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German Pages 505 Year 2009
J. Zrzavý
D. Storch
S. Mihulka
Evolution Ein Lese-Lehrbuch
Deutsche Ausgabe herausgegeben von Hynek Burda und Sabine Begall
Autoren J. Zrzavý Südböhmische Universität ýeské BudČjovice D. Storch Karlsuniversität Prag S. Mihulka Südböhmische Universität ýeské BudČjovice Originaltitel Jak se dČlá evoluce Copyright © Jan Zrzavý, David Storch, Stanislav Mihulka, 2004 All rights reserved Originally published in Czech by Paseka, Prague Herausgeber der deutschen Ausgabe Prof. Dr. Hynek Burda, Abt. Allgemeine Zoologie, Fakultät für Biologie und Geografie, Universität DuisburgEssen, [email protected] Dr. Sabine Begall, Abt. Allgemeine Zoologie, Fakultät für Biologie und Geografie, Universität DuisburgEssen, [email protected] Wichtiger Hinweis für den Benutzer Der Verlag, der Herausgeber und die Autoren haben alle Sorgfalt walten lassen, um vollständige und akkurate Informationen in diesem Buch zu publizieren. Der Verlag übernimmt weder Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für die Nutzung dieser Informationen, für deren Wirtschaftlichkeit oder fehlerfreie Funktion für einen bestimmten Zweck. Der Verlag übernimmt keine Gewähr dafür, dass die beschriebenen Verfahren, Programme usw. frei von Schutzrechten Dritter sind. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und MarkenschutzGesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar gezahlt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2009 Spektrum Akademischer Verlag ist ein Imprint von Springer 09 10 11 12 13
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Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Planung und Lektorat: Frank Wigger, Dr. Meike Barth Redaktion: Susanne Warmuth Herstellung: Crest Premedia Solutions (P) Ltd, Pune, Maharashtra, India Satz: Marie-Therese Bappert Grafik: Jan Burda Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Neu-Ulm, unter Verwendung eines Motivs von Ernst Haeckel (Tafel „Ascidiacea“; © Ernst-Haeckel-Haus, Friedrich-Schiller-Universität Jena) ISBN 978-3-8274-1975-0
Vorwort Vor etwa drei Jahren begannen wir, im Rahmen der Vorlesung „Evolution der Biodiversität“ einige Kapitel aus dem Buch Jak se delá evoluce unserer tschechischen Kollegen Zrzavý, Storch und Mihulka ins Deutsche zu übersetzen und darüber zu referieren. Da dieses Material bei den Studenten sehr großen Anklang fand, bauten wir allmählich die gesamte Vorlesung auf dem Buch auf. Doch viele der Studierenden fragten schon bald (spätestens als sie anfingen, sich für die Prüfungen vorzubereiten), wo sie all das, was sie gehört hatten (und gerne noch mehr), nachlesen könnten. In den verfügbaren deutschsprachigen Lehrbüchern sei Vieles aus der Vorlesung nicht zu finden. Unsere Verweise auf die zahlreichen Bücher – insbesondere von Richard Dawkins, Stephen J. Gould oder Matt Ridley –, die auch auf Deutsch erschienen sind, auf einschlägige Artikel aus Spektrum der Wissenschaft oder auf englische Bücher und Originalartikel aus Fachzeitschriften befriedigten die Studenten nicht. Und auf unsere tschechische Quelle konnten wir natürlich nur scherzhaft hinweisen. 700 Studierende, die in den letzten drei Jahren unsere Vorlesung gehört und mit großem Interesse nach dem zugehörigen Buch gefragt haben, können sich nicht irren … So entstand die Idee, dieses Werk komplett zu übersetzen und damit auch einem größeren Publikum zugänglich zu machen. An populärwissenschaftlichen Büchern in deutscher Sprache zu evolutionsbiologischen Themen mangelt es nicht. Auch einige Lehrbücher von deutschen Autoren sind auf dem Markt. Die Grundideen, Begriffe und Interpretationsschemata der Evolutionsbiologie kennen und nutzen – oder missbrauchen – inzwischen viele Menschen. Ist es in dieser Situation überhaupt noch möglich und sinnvoll, etwas Neues zu schreiben? Warum waren wir (und auch unsere Studierenden) von dem tschechischen Buch so begeistert? Erstens: In populärwissenschaftlichen Werken vertreten die Autoren üblicherweise jeweils nur ihre Ideen und ihre jeweilige Disziplin. In den Büchern von Stephen J. Gould werden Sie kaum Informationen über Molekularevolution finden, von Richard Dawkins wenig über phylogenetische Zwänge erfahren. Andererseits finden Sie in den gängigen Lehrbüchern kaum Informationen über Dawkins oder Gould und ihre Thesen. Zweitens: Das vorliegende Buch unterscheidet sich in vielen Punkten von einem klassischen Lehrbuch. Die Autoren behandeln zwar ebenfalls die Grundlagen der Evolutionsbiologie, erklären aber darüber hinaus auch, was es eigentlich bedeutet, über die Evolution „etwas zu wissen“*, d. h. sie befassen sich auch mit den Methoden und den Gedankenschritten, die zu den jeweiligen Schlussfolgerungen führten. Der Titel Jak se delá evoluce („Wie man Evolution macht“) ist doppelsinnig: Er beinhaltet zum einen die Frage, wie Evolution abläuft (Wie wird sie realisiert, wie kommt sie zustande?), und zum anderen die Frage, wie wir sie nachvollziehen und begreifen, d. h., wie wir die evolutionäre Geschichte rekonstruieren. Die Evolutionsbiologie wird als ein * Anspielung auf die in der Evolutionsbiologie berühmte Debatte, bei der der Paläontologe Colin Patterson seinen Zuhörern die Frage stellte: »Gibt es eigentlich etwas, das Sie über Evolution wissen …?« (S. 154)
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Fach präsentiert, das in großem Maße von Hypothesen abhängt. Das ist zwar in anderen Wissenschaftsdisziplinen ähnlich, aber in der Evolutionsbiologie müssen wir uns mehr als anderswo dessen stets bewusst sein. Die Evolution ist nämlich nicht direkt sichtbar, sondern lässt sich allenfalls aus dem Sichtbaren (re)konstruieren. Das Buch zeigt aber auch, dass die Evolutionsbiologie keine reine Spekulation ist und nicht einfach so entsteht, wenn der Mensch nach Feierabend bei einem Glas Wein über das Wesen der Natur nachdenkt. Viele der Schlussfolgerungen, zu denen die Menschen intuitiv gelangten, erwiesen sich nämlich nach Anwendung von rigorosen Methoden als Irrtum. Dass die Giraffe einen langen Hals hat, um an die Baumkronen zu gelangen, deren Blätter sie frisst, ist ja intuitiv durchaus plausibel ... Die letzten Jahrzehnte haben wesentliche Änderungen im evolutionsbiologischen Denken gebracht. Dank der Fortschritte bei den Labortechniken und Interpretationsmethoden nähert sich Darwins Traum von einem kompletten Stammbaum aller Lebewesen mit unerwarteter Geschwindigkeit seiner Erfüllung. Gleichzeitig und nicht weniger lawinenartig verstärkt sich die Sicherheit, dass man ohne Hypothese über die genealogischen Verwandtschaften der Organismen, mit denen wir uns gerade beschäftigen, keine glaubwürdigen evolutionären Schlussfolgerungen ziehen kann. Erst der Stammbaum liefert uns eine Vorstellung davon, wie oft ein bestimmtes evolutionäres Ereignis stattgefunden hat, mit welchen anderen Vorkommnissen es verbunden war, welche der beobachteten Eigenschaften der Organismen die ursprünglichen und welche von den ursprünglichen abgeleitet sind. Damit verbunden sind unter anderem auch Fragen nach der Richtung der Evolution und der Unumkehrbarkeit dieser Veränderungen. Ohne Stammbaum können wir über den allgemeinen Verlauf der Evolution nur spekulieren. Es ist also kein Wunder, dass die heutigen Evolutionsbiologen von Stammbäumen genauso besessen sind wie die Tolkien‘schen Hobbits ( S. 146). Umso wichtiger ist es aber zu wissen, wie solche Stammbäume eigentlich erstellt werden und wie man sie für evolutionäre Überlegungen nutzen kann. In populärwissenschaftlichen Büchern und auch in vielen Evolutionsbiologie-Lehrbüchern erfährt man darüber nur wenig. Allzu oft wird dagegen Evolution mit Erdgeschichte bzw. Naturgeschichte synonymisiert oder verwechselt. Das vorliegende Buch erläutert die allgemeinen Prinzipien der Evolution an Beispielen konkreter Arten (auch des Menschen) und ihrer Geschichte, und es zeigt, wie und warum dies erforscht wird. Wir fragen, wie man die phylogenetischen Beziehungen zwischen den Organismen untersucht und was sich daraus ableiten lässt, wie evolutionäre Neuheiten entstehen, ob die Eigenschaften der Organismen zweckmäßig sind und wie man das erkennen kann, oder warum die Organismen „alles so kompliziert machen“ und noch dazu auf so viele verschiedene Weisen. Dieses Buch hat zunächst den Charakter eines Lesebuchs, in dem der Leser in relativ kurzen Kapiteln viel über Evolutionsbiologie erfährt. Doch wie jedes Lesebuch – und der Leser möge sich bitte an sein erstes derartiges Buch erinnern – hat es das Potenzial, mehr zu lehren als manches Lehrbuch. Es öffnet dem Leser die Augen, weckt Erstaunen, zwingt zum Nachdenken, langweilt nicht. Damit der Leser die Diskussionen aber besser nachvollziehen und in ein
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umfassenderes Gedankengebäude einordnen kann, haben wir die eigentliche Übersetzung um vielerlei lehrbuchtypische Elemente erweitert. So entstand ein unorthodoxes Lese-Lehrbuch. Während in einem klassischen Lehrbuch interessante, lesebuchartige Texte meist in Boxen präsentiert werden, bilden sie in unserem Buch den Hauptteil, stattdessen ist der typische Lehrtext hier eher in den Boxen zu finden. In manchen dieser Kästen wird der im Haupttext angesprochene Inhalt vertieft, in anderen finden sich Definitionen und Klassifikationen. Zu Beginn eines jeden Kapitels werfen Fragen einen Blick voraus auf die im Folgenden zu erwartenden Inhalte – und regen zugleich zum Nachdenken über den eigenen Kenntnisstand an. Prüfungsrelevante Verständnisfragen finden Sie jeweils am Kapitelende. Kurze Texte in der Randspalte fassen die wichtigsten besprochenen Konzepte, Entdeckungen und Befunde noch einmal auf einen Blick zusammen. Ein Glossar der Schlüsselbegriffe (deutsch und englisch) sowie eine Auswahl weiterführender Literatur erwarten Sie am Ende des Buches. Zu einem Lern- und Lesebuch gehören natürlich auch Illustrationen, doch da das Original nur spartanisch bebildert war, haben wir es auch in dieser Hinsicht erweitert. Der unkonventionelle, frische Stil des Textes findet dabei seine Entsprechung in modernen Illustrationen, die ebenfalls vom üblichen Lehrbuchstandard abweichen. Des Weiteren wurde das Original für die vorliegende Ausgabe aktualisiert und um einige neue Abschnitte ergänzt. Schließlich gibt es insbesondere für Dozenten, die entsprechende Vorlesungen halten, eine DVD mit allen Abbildungen des Buches (ISBN 978-3-8274-2511-9). Das Buch hält sich nicht allzu lange mit der Wiederholung von Schulstoff auf, obwohl es auch auf altbekannte Konzepte und „Klassiker“ der Evolutionslehre eingeht, wie Atavismen und Rudimente, Homologiekriterien, die Evolution der Pferde, Haeckels Biogenetisches Grundgesetz, Fossilien. Doch gerade mit diesen Schlagwörtern verbinden die Kreationisten und die Propheten des Intelligenten Designs Evolution, und vor allem gegen diese Konzepte führen sie ihren Heiligen Krieg. Manche davon sind tatsächlich, wie wir sehen werden, heute bereits überholt (wenn auch nicht in dem Sinn, wie es sich die Kreationisten vorstellen); häufig wurden sie aber auch zu vereinfacht verstanden oder dargestellt, und einige sind für die moderne Evolutionsbiologie schlicht uninteressant geworden. Unter anderem darin zeigt sich, dass die von Darwin vorgestellte Evolutionstheorie keineswegs ein Dogma darstellt, sondern stetig weiterentwickelt wurde und wird. Wir haben bei der Übersetzung versucht, den leichten, frischen, oft provozierenden Schreibstil der Autoren beizubehalten. Provokationen – ob sprachlicher oder ideologischer Natur – gehören zur Evolutionsbiologie einfach dazu. Haben Darwin, Dawkins, Gould oder Wilson ihre Zeitgenossen nicht auch provoziert? Soziobiologen haben die Gesellschaft und einen Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht nur mit ihren Ideen, sondern auch mit der Sprache, die sie in die Fachliteratur einführten, schockiert. Manche, früher als unzulässig geltenden Anthropomorphismen (Vermenschlichungen) sind heute Bestandteil der soziobiologischen Fachsprache: So benutzt man Begriffe wie „Betrug“, „Damenwahl“, „Dieb“, „Helfer“, „Königin“, „Mafia“, „Mord“, „Pirat“, „Sklave“, „Treue“, „Untreue“, „Vergewaltigung“ und viele mehr auch bei der Beschreibung
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von Verhaltensweisen und Verhaltensstrategien von Tieren. Einige wichtige evolutionsbiologische Konzepte und Hypothesen haben zudem seltsame Namen wie „egoistisches Gen“, „Grünbart“, „Rote Königin“ oder „tit for tat“, und man spricht vom „Krieg der Geschlechter“, vom „Gefangenen-Dilemma“ und Ähnlichem. Eine bildhafte Sprache ist heute in vielen Zweigen der Naturwissenschaften durchaus nicht mehr verpönt, und wenn sie das Verständnis fördert, ist sie für ein Lehrbuch wie dieses geradezu ein Desiderat. Wenn man auf die Geschichte der Evolutionsbiologie zurückblickt, mag sich eine grundsätzliche Frage aufdrängen: Wir alle wissen aus alltäglicher Erfahrung, dass die Welt in einem ständigen Wandel begriffen ist: Wetter und Klima ändern sich täglich, neue Häuser werden gebaut, Städte wachsen, Regenwälder schrumpfen. Doch warum hat niemand vor Darwin auf dieser Banalität eine Theorie aufgebaut? Jedem Gärtner oder Bauern ist bewusst, dass auf einem Beet oder Feld nur eine begrenzte Anzahl von Pflanzen wachsen kann und dass das Unkraut mit den Nutzpflanzen um den verfügbaren Raum konkurriert. Jeder Gärtner kämpft mit diesem Unkraut, und weil auch nicht alle seine Sämlinge auf den beschränkten Platz passen, lässt er nur die Stärksten wachsen. Allein aufgrund dieser banalen Erfahrung hätte jemand schon die Selektionstheorie formulieren können – doch auch heute noch haben wohl die meisten Gärtner auf der Erde diese Erfahrung nie verallgemeinert (und vielleicht noch nicht einmal von Darwin gehört). Nachdem Thomas Henry Huxley ( S. 14) Darwins Manuskript zum Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) gelesen hatte, war seine Reaktion: »Wie dumm, dass ich nicht darauf gekommen bin.« Die Autoren, die Herausgeber und der Verlag wünschen Ihnen bei der Lektüre dieses „etwas anderen“ Lehrbuchs viel Freude – und einen entsprechenden Lernerfolg. Und falls Sie sich bisher schon über manche Eigenschaften der Organismen gewundert haben, werden Sie, nachdem Sie die evolutionäre Erklärung dieser Eigenschaften kennengelernt haben, noch mehr staunen.
Danksagung Wir danken unseren Kollegen Dr. Philip Dammann und Dr. Marcus Schmitt sowie unseren Doktorandinnen Marie-Therese Bappert, Angelica Garcia Montero, Julia Neef, Charlotte Schielke und Anika Schinkoeth für eine erste Korrektur, kritische Bemerkungen und bestätigende und motivierende Rückmeldungen. Unseren Kollegen Prof. Dr. Daniel Hoffmann (Bioinformatik), Dr. Christian Johannes (Genetik) und Dr. Christiane Wittmann (Botanik) danken wir für das fachliche Lektorat und wichtige Ergänzungen. Herrn Hoffmann haben wir zudem eine komplette Box zu verdanken. Wir bewundern die fachlichen und allgemeinen Kenntnisse und das Feingefühl für Sprache(n) der Lektorin, Susanne Warmuth; ihre kritischen, aber stets konstruktiven Fragen, Bemerkungen, Korrekturen, Vorschläge wirkten sich äußerst positiv auf die deutsche Ausgabe des Buches aus. Herrn Frank Wigger (Spektrum-Verlag), der das Projekt von Anfang an begleitete, sind wir zutiefst für sein Vertrauen, sein Engagement
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bei der Durchsetzung, Weiterentwicklung und Realisation des Buchprojekts verbunden. Er hat zusammen mit Frau Dr. Meike Barth (Spektrum-Verlag) wesentlich bei der Gestaltung des Buches mitgewirkt. Für ihre Geduld aber auch den ausgeübten konstruktiven Arbeitsdruck danken wir vielmals. Nicht weniger Geduld und Nachsicht brachte uns Marie-Therese Bappert entgegen, die unsere sich ständig ändernden Vorstellungen bei der Gestaltung des Layouts des Buches umsetzte („Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln!“). Ihre fachlichen Kenntnisse und Erfahrungen sowie ihr Kunsttalent haben auch das Gesicht des Buchs geprägt. Ein elementarer Bestandteil des Buches sind die Illustrationen – den Tribut hierfür zollen wir Jan Burda. Sein Know-How, seine Erfahrung, Geduld und die Bereitschaft, auf unsere Vorstellungen einzugehen, lernten wir schon in der Zusammenarbeit bei früheren Buchprojekten schätzen. Bei diesem Buch hatte er jedoch mehr künstlerische Freiheit, die er nutzte, um den Illustrationen, dem frischen Stil des Textes entsprechend, seine eigene Handschrift zu verleihen. Wir danken Richard Dawkins, Niles Eldredge, Walter J. Gehring, Dame Valerie Jane Goodall, Richard C. Lewontin, Lynn Margulis, Simon Conway Morris, Eviatar Nevo, Svante Pääbo, Matt (Matthew) White Ridley, Adolf Seilacher, Robert Trivers, Christiane Nüsslein-Volhard, Elisabeth Vrba, Frans de Waal, Edward O. Wilson, George C. Williams und Amotz Zahavi für ihr Interesse an dem Buchprojekt, die Genehmigung sie zu porträtieren und die Bereitstellung von Illustrationsunterlagen. Nicht zuletzt möchten wir an dieser Stelle unseren Ehepartnern und Familien für ihre Unterstützung, ihr Verständnis und ihre Geduld unsere tiefste Dankbarkeit aussprechen. Hynek Burda und Sabine Begall, Essen, Juli 2009
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung . 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
. . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte, Evolution und Evolutionsgeschichten Proximate Mechanismen und ultimate Ursachen Adaptive Landschaften . . . . . . . . . . . . . . . Genetik und Neodarwinismus . . . . . . . . . . . Postneodarwinismus und Genozentrismus . . . Phylogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontroll- und Verständnisfragen . . . . . . . . . .
2 Selektion . 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12 2.13 2.14 2.15 2.16 2.17 2.18 2.19 2.20 2.21
. . . . . . . . . . . . . . . . . . Neodarwinistisches Repetitorium . . . . . . . . . Harte und weiche Selektion . . . . . . . . . . . . Zufall und neutrale Evolution . . . . . . . . . . . Sexuelle Selektion I: gute Gene . . . . . . . . . . Sexuelle Selektion II: Handicap . . . . . . . . . . Sexuelle Selektion III: Mode . . . . . . . . . . . . Strategie und Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . Die Rote Königin – evolutionäres Wettrüsten . . . Altruismus versus Egoismus . . . . . . . . . . . Verwandtenselektion und Familienprotektion . . Kooperation zwischen unverwandten Individuen Kooperative und kompetitive Spiele . . . . . . . Gene und Phänotyp . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterter Phänotyp . . . . . . . . . . . . . . . . Von Parasiten zu sich durchsetzenden Genen . . Das sich durchsetzende Geschlecht . . . . . . . . Chimären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Grünbart-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . Evolution ohne DNA . . . . . . . . . . . . . . . . Neolamarckismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . Neodarwinismus nach fünfzig Jahren . . . . . . . Kontroll- und Verständnisfragen . . . . . . . . . .
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. 49 . 50 . 54 . 57 . 65 . 70 . 74 . 82 . 86 . 88 . 92 . 98 103 105 110 114 121 124 129 130 134 140 143
3 Phylogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Wie entstand der Mensch? oder Warum wir die Phylogenese brauchen . . . . . . . 3.2 Die nominalistische und die realistische Auffassung der Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Individuum und Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Homologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Revolution in der Systematik . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Phänetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Kladistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.1 .2 15 20 24 34 40 46
. . . . . 147 . . . . . 148 . . . . . .
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152 156 159 165 167 170
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Inhaltsverzeichnis
3.8 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13 3.14
Wie erstellt man ein Kladogramm? oder Der Merkmalskonflikt . Merkmalsqualität und kladistische Analyse . . . . . . . . . . . . Phylogenese und Paläontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rekonstruktion der Anagenese . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evolutionsgeschwindigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Phylogenese der (Säuge-)Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . Kontroll- und Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 Evolutionäre Neuheiten 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12 4.13 4.14 4.15 4.16 4.17 4.18
. . . . . . . . . . Kambrische Explosion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baupläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie entstanden die Wirbeltiere? . . . . . . . . . . . . . . . Neue Baupläne: Wurzelkrebse, Myxozoa, Henrietta Lacks und CTVT . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evolutionsgeschwindigkeit: Entstehung der Wale und Milchverdauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gene und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evo-Devo I: Wie baut man eine Fliege? . . . . . . . . . . . Evo-Devo II: Flügel, Beine und Tagpfauenaugen . . . . . . Ursprung der morphologischen Vielfalt der Pflanzen . . . Neuralleiste: versteckte Vielfalt der Wirbeltiere . . . . . . . Die Evolution der Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . MacGyver-Prinzip I oder Wie bildet sich eine Augenlinse? . MacGyver-Prinzip II oder Milch und die Entstehung neuer Moleküle . . . . . . Morphologische Transformation und Ontogenese . . . . . Heterochronie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heterochronie und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . Ist die frühe Ontogenese konservativ oder instabil? . . . . „Nichtreduzierbare Komplexität“ . . . . . . . . . . . . . . Kontroll- und Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . .
5 Adaptation . 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11 5.12
. . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel I: Beine, Lungen und Gehirne . . . . Fallbeispiel II: männliche Homosexualität . . . . Fallbeispiel III: der Giraffenhals . . . . . . . . . . Geschlechterverhältnis: Adaptation und Stabilität Adaptation, Geschichte und Funktion . . . . . . . Wie studiert man Adaptationen? . . . . . . . . . Adaptation und Kladistik . . . . . . . . . . . . . . Exaptation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtadaptationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel IV: Zwergsalamander . . . . . . . . . Fallbeispiel V: Tüpfelhyänen . . . . . . . . . . . . Adaptation, Pleiotropie und kulturelle Evolution .
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174 180 182 187 189 192 196 203
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207 208 214 216
. . . . 220 . . . . . . . .
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224 226 236 240 243 245 248 251
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253 255 257 260 267 273 282
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285 286 291 293 296 300 304 316 320 323 325 326 328
Inhaltsverzeichnis
5.13 Historische Barrieren . . . . . . . 5.14 Spandrillen . . . . . . . . . . . . 5.15 Adaptationen oder Spandrillen? . Kontroll- und Verständnisfragen .
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333 339 347 350
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Galápagos-Inseln und afrikanische Seen . . . . . . . . . . Was ist eine Art? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Artenvielfalt der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie sind die Arten voneinander getrennt? . . . . . . . . . Wie wird die Artbildung vollendet? . . . . . . . . . . . . . Geographische Isolation und Zerfall der Arten . . . . . . . Die Rolle der Umwelt für die Evolution der Vielfalt . . . . . Die Entstehung der Arten und die sexuelle Selektion . . . Die Ursachen der ökologischen Divergenz . . . . . . . . . Wie viele Nischen gibt es? oder Kann man die Entwicklung der Vielfalt vorhersagen? Aussterben von Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gelegenheit macht Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf der Radiationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beziehung zwischen Anagenese und Kladogenese . . Artenselektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlüsselneuheiten – evolutionäre Innovationen von ausschlaggebender Bedeutung . . . . . . . . . . . . . Die Geschichte der Diversität: ein Auf und Ab . . . . . . . Die Quellen der heutigen Diversität . . . . . . . . . . . . . Die Zukunft der Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontroll- und Verständnisfragen . . . . . . . . . . . . . . .
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353 354 358 365 370 377 381 383 386 387
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391 394 397 399 401 408
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412 415 420 424 428
6 Vielfalt . 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12 6.13 6.14 6.15 6.16 6.17 6.18 6.19
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7 Zwei Epiloge 7.1 7.2
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Fortschritt, Evolution und (menschliche) Geschichte . . . . . . . . 432 Rätsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
Glossar
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
Literatur Index
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
XIII
Jeder Gärtner, der ein Beet jätet, sieht sich (zumindest unbewusst) mit den grundlegenden Prinzipien des Darwinismus konfrontiert: Angenommen auf einem Beet gäbe es mehr junge Pflanzen, als dort verbleiben können, wenn sie ausgewachsen sind. Der Gärtner weiß, dass verschiedene Pflanzen derselben Art durchaus unterschiedliche Eigenschaften besitzen und daher auch unterschiedliche Chancen haben, in Zukunft erfolgreich zu sein (z. B. „erfolgreich“ hinsichtlich der Menge und Qualität der Früchte, die sie produzieren). Und so unterscheiden sich auch ihre Überlebenschancen, wobei jeder Gärtner hofft, dass die guten Eigenschaften der Pflanzen, die er auswählt, auch an ihre Nachkommenschaft übertragen werden ( S. 13). (Bild in Anlehnung an eine Illustration von J. Capek zum Buch von K. Capek: Das Jahr des Gärtners, 1929)
1 Einleitung
Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, hat kein Gott und kein Mensch geschaffen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Maßen erlöschend. Heraklit, Fragment B30
Darum geht es in diesem Kapitel: • • • • • • • • • • • •
Was ist Evolution? Wie hängen Evolution und Phylogenese zusammen? Was ist Darwinismus? Warum waren Darwins Ideen so revolutionär, und weshalb kam nicht schon vor ihm jemand auf diese Gedanken? Wie muss man den „Kampf ums Überleben“ verstehen? Ist die Evolution zielgerichtet? Warum pflanzen sich Tiere (und Menschen) fort? Was sind proximate Mechanismen und ultimate Ursachen? Warum gibt es bestimmte Eigenschaften oder Merkmalskombinationen bei Tieren nicht, auch wenn sie sinnvoll wären? Inwiefern beeinflusste die Genetik die Evolutionstheorie? Wie haben sich unsere Vorstellungen von der Evolution in den letzten 200 Jahren entwickelt? Wer sind (und waren) die einflussreichsten Evolutionsbiologen?
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1 Einleitung
1.1 Geschichte, Evolution und Evolutionsgeschichten Evolution ist die allmähliche Entwicklung eines Systems, das in Abhängigkeit von den in der Vergangenheit bereits gesammelten Erfahrungen auf äußere Einflüsse reagiert.
Im Verlauf der biologischen Evolution entstehen Organismen, die sich ändern und an die Umwelt anpassen.
Die evolutionäre Geschichte hilft, die heutige Gestalt der Natur, die Vielfalt der Organismen und ihre Wechselbeziehungen zu erklären.
Unter Evolution (vom lateinischen evolvere: ausrollen, entwickeln, ablaufen) versteht man die allmähliche Entwicklung eines beliebigen Systems mit „Gedächtnis“, d. h. eines Systems, das auf äußere Einflüsse reagiert, und zwar abhängig von den in der Vergangenheit gesammelten Erfahrungen. (Als Beispiel eines Systems ohne Gedächtnis, das sich zwar ändern kann, aber nicht evolviert, können wir Salz in Wasser anführen, das je nach Bedingung kristallisiert oder sich auflöst; doch egal wie oft dies passiert, es entstehen immer Salzkristalle mit denselben Eigenschaften.) Wir können von einer Evolution der Buntbarsche ebenso sprechen wie von einer Evolution der Sprachen, der Autos, der politischen Systeme oder der Damenunterwäsche. Von besonderem Interesse ist natürlich die biologische Evolution: Sie liefert ein Erklärungsmodell, wie im Lauf der Zeit verschiedenartige Organismen entstehen (vom griechischen organismos: Ansammlungen von Organen), also komplexe Systeme, die auf Reize reagieren, wachsen, sich entwickeln, ihr inneres Milieu konstant halten, Integrität bewahren und sich fortpflanzen. Im Lauf der Evolution ändern sich die Organismen; sie passen sich an die unterschiedlichen Bedingungen zur Gewinnung und Umwandlung von Energie und Substanzen aus der Umwelt an – seien es Amöben, Kartoffeln, Fadenwürmer oder Menschen. Der biologischen Evolution als Erklärungsmodell für die Entstehung der Organismenvielfalt steht die Schöpfung (lateinisch creatio) gegenüber ( Box 1.1). Der Vollständigkeit halber sollten wir hinzufügen, dass sich Dinge auch durch Revolution (vom lateinischen revolvere: zurückrollen, umwälzen) – also plötzlich, drastisch, unerwartet – ändern können. Der Gegensatz zur (R)Evolution wird als Stase (vom griechischen stasis: Stauung), also Stillstand oder Stabilität, bezeichnet. Die Welt ändert sich: Dies ist die natürliche Erfahrung der Menschen aller Zeiten. Wenn wir aber von der Evolution der Welt sprechen, sagen wir damit etwas mehr, als dass sich die Welt nur ändert. Aus der Definition der Evolution als „Entwicklung eines Systems mit Gedächtnis“ ergibt sich, dass die bereits erfolgte Evolution das heutige Gesicht der Welt (Natur) erklären kann. Das Aussehen der heute lebenden Organismen und ihre Beziehungen untereinander haben ihren Ursprung in ihrer evolutionären Geschichte, und wenn wir diese verstehen, begreifen wir auch die heutige Lebenswelt. Die Vorstellung von Evolution ist, wie schon gesagt, sicher nicht auf die Biologie beschränkt, aber gerade für sie ist sie sehr wesentlich. Von dem prominenten Populationsgenetiker Theodosius Dobzhansky ( S. 31) stammt der berühmte Satz: »Nichts in der Biologie erscheint sinnvoll, außer im Lichte der Evolution« (wobei er die Darwin‘sche Evolutionstheorie vor Augen hatte). Es genügt allerdings nicht, sich irgendein Konzept auszudenken, das bestimmt, wie wir fragen und welche Art von Antworten wir suchen, um die gegenwärtige Biologie zu erklären; das wäre keine konkrete Evolutionstheorie. Evolutionstheorien können sich je nach Mode und manchmal auch nach neuen Erkenntnissen ändern. Dieses ganze Buch handelt vor allem davon, wie sich unsere Vorstellungen von der Evolution in den letzten vier Jahrzehnten geändert haben, wobei
1.1 Geschichte, Evolution und Evolutionsgeschichten
wir natürlich auch erklären werden, wie die Ausgangslage aussah. Der wirklich entscheidende Punkt ist, dass wir, um biologische Phänomene, Ereignisse und Zusammenhänge zu verstehen, das Beobachtete unter dem Aspekt ihrer historischen Entwicklung, ihrer Vergangenheit, kurzum ihrer Evolution, betrachten müssen.
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Wissenschaft und Glaube Unter Wissenschaft verstehen wir die systematische Suche nach neuen Erkenntnissen. Wissenschaft ist ein Werkzeug, mit dem wir die Welt (bzw. für uns interessante Dinge, Phänomene, Ereignisse, Lebewesen etc.) betrachten. Die Art und Weise des Umgangs mit gewonnenen Daten ist klar geregelt; es handelt sich um ein relativ nüchternes Vorgehen, das jeden Betrachter zu derselben Schlussfolgerung hinführen sollte, falls eine solche aufgrund der Datenlage überhaupt möglich ist. Gängige Wissenschaftsmethoden sind beispielsweise die Beobachtung, die Deduktion oder das Experiment. Die Wissenschaft beruht auf der Vorstellung eines gesetzmäßigen (und mathematisierbaren) Verhaltens der Dinge (der Natur bzw. der Gesellschaft), das zunächst in Form einer Hypothese beschrieben, dann in einer Theorie verallgemeinert und schließlich durch weitere Beobachtungen oder reproduzierbare Experimente bestätigt (verifiziert) wird. Die Wissenschaft strebt nach einer allgemeinen Erkenntnis, aufgrund derer das Wesentliche vom Unwesentlichen getrennt werden kann und aufgrund derer wir allgemein gültige Gesetze bestimmen können, mit denen wir erfolgreich vorhersagen und die vorhergesagtenTatsachen auch experimentell modellieren können. Einer der bedeutendsten Philosophen und Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Karl R. Popper (1902–1994), stellte als wichtigstes Prinzip der Wissenschaftlichkeit die Falsifizierbarkeit (Widerlegung) auf. Die Stärke der Wissenschaft besteht nicht darin, dass man die aufgestellten Behauptungen verifizieren kann, sondern darin, dass sie so formuliert werden müssen, dass sie widerlegt werden können. (Analog liegt die Stärke der Demokratie nicht darin, dass sie die Besten zum Regieren auswählt, sondern darin, dass man jede Regierung mit gewöhnlichen Mitteln – nämlich durch Wahlen – abwählen kann.) Gegenstücke zur Wissenschaft sind die Pseudowissenschaft und der Glaube. Die Pseudowissenschaft bedient sich zwar einer wissenschaftlichen
Sprache, jedoch nicht der wissenschaftlichen Methoden. Ihre Behauptungen sind nicht falsifizierbar, da nur Menschen mit außerordentlichen Fähigkeiten (sogenannte „Medien“) Zugang zu den Pseudowissenschaften haben. Wissenschaftliche Methoden sind dagegen prinzipiell jedem zugänglich und von jedem überprüfbar. Ein Grundpfeiler des Glaubens besteht in dem Verbot, an den zu glaubenden Dingen zu zweifeln; indirekt wird damit auch deren Erforschung untersagt. Glaube formuliert keine Hypothesen oder Theorien, die man dann verifizieren und, insbesondere, falsifizieren könnte. Er beruht auf Dogmen, worunter wir Behauptungen verstehen, an denen nicht gezweifelt werden darf. Oft wird behauptet, die Evolutionstheorie sei unwissenschaftlich, weil man sie nicht bestätigen kann. Im Prinzip lässt sich jedoch keine Theorie endgültig beweisen. Der Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen und einer nichtwissenschaftlichen Theorie beruht nicht in der Beweisbarkeit, sondern in ihrer Widerlegbarkeit. Wenn jemand behauptet, dass der Mensch von Gott erschaffen wurde, kann das eine Wahrheit sein, doch lässt sich diese Theorie nicht widerlegen: Gott, der Allmächtige, hätte den Menschen auch so kreieren können, dass wir diese „Wahrheit“ gar nicht erkennen, und er hätte uns gleichzeitig verschiedene „Pseudobeweise“ für die Evolution unterschieben können. Dagegen ergeben sich aus der Evolutionstheorie viele Erkenntnisse, die sich empirisch überprüfen lassen. In Bezug auf den Menschen könnte die Evolutionstheorie z. B. dann falsifiziert werden, wenn wir ein menschliches Fossil entdecken würden, das älter ist als alle bekannten Fossilien anderer Primaten, oder wenn man ein Fossil eines Primaten entdecken würde, das älter ist als Fossilien der ersten Säugetiere, oder wenn der Mensch molekularbiologisch nicht mit den Primaten verwandt wäre. Bislang sprechen alle Befunde für die Evolutionstheorie und gegen die Existenz eines Schöpfers.
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1 Einleitung
Eine der bemerkenswertesten Eigenschaften des Lebens ist seine Altertümlichkeit.
Die Evolution ist aber nur dann geeignet, das zu erklären, was wir heute um uns herum beobachten, wenn nicht „zu viel“ Evolution stattfindet. Die evolutionären Veränderungen, die sich beispielsweise vor 10 Millionen Jahren ereignet haben, sagen uns über eine so alte Vergangenheit nur dann etwas, wenn sie während der letzten 10 Millionen Jahre nicht immer wieder durch weitere Evolutionsneuheiten derselben Ordnung verwischt wurden. Damit uns also die Evolution über unsere Welt etwas Wesentliches sagt, muss sie relativ langsam sein; dabei interessieren uns nicht nur die Änderungen, sondern vor allem das, was unverändert überlebt oder zumindest irgendeine Spur in der Gegenwart hinterlassen hat. Die Arten, mit denen wir diesen Planeten bewohnen, stammen aus einer unterschiedlich fernen Vergangenheit, die sich auf das heutige Aussehen der Natur auswirkt. Eine der bemerkenswertesten Eigenschaften des Lebens ist seine unglaubliche Altertümlichkeit. Das ist deshalb so erstaunlich, weil wir es gewohnt sind, vor allem die Unbeständigkeit und Veränderlichkeit des Lebens zu sehen. Manche Eigenschaften der lebenden Natur sind sehr konstant und dies insbesondere im Vergleich mit geologischen Strukturen, wie Gebirge, Meere oder die Lage der Kontinente, die uns extrem unveränderlich erscheinen.
1.1 Beispiele für die sogenannte Gondwana-Verbreitung: Stummelfüßer (Onychophora), Lungenfische (Dipnoi) und Laufvögel (Nandu in Südamerika, Strauß in Afrika, Emu in Australien). Vor etwa 200 Millionen Jahren zerfiel der Superkontinent Pangäa in eine nördliche Landmasse, Laurasia, und das südliche Gondwana. Der Kontinent Gondwana umfasste alle heutigen Südkontinente (Südamerika, Afrika, Australien und die Antarktis), ferner Vorderindien und Madagaskar. Vor etwa 150 Millionen Jahren (gegen Ende des Juras) begann Gondwana zu zerbrechen und zwar zunächst zwischen Afrika und Madagaskar, zuletzt zwischen Australien und der Antarktis ( Box 6.20). Die disjunkte Verbreitung vieler rezenter (aber auch ausgestorbener) phylogenetisch verwandter Taxa der Pflanzen und Tiere an den Spitzen der Südkontinente wird als ein Hinweis auf die einstige weitläufige Gondwana-Verbreitung ihrer Vorfahren und die nachfolgende Trennung mit weiterer unabhängiger Evolution interpretiert. In einigen Fällen (z. B. gerade im Fall der Lungenfische) zeigen die Fossilfunde jedoch, dass diese Taxa einst auch weiter (also auch auf der Nordhemisphäre) verbreitet waren, sodass das heutige Verbreitungsbild nur als Schrumpfareal zu bezeichnen ist. (Nach diversen Quellen)
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1.1 Geschichte, Evolution und Evolutionsgeschichten
Es genügt, sich bewusst zu machen, dass zu der Zeit, als die großen Gebirge noch nicht entstanden und die Landmassen der Kontinente anders angeordnet waren als heute (sodass wir sie auf einem Globus, der den damaligen Zustand zeigt, gar nicht erkennen würden), schon Tiere über die Erde liefen. Diese verfügten bereits über ausgeprägte Verhaltensmuster und waren den heutigen Tieren oft sehr ähnlich; manche von ihnen haben praktisch in unveränderter Form bis heute überdauert. Die heutige Geographie der Kontinente ist jünger als die Affen, die auf ihnen leben. Daher hilft uns heute die Verbreitung von nah verwandten Arten auf verschiedenen Kontinenten, die geologische Geschichte der Kontinente zu rekonstruieren (Abb. 1.1). Den Zelltyp, aus dem unser Körper aufgebaut ist – die sogenannte Eukaryotenzelle –, mit all seinen grundlegenden Funktionen und überlebenswichtigen Genen, haben wir mit vielen anderen Organismen gemeinsam, wie z. B. mit Pilzen oder Pflanzen. Dabei handelt es sich um „Erinnerungen“ an die Zeiten, noch bevor sich unsere Vorfahren von den Vorfahren anderer eukaryoter Organismen abgespaltet haben. Dieser Zelltyp hat ohne wesentliche Änderungen fast eine Milliarde Jahre überdauert. Und die grundlegendsten Prinzipien der Zellorganisation sowie die grundlegendste biochemische und genetische Ausstattung der Zelle haben wir von den eigentlichen Anfängen des Lebens auf der Erde, aus der Vergangenheit, die fast vier Milliarden Jahre alt ist. Während dieses gesamten Zeitraums hörte die kontinuierliche Linie der Zellen niemals auf zu existieren, und nie sind neue Zellen anders entstanden als durch Teilung der Mutterzellen. Ein wesentliches Merkmal des Lebens ist also gerade nicht die auffällige Veränderlichkeit, sondern vielmehr das bemerkenswerte Talent, seine Identität sehr lange zu bewahren − jedenfalls deutlich länger, als es nichtlebende Dinge können. Daran ist nichts Mystisches. Ein nichtlebendes Ding, z. B. ein Stein, ist nur ein passives Spielzeug der physikalischen Kräfte, die ihn früher oder später vernichten, während der lebende Organismus seiner Umgebung ausweichen kann und in der Lage ist, sich zu transformieren, sich zu reparieren, sich fortzupflanzen und seine Eigenschaften an die nächsten Generationen weiterzugeben. Dadurch bietet uns ein Organismus nebenbei auch unvergleichbar mehr Information über seine Geschichte als ein Stück unbelebter Materie vergleichbarer Masse. Es ist kein Zufall, dass die Idee der Evolution in ihrer ausführlichen Form erst im 19. Jahrhundert entstand, als die Menschen begannen, sich der Bedeutung der historischen Kontinuität für ihre eigene Geschichte und für das Verständnis der Gegenwart, in der sie leben, voll bewusst zu sein. In der Antike und im Mittelalter waren sich die Menschen zwar auch der Veränderungen der Welt bewusst (erinnern wir uns z. B. an die altgriechische absteigende Folge von Goldenem, Silbernem und Ehernem Zeitalter, die in der gegenwärtigen eisernen Misere endete), aber die einzelnen Epochen hielten sie für mehr oder weniger getrennte Stadien. Erst später wurden sich die Menschen bewusst, dass viele Dinge und Ereignisse aus der Vergangenheit in den nachfolgenden Zeiträumen nicht nur erhalten blieben, sondern sogar wesentlichen Einfluss darauf hatten, wie diese aussahen und wie sie funktionierten. Diese Verschiebung in der Wahrnehmung der Geschichte kann man auch in den Naturwissenschaften nachvollziehen.
Die grundlegenden Prinzipien der Zellorganisation sowie der biochemischen und genetischen Ausstattung der Zelle sind fast 4 Milliarden Jahre alt. Nicht die auffällige Veränderlichkeit, sondern die Konstanz der Identität zeichnet Leben aus.
In der Antike und im Mittelalter hielt man die einzelnen Epochen für mehr oder weniger getrennte Stadien. Die Idee der Evolution entstand erst im 19. Jh., als die historische Kontinuität ins Bewusstsein der Menschen rückte.
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1 Einleitung
Der bedeutendste Evolutionsbiologe der vordarwinistischen Ära war Jean-Baptiste Lamarck.
Der wahrscheinlich bedeutendste Evolutionsbiologe der vordarwinistischen Ära war Jean-Baptiste Lamarck ( s. u.). Seine wichtigsten Ideen publizierte er 1809, also im Geburtsjahr von Charles Darwin. Obwohl Darwin explizit schrieb, dass die Lamarck‘schen Ideen seine Theorien in keinerlei Weise beeinflusst hätten, entspricht dies wahrscheinlich nicht ganz den Tatsachen. Auch wenn Lamarck Darwins Werk nicht direkt beeinflusste, so haben seine Arbeiten sicherlich einige Lehrer und Vorgänger Darwins stimuliert. Lamarcks Ideen wurden nie (weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem Tod) wirklich anerkannt, und auch heute ist seine Theorie meistens nur in ihrer vereinfachten, karikierten Form bekannt ( Box 2.32).
Jean-Baptiste P. A. d. M., Chevalier de Lamarck Lebensdaten: 1744–1829 Nationalität: französisch Leistung: Bedeutender Zoologe und Botaniker des 19. Jh., der wichtigste Evolutionsbiologe vor Darwin. L. nahm an, dass Organismen in der Vergangenheit wiederholt entstanden sind, und zwar stets in ihrer ursprünglichen, einfachen Form, und dass sie im Lauf der Evolution komplexer und vollkommener wurden und werden. Dass wir heute Organismen finden, die einen unterschiedlichen Organisationsgrad aufweisen, ist darauf zurückzuführen, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind und entsprechend einen unterschiedlich langen Evolutionsweg zurückgelegt haben. L. vermutete, dass die Evolution als allmähliche (graduelle) Anpassung an die natürlichen Bedingungen abläuft, dass jedes Organ, das belastet wird, größer wird bzw. seine Funktionalität steigert. Umgekehrt würde ein Nichtgebrauch von Organen zu ihrer Reduktion bis hin zum Verlust führen. Er glaubte (wie die meisten seiner Zeitgenossen und auch Darwin), dass die im Lauf des individuellen Lebens erworbenen Eigenschaften an die Nachkommen vererbt würden. L. nahm an, dass der erste Schritt in der Evolution einer Struktur die Änderung des Verhaltens darstellt (z. B. der Erwerb einer neuen Nahrungsquelle). So werden bestimmte Organe neu bzw. anders belastet, trainiert und vergrößert. L. prägte u. a. die Begriffe „Biologie“, „Wirbellose“, „Annelida“, „Arachnida“, „Crustacea“ und „Tunicata“.
Georges L. C. F. D., Baron de Cuvier Lebensdaten: 1769–1832 Nationalität: französisch Leistung: Begründer der Paläontologie, Paläontologe, Tiersystematiker, vergleichender Anatom. C. entwickelte Prinzipien zur Rekonstruktion einer Tiergestalt anhand von Knochen. C. war der bekannteste Verfechter des Katastrophismus, demzufolge in der Erdgeschichte wiederholt große Katastrophen einen Großteil der Lebewesen vernichteten und aus den verbliebenen Arten in darauf folgenden Phasen neues Leben entstanden ist. Er zeigte als erster, dass in der Vergangenheit Arten lebten, die es nicht mehr gibt und dass die Vorstellung eines niedrigen (biblischen) Alters der Erde falsch ist. Weiterhin wies er nach, dass die ausgestorbenen Organismen wie die rezenten ebenfalls vollkommen waren und dass die in den jüngeren Schichten vorkommenden Arten den heutigen Arten stärker ähneln, während in den älteren Schichten ganz andere Arten vorkommen. Er war ein Gegner der graduellen, kontinuierlichen Evolution, denn für sie fand er in den Fossilien keine Beweise. Als Kreationist kann er jedoch nicht bezeichnet werden. Er war wissenschafts- und bildungspolitisch sehr einflussreich.
1.1 Geschichte, Evolution und Evolutionsgeschichten
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Noch Georges Cuvier ( S. 6), ein um eine Generation jüngerer Zeitgenosse von Lamarck und Begründer der Paläontologie, betrachtete Ende des 19. Jahrhunderts die Erdgeschichte als eine Folge von unabhängigen Epochen, die durch Katastrophen voneinander getrennt wurden. Das ist allerdings eine durchaus berechtigte Sicht, denn die Existenz der fossilen Überreste ausgestorbener Organismen beweist an sich nur, dass unsere Erde in der Vergangenheit von anderen Wesen bewohnt wurde als heute, nicht jedoch dass es eine kontinuierliche Evolution gibt. Étienne Geoffroy Saint-Hilaire ( s. u.), ein radikaler Gegner von Cuvier, war der erste, der eine ununterbrochene Entwicklungsgeschichte zwischen fossilen und rezenten Lebewesen postulierte. Etwas später nahm Charles Lyell ( s. u.), der Begründer der modernen Geologie, an, dass die Gestalt der Erdoberfläche nur als Folge von sehr alten und sehr langsamen Prozessen, wie z. B. Sedimentation und Faltung, erklärbar ist; und was noch wichtiger ist: Um solche Prozesse aufgrund der Analyse ihrer heutigen Ergebnisse rekonstruieren zu können, müssen wir annehmen, dass sich die in der Vergangenheit abgelaufenen Prozesse nicht wesentlich von den
Cuvier sah die Erdgeschichte als eine Abfolge von unabhängigen, durch Katastrophen getrennte Etappen.
Saint-Hilaire postulierte eine ununterbrochene Entwicklungsgeschichte zwischen fossilen und rezenten Lebewesen. Nach Lyell wurde die Erdoberfläche von sehr langsamen Prozessen geformt, die sich von den in der Gegenwart ablaufenden Prozessen nicht unterscheiden.
Étienne Geoffroy Saint-Hilaire Lebensdaten: 1772–1844 Nationalität: französisch Leistung: Bedeutender Zoologe und einflussreicher Biologe des 19. Jh. Durch seine vergleichenden Untersuchungen in Anatomie, Paläontologie und Embryologie gab S.-H. der modernen Evolutionstheorie entscheidende Anstöße. Goethe hat S.-H. als »Zoologen, der bei den Organismen einen allgemeinen Plan suchte« charakterisiert. S.-H. vertrat die Ansicht, dass der Körperbau von Wirbeltieren und Wirbellosen einen gemeinsamen Grundbauplan aufweist. Im Jahr 1830 kam es zu einem Disput (dem sogenannten Pariser Akademiestreit) zwischen S.-H. und Cuvier, der europaweit verfolgt wurde. S.-H. entdeckte viele Ähnlichkeiten zwischen verschiedensten Wirbeltieren und gelangte zur Überzeugung, dass die Vögel von urzeitlichen Reptilien abstammten. Er war somit der erste, der eine fortdauernde Entwicklungsgeschichte zwischen fossilen und rezenten Lebewesen postulierte. Weiterhin nahm S.-H. an, dass die Umwelt primär die Embryogenese beeinflusst und nicht das erwachsene Individuum. S.-H. gilt auch als Mitbegründer der Teratologie, der Lehre von Missbildungen.
Sir Charles Lyell Lebensdaten: 1797–1875 Nationalität: britisch Leistung: Einer der Begründer der modernen Geologie. Er führte den Grundsatz des Aktualismus in die Geologie ein, der besagt, dass während der Erdgeschichte nur solche Kräfte und Prozesse an der Gestaltung der Erde gewirkt hatten, die auch heute noch zu beobachten sind. Damit war er ein Gegner der damals herrschenden Kataklysmentheorie (= Katastrophismus). L. profilierte sich im Feld der Stratigraphie. Er teilte die Tertiär-Periode anhand der Fossilien in drei Abschnitte ein: Pliozän, Miozän und Eozän. Er zeigte, dass die Menschheit sehr viel älter ist, als gewöhnlich angenommen wurde. Er beeinflusste die Arbeit von Darwin stark und zählte zu dessen Freunden und Unterstützern.
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in der Gegenwart ablaufenden Prozessen unterscheiden. In gewisser Hinsicht können wir also gerade Lyell für den ersten Boten evolutionärer Gedanken halten, wenn auch noch nicht in biologischem Sinn. Das evolutionäre Erklärungsprinzip ist nicht ganz geradlinig. Von der Geschichte können wir nämlich nichts direkt wissen, denn Geschichte gibt es eigentlich nicht, im besten Fall gab es sie. Wir können sie nur aus gefundenen Spuren rekonstruieren, sei es aus schriftlichen Aufzeichnungen oder – im Fall der Biologie – aus Fossilien und Eigenschaften der heutigen Organismen. Wir bewegen uns damit ein wenig im Kreis. Wir versuchen die heutigen Ereignisse mittels ihrer Geschichte zu verstehen, aber die rekonstruieren wir gerade aufgrund der Erscheinungen, die wir in der Gegenwart beobachten. Interessanterweise macht dieser Zirkelschluss nichts aus. Gerade dadurch, dass wir die beobachteten Phänomene in gegenseitige Zusammenhänge bringen, tragen sie letztendlich alle zu einer großen und logisch konsistenten Geschichte bei, die wir Evolution nennen. Die Evolution ist eine Geschichte, die wir erdacht haben, um das zu erklären, was wir beobachten. Es kann sich dabei um die Erklärung der Existenz von Fossilien handeln, die den heutigen Organismen unähnlich sind. Oder um eine Erklärung für das deutlich hierarchisch gegliederte System | 1.2 |
„Zweckmäßig“ ist nicht mit „zweck- oder zielgerichtet“ zu verwechseln Eine Angina können wir mit Antibiotika oder mit Beschwörung kurieren. In beiden Fällen geht es um eine zweckgerichtete (zweckbestimmte, also geplante, absichtliche) Handlung, aber nur im ersten Fall ist diese Behandlung auch zweckmäßig, d. h. sinnvoll und geeignet, den gewünschten Zweck (zumindest in den meisten Fällen) auch zu erfüllen. Die Auffassung von der Zielgerichtetheit und Zweckgebundenheit (Zweckbestimmtheit) der Ereignisse oder Entwicklungen wird als Teleologie (vom griechischen telos: Ende, Zweck, und logos: Lehre) bezeichnet. Die Wissenschaft kann ein Phänomen oder Ereignis auf zwei Weisen beschreiben: entweder durch die Ursache oder durch den Zweck. Jedes Phänomen (Ereignis) hat eine (naturgesetzliche oder zufällige) Ursache, die es ausgelöst hat. Nur wenige Ereignisse haben auch einen Zweck. Die Zweckmäßigkeit biologischer Systeme hängt nicht mit der Zweckgerichtetheit zusammen, sondern mit dem Prinzip der „Verankerung von oben“ – d. h., dass manche Eigenschaften einesTeilsystems durch die Eigenschaften des übergeordneten Systems bestimmt werden. Wenn wir z. B. am Fuß eines Hangs eine Ansammlung von Steinen ähnlicher Gestalt und Größe finden, kann dies mit dem Mechanismus ihrer Entstehung zusammen-
hängen. Eine teleologische Erklärung wäre, dass die dort gefundenen Steine genau in dieser Größe und Form gebildet wurden. Alternativ könnte man annehmen, dass jeder Stein zufällig und in unterschiedlicher Gestalt und Größe entstand, aber alle Steine denselben Transportprozessen ausgesetzt waren, die dazu führten, dass sich an einem bestimmten Ort ähnliche Steine ansammelten. Die Steine sind ein Teil des übergeordneten Systems (Hang, Fluss, Gravitation), das bestimmt, an welchem Ort sich welche Steine ablagern. Man kann die Beziehung zwischen diesen Begriffen durch die folgende Tabelle verdeutlichen: zweckmäßig
zweckbestimmt
Handlung des Menschen, Schöpfung
JA
JA
Evolutionäre Anpassung
JA
NEIN
Anordnung der Computer-Tastatur
NEIN
JA
Verteilung kleiner Steine auf einem Acker
NEIN
NEIN
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1.1 Geschichte, Evolution und Evolutionsgeschichten
der Arten, in dem sich einige „näher“ stehen als andere. Oder um Organe, die heute offensichtlich zu nichts gut und kaum anders zu interpretieren sind, als dass es sich um Spuren vorheriger evolutionärer Stadien handelt. Um zu verstehen, wie es möglich ist, mittels der rekonstruierten Vergangenheit die Gegenwart zu interpretieren, muss man verstehen, inwiefern die Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenhängt, und wie sie deren Aussehen bedingt. In der Vergangenheit geschah viel, aber nur wenig blieb bis in die Gegenwart erhalten (wobei verschiedene Dinge unterschiedlich lange erhalten blieben), während das meiste, das sich ereignete, unwiederbringlich verloren ging, sodass es nicht mehr rekonstruiert werden kann. Von der bunten Vielfalt einer großen Menge an Ereignissen, Vorgängen und Erscheinungen bleibt nur ein Bruchteil übrig, denn nur dieser Bruchteil hat eine Chance zu überdauern. Dies – und eigentlich nur dies – ist die natürliche Selektion, also ein Grundprinzip, das die Beziehung zwischen der Vergangenheit und Gegenwart erklärt. Wenn wir den lebenden Organismen eine Vergangenheit und Evolution zuerkennen, so beziehen wir diese vor allem auf die Eigenschaften, die ihnen helfen zu leben, zu überleben und sich fortzupflanzen. Der Grund für die Ausbildung solch zweckmäßiger Eigenschaften, also Adaptationen, verlangt dann eine Erklärung. Kann man die auffällige Zweckmäßigkeit der Organismen überhaupt anders erklären als mit der absichtlichen Intervention höherer Kräfte ( Box 1.2)? Mit dem Konzept der natürlichen Selektion, das Charles Darwin ( S. 10, Box 1.3–1.5) Mitte des 19. Jahrhunderts präsentierte, kann man die natürliche Entstehung der Zweckmäßigkeit sehr einfach erklären. Gerade weil diese Eigenschaften den Organismen in der Vergangenheit geholfen haben, zu überleben und sich fortzupflanzen, blieben sie – im Unterschied zu den unzweckmäßigen Eigenschaften – bis heute erhalten. Nur die zweckmäßigen Eigenschaften haben eine Chance, langfristig zu überdauern. Angesichts der Tatsache, dass es stets eine beschränkte Anzahl von Organismen geben wird, werden nicht alle Eigenschaften die Chance haben, in die nächsten Generationen zu gelangen. Nur die Eigenschaften, die unter dem Gesichtspunkt des Überlebens und der Fortpflanzung des Organismus (und daher auch unter dem Gesichtspunkt des eigenen Überdauerns und der Verbreitung) die vorteilhaftesten sind, werden an die nächsten Generationen weitergegeben. Die einzelnen Eigenschaften der Organismen „wetteifern um das Überleben“. Wie wir noch sehen werden, handelt es sich mehr um einen Wettbewerb und oft auch um eine Art Spiel als um einen „Kampf ums (Über)Leben“. Darüber hinaus wird nicht um das Überleben an sich gewetteifert. Angenommen ein Mensch stirbt während seiner embryonalen Entwicklung, ein anderer mit 95 Jahren an Altersschwäche, und beide haben keine Nachkommen hinterlassen. Offensichtlich haben beide Menschen etwas gemeinsam: Ihre individuellen Eigenschaften sind nicht in die nächste Generation gekommen, denn dazu gab es keine Möglichkeit. Sich nicht fortzupflanzen ist dasselbe wie unterzugehen. Wer keine Nachkommen hinterlässt, hat unter dem Gesichts-
Adaptationen sind zweckmäßige Eigenschaften, die den Organismen helfen zu (über)leben und sich fortzupflanzen. Mit Darwins Konzept der natürlichen Selektion lässt sich die Entstehung von Adaptationen einfach erklären.
Das Wetteifern verschiedener Eigenschaften der Organismen ähnelt mehr einem Wettbewerb bzw. einem Spiel als einem „Kampf ums (Über)Leben“.
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Charles Robert Darwin Lebensdaten: 1809–1882 Nationalität: britisch Leistung: Einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler der Neuzeit; seine Erklärung der Evolution hat nicht nur die Biologie revolutioniert, sondern auch die allgemeine Weltanschauung verändert. Außer mit seinen Arbeiten im Bereich der Evolutionsbiologie machte sich D. auch in anderen Bereichen der Biologie einen Namen: Er hat den Mechanismus der Entstehung der Korallenatolle aufgeklärt, die Bodenbildung durch Regenwürmer beschrieben, Fossilien des Riesenfaultiers Megatherium entdeckt und beschrieben, eine ganze Reihe von Büchern verfasst – u. a. über den Ausdruck von Emotionen bei Tieren, über die Bewegungen von Pflanzen, über Rankenfußkrebse, über die Geologie von Vulkaninseln oder über insektivore Pflanzen. Dabei hatte D. keine formale biologische Ausbildung. Auf Wunsch seines Vaters begann er, Medizin zu studieren, doch brach er nach einem Jahr das Studium ab. Er studierte drei Jahre Theologie und beendete das Studium mit dem Bachelor-Titel. Schon als Kind sammelte er diverse Naturobjekte und auch während der Studienzeiten ließ das naturwissenschaftliche Interesse nicht nach. Er pflegte Kontakte zu bekannten Naturwissenschaftlern und ergänzte seine Kenntnisse autodidaktisch. Im Alter von 22 Jahren nahm er an Bord des Forschungsschiffs „Beagle“ an einer fünfjährigen Expedition teil. Ziel der Expedition war es, die Küste Südamerikas zu erforschen und zu kartieren ( Box 6.1). Während dieser Expedition sammelte er große Mengen Material und etliche geologische und biologische Daten, die später seine wissenschaftliche Meinung bedeutend beeinflusst haben. Als 30-Jähriger heiratete er. Obwohl er aus gesundheitlichen Gründen nach drei Jahren mit seiner Familie nach Downe auf das Land zog und London nur noch selten besuchte, pflegte er intensive Korrespondenzen mit in- und ausländischen Naturwissenschaftlern und verfolgte die wissenschaftliche Literatur. Um 1837 begann er, seine Theorie der Evolution zu formulieren ( Box 1.3). 1844 handelte er seine Theorie auf 230 Seiten ab, sammelte aber in den folgenden Jahren systematisch weitere Beweise und Argumente für seine Theorie. Gleichzeitig versuchte er, seine wissenschaftliche und gesellschaftliche Position zu stärken, um seine unkonventionelle Meinung leichter publizieren und verteidigen zu können. Er hat das Werk jedoch nicht in der geplanten Form und dem beabsichtigen Umfang publiziert, da ihm 1858 ein anderer britischer Biologe, Alfred Russel Wallace ( S. 14), ein Manuskript seiner eigenen Arbeit mit der Bitte um Beurteilung und eventuelle Publikation zusandte, in der dieser seine Version der Evolutionstheorie beschrieb. Die Theorie von Wallace unterschied sich im Wesentlichen nicht von D.s Theorie. D.s Freunde (insbesondere Charles Lyell, S. 7, Thomas Henry Huxley, S. 14) und der Botaniker Joseph Dalton Hooker, S. 14) richteten es ein, dass das Manuskript von Wallace und D.s Manuskriptauszug von 1844 auf ein- und derselben Sitzung der Linnean Society vorgelesen und beide Vorträge dann in demselbenTagungsband veröffentlicht wurden. D. unterbrach seine Arbeit an dem umfangreichen Werk, um die Publikation einer Kurzversion seines „Artenbuches“, wie er es nannte, vorzuziehen. Seine Evolutionstheorie wurde am 24. November 1859 unter dem Titel On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein) erstmals veröffentlicht. Diese Theorie stellt eigentlich einen Komplex mehrerer Theorien dar ( Box 1.3). D.s Buch stieß auf großes öffentliches Interesse und fand großen Anklang sowohl in wissenschaftlichen Kreisen wie auch in der Gesellschaft. Trotz einiger anfänglicher Kritik wurde D.s Arbeit in der wissenschaftlichen Welt bald anerkannt. Für die Akzeptanz der Evolutionstheorie setzten sich vor allem Joseph D. Hooker, Thomas Huxley und Charles Lyell ein. D. selbst war oft zu krank und verfolgte die Debatten durch seine Korrespondenz. In Deutschland popularisierte und verteidigte E. Haeckel ( S. 15) D.s Ideen. A. Weismann ( S. 15) verhalf ihnen des Weiteren zum Durchbruch. Auch nach der Veröffentlichung der Entstehung der Arten widmete sich D. verschiedenen botanischen und zoologischen Themen und arbeitete weiter an seiner Theorie. Mehr als zehn Jahre später, 1871, publizierte er mit The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl) ein weiteres wichtiges Konzept der Evolutionstheorie, die Theorie der sexuellen Selektion.
