habe gesagt, worauf es ihm ankam. Und dann schlieBt er mit einer Zusammenfassung des ihm Wesentlichen, die er ihrerseits mit einer „captatio benevolentiae" einleitet: Er wolle nicht uberziehen - das kann zeitlich oder auch sachlich gemeint sein oder auf die Emphase bezogen. Was auf dem zweiten Bild, also dem rechten mit der Darstellung der Diirre, zu sehen sei, das sei die zweite Katastrophe, die - so die indirekte SchluBfolgerung - ebenso eine auswartige Hilfe erforderlich mache wie die erste Katastrophe. Diese zweite Katastrophe macht, wortlich genommen, die Lebenswelt der Gemeinschaft eltemlos, schneidet sie also von Schutz, Fiirsorge und Versorgung ab. Nur eine Hilfe von auBerhalb konne diese Lebenswelt noch retten. Man wisse, daB diese Hilfe bei der Bestellung der Felder moglich sei. Mit dieser Akzentuierung bringt Fm seine Forderung als Ableitung aus der Katastrophendiagnose prazise auf den Punkt. Zugleich schlichtet er dabei fast unmerklich und wenig herausgehoben den Streit zwischen Bm und Cm bzw. zwischen den beiden Fraktionen in der Gruppe. So wie Fm argumentiert hat, haben beide gleichermaBen recht: Zum einen ist die gegenwartig akut notwendige und vordringliche Hilfe von auBen der Einsatz von landwirtschaftlichen Maschinen bei der Bearbeitung des voUig ausgetrockneten und verharteten Bodens. Zum anderen aber ist diese seit zwei Jahren andauemde akute Katastrophe nicht die einzige (4), sondem die zweite nach der ersten, bestehend in den Krisenkonstellationen (1) bis (3). Und weil das so ist, so das zwingende Implikat dieses Beitrages, darf iiber der Hilfe ftir die Bewaltigung dieser akuten Katastrophe die Vorsorge fiir die Bewaltigung des ersten Typus von Katastrophen ^^ Hervorhebung im Transkript.
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aufgrund zu erwartender schwerer Uberschwemmungen in der Zukunfl nicht vemachlassigt oder gar vergessen werden. Mit diesem Redebeitrag hat also die Gruppendiskussion noch einmal eine Prazisiemng der Forderungen der lokalen Gemeinschaft erfahren. Es bleibt dem letzten der Gruppenmitglieder fur sein statement jetzt kaum mehr eine Moglichkeit der Scharfong oder Variation. Gm: wir wiederholen uns standig aber....
Genau dies bringt der letzte Redner in der Reihe der Abgabe der „statements" aller Diskussionsbeteiligten zum Ausdmck. Man wiederhole sich standig. Gm bekundet mit dieser Klage auch, wie geme er etwas Neues beitragen mochte. Er bekennt sich damit implizit zu einer Norm der Originalitat und der Kreativitat in der kollektiven Problembearbeitung. Das iiberleitende „aber" kann seinen adversativen Sinn eigentlich nur aus dem Kontrast zwischen dem Inhalt der Klage, sich wiederholen zu miissen, und der Tatsache beziehen, daB der Sprecher gleichwohl seiner Pflicht nachkommt, seinerseits eine Stellungnahme abgeben zu miissen. Er steht nun unter einem starken Druck, entweder etwas Neues, wenn auch nur ein kleines biBchen, beizutragen oder aber das schon Gesagte maBgeblich zu prazisieren und zu scharfen. Mit dem adversativen „aber" leitet er jedoch schon den Widerspruch ein, der darin liegt, daB er trotz dieser Einsicht seine Stellungnahme abzugeben sich verpflichtet fuhlt, also sich vor den Zwang gestellt sieht, zur beklagten Wiederholung seinerseits beizutragen. Entsprechend ist bei diesem letzten Sprecher der Runde der Druck am groBten, etwas Neues und Klarendes zum voraus schon Ausgefiihrten hinzuzufiigen. ....wenn jemand zu arbeiten anfangt das erste was er will ist essen wenn man arbeitet und nichts emtet das ist auch nichts....
Nimmt man die AuBerung fur sich, ausgegliedert aus ihrer sequentiellen Einbettung, dann driickt sie einen lapidaren Zusammenhang, fast eine materiale Tautologie aus. Unter dem Druck, etwas Neues bieten zu miissen, erhalt demnach diese lapidare Feststellung einen zentralen Stellenwert innerhalb der Festlegung einer entscheidungsbezogenen Position. Von daher lohnt es sich, die AuBerung genauer zu betrachten. Formal wird ein Bedingungsverhaltnis als eine „wenndann"-Beziehung konstruiert. Wenn jemand anfangt zu arbeiten, dann will er als erstes essen. Das Bedingungsverhaltnis ist also vor allem als ein temporales gefaBt. In dem Moment, in dem jemand mit dem Arbeiten beginnt, gemeint ist hier die Feldbestellung nach der Uberschwemmung, ist das erste, was er dann will: Essen. Nimmt man diese AuBerung wortlich, dann enthalt sie gemessen an der fiir den europaischen Okzident zentralen Norm, daB nur wer arbeitet, auch
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essen darf, die Eigentumlichkeit, daB die im Sinne des Bedingungsverhaltnisses von Arbeiten und Essen sachlich zentrale zeitliche Trennung dieser beiden Vorgange aufgehoben wird. Denn kaum, daB jemand zu arbeiten begonnen hat, will er schon essen. Normalerweise muB man zum einen schon gegessen haben, damit man mit dem Arbeiten beginnen kann, sonst hat man keine Kraft dazu, und zum anderen wurde man nicht arbeiten, wenn daraus nicht mindestes als Ergebnis erwachst, daB man danach etwas zu essen bekommt. Wir mtissen also wohl den numerischen Superlativ „erste" statt als eine zeitliche Vorrangstellung indizierend abstrakter als fur das „wichtigste", fur eine Prioritat stehend deuten. Dann ist gesagt: Das wichtigste Motiv fiir einen Arbeitseinsatz ist die Erwartung, daraus Lebensmittel zu beziehen. Im Kontext der Gruppendiskussion heiBt das naturlich ganz elementar: Die Bestellung der Felder macht - in der naturwiichsigen Logik der Subsistenzwirtschaft - nur Sinn, wenn man daraus Nahrung beziehen kann. Dies genau ist aber in der katastrophal eingetretenen Diirre nicht gewahrleistet. Man schlagt vergeblich mit der Hacke auf den harten Boden ein und das wenige, was man diesem trockenen Boden an Samen eingeben kann, gedeiht nicht. Es wird also eine lapidare Norm eingefiihrt, damit auf deren Folic die Katastrophe drastisch kenntlich wird. Denn sie besteht darin, daB der elementarste Zusammenhang zwischen Arbeitseinsatz und Erhaltung des Lebens, also die elementarste Form der Bewaltigung der Lebensnot nach der katastrophalen Uberschwemmung ohne fremde Hilfe nicht mehr gewahrleistet ist. Indirekt wird damit auch das mogliche Argument von vomherein abgewehrt, die diirrebedingt eingetretene Nahrungsknappheit konnte zu einem Teil auch durch mangelnden Arbeitseinsatz bedingt sein. Es wird mit dieser indirekten Widerlegung latent eine Rechtfertigung fiir die Einforderung fremder Hilfe geliefert. Dabei ist immer im Auge zu behalten, daB der Bedingungszusammenhang zwischen Arbeiten und Essen hier doppelt zu verstehen ist: Zum einen kann man nicht richtig arbeiten, wenn man nicht geniigend zu essen hat. Bezogen auf die akute Krise der lokalen Gemeinschaft heiBt das: Sie ist aufgrund des eingetretenen Nahrungsmangels in der Gefahr, ihre Arbeitskraft so geschwacht zu haben, daB sie aus eigener Kraft keinen Nahrungsnachschub mehr produzieren, also sich selber nicht mehr aus der Krise herausretten kann. Zum anderen ist die Bearbeitung des Bodens so unwirksam, daB die Aussicht auf die Emte von Feldfriichten zu gering ist, so daB die Arbeit zu keinem hinreichenden Ergebnis fiihrt, so sehr man sich auch anstrengt. Beides zusammen bedeutet: Der wechselseitige organische Zusammenhang von Arbeit und materieller Reproduktion einer agrarischen Selbstversorgerwirtschaft ist massiv gestort, ohne fremde Hilfe Idfit sich dieser Zusammenhang nicht mehr restituieren. Dieser allgemeine elementare Bedingungszusammenhang agrarischer Subsistenzwirtschaft wird im zweiten Bedingungssatz verallgemeinert noch einmal wiederholt und festge-
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klopft, wobei das „auch" als Hinzufugungspartikel schwer zu motivieren ist, denn es fehlt dazu die Folie dessen, was mit noch groBerer Evidenz vergleichbar nutzlos ist. Der Sprecher hat nun rhetorisch die Beweislast dafiir auf sich genommen zu zeigen, warum dieses gestorte Bedingungsverhaltnis von Arbeit und materieller Reproduktion normalerweise berechtigt zu erwarten ist und warum es jetzt, in der Katastrophe, aus dem Gleis geraten ist. ...tatsachlich ist es so dass Uberschwemmungen Gesetzen folgen sie kommen und gehen und wir miissen dann dem Wasser folgen aber diese Uberschwemmung und die andere davor °das war zu viel°....
„Tatsachlich" steht hier auch fiir „normalerweise". Gesagt wird der objektiven Bedeutung nach, daB in der gegebenen Realitat der lokalen Gemeinschaft aufgrund der Erfahrungsdaten in der Kegel, d.h. einer Gesetzlichkeit folgend, mit Uberschwemmungen gerechnet werden kann und muB, die immer mal wieder kommen, dann aber auch wieder gehen. Sie bringen Gefahren mit sich, sie haben aber auch ihr Gutes, indem sie j&'uchtbares Schwemmland hinterlassen. Man muB sich nur daran machen, diese Fruchtbarkeit durch Feldbestellung unmittelbar nach Abzug des Hochwassers zu nutzen. Aber diese Kegel- oder GesetzmaBigkeit hat bei den beiden letzten groBen Uberschwemmungen nicht mehr gestimmt. Aus dem ganz leise hingehauchten resiimierenden „das war zu viel" sprechen unmittelbar Verzweiflung und Uberforderung. ....wenn wir mit unserer Hacke den Boden bearbeiten tut sie nde-nde-nde-reri^ nichts....
In dem lautmalerischen Ausdruck fiir die Vergeblichkeit des Gebrauchs der Hacke wird diese Verzweiflung anschaulich gestaltet. So kann sie nur jemand darstellen, der die Feldbestellung wie selbstverstandlich nicht rein technisch betreibt, sondem in der dialogischen Auseinandersetzung mit der Natur. ....aber die Leute von auBerhalb haben uns gehort beim Weinen und sind zu uns gekommen sie haben uns Hauser gebaut....
Mit dem nachsten „aber" leitet der Sprecher - wiederum durch Kontrastbildung - die Verweisung auf den Ausweg aus der Verzweiflung ein. „Leute von auBerhalb", also Menschen einer anderen Kultur, haben aufgrund ihres Mitleids, das schon der Vorredner angefuhrt hatte, Katastrophenhilfe beziiglich der Krisenla-
^^ ,J^de-nde-nde-re-re'" soil den Klang wiedergeben, den das metallene Teil der Hacke von sich gibt, wenn es den Widerstand des harten Bodens spiirt (aus dem Transkript iibemommene Anmerkung).
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ge (2) geleistet. Das gibt, durch das „aber" angedeutet, Hofftiung auf vergleichbare Hilfe fiir die verbleibenden Katastrophe. ....aber was uns zu schaffen macht was uns weinen macht das ist unser Magen^^ mit unseren Fingem konnen wir den trockenen Boden nicht Bestellen....
Das nachste „aber" leitet die Darstellung der trotz dieser Hilfe verbleibenden, unbewaltigten Katastrophe des Scheitems der traditionellen Feldbestellung ein. Das hat Hunger zur Folge, fiir den der Magen als Zentralorgan des Leidensempfindens steht. Er verursacht das Weinen bei den Betroffenen, es ist nicht das Weinen des Mitleidens, auf das sich der Vorredner bezog, sondem des unmittelbaren Leidens der Betroffenen selbst. Aber im Weinen werden die Menschen von auBerhalb und die der lokalen Gemeinschaft vereinigt zu einer Gemeinschaft der Geber und Empfanger. Wiederum wird das Scheitem der traditionellen Bodenbearbeitung drastisch dramatisiert, damit die technische Hilfe urn so dringender erscheint: Wortlich genommen wird unterstellt, die der lokalen Gemeinschaft zur Verfugung stehenden Mittel der Bodenbearbeitung gingen iiber die Anwendung der bloBen Hande nicht hinaus, als ob man mit den Fingern den Boden aufzubrechen versuchen musse, als ob nicht einmal Hacken zur Verfugung stiinden. „Mit den eigenen Fingem" steht hier als Metapher fiir Handarbeit generell. Die einfachen technischen Hilfsmittel der traditionalen, eigenen Kultur zahlen angesichts der ersehnten technischen Hilfe von auBen nicht mehr als Technologic. ....wir sind alle gleichermaBen betroffen wir hier oben und die da unten unser Magen befindet sich da wo man Felder bestellt ^^^
Der Sprecher schlieBt mit einer Feststellung, die an die Gemeinsamkeit des Schicksals der beiden Fraktionen appelliert: jener, die unten im Tal siedelt und jener, die hier oben, also auf der Anhohe wohnt, aber im Tal die Felder bestellt. Im Gebrauch der Pronomen spiegelt sich eindeutig, daB der Sprecher sich zur Gruppe der letzteren zahh. Prasupponiert ist von der AuBerung auch, daB Mitglieder der ersten Gruppe gar nicht anwesend sind. Insofern ist der zu Beginn zwischen Bm und Cm aufgekommene Streit, in dem Am sich eindeutig auf die Seite von Bm stellt, schwer zu lokalisieren. Diese Gemeinsamkeit der Interessenlage durch Betroffenheit von der Dlirre und der Harte des Bodens im Tal wird abschlieBend in ein plastisches Bild gebracht: Unser Magen, d.h. das Or^^ Hervorhebung im Transkript. ^^ Mir ist nicht klar geworden, wie dieses Notationszeichen, das den Beginn einer Uberlappung markieren soil, an dieser Stelle zu verstehen ist, zumal ein komplementares Zeichen fiir das Ende der Uberlappung fehlt.
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gan, an dem sich Hunger oder Sattigung vollzieht, ist dort lokalisiert, wo die Felder bestellt werden. Hunger oder Sattigung entscheidet sich am Erfolg der Feldbestellung. Und in diesem, durch die Logik der agrarischen Selbstversorgung festgelegten Schicksal, sind sich die beiden verschiedenen Siedlungsgruppen in ihrer Angewiesenheit auf die Bodennutzung im fruchtbaren Tal gleich. Damit hat der letzte, insofern zurtickhaltendste Sprecher die gemeinsame Interessenlage der beiden Siedlungsgruppen in der Betroffenheit durch die verbliebenen Uberschwemmungsfolgen klar zusammengefaBt und die daraus sich logisch zwingend ergebende gemeinsame Forderung nach technischer Hilfe bei der Bodenbearbeitung betont, eine Forderung, die bezeichnenderweise explizit auch von ihm nicht ausgefUhrt wird, obwohl sie indirekt als unhintergehbar herausgearbeitet wird. Die Gruppendiskussion hatte somit an dieser Stelle ihren Zweck fiir die lokale Gemeinschaft auf eine eindrucksvoll geordnete und durchstrukturierte Weise erreicht. Alle Sprecher haben zu einer koharenten Stellungnahme ihren Beitrag geleistet. Am kann zufrieden sein. Bm: da ist etwas was ich erganzen mochte hier bei uns gibt es wahrend der Diirre wie die Diirre im Jahre 1983 es gibt hier kleine Bache die uns in der Vergangenheit geholfen haben wenn es nicht geregnet hat unsere Vorfahren wenn unten im Tal und hier oben alles trocken ist sie haben dann in der Nahe dieser Bache gesat 1983 konnten sie sich dadurch retten das woUte ich noch sagen
Der erste Sprecher der ersten Runde - Am als Diskussionsleiter nicht mitgezahlt - tragt nun einen Gesichtspunkt erganzend nach. Er erwahnt, daB bei friiheren Diirren, z.B. der im Jahre 1983, die bisher noch nicht erwahnt wurde, die Vorfahren, als die die vorausgehende Generation schon bezeichnet wird, sich erfolgreich zu retten versucht haben, indem sie in der Nahe kleiner Bache, die es in der Gegend gibt, angesat haben^^ Diese AuBerung kann eigentlich die erreichte Koharenz der Krisenexposition nur storen und muB vom anwesenden Dritten, dem Vertreter der anderen Kultur, als irritierend empfunden werden. Ihre Relevanz besteht ja gerade darin, daB eine Moglichkeit der Selbstrettung und damit der Entbehrlichkeit fremder Hilfe zumindest angedeutet wird. Denn es fehlt ja in der Ausfiihrung ein Hinweis darauf, daB dieser Ausweg dieses Mai nicht zur Verfiigung steht. Im Gegenteil: Da der Sprecher seine erganzende Ausfuhrung ohne einen expliziten Hinweis auf die Nicht-Gangbarkeit abschlieBt, muB der „Fremde" zunachst davon ausgehen, daB dieser Ausweg existiert. Man muB sich also irritiert fragen, was Bm eigentlich mit dieser Ergan-
' In dieser Bemerkung wird indirekt auch noch einmal unterstrichen, daB die der iibermafiigen Flut von 2000 folgende, immer noch akute Katastrophe des verharteten, unbearbeitbaren Bodens im Grunde vor allem auf eine anhaltende Diirre zuriickgeht.
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zung, die die Dringlichkeit der Fordemng nach fremder Hilfe der Sache nach zum Einsturz bringt, erreichen will, zumal er in seinem Beitrag in der ersten Runde die Dtirre als die eigentliche Katastrophe so vehement herausgestellt hat. Yl: gehen Sie jetzt dahin? Cm: jetzt ist es nicht moglich, weil alles voller Wasser ist wo kein Wasser ist ist alles trocken Bm: wir versuchen unseren Kinder (sic!) diese Sachen beizubringen aber es gibt Dinge ^ Am: die Uberschwemmung ist weg wir wollen nun iiber das Bestellen der Felder reden-' Bm: wir bemiihen uns aber der Boden ist trocken wir miissen runter gehen was gemacht werden muss ist das Bestellen der Felder.
Tatsachlich hakt der „Fremde" auch sofort mit einer Nachfrage bezuglich der Begehbarkeit dieses Ausweges ein. Die Irritation ist also ganz prazise bei ihm angekommen. Interessant ist nun, daB nicht Bm, den es eigentlich angeht, auf diese Nachfrage antwortet, sondem sein ehemaliger Kontrahent Cm, der in der ersten Runde so groBen Wert darauf gelegt hatte, daB nicht nur die jetzige Durre mit ihrer Notwendigkeit der fremden Hilfe bei der Bodenbearbeitung, sondem auch das urspriingliche Hochwasser als eine Katastrophe zu gelten habe, die fremde Hilfe erforderlich macht. Man kann hier also schlieBen, daB die Fraktionierung zwischen Bm und Cm etwas mit der Einstellung zu tun hat, die sich darin unterscheidet, wie schnell man zur Bewaltigung von Krisen fremde Hilfe in Anspruch nehmen will oder wie lange man versuchen sollte, ohne diese Hilfe auszukommen. Um so irritierender ist dann die Kontroverse zwischen Am und Cm gewesen, denn Am hatte dann nicht geniigend erkannt, daB Cm ganz auf seiner Seite steht in der Intensitat der Einforderung fremder Hilfe. Cm fahrt aus, daB der von Bm erganzte Notbehelf nicht zur Verfiigung stehe. Cm distanziert sich also wiedemm von Bm, dieses Mai aber gewissermaBen in eine andere Richtung. Man hat den Eindruck, zwischen den beiden Sprechem bestehe eine verallgemeinerte Konkurrenz z.B. im Fiihrungsanspruch innerhalb der lokalen Gemeinschaft, der sich bei jedem Diskussionsstoff tendenziell bemerkbar macht. Weil alles voller Wasser sei, gemeint sind wohl die von Bm erwahnten kleinen Bache, sei ein Ansaen nicht moglich. Und wo kein Wasser sei, sei alles trocken. Das ist keine besonders plausible Widerlegung von Bm. Denn der „Fremde" muB sich fragen, was denn nun, 2002, so anders sei als bei der Durre 1983. Auch diese Stelle verweist darauf, dafi die Notlage von 2002 zum Anlafi genommen werden soil, nun endlich den Technologieriickstand einer agrarischen Selbstversorgung der lokalen Gemeinschaft durch Einforderung fremder Katastrophenhilfe zu beseitigen. Die lokale Gemeinschaft wilrde sich damit in das Paradoxon begeben, sich durch fremde Hilfe abhdngig zu machen, um die Autonomic der Selbstversorgung aufrechterhalten zu konnen. Fur die subjektive
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Auflosung dieses Paradoxes ware es aber wichtig, die fremde Technologiehilfe als Katastrophenhilfe deklarieren zu konnen. Denn dann fiele sie unter die universale Reziprozitdts- und Solidaritdtsbindung, die alle Menschen miteinander verbindet. Wiirde man dagegen diese technologische Hilfe in Anspruch nehmen wie eine Hilfe zu einer unvermeidlichen Neuerung, dann wiirde man tendenziell damit die eigene Kultur als ilberlebt und gescheitert aufgeben. Wir stofien hier also auf ein interessantes Phdnomen. Obwohl von den beobachtbaren Folgen her die beiden eben unterschiedenen Formen von Hilfe auf dasselbe hinauslaufen und sich nicht unterscheiden lassen, haben siefilr die Gilltigkeit der eigenen kulturellen Tradition undfur das damit verbundene Selbstwertgefuhl der lokalen Gemeinschaft einen vollkommen anderen Stellenwert. Diese Feststellung verweist auf einen Aspekt, der wahrscheinlich bei einer eher technokratisch erfolgenden Entwicklungshilfe zu wenig Beriicksichtigung finden wird, weil er zumal in den betriebswirtschaftlichen Diskursen der Faktorisierung von Einflufigrofien nicht ausgedriickt werden kann. Bm laBt sich aber durch Cm nicht beirren. Er scheint gar nicht zu bemerken oder nicht bemerken zu wollen, daB er die Strategic des Nachweises der DringHchkeit fremder Hilfe bei der Feldbestellung weiter unterlaufl und in Gefahr bringt. Wenn er weiter ausfiihrt, daB zwar der Versuch untemommen werde, den Kindem „diese Sachen", d.h. die Durchfuhrung moghcher Notbehelfe, beizubringen, dann deutet er damit j a an, daB es einen solchen Notbehelf realistisch gebe, wenn er nur gewoUt wiirde. Bevor er aber dazu kommt, weitere generationenkritische Ausfiihrungen dariiber zu machen, warum diese Versuche der Tradierung scheitem („aber es gibt Dinge..."), schaltet sich Am geistesgegenwartig ein, um diese fatale Argumentation zu bremsen. - Zu vermerken ist an Bm.s Ausfiihrungen noch sein implizites Generationenmodell. Wenn er die Uberlebensstrategien der Vorfahren, die 1983 erfolgreich waren, 2002 an „unsere Kinder" weitergeben will, welcher Generation rechnet er sich dann selbst zu? Denn entweder sind die Kinder diejenigen, die fur die aktuelle Praxis der lokalen Gemeinschaft maBgeblich sind, dann ware der Sprecher selber auch schon ein Vorfahr, oder aber er gehort zur Generation der aktuellen „Macher" und berichtet nur uber eine padagogische MaBnahme. In beiden Fallen wiirde er gewissermaBen abgehoben wie ein Kritiker oder Kommentator der eigenen Kultur auftreten. Er wiirde dann als „Intellektueller" der lokalen Gemeinschaft Am erheblich Konkurrenz machen. Am.s rigorose Unterbindung des weiteren „Bramabarsierens" von Bm besteht in einer ebenso apodiktischen wie lapidaren Festschreibung des wichtigsten Punktes des bisherigen Diskussionsergebnisses. Die Uberschwemmung als solche sei kein Thema mehr, es komme jetzt darauf an, das Problem der Feldbestellung zu losen. Damit werden Bm.s erganzende Ausfiihrungen indirekt, ge-
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stiitzt iiber die in Anspruch genommene Berechtigung der schroffen RedeIntervention, fur irrelevant erklart. Bm erleidet dadurch eine erhebliche lokale AutoritatseinbuBe. Notdiirftig versucht Bm, indem er weiterredet und die harsche Unterbrechung dadurch tibergeht, seine Position zu retten. Interessant ist dabei seine einleitende Bemerkung „wir bemtihen uns". Sie schlieBt an das von ihm vorausgehend Ausgefuhrte an und kann nur meinen, daB alle Anstrengungen unternommen worden sind, durch eigene Initiative und durch eigenes Begehen von Notbehelfswegen die Katastrophe zu bewaltigen. Bm erweist sich also als jemand, der nach auBen bin, gegeniiber dem „Fremden" bemtiht ist, die lokale Gemeinschaft als moglichst wenig hilfsbedtirftig, als moglichst autonom erscheinen zu lassen. Auf gar keinen Fall soil aus seiner Sicht der Eindruck entstehen, die lokale Gemeinschaft habe nicht alle Anstrengungen zur Selbsthilfe unternommen, bevor sie fremde Hilfe in Anspruch nimmt. Das ist auch der Sinn seines Hinweises auf die Bemlihungen, die eingelebten Traditionen moglichst wirksam an die Kinder weiterzugeben. Aber er schwenkt dann im weiteren Verlauf doch deutlich auf die von Am mit Verve vertretene Generallinie ein. Jedoch enthalt wortlich genommen dieser Appell an die eigene Gruppe, „runter", d.h. ins Tal zu gehen und die Felder zu bestellen, keine Forderung nach fremder Hilfe. Der Appell ist so formuliert, daB er auch unter der Bedingung erfolgen konnte, die lokale Gemeinschaft habe bisher zu wenig Selbsthilfe betrieben und sei in der Krise zu trage gewesen. An dieser Stelle endet das mir vorliegende Transkript. Es wird wahrscheinlich die Gruppendiskussion noch nicht zuende gewesen sein. Insofem konnten weitere Protokollsegmente der beiden Gruppendiskussionen zur Uberpriifting der bisherigen Fallrekonstruktion eingesetzt werden.
IV. Zusammenfassung der sachlichen Ergebnisse der Sequenzanalyse 7. Allgemeines Wie immer ergeben detaillierte Sequenzanalysen komplexe Rekonstruktionen nicht nur einer, sondem in der Regel mehrerer Fallstrukturen, die im analysierten Protokoll zum Ausdruck kommen. Hier haben wir zumindest als Fall 1. den Umgang der lokalen Gemeinschaft mit einer auBergewohnlichen Uberschwemmungskrise, damit 2. unter diesem Gesichtspunkt die der lokalen Gemeinschaft entsprechende Kultur vor uns, wie sie 3. sich vor allem in der strategischen Selbstprasentation gegeniiber Fremden und im Umgang mit internen Strittigkeiten sich kommunikativ manifestiert. Des weiteren treten 4. partiell einzelnen
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Beteiligte in ihrer Charakteristik hervor und schlieBlich und vor allem wird 5. das konkrete Problem der Uberschwemmungskatastrophe als lebenspraktisches Problem der lokalen Gemeinschaft analysiert. Daneben fallen ganz verschiedene Einzelerkenntnisse ab, z.B. iiber die Einstellung der lokalen Gemeinschaft zur Natur, die Generalhaltung zur Entwicklungshilfe u.v.m.. Diese Diversitat von Ergebnissen ist - wie haufig unterstellt wird - nicht eine Folge oder ein Ausdruck der analytischen Ungerichtetheit der Untersuchungsweise der objektiven Hermeneutik, sondem ergibt sich zwingend daraus, daB die in einem analysierten Protokoll sich verkorpemde Lebenspraxis jeweils in ihrer Totalitat, d.h. in ihrem fallstrukturgesetzlich sich transformierenden oder reproduzierenden inneren Zusammenhang thematisch ist und sich auch real in diesem Protokoll sequentiell manifestiert. Auch wenn einen nur Teilaspekte dieser Totalitat von der wie auch immer motivierten Fragestellung der Untersuchung her vorab interessieren, ist in einer rekonstruktionslogischen Methodologie immer von der Totalitat des Falles auszugehen, denn ohne ihre Kenntnis ist die jeweils fallspezifische und das heiBt auch: historisch-konkrete innere Verzahnung der interessierenden Teilaspekte mit der gesamten Lebenswirklichkeit nicht erfaBbar. Unter Totalitat ist hier selbstverstandlich nicht die Vollstandigkeit der Erfassung einer historisch-konkreten Wirklichkeit auf der deskriptiven Ebene gemeint, sondem wird im Hegelschen Sinne die Eigengesetzlichkeit von sich historisch bildenden Lebensformen verstanden, die als strukturierte Gebilde liber ein Potential der Autonomic verfligen. Wahrend man in einem subsumtionslogischen Ansatz von vomherein solche Gebilde als bloBe Merkmalstrager unter vorgefaBte Klassifikationsbegriffe oder Variablen kodierend einordnet und damit den inneren Zusammenhang dieser realen Gebilde in Einzelheiten auflost, die man dann nur noch zu Merkmalskonfigurationen zusammenfassen kann, denen die ublichen Fallstudien entsprechen, die nichts anderes als Fallbeschreibungen sind, richten sich Fallrekonstruktionen genau auf diesen inneren Zusammenhang, der als ihre Fallstrukturgesetzlichkeit der wieder erkennbaren Erzeugung von fallspezifischen Sequenzen zugrunde liegt und sequenzanalytisch sich erschlieBen laBt. Es muB noch einmal betont werden, daB alle Ergebnisse ausschlieBlich auf SchluBfolgerungen aus den beiden Transkripten von Gruppendiskussionen beruhen, die im Verlaufe der Analyse wortlich und voUstandig zitiert werden. Weitere Informationen standen dem Autor nicht zur Verfiigung. Alle Ergebnisse sind also ohne zusatzliche Kontextinformationen aus diesen Transkripten erschlossen.
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2. Die lokale Gemeinschaft und Kultur Die lokale Gemeinschaft, die in beiden Gmppendiskussionen vertreten ist, lebt offensichtlich zu einem Teil in einem FluBtal, zu einem anderen Teil auf den Anhohen, die das FluBtal begrenzen. Beide Teile leben von den Friichten, die sie im FluBtal anbauen; im wesentlichen auch die Gruppe, die auf den Anhohen siedelt. Die Boden im FluBtal sind fruchtbar. Diese Fruchtbarkeit wird immer wieder emeuert durch Uberschwemmungen, die zwar Gefahren mit sich bringen, aber auch fruchtbares Schwemmland, so daB sich der Boden nicht erschopft. Zusatzlich bedingen die Uberschwemmungen eine fur die Agrarproduktion giinstige Durchfeuchtung und Bewasserung. Die Agrarproduktion vollzieht sich in der Logik einer Subsistenzwirtschaft, die die Autonomic per Selbstversorgung gewahrleistet. Jedenfalls scheint nicht nennenswert fur einen Markt produziert zu werden. Sie beruht technisch auf alten Traditionen der Bodenbearbeitung. Jedem Haushalt stehen im Schnitt 1,5 ha fiir die Eigennutzung zur Verfugung. Das ist wenig. Entweder erlaubt die Technologic der Bodenbearbeitung keine groBere Flache oder der Boden ist aufgrund seiner Fruchtbarkeit knapp, weil er eine vergleichsweise hohe Siedlungsdichte bewirkt hat. Die lokale Gemeinschaft strukturiert sich auf zwei Ebenen der Vergemeinschaftung, zum einen auf der elementaren Ebene von gemeinsam ihre Subsistenz erwirtschaftender Hausgemeinschaft auf der Basis von Verwandtschaft und zum anderen auf der Ebene der lokalen, zu gemeinsamer Krisenbewaltigung verpflichteter Siedlungsgemeinschaft, wahrscheinlich ebenfalls auf der Basis von Deszendenzaffiliationen. Diese lokale Gemeinschaft scheint noch keine einschneidende Modemisierung ihrer Agrarproduktion erfahren zu haben. Sie lebt, bemuht um die Aufrechterhaltung ihrer relativ stark ausgepragten Autarkic, im gleichbleibenden Rhythmus der von den Jahreszeiten diktierten Naturvorgange, an die sie sich anzupassen hat. Dieser Rhythmus scheint wesentlich gepragt zu sein durch den Wechsel von Regen- und Diirrezeiten. Mit ihm verbinden sich, so scheint es, regelmaBig auftretende Uberschwemmungen im fruchtbaren FluBtal. Die Gefahrdungen und Krisen, die sie mit sich bringen, werden in gewohnten und uberlieferten Uberlebensstrategien bewaltigt. Wenn das Wasser steigt, verlasst man das FluBtal auf die umgebenden Anhohen. Es scheint eine Siedlungsgemeinschaft zu geben, die standig im FluBtal wohnt und eine andere, die zwar auch im FluBtal Feldfriichte anbaut, aber ihren Hauptwohnsitz auf den Anhohen hat. Die iibergroBen Hochwasser von 1973 und 2000 scheinen fur diese Teilung der gesamten Siedlungsgemeinschaft, praziser: der - bezogen auf den gemeinsamen Anbau von Fruchten im Tal - Produktionsgemeinschaft, wesentlich verantwortlich zu sein: Einige sind offenbar, nachdem sie vor dem Hochwasser auf die Anhohen geflohen sind, dort wohnend geblieben, ob vorlau-
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fig Oder auf Dauer, geht aus dem Material nicht ganz eindeutig hervor. Das letztere erscheint aber wahrscheinlicher angesichts der Forderung dieser Fraktion nach Hilfe far die Errichtung von Speicherkapazitat auf den Anhohen. - Sobald nach einer Uberschwemmung das Wasser fallt, folgt man ihm, um so schnell wie moglich die durchfeuchteten, um den neu angeschwemmten fruchtbaren Boden angereicherten Acker zu bearbeiten und zu bestellen. Die in diesem Rhythmus iiblichen Uberschwemmungen werden in ihrer Ambivalenz von Bedrohung und Gefahrdung durch Hochwasser und von Quellen emeuerter Fruchtbarkeit in der Metapher des Gastes oder gar Schwiegersohnes interpretiert, deren latente Feindlichkeit man durch Gastfreundschaft bindet und mit denen man in dieser Bindung Austausch pflegt. Zuweilen aber (iberschreiten diese Uberschwemmungen das in sich durchaus krisenhafte, aber von der lokalen Lebenswelt zu bewaltigende MaB. Dann uberwiegen die feindlichen Seiten dieses Naturvorganges und die Krise der Uberschwemmung wird zur Katastrophe, die man ohne fremde Hilfe nicht mehr iiberstehen kann. Um eine solche akute Katastrophe geht es in den beiden Gruppendiskussionen, die hier jeweils in ihren Anfangen analysiert wurden. Parallel zu dieser Differenz von kulturimmanenter, lokal zu bewaltigender Krise und kulturtransformierender bzw. -gefahrdender, fremde Hilfe erfordemder Katastrophe, eine Differenz, die abhangig ist von den AusmaBen des Hochwassers, lieB sich zwischen einem kulturimmanenten, lokalen praxisabhangigen pragmatischen Erfahrungswissen, das fiir den Umgang mit dem als in der Ambivalenz des Gastes erfahrenen „normalen" Hochwasser ausreicht, und einem systematisch-methodisierten Wissen unterscheiden, das fiir die Voraussage und Bewaltigung der nur noch als zerstorerisch erfahrenen Katastrophe erforderlich ware und fehlt. Das Fehlen dieses Wissens und entsprechender Praktiken und Technologien bedingt den Einsatz fremder Hilfe der internationalen Gemeinschaft, die in ihrer Eigenart funktional sehr genau den vier verschiedenen Krisen- bzw. Katastrophenkonstellationen zugeordnet werden kann. Wenn diese Hilfe ausbleibt, wird die lokale Kultur zumindest partiell zerstort oder die Mitglieder ihrer lokalen Vergemeinschaftung verlassen sie und migrieren in die Stadte. Die Verbleibenden fordem diese Hilfe in tendenziell paradoxaler Weise, um die Autarkic ihrer Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten zu konnen, die zugleich okonomische Grundlage ihrer kulturellen Autonomic ist, die sie sich ebenfalls erhalten mochten. Insofem fordem sie in ihrem Selbstverstandnis sehr prazise eine Hilfe zur Selbsthilfe. Auf dieser Basis fordem sie der Sache nach eine Entwicklungshilfe, die analog zur professionalisierten arztlichen Hilfe gegenuber dem einzelnen Kranken nach dem Modell einer stellvertretenden Krisenbewaltigung durch wissenschaftliche Experten in einem Arbeitsbiindnis mit dem Klienten erfolgen miiBte, stattdessen aber faktisch in der Kegel nach
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dem Modell eines betriebswirtschaftlich faktorisierten rationalen Mitteleinsatzes strukturiert ist. Allerdings ist mit der Forderung nach einer solchen Entwicklungshilfe immer noch ein Folgeproblem verbunden, das von denjenigen, die ihr tradiertes lokales Leben weiterfiihren wollen, zumindest in der Gruppendiskussion nicht reflektiert wird: Sobald sie ndmlich nicht nur punktuelle unmittelbare Not ad hoc lindernde Katastrophenhilfe erfahren, sondern - wie in den Diskussionen vor allem thematisch - technologische HilfefUr die Bearbeitung des Bodens mit Maschinen, verlassen sie an dieser Stelle die Logik der Subsistenzwirtschaft und werden, allein schon aus GrUnden der Ersatzteil- und Treibstoffbeschajfung an die Kreisldufe des globalen Kapitalismus angeschlossen. Zwangsldufig findet dann auch eine immer mit der Gefahr der Fremdbestimmung verbundene rationalisierungsdynamische Transformation der lokalen Kultur statt, und eine autonome Gestaltung einer solchen rationalisierenden Transformation ist in der Kegel sehr schwierig, ware aber eine wichtige, bisher nicht geloste Aufgabe von Entwicklungshilfe. Die tradierte lokale Form der Subsistenzwirtschaft verbindet sich mit einem anthropomorphisierenden Verhaltnis zur Natur, in der diese sowohl als Feind und als Gegenspieler als auch als Quelle von Reichtum und Uberlebensbedingungen erscheint. Man muB sie entsprechend iiberlisten, aber auch mit ihr verstandnisvoU umgehen, sich ihr mimetisch und geschmeidig anpassen und auf sie horen. Wo sie Fruchtbarkeit und Reichtum verspricht, ist man diesem Potential in der Ausfiihrung entsprechender Arbeit und Pflege verpflichtet. In diesem dialogischen Umgang mit der lokalen Natur entsteht und strukturiert sich das lokale Erfahrungswissen.