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Sechs Theorien von Charles Darwin Unter Darwinismus versteht man die von Darwin begründete Form der Abstammungslehre. Obwohl der Darwinismus häufig nur mit der Selektionstheorie synonymisiert wird, stellt er eigentlich einen Komplex von sechs sich ergänzenden Theorien dar. Die ersten fünf unten aufgelisteten Theorien wurden von Darwin 1859 publiziert, die letzte etwas später, im Jahre 1871. 1) Die Theorie der Evolution von Arten besagt, dass die Arten in der Zeit veränderlich sind. Ähnlicher Ansicht waren vor Darwin auch schon Saint-Hilaire und Lamarck. Erst Darwin hatte jedoch genügend Daten gesammelt, um den Großteil seiner Fachkollegen zu überzeugen. 2) Nach der Theorie der gemeinsamen Abstammung aller Arten sind alle Arten durch Divergenz aus einem gemeinsamen Vorfahren entstanden. Diese Theorie war eine radikale Abkehr von den bisherigen Vorstellungen der unabhängigen Entstehung einzelner Arten – sei sie nun natürlichen oder übernatürlichen Ursprungs. 3) Die Theorie der allmählichen Divergenz der Arten beschreibt die Tatsache, dass sich im Lauf der Zeit die (phänotypischen) Änderungen kumulieren
und sich die Arten daher mehr und mehr voneinander unterscheiden. Diese Erkenntnis hat die systematische Biologie wesentlich beeinflusst. 4) Die Theorie des Gradualismus besagt, dass sich die Arten allmählich, in kleinen Schritten, verändern. Darwin hat die alternative Möglichkeit, den sogenannten Saltationismus, also sprunghafte, plötzliche und größere Änderungen, explizit abgelehnt. 5) Das Kernstück bildet die Theorie der natürlichen Selektion, wonach die natürliche Auslese den Hauptmechanismus der Evolution (Entstehung von adaptiven Merkmalen, Komplexität und biologischer Vielfalt) darstellt. Dieser Theorie brachte die damalige Fachwelt den größten Widerstand entgegen. (Die Alternative war insbesondere die Lamarck‘sche Erblichkeit der durch Gebrauch bzw. Nichtgebrauch erworbenen Eigenschaften.) 6) Die Theorie der sexuellen Selektion wurde von Darwin erst später formuliert. Sie erklärt die Entstehung von verschiedenen biologischen Phänomenen (insbesondere dem sekundären Geschlechtsdimorphismus) durch die intersexuelle Partnerwahl und intrasexuelle Konkurrenz.
punkt der Evolution nicht existiert.* Die Organismen kämpfen eigentlich nicht um das Überleben, wie man meinen könnte, sondern sie konkurrieren um die Fortpflanzung, die Reproduktion. Rehe sind reproduktiv unterschiedlich erfolgreich, denn sie können mit unterschiedlichem Erfolg vor den Luchsen fliehen, und die Luchse pflanzen sich unterschiedlich erfolgreich fort, weil sie unterschiedlich erfolgreich Rehe jagen. Gerade das Bewusstsein, dass es nicht um das Leben, sondern um die Fortpflanzung geht, dass das Leben an sich eine notwendige Bedingung für die Reproduktion ist, ermöglicht es uns, so manches merkwürdige Phänomen zu verstehen, dem wir in der Natur begegnen. Vor allem die verschiedenen Beispiele der Zusammenarbeit, des Betrügens, des Darbietens oder des Protegierens lassen sich leichter vor diesem Hintergrund erklären. Die Evolutionsspiele sind nämlich wesentlich komplizierter, als es uns zunächst erscheinen mag. * Wir möchten ausdrücklich betonen, dass wir damit keineswegs Personen, die aus welchen Gründen auch immer unfruchtbar sind oder die sich bewusst dagegen entschieden haben, Kinder in die Welt zu setzen, angreifen oder beleidigen wollen. Wie wir später noch sehen werden, gibt es auch andere Möglichkeiten, die eigenen Gene in die nächste Generation zu bringen.
Die Organismen konkurrieren um die Fortpflanzung.
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1 Einleitung
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Selektion und Fitness Selektion (vom lateinischen selectio: Auslese, Auswahl) wird häufig als „Kampf ums Dasein“ oder „Überleben der Stärksten“ dargestellt (und missverstanden). Denn eigentlich „kämpfen“ die Organismen nicht um das individuelle Überleben, sondern sie konkurrieren um die Chance, sich fortzupflanzen. Der Konkurrenzkampf wird manchmal sehr lautstark ausgetragen, manchmal spielt er sich ganz leise ab, und häufig ist es nicht der physisch Starke, der gewinnt, sondern der strategisch Bessere. Selektion stellt den zentralen Mechanismus der Evolution dar. Sie beruht auf dem unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg (= Fitness) von selektierten Einheiten (Individuen bzw. Allelen). Üblicherweise vererben die Bestangepassten die meisten ihrer Allele an die Folgegeneration und sind damit die Fittesten. Selektion bedeutet also eine ungleichmäßige Vererbung der von verschiedenen Individuen stammenden Allele in den Genpool der nächsten Generation, und damit im Lauf der Zeit eine systematische, vorhersagbare, nichtzufällige Änderung der Allelfrequenzen in der Population. Die biologische (Darwin‘sche) Fitness (englisch fitness: Eignung, Tauglichkeit) bezeichnet den relativen Fortpflanzungserfolg eines Individuums (bzw. eines Genotyps), also seine Fähigkeit, fortpflanzungsfähige Nachkommen zu zeugen, und zwar gemessen am Erfolg anderer Individuen bzw. Allele (Genotypen). Im neodarwinistischen Sinn handelt es sich somit um eine Zahl, die beschreibt, wie viel weniger Nachkommen dieTräger eines gegebenen Allels im Vergleich zu den Trägern des erfolgreichsten Allels in der Population durchschnittlich pro Leben produzieren. Von dieser sogenannten individuellen Fitness unterscheidet man die Gesamtfitness, die die Träger des eigenen Erbguts (Kinder, Enkelkinder) miteinbezieht, die sich ihrerseits ebenfalls fortpflanzen (können). Die Gesamtfitness (inclusive fitness) eines Individuums ist umso größer, je höher der relative Anteil seines Erbguts in den folgenden Generationen ist, wobei die Beiträge der Verwandten zu diesem Anteil mit dem Verwandtschaftsgrad ( Box 2.13) gewichtet sind. Aus der biologischen Fitness w können wir den Selektionskoeffizienten s berechnen: s = 1 – w. Der Selektionskoeffizient (eine Zahl zwischen 0 und 1) drückt aus, wie sehr dieTräger eines bestimmten Allels von der natürlichen Selektion betroffen sind. Wenn die Selektion ganz und gar gegen ein bestimmtes Allel (Genotyp) arbeitet, sodass dieses Allel nicht in den Genpool der nächsten Generation einfließt, ist s = 1.
Falls s = 0 ist, unterliegt das Allel keiner Selektion: Es ist selektiv neutral ( Box 2.3). Wenn die Träger des Allels A viele Nachkommen hinterlassen (z. B. 100), während dieTräger des Allels B im Durchschnitt nur 60 Nachkommen produzieren, dann beträgt die biologische Fitness der Träger des Allels B 0,6 und der entsprechende Selektionskoeffizient ist 0,4. Fitness und Tautologie Die Opponenten des Darwinismus betonen oft, dass die Definitionen der natürlichen Selektion und der biologischen Fitness einen Zirkelschluss darstellen, wovon sie ableiten, dass der Darwinismus eine tautologische, nicht falsifizierbare und damit nichtwissenschaftliche Theorie sei. Diese Behauptung geht auf den Philosophen Karl Popper zurück (1975), der sie aber später (1978) zurücknahm (was von den Opponenten ignoriert wird). Die Aussage „In der Evolution überleben die Organismen mit der höheren Fitness; höhere Fitness ist eine Eigenschaft, die diejenigen Organismen kennzeichnet, die der Wirkung der natürlichen Selektion besser widerstanden“ ist in der Tat tautologisch, denn der zweite Teil wiederholt schlicht den ersten. (Wir können im erstenTeil „die Organismen mit der höheren Fitness“ durch „die Organismen, die am besten überleben“ ersetzen.) Doch Darwin hat so etwas nie behauptet, und diese Aussage wurde auf die unterschiedlichen Fitnessdefinitionen zurückgeführt. Der Urheber der Metapher „Survival of the fittest“ war Herbert Spencer (1864). Das Missverständnis entsteht dadurch, dass hier einmal Fitness als Anpassung bzw. adaptive Eigenschaft und einmal als „Fortpflanzungserfolg“ definiert wird und dass diese Definitionen gleichgesetzt werden. Darwin hat (im Unterschied zu Lamarck) in seiner Theorie aber nie versucht, irgendeine konkrete Eigenschaft zu bestimmen, die sich im Lauf der Evolution vergrößern würde und die irgendwelche Tendenzen oder Richtungen der Evolution bestimmen würde. Darwin versuchte nur, einen allgemeinen Mechanismus zu finden, der die Evolution erklären könnte. Wichtig ist nun festzuhalten, dass „Fitness“ und „Anpassung“ zwei verschiedene Begriffe sind. Fitness bezeichnet den Fortpflanzungserfolg, der natürlich auf der Angepasstheit beruht. Alternativ könnte man Fitness auch als eine Disposition zum Überleben und zur Zeugung einer gewissen Anzahl von Nachkommen definieren, eine Disposition, deren kausale Basis physiologische, morphologische oder Verhaltenseigenschaften eines Organismus bilden.
1.1 Geschichte, Evolution und Evolutionsgeschichten
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Darwins Erklärung der Entstehung der zweckmäßigen Eigenschaften ist also einfach und irgendwie selbstverständlich: Die zweckmäßigen Eigenschaften sehen wir deshalb um uns herum, weil die unzweckmäßigen nicht erhalten blieben. Es ist erstaunlich, dass der Darwinismus erst so spät aufkam. Außer Darwins unbestrittener Genialität kann hier noch ein anderer Grund angeführt werden. Erst die Welt, in die Darwin hineingeboren wurde, die Welt des wilden Liberalkapitalismus an der Wende des 18./19. Jahrhunderts, ermöglichte es, einige offenkundige Erscheinungen näher zu betrachten und sich ihrer Bedeutung bewusst zu werden. Jeder Gärtner, der ein Beet jätet, ist mit den grundlegenden Prinzipien des Darwinismus konfrontiert: Auf einem Beet gibt es mehr junge Pflanzen, als dort stehen können, nachdem sie ausgewachsen sind; verschiedene Pflanzen haben unterschiedliche Eigenschaften, und daher haben sie auch unterschiedliche Chancen, in der Zukunft erfolgreich zu sein (z. B. „erfolgreich“ hinsichtlich der Menge und Qualität der Früchte, die sie produzieren). Und so unterscheiden sich auch ihre Überlebenschancen, wobei jeder Gärtner glaubt, dass die ausgewählten Pflanzen ihre guten Eigenschaften an ihre Nachkommenschaft übertragen werden. Natürlich sind auch die Antike, das europäische Mittelalter oder die traditionelle chinesische Gesellschaft dem Prinzip von Fortpflanzung, Erblichkeit und Auslese begegnet, auf dem Darwin seine Vorstellung der Welt gebaut hat. Allerdings dachte man damals anders, und niemand wusste diese Erscheinungen richtig einzuordnen; vielleicht hat man sie als Trivialitäten aus dem Leben von Gärtnern und Taubenzüchtern abgetan, nicht jedoch als Säulen, auf denen die Geschichte der Welt steht, erkannt. Wissenschaftliche Wahrheiten entdecken Menschen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Doch eins muss man stets im Auge behalten: Auch das Bild von der Welt, das die heutige Version des Darwinismus zeichnet, ist sicher in | 1.5 |
Typen der Selektion I Nach der Art der Selektionskräfte unterscheidet man natürliche Selektion: • Naturselektion (Umweltselektion) durch abiotische und biotische Umweltfaktoren (z. B. kaltes Klima führt zur Körpervolumenzunahme und zur Verdichtung des Fells) • sexuelle Selektion durch intersexuelle Partnerwahl und intrasexuelle Konkurrenz (z. B. Weibchen der Schwertfische bevorzugen längere Schwerter auf der Schwanzflosse, Konkurrenz um die Weibchen führt bei Männchen mancher Tierarten zur Körpervergrößerung, Entwicklung verschiedener Waffen) • elterliche (parentale) Selektion durch die Eltern (z. B. Eltern mancher Vogelarten füttern bevorzugt Küken mit gelben Rachen)
künstliche Selektion: • Zuchtwahl durch den Menschen, um gewünschte Eigenschaften bei Tieren oder Pflanzen zu erzielen (z. B. Zahmheit, schnelles Wachstum, Schnelligkeit, große Gelegegröße, ornamentales Federkleid, große süße Früchte oder Kälteresistenz bei Pflanzen usw.) Darwin benutzte den Begriff natural sowohl im breiteren Sinn von „natürlich“ (als Gegensatz zur künstlichen Selektion durch den Menschen) wie auch im engeren Sinn von „Natur-“ (heute würde man eher „Umwelt-“ sagen) als Gegenstück zur sexuellen Selektion, die ja, streng genommen, auch natürlich ist.
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Alfred Russel Wallace Lebensdaten: 1823–1913 Nationalität: britisch Leistung: Naturforscher, der unabhängig von Charles Darwin ( S. 10) die Ideen zur natürlichen Selektion entwickelte, Darwin stimulierte und zum Durchbruch des Darwinismus beitrug. W. kann zudem als Begründer der Biogeographie gelten. Er bereiste Südamerika und Indonesien, sammelte intensiv Tiere und Pflanzen und entdeckte zahlreiche neue Arten (darunter z. B. den Flugfrosch Rhacophorus nigropalmatus). Er erkannte, dass zwischen den indonesischen Inseln Borneo und Celebes eine biogeographische Grenze existiert, die die Faunen Asiens und Australiens trennt und später nach ihm als „Wallace-Linie“ bezeichnet wurde. W. galt auch als einflussreicher Sozialaktivist.
Thomas Henry Huxley Lebensdaten: 1825–1895 Nationalität: britisch Leistung: Zoologe, vergleichender Anatom, Bildungsplaner, Philosoph. Machtvoller Unterstützer von Charles Darwin (was ihm den Beinamen „Darwins Bulldogge“ einbrachte) und ein Hauptvertreter des Agnostizismus, dessen Begriff er prägte und durchsetzte. Gründer der renommierten Fachzeitschrift Nature (1869). H. erkannte u. a., dass die Vögel von Dinosauriern abstammen und dass Appendicularien Manteltiere sind; auf ihn gehen auch Begriffe wie „Hydrozoa“ oder „Sauropsida“ zurück. T. H. Huxley war Großvater des Schriftstellers Aldous Huxley (Schöne neue Welt), des Biologen und UNESCO-Generalsekretärs Julian Huxley ( S. 31) sowie des Nobelpreisträgers für Physiologie oder Medizin 1963, Andrew Huxley.
Sir Joseph Dalton Hooker Lebensdaten: 1817–1911 Nationalität: britisch Leistung: Botaniker; langjähriger Direktor des Royal Botanic Garden in Kew bei London. H. übernahm die Klassifikation der von Darwin auf den Galápagos-Inseln gesammelten Pflanzen. Er und Darwin waren eng befreundet; zusammen mit T. H. Huxley verteidigte H. Darwins Theorie. Er beschrieb zahlreiche neue Pflanzentaxa, darunter Welwitschia und Kannenpflanze (Nepenthes). Er erkannte die Ähnlichkeiten in der Flora von Südamerika und Australien und nahm an, dass die Kontinente einst durch eine seitdem überflutete Landbrücke verbunden waren.
irgendeiner Weise von der Welt beeinflusst, in der die heutigen Darwinisten leben. In ein paar Jahrhunderten (also mit entsprechendem zeitlichen Abstand betrachtet) werden wir bestimmt erkennen, worin diese Beeinflussung lag. Der Darwinismus ist außerordentlich anziehend, weil er es ermöglicht, Geschichten zu spinnen, die das Gesicht unserer Welt erklären. Das sind Geschichten, die sich im kosmischen Maßstab abspielen (denn die Evolution des irdischen Lebens verläuft in einem Zeitraum, der in der Größenordnung vergleichbar mit dem Alter des gesamten Universums liegt) und in denen gleichzeitig auch darüber entschieden wird, worum es uns Menschen geht:
1.2 Proximate Mechanismen und ultimate Ursachen
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Ernst Haeckel Lebensdaten: 1834–1919 Nationalität: deutsch Leistung: Zoologe, Anatom, Philosoph, Freidenker, Mediziner, Popularisierer. Als Professor der Zoologie an der Universität Jena machte H. die Ideen von Charles Darwin in Deutschland bekannt und entwickelte sie weiter zur Abstammungslehre (Phylogenese). Er führte Stammbäume zur Darstellung des historischen Verlaufs der Evolution in die Biologie ein. H. prägte den Begriff und definierte das Fach Ökologie. Er beschrieb Tausende neuer Arten. H. war ein begnadeter Zeichner, seine Bildtafeln besitzen aufgrund ihrer Naturtreue und Plastizität auch heute noch wissenschaftlichen Wert. Einflussreich war H.s Generelle Morphologie (1866). Besonders bekannt wurde H.s Biogenetisches Grundgesetz („Ontogenese rekapituliert Phylogenese“), die heute allerdings als überholt und widerlegt gilt ( Box 4.18).
August Weismann Lebensdaten: 1834–1914 Nationalität: deutsch Leistung: Zoologe, Evolutionstheoretiker, Wegbereiter des Neodarwinismus ( Box 1.13). Studierte Medizin, arbeitete als Arzt, schließlich Lehrstuhlinhaber für Zoologie an der Universität Freiburg. W. hat als erster die undurchlässige Barriere zwischen der Keimbahn und den somatischen Zelllinien beschrieben und betonte die Tatsache, dass diese Barriere die Lamarck‘sche Evolution ausschließt. Unter der Keimbahn versteht man bei Tieren die Abfolge von Zellen, die, beginnend bei der befruchteten Eizelle (Zygote), im Lauf der Individualentwicklung schließlich zur Bildung der Keimzellen (Eizellen und Spermien) führt. Mutationen in der Keimbahn werden, anders als Mutationen im somatischen Gewebe, an die Nachkommen weitergegeben. Pflanzen besitzen keine präformierte Keimbahnzelllinie.
Überleben und Fortpflanzung. Die nahe und die ferne Vergangenheit, nicht nur die Gegenwart, bestimmen das Gesicht der Welt, und die bestimmenden Ereignisse spielen sich sogar im Leben eines jeden Individuums ab. Ähnlich wie Newton die gewöhnliche menschliche Erfahrung (das Herabfallen der Äpfel) mit den Bewegungen der kosmischen Körper in Zusammenhang brachte, zeigte Darwin den Zusammenhang zwischen dem alltäglichen Ringen und „Streben“ der Lebewesen und der Milliarden Jahre dauernden Entwicklung unseres Planeten auf.
1.2 Proximate Mechanismen und ultimate Ursachen Die Ähnlichkeit zwischen der Evolution der Organismen und der Geschichte der Menschheit ist nicht zufällig. Beides können wir nicht direkt beobachten, beides müssen wir retrospektiv anhand von Überresten rekonstruieren, wobei wir davon ausgehen, dass zwischen Vergangenheit und Gegenwart irgendeine feste und plausible Verbindung existiert. Weil wir unter der egozentrischen Illusion leiden, dass wir unsere eigene Geschichte in gewisser Hinsicht selbst steuern, verführt uns diese Ähnlichkeit zu einem ähnlichen Irrtum über die
Darwin zeigte den Zusammenhang zwischen dem alltäglichen „Streben“ der Lebewesen und der Entwicklung unseres Planeten.
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1 Einleitung
Bei der Untersuchung jedes Lebensphänomens können wir unterschiedliche Fragen stellen.
biologische Evolution. Wir neigen zumindest unterbewusst dazu, die Evolution so zu interpretieren, als ob es den Organismen um etwas ginge, etwa das bewusste Erreichen eines biologischen Ziels. Dann erschrecken wir über den Gedanken eines höheren Ziels und fangen an, unsere Sprache dahingehend zu kontrollieren, dass wir nicht versehentlich sagen, die Evolution verlaufe soundso, um letztendlich zu irgendeinem entfernten, „geplanten“ Ziel zu gelangen. Trotzdem rutschen uns immer wieder die Wörter „um“ und „damit“ heraus, wenn von Evolutionsereignissen die Rede ist. Dabei schränken wir uns hier vielleicht unnötigerweise ein. Jede biologische Frage, die wir uns stellen, können wir auf mehrere Weisen beantworten, die sich gegenseitig nicht widersprechen ( Box 1.6). Die Frage, warum das Nachtigallmännchen singt, können wir von verschiedenen Standpunkten aus beantworten: Der Nachtigallphysiologe sagt „weil die Hormone es dazu antreiben“, der Entwicklungsbiologe antwortet „weil sich bei ihm während der Ontogenese der Singapparat entwickelt hat“, während der Phylogenetiker meint „weil es das Singen von seinen Vorfahren geerbt hat, die auch schon gesungen haben“. Wir können aber auch „zweckmäßig“ antworten, dass das Nachtigallmännchen deshalb singt, um den Nachtigallweibchen zu signalisieren, dass es ein ausgezeichnetes Revier besitzt und sie zur Fortpflanzung vorbeikommen sollen. Das alles ist gleichzeitig wahr, aber uns interessiert üblicherweise die letzte Erklärung: Wozu dient dieses Verhalten der Nachtigall (auch wenn man nicht umhin kommt, die Frage nach dem Mechanismus zu stellen, also zu schauen, wie es letztendlich dazu kommt, dass sich das Tier wirklich so verhält)? Es geht nicht
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Die vier Fragen in der Biologie Nikolaas Tinbergen (1907–1988) war ein bedeutender niederländischer Ethologe, der 1973 zusammen mit Karl von Frisch und Konrad Lorenz ( S. 319) den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt. Er forderte, dass bei der Untersuchung jedes Lebensphänomens die „vier Grundfragen der biologischen Forschung“ berücksichtigt werden sollten. Hierbei entwickelte Tinbergen die Gedanken von Julian Huxley ( S. 31) weiter, die dieser 1915 im Zusammenhang mit Überlegungen zur sexuellen Selektion formuliert hatte. Diese Fragen betrafen die unmittelbaren Ursachen, den Anpassungswert und die Entstehung im Verlauf der Evolution; Tinbergen fügte als vierte die Frage nach der Ontogenese hinzu. 1) Was? 2) Wie? Hierbei wird nach den unmittelbaren (nächsten) Zusammenhängen gefragt, d. h. nach den proximaten (vom lateinischen proximus: der Nächste) Mechanismen oder Wirkursachen. Die Was?-Frage zielt auf die Ontogenese bzw. die Morphologie,
d. h. die Beschreibung der Form, der Struktur, der Organisation, des aktuellen Zustands. Die Wie?Frage fragt nach der Funktion, der Physiologie (der Verursachung). 3) Warum? 4) Wozu? Dies sind die Fragen nach den grundlegenden Zusammenhängen, d. h. nach den ultimaten (vom lateinischen ultimus: der Letzte) Ursachen. Die Warum?-Frage richtet sich an die Phylogenese. Hier geht es um die Klärung der Frage, welche evolutionären Mechanismen die Entwicklung eines Phänomens im Lauf der Evolution hervorgebracht haben, in welcher Abfolge dies geschah und welche Voraussetzungen und Vorbedingungen nötig waren bzw. welche phylogenetischen Zwänge dafür verantwortlich sind, dass die strukturellen Zusammenhänge „so und nicht anders“ geworden sind? „Wozu?“ ist die Frage nach der Adaptation (Anpassungswert). Hier geht es um die Klärung des „Zwecks“ eines Lebensphänomens, d. h. wie es zur Erhöhung der Fitness beiträgt.
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1.2 Proximate Mechanismen und ultimate Ursachen
um das Erreichen des tatsächlichen Zwecks, dessen sich jemand, geschweige denn die Nachtigall selbst, vorher bewusst wäre, sondern um ein Verhalten, das sich als erfolgreich erwiesen hat. „Allele für den Nachtigallgesang“ (in Wirklichkeit sind es sicher Allele vieler verschiedener Gene, die etwas mit dem Nachtigallgehirn, den Hormonen und dem Atmungssystem zu tun haben) werden sich nur dann erfolgreich verbreiten, wenn das Nachtigallmännchen durch seinen Gesang tatsächlich jemanden anlockt. Es geht um den Wettbewerb der Allele, von dem die Nachtigall natürlich nichts weiß – die sitzt nur auf dem Ast und singt, wozu sie durch ihre guten Allele vorprogrammiert ist. Die schlechten Nachtigallallele, die dazu führten, dass ihre Träger nicht gesungen haben, sind nicht mehr da. Neben der Frage, warum etwas geschieht, ist es gewiss auch legitim, zu fragen, wie es geschieht. Nur muss man diese Fragen unterscheiden. Die physiologische oder ontogenetische Erklärung der Nachtigallaktivität bezeichnen wir als „proximat(iv)“ („unmittelbar“), während wir die evolutionäre, „zweckmäßige“ Erklärung als „ultimat(iv)“ („letztlich“) bezeichnen. Im Allgemeinen sind wir auf das Erfüllen von proximaten Aufgaben programmiert, die dem Erreichen der ultimaten Ziele dienen, von denen wir insgesamt nicht einmal ahnen, dass es sie gibt, und die uns eigentlich auch gar nicht interessieren. Ultimate Ziele sind nämlich nicht die Angelegenheit von uns nur vorübergehend existierenden Individuen, sondern die Angelegenheit der langfristig waltenden „Logik“ der evolutionären Mechanismen. So ist z. B. die Fortpflanzung der Individuen offensichtlich vorteilhaft für die Allele, denn nur so können sie überdauern; dagegen vermag kein Individuum durch (sei es auch noch so aktive) Vermehrung seinem Tod zu entgehen (eher umgekehrt) ( Box 1.7). Damit sich die Individuen fortpflanzen, müssen sie | 1.7 |
Physiologische oder ontogenetische Erklärungen bezeichnen wir als „proximat“, evolutionäre, „zweckmäßige“ Erklärungen als „ultimat“.
Die Fortpflanzung ist offensichtlich vorteilhaft für die Allele, nicht jedoch für die Individuen.
Semelpare Tiere: einmal lieben und sterben Semelparie (vom lateinischen semel: einmal) bezeichnet einen Lebenszyklus von Organismen, bei dem sich diese nur einmal in ihrem Leben sexuell fortpflanzen. In den meisten Fällen sterben semelpare Organismen kurz nach der Fortpflanzung. Beispiele für semelpare Organismen sind die ein- und zweijährigen Pflanzen sowie unter den mehrjährigen Pflanzen beispielsweise einige Agaven-Arten, die Talipot-Palme (Corypha umbraculifera), die nach etwa 300 Jahren erstmalig blüht (und dann stirbt), oder Puya raimondii (Bromeliaceae), ein Wahrzeichen Perus, mit dem längsten Blütenstand im Pflanzenreich. Bekannte Beispiele aus dem Tierreich sind Eintagsfliegen (Ephemeroptera): Die erwachsenen Tiere leben meist nur ein bis vier Tage, manchmal nur wenige Minuten. Diese Zeitspanne wird ausschließlich zur Begattung und Eiablage genutzt. Pazifische Lachse (Gattung Oncorhynchus), die im Meer aufwachsen,
nehmen während der Laichwanderung in die Oberläufe der Bäche kaum noch oder keine Nahrung mehr auf und sterben nach dem Ablaichen entkräftet. Unter den Säugetieren sind die Männchen der australischen Breitfußbeutelmäuse (Gattung Antechinus) semelpar: Nach der Paarungszeit sind sie aufgrund der langen, der Überwachung des Weibchen dienenden Kopulationen physiologisch völlig erschöpft. Testosteron- und Corticoidspiegel steigen, das Immunsystem wird supprimiert und bricht zusammen. Direkt nach der Paarungszeit sterben alle Männchen, sodass die Populationen im folgenden Frühjahr ausschließlich aus trächtigen Weibchen bestehen. Der Gegensatz von Semelparie ist Iteroparie (vom lateinischen iterum: wieder), also die mehrmalige Fortpflanzung im Laufe eines Lebens. Die meistenTiere und auch viele Pflanzen sind iteropar. Manchmal ist die Grenze zwischen Itero- und Semelparie nicht eindeutig.
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1.2 Zwischenartliche Adoption: Romulus und Remus, die mythischen Gründer der Stadt Rom, wurden der Sage nach von einer Wölfin gerettet und adoptiert.
Die proximaten Mechanismen sind meistens nicht so strikt, sodass gelegentliche Abweichungen nicht möglich wären.
1 Einleitung
etwas davon haben. Dem Menschen, und offensichtlich nicht nur ihm, bringt zum Beispiel Sex Wohlbehagen, und (mit einiger zeitlicher Verzögerung) stellt sich die Sorge um die kleinen niedlichen hilflosen Wesen ein, die daraus hervorgehen. Die wenigsten Organismen „wollen“ sich fortpflanzen (wenn man einmal vom Menschen absieht), denn ihnen sind die Folgen ihrer sexuellen Aktivität sicherlich nicht klar. Die Nachkommenschaft entsteht meistens versehentlich, weil wir Sex mögen ( Box 1.8). Und wenn die Jungen dann einmal da sind, fangen wir an, sie zu ernähren und zu erziehen, denn wir können nicht umhin, uns um sie zu kümmern ( Box 1.9). Ein Nebenprodukt unseres Wohlbehagens ist dann das Erfüllen des ultimaten Ziels, nämlich die Erhaltung unserer Allele. Man sollte es sich jedoch nicht so vorstellen, dass alle Ereignisse verlässlich auf jenes ultimate Ziel zusteuern. Manche Menschen verschaffen sich ihr Wohlbehagen anders, als es ihre Allele „vorgesehen“ haben. So befolgen die Menschen, die Waisen adoptieren, zwar ganz genau die Befehle ihrer Allele („Ernähre und erziehe!“), allerdings ohne dass sie diesen damit helfen würden, in die nächste Generation zu gelangen; dasselbe kennen wir von manchen soziallebenden Tieren. Noch größer ist der Widerspruch bei zwischenartlichen Adoptionen, die nicht nur auf den Menschen beschränkt sind (der schon mal einen Welpen oder ein Kätzchen großzieht): Wir kennen auch Beispiele, wo eine Löwin ein Antilopenjunges adoptiert hat, ganz zu schweigen von Tarzan, Mogli oder Romulus und Remus (Abb. 1.2). Wir sollten jedoch in diesem Verhalten keinen versteckten adaptiven Wert suchen (was verbissene Ultradarwinisten gelegentlich tun und sich dadurch zum Gespött ihrer Umgebung machen). Es handelt sich nur um unsinnige Äußerungen von proximaten physiologischen und psychologischen Mechanismen, die hin und wieder ihre evolutionäre Rolle nicht erfüllen. Wichtig ist, dass dies nur gelegentlich geschieht: Üblicherweise fressen Löwinnen die Antilopenkitze, Wölfinnen würden Menschen fressen (wie Rotkäppchen beweist) und die Menschen ernähren im Normalfall ihre eigenen Kinder und weigern sich Kuckuckskinder großzuziehen. Warum sind also die proximaten Mechanismen nicht so hart eingestellt, dass eine solche „Entgleisung“ gänzlich unmöglich und die Evolution damit vollkommen logisch wäre? Wahrscheinlich deshalb, weil sich die übermäßige Kompliziertheit des Programms nicht lohnen würde: Üblicherweise reicht es vollkommen, wenn wir uns in zu erwartenden Situationen so verhalten, wie es üblicherweise vorteilhaft ist. Die elterlichen Investitionen sind teuer, und daher wird sicher das Bestreben gefördert, sie möglichst zielgenau einzusetzen, nämlich bei den eigenen Nachkommen. Das Problem ist, dass die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Nachkommen nicht unbedingt einfach sein muss, und das Risiko, die eigenen Kinder fälschlicherweise zu verlassen oder zu töten, nur weil sie ein bisschen anders sind, sehr hoch ist. Es hängt also von der Wahrscheinlichkeit ab, dass im eigenen Nest ein fremder „Nachkomme“ auftaucht. Wenn diese Wahrscheinlichkeit gering ist, sollte man besser das Risiko eingehen und unter Umständen ein fremdes Jungtier mitgroßziehen. Man könnte vielleicht ein „perfektes“ Verhaltensprogramm erfinden, das nie Fehler macht, aber dieses Programm hätte es schon schwer, sich gegen die Konkurrenz von
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Warum pflanzen sich die Menschen fort? John Lennon: »Neunzig Prozent der Menschen auf diesem Planeten, vor allem im Westen, verdanken ihre Existenz einer Flasche Whisky in einer Samstagnacht. Meist bestand nicht die Absicht, Kinder zu haben. Neunzig Prozent von uns sind Missgeschicke – ich kenne niemanden, der ein Kind geplant hat. Wir alle sind Samstagnachtsonderausgaben.« (The Beatles Anthology. Ullstein, München 2000) Miloslav Stingl: »… wenn ich nun die Spuren des Sexuallebens der Steinzeitmenschen erörtere, muss ich gleich am Anfang die vielleicht überraschendste Tatsache erwähnen: einige australische Einheimische oder zumindest Angehörige einiger
lokaler Stämme, verstanden bzw. kannten die Beziehung zwischen Geschlechtsverkehr und Empfängnis nicht. Sie wussten nicht, dass der Mann beim Koitus die Frau befruchtet … Weil also der Geschlechtsverkehr mit der Kinderzeugung nicht in Zusammenhang gebracht wurde, betrachteten die ursprünglichen Australier den Beischlaf nicht als etwas, das von wesentlicher Bedeutung für die Erhaltung des Klans wäre, sondern als eine angenehme Unterhaltung, Freude, die sie sich im möglichst größten Maße und so lange gönnen wollten, wie es ihnen die Gesundheit erlaubt.« (Sex na peti kontinentech [Sex auf fünf Kontinenten]. Jota, Brno 2006)
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Warum lieben wir Babys? Die Kombination von Körpermerkmalen und Verhaltensweisen, die beim Menschen eine als Betreuungsreaktion deutbare Gefühlstönung, Zärtlichkeitshandlungen und insgesamt eine positive Einstellung auslöst, wird als Kindchenschema bezeichnet (Abb. 1.3). Hierzu gehören kindliche Proportionen (relativ großer, runder Kopf mit „Pausbacken“,großen Augen und kleiner Stupsnase), aber auch eine unbeholfene Motorik. Es besteht eine gewisse Parallele zwischen den ins Kindchenschema fallenden Merkmalen und den Jugendmerkmalen vonTieren (z. B. Jugendkleid, Sperrrachen vieler Vögel), die Auslöser für Brutpflegehandlungen darstellen und Aggressionen hemmen (bzw. keine aggressiven Handlungen auslösen). Das Kindchenschema wurde zunächst von Konrad Lorenz (1903–1989, Verhaltensforscher, Nobelpreis für Medizin oder Physiologie 1973 ( S. 319), zusammen mit Karl von Frisch und Niko Tinbergen) postuliert. Erwachsene verhalten sich gegenüber Individuen, die Merkmale des Kindchenschemas tragen, stärker beschützend, fürsorglicher und weniger aggressiv, als sie sich gegenüber Merkmalen älterer Individuen verhalten. Auch sogenannte „Schoßtiere“ des Menschen weisen mitunter eine der Merkmalskombination des Kindchenschemas entsprechende Kopfform auf, und es erscheint nicht ausgeschlossen, dass an ihrer Entwicklung eine bewusste Zuchtwahl beteiligt war. Das Kindchenschema führt wahrscheinlich zu einem Anstieg des Prolaktinspiegels. Prolaktin löst bei allen bislang getesteten Säugetierarten sowie auch bei vielen
anderen Wirbeltieren Brutpflegeverhalten aus, und zwar sowohl bei Weibchen als auch bei Männchen, wenn diese an der Brutpflege beteiligt sind.
1.3 Die wichtigsten Merkmale des von Konrad Lorenz entwickelten Kindchenschemas sind große Augen, hohe Stirn, „Pausbacken“ und „Stupsnase“. Diese Merkmale lösen beim Menschen eine positive, als Betreuungsreaktion deutbare Gefühlstönung aus. (Nach Veselovský 2005)
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1 Einleitung
Die meisten Organismen sind sich weder ihrer Existenz noch ihres Verhaltens bewusst, dennoch „streben“ sie danach, die ultimaten Ziele zu erreichen.
unvollkommenen, aber mehr oder weniger gut funktionierenden Programmen zu behaupten, denn der zusätzlicher Reproduktionserfolg, den es seinen Trägern bringen könnte, ist – falls überhaupt vorhanden – eigentlich ganz gering. Billiger ist es, sich mit den zeitweiligen Fehlern abzufinden. Alles geschieht so, wie es sich in der Vergangenheit bewährt hat und wie es wahrscheinlich auch in der Gegenwart erfolgreich sein wird. Im folgenden Text werden wir immer wieder behaupten, dass der Organismus oder das Allel etwas „will“, sich um etwas bemüht, etwas vermeidet. Ein sehr einfaches Gegenargument wäre, dass die Organismen, geschweige die Allele, natürlich nichts wollen, weil sie sich weder ihrer Existenz noch ihrer Ziele bewusst sind. Aber darum geht es nicht. Die Organismen sind sich bestimmt nicht ihres Verhaltens bewusst, was sie jedoch nicht daran hindert, sich so zu verhalten, dass sie diese ultimaten Ziele, besser oder schlechter, erreichen. Es ist wie mit der Funktion unserer inneren Organe. Die Nieren dienen uns, ohne dass sie sich ihrer Aufgabe bewusst sind. Und nicht nur das: Die Nieren funktionieren, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, ohne dass wir wissen, was und wie sie es machen sollen und ohne dass wir ihre Tätigkeit irgendwie bewusst steuern können. Das ist auch besser so. Jeder vor uns, der sich selbst aktiv um die Funktion seiner Nieren kümmern müsste, wäre bald tot. Eine Pflanze kennt die Struktur von Chlorophyll nicht und trotzdem läuft bei ihr die Photosynthese ab. Ein Hund kann die Bahn des geworfenen Stockes nicht berechnen und fängt ihn trotzdem. Auch in sozialen und sexuellen Beziehungen stellt niemand Berechnungen an, welches Verhalten seinen Allelen zugutekommt. Nur einige Sozialverhaltenstypen sind erfolgreich, andere sind nicht erfolgreich, und falls sie genetisch bedingt sind, haben die Allele, die verschiedene Verhaltenstypen beeinflussen, unterschiedliche Fähigkeit zu überdauern. Der Mensch hat – ähnlich wie die Nachtigall – natürlich eine vollkommene persönliche Freiheit. Üblicherweise nutzt er sie zugunsten seiner Allele, von deren Existenz er aber vielleicht noch nie gehört hat.
1.3 Adaptive Landschaften
Das erfolgreiche Leben eines Individuums führt sekundär zur Anpassung seiner Art.
Die Arten passen sich ihrer Umwelt so an, dass die Individuen dieser Arten im „Fortpflanzungswettbewerb“ unterschiedlich erfolgreich sind. Und sie sind deshalb unterschiedlich erfolgreich, weil sie unterschiedliche Eigenschaften besitzen. Das hat mehrere wichtige Konsequenzen. Vor allem ist es wichtig zu erkennen, dass sich die Arten nebenbei adaptieren, denn die Anpassung einer Art ist die sekundäre Konsequenz des erfolgreichen Lebens eines Individuums, nicht das Ziel eines Individuums. Aber das bedeutet auch, dass das Ergebnis solch einer Anpassung manchmal etwas anders aussieht, als wir es uns vorstellen würden. Die Lebensweisen von Wolf und Löwe ähneln sich mit Sicherheit stärker als die von Wolf und Schimmelpilz, und zwar unabhängig davon, wie wir diese „Ähnlichkeit“ messen. Die Millionen Lebensweisen verschiedener Arten unterscheiden sich selbstverständlich in Millionen verschiedener Parameter, mit denen wir sie beschreiben können. Aber wir können versuchen, diese extrem kom-
1.3 Adaptive Landschaften
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1.4 Bildhafte Darstellung einer Fitnesslandschaft: Die Eigenschaften der Organismen werden in den horizontalen Koordinaten abgebildet. Ändert sich der Phänotyp des Organismus, ändert sich auch seine Position in der Landschaft. Die Höhe beschreibt den Reproduktionserfolg unterschiedlicher Phänotypen: Die Organismen können im Laufe ihrer Evolution nur ihre Fitness erhöhen, d. h. bergauf steigen (z. B. entlang der hier rot, gelb und blau dargestellten „Bergwege“).
plizierte multidimensionale „Struktur“ verschiedener Lebensstrategien in eine vereinfachte zweidimensionale „Karte“ zu transferieren. Eine solche Karte muss unser Wissen von der Welt nicht wesentlich verzerren, sofern in ihr die Lebensweisen von Wolf und Löwe näher beieinanderliegen als die von Wolf und Schimmelpilz. Wenn wir noch eine dritte Dimension hinzufügen – den Erfolg der jeweiligen Lebensweise – entsteht die „adaptive Landschaft“ mit den adaptiven Gipfeln als Orten des Erfolgs und Tälern der tiefen Hoffnungslosigkeit zwischen ihnen ( Box 1.10, Abb. 1.4). Die Position einer Art auf der Karte der adaptiven Landschaft ergibt sich also aus ihren morphologischen, genetischen, ökologischen oder physiologischen Eigenschaften; im Prinzip können es völlig beliebige Eigenschaften sein. Unter Evolution verstehen wir dann irgendeine Veränderung dieser Eigenschaften, also die Verschiebung der Position einer Art auf der Karte. Natürlich können wir in die adaptive Karte von dem Ort ausgehend, wo sich die Art gerade befindet, einen Pfeil in beliebiger Richtung zeichnen. Allerdings geht das nur bei der zweidimensionalen Karte. Bestimmte Änderungen der Eigenschaften der Arten sind nämlich verboten, da die Evolution in einer bestimmten Richtung verläuft: Über die tatsächlichen evolutionären Veränderungen entscheidet die dritte „Höhendimension“, die aus der Karte eine Landschaft macht. Die adaptive Evolution wäre dann ein langsames Hinaufsteigen an den Hängen der adaptiven Berge hin zu ihren Gipfeln. Auf diesem Weg kommt es also zu einer „Verbesserung“ der Organismen, von einer ursprünglichen Art am Bergfuß zu einer abgeleiteten Art am Gipfel. Die Evolution kann adaptive Eigenschaften der Organismen hervorbringen, aber üblicherweise nur allmählich, in kleinen Schritten, mit vielen Übergangsgliedern. Jeder dieser „Zwischenschritte“ muss natürlich ein realer, lebender und sich fortpflanzender Organismus sein. Jeder „Zwischenschritt“ muss lebensfähig sein, und dies zumindest genauso gut wie, wenn nicht sogar besser als sein Vorgänger. Wenn nämlich ein Organismus mit einer neuen Eigenschaft schlechter wäre als sein Vorgänger, könnte er diesen nicht reproduktiv überholen und damit verdrängen, sodass sich die neu erworbene
Die adaptive Landschaft ist ein Modell der Evolution der Organismen in ihrer Umwelt: Die KartenKoordinaten stellen zwei unterschiedliche Eigenschaften der Organismen dar, die Höhe - repräsentiert ihre Fitness.
Mit einer Veränderung der Eigenschaften kommt es zur Verschiebung der Position einer Art auf der Karte der adaptiven Landschaft und damit zur Evolution.
Adaptive Eigenschaften der Organismen entstehen üblicherweise in kleinen Schritten, mit vielen Übergangsgliedern, wobei jeder „Zwischenschritt“ lebensfähig sein muss, und dies zumindest genauso gut wie sein Vorgänger.
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1 Einleitung
Eigenschaft auch nicht durchsetzen kann. Die Folge dieser adaptiven Evolution ist eine bestimmte Festlegung, die Arten können nur zu dem Gipfel emporsteigen, an dessen Fuß sie entstanden sind, und je höher sie gekommen sind, desto geringer wird die Chance, dass sie diesen Gipfel wieder verlassen können und irgendwo anders hin aufbrechen. Auch wenn der benachbarte adaptive Gipfel höher ist (und eine erfolgreichere Lebensweise anbietet), so kann man ihn nicht | 1.10 |
Adaptive Landschaft Die Metapher der „adaptiven Landschaften“ bzw. „Fitnesslandschaften“ führte Sewall Wright ( S. 31) in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts ein. Nach diesem Modell kann man sich die Evolution der Organismen bzw. Populationen in der Umwelt als plastische topographische Karte einer hügeligen Landschaft vorstellen (Abb. 1.4). Die Koordinaten x und y entsprechen den zwei Eigenschaften eines hypothetischen Organismus, z. B. Körpermasse und Laufgeschwindigkeit, oder (im Falle einer Population) den Allelfrequenzen an zwei unterschiedlichen Loci. Die Höhe (z-Achse) beschreibt den Reproduktionserfolg (Fitness) unterschiedlicher Phänotypen oder Genotypen: DieTäler in dieser Landschaft bedeuten einen geringeren Reproduktionserfolg, Berge einen höheren. Die Oberflächenform (Hügeligkeit) der adaptiven Landschaft ist vorgegeben und unabhängig von den Eigenschaften der Organismen; sie bestimmt die Verteilung der Nischen ( Box 6.14) in der jeweiligen Umwelt. Da sich die Umwelt ständig ändert, verschieben sich auch die Gipfel in der Landschaft. Offensichtlich werden unterschiedliche Kombinationen von Eigenschaften, d. h. unterschiedliche Koordinaten, auf unterschiedliche Orte der adaptiven Landschaft abgebildet, weisen somit also unterschiedliche Höhen und damit auch unterschiedliche Fitness auf und sind unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Selektion unterschiedlich vorteilhaft. Durch Mutationen ändern sich die Eigenschaften und damit auch die Koordinaten, sodass die Organismen auf der Karte verschoben werden. Die natürliche Selektion kann nur solche Mutationen fixieren, die einen Organismus in der Ebene der Karte bergauf (also in Richtung eines höheren z-Werts) verschieben. Eine evolvierende Population steigt in der Fitnesslandschaft in vielen kleinen Schritten durch genetische Änderungen bergauf, bis das lokale Optimum erreicht wird. Dort bleibt sie, bis irgendeine seltene Mutation den Weg zu einem neuen,
noch höheren Fitnessgipfel öffnet. Da die Morphologie der Landschaft dynamisch ist, müssen die Organismen (Populationen) den Gipfeln in einer nie endenden Reise folgen. Falls zwischen zwei Gipfeln ein tiefesTal liegt, können die Organismen nicht von einem Gipfel zum anderen gelangen, denn ein Mutant, der an einen tief liegenden Ort geraten ist, wird durch natürliche Selektion eliminiert. So kann es passieren, dass bestimmte Orte auf der Karte der adaptiven Landschaft unbesetzt bleiben (in der Sprache der Ökologen sagt man, dass einige Nischen nicht realisiert werden). Mit anderen Worten, bestimmte Kombinationen von Eigenschaften gibt es nicht, weil ihre Koordinaten in einem Tal mit niedriger Fitness liegen, bzw. selbst wenn sie auf einen Gipfel projiziert würden, wäre dieser nur über ein tiefesTal zu erreichen. Dies bedeutet, dass die Evolution nicht optimiert – dazu müsste sie die Täler in der adaptiven Landschaft überwinden; die Evolution kann nur verbessern. Sie findet auch keine globalen, sondern nur die lokalen Maxima. Es gibt keine Säugetiere, die mithilfe ihrer Ohrmuscheln gleiten oder sogar fliegen könnten. Dieser Gipfel („fliegende Ohren“) ist in der adaptiven Landschaft frei geblieben, denn die Zwischenstufen von Ohrmuscheln normaler Größe zu Ohrmuscheln enormer Größe, die das Fliegen ermöglichen würden, sind selektiv nachteilig. Eventuelle Mutanten befinden sich in den tiefen Tälern der adaptiven Landschaft. Das Wright‘sche Modell ist etwas komplizierter als hier umrissen. Im Prinzip handelt es sich um ein anspruchsvolles mathematisches Modell, bei dem auch weitere Faktoren, u. a. die Populationsgröße, eine Rolle spielen. Das Konzept der Fitnesslandschaft gewann auch für die Methoden der evolutionären Optimierung an Bedeutung. Hierbei versucht man, die Probleme unserer realen Welt (wie z. B. logistische Probleme) durch Nachahmung der Dynamik der biologischen Evolution zu lösen.
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1.3 Adaptive Landschaften
über das Tal hinweg erreichen, denn der Weg hinunter ins Tal würde zumindest vorübergehend einen Sieg der weniger angepassten, also weniger lebensfähigen oder weniger reproduktiv erfolgreichen Individuen bedeuten. Daraus folgt allerdings, dass die Evolution keine vollkommenen, durch und durch optimalen Lösungen anstreben kann, da jeder Evolutionsschritt fest mit einem konkreten „Ort“ in der adaptiven Landschaft verbunden ist. Das ist an und für sich nichts Seltsames (dass die Anerkennung der Bedeutung vergangener – und damit einzigartiger – Änderungen wesentlicher Bestandteil der Evolutionsidee ist, haben wir schon gesagt), aber trotzdem ist es wichtig, sich klar zu machen, dass die allmählichen Änderungen der realen Organismen, die sich zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum abspielen, keine „Ingenieurslösung“ ihrer Probleme sind. Oft können wir uns eine „bessere“ Lösung vorstellen als die von den Organismen tatsächlich umgesetzte, aber was wir uns vorstellen oder nicht vorstellen können, spielt hier keine Rolle. Die Organismen haben bei der Auswahl der Lösungen nicht die notwendige Freiheit, eben weil sie die historische Kontinuität nicht unterbrechen können, die sie mit ihrer Vergangenheit, also mit ihren Vorfahren verbindet. Wenn jede Art unabhängig von allen anderen entstehen würde, könnten die Organismen viel perfekter sein, als sie es sind. Gerade die augenscheinliche Unvollkommenheit der Organismen wird so zu einem „Beweis“ der Evolution. Die so verstandene Evolution ist kein allgemeines Prinzip, das über das Schicksal der Welt herrscht, sondern eine allmähliche Lösung der momentanen Probleme, mit denen die Organismen konfrontiert werden, wobei die alternative Lösung dieser Probleme der Tod des Individuums oder das Aussterben einer Art ist. Wir erwähnen dies, weil es auch Leute gibt, die die evolutionäre Geschichte zu ernst und mystisch nehmen und die EVOLUTION oft groß schreiben, sozusagen als Pendant zu GOTT). Nicht jede „Evolutionstheorie“ ist mit der gegenwärtigen Evolutionsbiologie vereinbar. Die Evolution, wie sie von der Evolutionsbiologie verstanden wird, ist vor allem nicht jemandes Ziel. Die Organismen haben keine Pflicht oder einen Bedarf sich zu ändern und die Arten, die sich langfristig nicht ändern, sind deswegen nicht schlechter als die, die sich
Allmähliche Änderungen der realen Organismen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stellen keine „Ingenieurslösung“ ihrer Probleme dar. Wir selbst können uns oft „bessere“ Lösungen vorstellen.
Die augenscheinliche Unvollkommenheit der Organismen kann als Beweis der Evolution angesehen werden.
1.5 Beispiele für evolutionär ursprüngliche Arten oder Linien, die seit Langem relativ unverändert als Taxa überleben und damit auch Vorteile manch konservativer Eigenschaften zeigen. Von links nach rechts, untere Reihe: Brückenechse, Ginkgo, Quastenflosser, Farne; obere Reihe: Pfeilschwanzkrebs, Skorpion, Hai, Gürteltier.
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1 Einleitung
ständig ändern. Eher ist es umgekehrt: Die stark konservativen Arten sind doch die, die sich nicht zu ändern brauchen, und damit dem am nächsten kommen, was wir vielleicht als „Vollkommenheit“ bezeichnen würden (Abb. 1.5).
1.4 Genetik und Neodarwinismus
Damit die Organismen um den Fortpflanzungserfolg konkurrieren können, muss die Fortpflanzung mit der Vererbung verbunden werden. Die Übertragung der Eigenschaften auf die nächste Generation darf nicht 1:1 erfolgen, damit die Variabilität der Eigenschaften in der Nachkommenschaft gewährleistet wird.
Die Grundlage der biologischen Variabilität, also die primäre Quelle evolutionärer Neuheiten, konnte Darwin nicht erklären.
Damit wir zwischen konkreten Individuen überhaupt einen reproduktiven Wettlauf erwarten können, der seit Darwins Zeiten als Motor evolutionärer Veränderungen gilt, müssen wir ein paar Dinge voraussetzen. Zunächst müssen die Eigenschaften von Generation zu Generation verlässlich weitergegeben werden, weil die Individuen sterblich sind. Ein Individuum muss Nachkommen hinterlassen und die Nachkommenschaft muss ihren Eltern (zumindest einem der Elternteile) mehr oder weniger ähneln. Eine notwendige Bedingung ist also die mit der Vererbung verbundene Fortpflanzung. Diese Bedingung ist natürlich erfüllt, wie auch immer dies erreicht wird (Darwin selbst war sich darüber nicht im Klaren). Eine weitere Bedingung ist aber paradoxerweise gerade, dass die Übertragung der Eigenschaften zwischen den Generationen nicht vollkommen zuverlässig abläuft. Daraus ergibt sich die zufällige Variabilität der Eigenschaften in der Nachkommenschaft, sodass potenzielle Paarungspartner unter verschiedenen Varianten wählen können, wodurch sich die Sieger von den Verlierern im reproduktiven Wettbewerb unterscheiden. Auf diese Weise können die vorteilhafteren Eigenschaften erhalten bleiben, sich in der Population manifestieren und sich allmählich verbessern. Mit jedem Evolutionsschritt unterscheiden sich die Nachkommen sowohl von ihren Eltern wie auch untereinander. Manche dieser Abweichungen beeinflussen ihr Leben (bzw. ihren Fortpflanzungserfolg) nicht, manche verschlechtern es und wiederum andere (die wenigsten) verbessern es. So bekommt die Selektion das Material, mit dem sie effektiv arbeiten kann. Indem sie das Überdauern von nur wenigen Eigenschaften erlaubt, arbeitet die Selektion natürlich gar nicht „zufällig“, sondern sie ist im Gegenteil der Hauptgestalter der Ordnung. Die Natur der biologischen Variabilität, also die primäre Quelle der Evolutionsneuheiten, war der Ursprung einiger Kontroversen, die den Darwinismus Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe begraben hätten. Darwin wusste zwar sehr wohl, dass Variabilität notwendig ist, damit die Selektion verschiedene Alternativen testen kann, aber den Ursprung der Variabilität kannte er nicht. Er nahm an, dass neue Eigenschaften während des Lebens eines Individuums durch das aktive Anpassen an die Umwelt entstehen – solch einen Mechanismus als Hauptmotor der Evolution hatte bereits ein halbes Jahrhundert zuvor JeanBaptiste Lamarck vorgeschlagen. Weiterhin ist Darwin aus Erfahrung davon ausgegangen, dass die variable Nachkommenschaft irgendwie durch Kreuzung der Eltern entsteht, wobei ihm die Prozesse unklar gewesen sein mussten. Die Behauptung, dass Darwins Vorstellungen von Erblichkeit und Entstehung der Variabilität irrtümlich waren, ist allerdings nicht ganz berechtigt, denn Darwin gab eindeutig zu, dass es in diesem Bereich Dinge gibt, die er nicht versteht.
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1.4 Genetik und Neodarwinismus
Die Geburtsstunde der Genetik, die eng mit Darwins Zeitgenossen, dem Brünner Abt Gregor Mendel ( s. u.), verbunden ist, bedeutete für Darwins Theorie zunächst allerdings einen großen Rückschlag. Die Versuche von Mendel zeigten nämlich, dass die Variabilität der Nachkommen nicht mit der Entstehung neuer Eigenschaften zusammenhängt, die dann von der natürlichen Auslese getestet werden können. Für die Variabilität sind vor allem neue Kombinationen von unveränderlichen und gegenseitig unabhängigen „Anlagen“ für diese Eigenschaften verantwortlich, und diese waren schon bei den Eltern vorhanden (obwohl sie bei ihnen vielleicht nicht zum Ausdruck kamen). Eine dieser Anlagen des Nachkommens vererbt der Vater, eine weitere die Mutter, im Nachkommen kommt aber vielleicht auch nur eine von ihnen zum Ausdruck. Die Variabilität entsteht durch die Kombination von etwas bereits Existentem, nicht durch die Entstehung von etwas Neuem, und das Vorkommen von bestimmten Eigenschaften bei den Nachkommen kann man, wenn auch nur statistisch gesehen, voraussagen. (Wir wissen nicht, welcher konkrete Nachkomme welche Eigenschaft erbt, aber wir können sagen, wie viele Nachkommen sie wahrscheinlich haben werden.) Es schien, dass der Darwin‘schen Evolution kein genetisches Material für die Entstehung von etwas wirklich Neuem zugrunde liegt. Darwins Konzept der Evolution haben erst die Mutationen, d. h. die Änderungen der Erbanlagen, gerettet, die Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt wurden. Man stellte fest, dass jene Anlagen, die von einer Generation in die nächste übergehen, nicht ganz unveränderlich sind. Damals wusste niemand, welcher Art diese Anlagen sind und erst recht konnte man nicht ahnen, dass gelegentlich eine Abweichung entsteht, die es vorher nicht gab ( Box 1.11). Als die Kontroversen zwischen dem Darwinismus und der Genetik nach und nach gelöst wurden, entstand in den 20er- bis 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts die neuere Form der Evolutionstheorie, die wir „Synthetische Evolutionstheorie“ oder einfach „Neodarwinismus“ nennen (und die die Evolutionsbiologie bis heute beherrscht) ( Box 1.13, Abb. 1.7). Es kam allmählich auch zu einer Änderung der Sichtweise. Der klassische Darwinismus hat die Auslese unter den Nachkommen der Elterngeneration zugeschoben, ganz einfach deshalb, weil nicht alle Nachkommen ihrerseits eigene Nachkommenschaft zeugen. Wenn wir allerdings die Anlagen für die Eigenschaften der Organismen ins
Johann Gregor Mendel Lebensdaten: 1822–1884 Nationalität: tschechisch Leistung: Begründer der modernen Genetik. Augustinermönch und Naturforscher, der die Regeln der Vererbung beschrieb, die als Mendel‘sche Gesetze (heute Mendel‘sche Regeln) allgemein bekannt sind. In den 20erund 30er-Jahren des 20. Jh. diente Mendels Arbeit als Basis für die moderne Evolutionsbiologie. Mit der Erkenntnis, dass sich die genetische Gesamtinformation eines Organismus aus einzelnen Genen zusammensetzt, wurden Einwände von Gegnern der Selektionstheorie entkräftet. Diese hatten behauptet, dass neu entstandene Merkmale durch „mischende Vererbung“ im Lauf der Generationen ausgedünnt und verschwinden würden.
Mendel zeigte, dass die Variabilität auf neuen Kombinationen von bereits existierenden Anlagen beruht, was für den Darwinismus zunächst einen Rückschlag bedeutete.
Erst mit der Entdeckung der Mutationen wurde klar, wie neue Varianten entstehen können.
Die Vereinigung der Konzepte des Darwinismus und der Genetik führte zum Neodarwinismus (auch „Synthetische Evolutionstheorie“).
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1 Einleitung
Die Populationsgenetik betrachtet die Evolution als Änderung in den prozentualen Anteilen einzelner Erbanlagen in den Populationen. Die natürliche Auslese ist nach neodarwinistischer Auffassung ein Wettbewerb zwischen den verschiedenen Anlagen für die gegebene Eigenschaft. Dabei konkurrieren Allele um einen bestimmten chromosomalen Locus.