3. Die tatsdchliche Krisenproblematik, tegie
ihre Deutung und die
Bewdltigungsstra-
Zwei Jahre, bevor die Gruppendiskussion stattfand, im Jahre 2000, war es zu einer iibermaBigen Uberschwemmung gekommen, auf die die Siedlungsgemeinschaft nicht vorbereitet war. Der Ablauf der Katastrophe lieB sich in vier Grundkonstellationen zerlegen, die auch die Thematisierung in der Gruppendiskussionen strukturieren. (1) Das Hochwasser, dem man normalerweise durch Flucht auf die Anhohen ausweichen kann, gefahrdet das Leben der Menschen. Sie miissen, wenn sie nicht mehr rechtzeitig auf die hoher gelegenen Regionen ausweichen konnen oder diese Anhohen nicht mehr ausreichen, von ortsfi-emden, technisch modem ausgeriisteten Hilfskraften gerettet werden. (2) Das Hochwasser zerstort die Hauser und Unterkiinfte und laBt die Bewohner ob-
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dachlos werden und zerstort ihre Einrichtungen. Diese Krisenkonstellation erfordert ebenfalls fremde Hilfe zum Wiederaufbau, einschlieBlich der Wiederherstellung von Fahrwegen. (3) Das Hochwasser vernichtet die Vorrate und die noch nicht geemteten Fruchte auf den Ackern und zieht die Geratschaften zur Feldbestellung in Mitleidenschaft. Der Gemeinschaft wird damit ihre Nahrungsbasis entzogen und sie ist auf Nahrungshilfe von auBen angewiesen. Bei normalen Uberschwemmungen scheint diese Hilfe nicht notwendig zu sein. Die (J) Gefahrdung des Lebens wird durch rechtzeitigen Rtickzug auf die umliegenden Anhohen abgewendet. (2) Die Hiitten scheinen im Tal nicht fortgeschwemmt, allenfalls beschadigt zu werden. AuBerdem betrifft dieses Problem nur die auch im Tal Siedelnden, die anderen haben ihre Behausungen ohnehin auf den Anhohen. (3) Die Vorrate lassen sich wahrscheinlich normalerweise rechtzeitig auf den Anhohen in Sicherheit bringen, ebenso die einfachen Geratschaften fiir die Agrarproduktion und das Vieh. Bei dem auBergewohnlichen Hochwasser von 2000 jedoch war in diesen drei Krisenkonstellationen fremde, offenbar intemationale Hilfe notwendig: (1) Menschenleben wurden - wahrscheinlich - durch Hubschrauber oder Boote gerettet; (2) feste Behausungen wurden errichtet und zur Verbesserung der dazu notwendigen Infrastruktur StraBen gebaut; (3) Nahrungsmittel wurden von weit her herantransportiert. Inzwischen scheinen diese Probleme weitgehend dank internationaler Hilfe gelost zu sein, jedenfalls werden diese drei Aspekte der Katastrophe gegeniiber dem noch nicht erwahnten vierten nicht mehr stark betont und sind im BewuBtsein der Betroffenen schon etwas verblasst. Lediglich von einem Teil der auf den Anhohen Siedelnden wird betont, wie wichtig die Anlage von Speicherraum auf den hoher gelegenen Flachen zur Sicherung der Emte vor kiinftigen Hochwasserkatastrophen sei. Die Gegenwart der Bevolkerung wird jedoch von einer (4) offensichtlich bisher nicht bekannten Katastrophe als direkter Folge der auBergewohnlichen Uberschwemmung von 2000 bestimmt: Aus nicht ganz klarbaren, jedenfalls der ortlichen Bevolkerung nicht geklarten Griinden ist nach dieser Uberschwemmung offenbar schon im zweiten Jahr in Folge der Boden so stark verkarstet, d.h. ausgetrocknet und verhartet, daB er mit den tradierten Handgeraten der Bodenbearbeitung (Hacken, etc.) nicht mehr bestellt werden kann, so daB nur noch wenig geemtet werden kann und die friiheren Anbauflachen groBraumig verbuscht sind. Dies wird als die eigentliche gegenwartige Katastrophe erfahren und geschildert. Ihre dringliche Darstellung in den Gruppendiskussionen gegeniiber einem Fremden, von dem man, wer auch immer es faktisch sei: der forschende Ethnologe, der ja auf jeden Fall als Veranlasser der Tonbandaufnahme anwesend gewesen sein muB, oder ein Vertreter einer internationalen Hilfsorganisation oder der nationalen Regierung, wirksame Hilfe erwartet, beinhaltet zugleich den dringlichen Wunsch nach wirksamer Hilfe, die
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als solche bezeichnenderweise nicht konkret benannt wird, die aber nur in der VerfUgbarkeit uber landwirtschaftliche Maschinen und entsprechende Zuggerdte (insbesondere Traktoren) bestehen kann, durch die eine Aufschliefiung des verkarsteten Bodens und eine Beseitigung der Verbuschung ermoglicht wurde. Die Analyse fiihrt, was die unmittelbare Katastrophenlage anbetrifft, vor allem zu dieser dringlichen Forderung. Ihr gegeniiber treten alle anderen Probleme in den Hintergrund. Vor allem diese Notlage in Gestalt des nicht mehr traditionell bearbeitbaren Bodens dominiert das Denken der lokalen Bevolkerung. Sie stellt den eigentlichen Katastropheninhalt dar, der weit iiber die bis dahin erfahrenen Krisenlagen hinausgeht. Auffdllig ist, dafi die Notlagenschilderung zwar die Forderung nach Hilfe von Auswdrts in Gestalt moderner Landwirtschaftsmaschinen logisch zwingend impliziert, diese Forderung aber in eigentUmlicher Zuriickhaltung nicht konkret ausgefUhrt wird, von wenigen vagen Andeutungen Uber die Eignung von Traktoren und deren Unbezahlbarkeit selbst als Leihmaschinen abgesehen. Die Krisen- und Katastrophendeutung durch die lokale Kultur laBt sich somit vergleichsweise klar bestimmen. Insgesamt liberstieg das Hochwasser von 2000 die auf Erfahrung beruhenden Erwartungen. Zwar gab es zum Vergleich die Erfahrung eines das NormalmaB uberschreitenden Hochwassers aus den Jahren 1955 und 1977 und einer Diirre aus dem Jahre 1983, die der dem Hochwasser von 2000 nachfolgenden in etwa entsprach, aber diese Katastrophen reichten an die von 2000 und daraus folgende nicht heran. Deshalb wurden die durchaus erfolgten Wamungen von tibergeordneten, auBerlokalen Informationsstellen, die nicht weiter benannt werden, nicht geniigend emst genommen und befolgt. Man verlieB sich mehr auf diese eigenen Erfahrungen als auf die auf abstraktem, methodisiertem Wissen beruhenden Wamungen von auBen. Das entspricht in der eigenen Deutung dem gewohnten Konzept der krisenhaften Auseinandersetzung mit den Naturkraften, mit denen man sich in ihrer Ambivalenz von Fluch und Segen listenreich auseinandersetzen muB. Im Jahr 2000 hat man sich von ihnen iiberlisten lassen. Nun ist es wenig wahrscheinlich, daB dieses katastrophale Hochwasser einzigartig in dem Sinne war, daB es in diesen AusmaBen vorher in dieser Region nie vorgekommen ist. Viel wahrscheinlicher ist, daB ein vergleichbares Vorkommen in fhiheren Zeiten nicht mehr Bestandteil der Uberlieferung und der kollektiven Erinnerung ist, weil es innerhalb der oralen Tradierung entweder mythisch tiberhoht worden oder in Vergessenheit geraten ist, jedenfalls nicht als historisches Ereignis aufgrund systematischer Archivierung und schriftlich fixierter Narration erhalten und jederzeit abrufbar. Entsprechend vage sind die kausalen Deutungen der eigentlich verbleibenden Katastrophe, des bis zur Unbearbeitbarkeit ausgedorrten und verkarsteten Bodens. Der Kontrast der letzten zu alien erinnerten vorausgehenden Uber-
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schwemmungen kulminiert in dieser Feststellung der Verodung bedeutenden Bodenverkarstung. Wie man sie sich zu erklaren hat, dariiber erfahrt man von den Eingeborenen in ihren Beitragen zur Gruppendiskussion nichts wirklich Stichhaltiges, vor allem deshalb nicht, weil an die Stelle der Steigemng eines mit jedem Hochwasser sich verbindenden Phanomens der Erdanschwemmung eine kategoriale Differenz tritt, als ob aus den sonst Fruchtbarkeit mit sich bringenden Anschwemmungen, die man auch sofort sich zunutze macht, indem man dem abflieBenden Hochwasser folgt, um sie, die frisch angeschwemmten Boden, sofort, d.h. so lange sie noch feucht sind, zu bearbeiten, ein verderbtes, undurchdringHches und abweisendes Ackerland geworden ware. Dabei kann es sich nur um die Steigerung einer grundsatzHch immer schon vorhandenen Folge von Hochwasser handeln. Denn es ist von der geologischen Beschaffenheit her natiirlich immer dieselbe Erde, die durch die sintflutartigen Regenfalle als der einzig denkbaren Ursache des Hochwassers ausgewaschen, mitgeschwemmt und im Tal abgelagert wird. Der als qualitative, kategoriale Differenz sowohl auf der Ebene der Faktizitat der Ereignisse als auch auf der Ebene des Wissens erfahrenen Differenz von lokaler Krise und globaler Katastrophe steht in der Dimension der Kausalitat ganz anders ein Kontinuum der Intensitatsauspragung prinzipiell kategorial unterschiedsloser Naturvorgange der Bodenanschwemmung und nachtraglichen Bodentrocknung gegeniiber. Verschiedene wenig plausible Hypothesen einschlieBlich derjenigen einer Art zuriickrulpsenden Verweigerung des Meeres, das Hochwasser aufzunehmen, werden angeboten, aber auch Ratlosigkeit bekundet. Durch die Analyse haben sich mehrere in sich vage Interpretationen angeboten, ohne daB zwischen ihnen entschieden werden konnte. Zum einen - und dies war die plausibelste Lesart - hat dieses exorbitante Hochwasser so viel Boden abgelagert, das aufgrund des darin fehlenden Humusgehaltes eine schnelle Austrocknung erfolgt, die zur Verkarstung fiihrt. Diese dicke Schicht neuen Bodens wird von den Eingeborenen als dicke Versiegelung der vorher schon bearbeiteten und deshalb humushaltigen Bodenschichten erfahren. Zum anderen scheint dem katastrophalen Hochwasser eine groBe Diirre gefolgt zu sein, die die Verkarstung bewirkt hat. Diese Dtirre ist aber kausal unabhangig vom Hochwasser zu sehen. Mit dem Hochwasser ergibt sich ein Zusammenhang nur insofem, als es zum Ersticken vieler Pflanzenarten gefiihrt haben kann, die danach aufgrund der Diirre verstarkt „verbrennen", ein ProzeB der mit dazu beitragen kann, die Austrocknung des Bodens zu beschleunigen. Zum dritten scheint ein dem Hochwasser irgendwann folgender Regen die dem weichenden Wasser normalerweise unmittelbar folgende Bodenbearbeitung verzogert zu haben, so daB eine rechtzeitige und aufgrund der Durchfeuchtung noch mogliche Bearbeitung vor einer Verkarstung nicht erfolgte. Aber hierfiir gibt es nur Andeutungen, und man kommt um den Verdacht nicht her-
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um, daB entsprechende Versaumnisse einer moglichen rechtzeitigen Bodenbearbeitung nicht klar benannt warden. Zum vierten schlieBlich ist es moglich, daB der viele angeschwemmte Boden aufgrund seiner hohen Feinteiligkeit und Konsistenz vergleichbar Sand das Wasser nicht gut gespeichert hat und so beschleunigt austrocknete und den alten Boden gewissermaBen versiegelte. Die Vagheit dieser Interpretationen spiegelt zugleich die Ratlosigkeit der lokalen Kultur in der kausalen Deutung der Katastrophe. Deutlich wird in beiden Gruppendiskussionen die auf gemeinsame Vorverabredung unter der koordinierenden Leitung von Am hindeutende gemeinschaftliche Strategie, fur die als dominant herausgestellte Katastrophe der Verhdrtung des Bo dens eine Hilfe in Form der Verfugbarkeit fiber Maschinen der Bodenbearbeitung inklusive von Traktoren zu fordern. Auffdllig ist dabei, wie schon erwdhnt, dafi diese Hilfe ihrem Inhalt nach nicht richtig expliziert, aber stark suggeriert wird. Bringt man dies in Zusammenhang damit, dafi der als kategorial different erfahrenen Unterscheidung von Krise und Katastrophe nur ein Kontinuum an Intensitdt der die verschiedenen Probleme verursachenden Naturvorgdnge gegenubersteht und daraus zufolgern ist, dafi die akute Katastrophe der Verhdrtung des Bodens so dramatisch neu und zuvor nicht erfahrbar, wie sie dargestellt wird, nicht gewesen sein kann, dann gelangt man zu dem Verdacht, dafi die gemeinsam verabredete Darstellungsstrategie in den Gruppendiskussionen gegeniiber dem Fremden Yl auch zum Inhalt hat, die akute Bodenbearbeitungsproblematik zum Anlafi zu nutzen, eine als Idngst ilberfdllig erachtete Mechanisierung der Agrarproduktion einzufordern. Wenn das so ware, dann Idge hier eine interessante Umbruchsituation einer lokalen Kultur vor, in der die Eingeborenen, unter welchen Einfliissen auch immer, das Prekdre ihrer fragilen Subsistenzwirtschaft angesichts sich wandelnder sozialer Umgebung, eines Wandels, der sich durch fortschreitende Globalisierung beschleunigt, immer drdngender spiiren. Gleichzeitig aber wollen sie an ihrer tradierten Kultur und sozio-okonomischen Autarkic so lange wie moglich festhalten, so dafi sie die geforderte Hilfe nicht so sehr als erzwungene Anpassung an fremde Bedingungen sehen, sondern als unumgdngliche Mafinahme, ihr tradiertes Leben fortsetzen zu konnen.
4. Die Konstellation der Gruppendiskussion und ihre Dynamik Der Verlauf der beiden Gruppendiskussionen ist bei alien Unterschieden sehr ahnlich strukturiert. Als verabredete Thematik kann erschlossen werden, welche Hilfen von auBen die lokale Siedlungsgemeinschaft zur Beseitigung der katastrophalen Folgen des unerwartet starken Hochwassers von 2000, d.h. von zwei
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Jahren vor den Gruppendiskussionen, benotigt. Die Gruppendiskussion ist eigentlich gar keine Diskussion, sondem eine gemeinschaftlicher Vortrag von Argumenten vor einer oder mehreren auswartigen, nicht weiter identifizierbaren Person(en), die aus der Sicht der Einheimischen Macht und EinfluB iiber die Gewahrung von auswartiger Hilfe haben miissen. Angefiihrt werden die Einheimischen dabei jeweils von einem „leader", der in beiden Diskussionen identisch gewesen sein kann, aber nicht sein muB, sich jedenfalls sehr ahnlich benimmt. Dieser „leader" gehort zur Seite der Einheimischen, steht aber moglicherweise auch in Verbindung mit den Auswartigen. Die sachhch homogene Thematik wird des weiteren in beiden Diskussionen strukturiert durch eine suggestive groBe zweiteilige Zeichnung, auf der links das akute Hochwasser mit seiner katastrophalen Wirkung dargestellt ist und rechts die katastrophalen Folgen der nachfolgenden Bodenverkarstung. Die erste, linke Darstellung verkorpert die Krisenkonstellationen (1), (2) und (3), die rechte, zweite die Krisenkonstellation (4). Die Beitrage werden auBerordentlich diszipliniert vorgetragen. Die Redner werden kaum unterbrochen und haben ausreichend Zeit, ihre Argumente zu entwickeln. In einer ersten Runde kommt jeder Anwesende einmal dran. Bevor nicht jeder einmal etwas vorgetragen hat, darf niemand einen zweiten Beitrag vorbringen. Von dieser Regel ist lediglich der Anfiihrer Am ausgenommen. Es herrscht also ein auBerst diszipliniertes, aber gleichzeitig auch gelassenes Diskussionsklima, in dem sich niemand bedrangt fiihlen muB und jeder respektiert wird. In der zweiten Diskussion werden die Begriindungen fiir eine exteme Hilfe etwas systematischer und expliziter vorgetragen als in der ersten. Darin mag sich ausdriicken, daB in der zweiten offensichtlich eher „Funktionare" der lokalen Kultur vertreten sind, die gewissermaBen mit einem Mandat versehen auftreten. In der zweiten Diskussion entsteht zwischen den Teilnehmem ein Konflikt, der in der ersten Diskussion nur erahnbar ist. Er entztindet sich iiber die Frage, ob exteme Hilfe nur fiir die Beseitigung der Dlirrefolgen, also der Bodenverhartung notig ist, oder auch far die anderen, jetzt schon der Vergangenheit zugehorigen katastrophalen Hochwasserfolgen. Es ist zugleich ein Konflikt daruber, was als Katastrophe von den vier verschiedenen Krisenkonstellationen letztlich zu gelten hat bzw. welche Prioritaten welchen den vier verschiedenen Konstellationen entsprechenden HilfsmaBnahmen zuzumessen sind. Dieser Konflikt ist insofem ein Scheinkonflikt, als zum einen alle sich einig sind, daB die akute Katastrophe der Bodenverhartung momentan vordringlich Hilfe erforderlich macht, zum andem aber im Hinblick auf mogliche kunftige Hochwasser ahnlichen AusmaBes eine Hilfe auch fiir die anderen Krisenkonstellationen, insbe-
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sondere die dritte, unerlaBlich sein wird, so daB man im Hinblick auf die Zukunft die eine Hilfsnotwendigkeit nicht gegen die anderen ausspielen kann. Dieser Konflikt scheint sich zu konstellieren entlang der Teilung der lokalen Kultur in diejenigen, die im Tal nicht nur anbauen, sondem auch wieder wohnen, und diejenigen, die seit dem Hochwasser entweder von 1977 oder von 2000 auf den Anhohen wohnen. Letztere sind stark an einer Hilfe zum Bau von Gebauden oder Vorrichtungen zum Speichem der Agrarprodukte interessiert. Daraus entsteht die paradoxale Konstellation, daB die erste Fraktion, die ja eigentlich, weil sie im Tal wohnt, von klinftigen Hochwasserkatastrophen viel starker bedroht ist, weniger stark auf Hilfen fur die drei ersten Konstellationen dringt bzw. diese viel weniger als Katastrophen gelten laBt, als die zweite Fraktion, die ihre vor dem unmittelbaren Hochwasser ja schon schlitzenden Wohnungen auf den Anhohen haben. Das Paradox lost sich auf, wenn man das Begehren der zweiten Fraktion darauf bezieht, daB sie ihre Situation des Siedelns auf der Anhohe als einen Bestandteil des Erleidens der Flutkatastrophe und nicht als Bedingung fur einen vorsorglichen Schutz erfahren und interpretieren und deshalb eine Art Kompensation durch fremde Hilfe benotigen. Sie waren dann in den Augen der ins Tal Zurtickgekehrten die angstlicheren und die Abweichler, in ihren eigenen Augen aber eher die Hochwasseropfer. So wird plausibel, daB diese beiden Fraktionen sich auch in der Einschatzung dessen, was als Krise und was als Katastrophe zu gelten hat, unterscheiden. Es ware nun interessant zu verfolgen, inwieweit sich diese Teilung in Zukunft weiter verfestigen und zu einer Differenzierung der lokalen Kultur fuhren wird. Wie der Konflikt in der zweiten Gruppendiskussion ausgetragen wird, wirft ein bezeichnendes Licht auf die kommunikative „Kultur" dieser Gemeinschaft. Der Anfuhrer hat einerseits eine anerkannte Autoritat, der man sich fugt. Sie hindert aber die Beteiligten nicht daran, ihm zu widersprechen. Widerspniche und Dissens werden in der Form sehr diplomatisch, aber in der Sache bestimmt vorgetragen. Wechselseitiger Respekt nimmt einen hohen Rang ein. Gleichzeitig zeigt das Gelachter der Gruppe, daB man fur eine geschickte Rhetorik und eine gewitzte Argumentation sehr empfanglich ist und sie schatzt, so daB rhetorisches Geschick in dieser Kultur ein gewichtiger EinfluBfaktor zu sein scheint und in der Charismatisierung von Flihrungsfunktionen eine bedeutsame Rolle spielt. Gleichzeitig geben die subtilen Formen der Konfliktaustragung zu erkennen, daB ein hohes MaB an Rationalitat in der argumentativen Strukturierung einer gemeinsamen Problemlosung erreicht werden kann.
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Wenn nichts verborgen bleibt - Ein Kommentar zur objektivhermeneutischen Auslegung meiner Gruppendiskussionen. Eine Stellungnahme zum Beitrag von Ulrich Oevermann Elisio Macamo
Ulrich Oevermann schlieBt seine Anmerkungen zum vorteiligen Nutzen von GesprachsprotokoUen in der Erforschung fremder Kuituren mit der Bemerkung ab, dass nichts verborgen bleibt. Man sei, so Oevermann, nicht mehr der „nachtraglichen Beschreibung eines Gesamteindmcks" ausgeliefert, den der Feldforscher wahrend seines Feldaufenthalts als Beobachter und Teilnehmer gewonnen hat". Gewiss, viel von dem was uns hin und wieder als der aus Forschung gewonnenen Erkenntnis prasentiert wird, allem voran in Afrika, beruht haufiger auf dieser „nachtraglichen Beschreibung eines Gesamteindrucks" als auf einer methodisch konsequenten und systematischen Auseinandersetzung mit den Eindriicken des Forschers. Um diesen Vorwurf zu erheben, muss man nicht unterstellen, dass Forschungsergebnisse in fremdkulturellen Kontexten moglicherweise nicht auf methodisch einwandfreier Datensammlung beruhen, die alien zuganglich waren und die eine kritische Uberpnifung erlauben wurde. Vielmehr hat die Abhangigkeit von Gesamteindriicken als Plausibilitatskriterium von Forschungsergebnissen damit zu tun, dass die sozialwissenschaftliche Praxis im Bereich der Afrikastudien Probleme hat, sich von normativen Zwangen eines praktischen Verstehens zugunsten eines methodischen Verstehens zu befreien. Ich ubemehme hier diese treffende Unterscheidung von Oevermann. Mit anderen Worten spielt „Betroffenheit" (siehe hierzu Esser 2002 in einem anderen Zusammenhang) im Bereich der Afrikastudien eine bedeutende Rolle. Dies fiihrt dazu, dass wir, die in diesem Bereich tatig sind, uns noch starker mit methodischen und erkenntnistheoretischen Fragen befassen miissen, als wir es bislang fur notwendig erachtet haben. Aber was bedeutet nun, dass nichts verborgen bleibt? Was bleibt nicht verborgen? Ulrich Oevermann bezieht dieses Fazit auf die Moglichkeit, Forschungsergebnisse anhand einer objektiven Datenlage kritisch zu iiberprufen bzw. empirische Daten frei verfiigbar fur andere Wissenschaftler zu machen. Somit geht sein Fazit weit liber die bloBe Forderung hinaus, Forschungsergebnisse auf empirische Daten zu stiitzen, die alien zuganglich sind, sondern es stellt sich die ganz dringende Frage, was wir in den Afrikawissenschaften ei-
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gentlich tun. Diese Frage wird zwar in diesem Bereich gestellt, aber oft auf andere Weise: wamm forschen wir in Afrika? Und sobald die Frage auf diese Art gestellt wird, ist klar, dass es uns schwer fallen wird, uns von Wertpramissen zu befreien, unter deren Einfluss Forscher des Fremden laut Oevermann stehen. Mit anderen Worten fehlt es an einem unvoreingenommenen Blick und eine notwendige Distanzierung von einer solchen Wertbindung. Diese Situation wird insbesondere durch die Last einer von der Entwicklungspolitik hergeleiteten anwendungsorientierten Forschung verscharft. Nicht immer ist fiir die Plausibilitat der Forschungsergebnisse eine einwandfreie Methodik entscheidend, sondem ob die Ergebnisse dem primaren Zweck dienen, entwicklungspolitische Ziele - die normativ festgelegt sind - zu erreichen. Diese Vorbemerkungen bringen mich der kritischen Auseinandersetzung mit Oevermanns Auslegung meiner Daten naher. Die hier analysierten Gesprachsprotokolle sind Gegenstand eigener Analyse gewesen und entsprechende Veroffentlichungen liegen bereits vor (vgl. Macamo 2003). Im Wesentlichen Ziehen wir die gleichen Schliisse. Im Unterschied zu Ulrich Oevermanns aufwendiger und akribischer Analyse aber habe ich mich der dokumentarischen Methode von Ralf Bohnsack (1999; u.a. 2001) bedient. Auch wenn es sich hier um kein Wettrennen handelt, bin ich schneller zum Ziel gekommen. Ich hatte keinen Startvorteil in der Form von Kontextvertrautheit, was ja auch fur die objektive Hermeneutik irrelevant, wenn nicht sogar hinderlich (vgl. Oevermanns einleitende Bemerkungen) ist. Obwohl ich in der Region geboren und aufgewachsen bin und dort seit vielen Jahren forsche, bezog ich mich vorrangig auf die im Feld hervorgebrachten Daten um die Forschungsfrage zu beantworten, wie Dorfbewohner am Limpopotal Katastrophen und Krisen wahmehmen. Auch herkommliche Ethnologen wtirden trotz ihrer Fixierung auf praktisches Verstehen irgendwann mal die gleichen Ergebnisse hervorbringen. Wichtig scheint mir also nicht die Frage zu sein, ob das Verstehen des Fremden besondere methodische Herausforderungen aufwirft, sondem die Frage, ob das, was das Fremde fremd macht das gleiche ist wie das, was Kontextignoranz (also, das von der objektiven Hermeneutik verlangte nicht Vorhandensein von Kontextwissen) ausmacht. Mit anderen Worten: wozu dient Oevermanns spannende Analyse der Gruppengesprache? Seine Antwort auf diese Frage ist, dass er damit die Irrelevanz von vorherigen Kontextinformationen zeigen will, denn diese lassen sich durch eine hermeneutische Auseinandersetzung mit den Daten selbst rekonstruieren. Das Fehlen der Kontextinformationen sei sogar Voraussetzung flir das methodische Verstehen. Der Kontext wird durch eine rekonstruktive Analyse der vorhandenen AuBerungen erschlossen. Das sehe ich nicht so, obgleich die Rekonstruktion des Kontextes anhand der Daten eine wichtige methodische Zielsetzung ist. Die objektive Hermeneu-
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tik, zumindest so wie sie hier eingesetzt wurde, zeigt nicht, dass wir methodisch auf Kontextinformationen verzichten konnen. Sie zeigt, dass bestimmte Annahmen iiber anthropologische Universalien, vor allem was Sinnbildung und Kommunikation angeht, meistens die einzigen Ressourcen sind, die Handelnde wie auch herkommliche Ethnologen haben um die Welt zu verstehen. Dabei gehen sie, wiirde ich behaupten, genauso vor wie der ahnungslose Wissenschaftler, der notgedrungen - weil er auf Kontextinformationen bewusst verzichtet sich auf das methodische Verstehen einlassen muss. Anders gesagt: das, was gesagt und getan wird, wird zum Ausgangspunkt der Hinterfragung der eigenen Verstehensfahigkeit und des eigenen Verstandnisvermogens. Verstehen wird zum Gegenstand der heuristischen Neugierde, die sich nicht unbedingt aus einem engen Kontextwissen - sprich: kulturelles Wissen - speist, sondem aus der allgemeinen Kommunikationsfahigkeit, die jeder Mensch prinzipiell besitzt. Die Sequenzanalyse scheint mir nicht eine uns fremde Welt zuganglich zu machen. Vielmehr offenbart sie - und Ulrich Oevermann gibt das mit seinem Verweis auf die Sinnstrukturiertheit der Welt zu - die Bezugsrahmen unserer Fahigkeit, die Welt wahrzunehmen und verstandlich zu machen. Um es einfach zu sagen: der Grund weshalb Ulrich Oevermann keine Kontextinformationen braucht ist nicht, weil ihm die objektive Hermeneutik weiter helfen wird. Er braucht keine Kontextinformationen, weil er ein Mensch ist, der versucht, andere Menschen zu verstehen. Was zunachst als Kritik an die von der objektiven Hermeneutik erhobenen methodischen Anspruche klingen mag, ist eigentlich ein Lob. Viel zu oft haben manche Forscher, die in auBer-europaischen Raumen und Lebenswelten wissenschaftlich tatig sind, sich hinter einer prinzipiellen Fremdheit ihres Forschungsgegenstandes versteckt, um die Plausibilitat ihrer Aussagen der kritischen methodischen Auseinandersetzung zu entziehen, zugunsten der Betroffenheit bezuglich dessen, was das Schicksal fiir diese Lebenswelten parat hat. Uber das bloBe praktische Verstehen hinaus wagten sich nur die Wenigsten, aus Angst, Sinnzusammenhange und Strukturen freizulegen, die die vermeintliche Fremdheit als Artefakt forschungspolitischer Absichten entpuppen wiirden. Indem durch seine Analyse diese Sinnzusammenhange und Strukturen zum Thema des methodischen Verstehens gemacht werden, gibt Ulrich Oevermann zu bedenken, dass der Gegenstand der Afrikaforschung nicht allein der subjektiv gemeinte Sinn im sozialen Handeln der „Eingeborenen" oder das Fremde sind. Es sind auch die dahinter stehenden Sinnstrukturen, die letztendlich einen Beitrag dazu leisten konnen, die von der Afrikaforschung abgeleiteten Erkenntnisse nutzlich zu machen sowohl fur das Verstandnis der Menschheit als auch fiir die Verfeinerung unserer Fahigkeit soziale Beziehungen im Allgemeinen zu verstehen.
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Dass die Bauern am Limpopotal die eigentliche Katastrophe nicht im Hochwasser, sondem in der nachfolgenden Verkarstung des Bodens sehen, ist im Grunde genommen ein Befund, der niemanden iiberraschen diirfte. Dieser Befund hatte weder einer objektiven Hermeneutik noch einer dokumentarischen Analyse a la Bohnsack bedurft. Ebenso wenig iiberraschend diirfte der Befund sein, dass Dorfbewohner das Gesprach geschickt dahin gelenkt haben, um den „fremden Ethnologen" davon zu iiberzeugen, dass sie dringend Hilfe benotigen. Gleichwohl bringt die von der objektiven Hermeneutik abgeleitete Sequenzanalyse der Gesprache die Konstitutionsbedingungen der lebensweltlichen Erfahrung der Bauern zum Vorschein und schafft somit eine Grundlage, um der Aufgabe nachzugehen, die sozialwissenschaftliche Erkenntnis kennzeichnet: Theorie und Hypothesenbildung. Theoriebildung mag positivistisch klingen, aber hier ist sie in einem weiteren Sinne gemeint, d.h. Theoriebildung im Sinne der Verfeinerung unserer Begrifflichkeit und Prazisierung unserer analytischen Verfahren, damit wir die beobachteten Phanomene konzeptuell so verdichten konnen, dass sie fiir uns Sinnzusammenhange bilden. Insofem sind die auf diese Weise hervorgebrachten Befunde iiberhaupt nicht trivial. Anders ausgedruckt, Befunde, die anhand von Methoden erlangt werden, die die Konstitutionsbedingungen vom Sinn des sozialen Handelns und der sozialen Beziehungen verdeutlichen, sind zentral fiir unsere wissenschafllichen Bemiihungen. Und tatsachlich leistet Oevermanns Auslegung in dieser Hinsicht etwas besonderes, dessen Bedeutung mir erst nach der Lektiire seiner Analyse - und wie er dahin gekommen ist - deutlich geworden ist: Es geht hier moglicherweise um den sozialen Wandel und seine lokale Bewaltigung. Es lohnt sich die Stelle ganz zu zitieren: Deutlich wird in beiden Gruppendiskussionen die auf gemeinsame Vorverabredung unter der koordinierenden Leitung von Am hindeutende gemeinschaftliche Strategic, fur die als dominant herausgestellte Katastrophe der Verhartung des Bodens eine Hilfe in Form der Verfiigbarkeit liber Maschinen der Bodenbearbeitung inklusive von Traktoren zu fordem. Auff^llig ist dabei, wie schon erwahnt, dafi diese Hilfe ihrem Inhalt nach nicht richtig expliziert, aber stark suggeriert wird. Bringt man dies in Zusammenhang damit, dafi der als kategorial different erfahrenen Unterscheidung von Krise und Katastrophe nur ein Kontinuum an hitensitat der die Probleme verursachenden Naturvorgange gegeniibersteht und daraus zu folgem ist, daB die akute Katastrophe der Verhartung des Bodens so dramatisch neu und nie erfahrbar nicht gewesen sein kann, wie sie dargestellt wird, dann gelangt man zu dem Verdacht, daB die gemeinsam verabredete Darstellungsstrategie in den Gruppendiskussionen gegeniiber dem Fremden Yl auch zum hihalt hat, die akute Bodenbearbeitungsproblematik zum AnlaB zu nutzen, eine als langst iiberfallig erachtete Mechanisierung der Agrarproduktion einzufordem. Wenn das so ware, dann Idge hier eine interessante Umbruchsituation einer lokalen Kultur vor, in der die Eingeborenen (sic), unter welchen Einflussen auch immer, das Prekdre ihrer fragilen Subsistenzwirtschaft angesichts sich wandelnder sozialer Umgebung, eines Wandels, der sich durch fortschreitende Globalisierung beschleunigt, immer drdngender sptiren. Gleichzeitig aber wollen sie an ihrer tradierten Kultur und sozio-okonomischen Autarkic so lange wie moglich festhalten, so dafi sie die geforderte Hilfe nicht so sehr als erzwungene Anpafiung an
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fremde Bedingungen sehen, sondern als unumgdngliche Mafinahme, ihr tradiertes Leben fortsetzen zu konnen (Hervorhebung: E.M.)
Schoner hatte man m. E. die analytischen Herausfordemngen eines Forschungsprogramms nicht auf den Punkt bringen konnen, das sich fur lokales Handeln im Kontext globaler Einfliisse (der Titel des Sonderforschungsbereiches 560 in dessen Rahmen die Untersuchung durchgefuhrt wurde, aus der die Gesprachsprotokolle stammen) interessiert hat.