1.6 Schema der Proteinbiosynthese anhand der in der DNA verankerten genetischen Information.
Auge fassen, betrachten wir etwas, das sich kaum oder nur selten ändert, und sicherlich nicht bei jedem Fortpflanzungsakt. Es handelt sich also weniger um die Auslese zwischen den Individuen, sondern um die Auswahl zwischen verschiedenen Anlagen in ganzen Populationen, denn verschiedene Individuen tragen dieselben Anlagen in sich (wenn auch in verschiedenen Kombinationen), und unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung einer bestimmten Anlage ist es eigentlich egal, in welchem Körper sie sich gerade befindet. Wenn wir uns mit der natürlichen Selektion auf dieser Ebene beschäftigen wollen, müssen wir die Ausbreitung, Konkurrenz und Überdauerung von nichtveränderlichen oder sich sehr langsam ändernden Anlagen in den Populationen untersuchen. Das war die Geburtsstunde der Populationsgenetik, die Evolution vor allem als Änderung in den prozentualen Anteilen einzelner Anlagen in den Populationen betrachtet. Die Populationsgenetik wurde zu einer wichtigen Gedankenquelle des Neodarwinismus. Die natürliche Auslese ist nach der neodarwinistischen Auffassung ein Wettbewerb zwischen den verschiedenen Anlagen für eine gegebene Eigenschaft. Es konkurrieren allerdings nur solche Anlagen, die wechselseitig alternativ sind, die sich also gegenseitig ersetzen können. Diese alternativen Anlagen nennen wir Allele, und der Satz von sich gegenseitig vertretenden Allelen, die verschiedene Versionen einer Eigenschaft oder Funktion bestimmen, ist ein Gen. Das, wodurch sich die Allele eines Gens unterscheiden, sind die Mutationen; eine Mutation kann aus einem Allel ein anderes Allel machen. So schließt z. B. das „Gen für die Blütenfarbe der Rose“ mehrere konkurrierende Allele ein, z. B. „das Allel für gelbe Blütenfarbe“ und „das Allel für rote Blütenfarbe“. Ihre Konkurrenz besteht darin, real existierenden Rosen, von denen es auf der Welt natürlich eine endliche Anzahl gibt, die entsprechende Ausprägungsform aufzuzwingen. Heute wissen wir, dass wir Gene räumlich identifizieren können, nämlich als bestimmte Loci (Orte) auf den Chromosomen, und dass die Allele, also verschiedene Versionen eines Gens, deshalb konkurrieren, weil an einem Locus eines Chromosoms nicht mehr als eine Variante der jeweiligen Anlage vorhanden sein kann. (Hier stoßen wir zum ersten Mal auf ein bedeutendes terminologisches Problem – unter dem Begriff „Gen“ versteht man in der gegenwärtigen
1.4 Genetik und Neodarwinismus
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| 1.11 |
Genetisches Repetitorium Nach der klassischen Vorstellung beginnt Evolution mit einer zufällig entstandenen, durch Mutationen hervorgerufenen Variabilität. Es handelt sich um kleine Änderungen im „genetischen Material“, also im Molekül der Desoxyribonucleinsäure (DNA), das wir in jedem Zellkern finden. Dieses Kettenmolekül besteht aus vier verschiedenen Bausteinen, den Nucleotiden (konkret Adenosin-, Cytidin-, Guanosin- und Thymidin-Monophosphat). In der Reihenfolge dieser Nucleotide ist die Information enthalten, vergleichbar mit der Information, die in der Anordnung der Zahlen einer Telefonnummer verborgen ist. Eine kleine Abweichung von der richtigen Reihenfolge genügt, und Sie erhalten keine Verbindung zum gewünschten Gesprächspartner. Diese genetische Information wird in eine Reihenfolge von Aminosäuren übersetzt, die schließlich die Proteine, also Eiweiße, bilden. Die Übersetzung erfolgt so, dass jeder konkreten Dreiergruppe der Nucleotide (Basentriplett oder Codon) genau eine Aminosäure entspricht (die Umkehrung gilt jedoch nicht, da dieselbe Aminosäure durch verschiedene Codons bestimmt werden kann). Der eigentliche Prozess der Proteinherstellung besteht aus zwei Schritten: der Transkription (der Synthese von Ribonucleinsäure [RNA] – also eines DNA-ähnlichen Zwischenprodukts – , aufbauend auf der DNA-Information) und der Translation (der Synthese eines völlig anderen Produkts – nämlich des Proteins –, aufbauend auf der RNA-Information) (Abb. 1.6). Das nichtzufällige, systematische Schema, mit dem die Information aus den Nucleinsäuren in die Information der Proteine übersetzt wird, ist der genetische Code, der bei allen Organismen bis auf einige geringe Abweichungen identisch ist. Daher ist es Unsinn, was man immer wieder in Zeitungen liest, dass Wissenschaftler den genetischen Code des Menschen oder des Reises geknackt haben bzw. zu knacken versuchen. Der genetische Code, also die Art der Übersetzung aus der Sprache der Nucleinsäuren in die Sprache der Proteine ist seit Langem bekannt, und das, womit sich die Biologen heutzutage beschäftigen, ist die konkrete Sequenz der Nucleotide im Genom des Menschen oder des Reises. Der genetische Code ist ein einfaches Nucleotid-Aminosäuren-Wörterbuch, in dem es nichts zu lösen gibt. Dagegen stellen die Genome der Millionen von Arten von Organismen Millionen von unterschiedlich langen Büchern dar, von denen bislang nur ein paar Hundert, üblicherweise die kürzeren, gelesen, jedoch nicht verstanden wurden.
Proteine (Eiweiße) sind große und komplizierte Moleküle, die nicht nur eine der Hauptkomponenten der Zellen und der zwischenzellulären Substanz darstellen, sondern insbesondere auch die notwendigen biochemischen Reaktionen ermöglichen, die ohne die Beteiligung von Eiweißkatalysatoren (Enzymen) praktisch nicht ablaufen könnten. Weiterhin bilden Proteine auch die Zellrezeptoren, also Fenster, durch die bestimmte Moleküle aus der Außenwelt kontrolliert in die Zelle eintreten (bzw. an ihrem Zutritt gehindert werden) oder sie fungieren als Signalmoleküle, die Informationen innerhalb der Zelle oder aus der Zelle nach außen übertragen. Ohne Proteine kann also kaum irgendein biologischer Vorgang ablaufen, und die Funktion der Proteine, die unmittelbar durch ihre Aminosäurenstruktur bestimmt ist, geht aus der genetischen Information der DNA hervor. In jeder lebenden Zelle (und der menschliche Körper besteht aus Billionen lebender Zellen) finden wir DNA, die bei der Zellteilung repliziert werden muss. Der alte DNA-Strang wird im Verlauf der Replikation zum Muster für die Synthese zweier neuer Stränge. Beim Kopieren der Information schleichen sich jedoch gelegentlich Fehler ein. Wie schnell das geht, können Sie leicht ausprobieren, indem Sie versuchen das Alte Testament oder den Faust fehlerfrei abzuschreiben. Und da in den nächsten Replikationsrunden die kopierte und somit schon leicht veränderte Version als Muster dient, häufen sich die Kopierfehler allmählich an. Diese Fehler nennen wir Mutationen und sie treten rein zufällig auf. (Die Mutationen können auf der Veränderung der Abfolge der Nucleinbasen oder der Chromosomenstruktur oder -zahl beruhen.) Ändern Mutationen die Struktur des entstehenden Proteins so weit, dass sich auch seine Funktion ändert, so unterliegt diese Funktionsänderung ebenfalls dem Zufall. Manchmal wird die Funktion des Proteins dadurch verschlechtert, manchmal verbessert; oft ändert sich zwar die Struktur, aber die Funktion bleibt unverändert. Entsprechend können wir die Mutationen in negative, positive und neutrale einteilen. Neben den Mutationen, die ganz spontan entstehen, kommen jedoch auch solche Mutationen vor, die durch Umwelteinflüsse (z. B. Chemikalien oder Strahlung) induziert werden. Aber auch diese Mutationen sind in dem Sinne zufällig, als dass sie nicht zielgerichtet zur besseren Anpassung des betroffenen Organismus an die Umwelt führen, die für die Auslösung der Mutation verantwortlich ist.
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1 Einleitung
Die Eigenschaften entstehen nicht völlig aus dem Nichts, sondern aufgrund einer überdauernden Information, die vererblich ist.
Evolutionsbiologie manchmal das „Allel“, manchmal den „Locus“ und manchmal noch etwas anderes). Die „Konkurrenz“ von verschiedenen Allelen desselben Gens ist natürlich kein aktiver oder sogar absichtlich geführter Kampf, es ist lediglich unsere Beschreibung der Tatsache, dass unterschiedliche Allele in der Besetzung von verfügbaren Loci unterschiedlich erfolgreich sind, und dass sie daher unterschiedlich lange in der Population bleiben. Dass verschiedene Erscheinungen (z. B. Merkmale, Funktionen oder Verhaltensweisen) unterschiedlich lange überleben, und dass dies oft auf Kosten der Konkurrenten erfolgt, ist ein ganz allgemeines Prinzip, das alle Erscheinungen, nicht nur die Allele, betrifft. Allerdings ist die Mehrheit der Erscheinungen in der Biologie ohnehin von kurzer Dauer und kann langfristig nicht überleben, weil zum Leben auch der Tod eines Individuums gehört. Im Prinzip haben alle Individuen denselben Lebenslauf: Sie entstehen, vermehren sich und sterben anschließend – Individuen haben keine nennenswerte Geschichte. Formen, Farben, Verhalten und konkrete Kombinationen der Allele in den Zellen gehen mit dem Tod eines Individuums unter. In den einzelligen Stadien, den Keimzellen (Gameten) und im befruchteten Ei (Zygote), die vielzellige Organismen durchlaufen, finden wir weder Formen, Farben noch Verhalten der erwachsenen Individuen, und während der individuellen Entwicklung (Ontogenese) müssen all diese Eigenschaften erneut entstehen. Die Eigenschaften sind dabei vererblich, sodass sie offensichtlich nicht ganz aus dem Nichts entstehen, sondern aufgrund einer überdauernden Information. Daher muss uns interessieren, welche Strukturen oder Informationen den Tod eines Individuums überleben, was also
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Meiose, Rekombination, Segregation Die Meiose, auch Reduktions- bzw. Reifeteilung genannt, ist ein Vorgang, bei dem sich (ausschließlich) die Keimzellen teilen. Bei derTeilung kommt es zur Halbierung des diploiden Chromosomensatzes, sodass anschließend ein haploider Satz vorliegt. Durch die Verschmelzung zweier haploider Gameten entsteht wieder eine diploide Zelle, die Zygote. Die Meiose ist somit die Voraussetzung jeder sexuellen Fortpflanzung, denn ohne sie würde jede nachfolgende Befruchtung zur Verdopplung des Chromosomensatzes führen. Die Meiose ist auch die Grundlage der Entstehung der genetischen Variabilität und Amphimixis (= Mischung von Allelen). Sie ist durch zwei Prozesse gekennzeichnet: die genetische Rekombination und die Segregation. Bei der Rekombination kommt es bei zwei homologen Chromosomen an derselben Stelle zum Bruch der DNA-Moleküle. Die beiden Bruchstücke können sich wieder korrekt verbinden, oder aber der Faden des einen Chromosoms verbindet sich
mit dem Faden des anderen Chromosoms; in diesem Fall kommt es zur Rekombination. Das rekombinierte Chromosomenpaar wird sich nun in der Kombination seiner Allele von den ursprünglichen Chromosomen unterscheiden. Vor der Rekombination konnten wir sagen, dass ein Chromosom vom Vater und das andere von der Mutter stammt. Dagegen enthalten die rekombinierten Chromosomen jeweils einen Teil der Allele vom Vater und einen Teil der Allele von der Mutter. Bei der Segregation trennen sich die Chromosomenpaare und die homologen Chromosome wandern zu den gegenüberliegenden Polen der Zelle. Welches Chromosom des jeweiligen Paares zum einen oder zum anderen Pol der Zelle wandert, bestimmt der Zufall. Auch wenn zuvor keine Rekombination stattgefunden hätte, würde allein die Segregation bereits dafür sorgen, dass jede der neu entstandenen Zellen eine andere Kombination von Allelen trägt als jedes der beiden Elternteile.
1.4 Genetik und Neodarwinismus
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genau von einer Generation an die nächste übergeben wird, was überhaupt in Millionen und Milliarden Jahren der Geschichte der Organismen irgendwie zum Ausdruck gebracht werden kann. Bei den sich geschlechtlich fortpflanzenden Organismen sind dies die einzelnen Allele. Die Genome dieser Organismen, also die Sätze der von den Vätern und Müttern vererbten Allele, werden nämlich nicht im Ganzen an die Nachkommen weitergegeben. Das Genom der jeweiligen Elternteile wird während der Bildung der Keimzellen in einem Prozess, den wir Rekombination nennen, „aufgebrochen“, die ursprünglich väterlichen und die ursprünglich mütterlichen Allele trennen sich voneinander und gehen auf die verschiedenen Nachkommen über, allerdings in neuen Kombinationen ( Box 1.12). Daher ist jeder von uns genetisch einzigartig: Unsere Allele haben wir von unseren Eltern geerbt, aber
1.7 Chronologische Darstellung der Geschichte der Evolutionsbiologie und ihrer Hauptrepräsentanten. Länge und Position der einzelnen Balken entsprechen den Lebensdaten der jeweiligen Wissenschaftler. Der rote Vertikalstrich kennzeichnet das Jahr der Publikation der bedeutenden Entdeckungen bzw. Konzepte.
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1 Einleitung
Hugo de Vries Lebensdaten: 1848–1935 Nationalität: niederländisch Leistung: Botaniker, Genetiker, Pflanzenphysiologe. Einer der Wiederentdecker der von G. Mendel aufgestellten Vererbungsregeln. Mit seinen 1901 und 1903 erschienenen Schriften zur Mutationstheorie gab er der Evolutionsforschung neue Impulse. In ihnen postulierte er, dass eine neue Art außer durch graduelle Evolution auch sprunghaft entstehen kann (Saltationismus). Was de V. als „Mutation“ bezeichnete, entspricht jedoch nicht ganz dem heutigen Begriff der genetischen Mutation.
William Bateson Lebensdaten: 1861–1926 Nationalität: britisch Leistung: Genetiker und Hauptpopularisierer der Ideen von Gregor Mendel. B. prägte die Begriffe „Genetik“, „Epistase“, „Homeosis“. Zusammen mit Reginald Punnett entdeckte er die Genkopplung, also das Phänomen, dass manche durch Gene kodierte Merkmale stets gemeinsam vererbt werden. Wie de Vries war er ein Vertreter des Saltationismus.
Thomas Hunt Morgan Lebensdaten: 1866–1945 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Genetiker, Embryologe. Durch Kreuzungsversuche und Studien von Mutationen bei der Taufliege Drosophila melanogaster klärte M. die grundlegende Struktur der Chromosomen auf. Er zeigte, dass Gene hintereinander auf den Chromosomen liegen und ermittelte ihre Reihenfolge und Abstände zueinander. Der genetische Abstand zweier Loci auf einem Chromosom wird in der nach ihm benannten Einheit Centimorgan bestimmt und bildet die Grundlage für die Chromosomenkarten (Genkarten). 1933 erhielt er den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Dank seiner Arbeit wurde Drosophila zu einem Modellorganismus in der Genetik.
Sir Ronald Aylmer Fisher Lebensdaten: 1890–1962 Nationalität: britisch Leistung: Einer der bedeutendsten theoretischen Biologen, Genetiker, Evolutionstheoretiker und Statistiker des 20. Jh. und einer der Mitbegründer der Populationsgenetik. F. trug wesentlich zur Entstehung des Neodarwinismus bei. Er führte u. a. das Maximum-Likelihood-Prinzip und das statistische Verfahren der Varianzanalyse (ANOVA, ANalysis Of VAriance) ein. Nach ihm ist die sogenannte F-(Fisher)Verteilung benannt. Er entwickelte Konzepte zur sexuellen Selektion, zur Mimikry und zur Evolution der Dominanz. F. zeigte, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutation die Fitness des Organismus erhöhen wird, mit dem Ausmaß der Mutation sinkt. Er bewies, dass größere Populationen mehr Variation tragen und damit höhere Überlebenschancen haben als kleinere. Einflussreich war sein Buch The Genetical Theory of Natural Selection (1930), das eine mathematische Grundlage für die Evolutionsgenetik lieferte.
1.4 Genetik und Neodarwinismus
John Burdon Sanderson Haldane Lebensdaten: 1892–1964 Nationalität: britisch Leistung: Theoretischer Biologe, Genetiker, Physiologe, Biochemiker, Mathematiker und Mitbegründer der Populationsgenetik, der wesentlich zur Entstehung des Neodarwinismus beitrug. H. war auch Psychologe, Wissenschaftspopularisierer und politischer Aktivist. Er hat Anfang der 30er-Jahre die natürliche Selektion wieder als den Hauptmechanismus der Evolution eingeführt und mit den Mendel‘schen Regeln mathematisch begründet.
Sewall (Green) Wright Lebensdaten: 1889–1988 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Theoretischer Biologe, Genetiker und Mitbegründer der Populationsgenetik, der wesentlich zur Entstehung des Neodarwinismus beitrug. W. formulierte die Theorie der genetischen Drift (shifting balance theory) und betonte die Bedeutung der Wechselwirkung von genetischer Drift und natürlicher Selektion für die Evolution. W. führte die Metapher der „Fitnesslandschaft“ ein. Er entwickelte eine Formel, die das Ausmaß der Inzucht innerhalb einer Population beschreibt (Inzuchtkoeffizienten) und beschrieb viele Anwendungen. W. übertrug die natürliche Selektion auf die Tier- und Pflanzenzucht.
Theodosius Grygorovych Dobzhansky Lebensdaten: 1900–1975 Nationalität: ukrainisch, lebte und arbeitete seit 1927 in den USA Leistung: Genetiker, Evolutionsbiologe, einer der Architekten des Neodarwinismus. Er war Mitarbeiter von Thomas Hunt Morgan. D. untersuchte als erster die Genetik auch von wilden Taufliegen. 1937 publizierte er Genetics and the Origin of Species, ein einflussreiches Grundlagenwerk zum Neodarwinismus, in dem die Evolution als „Änderung in der Frequenz von Allelen innerhalb des Genpools“ beschrieben wird. Er betonte die Rolle der Mutationen in der natürlichen Selektion. Berühmt ist sein Zitat: »Nothing in biology makes sense except in the light of evolution«.
Sir Julian Sorell Huxley Lebensdaten: 1887–1975 Nationalität: britisch Leistung: Enkel von Thomas Henry Huxley, Zoologe, Verhaltensbiologe, Ornithologe, Evolutionsbiologe, Humanist, internationaler Aktivist, bedeutender Wissenschaftspopularisierer, einer der Architekten des Neodarwinismus. H. war der erste Direktor der UNESCO und Gründungsmitglied des World Wildlife Fund. Bedeutend sind auch seine Ideen zur sexuellen Selektion und zur ökologischen Genetik. Er prägte u. a. die Begriffe „Klade“, „Kline“, „ethnische Gruppe“, „Morph“, „Ritualisierung“.
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1 Einleitung
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Synthetische Evolutionstheorie alias Neodarwinismus Der Neodarwinismus wird insbesondere in Deutschland auch unter dem Namen „Synthetische Evolutionstheorie“ (bzw. „Moderne Synthese“, „Moderne Evolutionssynthese“, „Neue Synthese“, „Neodarwinistische Synthese“) geführt (manche Wissenschaftshistoriker scheinen die Nachsilbe ismus nicht zu mögen). Der Begriff „Neodarwinismus“ wurde von George John Romanes geprägt und bezeichnete die von Alfred Russel Wallace ( S. 14) vertretene Evolutionstheorie. (Wallace lehnte das Lamarck‘sche Konzept ( Box 2.32) der Vererblichkeit von erworbenen Merkmalen kategorisch ab, was Darwin selbst nicht so konsequent gehandhabt hatte.) Der prominenteste Vertreter des Neodarwinismus dieser Zeit war August Weismann ( S. 15), der mit seinem Konzept der Keimbahn als erster auf die Barriere zwischen somatischen und generativen Zellen hinwies und somit zeigte, dass bei den Organismen, bei denen diese Barriere besteht (d. h. beiTieren), die Lamarck‘sche Evolution effektiv unmöglich ist. Häufig versteht man unter diesem Begriff jedoch das Konzept, das Julian Sorell Huxley ( S. 31) und Ernst Mayr ( s. u.) in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts der Öffentlichkeit vorstellten. Es vereinigt die Abstammungslehre von Charles Darwin (wobei der natürlichen Selektion die größte Bedeutung in der Evolution eingeräumt wird) mit den Erkenntnissen der Entwicklungs- und Zellbiologie (beeinflusst insbesondere durch August Weismann), Genetik (Gregor Mendel, S. 25, Hugo de Vries, William Bateson und Thomas Hunt
Morgan, S. 30) und Populationsgenetik (Ronald Aylmer Fisher, John Burdon Sanderson Haldane und Sewall Wright, S. 30–31) sowie der phylogenetischen Systematik und Paläontologie (insbesondere George Gaylord Simpson, S. 33). Es soll allerdings betont werden, dass das eigentliche Wesen der Synthese (und damit des Neodarwinismus) in der Vereinigung des Darwinismus mit der Genetik liegt, und zwar durch das Konzept der unterschiedlichen Ausbreitung der Allele in der Population. Darin liegt des Pudels Kern: Dass die Synthese auch die paläontologischen, systematischen und andere Daten einschließt, wird zwar in allen Abhandlungen zu diesem Thema traditionell betont, ist jedoch an sich nicht verwunderlich, denn evolutionäres Denken hat sich zu jeder Zeit, also nicht nur zur Zeit der großen Synthese, mit den Phänomenen aus allen Gebieten der Biologie einschließlich der Embryologie, Paläontologie, Biogeographie usw. auseinandersetzen müssen. Zu den einflussreichsten Vertretern des Neodarwinismus, die zu der Evolutionssynthese auch maßgeblich beigetragen haben, zählenTheodosius Dobzhansky (Genetiker und Systematiker, S. 31), Julian Sorell Huxley (Ornithologe und Verhaltensbiologe, S. 31), Ernst Mayr (Ornithologe und Systematiker, s. u.), Bernhard Rensch (Ornithologe und Verhaltensbiologe, S. 33), Iwan Iwanovitsch Schmalhausen (Tiermorphologe, S. 33), George Gaylord Simpson (Paläontologe und Mammaloge, S. 33) und George Ledyard Stebbins (Botaniker, S. 33).
Ernst Walter Mayr Lebensdaten: 1904–2005 Nationalität: deutsch, lebte und arbeitete seit 1931 in den USA Leistung: Zoologe, Ornithologe, Taxonom, Wissenschaftshistoriker, Philosoph, einer der bedeutendsten und einflussreichsten Evolutionsbiologen des 20. Jh., Neodarwinist. Seine Freilandforschung führte er vor allem in Neuguinea und auf den Solomon-Inseln durch. Besonders bekannt ist M. für sein Konzept der biologischen Art als Fortpflanzungsgemeinschaft, sein Konzept der Artbildung (ausformuliert im Buch Systematics and the Origin of Species, 1942), das insbesondere die Rolle der peripatrischen Speziation (als eine Sonderform der allopatrischen Artbildung) betont. Weiterhin bedeutend sind seine philosophischen Abhandlungen zur Typologie und zum Essentialismus.
1.4 Genetik und Neodarwinismus
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Bernhard Rensch Lebensdaten: 1900–1990 Nationalität: deutsch Leistung: Ornithologe, Verhaltensbiologe, Evolutionsbiologe, einer der Architekten des Neodarwinismus, den er in Deutschland popularisierte. Seine Freilandforschung führte er vor allem auf den Kleinen Sunda-Inseln und in Indien durch. 1929 publizierte R. das Buch Das Prinzip geographischer Rassenkreise und das Problem der Artbildung, in dem er die Beziehung zwischen der Geographie und Artbildung diskutierte, und das u. a. Ernst Mayr beeinflusste. R. war Ordinarius für Zoologie und Direktor des Zoologischen Instituts an der Universität Münster. Er führte die Idee ein, dass alle Evolutionsereignisse oberhalb der Artebene nur evolutionäre Konsequenzen und Nebeneffekte der Ereignisse sind, die auf intraspezifischer Ebene ablaufen.
Iwan Iwanowitsch Schmalhausen (Šmalgauzen) Lebensdaten: 1884–1963 Nationalität: ukrainisch Leistung: Morphologe, Entwicklungsbiologe, Neodarwinist. Seine Karriere und Forschung wurden 1948 durch stalinistische Repressionen zerstört, da er als Befürworter der Lehren von Weismann und Morgan dem vom sowjetischen Staat protegierten Lysenkoismus ( Box 2.32) widersprach. Sein Buch Faktory evoljucii wurde 1949 ins Englische übersetzt (Factors of Evolution) und avancierte zu einem einflussreichen Werk. Schmalhausens Gesetz beschreibt das Prinzip, dass eine Population, die an der Grenze der Toleranz, also unter ungünstigen oder extremen Bedingungen, lebt, auch verletzlich gegenüber kleinen Veränderungen in anderen Bereichen ist.
George Gaylord Simpson Lebensdaten: 1902–1984 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Zoologe, einer der einflussreichsten Paläontologen des 20. Jh., Neodarwinist. S. war Experte für ausgestorbene Säugetiere und ihre interkontinentalen Wanderungen und widerlegte den Mythos der linearen Evolution der Pferde. Seine bedeutenden und einflussreichen Werke waren Tempo and Mode in Evolution (1944) und Principles of Classification and a Classification of Mammals (1945).
George Ledyard Stebbins, Jr. Lebensdaten: 1906–2000 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Botaniker, Genetiker, Evolutionsbiologe, einer der Architekten des Neodarwinismus. In seinem bedeutendsten Buch Variation and Evolution in Plants (1950), brachte er die Genetik und die Theorie der natürlichen Selektion zusammen, um die Artbildung bei Pflanzen zu erklären. Er erweiterte die Evolutionsbiologie um die botanischen Aspekte und führte das evolutionäre Denken in die Botanik ein. Bedeutend und einflussreich war seine Forschung u. a. zur Hybridisierung, zur Polyploidie und zur adaptiven Radiation.
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1 Einleitung
Die Rekombination vernichtet einzigartige Genome genauso effektiv wie der Tod. Grundeinheiten der Evolution sind Allele, weil nur sie die Chance haben, in die nächste Generation zu gelangen.
keiner unserer Vorfahren besaß unsere einzigartige individuelle Kombination der Allele, unsere Geschwister haben sie nicht – von der seltenen Ausnahme eineiiger Zwillinge einmal abgesehen – und auch unsere Nachkommen werden sie nicht haben. Die Rekombination vernichtet einzigartige Genome genauso effektiv wie der Tod. Die Allele sind die Grundeinheiten der Evolution, weil nur sie die Chance haben, in die nächste Generationen zu gelangen. Wenn die Allele ihre Identität beim Wechsel in die nächste Generation nicht beibehielten, z. B. wenn sie sich bei der Entstehung jeder neuen Generation ändern würden, könnten wir uns mit ihnen nicht beschäftigen, denn wir würden sie gar nicht als bemerkenswerte Einheiten sehen.
1.5 Postneodarwinismus und Genozentrismus
In den 60er- und 70erJahren des 20. Jh. wurden die Konzepte der neutralen Evolution, des unterbrochenen Gleichgewichts und insbesondere die genozentrische Sichtweise in die Evolutionsbiologie eingeführt (Postneodarwinismus).
Die 60er- und 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts brachten eine gewisse Verschiebung in der Evolutionsbiologie. Die Entfaltung der Molekularbiologie machte es erforderlich, Evolutionsprozesse auch auf der molekularen Ebene, also außerhalb der direkten Reichweite der Selektion, zu erklären. Den Beginn des Interesses der Biologen an diesem Aspekt der Evolution markiert das Konzept der neutralen Evolution, also der Form der Evolution, die durch zufällige genetische Drift ( Box 2.3) abläuft. Mit der Frage der Fixierung selektiv neutraler Merkmale beschäftigte sich Sewall Wright als erster ( S. 31). Erst die Molekularbiologie zeigte aber, wie wichtig dieser Prozess ist: Möglicherweise werden viel mehr Merkmale durch Gendrift als durch Selektion fixiert; zudem interagieren Gendrift und Selektion in bedeutendem Maß. Die neuen molekularbiologischen Methoden haben es erst ermöglicht, diese Prozesse auch zu erforschen. Als Pionier des Studiums der Molekularevolution kann der japanische Genetiker Motoo Kimura ( S. 35) bezeichnet werden, der wesentlich zur Theorie der neutralen Evolution ( Abschnitt 2.3) beigetragen hat. Für große Aufregung und viele Diskussionen sorgte die Arbeit der Paläontologen Niles Eldredge ( S. 403) und Stephen Jay Gould ( S. 35) im Jahre 1972. Sie zeigten, dass die Evolution der Arten – entgegen der Annahme des neodarwinistischen Modells der Evolution – einen disjunkten Charakter hat. Die Arten ändern sich meistens nur kurz nach ihrer Entstehung und für die weitere Dauer ihrer Existenz ist die evolutionäre Stasis (Stillstand) charakteristisch. Stephen J. Gould wurde zu einem ausgesprochenen Kritiker des Adaptationismus und Selektionismus (S. 341), was manchmal fälschlicherweise als Kritik am Darwinismus interpretiert wurde. Doch in der Tat verlangte er die Rückkehr zur pluralistischen Betrachtungsweise, die typisch für den klassischen Darwinismus war, aber in der Ära des Neodarwinismus verloren ging. Doch trotz des großen Einflusses von Gould (den Höhepunkt seiner Bekanntheit zu Lebzeiten erreichte er in einem Gastauftritt in der Kult-Fernsehserie „Die Simpsons“) sind die Betonung der allmächtigen Selektion und der unkritische Glaube an die Angepasstheit der Merkmale weiterhin charakteristisch für den Postneodarwinismus.
1.5 Postneodarwinismus und Genozentrismus
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Allerdings fokussierte sich die neue Generation der Forscher in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts eher auf das „Schicksal“ der Allele als auf das Schicksal der Individuen, was zur „genozentrischen Revolution“ (genau genommen, sollte man eher „allelozentrisch“ sagen) in der Evolutionstheorie führte. Diese ist mit den Namen von George C. Williams ( S. 36), William D. Hamilton ( S. 36), Edward O. Wilson ( S. 36), John Maynard Smith ( S. 37) und Richard Dawkins ( S. 37) verbunden. Es handelt sich um nichts Geringeres, als den Umsturz der traditionellen biologischen („organismozentrischen“) Sichtweise. Die Evolution können wir demzufolge nicht als ein Spiel zwischen den Individuen betrachten, die darum wetteifern, wer sich häufiger fortpflanzt, wobei die Allele dem jeweiligen Organismus als Anlagen für seine individuelle Vorzüglichkeit dienen, also eigentlich Waffen sind; die Evolution ist vielmehr ein Spiel zwischen den Allelen, die um das Überleben mittels ihrer Körper wetteifern, die sie zu diesem Zweck bilden. Bei dieser Betrachtungsweise rückt das Verhalten der Organismen mehr und mehr in den Vordergrund des evolutionsbiologischen Interesses (zu Lasten der Morphologie). Die klassische Ethologie hat die Phylogenese und die Angepasstheit der Verhaltensmuster in ihren Erklärungsparadigmen betont. Anders als die klassischen Ethologen lehnte die neue Generation der Soziobiologen ( Box 1.14) die Idee der Gruppenselektion völlig ab: Sie haben die Rolle der individuellen Selektion durch die Idee der Genselektion ersetzt, die Bedeutung der sexuellen Selektion betont und die evolutionären Überlegungen um den spieltheoretischen
Nicht die Konkurrenz zwischen Individuen, die aufgrund ihrer Allele besonders gut angepasst sind, ist ausschlaggebend, sondern die Konkurrenz zwischen Allelen, die mithilfe der Körper überleben, die sie zu diesem Zweck bilden. Eine wichtige Richtung, die sich im Rahmen des Postneodarwinismus differenzierte, ist die Soziobiologie. Die Idee der Gruppenselektion („zum Wohl der Art“) ist nicht haltbar.
Motoo Kimura Lebensdaten: 1924–1994 Nationalität: japanisch Leistung: Populationsgenetiker, Evolutionsbiologe. K. kombinierte die theoretische Populationsgenetik mit der Molekularbiologie und begründete die neutrale Theorie der molekularen Evolution, die besagt, dass die überwiegende Mehrheit der genetischen Änderungen selektiv neutral ist (also der natürlichen Selektion nicht unterliegt). Aus der Neutraltheorie lässt sich ableiten, dass neutrale Mutationen mit einer konstanten Rate erfolgen, worauf die heute in der Evolutionsforschung oftmals verwendete molekulare Uhr beruht.
Stephen Jay Gould Lebensdaten: 1941–2002 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Evolutionsbiologe, Paläontologe, Geologe, sehr einflussreicher Popularisierer der Evolutionsbiologie. Seine zahlreichen Bücher sind (zum größten Teil) auch auf Deutsch erschienen und wurden zu Bestsellern. G. propagierte die Theorie des „unterbrochenen Gleichgewichts“ (punctuated equilibrium oder Punktualismus), die er 1972 zusammen mit Niles Eldredge ( S. 403) publiziert hatte. Mit Richard. C. Lewontin ( S. 340) veröffentlichte er 1979 den viel zitierten Artikel „The Spandrels of San Marco and the Panglossian paradigm“, der eine starke Kritik am Adaptationismus enthält ( Box 5.21). 1982 prägte G. mit Elizabeth Vrba ( S. 322) den Begriff „Exaptation“. G. betonte die Rolle des Zufalls und der phylogenetischen Zwänge.
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1 Einleitung
George C. Williams Lebensdaten: geb. 1926 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Evolutionsbiologe, Zoologe (insbesondere Ichthyologe), Ökologe. Mit seinem Buch Adaptation and Natural Selection (1966) löste W. die genozentrische Revolution in der Evolutionsbiologie aus. Er leistete wesentliche Beiträge zur Evolution der Sexualität. Richard Dawkins machte die Gedanken von W. in seinem Buch Das egoistische Gen populär und erweiterte sie. Williams ist auch als Kritiker der Gruppenselektion und einer der Begründer der Evolutionsmedizin bekannt.
William Donald („Bill“) Hamilton Lebensdaten: 1936–2000 Nationalität: britisch Leistung: Verhaltensbiologe, Genetiker, Evolutionsbiologe, theoretischer Biologe und einer der „Architekten“ der genozentrischen Revolution in der Evolutionsbiologie. Berühmt wurde H. für seine theoretische Arbeit, welche die genetische Grundlage für die Existenz der Verwandtenselektion (kin selection) lieferte und den Altruismus erklärte. Er inspirierte etliche Konzepte, die jedoch in der Regel mit anderen Namen assoziiert werden. Das Konzept der Verwandtenselektion öffnete den Weg der Soziobiologie von Edward O. Wilson. H.s Ideen in der Arbeit über „Extraordinary sex ratios“, 1964 in der Zeitschrift Science erschienen, wurden später von John Maynard Smith und George R. Price zum Konzept der evolutionär stabilen Strategien (EES) weiterentwickelt. Seine Theorie der Allelenkonkurrenz wurde von Richard Dawkins als „egoistisches Gen“ bekannt gemacht und weiterentwickelt. H. hat grundlegende Ideen zur Evolution der Geschlechtlichkeit und der Alterung entwickelt. Er starb an Malaria, mit der er sich im Kongo ansteckte, als er dort nach Beweisen für eine unorthodoxe Hypothese zur Herkunft der AIDS-Epidemie suchte.
Edward O. Wilson Lebensdaten: geb. 1929 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Entomologe, Evolutionsbiologe, Ethologe, Ökologe, Begründer der Soziobiologie (er prägte den Begriff 1975) ( Box 1.14). Bekannt durch seine Beiträge zu Forschung und Schutz der Biodiversität. In Zusammenarbeit mit Robert MacArthur ( S. 357) entwickelte W. die Theorie der Insel-Biogeographie. 1996 zählte ihn das Nachrichtenmagazin TIME zu den 25 einflussreichsten Personen Nordamerikas. Für die Sachbücher On Human Nature (1979) und The Ants (1991, mit B. Hölldobler) erhielt W. den höchsten Literaturpreis seines Landes, den Pulitzer-Preis für Sachbücher. Mit der von ihm 1984 formulierten Biophilie-Hypothese schuf er die Grundlage für eine anthropozentrische Umwelt- und Naturschutzethik, die aus dem Eigeninteresse des Menschen heraus die biologische Vielfalt bewahren möchte. Im Jahre 2007 war er einer der Initiatoren der „Encyclopedia of Life“, einer Internet-Enzyklopädie, in der Informationen über 1,8 Millionen Lebewesen gespeichert werden sollen.
1.5 Postneodarwinismus und Genozentrismus
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John Maynard Smith Lebensdaten: 1920–2004 Nationalität: britisch Leistung: Verhaltensforscher, theoretischer Biologe, Genetiker, Evolutionsbiologe. Eine wesentliche Leistung von M. S. war die Anwendung der Spieltheorie ( Box 2.8), um Evolutionsstrategien zu verstehen. Zusammen mit George R. Price führte er 1973 das Konzept der „evolutionär stabilen Strategie“ (ESS) ( Box 2.9) ein. Weiterhin beschäftigte er sich u. a. mit der Evolution der Geschlechtlichkeit und der Kommunikation und publizierte mehrere richtungweisende Arbeiten.
Richard Dawkins Lebensdaten: geb. 1941 Nationalität: britisch Leistung: Verhaltensbiologe, Evolutionsbiologe, Popularisierer der Evolutionstheorie. Einer der „Architekten“ der genozentrischen Revolution. Bekannt wurde er vor allem durch sein 1976 erschienenes Buch The Selfish Gene (Das egoistische Gen), in dem er die Ideen von Williams, Hamilton, Wilson u. a. analysiert, weiterentwickelt und hervorragend popularisiert. Er führte den Begriff „Mem“ für den Bereich Kultur als hypothetisches Analogon zum Gen in der biologischen Evolution ein. Er schrieb mehrere weitere Bestseller, u. a. The Extended Phenotype, Der blinde Uhrmacher, Und es entsprang ein Fluß in Eden, Gipfel des Unwahrscheinlichen, Der Gotteswahn, Geschichten vom Ursprung des Lebens. 2007 zählte ihn das Nachrichtenmagazin TIME zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt.
Ansatz bereichert, dafür aber die Rolle der phylogenetischen Zwänge vernachlässigt bis ignoriert. Es geht um eine Änderung der Sichtweise, die der Verschiebung vom Geozentrismus zum Heliozentrismus in der Astronomie ähnelt: Beide Sichtweisen sind berechtigt, weil Bewegung relativ ist, und man alle Beobachtungen tatsächlich als ein kompliziertes System der Rotationen verschiedener Planeten rund um die unbewegliche Erde beschreiben könnte. Allerdings wäre diese Beschreibung – im Gegensatz zu einem insgesamt einfachen Umkreisen der Sonne – übermäßig kompliziert. Zu der Zeit, als sich die Theorie des Heliozentrismus durchsetzte, handelte es sich jedoch eher um den Sieg einer neuen Mode. Letztendlich werden wir sehen, dass der Genozentrismus, seinerzeit auch als neue Mode in der Evolutionsbiologie angesehen, älter ist als so manche Entdeckung, die ihn nachträglich untermauert. Wir können nur darüber spekulieren, wie wir solche Entdeckungen interpretieren würden, wenn die genozentrische Revolution nicht stattgefunden hätte, und ob wir sie überhaupt „entdeckt“ hätten. Die Analogie zwischen Genozentrismus und Heliozentrismus führt zu der Frage, warum wir den Genozentrismus heutzutage bevorzugen und was uns die genozentrische Sichtweise eigentlich an Neuem bietet. Der Vorteil beim Genozentrismus liegt vor allem in der einfachen und einheitlichen Erfassung mancher Eigenschaften, die unter dem Gesichtspunkt des organismozentrischen Darwinismus ziemlich problematisch sind. Der klassische Darwinismus sah sich immer wieder gezwungen, manche Erscheinungen mithilfe von Verrenkungen der
Der Vorteil des Genozentrismus liegt vor allem in der einfachen und einheitlichen Erfassung mancher Eigenschaften und Erscheinungen.
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Die genozentrische Sichtweise ist von allen formalen Beschreibungen der Evolution die sparsamste.
1 Einleitung
Sprache zu umgehen, mit der er Aussagen über sie traf. Als z. B. festgestellt wurde, dass Individuen einer Familie miteinander kooperieren, anstatt unerbittlich gegeneinander zu konkurrieren, und dass sich manche Individuen zugunsten der Zusammenarbeit gar nicht fortpflanzen (z. B. die meisten Töchter in einer Bienenfamilie), blieb nichts anderes übrig, als eine neue Kategorie der „Verwandtenselektion“ einzuführen ( Box 1.15). Hier wird alles ein wenig anders als beim reinen Organismozentrismus diskutiert: Die Individuen rivalisieren zwar um den reproduktiven Erfolg, doch wenn sie nah miteinander verwandt sind, konkurrieren sie um den Gesamterfolg ihrer Familien, sodass eigentlich nicht jeder mit jedem wetteifert, sondern nur die Individuen, die nicht so nah miteinander verwandt sind. Betrachten wir die Evolution unter dem Gesichtspunkt der Allele, sind solche Interpretationssprünge nicht notwendig. Gegen den Altruismus gegenüber Verwandten ist vom genozentrischen Standpunkt aus nichts einzuwenden, weil nah verwandte Individuen mit großer Wahrscheinlichkeit auch gleiche Allele haben. Es gibt keinen Grund, warum die Allele, also die Informationen, die bestimmte Eigenschaften bedingen, sich nur mithilfe eines bestimmten Körpers verbreiten sollten, in dem eine ihrer Kopien vorkommt, und nicht auch mittels anderer Körper, die völlig identische Kopien enthalten. Wir kennen sogar Gene, die ihre Erfolge auf Kosten der Organismen erzielen, in denen sie vorkommen. Das ist für eine organismozentrische Weltanschauung ganz unpassend und ein nicht erklärbares Phänomen, während sich die Genozentristen solche Gene, wenn es sie nicht gäbe, vielleicht ausdenken müssten. Der Evolutionserfolg wird nicht an der Fortpflanzung der Individuen gemessen, sondern am langfristigen Überleben der Allele. In diesem Sinn kann auch ein Verhalten evolutionär erfolgreich sein, das die Fortpflanzung verlangsamt oder sogar zum Stillstand bringt, falls eine derartige Beeinträchtigung des Individuums durch irgendeinen Trick mit dem besseren Überleben „seiner“ Allele verbunden ist. Die genozentrische Sichtweise ist von allen formalen Beschreibungen der Evolution die sparsamste ( Box 1.16). Bei dieser Beschreibung ist es möglich, in einer Sprache über alle vorstellbaren Strategien zu sprechen, die die Evolution verschiedener Eigenschaften der Organismen realisieren. Das heißt nicht, dass es in der Welt nur Allele gibt, sondern es bedeutet, dass die Allele die Einheiten darstellen, mit denen wir uns logisch auseinandersetzen können. Das ist kein Wunder: Reale Eigenschaften von Organismen können wir zwar sehen oder hören, aber oft nur schwer eindeutig beschreiben, die Anlagen für diese Eigenschaften dagegen sind ein gedankliches Konstrukt, das formale Definitionen erfordert. Darum kann man mit den Anlagen, also mit den Allelen deutlich besser arbeiten, als mit den Formen, Farben oder Verhaltensweisen. Gerade weil der Genozentrismus ein formales Interpretationsschema darstellt, ist er an sich nicht besonders interessant. Interessant sind erst die konkreten Wege, auf denen verschiedene Organismen dieses formale Schema realisieren. Mit der Entfaltung der Taxonomie (dank der kladistischen Herangehensweise, neuen molekularbiologischen Methoden und computergestützten Analysen) kehrte die Evolutionsbiologie vor gar nicht so langer Zeit zur pluralistischen Herangehensweise zurück.
1.5 Postneodarwinismus und Genozentrismus
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Was ist Soziobiologie? Die Soziobiologie ist die systematische Erforschung der biologischen Grundlagen jeglicher Form von Sozialverhalten bei allen Arten von sozialen Organismen einschließlich des Menschen. Da die meisten Tiere zumindest zum Zwecke der sexuellen Fortpflanzung Elemente sozialen Verhaltens zeigen, steht das Fortpflanzungsverhalten im Vordergrund des Interesses dieser Disziplin. Es sind also nicht nur sozial lebendeTiere Gegenstand soziobiologischer Forschung, sondern auch solitär lebende Tiere. Im Gegensatz zur klassischen Ethologie, die die Einzelheiten des individuellen Verhaltens, den Zusammenhang zwischen auslösenden Reizen und den sich anschließenden physiologischen Vorgängen sowie die Ontogenese und Phylogenese der Verhaltensmuster zu klären ver-
sucht, ist die Soziobiologie mehr an den Fragen nach dem adaptiven Wert von Verhaltensweisen interessiert. Sie wird daher häufig als ein Zweig der Evolutionsbiologie betrachtet. Das Konzept und der Begriff der Soziobiologie wurden 1975 von E. O. Wilson ( S. 36) in seinem revolutionären Buch Sociobiology: The New Synthesis geprägt. Die Soziobiologie vertritt die Ansicht, dass sich die Selektion auf der Ebene der Gene und nicht der der Individuen abspielt. In den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Evolutionsbiologie und Soziobiologie oftmals gleichgesetzt. Soziobiologie sollte nicht mit Soziologie (Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft) verwechselt werden.
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Typen der Selektion II Nach der Ebene der Selektionswirkung unterscheidet man • Genselektion: Der Selektion sind die „Gene“ oder, besser gesagt, die Allele an einem bestimmten Locus ausgesetzt, die um die maximale Frequenz in der Population konkurrieren. Diese Sichtweise hat in der modernen Evolutionsbiologie die klassische Vorstellung von der Selektion auf Ebene der Individuen ersetzt – vgl. das Konzept des „egoistischen Gens“ von Richard Dawkins.
auch dieselben Allele unterstützt, die das helfende Individuum beherbergt. Die Einführung dieses Konzepts in die Evolutionsbiologie ist vor allem William D. Hamilton zu verdanken.
• Individualselektion: Das ist der vom klassischen Darwinismus ebenso wie vom Neodarwinismus betonte Typ der Auslese. Hierbei fördert die Selektion solche Eigenschaften (Phänotypen), die für das Individuum von Vorteil sind. Dieser Selektionstyp kann für die Entstehung von komplexen adaptiven Merkmalen verantwortlich sein, die eine aufeinanderfolgende mehrstufige Fixierung von einzelnen vorteilhaften Mutationen verlangt.
• Gruppenselektion: Diese in der Öffentlichkeit weit verbreitete und durch die Medien immer noch popularisierte Meinung besagt, dass durch Selektion die Eigenschaften gefördert werden, die für die Gruppe (auch von nichtverwandten Individuen, z. B. Herde, Population, Art) von Vorteil sind, auch wenn sie dem konkreten Individuum keine Vorteile bringen oder ihm sogar schaden. Das Konzept „zum Wohle der Art“ wurde vor allem von Vero C. Wynne-Edwards ausgearbeitet; zu den prominenten Vertretern zählte auch Konrad Lorenz ( S. 319). Die Theorie ist umstritten und wird von der Mehrheit der Evolutionsbiologen abgelehnt.
• Verwandtenselektion: Sie fördert die Eigenschaften, die für die Verwandtengruppe (Familie) von Vorteil sind. Verwandtenselektion spielt eine wichtige Rolle bei der Erklärung altruistischer Verhaltensweisen, wobei die treibende Kraft jedoch die Genselektion ist. Durch Förderung von verwandten Individuen werden gleichzeitig mit großer Wahrscheinlichkeit
• Artenselektion: Dies ist ein wichtiger Evolutionsmechanismus, der für die Entstehung einiger makroevolutionärer Trends verantwortlich sein könnte. Deshalb wird dieser Mechanismus im Abschnitt 6.15 des Kapitels „Biodiversität“ näher behandelt. Hierbei konkurrieren die Arten (oder höheren Taxa) um Radiation (Artbildung, Kladogenese) bzw. Verhinderung der Extinktion (Aussterben).
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1 Einleitung
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Sparsamkeit (Parsimonie) und Ockhams Rasiermesser „Ockhams Rasiermesser“ ist ein methodologisches Prinzip und wurde nach dem berühmten mittelalterlichen Philosophen und Mönch William von Ockham (Occamus) (1285–1347) benannt, der forderte: »Entia non sunt multiplicanda sine necessitate« (»Entitäten sollen nicht unnötig vervielfacht werden«). (Rasiermesser deshalb, weil alle überflüssigen Dinge „wegrasiert“ werden sollen). Ockham selbst verwendet den Begriff „Rasiermesser“ in seinenTexten allerdings nicht. In der wissenschaftlichen Praxis bedeutet dies, dass man von zwei Modellen, die beide ein und dasselbe Phänomen erklären, das einfachere Modell bevorzugen sollte. Dieses Sparsamkeitsprinzip, heute meist als Parsimonie (vom englischen parsimony:
Sparsamkeit, Geiz) bezeichnet, beinhaltet nicht die Behauptung, dass die Welt möglichst sparsam und einfach aufgebaut sei und daher Unnötiges in ihr nicht existiere, sondern es ist eine pragmatische Zweckmäßigkeitsregel für die wissenschaftliche Beschreibung von Phänomenen, die auch wichtige praktische Bedeutung hat. Die Wissenschaftstheorie verlangt nämlich, dass Modelle (Hypothesen) formuliert werden, die durch Versuche getestet werden können, und dass diese Hypothesen dann nicht zu verifizieren (belegen), sondern zu falsifizieren (widerlegen) sind. Einfachere Modelle (Hypothesen) lassen sich einfacher widerlegen als kompliziertere. Eine sparsame Hypothese wird oft auch als „elegant“ bezeichnet.
1.6 Phylogenese
Die Ontogenese (= individuelle Entwicklung) ist vorprogrammiert, wenn auch modifizierbar, und damit vorhersagbar.
1.8 Wenn ein Samen des Wasser-Knöterichs (Persicaria amphibia) auf dem Boden landet, wird die Pflanze anders aussehen (rechts), als wenn der Samen ins Wasser fällt (links).
Einer der Grundbegriffe, die im Mittelpunkt dieses Buch stehen, ist die Phylogenese, also die konkrete Geschichte der Organismen auf der Erde. In der Schule wird gelehrt, dass Phylogenese „Stammesentwicklung“ bedeutet und somit in gewisser Hinsicht einen Gegensatz zur Ontogenese, also der Entwicklung des Individuums, darstellt. Der Unterschied zwischen den beiden Phänomenen liegt allerdings viel tiefer als nur im Maßstab. Die Entwicklung des Individuums ist nämlich schon vorher insoweit vorprogrammiert, als dass aus einem Hühnerei entweder eine Henne oder ein Hahn entsteht, oder – wenn etwas versagt hat – nichts. Sogar wenn eine Art zwischen mehreren alternativen Ontogenesewegen wählen kann (oft aufgrund von Signalen aus der Umwelt), kann man das Ergebnis der jeweiligen Ontogenese voraussagen. Wenn ein Samen des Wasser-Knöterichs (Persicaria amphibia) auf dem Boden landet, wird die Pflanze anders aussehen, als wenn der Samen ins Wasser gefallen ist, aber sie wird vorhersagbar anders aussehen (Abb. 1.8–Abb. 1.11, Box 1.17). Dagegen rekonstruieren wir die Phylogenese nachträglich aus den Überresten vergangener Zeiten. Es ist wie mit der menschlichen Geschichte. Große historische Ereignisse wie z. B. der „Untergang des Römischen Reiches“ oder die „industrielle Revolution“ denken wir uns nachträglich aus, denn die Zeitgenossen waren sich dessen sicherlich nicht bewusst. Allerdings haben wir uns weder den „Untergang des Römischen Reiches“ noch die „industrielle Revolution“ komplett erdacht. Das Römische Reich ist wirklich untergegangen und die Industrie veränderte die Art und Weise, wie die Menschen auf unserem Planeten leben, wesentlich. Diese Prozesse waren in der Zeit, in der sie stattfanden nur nicht so offensichtlich; sie wurden nicht vorprogrammiert und hätten auch anders ausfallen können (in einem solchen Fall würden wir vielleicht vom „ständigen Aufschwung des Römischen Reiches“ sprechen, was
1.6 Phylogenese
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uns natürlich nicht merkwürdig vorkommen würde). Auch die Phylogenese gibt es ganz offensichtlich – so entstanden Säugetiere tatsächlich und spalteten sich in Tausende von Arten auf, aber sie hätten nicht zwingend entstehen müssen. Die heutige Welt ist wesentlich durch die Koexistenz der herbivoren Säugetiere und der Gräser geformt, genauso wie durch die Koexistenz der Blütenpflanzen und der Insekten, und vor allem durch die Entstehung der Photosynthese, die komplexes Leben ermöglichte. Das bedeutet aber nicht, dass Säugetiere, Blütenpflanzen oder photosynthetische Organismen in irgendeinem Sinne unerlässlich sind, oder dass eine andere Welt, in der es keine Säugetiere, Blütenpflanzen oder Photosynthese treibenden Organismen gäbe, nicht funktionieren könnte. Und daher muss hier ganz gewiss kein vorher determinierter Prozess der Entstehung dieser Gruppen vorhanden sein. Die erste Blütenpflanze hätte von einem Tier gefressen worden sein können und wir würden – ohne den geringsten Verdacht, dass alles auch ganz anders sein könnte – in einer Welt voller Farne, Palmfarne und Nadelbäume leben (oder wir würden gar nicht leben, wenn bereits das erste Säugetier gefressen worden wäre). Die Phylogenese besteht aus einzigartigen Ereignissen, die nur einmal stattgefunden haben. Deswegen ist sie nicht rekapitulierbar – im Unterschied zu der sich ständig wiederholenden Ontogenese. Für die Tatsache, dass aus dem Hühnerei eine Henne oder ein Hahn entstehen wird, genügt nämlich nicht die hinreichende Interpretation dessen, was einmal stattgefunden hat. Wir können das Ergebnis vorhersagen, weil dieses Ereignis schon milliardenmal eingetreten ist. Die Phylogenese ist die Geschichte der Spaltung evolutionärer Linien, der Entstehung neuer Arten und des Aussterbens der alten. Diesen Aspekt der Phylogenese bezeichnen wir als Kladogenese. Aber es gibt noch einen, nicht weniger interessanten Aspekt, die sogenannte Anagenese, die den zeitlichen Verlauf der evolutionären Änderungen im Rahmen der einzelnen Linien beschreibt sowie die allmähliche (oder auch relativ schnelle) Anpassung der Organismen an die Welt, in der sie leben ( Box 1.18, Abb. 1.12).
Die Phylogenese (= Stammesentwicklung), also die konkrete Geschichte der Organismen auf der Erde, ist unvorhersagbar und kann nur aufgrund der Überreste aus vergangenen Zeiten rekonstruiert werden.
Kladogenese (= Zweigbildung) bezeichnet die Aufspaltung evolutionärer Linien und letztendlich die Entstehung neuer Arten. Anagenese (= Höherentwicklung) bezeichnet die Entstehung neuer Eigenschaften.
1.9 Beim Salinenkrebs (Artemia salina) ändert sich die Morphologie des Abdomens je nach Salzgehalt (ablesbar an der Wasserdichte). Gabel und Borsten erreichen ihre Maximallänge bei einer Wasserdichte von 1,015 g/cm³. Auch die äußere Erscheinungsform ist veränderlich: Bei höheren Salzkonzentrationen sind die Salinenkrebse rötlich gefärbt, bei niedrigeren hell. (Nach Schmalhausen 1946)
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1 Einleitung
1.10 Abhängigkeit der Geschlechtsbestimmung und damit des Geschlechterverhältnisses (= sex ratio) der Schlüpflinge von der Inkubationstemperatur ( = Männchen, = Weibchen). (Nach Crews et al. 1988) Kladogenese und Anagenese stellen die einzigen Eckpfeiler der Evolution dar, die wir wirklich rekonstruieren können.
1.11 Bei einigen Tierarten (z. B. beim Grottenolm Proteus anguinus und bei der Waldeidechse Lacerta vivipara) ist der Entwicklungsmodus nicht genetisch fixiert. Diese Tiere sind in Abhängigkeit von der Außentemperatur entweder ovipar (bei wärmeren Temperaturen) oder ovovivipar (bei kälteren Temperaturen).
Kladogenese und Anagenese stellen die einzigen Eckpfeiler der Evolution dar, die wir wirklich rekonstruieren können. Dadurch wissen wir, dass irgendein Evolutionsereignis stattgefunden hat, und wir wissen auch wann und wo das war. Wie es eigentlich kommt, dass wir es „wissen“, ist das eigentliche Thema dieses Buches. Schwierig, wenn nicht unmöglich zu rekonstruieren, sind die konkreten Evolutionsprozesse, die das jeweilige Evolutionsereignis ermöglicht haben. Einerseits macht das nichts, denn unsere Unfähigkeit, die Ursachen und proximaten Mechanismen eines bestimmten phylogenetischen Ereignisses zu erklären, ist unser Problem, und das Ereignis selbst wird dadurch nicht in Frage gestellt. Andererseits ist es aber gut, eine skeptische Haltung gegenüber den Evolutionsmärchen einzunehmen, die uns Biologen manchmal erzählen. Es geht dabei nicht nur um die traditionellen Erzählungen, warum etwa die Fische einst an Land gekrochen sind (sei es um dort Zuflucht vor Prädatoren oder Nahrung zu suchen oder dass sie von einem Wasserloch ins nächste wandern wollten). Bei diesen „Geschichten“ hat man meist das Problem, dass eine Reihe von gleichermaßen glaubhaften Alternativen denkbar sind, zwischen denen man sich einfach nicht entscheiden kann. Ein weiterer, wesentlich modernerer Typ von Evolutionsmärchen sind die Versuche, genetische oder ontogenetische Prozesse
1.6 Phylogenese
zu rekonstruieren, die das gegebene phylogenetische Ereignis verursacht haben. Hier wird uns häufig schmerzhaft bewusst, wie wenig wir eigentlich über die Individualentwicklung von Organismen und deren Regulierung wissen. Man muss sich mit der Tatsache abfinden, dass wir uns zu jedem Schema der vergangenen Phylogenese eine Reihe von alternativen Evolutionsgeschichten ausdenken können, die mit dieser Phylogenese gut im Einklang stehen. Wenn wir über irgendein phylogenetisches Ereignis nachdenken, stellen wir fest, dass wir von keinem evolutionären Prozess mit absoluter Sicherheit sagen können, dass dieser in der Vergangenheit definitiv stattfand. Wir finden stattdessen aber immer mehrere verschiedene evolutionäre Prozesse, deren Beteiligung wir nicht
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Zu jedem Schema der vergangenen Phylogenese können wir uns eine Reihe von alternativen Evolutionsgeschichten erdenken, die mit dieser Phylogenese gut im Einklang sind.
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Wie die Umwelt die Ontogenese modifiziert Bei einigen wenigen Tierarten (bei einigen Fischen, beim Grottenolm Proteus anguinus, einigen Fröschen, Echsen, z. B. die Waldeidechse Lacerta vivipara) ist der Entwicklungsmodus nicht genetisch fixiert. Diese Tiere sind in Abhängigkeit von der vorherrschenden Außentemperatur entweder ovipar (meist bei wärmeren Temperaturen) oder ovovivipar (bei kälteren Temperaturen) (Abb. 1.11). Bei allen Tieren gibt es zahlreiche Gene, die das Geschlecht primär bestimmen (d. h. den Gonadentyp festlegen). Diese Gene werden wiederum durch Kontrollgene gesteuert. Bei manchen Tieren werden diese Kontrollgene von bestimmten Umweltfaktoren, wie z. B. Temperatur, Salzgehalt, pH-Wert, Licht, Nahrung, soziale Umwelt (vermittelt durch Pheromone und Hormone) ein- bzw. ausgeschaltet. Diese Art der Geschlechtsbestimmung wurde bei Rädertierchen, Nematoden, manchen Anneliden, Krebstieren, einigen Knochenfischen, Schildkröten, Eidechsen und Krokodilen beschrieben. Die Temperatur, bei der die Eier inkubiert werden, ist ein wichtiger äußerer Faktor für die Geschlechtsbestimmung. Entscheidend wirkt sich die Temperatur während eines bestimmten Zeitfensters (in der Regel im mittleren Drittel der Inkubation, wenn sich die Gonaden entwickeln) aus. Der Mechanismus der Wirkung kann am ehesten durch die Temperaturempfindlichkeit von Promotoren der Kontrollgene erklärt werden. Der Geschlechterwechsel vollzieht sich oft im Temperaturbereich zwischen 3 und 4 °C. Dabei fördern höhere Temperaturen in der Regel die Entstehung des größeren der beiden Geschlechter (Männchen bei Krokodilen, Weibchen bei Schildkröten, Abb. 1.12). Für diese Temperaturunterschiede sind
üblicherweise die Zeit der Eiablage sowie auch Standortbedingungen im Nestbereich verantwortlich. Da die Homoiothermie die Geschlechtsbestimmung weitgehend von der Außentemperatur befreit hat, haben die Homoiothermen einen anderen Mechanismus der Geschlechtsbestimmung entwickeln müssen. Bei Rippenmolchen (Pleurodeles) führt die Erhöhung der Bruttemperatur zur vollkommenen Geschlechtsumkehr, obwohl das Geschlecht chromosomal bestimmt wird. Man kann spekulieren, ob die plötzliche Abkühlung nach dem Aufschlag eines Asteroiden vor 65 Millionen Jahren (S. 418) indirekt zur Verschiebung des Geschlechterverhältnisses bei den Nachkommen der Überlebenden und damit zum Aussterben vielerTierarten (darunter die Dinosaurier) beigetragen haben könnte. Es ist durchaus möglich, dass ein relativ plötzlicher Anstieg der Temperatur um 4 °C, der infolge des Treibhauseffekts in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten ist, dazu führt, dass bei manchen Reptilien- oder Fischarten weniger Weibchen (bzw. Männchen) produziert werden. Pheromone und Hormone spielen für die Geschlechtsbestimmung bei manchen Tieren eine wichtige Rolle. Beim Igelwurm Bonellia viridis (Echiura, Annelida) entwickeln sich die Larven normalerweise zu Weibchen. Landet jedoch eine Larve auf einem Weibchen (genauer: auf dessen Rüssel), wird sie zum Männchen: Der Rüssel des Weibchens scheidet ein Pheromon aus, welches die Differenzierung der Larven zum Männchen bewirkt. Pheromone bzw. Hormone sind auch direkt für die Geschlechtsumwandlung bei einigen Korallenfischen verantwortlich.
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1 Einleitung
vollständig ausschließen können. Die Phylogenese ist ein allgemeines Schema, dem üblicherweise mehrere mögliche „Evolutionen“ entsprechen, die dabei alle gleich gut die grundlegenden Regeln des Evolutionsspiels berücksichtigen. Es ist wieder wie mit der Geschichte der Menschheit. Wir kennen die Abfolge der historischen Ereignisse an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitabschnitten (d. h. wir haben sie aus den zurückgebliebenen Spuren rekonstruiert) und von verschiedenen psychologischen, soziologischen oder ideologischen Faktoren vermuten wir, dass sie die allgemeinen Spielregeln darstellen. Wir können darüber streiten, ob die napoleonischen Kriege eher durch Napoleons Psyche oder die soziale oder ökonomische Situation Frankreichs verursacht wurden. Intuitiv merken wir aber, dass keine dieser „Erklärungen“ vollständig ist und dass
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Anagenese versus Kladogenese Die Phylogenese (Stammesentwicklung, Genealogie) ist durch zwei Prozesse gekennzeichnet, die Kladogenese und die Anagenese. Die Kladogenese (= „Entstehung der Zweige“) betrifft die Aufspaltung von Stammarten in Tochterarten. Die Anagenese (= „Weiterentwicklung“) beschreibt die Transformation von Merkmalen und Entstehung von evolutionären Neuheiten (sogenannte Apomorphien oder abgeleitete Merkmale) zwischen Aufspaltungen, also innerhalb einzelner Stammlinien. Jedes Tier weist sowohl abgeleitete als auch ursprüngliche Merkmale auf. Ursprünglichkeit ist immer relativ. Das Schnabeltier ist im Vergleich zu den Beutel- und Placentatieren insofern ursprünglich, als es Eier legt. Die Entwicklung des hartschaligen Eis mit weiteren Eihüllen ist jedoch auf der Ebene der Nabeltiere (Amniota) ein abgeleitetes Merkmal. Wenn wir eine Art als „ursprünglich“ bezeichnen, meinen wir, dass sie viele ursprüngliche Merkmale bewahrt hat, die bereits früher in der Stammesgeschichte entstanden sind (z. B. die Arten A und D in Abb. 1.12). Eine Art, die sich nahe der Wurzel des Stammbaums befindet und damit dem gemeinsamen
1.12 Verwandtschaftsdiagramm mit gekennzeichneten Apomorphien (links); rechts dasselbe Diagramm „zerlegt“ in Anagenese (oben) und Kladogenese (unten). Die Buchstaben bezeichnen einzelne phylogenetische Linien, die Ziffern geben die Zahl der Apomorphien an (durch kurze Querstriche markiert). (Aus Burda, Hilken, Zrzavý 2008)
Vorfahren auch kladogenetisch nahe steht, wird als basal bezeichnet (z. B. die Art A in Abb. 1.12). So eine „basale“ Art muss aber gar nicht „ursprünglich“ erscheinen. (In Abb. 1.12 ist die Art A ursprünglich und basal, die Art B immer noch relativ basal, aber nicht ursprünglich, die Arten D und E sind ursprünglich, aber nicht mehr basal.) Das Schnabeltier (Abb. 1.13) ist ein basales Säugetier, da die erste Abzweigung der Stammlinie der rezenten Säugetiere zu den Kloakentieren führt. Ob aber das Schnabeltier auch viele ursprüngliche Merkmale aufweist, können wir aus dem Kladogramm nicht ablesen. In einigen Aspekten ist es natürlich sehr ursprünglich (es legt Eier, hat eine Kloake, besitzt keine Zitzen), in anderen Aspekten ist es aber hoch spezialisiert (es hat Giftdrüsen, keine Zähne, lebt im Wasser und hat eine spezielle Art der chromosomalen Geschlechtsbestimmung). Die Begriffe „basal“ und „ursprünglich“ müssen daher streng unterschieden werden.
1.6 Phylogenese
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1.13 Das Schnabeltier (Ornithorhynchus anatinus) ist ein basales Säugetier, das sowohl ursprüngliche Merkmale (z. B. Kloake, Oviparie, komplexer Schultergürtel) als auch abgeleitete Merkmale (z. B. „Schnabel“, Zahnlosigkeit, Giftsporne, aquatische Lebensweise) zeigt.
letztendlich nur die alte beschreibende Geschichtskunde über Wanderungen, Kämpfe, Hochzeiten und Verrat bedeutsam ist. Und genau das ist es, was wir in Analogie in der Evolutionsbiologie als Phylogenese bezeichnen. Im folgenden Kapitel betrachten wir die allgemeinen Regeln des Evolutionsspiels detaillierter. Zwar werden wir sie kaum zur Erklärung einzelner Evolutionsereignisse verwenden können, aber umso nützlicher sind sie für uns, wenn wir über den allgemeinen Rahmen der Evolutionsgeschichten sprechen werden. Diese zwei Sichtweisen, nennen wir sie die „phylogenetische“ und die „allgemein evolutionäre“, überlappen sich nur wenig, da jede etwas anderes behandelt. Die allgemein evolutionäre Sichtweise motiviert dazu, sich überhaupt mit den einzelnen phylogenetischen Ereignissen zu beschäftigen. Erst wenn wir den langen Hals der Giraffe, das Pfauenrad oder die fast unglaubliche Fortpflanzung der Tüpfelhyäne als Bestandteile unserer eigenen Geschichte verstehen, beginnen uns diese Merkwürdigkeiten wirklich zu interessieren (denn ansonsten kümmern sie uns eigentlich nicht). Wir haben schon erwähnt, dass die evolutionäre Geschichte heute kein „Kampf ums Überleben“ ist, aus dem die Starken mit großen Eckzähnen und Klauen siegreich hervorgehen, sondern etwas unvergleichbar Spielerischeres und Bunteres. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis, zu der wir in den folgenden Teilen des Buches gelangen, ist die Tatsache, dass es keine allgemeine Eigenschaft gibt (wie z. B. „Kraft“, „Geschwindigkeit“ oder „Kampflust“), die stets und überall erfolgreich ist und verlässlich zum Sieg der Starken, Schnellen und Kampflustigen führt.
Die „phylogenetische“ und die „allgemein evolutionäre“ Sichtweise überlappen sich nur wenig, da jede etwas anderes behandelt.
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1 Einleitung
Kontroll- und Verständnisfragen 1 Was ist der Unterschied zwischen Evolution, Geschichte und Phylogenese? Erläutern und vergleichen Sie diese Begriffe an einem beliebigen Beispiel aus den Bereichen Kultur oder Technik (z. B. Autos, europäische Sprachen, Ballspiele, Kommunikationstechnik, Religionen, Musik)! 2 Geben Sie Beispiele für die These „Manche Eigenschaften der lebenden Natur sind sehr konstant und dies insbesondere im Vergleich mit abiotischen, geomorphologischen Strukturen, die uns extrem unveränderlich erscheinen“! 3 Worin lag der Streitpunkt zwischen Georges Cuvier und seinem ehemaligen Assistenten Étienne Geoffroy Saint-Hilaire? 4 Sind die folgenden Merkmale bzw. Verhaltensweisen zweckmäßig, zweckdienlich, oder zielgerichtet? a) Daumendrücken, um Glück zu wünschen b) Ein Kiebitz lockt einen Fuchs von seinem Nest fort, indem er eine Ver letzung vortäuscht. c) Anordnung der Buchstaben auf einer Tastatur (z.B. steht auf der deutschen Tastatur in der obersten Zeile von links nach rechts: QWERTZ ... ) (mehr hierzu Box 5.17) 5 Analysieren Sie die proximaten Mechanismen und die ultimaten Ursachen folgender Aspekte menschlichen Verhaltens: Liebe, Einehe, Seitensprung, Spielverhalten, Entwöhnung, Korruption, Fahrerflucht, Patenschaft für ein Kind aus einem Entwicklungsland. 6 Zu welcher Erstbeschreibung (welchen Modells) gehört diese Illustration? a) „egoistisches Gen“ b) „Fitnesslandschaft“ c) „neutrale Evolution“ d) „unterbrochenes Gleichgewicht“
7 Fliegen ist sicherlich eine nützliche Fähigkeit. Warum können dann aber innerhalb der Säugetiere nur die Fledertiere fliegen? Warum haben nicht auch Pferde oder Primaten (abgesehen von Pegasus oder Engeln) Flügel evolviert?
Kontroll- und Verständisfragen
8 Gregor Mendel war ein Zeitgenosse von Darwin. Man darf annehmen, dass er Darwin kannte, doch Darwin kannte weder Mendel noch dessen Arbeit. Mendel hat zwar nirgendwo erwähnt, dass er Darwins Evolutionstheorie widerlegen wollte (was man erwarten könnte), doch haben seine Ergebnisse Darwins Theorie zunächst beinahe begraben, ihr letztendlich aber doch sehr geholfen. Wieso? 9 Wir bekommen die Hälfte der Chromosomen von unserer Mutter, die andere Hälfte von unserem Vater – damit haben wir auch 50 Prozent der Gene von unserer Mutter, sind mit ihr also zu 50 Prozent verwandt. Vor einigen Jahren erregte die Entdeckung, dass Mensch und Schimpanse zu ca. 99 Prozent dieselben Gene teilen, weltweit Interesse. Ist das nicht ein Paradoxon? Wie ist es zu verstehen? 10 Welche Argumente brachte A. Weismann gegen die Evolutionstheorie von Lamarck vor? 11 Nennen Sie einige wichtige Vertreter des Neodarwinismus und des Postneodarwinismus! Durch welche Aspekte wurde der Neodarwinismus in den letzten 50 Jahren ergänzt? 12 Betrachten Sie Abbildung 1.7 und schlagen Sie eine Erklärung vor, warum in den gängigen Lehrbüchern der Evolutionsbiologie die Repräsentanten des Postneodarwnismus und ihre Konzepte kaum Erwähnung finden! 13 Erläutern Sie die Begriffe Ontogenese, Phylogenese, Kladogenese, Anagenese unter Verwendung konkreter Beispiele (z. B. Ihrer eigenen Familiengeschichte)! 14 Nennen Sie jeweils fünf Merkmale des Menschen und des Delfins, die auf Ebene der Säugetiere ursprünglich und abgeleitet sind! 15 Während sich die früheren Evolutionsbiologen mehr von der morphologischen Evolution und Paläontologie inspirieren ließen, wenden sie sich seit einigen Jahrzehnten mehr und mehr den Aspekten der Verhaltensevolution zu. Nennen Sie je drei einflussreiche morphologisch bzw. ethologisch arbeitende Evolutionsbiologen!
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Auch wenn es absurd erscheint: Männer mit erfolgreichem promisken Verhalten haben keine Probleme, weitere Partnerinnen zu finden. ( S. 75)
2 Selektion
Der Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die andern zu Freien. Heraklit, Fragment B53
Darum geht es in diesem Kapitel: • Zunächst frischen wir unsere Abiturkenntnisse über Evolution auf. • Wir lösen das Haldane-Dilemma: „Entweder ist die Selektion mild und wird kaum neue Strukturen bilden oder sie ist grausam und wird die gesamte Population ausrotten.“ • Welche Rolle spielt der Zufall in der Evolution? • Wie und warum entsteht der Sexualdimorphismus, oder warum trägt der Pfauenhahn lange Schwanzfedern und der Hirsch ein Geweih? • „Animal’s next top model“: Haben Tiere Schönheitsideale? • Wie kann die Spieltheorie die Evolution bestimmter Eigenschaften erklären? • Warum kommt die Evolution nicht zum Stillstand? • Warum kooperieren Tiere (und auch andere Organismen) miteinander? • Wie kooperieren und beeinflussen sich Gene bei der Bildung eines Phänotyps? • Können Gene auch außerhalb des eigenen Körpers wirken? • Wie und warum manipulieren Parasiten ihre Wirte? • Kann sich ein Geschlecht noch vor der Geburt gegen das andere durchsetzen? • Was sind Chimären? • Wir klären die Begriffe „Grünbart“, „Blaubart“, „Rote Königin“, „Renegaten-Gen“, „egoistisches Gen“, „egoistische DNA“, „Wettrüsten“, „Handicap“, „Sexy Son“, „erweiterter Phänotyp“, „zentrales Dogma“. • Gibt es Evolution ohne DNA? • Hatte Lamarck vielleicht doch recht? • Wie hat sich unsere Vorstellung von Evolution in den letzten 50 Jahren weiterentwickelt?
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2 Selektion
2.1 Neodarwinistisches Repetitorium: Mutation
Die Antievolutionisten polemisieren gegen den überholten Neodarwinismus der 40er-Jahre
Mutationen führen zu Variabilität innerhalb der Population.
Variabilität
Konkurrenz
Selektion
Die allgemeine Evolutionsgeschichte, die wir in der Einleitung rekapituliert haben, lässt sich wissenschaftlich kaum widerlegen. Sie sagt nicht mehr, als dass das überlebt, was überlebt – eine Weisheit, die zwar nicht besonders interessant, aber sicherlich wahr ist. Gleichwohl wendet die Evolutionsbiologie diese „Regel“ auf konkrete Eigenschaften von Organismen an, die während der letzten Milliarden Jahre den Planeten Erde bewohnt haben, und daher müssen wir die Geschichte über die Evolution mit konkreten Darstellern besetzen. Die Synthese von Populationsgenetik, evolutionär ausgerichteter Systematik und Paläontologie zum Neodarwinismus, der seine Blütezeit in den 40erJahren des 20. Jahrhunderts erlebte, hat aus der Evolutionsbiologie endlich eine Wissenschaft gemacht, die problemlos naturwissenschaftliche Erkenntnisse eingliedern kann und durch neue Entdeckungen nicht in ihrer Existenz bedroht wird. Auch der etwa 20 Jahre später einsetzende Aufschwung der Molekulargenetik führte nicht notwendigerweise zu einer wesentlichen Änderung des neodarwinistischen Verständnisses der Evolution. Nichtsdestoweniger hat der Neodarwinismus gewisse Modifikationen erfahren. Weil der Neodarwinismus der 40er-Jahre die Zielscheibe der heutigen Antievolutionisten darstellt, werden wir den „alten“ Neodarwinismus als Grundlage nehmen, um bedeutende Änderungen im Evolutionsdenken zu beschreiben. Man muss jedoch betonen, dass dieser „altertümliche“ Neodarwinismus zur Karikatur seiner selbst wird, wenn man noch immer uneingeschränkt an ihn glaubt oder ihn angreift. Um also den Ausgangspunkt für viele antievolutionäre Diskussionen, aber auch um die Forschungsarbeiten der letzten Dekaden kennenzulernen, werden wir zunächst die „Lehrbuchevolution“ rekapitulieren. Das wird uns auch dabei helfen, die sehr spannenden Themen und Konzepte der letzten Jahre besser zu verstehen, die wir in späteren Kapiteln besprechen werden. Beginnen wir also mit dem neodarwinistischen Repetitorium. Als Folge von Mutationen entsteht Variabilität in der Population. Diese Variabilität ist vererblich und liegt primär im Bau der DNA-Stränge, weil in verschiedenen Organismen unterschiedlich mutierte Varianten der ursprünglichen DNA zu finden sind. Jedes Individuum hinterlässt eine unterschiedliche Anzahl an Nachkommen, die alle nahezu identisch mit ihren Eltern sind, aber andererseits Neukombinationen der Elternmerkmale darstellen, da sie im Lauf der sexuellen Fortpflanzung durch Rekombination der elterlichen Allele entstanden sind. In seltenen Fällen unterscheiden sich die Nachkommen auch durch neue Mutationen. Hier beginnt die natürliche Auslese, also die Selektion, zu wirken. Innerhalb dieser verschiedenartigen Nachkommenschaft haben einige Individuen (also einige Allel-Kombinationen) bessere Überlebenschancen oder pflanzen sich zumindest erfolgreicher fort als andere Individuen. In den folgenden Generationen ändert sich auf diese Weise nichtzufällig der Anteil einiger
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2.1 Neodarwinistisches Repetitorium
Allele in der Population, also deren genetische Zusammensetzung. Steigt die Größe der Population, konkurrieren die Individuen um zugängliche Ressourcen (Raum, Nahrung, Brutplätze). Ganz ähnlich „kämpfen“ verschiedene Allele um die Menge der tatsächlich zur Verfügung stehenden DNA. Eine Mutation, die im Augenblick ihrer Entstehung auf ein einziges DNA-Molekül in einer Einzelzelle beschränkt ist, tritt erst nach und nach – so wie sich dieser Organismus vermehrt – im Kontext der Population in Erscheinung: Sie wird zum Bestandteil des gesamten Allelangebots in der Population bzw. des Genpools, aus dem sich im Verlauf der Fortpflanzung neue Individuen zusammensetzen. Eine erfolgreiche Fortpflanzung der Individuen, die das mutierte Allel tragen, führt zur Verbreitung dieses Allels – und umgekehrt: Die nicht oder weniger erfolgreichen Individuen verbauen ihren Allelen durch ihre Erfolglosigkeit die Zukunft. Das Endergebnis ist entweder die Fixierung des Allels, also ein absolutes Überwiegen eines Allels des gegebenen Gens und das Verschwinden seiner Konkurrenten, oder aber das stabile „Einpendeln“ zweier oder mehrerer Allele (z. B. Blutgruppen, Haarfarben etc.). Selektion bedeutet eigentlich eine unterschiedlich erfolgreiche Fortpflanzung von Trägern unterschiedlicher Allele und die daraus folgende nichtzufällige Veränderung der Zusammensetzung des Genpools der Population. Prägen Sie sich bitte gut ein, dass die Selektion keine besondere, die Organismen überwachende Kraft ist, sondern vielmehr eine Beschreibung der Reproduktionsdynamik, die dazu führt, dass nur einige Allele in der Population überdauern ( Box 1.4). Die Organismen sind allerdings nicht unmittelbar deshalb unterschiedlich reproduktiv erfolgreich, weil sie irgendein Allel haben oder nicht haben, sondern weil sie durch verschiedene morphologische (Größe, Farbe, Gestalt), physiologische (Verdauung, Atmung) oder ethologische Eigenschaften (bestimmte Verhaltensweisen) gekennzeichnet sind. Ein Allel wird nur dann selektiert, wenn diese Eigenschaften in irgendeiner Form mit der Existenz des Organismus verknüpft sind. Entscheidend für den Sieg eines Allels im Konkurrenzkampf ist nicht das Allel an sich, sondern der Phänotyp (also die Gesamtheit der Eigenschaften des Organismus) – und erst mittelbar auch das hinter diesem Phänotyp verborgene Allel. Die Phänotypen werden allerdings durch die vorhandenen Allele bestimmt: In jeder Körperzelle außer den Keimzellen (also im diploiden Zustand) haben wir zwei Allele an jedem Locus, eines aus der mütterlichen Eizelle, das andere aus dem väterlichen Spermium. Diese beiden Allele können entweder gleich oder aber unterschiedlich sein. Im zweiten Fall kann ein Allel durch seine Aktivität die Wirkung des anderen Allels komplett überdecken, oder es können besondere Phänotypen entstehen, die gerade durch die Anwesenheit von zwei unterschiedlichen Allelen hervorgerufen werden (und eine Zwischenstellung zwischen den elterlichen Phänotypen darstellen). Ein Allel kann sich, überdeckt durch die dominante Wirkung des von dem anderen Elternteil stammenden Allels, „verbergen“: Es ist rezessiv (vom lateinischen recedere: zurücktreten). Selektion kann aber durchaus verschiedenartig sein ( Box 2.1). Stellen wir uns vor, dass das selektierte Merkmal beispielsweise die Körpergröße sei. Sehr häufig kommt es zur stabilisierenden Selektion, bei der die beiden Ex-
Träger unterschiedlicher Allele pflanzen sich unterschiedlich erfolgreich fort, wodurch sich die Zusammensetzung des Genpools der Population allmählich verändert. Das bezeichnen wir als Selektion.
Entscheidend für den Sieg eines Allels im Konkurrenzkampf ist der Phänotyp, den es kodiert.
Die stabilisierende Selektion entfernt oder benachteiligt Individuen mit extremen Eigenschaften oder extremen Werten eines Merkmals.
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2 Selektion
Die disruptive Selektion entfernt oder benachteiligt die Individuen mit durchschnittlichen Werten eines Merkmals Die gerichtete Selektion entfernt oder benachteiligt nur Individuen an einem Ende des Spektrums.
Die Evolution verläuft graduell.
treme entfernt oder zumindest benachteiligt werden: zu kleine Individuen etwa dadurch, dass sie auch von kleinen Prädatoren gefressen werden, oder zu große Individuen beispielsweise durch mangelnde Versteckmöglichkeiten. Somit verändert sich die durchschnittliche Körpergröße in der Population kaum, doch der Bereich verschiedener existierender Größen verschmälert sich in Richtung Mittelwert (Abb. 2.1). Im Gegensatz dazu werden bei der disruptiven Selektion die Individuen mit durchschnittlichen Werten eines Merkmals aus der Population entfernt (Abb. 2.2). Ein anderer, für uns vielleicht interessanterer Typ ist die gerichtete Selektion. Sie entfernt oder benachteiligt nur Individuen an einem Ende des Spektrums, z. B. die kleinen, wohingegen die durchschnittlichen oder großen Individuen unbehelligt bleiben (Abb. 2.3). Das Ergebnis einer solchen Selektion ist die allmähliche Vergrößerung der durchschnittlichen Körpergröße der Individuen in der Population. Mutation – Variabilität – Konkurrenz – Selektion: Dieser simple „darwinistische Algorithmus“ ist enorm wirksam. Computersimulationen zeigen überzeugend, dass er tatsächlich imstande ist, komplizierte und zweckmäßige Formen aus dem Nichts zu bilden, allein durch unterschiedliche Überlebenschancen verschiedener Individuen ( Box 1.2). Damit zweckmäßige Eigenschaften von Organismen entstehen, ist es erstaunlicherweise nicht notwendig, die Entstehung der richtigen, „zweckmäßigen“ Mutationen in irgendeiner Art zu organisieren. In zwei Schritten – die zufällige Entstehung von Variabilität und die anschließende nichtzufällige Selektion – entstehen Adaptationen, also das, was in der lebenden Natur am auffälligsten ist, und was wir mit der Evolutionsgeschichte erklären wollen. Durch allmähliche Kumulation dieser winzigen adaptiven Änderungen entstehen große Änderungen: Evolution ist also prinzipiell allmählich, graduell, ohne große sprunghafte Änderungen. Auch die Entstehung neuer Arten (Artbildung, Speziation) beginnt üblicherweise mit zufälligen, de facto nichtbiologischen Prozessen. So kann z. B. das Verbreitungsgebiet einer Art durch die Entstehung eines Gebirges, durch den Zerfall einer Insel oder die Senkung des Seespiegels getrennt werden, und weil
| 2.1 |
Typen der Selektion III Nach der Richtung der Selektionswirkung unterscheidet man: • stabilisierende Selektion: Sie eliminiert aus der Population die Individuen mit extremen Merkmalswerten (z. B. sind zu kleine Neugeborene normalerweise nicht überlebensfähig, zu große sterben infolge von Geburtskomplikationen). • disruptive Selektion: Sie entfernt aus der Population die Individuen mit durchschnittlichen Werten eines Merkmals (z. B. sind bei bestimmten Faltern helle und dunkle Individuen im Vorteil, da sie sich auf der Rinde von Birken bzw. Fichten tarnen kön-
nen, während Falter mit mittlerer Flügelfärbung sowohl auf der Birke wie auf der Fichte ihren Prädatoren auffallen). • gerichtete Selektion: Sie eliminiert aus der Population die Individuen mit Merkmalswerten an einem der beiden Enden der Verteilungskurve (z. B. führt das Vorkommen kleinerer Prädatoren dazu, dass die Beuteindividuen schneller wachsen und größer werden, oder es entstehen Resistenzen gegen Antibiotika bei Bakterien).
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2.1 Neodarwinistisches Repetitorium
2.1 Stabilisierende Selektion: Besteht ein Prädationsdruck z. B. auf kleine und große Individuen, verändert sich die durchschnittliche Körpergröße in der Population kaum, doch der Bereich verschiedener existierender Größen verschiebt sich in Richtung Mittelwert.
in jedem neu entstandenen Areal ein wenig andere Lebensbedingungen herrschen, beginnen die lokalen Populationen sich allmählich in neue Arten zu differenzieren. Wir betonen, dass das eben Gesagte eine sehr vereinfachte (und in einzelnen Details auch schon widerlegte) Vorstellung der Evolution ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Reihe von bedeutenden Entdeckungen und vor allem gab es viele neue Ideen, die unsere Vorstellung von der Evolution der Organismen veränderten. Von einigen dieser Ideen werden wir in den nächsten Kapiteln mehr hören: von alternativen, nichtadaptiven Möglichkeiten der Entstehung komplizierter und letztendlich auch zweckmäßiger Eigenschaften, von schneller, sprunghafter Evolution, von der Möglichkeit, dass neben der Konkurrenz zwischen Individuen auch ein Wettbewerb der Arten oder ganzer Organismengruppen existiert. Zunächst betrachten wir aber einige wichtige Fragen, die die Regeln des Evolutionsspiels direkt betreffen – denn was sind eigentlich die Kriterien des Evolutionserfolgs eines Organismus?
In der zweiten Hälfte des 20. Jh. bereicherten bedeutende Entdeckungen und neue Ideen die Evolutionstheorie.
2.2 Disruptive Selektion: Spezialisiert sich der Prädator auf mittelgroße Individuen, werden diese aus der Population allmählich verschwinden, wodurch die Extreme begünstigt sind.
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2 Selektion
2.3 Gerichtete Selektion: Werden jeweils die größten Individuen durch einen spezialisierten Prädator aus der Population entfernt, verkleinert sich die durchschnittliche Körpergröße der Individuen in der Population allmählich.
2.2 Harte und weiche Selektion Aus Sicht des klassischen Darwinismus führt Selektion zu neuen Merkmalen, die auf Kosten der alten fixiert werden.
Die Population kann eine zu hohe Selektionsbelastung nicht tolerieren.
Für die Entstehung irgendeines komplexen Organs (z. B. des Auges), müssen parallel Allele verschiedener Gene selektioniert werden.
Wie wir gesehen haben, nimmt der klassische Darwinismus an, dass die durch Selektion neu entstandenen Merkmale auf Kosten der alten fixiert werden. Natürliche Selektion verläuft sicherlich nicht, ohne Kosten zu verursachen. Damit in der Population eine neue Eigenschaft überwiegt, muss die Selektion die Träger der alten Eigenschaft (früher oder später) eliminieren. Wäre die Selektion zu mild und nachsichtig, würden die Träger alter Eigenschaften nie in ihren Rechten beschnitten, weshalb die neue Eigenschaft nie überwiegen könnte. Die Selektion geht also nicht nur sprichwörtlich über Leichen; Selektion heißt Beseitigung der Erfolglosen (und wir wiederholen, dass es vom Standpunkt der Evolution keinen Unterschied zwischen Tod und Unfruchtbarkeit bzw. erhöhter Sterblichkeit und verringerter Fruchtbarkeit gibt). Ein Problem besteht nur darin, dass die Population eine beliebig hohe Selektionsbelastung nicht tolerieren kann. Ist die Selektion zu gnadenlos, wird es zu viele Selektionstote geben und die Population riskiert auszusterben. Wie groß darf die Wirkung der Selektion maximal sein, damit sie für eine Population noch erträglich ist? John Haldane ( S. 31) hat 1957 eine Simulation dieses Problems durchgeführt, die von einem neu fixierten Allel (also eigentlich einer Mutation) pro 300 Generationen ausgeht. Es ist nicht etwa so, dass der Selektion eine solche Zahl tatsächlich zugrunde liegt, aber die Simulation zeigte, dass Populationen, in denen die Selektion noch stärker wirkte, ausstarben. Selbstverständlich handelt es sich hierbei nur um eine grobe Schätzung, aber unseretwegen möge es so sein. Es sollte uns aber vor allem klar sein, dass diese „Hausnummer“ für Mutationsraten ganz unrealistisch ist. Wollten wir irgendein komplexes Organ bilden, müssten wir parallel neue Allele von mehreren verschiedenen Genen selektionieren. Wenn das Grubenauge eines primitiven Kopffüßers in das vollkommene Kameraauge eines Kraken oder Tintenfisches verwandelt werden soll (worauf wir später noch näher eingehen werden), müssen sich der Augapfel schließen, die Linse herausbilden, die Form der Netzhaut verändern und so weiter. Die Selektion muss also gleichzeitig Individuen mit noch offenem Augapfel wie auch solche ohne Linse oder mit schlecht gestalteter Netzhaut entfernen. Weil es sich
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2.2 Harte und weiche Selektion
offensichtlich um Produkte verschiedener, voneinander unabhängiger Gene handelt, sind diese Eigenschaften mehr oder weniger unabhängig kombinierbar. So wird sicherlich auch ein Individuum mit geschlossenem Augapfel und neu gestalteter Netzhaut, aber ohne Linse auftreten, sowie eines mit Linse, dafür aber mit einer „primitiven“ Netzhaut – und beide müssen eliminiert werden, damit ein Kameraauge entsteht. Für den Misserfolg genügt es, in nur einem der vielen parallel selektierten Eigenschaften erfolglos zu sein; um Erfolg zu haben, müssen die Individuen in all diesen Merkmalen vollkommen sein. Dann ist es allerdings verwunderlich, dass überhaupt jemand überlebt. Wir haben also die Wahl: Entweder ist die Selektion mild und wird kein Auge bilden, oder sie ist grausam und wird die gesamte Population erfolgreich ausrotten. Anders ausgedrückt: Das Kameraauge kann nicht existieren. Haben Sie auch den Eindruck, dass hier etwas nicht stimmt? Mit der Entfaltung der Molekularbiologie traten noch viele weitere Unstimmigkeiten zu Tage. Bis vor kurzem hatten wir eigentlich keine Ahnung, wie viele Mutationen entstehen und wie viele fixiert werden. Die Genetiker arbeiteten lediglich mit Mendel‘schen Methoden, d. h. auf die Existenz eines Allels konnte man nur aus dessen phänotypischer Äußerung schließen. Wenn die Blüten einer Art entweder rot oder weiß sind, muss es auch irgendein „Gen für die Blütenfarbe“ geben, und dieses Gen existiert in zwei Versionen, also zwei Allelen. Es ist so, als ob wir auf den inneren Bau eines Weckers schließen wollten, indem wir die verschiedenen Möglichkeiten eruieren, wie der Wecker kaputtgehen kann. Dies ist zwar kein schlechter Ansatz, doch wird er wahrscheinlich keine Details über das Innenleben eines Weckers liefern, insbesondere solange dieser nicht kaputtgeht. In dem Moment, als wir direkt auf Informationen über die Nucleotidsequenzen der DNA zugreifen konnten, mussten wir feststellen, dass die tatsächliche Zahl der fixierten Mutationen das obere von Haldane errechnete Limit etwa um zwei Größenordnungen übersteigt. Mutationen werden viel schneller fixiert, als wir je gedacht haben, und wäre dafür wirklich die Selektion verantwortlich, wären wir alle sicherlich schon seit langem ausgestorben. An irgendeiner Stelle in diesen Berechnungen gibt es also einen Fehler. Einer der möglichen Fehler liegt darin, dass Haldane die gesamte Selektion für zu hart hielt, also für den Typ der Selektion, der die Sterblichkeit all derjenigen Individuen erhöht, die bestimmte Bedingungen nicht erfüllen ( Box 2.2, Abb. 2.4). Auch wenn gerade keine Selektion stattfindet, stirbt immer ein gewisser Prozentsatz der Nachkommen – sei es, dass es sich um die Sterblichkeit der Eier, Embryonen, jungen oder erwachsenen Individuen handelt. Vom Gesichtspunkt der einzelnen Individuen ist diese Grundsterblichkeit ganz zufällig. Wenn in einer solchen Welt irgendeine (weitere) Selektion ausgelöst wird, etwa die Selektion auf die Bildung der Augenlinse, muss sich die Gesamtsterblichkeit nicht unbedingt erhöhen, weil die „Selektionssterblichkeit“ von der ursprünglichen, zufälligen Sterblichkeit abgezogen wird. Eine solche Selektion ist als weich zu bezeichnen, da sie einen gewissen stabilen Anteil der Nachkommenschaft entfernt, und die „schlechten“ Individuen, also die ohne Augenlinse, in diesem Anteil einbezogen sind. Wir können dies am Beispiel von Vögeln veranschaulichen, die ihre Reviere verteidigen. Nehmen
Haldane-Dilemma: Ist die Selektion zu mild, wird keine neue Struktur entstehen, ist sie zu hart, wird die gesamte Population ausgerottet.
Mutationen werden viel schneller fixiert, als bislang angenommen.
Die harte Selektion erhöht die Sterblichkeit all jener Individuen, die bestimmte Bedingungen nicht erfüllen.
Die weiche Selektion entfernt konstant einen gewissen Anteil der Nachkommenschaft, der u. a. die „schlechten“ Individuen enthält.
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2 Selektion
Die weiche Selektion löst das HaldaneDilemma elegant.
Die harte Selektion verursacht die Anpassungen an die Umwelt; bei der weichen Selektion konkurrieren die Organismen eher miteinander.
wir an, dass ein Drittel der Individuen nie ein Revier findet und verteidigt, sich daher nicht fortpflanzt und letztendlich stirbt, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Wenn in dieser Zeit die Selektion zu wirken beginnt, die z. B. große Schnäbel fördert (also eine Eigenschaft, die u. a. bei der Revierverteidigung hilft), bewirkt sie keine zusätzliche Sterblichkeit: Nur in den erfolgreich verteidigten Revieren werden sich die Individuen mit den größeren Schnäbeln fortpflanzen und im Gegensatz dazu wird es unter den erfolglosen Verlierern auffällig wenig großschnäbelige Individuen geben. Die weiche Selektion kann so das Haldane-Dilemma elegant umgehen. Die Anzahl der Leichen nimmt nicht zu, nur sehen diese nicht mehr zufällig aus, sondern beginnen, bestimmte vorhersagbare Eigenschaften aufzuweisen. Betrachten wir die harte und die weiche Selektion noch etwas näher, dann erkennen wir, dass es sich um grundsätzlich unterschiedliche Selektionsregime handelt. Die harte Selektion eliminiert die Individuen, die eine bestimmte Eigenschaft nicht haben, während die weiche Selektion die schlechtesten Individuen ohne Rücksicht auf ihre konkreten Eigenschaften beseitigt. Der harten Selektion hat man sich in dem Augenblick entzogen, in dem bereits alle Individuen ohne die gegebene Eigenschaft aus der Population verschwunden sind, während die
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Typen der Selektion IV Nach der Intensität der Selektionswirkung unterscheidet man: • weiche (milde) Selektion: Hier gibt es keinen absoluten Maßstab; eliminiert werden die Individuen, die im gegebenen Merkmal bestimmte relative Werte nicht erreichen (z. B. wenn die schlechtesten 75 Prozent der Kandidaten, unabhängig von der konkret erreichten Note, nicht zum Studium zugelassen würden).
• harte Selektion: Alle Individuen, die ein bestimmtes Kriterium nicht erfüllen oder eine bestimmte Eigenschaft nicht aufweisen, werden eliminiert (z. B. werden beim Numerus clausus alle Kandidaten, die eine bestimmte festgelegte Note nicht erreicht haben, nicht zum Hochschulstudium zugelassen – egal wie gut sie auch sein mögen).
2.4 Weiche und harte Selektion: Bei der weichen Selektion (links) unterliegt nur ein gewisser prozentualer Anteil der Population dem Selektionsdruck. Bei der harten Selektion (rechts) unterliegen all jene Individuen der Selektion, die bestimmte (Werte ihrer) Merkmale aufweisen bzw. nicht aufweisen.
2.3 Zufall und neutrale Evolution
weiche Selektion fortwährend andauert, da es immer einen schlechtesten gibt. Nicht zuletzt setzen sich bei der harten Selektion die Organismen eher mit der Umwelt auseinander, während sie bei der weichen Selektion miteinander wetteifern: Ob ein Organismus eine Eigenschaft besitzt, ohne die er nicht überlebt (harte Selektion), hängt allein von ihm ab, wohingegen nicht der Schlechteste zu sein (weiche Selektion) bedeutet, dass jemand anderes der Schlechteste ist. Dennoch reicht auch die weiche Selektion allein nicht aus, um das Problem zu vieler fixierter Mutationen zu lösen, obwohl sie plausibel erklären kann, wie sich zumindest ein Teil der Population der Selektion erfolgreich entzieht. Die Lösung unseres Problems ist noch anderswo zu suchen. Schon die alten Darwinisten wussten, dass die Selektion unter bestimmten Bedingungen gar nicht wirkt, und ob eine Mutation fixiert wird oder wieder verschwindet, wird durch Zufallsprozesse entschieden, d. h. durch zufällige genetische Drift.
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Unter bestimmten Bedingungen wirkt die Selektion gar nicht: Dann entscheidet die zufällige genetische Drift, ob eine Mutation fixiert wird oder wieder verschwindet.
2.3 Zufall und neutrale Evolution Stellen wir uns nun eine Population von Blattläusen mit einem gewissen Maß an Variabilität verschiedener Eigenschaften vor – Blattläuse, die unterschiedlich groß, unterschiedlich gefärbt und unterschiedlich tolerant gegenüber hohen Populationsdichten auf Nährpflanzen sind; für jede dieser Eigenschaften existieren zwei Allele: „groß“/„klein“, „schwarz“/„grün“, „tolerant“/„nichttolerant“. Der Wind weht und trägt ein großes, grünes, nichttolerantes, schwangeres Weibchen auf eine entfernte Insel (Blattläuse sind für den Großteil ihres Lebens parthenogenetisch und gebären ohne Beteiligung der Männchen nur Töchter, die eine genaue Kopie ihrer Mutter sind). Auf der Insel entsteht eine neue Population uniformer Blattläuse, die allesamt groß, grün und nichttolerant sein werden (Abb. 2.5). Die gesamte Variabilität ist verschwunden, alle mütterlichen Allele sind mit einem Mal fixiert, und dennoch hat gar keine Selektion stattgefunden. Für diese genetische Änderung ist allein der Zufall, hier in Gestalt des Windes, verantwortlich.
2.5 Rolle des Zufalls: Der Wind weht eine von mehreren existierenden Blattlausformen an einen entfernten Ort. Da hier der Genfluss unterbrochen ist, die Blattläuse sich jedoch ohne Beteiligung der Männchen fortpflanzen können, entsteht durch Zufall eine neue uniforme Gemeinschaft von Blattläusen.
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2 Selektion
Die eigentliche Quelle des Zufallsprozesses ist der Mangel an Individuen.
Motoo Kimura erkannte, dass zufällige genetische Drift immer und überall wirkt.
Keine Population ist unendlich groß.
Diesem Zufallsprozess liegt schlicht ein Mangel an Individuen zugrunde. Sobald die Populationsgröße sinkt, verschwinden einige Allele nicht deshalb, weil sie schlechter sind (und durch die Selektion liquidiert wurden), sondern weil in einer zu kleinen Population kein Platz für alle Allele ist. Üblicherweise gibt es zu wenig biologisches Material, um die gesamte mögliche genetische Variabilität zum Ausdruck zu bringen, sodass Generation für Generation gesetzmäßig einige Allele verschwinden müssen. Ein einmal verlorenes Allel ist definitiv weg, es sei denn, es würde in der Zukunft zufällig durch eine Mutation in exakt der gleichen Form neu gebildet werden. Die erwähnte „Gesetzmäßigkeit“ bezieht sich allerdings nur auf die Anzahl der Möglichkeiten, die verloren gehen (was wiederum von der Populationsgröße abhängig ist), während es vollkommen zufällig und unberechenbar ist, welche Möglichkeiten es konkret betrifft. Ende der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts erkannte der japanische Biologe Motoo Kimura ( S. 35), dass die zufällige genetische Drift immer und überall wirkt, also nicht nur in kleinen Populationen ( Box 2.3, Abb. 2.6–2.10). Es zeigte sich, dass sich in einer unendlich großen Population, in der sich die Paarungspartner rein zufällig auswählen, die Frequenz einzelner Allele nicht ändert, solange keine Selektion wirkt, die ein Allel auf Kosten eines anderen fördern würde. Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass keine Population unendlich groß ist. Stellen wir uns eine Population, in der zwei Allele eines Gens existieren, als Schachbrett vor, bei dem auf den schwarzen Feldern schwarze Figuren und auf den weißen Feldern weiße Figuren stehen. Wir werfen eine Münze und je nachdem, welche Seite fällt, tauschen wir eine schwarze Figur gegen eine weiße aus oder umgekehrt. Wenn das Schachbrett unendlich groß wäre, würde sich die Anzahl der Figuren beider Farben nicht ändern. Im übertragenen Sinne wäre somit die Frequenz der Allele konstant, was den durch Zufall bestimmten Zustand beschreibt, in dem keine Selektion wirkt. Aber auf einem beliebig großen Schachbrett mit einer endlichen Zahl an Feldern – also auf jedem real existierenden Schachbrett – gelangen wir immer in einen Zustand,
2.6 Gendrift: Der Genpool einer (z. B. durch die Senkung des Wasserspiegels beim Austrocknen eines Sees) zufällig abgetrennten Teilpopulation, die in einem begrenzten Gebiet lebt, repräsentiert nur einen kleinen Ausschnitt der möglichen Allele.
2.3 Zufall und neutrale Evolution
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Begriffe, Effekte und Gesetze der Populationsgenetik Gendrift (genauer Alleldrift, Sewall-Wright-Effekt) bezeichnet zufällige Veränderungen in der Verteilung einzelner Allele im Genpool einer bestimmten Population (nicht zu verwechseln mit Genfluss, worunter man den Austausch genetischen Materials zwischen Populationen einer Art versteht). In endlich großen Populationen führt Gendrift zur Fixierung einiger Allele. Ein Allel wird fixiert, wenn seine Frequenz in einer Population 100 Prozent erreicht. Meistens geht die Gendrift darauf zurück, dass der Genpool einer zufällig abgetrennten Teilpopulation nur einen kleinen Anteil der möglichen Allele repräsentiert, und die in der Teilpopulation vorkommenden Allele in einem anderen Verhältnis zueinander stehen als die in der Gesamtpopulation (Abb. 2.6). Bekannte Formen der Gendrift sind der Flaschenhals- und der Gründereffekt. Der Flaschenhals-Effekt beschreibt eine genetische Verarmung der Population, die stattfindet, wenn die Population aufgrund irgendeines plötzlich und nur vorübergehend auftretenden Faktors stark in der Größe dezimiert wird (Abb. 2.7). Als Folge ändern sich die Allelfrequenzen, wobei vor allem die seltenen Allele verschwinden. Allerdings muss der Polymorphismus dadurch nicht markant reduziert worden sein. In der nachfolgenden Phase der Erholung und des Populationswachstums ist die Wirkung der Selektion begrenzt, die Population expandiert im freien Raum, die Rolle der Konkurrenz ist beschränkt: Die meisten Träger der noch vorhandenen Allele können ihre Gene an die Nachkommen weitergeben. Ein Allel, das die Reduktion der Population „überlebt“, wird im folgenden Zeitraum des exponentiellen Wachstums wahrscheinlich nicht mehr eliminiert. Es können auch neu entstandene, leicht schädliche Allele in der Population erscheinen. Etliche Tierarten sind in ihrer rezenten Geschichte durch genetische Flaschenhälse gegangen (u. a. Alpensteinbock, Wisent, Przewalski-Pferd, Goldhamster, Davidhirsch, Kalifornischer Kondor, Arabische Oryxantilope, Hawaiigans und Gepard). Vermutlich hat auch der Homo sapiens vor ca. 75.000 Jahren einen Flaschenhals passiert – verursacht durch die massive Eruption des Vulkans Toba auf Sumatra und die nachfolgende Kälteperiode. In jüngerer Menschheitsgeschichte führte die Beulenpest in Europa zu einem Flaschenhalseffekt. Auch der Gründereffekt führt zur genetischen Verarmung der Population, jedoch hat er andere Ursachen als der Flaschenhalseffekt: Die Betonung
liegt auf der genetischen Abweichung der (z. B. auf einer Insel) neu gegründeten, isolierten Population von der Stammpopulation (die auf dem Festland lebt). In diesem Fall wird eine neue Lokalität durch eine kleine Gruppe (im extremen Fall durch ein einzelnes befruchtetes oder sich parthenogenetisch fortpflanzendes Weibchen) besiedelt. Die wenigen Gründerindividuen repräsentieren den Genpool der Stammpopulation nur unvollständig (Abb. 2.8). Die Rolle des Zufalls ist hier noch ausgeprägter: Der genetische Unterschied entsteht aufgrund der geringen Anzahl an vorhandenen Allelen der an ihrer Gründung beteiligten Individuen und nicht infolge unterschiedlicher Selektionsbedingungen. Der Gründereffekt kann zur Entstehung neuer Arten führen (z. B. Darwinfinken auf den GalápagosInseln) und auch in der Geschichte der Menschen spielte er eine Rolle. Das Hardy-Weinberg-Gesetz (1908, nach dem Mathematiker G. H. Hardy und dem Arzt W. Weinberg) gilt als Grundgesetz der Populationsgenetik. Es bezieht sich auf die Stabilität von Allelfrequenzen in Populationen. Wenn in einer großen, panmiktischen Population (also einer Population, deren Mitglieder sich völlig zufällig miteinander paaren) die Allele a und A in den Frequenzen p und q vorhanden sind, so bleibt dieses Verhältnis auch in den Folgegenerationen erhalten (HardyWeinberg-Gleichgewicht). Die in Abb. 2.9 gezeigte Kreuzungstafel für die F1-Generation und deren Gametenproduktion verdeutlicht dies. In einer idealen Population findet demnach keine Evolution statt, da keine Evolutionsfaktoren greifen, die den mehr oder weniger konstanten Genpool verändern könnten. Der Wahlund-Effekt (1928, nach dem Genetiker S. G. W. Wahlund) entsteht bei Aufteilung einer großen Population in mehrere kleinere genetisch isolierte Populationen (Abb. 2.10). Obwohl sich die Gesamtfrequenzen einzelner Allele in der Metapopulation nicht allzu sehr ändern, werden in den unterschiedlichen Subpopulationen unterschiedliche Allele – nach dem Zufallsprinzip – fixiert, wodurch in diesen Subpopulationen die Heterozygoten verschwinden. Die einzelnen Subpopulationen befinden sich weiterhin im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht, doch gilt das Hardy-Weinberg-Gesetz nicht mehr für die gesamte Population, da die Frequenz der Homozygoten hier höher bzw. die Frequenz der Heterozygoten niedriger sein wird, als es der Frequenz einzelner Allele entspräche.
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2 Selektion
2.7 Flaschenhalseffekt, dargestellt am Beispiel von Fischen in einem See (zeitliche Abfolge von links nach rechts). Nur wenige Individuen überlebten zufällig eine Katastrophe und begründeten eine neue Population.
Zufällige, nichtselektive Prozesse verlangen keine zusätzliche Sterblichkeit.
2.8 Gründereffekt: Die befruchteten Fischeier werden im Gefieder der Wasservögel in einen anderen See übertragen und begründen hier eine neue Fischpopulation.
in dem eine Farbe überwiegt, wobei es auf einem großen Schachbrett nur länger dauert. Wichtig ist, dass wir nicht ahnen, welche Farbe gewinnt, sondern dass wir nur wissen, dass die Variabilität nicht dauerhaft erhalten bleibt. Dabei wirken hier keine selektiven Kräfte, da es sich um einen rein statistischen Prozess handelt. Auch wenn auf dem ursprünglichen Schachbrett die schwarzen und weißen Figuren in unterschiedlichen Anteilen vorkämen, weiße und schwarze Figuren z. B. in einem Verhältnis von 10:1, können wir uns nicht sicher sein, dass letztendlich die weiße Farbe überwiegt und die schwarze verschwindet. Es ist nur zehnmal wahrscheinlicher, aber nicht sicher. Sicher ist nur, dass im Laufe der Zeit eine Farbe verschwindet. Oder stellen wir es uns noch anders vor. Nehmen wir eine Population von Organismen mit zwei Allelen, A und B, deren gegenwärtige Frequenz 1:2 ist, und verteilen wir je 100 Individuen auf 10 Aquarien. Wir können nicht abschätzen, wie die „Evolution“ in einem konkreten Aquarium ausfällt, aber wir wissen, dass in drei oder vier Aquarien letztendlich das Allel A und in sechs oder sieben Aquarien das Allel B fixiert sein wird. Nebenbei heißt das, dass in irgendeinem konkreten Aquarium gelegentlich auch das seltenere Allel fixiert sein wird. Sollte über die Fixierung der meisten molekularen Mutationen die genetische Drift entscheiden, gäbe es kein Haldane-Dilemma: Zufällige, nichtselektive Prozesse sind „kostenlos“, sie verlangen keine zusätzliche Sterblichkeit. Gleichzeitig würde dies jedoch auch bedeuten, dass die Mehrheit dieser „evolutionären“ Veränderungen bedeutungs- und wertlos ist. Eigentlich ist es auch keine Evolution
2.3 Zufall und neutrale Evolution
in dem von uns geforderten Sinn – als eine erklärende Geschichte –, weil es hier nichts zu erklären gibt. Kimuras Theorie der „neutralen Evolution“ weist auf einen wichtigen Sachverhalt hin: Wir können nicht sagen, in welchem Ausmaß die „wirkliche“ (adaptive) Evolution eigentlich stattgefunden hat. Von dem Augenblick an, an dem ein neues Allel entsteht, entscheiden Selektion, Drift oder beide Prozesse über sein weiteres Schicksal. Mutationen, die von der Selektion „verschont“ bleiben, bezeichnen wir als selektionsneutrale Mutationen. Auf den ersten Blick scheinen dies nur die Mutationen zu sein, die sich nicht im Phänotyp des Organismus äußern, also die „unsichtbaren“. Wie viele solcher neutralen Mutationen es gibt, wissen wir eigentlich nicht. Klassische Selektionisten glaubten, dass nur sehr wenige Mutationen neutral seien – vergleichbar dem Anteil positiver Mutationen, die das Funktionieren des Organismus verbesserten. Die absolute Mehrheit aller Mutationen stellten ihrer Meinung nach schädliche Mutationen dar. Die Selektion würde über die Eliminierung des Großteils schädlicher Mutationen entscheiden und ebenso über die Fixierung des kleinen Anteils positiver Mutationen, während das Schicksal der geringen Menge neutraler Mutationen durch die Drift besiegelt wäre. Im Gegensatz dazu nehmen Verfechter der neutralen Evolution wie auch die meisten Molekularbiologen an, dass ein erheblicher Teil der Mutationen selektionsneutral ist und Zufallsprozesse in der molekularen Evolution überwiegen, da ihnen bewusst ist, wie schnell auch riesige Mengen an Mutationen fixiert werden könnten. In der Debatte Selektionismus versus Neutralismus spiegelt sich also ein viel tieferer Streit wider – nämlich der um die Frage, was ein Organismus eigentlich ist. Falls der Organismus eine Art Uhrwerk darstellt, wo einzelne Zahnrädchen passgenau ineinander greifen, sodass das Uhrwerk stehen bleibt, sobald ein Zahn abbricht, dann muss sich fast jede zufällige Änderung negativ auswirken. Die Selektionisten sind überzeugt, dass ein Organismus perfekt und adaptiert
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Nach Ansicht vieler Molekularbiologen sind die meisten Mutationen selektionsneutral; in der molekularen Evolution überwiegen Zufallsprozesse.
2.9 Hardy-Weinberg-Gesetz oder die Stabilität von Allelfrequenzen in Populationen: Sind in einer Population an einem Locus die beiden Allele a und A mit den Frequenzen p und q vorhanden, dann bleibt dieses Verhältnis auch in den Folgegenerationen erhalten. Dies zeigt die Kreuzungstafel für die F1-Generation und deren Gametenproduktion. Beachten Sie, dass die Frequenzen beider Allele (also p + q) in der Summe 1 ergeben. (Nach Janning und Knust 2004)
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2 Selektion
2.10 Wahlund-Effekt: Nach Aufteilung einer großen Population auf mehrere Teilpopulationen steigt die Zahl der Homozygoten (blaue und gelbe Fische).
In kleineren Populationen ist die Wirkung der Drift bedeutender.
ist. Existiert ein Gen in mehreren Allelen und das von ihm kodierte Protein in mehreren verschiedenen Ausführungen, sind diese Formen fein an geringfügig unterschiedliche Umwelten adaptiert, in denen der entsprechende Organismus vorkommt; in jeder konkreten Umwelt ist eines dieser Allele erfolgreicher als die anderen. Die neutralistische Sichtweise ist dagegen lockerer – verschiedene Formen eines Proteins sind gegeneinander austauschbar. Ein neutralistischer Organismus ist also nicht so vollkommen auf seine Umwelt abgestimmt, dass er bei jeder winzigen Änderung funktionsuntüchtig würde. Nichtsdestoweniger entscheidet nur die phänotypische Ausprägung einer Mutation darüber, ob diese wirklich selektionsneutral ist. Der Einfluss der zufälligen Drift hängt von der Populationsgröße ab: Je kleiner die Population, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Drift das Schicksal der Mutation entscheiden wird. Wir kommen zu einem wichtigen und scheinbar paradoxen Schluss. Ob eine Mutation selektionsneutral ist, hängt nicht nur von ihrem Einfluss auf das Funktionieren des Organismus ab, also von ihrer selektiven „Sichtbarkeit“, sondern auch von der Population, in der diese Mutation aufgetreten ist. In einer hinreichend kleinen Population wird sie von der Drift liquidiert oder fixiert und ist daher selektionsneutral, während sie in einer großen Population, wo die Drift weniger wirksam ist, der Selektion unterliegt,
2.3 Zufall und neutrale Evolution
sodass sich dieselbe Mutation mit einem Mal schädlich oder positiv auswirken kann. Natürlich kann sie auch in einer großen Population neutral sein, da einige Mutationen (die „unsichtbaren“) stets neutral sind. Wir sprechen hier vom „Populationskontext“, weil es nicht nur um die tatsächliche Anzahl Individuen in der Population geht, sondern vielmehr um die effektive Größe der Population. Unter bestimmten Bedingungen kann eine „genetisch kleine“ Population sehr viele Individuen beinhalten. Es genügt, dass sich ein Teil der Individuen nicht fortpflanzt oder dass es markante Abweichungen von einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis gibt. Wenn z. B. auf zehn Weibchen nur ein Männchen entfällt, wird das Populationswachstum nicht wesentlich eingeschränkt sein (denn es gibt immer einen Spermienüberschuss), aber alle Nachkommen werden denselben Vater haben. Die genetische Variabilität der Population wird also in den nächsten Generationen niedrig sein, da diese im Wesentlichen nur von den mütterlichen Genomhälften der beteiligten Individuen bestimmt wird. Diese Population wird sich genetisch wie eine sehr kleine Population verhalten – im Vergleich mit einer ebenso großen Population (bezogen auf die Menge der Köpfe) mit einem Geschlechterverhältnis von 1:1 wird hier die zufällige genetische Drift eine viel größere Rolle als die Selektion spielen. In hinreichend kleinen Populationen kann die Drift zufällig auch solche Mutationen fixieren, die in größeren Populationen durch die Selektion ausgesondert würden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch der Mensch während des Pleistozäns eine Evolutionsphase mit einer sehr geringen effektiven Populationsgröße durchlaufen hat ( Box 2.3). Vielleicht sind einige menschliche anatomische Besonderheiten einfach eine Folge dieses genetischen „Flaschenhalses“, in dem es auch eher seltsame Allele geschafft haben, fixiert zu werden. Durch die Fähigkeit der Drift, auch „leicht schädliche“ Mutationen zu fixieren, wird das oben bereits erwähnte Problem umgangen – nämlich den Hang des adaptiven Gipfels immer weiter hochsteigen zu müssen, an dessen Fuß die Art ihre Evolution begonnen hat, ohne in das adaptive Tal zurückzukehren, um so auf den Nachbargipfel zu gelangen. Zufällige, gelegentlich auftretende genetische Prozesse können einen Übersprung ermöglichen, doch tun sie dies nur zufällig und unsystematisch; man kann sich nicht auf sie verlassen. Damit ist also das Grundaxiom nicht widerlegt, dass die Evolution nur die vorherigen Zustände der Merkmale verbessert und nicht die eine optimale Lösung sucht. Zufällige Ereignisse, die hin und wieder den Durchgang durch das adaptive Tal ermöglichen, machen die Evolution sicherlich nicht zu einem geplanten Prozess. Es ist nur schwer vorstellbar, dass zufällige Prozesse auch einige der komplizierteren Merkmale herausbilden können; eher wird es zu „unsichtbaren“ Veränderungen der DNA kommen. Damit kommen wir jedoch von unserem Exkurs über statistische Prozesse zurück zur natürlichen Selektion: Auffällig komplizierte und zweckmäßige Eigenschaften von Organismen sollten durch die Selektion gebildet werden; sie sollten zu etwas gut sein. Manchmal ist es allerdings nicht ganz einfach, ihren (adaptiven) Wert zu erkennen. Wenn wir an der üblichen Vorstellung hängen, dass die Selektion Geschwindigkeit, Kraft, Scharfblick und ähnliche Eigenschaften fördert, die die Organismen gegen
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Die effektive Populationsgröße wird durch die Zahl der sich fortpflanzenden Individuen bestimmt.
Zufällige Prozesse führen eher zu „nichtsichtbaren“ Veränderungen in der DNA als zur Herausbildung komplizierter Merkmale.
Manchmal ist es nicht einfach, den adaptiven Wert eines Merkmals zu erkennen.
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2 Selektion
| 2.4 |
Warum sind Nacktmulle und Menschen nackt? Nacktmulle (Heterocephalus glaber), unterirdisch lebende ostafrikanische hausmausgroße Nagetiere, sind u. a. wegen ihrer Eusozialität ( Box 2.16), der langen Lebenserwartung ( Box 4.8) und ihrer Haarlosigkeit bekannt. Gerade diese, bei Säugetieren ungewöhnliche morphologische Eigenschaft wurde Gegenstand so mancher Spekulation hinsichtlich ihres adaptiven Wertes und ihrer Entstehung. Als Jenny Jarvis 1981 bei Nacktmullen die eusoziale Lebensweise beschrieb, also ein bei den Säugetieren vorher unbekanntes Sozialsystem, weckte sie auch das Interesse der Entomologen und Soziobiologen. Wissenschaftler stellten Hypothesen auf, die die Einzigartigkeiten der Nacktmulle zu erklären versuchten. Allen Hypothesen war gemein, dass sie die Nacktmulle für die einzigen unterirdisch und/oder sozial lebenden Nagetiere und für die einzigen haarlosen Säugetiere hielten. Eine Hypothese schlug vor, dass Nacktmulle ihr Fell nach und nach verloren haben, wobei die natürliche Selektion den Haarverlust begünstigte. Darüber hinaus führte man die adaptiven Vorteile der unterirdischen Lebensweise, der Thermoregulation sozial lebender Tiere, der Abwehr gegen Ektoparasiten etc. als mögliche Gründe für die Haarlosigkeit an. Allerdings gibt es Hunderte von anderen unterirdisch lebenden Säugetierarten, darunter mindestens ein Dutzend sozial lebender Arten, die ihr Haarkleid nicht verloren haben. Ein konvergentes Beispiel, das belegen würde, dass ähnliche Lebensbedingungen zu dieser morphologischen Problemlösung führen, fehlt also. Auf der anderen Seite gibt es, abgesehen von Menschen und Walen, auch noch zwei Arten tropischer Nacktfledermäuse (Gattung Cheiromeles) und eine Reihe von Labortierstämmen und Haustierrassen, die haarlos sind (Abb. 2.11). Oftmals wird auch über nackte, ansonsten lebensfähige und gesunde Individuen verschiedener Arten (Lemuren, Makaken)
berichtet, die immer wieder in Zoos geboren werden und heranwachsen. Offensichtlich kann die Nacktheit ganz spontan und durch eine einfache Mutation in einem oder wenigen Genen bei verschiedenen Säugetierarten entstehen. So ist eine vollkommene Haarlosigkeit und ihre genetische Grundlage auch beim Menschen beschrieben worden. Die betroffenen haarlosen Individuen können aber offensichtlich nur unter stabilen und adäquaten klimatischen Bedingungen (Temperatur und Feuchtigkeit) sowie geschützt vor UV-Strahlung überleben. Dies führt auch zu der einfachsten Erklärung für die Entstehung der Haarlosigkeit bei Nacktmullen: Eine durch Zufall bei den unterirdisch sozial lebenden behaarten Vorfahren der Nacktmulle aufgetretene „Haarlos-Mutation“ konnte sich gerade dank des günstigen Mikroklimas im dunklen Ökotop in den isoliert lebenden Familien schnell fixieren. Unter diesen Bedingungen ist die Haarlosigkeit selektiv neutral, kann sich aber sekundär sogar als adaptiv erweisen. Um es anders auszudrücken: Ein Frühgeborenes kann nur in einem Inkubator überleben, doch würden wir sagen, dass dieses Baby an das Leben in einem Inkubator angepasst ist? Ähnliches gilt für die zahlreichen Spekulationen über die Evolution und die Angepasstheit der „Nacktheit“ des Menschen. Auch hier sollte als Alternative zu den klassischen Standardvorstellungen einer graduellen, durch Naturselektion betriebenen Evolution die durch Gendrift fixierte, spontan entstandene Mutation berücksichtigt werden. Man kann sich im Fall des Menschen (anders als bei den „blinden“ Nacktmullen) auch die sexuelle Selektion als treibende Kraft der Evolution der Haarlosigkeit gut vorstellen. Möglicherweise haben diese Mechanismen (Naturselektion, sexuelle Selektion, Gendrift) den Haarverlust beim Menschen ergänzend positiv gefördert.
2.11 Beispiele von haarlosen, kurz- und langhaarigen Säugetieren. Von links: Sphynx (Nacktkatze), normale Hauskatze, Perserkatze, Silbermull (Heliophobius argenteocinereus), Graumull (Gattung Fukomys), Nacktmull (Heterocephalus glaber) auf einer (nackten) menschlichen Hand.
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2.4 Sexuelle Selektion I: gute Gene
äußeren (Selektions-)Druck widerstandsfähiger machen, wird uns ein kleiner Spaziergang durch den zoologischen Garten zeigen, wie naiv das gedacht ist ( Box 2.4, Abb. 2.11).