Literatur: Bohnsack, Ralf (1999): Rekonstruktive Sozialforschung. Einfuhrung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Opladen: Leske u. Budrich Bohnsack, Ralf u.a. (Hrsg.) (2001): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske u. Budrich Esser, Hartmut (2002): Wo steht die Soziologie? hi: Soziologie 4. S. 20-32 Macamo, Elisio (2003): Nach der Katastrophe ist die Katastrophe - Die 2000er Uberschwemmung in der dorflichen Wahmehmung in Mosambik. In: Clausen, Lars/Geenen, Elke/Macamo, Elisio (Hrsg.): Entsetzliche soziale Prozesse - Theorie und Empiric der Katastrophen. Miinster: Lit. S. 167-184
Der empirische Zugang zum kulturell Fremden am Beispiel Zeit. Ein rekonstruktiver Ansatz Gabriele Cappai
Problemumriss Kulturelle Differenz ist nicht nur dort auszumachen, wo der Philosoph und der Soziologe sie meistens vermuten: in der Sphare der Werte und Normen oder, um auf einen etwas veralteten Begriff zu rekurrieren, des Weltbildes. Kulturelle Differenz, das weiB der Ethnologe besser, auBert sich oft auf subtile Weise, zum Beispiel in bestimmten Moglichkeiten, Geschlechts- bzw. Generationsunterschiede zu markieren, in einem bestimmten Umgang mit Ironie, oder auch in bestimmten Weisen, Raum und Zeit zu strukturieren. Ich mochte im Folgenden unter Bezugnahme auf meine eigene Migrationsforschung das Beispiel Zeit herausgreifen und dabei zeigen, wie die empirische Erforschung des kulturell Fremden Probleme theoretischer und methodologischer Art ausgesetzt ist, die am besten, so denke ich, in der Zusammenarbeit von Soziologie und Ethnologic gelost werden konnen. Die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen verspricht hier besonders produktiv schon deswegen zu sein, weil sich das Interesse des Soziologen fiir Verfahren der Generalisierung mit dem Interesse des Ethnologen fiir cine nicht ethnozentrische Betrachtungsweise verbinden muss. Wie dies im Einzelnen zu bewerkstelligen sei, sollen die folgenden Ausfiihrungen zeigen. Es ist wichtig, gleich am Anfang zu betonen, dass hinsichtlich des Zusammenhangs von Methode und Kultur das Forschungsfeld der Migration besonders vielversprechend erscheint, denn es erlaubt, kulturelle Differenz auf der Grundlage von Unterscheidungen zu identifizieren, die die Betroffenen selbst in der Begegnung mit neuen Denk- und Verhaltensmustern treffen. Ich beginne mit einer kurzen Charakterisierung des Gegenstandes meiner Analyse. Im Mittelpunkt der folgenden Ausfiihrungen stehen Migranten aus derselben Mittelmeerregion und ihr Verhaltnis zur Zeitwahmehmung und Zeit-
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gestaltung in ihrer jeweiligen nord- bzw. mitteleuropaischen Aufnahmegesellschaft/ Bereits bei der Durchfiihrung der ersten Gruppeninterviews war festzustellen, dass oft das Thema Zeit unaufgefordert zur Sprache kam. Die Gruppengesprache lassen in Bezug auf dieses Thema ein einfaches rekurrierendes Argumentationsmuster erkennen: Ant.: Hier sind wir immer unter Stress. Es ist nicht so, dass ich es will, du bist aber immer in Eile, immer in Eile, immer in Eile. Es kommt dir vor... es kommt dir vor, dass die Zeit dir davonlauft...Dagegen, wenn du im Dorf bist... ich denke, ich fiihle mich so... ich gehe aus, mache einen Spaziergang, kaufe ein wenig ein und dann bereite ich das Mittagessen vor. AUes mit der Ruhe. Es gibt keine Eile. Hier scheint mir, die Zeit rennt davon. Gio.: Hier kommt es mir so vor, dass die Zeit rennt. Interw.: Auch wenn Sie nicht arbeiten? Gio.: Auch wenn ich nicht arbeite... dagegen unten, bin ich unten, dann bin ich ruhig.
Das Thema Zeit wird spater im Interview aus der imaginierten Perspektive der Kinder noch einmal aufgegriffen: Ant: Auch in den Ferien gehen die Kinder nicht ruhig aus dem Haus hinaus. Gio.: Sie haben Termine. Sie sind Uhren (lachelnd). Ant.: Ja, sie sind Uhren (lachelnd). Gio.: Meinem Sohn, wenn er daheim ist, gefallt es ihm herumzuschniiffeln. Er geht allein zur GroBmutter... Er fragt: „Wie lange darf ich bleiben?" „Solange du willst". Und dann geht er wieder hin, nimmt einen anderen Weg... Ant.: Naja, daheim ist es ein ganz anderes Lebenssystem.
Die Gruppe, so scheint es, folgt bei der Thematisierung von Zeit einem binaren Muster: die positive Seite der Unterscheidung, also FlexibiHtat, Lebendigkeit, Spontaneitat und Freiheit wird der heimatUchen Wirklichkeit, die negative Seite hingegen, also Unflexibilitat, Gefuhl des Eingeengtseins und Unfreiheit wird der Aufiiahmegesellschaft zugeschrieben. Dieser Beftand kann in der gerade dargestellten Allgemeinheit nicht belassen werden. Er wird von den empirischen Daten nicht gestiitzt. Eine aufmerksame Analyse der Gruppeninterviews zeigt namlich, dass von einer schlichten Ablehnung der Zeitorganisation im Alltag des Aufiiahmelandes keine Rede sein kann. Denn nicht Zeitreglementierung an sich, sondem die aus der Perspektive der Gruppe indiskriminierte Ubertragung dieser Reglementierung auf alle Bereiche des sozialen Lebens, vor allem auf die Sphare der „Freizeit", wird zum Problem. Die Freizeit darf nicht „verplant" werden, sie hat „freie Zeit" zu bleiIch werde mich im Folgenden auf Forschungsarbeiten stiitzen, die ich zwischen den Jahren 1998 und 2003 in Holland, GroBbritannien, der Schweiz, vor allem aber in Deutschland durchgefuhrt habe.
Der empirische Zugang zum kulturell Fremden am Beispiel Zeit
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ben, derm nur als freie Zeit ist sie ganz verfiigbar, sei es auch, um sie zu vergeuden. Die Interviews bringen aber auch ans Licht, dass es fur die Gruppe eine Sphare des Handelns gibt, in der Zeitreglementierung nicht nur zulassig, sondem auch erwunscht ist. Diese ist die Sphare der Produktion und der Prozeduren in offentlichen Einrichtungen. Diese Aussage ist weniger banal als sie auf den ersten Blick erscheinen mag, denn die Gruppe konnte die Vorteile einer klaren Zeitstrukturierung in diesen Handlungsspharen erst im Aufnahmeland schatzen lemen. Erst hier konnte die Gruppe erfahren, dass die Organisation der Arbeit nach fimktionalen Zeitkriterien „vemunftig" ist. Sie ist verniinftig, weil durch eine klare Zeitstrukturierung die Arbeit - wohlgemerkt nicht nur die eigene effizienter, tibersichtlicher und letztlich auch zeitokonomischer wird. Die Gruppe verdeutlicht diese Einsicht meistens durch den Vergleich zwischen Erfahrungen in der Herkunftsgesellschaft und in der Aufnahmegesellschaft. Das Involviertsein in biirokratische Prozeduren oder Erfahrungen in und mit offentlichen Einrichtungen dienen hier als Vergleichsobjekt. In der Retrospektive wird die heimatliche Organisation der Arbeit als mit sachfremden Elementen durchsetzt betrachtet, die den Ablauf von Vorgangen unnotig belasten. Heimat ist aus dieser Perspektive ein negativer oder zumindest zweideutiger Begriff Das Thema Zeit wird in einem anderen Gruppeninterview noch mal unter der Perspektive der Piinktlichkeit aufgegriffen. Luc.: Du bist hier an die Piinktlichkeit gewohnt. Intenv.: Ja? Gio.: Ja, vielleicht, vielleicht ist hier eine (unverstandhch) Piinktlichkeit... und immer die Uhr angucken... pass auf, um diese Uhrzeit muss du... Luc.: Die Gewohnheit. Gio.: Ja, ja. Intenv.: Aber wie gewohnt sich jemand an diesen Rhythmus? Luis: Ja, wir sind es gewohnt. Luc: Ja, nach vielen Jahren. Intenv.: Aber gezwungen!? Luc.: Wie Roboter. Luis.: Nein, es kommt automatisch. Luc: Schauen Sie, ich habe mich bei der Arbeit niemals fiinf Minuten verspatet... nie!... eine halbe Stunde friiher schon, aber fiinf Minuten spater nicht. Intenv.: Wenn Sie in die Heimat gehen, vermissen Sie es aber nicht, oder? Luc.: Wenn ich im Dorf bin, verspate ich mich nicht, aber ich beeile mich auch nicht. Ich schaue nicht auf die Uhr, nein. Luis.: Ohne Sorgen. Luc: Genau so, ohne Sorgen. Gio.: Daheim gibt es mehr Gleichgultigkeit. Luc.: Sie sind entspannter.
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Piinktlichkeit wird in der Arbeitssphare als eine notwendige Voraussetzung angesehen, die man mit der Zeit verinnerlicht hat („Es kommt automatisch"). Erst im Dorf, daheim, wo die zeitliche Organisation des Alltags nicht, wie im Aufnahmeland, ahnlichen funktionalen Imperativen der Arbeitssphare unterstellt ist, kann man sich der allgemeinen „Entspanntheit" iiberlassen, die man im Aufnahmeland vermisst. Es muss an dieser Stelle die Frage gestellt werden, warum sich die Gruppe im Hinblick auf die Zeitstrukturierung selektiv verhalt. Warum fmdet bei ihr Akzeptanz der strukturierten Zeit der Produktion und der Arbeitsorganisation in offenthchen Einrichtungen statt, eine Reglementierung der Freizeit, so wie sie im Aufnahmeland liblich ist, wird aber von ihr abgelehnt? Um diese Frage zu beantworten, sind zwei Uberlegungen wichtig. Uberlegung eins: Der typische Sozialisationsort der untersuchten Gruppe, also auch der Ort ihrer „zeitlichen" Sozialisation, ist das Dorf. Anders als die GroBstadt im Einwanderungsland drangt das Dorf nicht zu einer Strukturierung der Freizeit bzw. zu einem okonomischen Umgang mit Zeit. Vom Gesichtspunkt des einzelnen Subjekts kann im kleinen Dorf vieles der Improvisation iiberlassen werden. Verabredungen sind nicht unbedingt erforderlich, weil man sich ohnehin jeden Tag sieht und dann anstehende Probleme ansprechen kann. Man kann jemanden aufsuchen und ruhig in Kauf nehmen, dass der andere gerade keine Zeit hat, weil der dazu notige zeitliche Aufwand nicht groB ist. Da diese Art von Unverbindlichkeit eine allgemein geteilte ist, hat man in der Regel Verstandnis fiir Falle missglixckter Synchronisierung des Handelns bzw. fiir das gelegentliche Scheitern von Planen im Alltagsleben. Problematisch wird es dann, wenn die spontane Organisation von Zeit verallgemeinert wird, dann also, wenn Verhaltensmuster generalisiert werden, die aus der Perspektive funktionaler Arbeitsorganisation Disfunktionalitat erzeugen. Man muss das „System" verlassen, um das zu erkennen. Welche Vorteile eine klare Scheidung zwischen Arbeitszeit und Freizeit mit sich bringen kann, erfahren die Akteure in der Regel dann, wenn sie langfristig mit Situationen konfrontiert sind, die diese Spharentrennung institutionalisiert haben. Dies ist mutatis mutandis eben in den jeweiligen mittel- und nordeuropaischen Aufnahmegesellschaften der Fall. Uberlegung zwei: Spezifische Einstellungen und Verhaltensweisen bleiben unverandert, solange keine Notwendigkeit besteht, sie zu verandem, sei es, weil die soziostrukturellen Voraussetzungen, die diese Verhaltensweise tragen, erhalten bleiben, sei es.
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weil, falls diese Voraussetzungen ausfallen, funktionale Aquivalente geschaffen werden konnen, die es gestatten, diese Verhaltensweisen zu perpetuieren. Auf unser Forschungsobjekt bezogen, heiBt dies Folgendes: Die Gruppe hat im Aufnahmeland die Moglichkeit, aus der Heimat vertraute Formen der Organisation von Freizeit zu verwirklichen, weil sie die strukturellen Bedingungen geschaffen hat, die dies ermoglichen. Die Vereine, die als TrefQ)unkte der Gruppe dienen, konnen hinsichtlich Kommunikation, Interaktion und Reprasentation als funktionale Aquivalente des heimatlichen Dorfes betrachtet werden.^ Als solche bieten sie ihren Besuchem auch die Moglichkeit der Reaktualisierung vertrauter Umgangsformen mit der Zeit. Wichtig in unserem Zusammenhang ist nicht nur die Tatsache, dass diese Treffpunkte des geselligen Zusammenlebens Kommunikation und Informationsaustausch unter ihren Besuchern ermoglichen, sondem auch, dass Kommunikation und Informationsaustausch nach Rhythmen stattfinden, die der Gruppe vertraut sind. Wir wollen zum Einen an der Tatsache festhalten, dass die untersuchte Migrantengruppe eine selektive Haltung gegentiber der Zeitorganisation im Alltag des Aufnahmelandes an den Tag legt: Eine Strukturierung der Zeit wird nur in der Sphare der Produktion und der offentlichen Einrichtungen, nicht aber in jener der Freizeit befurwortet. Zum Zweiten ist hier hervorzuheben, dass gerade die Erfahrung in der Sphare der Produktion und das „Verstricktsein" in Alltagsprozeduren, die eine Zeitformalisierung verlangen, Anlass dafiir sind, dass die Gruppe zu einer positiven Einschatzung der Zeitorganisation im Aufnahmeland kommt. Zum Dritten ist fiir uns die Tatsache von besonderem Interesse, dass diese Umorientierung nicht als das Ergebnis einer Anpassungsleistung betrachtet werden kann, die erzwungenermaBen erfolgt. Ware hier Heteronomie im Spiele, so miisste man von Verhaltenssteuerung ausgehen, sicherlich nicht aber von einer Veranderung ansozialisierter Verhaltensformen und Erwartungen durch Einsicht in die Vemiinftigkeit einer solchen Veranderung. Mit den vorangehenden Ausfuhrungen, insbesondere mit den Uberlegungen Eins und Zwei, wurden Forschungsresultate antizipiert, zu denen erst eine eingehende empirische Analyse hinfiihren konnte. Ziel der folgenden Ausfuhrungen ist es nun, den Forschungsprozess emeut zu durchlaufen und dabei zentrale methodologische und methodische Probleme zu diskutieren, die der mit der Rekonstruktion des Forschungsphanomens befasste Forscher zu bewaltigen hat. Ein erster Schritt sieht es vor, drei Modelle rekonstruktiven Verfahrens idealtypisch zu unterscheiden und hinsichtlich ihres unterschiedlichen Erklarungspotentzials kurz zu diskutieren. Im Licht der dabei erzielten Resultate wird dann in einem zweiten Schritt das zur Debatte stehende Phanomen der Zeitori' Fiir eine eingehende Analyse dieser Vereine verweise ich auf Cappai (2005).
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entierung mit der Absicht wieder aufgegriffen, eine Antwort auf die Frage zu gegeben, was es in den Sozialwissenschaflen heiBt, rekonstruktiv vorzugehen. In einem dritten Schritt schlieBlich werden Verallgemeinerung und Ethnozentrismus als zwei Probleme thematisiert, die rekonstmktive Verfahren gebiihrend achten miissen. Unter Bedingungen kultureller Fremdheit ist freilich Ethnozentrismus die dringendste Herausfordemng, der sich der Forscher stellen muss. Der Aufsatz versucht letztlich zwei Forschungsansatze zu verbinden, die die Rekonstruktion des Forschungsphanomens unter zwei unterschiedlichen jedoch, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, komplementaren Gesichtspunkten vollziehen. Es handelt sich auf der einen Seite um jene Richtung der „analytischen Soziologie", die auf die Erklarung des Forschungsphanomens mittels einer Mehrebenenanalyse abzielt und auf der anderen Seite um jene Version der quaHtativen Sozialforschung, die Rekonstruktion unter Anschluss an das Wissen der Akteure im Feld zu leisten beabsichtigt. Die Mehrebenenanalyse beabsichtigt zum einen die Notwendigkeit der Mikrofundierung des Explanandums (Makroebene) zum anderen die Konditionierung interaktiver Prozesse (Mikroebene) durch Makrostrukturen zu zeigen. Die Bezugnahme auf das Wissen der Akteure im Feld gestattet hingegen die „Abstraktion" zu reduzieren/ die jenen Erklarungsmodellen sozialen Handeln anhaftet, die allein dem Modell des nutzenmaximierenden Akteurs folgen. Erst der Anschluss an das Subjektwissen gestattet es, Rekonstruktionen des Sozialen vorzunehmen, die den Vorzug einer groBeren Wirklichkeitsnahe deswegen haben, weil sie bei der Erklarungen der Selektion von Handlungen nicht allein eine allgemeine Handlungstheorie bemuhen (Esser 1993: 100), sondem sich auch, im weitesten Sinne des Wortes, auf das Wissen der Akteure im Feld beziehen.
Was bedeutet Rekonstruktion? Unabhangig von ihrer jeweiligen theoretischen und methodologischen Positionierung verfahren Sozialwissenschaftler mit ihrem Forschungsobjekt in der Regel rekonstruktiv. Forscher versuchen nicht nur das, was das Phanomen als solches konstituiert, zu rekonstruieren, sondem auch, wenn auch seltener, die sozialen und kulturellen Bedingungen, die das Phanomen ermoglichen, aufzuzeigen. Handlungstheoretisch betrachtet heiBt dies, Sozialwissenschaftler sind nicht nur daran interessiert, soziales Handeln zu beschreiben und zu verstehen. ^ Die Ankniipfting an das Wissen der Akteure gestattet es, sozialem Handeln jene Konkretheit zu verleihen, die okonomische Erklarungsmodelle meistens entbehren. In Anlehnung an Siegwart Lindenberg (1992) wollen wir dieses Verfahren „abnehmende Abstraktion" nennen.
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sondem auch die sozialen und kulturellen Voraussetzungen herauszuarbeiten, unter denen dieses Handeln stattfmdet. Diese Darstellung entspricht freilich eher einer ideellen als einer tatsachlichen Situation, denn wie die Realitat zeigt, werden mit dem Wort „Rekonstruktion" in den Sozialwissenschaften Aufgaben unterschiedlicher Art und Komplexitatsniveaus etikettiert. Betrachten wir im Folgenden drei Varianten mit Hilfe der folgenden synoptischen Darstellung:
Miki'O
Miki'o
ModeU 1
N
I
ModeU 2
Makto
Modell 3
Die vorangehende Synopse lasst sich wie folgt kommentieren: Das Hauptmerkmal von Modell 1 besteht darin, dass es die Mikroebene nicht verlasst. Die Analyseeinstellung ist hier im Wesentlichen auf die Identifikation und Beschreibung von Motiven als Bestimmungsgriinde von Handeln gerichtet. Es geht hier fur den Wissenschaftler hauptsachlich darum, die Motive zu identifizieren, die Akteur X dazu gefuhrt haben, die Handlung H in der Situation S vorzunehmen. Fiir einige Wissenschaftler ist eine Forschungskonzeption, die sich darauf beschrankt, Handlungen zu „erklaren", indem man sie individuellen Motivlagen zurechnet, unbefriedigend. Sie weisen darauf hin, dass diese Vorgehensv^eise die Arbeit dort abschlieBt, wo sie eigentlich beginnen sollte. Aufgabe des Forschers ware hier es namlich, die Mikroebene zu verlassen und die Makroebene in zwei Richtungen zu thematisieren: zum einen als handlungskonditionierende, zum anderen als handlungskonditionierte Dimension. Dies leistet Modell 2 in der Weise, dass die Mikro- und die Makroebene in zweierlei Weisen verbunden werden: einmal als Strukturierung von Handlungsund Interaktionsprozessen (Mikroebene) durch Strukturen und Prozesse auf der Makroebene, ein anderes Mai als Generierung und Perpetuierung von Makrophanomenen durch Interaktionsprozesse auf der Mikroebene. Bei der Einschatzung der ersten Verbindungsart unterscheiden sich altere Ansatze von neueren nicht wenig."^ Die Annahme bei letzteren ist namlich, dass der institutionelle bzw. der kulturelle Rahmen, in dem sich Akteure befinden, in einem starkerem
Fiir eine eher konventionelle am okonomischen Paradigma angelehnte Sicht siehe: Coleman (1990). Als Reprasentanten einer neueren „unorthodoxen" Sichtweise siehe vor allem Boudon (1999) und Esser (1999).
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AusmaB als man gemeinhin annimmt, die Weise konditioniert, in der diese Akteure Situationen defmieren und „Modelle der Wirklichkeit" anfertigen. Die Hervorhebung der Mikrofundierung von Makrostrukturen findet in der Tatsache ihre Begrundung, dass individuelles sowie Gruppenhandeln an der Erzeugung, Perpetuierung und auch Veranderung der Makroentitaten in entscheidendem MaB beteiligt ist. Auch hinsichtlich dieses Verhaltnisses distanzieren sich neuere Modelle soziologischer Erklarung von traditionelleren dadurch, dass sie versuchen, der Kultur die RoUe einzuraumen, die sie im sozialen Handeln tatsachlich hat. „Mentale Modelle" sub specie kulturelle Ideen sind hier nicht simple Zutat, sondem von vomherein konstitutiver Bestandteil der Definition der Situation sozialer Akteure.^ Die Hauptcharakteristik von Modell 3 schlieBlich besteht darin, dass die Makroebene nicht verlassen wird. Dieses Modell ist weder an der Beschreibung von Sinn- bzw. Handlungsstrukturen auf der Mikroebene noch an ihrer Genese interessiert. Typisch fur dieses Modell sind systemtheoretische bzw. funktionalistische Vorgehensweisen, die sich auf die Ebene konkreter Interaktion nicht „hinunterlassen". Dieses Modell neigt dazu, Makrophanomene kurzzuschlieBen und fragt weder nach dem Sinn, den Akteure im Feld mit ihrem Handeln verbinden, wie diese die jeweilige Situation definieren, noch ist es daran interessiert, das Wissen dieser Akteure systematisch auszuloten. Es lasst sich im Allgemeinen beobachten, dass sozialwissenschaftliche Rekonstruktion in der qualitativen Sozialforschung dazu tendiert, sich nach Modell 1 zu orientieren. Ihre Aufgabe erschopft sich meistens darin, den „subjektiv gemeinten Sinn" der Akteure im Feld zu reproduzieren und dann gegebenenfalls typologisch zu klassifizieren. Man muss hier kurz anmerken, dass Forschungsansatze, die nach diesem einfachen Prinzip arbeiten, alles andere als bescheiden auftreten. Die unausgesprochene Hoffnung ist meistens dabei die, dass mit der Angabe subjektiver Motive und Alltagstheorien der Akteure im Feld auch die Bestimmungsgriinde ihres Verhaltens genannt sind. Es gibt keinen Grund fiir diese Annahme. Auf unser Beispiel der Zeitorientierung der Gruppe bezogen, heiBt dies: Es gibt keinen Grund fur die Annahme, dass mit den im Interviewtext identifizierbaren Motiven auch die Komplexitat der Grtinde bzw. der Ursachen genannt sind, die die Gruppe veranlassen so zu handeln, wie sie handelt. Wie Modell 1 ist auch Modell 2 an den Wissenskonstrukten der Akteure im Feld interessiert: Die Beobachterperspektive schlieBt hier direkt an die Teilnehmerperspektive an. Anders als Modell 1 geht allerdings Modell 2 nicht einfach davon aus, dass Motive als Ursachen von Handlungen zu betrachten sind. ^ In Essers (2006) Programm sozialwissenschaftlicher Erklarung wird Kultur als Erklamngsvariable besonders hervorgehoben: „Das MSE ist... keine ein wenig (kultur-) soziologisch nur aufpolierte Variante des Coleman-Modells bzw. der orthodoxen RC-Theorie".
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Anders gewendet: Die Ursachen von Handeln sind nicht sic et simpliciter durch Ermittlung von Motiven feststellbar.^ Modell 2 bleibt nicht bei der Wiedergabe von Motiven stehen, sondem versucht zum einen die konditionierenden Aspekte (Makroebene 1) von Motivlagen zu rekonstruieren, zum anderen die Interaktionsdynamik zu beschreiben (Mikroebene), die das zu erklarende Phanomen (Makroebene 2) zu erklaren vermag. Wie wir im Folgenden sehen werden, kann diese doppelte Aufgabe befriedigend nur im Anschluss an das Wissen der Akteure im Feld bewaltigt werden. Gemeint ist dabei vor allem „implizites Wissen" als jene Wissenssorte, die am besten geeignet erscheint, handlungskonditionierende Momente des Handelns in der Form von Habitus, inkorporierten Praktiken, bzw. Kultur zu rekonstruieren. Diesem Modell folgend zwingt die Frage nach der Zeitorientierung der Gruppe zu einer Analyseeinstellung, die eine doppelte Aufgabe zu bewaltigen hat: Zum einen geht es darum, jene typischen Formen der Zeitstrukturierung zu beschreiben, die als Gruppenhandeln das Makrophanomen konstituieren. Wir wollen diese Zeitorientierung 1 nennen. Zum anderen geht es dann darum, jene Interaktionsprozesse und Mechanismen im Alltag der Migranten zu rekonstruieren, die erklaren konnen, wie es der Gruppe moglich wird, gegenuber der im Aufhahmeland geltenden Zeitstrukturierung ein selektives Verhalten einzunehmen. Es geht mit anderen Worten darum, nachzuvollziehen, wie aus der Begegnung bzw. KoUision mit unterschiedlichen und in mancherlei Hinsichten gegensatzlichen Zeitstrukturen eine neue Zeitorientierung entsteht. Wir wollen diese Zeitorientierung 2 nennen. Wie lassen sich diese Aufgaben methodologisch und methodisch bewaltigen?
Rekonstruktion in methodologischer und methodischer Perspektive Mochte der Sozialwissenschaftler rekonstruktiv verfahren, so darf dieser die Definition der Situation bzw. die Sinnkonstrukte der Akteure im Feld nicht ignorieren. Gerade die Anknlipfung daran gestattet es, Modellierungen des Sozialen vorzunehmen, bei denen die Abstraktion eines absolut zweckrational handelnden und monadisch konzipierten Akteurs durch ein realistischeres Bild ersetzt wird. Mit dem Begriff von Sinnkonstrukten verbinden wir allerdings, wie bereits angedeutet, mehr als bloBe Motive. Damit ist das Wissen der Akteure im weites-
Mit Max Weber (1976: 10; 1973: 436-7) konnte man hier sagen: Sinnadaquanz und Kausaladaquanz sind nicht deckungsgleich.
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ten Sinne des Wortes gemeint. Es handelt sich um ein Wissen, das auch jene Formen umfasst, die den Akteuren im Feld selbst nicht ohne weiteres zur Verfiigung stehen und erst in einer Beobachtung zweiter Ordnung expliziert werden konnen. Es geht also um „implizites Wissen"/ In Bezug auf unser Beispiel ist die Rekonstruktion dieses Wissens dann moglich, wenn der Forscher die Aufmerksamkeit auf jene Sequenzen im Interview lenkt, in der die Gruppe „als Gruppe" die eigene Zeiterfahrung im Modus der Narrativitat dokumentiert. Narration und nicht Reflexion, a-theoretisches und nicht theoretisches Wissen,^ sind auch der Schltissel sowohl fiir die Rekonstruktion der urspriinglichen Zeitorientierung der Gruppe sowie fur ihre Transformation im Aufnahmeland. Es scheint tatsachlich, dass wir unter Bezugnahme auf das implizite Wissen der Mitglieder unserer Gruppe Aufschluss iiber wesentliche Ziige sowohl von Zeitorientierung 1 als auch iiber ihre Transformation erhalten. Wie die Interviews zeigen, vermag uns dieses Wissen, nicht nur die Spannung zu zeigen, die der Kontrast zwischen der daheim angeeigneten Zeitorientierung 1 und der typischen Zeitorganisation in der Aufnahmegesellschaft bei den Gruppenmitgliedem erzeugt. Es dokumentiert auch die Transformation der ansozialisierten Zeitorientierung 1 in der Form einer selektiven Anpassung der Gruppe an die Zeitorganisation der Aufnahmegesellschaft, die dann zur Zeitorientierung 2 fuhrt. Gewiss konnte man versuchen, diese Transformation durch zweckrationale Erwagungen seitens der Gruppenmitglieder zu erklaren: Es gibt gute Griinde sowohl fiir eine Veranderung der urspriinglichen Zeitorientierung im Sinne einer Anpassung an die Zeit der Mehrheitsgesellschaft als auch dafiir, dass diese Anpassung keine totale ist, dafiir also, dass bestimmte Dimensionen der ursprunglichen Zeitorientierung beibehalten werden. Folgen wir aber allein der Logik der „guten Griinde", so bleibt letztlich die Frage unbeantwortet, mittels welcher sozialer Mechanismen die Verwirklichung dieses selektiven Verhaltens moglich wird. Wir wollen im Folgenden dieses Problem unter Bezugnahme unterschiedlicher Sinnebenen diskutieren. Dabei erhoffen wir uns auch, das Verhaltnis implizites/explizites Wissen genauer zu charakterisieren. Es ware moglich, auf einer ersten Sinnebene a Eigenpositionierungen der Akteure im Feld in der Form von Erfahrungen, Begriindungen und Motiven zu unterscheiden; letztere sowohl in retro- als auch in prospektiver Hinsicht, in Schiitz' Terminologie: Unter Beriicksichtigung von weil- und um-zu-Motiven. Dies ist die Ebene, in der die Gruppe im Hinblick auf die Zeitorganisation Un^ Als Hauptreferenz dient hier Bohnsack (2005). ^ Fiir die Relevanz von Narration bzw. Narrativitat im Interview siehe Schutze (1987). Weiterhin dazu: Bohnsack (2001).
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terschiede zwischen Heimat und Aufnahmegesellschaft explizit benennt, beschreibt und beurteilt. Auf dieser Ebene ist die Gruppe im wahrsten Sinn des Wortes Experte der eigenen Situation. Die ErschlieBung dieser Sinnebene fmdet durch den Nachvollzug des subjektiv gemeinten Sinnes bzw. durch die Rekonstruktion von Motivlagen statt. Auf dieser Ebene koinzidieren Teilnehmerperspektive und Beobachterperspektive weitgehend. Weil hier aber die Motivrekonstruktion einer Logik der Motivzuschreibung bzw. Motivunterstellung seitens des Wissenschaftlers entspricht, ist diese Sinnebene besonders anfallig fiir ethnozentrische Urteile. Dazu spater mehr. Auf einer zweiten Sinnebene b unterscheiden wir Dispositionen, routinisierte Handlungsablaufe und verinnerlichte bzw. inkorporierte Praktiken als Resultat langerer Sozialisationsprozesse. Diese ist die Ebene, in der sich wiederholte Handlungen und Interaktionsprozesse in der longue duree als Habitus bzw. als „Kultur" sedimentieren. Als habitualisierte Denk- und Verhaltensmuster sind sie ihren Tragem nicht ohne weiteres prasent. Sie sind ihnen nicht im Modus eines expliziten, sondem eines „impliziten Wissens" verfiigbar. Die Gruppe kann wichtige Unterschiede in der Zeitorganisation von Herkunfts- und Aufnahmeland erkennen, sowie Griinde fiir eine selektive Aneignung der im Aufnahmeland typischen Zeitorganisation benennen. Die Gruppe kann allerdings weder das Festhalten an der unstrukturierten Zeit (als Freizeit) als Folge eines verinnerlichten Interaktionsmusters, eines Habitus erkennen, noch diesen Habitus als Resultat einer bestimmten Sozialisation im Dorf thematisieren. Die Gruppe kann aber auch nicht die Mechanismen benennen, durch welche eine Veranderung der ursprunglichen Zeitorientierung 1 ermoglicht wird.*^ Dies kann der Wissenschaftler durch Ausloten des impliziten Wissens der Akteure im Feld, genauer durch eine intensive Explikation narrativer Sequenzen im Interview erreichen. Wir konnen diese Ebene als eine der Latenz bezeichnen. Es handelt sich allerdings um eine Latenz, die unter der Bedingung der Explikation des Impliziten ins Manifeste iiberfuhrt werden kann.'° Auf dieser Ebene ^ Wie wir sahen, ist einer dieser Mechanismen durch den Verein gegeben. In Hinblick auf die Zeit besitzt der Verein eine doppelte Funktion: Als Kommunikationsort stellt er eine wichtige Moghchkeit fur den Austausch von hiformationen uber die Aufnahmegesellschaft dar: In informellen Gesprachen werden die Vereinsmitglieder in ihren Einstellungen gegeniiber der Zeitorganisation im Aufnahmeland bestarkt oder geschwacht. Die Kommunikationsdichte begunstigt hier Lemprozesse in der Form gegenseitiger Beeinflussung (Zum Zusammenhang von Beeinflussung von Verhalten und Raum aus einer analytischen Perspektive siehe: Hedestrom (1994)). Andererseits ist der Verein auch der Ort, an dem die partielle Reaktualisierung der traditionellen Zeit (als Freizeit) moglich wird. '° Manifest sind beispielsweise subjektive Intentionen, „Theorien", die sich in hiterviewsequenzen in der Form expliziter Stellungnahmen, Motivlagen oder Argumentationen artikulieren. Latent
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sind Teilnehmerperspektive und Beobachterperspektive nicht in direkter Weise, sondem im Modus der Interpretation bzw. Explikation latenter bzw. impliziter Sinnkonstrukte verbunden. SchlieBlich ist eine dritte Sinnebene c in der Form von kausalen Mechanismen und sozialen Strukturen und Prozessen als Voraussetzungen fiir die Genese und Implementierung des Habitus zu unterscheiden. Auch diese Sinnebene ist im Modus der Latenz in dem Sinne gegeben, dass diese Bedingungen der Moglichkeit habitualisierter Denk- und Handlungsmuster den Akteuren im Feld nicht als bewusste Sinnstrukturen verfiigbar sind. Anders jedoch als Sinnebene b sind diese Bedingungen der Moglichkeit im Wissen der Akteure - auch in ihrem impliziten Wissen - nur sehr fragmentarisch reprasentiert, folglich kann eine Archaologie vom Erlebten und implizit Gewussten im Medium der Narration diese nur sehr begrenzt ans Licht bringen. Der Forscher kann mit anderen Worten nur beschrankt Latenz auf dem alleinigen Weg einer interpretativen Auslotung impliziten Wissens ins Manifeste liberfuhren. Bezogen auf unser Beispiel heiBt dies: Weder die Identifizierung bzw. Zuschreibung von Motiven (Sinnebene a) noch die Analyse von als Habitus sedimentierter Erfahrung/Wissen (Sinnebene b) gestatten uns Genese, Implementierung und Transformation von Zeitorientierung 1 voU zu erfassen. Sinnebene b gestattet weder die raumliche und soziale Struktur des Heimatdorfes als eine wichtige Komponente bei der Genese der Zeitstrukturierung der Gruppe angemessen zu erkennen, noch ermoglicht sie uns ganz nachzuvollziehen, dass die Vereine im Aufnahmeland im Hinblick auf die Zeit funktionale Aquivalente des Dorfes darstellen. Sie ermoglichen Kommunikation und Geselligkeit nach Rhythmen zu gestalten, die typisch fiir das Dorf als Sozialisationsort der Gruppe sind. Auf dieser Ebene gehen Teilnehmerperspektive und Beobachterperspektive in der Weise auseinander, dass bei beiden dieselben Handlungen unterschiedliche Begriindungen bzw. Explikationen veranlassen konnen. Bevor dieser Punkt im nachsten Paragraph vertieft wird, soil hier eine notwendige Prazisierung erfolgen. Die Unzulanglichkeit von Sinnebene b (und noch mehr von Sinnebene a) fiir eine befriedigende Rekonstruktion von Zeitorientierung 1 und 2 festzustellen, schlieBt nicht aus, dass wir auf diesen beiden Ebenen wichtige Indizien fmden konnen, die auf Sinnebene c verweisen. Es handelt sich aber eben um sind hingegen Strukturen, die sich in der Form eines impliziten Wissens ausdrticken, die also eher dort zur Geltung kommen, wo sich der kiterviewte in der Interviewsituation an die Hand nehmen lasst: Sei es, weil er sich im EinzeHnterview vom Fluss der a-theoretischen Narration transportieren lasst, sei es, weil er im Gruppeninterview in die arbeitsteilige Dynamik der Re-aktualisierung vergangener milieutypischer bzw. gruppenspezifischer Erfahrungen eingeht. Fiir die Rekonstruktion der Zeitorientierung der Gruppe waren, wie gesagt, insbesondere jene Sequenzen wichtig, in denen die Gruppe „als Gruppe" spricht, also arbeitsteilig sowohl ihre Einstellung zum Problem Zeit artikuliert, als auch auf die Motive hindeutet, die zu dieser Einstellung gefiihrt haben.
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Verweise, die durch eine systematische Beobachtung am Ort erhartet werden mtissten. Uberhaupt lasst sich das Verhaltnis der drei Sinnebenen als eines der gegenseitigen Interpenetration begreifen. Jede Ebene enthalt Elemente bzw. Indizien, die auf die jeweils andere Ebene verweisen.
Grenzen des Anschlusses an das Wissen der Akteure im Feld Rekonstruktive Ansatze im qualitativen Forschungslager, die liber die Identifikation von Motiven hinauszugehen trachten, versprechen sich viel von ein systematisches Ausloten des impliziten Wissens. Diese hermeneutisch reichere Wissenssorte soil dem Forscher helfen, nicht nur die Handlungspraxis der Akteure im Feld zu rekonstruieren, sondem dariiber hinaus auch die Prinzipien zu identifizieren, die diese Praxis generieren. Ganz im Sinne der Mehrebenenanalyse ist die Erwartung dabei, von der Mikro- zur Makroebene als handlungsdeterminierende Dimension vorzustoBen. Dies alles unter der theoretisch voraussetzungsvollen Pramisse, dass soziale Wirklichkeit „prinzipiell im Durchgang durch das Erleben derjenigen, die Gegenstand der Forschung sind", rekonstruiert werden kann.^' Die Frage nach der Genese von Zeitorientierung 1 ist freilich komplex. Sie weist letztlich auf das Heimatdorf unserer Gruppe als sozialisatorische Instanz zuriick: Wie „erzieht" das Dorf als soziales und architektonisches Gebilde seine ^ Es gibt im rekonstruktiven Lager der qualitativ verfahrenden Forscher keinen Konsens dariiber, wie der Zugang zur sozialen Wirklichkeit erreicht bzw. wie die Bestimmung der diese WirkUchkeit generierenden Prinzipien erzielt werden kann. Die Geister scheinen sich hier danach zu scheiden, welche Rolle dem Wissen und dem Erleben derjenigen zugeschrieben wird, die Gegenstand der Forschung sind. Man konnte beziiglich dieser Problematik grosso modo zwei Positionen unterscheiden: auf der einen Seite diejenigen - wir wollen diese vereinfachend die „Subjektivisten" nennen -, fur die Wissen und Erleben der Akteure im Feld notwendige und hinreichende Bedingungen fiir die Rekonstruktion von Sinnstrukturen darstellen. Auf der anderen Seite lassen sich diejenigen unterscheiden - wir wollen diese ebenso vereinfachend die „Objektivisten" nennen -, flir die Wissen und Erleben lediglich Oberflachenstrukturen darstellen, die auf verborgene Strukturgesetzlichkeiten hinweisen. Beide Positionen lassen sich dementsprechend auch im Hinblick auf ihre unterschiedliche Weise, Latenz aufzufassen, unterscheiden: bei den „Subjektivisten" bezeichnet Latenz einen Wissenszustand des Akteurs, der auf die Explikationsarbeit des Forschers warten muss, um in den Status des Manifesten iiberfiihrt zu werden. Fiir die „Objektivisten" steht hingegen Latenz fiir ein dem hidividuum extemes Wissen, auf das der Forscher zuriickgreifen kann, um dem Handeln des Akteurs (objektiven) Sinn zu verleihen. Bei einem Autor wie Oevermann dient beispielsweise dieses Wissen dazu, Strukturgesetzlichkeiten zu rekonstruieren, welche die „Regeln" der Erzeugung von Bedeutung angeben. Trotz dieser Unterschiede operieren beide Ansatze auf der Basis eines ahnlichen Prinzips: Die Unterscheidung und Kontrastierung zwischen Manifestem und Latentem bzw. zwischen einem expliziten und reflexiven Wissen einerseits und einem a-theoretischen, vorreflexiven und impliziten Wissen andererseits.
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Bewohner zu einem bestimmten Umgang mit Zeit? Diese Frage ist wie gesagt, unter Bezugnahme auf das Wissen (explizites sowie implizites) der Akteure im Feld nur sehr begrenzt zu beantworten. Um diese Wirklichkeit in ihren vielfaltigen Dimensionen und Facetten zu erschlieBen, sind wir iiber relevante Interviewsequenzen hinaus auch auf die Beobachtung am Ort angewiesen. An dieser Stelle ist die ethnographische Kompetenz des Ethnologen gefragt. Die Interviews geben Auskunft sowohl tiber die Motive der Anpassung an die Zeit der Arbeit, als auch uber die Grunde fiir die Beibehaltung der Grenze zwischen strukturierter Arbeitszeit und unstrukturierter Freizeit. Sie geben allerdings auf die schwierige Frage kaum Auskunft, wie Zeitorientierung 1 entsteht. Man kann grundsatzlich die Ansicht teilen, dass „Akteure im Forschungsfeld selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen" (Bohnsack 2005: 74), dass sie mehr wissen als sie explizit zu wissen vorgeben. Die Forderung, nach der alle relevanten Aspekte fiir eine sinnvolle Rekonstruktion der Zeitorientierung im Wissen der Akteure im Feld reprasentiert sein sollten, scheint aber, zumindest in unserem Fall, iiberzogen zu sein. Wohlgemerkt: Der sinnverstehende Ansatz bleibt der wichtigste Zugang zur Handlungspraxis der Akteure, der diskutierte Fall zeigt aber, dass die mittels Anschluss an Wissensstrukturen (sowohl explizite als auch implizite) erzielten Erkenntnisse von gezielten Beobachtungen und ethnographischer Arbeit flankiert werden mlissen.^^
Generalisierung Unsere Darstellung der Logik rekonstruktiven Verfahrens ware unvollstandig, wenn wir nicht auf das Problem der Generalisierung eingehen wiirden. Das Problem der Generalisierung entspricht in unserem Fall der Frage, wie Zeitorientierung 2 eigentlich entsteht. Von einer handlungstheoretischen Perspektive aus betrachtet, bedeutet dies danach zu fragen: welche Verkettung von
^ Man konnte das hier gemeinte Problem auch so ausdriicken: Die „gesellschaftlichen Bedingungen von Erfahrung" werden in dem besprochenen Fall in nur sehr beschrankter Form im Erleben reprasentiert. Die interpretanda geben nur Auskunft dariiber, was die Gruppe sieht und erlebt. Zu den Dingen, die die Gruppe nicht sieht, gehort beispielsweise die Tatsache, dass das heimatliche Dorf als Sozialisationsort ihren Bewohnem einen bestimmten Umgang mit Zeit „auferlegt". Dazu gehort auch die Tatsache, dass die Vereine im Aufnahmeland unter anderem auch die Funktion haben, Segmente der ansozialisierten Zeit (als Freizeit) wieder verfiigbar zu machen. Beide Situationen verweisen auf einen Wissensfundus, zu dem der Forscher nicht allein durch Anschluss an das „Erlebte" der Akteure im Feld gelangen kann. Neben dem Rekurs auf das Erlebte sind hier wie gesagt auch andere Datenquellen unerlasslich: Protokolle aus (teilnehmender) Beobachtung, das Heranziehen von Dorftopographien oder die Grundrisse von typischen Vereinen. Fur eine eingehende Analyse verweise ich auf Cappai (2005).
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Interaktionsablaufen auf der Mikroebene hat zu einer Transformation von Zeitorientiemng 1 und dann zur Bildung von Zeitorientierung 2 gefiihrt? Vor allem zwei Mechanismen, die im Wesentlichen Lernprozesse bezeichnen, wurden als entscheidend fur diesen Ubergang identifiziert: Zum einen die Erfahrungen mit Institutionen, Routinen und Akteuren im Aufnahmeland, zum andem der Verein als Ort des Informationsaustausches und gegenseitiger Beeinflussung, als Ort also, an dem die Wertschatzung der strukturierten Zeit der Arbeit und schlieBlich ihre Akzeptanz beschleunigt wurde. Insbesondere bei der Erforschung fremdkultureller Phanomene ist das Hauptproblem oft nicht so sehr die nicht erfolgte, sondem die falsche Generalisierung. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn ausgehend von der Feststellung individueller Glaubensvorstellungen, Verhaltensw^eisen oder Erwartungen auf eine Gesamtheit geschlossen wird, von der man annimmt, sie inkludiere auf dieselbe Weise alle ihre Elemente. Die Wirklichkeit fugt sich allerdings schlecht in dieses Bild ein, denn auch bei relativ geschlossenen Gruppen kann von einer Homogenitat der Anschauung, des Verhaltens und der Erwartung gar keine Rede sein. Die Ausarbeitung von Typiken am Fall kann der Gefahr der falschen Generalisierung entgegenv^irken, weil sie die typischen Brechungen zeigen, die kulturelle Vorgaben durch die spezifische soziale Lage, in denen sich Individuen befmden, erfahren.^^ Es muss andererseits unterstrichen werden, dass der Nachweis von Typiken am Fall das Gruppencharakteristische nicht aus den Augen verlieren darf Verleiht man idiosynkratischen Aspekten eine zu groBe Bedeutung, dann verschwindet die Folic, auf Grund der Differenz erst feststellbar ist. Generalisierung und Partikularisierung verweisen aufeinander: Gerade der Nachweis der Mehrdimensionalitat des Falls macht seine Generalisierung plausibel. Anders gewendet: Typiken gewinnen dadurch an Validitat, dass der Forscher zeigt, v^ie diese Artikulationen desselben Falls darstellen (Bohnsack/Nohl 2007). Wichtig ist dabei zu beachten, dass die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen des Falls nicht ex ante bestimmt werden. Es sind Individuen in Positionen (soziale Lagen), die durch ihre Relevanzfestlegungen, Perspektivierungen und auch Ausblendungen die Mehrdimensionalitat des Falls anzeigen. An der Zeitproblematik bei unserer Gruppe haben sich vor allem zwei Dimensionen als zentral erwiesen: die Generation und das Geschlecht. Beide Di^^ Robert Mertons Analyse des Zusammenhangs von Anomie und sozialer Struktur ist beispielhaft in diesem Zusammenhang. In Social Structure and Anomie zeigt Merton (1968), wie dieselbe kulturelle Botschaft - Erfolg im Wirtschaftsleben - von Angehorigen unterschiedlicher sozialer Lagen unterschiedlich verwirklicht wird. Derselbe kulturelle Code erfahrt bei ihren Empfangem eine unterschiedliche Realisierung.
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mensionen liefern die Folie, auf deren Hintergrund es moglich ist, die je spezifischen Relationierungen zum Problem Zeit nachzuvollziehen. In diesem Rahmen kann nur angedeutet werden, dass innerhalb der untersuchten Gruppe die Alteren auch diejenigen sind, die die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung zwischen der strukturierten Zeit der Arbeit und der unstrukturierten Freizeit starker empfmden als jtingere. Die Jiingeren miissen nicht im selben AusmaB wie die Alteren mit dem Problem der Freizeitreglementierung kampfen, weil Migrantenkinder ungleich besser als ihre Eltern in die soziale Wirklichkeit des Aufnahmelandes integriert sind. Der Verein erfullt in diesem Fall andere Funktionen als fiir die im Ursprungsland sozialisierte altere Generation. Unter den alteren Menschen sind es wiederum Manner, die mehr als Frauen das Bedtirfnis einer klaren Abgrenzung zwischen der strukturierten Arbeitszeit und der unstrukturierten Freizeit empfinden. Dies unter anderem, weil fur die Frauen Freizeit schon in der Heimat eine knappere Ressource darstellte als flir die Manner. Dariiber hinaus haben Frauen durch ihre roUenspezifischen Aufgaben in der Regel eine bessere soziale Anbindung an die Aufnahmegesellschaft. Sie erledigen in der Regel biirokratische Angelegenheiten und gestalten die Freizeit ihrer Kinder, die zwangslaufig mit der Freizeit anderer Kinder der Mehrheitsgesellschaft synchronisiert werden muss. Geschlecht und Generation machen also einen Unterschied in der Wahrnehmung des ansonsten von der Gruppe geteilten Problems der Zeitreglementierung im Aufnahmeland. Es handelt sich aber, wie gesagt, um eine Differenz, die Gemeinsamkeiten nicht aus den Augen verlieren darf. Das Prinzip des „Kontrastes in der Gemeinsamkeit" erlaubt es den Begriff von Kultur frei von Homogenitatsannahmen zu verwenden und gestattet es nachzuvollziehen, dass auch bei Migranten vom selben geographischen bzw. ethnischen Ursprung keineswegs von einer Gleichheit der Erfahrung und der Einstellung ausgegangen werden kann.^'^
^ Es gibt freilich keinen Grund dafiir, bei der Identifizierung von Bedeutungsdimensionen bei gruppenhaften Sinngebilden stehen zu bleiben. Sinntrager sind nicht nur Gruppen, sondem zugleich auch hidividuen. Die Analyse von Bedeutung muss also bis zum Individuum voranschreiten, denn rekonstruktive Sozialforschung darf nicht die Frage vemachlassigen, welche Rolle die „Personlichkeit" als autonome Handlungsdimension bei der Ubersetzung vorhandener kultureller Vorgaben eigentlich spielt. KoUektives Handeln ist, zumindest in dem hier besprochenen Fall, das Resultat der Aggregation von hidividuen mit ahnlicher Erfahrungsschichtung. Es sind Individuen mit ahnlichem Sozialisationshintergrund, die eine bestimmte Zeitorientierung an den Tag legen, und es sind wiederum hidividuen mit ahnlichen Bediirfnissen, die eine selektive Aneignung vorgefundener Zeitmuster vomehmen. Es sind schlieBlich hidividuen, die den Verein als eine geeignete Form von Sozialitat betrachten, die ihnen erlaubt, vertraute Umgangsformen mit Zeit zu reaktualisieren.
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Wie alle Strategien der Generalisierung ist auch die soziogenetische Typenbildung, die wir gerade diskutiert haben, der Gefahr des Ethnozentrismus exponiert. Dies ist besonders dann der Fall, wenn sich der Forscher unfahig zeigt, die Verwurzelung in der Praxis der eigenen Gesellschaft/Kultur, sowie seine theoriebedingte Voreingenommenheit nicht unter Kontrolle zu bringen. Wie lasst sich das Gebot der Generalisierung mit jenem der nicht ethnozentrischen Urteilsbildung verbinden? Wie lasst sich der Ubergang von Zeitorientierung 1 zu Zeitorientierung 2 in der Weise rekonstruieren, dass die Beobachterperspektive die Teilnehmerperspektive angemessen beriicksichtigt, ohne ihr sklavisch zu folgen?
Die Herausforderung des Ethnozentrismus Mit dem Begriff „Ethnozentrismus" beriihren wir ein Problem, das schon immer im Mittelpunkt ethnologischer Diskussion stand. Unter Ethnozentrismus woUen wir jene Haltung verstehen, die den eigenen Standpunkt verallgemeinert, ohne ihn als den eigenen zu bezeichnen. Es geht hier also um das Problem des naiven Beobachters, der die eigene Standortgebundenheit nicht reflektiert, der die Kontrastfolie, aufgrund derer etwas als etwas sichtbar wird, nicht hinterfragt. Mochten zeitgenossische Erklarungsansatze, die bewusst in Distanz zum einseitig okonomisch orientierten Erklarungsparadigma treten, Kultur bei der Handlungskonstitution angemessen wiirdigen (Esser 2004), dann steigt die Erwartung an sie, dass sie sich gegen die Gefahr des Ethnozentrismus schtitzen. Manche rekonstruktiven Forschungsansatze in der qualitativen Sozialforschung scheinen hier (noch) einen Vorsprung zu haben. Diese versuchen der Gefahr des Ethnozentrismus dadurch vorzubeugen, dass sie den Standort des Beobachters genau reflektieren. Diese Ansatze erkennen die Standortgebundenheit des Interpreten als ein echtes Problem an, sie vertrauen aber gleichzeitig auf die Moglichkeit, den aus dieser Verankerung resultierenden Ethnozentrismus unter Kontrolle zu bringen. Was bedeutet empirisch, den Ethnozentrismus des Interpreten unter Kontrolle zu bringen? Von unmittelbarer Relevanz fur unsere Argumentation ist die Beobachtung, dass wissenssoziologische Ansatze wie die von Karl Mannheim (1985) die These der „Seinsverbundenheit" von Wissen und Denken auch auf den Forscher beziehen. Auch fur diesen gilt, dass die Seinslage nicht allein etwas uber das historische Entstehen von Gedanken besagt, sondem auch konstitutiv in das Denkergebnis, in dessen Inhalt und Form, hineinragt (ebd. 239). Den Relativismus, der damit hereinzubrechen droht, versucht man hier mit dem „Relationismus" aufzufangen, dadurch also, dass unterschiedliche und auch diskordante
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Perspektiven im Hinblick auf ihre sozio-historische Bedingtheit beleuchtet und dadurch methodiseh kontrollierbar werden (ebd. 244).^^ Mannheims Strategie der Uberwindung des Ethnozentrismus durch Problematisiemng des sozialen Standortes des Interpreter! fmdet heute methodologisch und methodisch ihren iiberzeugendsten Ausdruck im Programm der „rekonstruktiven Sozialforschung", so wie sie heute von Autoren wie Ralf Bohnsack vertreten wird. Im Zentrum seiner Uberlegung zum Problem des Ethnozentrismus steht die Annahme, dass die erste Wahmehmung des Feldes und die sich darauf stiitzenden Erkenntnisse unvermeidlich durch die besondere Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters, durch seine Verankerung in seiner konkreten Lebenswelt, konditioniert sind. Wie lasst sich diese soziostrukturelle Befangenheit (iberwinden? Die Strategie besteht darin, die Perspektive des wissenschafthchen Beobachters durch die Perspektive der im Feld involvierten Akteure sukzessive zu ersetzen: An die Stelle der eigenen (des Forschers) Normalitats- und Erfahrungshorizonte sollen empirisch fundierte Horizonte anderer Gruppen und Milieus herangezogen werden (Bohnsack 2000: 143-177). Es sind mit anderen Worten die erforschten Subjekte selbst, mit ihrer typischen Sprache und ihren Verhaltensweisen, mit ihrer typischen Art der positiven oder negativen Abgrenzung von anderen Gruppen und mit ihren typischen Identitatskonstruktionen, die dem Forscher einen Zugang zur existentiellen Verankerung von Erfahrungs- und Bewusstseinsbildung ermoglichen. Migranten stellen in diesem Kontext einen besonders instruktiven Fall dar, denn das Leben in der Situation der Migration pradisponiert zum spontanen Vergleich und dadurch zur Reflexion tiber die Bedingungen von Differenzerfahrung. Diese Disposition des Migranten zum spontanen Vergleich kann vom Forscher produktiv genutzt werden. Beobachtet der Forscher, wie Migranten ihre Umwelt beobachten, dass diese oft die Gastgesellschaft aus der Perspektive der Herkunftsgesellschaft und diese aus der Perspektive jener wahrnehmen und beurteilen, so hatte dieser die Chance, nicht nur tiber die Herkunftsgesellschaft der Migranten, sondem auch tiber die Aufnahmegesellschaft Wichtiges zu lernen. Unter Bezugnahme auf unsere Gruppe lernen wir beispielsweise, dass beide, Herkunft- und Aufnahmegesellschaft, dazu neigen, die Grenze zwischen der ^^ Vor allem heutige Forscher, die sich dem „rekonstruktiven Paradigma" verbunden fiihlen, beziehen sich auf Mannheim und begreifen die „Aspekthaftigkeit" des Denkens als eine wertvolle Ressource, an die der Wissenschaftler anschheBen kann. Will man das Verhalten von kidividuen und Gruppen in seiner Genese und spezifischen Orientierung nachvollziehen, so hier die Annahme, muss man den Blick auf die sozialen Konstitutionsbedingungen von Erleben und Erfahrung von Handelnden richten. Dazu Bohnsack (2003).
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produktiven Zeit der Arbeit und der Freizeit zu verwischen, dies jedoch mit jeweils gegenteiligem Vorzeichen. In der Herkunftsgesellschaft fmden wir eine Starke Neigung, Verhaltensweisen, die typisch fur die Sphare der Freizeit sind, in die Sphare der produktiven Zeit zu importieren. In der Aufnahmegesellschaft hingegen lasst sich eine starke Tendenz registrieren, die Sphare der Freizeit durch Zeitreglementierungen zu „kolonisieren", die typisch fur die strukturierte Arbeitszeit sind. Die als Vorteil angesehene Zeitstrukturierung in der Produktions- und in der offentHchen Dienstleistungssphare im Aufnahmeland veranlasst schHeBHch die Gruppe zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den im Herkunftsland iiblichen Umgangsformen mit Zeit. Diese werden als „unvemunftig" und als solche nicht mehr als orientierungsrelevant angesehen. Der besprochene Fall ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil er zeigt, dass Migranten nicht nur eine Relativierung des „Fremden", sondem auch des aus der Heimat „Vertrauten" vomehmen konnen.
Abschliefiende Betrachtung Unter Bezugnahme auf ein Beispiel aus der Migrationsforschung wurde gezeigt, dass Sozialwissenschaftler, die rekonstruktiv vorzugehen beabsichtigen, dann gut verfahren, wenn sie das zu untersuchende Phanomen einer Mehrebenenanalyse unterziehen. Werden vom Forscher mehr als bloBe Beschreibungen und typlogische Klassifizierungen anvisiert, soil also auch eine Erklarung des Phanomens Forschungsziel sein, dann ist es angeraten, die Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makroebene angemessen zu beriicksichtigen. Die Wechselwirkung zwischen diesen zwei Analyseebenen hat sich in Bezug auf die abgehandelte Zeitproblematik als von zentraler Bedeutung erwiesen. Dadurch wurde einerseits verstandlich, wie die traditionelle, aus der heimatlichen Alltagspraxis bekannte Zeitorientierung das Verhalten der Gruppe in der Aufnahmegesellschaft beeinflusst (Verhaltnis Makro-Mikro). Dadurch wurde aber andererseits auch ersichtlich, wie die neue, im Aufnahmeland angeeignete Zeitorientierung das Resultat einer Selektion darstellt, zu der die Gruppe im Verlauf von Interaktionsprozessen im Alltag gelangt (Verhaltnis Mikro-Makro). Wahrend in der Sphare der Produktion und Dienstleistung einsichtsvolle Anpassung an eine fur „rationar' gehaltene Zeitstrukturierung stattfindet, tut sich die Gruppe schwer, die Sphare der informellen Zeit, also die „Freizeit", einer strengen Zeitstrukturierung zu unterziehen. Zu diesen Ergebnissen kann freilich der Forscher nicht ohne angemessene Beriicksichtigung der Sicht der Akteure im Feld gelangen. Erst der Anschluss an
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ihre Wissenskonstrukte bzw. an ihre Definition der Situation gestattet es, jene Abstraktheit zu iiberwinden, die alien jenen Erklarungsmodellen anhaftet, fiir die Zweckrationalitat mehr ist als ein heuristisch fruchtbares Forschungsprinzip. Der Bezug auf das Wissen der Akteure, vor allem auf das „implizite Wissen", gestattet es, tiefer sowohl in die Struktur von Entscheidungen als auch in die diese Entscheidungen konditionierenden Phanomene einzudringen. Mit anderen Worten: Der Bezug auf das Wissen der Akteure im Feld gestattet es Mikro- und Makroebene genauer und realistischer zu qualifizieren und dadurch jene Mechanismen zu identifizieren, die Handlungen generieren und verandem. Das Beispiel der Zeitorganisation wurde als Anlass genommen, um zwei Probleme zu diskutieren, mit denen empirische Forschung im fremdkulturellen Kontext oft zu ringen hat: Diese sind Ethnozentrismus und Generalisierung. Dabei hat sich gezeigt, dass die „Generalisierung" dann problematisch wird, wenn diese auf der Grundlage eine Homogenitatsannahme voUzogen wird, die unplausibel erscheint. Diese Homogenitat erweist sich in dem Moment als problematisch, in dem gezeigt werden kann, dass eine Ubersetzung kultureller Deutungs- und Handlungsmuster durch Geschlecht und Generation stattfmdet. Ethnozentrismus habe ich als das Resultat eines naiven Umgangs mit Daten defmiert. Beim Ethnozentrismus wird die Kontrastfolie, aufgrund derer etwas als etwas sichtbar wird, nicht reflektiert. In der Thematisierung des Standortes des Forschers als Interpreten, in der Explikation seiner Standortgebundenheit, besteht der Ausweg aus dem Ethnozentrismus.
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III. Deutungsmuster und kulturelle Vorgabe
Die „dichte" Lebensgeschichte - Uberlegungen zu den Methoden der empirischen Sozialforschung im interkulturellen Kontext Shingo Shimada
1. Die empirische Sozialforschung, so wie sie im deutschsprachigen Raum verstanden wird, geht gmndsatzlich davon aus, dass in ihren Forschungsfeldem die Probleme der Fremd- oder Interkulturalitat nicht vorkommen. Voraussetzung der Forschung ist eine durch kulturelle Homogenitat gepragte Gesellschafl, in der zwar durchaus Fragen der Verstehbarkeit auftreten konnen, welche sich aber durch hermeneutische methodische Vorgehensweisen bewaltigen lassen. Ausgeblendet wird hier der kulturelle Fremde, der auBerhalb der eigenen Gesellschaftlichkeit angesiedelt vorgestellt wird. Diese Tatsache ist wohl auf die historisch weit zuriickliegende Arbeitsteilung zwischen der Soziologie und der Ethnologic zuriickzuflihren, durch die die methodischen Probleme, die aus der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen entstehen, in erster Linie der Ethnologic zugesprochen wurden. Zwar iibernahm die empirische Sozialforschung einzelne Methoden der Ethnologic wie die teilnehmende Beobachtung und Ethnographic in ihren Methodenkanon, doch konnte sie bisher die grundsatzliche Frage nach dem fremdkulturellen Verstehen weitestgehend ausblenden. Die gegenwartige gesellschaftliche Situation, die haufig mit dem Ausdruck der Globalisierung beschrieben wird, stellt jedoch eine solche im Grunde aus dem 19. Jahrhundert stammende Arbeitsteilung zunehmend in Frage. Denn man trifft in den klassischen soziologischen Forschungsfeldem, z. B. in den Betrieben oder in den urbanen Lebensraumen schon langst auf die Problematik der fremden Kulturen. Zugleich ist die Ethnologic in ihren klassischen Arbeitsfeldem auBerhalb Europas mit urspriinglich soziologischen Themen wie der Verstadterung, der Anomie oder der Individualisierung konfrontiert. Vor diesem Hintergrund ist die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion auf die Methoden der empirischen Sozialforschung offensichtlich geworden. Daher mochte ich mit diesem Beitrag versuchen, einige methodische Ansatze zu entwickeln, die fiir die oben dargestellte gesellschaftliche Situation angemessener sind als die bisherigen.
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Dabei beziehe ich mich theoretisch, wie der Aufsatztitel zeigt, auf das Konzept der „Dichten Beschreibung" von Clifford Geertz, das mit seinem Begriff der Kultur als „selbstgesponnenem Bedeutungsgewebe" eng zusammenhangt (Geertz 1987). Gegeniiber diesem Kulturkonzept ist vielfach Kritik geiibt worden, die sich in zwei Punkten zusammenfassen lasst: Zum einen ist dieses Kultur- und Methodenkonzept allzu statisch und geht iiber die konventionelle essentialistische Vorstellung von Kultur nicht hinaus. Zum anderen spricht Geertz nur uber die fremden Kulturen, ohne die Angehorigen der entsprechenden Kulturen zur Sprache kommen zu las sen, so dass die aktive subjektive Teilnahme der gesellschaftlichen Akteure an der Kultur nicht sichtbar wird. Wenn wir davon ausgehen, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit permanent durch die aktiven Teilhaben ihrer Mitglieder konstruiert wird, liegt hierin ein entscheidendes Defizit. Diesen Problemen kann mit den in der Soziologie und Psychologie entwickelten Ansatzen der Biographie- und Erzahlforschung begegnet werden. Denn diese methodischen Ansatze bieten genau das, was bei Geertz bemangelt wird, namlich die sozialen Akteure selbst zu Wort kommen zu lassen und dies zur Grundlage der Interpretation fremder Wirklichkeiten zu machen. Daruber hinaus lasst dieser methodische Zugang in viel starkerem MaBe als die "dichte Beschreibung" den dynamischen Aspekt einer Kultur hervortreten. Somit lassen sich diese methodischen Ansatze mit der Konzeption der "Kultur als Ubersetzungsprozess" in Einklang bringen und in die Wissenssoziologie der kulturellen Wechselwirkungen einbetten.' Diese Aspekte aufgreifend soil im vorliegenden Text das Geertzsche Konzept dadurch erweitert werden, dass ihm ein narratives Moment hinzugefiigt wird. Durch diese Erweiterung wird Kultur nicht als eine vorhandene Tradition oder als ein „Bedeutungsgewebe" verstanden, sondem als pragmatischer Handlungsvollzug in Form der Erzahlung. Insofem wird Kultur als dynamischer Prozess gesehen, in dem die semantischen Gehalte durch standige Handlungsvollziige der Individuen zum Ausdruck gebracht werden, sich aber zugleich auch verschieben. Die Forscher beteiligen sich an diesem kulturellen Prozess als Interviewer und beeinflussen notwendigerweise die Art und Weise der narrativen Realisation der Semantiken. Insofern ist der beteiligte Forscher ein privilegierter Interpret dieses Vorgangs. Dabei ist die Sinnproduktion kein rein individueller Akt, sondem sie enthalt stets die soziale Dimension, die in den dokumentierten Texten zum Ausdruck kommt. Im Folgenden steht die methodische Frage nach dem Verhaltnis zwischen der individuellen Selbstkonzeptualisierung Den Ansatz der Kultur als Ubersetzungsprozess habe ich in meinen beiden Buchem ausgearbeitet (Shimada 1994; 2000). Zur Wissenssoziologie der kulturellen Wechselwirkung vgl. Shimada (2001).
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und der Kultur im Vordergrund. Die Verschrankung zwischen dem Selbst und der Kultur wird anhand einer lebensgeschichtlichen Erzahlung eines japanischen Kunsttopfers, dargestellt.^ Dabei wird das Verhaltnis zwischen den vorhandenen kulturellen Semantiken und ihrer individuellen Realisierung durch eine lebensgeschichtliche Erzahlung aufgezeigt, woraus methodische Konsequenzen ausgearbeitet werden.
Der Kunsttopfer M. lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindem in Seto, einer Kleinstadt im GroBraum Nagoya, die durch ihre traditionelle Kunsttopferei landesweit bekannt ist. Im japanischen Kontext ist die Unterscheidung zwischen der Topferei als Handwerk und der Kunsttopferei kaum gegeben. Im vorliegenden Fall geht es aber um einen namhaften Kunstler. Insofem handelt es sich hier um einen speziellen Fall der Autobiographic. Diese Konstellation lasst einerseits erwarten, dass hier eine hochst individualistische Lebensgeschichte erzahlt wird, andererseits kommt die Frage auf, wie reprasentativ seine Lebensgeschichte fur die allgemeine Bevolkerung ist. Allerdings geht es hier nicht um die Typisierung allgemein verbreiteter Lebensgeschichten, sondem um die Frage, wie in einer individuellen Erzahlung bestimmte kulturelle Elemente zum Ausdruck kommen und sichtbar gemacht werden konnen. Insofern gehe ich hier nicht weiter der Frage nach der Reprasentativitat dieser Lebensgeschichte nach. Die Lebensbeschreibung von Herm M. ist die Schilderung seines erfolgreichen beruflichen Werdegangs, den er chronologisch erzahlt. Den Beginn bildet der Verweis auf seine familiare Herkunft, die fiir seinen beruflichen Lebensweg bedeutsam ist:
Das Interview wurde im Rahmen des Forschungsprojektes ,^rbeitszeit, Freizeit, Familienzeit Der Umgang mit westlichen Zeitlichkeitskonzepten in der japanischen Gesellschaft", am 17.05. 1996 von der Projektmitarbeiterin Sonja Gabbani gefuhrt. Das Forschungsprojekt wurde am sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universitat Erlangen-Niimberg mit der fmanziellen Unterstiitzung der Volkswagen-Stiftung im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Das Fremde und das Eigene - Probleme und Moglichkeiten interkulturellen Verstehens" zwischen 1993 und 1996 durchgefiihrt. Der vorliegende Beitrag basiert auf dem unveroffentlichten Endbericht dieses Projektes, an dem Sonja Gabbani, Midori Ito, Sibylle Kalupner und Michael Lappler mitgearbeitet haben (Shimadau.a. 1997). Vgl. auch Gabbani (2004: 162ff).
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Als ich klein war, haben meine Eltem und auch schon mein GroBvater Topferwaren gebrannt. Bis zu meinem GroBvater war es ein ziemlich groBer Betrieb. Also seit Generationen, konnte man sagen, waren sie Topfer.^
Herr M. stellt sich als Kind einer traditionsreichen Kunsttopferfamilie vor. Bereits hier wird die Tendenz sichtbar, die die ganze Erzahlung pragt: Das Selbst wird stets in der Zugehorigkeit zu unterschiedlichen Institutionen dargestellt, und auch die spateren Erfolge werden nicht durch die eigene Leistung erklart. Herm M's Darstellung ist getragen von der Vorstellung einer traditionellen Familienform. Die Kontinuitat, die er betont, ist Ausdruck des traditionellen japanischen Konzeptes „ie", da Herr M. sich als Teil einer der Tradition verpflichteten Familie sieht. Dies geht wiederum mit dem allgemeinen Bemfsverstandnis der Kunsttopfer in Japan einher, deren Handwerk als traditionell eingestuft wird. Doch methodisch ware es problematisch, dabei stehen zu bleiben, denn eine wissenssoziologische Analyse zeigt, dass das traditionelle japanische Familienkonzept ein Produkt des friihen Modemisierungsprozesses in Japan darstellt, wodurch es eine auBerst hybride Semantik aufweist/ Mit einer zusatzlichen wissenssoziologischen Analyse lasst sich aufzeigen, dass die Konzeptualisierung des Selbst in dieser Lebenserzahlung von Grund auf die Charakteristik der Hybriditat auJ^eist, auch wenn der Erzahler selbst sich mit dem Hinweis auf die Tradition eine gewisse kulturelle ,^einheit" impliziert. Nach der kurzen Darstellung seiner Familiengeschichte geht Herr M. besonders auf die fmanziellen Schwierigkeiten der Familie ein. Im Rahmen dieser Beschreibung der familiaren Situation erwahnt er schlieBlich seine Geburt: Als ich geboren wurde, da batten sie [die Eltem] die Schulden zuriickgezahlt und fiihrten ein gewohnliches Leben. Ich habe nichts gewusst von diesen qualvollen Dingen.
Er verweist damit auf seine sorglose Kindheit. Doch diese Interviewpassage verdeutlicht, wie er seine Person in die Erzahlung einfugt. Seine Perspektive ist nicht subjektiv von Innen nach AuBen, sondem das Selbst wird in den historischfamiliaren Kontext gestellt. Erst nachdem er seine Geburt innerhalb des Familienkontextes verortet hat, datiert er sie: Ich bin 1950 geboren, also im fiinften Jahr nach Kriegsende.
^ Die Interview1;exte sind vom japanischen Original ins Deutsche iibersetzt. Auf die linguistischen Konsequenzen, die die Ubersetzung mit sich bringt, wie z.B. die Schwierigkeit des Pronomens ,ich', gehe ich in diesem Beitrag nicht ein. " Vgl. dazu Shimada (2000: 54-72).
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Erst hier geschieht die Einbettung seines Lebens in den groBeren historischen Zusammenhang, indem zum einen eine allgemein gultige Jahreszahl angegeben und zum anderen der II. Weltkrieg als BezugsgroBe erwahnt wird. AnschlieBend wird seine Kindheit wahrend der Nachkriegszeit beschrieben, die er unter der USamerikanischen Besatzungsmacht erlebte. Dabei erinnert er sich besonders an die Lebensmittelknappheit. Sein Hinweis, „zu so einer Generation gehore ich" (so iu nendai nande), den er in diesem Zusammenhang auBert, impliziert zwar eine gesamtgesellschaftliche Perspektive, dennoch sind es vor allem seine familiaren Erfahrungen, die er direkt mit dieser Zeit verbindet. Woran ich mich noch erinnere, ist das Madchen der amerikanischen Familie, von der ich einmal einen ganzen Beutel vol! Candy geschenkt bekommen habe. So etwas war in Japan zu der Zeit nicht iibhch, da gab es hochstens mai ein einzelnes Stiick, doch ich bekam alle Bonbons auf einmal. Da habe ich mich unheimhch gefreut. Solche Bekannten hatten wir. VergHchen mit anderen, gewohnhchen Famihen hatten wir oft ungewohnHche und seltene Esssachen. Solche gliicklichen Erinnerungen habe ich.