2.4 Sexuelle Selektion I: gute Gene Die Organismen haben nicht nur Strukturen evolviert, die ihnen helfen, zu überleben und sich fortzupflanzen, sondern auch solche, die auf den ersten Blick offensichtlich ungünstige Merkmale darstellen. Dazu gehören u. a. der „Pfauenschwanz“ (der eigentlich kein Schwanz ist, wie Ornithologen nie vergessen zu betonen), verlängerte und prachtvolle Federn von Fasanen, Paradiesvögeln oder Kolibris, das Hirschgeweih und in gewisser Hinsicht auch der Vogelgesang – das alles dient keineswegs dem unmittelbaren Überleben der Organismen, oft ist es sogar äußerst hinderlich. Schon Darwin erkannte, dass die natürliche Selektion an sich die Entstehung der bizarren, farbigen und auf verschiedenste Art und Weise vergrößerten Strukturen (sogenannter exzessiver Strukturen) am Körper der Männchen einiger Arten nicht erklären kann. Als Erklärung schlug er die geschlechtliche Auslese (also sexuelle Selektion) vor, bei der die Weibchen die Männchen mit bestimmten besonders ausgeprägten Strukturen wählen und die Männchen diese Eigenschaften im direkten oder indirekten Konkurrenzkampf um die Weibchen einsetzen bzw. damit den Weibchen imponieren. Dass meistens das weibliche Geschlecht wählt und das männliche Geschlecht um die Weibchen kämpft, folgt aus der asymmetrischen Verteilung der elterlichen Investitionen bei der sexuellen Fortpflanzung ( Box 2.5, 2.6). An der Schlüsselbedeutung dieses Mechanismus zweifelt niemand – unklar ist nur, warum es die Weibchen überhaupt machen. Eine Möglichkeit ist, dass bestimmte Merkmale den künftigen Erfolg der Nachkommen eines bestimmten Männchens anzeigen. Die Größe des Geweihs kann z. B. demonstrieren, über wie viel zusätzliche Energie das Männchen verfügt, wie viel Energie es also in die Bildung einer Struktur investieren kann, die eigentlich nicht einmal Bestandteil seines Körpers ist (das Hirschgeweih wird jährlich abgeworfen und mit einer faszinierenden Geschwindigkeit von 1,8 Zentimeter pro Tag erneuert). Diese Energiemenge dürfte einen Hinweis darauf geben, wie viel Energie die Töchter dieses Männchens in ihre Nachkommen investieren können werden, also in die Enkel des Weibchens, das gerade überlegt, welcher Hirsch der richtige ist. Gerade im Fall der Hirsche entspricht dies der Realität – die Geweihgröße des Vaters korreliert sowohl mit der Menge der Milch-Trockenmasse seiner Töchter als auch mit der Größe von deren Nachkommen bei der Geburt. Kein Wunder also, dass die Weibchen die Männchen mit mächtigeren Geweihen wählen. Diese Erklärung hat jedoch einen Haken. Stellen wir uns vor, dass die Qualität des Männchens, repräsentiert durch die Geweihgröße, rein genetisch bedingt sei. In einem solchen Fall werden aufgrund der Weibchenwahl innerhalb weniger Generationen die Allele für dieses Merkmal fixiert und die weitere Evolution der sexuell selektierten Strukturen kommt zum Stillstand, ohne dass diese zu
Darwin erklärte den sekundären Geschlechtsdimorphismus und die Entstehung von „exzessiven Strukturen“ mit der sexuellen Selektion.
Warum die Weibchen überhaupt Männchen mit exzessiven Merkmalen wählen, blieb unklar.
Bestimmte Merkmale können den künftigen Erfolg der Nachkommen eines bestimmten Männchens anzeigen.
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2 Selektion
| 2.5 |
Sexuelle und asexuelle Fortpflanzung unter dem Gesichtspunkt der Evolution Asexuelle (ungeschlechtliche, vegetative) Fortpflanzung beruht ausschließlich auf mitotischen Teilungen der somatischen Zellen eines Elternindividuums. Die Nachkommenschaft ist genetisch identisch mit dem Elternorganismus. Diese Art der Fortpflanzung ist bei Tieren (im Gegenteil zu Pflanzen) eher selten und die meistenTiere, die sich asexuell fortpflanzen, können sich alternativ auch sexuell reproduzieren. Asexuelle Fortpflanzung ist bei niederen Tieren durch totipotente Zellen (also undifferenzierte Zellen, die die Fähigkeit besitzen, den gesamten Organismus zu formen) möglich. Teilung und Knospung sind mögliche Wege der asexuellen Fortpflanzung. Sexuelle (geschlechtliche), genauer bisexuelle Fortpflanzung beruht auf der Existenz zweier Typen von Keimzellen (Gameten), Ei(zelle) und Spermium, die bei der Befruchtung verschmelzen. (Das Vorkommen von zwei verschiedenen Keimzelltypen bezeichnet man als Anisogametie.) In der Regel sind Eier relativ große und unbewegliche Zellen, und das sie produzierende Geschlecht wird als „Weibchen“ definiert. Spermien sind üblicherweise kleine, bewegliche Gameten, die von „Männchen“ produziert werden. Die Gameten entstehen durch Gametogenese (Keimzellbildung), die bei Weibchen Oogenese und bei Männchen Spermatogenese genannt wird. Die Keimzellbildung erfolgt in den (meist paarigen) Gonaden (Keimdrüsen): Ovarien (Eierstöcke) bei Weibchen bzw. Testes (Hoden) bei Männchen. Voraussetzung für die sexuelle Fortpflanzung ist der meiotische Kernphasenwechsel während der Gametenbildung. Dabei wird der diploide Chromosomensatz der Ausgangszelle halbiert, wodurch haploide Gameten entstehen. Durch Verschmelzung von zwei haploiden Gameten, also durch Befruchtung, entsteht eine diploide Somazelle, die sogenannte Zygote. Unisexuelle (eingeschlechtliche) Fortpflanzung (Parthenogese und Gynogenese) stellt eine sekundär reduzierte Form der sexuellen Fortpflanzung dar, die genetisch einer asexuellen Fortpflanzung ähnelt. Auch hier findet kein Austausch genetischen Materials statt. Auch hier pflanzt sich nur ein Elternteil, das Muttertier, fort. Allerdings werden für diese Form der Fortpflanzung Keimzellen eingeschaltet. Ein Individuum entsteht aus einem unbefruchteten haploiden oder diploiden Ei. Die Vorteile der asexuellen Fortpflanzung sind offensichtlich: Eine sich asexuell fortpflanzende
bzw. aus Hermaphroditen bestehende Population könnte sich doppelt so schnell fortpflanzen wie eine Population von Gonochoristen (also getrenntgeschlechtlichen Organismen). Die bewährten Genkombinationen werden 1:1 weitergegeben. Das parthenogenetische Weibchen übergibt seinen Nachkommen die doppelte Menge seiner Gene. Bei der sexuellen Fortpflanzung dagegen zerfällt die Genkombination, die sich gerade bewährt hat ( Box 1.12). Dazu kommen die Kosten der sexuellen Fortpflanzung, welche die scheinbar „unökonomische“ Verteilung der Geschlechter sowie auch die Kosten der Partnersuche umfassen. Bei den meistenTieren werden ebenso viele Männchen wie Weibchen produziert, wobei jedoch, üblicherweise, die Oogenese langsamer abläuft und weniger ergiebig ist als die Spermatogenese. Daher sind die Weibchen für die Fortpflanzung das limitierende Geschlecht: Ein Männchen kann viele Weibchen erfolgreich befruchten, ein Weibchen kann dagegen nur von einem Männchen erfolgreich befruchtet werden. Scheinbar wird in der Natur viel Energie verschwendet, um mehr Männchen zu produzieren als notwendig. Auch die Partnersuche kostet viel Zeit und Energie und ist mit Gefahren durch Räuber und Ansteckung durch Krankheitserreger (denken wir an Gonorrhö, Syphilis, Hepatitis B, AIDS) verbunden. Seit Darwins Zeiten haben sich viele bedeutende Evolutionsbiologen mit der Frage auseinandergesetzt, wo die Vorteile der sexuellen Fortpflanzung liegen, die ihre Kosten (s. o.) kompensieren und die Geschwindigkeit der asexuellen Fortpflanzung ausgleichen. Genauso gut können wir nach den Nachteilen der asexuellen Fortpflanzung fragen. Es gibt zahlreiche Erklärungen, die nicht unbedingt alternativ zu sehen sind. Ein Problem vieler dieser Modelle ist, dass die Vorteile auf Populationsebene, jedoch nicht auf der Ebene der Individuen bzw. deren Allele liegen. Damit fehlt die Ebene, auf der die Selektion ansetzen kann. Die sexuelle Fortpflanzung stellt eine Art der Mischung von Allelen (Amphimixis) dar, ermöglicht damit den Austausch genetischer Information und führt zur Erhöhung der genetischen Variabilität (es entstehen neue, einmalige Kombinationen der von den Eltern geerbten Allele). Dank dieser Tatsache können sich sexuelle Arten schneller an sich verändernde Umweltbedingungen anpassen oder natürliche Ressourcen effektiver nutzen. Die Umwelt ist hetero-
2.4 Sexuelle Selektion I: gute Gene
gen in Raum und Zeit. So nimmt die auf Charles Darwin zurückgehende Tangled-bank-Hypothese* an, dass der Polymorphismus der Nachkommenschaft die ökologische Wertigkeit erweitert (also eine weitere Einnischung ermöglicht) und ihm so einen Vorteil gegenüber den sich asexuell fortpflanzenden Individuen bietet. Die Rote-Königin-Hypothese ( Abschnitt 2.8) betont die zeitlichen Veränderungen und betrachtet die Sexualität als eine adaptive Strategie beispielsweise im Kampf gegen Parasiten. In einem ständigen Wettrüsten zwischen Parasiten und ihren Wirten haben die Parasiten den Vorteil der wesentlich kürzeren Generationszeiten, d. h. der schnelleren Vermehrung und damit auch schnelleren Fixierung von – für sie vorteilhaften – Mutationen. Die Adaptationen zur Abwehr von Parasiten veralten somit schnell. (Auch die Impfstoffe gegen das Grippevirus müssen jedes Jahr * Der Ausdruck tangled bank („dicht bewachsenes Ufer“) bezieht sich auf zwei Stellen im Origin of Species (5. Aufl. 1869, S. 86 u. S. 579).
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neu entwickelt bzw. optimiert werden.) Dank der genetischen Variabilität ihrer sich sexuell fortpflanzenden Wirte sind die Parasiten jedoch in jeder neuen Generation, ja in jedem neuen Wirtsindividuum, mit einer anderen Umwelt konfrontiert, die die Gefährlichkeit ihrer Waffen herabsetzen kann. Dank der Sexualität können durch Neukombination aus alten neue „Mittel“ gegen Parasiten entwickelt werden. Nach einer anderen Vorstellung dient die Sexualität der Elimination von „schlechten“ rezessiven Genen. (Homozygote Träger solcher rezessiven Gene sterben und mit ihnen auch die Gene.) Weitere Hypothesen betonen dieTatsache, dass die Diploidie die Evolution neuer Gene beschleunigt, dass der Polymorphismus die Konkurrenz zwischen Geschwistern untereinander sowie zwischen den Eltern und ihren Nachkommen reduziert, dass dank der sexuellen Fortpflanzung diejenigen Individuen entstehen können, die besonders gut an die aktuellen Bedingungen angepasst sind usw.
exzessiv werden. Es besteht nämlich kein Anlass, dass sich die entsprechenden Strukturen maßlos vergrößern, wenn sie unter dem Gesichtspunkt des Überlebens optimal groß sind; es genügt, wenn das Männchen die Allele hat, um die es geht. Die Auslese der Merkmale, die direkt mit der gegebenen genetischen „Qualität“ korrelieren, führt ganz einfach zu einer schnellen Eliminierung von Individuen „schlechterer Qualität“ und kommt sodann zum Stillstand. Dieses Problem kann umgegangen werden, wenn die genetische „Qualität“ nicht einmalig und dann für immer gegeben ist, sondern immer wieder neu getestet werden muss, weil sich auch die Umwelt ständig verändert. Hirschgeweihe, lange Fasanenfedern, strahlende Farben (interessanterweise bedeutet das englische off-colour: krank), aber auch der Körpergeruch könnte beispielsweise signalisieren, dass das Individuum, um das es geht, nicht mit Parasiten infiziert ist und auch sonst gut für sich sorgen kann (Abb. 2.12). Dieses indirekt erworbene Wissen wäre für das Weibchen von maßgebender Bedeutung – sei es, weil ihr selbst keine Ansteckung droht oder weil ihre durch dieses Männchen gezeugten Nachkommen wahrscheinlich resistenter gegen den Parasiten sind oder beides. Parasiten haben eine schnelle Evolution (im allgemeinen eine schnellere als ihre Wirte) und daher ist es nicht wahrscheinlich, dass sich eine Hirschpopulation allmählich an die Parasitierung anpassen könnte, wodurch die Evolution der exzessiven Strukturen aufgehalten würde – einfach weil sich auch die Parasiten stets verändern. Nach dieser „Hypothese der guten Gene“ sind also die exzessiven Strukturen ein Indikator der momentanen Fähigkeit, sich mit dem veränderlichen Druck der Umwelt, z. B. durch Parasitierung, auseinanderzusetzen. Diese Hypothese hat einen wichtigen Vorteil. Sie erklärt nicht nur die extreme Größe exzessiver Strukturen (nur ein nichtparasitiertes Individuum kann sich so lange Schwanz-
Die genetische „Qualität“ ist nicht einmalig und konstant gegeben, sondern muss immer wieder neu getestet werden, weil sich auch die Umwelt ständig verändert.
Nach der „Hypothese der guten Gene“ zeigen exzessive Strukturen die momentane Fähigkeit an, mit dem veränderlichen Druck der Umwelt zurechtzukommen.
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2 Selektion
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Sexuelle Selektion Charles Darwin postulierte 1871 die „geschlechtliche Zuchtwahl“, um nachteilig erscheinende Eigenschaften zu erklären, die nicht mit dem Konzept der natürlichen Selektion konform gehen. Zu diesen Eigenschaften zählen insbesondere exzessiv ausgebildete sekundäre Geschlechtsmerkmale (z. B. Hirschgeweih, buntes auffälliges Prachtgefieder oder lange Schwanzfedern der Männchen mancher Vogelarten). Die sexuelle Selektion umfasst die intrasexuelle Konkurrenz (meist ein „Männerkampf“) und intersexuelle Wahl (meist durch „Damenwahl“). Die durch sexuelle Selektion entstandenen Merkmale helfen den Männchen in der Konkurrenz um die Weibchen bzw. imponieren den Weibchen. Zumindest in monogamen Paarungssystemen kann man auch Weibchenkonkurrenz und Männchenwahl erwarten ( S. 143). Intrasexuelle Selektion: Bei manchen Arten verwehren die Männchen anderen männlichen Konkurrenten den Zugang zu den Weibchen oder müssen sich diesen Zugang erzwingen. Im Laufe der Evolution bilden sich Strukturen aus, die als Signale beim Imponieren (Körpergröße, Kontrastfarben, Lautäußerungen) und Drohen (Eckzähne) dienen und bei Komment- oder Beschädigungskämpfen als Schutz vor Verletzungen (Mähne des Löwen) oder als Waffe für Angriff und Verteidigung (Geweih) eingesetzt werden. Intersexuelle Selektion: Andere Formen des Sexualdimorphismus, wie das Prachtgefieder, haben außerhalb der Fortpflanzung keine Bedeutung oder vermindern gar die Überlebenschancen des Männchens. Dass sie dennoch existieren, lässt sich durch die Weibchenwahl erklären. Darwin entdeckte und definierte zwar die sexuelle Selektion, konnte aber die wirksamen Mechanismen und Ursachen (z. B. warum und nach welchen Kriterien die Weibchen wählen) nicht (hinreichend) identifizieren. Das Konzept der Elterninvestition (englisch parental investment,Trivers 1972 und 1974, S. 298, Box 5.3) ermöglicht es, die Geschlechterrollen und die Intensität des Paarungswettbewerbs vorherzusagen: Derjenige Sexualpartner, der den geringeren elterlichen Aufwand betreibt, konkurriert mit seinen Geschlechtsgenossen um den Fortpflanzungspartner. Der Partner mit dem höheren Aufwand wählt seinen Sexualpartner nach bestimmten Kriterien aus. Da bei den meisten Tierarten das Männchen weniger Aufwand hat als das Weibchen ( Box 2.5), findet man Männchenkonkurrenz und Weibchenwahl am häufigsten.
Während die der intrasexuellen Konkurrenz dienenden Eigenschaften meistens (wenn auch nicht immer, ( Abschnitt 5.3) nachvollziehbar sind, ist die Antwort auf die Frage, warum die Weibchen bestimmte Merkmale wählen, nicht so einfach. Die Hypothesen sind teilweise komplementär. Gute-Gene-Hypothese: Die gewählten Merkmale stellen Indikatoren für eine gute Kondition und/oder Konstitution dar. So verblassen beispielsweise die rote Kehle oder die blauen Augen der Stichlingsmännchen, wenn sie parasitiert sind. Symmetrische bzw. symmetrisch angeordnete Strukturen (Geweih, Schwanzfedern,Tasthaare) demonstrieren eine fehlerfreie Entwicklung, die nur bei gesunden Tieren mit ausreichenden Ressourcen möglich ist. Die Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale kann den momentanen physiologischen Zustand (bei Zugvögeln auch die Qualität der Winterquartiere) widerspiegeln (Abb. 2.12–2.13). Handicap-Hypothese: Für das Weibchen kann es unter bestimmten Umständen vorteilhaft sein, für die Paarung ein Männchen mit Handicap zu wählen. Das Männchen wäre also durch irgendein Merkmal (z. B. übermäßig lange Schwanzfedern, großes Geweih oder auffälliges, riskantes Verhalten) benachteiligt (Abb. 2.14–2.15). Dahinter steht folgende Logik: Wenn ein Männchen mit einem solchen Handicap das Fortpflanzungsalter erreicht, ist es wahrscheinlich ansonsten überdurchschnittlich tauglich (kräftig, gesund), und auf die Vererbung dieser Allele „spekuliert“ das Weibchen. Mode-Hypothese (Sexy-Son-Hypothese): Welche Merkmale die Weibchen wählen, hängt meistens von den sensorischen Vorlieben der Weibchen ab. Nach dem Konzept des überoptimalen Schlüsselreizes wird erwartet, dass eine Reaktion umso stärker ausfällt, je stärker der Reiz ist (Abb. 2.16–2.18). Da sowohl die Merkmale wie auch die Präferenzen genetisch bedingt sind, werden sehr wahrscheinlich die Söhne der Männchen mit besonders ausgeprägten Merkmalen diese Merkmale ebenfalls tragen und von den Weibchen in der nächsten Generation auch bevorzugt gewählt werden. Korrelieren Merkmal und Fortpflanzungserfolg miteinander, wird in einem positiven Rückkopplungsprozess die Ausprägung dieses Merkmals verstärkt, was zu extremen Ausformungen führen und die allgemeine Fitness der Männchen wieder beeinträchtigen kann. In diesem Fall sprechen wir von der RunawaySelektion (vom englischen runaway : davonlaufen, durchbrennen).
2.4 Sexuelle Selektion I: gute Gene
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2.12 Zeichen „guter Gene“: Leuchtende Farben beim Grünfinkenmännchen (Carduelis chloris, links) oder rote Kehle und roter Oberbauch sowie blaue Augen beim Stichlingsmännchen (Gasterosteus aculeatus, Mitte) zeugen davon, dass das Männchen gut genährt und nicht parasitiert ist. Beim Rotrücken-Salamander (Plethodon cinereus, rechts) erkennt das Weibchen die Qualität des Männchens (besser gesagt, die Qualität seiner Nahrung und damit seine Jagdfähigkeiten) am Geruch des Kots.
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Fluktuierende Asymmetrie Bei den Weibchen einiger Tierarten, insbesondere Vogel- und Säugetierarten, aber auch beim Menschen wurde eine Präferenz für Männchen mit symmetrischen Ornamenten und Strukturen (Schwanzfeder, Geweih, Tasthaar-Anordnung) beschrieben (Abb. 2.13). Der Gegensatz zur Symmetrie ist die Asymmetrie, wobei hier zwei Arten zu unterscheiden sind: Die systematische, funktionelle Asymmetrie finden wir beispielsweise in der Größe und Stärke der Scheren bei Krabben, der Größe und Position der Geschlechtsorgane bei manchen Tierarten (z. B. Eierstöcke bei Vögeln, aber auch Hoden beim Mann, Lungen bei Schlangen, Position des Herzens, der Leber usw. bei den Säugetieren). Die fluktuierende Asymmetrie ist nicht genetisch bedingt und lässt auch kein „System“ erkennen (bei einigen Individuen ist die linke, bei anderen
die rechte Seite dominant ausgebildet, wieder andere Individuen sind im beobachteten Merkmal symmetrisch, und/oder die Symmetrie bzw. Asymmetrie kann sich im Laufe des Lebens ändern). Man nimmt an, dass die fluktuierende Asymmetrie als Folge von Störungen während der Ontogenese entsteht. Die Symmetrie würde damit die Qualität der Ontogenese widerspiegeln. Allerdings hat man festgestellt, dass Personen mit natürlicherweise asymmetrischen Gesichtern als attraktiver gelten als dieselben Personen, deren Gesicht auf einem Foto mittels Bildverarbeitung vollkommen symmetrisch gemacht wurde. Auch bei den Hirschen wurden die früheren Annahmen zur Attraktivität der Symmetrie nicht bestätigt: Hirschkühe bevorzugen Hirsche mit größerem und stärker verzweigtem Geweih, ungeachtet des Symmetriegrades.
2.13 Symmetrie (bzw. fluktuierende Asymmetrie): Die Vibrissen (Sinushaare) beim Löwen, das Geweih beim Sikahirsch, die Schwanzfedern bei der Schwalbe sind symmetrisch angeordnet.
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2 Selektion
Die Symmetrie ist einer der wichtigsten Indikatoren für „gute Gene“.
federn leisten), aber auch z. B. feine filigrane Details von Federn oder anderen Strukturen. Nur ein richtig funktionierender Organismus kann eine vollkommene und symmetrische Zeichnung bilden. Die Symmetrie ist übrigens einer der wichtigsten Indikatoren für Gesundheit ( Box 2.7, Abb. 2.13). Es ist nachgewiesen, dass Schwalbenweibchen Männchen mit möglichst symmetrischen Schwänzen wählen. Diese sind auch am wenigsten parasitiert und reproduktiv am erfolgreichsten (gemessen an der Zahl der Nachkommen des Weibchens, das sie gewählt hat).
2.5 Sexuelle Selektion II: Handicap
Nach der HandicapHypothese ist das Handicap als Indikator für eine ansonsten gute Konstitution anzusehen.
Das Handicap soll die genetische Qualität auf eine glaubwürdige und fälschungssichere Art und Weise signalisieren.
Die Hypothese der guten Gene ist vielleicht die empirisch am besten belegte Erklärung der Entstehung von exzessiven Strukturen. Es existieren jedoch auch andere, unter bestimmten Gesichtspunkten interessantere Hypothesen. Eine der merkwürdigsten, aber vielleicht auch problematischsten ist die „HandicapHypothese“ von Amotz Zahavi ( S. 71). Nach dieser Hypothese führt die Weibchenwahl zur Entstehung von Strukturen, die einen Nachteil für das Überleben des Männchens darstellen, und zwar gerade wegen dieses Nachteils. Dahinter steht folgende Logik: „Dieses Männchen muss schon ein Prachtkerl sein, wenn es mit so einem unsinnigen Schwanz das Erwachsenenalter erreicht hat.“ Auch hier soll das Handicap wieder die Qualität des Männchens beweisen. Anhand des Handicaps könnte das Weibchen testen, was sich das Männchen alles erlauben kann, ohne sein Leben zu gefährden (Abb. 2.14). Das Problem dieser Hypothese liegt darin, dass die Nachkommen des Handicap-Männchens nicht nur seine Qualität, sondern auch das Handicap selbst erben; darüber hinaus können einige aufgrund der Genrekombination nur die „Qualität“ und andere nur das Handicap erben. Solange das Handicap relativ unbedeutend ist oder seine Vererblichkeit unwahrscheinlicher ist als die Vererblichkeit der „Qualität“, könnte der ganze Prozess funktionieren. Nur würde die Hypothese dann kaum die Herkunft von Merkmalen erklären, die vererblich sind und ihre Träger behindern. Zahavi selbst ist heute von seiner ursprünglichen Formulierung ein wenig abgewichen und behauptet, dass seine Hypothese nur unter bestimmten Voraussetzungen funktioniert; z. B. dann, wenn die gegebene Struktur den Gesundheitszustand des Tieres widerspiegelt. Dadurch verliert die Hypothese jedoch ihren Reiz, weil sie praktisch mit der Hypothese der guten Gene verschmilzt. Die genetische Qualität soll auf eine Art und Weise signalisiert werden, die glaubwürdig, also fälschungssicher ist, weil Betrüger ansonsten sofort die guten Gene signalisieren würden, ohne sie wirklich zu tragen. Es genügt nicht, einen Zettel auf der Stirn zu tragen mit der Aufschrift „ich bin intelligent, tüchtig und verlässlich“, weil die Fähigkeit, einen solchen Zettel herzustellen, weder mit Intelligenz, Tüchtigkeit noch Verlässlichkeit korreliert, sondern nur mit der Fähigkeit zu schreiben (und eigentlich noch nicht einmal damit). Die Signale, die über die Qualität informieren, dürfen nicht ohne Weiteres hervorzubringen sein, sodass sie nur von Männchen mit wirklich guter Qualität ausgesendet
2.5 Sexuelle Selektion II: Handicap
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2.14 Vorteile bringende Handicaps: Das Geweih des ausgestorbenen Riesen-Damhirsches (Megaloceros giganteus) oder die Schwanzfedern beim Männchen des afrikanischen Witwenvogels (Vidua orientalis) sind Beispiele für exzessive Strukturen, die ein Handicap darstellen und dennoch (bei der Damenwahl) von Vorteil sind.
werden könnten. Und so ist es nicht verwunderlich, dass ehrliche Signale, deren Bildung und Erhaltung besondere Ansprüche an das Männchen stellen, ein Handicap mit sich bringen. Das bedeutet jedoch nicht, dass jedes Signal über Qualität gleichzeitig auch ein Handicap sein muss. Ein Beispiel ist die schon erwähnte Symmetrie der Schwanzfedern, und wenn wir es verallgemeinern, dann alle Merkmale, die den richtigen Gang der ontogenetischen Prozesse oder einen guten Gesundheitszustand widerspiegeln – z. B. die in der sexuellen Selektion beim Menschen entscheidenden Merkmale wie frische Haut, symmetrische Figur, gesunde Zähne. Alle diese Merkmale werden eindeutig von der sexuellen Selektion bevorzugt. Allerdings können sie die Entstehung der exzessiven Strukturen nicht besonders gut erklären, weil sie ja gerade den „Normalzustand“ demonstrieren. Eine symmetrische Figur kann nicht noch symmetrischer werden, aber ein langer Schwanz kann immer länger werden. Andererseits eröffnet uns die Handicap-Hypothese eine viel interessantere Perspektive, nämlich die, dass die Evolution durch sexuelle Selektion systematisch Strukturen bildet, die die Organismen benachteiligen, bis dies fatal wird. Daraus würde eine etwas ungewöhnliche Schlussfolgerung resultieren: Manche Organismen sind zwar dank der natürlichen Selektion (im engeren Sinne des Wortes) angepasst, aber gleichzeitig sind sie aufgrund der sexuellen Selektion bis zur Grenze des Erträglichen benachteiligt. Gerade bei morphologischen Strukturen funktioniert
Amotz Zahavi Lebensdaten: geb. 1928 Nationalität: israelisch Leistung: Evolutionsbiologe, Verhaltensforscher, Ornithologe, Naturschützer. Bekannt vor allem für seine Theorie des Handicap-Prinzips als Erklärungsmodell für die sexuelle Selektion (1975). Auf Deutsch gibt es von ihm nur ein Buch, das er zusammen mit seiner Ehefrau Avishag Zahavi verfasst hat: Signale der Verständigung. Das Handicap-Prinzip (1998).
Die Gute-Gene-Hypothese kann die Entstehung exzessiver Strukturen nicht erklären.
Manche Organismen sind dank der Naturselektion angepasst, aber gleichzeitig aufgrund der sexuellen Selektion benachteiligt.
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2 Selektion
Das Handicap-Prinzip erklärt auch manche merkwürdigen Verhaltensweisen.
Im Gegensatz zu einer nachteiligen Struktur kann man sich der nachteiligen Verhaltensweise in einer Notsituation einfach entledigen.
Die Handicap-Hypothese kann auch einige eigenartige Verhaltensweisen der Menschen erklären.
es wahrscheinlich nicht so einfach (übrigens haben die meisten Arten eher positive adaptive Merkmale). Wie bereits oben erwähnt, ist es zwar gut, einen Nachkommen zu haben, der von solcher Qualität ist, dass er sich ein Handicap erlauben kann, jedoch hat dieser Nachkomme leider gleichzeitig auch das Handicap, und das ist nicht so gut. Sehr wahrscheinlich lässt sich das Handicap-Prinzip auch zur Erklärung von manchen merkwürdigen Verhaltensweisen heranziehen. Vögel singen mit Inbrunst in der Brutsaison (eine Nachtigall buchstäblich Tag und Nacht), also zu einer Zeit, in der sie sich sehr um ihre Küken kümmern sollten. Die Männchen zeigen, dass sie sich dies erlauben können, dass sie sich und die Küken also auch in dieser Situation ernähren und vor Prädatoren bewahren können. Der Vorteil von dieser Art von benachteiligendem Merkmal ist, dass man es einfach loswerden kann: Sobald eine Notsituation auftritt, wird der Vogel weniger singen und sich um das pure Überleben kümmern. Ein solches Verhalten bringt alle Vorteile eines Handicaps mit sich, weil es die Eignung des jeweiligen Männchens belegt, aber es hat nicht seine Nachteile, weil man es einfach ausschalten kann. Vererbt wird nämlich nicht direkt das Handicap, sondern nur die Fähigkeit es vorzuführen, und diese schadet an sich nicht. Es mag sein, dass viele Verhaltensweisen, die nicht unmittelbar mit dem Überleben verknüpft sind, tatsächlich nur als fälschungssichere Qualitätssignale des Individuums dienen. Viele Organismen leben in Wirklichkeit nicht am Rande ihres Existenzminimums – sie haben genug Nahrung und auch vor Prädatoren brauchen sie sich nicht zu fürchten, sodass die natürliche Selektion bei ihnen im entsprechenden Moment keine entscheidende Rolle spielt, zumindest nicht die harte Selektion. Ihre überschüssige Zeit und Energie können die Männchen dann nach Belieben investieren; für die Weibchen lohnt es sich, diejenigen Männchen zu präferieren, die vorführen können, dass sie tatsächlich Zeit und Energie im Überfluss haben (sodass ihre Nachkommen auch in schlimmeren Zeiten höchstwahrscheinlich überleben werden). Mit dieser Hypothese lassen sich nicht nur einige Verhaltensweisen von Singvögeln, sondern auch solche von Menschen erklären. Eine Reihe von Tätigkeiten, die der Mensch ausübt, scheint unter dem Gesichtspunkt des Überlebens ganz unwesentlich zu sein. Aber gerade diese überflüssigen Handlungen, in die viel Zeit und Energie investiert werden muss, zeugen von den besonderen Fähigkeiten seiner Träger. Die Fähigkeit, Differenzialgleichungen zu lösen oder Symphonien zu komponieren, ist unter dem Aspekt des Überlebens nutzlos. Wenn aber jemand in der Lage ist, Differenzialgleichungen zu lösen und für seine Ernährung zu sorgen, dann muss er wohl außergewöhnlich fit sein. Eine ähnliche Funktion hat beispielsweise auch der kollektive Alkoholkonsum: Sicherlich ist er nicht vorteilhaft, weil Alkohol – wie allgemein bekannt – in größeren Mengen die Gesundheit angreift und die Sinne abstumpft. Wenn es aber jemand schafft, nach dem zehnten Bier nicht nur nicht einzuschlafen und sich auf den Füßen zu halten, sondern dazu noch für gute Unterhaltung zu sorgen, dann handelt es sich (zumindest in den Augen der Mittrinkenden) wahrscheinlich um einen Menschen, der auch für andere Situationen „tauglich“ ist. Derartige Signale lassen sich nur schwer fälschen. Nichtsdestoweniger kennen wir alle die typischen
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2.5 Sexuelle Selektion II: Handicap
Fälschungsversuche: Aufregende Erzählungen von Männern darüber, was sie alles erlebt und wunderlicherweise auch überlebt haben. Der Stolz der Männer auf erlittene Verletzungen und die Neigungen zum öffentlichen Vorführen der Narben sind derselben Herkunft. Das Handicap-Prinzip ist nicht nur auf sexuelle Interaktionen beschränkt. Es kann auf beliebige Situationen übertragen werden und kommt immer dann zum Einsatz, wenn ein Organismus dem anderen, auch dem einer anderen Art, etwas signalisiert. Ein typisches Beispiel sind die Warnsignale verschiedener Vögel, die als erste aus dem Schwarm den sich nähernden Prädator sichten. Die traditionelle Erklärung, dass sie andere Schwarmmitglieder (allesamt nichtverwandte Individuen) warnen und dadurch den Prädator auf sich aufmerksam machen, ist offensichtlich völlig absurd – es gibt keinen Grund, warum gerade ein Vogel, der sich so verhält, mehr Nachkommen hinterlassen sollte als ein egoistischer, leiser Vogel. Sobald ein derartiges altruistisches Verhalten in einer Gruppe entsteht, sollte es sich für die anderen Gruppenmitgliedern lohnen, die Warnung zu empfangen, aber nicht zu erwidern und sich still zu verhalten. Es ist gut, im Schwarm einen Wächter zu haben, und am besten ist es, wenn ich es nicht bin. Die Handicap-Erklärung, die auf detaillierten Verhaltensstudien von einzelnen warnenden Vögeln (insbesondere Graudrosslinge Turdoides squamiceps) basiert, zeigt, dass der rufende Vogel in der Tat auf sich aufmerksam macht – allerdings nicht nur den sich nähernden Prädator, sondern auch andere Schwarmmitglieder, und dadurch erhöht er sein soziales und sexuelles Prestige. Auf dieselbe Erklärung verweist auch das auffällig provokative Springen (sog. stotting oder pronking) einiger Antilopen (z. B. der Thomsongazellen Eudorcas thomsonii oder der Springböcke Antidorcas marsupialis), wenn sie einen Löwen sichten. Es ist vergleichbar mit den verschiedenen Verhaltensweisen „testosterondementer“ junger Männer: Auch sie riskieren ihr Leben auf Motorrädern oder Barrikaden nicht „einfach nur so“: Sie bringen sich in Gefahr, um bewundert zu werden (Abb. 2.15).* Das warnende Individuum signalisiert überdies auch dem Prädator etwas – nämlich, dass es stark, gewandt und furchtlos ist, und daher wahrscheinlich auch schwer erbeutet werden kann, sodass der Prädator gut beraten ist, wenn er jemand anderen angreift. Dass nach dieser Interpretation aus dem vermeintlichen Held ein Verräter wird, ist traurig, steht aber nicht im Widerspruch zu unserer allgemeinen Lebenserfahrung: Auf wirklich altruistische Helden trifft man nur selten. Aber Vorsicht! Auf sich selbst aufmerksam zu machen kann einen teuer zu stehen kommen, denn würde der Prädator nie ein warnendes Individuum angreifen, würden früher oder später alle Individuen „warnen“ und das Signal, egal ob für den Schwarm oder den Prädator bestimmt, würde seine Bedeutung verlieren. Das warnende Individuum muss also irgendwie real
* Wir sprechen hier absichtlich von „Testosterondemenz“ und nicht etwa von „Testosteronsteuerung“ bzw. „Testosterontrieb“. Testosterongesteuert ist auch ein Männchen, das ein Nest baut. Demenz im medizinischen Sinne ist u. a. durch Störungen der Urteilsfähigkeit, Veränderung der Persönlichkeitsstruktur, Beeinträchtigung im sozialen Bereich charakterisiert.
Warnsignale könnten u. a. der Erhöhung des sozialen und sexuellen Prestiges dienen.
Auffälliges Verhalten (sowohl bei Mensch als auch bei Tier) könnte die eigene Vorzüglichkeit demonstrieren.
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2 Selektion
2.15 Riskantes (männliches) Verhalten: Wenn sie einen Löwen sichten, springen einige Springböcke (Antidorcas marsupialis) oftmals auffällig und provokativ in die Luft. Junge Männer (selten sind es Frauen) riskieren ihr Leben auf Motorrädern oder beim „Surfen“ auf Zügen oder S-Bahnen. (Nach diversen Fotos aus dem Internet) Die Individuen, die auf sich aufmerksam machen, geraten tatsächlich gelegentlich in Gefahr (und werden mitunter auch erbeutet).
benachteiligt sein, damit es nur die Stärksten und die Geschicktesten wagen; das Handicap liegt in der Tatsache, dass Individuen, die auf sich aufmerksam machten, gelegentlich doch erbeutet werden. Die Hypothese von Zahavi bietet somit ein hervorragendes Gedankengerüst zur Erklärung von Strukturen und Verhaltensmerkmalen, die vom Standpunkt eines Individuums offensichtlich nachteilig sind. Diese Erklärung ist aber zweischneidig. Mit der Handicap-Hypothese sind wir nämlich in der Lage, alles evolutionär zu erklären: Entweder ist etwas nützlich und dann ist es eine gewöhnliche darwinistische Anpassung, oder es ist nicht nützlich, sodass ein Zahavi-Handicap vorliegt, das zur Demonstration der eigenen Vorzüglichkeit dient, also letztendlich wieder eine merkwürdige Anpassung darstellt. Die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit eines Merkmals an sich bietet keine Information über seine evolutionäre Herkunft – diese lässt sich erst enthüllen, wenn man untersucht, wie das konkrete Merkmal real selektiert wird.
2.6 Sexuelle Selektion III: Mode
Möglicherweise demonstrieren manche Merkmale nicht die Qualität der Männchen, sondern werden nur gewählt, weil sie den Weibchen gefallen.
Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, dass viele exzessive Strukturen ganz anders entstanden sind und gar keine Qualität der Männchen demonstrieren. Die dahinter stehende Idee wurde schon 1930 von Ronald Fisher ( S. 30), einem der Gründer der Populationsgenetik, publiziert und ist somit eigentlich die erste Erklärung, warum Weibchen die extremen Männchentypen auswählen. Fishers Hypothese geht nicht davon aus, dass exzessive Strukturen irgendeine Bedeutung haben. Es reicht, wenn die Weibchen anfangen, die Männchen aufgrund irgendeines ganz obskuren Kriteriums auszuwählen. Sobald die Weibchen, die dazu tendieren, ihren Partner aufgrund eines solchen Merkmals auszuwählen, in der Population überwiegen, zahlt sich dieses Verhalten aus, weil ihre Söhne wahrscheinlich ebenfalls zu den Trägern des präferierten
2.6 Sexuelle Selektion III: Mode
Merkmals gehören und so zukünftig präferiert werden. Wählerische Weibchen werden einen höheren reproduktiven Erfolg haben als die nichtwählerischen, weil andere wählerische Weibchen sich mehr für ihre Söhne interessieren werden. Vorausgesetzt, dass beide Eigenschaften (wählerisches Wesen und das den Kriterien dieses wählerischen Verhaltens entsprechende Merkmal) stark genug miteinander korrelieren, also dass die Nachkommen eines wählerischen Weibchens mit großer Wahrscheinlichkeit beide Eigenschaften haben, wird sich die Zahl der wählerischen Weibchen sowie die Zahl der Männchen, die dem Wahlkriterium entsprechen, in der Population stets erhöhen. Falls es sich um ein relatives Wahlkriterium handelt (z. B. die Auswahl des Männchens mit dem längsten und farbigsten Schwanz im Vergleich mit den übrigen Kandidaten) – was wahrscheinlich ist – wird sich die gegebene Struktur auch stets vergrößern. Wir bezeichnen dies als Trägheitseffekt. Langschwänzige Männchen werden von den Weibchen deshalb präferiert, weil ihre künftigen Söhne dank des vererbten längeren Schwanzes von künftigen Weibchen wahrscheinlich auch bevorzugt werden. Solch ein sich selbst verstärkender Prozess bleibt nach dieser Hypothese so lange erhalten, bis die präferierten Merkmale das Überleben markant erschweren, und er wird in dem Augenblick durchbrochen, in dem die potenziell bevorzugten Männchen nicht mehr die Geschlechtsreife erreichen. Wenn sich in einem solchen Fall die durch die sexuelle Selektion beeinflusste Richtung nicht ändert (es also keine Präferenzänderung in Richtung auf kürzere Schwänze gibt, um bei diesem Beispiel zu bleiben), stirbt die Art aus. (Eine derartige Richtungsänderung tritt jedoch nicht ein, um das Aussterben der Art zu verhindern, sondern geschieht durch Zufall, und man kann sich nicht darauf verlassen.) Weil ein Pfau mit seinem riesigen Schwanzrad immer noch ein relativ bewegliches, und wenn es sein muss, kämpferisches Tier ist, können die Pfauenhennen offensichtlich ihrer Vorliebe für lange Schwänze weiterhin frönen. Bestimmte Merkmale werden von einem Weibchen nur deshalb bevorzugt, damit sie später auch von anderen Weibchen präferiert werden; es handelt sich also um einen Mechanismus, der an die Entstehung einer Mode erinnert. Das Weibchen ist gut beraten, einen Partner zu präferieren, der auch anderen Weibchen gefällt, weil es so die Gefahr verringert, dass ihr eigener, persönlicher Geschmack verworfen wird, und ihre Söhne durch den mehrheitlichen Geschmack der Weibchen in der nächsten Generation abgelehnt werden („SexySon-Hypothese“). Wie allgemein bekannt, läuft es bei Menschen nicht anders. Auch wenn es absurd erscheint, so haben Männer mit erfolgreichem promisken Verhalten keine Probleme, weitere Partnerinnen zu finden, während sich auf Kontaktanzeigen von Männern, die sich als Nichtraucher, Abstinenzler und Liebhaber klassischer Musik beschreiben, meistens Frauen melden, die aufgrund früherer Beziehungserfahrungen weniger selbstbewusst sind ( S. 48). Wie sollen wir unterscheiden, ob exzessive Strukturen die Qualität indizieren oder nur eine zufällig entstandene Mode widerspiegeln? Theoretisch sollte es ein solches Problem nicht geben, denn alle Modifikationen der „Gute-GeneHypothese“ – im Gegensatz zu Fischers Hypothese – nehmen an, dass exzessive Strukturen irgendeine Funktion haben, zumindest in dem Sinn, dass sie irgendwie mit dem Gesundheitszustand des Individuums oder mit seinem
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Ein bestimmtes Merkmal wird von den Weibchen deshalb präferiert, weil ihre künftigen Söhne dank dieses Merkmals wahrscheinlich auch von künftigen Weibchen bevorzugt werden.
Der Trägheitseffekt führt dazu, dass sich ein relatives Merkmal stets relativ verändern wird (z. B. vergrößern). Ein sich selbst verstärkender Prozess bleibt so lange erhalten, bis die präferierten Merkmale das Überleben deutlich erschweren.
Männer mit erfolgreichem promisken Verhalten haben absurderweise in der Regel keine Probleme, weitere Partnerinnen zu finden.
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2 Selektion
Exzessive Strukturen können das Imponiergehabe gegenüber anderen Männchen verstärken.
Erst der Sieger über andere Männchen hat eine Chance, von den Weibchen gewählt zu werden.
Auch der Trend zur Verkleinerung oder Unauffälligkeit eines Merkmals ist mit Fishers Hypothese erklärbar.
reproduktiven Erfolg zusammenhängen. Das Problem liegt nur darin, dass die sexuelle Selektion nicht so einfach verlaufen muss, dass die Weibchen direkt ein Männchen mit einem bestimmten Merkmal präferieren. Vergessen wir nicht, dass außer der intersexuellen Selektion, also der Auswahl der sexuellen Partner, hier auch der intrasexuelle Wettbewerb um Territorien und soziale Dominanz existiert. Exzessive Strukturen können auch eine Folge der natürlichen Selektion sein, insbesondere dort, wo der Dominanzkampf in irgendeiner Form ritualisiert ist, wo sich die Männchen gegenseitig eher durch ihr Aussehen imponieren, anstatt wirklich miteinander zu kämpfen (wie es manche Fische und Vögel, aber letztendlich auch der Mensch macht). Die Weibchen können dann die Sieger solcher Duelle auswählen, gerade weil sie Sieger sind und nicht aufgrund der Eigenschaften, die ihnen den Sieg ursprünglich ermöglicht haben – vielleicht präferieren sie das Dominanzverhalten und nicht etwa große Zähne oder Krallen. Die Tatsache, dass einige balzende Männchen (z. B. Paradiesvögel oder Auerhühner) den Eindruck erwecken, als seien ihnen die Weibchen eigentlich egal, ist nicht rätselhaft – die tatsächliche, unmittelbare Zielscheibe der Aktivität eines Männchens ist ein anderes Männchen, und erst derjenige, der die anderen Männchen erfolgreich (wie auch immer) besiegen kann, hat eine Chance, von den Weibchen ausgewählt zu werden. Dagegen müssen die durch den Trägheitseffekt entstandenen exzessiven Strukturen keine Korrelationen mit anderen Parametern aufweisen. Allerdings hilft uns dies auch nicht weiter, die Rolle der Qualitätsindikatoren von der reinen Mode zu unterscheiden. Eine Korrelation zwischen exzessiver Struktur und Fortpflanzungserfolg kann nicht ausschließen, dass der Trägheitseffekt bei der Evolution des gegebenen Merkmals zumindest mitgewirkt hat (vielleicht begann das Merkmal erst später – als es zum Handicap wurde – auch die Qualität zu indizieren), während das Fehlen einer Korrelation auch einfach nur bedeuten kann, dass das gegebene Merkmal durch Selektionskräfte entstanden ist, die (inzwischen) nicht mehr wirksam sind oder die wir einfach (noch) nicht verstehen. Gegen Fischers Hypothese wurde ein bemerkenswerter Einwand erhoben. Wenn die präferierten Merkmale nicht adaptiv sind, warum entwickeln sie sich nur in eine Richtung, also hin zur größeren Größe oder zu mehr Farbigkeit? Wir könnten uns doch vorstellen, dass die Weibchen eine kleinere Körpergröße beziehungsweise weniger auffällige Färbung vorziehen würden, wenn es nur darum ginge, dass ihre Söhne nach demselben Schlüssel wieder präferiert würden. Die Antwort liegt nahe. Auch dies kann geschehen, nur merken wir es nicht. Die Präferenz für ein kleineres, unauffälligeres Organ führt natürlich zu dessen Verkleinerung und Unauffälligkeit; es gibt tatsächlich eine Reihe von Fällen, in denen sich ein sexuell selektiertes Organ sekundär verkleinerte oder ganz verschwand. Die Reduktion oder der Verlust eines sexuell selektierten Organs kommt vermutlich häufiger vor als seine mehrfache Entstehung – dies ist beispielsweise bei dem sekundären Verlust der auffälligen Färbung amerikanischer Tangaren (Singvögel aus der Familie Thraupidae) oder bei der sekundären Vereinfachung des Baus der Geschlechtsorgane bei Wasserläufern (Gerridae) der Fall. Wir neigen dazu, solche Gegebenheiten so zu interpretieren,
2.6 Sexuelle Selektion III: Mode
dass die sexuelle Selektion irgendwie abgeschwächt wurde oder nachgelassen hat, obwohl es sich eher um eine Umorientierung auf eine andere Eigenschaft oder um ein kompliziertes Zusammenspiel von vielen verschiedenen, voneinander unabhängigen Selektionen handeln könnte. Die Weibchen einiger asiatischer Frösche (Ranidae) begannen beispielsweise damit, anstelle der laut quakenden Männchen mit hohem Testosteronspiegel Partner zu präferieren, die sich weniger „machohaft“ aufführten, weil sich diese (besser) um die Nachkommen kümmern. Die Evolution muss also nicht zwangsläufig zur ständigen Vergrößerung exzessiver Strukturen führen. Es gibt einige Gründe anzunehmen, dass die Richtung der weiblichen Präferenz nicht zufällig ist, sondern irgendeine Primärpräferenz widerspiegelt. Warum fängt ein Weibchen eigentlich an, ein Männchen nach irgendeinem Kriterium auszuwählen? Eine Möglichkeit ist, dass das ausgewählte Merkmal zumindest am Anfang einen adaptiven Wert hat (da es z. B. von guten Genen oder vom guten Gesundheitszustand seines Trägers zeugt) und durch den Trägheitseffekt extrem übertrieben wird. Es ist allerdings auch möglich, dass das Weibchen eine psychische Prädisposition hat, die z. B. mit der Funktion ihrer Sinnesorgane zusammenhängt. Das Gefieder von einigen hawaiischen Kleidervögeln (Drepanidinae) ist knallrot und zwar fast genauso wie die Blüten der Gattung Metrosideros (Eisenhölzer), einer der dominantesten endemischen Pflanzengattungen der Hawaii-Inseln. Unter normalen Umständen würde man dies vielleicht als Tarnfärbung interpretieren, allerdings gibt es auf Hawaii keine ursprünglichen Prädatoren, die die Kleidervögel bedrohen würden. Es wäre also ohne Weiteres denkbar, dass die Weibchen anfingen, Männchen mit einem Gefieder in ihrer Lieblingsfarbe, nämlich der Farbe von Blüten, an denen sie Insekten und Nektar sammeln, anderen Männchen vorzuziehen. Auf den ersten Blick erscheint dies etwas an den Haaren herbeigezogen zu sein (vermutlich präferieren nur die wenigsten Menschenmänner Frauen, die dieselbe Farbe haben wie ihr Leibgericht), jedoch scheinen Vögel andere Erwägungen anzustellen als Menschen. Bei den Vögeln spielen Farben auch eine unvergleichbar wichtigere Rolle als bei den Säugetieren – daher sind Vögel übrigens auch meist bunter gefärbt als Säugetiere. Kein Wunder, dass wir solche Präferenzen nicht nachvollziehen können, da sie uns nicht betreffen. Möglicherweise können hier verschiedene Manipulationsexperimente weiterhelfen. So hat man z. B. festgestellt, dass die Weibchen
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Die Richtung der weiblichen Präferenz ist möglicherweise nicht zufällig, sondern könnte eine Primärpräferenz widerspiegeln.
Die psychische Prädisposition könnte mit der Sinneswahrnehmung (der Weibchen) zusammenhängen.
2.16 Weibchen des amerikanischen Goldzeisigs (Carduelis tristis) bevorzugen Männchen mit einem orangefarbigen Streifen, obwohl es derartige Männchen in der Natur gar nicht gibt, sondern die Streifen angeklebt wurden.
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2 Selektion
des amerikanischen Goldzeisigs (Carduelis tristis) Männchen mit einem orange gefärbten Streifen präferieren, auch wenn es derartige Männchen in der Natur gar nicht gibt, sondern Experimentatoren den Vögeln die Streifen angeklebt hatten (Abb. 2.16). Gleichzeitig präferieren diese Weibchen auch die Männchen mit deutlich orange gefärbten Schnäbeln, sodass anzunehmen ist, dass ihnen ein möglichst orangefarbener Partner gefällt, ganz gleich, wo er diese Farbe aufweist (vermutlich weil die Fähigkeit des Männchens, den orangeroten Farbstoff Karotin zu synthetisieren, mit seiner Immunabwehr zusammenhängt). Dies macht allerdings auch eine gewisse Vorhersagbarkeit möglich: Sobald in einer Population Männchen mit orangefarbenen Flecken auftauchen, werden sie dank dieser psychischen Prädisposition eindeutig bevorzugt (Abb. 2.17). Ähnlich verhält es sich bei mittelamerikanischen lebendgebärenden Zahnkarpfen der Gattung Xiphophorus. Hierzu gehören die bekannten Schwertträger (z. B. Xiphophorus helleri), deren Männchen den unteren Teil der Schwanzflosse in ein langes, kontrastreich gestreiftes Schwert verlängert haben, aber auch die Platys (z. B. Xiphophorus maculatus), die kein Schwert haben. Wir wissen, dass Schwertträger-Weibchen Männchen mit besonders gut entwickelten Schwertern präferieren, doch tun dies die Platy-Weibchen erstaunlicherweise auch, wenn sie Männchen mit aufgeklebten Schwertern zur Auswahl haben (Abb. 2.18). Phylogenetische Analysen der Gattung Xiphophorus zeigen tatsächlich, dass die Vorliebe für Schwerter älter ist als die Schwerter selbst. Die Schwerter dieser Fische scheinen also als direkte Antwort auf die weibliche Präferenz entstanden zu sein. Allerdings ist die Situation noch interessanter: Die Schwerter an der Schwanzflosse gefallen auch den Männchen (obwohl die Weibchen sie nie haben), also handelt es sich offensichtlich um eine allgemeine mentale Prädisposition dieser Fische, die nicht geschlechtsgebunden ist und die von der sexuellen Selektion nur nachträglich verwendet wurde. Im Allgemeinen scheint es, dass alle Zahnkarpfen darauf bedacht sind, die Größe, Farbe und Qualität ihrer Flossen zu untersuchen (denken wir nur an die verlängerten Schwanzflossen von Guppys oder die riesigen Rückenflossen von Breitflossenkärpflingen der Gattung Poecilia). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Aquaristen gerade bei dieser Gruppe so erfolgreich in der Züchtung von verschiedenen Schleierformen sind, da die Fische so begeistert mit ihnen zusammenarbeiten. Es handelt sich jedoch nicht – wie wir es vielleicht erklären würden – um eine einfache Präferenz für große Partner „gemessen“ als Abstand zwischen Maul
2.17 Weibchen der Zebrafinken (Taeniopygia guttata) präferieren Männchen, die einen roten Fußring tragen.
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2.6 Sexuelle Selektion III: Mode
2.18 Schwertträger-Weibchen (Gattung Xiphophorus) präferieren Männchen mit besonders gut entwickelten Schwertern; sogar kleinere Männchen mit langem (auch aufgeklebtem) Schwert werden bevorzugt.
und Schwanzende (in einem solchen Fall würde die Bildung eines Schwertes eine relativ billige Methode darstellen, um groß zu erscheinen), da zumindest bei einigen Arten kleine Männchen mit langem Schwert großen Männchen mit schlecht entwickeltem Schwert vorgezogen werden. Zahnkarpfen mögen ganz einfach schöne Flossen. Eine derartige psychische Prädisposition ist für die Entstehung einer Präferenz gewiss von grundlegender Bedeutung. Das kann allerdings weitreichende Folgen haben, denn solch eine Prädisposition kann ungeachtet des wirklichen adaptiven Wertes eines Merkmals ge- oder missbraucht werden. Wir können uns vorstellen, dass etliche Strukturen gerade deshalb entstanden sind, weil sie es geschafft haben, das andere Geschlecht zu beeindrucken oder zumindest zu verblüffen, wo auch immer die Gründe dafür liegen mögen. Es genügt aber, sich das vervielfachte Augenmotiv am „Schwanz“ des Pfaus oder an den Flügeln des Argusfasans anzuschauen und sich zu vergegenwärtigen, dass auch wir Menschen von Augen besessen sind. Wir sind beispielsweise in der Lage, auch aus relativ großer Entfernung zu registrieren, wenn uns jemand anstarrt. Der Erfolg des vervielfachten Augenmotivs, aber vielleicht auch des (zu) komplizierten Vogelgesangs, steckt in der Manipulation der Psyche des anderen Geschlechts, genauso wie der Erfolg einer Werbung von der Manipulation der Psyche des Kunden abhängt (Abb. 2.19). Es scheint, dass solche Manipulationen sogar ähnlich funktionieren wie die Werbung: Eine der häufigsten Methoden – im Vogelgesang wie in der Werbung – ist gerade das Wiederholungsprinzip. Eine weitere beachtenswerte Hypothese postuliert, dass exzessive bzw. auffällige Strukturen oft in einer extremen Merkmalsausprägung vorkommen, die ursprünglich der Erkennung der Artzugehörigkeit dienten. Wenn es einen guten Grund dafür gibt, dass sich nur die Mitglieder einer Art miteinander verpaaren und wenn sich die Artgenossen z. B. an einem Streifen über dem Auge, anhand einer Haube, am Gesang oder am Hochzeitstanz erkennen, müssen sich die Weibchen auf die Auswahl genau dieser Merkmale konzentrieren. (Und so einen guten Grund gibt es üblicherweise, denn die zwischenartlichen Hybriden sind meistens unfruchtbar oder kaum lebensfähig.) Ein Männchen, an dessen Artzugehörigkeit die Weibchen nicht zweifeln müssen, ist bestimmt im Vorteil. Der Mensch kann sich in eine solche Situation nur schwer einfühlen, aber nur weil unsere nächsten Verwandten Schimpansen sind, die wir Menschen ganz einfach daran erkennen, dass sie im Zoo auf der anderen Seite der Glasscheibe
Der Erfolg des vervielfachten Augenmotivs steckt in der Manipulation der Psyche des anderen Geschlechts.
Manche auffällige Strukturen dienten möglicherweise ursprünglich der Erkennung der Artzugehörigkeit.
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2 Selektion
2.19 Vervielfachtes Augenmotiv im Tierreich: Pfauenrad, Tagpfauenauge (Inachis io).
Die meisten Selektionsprozesse wirken innerartlich.
sitzen. Aber es ist noch gar nicht lange her, dass mehrere Menschenarten gleichzeitig lebten – in Europa z. B. vor ca. 30.000 Jahren die Neandertaler und die modernen Menschen. Tatsächlich weisen die Molekulardaten (auch vom Neandertaler ließ sich DNA isolieren) darauf hin, dass es sich um phylogenetisch ziemlich weit entfernte und wahrscheinlich reproduktiv isolierte Arten handelte (S. 197). Wir können heute nur darüber spekulieren, ob einige morphologische Eigenschaften des heutigen Menschen (wie die ornamental gestalteten Reste der Behaarung, die weiße Augensklera, Form und Farbe der Lippen oder die Form der Ohrmuschel) vielleicht ursprünglich keine sexuell selektierten Strukturen waren, sondern sich aufgrund der Notwendigkeit entwickelten, sich von anderen Menschenarten zu unterscheiden (Abb. 2.20). In diesem Zusammenhang ist es gut, einen auf den ersten Blick trivialen Sachverhalt zu betonen. Arten sind voneinander getrennte Einheiten, die von dem Augenblick ihrer Entstehung an eine eigene Evolution durchlaufen; die überwiegende Mehrheit der Selektionsprozesse wirkt innerartlich. Es ist also absurd, Fragen zu stellen wie beispielsweise, ob Delfine oder Haie besser an das Leben im Wasser angepasst seien, weil Delfine und Haie nicht miteinander um den Reproduktionserfolg konkurrieren. In der realen Welt „messen“ sich diese beiden Arten nicht unmittelbar miteinander, nur sind sie wechselseitig jeweils Teil der „Umwelt“ des anderen, in der sich dessen Evolution abspielt. Dasselbe gilt allerdings auch für die sexuelle Selektion: Der Pfau hat einen langen Schwanz, um den Pfauenhennen zu gefallen, und wenn er ihn nicht hätte, würde er weniger Nachkommen hinterlassen. Dass männliche Rebhühner keinen langen Schwanz haben, ist nicht von Belang – die Rebhuhn-Weibchen wählen ihre Partner zwar bestimmt auch nach irgendeinem Kriterium aus, aber eben nach einem anderen. Die Männchen von Pfau und Rebhuhn konkurrieren nicht um die Gunst der Pfauenhenne, und es wäre daher völlig absurd zu fragen, warum die sexuelle Selektion einen Pfau mit langen Federn herausgebildet hat, wenn sich Rebhühner auch ohne eine solche Schleppe erfolgreich fortpflanzen können. Darüber hinaus ist es notwendig, den anthropomorphen Blick von der sexuellen Selektion abzuwenden. Zum einen mag Tieren auch das gefallen, was uns nicht gefällt (oder was wir nicht bemerken), zum anderen muss es sich gar nicht um das durch Sinnesorgane und das Nervensystem vermittelte Gefallen
2.6 Sexuelle Selektion III: Mode
handeln. Die sexuelle Selektion kennen wir nämlich auch von Pflanzen. Pollenschläuche (lappenartige Gebilde, die bei der Keimung aus den männlichen Pollenkörnern herauswachsen und von der Narbe, also einem weiblichen Organ, aufgenommen werden) konkurrieren darum, welcher von ihnen zu den tief im Fruchtknoten versteckten Eizellen gelangt, und die Mutterpflanze wählt aktiv zwischen ihnen aus. Die Selektion läuft hier unmittelbar auf der Ebene biochemischer Signale zwischen Einzelzellen. Allerdings existiert auch bei Pflanzen die auf Sinnesorganen beruhende sexuelle Selektion, nämlich die durch Bestäuber (insbesondere Insekten-, aber auch Vogel-, Fledermaus- oder Schneckenbestäuber) vermittelte sexuelle Selektion. Die männliche Pflanze muss dabei nicht der weiblichen Pflanze gefallen, die sie ja natürlich auch nicht wahrnimmt (weil sie nichts hat, womit sie sie wahrnehmen könnte), sie muss irgendeinem Kolibri oder einer Fliege gefallen. Diese Form der Selektion ist darüber hinaus nicht auf eine Pflanzenart begrenzt, weil die Bestäuber üblicherweise Blüten von mehreren Pflanzenarten besuchen, sodass die Komplexität der sexuellen Selektionssysteme bei Pflanzen die übliche Situation bei Vögeln, Hirschen oder Fischen übersteigen kann. So oder so, die jeweiligen Hypothesen zur Evolution exzessiver Strukturen schließen sich nicht gegenseitig aus. Jeder dieser Mechanismen kann zwar unabhängig von den anderen fungieren, doch verläuft es im typischen Fall am ehesten wie folgt: Ein Weibchen beginnt, entsprechend seiner psychischen Prädispositionen, das passendste Männchen auszuwählen (vielleicht nur deshalb, weil es die für die eigene Art typischen Züge betont), und diese Präferenz wird dann durch die Wirkung von Fishers Trägheitseffekt verstärkt. Die extrem entwickelten Eigenschaften werden so kostspielig und beeinträchtigend, dass nur die tüchtigen Männchen sie sich erlauben können, die dadurch auf ihre Qualität aufmerksam machen.
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Sexuelle Selektion kennen wir auch von Pflanzen.
Die verschiedenen Hypothesen zur Evolution exzessiver Strukturen schließen sich nicht gegenseitig aus.
2.20 Die weiße Augensklera ist ein artspezifisches Merkmal des Menschen. Schimpansen (Mitte) und andere Menschenaffen besitzen eine braune Sklera. Zwar werden rekonstruierte Vor- und Urmenschen (links) mit „weißen Augen“ dargestellt, was ihnen ein menschliches Aussehen verleiht, doch ist es unklar, wann in der Evolution des Menschen dieses Merkmal entstanden ist und fixiert wurde. (In Anlehnung an das Titelbild vom Stern, Nr. 8, 1998)
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2 Selektion
Die meisten Merkmale der Organismen dienen nicht dem „Überleben“, sondern der Siegeschancen in intra- und interspezifischen Spielen.
Die Erforschung der sexuellen Beziehungen zeigt somit, dass der vorwiegende Teil der Eigenschaften von Organismen nicht dem „Überleben“ dient, wie die alten Darwinisten dachten, sondern eher die Siegeschancen in ziemlich komplizierten intra- und interspezifischen Spielen erhöht.