Der Interviewte beschreibt hier die Besonderheit seiner Familie, die an hohe Offiziere der Besatzungsmacht wertvolle Kunsttopfererzeugnisse verkauft. Gleich darauf betont er aber zugleich, dass sie „eigentlich eine ganz gewohnliche FamiHe" waren. Zur Bestatigung dieser NormaHtat erzahlt er von seiner Schulzeit, die „ganz normal" verlief. Mit „normal" ist hier das Durchlaufen der japanischen Einheitsschule gemeint, die nach dem Krieg eingefuhrt wurde und sechs Jahre Grund-, drei Jahre Mittel- und drei Jahre Oberschule umfasste. Hier ist als Hintergrundinformation zu erganzen, dass in diesem neuen Schulsystem nach u.s.-amerikanischem Modell das selbstandig denkende, demokratische Individuum zum Erziehungsziel erhoben worden war, das dem das modemisierungstheoretische Denken entsprach. In diesem Sinne wirkte das universalistische Konzept des Selbst direkt auf das Denken von Herm M. Dieses Konzept des modemen Individuums war eng mit der Vorstellung eines Standardlebenslaufs verbunden gedacht, der vor allem durch die homogenisierte Schullaufbahn ermoglicht wurde. Die 'generationelle' Perspektive, die hier deutlich wird, ist insbesondere bei den Geburtsjahrgangen der Nachkriegszeit zu beobachten und wurde durch die Institutionalisierung des Bildungswesens verstarkt. Charakteristisch fur diese Perspektivitat ist ein Selbstverstandnis aufgrund des Vergleiches mit Gleichaltrigen. Dieser Vergleich beruht in der Regel auf gemeinsamen, generationellen Erlebnissen, die jedoch in der Regel an einen institutionellen, interpersonellen oder ortlichen Kontext gebunden sind. In der Erzahlung spielt insbesondere die Oberschule, auf die Herr M. immer wieder zuriickkommt, eine besondere Rolle. In der chronologischen Beschreibung seines Bemfsweges spielt die Oberschule eine wichtige Rolle, in der er sich „wie jedes normale Kind auch" zum ers-
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ten Mai Gedanken liber seine bemfliche Zukunft machte. Bevor er jedoch davon erzahlt, komtnt er auf seinen Bruder zu sprechen: Als ich auf der Oberschule war, dachte ich daruber nach, was ich denn machen konnte. (...) Ich habe noch einen alteren Bruder, wir sind zwei Jungen zu Hause. Meinem Bruder wurde (...) von Kindheit an immer wieder gesagt, dass er dies [die Kunsttopferei] machen soil. Er ging auf die Grund- und Mittelschule und danach auf eine Oberschule fiir Kunsttopferei. Er verlieB auch die Familie, um fiir zwei Jahre bei einem bekannten Meister in die Lehre zu gehen. In Japan ist es so, dass wenigstens einer die Arbeit fortsetzen sollte. Und einer reicht; das war zweifellos mein Bruder.
Herr M. beschreibt hier kurz den Lebenslauf, den sein Bruder einschlug bzw. von den Eltern vorgegeben bekam. Mit der Entscheidung der Eltem, den altesten Sohn das Familienhandwerk erlemen zu lassen, war zugleich auch ein strukturierter Lebensweg fiir ihn bestimmt. Dazu zahlten unter anderem die spezielle Oberschule fur Kunsttopferei sowie zwei Lehrjahre bei einem bekannten Kunsttopfer. Der Satz „In Japan ist es so, (...)" verweist darauf, dass dem Interviewten die kulturelle Differenz bewusst ist. Im Gegensatz zur modemen universalistischen Konzeption des Selbst, in der jeder seinen beruflichen Werdegang frei wahlt, steht hier ein Modell, in dem der Lebensweg vorgezeichnet ist. An ihren zweitgeborenen Sohn hingegen hatten die Eltem keine besonderen Erwartungen, ihm lieBen sie bei seiner Bemfsentscheidung freie Wahl: Und meine Eltem haben niemals gesagt: „Du sollst das tun", sondem mir immer erzahlt, dass ich machen kann, was ich will. „Alles ist O.K.", sagten sie.
An dieser Stelle wird die lebendige Art des Erzahlens sichtbar. Haufig werden direkte Reden von anderen Personen eingefiigt, was auch in anderen Interviews geschieht, die im Rahmen des oben genannten Forschungsprojektes durchgefiihrt wurden. Dies ist charakteristisch fiir die Erzahlperspektive, in der die Relationen zu anderen Personen im Mittelpunkt stehen. Das Selbst des Erzahlers wird stets durch die Blicke der anderen Personen heraus konstituiert und nicht umgekehrt. So empfand Herr M. diese Freiheit, die ihm seine Eltem gewahrten, nicht nur als positiv; vielmehr beneidete er seinen Bmder um dessen eindeutigen Lebensweg, denn „ihn plagten deshalb auch keine Zweifel".^ Herr M. hingegen fuhlte sich Diese Ambivalenz zwischen der Freiheit einerseits und der Orientierungslosigkeit andererseits, die zugleich als die Differenz zwischen dem Erst- und Zweitgeborenen auftaucht, kommt auch in einer weiteren Schilderung iiber ein konkretes Ereignis, das er im Zusammenhang mit seiner Grundschulzeit erinnert, zum Ausdruck: „Wichtig ist nur mein alterer Bruder, auch heute noch ist das so. Er wohnt mit den Eltem zusammen, und wenn er z.B. mit dem Auto zum Einkaufen fahrt, dann sagen die Eltem: ^Oh, pass auf dich auf!' Und das auch jetzt noch, wo er schon 52 ist. Bei mir sagen sie nichts, egal wohin ich gehe. Bis zum funften Jahr auf der Gmndschule waren sie besorgt
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unsicher, well er sich seinen Weg selbst suchen musste. Das bedeutete jedoch nicht, dass er mit seiner Suche und seinen Entschliissen allein war. Dies wird besonders an den Stellen im Interview deutlich, an denen er auf biographische Entscheidungsprozesse eingeht. Hier bezieht er seine soziale Umgebung ein: In Japan ist es so, dass man auf einer privaten Schule keine Priifungen zu machen braucht, weil man die gleiche Mittel- und Oberschule besucht und auch eine Universitat angeschlossen ist. Doch wenn man auf eine offentliche Schule geht, muss man immer wieder beim Wechsel der Schule Aufiiahmepriifungen absolvieren. Fiir meine Eltem war das zu lastig, deshalb wollten sie mich auf eine private Schule schicken. Auch ich dachte mir, dass das doch eigentlich ganz bequem ist. (...) Heute bin ich auch klein, doch damals war ich noch kleiner im Vergleich zu den anderen. Die Nachbam sagten meiner Mutter, dass eine weite Fahrt fiir mich zu anstrengend ware, und deshalb eine Mittelschule in der Nahe besser sein wiirde. Alle sagten so, deshalb habe ich es akzeptiert.
An dem Entschluss, auf eine nahe gelegene offentliche Mittelschule zu gehen, sind vor allem seine Eltem und die Nachbam beteiligt. Explizit erwahnt er ihre Meinungen und beschreibt den Entscheidungsprozess durch die Darstellung der anderen. Das Selbst ist aus dieser Erzahlperspektive in das soziale Netzwerk eingebettet, und auf der Oberflache der Erzahlung sieht es zunachst so aus, als ware er bei dieser Entscheidung ohne eigenen Willen gewesen. Doch erscheint mir diese Interpretation unangemessen, zumal wenn man die Tonbandaufiiahme dieser Interviewpassage zu Hilfe nimmt. Denn sie vermittelt keineswegs das Bild eines selbstlosen Individuums, sondem durchaus das eines selbstbewussten Mannes. Der letzte Satz dieser Erzahlsequenz, „alle sagten so, deshalb habe ich es akzeptiert" verweist darauf, dass er seine Entscheidung in Ubereinstimmung mit seinem sozialen Umfeld traf Und seine subjektive Souveranitat besteht darin, dass er mit den Meinungen der anderen selbstandig und umsichtig umgehen und seinen Lebensweg in Ubereinstimmung mit der sozialen Umgebung bestimmen kann. Darin liegt die kulturelle Vorgabe der erfolgreichen narrativen Selbstdarstellung im japanischen Kontext. Die in Deutschland haufig anzutreffende narrative Darstellung der „Selbstverwirklichung" wiirde hier das Ziel der positiven Inszeniemng des Selbst verfehlen, weil sie als eine iibertriebene Selbstzentriertheit der Perspektive interpretiert wiirde.^ So ist hier diese Erzahlweise als ein kulturelles Muster der Selbstin-
um mich, danach nicht mehr. Damals war ich noch ein Kind. Doch dann gab es ein Ereignis: eine Ausstellung in Nagoya, wo meine Freunde hingehen wollten. Anfangs sagte ich zu. Dann habe ich mir gedacht, dass es meine Mutter niemals erlauben wiirde. Aber sie sagte einfach: ,Geh doch hin!'. ^Ah', habe ich damals gedacht. Ich war iiberrascht und fuhr hin. Ich weiB nicht auf welche Weise meine Eltem sich gewandelt haben, aber von da an [seit dem sechsten Grundschuljahr] haben meine Eltem nichts mehr gesagt." Im Rahmen des oben genannten Forschungsprojektes vergleicht Midori Ito lebensgeschichtliche Erzahlungen deutscher und japanischer Hausfrauen und arbeitet in ihrer Dissertation genau diese Differenz heraus (Ito 2003).
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szenierung zu verstehen. Methodisch bedeutet dies, dass man bei der Interpretation eines Interviewtextes nicht nur die semantischen Inhalte, sondem auch das in ihm implizit enthaltene Erzahlmuster berucksichtigen muss. Diese Erzahlperspektive zeigt sich auch bei der Schilderung seiner ersten Berufsplane, die, wie bereits erwahnt, in die Zeit der Oberschule fielen: Mein Vater sagte zur Zeit der Oberschule, als ich iiberlegte, was ich denn machen sollte, dass ich fur eine Firma nicht geeignet bin. Deshalb ware es wohl besser, wenn ich etwas finden wurde, was ich allein machen konnte. (...) Sie [die Eltem] sagten, dass ich kein Typ fur die Firma bin. Und ich dachte es auch. AuBerdem wurde es mir auch immer so gesagt. Ich glaubte, dass ich so etwas nicht kann, weil ich egoistisch bin. Deshalb dachte ich zur Oberschulzeit, dass ich nach irgendetwas suchen muss, was ich selber machen kann.
Herr M. erwahnt hier zum ersten Mai expHzit seinen Vater. Dass er ihn im Zusammenhang mit der zentralen Frage des Berufsweges nennt, deutet darauf hin, dass der Vater eine wichtige Bezugsperson ist. Zwar schrieb der Vater dem Sohn seinen Berufsweg nicht vor, aber seine Meinung hatte offensichtlich Bedeutung fiir den biographischen Entscheidungsprozess. Der Ausspruch „und ich dachte es auch" zeigt nicht nur, dass keine Diskrepanz zwischen der Ansicht M's und der seines Vaters herrschte, sondem auch, dass ihm eine klare Abgrenzung zwischen Selbst- und Fremdbild nicht notwendig erscheint. Die Einsicht, dass er sich nicht flir die Gruppenarbeit in einer Firma eignet, fiihrte schheBhch zu der Uberlegung, eine weiterfiihrende spezielle Hochschule zu besuchen. Wie es zu diesem Schritt kam, wird in der folgenden Interviewpassage geschildert: In der Schule gab es Zeichenwettbewerbe; das war auf der Oberschule..., nein, auf der Grund- und Mittelschule. Dort wurden meine Zeichnungen ausgezeichnet. So fragte man mich, ob ich nicht etwas mit Kunst machen will. Es gibt viele Hochschulen mit hohem Niveau. Doch wenn ich dariiber nachdachte, dann kam ich zu dem Schluss, dass ich auf keinen Fall auf eine Universitat woUte, wo man viel lemen muss. (...) Ich sagte dem 'Vertrauenslehrer' (shinro shido): „Ich mochte auf so etwas wie eine Kunstakademie gehen. Gibt es so etwas?" Der Lehrer sagte, „Ja, da gibt es eine Akademie der bildenden Ktinste (zokei tandai), die erst seit zwei Jahre besteht". Ich wiirde also, wenn ich dort eintrete, der dritte Jahrgang sein. (...) „Mit deiner Note", so meinte der Lehrer, „konnen wir dich empfehlen, dann brauchst du keine Priifung zu machen". „Oh, das ist ja bequem", habe ich mir damals gedacht. Also machte ich es.
Hier taucht nach dem Vater eine weitere Person auf, die fiir seinen beruflichen Werdegang entscheidend war und die er in direkter Rede zu Wort kommen lasst: der ,Vertrauenslehrer', der an der Oberschule den Madchen und Jungen zur Beratung ihres zuktinftigen Berufsweges zur Seite steht.^ Den Entschluss, nach der Die , Vertrauenslehrer' beraten ihre Schuler und Schulerinnen in beruflicher Hinsicht. hisbesondere die Lehrer der Oberschulen spielen bei der Berufssuche eine entscheidende Rolle. Denn die
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Oberschule auf die Akademie der bildenden Kunste zu gehen, stellt Herr M. wiederum als Ergebnis eines gemeinsamen Entscheidungsprozesses mit seinen Eltem, insbesondere seinem Vater, sowie seinem Vertrauenslehrer dar. Als Begriindung nennt er schlieBlich zwei Aspekte: zum einen die ,3equemlichkeit", die darauf verweist, dass hier die eigene Intention nur eine untergeordnete Rolle spielt, zum anderen seine personliche kunstlerische Begabung.^ Gemeinsam ist beiden Erklarungen, dass die personlichen Entscheidungen wiederum in den sozialen Kontext eingebettet dargestellt werden. Herr M. fahrt seine Erzahlung mit der Beschreibung seiner Studentenzeit fort. Er erwahnt, dass er sich auf der Kunstakademie fiir das Fach „Bildhauerei" entschied, weil es das vielseitigste Studienfach war. Die zwei Jahre auf der Akademie schildert er ausfiihrlich und lebendig. In diesem Kontext betont er ein weiteres Mai seine ,Generationszugehorigkeit', wobei er nicht nur seine Erlebnisse als Erfahrungen aller Gleichaltrigen darstellt, sondem seine ,Generation' zugleich mit einem bestimmten Studententypus identifiziert (die Generation der Studentenbewegung; zen kyoto sedai). Obwohl Herr M. hier ,Generation' im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Gruppierung versteht, beschrankt sich seine Beschreibung auf seine Kunsthochschule.^ Seine Erinnerungen an die Studienzeit sind durchweg positiv, da es vor allem eine Zeit der personlichen Freiheit war.*° Seinen damaligen Tagesablauf beschreibt er wie folgt: Mittags bin ich singen und mich vergniigen (asobu) gegangen. Deshalb habe ich abends und nachts studiert. Vormittags habe ich geschlafen und mittags hatte ich freie Zeit. Und das die ganze Zeit. (...) So verging die Zeit, indem ich tat, was ich wollte.
Herr M. hebt besonders seine Freiheiten als Student hervor, die ihm Raum fiir einen individuellen Lebensstil, insbesondere eine freie Zeiteinteilung lieBen. Da ihm das Studentenleben gefiel, schloss er an die regularen zwei Jahre noch ein weiteres Studienjahr zur Spezialausbildung an. Diese Entscheidung, die innerhalb der Institution Kunstakademie fiel, wird nur kurz erlautert: Oberschulen pflegen enge Kontakte zu Untemehmen und zu weiterfiihrenden Hochschulen. ^ Diese Interviewpassage verdeutHcht, dass es durchaus personhche Anlasse gegeben hatte, an der Kunstakademie zu studieren. Doch wird die eigene Begabung nicht direkt mit der Entscheidung verbunden, sondem dazwischen wird eine soziale Institution geschaltet. Dariiber hinaus wird die personliche Begabung eher beilaufig erwahnt, so dass in erster Linie die Bequemhchkeit als die direkte Ursache der Entscheidung dargestellt wird. ^ Herr M. erzahlt von zwei Studentengruppen, die sich wahrend der Studentenbewegung konstituiert hatten und sich darin unterschieden, dass die Angehorigen der einen Gruppe demonstrierten und die der anderen lediglich "herumlungerten" (burabura asonderu hito). Er zahlt sich zur letzteren. '° Das Wort „Vergnugungen" als Ubersetzung des im Japanischen verwendeten Begriffes asobi klingt an dieser Stelle fast ein wenig zu stark, da hier lediglich „Zeit vertreiben" bzw. „Freizeit" gemeint ist.
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Nach zwei Jahren dachte ich, dass es blod ist, nur zwei Jahre zu studieren. Also hangte ich noch ein Jahr der Spezialisierung im Fach Bildhauerei an. Daher habe ich schlieBlich drei Jahre Kunst studiert.
Hier wird zum ersten Mai eine personliche Entscheidung geschildert, doch sie wird eher nebenbei erwahnt und nicht mit der inneren Motivation verbunden. Auch das dritte Jahr war „eine Zeit, in der ich tat, was ich wollte". Doch nachdem die drei Studienjahre abgeschlossen waren, stellte sich ihm emeut die Berufsfrage. Wieder war er unentschlossen und wieder erwahnt er seinen Vater: Mein Vater fragte mich, was ich denn machen wollte. Tja, was mache ich derm? Mein Vater sagte: "Wenn du nicht weiBt, was du machen willst, dann geh doch zum Materialpriifungsamt (kogyo gijutsu shikenjo)".^' Dort habe ich die Zusammensetzung von (Keramik-)Glasuren untersucht.
Der Entschluss, sich nach dem Kunststudium fiir einen Weiterbildungslehrgang am MaterialprufUngsamt einzuschreiben, wird als eine von auBen an ihn herangetragene Entscheidung dargestellt. Wahrend er zu Beginn seiner biographischen Geschichte erwahnte, dass er sich seinen Berufsweg selbst wahlen musste, geht die Entscheidung fiir das Materialpriifungsamt auf einen Vorschlag seines Vaters zuriick. Dieser loste keinen Protest aus, die Meinung des Vaters stand der des Sohns nicht unbedingt entgegen. Im Gegenteil, es scheint Herm M. wichtig zu sein, hier seinen Vater in der RoUe des Beraters zu erwahnen. Die einjahrige Weiterbildung am MaterialprufUngsamt schildert Herr M. ebenfalls sehr ausfiihrlich, wobei er besonders auf den ersten Tag eingeht. Er ging ohne besondere Erwartungen an das Institut. Jedoch gleich am ersten Tag musste er feststellen, dass die anderen Lehrgangsteilnehmer im Gegensatz zu ihm bereits Vorkenntnisse mitbrachten. So war er der einzige, der die Aufgabe, die ihnen am ersten Tag gestellt wurde, nicht sofort losen konnte. Er beschloss, die Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Dort wandte er sich an einen Nachbam, der am gleichen Institut bereits den Lehrgang absolviert hatte, und bat ihn um Unterstlitzung und Unterrichtung. Es dauerte drei Tage, am vierten Tag ging ich wieder ins Institut und zeigte die Aufgabe erledigt.
Stolz schwingt in dieser Aussage M.s mit, weil er die ihm gestellte Aufgabe bewaltigt hatte, wobei hier wiederum seine Einbettung in das soziale Netzwerk sichtbar wird. In der weiteren Beschreibung seiner einjahrigen Weiterbildung spricht er den Zeitaspekt an:
' Ein Institut vergleichbar mit dem deutschen TUV, an dem aber auch industriebezogene Forschungen betrieben werden.
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In Mathematik war ich gut. Wenn man mir zu Hause sagte, dass ich helfen sollte, dann half ich und ging manchmal eine Woche lang nicht hin. Die anderen waren alle sehr fleiBig; sie kamen teilweise von anderen Firmen, wie z.B. von Noritake.^^ Und die gingen ins Institut wie in die Firma. Erst wenn meine Eltem sagten: „Geh jetzt", dann ging ich. Ich habe ungefahr von sieben oder acht Uhr bis zehn Uhr zu Hause gearbeitet, weil ich so die Hauptverkehrszeit umgehen konnte. Aber ich habe immer meine Pflichtzeit dort verbracht, auch wenn ich mal spater hingegangen bin. Und auch wenn ich zu Hause gearbeitet habe, waren es oft histitutsarbeiten. So eine Einstellung hatte ich damals; das ist doch nicht ungewohnlich.
Ebenso wie zur Zeit seines Kunststudiums hebt Herr M. auch hier das weniger starre Zeitraster positiv hervor. Im Gegensatz zu den anderen Lehrgangsteilnehmem, die „ins Institut wie in die Firma" gingen, also geregelte Arbeitszeiten batten, war ihm dies durch die Mithilfe im Geschaft seiner Eltem nicht moglich. Die Arbeit zu Hause hatte fur ihn Prioritat. Hier zeigt sich ein weiteres Mal die Bedeutung der Familie; sie bestimmte seinen Alltag. Dennoch ist es flir ihn auch wichtig zu betonen, dass er stets seine „Pflichtzeit" am Institut erfiillte. Dabei scheint mit „Pflichtzeit" weniger eine exakte Anzahl von Arbeitsstunden gemeint zu sein, da er ja „manchmal eine Woche lang nicht hinging", als vielmehr eine an Aufgaben orientierte Zeit. Das Studienjahr auf dem Materialpriifungsamt war voriiber, und er stellte sich die Frage: „Was soil ich derin machen?" Anstelle einer Antwort wechselt er zu seiner Familie und erwahnt in dem Zusammenhang die Ausstellungswettbewerbe fiir Kunsttopfer, an denen bereits sein alterer Bruder und sein Vater regelmaBig teilnahmen. Es gibt in Japan ein hierarchisch strukturiertes Ausstellungssystem, an dessen Spitze die folgenden vier Ausstellungen stehen: 1. Nitten, 2. Dento kogeiten (traditionelles Kunsthandwerk), 3. Gendai kogeiten (modemes Kunsthandwerk) und 4. Asahi kogeiten (nur Ton). Die Ausscheidungswettbewerbe zu diesen Ausstellungen finden tiber das ganze Jahr verteilt statt. Da bereits Mitglieder seiner Familie an diesen vier nationalen Ausstellungen teilgenommen batten, war es Herm M. erlaubt, die lokalen Wettbewerbe zu iiberspringen und sich gleich an einem der oben erwahnten zu beteiligen.^^ Wie es zu dieser Teilnahme kam, erzahlt er in der folgenden Textstelle: Es war ein Jahr vergangen, die Abschlusspriifiing am Materialpruftingsamt war im Marz und fiir die Zeit danach wusste ich wieder nicht weiter, es gab nichts. Und weil im Mai ein Wettbewerb stattfmden sollte, dachte ich mir, ich konnte es ja mal probieren. Seit ich klein war, mochte ich geme Dinge selbst herstellen. Ich habe Sachen aus Ton gemacht, allerdings immer nur so zum SpaB (asobi), es war keine
Noritake ist der Name einer sehr bekannten und exklusiven Porzellanfirma in Japan. ^^ Hierin liegt wiederum die strukturelle Voraussetzung dafiir, dass Herr M. seine Arbeit stark in den familiaren Kontext stellt.
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Arbeit (shigoto). Also wusste ich etwas Bescheid, doch war es fur mich noch eine Zeit der Unerfahrenheit.
Dieser Schritt war also nicht langerfristig geplant und wird als Folge der damaligen Konstellation beschrieben. Obwohl Herr M. sein Kunststudium sowie seine Kenntnisse iiber Glasuren, die er sich am Materialprufungsamt angeeignet hatte, als hilfreich fiir das Topfem ansieht, unterscheidet er deutlich zwischen einer beruflichen Ausbildung, wie sie sein Bruder absolviert hatte und seinen Topferarbeiten, die er bisher „inimer nur so zum SpaB" gemacht hatte. Angedeutet wird in dieser Interviewpassage, dass er von seiner Kindheit an diese Arbeit geme tat. Doch wird keine Entwicklungslinie zur spateren Berufswahl voUzogen. Anders ausgedriickt erfolgt hier keine teleologische Synthetisierung der Ausbildungswege zum Ziel, sondem die Darstellung der Vorberufszeit bleibt eine fragmentarische Anekdotensammlung zur Illustration seiner Person. Trotz des Fehlens einer langfristigen Planung hatte er Erfolg: „Es wurde genommen und ich dachte: Ach, ist das aber einfach!" Er sah jedoch in seiner erfolgreichen Teilnahme keine Bestatigung seines handwerklichen Konnens, sondem eher einen Zufall. Daher wurde er weiterhin von Zweifeln geplagt. In diese Unsicherheit mischt sich auch die Fremdzuschreibung durch seine soziale Umgebung: Ich wusste es noch nicht so genau, doch die Menschen aus meinem Umfeld (mawari no hito) sagten, O.K., ich mache halt das Gleiche wie meine Familie. Sie dachten auch, dass ich es in meiner Familie gelemt hatte.
War es flir die Nachbam und Bekannten selbstverstandlich, dass er den Weg seiner Eltem einschlug, so war innerhalb der Familie noch keine Entscheidung gefallen. Der Vater betonte auch nach dem Ausstellungserfolg seines jiingsten Sohnes, dass dieser „frei" sei und tun konne, was er wolle. Doch zeigte sich sein Vater auch bereit, ihm das Kunsthandwerk beizubringen. Wie ungewohnlich diese Entscheidung war, macht der Vergleich mit dem Werdegang des Bruders deutlich: Mein Bruder ging zu einem Meister, was jedoch eine schreckliche Zeit fiir ihn war. Er ist wahrend seiner Lehrzeit auch zweimal von seinem Meister in Yokohama ausgerissen. Ich hatte eigentlich auch zwei Jahre eine solche Lehre machen mtissen. Doch mein Bruder sagte: „Nein, so etwas Schlimmes soil er nicht erfahren, sondem es statt dessen lieber zu Hause erlemen." Nach der Gendaikogeiten [dem Ausstellungswettbewerb fur modemes Kunsthandwerk] wurde es so beschlossen, deshalb lemte und half ich zu Hause.
Die Entscheidung, dass er schlieBlich doch im Kunsthandwerk unterrichtet werden sollte, fiel innerhalb der Familie. Durch den Vergleich mit seinem Bruder, der fiir Herm M. den Standardlebenslauf eines Kunsttopfers verkorpert, „webt" M. seine eigene Biographic. Auch seine Andersheit und seine besondere Begabung werden
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von ihm durch den Bezug auf die Normalbiographie seines Bruders artikuliert. Nur vor diesem Hintergmnd wird auch die Selbstcharakterisierung als „Quereinsteiger" verstandlich. Darauf kommt Herr M. auf den zweiten Ausstellungswettbewerb zu sprechen. Seine Teilnahme stellt er auch diesmal als eine Handlung, die aus der Situation heraus entstanden war: Als nachstes war der Herbst-Wettbewerb (Nitten) an der Reihe. Das ist der grofite Ausstellungswettbewerb innerhalb Japans; das ist auch heute noch so. Dieser Wettbewerb ist wirklich sehr schwierig. Das Niveau ist sehr hoch, so sind z.B. auch oft die Stiicke meines Vaters nicht genommen worden, obwohl er als Profi extra dafiir Werke anfertigt. Weil ich zu Hause nichts zu tun hatte, versuchte ich es einfach. Ich probierte etwas, gab es ab, und es wurde genommen.
Gleichzeitig wurden auch die Stiicke seines Vaters und seines Bruders ausgewahlt. Besonders ausfiihrHch schildert er dieses Ereignis. Es war eine Sensation, da selten Werke mehrerer FamihenmitgHeder gleichzeitig gekiirt werden. Er berichtet von Femsehauftritten und Zeitungsanzeigen tiber seine Familie und beschreibt, wie glticklich er damals war. Er schildert dieses Ereignis nicht als seinen personlichen Erfolg, sondem als den seiner Familie. Die Erklarung fiir seine Mitwirkung am Herbst-Wettbewerb („weil ich zu Hause nichts zu tun hatte, versuchte ich es einfach") soil auf seine damals immer noch vorhandene Unentschlossenheit beziiglich seines Berufes verweisen. Bewusst fur die Kunsttopferei entschied er sich erst, nachdem er seinen ersten Misserfolg erlebt hatte. Denn bis dahin schrieb er seinen Erfolg dem Zufall zu, erst das Scheitem beim dritten Wettbewerb lieB ihn sein Talent akzeptieren: Doch im dritten Jahr nahmen sie mein Werk nicht an. Da fiel mir ein bisschen ein Stein vom Herzen. Ich dachte, dass ist normal, weil ich Scheitem [beim Wettbewerb] fiir selbstverstandlich halte. Deshalb hatte ich meinen Erfolg eigentlich seltsam gefiinden. Das erste Mai war es Gluck gewesen, das zweite Mai auch; aber komisch dachte ich damals, denn wenn ich meinen Vater und meinen Bruder anschaute, wusste ich, wie schwierig es war.
Erst nach seinem Scheitem schreibt er seine friiheren Erfolge nicht mehr nur einem glticklichen Zufall zu und entschloss sich, sich emsthaft mit diesem Beruf zu beschaftigen. Erst beim nachsten Versuch beschloss ich, dies als Beruf zu nehmen.
Hier beschreibt Herr M. einen aktiven Schritt. Zum ersten Mai setzte er sich bewusst fur das Gelingen des Werkes ein und lieB den weiteren Bemfswerdegang von dem Erfolg oder Misserfolg dieses Werkes abhangen.
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Ich habe iiber nichts nachgedacht, vieles einfach ausprobiert. Ich wusste iiberhaupt nicht, was ich machen woUte. Wenn ich jedoch etwas angefangen habe, dann habe ich es sehr gut gemacht, wenn das nicht gewesen ware, wenn z.B. meine Sachen nicht ausgewahlt worden waren, dann ware es schHmm gewesen. Deshalb war ich froh.
Es ware deshalb „schlimni gewesen", weil er dann abermals vor der Berufsfrage gestanden hatte. Als von der Norm abweichend stellt Herr M. den Zeitpunkt seiner Berufsentscheidung dar. Denn „selbstverstandlich" ware gewesen, wenn er sich mit 23 Jahren entschieden hatte, doch bei ihm „zog es sich so dahin". Mit dem Verweis auf die Altersgrenze von 23 Jahren ist die Vorstellung verknupft, dass spatestens nach der Studienphase von hochstens vier Jahren der Einstieg in das Erwerbsleben folgt. Dass er trotz dieser Abweichungen beruflich erfolgreich war, verdankte er insbesondere seiner FamiHe, ohne die er seinen Weg nicht hatte gehen konnen. An einer Stelle im Interview spricht er auch expHzit diese Dankbarkeit aus. Die Art und Weise, wie Herr M. retrospektiv sein Leben erzahlt, lasst kaum auf einen geplanten Lebenslauf schheBen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er keine individuellen Wunsche und Vorstellungen hatte, sondem diese nur nicht allein und unabhangig vom sozialen Kontext durchsetzen wollte. Dass seine Biographic keine Briiche aufweist, sondem einen kontinuierUchen Ausbildungsgang von der Grund-, Mittel- und Oberschule, uber die Kunsthochschule bis zum Forschungsinstitut darstellt, ist auf sein Eltemhaus und die Ausbiidungsinstitutionen zuruckzufuhren. Er war nicht zu einer langfristigen individuellen Planung gezwungen, weil es zum einen Personen gab, die ihm bei seinen Entscheidungen zur Seite standen, zum anderen schrieben die von ihm besuchten Institutionen immer auch einen bestimmten Abschnitt seines Lebens vor. Diese lebensgeschichtliche Erzahlung macht deutlich, dass er seinen Lebenslauf weniger als individuelles Projekt begreift, sondem vielmehr als einen Weg, der in ein interpersonelles und institutionelles Netz eingebunden ist. Entscheidungen fallen innerhalb dieses Geflechtes und in Abhangigkeit von Menschen, ohne dass dies als Unselbstandigkeit verstanden wird.
3.
Das Beispiel zeigt, auf welche Weise eine solche lebensgeschichtliche Erzahlung interpretiert werden kann. Die methodischen Konsequenzen sollen hier kurz zusammengefasst werden. Herr M. unterscheidet zwischen dem ,traditionellen' Lebenslaufkonzept und dem ,modemen'. Sein Bmder verkorpert das traditionelle, und das modeme wird als das normale dargestellt. Er selbst schwankt in der Erzahlung zwischen beiden Konzepten und entscheidet sich schlieBlich fiir den Bemfsweg im familiaren Kon-
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text. Doch sein Lebensweg unterscheidet sich deutlich von dem seines Bruders, weil er die Freiheit besitzt, sich selbstandig dafiir zu entscheiden. Man sieht hier, dass im Laufe des Modemisierungsprozesses in der japanischen Gesellschaft unterschiedliche Lebenswege bereitgestellt warden, wobei die Karriere eines traditionellen Kunsttopfers gesamtgesellschaftlich gesehen eher eine Ausnahme darstellt. Herr M. vergleicht in seiner Erzahlung diese unterschiedlichen Lebenswege und stellt seine subjektive Sicht seiner Entscheidungen dar. Die Voraussetzung fiir diese Darstellung ist die Tatsache, dass das modeme Konzept des Selbst zunachst in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts von der japanischen Gesellschaft aufgenommen und darin verbreitet wurde. Die kulturellen Auseinandersetzungen mit diesem Konzept brachten unterschiedliche Realisierungsmoglichkeiten hervor, die schlieBlich zu dieser Erzahlung fiihrten. Die fiir eine lebensgeschichtliche Erzahlung notwendigen Konzepte wie Familie, Freundschaft, Schule usw. enthalten Semantiken, die aus spezifischen historischen Erfahrungen der jeweiligen Gesellschaft stammen. Bei Herm M. spielt das traditionelle Konzept fur Familie ,ie' eine sehr dominante Rolle, wahrend er das modeme Konzept fiir Familie ,kazoku', mit dem er seine Ehefrau und Kinder meint, nur am Rande seiner Erzahlung verwendet. Dies hangt damit zusammen, dass er sich hier als traditioneller Kunsttopfer inszeniert, wofiir der Zusammenhang zwischen dem Beruf, der traditionellen Familie und dem Selbst zentral ist. Fiir die Interpretation dieser Konzepte war eine wissenssoziologische Analyse dieser Konzepte notwendig (Shimada 2000). Fiir die angemessene Interpretation der lebensgeschichtlichen Erzahlung von Herm M. war auch wichtig, dominante Erzahlmuster in der japanischen Kultur zu beriicksichtigen. Denn seine Darstellung des Selbst, in der die wichtigsten Entscheidungen nie , selbstandig' aus sich heraus getroffen werden, kann aus der deutschsprachigen Perspektive als Schwache oder als ,Understatement' interpretiert werden. Nur durch die Beriicksichtigung des vorhandenen Erzahlmusters kann diese Art der Fehlinterpretation vermieden werden. Denn im obigen Beispiel entspricht die Erzahlung der kulturellen Erwartung, die Leistungen des Subjekts nicht so sehr in den Vordergmnd zu stellen. Um das positive Selbstbild inszenieren zu konnen, verwendet Herr M. das Erzahlmuster, in dem alle Entscheidungen in Einklang mit dem sozialen Umfeld getroffen werden, was ihm auch durch individuelle Geschicklichkeit sehr gut gelingt. Eine so durchgefiihrte ,dichte' Lebensgeschichte kann wertvolle Einsichten in eine fremde Kultur von innen heraus ausarbeiten. Dies wiirde eine viel kritisierte Seite der „Dichten Beschreibung" modifizieren und erganzen. Die narrativen Komponenten wiirden das dieser Methode zugmnde liegende Kulturkonzept dynamisieren und den historischen Aspekt hinzufiigen. Und die so konzipierte „dich-
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te" Lebensgeschichte wurde einen Ansatz zu Methoden der empirischen Sozialforschung im interkulturellen Kontext anbieten.
Literatur Gabbani, Sonja (2004): Von der „Staatzeit" zur „Eigenzeit"? Zur Integration der staatlich verordneten Disziplinarzeit in die individuelle Lebensorientierung in Japan. Unveroff. Diss. Hannover Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beitrage zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Ito, Midori (2003): Kyodo no jikan to jibun no jikan. Seikatsushi ni mini jikanishiki no nichidokuhikaku (Gemeinsame Zeit und eigene Zeit. Deutsch-japanischer Vergleich des Zeitbewusstsein in den lebensgeschichtlichen Erzahlungen). Tokyo Shimada, Shingo (1994): Grenzgange - Fremdgange. Japan und Europa im Kulturvergleich. Frankfiirt/New York: Campus Shimada, Shingo u.a. (1997): Biographie, Kultur, Identitat. Endbericht des Forschungsprojektes: ,Arbeitszeit, Freizeit, Familienzeit' in Japan. Der Umgang mit den westlichen Zeitlichkeitskonzepten in der japanischen Gesellschaft. Numberg Shimada, Shingo (2000): Die Erfindung Japans. Kulturelle Wechselwirkung und nationale Identitatskonstruktion. Frankfort a. M./New York: Campus Shimada, Shingo (2001): Wissenssoziologie der kulturellen Wechselwirkungen. Eine Skizze zur Methodologie einer interkulturell angelegten qualitativen Sozialforschung. In: Zeitschrift for Qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 3. H. 1. S. 37-48
Interkulturelle Kommunikation. Verstandigung zwischen Milieus in dokumentarischer Interpretation Arnd-Michael Nohl
Gemeinhin wird unter interkultureller Kommunikation jener soziale Austauschprozess verstanden, der sich uber die Grenzen von Gesellschaften und ihren ,Nationalkulturen' hinweg vollzieht. Hier, d. h. zwischen den national gedachten Kulturen, werden die Kommunikationsprobleme der Fremdheit und der kulturellen Differenz gesehen, die - so hofft man - durch einen Zuwachs an „interkultureller Kompetenz" zu bewaltigen seien. Im Unterschied hierzu rechnet die qualitative bzw. rekonstruktive Sozialforschung jedoch schon innerhalb einzelner Gesellschaften und ,Nationalkulturen' mit Phanomenen der Fremdheit und kulturellen Differenz. Es gehort zu ihren Begriindungsfiguren, dass eine offene Kommunikation der Forschenden mit den Erforschten notwendig sei, da man nicht davon ausgehen konne, dass beide Seiten angesichts ihrer moglicherweise differenten Sozialisationsgeschichten und Sprachcodes sich so ohne weiteres verstehen (vgl. etwa Bohnsack 2003: 18ff). Interkulturelle Kommunikation, so lasst sich aus dieser Sicht behaupten, findet bereits dort statt, wo Menschen unterschiedlicher Milieuzugehorigkeit, z.B. unterschiedlicher regionaler, Geschlechter- oder Generationszugehorigkeit, miteinander kommunizieren. In diesem Artikel wird interkulturelle Kommunikation daher als eine Form der Verstandigung zwischen differenten Milieus begriffen, seien diese ethnisch, schichtspezifisch, generationell oder sonst irgendwie konnotiert. Diese Perspektive auf die Verstandigung zwischen unterschiedlichen Milieus ermoglicht es, interkulturelle Kommunikation in mehrfacher Hinsicht zu erforschen: Am Beispiel einer Untersuchung zu Jugendlichen wird zu zeigen sein, wie diese Jugendlichen die Kommunikation mit den Forschenden erstens unmittelbar voUziehen, also zur Performanz bringen. Zweitens schildem die Jugendlichen in den mit ihnen gefuhrten Gruppendiskussionen auch propositional Situationen, in denen sie Menschen differenter Milieuzugehorigkeit begegnet sind und wie sie diese Situationen interkultureller Kommunikation bewaltigt haben. Drittens lasst sich anhand der Gruppendiskussionen das jeweilige Milieu der Jugendlichen rekonstruieren, aus dem heraus sie interkulturell kommunizieren. Auf diese Weise kann die Frage beantwortet werden, wie die Wege, die die
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Jugendlichen im Zuge der interkulturellen Kommunikation einschlagen, durch ihr eigenes Milieu gerahmt werden. Nicht nur in der Erhebungssituation, sondem auch in der Auswertung empirischer Daten kommen die Anforderungen interkultureller Kommunikation zur Geltung. Es wird daher in diesem Beitrag auch zu thematisieren sein, wie empirische Forschung nach den Vorgaben eines methodisch kontrollierten Fremdverstehens (vgl. Schtitze et al. 1976) betrieben werden kann. Als einen methodischen Weg, der nicht nur auf interkulturelle Kommunikation als Gegenstand zielt, sondem selbst durch interkulturelle Kommunikation gepflastert ist, mochte ich in diesem Beitrag die Gruppendiskussion und ihre dokumentarische Interpretation erortem. Fine Diskussion der Anforderungen an eine Sozialwissenschaft, die nicht nur interkulturelle Kommunikation untersucht, sondem selbst interkulturell kompetent agiert, leitet diesen Beitrag ein (Abschnitt 1). Sodann werde ich auf wegweisende Ansatze der interkulturellen Kommunikationsforschung eingehen, die allerdings dort methodische Probleme aufweist, wo sie die Analyse milieuspezifischer kommunikativer Stile mit der Untersuchung interkultureller Kommunikation kombinieren miisste (Abschnitt 2). Fine Moglichkeit, die Milieuanalyse mit der Rekonstmktion interkultureller Kommunikation systematisch zu verbinden, bietet die dokumentarische Interpretation von Gmppendiskussionen. Um diese Herangehensweise zu erlautem, wird zunachst der Milieubegriff erlautert, mit dem in diesem Beitrag interkulturelle Kommunikation theoretisch reflektiert wird (Abschnitt 3). Sodann gilt die Aufmerksamkeit dem Gmppendiskussionsverfahren, in dem sich der propositionale Diskurs zwischen den Teilnehmenden, der auf das hinter ihnen stehende Milieu und ihre interkulturellen Kommunikationserfahmngen verweist, mit der Performativitat der interkulturellem Kommunikation mit den Forschenden verschrankt (Abschnitt 4). Das Potential des Gmppendiskussionsverfahren wird dann anhand der o.g. Untersuchung zu Jugendlichen aufgezeigt (Abschnitt 5), um abschlieBend zu skizzieren, inwieweit auch das Auswertungsverfahren - die dokumentarische Methode der Interkulturalitat der Forschungskommunikation Rechnung zu tragen vermag (Abschnitt 6).
1. Interkulturelle Kommunikation und sozialwissenschaftliche Forschung Auch wenn interkulturelle Kommunikation zum Normalfall einer globalisierten Welt mit ihren kulturpluralen Gesellschaften wird und man in padagogisierender Form allseits nach „interkultureller Kompetenz" mft, ist doch keineswegs klar, was (die Befahigung zur) interkulturelle(n) Kommunikation iiberhaupt bedeutet.
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Folgt man Joachim Matthes, so ist in der einschlagigen Diskussion vor allem ein „instrumentalistischer Zugriff auf das Thema" anzutreffen, der sich „am Erwerb von Fertigkeiten zur vorausschauenden Bestimmung von Handlungsproblemen im Umgang mit Fremden und an Mitteln zu deren effizienter Losung orientiert" (1999:414). Demgegeniiber siedelt Matthes die Probleme der interkulturellen Kommunikation und Kompetenz, die sich gerade auch in den Sozialwissenschaften selbst zeigen, auf zwei Gebieten an: 1. Die theoretische Begriffsbildung, die letztlich eng an den common sense der je eigenen Gesellschaft gebunden ist, sei stark dem monokulturell ausgerichteten Denken europaischer Gesellschaften verhaftet. Dies fiihre dazu, dass die eigenen Konzepte und Begrifflichkeiten (etwa der Begriff von Religion oder Gesellschaft) unvermittelt auf andere , Gesellschaften' projiziert wlirden (vgl. Matthes 2000: 24; siehe auch Matthes 1992). Matthes schlagt deshalb vor, das „Verfahren zur Bildung und Erprobung von Begriffen" „als kulturgeschichtlich informierte, vergleichend angelegte Reflexion auf jene Vorgange anzulegen, in denen sich gesellschaftliche Wirklichkeit(en) hier wie anderswo schon immer selbst auf ihrefn) Begriff(e) bringen" (2000: 24; Hervorhebung im Original). Der angedeutete Forschungsansatz wird vor allem von den MatthesSchiilem Shingo Shimada und Jurgen Straub (vgl. Shimada 1994; 2001 u. Shimada/Straub 1999) vertreten. AUerdings ist hier anzumerken, dass es nicht ausreicht, lediglich die kulturelle Unterschiedlichkeit von Begriffen, die dem common sense in den jewelligen Gesellschaften zu eigen sind, herauszuarbeiten und sie miteinander zu relationieren. Denn den Fokus darauf zu legen, wie sich Gesellschaften ,auf ihre Begriffe bringen', impliziert die Annahme, dass die primare - und fur die Menschen handlungsleitende - Begriffsbildung auf der Ebene von Gesellschaften bzw. ,Nationalkulturen' erfolgt. Es gibt jedoch gute Grunde ftir die Annahme, dass gerade unterhalb des gesellschaftlichen common sense, in den Milieus, Gruppen und Familien (oder in anderen, von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlichen Formen der Sozialitat) diejenigen Wissens- und Begriffsbestande entstehen, die die Handlungspraxis der Menschen strukturieren. Ich werde in Abschnitt 3 hierauf zuriickkommen. 2. Matthes identifiziert Probleme der interkulturellen Kommunikation und Kompetenz aber auch in der in die Sozialwissenschaften „eingelassenen Annahme von der Transkulturalitat ihrer Methoden", die als „raum-zeitlich unabhangig aufgefaBt, dargestellt und eingesetzt werden" (1999: 421). Dabei sieht Matthes die kulturelle Gebundenheit der Methoden nicht nur in der Betonung des Individuums und seiner Erzahlfertigkeiten (vgl. auch Matthes 1985), sondem schon in dem Prinzip des „Frage-Antwort-Verhaltens" (Matthes 1999: 422), das eng mit dem christlichen Verstandnis der Beziehung zwischen Mensch
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und Gott verwoben sei. Eine Revision der Forschungsmethoden miisste, so Matthes (1999: 422), auf einer „in sich selbst bereits kulturvergleichend angelegten Theorie des Methodischen" beruhen. Ein erster Schritt zu einer solchen Theorie des Methodischen konnte darin gesehen werden, statt der Konflikte in der interkulturellen Kommunikation jene Sitxiationen und sozialen Zusammenhange zu erforschen, in denen auf erfolgreiche Weise interkulturell kommuniziert wird. Ein solch ,„naturwuchsiges' Entstehen von Elementen interkultureller Kompetenz" (Matthes 1999: 423) ist nicht nur in Gesellschaften zu vermuten, die von jeher durch ein hohes MaB an Interkulturalitat gekennzeichnet sind, sondem auch in den von Migration gepragten, kulturell pluralisierten Bezirken deutscher GroBstadte (vgl. ebd.). Wie gehen also Menschen mit den Angehorigen anderer Milieus alltaglich um? Und wie, so ist weiter zu diskutieren, kann diese interkulturelle Kommunikation so untersucht werden, dass die Untersuchung selbst interkulturell versiert ist Oder zumindest die Unzulanglichkeiten ihrer interkulturellen Kompetenz systematisch in die methodologische Reflexion einbezieht? Bevor ich diese Fragen anhand einer eigenen Forschungsarbeit zu allochthonen und autochthonen Jugendlichen erortere und die dokumentarische Interpretation von Gruppendiskussionen als einen validen Weg der Forschung zur Kommunikation zwischen Milieus begriinden werde, mochte ich das Verhaltnis der hier gewahlten Methodologie zu anderen Ansatzen der interkulturellen Kommunikationsforschung verdeutlichen.
2. Ansatze der interkulturellen Kommunikationsforschung Die Interaktion zwischen Angehorigen unterschiedlicher Kulturen ist das zentrale Thema der interkulturellen Kommunikationsforschung. Selbst dann, wenn man die grundsatzlichen Bedenken von Matthes nicht teilt, erweist sich diese Erforschung einer die Kulturgrenzen iiberschreitenden Interaktion als sehr voraussetzungsvoll. Denn wie Knapp/Knapp-Potthoff (1990) zeigen, reicht es keineswegs aus, die verbalen, para- und nonverbalen Dimensionen der jeweiligen kultur- und milieuspezifischen „kommunikativen Stile" (John J. Gumperz) zu erforschen, mit denen Menschen in die interkulturelle Kommunikation eintreten. Denn hier werden kommunikative Stile nur als „intrakulturelle Kommunikation im Kontrast" (Knapp/Knapp-Potthoff 1990: 75) untersucht. Das heiBt, es wird nicht die Performativitdt einer Interaktion zwischen Angehorigen unterschiedlicher kommunikativer Stile und Milieus beobachtet, sondern die der Interaktion vorgdngigen kommunikativen Stile. Demgegeniiber schlagen Knapp/KnappPotthoff vor, aufbauend auf Studien iiber unterschiedliche kommunikative Stile
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die interkulturelle Kommunikation interaktionistisch, genauer: in ihrer Performativitat zu untersuchen. Erst dadurch wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Unterschiede des kommunikativen Stils nicht in jedem Fall zu Kommunikationsproblemen zwischen Kulturen und Milieus fuhren miissen. Auch gerat erst dadurch in den Blick der Forschenden, wie die Interaktionspartner mit eventuellen interkulturellen Schwierigkeiten umgehen. Die damit erforderliche Kombination von Interaktions- und Milieuanalyse (vgl. auch Kotthoff 1994) scheint allerdings - gerade angesichts des Arbeitsaufwandes bei soziolinguistischen Interpretationen - nur schwer zu gewahrleisten zu sein. So fmden sich in diesem Zusammenhang einerseits Arbeiten, die zwar Interaktionen analysieren, sich aber hinsichtlich der milieuspezifisch gerahmten kommunikativen Stile lediglich auf ethnisch-nationale Etiketten („Turkish migrant workers") (vgl. Rehbein 1987) oder auf Untersuchungsergebnisse beziehen, die in anderen Kontexten erhoben wurden (vgl. etwa Apitzsch/Dittmar 1987; Giinthner 1999), dann z.T. aber zumindest milieu- oder regionalspezifisch differenziert sind (vgl. Kotthoff 1999). Die milieuspezifischen Rahmungen, welche fiir die an der Interaktion tatsachlich beteiligten Personen wesentlich sind und die sich weder in ihrer ethnischen Zugehorigkeit erschopfen noch bei anderen Personen (deren interkulturelle Kommunikation nicht Gegenstand der Analyse war) erhoben werden konnen, werden also nicht eigens empirisch untersucht, obgleich die damit drohenden Gefahren einer Kulturalisierung klar gesehen werden (vgl. Hinnenkamp 1994).
3. Interkulturelle Kommunikation und Milieubegriff Um den Gefahren einer Kulturalisierung und einer damit verbundenen Ethnisierung zu entgehen, ist es allerdings nicht nur notwendig, die Milieus der an der interkulturellen Kommunikation beteiligten Personen eigens zu untersuchen. Dariiber hinaus und zunachst ist eine grundlagentheoretische Reflexion vonnoten, in der geklart wird, was eigentlich unter Milieu zu verstehen ist. Eine prazise Definition ihrer Grundbegriffe gehort zu den Standards der qualitativen Sozialforschung (vgl. Bohnsack 2005). Milieus beruhen auf gelebten Gemeinsamkeiten der Erfahrung, d. h. auf einer „kollektiven Erlebnisschichtung" (Mannheim 1980). Diese kollektiven Erfahrungen miissen nicht notwendiger Weise gemeinsam gemacht werden (wie dies etwa bei einer Jugendclique der Fall ist, die gemeinsam die Erfahrung einer Reise macht), sondem konnen auch lediglich gleichartig, d. h. homolog sein
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(wie etwa bei einer Generation, vgl. Bohnsack 2003: 109ff).' Das Milieu ist somit der soziale Ort, der die Menschen miteinander verbindet, es ist der Ort der Konjunktion. Karl Mannheim (1980: 225) spricht daher nicht nur von kollektiven, sondem auch von „konjunktiven Erfahrungen". Im Milieu als „konjunktivem Erfahrungsraum" (ebd.: 220) betrachten die dem Milieu Zugehorigen die Dinge innerhalb und auBerhalb des Milieus auf gleichartige Weise. Der Einzelne ist in die spezifische Perspektive seines Milieus derart eingebettet, dass er „die Dinge seines Erlebnishorizontes nur soweit erfaBt, als sie in die Kollektivbedeutsamkeiten [seines Milieus; A.-M.N.] eingehen" (ebd.: 237). In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Milieubegriff von dem einer national gedachten Kultur. Denn letztere kann allenfalls auf einem sehr abstrakten, von der Erfahrung abgehobenen Niveau solche Gemeinsamkeiten ausformen, die die Menschen verbinden. Je starker sich aber solche Gemeinsamkeiten von der Erfahrungsebene abheben, desto eher konstituiert sich die ,Nationalkultur' als eine „vorgestellte Gemeinschaft" (Benedict Anderson). Milieuspezifisches, konjunktives Wissen kann von Generation zu Generation weitergegeben und damit tradiert werden. Diese Tradierung von Milieus muss von der Neuentstehung von Milieus unterschieden werden (vgl. Bohnsack/Nohl 1998). In dem Moment, in dem sich tradierte Milieus auflosen, kann es zwar zu einer Freisetzung des Individuums kommen, es konnen aber vor allem auch neue Milieus entstehen. Neue Milieus konnen auch auf homologen Erfahrungen biographischer Diskontinuitat oder generationeller Briiche basieren. In diesen homologen Erfahrungen konnen sich „Prozesse der Neubildung von Traditionen" (Apitzsch 1999: 11) entfalten und neue Milieus konstituieren. Obgleich Milieus in der ersten Anschauung als Gesamtgestalten erscheinen, denen eine Einheitlichkeit eigen ist, ist die Tradierung wie die Neuentstehung von Milieus mehrdimensional angelegt. Sie erstreckt sich auf adoleszenz-, geschlechts-, generations-, religions-, migrations- und bildungsspezifische und weitere Erfahrungsdimensionen. Hinsichtlich dieser Erfahrungsdimensionen muss man allerdings zwischen einem Suchraster, mit dem man den Blick der Forschenden scharft, und den letztlich in den Milieus zu identifizierenden Erfahrungen unterscheiden. Karl Mannheim (1964b) weist darauf hin, dass eine jeweilige „soziale Lagerung", etwa die Geschlechtslagerung, die Migrationslagerung (vgl. Nohl 1996) oder die Generationslagerung, nur ein spezifisches Potenzial konjunktiver Erfahrungen darstellt. Zur Entfaltung kommt dieses Potenzial erst und nur in der Uberlappung mit anderen Erfahrungsdimensionen bzw. sozi^ Nur falls man dieser Differenz von Milieu und Gruppe Beachtung zollt, werden auch die Unterschiede zum Begriff der „Gemeinschaft" deutlich. Denn die „Gemeinschaft" ist, so wie sie Tonnies (1926) fasst, an die Tradition der Gruppe und ihre face-to-face-Beziehungen, d. h. an gemeinsame (identische) Erfahrungen und Erlebnisse gebunden - ganz im Gegensatz zum Milieu.
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alen Lagemngen. In der alltaglichen kollektiven Handlungspraxis vollzieht sich insofem eine Synkretion sozialer Lagemngen, in dem sich das Milieu bildet (vgl. Bohnsack/Nohl 1998). So wird in jedem Milieu aus der Potenzialitat sozialer Lagerungen die konkrete Partizipation an ihren Problemstellungen, die dann auch empirisch rekonstruiert werden kann.^
4. Die Gruppendiskussion als interkulturelle Kommunikation Wie nun konnen die Milieus der Kommunizierenden und ihre interkulturelle Kommunikation zugleich erforscht werden? Einen moglichen Zugang, der sich eher zufallig im Zuge einer Erhebung zu autochthonen und alltochthonen Jugendlichen ergeben hat und erst in der Rekonstruktion der Forschungspraxis systematisch genutzt werden konnte (vgl. Nohl 2001: 49), bietet das Gruppendiskussionsverfahren (vgl. Bohnsack 1989; 2003; Loos/Schaffer 2001). Die Gruppendiskussion wird vomehmlich zur Rekonstruktion milieuspezifischer Erfahrungen und Orientierungen eingesetzt, ist aber auch in der interkulturellen Forschung eine bewahrte Methode (vgl. Bohnsack/Nohl 1998; Nohl 1996; 2001; WeiB 2001; Weller 2003; Schittenhelm 2005). Diese kollektiven Erfahrungen und Orientierungen treten zu Tage, wenn Menschen, die auf gemeinsame oder gleichartige milieuspezifische Erfahrungen zurtickblicken konnen, miteinander reden und sich gegenseitig in einen metaphorisch und interaktiv dichten Diskurs steigem. Solche Diskurse werden von den Forscher(inne)n zwar mittels Fragen initiiert, dann jedoch in ihrer Selbstlaufigkeit nicht durch Nachfragen etc. gestort. Auch wenn die Gruppendiskussion hauptsachlich der Entfaltung eines Diskurses zwischen den Erforschten dient, so beschrankt sie sich dennoch nicht hierauf „Bei einer Gruppendiskussion haben wir es - genauer betrachtet - mit zwei ineinander verschrankten Diskursen zu tun: demjenigen zwischen Forschenden und Erforschten einerseits und demjenigen der Erforschten untereinander andererseits" (Bohnsack 2003: 207). Diese „prinzipielle Verschrankung zweier Diskurse" (ebd.), die in der einen oder anderen Form in alien - quantitativen wie qualitativen - Erhebungsverfahren zu finden ist - kann nur dann als eine Fehlerquelle (im Sinne einer Befragtenbeeinflussung) gesehen werden, wenn sie nicht methodisch kontroUiert wird. Da im Gruppendiskussionsverfahren jedoch beide Diskurse in ihrer Verschrankung elektromagnetisch aufge-
Ich habe an anderer Stelle ausgearbeitet, welche Bedeutung der hier skizzierte Milieubegriff im Kontext der interkulturellen Padagogik hat und wie sich im Anschluss an diesen Miheubegriff eine „Padagogik kollektiver Zugehorigkeiten entwickeln lasst (siehe Nohl 2006, Kap. 6).
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zeichnet und transkribiert werden, lasst sich - neben der Interaktion unter den Erforschten - auch die Interaktion mit den Forschenden rekonstruieren. Was von Ralf Bohnsack als Moglichkeit zur Erhohung der Reliabilitat des Verfahrens betrachtet wird, lasst sich aber auch als Potenzial fur die interkulturelle Kommunikationsforschung mobilisieren. Betrachtet man die Verschrankung der beiden Diskurse als das Aufeinandertreffen zweier Milieus (der Forschenden einerseits und der Erforschten andererseits), lasst sie sich nun fiir die kombinierte Untersuchung der interkulturellen Kommunikation in ihrer Performativitat einerseits und der Milieugebundenheit dieser Kommunikation andererseits nutzen. Denn in der Gruppendiskussion werden nicht nur milieuspezifische Erfahrungen (u. a. auch Erfahrungen der interkulturellen Kommunikation) in Erzahlungen und Beschreibungen geschildert, d. h. propositional entfaltet. Anlasslich von Fragen und anderen Einwtirfen der Forschenden kommt es auch zu Aushandlungsprozessen mit den Erforschten. Diese bringen in der Interaktion mit den Forschenden eine Begegnung mit Milieufremden zur Performanz. Die Gruppendiskussion ist also in Bezug auf die interkulturelle Kommunikation sowohl hinsichtlich ihres propositionalen als auch ihres performatorischen Gehaltes rekonstruierbar. Propositionen im Sinne von „alltagsweltlichen Feststellungen" (Garfmkel 1973: 191; vgl. dazu Bohnsack 2003: 135f) sind allerdings nicht als Gegensatz zur Performanz zu verstehen. Ethnomethodologisch gesehen sind propositionale Schilderungen einer Praxis von der Durchfiihrung des Schildems nur analytisch zu trennen. Darstellende Praktiken - so Garfmkel (1967: 1) - „bestehen aus einer endlosen, fortgesetzten kontingenten Durchfuhrung". Sie „werden weitergefiihrt unter den Vorzeichen eines Ereignisses, zu dem sie zugleich gemacht werden, innerhalb derselben gewohnlichen Angelegenheiten, die sie beschreiben, wenn sie sie organisieren" (ebd.). Die dokumentarische Interpretation von Gruppendiskussionen tragt der Propositionalitat und Performanz im Rahmen der sequentiellen Analyse der Redebeitrage der Diskussionsteilnehmerlnnen Rechnung (Bohnsack 2003: 125): „Auf eine erste Diskursbewegung von A (die arbeitsteilig oder interaktiv auch durch mehrere Sprecher ausgefiihrt werden kann) und deren semantischen Gehalt oder Orientierungsgehalt wir als Proposition bezeichnen, folgt eine Reaktion durch B". „Der tiefer liegende semantische Gehalt als ein kollektiver, als gemeinsam geteilter, Sinngehalt erschliei3t sich jedoch erst, wenn wir in der Interpretation die (auf die Reaktion von B folgende) Reaktion von A mit einbeziehen konnen". Der Sinngehalt einer Proposition - die sich in ihr dokumentierende Orientierung der Gruppendiskussionsteilnehmerlnnen - ist also immer schon an die kollektive Durchfiihrung bzw. Performanz dieses Diskussionsabschnitts gebunden. Nur wenn rekonstruiert wird, wie der Sinngehalt von A's
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Proposition in der unmittelbaren Interaktion mit den anderen Gruppendiskussionsteilnehmern festgelegt wird, lasst sich die Proposition ixberhaupt interpretieren. Ublicherweise wird davon ausgegangen, dass in Gruppen aufgrund der gleichartigen milieuspezifischen Erfahrungen und Orientierungen ihrer Mitglieder Propositionen eher positive Elaborationen nach sich ziehen, als dass gegen sie opponiert wiirde. Dort, wo dies (iberwiegend nicht der Fall ist, wird man die Definition der Diskussionsteilnehmerlnnen als Gmppe in Frage stellen miissen. Sobald man aber in Gruppendiskussionen nicht nur den gruppen- respektive milieuintemen Diskurs, sondem auch den Diskurs mit den milieufremden Forschenden untersucht, lasst sich diese Annahme nicht mehr ohne weiteres aufrecht erhalten. Ich werde hierauf in der methodologischen Reflexion der im Folgenden dargestellten kleinen Untersuchung genauer eingehen (siehe Abschnitt 6).
5. Milieus und milieugrenzeniiberschreitende Kommunikation von Jugendlichen im Spiegel von Gruppendiskussionen Die Potenziale des Gruppendiskussionsverfahrens als Instrument zur Erhebung der Performanz interkultureller Kommunikation wie auch der Propositionen zu den milieuspezifischen Erfahrungen und Orientierungen mochte ich exemplarisch anhand jenes Forschungsprojektes deutlich machen, in dem diese Potentiale auch erstmals genutzt wurden. In dem DFG-Projekt unter Leitung von Ralf Bohnsack ging es darum, die milieuspezifischen Orientierungen und Erfahrungen von (vorwiegend mannlichen) Jugendlichen mit Migrationshintergrund anhand von Gruppendiskussionen zu rekonstruieren. Um neben der Adoleszenzund Bildungsspezifik dieser Milieus auch die fur Migranten typischen Erfahrungen, d. h. ihre Migrationslagerung (vgl. Nohl 1996: 24ff), valide herauszuarbeiten, habe ich zudem Gruppendiskussionen mit solchen Jugendlichen gefuhrt, die entweder in der Turkei oder in Deutschland einheimisch sind.^ Ich analysiere im Folgenden zwei Gruppendiskussionen: eine mit Jugendlichen, die in der Turkei einheimisch sind, und eine mit Jugendlichen, deren Eltem aus der Turkei nach Deutschland eingewandert sind (vgl. zu diesen ausfuhrlich: Nohl 2001). In diesen Fallen ist die interkulturelle Kommunikation mit ^ Sich hier alleine auf den Vergleich mit den in der Turkei einheimischen Jugendlichen zu sttitzen, hatte als implizites tertium comparationis die ethnische Zugehorigkeit der Jugendlichen zur Voraussetzung gehabt. Sich alleine auf den Vergleich mit den in Deutschland einheimischen Altersgenossen zu beschranken, hatte das (mogliche) Ethnische mit dem Migrationsspezifischen konfundieren lassen.
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dem Forschenden und ihre Rahmung durch die milieuspezifischen Erfahrungen und Orientiemngen der Jugendlichen besonders markant.^ Doch auch in den hier nicht behandelten Gmppendiskussionen mit den in Deutschland einheimischen Jugendlichen kommt interkulturelle Kommunikation zum Tragen; denn diese unterscheiden sich vom Forscher zumindest hinsichtlich Lebensalter, Bildung und teilweise auch Geschlecht, d. h. sie differieren in mehreren Miheudimensionen. Wenn im Folgenden also die interkulturelle Kommunikation der Jugendlichen dokumentarisch interpretiert wird, so unterliegt diesen Rekonstruktionen nicht die Annahme einer qua Nationalitat unterschiedlichen Kultur - eine Unterstellung, wie sie leider haufig in der interkulturellen Kommunikationsforschung zu fmden ist. Vielmehr fmdet sich interkulturelle Kommunikation schon dort, wo Menschen aus unterschiedlichen Milieus aufeinandertreffen. Diese existentielle Fremdheit zwischen den Milieus ist der Ursprungsort eines methodisch kontroUierten Fremdverstehens (vgl. Schiitze et al. 1976), das die Annahme und Bewaltigung von Fremdheit - im Rahmen der dokumentarischen Interpretation - zum methodischen Prinzip macht (vgl. Bohnsack/Nohl 2001). Im Folgenden widme ich mich zunachst der Gruppe von einheimischen Jugendlichen in der Tlirkei (Abschnitt 5.1), um dann die Jugendclique mit Migrationshintergrund in Deutschland zu untersuchen (Abschnitt 5.2).
5.7 Zwischen Andhnelung undKonfliktsuspendierung: Interkulturelle Kommunikation in einem autochthonen Milieu Die Gruppe mit dem Codenamen Hisar lernte ich kennen, nachdem ich an ihrem Wohnort, dem Burgviertel von Ankara, einen Lebensmittelhandler mittleren Alters nach dem Tref^unkt der Jugendlichen des Ortes gefragt und die Antwort bekommen hatte, diese kamen jeden Abend um 21 Uhr im Park zusammen. Dass diese Angaben exakt stimmten und Punkt 21 Uhr die Jugendlichen im genannten Park erschienen, weist schon darauf hin, dass diese Jugendlichen tief in die sozialen Beziehungen der Ortsgesellschaft eingebunden waren. Diese kollektive Einbindung in das Stadtviertel beruht primar auf dem „Freundeskreis" und der „Familie", wobei letztere den Prototyp sozialer Beziehungen darstellt.
Da sich in der Gruppendiskussion aus methodischen Grunden keine langeren Schilderungen des Forschenden uber seine eigenen (milieuspezifischen) Erfahrungen fmden, kann die MiHeuspezifik seiner interkulturellen Kommunikation nur andeutungsweise aufgezeigt werden.
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Wie diese, neben der peer group fiir das Milieu der Gruppe Hisar auBerst bedeutsamen, familienahnlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen aussehen, lasst sich im Diskurs der Jugendlichen (iber ihre Eltem rekonstruieren. Die Beziehungen zu ihren Eltem und zu den „GroBeren" in der Familie ganz allgemein charakterisieren die Mitglieder von Hisar folgendermaBen:^ Gm: Weil es ein Grofierer ist (.) ist naturlich gegenuber ihnen unser Respekt und Liebe, Im: ^ Respekt Gm: halt haben wir immer (.) Liebe und Respekt gezeigt. Zur gleichen Zeit sorgen sie auchfiir uns mit Liebe und Respekt, envarten sich von uns eine Hojfnung (•••)
Gm: Ebenso wie sie, als wir klein waren, fur uns mit Liebe Respekt und Zdrtlichkeit gesorgt haben, so auch sie wenn sie alt geworden sind, d.h. wir sorgen auchfiir sie aufdie gleiche Weise mit Liebe mit Respekt mit Zdrtlichkeit. Wir sind gezwungen halt fiir sie zu sorgen. Dm: '- Wir sind gezwungen zu sorgen halt bis sie sterben (...)
In diesem Diskurs, d. h. in der Proposition durch Gm, der Elaboration durch Gm und Im sowie der (Zwischen-)Konklusion durch Dm, dokumentiert sich eine, in den zusammengezogenen Metaphem „Liebe" (turkisch: „sevgi") und „Respekt" („saygi") verdichtete, umfassende Gegenseitigkeit bzw. Reziprozitdt zwischen den Familiengenerationen. Es ist den Jugendlichen selbstverstandlich, dass die Eltem fiir sie „gesorgt haben", als sie „klein waren". Dieser habituelle Aspekt lasst sich von der Norm unterscheiden, die dann Erwahnung fmdet: Zeitlich verschoben gilt es fiir die Mitglieder der Gmppe Hisar nun, fiir ihre Eltern zu „sorgen", genauer gesagt, sie sind dazu „gezwungen". Wenn hier die Sorge der Eltern fiir ihre Kinder als etwas Vergangenes und Selbstverstandliches dargestellt wird, die Sorge der Jugendlichen fiir ihre Eltern aber eine bisher nicht realisierte Norm ist, so zeigt sich: Die Jugendlichen der Gmppe Hisar befmden sich innerhalb der Reziprozitatsbeziehung in einer altersspezifischen Umbmchssituation von den Umsorgten zu den Sorgenden. Spater, in der nicht abgedmckten Fortsetzung dieses Diskursabschnitts, gehen die Jugendlichen genauer auf die normative Quelle ihrer eigenen Reziprozitatsvorstellungen ein. Wie aus einem Munde betonen die Jugendlichen, dass die innerfamiliale Fiirsorge mit dem Einzug in das „Paradies" („cennet") honoriert werde. Diese religiose Normiemng bekommt ihre unmittelbare Bedeutung durch die zeitliche Unbestimmtheit des eigenen Todes: „Heute gibt's dich morgen nicht." Das Diesseits wird von den Jugendlichen daher als eine „Prufung" bezeichnet, in der jederzeit mit Sanktionen zu rechnen ist, wenn die Norm der Gegenseitigkeit nicht erfiillt wird. Damit erstreckt sich die Reziprozitat nicht nur auf die Lebenszeit, sondem iiber den eigenen Tod hinweg. Diese Gegensei* Passage Eltem, 22-47. Ubertragung aus dem Tiirkischen ins Deutsche.
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tigkeit rechnet nicht nur mit einer moglichen Bestrafung durch Gott. Sie wird zudem im Rahmen einer Generationenfolge gestaltet. In dem Sprichwort: „Was du saest, das trinkst du", fmdet eine Gegenseitigkeit ihren metaphorischen Ausdruck, die drei Familiengenerationen, d. h. auch die Kinder der Kinder, umfasst. Die Reziprozitat, die sich in diesen Schilderungen der Gruppe Hisar dokumentiert, ist allumfassend. Der ubiquitare Charakter dieser Reziprozitat wird auch darin deutlich, dass nicht nur die Famihenmitglieder, sondem auch Freunde und sogar die Arbeitgeber nach MogHchkeit in die Selbstverstandlichkeiten nahweltlicher Reziprozitat einbezogen werden. Dieses personliche Verhaltnis zum Meister bzw. Chef konstituiert sich, sobald der Lehrling einen Vertrauenstest (ein groBerer Geldschein wird scheinbar unabsichtlich am Arbeitsplatz Hegen gelassen und es kommt nun darauf an, dass der Lehrling ihn seinem Chef zuruckgibt) bestanden hat. Der Chef ruft nun den Lehrling zu sich, und es ergibt sich folgender - ritualisierter Dialog, den die Jugendlichen arbeitsteilig schildem:^ Hm: ,Bitte schon' sage ich , grower B ruder' und so sage ich, ,setzt dich hin schauen wir mal' sagte er wir haben uns hingesetzt geredet und er hat mir ein wenig ein wenig (.) auch Rat gegeben, klar er ist grofi (.) als ich grofier, ein wenig Im: ^ Rats ch Iage gegeben Dm: '- Ratschlage Km: ^ Ratschlage Im: *- Ratschlage Hm: L Jiatsch Idge gegeben
Dieses Initiationsritual bei Arbeitsbeginn ist - so dokumentiert sich hier - nicht nur ein Vertrauenstest. Hierauf aufbauend konstituiert sich iiberhaupt erst die soziale Beziehung zwischen Arbeitgeber und Lehrling, in der letzterem „Ratschlage" erteilt werden. Das Arbeitsverhaltnis wird hierdurch in der Erfahrung der Jugendlichen einer innerfamilialen Beziehung ahnlich, in der der Arbeitgeber „groBer Bruder" („agbi") genannt wird. Im Rahmen einer solchen quasi-familialen Beziehung erhalten die Jugendlichen weitere Gratifikationen, die ein alleine auf Arbeitsleistung und Bezahlung ausgelegtes institutionalisiertes Arbeitsverhaltnis in den Hintergrund drangen. So berichtet z.B. einer der Jugendlichen, sein Meister habe ihm - ebenso wie seinen eigenen Kindem - eine „Lederjacke" geschenkt. Eingebunden in die Totalitat ihrer nahweltlichen Beziehungen nehmen die Mitglieder der Gruppe Hisar andere Menschen auf zweierlei Weise wahr: Entweder diese Personen werden in die Selbstverstandlichkeiten des eigenen Milieus unmittelbar eingeordnet oder - wenn jenen die Orientierung an einer nah' Passage Chefs, 467-481.