2.7 Strategie und Stabilität Individuen sind bestrebt, ihren Reproduktionsgewinn (auf Kosten anderer) zu maximieren.
Oft lohnt sich die schnelle Fortpflanzung nicht.
Adaptive Strategien sehen häufig anders aus, als wir es uns vorstellen, da zwischen Individuen oftmals eine Art Spiel abläuft.
Individuen sind bestrebt, ihren Reproduktionsgewinn zu maximieren, den sie – zumindest relativ – nur auf Kosten anderer Individuen erreichen können. Das heißt nicht, dass sie ihre Konkurrenten zwangsläufig töten, aber wenn ein Individuum erfolgreich ist, ist das andere letztendlich gerade deswegen weniger erfolgreich. Als Konsequenz sollte sich also jedes Individuum schnellstmöglich fortpflanzen, seine DNA maximal replizieren und auf ein langzeitiges Überdauern seiner Allele hoffen. So etwa haben wir es uns einmal vorgestellt. Erstaunlicherweise lohnt sich in vielen Fällen die schnelle Fortpflanzung nicht. Stellen wir uns zwei Arten von Organismen vor, rot und weiß, die von einem bestimmten Prädator gejagt werden, und zwar von einem Prädator, der lernt, seine Beute zu jagen. Gleichzeitig konkurrieren rote und weiße Arten um Nahrung, sodass die einen zahlenmäßig nur auf Kosten der anderen zunehmen können. Sobald sich eine Beuteart, z. B. die rote, vermehrt und die weiße verdrängt, beginnt der Prädator, diese verstärkt zu jagen und kann sich auf sie spezialisieren, weil er u. a. schneller lernen kann, sie zu jagen. Dadurch wird jedoch die häufiger vorkommende rote Art stärker durch den Prädator bedroht, während sich die weiße in Ruhe vermehren kann. Die Situation wird sich natürlich wieder umkehren, sobald die weiße Art überwiegt usw. Dort, wo der Erfolg eines Organismus indirekt von seiner Anzahl abhängig ist, kann man nicht dauerhaft überwiegen und siegen. Etwas Ähnliches geschieht z. B. bei Blutparasiten. Gegen die sich schnell vermehrenden Stämme kämpfen die Zellen des Immunsystems, sodass es sich für die Parasiten lohnt, sich zurückzuhalten und sich langsamer zu vermehren. Wie man sieht, kommen wir hier zu keiner optimalen Lösung, da niemand auf Dauer überwiegt. Im Gegenteil, die Koexistenz verschiedener Arten, Stämme oder Allele bleibt erhalten, sodass der Selektionskrieg ewig dauert. Das bedeutet jedoch, dass die adaptive Strategie häufig nicht diejenige ist, die uns theoretisch als die am besten funktionierende einfällt, sondern irgendeine andere – denn hier entscheidet das „Spiel“ zwischen dem Prädator und der Beute oder zwischen dem Parasiten und dem Immunsystem über den Erfolg. Anpassungen des Eisbären an Kälte sehen so aus, wie wir uns Adaptationen üblicherweise vorstellen: Er trägt ein Fell, dessen optimale Dichte, Farbe und Haarlänge wir theoretisch ausrechnen können. Das ist deshalb so, weil der Eisbär mit dem Klima kein Spiel spielt, und das Klima nicht auf die Verdichtung seines Fells antwortet. Denn weder die Verdichtung noch das Ausbleichen der Bärenpelze bewirken eine klimatische Veränderung. Wenn sich allerdings ein Bär auf die Seehundjagd spezialisiert (vielleicht ist er weiß, damit die Seehunde ihn im Schnee nicht sehen), wird die Evolution seines Fells keinen ähnlich endgültigen, „perfekten“ Zustand erlangen, da
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2.7 Strategie und Stabilität
sich die Seehunde selbst daran anpassen, nicht vom Bären erjagt zu werden, z. B. indem sie seine Tarnfärbung durchschauen. Ein guter Bär kann sich an einen ahnungslosen Seehund heranschleichen und ihn erbeuten, aber ein guter Seehund ist niemals ein „ahnungsloser Seehund“ und er lässt sich nicht erbeuten. Überall dort, wo Gegen- oder Mitspieler ins Spiel kommen (Beute, Prädatoren, Parasiten, Wirte, Immunzellen, Sozial- oder Sexpartner), werden die adaptiven Eigenschaften einfach anders aussehen. Die Angepasstheit dieser Organismen ist weniger offensichtlich, weil sie sich an etwas anpassen, das selbst mit einer Gegenanpassung antwortet. Unter dem Begriff „Spiel“ sollten wir uns daher nichts Lustiges oder Harmloses vorstellen, sondern im Gegenteil harte Arbeit. Denn auch so ernste Dinge wie Krankheit, Krieg oder Börsenspekulationen erfüllen die Definition des Begriffs „Spiel“, an den wir hier denken: Als Spiel bezeichnen wir eine Situation, in der der Erfolg eines Akteurs von den Reaktionen seiner Gegner abhängt. In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts änderte sich in der Evolutionsbiologie mit der Entfaltung der Verhaltensökologie einiges: Die damals neu eingeführte Soziobiologie beschäftigt sich mit den ultimaten Ursachen des Verhaltens der Organismen, also mit der Frage, warum ein Tier das macht, was es macht. Am Anfang stand John Maynard Smith ( S. 37), der zeigte, dass die mathematische Spieltheorie, die bis dahin hauptsächlich von Ökonomen benutzt wurde, auch für Biologen sehr nützlich sein kann ( Box 2.8). In den Zeiten vor ihrer Einführung glaubten die Biologen, dass sich die Arten an ihre jeweilige Umwelt immer besser anpassen, sodass die Anpassung immer weiter voranschreitet. Adaptationen dieser Art könnten wir selbstverständlich mehr oder weniger in groben Zügen auch vorhersagen. Das, was die Ökonomen seit langem wissen, lässt die Sache allerdings weniger optimistisch erscheinen: Die Evolution einer Art ist nicht mit einem Sprint vergleichbar, sondern eher mit einer Schachpartie. Die Organismen passen sich zwar an ihre Umwelt an, aber die Hauptkomponenten der Umwelt einer Maus sind andere Organismen wie z. B. Katzen oder Bandwürmer, insbesondere aber auch andere Mäuse. Wenn der Hauptmotor der Selektion gegenseitige Konkurrenz um Ressourcen ist, wird folgendes klar: Je näher sich die Organismen stehen, desto mehr überlappen sich ihre Lebensbedürfnisse und umso mehr konkurrieren sie miteinander. Eine Maus konkurriert vielleicht mit einem Sperling um ein paar Körner, aber bestimmt konkurriert sie mit einer anderen Maus um vieles mehr, und wenn die zwei Mäuse vom selben Geschlecht sind, konkurrieren sie darüber hinaus noch um eine Maus des anderen Geschlechts. Zwei Mäuse konkurrieren auch darum, welche erfolgreicher einer Katze entkommt; die Maus muss nicht unbedingt schneller sein als die Katze, zum Überleben genügt es normalerweise schneller zu sein als andere Mäuse. Worauf es letztendlich immer ankommt, ist die intraspezifische Konkurrenz. Auch ein hungerndes afrikanisches Kind stirbt aufgrund der Konkurrenz: Andere haben ihm alles weggegessen. Intraspezifische Spiele bilden die Grundlage dessen, was in unserem Leben geschieht, und um evolutionär erfolgreich zu sein, muss man insbesondere bei intraspezifischen Spielen Erfolg haben. Das, was wir schon bei der sexuellen Selektion gesehen haben, ist nur ein Spezialfall dieses allgemeinen Prinzips.
Beim Spiel hängt der Erfolg eines Akteurs von den Reaktionen seiner Gegner ab.
Die Soziobiologie untersucht ultimate Ursachen des Verhaltens. Maynard Smith führte die mathematische Spieltheorie in die Biologie ein.
Die Hauptkomponente der Umwelt eines Organismus sind andere Organismen.
Intraspezifische Konkurrenz und Spiele bestimmen unser Leben.
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2 Selektion
| 2.8 |
Spieltheorie Die Ausprägung eines „klassischen“ adaptiven Merkmals (z. B. Körpergröße oder Dichte des Fells) korreliert in der Regel direkt mit den Umweltbedingungen (hier mit der Temperatur), und um die Abhängigkeit mathematisch zu beschreiben, genügen Dreisatz-Kenntnisse. Zur Beschreibung mancher evolutionärer Phänomene müssen wir uns eines weit komplizierteren mathematischen Apparats bedienen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn wir den Verlauf und das Ergebnis des Wettkampfs von Individuen analysieren möchten, die unterschiedliche Strategien nutzen (im einfachen Fall kann der eine Wettkämpfer z. B. auf Schnelligkeit, der andere auf Kraft und Stärke und ein anderer wiederum auf Betrug setzen). Hier kommt die Spieltheorie zum Einsatz. Diese ist ein Teilgebiet der angewandten Mathematik, das sich damit befasst, Systeme mit mehreren Akteuren
(Spielern) zu analysieren. Die Spieltheorie versucht dabei u. a., das rationale Entscheidungsverhalten in sozialen Konfliktsituationen abzuleiten. Für spieltheoretische Arbeiten wurden bisher acht Wirtschaftsnobelpreise vergeben (u. a. 1996 an Reinhard Selten von der Universität Bonn), welche die große Bedeutung der Spieltheorie für die moderne Wirtschaftstheorie verdeutlichen. In die Evolutionsbiologie führten John Maynard Smith ( S. 37) und George R. Price spieltheoretische Ansätze ein. Die Spieltheorie zeigt, dass der Erfolg einzelner Strategien oft von ihrem Anteil in der Population abhängig ist. Einige der seltenen Strategien können nur dann erfolgreich sein, solange sie selten sind. Werden sie mehrfach bzw. von mehreren Individuen angewandt, sinken die Erfolgsaussichten sehr schnell ab ( Box 2.9, 2.18).
| 2.9 |
Evolutionär stabile Strategie (ESS) Die evolutionär stabile Strategie oder ESS (englisch evolutionary stable strategy) ist ein spieltheoretisches Konzept ( Box 2.8), das von John Maynard Smith ( S. 37) und George R. Price 1973 in die Evolutionsbiologie eingeführt wurde. Eine Strategie ist dann evolutionär stabil, wenn sie – sobald sie von den meisten Spielern befolgt wird – von keiner anderen Strategie mehr verdrängt werden kann. Dabei muss diese Strategie ihren „Spielern“ gar nicht den größten Reproduktionserfolg (die größte Fitness) gewährleisten. Dies wird im Haupttext am Beispiel des Falke-Taube-Spiels illustriert. Ein anderes Beispiel, das mit der Fortpflanzung direkt zusammenhängt, ist die Abwanderung der adulten Nachkommen aus dem Elternnest. Im Prinzip haben die Nachkommen, was die Abwanderung (also das Elternhaus zu verlassen) und die Fortpflanzung betrifft, folgende Möglichkeitskombinationen (Strategien): abwandern ja
abwandern nein
sich fortpflanzen ja
+
–
sich fortpflanzen nein
–
+
ESS
Es ist leicht einzusehen, dass die Strategie „nicht abwandern und sich fortpflanzen“ (also zu Hause bei den Eltern bleiben und dort eine eigene Familie gründen) kurzfristig großen Fortpflanzungserfolg bringt; denn man kann u. a. auf die Ressourcen eines etablierten Reviers und die Hilfe durch Familienmitglieder zurückgreifen. Wenn jedoch alle Geschwister diese Strategie verfolgen, kommt es schnell zur lokalen übermäßigen Vermehrung und damit zu steigender Konkurrenz um Nahrung, Partner etc. Diejenigen, die abwandern, gewinnen. Abzuwandern und sich nicht fortzupflanzen ist natürlich, evolutionär gesehen, eine Sackgasse. Abzuwandern und außerhalb des Elternhauses eine eigene Familie zu gründen ist eine ESS, die bei den meisten Säugetierarten zum Einsatz kommt. Auch die Strategie „zu Hause bleiben und auf Fortpflanzung verzichten“ kann eine ESS sein, und wenn man den Eltern und Geschwistern hilft, kann es die eigene Fitness indirekt auch erhöhen ( Box 1.4). Diese Strategie wird (zumindest zeitweise) z. B. von Bibern oder Wölfen, lebenslang von den meisten Nackt- und Graumullen angewandt ( Box 2.16). Diese Strategie war auch auf europäischen Bauernhöfen noch im 19. Jahrhundert üblich.
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2.7 Strategie und Stabilität
2.21 Die Strategien von „Tauben“ und „Falken“ im Vergleich: Bei den Möglichkeiten des Aufeinandertreffens geben die Punktfarben an, ob der Typ viel gewinnt (grün), wenig gewinnt (gelb), viel verliert (rot) oder wenig verliert (weiß).
Wenn Individuen innerhalb einer Population um eine mangelnde Ressource konkurrieren, gibt es zwei idealisierte Grundstrategien, die verfolgt werden könnten: Individuen vom Typ „Falke“ greifen an und kämpfen, bis sie siegen oder verletzt oder getötet werden. Der Typ „Taube“ dagegen gibt zwar vor anzugreifen, macht es dann aber nicht und flieht, sobald er mit einem Gegenangriff konfrontiert wird. Insgesamt kann man sich drei Möglichkeiten des Aufeinandertreffens vorstellen: „Falke“ vs. „Falke“, „Falke“ vs. „Taube“, „Taube“ vs. „Taube“ (Abb. 2.21). Zwei „Falken“ werden sich raufen, und es ist nicht absehbar, wie die Partie ausgehen wird. Somit muss ein „Falke“, der sich auf eine Rauferei einlässt, damit rechnen, dass er mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit verlieren wird, wobei der Verlust ein hohes Risiko bedeutet. Trifft eine „Taube“ auf eine andere „Taube“, kann sie entweder siegen oder fliehen, eine Verletzung droht ihr aber nicht. Das Zusammentreffen eines „Falken“ mit einer „Taube“ ist asymmetrisch, je nachdem von welcher Warte man die Situation betrachtet. Ein „Falke“ verjagt die „Taube“ und gewinnt damit immer; eine „Taube“ flieht, ohne verletzt zu werden, und gewinnt nichts (verliert aber auch nichts). Welche Strategie erfolgreich sein wird, hängt davon ab, wie hoch der Gewinn in Relation zu den drohenden Kosten ist. Es hängt aber nicht nur davon ab, sondern auch von der Zusammensetzung der übrigen Population. Wenn ein neuer „Falke“ (egal ob Mutant oder Immigrant) in einer Reinpopulation von „Tauben“ erscheint, wird sein Zusammentreffen mit einer „Taube“ immer und unter allen Umständen erfolgreich sein. Die „Falkenstrategie“ wird sich innerhalb der Population ausbreiten. Je mehr „Falken“ es allerdings in der Population gibt, desto häufiger treffen sie aufeinander: Die bisher eindeutig rentable Interaktion „Falke“ vs. „Taube“ nimmt zugunsten der riskanten Interaktion „Falke“ vs. „Falke“ ab, und es ist dann nicht mehr so vorteilhaft, ein „Falke“ zu sein. Jede Population kommt somit letztendlich zu irgendeinem optimalen Gleichgewicht zwischen „Falken“ und „Tauben“ (oder auch zu einer reinen „Falkenpopulation“, was vom Wert der umkämpften Ressource abhängig ist). Aus diesem Gleichgewicht kann sie durch keine Mutation und durch keine Immigration von weiteren Individuen gebracht werden, es sei denn, dass diese
„Falke“ (aggressiv, riskierend) und „Taube“ (pazifistisch, nicht riskierend) symbolisieren zwei idealisierte spieltheoretische Grundstrategien, die Individuen im Wettstreit um eine mangelnde Ressource verfolgen können.
Ein „Falke“ wird unter lauter „Tauben“ immer erfolgreich sein, und die „Falkenstrategie“ wird sich innerhalb der Population ausbreiten.
Gibt es viele „Falken“ in der Population, treffen diese häufig aufeinander, sodass die „Falkenstrategie“ bald nachteilig sein wird.
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2 Selektion
Jede Population kommt letztendlich zu irgendeinem optimalen Gleichgewicht zwischen „Falken“ und „Tauben“.
Individuen eine ganz neue Strategie erfinden oder sich das Verhältnis von Kosten zu Gewinn ändern würde. Das Ergebnis dieses Spiels nennen wir eine evolutionär stabile Strategie ( Box 2.9). Sie mag nicht die „beste“ sein, aber sie ist stabil. Die Evolution führt hier offensichtlich zu einer „Kompromisslösung“, die wir wahrscheinlich nicht als optimal bezeichnen würden. Ein idealer Zustand, also ein „Falke“ unter „Tauben“ zu sein, hat auf Dauer keinen Bestand.
2.8 Die Rote Königin – evolutionäres Wettrüsten Besteht die „Umwelt“ eines Organismus vorwiegend aus anderen Organismen, kommt die Evolution nie zum Stillstand.
Die Organismen ändern sich, damit es ihnen nicht noch schlechter geht.
Wenn für einen Organismus andere Organismen die Hauptkomponente seiner „Umwelt“ darstellen, kann die Evolution nie zum Stillstand kommen. Sind wir an das Zusammenleben mit einem bestimmten Organismus angepasst, bedeutet jede Veränderung dieses Organismus, dass wir ein bisschen schlechter angepasst sind und uns neu anpassen müssen. Dies gilt sogar für den Fall, dass sich dieser Organismus – aus unserer Sicht – nur zufällig ändert. Sehr oft ändert er sich jedoch nicht zufällig, weil seine Evolution gerade dahin zielt, uns besser zu „schlagen“. Dieser andere Organismus ist nämlich üblicherweise unser Parasit, Fressfeind, Ehepartner, Chef oder unsere Beute bzw. Nahrung, also im Allgemeinen unser Mit- oder Gegenspieler. Arten und Individuen befinden sich also in einer Situation, welche die berühmte Rote Königin aus Lewis Carrolls Buch Alice hinter den Spiegeln so beschreibt: Sie müssen sich vorwärts bewegen, aber nicht um voranzukommen, sondern um zumindest dort zu bleiben, wo sie gerade sind (»Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muss man noch mindestens doppelt so schnell laufen!«). Die Evolution zielt nicht darauf ab, dass es dem Organismus besser geht, die Evolution verhindert nur, dass es ihm (noch) schlechter geht. Nach Carrolls berühmter Schachfiguren-Königin wurde dieses Prinzip als das der „Roten Königin“ (Red Queen principle) bezeichnet (weil die englischen Schachfiguren rot und weiß sind).* Die Organismen ändern sich also, damit es ihnen nicht noch schlechter geht. Am Anfang steht ein zartes Kraut, das gelegentlich von jemandem gefressen wird. Aus Sicht des Krautes lohnt es sich also, in die Produktion von Dornen oder Nesselhaaren zu investieren. Und denen, die es fressen, bleibt nichts anderes übrig, als irgendeine Gegenmaßnahme, wie z. B. eine dicke Haut oder eine bewegliche lange Zunge zu entwickeln, um so mit den Dornen fertigzuwerden. Die Pflanze beginnt, Alkaloide zu synthetisieren, woraufhin der Fressfeind ein Gegengift erfindet. (Erfindet er es nicht, stirbt er aus, und das Gegengift wird * Die korrekte Übersetzung ins Deutsche müsste eigentlich „Schwarze Dame“ lauten, da die Schachfiguren hierzulande schwarz und weiß sind und die Königin „Dame“ genannt wird. Wir werden in Anlehnung an die deutsche Übersetzung von Carrolls Buch dennoch von der „Roten Königin“ sprechen, unter anderem deshalb, weil der Begriff „Red Queen“ in der englischsprachigen Evolutionsliteratur mittlerweile fest etabliert ist.
2.8 Die Rote Königin - evolutionäres Wettrüsten
früher oder später von der Konkurrenz erfunden werden.) Am Anfang steht eine zarte Pflanze, die gelegentlich gefressen wurde, am Ende steht ein stacheliges und giftiges Monstrum, das ebenfalls gelegentlich von jemandem gefressen wird. Ökologisch gesehen geht es der Pflanze nicht besser, physiologisch sogar schlechter, weil sie viel Energie in ihre Abwehr statt in die Samenbildung investieren muss. Die Phylogenese der Dinosaurier von kleinen eidechsenähnlichen Tierchen bis hin zu den einige Meter großen Ungeheuern − den größten terrestrischen Prädatoren und Herbivoren mit Reihen von langen Zähnen auf der einen Seite und Panzern und knöchernen Kragen mit Dornen auf der anderen Seite − zeigt schön, wohin dieses Wettrüsten führen kann ( Box 2.10). Dasselbe gilt auch innerhalb einer Art. Die Reihe der bereits erwähnten „Sexspiele“ trägt deutlich die Züge der Welt, in der die Rote Königin herrscht. Wenn eine „vernünftige“ Pfauenhenne aufhörte, Männchen mit unsinnig langen Federn zu bevorzugen, würde sie für ihre Vernunft teuer bezahlen müssen, da andere, „unvernünftige“, Pfauenhennen ihre Söhne keines Blickes würdigen würden. Ein Vogelküken schreit, um die Eltern und somit die Nahrung herbeizurufen, wobei es natürlich lauter als notwendig schreit, damit es von den Geschwistern nicht übertönt wird. Es wäre bestimmt für beide Seiten vernünftig, wenn die Küken damit aufhörten, um Prädatoren nicht auf sich aufmerksam zu machen. Nur: Das Küken, das stumm zwischen seinen kreischenden Geschwistern hockt, verhungert. Die Bäume im Wald sind deswegen so hoch, weil ein niedriger Baum von einem hohen Baum beschattet wird. Damit die Bäume genügend Licht bekommen, müssen sie hoch wachsen, weil es alle so machen. Hohe Bäume in einem hohen Wald haben nicht mehr Licht als niedrige Bäume in einem niedrigen Bestand, jedoch haben sie viel mehr Licht als niedrige Bäume in einem hohen Wald hätten. Wir alle bewegen uns stets vorwärts.
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Die Entwicklung der Dinsaurier ist ein anschauliches Beispiel für das evolutionäre Wettrüsten.
Das Vogelküken, das als erstes aufhört zu kreischen, wäre gegenüber seinen kreischenden Geschwistern im Nachteil und würde verhungern.
| 2.10 |
Evolutionäres Wettrüsten Als Koevolution bezeichnen wir die aufeinander abgestimmte, voneinander abhängige, und miteinander verbundene Evolution von zwei Arten oder Gruppen von Arten. Die Koevolution kann den Charakter einer Symbiose haben (z. B. Pflanzen und ihre Bestäuber), die also beiden Akteuren Nutzen bringt ( Box 2.17, 2.24), oder aber mit einem Wettrüsten verglichen werden (Koevolution von Räubern und Beutetieren, von Wirten und ihren Parasiten oder von zwei miteinander konkurrierenden Arten). So wehren sich die Beutetiere bzw. Nahrungspflanzen z. B. durch Bildung härterer Strukturen wie Panzer, Gehäuse, Schalen, Borke etc., worauf die Räuber bzw. Herbivoren ihre Kiefermuskeln und Zähne kräftigen. Als Antwort könnte die Beute Giftstoffe bilden, was bei den Räubern zur Entwicklung von Enzymen führt etc. Die Resistenz mancher Bakterien gegen manche
Antibiotika und die Notwendigkeit, stets neue Anti-biotika zu entwickeln, ist auch ein Beispiel für das evolutionäre Wettrüsten. Manche Paläontologen sind der Meinung, dass die schnellen Diversifizierungen in den Faunen (wie z. B. im Kambrium, ( Box 4.3, 4.4) insbesondere durch ein Wettrüsten zwischen Prädatoren und Beutearten ausgelöst wurden. Die Entstehung und Evolution der Blütenpflanzen werden dem Einfluss der Dinosaurier, die der Gräser dem Einfluss herbivorer Säugetiere zugeschrieben. Sobald eine Art im Tempo dieses evolutionären Wettrüstens nicht mithalten kann, wird sie eliminiert, auch wenn sie ansonsten sehr gut an die abiotischen Umweltbedingungen angepasst ist. In der Natur gilt es, mit den anderen Arten, mit denen man in – wie auch immer gearteten – Wechselbeziehungen steht, Schritt zu halten. Dies ist das Rote-Königin-Prinzip.
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2 Selektion
Matt (Matthew) White Ridley Lebensdaten: geb. 1958 Nationalität: britisch Leistung: Zoologe, Wissenschaftsjournalist, bekannt vor allem als Autor populärwissenschaftlicher Bücher über Evolution. Er popularisierte u. a. erfolgreich das Rote-Königin-Prinzip. In deutscher Übersetzung liegen vor: Eros und Evolution. Die Naturgeschichte der Sexualität (1995), Die Biologie der Tugend. Warum es sich lohnt, gut zu sein (1997), Alphabet des Lebens. Die Geschichte des menschlichen Genoms (2000). Matt R. sollte nicht mit dem britischen Zoologen Mark Ridley verwechselt werden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Art ausstirbt, hängt nicht von der Dauer ihrer bisherigen Existenz ab.
Den ersten Anstoß für das Konzept der Roten Königin gab die Analyse der Aussterberate, die der amerikanische Paläontologe Leigh Van Valen vor 30 Jahren durchführte. Wenn wir die Zahl der Arten irgendeiner Gruppe analysieren, die – sagen wir – mehr als fünf, zehn oder 50 Millionen Jahre überlebt haben, stellen wir fest, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Art ausstirbt, nicht von ihrem Alter, also der Dauer ihrer bisherigen Existenz, abhängig ist. Wäre Evolution wirklich „progressiv“ und adaptiv, so würde die Wahrscheinlichkeit des unmittelbaren Aussterbens allmählich sinken, denn die Arten würden sich ihrer Umwelt allmählich anpassen. In Wirklichkeit geht es den Arten im Lauf der Evolution nicht allmählich besser und besser, aber es geht ihnen auch nicht schlechter. Im Grunde genommen verbessern sich die Arten nicht, denn sie adaptieren sich nur an den momentanen Zustand und der ändert sich laufend. Die Evolution spielt sich auf sandigem Fundament ab. Eine Art lässt sich während ihrer Evolution nicht „belehren“. Das Konzept wurde vor allem durch Matt Ridley ( s. o.) popularisiert. Nur wenige glauben, dass die Rote Königin völlig uneingeschränkt herrscht. Im Gegensatz dazu erkennt jeder an, dass es auch nichtbiologische Gründe für ein Aussterben von Arten gibt, z. B. ein Meteoritenaufprall. Es bleibt jedoch die intuitive Überzeugung, dass die Evolution einer gegebenen (Arten-)Gruppe nicht aufhört, selbst wenn sich die physikalischen Bedingungen der Umwelt, in der die Organismen leben, vollkommen stabilisiert hätten und damit keine umweltbezogenen evolutionären Änderungen notwendig wären, da sich andere Organismen auch noch weiter verändern (und dies unter anderem deswegen, weil die Evolution der gegebenen Gruppe nicht aufgehört hat).
2.9 Altruismus versus Egoismus Ein Aspekt des Verhaltens ist außerordentlich wichtig, um das Funktionieren sozial lebender Tiergruppen zu verstehen. Es geht um die Situationen, in denen ein Individuum sich durch sein Verhalten selbst schadet und seinem Nächsten damit nutzt. Die Eltern vieler Tierarten schützen ihre Nester und Jungen vor Angreifern und bringen sich selbst dadurch oft in ernste Gefahr, ab und zu sogar in Lebensgefahr. Es ist ganz klar, dass sie dies wegen ihrer Nachkommen tun. Aber warum eigentlich?
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2.9 Altruismus versus Egoismus
Die traditionelle Antwort, die auch durch Tierserien im Fernsehen immer wieder propagiert wird, lautet, dass es dem „Wohl der Art“ dient ( Box 1.15). Es geht nun nicht darum, dass wir diese Antwort ablehnen, weil wir an einen solchen Edelmut nicht glauben. Doch ist es schon recht verdächtig, dass das Ermorden von Artgenossen, meistens der Jungen, unter Tieren alles andere als selten vorkommt; und zwar geschieht es meist dann, wenn aus dem Mord irgendein persönlicher Vorteil resultiert, sodass das „Wohl der Art“ zumindest nicht immer an oberster Stelle steht. Häufig hört man das Argument, dass Tierduelle (z. B. bei der Balz) auf verschiedene Art und Weise ritualisiert seien, sodass Verletzung oder Tod nur sehr selten vorkämen; diese Darstellung ist zum einen etwas zu vereinfacht (Verletzung und Tod sind nämlich nicht ganz so selten) und zum anderen hat dies nichts mit dem Wohl der Art zu tun. Natürlich will kein Individuum in einem Duell sterben und die Ritualisierung der Duelle ist eine einfache Folge der Unwägbarkeit, ob man im Duell der mordende Sieger oder das ermordete Opfer sein wird. Die Ritualisierung der Konflikte ist eine einfache und eigennützige Reaktion auf das Überwiegen der riskanten „Falkenstrategie“ in der Population ( S. 85). Altruistisches (= uneigennütziges) Verhalten kommt jedoch auch vor, nur ist es nicht so einfach zu erkennen. Wenn das Tier etwas tut, kann es im eigenen Interesse handeln oder zum Nutzen seiner Gene (auch seiner Zellen, Gewebe und Organe), zum Nutzen der Gruppe, in der es lebt, sowie zum Nutzen der Art, des Ökosystems oder der Mutter Erde, und es ist schwer zu unterscheiden, welche dieser Ebenen die richtige ist. Mit anderen Worten: Wir können nicht entscheiden, auf welcher dieser Ebenen die Selektion gewirkt hat, die das entsprechende Verhalten hervorbrachte ( Box 2.11, Abb. 2.23). Schauen wir uns daher nochmals das Beispiel der Wächter an, die vor einem sich nähernden Beutegreifer warnen. Wächter finden wir auch bei Erdmännchen, kleinen südafrikanischen Raubtieren (auch Surikaten oder Scharrtiere genannt), die in Familien leben, wobei ein Mitglied immer auf einer Erhöhung steht und die Gruppe bewacht (Abb. 2.22). Die Frage lautet: Handelt es sich hier um altruistisches oder vielleicht doch um egoistisches Verhalten? Damit solch ein auf gegenseitiger Unterstützung der Familienmitglieder (Reziprozität, „Wie du mir, so ich dir“) beruhendes System funktioniert, sollten ein paar Voraussetzungen erfüllt sein ( Box 2.12): Die Wächter sollten häufiger gefressen werden als die bewachten Individuen, die einzelnen Erdmännchen sollten sich bei der Wache regelmäßig abwechseln, die Bereitschaft zum Wachehalten sollte nicht vom augenblicklichen Hunger oder Sättigungsgefühl des Individuums abhängen, solitär lebende Individuen sollten keinen Dienst tun. Es gibt aber noch eine alternative Erklärung: Ein Erdmännchen mit vollem Bauch hat sowieso nichts zu tun und hält deswegen Wache, weil der Wächter die Gefahr als Erster sieht und flüchten kann; in dem Fall hütet es sich selbst. Freilanduntersuchungen in der Kalahari zeigten, dass der Wächter den Prädator wirklich als Erster sieht und ihm schon deshalb nie zum Opfer fallen würde, weil er sich zum Wachehalten nie weiter als fünf Meter vom eigenem Erdloch entfernt. Auch konnte experimentell bestätigt werden, dass die Bereitschaft, Wache zu stehen, vom Sättigungsgrad abhängt,
Verhalten, mit dem sich ein Individuum selbst schadet, aber einem Artgenossen hilft, wurde traditionell so interpretiert, dass es dem „Wohl der Art“ dient. Infantizid („Kindstötung“) kommt in der Natur häufig vor.
Kämpfe werden meist dann ritualisiert, wenn die riskante „Falkenstrategie“ in der Population überwiegt; sie sind somit eigennützig.
Es ist nicht immer einfach zu erkennen, auf welcher Ebene die Selektion wirkte, die ein altruistisches Verhalten geformt hat.
2.22 Eine Gruppe von Zwergmungos (Helogale undulata) mit einem Wächter im Vordergrund. (Modifiziert nach einer Illustration von R. Hoffmann in A. E. Rasa 1988)
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2 Selektion
Die individuelle Selektion kann Eigenschaften hervorbringen, die zusätzlich auch für die ganze Gruppe von Nutzen sind.
da die künstlich zugefütterten Erdmännchen wie erwartet mehr Zeit der Bewachung widmeten, weil sie nicht auf Nahrungssuche gehen mussten. Außerdem wurde gezeigt, dass es keine regelmäßige Wachordnung gibt und ein Individuum nur registriert, ob ein anderes Gruppenmitglied schon Wache steht oder nicht. Die Erdmännchen hüten also vor allem sich selbst, und es scheint, dass die individuelle Selektion hier eine Eigenschaft hervorgebracht hat, die zusätzlich auch für die ganze Gruppe von Nutzen ist. Vergessen wir nicht, dass es sich darüber hinaus auch um eine Form des Handicap-Verhaltens handeln kann, dass also ein wachendes Erdmännchen nur den anderen Erdmännchen zeigen will, wie toll es ist.
| 2.11 |
Das kooperative Graben der Nacktmulle In modernen Lehrbüchern der Verhaltensbiologie finden wir oft das Bild der in einer Kolonne grabenden Nacktmulle (Abb. 2.23). (Ältere Lehrbücher haben die 1981 beschriebene Existenz der Eusozialität ( Box 2.16) der Nacktmulle noch nicht zur Kenntnis genommen.) Die Abbildungsunterschrift informiert darüber, dass die Arbeiter einer Nacktmullkolonie beim Bau der Gänge nach Art einer Tunnelfräsmaschine mit Förderbandanlage kooperieren. Das vorderste Tier beißt mit den Schneidezähnen Erdreich los, befördert den Abraum unter seinen Bauch hinweg zum nächsten Tier, das die Erde rückwärts laufend dem letztenTier der Kolonne, dem sogenannten kicker zuschiebt und dann über die anderen Tiere hinweg wieder nach vorne kriecht. Der kicker befördert den Abraum mit den Hinterbeinen in einer Fontäne nach draußen. Wie kommt diese offensichtlich gut organisierte Kooperation zustande? Zunächst muss man sagen, dass das „Kolonnengraben“ nicht nur bei Nacktmullen, sondern auch bei sozial lebenden Graumullen vorkommt. Nackt- und Graumulle gehören zu den afrikanischen Sandgräbern (Familie Bathyergidae) und alle Vertreter dieser Nagetierfamilie leben unterirdisch in selbst angelegten Gangsystemen. Sie haben einen natürlichen Trieb zu graben, genauso wie eine Katze einen kaum zu stillendenTrieb hat, Mäuse zu fangen, oder ein passionierter Jogger jeden Tag joggen möchte. Einen neuen Tunnel zu graben, ist für einen Nackt- oder Graumull jedoch immer schwieriger und weniger attraktiv als an einem schon bestehenden Tunnel weiterzuarbeiten. Um Platz zum Weitergraben zu haben, muss ein einzelner Gräber zunächst den abgebissenen Abraum abtransportieren. Wenn er das macht, wird allerdings der Platz vorne frei, und sofort nutzt das ein anderes Tier, um auch kurz fräsen zu dürfen.
Man kann diese vordere Position etwas länger halten, indem man die Erde nur nach hinten durchschiebt. Den nachrückenden Tieren bleibt nichts anderes übrig, als zunächst diesen Abraum abzutransportieren, um nach vorne zu gelangen. Und da der kicker das letzte Glied der Arbeitskolonne ist und stets gut mit Arbeit versorgt ist, bleibt auch ihm nichts anderes übrig, als die Erde stets hinter sich, nach draußen, zu befördern. Im Prinzip ist es für die Beteiligten eine Sisyphos-Arbeit „in der Hoffnung“, dass sie auch mal fräsen dürfen. Und tatsächlich kommt es dazu, dass auch die erste und letzte Position gewechselt werden. Im Prinzip verfolgt also jedes Individuum seine eigenen egoistischen Ziele (den eigenen Trieb zu befriedigen und dabei am Werk eines anderen „zu parasitieren“) – und dennoch entsteht eine effektive Zusammenarbeit, die wir sogar als Arbeitsteilung interpretieren.
2.23 Das Graben in Kolonnen beim Nacktmull: Auf den ersten Blick sieht es zwar so aus, als ob die Tiere eine feste Position einnähmen, tatsächlich wechseln sie sich mehr oder weniger regelmäßig ab, sodass ihr Trieb zum Graben (an erster Position) befriedigt wird. (Nach Jarvis und Sale 1971)
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2.9 Altruismus versus Egoismus
Es wird also notwendig sein, sich auf die Eigenschaft zu konzentrieren, die einem Individuum unter keinen Umständen nützlich sein kann und daher zweifellos altruistisch ist: Die Einschränkung der eigenen Fortpflanzung zugunsten der Gruppe. Angenommen die Grundeinheit der Evolution sind nicht die Individuen selbst, sondern Gruppen von Individuen, die um irgendwelche Ressourcen konkurrieren. Dann könnte eine Gruppe altruistischer Individuen erfolgreicher sein als eine Gruppe von sich gegenseitig schwächenden Egoisten. Der Vorteil einer altruistischen Gruppe könnte auch darin bestehen, dass sich ihre Angehörigen irgendwie auf eine verlangsamte Reproduktion „einigen“, wodurch die ganze Gruppe zu einer langfristigen und „nachhaltigen“ Entwicklung übergeht, während die Konkurrenzgruppen aus egoistischen Individuen sich so schnell wie möglich fortpflanzen, damit aber ihre Ressourcen auch schnell verbrauchen. In einer solchen Situation kann sich der Altruismus zweifellos verbreiten und wir glauben, dass er auch überwiegt – die Frage ist, was dann geschieht. Wir haben also rein altruistische und rein egoistische Gruppen. Gerät ein Altruist in eine Gruppe von Egoisten, z. B. als Immigrant oder lokaler Mutant, passiert nichts: Ein altruistisches Individuum wird sich seltener oder langsamer vermehren und seine Eigenschaften werden sich nicht in der Gruppe halten. Erscheint allerdings in einer Gruppe von Altruisten ein Egoist, wird sich dieser schneller vermehren als die anderen, sodass sich seine Allele in der nächsten Generation besser durchsetzen werden als die Allele der ursprünglichen, altruistischen Individuen. In den nächsten Generationen werden also die Egoisten zum Nachteil der Altruisten zahlenmäßig zunehmen. Die Beziehung zwischen altruistischen und egoistischen Gruppen ist nicht symmetrisch, da sich altruistische Gruppen vom Egoismus anstecken lassen können und somit
Gerät ein Altruist in eine Gruppe von Egoisten, passiert nichts; dagegen wird sich ein Egoist in einer Gruppe von Altruisten schnell vermehren.
| 2.12 |
Evolution der Zusammenarbeit Bereits Darwin erkannte, dass die natürliche Selektion ein Merkmal, das nur von Nutzen für eine andere als die eigene Art ist, nicht fördern kann. Die moderne, auf der Grundlage des egoistischen Gens und der Spieltheorie basierende Sichtweise nimmt an, dass die Kooperation zwischen Individuen, egal ob sie derselben Art oder unterschiedlichen Arten angehören, besonders empfindlich auf die Evolution der Kooperationsverweigerer reagieren sollte. Allerdings finden wir in der Natur viele Beispiele für Kooperationen sowohl innerhalb wie auch zwischen den Arten. Schon Darwins Zeitgenosse, Fürst Petr Kropotkin, wies in seinem Werk Mutual Aid – A Factor of Evolution (1902) auf die Tatsache hin, dass Kooperationen und andere Formen der sozialen Interaktionen in der Evolution eine wichtige Rolle spielen können. Ähnlich argumentierte später auch Lynn Margulis ( Box 2.24, S. 116), dass Kooperation und mutualistische
Interaktion zwischen Organismen (Symbiose) in der Evolution nicht weniger bedeutend sind als Konkurrenz. Allerdings muss man sagen, dass der altenglische Ausdruck „concurrency“, den Darwin benutzte, damals eine Doppelbedeutung hatte: 1. Rivalität und 2. Kooperation. Darwin sah die Wechselwirkungen zwischen den Organismen nicht nur als Kampf ( Box 1.4). Unter dem Gesichtspunkt der Evolution gibt es drei Haupttypen der Kooperation, die sich nicht ausschließen und zwischen denen keine scharfe Grenze verläuft: 1) Kooperationen, die als Nebenprodukt bzw. Folge der anfänglich egoistisch motivierten individuellen Aktionen zum Nutzen der Gruppe sind; 2) Kooperationen, die aufgrund der Verwandtenselektion entstehen; 3) reziproke Kooperationen zwischen Individuen („Wie du mir, so ich dir“ oder englisch tit for tat).
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2 Selektion
Ein Verhalten, das nur dem Wohl der Gruppe dient, ist nicht ausreichend stabil, um langfristig zu bestehen.
vernichtet werden, doch es gilt nicht umgekehrt. Ein rein zum Wohl der Gruppe gerichtetes Verhalten kann zwar funktionieren, aber nicht lange, weil es – in evolutionären Zeitmaßstäben – nicht ausreichend stabil ist.
2.10 Verwandtenselektion und Familienprotektion
Hilfe gegenüber Verwandten kann dazu führen, dass mehr der eigenen Allele (einschließlich der Allele für den Familienprotektionismus) in die nächste Generation gelangen. Ein extremer Fall der genetischen Verwandtschaft sind Klone von Individuen.
Bilden Klone eine kohärente Kolonie, gibt es unter ihnen häufig auch spezialisierte „altruistische“ Individuen. Diese Kolonie kann als Individuum in vielen Körpern angesehen werden.
Die Eltern vieler Vogel- und Fischarten schützen ihr Nest ungeachtet des damit verbundenen Risikos. Egoistische Eltern, die heimlich vor dem Prädator fliehen, könnten in der Population nicht überwiegen. Der Unterschied zwischen Eltern und Nachkommen einerseits und anderen Gruppen von Organismen andererseits besteht offensichtlich darin, dass Eltern und Kinder genetisch miteinander verwandt sind, dass es sich also nicht um irgendeine Gruppe, sondern um eine Familie handelt, deren Mitglieder mit hoher Wahrscheinlichkeit dieselben Allele teilen. Der Motor des gesellschaftlichen Lebens aller sozialen Wesen ist die Familienprotektion. Gegenüber ihren Verwandten sind Menschen, Wölfe oder Ameisen im Durchschnitt milder gestimmt und weniger eigennützig als gegenüber nichtverwandten Individuen. Eine evolutionäre Erklärung liegt auf der Hand: Wer in einer Krise hauptsächlich seinen Verwandten hilft, bringt mehr seiner Allele durch (einschließlich der Allele für den Familienprotektionismus) als jemand, der dies nicht tut. Denn einige „seiner“ Allele überleben in ihm und seinen Nachkommen und andere in seinen Verwandten und deren Nachkommen. Mit dem eigenen Bruder zu kämpfen ist nicht vernünftig, da eine Niederlage eines der Kämpfer den biologischen Erfolg von beiden mindert. Ein extremer Fall der genetischen Verwandtschaft sind Klone von Individuen, die durch asexuelle oder parthenogenetische Fortpflanzung entstanden sind, indem die Weibchen exakte genetische Kopien ihrer selbst produzieren. Beispiele kennen wir von Blattläusen oder Wasserflöhen. Wenn die so entstandenen Individuen darüber hinaus noch eine kohärente Kolonie bilden, kommen häufig auch spezialisierte „altruistische“ Individuen vor. Einige Individuen in den Kolonien von Moostierchen oder Salpen haben sich auf die Fortbewegung spezialisiert, andere auf Verteidigung oder Nahrungsaufnahme und nur wenige pflanzen sich fort. Auch dort, wo genetisch identische Klone von Blattlausschwestern den geschlossenen Raum einer Galle auf einer Nährpflanze bewohnen, spezialisieren sich einige auf die Verteidigung dieses Raums und pflanzen sich nicht fort. In diesem Zusammenhang von Altruismus zu sprechen, ist allerdings fragwürdig, wenn wir unter Altruismus eine gegenseitige Beziehung verschiedener Individuen verstehen, da alle Blattlausindividuen innerhalb einer Galle genetisch identisch sind. Es handelt sich vielmehr um ein Individuum in vielen Körpern und somit um denselben Typ von Altruismus, der z. B. die Augen- und die Magenzellen unseres Körpers verbindet. Das Problem mit dem „Altruismus“ von Blattlausschwestern entsteht insbesondere dadurch, dass den Zoologen ähnliche Situationen eher unbekannt sind: Bei Tieren ist der Körper für gewöhnlich mit dem genetischen Individuum identisch. Bei Pflanzen ist der Widerspruch zwischen
2.10 Verwandtenselektion und Familienprotektion
Genetik und Morphologie nicht so ungewöhnlich, denn parthenogenetische und ungeschlechtliche Fortpflanzung kommen bei ihnen wesentlich häufiger vor. Die Fähigkeit der Pflanzen, sich ungeschlechtlich durch vegetative Vermehrung fortzupflanzen, ist auf die große Plastizität der Pflanzengewebe zurückzuführen. Pflanzen pflanzen sich so häufig ungeschlechtlich fort, dass sich sogar der Begriff „Fortpflanzung“ daher ableitet. Man kennt den Vorgang etwa von der Erdbeere, die mit ihren Ausläufern ganze Beete überwuchern kann, oder von Quecke und Giersch als mit Ausläufern wuchernden Unkräutern. Es ist daher gar nicht so eindeutig zu bestimmen, was bei einer Quecke eigentlich ein „Individuum“ ist, und bei einigen Feigen entsteht aus einem Samen allmählich ein ganzer Wald. Allerdings spricht man bei Pflanzen auch nicht so oft von Altruismus. Bei den sich sexuell fortpflanzenden Organismen sind Eltern und Nachkommen nicht identisch, aber genetisch nah verwandt. Jeder Elternteil ist diploid, trägt somit zwei Kopien jedes Gens (manchmal zwei verschiedene Allele, manchmal zwei Kopien desselben Allels). Bei der Entstehung der Keimzellen, also der Gameten (Spermien und Eier), findet die Meiose statt ( Box 1.12). Das Ergebnis dieses Teilungsprozesses sind haploide Zellen mit jeweils einem Allel jedes Gens. Weil jedoch während der Meiose in der Regel auch die intrachromosomale Rekombination als Folge der Crossing-over stattfindet, befinden sich in den Gameten neu zusammengesetzte Chromosomen mit neuen Allelkombinationen, welche in den Elternzellen so nicht vorhanden waren (wie die Kombination des „blauen“ Allels von Gen 1 und des „weißen“ Allels von Gen 2 in einem Spermium; Abb. 2.24). Wir können als einzige Aussage festhalten, dass sich jedes Allel mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit in einem konkreten Gameten befindet (und mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht dort ist, weil sein Konkurrent diesen Platz eingenommen hat). Abgesehen von der tatsächlichen Gametenanzahl existieren unter dem Gesichtspunkt eines Genorts
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Dank der Rekombination sind die Chromosomen in den Keimzellen neu zusammengesetzt und verfügen somit über neue Allelkombinationen, die in den Elternzellen in dieser Form nicht vorhanden waren.
2.24 Schema der Verteilung der Chromosomen während der Gametogenese und der Befruchtung. Die beiden jeweils linken Keimzellen entstanden durch einfache Segregation, die beiden jeweils rechten Keimzellen spiegeln die Rekombination wider.
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2 Selektion
Die genetische Verwandtschaft zwischen Eltern und Nachkommen beträgt 50 %.
Ein Altruist sollte die Empfänger seiner Gunst nach dem Verwandtschaftsgrad differenzieren, um seine Fitness zu erhöhen.
Verwandte Individuen lassen sich mit verschiedenen Mechanismen identifizieren.
(Locus) im Körper jedes Elternteils nur zwei Typen von Keimzellen: die eine Hälfte der Gameten mit dem Allel A und die zweite Hälfte mit dem Allel B. Bei der Befruchtung entsteht wieder eine diploide Zelle, die Zygote, die an jedem Locus ein väterliches und ein mütterliches Allel enthält. Jedes Allel im Körper der Mutter „weiß“, dass im Körper des mütterlichen Nachkommens entweder seine Kopie oder die Kopie seines Konkurrenten ist, aber es „weiß nicht“, welche Kopie dort tatsächlich vorhanden ist. Mit der gleichen Unsicherheit müssen auch die Allele im Körper des Vaters leben. Wichtig ist, dass diese Unsicherheit gerade durch die Sicherheit beschränkt wird, dass im Nachkommen garantiert ein mütterliches (und genauso auch ein väterliches) Allel vorkommt. Wir können also berechnen, dass die genetische Verwandtschaft zwischen Elternteil und Nachkommen 50 Prozent beträgt. Es handelt sich natürlich nicht um tatsächliche Prozentanteile der genetischen Identität. Bei sexuellen Organismen stellt jedes Individuum eine einzigartige Kombination von Allelen dar, aber ein beträchtlicher Teil der Gene kommt nur in einer einzigen Ausprägungsform (also in einem Allel) vor, sodass alle Individuen in der Population an diesem Genort zu 100 Prozent übereinstimmen. Es geht hier um etwas anderes – wenn ein Gen in zwei oder mehreren Allelen vorkommt, dann hat ein Träger von Allel A eine 50-prozentige Chance, dass auch sein Elternteil oder sein Nachkomme (aber auch sein Geschwister) das Allel A besitzt. Dieser Träger hat allerdings nicht die geringste Ahnung, mit welcher Wahrscheinlichkeit auch ein zufällig Vorübergehender das Allel A haben wird, außer dass diese Wahrscheinlichkeit vermutlich geringer ist als 50 Prozent ( Box 2.13, Abb. 2.25). Es ist hoffentlich klar, dass ein Tier keine Verwandtschaftsindizes berechnet. (Die Schwierigkeit, zumindest annähernd verständlich zu erklären, woher diese 50 Prozent eigentlich kommen, zeigen, dass es wirklich nicht ganz einfach ist, dies auszurechnen.) Ein Individuum, das aber bei seinen Artgenossen zwischen Verwandten und Nichtverwandten unterscheidet und sich abhängig vom Grad der genetischen Verwandtschaft ihnen gegenüber altruistisch verhält, hinterlässt mehr seiner Allele als ein egoistisches Individuum, das nur auf seinen Vorteil bedacht ist und seiner Familie nie geholfen hat. Es ist aber auch erfolgreicher als ein rein altruistisches Individuum, das jedem hilft, dem es begegnet, und sich nicht darum kümmert, wer eigentlich seine Gunst empfängt. Wer in sozialen Beziehungen „blind“ handelt, verliert im Kampf mit dem, der bei seinen Nächsten sorgfältig, wenn auch natürlich unbewusst, differenziert. Es muss also einen Mechanismus zur Identifikation verwandter Individuen geben. Einige Tiere erkennen den Grad der genetischen Verwandtschaft direkt anhand des Geruchs, bei anderen – z. B. bei Menschen – hängt das Verhalten vom Familienkontext ab ( Box 2.14). Das Baby, das die Partnerin eines Mannes geboren hat, ist üblicherweise auch das Kind des Mannes, und daher ist es für ihn lohnenswert, es wie sein eigenes zu behandeln. Beim Menschen irren sich die Väter in etwa einem Fünftel der Fälle, d. h. ihr vermeintliches Kind ist das Kind eines anderen. Das heißt jedoch auch, dass sich die Väter in den meisten Fällen (nämlich zu etwa 80 Prozent) nicht irren.
2.10 Verwandtenselektion und Familienprotektion
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| 2.13 |
Verwandtenselektion und die Bienen Das Vorkommen von Helfern und das Phänomen der Eusozialität ( Box 2.16), bei dem sich einige Individuen nie fortpflanzen und sich stattdessen um andere kümmern (= reproduktiver Altruismus), widerspricht scheinbar dem Prinzip der natürlichen Selektion: Diese begünstigt solche Merkmale, die dem Individuum bzw. dem eigenen Erbgut nutzen, d. h. die „eigennützig“ (egoistisch) sind. In den 60er-Jahren erkannte W. D. Hamilton ( S. 36), dass sich dieser Widerspruch auflösen lässt: Der Anteil der Allele eines Individuums kann im Genpool der nächsten Generation auch dadurch zunehmen, dass dieses seinen Verwandten (insbesondere bei der Brutpflege) hilft. Der Anteil der Allele, die bei zwei Individuen aufgrund gemeinsamer Abstammung identisch sind, wird durch den Verwandtschaftskoeffizienten (r) ausgedrückt. Die Nachkommen der ersten Generation teilen durchschnittlich die Hälfte (r = 0,5), Enkel ein Viertel (r = 0,25) und Urenkel ein Achtel (r = 0,125) ihrer Allele. In gleicher Weise ist das Erbgut von Vollgeschwistern im Durchschnitt zur Hälfte (r = 0,5; bei eineiigen Zwillingen r = 1), von Halbgeschwistern zu einem Viertel (r = 0,25) und von Vettern und Cousinen zu einem Achtel (r = 0,125) miteinander identisch. J. B. S. Haldane ( S. 31) hat einmal bemerkt »I will jump into the river to save two brothers or eight cousins«, und damit nahm er das vorweg, was später als Hamiltons Regel (1964) bekannt wurde. (Da man 50 Prozent der Allele mit seinem Bruder und 12,5 Prozent mit seinem Vetter gemein hat, müsste man nur genügend Verwandte retten, um den Verlust der eigenen Allele zu kompensieren.) Mathematisch (und vereinfacht) ausgedrückt, besagt diese Regel, dass eine kostspielige Aktion durchgeführt werden sollte, wenn c < (r x b), wobei c die Fitnesskosten (englisch cost) des Akteurs,
r die genetische Verwandtschaft (englisch relatedness) zwischen Akteur und Empfänger der Aktion und b der Fitnessnutzen (englisch benefit) des Empfängers sind. Kosten und Nutzen der Fitness werden in Fekundität (Zahl der Nachkommen eines Individuums pro Leben) gemessen. Wegen des besonderen Fortpflanzungssystems und der Geschlechtsbestimmung (Haplodiploidie) ist bei den Arbeiterinnen der Honigbienen ein erhöhter Verwandtschaftskoeffizient unter Geschwistern (r = 0,75) anzunehmen (Abb. 2.25). Diese Erkenntnis wurde von Hamilton auch als Erklärung für die Entstehung und Erhaltung der Eusozialität von Bienen (und anderen Hymenopteren, wie z. B. Ameisen oder Wespen) vorgeschlagen. Später wurde sie jedoch kritisiert, da Eusozialität auch bei diploiden Organismen (wie z. B. Termiten) vorkommt, dagegen aber nicht bei allen Hymenopteren zu finden ist. Darüber hinaus sind die theoretischen Überlegungen zu dem hohen Verwandtschaftskoeffizienten bei den Arbeiterinnen der Bienen zweifelhaft, da sie auf der Annahme beruhen, dass sich die Königin nur mit einer Drohne paart, dass also alle Schwestern einen gemeinsamen Vater haben. Dies ist jedoch nicht der Fall. Schließlich wurde von E. O. Wilson ( S. 36) vorgeschlagen, dass die nahe Verwandtschaft in der Evolution der Eusozialität der Insekten keine wesentliche Rolle gespielt hat. Neuere Ergebnisse (2008) zeigen jedoch, dass die Monogamie bei den eusozialen Hymenopteren ein ursprüngliches Paarungssystem darstellt und dass die Monogamie in der Evolution der Eusozialität von entscheidender Bedeutung war, womit Hamiltons frühere Theorie der indirekten Fitness bestätigt wurde ( Box 2.16).
2.25 Genetische Asymmetrie bei Hymenopteren: Die Weibchen entstehen aus befruchteten, die Männchen aus unbefruchteten Eiern. Dank dieser Asymmetrie trägt ein Weibchen mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent dieselben Allele (hier vereinfacht mit verschiedenen Farben dargestellt) wie jede ihre Schwestern. Mutter und Tochter sind dagegen nur zu 50 Prozent genetisch identisch. Eine Voraussetzung für die Höhe dieser Verwandtschaftsindizes ist jedoch, dass alle Schwestern von einem gemeinsamen Vater abstammen.
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2 Selektion
Erwachsene Nachkommen, die den Eltern bei der Aufzucht ihrer jüngeren Geschwister helfen, profitieren selbst davon.
Hamilton zeigte, dass wir die Familienbeziehungen besser verstehen, wenn wir sie vom Standpunkt der Gene statt vom Standpunkt der Individuen aus betrachten.
Überall dort, wo die in die Nachkommenschaft investierten Kosten hoch sind, gibt es eine Tendenz der erwachsenen Kinder, den Eltern bei der Aufzucht der nächsten Nachkommen, also den jüngeren Geschwistern, zu helfen. Das Verhalten dieser Helfer ist dadurch bestimmt, dass der Verwandtschaftsgrad zwischen einem Helfer und seinem Geschwister genauso hoch ist wie zwischen einem Helfer und seinem eigenen Jungen (also 50 Prozent). Wenn ein Helfer es schafft, dass seine Eltern mehr Geschwister produzieren, als er eigene Nachkommen produzieren könnte (und für ein junges und bisher unerfahrenes Individuum ist dies nicht unwahrscheinlich), lohnt es sich für ihn zu helfen. Darüber hinaus kommt bei vielen Arten der Helfer in den Genuss eines Daueraufenthaltes im Elternterritorium, was eine erhöhte Chance mit sich bringt, dass er dieses Territorium einmal erben und verteidigen wird (dieses Phänomen kommt auch bei Menschen vor, zumindest dort, wo die Wohnungen relativ knapp sind). Es ist also nicht verwunderlich, dass manche Vögel, aber auch Säuger (z. B. Wölfe), nach diesem Muster handeln ( Box 2.15–2.16). Den Familienaltruismus gibt es wirklich. Die Individuen unterdrücken hier ihren Individualegoismus zugunsten ihrer Verwandten – also zugunsten ihrer Allele. Die Familienbeziehungen werden wir besser verstehen, wenn wir sie mehr vom Standpunkt der Gene als vom Standpunkt der Individuen betrachten. Ein Individuum hat keinen Vorteil, wenn es bei der Verteidigung seiner Nachkommen stirbt, seine Allele jedoch schon. Und das genügt: Gegenstand der Selektion sind nämlich gerade die Allele.
| 2.14 |
„Wir sind in einem Nest aufgewachsen“ Der Verwandtenaltruismus verlangt, dass Individuen ihre Familienzugehörigkeit irgendwie erkennen können. Diese Erkennung ist allerdings nicht nur für den Verwandtenaltruismus und den Nepotismus nützlich, sondern spielt auch bei der Inzesthemmung eine wichtige Rolle. Um den Verwandtschaftsgrad zu erkennen, könnte das Individuum die Ähnlichkeiten (oder aber Unterschiede) in irgendeiner phänotypischen Eigenschaft (z. B. dem Geruch) zwischen sich und anderen Familienmitgliedern vergleichen. Oder aber es entscheidet die Erfahrung „Wir sind gemeinsam in einem Nest aufgewachsen“. Im Prinzip handelt es sich um eine reverse sexuelle Prägung, die Psychologen als „Westermarck-Effekt“ bezeichnen: Menschen, die als Kleinkinder nebeneinander groß geworden sind, finden sich in der Regel später im Leben nicht sexuell attraktiv (Edvard Westermarck, 1862 –1939,
finnischer Philosoph, Soziologe und Ethnologe). Dieser Effekt ist zweckmäßig, da man ja mit seinen Geschwistern den Großteil der Kindheit verbringt und die negativen Folgen der Inzucht bekannt sind. Aber diese Regel trifft auch auf Nichtverwandte zu, die beispielsweise in derselben Grundschulklasse oder in einem Kibbuz groß werden. Auch die eusozialen Graumulle finden ihre Geschwister des anderen Geschlechts sexuell unattraktiv, wobei sie die Tiere für ihre Geschwister halten, mit denen sie zusammen aufgewachsen sind (und zusammen leben). Ansells Graumulle (Fukomys anselli) haben allerdings ein kürzeres Gedächtnis als die Menschen – nach einem Monat der Trennung erkennen sie ihr Geschwister nicht mehr und paaren sich mit ihm (wenn es anderen Geschlechts ist) oder kämpfen mit ihm (wenn es gleichen Geschlechts ist).
2.10 Verwandtenselektion und Familienprotektion
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| 2.15 |
Helfer Der erhöhte Bedarf an Elternfürsorge bei monogamen Arten führt auch zur Rekrutierung eigener bereits „entwöhnter“ Nachkommen als Helfer (Beispiele sind einige tropische Eisvogel- und Bienenfresserarten, Biber, Schakale, südamerikanische Krallenäffchen). Die Jungtiere verbleiben für eine oder mehrere Fortpflanzungszeiten im Familienverband und helfen den Eltern bei der Versorgung der jüngeren Geschwister. Das monogame Paarungssystem garantiert, dass der Verwandtschaftskoeffizient zu den jüngeren Geschwistern in etwa 0,5 beträgt, was also dem Ko-
effizienten zu den eigenen Kindern entspricht ( Box 2.13). Auf diese Weise können die Jungtiere noch in der elterlichen Obhut Erfahrungen sammeln, ohne Einbußen an der Gesamtfitness zu erleiden. Dies ist insbesondere von Bedeutung, wenn die Ressourcen knapp sind und/oder ein Partner schwer zu finden ist. Es gibt allerdings auch Helfer, die fremden Tieren bei der Jungenaufzucht helfen. Möglicherweise können sie dadurch die Gruppenmitgliedschaft „erkaufen“ und später in dieser Gruppe eine Fortpflanzungsposition oder das Revier übernehmen.
| 2.16 |
Eusozialität Eusozialität (die griechische Vorsilbe eu- bedeutet „gut“, „echt“) ist ein Begriff, der ursprünglich zur Beschreibung des Sozial- und Fortpflanzungssystems staatenbildender Insekten (Termiten, manche Hymenopteren wie Ameisen, Bienen und Wespen, einige Blattläuse, Fransenflügler) sowie einiger Krebstiere eingeführt wurde. Als eusozial gelten auch Nackt- und Graumulle (Gattungen afrikanischer, unterirdisch lebender Nagetiere) sowie amerikanische Prärie-Wühlmäuse. Eusozialität ist durch folgende Merkmale charakterisiert: 1) Monopolisierung der Fortpflanzung: Es gibt nur ein (oder nur wenige) an der Reproduktion beteiligtes Weibchen (die sogenannte Königin), das sich nur mit einem (oder wenigen) Männchen paart. 2) reproduktiver Altruismus: Die meisten Nachkommen der Königin pflanzen sich nicht fort und arbeiten zum Wohle der ganzen Familie. 3) lebenslange Philopatrie (vom griechischen philein: lieben und vom lateinischen patria: Heimat): Die meisten Nachkommen bleiben ihr ganzes Leben lang in der Familie, wodurch eine Multigenerationsfamilie entsteht, d. h. es kommt zur Überlappung mehrerer Generationen (Würfe, Altersstufen) von Geschwistern. 4) Unter den sich nicht fortpflanzenden Individuen kommt es häufig zur Arbeitsteilung, es gibt „Babysitter“, „Arbeiter“, „Soldaten“ usw. Diese
Arbeitsteilung kann den Charakter eines Alterspolyethismus haben (z. B. bei Honigbienen), d. h. die einzelnen Tätigkeiten werden im Laufe des Lebens in einer mehr oder weniger festgelegten Reihenfolge ausgeführt. Alternativ oder ergänzend kann die Arbeitsteilung mit einem Kastenleben verbunden sein, d. h. Gruppen von Individuen sind an die jeweiligen Arbeitsaufgaben auch durch ihre Körperform angepasst und führen die jeweiligen Aufgaben lebenslang durch. Es ist umstritten, ob man z. B. bei den Nacktmullen auch von Kasten, insbesondere von der Kaste der „reproduktiven Tiere“, sprechen soll, denn prinzipiell kann sich jedes „Arbeitertier“ fortpflanzen, wenn ihm dazu die Möglichkeit gegeben wird. Auch die Familiengröße an sich ist kein Kriterium für die Eusozialität. Es gibt ein Kontinuum zwischen Monogamie, Monogamie mit Helfern und Eusozialität. Eusozialität wird üblicherweise durch die Verwandtenselektion erklärt ( Box 2.13). Ein hoher Verwandtschaftskoeffizient (mindestens 0,5 bei monogamen Arten, aufgrund der Haplodiploidie bis zu 0,75 bei einigen Hymenopteren (Abb. 2.25) und bis 1 bei den sich parthenogenetisch fortpflanzenden Blattläusen) ist gewiss eine Voraussetzung für die Entstehung und Erhaltung der Eusozialität. Die spezifischen Gründe können jedoch in jeder Gruppe unterschiedlich gewesen sein.
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2 Selektion
2.11 Kooperation zwischen unverwandten Individuen
Kooperationen gibt es auch zwischen unverwandten Individuen und sogar zwischen Individuen verschiedener Arten.
In dem Fall, wo Kooperation oder Altruismus zwischen nah verwandten Individuen vorkommt, handelt es sich nicht um ein Mysterium, weil hier die gemeinsamen Allele im Spiel sind. Häufig ist das allerdings nicht so. Kooperationen findet man auch zwischen unverwandten Individuen oder sogar zwischen Individuen verschiedener Arten ( Box 2.17). Eines der berühmtesten Beispiele einer besonders engen Zusammenarbeit völlig fremder Organismen kommt aus der Klasse der Knochenfische: Putzerfische der Gattung Labroides haben sich darauf spezialisiert, bei anderen, größeren Fischen die Körperoberfläche nach Parasiten abzusuchen (Abb. 2.26). Der Vorteil für beide Seiten ist offensichtlich, die Putzer essen sich satt und den Geputzten geht es dank der Putzaktion besser. Interessant ist eher, dass die geputzten Fische nicht versuchen, ihren individuellen Gewinn zu maximieren, indem sie nach der Reinigung auch noch den Putzer fressen. Die Bereitschaft der großen Fische, mit den Putzern zu kooperieren und ihre Position des stärkeren Spielers nicht zu missbrauchen, ist so gefestigt, dass es sich sogar für ganz andere Fische – falsche Putzer der Gattung Aspidontus, – lohnt, sich als echte Putzer zu tarnen, sich einem wartenden Großfisch zu nähern und ihm dann hinterlistig ein Stück Fleisch aus dem Leib zu beißen.
| 2.17 |
Kooperation zwischen Individuen fremder Arten Symbiose, d. h. das Zusammenleben von Individuen verschiedener Arten zum gegenseitigen Nutzen, kann auch als Kooperation zwischen Individuen fremder Arten angesehen werden. Eine Symbiose kann obligat (für beide Partner lebensnotwendig) oder fakultativ sein. Lehrbuchbeispiele für Symbiosen sind Mykorrhiza (Pflanzen und Pilze), Flechten (Pilze und Grünalgen oder Cyanobakterien), Blüten und Bestäuber, Einsiedlerkrebse und Seeanemonen, Putzerfische, Madenhacker (Singvögel der Gattung Buphagus) und ihre „Wirte“ (Putzsymbiosen), Wiederkäuer und zellulosespaltende Magenbakterien und -einzeller oder intrazelluläre Endosymbionten ( Box 2.24). Auch wenn in all diesen Fällen die Vorteile für beide Seiten mehr oder weniger offenkundig sind, mag es in Einzelfällen etwas an den Haaren herbeigezogen erscheinen, von einer Zusammenarbeit zu sprechen. Es scheint sogar, dass die Beziehung der Madenhacker zu ihren Wirten (zumindest zu Hausrindern) eher parasitisch ist. Die Madenhacker verbringen die meiste Zeit damit, in den Wunden der Tiere zu picken, diese offen zu halten und das Blut und das Gewebe aus den Wundrändern zu
fressen. Doch es gibt auch schöne Beispiele der Symbiose, die auf einer offensichtlichen Kooperation beruht, etwa die zu den Spechtvögeln gehörenden afrikanischen Honiganzeiger (Indicator indicator), die die Menschen (einheimische Honigsammler) mit speziellen Rufen und Flugbewegungen akustisch und optisch auf Bienennester aufmerksam machen und sie zu den Bienennestern führen. Die Menschen brechen das Bienennest auf und sammeln den Honig, während die Vögel das Bienenwachs und die Bienenlarven vertilgen. Diese Symbiose entwickelte sich wahrscheinlich schon in prähistorischer Zeit, möglicherweise bereits zwischen dem Vogel und dem Vormenschen. In der Literatur findet man sehr oft die Behauptung, dass es diese Symbiose auch zwischen dem Honiganzeiger und dem Honigdachs (Mellivora capensis) gibt, doch, obwohl beide Tiere zusammen an Nestern beobachtet wurden, ist die vollständige Sequenz des hinführenden Verhaltens nie in der Fachliteratur beschrieben worden.
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2.11 Kooperation zwischen unverwandten Individuen
2.26 Putzerfische suchen bei anderen, größeren Fischen die Körperoberfläche nach Parasiten ab (links). Rechts oben: echter Putzer (Gattung Labroides), rechts unten: falscher Putzer (Gattung Aspidontus).
Auch in den Populationen von echten Putzern konkurrieren Strategien von Ehrlichen und Betrügern. Die Kooperation zwischen Putzer und Geputztem überdauert sogar diese Betrügereien erfolgreich, offensichtlich u. a. deswegen, weil es viele echte Putzer gibt. Eine solche Kooperation muss sich für die beiden völlig unverwandten Spieler irgendwie langfristig lohnen, da ansonsten die nichtkooperierenden Mutanten und Immigranten gewinnen würden. Nicht die Entstehung, sondern die Stabilität des kooperativen Verhaltens bedarf einer Erklärung, denn entstehen und danach wieder untergehen kann fast alles. Bei unserer Suche nach den unerwarteten Möglichkeiten, die Selektion erfolgreich zu überstehen, geht es eigentlich darum, herauszufinden, welche individuellen Strategien dazu führen, dass alle beteiligten Individuen kooperieren und die Betrüger es nicht schaffen, dies zu unterwandern. Computersimulationen verschiedener Spielverläufe haben klar gezeigt, dass optimalen Strategien, wie man in einer Gesellschaft lebt und den Gewinn maximiert, ganz einfache Strukturen zugrunde liegen können. Zunächst schien es, dass es sich dabei um „Wie-Du-mir-so-ich-dir“-Strategien (englisch tit for tat) handelt: Wir bieten Kooperation an, auf kooperatives Verhalten reagieren wir ebenfalls mit Kooperation, und bei Verrat wird das kooperative Verhalten eingestellt. Eine solche Strategie minimiert tatsächlich das Risiko, dass ein Individuum die Rolle des missbrauchten Dummkopfs länger als nur eine Spielrunde spielen wird. Das Problem ist, dass „tit for tat“ eine Strategie ist, die nicht nur das kooperative Verhalten vorantreibt, sondern auch die Blutrache. Ein falscher Putzer würde den großen Fisch nur einmal beißen – der Großfisch würde danach auch die echten Putzer fressen. Es zeigt sich, dass es wichtig ist, eher mit Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten (den Verrat werde ich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verzeihen, sodass der Gegenspieler nicht genau weiß, wie ich gleich handeln werde). Noch wichtiger ist es, ein Gedächtnis zu haben, um zu wissen, mit wem ich spiele und wie sich mein Mitspieler beim letzten Mal verhalten hat. Kooperative Spiele sind nämlich wiederholte Spiele und keine einmaligen Ereignisse ( Box 2.18). Für uns ist dabei interessant, wie sich mit der Zeit die Beziehungen zwischen verschiedenen Strategien verändern. Stellen wir uns vor, dass wir in einer Population Individuen haben, die niemals mit jemandem zusammenarbeiten („Egoisten“), Individuen, die immer und mit jedem zusammenarbeiten („Altruisten“), und Individuen, die nur unter bestimmten Bedingungen zusammenarbeiten („Opportunisten“). In den ersten Spielrunden werden die Egoisten natürlich
Für die beiden unverwandten Spieler muss eine Kooperation langfristig lohnend sein; ansonsten gewinnen die Betrüger.
Bei „Wie-Du-mir-so-ichdir“-Strategien bieten wir Kooperation an, reagieren auf kooperatives Verhalten gleichfalls, stellen aber bei Verrat das kooperative Verhalten ein.
Kooperative Spiele sind Spiele mit Wiederholung, keine einmaligen Ereignisse. „Egoisten“ kooperieren niemals mit jemandem, „Altruisten“ arbeiten immer und mit jedem zusammen, und „Opportunisten“ kooperieren nur unter bestimmten Bedingungen.
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2 Selektion
| 2.18 |
Das Gefangenen-Dilemma Ein beliebter Gegenstand der Analysen von theoretischen Biologen ist das „Gefangenen-Dilemma“ – ein Spiel mit mehreren Varianten. Eine Variante könnte folgendermaßen aussehen: Zwei Komplizen wurden verhaftet, doch gibt es keine direkten Beweise, dass sie die Tat tatsächlich begangen haben. Die Gefangenen werden getrennt vernommen und haben keine Chance sich abzusprechen. Jeder bekommt das folgende Angebot: Wer als erster den anderen verrät, bekommt eine Belohnung und wird freigesprochen, der Verratene muss jedoch für fünf Jahre ins Gefängnis. Verraten sich beide gegenseitig, bekommen beide jeweils eine dreijährige Gefängnisstrafe. Verrät aber keiner den anderen, werden sie mangels Beweisen freigesprochen. Allerdings bekommt dann keiner von ihnen eine Belohnung. In den theoretischen Spielen spielt man nicht um Haftjahre, sondern um Punkte (Abb. 2.27–2.28) – z. B. drei Punkte für Kooperation, einen Punkt für beidseitigen Verrat, bei einseitigem Verrat fünf Punkte für den Verräter und null Punkte für den Verratenen. Die mathematische Analyse des Problems zeigt, dass es unter diesen Umständen für jeden der Gefangenen vorteilhaft ist, seinen Komplizen sofort zu verraten, und nicht darauf zu warten, dass es der andere als Erster macht. Eine analoge Situation gibt es auch in der Natur. Ein Individuum kann manchmal ebenfalls in die Situation kommen, in der es zwischen gewinnbrin-
gendem (oder zumindest den Verlust minimierendem) Verrat, Kooperation mit durchschnittlichem Gewinn und großem Verlust, falls ihn sein Partner verrät, wählen muss. Wenn sich beide Partner zukünftig nicht mehr begegnen werden oder sich nicht erkennen können (beispielsweise weil die Individuen in der Population alle gleich aussehen oder sie ihre Partner nicht im Gedächtnis behalten können), werden beide Individuen der Spieltheorie zufolge die Strategie „immer sofort verraten“ wählen. Eine andere Situation entsteht jedoch, wenn das Spiel wiederholt gespielt wird und die Individuen in der nächsten Spielrunde möglicherweise wieder auf ihre ehemaligen Partner treffen und die sich an das Ergebnis der vorigen Runde erinnern können. Dann wird ein anderes Spiel gespielt, nämlich „Wie du mir, so ich dir“ ( Box 2.19).
2.27 Im Spiel „Gefangenen-Dilemma“, dargestellt in der Summenmatrix der Belohnungen, können zwei „Spieler“ insgesamt R = 3 Punkte bekommen, wenn sie kooperieren, und nur P = 1 Punkt, wenn beide den jeweils anderen verraten. Ein Verräter, der den „Kooperierenden“ hintergeht, erhält T = 5 Punkte, während der Verratene leer ausgeht, d. h. S = 0. Die Buchstaben in der Matrix repräsentieren die üblicherweise verwendeten englischen Begriffe: C – cooperate (Kooperation), D – defect (Verrat), R – reward for mutual cooperation (Belohnung für gegenseitige Kooperation), T – temptation to defect (Versuchung zum Verrat), S – sucker’s payoff (Lohn für den Angeschmierten), P – punishment for mutual defection (Strafe bei gegenseitigem Verrat).
2.28 Matrix der Belohnung bei verschiedenen Spielen: Falls die Belohnung für die Kooperation höher ist als für den Verrat, werden beide Individuen kooperieren, solange P < S. Im Spiel „Synergismus“ ist P > S, weshalb die Individuen eher zusammenarbeiten. Falls es jedoch wahrscheinlich ist, dass mich mein Gegner verrät, ist es für mich vorteilhafter, selbst Verrat zu üben, als zu schweigen. Das Spiel cruel bind („grausamer Bund“, Trivers 1972) mit T > R unterscheidet sich vom Gefangenen-Dilemma nur darin, dass der verratene Kooperator das Spiel durch Zusammenarbeit weiter fortsetzt, gerade weil P < S. (Nach Stopka 2004)
2.11 Kooperation zwischen unverwandten Individuen
die Altruisten beseitigen, sodass in der Population nur Egoisten und verschiedene Typen von Opportunisten überleben werden. Jetzt zeigt sich jedoch, dass es nicht gerade eine ideale Strategie ist, ein stumpfsinniger Egoist zu sein und nie zu kooperieren: Egoisten schwächen sich gegenseitig und vernichten sich; während die Opportunisten ab und zu miteinander kooperieren (jedoch nie mit den Egoisten, da sie bei ihrem ersten Kooperationsversuch von diesen verraten wurden). Die Opportunisten gewinnen hin und wieder eine Runde im Kooperationsspiel, die Egoisten jedoch nie. Das führt dazu, dass die Opportunisten in der Population überwiegen, Egoisten sich gegenseitig ausschalten und die Zusammenarbeit in der Population gut läuft, da die echten Altruisten schon längst verloren haben und verschwunden sind. Die Kooperation der Opportunisten ist eine Strategie, die am ehesten der ökologischen Kategorie „Klimax“ entspricht. Unter Klimax verstehen wir den Zustand des Ökosystems, der genau unter den Bedingungen am stabilsten ist, die auch an seiner Gestaltung beteiligt waren, und der nur durch eine Änderung der Bedingungen erschüttert werden kann. Ein Rotbuchenwald ist ein schönes Beispiel für eine mitteleuropäische Klimaxvegetation: Sobald er eine bestimmte Größe erreicht hat, kann ihn keine andere Pflanzenformation verdrängen, und das ganz einfach deshalb, weil im Schatten eines solchen Buchenwaldes die Sämlinge konkurrierender Arten die ersten Jahre nicht überleben. Nur wenn sich das Klima ändert, z. B. durch massive Trockenperioden, oder wenn ein erfolgreicher Buchen- bzw. Bucheckernfresser Einzug hält, könnte der Buchenwald gefährdet werden. Dasselbe gilt auch für das Überwiegen der opportunistischen Spieler in einer Population: Weder reine Egoisten noch stumpfe Altruisten (so sie denn in einer opportunistischen Population wieder erscheinen sollten) werden die Opportunisten noch besiegen können, es sei denn, man beginnt, um etwas anderes zu spielen. Das Verhalten der Spieler wird nicht von ihren augenblicklichen Launen bestimmt. Ein bestimmter Spieler kann sich gar nicht anders verhalten, da er von seinen Genen entsprechend vorprogrammiert ist. Und wie wir schon gesehen haben, kann ein solches „Programm“ nicht mit schwammigen Aufforderungen wie „Maximiere deinen evolutionären Gewinn!“ funktionieren, denn ein einfacher Mensch, ein einfaches Tier und eine einfache Pflanze würde nicht wissen, wie man das macht. Ein genetisches Programm muss unmittelbar (proximat) wirken – es muss mit einfachen neurophysiologischen oder hormonellen Werkzeugen arbeiten („Mach das, was dir gut tut!“) und nicht mit rationalen Kalkulationen bezogen auf ultimative Ziele ( Box 1.6). Die Soziobiologie zeigt, dass der Mensch Gewinne und Verluste nicht rational zu berechnen braucht; wenn er das versuchte, würde sein Egoismus gerade deswegen jämmerlich versagen. Sobald wir nämlich wissen, worum es im Spiel geht, beginnen wir zu betrügen und die Gegenspieler fangen an, uns zu bestrafen. Eine Gesellschaft (und nicht nur die menschliche) ist so ein kompliziertes Netzwerk von Beziehungen, dass es praktisch unmöglich ist, eine langfristig erfolgreiche Strategie auszurechnen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als einfach nur so, „unbewusst“, zu leben. So lange der Kapitalismus auf inneren protestantischen Tugenden beruhte, funktionierte er ganz gut. Sobald die Menschen aber begriffen hatten, dass im Hintergrund von alldem der Gewinn steckt (und protestantische Tugen-
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Als Klimax bezeichnet man das Endstadium einer Entwicklung, das unter den vorherrschenden Bedingungen stabil bleibt.
Ein genetisches Programm muss unmittelbar (proximat) wirken – und kann keine rationalen Berechnungen zum Erreichen der ultimativen Ziele anstellen.
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2 Selektion
Belohnung oder Bestrafung können auch in Form von Sozialprestige bei „richtigem“ Verhalten und Ächtung bei „falschem“ Verhalten auftreten.
den nur eine erfolgreiche Methode sind, um den Gewinn zu erzielen), fingen sie an, Gewinn auch ohne Tugenden erzielen zu wollen. Adam Smith und Karl Marx hätten uns das nicht sagen sollen. Es wäre also – nebenbei gesagt – eine sehr naive Vereinfachung der Sache, wenn wir annehmen würden, dass die Basis des evidenten menschlichen Altruismus nur die Verwandtenselektion ist oder auf der Reziprozität des Typs „ich gebe dir einen Apfel und du gibst mir irgendwann später einen Apfel zurück“ beruht. Ein Mann, der eine Frau zum Abendessen einlädt, ist gewiss nicht frei von Gedanken an irgendeine Gegenleistung, doch geht es ihm wahrscheinlich nicht darum, dass sich die Dame beim nächsten Mal ebenfalls mit einem Abendessen revanchiert ( Box 2.19). Komplizierte Gesellschaften wie die menschliche arbeiten auch mit Mitteln wie erhöhtem Sozialprestige für diejenigen, die sich „richtig“ benehmen, und der Ächtung derjenigen, die sich „schlecht“ benehmen. Durch das richtige Verhalten (Benehmen) gewinnen wir Prestige – oder allgemein das Recht, in den nächsten Runden bei sozialen und sexuellen Spielen mitzumischen.
| 2.19 |
Tit for tat: Kratze mir den Rücken und dann vielleicht ... Für die Soziobiologen wird das „Gefangenen-Dilemma-Spiel“ ( Box 2.18) erst dann interessant, wenn es wiederholt gespielt wird. In diesem Fall wird es als „tit for tat“ („Wie du mir, so ich dir“) bezeichnet. Wenn nämlich in der Population die Chance besteht und auch relativ groß ist, dass es zu einer wiederholten Interaktion mit ein und demselben Individuum kommt, dann lohnt es sich, langfristig zu kooperieren. Die Motivation der Spieler besteht dann nicht mehr darin, zu gewinnen oder würdevoll zu verlieren, sondern im Spiel zu bleiben und Punkte zu sammeln. Das kann z. B. dadurch erfolgen, dass man demselben Individuum heimzahlt, was er mir in der vorigen Runde angetan hat. Falls mich also ein Spieler verrät anstatt zu kooperieren, dann werde ich ihn beim nächsten Mal auch verraten. Kommt es zur Kooperation, so wird diese mit weiteren Kooperationsakten erwidert. Bezieht man noch die Zufälligkeit in die Theorie der Kooperation mit ein, spiegeln diese Modelle am ehesten die reale oder vorstellbare biologische Situation wider. Eine offensichtliche Parallele zwischen Fekundität (bzw. Fitness) und den im Spiel erhaltenen Punkten in Form der Belohnungsmatrix hat Hunderte von mathematischen Biologen für dieses Paradigma eingenommen, dass schon seit vielen Jahren in renommierten Fachzeitschriften wie Nature und Science Artikel veröffentlicht werden, die die Lösungen zu solchen Spielen anbieten (TIT-FOR-TAT, TIT-FOR-
TWO-TAT, PAVLOV u. a.) (Abb. 2.28). Gleichzeitig wird erklärt, warum es so schwierig ist, biologisch relevante Belege dafür zu finden, dass ein solches Spiel in der Natur wirklich gespielt wird. Als Beispiel für die real gespielte Tit-for-tat-Strategie könnte das „Allogrooming“ (gegenseitiges Putzen) beim Dachs genannt werden. Ein „Spieler“ des interagierenden Paares beginnt damit, die Parasiten aus dem Fell des anderen Individuums zu entfernen. Falls der Partner nicht innerhalb von fünf Sekunden gleichfalls damit beginnt, Parasiten zu entfernen (also eine gleichwertige Gegenleistung bringt), hört der erste Dachs sofort mit dem Allogrooming auf. Wenn sich beide Partner gegenseitig Parasiten entfernen und einer der beiden aufhört, bricht auch das andere Individuum das Putzen sofort ab. Bei Impala-Antilopen ist die Situation ein wenig anders: Wenn ein Individuum dem anderen Zecken aus dem Gesicht entfernt, können dies nicht beide gleichzeitig machen, sodass das gegenseitige Putzen in alternierenden kurzen Sequenzen abläuft. Die Motivation zu kooperieren, kann aber unterschiedlich sein, so muss z. B. ein Dachs, der wenige Flöhe hat, damit „rechnen“, dass Flöhe des Partners während des Allogroomings auf ihn überspringen. Schimpansen tauschen Allogrooming gegen eine andere Leistung, wie z. B. Sex oder Zugang zu Nahrung. Interessanterweise tauschen Waldmäuse (Apodemus sylvaticus) ebenfalls Grooming gegen Sex.
2.12 Kooperation und kompetitive Spiele
Vielleicht wiederholen wir an dieser Stelle, warum wir uns eigentlich für das Verhalten einzelner Spieler interessieren. Das liegt daran, dass das darwinistische Modell zur Realisierung des reproduktiven Gewinns nicht so eindeutig ist, wie die Menschen üblicherweise denken. Je nach konkreter ökologischer und sozialer Situation begünstigt die Selektion manchmal diejenigen, die kämpfen, und manchmal diejenigen, die zusammenarbeiten, oder in einer wieder anderen Situation diejenigen, die weglaufen. Der Darwinismus schreibt den Organismen nicht den Kampf vor, wenn sie mit der Flucht mehr gewinnen können. Gleichzeitig machen wir aber auf die Formulierung aufmerksam „je nach konkreter ökologischer oder sozialer Situation“, die wir im letzten Satz benutzt haben: Man kann nämlich nicht behaupten, dass jedwedes Handeln des Organismus immer im Einklang mit der darwinistischen Weltanschauung steht. Wir haben schon gesehen, dass die, die immer kämpfen, genauso wie die, die immer zusammenarbeiten, letztendlich verlieren werden. Mit anderen Worten: Es gibt auch erfolglose Individuen, die ihr Spiel schlecht spielen oder Pech haben und verlieren – manche dieser Typen kennen Sie sicher persönlich. Wenn wir die genaue Ökologie einer Art kennen, können wir auch vorhersagen, welches Verhalten nicht zum Erfolg führen wird. Solche Voraussetzungen können wir auch testen (wie wir im Kapitel über Adaptationen noch sehen werden). Und zuletzt bleibt zu sagen, dass der Darwinismus kein stereotypes, uniformes Verhalten von Individuen einer Art fördert. Sehr oft werden die Individuen zwischen verschiedenen Strategien „wählen“ (z. B. „Falke“ oder „Taube“) und das Ergebnis wird eine gewisse intraspezifische Variabilität sein. Eher als eine konkrete Strategie irgendeines Individuums (vorausgesetzt, dass wir es persönlich nicht sehr gut kennen), können wir den Gesamtanteil von einzelnen Strategien und den mit ihnen verbundenen Größen, Gestalten, Farben oder hormonellen Konzentrationen an der Zusammensetzung einer Population als Ganzes vorhersagen.
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Organismen müssen nicht zwangsläufig kämpfen, wenn sie durch Zusammenarbeit oder Flucht mehr erreichen.
2.12 Kooperative und kompetitive Spiele Spiele zwischen Organismen können zwei verschiedenen Typen angehören − sie können kompetitiver oder kooperativer Natur sein. Auch diese Einteilung kommt ursprünglich aus der Ökonomie. Dort spricht man von „Nullsummenspielen“ und „Nicht-Nullsummenspielen“. Beim Nullsummenspiel steht dem Gewinn eines Spielers der Verlust des anderen Spielers gegenüber; der Gewinn beruht also darauf, dass der Gegenspieler besiegt wird. Ein solches Spiel beruht auf Konkurrenz und führt bestimmt nicht zur Entwicklung kooperativer Strategien. Dagegen können bei Nicht-Nullsummenspielen alle Mitspieler gewinnen. Die Beziehung zwischen Eltern und Nachkommen ist ein kooperatives Spiel. Die Eltern wollen Nachkommen haben, damit ihre Allele in die nächsten Generationen gelangen, und die Nachkommen wollen Eltern haben, die ihnen den Lebensstart ermöglichen. Ihre Interessen stimmen also miteinander überein, der Gewinn des einen ist auch der Gewinn des anderen, sodass der
Beim kompetitiven Nullsummenspiel beruht der Gewinn eines Spielers darauf, dass der andere Spieler verliert. Beim kooperativen NichtNullsummenspiel können alle Mitspieler gewinnen.
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Beispiele für kooperative Spiele (allerdings mit kompetitiven Elementen) sind die Eltern-KindBeziehung oder die Händler-Käufer-Beziehung.
Eltern und Kinder stehen im Wettstreit um Ressourcen.
Das „Spiel“ zwischen Organismen betrifft nur die Art und Weise, wie sich bestimmte Allele in der Population durchsetzen.
2 Selektion
Gesamtgewinn dieses Spiels größer null ist, und somit ist es kein Wunder, dass Eltern und Nachkommen tatsächlich ordentlich zusammenarbeiten. Ein ähnlich schönes kooperatives Spiel ist die Händler-Käufer-Beziehung. Händler und Kunde sind aufeinander angewiesen, doch gibt es auch in ihrer Beziehung einen Bereich, wo ein hartes kompetitives Spiel abläuft. Es gibt nämlich einen minimalen Preis, zu dem der Händler die Ware verkaufen würde, und einen maximalen Preis, den der Kunde zu zahlen bereit ist. Innerhalb dieser beiden Preisgrenzen findet ein harter Kampf darum statt, wer die Oberhand behält: Der Gewinn des Händlers bedeutet den Verlust für den Kunden und umgekehrt. Wenn der Preis aber unter das untere Limit sinkt und der Händler sein Angebot zurückzieht oder wenn er das obere Limit überschreitet und der Kunde weggeht, dann verlieren beide. Auch Eltern und Kinder „kämpfen“ im Rahmen ihrer auf gemeinsamen Interessen beruhenden „Koalition“ intensiv um Nahrung. Das Kind will das Maximum an mütterlichen Nährstoffen für sich gewinnen und versucht zu erreichen, dass seine Mutter diese nicht selbst verbraucht oder den Geschwistern gibt. Die Mutter dagegen versucht, die Nahrung gleichmäßig auf all ihre Nachkommen zu verteilen, und da sie auch jene mit einbezieht, die sie erst in einem oder in zehn Jahren gebären wird, ist sie bestrebt, sich selbst auch in Zukunft in ausreichend guter Kondition zu halten. Dieser Kampf darf natürlich bestimmte Grenzen, die zum Zerfall der Koalition führen würden (z. B. durch Tod der Mutter oder des Kindes), nicht überschreiten. Auch das Kind hat ein Interesse an seinen Geschwistern (auch an den zukünftigen), tragen sie alle doch zumindest einen Teil seiner Allele. Damit hat das Kind auch an der gegenwärtigen und an der zukünftigen Kondition seiner Eltern Interesse, und die Eltern wiederum interessiert die Kondition ihrer Kinder, weil sie ihnen die Enkelkinder schenken werden. Trotzdem brechen hier Interessenkonflikte aus, die manchmal ziemlich laut sein können (z. B. während der Entwöhnung der Kinder oder ihrem gnadenlosen Rauswurf aus dem „Hotel Mama“) und manchmal unauffällig auf der biochemischen Ebene ablaufen. Der Grund liegt einfach darin, dass die Interessen von Eltern und Kindern sich zwar überlappen, aber nicht identisch sind: Ein Kind teilt mit seinen Eltern und Geschwistern einige Allele, aber gleichzeitig unterscheidet es sich genetisch von jedem von ihnen. Daher setzt es in gewissen Grenzen sich selbst (also seine Allele) auf Kosten anderer durch. Was wir als „Spiel“ zwischen Organismen, die sich ihres Verhaltens bewusst sind, wahrnehmen, betrifft allerdings nur die Art und Weise, wie sich in der Population bestimmte Allele durchsetzen. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass die soziobiologische Auffassung der Welt nicht notwendigerweise anthropooder zoozentrisch ist. Bei Bakterien oder Schleimpilzen kann man die sozialen Beziehungen nur schlechter sehen. Aber auch Bakterien wie beispielsweise Myxococcus xanthus zeigen ein ziemlich kompliziertes Verhalten. Insbesondere gibt es „Rudel“ von Myxokokken, die andere Mikroorganismen überfallen und diese – ihre zahlenmäßige Übermacht nutzend – mithilfe ihrer Verdauungsenzyme auflösen. In Hungerzeiten verschmelzen die Einzelzellen von Myxokokken zu vielzelligen Fruchtkörpern, in denen aus einigen Zellen Sporen entstehen.
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2.13 Gene und Phänotyp
Während einige Teilnehmer dieser Ansammlung Sporen bilden und fortbestehen, lösen sich die anderen auf (vielleicht um denjenigen, die überleben, Nahrung zu liefern) und wieder andere bilden eine periphere Schicht, die dem Schutz der Sporen dient. Natürlich ist es gut, eine sporenbildende Zelle zu sein, und schlecht, wenn man zu den anderen, wie auch immer gearteten Zellen gehört. Diese helfen zwar bei der Bildung der nächsten Generation, gehören aber selbst nicht mehr dazu. Es ist also ähnlich wie bei den Menschen: Die Nachkommenschaft bilden einzig und allein die Gameten, und diese werden durch die Körperzellen am Leben gehalten. Weil auch unsere Körperzellen von einem befruchteten Ei abstammen, ist es nicht außergewöhnlich, dass Zellen des Gehirns oder der Niere den Gameten bei der Fortpflanzung behilflich sind. Anders dagegen die Myxokokken-Zellen, die sich bei der Bildung des Fruchtkörpers versammeln: Sie sind nicht genetisch identisch und können unterschiedliche Interessen haben. Unter normalen Bedingungen ist es wahrscheinlich Zufall, dass sich Sporen einmal aus einer Gruppe genetisch identischer bakterieller Zellen bilden, und ein anderes Mal aus einer anderen Gruppe (es geht also um reziproken Altruismus). Allerdings gibt es bei Myxokokken auch Betrüger, die statistisch gesehen viel häufiger unter den sporenbildenden Zellen vorkommen und die den Altruismus anderer Zellen annehmen, ohne dafür zu zahlen. Dass das Sozialleben der Bakterien nicht freier von egoistischen Betrügereien ist als das der Menschen, überrascht nicht so sehr. Interessant ist eher, dass relativ komplizierte Sozialbeziehungen nicht auf Sinnes- und Nervensysteme angewiesen sind. Wenn man vom Kampf der „Egoisten“ mit den „Altruisten“ und den „Opportunisten“ oder vom Kampf der „Falken“ mit den „Tauben“ liest, stellt man sich unwillkürlich Menschen, Paviane oder Wölfe vor. Es ist ein Irrtum: Die gleiche Interpretation betrifft auch das „Sozialverhalten“ von Bakterien und Pflanzen oder das „Sozialverhalten“ von Zellen in einem vielzelligen Körper.
Dass sich auch Bakterien ziemlich kompliziert verhalten können, zeigt, dass Sozialbeziehungen nicht zwangsläufig auf Sinnes- und Nervensysteme angewiesen sind.
2.13 Gene und Phänotyp Man kann sich die Evolution am besten als ein nie endendes Spiel vorstellen. Es geht nicht darum, ein Ziel zu erreichen, sondern im Spiel zu bleiben. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass den Organismen nicht bewusst ist, dass sie im Spiel bleiben müssen, sondern dass das „Spiel“ unsere Interpretation dessen ist, was passieren muss (bzw. musste), damit in dieser veränderlichen Welt überhaupt etwas langfristig beibehalten wird (bzw. wurde). Es ist also höchste Zeit, einen Blick auf das zu werfen, was „beibehalten wurde“, und danach zu fragen, wer überhaupt die Spieler all dieser Evolutionsspiele sind. Die Frage nach der „Grundeinheit der Evolution“ ist schon sehr alt und leider auch etwas irreführend, denn eigentlich geht es um zwei Fragen. Zum einen können wir fragen, auf welcher Ebene die Evolution stattfindet (z. B. auf Ebene der Individuen oder Gruppen von Individuen), also welche Einheiten konkurrieren, bis letztendlich nur diejenigen übrig sind, bei denen wir die günstigen Eigenschaften (Anpassungen) beobachten können. Hier stellen wir also die Frage
Die Evolution ist ein nie endendes Spiel, bei dem es nicht darum geht, ein Ziel zu erreichen, sondern im Spiel zu bleiben.
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2 Selektion
Wer soll im Spiel bleiben? Ein Allel, ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen? Was soll überdauern? Genotyp oder Phänotyp? Wir unterscheiden verschiedene Ebenen der Selektionswirkung.
Evolution kann als ein Spiel der Allele aufgefasst werden, die mithilfe der von ihnen gebildeten Phänotypen um ihr Überleben „kämpfen“.
„Wer überdauert?“. Zum anderen wollen wir feststellen, was genau eigentlich überdauert (Genotyp oder Phänotyp), damit wir die entsprechenden Eigenschaften ablesen können. Auf die erste Frage können wir unterschiedlich antworten: Anpassungen beobachten wir auf der Ebene der Individuen und im letzten Teil dieses Buches werden wir sehen, dass es auch gute Gründe dafür gibt, sie auf der Ebene der jeweiligen Arten vorauszusetzen (dort geht es nicht um Eigenschaften, die dem Überleben und der Fortpflanzung der Individuen dienen, sondern um die verminderte Wahrscheinlichkeit des Aussterbens existenter Arten und um die beschleunigte Entstehung neuer Arten). Auf keiner der beiden Ebenen haben wir Probleme mit der darwinistischen Interpretation. Sowohl Individuen als auch Arten können entstehen und „sich vermehren“, und so ist es kein Wunder, dass sich die Eigenschaften, die die „Vermehrung“ fördern oder das Auslöschen verhindern, ausbreiten werden. Gelegentlich gibt es auch Situationen, in denen die Selektion Eigenschaften hervorbringt, die dem Individuum nicht dienen: Eine junge Wölfin, die sich selbst nicht fortpflanzt, sondern ihren Eltern bei der Aufzucht der Nachkommen (also ihrer Geschwister) hilft, oder ein sich selbst gefährdender Kiebitz, der Feinde vom Nest vertreibt, setzen sicher nicht ihre individuellen Interessen durch, sondern die Interessen ihrer Familie. Wir neigen dazu, die „Anpassungen“ auch auf der Ebene ganzer Gruppen nichtverwandter Individuen zu sehen, die sich gegenseitig helfen. Allerdings werden die Eigenschaften von diesen altruistischen Gruppen nicht als Ganzes vererbt, sondern nur von einem individuellen Vorfahren auf einen individuellen Nachkommen. Dabei kann es sich einmal um Altruismus und in einem anderen Fall um den Missbrauch des Altruismus durch die anderen handeln. Die einzelnen Gruppen konkurrieren zwar miteinander, aber ihre Gruppeneigenschaften können sich dadurch nicht durchsetzen, sodass wir nicht von der Evolution einer Gruppe von Individuen sprechen können, die unabhängig von der Evolution dieser Individuen wäre. Damit kommen wir zur zweiten Frage. Was genau wird vererbt? Es sind nicht die Eigenschaften von einzelnen Organismen, weil diese in jeder Generation verschwinden. Das Einzige, das seine Identität wirklich beibehält, sind die Allele. Wenn wir also Evolution erforschen wollen, müssen wir darauf achten, was mit den einzelnen Allelen geschieht. Dies wussten schon die Gründer des Neodarwinismus, aber erst Richard Dawkins ( S. 37) hat darauf aufmerksam gemacht, dass man die Evolution auch umgekehrt betrachten kann, nicht als ein Spiel zwischen den Individuen, die um die Fortpflanzung (und damit um die Weitergabe der Allele) wetteifern, sondern direkt als ein Spiel der Allele, die um ihr Überleben mithilfe der von ihnen gebildeten Phänotypen kämpfen. Wichtig ist, dass die Gene in dieser „Dawkins‘schen“ Auffassung keine materiellen, unmittelbar an einem konkreten Ort in Zeit und Raum verankerten Einheiten sind, sondern Informationseinheiten, deren Identität nicht durch das Material (konkretes DNA-Molekül), sondern durch die von ihnen bestimmte biologische Ausprägung gegeben ist. Und daher kommt es nicht darauf an, in welchem
2.13 Gene und Phänotyp
Körper sich diese Information befindet und wie sie übertragen wird. Ein Gen bleibt ein Gen, auch wenn es sich im Körper eines Verwandten oder sogar im Körper eines völlig fremden Organismus befindet. Die Beziehung zwischen Genen und phänotypischen Eigenschaften ist jedoch nicht so einfach. Der Erfolg eines Allels hängt vom Phänotyp des Individuums ab, in dessen Körper es geraten ist, d. h. davon, dass es das Allel schafft, den Phänotyp zugunsten der Fortpflanzung dieses Individuums (und damit zu seinen eigenen Gunsten) zu beeinflussen. Damit alles reibungslos funktioniert, sollte es hier eine direkte Beziehung zwischen dem Allel und der phänotypischen Eigenschaft geben, die den Reproduktionserfolg des Individuums beeinflusst. Diese Annahme impliziert allerdings die Voraussetzung, dass ein Gen eine Eigenschaft beeinflusst und diese Eigenschaft nur durch dieses eine Gen beeinflusst wird. Daraus ergibt sich der Irrglaube, dass hinter jeder einzelnen Eigenschaft eines Organismus ein einzelnes Gen steht: „ein Gen für ein großes Gehirn“, „ein Gen für Sozialverhalten“, „ein Gen für Herbivorie“. Die Leser der wissenschaftlichen Kolumnen der Tagespresse treffen immer wieder auf solche Irrtümer: Sie werden beinahe täglich mit der sensationellen Nachricht konfrontiert, dass die Wissenschaft das Alkoholismus-, das Intelligenz- oder das Depressionsgen entdeckt habe. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil die funktionellen Beziehungen zwischen einzelnen Genen ein kompliziertes Netzwerk bilden. Wir nennen es Pleiotropie – eine Beziehung zwischen Gen und phänotypischer Eigenschaft ist einfach nicht linear, und ein Gen beeinflusst wahrscheinlich viele Eigenschaften, die wir irrtümlich für eigenständige „Merkmale“ halten ( Box 2.20, Abb. 2.29– 2.30). Eine starke, auf eines dieser „Merkmale“ ausgerichtete Selektion löst dann die Evolution in eine für dieses „Merkmal“ günstige Richtung aus, und die anderen „Merkmale“ entwickeln sich ebenfalls in diese Richtung, die für sie aber nicht günstig sein muss. Es genügt, wenn ihre Änderungen dem Organismus nicht direkt schaden.
107
Ein Allel ist dann erfolgreich, wenn sich das Individuum, in dessen Körper sich das Allel befindet, erfolgreich fortpflanzt, was natürlich sehr vom Phänotyp abhängt.
Pleiotropie bedeutet die Beeinflussung mehrerer Eigenschaften (eigenständige „Merkmale“) durch ein und dasselbe Gen.
2.29 Weiße (depigmentierte) Hautareale (bzw. weißdunkle Fleckenmuster) sind typisch für viele Haus- und Labortiere.
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2 Selektion
| 2.20 |
Pleiotropie und Silberfüchse Pleiotropie bezeichnet die Wirkung eines einzelnen Gens auf mehrere phänotypische Merkmale. Eine Vielzahl von Genen wirkt pleiotrop. Lehrbuchbeispiele der Pleiotropie sind verschiedene erbliche Krankheitssyndrome. Manchmal ist es schwierig, zwischen Pleiotropie und Genkopplung zu unterscheiden, wobei beide Phänomene gleichzeitig vorkommen können. Ein lehrreiches Beispiel ist die Domestikation der Tiere. Viele allgemeine (z. B. Zahmheit, Fekundität) wie auch spezifische Eigenschaften der Haus- und Nutztiere (Größe, Stärke, Milchproduktion, Wachstumsrate usw.) wurden im Prozess der Zuchtwahl vom Menschen gezielt gefördert und konnten sich genetisch fixieren. Die Entstehung allgemeiner Eigenschaften lässt sich durch den Wegfall der Konkurrenz und der natürlichen Selektion erklären (z. B. die Tendenz zur Verkleinerung des Gehirns, die Verkürzung des Corti-Organs des Innenohrs bei domestizierten Säugetieren im Vergleich zu ihren wilden Vorfahren bzw. nächsten Verwandten). Warum sind beispielsweise viele Haustiere im Vergleich zu den Wildtieren gefleckt (Abb. 2.29)? Es erscheint unwahrscheinlich, dass unsere Vorfahren in verschiedenen Regionen und zu verschiedenen Zeiten unabhängig voneinander verschiedeneTiere gezielt auf eine unregelmäßige Pigmentierung selektiert haben. Vor 50 Jahren hat der russische Genetiker Dmitri K. Belyaev in Novosibirsk ein Forschungsprojekt gestartet, das bis heute fortgeführt wird. Belyaev wollte zeigen, dass viele Eigenschaften der Haustiere ein Nebenprodukt der Selektion für eine einzige Eigenschaft sind. Als zu selektierendes Merkmal wählte er die Zahmheit. Silberfüchse (eine natürliche Farbmorphe des Rotfuchses, die
2.30 Die Domestikation des Silberfuchses durch D. Belyaev: Der Forscher züchtete nur die nichtbissigen Tiere weiter. Nach mehreren Generationen traten Tiere mit geschecktem Fell in der Zucht auf.
auf den Pelztierfarmen gehalten wird) wurden also darauf selektiert, ob sie freundlich (bzw. zurückhaltend) oder bissig waren. Es wurden nur die „braven“ Individuen weitergezüchtet, wobei sich von insgesamt ca. 45.000 Füchsen nur etwa fünf Prozent der Männchen und 20 Prozent der Weibchen in jeder Generation fortpflanzen konnten. Nach ca. 30–35 Generationen (40 Jahren) der strengen Selektion hatte sich eine Population von 100 Füchsen etabliert, die zahm und zutraulich waren und zudem Änderungen im Hormonprofil und in der Ontogenese aufwiesen. Interessanterweise zeigten diese Tiere auch Merkmale, die gar nicht Gegenstand der Selektion waren: Schlappohren, ein nach oben gerollter Schwanz und – am auffälligsten – ein scheckiges Fell (Abb. 2.30). Zu ähnlichen Ergebnissen führende Versuche wurden in der Zwischenzeit auch bei Wanderratten und Hirschmäusen (Peromyscus) durchgeführt. Die Selektion wirkte de facto auf das Hormonund das Nervensystem, insbesondere auf das vegetative Nervensystem, das zum großenTeil für die Steuerung von Stress, Angst, Aggressivität usw. zuständig ist. Die Ganglien des vegetativen Nervensystems und das Nebennierenmark sind Produkte der Neuralleiste (S. 245). Die Selektion wirkte also indirekt auf die (Entwicklung der) Neuralleiste. Aus dem Material der Neuralleiste entstehen u. a. die Pigmentzellen (Melanocyten), die im Lauf der Embryonalentwicklung in die Haut einwandern und sich dort verteilen. Eine Mutation in einem Steuergen, das die Entwicklung der Neuralleiste beeinflusst, kann sich so in Verhaltensänderungen und gleichzeitig auch in einer unregelmäßigen Pigmentierung äußern.
2.13 Gene und Phänotyp
Wenn sich zehn verschiedene Gene an der Ausprägung der Schwanzlänge beteiligen und die Langschwanz-Individuen durch die natürliche Selektion präferiert werden, kann dies schlicht bedeuten, dass jedes dieser zehn Gene etwas zu der Länge beiträgt. Wer von allen zehn Genen die richtigen Allele hat, entwickelt einen langen Schwanz und ist erfolgreich, wer die Hälfte der Gene mit richtigen Allelen besetzt hat, bekommt einen halblangen Schwanz und ist weniger erfolgreich, und wer durchweg die „falschen“ Allele hat, wird kurzschwänzig und ist absolut erfolglos. Über die Länge des Schwanzes werden so eigentlich die richtigen Allele aller Gene selektiert, und es hängt nur von uns ab, ob wir diese Selektion aus dem Blickwinkel des Gens oder des Individuums betrachten. Richard Dawkins hat die schöne Metapher von der Bootsmannschaft eingeführt – gute und schlechte Ruderer rudern gemeinsam, und es hängt von der Fähigkeit der ganzen Mannschaft ab, welche Platzierung sie bei der Regatta erzielen. Natürlich kann auch der beste Ruderer verlieren, wenn er zufälligerweise in ein Boot mit lauter unfähigen Tollpatschen gesetzt wird. Die biologischen „Mannschaften“ werden wirklich durch Zufall gebildet, nämlich durch Rekombination und Befruchtung; das Genom eines jeden von uns ist eine zufällige Kombination von den Allelen, die gerade zur Verfügung standen. Die Selektion funktioniert wie ein Trainer, der nach dem ersten Wettrennen nur die Ruderer aus den jeweiligen Siegerbooten zur nächsten Runde zulässt, das aber wieder in neuen, zufälligen Kombinationen. Die Zahl der guten Ruderer nimmt auch so allmählich zu, obwohl es hier keine Garantie für „Gerechtigkeit“ gibt: Einige gute Ruderer sind schon in den ersten Runden ausgeschieden, während mancher schlechte Ruderer zufälligerweise in die nächsten Runden vorrückt, denn entscheidend ist vor allem die „Mannschaft“. Ein Problem entsteht dort, wo zwischen den Genen kompliziertere funktionelle Beziehungen bestehen. Zu diesen zählt z. B. die Epistase: Die Ausprägung eines Locus ist der Ausprägung eines anderen Locus übergeordnet. Ein Allel eines untergeordneten Gens kann unterschiedliche phänotypische Ausprägungen haben, je nachdem welches übergeordnete Allel es antrifft ( Box 2.21). In einer solchen Situation ist die erfolgreiche und langfristige Selektion der untergeordneten Gene allerdings schwierig, und schwierig ist auch, überhaupt adaptive Eigenschaften zu produzieren.
109
Unter Epistase verstehen wir die phänotypische Ausprägung eines Gens, das einem anderen Gen untergeordnet ist.
| 2.21 |
Epistase Gene, besser gesagt ihre konkreten Allele, können miteinander interagieren und sich in ihrer phänotypischen Wirkung entweder verstärken oder unterdrücken. Wenn dies an einem Locus passiert, sprechen wir von der „Dominanz der Allele“. Ähnliche Interaktionen können aber auch zwischen unterschiedlichen Loci, also zwischen unterschiedlichen Genen stattfinden. Solche Wechselwirkungen zwischen zwei Genen werden als Epistase
(griechisch epistasis = Haltmachen, Stehenbleiben) bezeichnet. (Nach der ursprünglichen Definition von Bateson, S. 30, verstand man unter „Epistase“ nur die Unterdrückung eines anderen Gens.) Ein einfaches Beispiel für die Epistase auf phänotypischer Ebene ist der Albinismus. Die Mutation, die zum Albinismus führt, maskiert die Ausprägung des Gens, das sonst die Haarfarbe bestimmen würde.
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2 Selektion
Je größer und vielfältiger die Population ist, desto eher gerät das selektierte Allel in ein „ungünstiges“ Genom.
In einer kleinen, genetisch homogenen Population kann die Selektion effektiver wirken, weil komplizierte pleiotrope Beziehungen zwischen verschiedenen Genen abgeschwächt sind
Je größer und verschiedenartiger die Population ist, in der die Selektion stattfindet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das selektierte Allel in ein „ungünstiges“ Genom gerät, wo es nicht in der Lage sein wird, den ersehnten Phänotyp zu bilden, und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Allel dort einen neuen, vielleicht erfolglosen Phänotyp bildet – und verschwindet. In einer kleinen Population, wo wahrscheinlich alle Individuen irgendwie miteinander verwandt sind, ist auch die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass der neue Genomkontext, in den das selektierte Allel in der folgenden Generation gerät, ihm die Bildung eines Phänotyps ermöglicht, dank dessen es bis dato erfolgreich war. In einer kleinen Population kann die Selektion so langfristig und effektiv adaptive Eigenschaften produzieren, weil die Probleme durch komplizierte pleiotrope Beziehungen zwischen verschiedenen Genen hier deutlich abgeschwächt sind ( Box 6.19). So ist es möglich, dass gerade kleine Populationen unter evolutionären Gesichtspunkten auch aufgrund dieses Effekts wichtiger sind als große. Schließlich werden wir noch sehen, dass neue Arten wahrscheinlich eher in kleinen und isolierten Populationen aus Randarealen des Verbreitungsgebiets ihrer Mutterarten entstehen.
2.14 Erweiterter Phänotyp
Die phänotypische Ausprägung eines Gens kann mehr umfassen als nur die eigentliche Körperhülle des Organismus, in der sich das Gen gerade aufhält.
Weil die Evolution über die natürliche Selektion von den Beziehungen zwischen Genen und entsprechenden phänotypischen Eigenschaften abhängt, bleibt nichts anderes übrig, als diese Beziehungen noch weiter zu analysieren. Der Autor einer originellen neuen Sichtweise, „erweiterter Phänotyp“ genannt, ist wieder einmal Richard Dawkins. Unter phänotypischer Ausprägung eines Gens verstehen wir die Summe seiner Wirkungen auf den Organismus. Die Ausprägungen eines Gens könnten stets auf die Körper von Organismen begrenzt sein, in denen sich dieses Gen befindet. Dies ist aber nur eine der Möglichkeiten. Die phänotypische Ausprägung eines Gens umfasst nämlich alle Wirkungen, die dieses Gen auf seine Umgebung hat. Der Phänotyp eines Gens sind die Werkzeuge, die ihm helfen, sich in die nächste Generation zu bringen, und diese Werkzeuge können die eigentliche Körperhülle des Organismus, in der sich das Gen gerade aufhält, überschreiten. Schöne Beispiele für diese erweiterten Phänotypen sind Biberdämme, Vogelnester, Spinnennetze, Gehäuse von Köcherfliegenlarven oder auch Motorräder der Marke Harley Davidson (Abb. 2.31). Köcherfliegenlarven bauen zylindrische Gehäuse, sogenannte Köcher, aus Materialien, die sie auf dem Wasserboden finden: verschiedene Kleinmuscheln, Nadel- und Blätterstückchen sowie kleine Steinchen. Sorgfältig suchen sie einzelne Materialstücke aus und überprüfen, ob und wie sie in das Gehäuse passen. Wie sind diese Köcher in der Evolution entstanden? Zweifellos sind sie eine im Rahmen der Selektion herausgebildete Anpassung, denn da sie die weichen Körper der Larven schützen, bieten sie ihren Trägern einen gewissen Vorteil. Im Grunde genommen kann man die Köcher mit den Panzern der Krebse
2.14 Erweiterter Phänotyp
vergleichen. Da der Panzer jedoch ein Bestandteil des Körpers ist, kommt es uns nicht seltsam vor, dass die natürliche Selektion Allele bevorzugt hat, die diesen Panzer härter machten. Im Fall der Köcher dagegen hat die Selektion die Gene bevorzugt, denen es gelang, ihre Träger zum Bauen derartiger Strukturen zu bringen. Diese Gene beeinflussen das Verhalten der Köcherfliegenlarven offensichtlich durch Regulationsvorgänge während der embryonalen Entwicklung des Nervensystems, aber die sichtbare Ausprägung dieser Gene sind die Gestalt und die Eigenschaften der Köcher. Man kann hier also mit der gleichen Berechtigung von „Genen für die Köcherform“ sprechen, wie z. B. von „Genen für die Form der Extremität“ (auch sie beeinflussen die Form der Extremität mithilfe von Regulationsprozessen während der Embryonalentwicklung). Weil also die Gehäuse der Köcherfliegenlarven der Selektion unterzogen sind, müssen auch Gene existieren, die Unterschiede zwischen den Köchern hervorrufen, denn ohne Variabilität funktioniert die Selektion nicht. Wir können mit Fug und Recht von „Genen für Form, Größe und Härte der ausgewählten Steinchen“ sprechen, obwohl diese Steinchen von verschiedenen, im Bach herrschenden Bedingungen geprägt sind – unabhängig von der Existenz der Köcherfliegen. Natürlich gibt es keine „Gene für Form, Größe und Härte existierender Steinchen“. Der Unterschied zwischen dem Panzer der Krabbe und dem Gehäuse der Köcherfliegenlarve ist nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint. Auch der Krabbenpanzer ist de facto eine leblose Hülle, die von Hypodermiszellen produziert wurde. Die Köcherfliegen bilden diese Hülle einfach nur anders, nämlich aus Steinchen und nicht aus Chitin. Wir können dieses Szenario noch erweitern, indem wir uns vorstellen, dass die Gene eines Organismus mit ihren phänotypischen Ausprägungen auch auf die Körper anderer Organismen wirken. Als Beispiel kann die Beziehung zwischen
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Der Panzer einer Krabbe und das Gehäuse einer Köcherfliegenlarve sind evolutionär vergleichbar: Die Selektion präferierte bei Krabben Allele, die den Panzer härter machten, und bei Köcherfliegenlarven solche, die ihre Träger zum Bau von Gehäusen brachten.
2.31 Beispiele für den erweiterten Phänotyp: Nest einer Beutelmeise (Remiz pendulinus), Spinnennetz, Gehäuse der Köcherfliegenlarve, Harley-Davidson ...
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2 Selektion
Einige Saugwürmer bewirken, dass ihre Wirte dickere Gehäuse bilden, anstatt sich fortzupflanzen. Die Verdickung des Schneckengehäuses ist in diesem Fall eine Anpassung des Saugwurms.
Die Mechanismen der Parasiten, durch die sie ihre Wirte manipulieren, sind manchmal einfach.
Die Manipulation des Verhaltens der Adoptiveltern durch den Kuckuck ist ein weiteres Beispiel für einen erweiterten Phänotyp.
einigen Saugwürmern und ihren Schneckenwirten dienen, über die wir – im Unterschied zur Evolution der Köcher – wirklich viel wissen. Es zeigte sich, dass die von Saugwürmern parasitierten Mollusken besonders dicke Gehäuse aufweisen. Diese Tatsache erscheint widersinnig, denn kranke Schnecken sollten aufgrund ihres schlechteren Gesundheitszustands eher dünnere Gehäuse haben. Offensichtlich bringen die Saugwürmer ihre Wirte dazu, dickere Gehäuse zu bilden, anstatt in die eigene Fortpflanzung zu investieren. Die Mollusken sind zusammen mit den „einquartierten“ Saugwürmern besser vor den Einflüssen der Umwelt geschützt und leben länger. Den Genen der Schnecke bringt das natürlich nichts, doch dafür hat der Saugwurm mehr Zeit für die eigene Fortpflanzung. Die Gene der Saugwürmer wirken somit eigentlich außerhalb des eigenen Körpers und beeinflussen den Bau des Schneckengehäuses. Der Phänotyp des parasitierten Mollusken ist also eine Kombination der Einflüsse von Schnecken- und Saugwurmgenen. Die übermäßige Verdickung des Schneckengehäuses ist in diesem Fall eine Anpassung des Saugwurms. Die Mechanismen von Parasiten, durch die ihre Wirte zu seltsamen Verhaltensweisen veranlasst werden, sind bisher nur ungenügend bekannt. Manchmal geht es um einfache, im Endeffekt aber effektive Maßnahmen. Die Larven einiger Saugwürmer parasitieren die Augenlinsen von Fischen, die dadurch schlecht sehen können. Wenn der Fisch nun feststellt, dass um ihn herum Dämmerung herrscht, steigt er automatisch an die Wasseroberfläche, da er „annimmt“, sich wahrscheinlich zu tief zu befinden. Die Fische mit parasitierten Augen erreichen so den Wasserspiegel, ohne dass es für sie jedoch heller wird. Dort, dicht unter der Wasseroberfläche wird der Fisch leicht zur Beute von Wasservögeln, in die der Saugwurm gelangen muss, um in ihnen seine Entwicklung abzuschließen ( Box 2.22, Abb. 2.32). In einigen Fällen müssen die Parasiten nicht innerhalb ihrer Wirte leben, weil ihre Gene auch aus der Ferne auf die zuständigen Wirte wirken können. Beispielsweise leben Kuckucksjunge nicht im Körper der Rohrsänger, saugen weder ihr Blut, noch fressen sie ihnen Gewebestücke ab. Trotzdem bezeichnen wir den Kuckuck als Parasiten, und das von ihm beeinflusste Verhalten der Adoptiveltern demonstriert die phänotypische Ausprägung der Kuckucksgene. Die Entstehung dieser Verbindung, also die Fähigkeit der Kuckucke, psychische Dispositionen der Rohrsänger zu „erkennen“ und dadurch ihr Verhalten zu manipulieren, konnte natürlich durch keine andere Selektion als die der Kuckucksgene vorangetrieben werden. Angenommen in einer Kuckuckspopulation konkurrierten verschiedene Allele, die unterschiedlich erfolgreiche Parasitierung determinieren, während sich die Rohrsänger an der Entstehung dieses Parasitismus nur passiv beteiligt sind, weil sie keine hinreichend wirksamen Abwehrmaßnahmen erfunden haben. Dagegen konnten die Zilpzalpe den Brutparasiten dank der nahezu 100-prozentigen Ablehnung fremder Eier anscheinend schon ausrotten. Die gesamte Verbindung Kuckuck – Rohrsänger, also nicht nur das Verhalten des Kuckucks an sich, ist also ein erweiterter Phänotyp der Kuckucksgene.
2.14 Erweiterter Phänotyp
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| 2.22 |
Wie Parasiten ihren Wirt manipulieren Als Parasit wird ein Organismus bezeichnet, der ausschließlich (obligat) oder gelegentlich (fakultativ) auf Kosten anderer Organismen (Wirte) lebt. Man unterscheidet Mikroparasiten (Keime: Viren, Bakterien, Pilze) und Makroparasiten (Protozoen, Plathelminthen, Nematoden, Arthropoden). Die sogenannten Ektoparasiten leben auf der Körperoberfläche, Endoparasiten intra- oder extrazellulär in Geweben. Sie verbreiten sich horizontal (innerhalb der Wirtspopulation von einem Individuum zum anderen) oder vertikal (von einer Generation in die nächste). Die Verbreitung erfolgt direkt oder mittels Vektoren. Manche Parasiten haben einen komplizierten Lebenszyklus, der auch Zwischenwirte einschließt. Zwischen- und Endwirte gehören unterschiedlichen Arten an, wobei im Zwischenwirt oftmals die ungeschlechtliche Vermehrung erfolgt, während die Geschlechtsreife im Endwirt erreicht wird. Üblicherweise werden die Zwischenwirte stärker geschädigt als die Endwirte. Oft ist der Tod des Zwischenwirts sogar Voraussetzung dafür, dass der Parasit in den Endwirt gelangt. Ein Parasitenbefall (Parasitose) wird durch verschiedene Krankheitszeichen (Symptome) angezeigt, die oft die Lebensfähigkeit des parasitierten Organismus herabsetzen. Auf den ersten Blick scheint es, dass diese Anzeichen nur unspezifische Begleiterscheinungen der Erkrankung bzw. der Abwehrreaktionen des Organismus sind. Doch man kann diese Symptome auch für Anpassungen des Parasiten halten, denn sie erhöhen die Chance, dass der Parasit in den Endwirt gelangt. So lösen z. B. die parasitischen Erreger der Malaria (Einzeller der Gattung Plasmodium) beim Menschen, ihrem Zwischenwirt, hohes Fieber aus,
was den infizierten Menschen stark schwächt, sodass er sich der Attacken der Endvektoren (Mücken der Gattung Anopheles) nicht erwehren kann. ParasitierteTiere sind schwächer, langsamer, weniger aufmerksam und damit einfachere Beute für ein Raubtier, in das der Parasit gelangen „will“. Fische, in deren Augenlinsen Saugwürmer der Gattung Diplostomum parasitieren, halten sich in der Nähe der Wasseroberfläche auf, wo die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass sie von Wasservögeln erbeutet werden (Abb. 2.32). Fische, die mit dem Bandwurm der Gattung Schistocephalus befallen sind, haben einen höheren Bedarf an Sauerstoff, wodurch sie dazu gezwungen sind, sich in der Nähe der Wasseroberfläche aufzuhalten, da dort der Sauerstoffpartialdruck höher ist (und wo sie ebenfalls eher von Wasservögeln erbeutet werden). Ein Lehrbuchbeispiel der Manipulation des Wirtsverhaltens durch Parasiten ist der kleine Leberegel (Dicrocoelium dendriticum), ein Saugwurm, der die infizierte Ameise dazu bringt, sich stundenlang auf einem Grashalm aufzuhalten, sodass die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, dass ein grasender Wiederkäuer die Ameise verzehren wird. Die mit dem Fadenwurm der Gattung Mermis parasitierten Ameisen suchen Wasser auf, wo sie dann ertrinken. Man muss nicht groß erläutern, dass die weitere Entwicklung des Fadenwurms im Wasser erfolgt. Und man könnte noch zahlreiche weitere bekannte Beispiele für solche Verhaltensmanipulationen nennen. Einige Parasiten können Angst herabsetzen, wodurch die Wahrscheinlichkeit des Kontakts mit anderen Tieren (z. B. Tollwutüberträger), ja sogar mit Prädatoren, erhöht ist (beispielsweise sind die mit dem Saugwurm Schistosoma solidus parasitierten Stichlinge „mutiger“). Einige Parasiten beeinflussen die Fluchtreaktion, sodass das parasitierte Individuum leichter erbeutet werden kann. Parasiten, die durch Geschlechtsverkehr übertragen werden, können höhere sexuelle Aktivität und promiskes Verhalten auslösen usw.