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weltlichen Reziprozitat fehlt - sie verkorpem einen Kontrast zur eigenen Haltung. Wie die Jugendlichen Menschen auBerhalb ihres eigenen Milieus unvermittelt in die eigenen Selbstverstandlichkeiten einordnen, zeigt sich u.a. in der Kommunikation mit dem Forscher. Im Zusammenhang mit den Reziprozitatsbeziehungen gegeniiber den Eltem nehmen die Jugendlichen einfach den Forscher als Beispiel:^ Dm: ... Nun die Mutter und der Vater Deiner Partnerin. Auch Dein Vater (.) das Recht alter vier El- Eltem ist eins heifit es Du musst eben alien gleich recht tun bei den vieren. Es wird eben nicht ganz getrennt gemacht werden. (.) Er wirdfur sie und auch fur sie so'rgen.
Uber die Partnerin des Forschers - die zwar eine tiirkische Staatsburgerin ist, die den Jugendlichen jedoch vollig unbekannt ist - wird hier eine Verbindung zwischen diesem und den Orientierungen der Gruppe hergestellt. Der Forscher wird auf die in der Gruppe Hisar iiblichen nahweltlichen Reziprozitatsbeziehungen verpflichtet, ohne dass dessen Fremdheit auch nur in Betracht gezogen wird. Diese Andhnelung des Forschers an die nahweltlichen Beziehungen wird im Zuge der Gruppendiskussion haufig dadurch zur Performanz gebracht, dass ihn die Jugendlichen als „groBen Bruder" („agbi") ansprechen. Demgegeniiber werden Personen, die der eigenen Orientierung nicht entsprechen, von der Gruppe Hisar als Kontrahenten aufgefasst. Hierzu zahlen u.a. die Jugendlichen des Nachbarviertels, die als „Zigeuner" bezeichnet werden, deren ethnische Identifizierung jedoch nicht das entscheidende Kriterium der Kontrahenz ist:*^ Hm:
^ Mit denen (1) lassen wir uns nicht ein
I Am: Yl: Im: Am: Hm: Yl: Am: Hm: Am:
•- ihre halt sie denken nicht an ihre Familie. Menschen die nicht denken. Unwissende halt. Un^mmh I 1- sie haben doch keine Familie ( ) wissend sagen wir zu solchen Personen, sie denken nicht an ihre Familie nicht denkende Menschen. ^ sie denken nicht an das Ende sie denken nicht an ihre Familie. Sie denken ^Mmh. ^ Er an ihre Rechte und Linke sitzt im Gefdngnis. Nichts. Es ist ihm sogar egal solche Menschen gibt es halt. Aber
Hm:
'' Passage Eltem, 143-146. 'Gegner, 171-205.
L ^j^yi
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Am: dies konnen wir nicht machen mit Sicherheit. Hm: '- einen Tag sitzt er, am ndchsten Tag kommt er heraus, wieder macht er die gleiche Sache. Am: '- wieder macht er die gleiche Sache. Ja Yl: ^Mmh. Am: solche Sachen konnen wir nicht machen. Weil wir an unsere Familie denken Hm: '- die Familie
Insofern die hier genannten Personen „nicht an ihre Familie" denken, stellen sie sich auBerhalb der Sozialitatsform der Gruppe Hisar. Einer solchen Orientierung wird von Seiten der Jugendlichen jegliche Rationalitat und (religiose) Aufgeklartheit abgesprochen.^ Bei diesen Kontrahenten tritt an die Stelle der Primordialitat nahweltlicher Beziehungen das Leben im „Gefangnis". Gerade hier, wo die Jugendlichen liber die Kriminalisierung der Bewohner des Nachbarviertels sprechen, dokumentiert sich noch in der Konstruktion des Kontrahenten die eigene Einbindung in die nahweltlichen Beziehungen ihres Milieu: Die zur Inhaftierung fiihrenden Aktivitaten werden namlich nicht vor dem Horizont universalisierter oder auch nur (in Gesetzen) kodifizierter Normen betrachtet, d. h. nicht als Verletzung gesellschaftUcher Normalitatserwartungen. Fiir die Gruppe Hisar gewinnen sie ihre Bedeutung alleine durch die Folgen, die sie fiir ihre Familie zeitigen. Nicht wegen gesellschaftlicher Normen, sondem „weil wir an unsere Familie denken", vermeiden die Jugendlichen kriminalisierungsfahige Aktivitaten. Neben diesen Bewohnern des Nachbarviertels, mit denen es - wie die Jugendlichen berichten - des Ofteren zu Auseinandersetzungen kommt, wird das Burgviertel auch von Besuchem der direkt angrenzenden Vergniigungsstatten und Restaurants aufgesucht. Uber diese sprechen die Jugendlichen mehrmals wahrend der Gruppendiskussion. Im folgenden Abschnitt iiberlagem sich der Diskurs liber die Kontrahenten ihrer eigenen Haltung und die Auseinandersetzung mit diesen, als ein betrunkener Mann (Be) auf der StraBe oberhalb des Parks auftaucht. Hier zeigen sich sowohl die propositionale Darstellung als auch die Performanz des orientierungsmaBigen Gegeneinanders:^^ Gm: L Anstatt die funfhundert Millionen dorthin zu geben am Spieltisch auszugeben oder am Al- AlkoholBe: L ((Geschrei eines Betrunkenen Anfang)) Gm: tisch auszugeben (.) halt wenn er wenigstens einen Armen gesdttigt hdtte gekleidet hdtte vielleicht (.) wdre das eine bessere (Tat gewesen). Jm: ^ ah halt hier ist so ein Teil einer der noch trinkt und (.) herumspinnt
^ Das ttirkische Wort, das ich hier mit „unwissend" iibersetzt habe („cahil"), bedeutet sowohl . wissend" als auch „vormohammedanisch". ^° Passage Zukunft, 324-347.
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Am: Jm:
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'- Schau
^ ein Beispiel Hm: ^ ein Beispiel halt Be: ^ ich bin ein Mensch. Hm: '- Schau. Be: Ich habe Respekt vor Dir. Bm: ^ Was heifit hier er hat Respekt Scheifie und nichts anderes Hm: ^ Wenn ihr wollt lasst uns zwei Minuten dem da zuhoren Yl: ^Nee@(l)@ ,Hm: ^@(1)@ Jm: '- Jetzt wird er zu seiner Frau (fluchen) das Kind wird kommen und er wird schlagen.
Fiir die Gruppe Hisar bildet der „Spieltisch" bzw. der Konsum von „Alkohor' erst in Verbindung mit dem sozialen Alter, in dem sie Bedeutung haben, den negativen Gegenhorizont: Alkoholkonsum stellt - wie aus anderen Passagen der Gruppendiskussion zu rekonstruieren ist - in der Zeit der Jugend eine normale Aktivitat dar, wahrend sie fiir verheiratete Erwachsene abzulehnen ist. Der betrunkene Mann verkorpert diese Abweichung von den entwicklungsbezogenen Erwartungen der Gruppe Hisar, er ist ein „Beispier', mit dem die Jugendlichen ihre Ausgangsproposition elaborieren. An ihm wird auch der Orientierungsrahmen verdeutlicht, in dem der Alkoholkonsum vollzogen wird: Wenn der Mann nach Hause gehen und dort sein Kind „schlagen" wird, dann hebt er auf diese Weise die Reziprozitat zwischen den Familiengenerationen auf. In der Performanz der Interaktion mit dem Kontrahenten der eigenen Orientierung lasst sich die milieuspezifisch hohe Bedeutung dieser familialen Verortung rekonstruieren: Wahrend der Betrunkene propositional fur sich das „Mensch"-Sein reklamiert und sich in Form des „Respekts" (saygi") einen Ort innerhalb der Reziprozitat sucht, sprechen die Jugendlichen ihm dies ab. Der Betrunkene steht fur sie auBerhalb der nahweltlichen Beziehungen und hat nur „ScheiBe" fiir seine Mitmenschen iibrig. Gegen die Proposition des Betrunkenen (die Verkniipfung von Menschsein und „Respekt") wird - und dies ist auch fiir den Fortgang dieser Interaktion bedeutsam - von den Jugendlichen jedoch nicht opponiert. Sie wird also in ihrem Orientierungsgehalt nicht grundsatzlich in Frage gestellt. Vielmehr reagieren die Jugendlichen antithetisch, indem sie dem Betrunkenen den faktischen „Respekt" absprechen, nicht aber die Bedeutung des „Respekts" fiir das Menschsein in Frage stellen. Diese Interaktion mit dem Betrunkenen gibt Aufschluss dariiber, wie die Jugendlichen mit solchen Kontrahenten umgehen. Wahrend der Betrunkene den
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Jugendlichen zunachst seinen Rticken zukehrt, beginnt er kurz darauf eine Auseinandersetzung mit ihnen:^^ Be: das hier ist ein Land voller Kuppler voller Zuhdlter wer Kuppler ist und keine Antwort gibt dem scheifi ich in den Mund Mann. Gm: •- grofier Bruder zu wem spricht du, ?m: ^( ) Be: •- Nein nein dock Gm: *- Hast du was gesagt, Be: '- mein Kind, du bist unser (.) Verwandter mein Neffe Gm: '- J a grofier B ruder. Be: •- Du kannst es nicht sein. Jemand in deinem Alter du kannst sowieso nicht (aufeinen Berg) steigen aber es gibt Jm: ^ Nein ( ) nein Am:
^ Okay
Bm: '- Okay Onkel Gm: '- Okay Km: ^ Okay mein Onkel okay Be: 'nicht okay ware was ware dann mein Kind, Am: '- Onkel wir ha ben doch nichts gesagt,
Wenn es
In dieser Interaktion dokumentieren sich zwei Umgangsweisen mit Kontrahenten. Erstens wird die Beleidigung durch den Betrunkenen („scheiB ich in den Mund") in ihrer Beziehungsdimension thematisiert und gefragt, zu „wem" er dies gesagt habe. Auch hier, wo sich der Betrunkene also selbst jenseits der von ihm zuvor geauBerten Proposition („Ich habe Respekt vor Dir.") und der ihr unterliegenden Orientierung an einer umfassenden Reziprozitat bewegt, opponieren die Jugendlichen also nicht gegen ihn, passen sich seinem Orientierungsrahmen aber auch nicht an. Vielmehr nutzen sie den einzigen Ausweg, der sich ihnen jenseits von Opposition, Antithese und Zustimmung bietet und reflektieren die Beziehungsdimension. Dabei bezieht Giiner den Betrunkenen in die nahweltlichen Beziehungsformen ein, indem er familienahnliche Titel verwendet und ihn als „groBen Bruder" anspricht. Der Angesprochene suspendiert nun die Geltung seiner Beleidigung („nein") und verortet sich seinerseits explizit in der Reziprozitat, d. h. er arbeitet die Reaktion des Jugendlichen weiter aus: „du bist unser (.) Verwandter". Dies wird nun auch von dem Jugendlichen validiert. Es handelt sich hier um eine Andhnelung an die nahweltlichen Beziehungen.
Passage Zukunft, 456-479.
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Diese erweist sich als prekar, derm der Konflikt hort nicht auf. Der Betrunkene versucht, eine Uberlegenheit gegeniiber den Jtingeren aufzubauen. Damit beginnt dann als zweites die Suspendierung des Konflikts: Die Jugendlichen thematisieren die Beleidigungen und Degradierungen nicht inhaltlich. Das „Okay" (tiirkisch: „Tamam") der Jugendlichen bestatigt weder die Degradierung noch stellt es sie in Frage, sondem dient der metakommunikativen Suspendierung der Interaktion. Auch als der Betrunkene die Beendigung des Konfliktes zur Disposition stellt, vermeiden die Jugendlichen eine Fortsetzung der Interaktion. Sie suspendieren nun ihrerseits die Geltung ihrer Interventionen: „Onkel wir haben doch nichts gesagt,". Sowohl in der Anahnelung an die nahweltlichen Beziehungen als auch in der Suspendierung des Konflikts dokumentiert sich, dass die Jugendlichen letztlich nicht darin geubt sind, mit einer Gegensatzlichkeit von Orientierungsrahmen, d.h. mit fiindamentalen, die handlungsleitenden Orientierungen betreffenden, kulturellen Unterschieden umzugehen. Sie nehmen auf Personen auBerhalb ihres eigenen Milieus Bezug, indem sie diese ganzlich in den Rahmen der eigenen Erwartungen einordnen. So konnen die Milieufremden nur als Gleiche oder als vollig Andere, in ihrer Orientierung kontrare aufscheinen. In dieser Nostrifizierung zeigt sich die umfassende Einbettung der Gruppe Hisar in die Sozialitat ihrer Nahwelt, d. h. in tradierte Milieuzusammenhange: nicht nur die Beziehungen in Familie, Nachbarschaft und am Arbeitsplatz, auch diejenigen zu Milieufremden werden im Muster nahweltlicher Beziehungen gelebt.
5.2 Fremdheitshaltung und kausalanalytisches Fremdverstehen. Interkulturelle Kommunikation in einem migrations- undpluralitdtsgeprdgten Milieu Bin maximaler Kontrast zu den autochthonen Jugendlichen des Burgviertels in Ankara fmdet sich bei jenen Heranwachsenden, deren Eltem aus der Tiirkei nach Deutschland eingewandert sind und die in Berlin leben. Denn diese Jugendlichen nehmen die Forschenden zunachst als Fremde wahr, um sich ihnen dann interpretatorisch zu nahem. Kurz nach Beginn einer Gruppendiskussion mit Jugendlichen dieses Milieus kommt es zu folgender Interaktion mit dem Forscher:^^ Am: Und wie war Eure Jugend? (.) Jetz kommen wer zu Euch! Ick will mal gespannt sein; was fehlt mir da an meine Jugend dass Ihr so interessiert seid; jetz will ick mal Eure Jugend be- eh w::issen, dass ick mit meine Jugend vergleichen kann.
' Gruppe Schuh, Passage Schule-Beruf, 1 -22.
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Yl: ^ Na also bei mir warsja bei mir wars so dass ich auf'^em Gymnasium war unddann (ging des) Am: Wie kam des dass Du Gymnasium bist? Ick hab mit schon sechs gegetrdumt dass ick mir irgendwann Geld (.) verdienen kann. (Weil) mit dieser sechsten Klasse hab ick gefragt wie ich am leichtesten Geld verdienen kann. Yl: Mhm. (.) Ich weifi nicht mein meine Mutter hat Abitur gemacht, mein Vater hat Abitur gemacht, mein Bruder hat Abitur gemacht, ( ) Am: ^ Also irgendwie hat des mit den Le- eh Eltern zu tun oder jo? Bm: Mit der Familie im im Gesamten. Yl: L oj^^y^ -^^ ^i^p^ o Cm: '- Ich schdtz mal. Am: Also mit der Umgebung!
Dieser Abschnitt hat einen doppelten propositionalen Gehalt. Die erste Proposition wird von Am vorgetragen. Indem er gegentiber dem iiberraschten Forscher zunachst Fremdheit („gespannt sein") inszeniert und so das Beobachtungsverhaltnis umkehrt, dokumentiert sich der fiir diese Jugendliche spezifische Umgang mit Milieufremden. Sie nehmen diesen gegenuber eine analytische Haltung ein und „vergleichen" ihre Sozialisationsbedingungen mit denjenigen der Forscher („was fehlt mir"). Die Unterschiedlichkeit von Lebensverlaufen und sozialen Positionen wird von den Jugendlichen also nicht - wie in der Gruppe Hisar - negiert, sondem offensiv thematisiert und zum Ausgangspunkt einer vergleichenden Analyse gemacht. Dies wird nun in der weiteren Folge elaboriert, wobei der Forscher und die Jugendlichen geradezu zusammenarbeiten. Wahrend der Forscher seine eigene Jugend schildert, fragt Am nach den Hintergrunden fur die gymnasiale Bildung und kontrastiert sie mit seiner eigenen Jugend. Das heiBt, er proponiert nicht nur den Vergleich, sondem performiert ihn auch. Der Forscher lasst sich nun hierauf ein und macht Angaben zu der Schulbildung seiner Eltem, worauf die Jugendlichen arbeitsteilig ein Fazit aus dieser vergleichenden Analyse ziehen. Die zweite Proposition wird dann arbeitsteilig vom Forscher und von den Jugendlichen entfaltet. Der Hinweis des Forschers auf seine Jugend im Gymnasium hat noch gar keinen eigenstandigen propositionalen Gehalt, sondem gewinnt diesen erst in der Elaboration durch Am, der nach den Hintergrunden fragt und durch den Verweis auf seine eigenen damaligen Wiinsche („Geld verdienen") die Auskunft des Forschers provoziert, dass es mit seinen Eltern und Geschwistern zu tun gehabt habe. Dieser Verweis auf den sozialen Kontext der Gymnasialbildung wird dann von den Jugendlichen generalisiert („irgendwie hat des mit den Le- eh Eltem zu tun") und konkludiert („mit der Umgebung"). In dieser zweiten Proposition dokumentiert sich, dass die Jugendlichen die Pluralitat der Lebensverlaufe und sozialen Positionen, die ihnen in der Erhebungssituation (aber nicht nur dort, s.u.) begegnen, mit Unterschieden der sozia-
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len Herkunft erklaren. Sie schreiben - hierin mit ihm ubereinstimmend - dem Forscher keinerlei Intentionen oder bemfsbiographische Entwiirfe zu, die zu seiner spezifischen Biographie gefiihrt batten. Vielmehr wird die Bildungsbiographie als Produkt ihrer „Umgebung" mit dem sozialen Habitus des Forschers erklart. Die vergleichend-analytische Haltung der Jugendlichen bezieht sich damit auf den Ursachenkomplex, den sie flir das Auftreten des Forschers indizieren, ohne dass der Forscher diese ursachliche Erklarung vaHdiert hatte. Insofern dieses kausalanalytische Fremdverstehen^^ von den Jugendlichen gemeinsam mit dem Forscher entfaltet wird, bleibt noch offen, ob es eng mit den miheuspezifischen Orientierungen und Erfahrungen der Gruppe verbunden oder eher an die Erhebungssituation gebunden ist. Doch dokumentiert sich das kausalanalytische Fremdverstehen nicht nur in der Interaktion mit den Forschenden, sondem auch in den propositionalen Schilderungen, in denen die Jugendlichen uber ihre Erfahrungen mit Milieufremden berichten. Im Folgenden geht Cm auf die Schwierigkeiten ein, die er mit einer „Lehrerin" in der Ostberliner Berufsschule erlebt hat:^"^ Cm: Die Lehrerin hatte mich irgendwie aufm Kicker gehabt. Bm: @(1)@ Yl: Mmh Cm: Ich weifi nicht warum, aher irgenwie (.) weifi nich also (1) sich kam mit ihr nich klar und sie kam mit mir nich klar. (2) Sie hat immer gleich meine Firma benachrichtigt wenn ich zu spat kam, oder wenn ihr irgendwas nich gepasst hat. Und meine Firma dann immer zu mir, ja weshalb warum dann meint ich so das liegt doch nich an mir es gibt zwei es gi- sind immer zwei Leute die dran schuld sind. Nja hab ich zu ihm geYl: ^Mmh Cm: sagt so ganz klipp und klar so ja wahrscheinlich bin ich ein Auslander und (.) driiben im Prinzip haben die ganz andere Einstellung. Weil die mit Ausldndem nichts viel zu tun hatten. Zu Ostzeiten warn da die Fidschis gewesen, und dann zu zu der Wende die dann (nach offen) gegangen sind sind im Prinzip die ganzen Ausldnder die ganzen TUrken Araber (1) und der Konflikt dann im Prinzip (.) die mu-mussten ja teilweise [...] die wurden inen Westen geschickt und wir wurden in den Osten geschickt mit dem Vorgrund so (.) kennenlemen. Ja und wenn ich jetzt zum Beispiel selber en Yl: ^Ja Cm: Deutscher bin und dann auf einmal geht die Mauer offen und ich ich werd in- inen Westen geschickt und bin in einer Berufsschule wo nur Ausldnder zum grojSen Teil sind, (I) na dann hab ich (.) und ich kannte nie en Ausldnder oder so dann (.) (sind) ihre dummen Einstellungen.
Die eindeutige Schuldzuschreibung an die Lehrerin („aufm Kieker") differenziert Cm, indem er auf die wechselseitige Entwicklung der Probleme verweist. ^^ Man kann dies als ein kausalanalytisches Fremdverstehen bezeichnen, in dem nur jene „an und fur sich sinnfremden (also nicht verstehbaren), sondem nur in ihrer RegelmaBigkeit beobachtbaren Ablaufe, die zwar Vorbedingungen, aber nicht Voraussetzungen des zu interpretierenden Sinnzusammenhanges sind" (Mannheim 1964c: 404f), zum Gegenstand des Fremdverstehens werden. ^^ Gruppe Schuh, Passage Politische Einstellung, 1-45.
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Auch gegeniiber dem Vorgesetzten in seiner Firma bezeichnet der Jugendliche die Probleme mit seiner Lehrerin als Produkt einer Interaktion, in der „immer zwei Leute" involviert sind. Ohne dies an ihre Intentionen zu kniipfen, wird die Andersartigkeit und das Verhalten der Lehrerin mit ihrer Einstellung zu seiner sozialen Identitat als „Auslander" erklart. Der Jugendliche analysiert die Lage „zu Ostzeiten", in der es nur mit spezifischen Minderheiten Kontaktmoglichkeiten gab, wahrend mit dem Fall der Mauer nicht nur die allgemeine Prasenz anderer ethnischer Minderheiten erhoht wurde, sondem dariiber hinaus - so der Jugendliche - die ehemaligen DDR-Btirger und die Nicht-Deutschen institutionell zum „Kennenlemen" gezwungen werden. Der soziale Habitus der Lehrerin wird hier also jenseits ihrer personlichen Erfahrungswelt unter Verweis auf allgemeine Umstande der DDR-Sozialisation herausgearbeitet und als kausale Ursache ihres Verhaltens analysiert. Betrachtet man sowohl die interkulturelle Kommunikation der Jugendlichen mit den Forschenden als auch jene mit der Lehrerin, so wird in diesen Milieugrenzen iiberschreitenden Beziehungen die bereits in Abschnitt 3 erwahnte Mehrdimensionalitat von Milieus deutlich. Denn wahrend gegeniiber den Forschenden hinsichtlich der bildungsspezifischen Erfahrungsdimension Fremdheit hergestellt wird, bezieht sich Cm hinsichtlich der Lehrerin vor allem auf die migrationsspezifische Erfahrungsdimension. Beziiglich des Verhaltens, das die Lehrerin an den Tag legt, enthalten sich Cm und seine Freunde jeglicher moralischen Beurteilung. Diese „amoralische" Haltung (vgl. auch Bohnsack/Nohl 1998) steht in einem komplementaren Verhaltnis zum kausalanalytischen Fremdverstehen, wie es die Jugendlichen hier propositional schildem und in dem zuvor wiedergegebenen Abschnitt vollziehen. Indem der Jugendliche die Griinde fur das Verhalten der Lehrerin nicht in deren personlicher Biographic oder Intentionen, sondem in den gesellschaftlichen Umstanden, ihrer Sozialisation und den in ihr griindenden „Einstellungen" sucht und fmdet, kann er sich einer moralischen Bewertung enthalten. Gleichzeitig ermoglicht es ihm dieser moralisch distanzierte Blick, den sozialen Habitus der Lehrerin liberhaupt erst zu erkennen. Diese amoralische Haltung dominiert allerdings nur den Umgang mit Personen auBerhalb der eigenen Familie und der Einwanderungscommunity. Innerhalb der eigenen Familie herrscht cine hochmoralische Haltung, die die Jugendlichen vor allem dort betonen, wo es um den Zusammenhang der Familie und ihren Fortbestand geht. Zum Beispiel geht eine Gruppe aus diesem allochthonen Milieu zwar zunachst intensiv dem Drogenhandel nach, ohne dies moralisch verwerflich zu fmden; diese Aktivitaten werden fiir die Jugendlichen jedoch dann zum Problem, als der Drogenhandel sie in Konflikt mit ihrer Familie zu
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bringen droht, namlich bei einer drohenden polizeilichen Hausdurchsuchung in der elterlichen Wohnung:^^ Am: und dann wiirden bei ihm Polizisten ein- brechen sozusagen ein reinhauen undjeden festnehmen. (.) Bm: Auch die Eltern und die Geschwister. °(und so) ° Am: '- Auch die Eltern und du muss feststellen (.) du hast n' funfundsechzig Jahre oder sechzichjdhrigen (.) Mutter (.) die wiirde doch vollglatt th (.) so Herzstillstand (.) du muss so brutal sein (I) einfach keine Mutter keine Vater kennen. (.) Und das das gibt 's bei uns nicht mehr. (.) Wir haben Respekt vor unseren Eltern.
Die ,devianten' Aktivitaten werden fur die Jugendlichen erst dann zu einem Orientierungsproblem, wenn Polizisten die Grenze zur Familie uberschreiten und Konsequenzen fiir die Familie befiirchtet werden miissen („Herzstillstand"). Diese Differenz, die hier implizit zwischen der Aufiiahmegesellschaft und ihrer Moral einerseits und der Familie und deren Moral andererseits gemacht wird, lasst sich als Sphdrendifferenz bezeichnen. Diese Differenz zwischen der familialen, inneren Sphare und der gesellschaftlichen, auBeren Sphare erstreckt sich nicht nur auf unterschiedliche moralische WertmaBstabe, sondem - fundamentaler - auf differente Formen der Sozialitat, wie dies die Jugendlichen mit dem Begriff des „Respekt" andeuten.'^ Eine solche Spharendifferenz lieB sich in verschiedenen Milieus der Jugendlichen mit Migrationshintergrund rekonstruieren; in jedem Milieu fmdet sich eine spezifische Form, die Problematik der Spharendifferenz zu bewaltigen. In dem Milieu, dessen Angehorige in den beiden wiedergegebenen Gruppendiskussionsabschnitten zu Wort kamen, trennen die Jugendlichen in ihrer Handlungspraxis scharf zwischen der inneren und auBeren Sphare. Wie sich bereits im obigen Transkript andeutet, versuchen sie das Geschehen in der auBeren Sphare nicht in die innere Sphare hineinzutragen;^^ zugleich vermeiden sie es, die Moral der inneren Sphare, auf die hier mit dem „Respekt" metaphorisch verwiesen wird, auf die auBere Sphare anzuwenden. Wir sprechen daher auch von einer Sphdrentrennung. Dabei wird in den Gruppendiskussionen deutlich, dass fur diese Jugendlichen die innere Sphare die vorrangige ist, was wir als Primordialitdt der inneren Sphdre bezeichnen (vgl. Bohnsack/Nohl 2001; Nohl 2001: 149ff).^^ ^^ Gruppe Stiefel, Passage Drogenhandel, 404-417. ^^ Ich werde in Abschnitt 6 zeigen, inwiefem sich dieser „Respekt" von dem Begriff des „Respekts" unterscheidet, den die autochthonen Jugendlichen in Ankara gebrauchen. '^ Dies wird auch bei weniger auffalligen Praktiken wie etwa dem Zigarettenrauchen deutlich, das den Augen des Vaters entzogen wird, obwohl dieser davon weiB. ^^ Wie erwahnt, fmden sich in der Migrationslagerung auch noch weitere Milieus. Vgl. zu diesen Nohl (2001: 13 Iff, 168ff) sowie Bohnsack/Nohl (2001).
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Wenngleich also die innere Sphare vorrangig ist, unterscheidet schon der bloBe Umstand, dass diese Migrantenjugendlichen in ihrer Handlungspraxis (mehr oder weniger bewusst) Prioritaten setzen, sie von den autochthonen Jugendlichen der Gmppe Hisar. Denn letztere erkennen iiberhaupt keine andere Sozialitatsform als diejenige ihrer Nahwelt an und begreifen jene Menschen, die ihr nicht entsprechen, per se als Kontrahenten ihrer eigenen Orientierung. Sie mussen also gar keine Prioritaten setzen, da die eigene Orientierung an der umfassenden Reziprozitat nicht relativiert und als partikular betrachtet wird. Demgegeniiber orientieren sich die hier untersuchten Migrantenjugendlichen zwar an der inneren Sphare, ihrer Moral und Sozialitatsform. Diese Orientierung ist aber wiederum gerahmt durch das Wissen, dass die in der inneren Sphare iibliche Handlungspraxis nicht ubiquitar, sondem partikular ist. Die Orientierung an einer Spharentrennung und an einer amoralischen Haltung gegeniiber den Fremden, die kausalanalytisch interpretiert werden, ermoglicht es den Jugendlichen, sich in einer pluralen Gesellschaft zurecht zu fmden.'^
6. Zur dokumentarischen Interpretation interkultureller Kommunikation in Gruppendiskussionen Gruppendiskussionen dienen (iblicher Weise der Erhebung von kollektiv geteilten Erfahrungen und Orientiemngen. Wenn Gruppendiskussionen dann dokumentarisch interpretiert werden, indem man die performative Relation der einzelnen Diskursbewegungen zueinander rekonstruiert, geht es nicht zuvorderst um die (moglichen) Gegensatze und Widerspriiche zwischen einzelnen Redebeitragen, sondern um die den Redebeitragen unterliegende, sie verbindende (konjunktive) RegelmaBigkeit. Die dokumentarische Interpretation ist also durch eine Suche nach ,„homologen', dasselbe dokumentarische Wesen bekundenden Momenten" (Mannheim 1964a: 121) in einem jeden Fall gekennzeichnet. Dabei wird auch von einer Homologie zwischen dem Durchfiihrungsaspekt der Gruppendiskussion und ihrem propositionalen Gehalt ausgegangen. Betrachtet man die interkulturelle Kommunikation, die sich in Gruppendiskussionen zwischen Erforschten und Forschenden vollzieht, so erhalten Performanz und Propositionalitat jedoch eine besondere Bedeutung. Denn wahrend ^ Anzumerken ist hier, dass diese Jugendlichen nicht als Kulturrelativisten zu betrachten sind. Vielmehr betten sie die Unterschiedlichkeit der Lebensorientierungen, die ihnen in innerer und auBerer Sphare begegnen, wiederum in eine iibergreifende - sozusagen universalisierende - Kosmologie ein, in der sie damit argumentieren, dass die „Lebenslage" jedes Menschen nicht mit seinen hitentionen und individuellem Vermogen, sondem mit seiner schicksalhaften „Lebenslage" zu tun hat (vgl. dazu Nohl 2001: 165ff).
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im gruppeninternen Diskurs die Signifikanz der Propositionen erst in ihrem performatorischen Kontext (in der Reaktion der Gruppenmitglieder aufeinander) interpretierbar wird, las sen sich in Bezug auf die interkulturelle Kommunikation Performanz und Propositionalitat (tendenziell) getrennt voneinander betrachten. Propositionale Schilderungen zum Umgang mit Milieufremden (die natiirlich auch erst in ihrem performatorischen Kontext interpretierbar sind) konnen von den performatorischen Interaktionen mit dem milieufremden Forscher (die sich natiirlich auch erst durch ihre Propositionalitat konkretisieren) unterschieden werden. Wahrend die propositionalen Schilderungen vomehmlich auf transsituative, milieuspezifische Erfahrungen und Orientierungen der Gruppe rekurrieren, sind die performativen Interaktionen zwar auch durch die milieuspezifischen Erfahrungen und Orientierungen der Gruppe vorstrukturiert, tragen jedoch zudem der Situation der Interaktion und der Spezifik des Gegenlibers Rechnung. Doch nicht nur das Gruppendiskussionsverfahren bietet - bislang wenig genutzte - Potentiale fiir die gleichzeitige Rekonstruktion von interkultureller Kommunikation und deren milieuspezifischer Rahmung. Auch die dokumentarische Methode als Auswertungsverfahren (nicht nur) fiir Gruppendiskussionen ist fiir die Interkulturalitat jeglicher empirischer Forschung sensibel. Dies lasst sich exemplarisch anhand des von den Jugendlichen gebrauchten Begriffes des „Respekts" deutlich machen. Was unter „Respekt" zu verstehen ist, kann, folgt man Matthes (siehe dazu Abschnitt 1), nicht in einer Projektion des Begriffsverstandnisses der Forschenden herausgearbeitet werden. Vielmehr geht es darum, jene Vorgange zu rekonstruieren, „in denen sich gesellschaftliche Wirklichkeit(en) hier wie anderswo schon immer selbst auf ihre(n) Begriff(e) bringen" (Matthes 2000: 24; Hervorhebung im Original). Allerdings unterscheidet die dokumentarische Methode zwischen der Bedeutung, die einem Begriff innerhalb der Gesellschaft zukommt, und der milieuspezifisch differenzierten, starker an die Handlungspraxis gebundenen und sie leitenden Begriffsbedeutung, also zwischen der kommunikativ-generalisierenden und der konjunktiven Bedeutung (dazu: Bohnsack 2003, Kap. 3.2.). Die konjunktive Bedeutung des „Respekts" erweist sich in der dokumentarischen Interpretation dann als in den beiden untersuchten Milieus unterschiedlich. Wahrend er bei den autochthonen Jugendlichen der Gruppe Hisar als Metapher fur eine umfassende Reziprozitat steht, die sich an den innerfamilialen Beziehungen orientiert, letztlich aber alle sozialen Beziehungen, auch jene zu Fremden, strukturiert, ist der „Respekt" im Milieu der allochthonen Jugendlichen gerade nicht umfassend. Er beschrankt sich auf die innere Sphare und klammert das Geschehen in der auBeren Sphare aus. Nur in der inneren Sphare zahh „Respekt", wahrend die Jugendlichen das Geschehen in der auBeren Spha-
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re nicht moralisch bewerten und gerade auf diese Weise mit der Pluralitat der Gesellschaft zurechtkommen. Diese ganz praktische Einklammemng der eigenen moralischen Begriffe erscheint bei diesen allochthonen Jugendlichen als Voraussetzung ihrer Kompetenzen in der interkulturellen Kommunikation, d. h. in der Verstandigung zwischen unterschiedlichen Milieus.
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Kulturelle Prafigurationen sozialer Interaktion. Methodologische Fragen interkultureller Kooperation, diskutiert an einem Beispiel aus Kamerun Rainer Kokemohr
1. Peter Berger und Thomas Luckmann erlautem in ihrer immer noch sehr lesenswerten Wissenssoziologie von 1966 den Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Sie fassen Gesellschaft als objektive Wirklichkeit auf, die, von vorausgehenden Generationen konstmiert, „im Sinne einer in sich zusammenhangenden, gegebenen Wirklichkeit der natiirlichen Welt" als Ensemble gesellschaftlich anerkannter Wissensbestande und Institutionen „an eine neue Generation weitergegeben" (Berger/Luckmann 1974: 63) wird. Sie werde von nachkommenden Generationen im Prozess ihrer Sozialisation subjektiv modifiziert und angeeignet. Um strukturell erlautern zu konnen, dass sozialisatorische Aneignung anderes ist als die pure Ubemahme einer gegebenen Wirklichkeit, unterscheiden sie u. a. zwischen primarer und sekundarer Sozialisation (a.a.O.: 139). In der primaren Sozialisation werde „die erste Welt des Menschen (...) konstruiert" (a.a.O.: 146). Sie werde „als unausweichlich erlebt" (a.a.O.: 158), stifle als "Welt der Kindheit Vertrauen", sei „dicht und zweifelsfrei wirklich" und „die ,heimatliche Welt', die wir noch in femste Regionen des Lebens, wo wir keineswegs heimisch sind, mitnehmen" (a.a.O.: 146). Mit der Unterscheidung von in primarer und sekundarer Sozialisation konstruierten Wirklichkeiten tibersetzen die Autoren im Anschluss an Alfred Schtitz' soziologische Wendung der Phanomenologie Edmund Husserls bewusstseinsphilosophischen Lebensweltbegriff empirisch-soziologisch. Sie sehen in der Welt primarer Sozialisation das lebensgeschichtliche Fundament, das in sekundarer Sozialisation durch solche Wirklichkeiten erganzt werde, die sich gesellschaftlicher Arbeitsteilung und der mit ihr verbundenen unterschiedlichen Wissensverteilung verdanken (a.a.O.: 148). Arbeitsteilung setze die Individuen anderen Wirklichkeiten aus, die in der Form symbolisch artikulierter Sinnwelten die Welt primarer Sozialisation mit einer eigenen Semantik und Pragmatik in problematischer Verschrankung iiberlagem (a.a.O.: 150). Die folgenden Uberlegungen sind der genannten Unterscheidung verpflichtet. Auf der Stufe primarer Sozialisation kann es weder die Vorstellung konkur-
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rierender Welten noch einen Zweifel geben, der die Existenz der Welt in Frage stellt. Erst sekundare Sozialisation macht „Subwelten" (a.a.O.: 148) moglich, von der aus jemand die eigene Welt zum Thema machen, sie beschreiben, sie verteidigen oder an ihrer Existenz zweifeln kann. Im Sinn dieser Unterscheidung kann man sagen, dass die Wirklichkeit primarer Sozialisation die praktisch unhintergehbare Welt ist, die, kulturell prafiguriert und in der individuellen Biographic sedimentiert, die lebensgeschichtlich-systematische Voraussetzung der Konstruktion sowohl sekundarer Wirklichkeiten als auch des kritischen Umgangs mit ihnen ist. Das bedeutet zugleich, dass der explizite Bezug auf eine in primarer Sozialisation erworbene Wirklichkeit immer nur in einer sekundaren Semantik realisierbar ist, unter deren Oberflache jedoch primar erworbene Prasuppositionen fortleben. Im Blick auf „empirische Forschung unter den Bedingungen kultureller Fremdheit", iiber die zu sprechen die Autoren dieses Bandes eingeladen worden waren, fuhrt die vorgeschlagene Unterscheidung zu einem wichtigen Argument. Wenn zutrifft, dass die zweifelsfrei gegebene primare Wirklichkeit, wie ich sie abkiirzend nenne, einer jeden sekundar erworbenen Wirklichkeit praktisch unhintergehbar zu Grunde und damit aller weiteren Sinnbildung in der Form von Beschreibungen, Auslegungen oder Kritiken voraus liegt, dann ist es nicht moglich, die primare Wirklichkeit in ihrer primordialen Qualitat gleichsam vor ihrer Beschreibung, Auslegung oder Kritik als diese Wirklichkeit primarer Sozialisation einzuholen. Ein jeder Versuch, eine Wirklichkeit primarer Sozialisation sprachlich-symbolisch zu reprasentieren, setzt eine Position der Differenz voraus, von der aus sie nicht als solche in den Blick genommen, sondem stets nur mittels des symbolischen Inventars einer sekundaren Wirklichkeit rekonstruiert werden kann. Dies gilt umso mehr, als die Redefiguren, die in Anspruch genommen werden konnen, immer schon kulturell prafiguriert sind. Das Argument schlieBt ein, dass es einen Unterschied zwischen der Zuwendung zur eigenen und der Zuwendung zu einer fremden Wirklichkeit gibt. Gleichgiiltig, mit welchen Mitteln ich mich dem „kulturell Fremden" nahere, ist es fiir mich, der ich es nur als sekundare Wirklichkeit erfahre, etwas anderes als fiir den Einheimischen, fiir den die symbolischen Mittel der Zuwendung von Sedimenten seiner primarer Sozialisation impragniert sind. Zwar konnen solche Sedimente, etwa wenn sie als erratische Storungen im Diskurs des Anderen auftreten, indem sie mir fremd bleiben, auch mich beunruhigen und irritieren. Aber als Momente einer mir fremden primaren Sozialisation entziehen sie sich meinen Mitteln des Beschreibens, Erklarens oder Deutens. Mein Zugang beschrankt sich auf sekundare Wirklichkeitsrekonstruktionen. Dieser Schluss entspricht dem Argument, das Bemhard Waldenfels in seiner oft zitierten Aus-
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sage als „bewahrbare Zuganglichkeit des original Unzuganglichen" (Waldenfels 1997:26)formuliert. Die Frage, wie sich unter den Bedingungen kultureller Fremdheit forschen lasst, lautet dann, wie sich eine fremde Wirklichkeit als sekundare Wirklichkeit rekonstmieren lasst. Rekonstruierte Wirklichkeiten sind Sinnwelt-Reprasentationen. Als phantasmatisch-symbolische Konstruktionen gewinnen sie ihren Sinn in den semiotischen Medien, kraft derer sie artikuliert werden. Als wichtigstes Medium gilt zu Recht die Sprache, die, in der weiten Bedeutung des Begriffs, kulturell prafiguriert und in pragmatischer Funktionalitat, bildhafte Vorstellungen, prosodische Elemente, die Stimme und mimisch-korperlichen Ausdruck einschlieBt. Sprache, genauer: langage im Sinn des franzosischen Begriffs, ist ein kultureller Handlungszusammenhang. Um die Beziehung zwischen kulturellen Reprasentationen und sprachlichem Handeln forschungsmethodisch zu beriicksichtigen, lehne ich mich - in der hier gebotenen Ktirze nur grob - an Paul Ricoeurs narratologisches MimesisKonzept an. Zwar formuliert Ricoeur seine Theorie der Mimesis im Blick auf das Erzahlen. Dennoch ist sein Vorschlag ntitzlich, well und sofem interkulturelle Handlungspraxen stets auch von impliziten oder expliziten Narrationen leben. Fruchtbar ist sein Vorschlag vor allem deshalb, weil er einen begrifflichen Rahmen anbietet, der ausdriicklich die sog. „intentional fallacy" und mit ihr eine falsche Ineinssetzung von Erzahlung und Erzahltem meidet. Fiir Ricoeur ist der Sprecher, der in einem transkribierten Redetext erscheint, der „implizierte", nicht aber der „empirische" Autor (Ricoeur 1991: 258). Er ist nicht das gleichsam unverstellte empirische Individuum, das seine gleichsam vorsprachlichen Absichten in Sprache iibersetzt, um auf andere empirische Individuen einzuwirken. Er ist vielmehr die textuelle Figuration, kraft derer allein der empirische Autor in der sozialen Welt auftreten kann und deren Artikulation sich immer auch den Figurationsmoglichkeiten eines sozialisatorisch erworbenen kulturellen Sprachsystems verdankt. Diese Annahme Ricoeurs beansprucht interkulturelle Geltung. Seine Grundbegriffe bezeichnen formale Funktionen und Strukturen, die je in kulturspezifischer Form in jedem kulturellen Handlungszusammenhang aufzufmden sind. Die Frage danach, wie sich unter den Bedingungen kultureller Fremdheit forschen lasst, kann deshalb im Sinne Ricoeurs als Frage danach formuliert werden, wie textuelle Figuren identifiziert und gedeutet werden konnen, kraft derer sich eine fremde Handlungspraxis vollzieht.^
Auch formalpragmatische Begriffe wie Raum oder Weltentwurf ruhen auf kulturell impragnierten Metaphem auf. Selbst wenn man eine Kultur sehr gut (im Sinne sekundarer Sozialisation) kennt, wird man den Verfiihrungen auch solcher Begriffe nur bedingt entgehen konnen. Gebunden an
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Ricoeur unterscheidet drei Mimesis-Phasen. Mimesis I nennt er die Phase der Prafiguration, worunter er versteht, dass eine jede kulturelle Tradition sprachlich-rhetorische Figuren bereitstellt, in die Menschen sozialisatorisch hineinwachsen und kraft derer sie Weltentwiirfe artikulieren. Als Mimesis II bezeichnet er die Phase der Konfiguration, in der solche Figuren zu Texten synthetisiert werden, die, um als Weltentwurf wirksam zu werden, in der Mimesis III, der Phase der Refiguration, gelesen und ,refigurierend' als Weltentwurf ausgelegt werden. Stark vereinfacht kann man den Zirkel der dreifachen Mimesis so schematisieren:
Abbildung: Die dreifache Mimesis (nach Paul Ricoeur): Kulturell prafigurierte Elemente semiotischer Representation (Mimesis I) sind das Sediment friiherer Artikulationen, die ihre kulturellen Verweisungsspuren in sicht tragen. Sie werden im Akt des Sprechens (oder des Schreibens) zu einem Text konfiguriert (Mimesis II), der im Akt des Verstehens (oder der Lektiire) zu einem Weltentwurf refiguriert wird (Mimesis III). Das hellgraue Feld der Mimesis I mit den eingetragenen Figuren stellt den kulturell tradierten Verweisungsraum dar. In der Mimesis II werden Figuren zu einem neuen Text konfiguriert, der, wie das graue Feld andeuten soil, immer mehr Interpretationsmoglichkeiten bereit stellt, als sie in der Phase der Mimesis III je, wie die verschiedenen Graufelder andeuten sollen, als Weltenwurf ausgelegt werden konnen.
seine Grundbegriffe kann sich deshalb auch dieses Konzept wie jedes andere nicht ganzlich aus seiner kulturellen Herkunft losen.
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Der als Mimesis I bezeichnete Raum kultureller Prafigurationen eroffnet fiir den in der Mimesis II konfigurierten Text stets mehr Sinn, als sein empirischer Autor in ihm sehen mag. Indem in der Mimesis III Sinn lesend refiguriert wird, wird er, so Ricoeur, als Weltentwurf manifest. Sofern ein Text vielfaltige Sinnpotenziale konfiguriert, kann er in verschiedenen Lektliren zu unterschiedlichen Weltentwiirfen refiguriert werden. Doch auch in der Phase der Welt entwerfenden Refiguration darf man nicht der „intentional fallacy", dem Fehlschluss der Intentionalitat aufsitzen. Denn die im kommunikativen Austausch refigurierten Weltentwurfe sind ihrerseits konfigurierte Texte, die ihren Sinn, statt ihn aus einer vorgangigen Intention zu beziehen, im weiteren kommunikativen Austausch vielfaltig refigurierender Lektiire gewinnen. Wegen seines formalpragmatisch abstrakten, aber zugleich kultursensitiven Charakters lasst sich Ricosurs Mimesis-Konzept fiir die Untersuchung interkulturellen Handelns nutzen. Es lasst sich auf Beispiele interkulturellen Handelns beziehen, die manchmal gut zu analysieren erlauben, wie kulturelle Sprachfiguren im Sinnweltenspiel einer Handlungspraxis wirken. Im Blick auf interkulturelles Handeln greife ich zwei Fragen auf: Wie lassen sich Sinnwelten analysieren und interpretieren, die in diskursiven Redeverkettungen interkulturellen Handelns reprasentiert werden und fur die Interagierenden als primare und sekundare Wirklichkeit unterschiedlich impragniert sind? Was treibt interkulturelles Handeln an, und zwar in der Stabilisierung von Welt- und Selbstentwiirfen einerseits, in deren Dynamisierung andererseits? Um den empirischen Gehalt der Fragen zu diskutieren, skizziere ich ein Beispiel, um es in ausgewahlten Momenten zu untersuchen. Das Beispiel entstammt einem Projekt interkultureller Kooperation. Man mag vermuten, dass sich Prozesse interkultureller Kooperation wegen der Vermischung von Beobachtungs- und Handlungsinteressen schwerlich fiir die Klarung der Frage eignen, wie unter den Bedingungen kultureller Fremdheit geforscht werden kann. Doch dem ist entgegenzuhalten, dass der interesselos unbeteiligte Beobachter eine Fiktion und schon seine bloBe Anwesenheit in einer fremden Kultur ein handelnder Eingriff ist.^ Zusatzlich lasst sich anfuhren, dass sich Prozesse interkultureller Kooperation besonders gut als Forschungsfeld eignen, sofern die Diskurse der beteiligten Interakteure in der Verkettung mit jeweils nachfolgenden Diskursen gespiegelt, gedeutet, gebrochen oder vielfaltig modifiziert werden und einer kultumeutral behaupteten Deutungshoheit den Boden entziehen.
' Vgl. die schone Herausarbeitung dieses Umstands am Beispiel ethnographischer Fotografien durch Clifford (1993).
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Das gewahlte Beispiel ist eine Diskussion im Rahmen einer padagogischen Konferenz, die im Februar 2004 in einer Reformschule im landlichen Raum der Westprovinz Kameruns stattgefunden hat. Dieses Schulprojekt verdankt sich langjahriger interkultureller Kooperation. Als wissenschaftlicher Berater des Projektes arbeite ich seit 1986 regelmaBig mit den Lehrerinnen und Lehrem der Schule sowie mit den administrativ Verantwortlichen eng zusammen. Meine Arbeit gilt der Lehrerfortbildung in der Reformschule und der Entwicklung eines Reformkonzeptes, das derzeit in ein neu gegriindetes Hochschulinstitut fiir eine auf die Probleme des Landes antwortende Lehrerbildung einmiindet.^ In der Konferenz, von der ich berichte, sind die 15 Lehrenden der Schule, meine am Reformprojekt beteiligte Ehefrau, eine weitere „weiBe" Mitarbeiterin, ein kameruner Wissenschaftler, der iiber das Reformprojekt promoviert hat, und ich selbst als Diskussionsleiter anwesend. Gesprochen wird (iber das in unseren Augen problematische Verhalten mancher Kinder auf dem Pausenhof Um konkret diskutieren zu konnen, bitte ich^ meine Frau, von der wiederholten Beobachtung zu berichten, dass ein geistig behinderter Junge auf dem Pausenhof von anderen Kindern attackiert und gejagt werde. Da im landlichen Raum Kameruns geistig behinderte Kinder den Normalklassen „zugeschlagen" werden, wegen ihrer sehr eingeschrankten Leistungen aber als „Sitzenbleiber'' oft von der Gruppe der „Klassenkameraden" ausgeschlossen werden, werben wir, die „WeiBen", fiir die Notwendigkeit besonderer Forderung solcher Kinder. Der Bericht meiner Frau lost eine Diskussion aus. In dieser Diskussion lassen sich verschiedene Etappen unterscheiden. Als erster antwortet der Direktor der Schule. Der Junge, um den es gehe, sei, wie man von seiner Mutter wisse, bei der Geburt geschadigt worden. Daher riihre seine Krankheit, die zu »convulsions« (Zuckungen) gefuhrt habe und vielleicht so etwas wie eine Meningitis sei. Es handele sich iibrigens um einen Zwillingsjungen. Meine Frau erwidert auf diese Erklarung des Direktors, man miisse und konne den anderen Kindern erklaren, dass es sich um einen schuldlos kranken Jungen handele, dem man helfen miisse. Helfen konne man ihm u. a. dadurch, In unmittelbarer Nachbarschaft der Reformschule ist (2006) der erste Bauabschnitt eines Instituts fiir eine wissenschaftliche Lehrerbildung abgeschlossen, die die Erfahrungen aus dem Reformschulprojekt fiir zukiinftige Lehrergenerationen nutzen und kritisch fortentwickeln wird. Die erste Studierendengeneration hat das Studium inzwischen aufgenommen. (Einige Informationen finden sich im hitemet unter www.ecole-pilote.de.) Die im Folgenden genannten Autoren der Redebeitrage sind stets als „implizierte" Autoren im Sinne Ricoeurs zu verstehen. Die Analyse und hiterpretation gilt nicht den „empirischen" Autoren und ihren Intentionen, sondem den in den Redetexten von mir als dem Interpreten refigurierten Welt- und Selbstentwiirfen.
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dass man die Mitschiiler liber die Krankheit des Jungen aufklare, was die Mitschiiler, wie sich schon gezeigt habe, schnell zu hilfsbereitem Verhalten fiihreAuf diesen Appell antwortet Madame R., eine Lehrerin in der Vorschule. Sie wisse nicht so recht, wie man die Situation beurteilen solle. Denn vielleicht sei es Gottes Wille, dass es Starke und Schwache gebe. Als Beleg konne gelten, dass, als ein Blinder Jesus um Hilfe gebeten habe, die Jtinger den Blinden zu schweigen aufgefordert und ihn weggejagt batten.
1. Analyseschicht: Auf semantischer Ebene tritt eine deutliche Differenz der Sinnwelten hervor. Dem sozialpadagogischen Appell meiner Frau, dem Jungen zu helfen, stehen Verweise auf den Willen Gottes gegeniiber. Doch wahrend die idealtypisierende Wiedergabe der Sinnwelten einen Widerspruch herausstellt und die Notwendigkeit seiner Bearbeitung nahe legt, wenn anders die Gesprachspartner nicht in der Blockade der Semantiken stranden sollen, nimmt die Diskussion einen anderen Weg. Ein Blick auf die Abfolge der Redebeitrage noch vor der genaueren Analyse der Sinnwelten hilft, diesen Weg wahrzunehmen. Dem Appell der „WeiBen" folgt die Rede des Direktors. Madame R. meldet sich erst zu Wort, nachdem er gesprochen und die „WeiBe" ihren Appell konkretisiert hat. In dieser Abfolge der Redebeitrage re-inszenieren sich die sozialen Positionen der Redner. Die Rede der „WeiBen" kritisiert - auf meine von mir als Diskussionsleiter vorgebrachte Bitte hin - nicht nur ein Schiilerverhalten, sondem indirekt auch die Lehrerinnen und Lehrer, die dieses Verhalten dulden. Auf die Kritik antwortet der Direktor. Sein Diskurs gibt, wie gleich zu zeigen sein wird, das Feld vor, innerhalb dessen die nachfolgenden Redebeitrage der Kolleginnen und Kollegen positioniert sind. Die Abfolge der Rede-turns folgt, wie man abkiirzend sagen kann, der Traditionslogik der Bamileke-Gesellschaft. Ihr zufolge sprechen die Gruppen, in denen Gesellschaftsmitglieder organisiert sind, „mit einem Munde". »Nous sommes une seule bouche« (,,wir sind ein einziger Mund"), so charakterisieren Lehrer unserer Schule diese Logik in einer kulturell standardisierten Redefigur. Vom Chef, dem/o, dem Stammeshauptling oder auf untergeordneten Ebenen vom chef de quartier, dem Reprasentanten des Stammeshauptlings innerhalb des Dorf- oder Stadtviertels, vom Familienvater oder eben vom Direktor einer Schule erwartet man das erste Wort. Wer nach ihm spricht, bezieht sich auf dieses Wort, bekraftigt es oder legt es aus, ohne Widerspruch hervortreten zu lassen.
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Auch im turn-taking zwischen dem Direktor und seiner Kollegin sowie alien weiteren Kollegen, die sich nachfolgend an der Diskussion beteiligen, lasst sich diese Logik erkennen. Doch zugleich bezeugt es kulturelle Differenz. Anders als das Phantasma des einen Mundes vollzieht sich die Diskussion in der Spannung zwischen einer „weiBen" und einer „schwarzen" Sinnwelt, so dass Anspriiche zweier Sinnwelten konkurrieren. Deren Gewicht ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass der „weiBe" Anspruch als Nachhall der traumatischen Erblast jener ehemaligen colons, der Kolonisatoren refiguriert werden kann, die regelmaBig fiir die aktuellen okonomischen wie auch soziokulturellen Probleme verantwortlich gemacht werden.^ So enthalt schon das turn-taking die Spannung eines Umbruchs. Direktor, Kolleginnen und Kollegen sehen sich einem Anspruch ausgesetzt, der, gerahmt von der Kolonialismus-Erfahrung, die Sinnwelt des „einen Mundes" angreift. In dieser Spannung ist zu interpretieren, dass der Direktor der erste ist, der auf den „weiBen" Anspruch reagiert.
2. Analyseschicht: Entgegen einer idealtypisch gedachten vorkolonialen Situation, in der der Chef frei von externen Relevanzen als Mund seiner Gruppe spricht, lasst sich die Rede des Direktors als Rede zwischen verschiedenen Diskursen, Positionen und Anspriichen lesen. Sie folgt einerseits der Rede der „WeiBen" und wendet sich andererseits an seine Kollegen. Im Blick auf dieses Zwischen ist die Redeeroffnung interessant: Der Direktor, Monsieur B.: II faut dire en verite que :: I'histoire de cet enfant c'est que, a la naissance certainement il a ete traumatise par euh des fois ga peut etre quelque chose/une maladie :: un peu a la maniere de, comment dirais-je, de la meningite, en tout cas il faisait des crises de de de convulsion ; de convulsion (plusieurs personnes parlent en meme temps, incomprehensible) de choses comme ga et paraitil a la longue ga I'a...,/ c'est c 'est c 'est un jumeau! (^a veut dire que, en fait, ils sont deux. C'est des enfants qui:: sont nes au meme ou de :: des jumeaux, je crois que ga se comprendplus facilement comme ga.
Der statische Charakter, den die Formulierung den genannten Sinnwelten („weiBe" versus „schwarze" Sinnwelt) zuschreibt, spiegelt die idealtypische (und deshalb in Anfuhrungszeichen gesetzte) Statisierung, in der das kollektive Gedachtnis die Kolonialisierung kon- und refiguriert. Um sie zu uberwinden, bedarf es auch einer Dynamisierung des Begriffs der Sinnwelten als der in Rede und Gegenrede vollzogenen Welt- und Selbstentwiirfe innerhalb eines Interaktionsfeldes. Im Sinn solcher Dynamisierung hoffe ich, mit der hier vorgelegten Analyse und Interpretation zu zeigen, dass Sinnwelten ihre Funktion als Welt- und Selbstentwiirfe in kultureller Auseinandersetzung haben.
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(Man muss in Wahrheit sagen dass :: die Geschichte dieses Kindes ist dass, bei seiner Geburt ist er sicherlich traumatisiert warden mehrfach, das kann etwas sein, eine Krankheit:: ein Bisschen wie , wie soil ich sagen, wie Meningitis, aufjeden Fall machte er Krisen von Zuckungen durch ; Zuckungen (mehrere Personen sprechen zur gleichen Zeit, unverstdndlich) so Sachen wie das und scheinbar hat das aufdie Dauer ..., /das ist, das ist, das ist ein Zwilling! Das will sagen dass sie tatsdchlich zwei sind. Das sind Kinder die im selben oder :: Zwillinge, ich glaube, das versteht sich leichter so...)
Die Rede setzt mit einer Formel ein, die dem Anspruch der „WeiBen" ein gewisses Recht einzuraumen scheint: »Il faut dire ... que« (man muss sagen (...) dass). Dieses Recht wird durch den Hinweis ausgelegt, dass die Behinderung des Jungen wohl durch KompHkationen wahrend der Geburt ausgelost sei. Die Erklarung greift Redefiguren auf, die als das Genre eines medizinischen Diskurses gelesen werden konnen, der Probleme aus identifizierbaren physiologischen Faktoren erklart. So verstanden sagt die Redeeroffnung, dass auch er, der Direktor, wisse, dass der fragliche Junge mental behindert sei. Und sofem sich die Redeeroffnung im Textgenre „weiBer" Medizin auslegen lasst, wendet sie sich an die anwesenden „WeiBen". Doch als solche Antwort an die „WeiBen" verschiebt sie den Blick. Denn aufgenommen wird in dieser Rede nur die Behinderung, nicht aber die sozialpadagogische Kritik an der Tatenlosigkeit der KoUegen gegeniiber der Gewalt, die Mitschiiler der „weiBen" Deutung zufolge dem behinderten Jungen antun. Von dieser Kritik wird der Blick abgewendet und auf die Behinderung gerichtet, die als „Wahrheit" angesprochen wird: »II faut dire en verite que ...« (man muss in Wahrheit sagen, dass ...). Der von der „WeiBen" kritisierte Umgang mit dem Jungen entschwindet dem Blick. An seine Stelle tritt der aus dem Pausengeschehen gleichsam herausgenommene Junge mit seiner Geburtsgeschichte. Zwar lassen sich die Figuren, in denen der Junge als Objekt der Rede konfiguriert wird, im Sinn eines „weiBen" Diskurses physiologischer Erklarung lesen: II faut dire en verite que :: I'histoire de cet enfant c'est que, a la naissance certainement il a ete traumatise par euh des fois ga peut etre quelque chose/une maladie :: un peu a la maniere de, comment dirais-je, de la meningite, en tout cas il faisait des crises de de de convulsion ; de convulsion [plusieurs personnes parlent en meme temps, incomprehensible] de choses comme ga et paraitil a la longue gal'a... {Man muss in Wahrheit sagen dass :: die Geschichte dieses Kindes ist dass, bei seiner Geburt ist er sicherlich traumatisiert worden durch Male, das kann etwas sein, eine Krankheit :: ein Bisschen wie, wie soil ich sagen, wie Meningitis, aufjeden Fall machte er Krisen von Zuckungen durch ; Zuckungen [mehrere Personen sprechen zur gleichen Zeit, unverstdndlich] so Sachen wie das und scheinbar hat das aufdie Dauer...).
Doch neben der Lektiire „weiBer" Erklarung ist eine andere Lekttire moglich. Sie wird durch den Umstand begiinstigt, dass die Rede, die sich anschickt, das
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Problem des Jungen zu bestimmen, zunehmend unbestimmt wird, dass die Redefigur des Direktors schlieBlich abbricht und dass sie, nach einer markanten Pause, durch eine Aussage ersetzt wird, von der nicht leicht zu sehen ist, ob oder wie sie an das zuvor Gesagte anschlieBt - durch die Aussage namlich, der behinderte Junge sei ein Zwilling: ...en tout cas il faisait des crises de de de convulsion; de convulsion (plusieurs personnes parlent en meme temps, incomprehensible) de choses comme ga etparait-il a la longue ga I'a...,/ c'est c'est c'est unjumeau! Qa veut dire que, en fait, ils sont deux. C'est des enfants qui:: sont nes au meme ou de :: desjumeaux,je crois que ga se comprendplus facilement comme ga... (...aufjeden Fall machte er Krisen von Zuckungen durch; Zuckungen (mehrere Personen sprechen zur gleichen Zeit, unverstdndlich) so Sachen wie das undscheinbar hat das aufdie Dauer ..., /das ist, das ist, das ist ein Zwilling! Das will sagen dass sie tatsdchlich zwei sind. Das sind Kinder die im selben oder :: Zwillinge, ich glaube, das versteht sich leichter so...).
Was sagt diese Aussage? Das Zwillingsein, so heiBt es, lasse »ga« {das) leichter verstehen. Dieses »ga« wird nicht weiter bestimmt. Seine rhetorische Funktion ist der kataphorische Hinweis, der einen Vorstellungsraum entwirft, der semantisch durch den Hinweis auf den Zwilling und pragmatisch durch den Umstand konturiert wird, dass es der Direktor ist, der ihn entwirft. Anders gesagt: Der Hinweis auf den Zwilling sowie der Umstand, dass der „Chef' diesen Hinweis gibt, geben innerhalb des kulturell prafigurierten Netzes vor, welche AuBerungen sinnvoU folgen konnen. Doch die nachfolgende AuBerung der „weiBen" Teilnehmerin folgt dieser Vorgabe nicht. Sie widerspricht der Rede des Direktors, indem sie auf Moglichkeiten verweist, wie dem bedrangten Jungen zu helfen sei. Sie revoziert die in der Rede des Direktors vollzogene Blickverschiebung: Die „WeiBe", Madame K.: Je crois que quand/ qu 'il faut expliquer aux autres qu 'il y a des personnes qui sont, Je dis toujours, unpeu malades mais on pouvait etre malade physiquement mais il y a aussi une maladie et ilfaut le savoir. lis ne sont pas comme nous, ils sont un peu malades. Et il faut respecter si quelqu'un est malade, ilfaut le respecter. (Ich glaube, dass wenn / dass man den anderen erkldren muss dass es Menschen gibt, die, ich sage immer, die etwas krank sind man kann physisch krank sein, aber es gibt auch eine Krankheit und man muss es wissen. Sie sind nicht wie wir, sie sind etwas krank. Man muss es respektieren, wenn jemand krank ist. Man muss ihn respektieren.)
Doch was einerseits - idealtypisch formuliert: von „weiBer" Seite - als normativ aufgeladene Revokation der Blickverschiebung gelesen werden kann, kann andererseits - idealtypisch formuliert: von „schwarzer" Seite - als bedrohliche Bestatigung dessen gelesen werden, was im Hinweis des Direktors auf das Zwillingsein zu verstehen gegeben wird. Denn die Aussage »un peu malade« (ein wenig krank) und »ils ne sont pas comme nous« (sie sind nicht so wie wir) ist in
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hochstem MaBe ambivalent. Im Rahmen eines „weiBen" Diskurses mag sie sich aus prafigurativen Elementen speisen, die eine sozialpadagogisch helfende Zuwendung der Starken zu den Schwachen aufrufen. Aber innerhalb der BamilekeKultur kann der Hinweis auf Kranke, die ,,anders sind als wir" und die ,,man respektieren muss'\ die Welt jenseitiger Krafte aufrufen, die sich etwa in der Gestalt zuckender Kranker (»convulsions«), von denen der Direktor gesprochen hatte, zu erkennen geben und vielleicht gefahrlich in die diesseitige Existenz eingreifen. Die Aufforderung an die Kollegen, die anderen Schiiler zu einem Kontakt mit dem kranken Jungen anzuhalten, kann so als Aufforderung refiguriert werden, mit einem Menschen in Kontakt zu treten, der moglicherweise gefahrliche Jenseitskrafte inkorporiert und damit die Existenz der Gruppe bedroht/ So gelesen ruft die Forderung, mit Menschen in Kontakt zu treten, die nicht so sind wie wir, die Grenze zwischen Inklusion und Exklusion auf, der zufolge die inkludierten Mitglieder der Gruppe alles tun mussen, um jenen zu entgehen, die drohend aus der jenseitigen Welt in unsere Welt einbrechen. Nur am Rande sei erganzt, dass diese Figur von Inklusion und Exklusion metonymisch stets auch das kollektive Schicksal der Kolonisierung erinnert. Die Moglichkeit, die Rede von jenen, die nicht so sind wie wir, im Horizont von In- und Exklusion zu lesen, wird nicht erst mit der „weiBen" Rede selbst eroffnet. Aufgerufen wird sie mit dem Hinweis des Direktors auf das Zwillingsein. Dieser Hinweis bricht dort in die Rede des Direktors ein, wo sich sein Versuch, die Behinderung des Jungen im Genre eines „weiBen" Diskurses zu erklaren, in Sprachlosigkeit auflost: »... en tout cas ilfaisait des crises de de de convulsion; de convulsion (plusieurs personnes parlent en meme temps, incomprehensible) de choses comme ga etparait-il a la longue ga I'a...,/c'est c'est c'est un jumeau !« {...auf jeden Fall machte er Krisen von Zuckungen durch ; Zuckungen (mehrere Personen sprechen zur gleichen Zeit, unverstdndlich) so Sachen wie das und scheinbar hat das auf die Dauer..., /das ist, das ist, das ist ein Zwilling). Vorbereitet durch die Erinnerung an die Zuckungen und nach stockender Rede bricht sich die Aussage Bahn, der Junge sei ein Zwilling. Artikuliert wird diese Aussage im Modus einer Erklarungsfigur, die dem tautologischen Schein nach nichts erklart: »... c'est c'est c'est un jumeau! (^a veut dire que, en fait, ils sont deux« (... das ist, das ist, das ist ein Zwilling! Das will sagen dass sie tatsdchlich zwei sind). Doch in der Art wie das das ist, das ist, das ist ein Zwilling in die Rede des Direktors einbricht, kann ich als „weiBer" Interpret - und in zwei Jahrzehnten Diese Lesart mag iiberzogen erscheinen. Doch abgesehen davon, dass sie primar nicht meine Lesart ist, sondem die Lesart von Bamileke-Freunden, mit denen ich den Text ausfuhrlich analysiert habe, lasst sich zur Verteidigung auf zahlreiche Geschichten hinweisen, in denen von Menschen die Rede ist, die mit Jenseitskraften in dunkler Verbindung stehen.
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gemeinsamer Arbeit in manches eingeweihter Kenner der Kultur - vermuten, dass hier etwas einbricht, dessen Refiguration sich fiir die, die in ihr heimisch sind, aus einer primaren Wirklichkeit speist. Da mir die Figurationspotenziale der primaren Wirklichkeit jedoch nicht primordial zuganglich sind, bin ich ftir eine emst zu nehmende Deutung darauf angewiesen, dass mir entsprechende Prafigurationen der Bamileke-Kultur auf der Ebene sekundarer Figuration zuganglich gemacht werden. Ich bin auf Erlauterungen heimischer Interpreten angewiesen, die jene primaren Figurationspotenziale als Elemente sekundarer Sinndeutung auslegen. Sekundare Sinndeutungen der Zwillingsmythologie sind in der BamilekeWelt ofl zu horen. Eine solche einheimische Erlauterung^ sagt, dass Zwillinge ein Geschenk Gottes und Symbole des Friedens seien, die den Eltem soziale Anerkennung bringen. Dennoch verhalte man sich Zwillingen gegeniiber in der Ambivalenz von Ehrfurcht und Angst, da man ihnen mystische Krafte und die Fahigkeit zuschreibe, mit den Ahnen in der unsichtbar-jenseitigen Welt zu kommunizieren und den Lauf der hiesigen Dinge zum Guten oder zum Bosen andem zu konnen. Diese heimische Auskunft lasst sich im Blick auf die Rede des Direktors so interpretieren, dass mit dem Hinweis auf die Zweiheit im Zwillingsein der Vorstellungsraum jener primaren Wirklichkeit aufgerufen wird, in der die diesseitige Welt dem Zugriff der jenseitigen Welt nicht nur der Ahnen, sondem guter und boser Krafte ausgesetzt ist. Ihr sehen sich traditionell aufwachsende Bamileke angstvoll-ehrfurchtig ausgesetzt. Dem „weiBen" sozialpadagogischen Diskurs vom helfenden Umgang mit dem behinderten Zwillingsjungen tritt eine Rede entgegen, die in Angehorigen jener primaren Wirklichkeit Angst aufrufen und als eine Wamung vor unbedachter Zuwendung zu einem Zwilling gelesen werden kann, von dem man nicht wisse, wer bzw. welche jenseitige, vielleicht bose Macht durch ihn hindurch wirken mag. Der von der „WeiBen" als zweifelsfrei behaupteten Sinnwelt sozialpadagogischer Zuwendung steht die Wirklichkeit der Angst vor dem Einbruch bedrohlicher Jenseitskrafte gegeniiber. Wiederum idealtypisch gesprochen stoBen eine behauptete Sinnwelt und eine sedimentierte Wirklichkeit aufeinander, die auf der Ebene primarer Sinnkonstitution fur einander unzuganglich sind. Wo in Handlungszusammenhangen Wirklichkeiten und behauptete Sinnwelten aufeinander stoBen, liegt die Tendenz nahe, das, was als Gefahr oder Kritik empfunden wird, zu „nihilieren", wie Berger und Luckmann formulieren (1974: 123ff.). Das gilt umso mehr, je starker die konkurrierenden Wirklichkei^ Ich beziehe mich hier u. a. auf die Interpretation durch Pasteur Jean-Blaise Kenmogne, meinen langjahrigen Freund und wichtigsten Handlungspartner im Kameruner Projekt. Als formulierte Erklarung ist selbstverstandlich auch seine Interpretation eine Deutung sekundaren Charakters.
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ten und Sinnwelten primar verankert sind. Solche Nihiliemng kann dem schon genannten Inklusions-Exklusions-Schema folgen, das von den Diskursen je beider Seiten beansprucht wird. Doch die Maximen kommunikativer Kooperation im Grice'schen Sinn - Maximen der Hoflichkeit, der Verstandlichkeit usw. verhindem in der Kegel, dass das Inklusions-Exklusions-Schema offen inszeniert wird. Inszeniert wird es stattdessen eher in einer Weise, die den extemen Interpreten dazu verleiten kann, die Diskussion als argumentativen Streit zwischen Proponent und Opponent um das bessere Argument zu lesen. Eine Lektiire nur als Argumentation verkenne jedoch, dass die Diskussion in Wirklichkeiten fundiert ist, die fur beide Seiten primordial unzuganglich und deshalb diskursiv nicht als solche verfiigbar sind. Wenn diese Behauptung, die das eingangs genannte Argument Bergers und Luckmanns aufnimmt, richtig ist, dann kann die Rede von Madame R. als eine Reminiszenz des der primaren Wirklichkeit zugehorenden Vorstellungsraums gelesen werden, den der Direktor mit dem Hinweis auf das Zwillingsein aufruft. Dennoch iiberrascht die Figur, in der Madame R., als Frau eines Pastors der Kirche als Institution aktiv verbunden, diesen Raum auslegt. Auf den Appell, man moge die gesunden Kinder zu einem helfenden Umgang mit behinderten Kindem anhalten, antwortet ihre Geschichte des Blinden, der Jesus um Hilfe bittet: Madame R.: Je ne sais pas si c 'est/ si nous pouvons dire que c 'est Dieu qui a fait tout cela pour que les plus forts du/ les bien portants dominent les plus faibles. Parce que, meme dans la Bible, quand Jesus voulait passer/quand Jesus passait, il y avait I 'aveugle a cote, il voulait que Jesus le sauve et quand I'aveugle a crie >Jesus Jesus sauve moi !