2.32 Fische, in deren Augenlinsen Saugwürmer der Gattung Diplostomum parasitieren, halten sich in der Nähe der Wasseroberfläche auf, wo sie zur Beute von Wasservögeln werden, die ihr Parasit für die Vollendung seines Entwicklungszyklus braucht.
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2 Selektion
Viele Organismen manipulieren ihre Artgenossen oder Angehörige anderer Arten.
In der Natur wimmelt es nur so von Organismen, die ihre Artgenossen oder Angehörige anderer Arten auf mehr oder weniger unangenehme Weise manipulieren. In allen Fällen, in denen die Selektion Gene für erfolgreiche Manipulation präferiert, kann man davon sprechen, dass diese Gene erweiterte phänotypische Wirkungen auf den manipulierten Organismus haben. Organismen verhalten sich deshalb so, wie sie sich verhalten, weil dadurch die Gewinne der „Gene für das gegebene Verhalten“ maximiert werden. Es ist dabei nicht wichtig, in welchem Körper und in welcher Spezies sich diese Gene tatsächlich befinden.
2.15 Von Parasiten zu sich durchsetzenden Genen
Ein im Cytoplasma der Wirtseizelle lebender Parasit kann über die Eizelle in die nächste Wirtsgeneration gelangen; in diesem Fall sollte der Parasit den weiblichen Wirten möglichst wenig Schaden zufügen. Nur bei horizontaler Verbreitung und der Möglichkeit, den sterbenden Wirt zu verlassen, nutzt es dem Parasiten, seinem Wirt zu schaden. Bei Einschränkung auf vertikale Übertragung haben Parasit und Wirt die gleichen Interessen: möglichst viele lebensfähige Nachkommen zu zeugen.
Die traditionelle Wahrnehmung eines Organismus beginnt mehr und mehr zu verschwimmen. Ein Wasserfloh im Teich und eine Blattlaussoldatin in der Pflanzengalle sind aus evolutionärer Sicht keine selbständigeren Individuen als einzelne Halme einer Quecke. Sogar an unserem Verhalten sind nicht nur unsere eigenen Gene und unsere eigenen Interessen beteiligt, wie wir gerne glauben möchten, sondern auch Gene unserer Familienangehörigen oder sogar unserer Parasiten. Es scheint so, als entstünde um jedes Gen herum eine Einflusssphäre, die weit mehr umfasst als den Körper, in dem die zugehörige DNA vorkommt. Aber diese Unsicherheit gilt auch für die Gegenrichtung: Kein einziger menschlicher Körper, ja nicht einmal eine einzige menschliche Zelle oder das Genom einer menschlichen Zelle stellen homogene Evolutionseinheiten dar. Seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts werden immer mehr Fälle sehr seltsamer Gene bekannt, deren Evolutionsrolle ganz offensichtlich nicht im Dienst des Organismus liegt, und wir würden sie viel besser verstehen, wenn wir sie als genetische Parasiten betrachteten. Die Ähnlichkeit zwischen dem Verhalten von Parasiten und dem einiger Gene ist wirklich verblüffend. Eine günstige Strategie, um als Parasit in der nächsten Generation wieder im richtigen Wirt zu landen, ist, den Wirt einfach nie zu verlassen. Wenn der Parasit es schafft, im Cytoplasma der Wirtseizellen zu parasitieren, kann er über sie in die nächste Wirtsgeneration gelangen. Sobald ein Parasit gelernt hat, seine Übertragung auf diesem Weg zu bewerkstelligen, also vertikal von der Mutter zu den Nachkommen, ist es für ihn günstiger, die weiblichen Wirtsorganismen möglichst wenig zu schädigen. Seinem Wirt zu schaden, nutzt einem Parasiten nur dann, wenn er sich horizontal verbreiten kann, mit anderen Worten – wenn sich ihm die Möglichkeit bietet, den angeschlagenen oder unter Umständen auch sterbenden Wirt zu verlassen. Ein Parasit, der sich über die Wirtseizellen verbreitet, muss eine möglichst große Anzahl an Eiern parasitieren und darf daher seiner Wirtin nicht schaden. Das bedeutet, dass ein auf die vertikale Übertragung eingeschränkter Parasit die gleichen Interessen hat wie jedes beliebige Gen der Wirtin, nämlich möglichst viele lebensfähige Nachkommen zu erhalten. Der Glaube, dass sich die Parasiten notwendigerweise von den rauen, blutigen Methoden (im Wesentlichen von der „Prädation von innen“) abwandten, um friedlich mit dem Wirt, der zwar beraubt, nicht jedoch
2.15 Von Parasiten zu sich durchsetzenden Genen
115
umgebracht wird, zusammenzuleben, ist tröstend, aber nicht ganz berechtigt. Es kann, muss aber nicht so sein; das hängt von der Art und Weise ab, wie der Parasit in die nächste Generation gelangt. Eine Hälfte der Parasiten, die sich erfolgreich über die Eier in die nächste Generation retten, gelangt in weibliche Wirte, die andere Hälfte in männliche. Weil die Männchen keine Eierproduzenten sind, endet die Hälfte der Parasiten in einer Sackgasse. Für sie kann es vorteilhaft sein, diesen ungeeigneten Wirt zu liquidieren und dann einen anderen Weg zu beschreiten. Ab und zu machen sie es tatsächlich so. Einige Parasiten von Säugetieren, die über die Placenta oder die Milch auf die Nachkommen übertragen werden, verhalten sich ruhig, solange sie sich in einem Weibchen befinden. Sie leben erst dann wieder auf und vermehren sich, wenn das Weibchen schwanger wird oder anfängt zu stillen. Sind sie in einem Männchen, vermehren sie sich jedoch sofort und versuchen, aus dem Wirt herauszukommen. Eine noch bessere Taktik ist es, das Männchen, in das der Parasit fatalerweise geraten ist, in ein Weibchen umzuwandeln. Auch solche Fälle kennen wir; cytoplasmatische Bakterien machen dies beispielsweise bei Landkrebsen ( Box 2.23), und in dieselbe Kategorie gehört auch die Umwandlung von zwittrigen Pflanzen in rein weibliche – über die Reduktion der Staubfäden in Blüten. Eine andere Strategie veranlasst das parasitierte Weibchen, sich nicht sexuell, sondern parthenogenetisch fortzupflanzen und so nur Kopien seiner selbst – also lauter Töchter – zu produzieren. Wenn der Parasit aber in ein Männchen geraten ist und ihm nicht entfliehen kann, sollte er es zumindest töten. Damit wird der Parasit sich natürlich nicht selbst retten, aber er kann seinen genetischen Kopien (seinen „Schwestern“), die die Schwestern des liquidierten Männchens bewohnen, helfen. Falls die männlichen und die weiblichen Wirte um irgendeine Ressource konkurrieren, wird der Tod des Männchens die benachbarten Weibchen begünstigen, und dadurch werden auch die Parasiten in diesen Weibchen begünstigt. Solche Männchenkiller finden wir bei manchen bakteriellen Parasiten von Insekten.
Einige der im Cytoplasma von Männchen vorkommenden Parasiten können diese in Weibchen umwandeln.
| 2.23 |
Bakterien, die keine Männchen mögen: Wolbachia Bakterien der Gattung Wolbachia leben als cytoplasmatische Parasiten oder Symbionten, insbesondere in Arthropoden und Nematoden. Schätzungsweise sind bis zu 75 Prozent der Arthropodenarten infiziert. Wolbachien verbreiten sich vertikal, d. h. sie werden über weibliche Keimzellen auf die nächste Generation übertragen. Wenn sie dabei Pech haben und in ein Männchen geraten, z. B. in das einer Rollassel (Armadillidium vulgare), können sie dieses in ein fortpflanzungsfähiges Weibchen umwandeln und damit das Fortbestehen der eigenen Abstammungslinie sichern. Eine weitere Strategie zur Erhöhung der Gesamtfitness ist es, bei einem infizierten Weib-
chen die Parthenogenese auszulösen (z. B. beim Schmetterling Hypolimnas bolina), sodass das Weibchen dann ausschließlich (infizierte) Weibchen produziert. Andere Strategien verhindern die Entstehung von nichtinfizierten Weibchen – so können sich z. B. bei einigen Arten die nichtinfizierten Weibchen ausschließlich mit nichtinfizierten Männchen fortpflanzen, wodurch sie eine niedrigere Fitness haben als die infizierten Weibchen (die sich sowohl mit nichtinfizierten wie mit infizierten Männchen paaren können). Allmählich sinkt dann die Zahl der nichtinfizierten Weibchen in der Population. Nach einigen Autoren sind die Wolbachien einer der Hauptmotoren der Artbildung bei Insekten.
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2 Selektion
Intrazelluläre Parasiten, die lebenslang in der Zelle verbleiben und sich nur durch ihre Teilung verbreiten, sind eigentlich Organellen.
Sobald es dem Parasit gelingt, das Problem mit dem männlichen Geschlecht zu lösen, beginnt sich die Grenze zwischen parasitärem und Wirtsorganismus zu verwischen. Letztendlich ist ein intrazellulärer Parasit, der die Zelle nie verlässt und sich nur durch ihre Teilung verbreitet, eigentlich ein Organell, und die klassischen Zellorganellen, Mitochondrien und Chloroplasten, entstanden tatsächlich aus symbiotischen Bakterien ( Box 2.24). Umgekehrt gilt
| 2.24 |
Endosymbiontentheorie Unter Endosymbiose versteht man einen Zustand, bei dem die Symbionten ( Box 2.17) intra- oder extrazellulär im Körper des Partners leben, der somit zum Wirt wird. Diese Art der Symbiose ist so eng, dass ein Partner nicht ohne den jeweils anderen leben kann. Lehrbuchbeispiele für Endosymbionten sind die zellulosespaltenden Einzeller und Bakterien aus dem Verdauungstrakt der Wiederkäuer und Termiten. Es handelt sich dabei um Arten, die ansonsten in der Natur nicht frei vorkommen. Die meisten Tierarten (und auch der Mensch) sind auf die Verdauungssymbionten, die zumindest essenzielle Vitamine liefern, die der Wirt selbst nicht produzieren kann, mehr oder weniger angewiesen. Nach der Endosymbiontentheorie sind Mitochondrien und Plastide, wichtige Organellen der eukaryotischen Zellen, eigentlich Nachkommen eigenständiger prokaryotischer Organismen (Proteobakterien aus der Verwandtschaft der Rickettsiales bzw. Cyanobakterien, die in den frühen Phasen der Evolution die voreukaryotischen Urzellen besiedelt haben). Als Erster publizierte der deutsche Botaniker Andreas Schimper im Jahr 1883 diese Idee. Seine Hypothese wurde 1905 von dem russischen Lichenologen Konstantin Sergejewitsch Mereschkowski weiterentwickelt, der bei Chloroplasten eine der bakteriellen Teilung ähnliche Vermehrung beobachtete. Erst 1981 wurde die Hypothese als Endosymbiontentheorie durch Lynn
Margulis ( s. u.) bekannt gemacht und erfolgreich popularisiert. Margulis postulierte die maximalistische Auffassung dieser Theorie, da sie u. a. auch die endosymbiotische Herkunft der Geißel (aus Spirochaeten) annimmt. Allerdings ist diese Hypothese umstritten, denn die Geißel enthält keine eigene DNA und unterscheidet sich in ihrem Bau von dem der prokaryotischen Geißel. Die Endosymbiontentheorie wird durch molekularbiologisch-phylogenetische Analysen und auch durch die Ähnlichkeit von Mitochondrien, Plasmiden und Bakterien unterstützt. Gemeinsame Merkmale sind Ähnlichkeiten • in Größe und Form • im Genom (DNA) • im Bau der Innenmembran • in den Ribosomen • der Proteinsynthese • einiger Proteine, Enzyme und Transportsysteme • in der Art der Teilung. Die eukaryotische Zelle selbst ist nicht fähig, diese Organellen zu bilden. Nach einer anderen Theorie war die Entstehung von Mitochondrien und Plastiden nicht das erste symbiotische Ereignis in der Evolution der Eukaryotenzelle: Schon der Kern selbst ist als Chimäre ( Box 2.30) entstanden, nämlich durch symbiotische Vereinigung der Genome von gramnegativen Eubakterien und Archaeen.
Lynn Margulis Lebensdaten: geb. 1938 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Biologin. Ihre bekannteste wissenschaftliche Leistung ist die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der Endosymbiontentheorie über den Ursprung von Plastiden und Mitochondrien aus prokaryotischen Organismen ( Box 2.24). Folgende ihrer Bücher liegen in deutscher Übersetzung vor: Die andere Evolution (1999), Leben (mit D. Sagan, 1997), Die fünf Reiche der Organismen (mit K. V. Schwartz 1987), Geheimnis und Ritual (mit D. Sagan, 1993).
2.15 Von Parasiten zu sich durchsetzenden Genen
117
aber auch, dass man bei einem Gen, das sekundär aus dem Zellkern in das Cytoplasma gerät, dieselben Tendenzen erwarten kann wie bei cytoplasmatischen Parasiten, beispielsweise die Abneigung gegenüber männlichen Wirten. Im Allgemeinen können wir sagen, dass cytoplasmatische Gene, unabhängig davon ob sie ursprünglich von Parasiten oder Symbionten oder aus dem Zellkern stammen, die Tendenz zeigen, gegen ihre Wirte (oder Symbiosepartner) zu revoltieren. Auch auf Chromosomen im Zellkern liegende Gene können sich wie Parasiten verhalten ( Box 2.25). So kommt z. B. das Gen sd (Abk. für englisch segregation distorter : „Segregationsverzerrer“) bei Drosophila in zwei Allelen vor: „aggressiv“ (schwarzes Rechteck in Abb. 2.33) und „nichtaggressiv“ (weißes Rechteck). Es beeinflusst ein anderes Gen, Rsp (responder), welches wiederum in zwei Allelen vorkommt, „anfällig“ (schwarzes Oval) und „resistent“ (weißes Oval) (Abb. 2.34). | 2.25 |
Ein Gen, das sekundär aus dem Zellkern in das Cytoplasma gerät, wird sich ähnlich wie cytoplasmatische Parasiten verhalten.
Intragenomischer Konflikt Ein intragenomischer Konflikt entsteht, wenn die Übertragung der Gene an die Nachkommen nach unterschiedlichen Regeln abläuft bzw. wenn ultraegoistische Gene vorhanden sind (nicht zu verwechseln mit egoistischer DNA, Box 2.26). Ultraegoistische Gene, besser gesagt Allele, verbreiten sich im Genpool auf Kosten der Fitness ihrer Träger (S. 120). Der intragenomische Konflikt kann cytoplasmatische Gene, nucleäre Gene und ganze Chromosomen betreffen. Der Konflikt zwischen cytoplasmatischen und nucleären Genen entsteht dadurch, dass die cytoplasmatischen Elemente hauptsächlich über die weiblichen Gameten an die nächste Generation weitergegeben werden, sodass die Männchen und männliche Gameten eine Sackgasse für solche Gene darstellen ( Box 2.23). Ein Beispiel für einen solchen cytoplasmatischen Gensatz ist das mitochondriale Genom ( Box 2.24). Zwischen den nucleären Genen gibt es ebenfalls Konfliktpotenzial. Normalerweise sorgt die Meiose dafür, dass die homologen Chromosomen aus der ursprünglichen diploiden Mutterzelle rein zufällig in die haploiden Keimzellen gelangen ( Box 1.13). Doch manchmal beeinflussen Struktur und Geninhalt der einzelnen Chromosomen, welches Allel in die Keimzelle gelangt und welches nicht. Der Prozess der differenziellen Segregation der Allele in die Keimzellen mittels der differenziellen Übergabe einzelner Chromosomen wird als meiotic drive bezeichnet. Im einfachsten Fall betrifft der meiotic drive zwei eng gekoppelte (und daher nur selten voneinander getrennte) Loci: Killer und Target. Hier besteht der
„Segregationsverzerrer“ (s. Haupttext) aus zwei Allelen: dem Killer-Allel (am Killer-Locus) und dem Resistant-Allel (am Target-Locus). Ihre „Gegner“ sind die Allele Non-killer und Non-resistant. Der „Segregationsverzerrer“ produziert ein Toxin, gegen das er selbst resistent ist, sein Gegner jedoch nicht. So tötet der „Segregationsverzerrer“ seine Rivalen und verbreitet sich auf deren Kosten. Ein anderer Mechanismus macht sich die Asymmetrie der weiblichen Gametogenese zum Nutzen. Im Gegensatz zu den männlichen Gameten teilt sich die unreife weibliche Keimzelle, die sogenannte Oocyte, nicht in vier gleichwertige Keimzellen, sondern eine der Zellen behält bei jeder Teilung fast das gesamte Cytoplasma und die Schwesterkerne, die die sogenannten Polkörper bilden, gehen später zugrunde. Allele, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als erwartet in die reife Eizelle statt in den Polkörper gelangen, werden mit der Zeit alternative Varianten verdrängen (true meiotic drive). Wenn diese Form des meiotic drive ganze Chromosomen betrifft, kann das auch zu Speziationsereignissen führen. In jeder Population konkurrieren verschiedene Chromosomenvarianten um ihre Repräsentation in den nächsten Generationen. Nach Aufspaltung einer Population können sich in den getrenntenTeilpopulationen durch den meiotic drive unterschiedliche Varianten von Chromosomen durchsetzen. Der meiotic drive kann noch auf anderen Mechanismen beruhen und auch männliche Keimzellen und oftmals die Geschlechtschromosomen ( Box 2.27) betreffen.
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2 Selektion
Dieses steuert die Bildung der Spermien. Das aggressive Allel des Gens sd liquidiert das anfällige Allel des Gens Rsp, nicht aber das resistente Allel. Die beiden Allele liegen auf demselben Chromosom nah beieinander, sodass sie fast ausschließlich gemeinsam (gekoppelt) weitergegeben werden. Für diese beiden Gene gibt es vier mögliche Allelkombinationen auf einem Chromosom: aggressiv + anfällig (A), aggressiv + resistent (B), nichtaggressiv + anfällig (C), nichtaggressiv + resistent (D). Sollte einmal die erste Kombination entstehen, beginge sie sofort Selbstmord, sodass wir sie gar nicht weiter zu behandeln brauchen. Die beiden letzten Kombinationen beinhalten das nichtaggressive „weiße“ Allel des Gens sd, sodass nichts passiert. Das aggressive Allel des Gens sd kann also nur mit dem resistenten Allel Rsp auf einem Chromosom vorkommen, und so kann es dem anfälligen Allel nur in einem befruchteten Ei (B C) begegnen, wenn dieses auf dem Chromosom des anderen Elternteils liegt. Mit der Befruchtung entsteht eine diploide Zelle und damit auch ein Individuum der neuen Generation, in dessen Zellen sich ein aggressives + resistentes Chromosom und ein nichtaggressives + anfälliges Chromosom begegnen. Das aggressive Allel sd kann sein eigenes Chromosom nicht beschädigen (denn es enthält das resistente Allel Rsp), aber es verhindert die Bildung von Spermien, in denen das konkurrierende, nichtaggressive Allel dieses Gens vorkommen würde. Schauen wir uns das Ergebnis dieser Unterdrückung einmal an: Sobald das aggressive sd-Allel auf seinen nichtaggressiven Konkurrenten trifft, versperrt
2.33 Meiotic drive bei Drosophila: Das Gen sd (Viereck) kommt in zwei Allelen vor: aggressiv (schwarz) und nichtaggressiv (weiß). Es beeinflusst ein anderes Gen Rsp (Oval), das ebenfalls in zwei Allelen vertreten ist: anfällig (schwarz) und resistent (weiß). Die Kombination aus aggressiv sd (schwarzes Viereck) und anfällig Rsp (schwarzes Oval) führt zum Selbstmord. Wenn es bei der Befruchtung zum Zusammentreffen des aggressiven Allels sd auf einem Chromosom mit dem nichtaggressiven Allel sd (und anfälligem Rsp) auf dem anderen Chromosom kommt, wird die Bildung der Spermien mit dem konkurrierenden nichtaggressiven Allel sd verhindert.
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2.15 Von Parasiten zu sich durchsetzenden Genen
es ihm den Weg in die nächste Generation; das jeweilige Männchen produziert zwar weniger Spermien, aber alle werden dasselbe Allel, nämlich das aggressive, beinhalten. Den resultierenden Widerspruch zu den genetischen Gesetzen, nach denen eine Hälfte der Spermien ein mütterliches und die andere ein väterliches Allel enthalten sollte, nennen wir meiotic drive ( Box 2.25). Diese Verschiebung in den Zahlenverhältnissen lohnt sich sicherlich für das Gen sd, auch wenn es für das entsprechende Männchen nicht von Nutzen ist. Dieses Gen verhält sich wie ein Parasit, obwohl es garantiert nicht aus irgendeinem fremden Symbionten entstanden ist. Es ist ein normales Gen, das sich der Kontrolle entzogen und „gemeutert“ hat. Solche Gene werden unterschiedlich genannt: Man bezeichnet sie als „Abtrünnige“ oder Renegaten, weniger poetisch als (ultra)egoistische Gene oder am wenigsten anthropomorph als „sich selbst durchsetzende Elemente“. Andere Gene sind von der Existenz der Abtrünnigen natürlich nicht gerade „begeistert“. Das nichtaggressive Allel des Gens sd und das Spermium sterben nicht allein, denn das aggressive sd tötet gleichzeitig auch alle anderen Allele, die sich zufälligerweise in derselben Zelle befinden wie das Opfer. Das Ziel der anderen Gene ist also, entweder den Renegaten zu liquidieren oder ihm zu helfen. Sobald er nämlich seine Konkurrenten beseitigt hat, wird es kein Allel mehr geben, das er schlagen könnte, und dadurch wird er harmlos sein. Im Genom liegen somit besondere Gene zerstreut, die die Schlachten von sich selbst durchsetzenden Genen verhindern. Bei der Übertragung der genetischen Information entstehen also Interessenskonflikte. Zwei genetische Elemente haben nur dann dieselben Interessen, wenn ihnen die Art der Übertragung in die nächsten Generationen gemein ist. Parasit und Wirt möchten beide, dass der Wirt lebt, aber sie können sich darin unterscheiden, welche Lebensspanne sie für ihn als sinnvoll erachten. Für den Wirt ist es gut, mindestens so lange zu leben, bis er sich selbst reproduziert hat. Nach Wunsch des Parasiten muss der Wirt so lange leben, bis der Parasit es geschafft hat, seine Entwicklung abzuschließen und den Wirt zu verlassen. Ein sich nur vertikal verbreitender Parasit hat das gleiche Interesse an der Lebensdauer des Wirtes wie der Wirt selbst, aber nur dann, wenn er sich im Wirt des richtigen Geschlechts befindet. Ein Organismus wird so zum Schnittpunkt der Interessen einzelner genetischer Elemente. Kein Wunder also, dass verschiedene Gene auch andere Strategien ihrer Verbreitung ausprobieren, als nur loyal mit anderen Genen zugunsten ihrer gemeinsamen Zelle zusammenzuarbeiten. Ein großer Teil der genetischen Elemente ist mehr oder weniger fähig, sich innerhalb des Wirtsgenoms auszubreiten. Manche dieser mobilen Gene stehen phylogenetisch einigen Viren nah, also jenen Genen, die es darüber hinaus gelernt haben, von Zelle zu Zelle und von Organismus zu Organismus zu springen. Ein erheblicher Teil des Genoms der eukaryotischen Organismen ist angefüllt mit sich vielfach wiederholenden, kurzen Sequenzen, die schwerlich etwas bedeuten können ( Box 2.26). Wahrscheinlich spiegelt sich hier die Fähigkeit einiger Nucleotidsequenzen wider, sich schneller zu vermehren als ihre Umgebung.
Eine ungleiche Gametenproduktion wird als meiotic drive oder segregation distortion bezeichnet.
Renegaten oder ultraegoistische Gene sind Gene, die sich wie Parasiten verhalten. Andere Gene werden entweder versuchen, den Renegaten zu liquidieren oder ihm zu helfen.
Zwei genetische Elemente verfolgen dann dieselben Interessen, wenn sie auf die gleiche Weise in die nächsten Generationen übertragen werden.
Mobile Gene können sich innerhalb eines Genoms ausbreiten und sind phylogenetisch mit einigen Viren verwandt.
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2 Selektion
Ein Organismus stellt die Koalition seiner Gene dar, und sein Gesamterfolg wird gerade durch die am wenigsten erfolgreichen Gene beeinflusst.
Man kann zusammenfassen, dass ein genetisches Element mehrere mögliche Strategien hat, sich zu vermehren. Es kann sich innerhalb der Zelle, unabhängig von ihrer Teilung, replizieren, falls es sich irgendwie der Kontrolle der komplizierten, die Kern- und Zellteilung überwachenden Maschinerie entzieht. Es kann von Zelle zu Zelle springen und sich horizontal verbreiten. In diesem Fall verseucht es die Population unabhängig davon, wie es den Erfolg seiner Wirte beeinflusst (und verhält sich wie ein klassischer Parasit). Und es kann sich zusammen mit seinem Wirt verbreiten, und zwar so, dass es dessen reproduktive Fitness erhöht; so machen es die klassischen Gene, die wir als „normal“ ansehen. Seinem Träger zu helfen, ist jedoch nur eine von vielen Alternativen sich zu vermehren, und zwar ist dies eine Möglichkeit, die nicht immer die günstigste ist: Ein Organismus stellt eine Koalition seiner Gene dar, und sein Gesamterfolg wird gerade durch die am wenigsten erfolgreichen Gene beeinflusst. Muskeln, ein netter Charakter und die offenkundige Tatsache,
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Egoistische und repetitive DNA Die Abschnitte der DNA, die sich im Genom und Genpool verbreiten, aber nicht zur Fitness beitragen, bezeichnet man auch als egoistische DNA. (Die „egoistische DNA“ ist nicht mit dem „egoistischen Gen“ zu verwechseln.) Der Prozess ihrer Verbreitung, der sogenannte molecular drive, ist vielfältig und wird oft als wichtigster Antrieb für die Verschiebung der Allelfrequenzen in der Population angesehen. Im Vergleich zu Selektion und Gendrift ist der molecular drive allerdings noch wenig untersucht. Während einige Abschnitte der DNA im haploiden Genom in nur einer Kopie vorkommen, liegen andere Abschnitte in mehreren mehr oder weniger ähnlichen Kopien vor. Man spricht hier von repetitiver DNA. Ein Beispiel für egoistische DNA sind sogenannte Transposons („springende Gene“), DNAAbschnitte, die ihre Position im Genom ändern können. Dabei wird entweder die Sequenz ausgeschnitten und an anderer Stelle wieder eingebaut (konservativeTransposition) oder aber es wird eine Kopie angefertigt und das Replikat eingebaut (replikativeTransposition).Transposons wurden 1948 von der US-amerikanischen Botanikerin Barbara McClintock im Mais nachgewiesen, die ihnen in unterschiedlich gefärbten Maiskörnern auf die Spur kam. Für diese Entdeckung wurde McClintock 1983 mit dem Nobelpreis geehrt. Transposons wurden später in vielen anderen Organismen gefunden. Etwa 45 Prozent des menschlichen Genoms besteht aus Transposons. Ein weiteres Beispiel für egoistische DNA sind B-Chromosomen (überzählige Chromosomen), die
zusätzlich zum normalen Karyotyp bei manchen Tier- und Pflanzenarten vorkommen. Sie sind nicht lebensnotwendig und fehlen den meisten Individuen. Satelliten-DNA besteht per Definition aus repetitiven Sequenzen innerhalb eines Locus. Die sich vielfach tandemartig wiederholenden Sequenzen bestehen aus zwei bis etwa 100 Basenpaaren und können sich über lange Abschnitte erstrecken (bis zu 105 Basenpaare). Diese Abschnitte haben eine besonders hohe Evolutionsgeschwindigkeit, da sie in nichtkodierenden Regionen liegen. Minisatelliten bestehen aus fünf bis 50 tandemartigen Wiederholungen einer kurzen (ca. zehn bis 100 Nucleotide umfassenden) DNA-Sequenz. Die Wiederholungen sind hochvariabel: Durch falsche Zusammenlagerung beim Crossing-over während der meiotischen Rekombination haben sich im Verlauf der Evolution viele verschiedene Allele gebildet, die jeweils aus einer anderen Zahl von Wiederholungen bestehen. Jeder Mensch hat dadurch eine sehr spezifische Zusammensetzung dieser Allele. Die Analyse der Minisatelliten findet daher insbesondere beim Fingerprinting (Erstellung eines genetischen Fingerabdrucks) Anwendung. Für die Molekulartaxonomie, aber auch für den genetischen Vergleich von Individuen ist die Analyse von Mikrosatelliten (auch als SSRs – Simple Sequence Repeats) besonders nützlich. Ihre Sequenzen bestehen aus zwei bis vier Nucleotiden und können zehn- bis 100-mal wiederholt werden. Das menschliche Genom enthält ca. 50.000 bis 100.000 Mikrosatelliten.
2.16 Das sich durchsetzende Geschlecht
121
nicht parasitiert zu sein, helfen wenig, wenn die dafür kodierenden Gene im selben Körper sitzen wie ein für Blindheit kodierendes Gen beispielsweise; eine solche Koalition zu verlassen, kann sich nur lohnen. Um Missverständnissen vorzubeugen sei gesagt, dass auch die sich durchsetzenden Gene ihrem Wirt „nicht schaden wollen“; nur wehren sie sich auch nicht dagegen. Dem Wirt zu schaden ist eine der Möglichkeiten, den eigenen Erfolg zu steigern – falls das Gen es schafft, sich den Kontrollmaschinerien der Zelle, also dem Diktat der anderen Gene zu entziehen.
2.16 Das sich durchsetzende Geschlecht Auch das unpaarige Geschlechtschromosom kann aufständische genetische Elemente beherbergen. Die Y-Chromosomen der Säugetiere, bei denen die chromosomale Geschlechtsbestimmung wie beim Menschen erfolgt (das Männchen hat je ein X- und ein Y-, das Weibchen hat zwei X-Geschlechtschromosomen), haben sich seit ihrer Entstehung bei einem Säugetiervorfahren nur und ausschließlich in Männchen aufgehalten. Wenn auf dem Y-Chromosom nun ein Gen erscheint, das Männchen gegenüber Weibchen bevorzugt, wird es erfolgreich sein. Wir können dies an folgendem Modell („Blaubart-Modell“) verdeutlichen (Abb. 2.34): Nehmen wir eine Art, bei der das Geschlechterverhältnis 1:1 beträgt, die Wurfgröße z. B. zehn Junge umfasst und die Sterblichkeit der Jungtiere bei 20 Prozent liegt. Ein normales Männchen bekommt in jedem Wurf vier Töchter und vier Söhne, insgesamt also acht Nachkommen, die das Nest erfolgreich verlassen. Stellen wir uns weiter vor, dass eines der auf dem Y-Chromosom liegenden Gene („Blaubart-Allel“) den Vater dazu brächte, seine Töchter zu töten (sodass bald nach der Geburt fünf Söhne, aber keine Töchter heranwüchsen). Die Söhne wären dadurch ihre Konkurrentinnen los, sodass am Ende nicht nur vier (= 80 Prozent), sondern fünf (= 100 Prozent) Junge
Das unpaarige Geschlechtschromosom beherbergt oft Renegaten.
2.34 Das „BlaubartModell“: Ein normales Männchen (links) zeugt im Durchschnitt 10 Junge (5 Töchter, 5 Söhne), von denen durchschnittlich 8 (4 + 4) überleben. Das Männchen, das auf seinem Y-Chromosom ein „Blaubart-Allel“ besitzt (rechts), tötet seine Töchter, sodass alle Söhne überleben. Der „Blaubart“ hat zwar eine geringere Fitness, da nur 5 statt 8 Junge durchkommen, doch während das normale Allel mit vier Kopien in die nächste Generation übergeht (denn die Weibchen haben kein Y-Chromosom), sind es nun fünf Kopien des „BlaubartAllels“. (Nach Flegr 2005)
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2 Selektion
Ein „Blaubart-Allel“ auf dem Y-Chromosom, das den Träger veranlasst, seine Töchter zugunsten der Söhne zu liquidieren, würde sich ausbreiten, obwohl der Fortpflanzungserfolg des Trägers gemindert ist.
männlichen Geschlechts überlebten. Ein Y-Chromosom, das ein sich durchsetzendes Gen trägt, verfünffacht sich also, während ein Y-Chromosom mit „normalem“ Gen sich nur viermal vermehren würde. Ein sich durchsetzendes Gen wird sich also ausbreiten – allerdings auf Kosten seines eigenen Wirts: Das Männchen, das insgesamt acht Nachkommen (vier Töchter und vier Söhne) haben könnte, hat nur fünf (fünf Söhne und keine Töchter). Merken Sie, worauf die Fähigkeit der „entarteten“ Gene auf dem Y-Chromosom beruht? Für ihren Hang, die Töchter zu töten, werden die „entarteten“ Gene niemals bestraft, da sie nie in jemandes Tochter geraten ( Box 2.27–2.28). Eine andere Möglichkeit, den Individuen des anderen Geschlechts zu schaden, stellt die elterliche genomische Prägung dar. In der Zygote und im Embryo brauchen nicht beide (also mütterliche und väterliche) Kopien eines Gens aktiv zu sein, es genügt eine einzige, und welche das ist, hängt nicht vom Zufall ab. Die Entscheidung wird allerdings nicht genetisch, sondern „epigenetisch“ getroffen, durch die sekundären chemischen Modifikationen eines unveränderten Gens ( Box 2.29). Einige Gene werden wie funktionelle Einheiten nur entlang der Linie eines Geschlechts vererbt – was, wie Sie schon ahnen, eine gute Voraussetzung für die Evolution der sich durchsetzenden Strategien darstellt. Falls sich die Mutter mit mehreren Männchen paart und während der Schwangerschaft mehrere Embryonen in der Gebärmutter heranwachsen, kann das väterliche Allel in einem Embryo nicht sicher sein, dass sich im Nachbarembryo dasselbe Allel befindet. Für ein von der Mutter vererbtes Allel beträgt die Wahrscheinlichkeit immer 50 Prozent, für ein vom Vater vererbtes Allel höchstens
Genomische Prägung entscheidet, welche Gene − abhängig von ihrer elterlichen Herkunft (aber unabhängig von den Mendel’schen Regeln) − aktiv oder inaktiv werden.
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Genomische Prägung - Geschlechterkrieg Es wird oft angenommen, dass es unter dem Gesichtspunkt eines Individuums egal ist, welche Eigenschaft von der Mutter und welche vom Vater vererbt wurde. Dem ist jedoch nicht so. Bei manchen Genen wird ausschließlich die väterliche Kopie, bei anderen ausschließlich die mütterliche Kopie exprimiert, während die von dem jeweils anderen Elternteil stammende Kopie stillgelegt wird. Dieses Phänomen wird als „genomische Prägung“ bezeichnet. Die „geprägten“ Gene erinnern sich also an ihre Herkunft. Die Mechanismen, die dies ermöglichen, sind teilweise bekannt (z. B. Methylierung des Gens), doch es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, sie zu erörtern. Am auffälligsten ist die genomische Prägung in den Fällen, in denen es zum Konflikt zwischen den biologischen Interessen des Vaters und der Mutter darüber kommt, wie viel die Mutter in die Nachkommenschaft investieren soll. Bei Maus und Mensch kennt man Dutzende von Genen, die während der Gametogenese geprägt werden. So wird z. B. das Gen für den Insulinähnlichen Wachstums-
faktor-2 (Igf-2), das das Wachstum des Embryos mitkontrolliert, im mütterlichen Genom inaktiviert, im väterlichen Genom bleibt es aktiv. Trägt das Spermium ein mutiertes Igf-2-Gen, ist der Embryo sehr klein, selbst wenn das Gen von der Mutter normal ist.Trägt hingegen die Eizelle ein mutiertes Igf-2-Gen, bleibt dies ohne Folgen. Genomische Prägung ist ein Beispiel für epigenetische Vererbung ( Box 2.29). Genomische Prägung kann sich allerdings auch in den Situationen bemerkbar machen, in denen kein Konflikt zwischen den Geschlechtern stattfindet. So sind z. B. einige spezifische Muster des weiblichen Verhaltens und der weiblichen Fähigkeiten (z. B. manche Elemente der sozialen Intelligenz) auf dem X-Chromosom lokalisiert. Diese Gene werden jedoch nur aktiv, wenn sie vom Vater stammen. Weil Söhne ihr X-Chromosom immer von der Mutter erben, ist gewährleistet, dass die Gene für das gegebene weibliche Verhalten nur bei Frauen aktiv sein werden (die immer eines ihrer X-Chromosomen vom Vater erben).
2.16 Das sich durchsetzende Geschlecht
50 Prozent. Im Uterus der Mutter koexistieren aus dem Blickwinkel eines bestimmten Embryos drei Typen von Genen: seine eigenen, von der Mutter vererbten Gene, seine eigenen, vom Vater vererbten Gene und schließlich die übrigen Gene, die in der Mutter und in den Geschwistern vorkommen. Die Mutter verteilt die Nährstoffe möglichst gleichmäßig, denn alle Embryonen sind mit ihr gleichermaßen verwandt. Die embryonalen Gene wollen das Maximum an Nährstoffen gewinnen, wodurch ihr potenzieller Erfolg erhöht wird. Da sie keine Rücksicht auf die Geschwister nehmen, liegt hier in bestimmten Grenzen ein Nullsummenspiel vor. Die väterlichen embryonalen Gene sind natürlich egoistischer, weil sie nicht ausschließen können, dass sich in den Geschwistern nicht auch die Gene irgendeines anderen Männchens befinden. Der Embryo – er ist kein Bestandteil der Mutter, sondern zu 50 Prozent ein fremdes Individuum, gewissermaßen ein „halber“ Eindringling – versucht, das Maximum an mütterlichen Nährstoffen zu gewinnen. Die Signale, die der Embryo im mütterlichen Körper freisetzt, manipulieren die Mutter so gut wie möglich und zwingen sie, dem Embryo das Maximum an Nährstoffen zu geben. Der Embryo möchte, dass Stoffe wie z. B. Glucose so lange wie möglich im Blut der Mutter verbleiben und ihm zur Verfügung stehen und nicht, dass die | 2.28 |
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Der Embryo ist für die Mutter zu 50 % ein fremdes Individuum, und er versucht das Maximum an mütterlichen Nährstoffen für sich zu gewinnen.
Krieg der Geschlechtschromosomen Bei Säugetieren wird das Y-Chromosom vom Vater an seine Söhne weitervererbt. Dieses enthält die genetische Information für die männliche Entwicklung des Embryos. Es trägt das sogenannte SRY-Gen (Abk. für sex determining regionY gene), das Gen, das das männliche Geschlecht bestimmt. (Beim Menschen wird es als SRY, bei anderen Säugetieren als Sry bezeichnet.) Fehlt diese Information, entsteht ein weiblicher Phänotyp. Während das X-Chromosom üblicherweise groß ist, trägt das meist kleine Y-Chromosom nur wenige Gene (beim Menschen sind es nur ca. 20 Gene, wobei die Hälfte die Entwicklung der Hoden induziert, während die anderen die sekundären Geschlechtsmerkmale bestimmen). Dies wird mit dem ewigen Evolutionskampf zwischen dem weiblichen und dem männlichen Chromosom (also dem X- und Y-Chromosom) erklärt. Es könnte sich um eine Abwehrstrategie gegen die Renegaten-Gene (S. 119) handeln. Ein „Blaubart-Gen“ (S. 121, Abb. 2.34) würde sich unter Männchen schnell verbreiten, für die Population als Ganzes ist es allerdings schädlich. Auch infolge von meiotic drive ( Box 2.25) könnte der Organismus mehr Nachkommen eines Geschlechts auf Kosten des anderen produzieren. Gene auf dem X-Chromosom brauchen das weibliche Geschlecht nicht so stark zu protegieren, denn sie sind in der Überzahl (in einer Population
mit einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis beträgt das Verhältnis der Geschlechtschromosomen 3X : 1Y). Trotzdem kann man auch hier eine Analogie zu den „Blaubart-Genen“ annehmen. Da die Y-Chromosomen bei Säugetieren in der Minderheit sind, sind sie auch die Verlierer, die sich verstecken müssen. Sie gaben (und geben) im Verlauf der Evolution ihre Gene (bis auf Sry) allmählich ab, werden also stets kleiner, bis sie verloren gehen und das Sry ein neues Autosom besetzt. Dieses wird dann zum neuen „Y-Chromosom“, und das Versteckspiel beginnt von vorne. Man kann diese hypothetischen Stadien des Evolutionskampfes bei einigen Tieren als Momentaufnahmen beobachten. Beim Medakafisch (Oryzias latipes), einem in Japan heimischen und intensiv erforschten Süßwasserfisch, sind dagegen X- undY-Chromosomen morphologisch nicht voneinander zu unterscheiden und, abgesehen von dem Geschlechtsbestimmungslocus (Dmy-Gen), auf dem Y-Chromosom, auch genetisch identisch ausgestattet. Daraus wird geschlossen, dass X- und Y-Chromosomen aus einem Autosomenpaar hervorgegangen sind und sich im Lauf der Evolution weiter voneinander differenziert haben. Das Y-Chromosom des Medakafischs stellt damit eine rezente evolutionäre Neuheit dar.
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2 Selektion
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Epigenetik Epigenetik (vom griechischen epi: auf, darauf) bezeichnet die Weitergabe bestimmter Eigenschaften an die Nachkommen, die nicht auf Abweichungen in der DNA-Sequenz beruhen (wie es bei einer Mutation der Fall wäre), sondern auf einer vererbbaren Änderung der Genregulation und Genexpression. Welche Segmente der DNA in RNA transkribiert und welche RNA-Moleküle in Proteine übersetzt werden, entscheidet der gesamte Molekularapparat der Zelle. Spezialisierte Enzyme können z. B. bestimmte Stellen in der DNA methylieren, d. h. eine Methylgruppe an eine Nucleinbase binden. So wird etwa Cytosin zu Methylcytosin, einer Base, die nicht „gelesen“ werden kann. Zu den Mechanismen epigenetischer Veränderungen gehören neben der Methylierung beispielsweise auch die Acetylierung oder die Bindung anderer Reaktionsgruppen an die Basen der Nucleinsäure oder an die Aminosäuren der Chromosomenproteine. Solche chemischen Änderungen der Regulationsregionen einiger DNA-Abschnitte können ihre Transkription negativ oder positiv beeinflussen, und die zugehörige Regulationsveränderung wird
Die väterlichen Gene fördern das egoistische Wachstum des Embryos, wogegen sich die Mutter wehrt.
in der gegebenen Zelllinie an die nächsten Generationen weitergegeben. Epigenetische Prozesse werden durch Informationen aus der inneren und der äußeren Umwelt beeinflusst. Beispiele für die epigenetische Vererbung sind die genomische Prägung ( Box 2.27) oder die Zelldifferenzierung: Während der Embryonalentwicklung der Wirbeltiere teilt sich die Zygote in totipotente („alles könnende“) Stammzellen, die sich weiter in verschiedene pluripotente („manches könnende“) Zelllinien diversifizieren, die sich dann zu den spezialisierten differenzierten Zellen entwickeln. Die Zellen der Basalschicht der Epidermis (Oberhaut) können lebenslang Epidermiszellen, sogenannte Keratinocyten, bilden – aber nur diese und keine andere Zellen, obwohl in ihrem Zellkern auch die genetische Information zur Bildung von Nerven- oder Muskelzellen vorliegt. Pflanzenzelllinien sind dagegen durch ein epigenetisches „Gedächtnis“ weniger eingeschränkt und erhalten oft ihre Totipotenz, sodass z. B. auch aus einem Blattstück eine neue Pflanze entstehen kann.
Mutter sie für sich selbst verbraucht. Man kann also erwarten, dass ein Embryo danach streben wird, Glucose langfristig im Blut zu halten, also gegen das mütterliche Insulin zu wirken. Und in der Tat sind das vom Embryo produzierte placentale Laktogen und das Wachstumshormon eigentlich Antiinsuline. Wenn wir die genomische Prägung mit diesem komplizierten intrauterinen Spiel kombinieren, können wir ungefähr abschätzen, welche elterlichen Kopien welches Gens im Embryo aktiv sein werden. Solche Voraussagen treten häufig tatsächlich ein. So sind z. B. die väterliche Kopie des Gens für den Wachstumsfaktor und die mütterliche Kopie des Gens für den Zellrezeptor aktiv, wobei letztere fähig ist, das Molekül dieses Wachstumsfaktors abzufangen und zu vernichten. Der Vater fördert das egoistische Wachstum des Embryos (auf Kosten der Geschwister, die nicht seine Verwandten sein müssen), und die Mutter wehrt sich durch die Produktion des Proteins, das die Aktivität des Wachstumsfaktors blockieren kann ( Box 2.27).
2.17 Chimären Bis jetzt sind wir stets von der Vorstellung ausgegangen, dass ein Tier oder eine Pflanze durch klonale Teilung einer einzigen Mutterzelle (üblicherweise eines befruchteten Eis) entsteht und dass alle Zellen des vielzelligen Körpers genetisch identisch sind. Die Körperzellen eines Individuums wären daher alle zu 100 Prozent miteinander und in geringerem Umfang auch mit den Zellen anderer
2.17 Chimären
Individuen verwandt (jede Ihrer Epidermiszellen ist zu 50 Prozent die genetische Kopie der Leberzelle eines Ihrer Elternteile oder eines Ihrer Geschwister). Es gibt zwar Ausnahmen (so verlieren beispielsweise einige Zellen, wie die Erythrocyten, während ihres Lebens ihren Zellkern und damit die gesamte DNA, sodass sie keine Gene und keine Verwandtschaft mit wem auch immer haben), aber im Allgemeinem gilt die Aussage. Das Problem ist, dass nicht jeder vielzellige Organismus tatsächlich eine Kolonie von genetisch identischen Zellen darstellt. Wenn in der Gebärmutter zwei Embryonen zusammentreffen, können sie in frühen Phasen der Entwicklung verschmelzen, sodass ein Individuum entsteht, dessen einzelne Zellen miteinander nicht mehr als zu 50 Prozent verwandt sind. Ein solches Individuum wird als Chimäre bezeichnet ( Box 2.30). Diese Verschmelzung kommt auch beim Menschen vor. Bevor molekulargenetische Methoden angewandt wurden, konnte der Chimärismus beim Menschen nur selten erkannt werden, beispielsweise in den Fällen, in denen die Mutter mehr oder weniger synchron Spermien von zwei phänotypisch sehr unterschiedlichen Partnern zur Empfängnis erhielt. Was dies für die Vaterschaftstests bedeutet, möge sich jeder selbst ausmalen: Ihre Spermien, lieber Leser (natürlich gilt dasselbe auch für Ihre Eizellen, liebe Leserin), können in Wirklichkeit die Spermien Ihres Bruders sein, der darüber hinaus einen anderen Vater als Sie gehabt haben könnte, sodass Ihr Sohn in Wirklichkeit Ihr (Halb)Neffe wäre, obwohl Ihre Gattin nichts Unmoralisches getan hat. Nicht nur sie geriete dadurch sicherlich in Erklärungsnöte, und Sie selbst hätten vermutlich ebenfalls große Probleme (das kommt davon, wenn | 2.30 |
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Vereinigen sich zwei Embryonen in frühen Phasen der Entwicklung, so entsteht ein Individuum (eine Chimäre), dessen einzelne Zellen miteinander nicht mehr als zu 50 % verwandt sind.
Chimäre Als Chimäre (in der griechischen Mythologie ein Zwitterwesen: vorne Löwe, in der Mitte Ziege, hinten Drache) bezeichnet man einen Organismus, der aus genetisch unterschiedlichen Zellen bzw. Geweben (d. h. aus verschiedenen Zygoten bzw. von unterschiedlichen Individuen) aufgebaut ist und dennoch ein einheitliches Individuum darstellt. Bei Pflanzen entstehen Chimären künstlich durch Pfropfung. Der Empfänger einer Organspende wird per Definition ebenfalls zur Chimäre. Auch in der Natur finden wir Chimären – z. B. entstehen die Stämme einiger Ficus-Würger, die auf den ersten Blick wie eine einheitliche Pflanze aussehen, oft durch die Verflechtung und Verwachsung von Geweben unterschiedlicher Pflanzen. Diese verschiedenen Pflanzen wachsen aus Samen, die durch Vogelkot auf den Wirtsbaum gelangt sind. Diese „Zusammenarbeit“ mehrerer Individuen ermöglicht es dem Ficus, schneller auf dem Wirtsstamm hoch zum Licht zu klettern. Beim Menschen können natürlicherweise Blutchimären auftreten – ca. acht Prozent der zwei-
eiigen Zwillinge besitzen chimärisches Blut, d. h. ein Teil der Blutelemente stammt von dem einen und ein Teil von dem anderen Zwilling. (Bei der Bluttransfusion handelt es sich nur um einen vorübergehenden Chimärismus, denn die Blutzellen des Spenders werden letztendlich durch eigene Blutzellen ersetzt.) Beim Menschen kann der Chimärismus auch bei der Entstehung von Autismus eine Rolle spielen. Ein besonderer Fall von Chimärismus ist der gonadale Parasitismus, bei dem ein „Partner“ die Gonaden des ChimärenOrganismus bevorzugt besetzt und die Keimzellen produziert. Verschmelzen zwei Blastozysten gleichen Geschlechts, kann der Chimärismus nur durch einen DNA-Test entdeckt werden. Auch beim Menschen wurden Fälle von Frauen beschrieben, deren Körpergewebe genetisch uniform waren, doch die in ihren Ovarien gebildeten Keimzellen stammten von ihrem (zweieiigen) Zwilling. Die möglichen Konsequenzen, die der Chimärismus für die Gerichtsmedizin und die Justiz bedeuten könnte, kann sich jeder selbst ausdenken.
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Südamerikanische Krallenaffen, die üblicherweise Zwillinge gebären, zeigen oft einen Chimärismus der Blutzellen.
Coccomorpha, nah mit Blattläusen verwandte Insekten, bilden ein Organ, das sog. Bakteriom, das bakterielle Symbionten beherbergt.
Die Zellen des Bakterioms sind enger mit den Zellen der Mutter verwandt als mit anderen Körperzellen des Coccomorpha.
2 Selektion
man seinen Halbbruder als Embryo „verschluckt“). Dieses Szenario ist gewiss die absolute Ausnahme und eine Verkettung ungünstiger Umstände obendrein; aber phylogenetisch nicht weit von uns entfernt: Bei den südamerikanischen Krallenaffen (Callitricinae), wo üblicherweise Zwillinge geboren werden, ist der Chimärismus der Blutzellen relativ weit verbreitet. Aber es kommt noch besser. Coccomorpha sind seltsame Insekten, die nah mit Blattläusen verwandt sind. Wie die Blattläuse, so saugen auch die Coccomorpha den Saft aus den Gefäßbündeln der Pflanzen (nur einige Arten nehmen auch den Inhalt der Pflanzenzellen zu sich), sodass sie ein prinzipielles Problem haben: Sie erhalten auf diesem Weg zwar Wasser und Zucker, aber nur wenige Proteine. Doch dieses Problem wird mithilfe von intrazellulären bakteriellen Symbionten gelöst: Diese Bakterien liefern ihren Wirten die notwendigen Moleküle und bewohnen Zellen, die im Körper der Coccomorpha ein seltsames Organ bilden, das sogenannte Bakteriom. Die Zellen des Bakterioms sind allerdings nicht identisch mit den anderen Zellen des Coccomorpha-Körpers. Die Entstehung der Eier und der Spermien verläuft bei allen Tieren, auch bei Menschen und Coccomorpha, im Prinzip identisch. Aus einer diploiden (2n) Mutterzelle (der Oocyte oder der Spermatocyte) entstehen vier haploide (n) Zellen. Während aus einer Spermatocyte vier gleichwertige Spermien entstehen, wird aus einer Oocyte nur ein einziges befruchtungsfähiges Ei gebildet, aus dem Rest entstehen drei kleine Polzellen, die üblicherweise bald zugrunde gehen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Herstellung eines nährstoffreichen Eis ist aufwendig, und vier vollwertige Eier aus jeder Oocyte können sich die Tiere nicht leisten. Manchmal gehen die Polzellen jedoch nicht unter: Bei einigen Coccomorpha (den Diaspididae) verschmelzen die Polzellen und bilden eine triploide (3n) Zelle mit drei Kopien jedes Chromosoms ihrer Mutter. Weil die Mutter diploid war (sie hatte also von jedem Chromosom zwei Kopien), können wir vereinfacht zusammenfassen, dass in dieser triploiden Zelle die anderthalbfache Mutter steckt. Diese triploide Zelle dringt in den sich entwickelnden Embryo ein (der durch klonale Teilung der diploiden Zygote entsteht) und verschmilzt dort mit einer von dessen Zellen. So entsteht eine pentaploide (5n) Zelle, die von jedem Chromosom fünf Kopien hat, vier von der Mutter (aus dem Ei und den Polzellen) und eine vom Vater (aus dem Spermium). Diese pentaploide Zelle teilt sich und bildet das Bakteriom, das von den symbiotischen Bakterien besiedelt wird. Die Zellen des Bakterioms (ihr Genom enthält zweimal das Genom der Mutter und 0,5-mal das Genom des Vaters) sind also mit den Zellen der Mutter näher verwandt als mit den anderen Körperzellen des Coccomorpha, deren Genome je zur Hälfte von der Mutter und vom Vater stammen. Erinnern wir uns an die Konflikte der Gene zwischen der Mutter und dem Embryo während der Schwangerschaft. Dort finden wir eigentlich eine ähnliche Situation: In enger Kooperation leben Zellen mit unterschiedlichen Genomen (zum einen die Zellen der Mutter mit zwei Kopien der mütterlichen Chromosomen und zum anderen die Zellen des Embryos und der Placenta mit einer mütterlichen und einer väterlichen Kopie). Doch ist es bei den Coccomorpha eigentlich umgekehrt: Während die Säugetierplacenta wie eine Art
2.17 Chimären
Versorgungsleitung funktioniert, über das der Embryo seine Mutter aussaugt, besteht das Bakteriom der Coccomorpha vorwiegend aus mütterlichem Gewebe im Körper des Nachkommen, das dessen Ernährung kontrolliert. Falls also ein aufständischer junger Coccomorph seine Mutter irgendwie gefährden möchte, würde ihn das Bakteriom resolut daran hindern. Die Weibchen von Coccomorpha sind sesshaft, und auch die Larven sind nicht besonders wanderlustig, bevor sie sesshaft werden (nur die Männchen fliegen), und darüber hinaus bewohnen diese Tiere mehrjährige Pflanzen, üblicherweise Bäume und Sträucher. Die Mutter koexistiert also langfristig mit (und in) ihrer Nachkommenschaft, und tatsächlich können Mutter und Nachkommen unterschiedliche Interessen haben. Coccomorpha sind dafür bekannt, dass sie den Platz, an dem sie sich niederlassen, sorgsam auswählen – es scheint, dass sie eher Plätze mit nichtverwandten Individuen auswählen, als ob sie die Konkurrenz mit den Verwandten einschränken möchten (wobei unklar ist, ob ihnen das vom Bakteriom befohlen wird). Oder geht es um etwas anderes? Vergessen wir nicht, was bakterielle Symbionten, die ausschließlich über die mütterliche Linie übertragen werden, alles anstellen, um nicht in ein Männchen zu geraten, und wie böse sie sich gegenüber einem Männchen verhalten können, wenn sie doch in eines gelangt sind. Es ist schwer abzuschätzen, wie viele Arten schon infolge eines ausgeuferten Kampfes zwischen nucleären und cytoplasmatischen Genen (oder Symbionten) ausgestorben sind. Möglicherweise ist dieser genetische Wahnsinn um das Bakteriom einfach nur eine Art zu verhindern, dass die Symbionten erkennen, in welchem Geschlecht sie sich gerade aufhalten. Die Männchen unterscheiden sich von den Weibchen (bei den Diaspididen noch mehr als bei uns), aber das wissen die Symbionten nicht, denn sie leben abgeschirmt in dem bizarren pentaploiden Bakteriom. Die Coccomorpha sind seltsam, doch gibt es nur ein paar wenige Arten. Eine ganz ähnliche Situation finden wir aber bei einer viel umfangreicheren und bedeutenderen Organismengruppe, nämlich bei vielen Bedecktsamern (also bei Blütenpflanzen). Wenn wir uns den Pflanzensamen in der Phase der Entwicklung anschauen, bei der die Ernährung des Nachkommens unmittelbar auf den von der Mutter gelieferten Nährstoffen beruht, dann finden wir drei Gewebetypen. Im Inneren liegt der Embryo, also das normale diploide Gewebe der neuen Generation, das aus der Zygote entstanden ist. Die Oberfläche des Samens wird von der Samenschale (Testa) gebildet, einer diploiden Hülle, die direkt aus dem mütterlichen Körper stammt und genetisch mit den mütterlichen Zellen identisch ist. Zwischen Embryo und Testa liegt die Hauptmasse des Samens, das Endosperm. Das Endosperm ist das Nährgewebe, in das der Embryo, vergleichbar der Placenta der Säugetiere, eingebettet ist. (Nebenbei bemerkt: Es ist das Endosperm, das wir beim Verzehr von Mais zu uns nehmen, zu Mehl mahlen oder zu Bier brauen.) Das Endosperm ist manchmal diploid oder polyploid (bis 15n), üblicherweise triploid. Die Vervielfachung entsteht durch den Vorgang der „doppelten Befruchtung“. Bei Pflanzen ist vieles anders als bei Tieren: Wenn die haploiden Zellen entstehen, beginnen sie sich wieder zu teilen und bilden einen vielzelligen haploiden Organismus
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Durch das Bakteriom „kontrolliert“ die CoccomorphaMutter die Ernährung ihrer Nachkommen.
Dank der genetischen Zusammensetzung des Bakterioms können die Symbionten nicht erkennen, in welchem Geschlecht sie sich befinden.
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2 Selektion
Das Endosperm (der Hauptteil des Pflanzensamens) ist genetisch enger mit der Mutter verwandt als mit dem Embryo.
Teilung und Wachstum der Zellen im pflanzlichen Embryo und im Endo-sperm werden durch das Gen MEDEA kontrolliert, wobei die Aktivität dieses Gens davon abhängt, von welchem Elternteil es stammt. Die Evolution des Gens MEDEA unterliegt einer starken Selektion.
(den sogenannten Gametophyten), der allerdings dauerhaft innerhalb seines mütterlichen diploiden Organismus lebt. Erst im Inneren des Gametophyten entstehen die Keimzellen. Die Spermien der Bedecktsamer haben keine Geißel, der Pollenschlauch dringt mit seinen beiden Spermazellen in das Gewebe des Gametophyten ein. Eine Spermazelle fusioniert mit der Eizelle zur Zygote (es entsteht ein diploider Embryo), die zweite Spermazelle verschmilzt mit dem sekundären (diploiden) Embryosackkern bzw. mit den beiden Polkernen und so entsteht die triploide Mutterzelle des Endosperms.* Das Endosperm enthält also zwei Kopien der mütterlichen Chromosomen und eine der väterlichen, ist also wie bei den Coccomorpha genetisch näher mit der Mutter verwandt als mit dem Embryo. Angesichts der enormen ökonomischen Bedeutung der Pflanzensamen wissen wir vieles über die in ihnen stattfindenden Ereignisse. Auch bei den Blütenpflanzen gibt es (genauso wie bei den Säugetieren) die genomische Prägung: Die Aktivität einiger Gene ist davon abhängig, von welchem Elternteil sie stammen. Das MEDEA-Gen koordiniert die Teilung und das Wachstum der Zellen im Embryo und im Endosperm. Hat eine Pflanze eine mutierte Kopie dieses Gens, wächst ihr Embryo schneller als bei normalen Pflanzen, verharrt aber in einem frühen, wenig differenzierten Entwicklungsstadium und geht früh zugrunde; dagegen entwickelt sich das Endosperm der Mutante langsam. Das MEDEA-Gen hält das Wachstum des Embryos im Zaum und verstärkt die Entwicklung des Endosperms; die Feststellung, dass es sich nur um ein in der mütterlichen Kopie aktives Gen handelt, ist also nicht besonders überraschend. Die Evolution des MEDEA-Gens unterliegt seit seiner Entstehung vor mehreren zehn Millionen Jahren einer starken Selektion. Erkennbar wird dies am Verhältnis der fixierten Mutationen, die Veränderungen im Aufbau des Proteins verursachen, zu den Mutationen, die keinen Einfluss auf die Funktion des resultierenden Proteins haben: Wo es auffällig viele genetische Änderungen gibt, die Struktur und Funktion eines Proteins beeinflussen, geschieht in der Evolution wahrscheinlich etwas Bedeutsames. Interessant ist der Vergleich des MEDEA-Gens bei zwei nah verwandten Arten von Schaumkressen (Arabidopsis), die die beliebtesten Versuchsarten der experimentellen Botaniker liefern. Die Art Arabidopsis thaliana (Acker-Schmalwand) ist selbstbestäubend, sodass bei ihr keine Konflikte zwischen den Geschlechtern oder zwischen den Generationen zu erwarten sind. Die Art A. lyrata (Felsen-Schaumkresse) ist fremdbestäubend mit zwei Geschlechtern. Wenn wir uns die Sequenzen des MEDEA-Gens beider Arabidopsis-Arten anschauen, sehen wir, dass bei der fremdbestäubenden Art die Evolution wesentlich schneller ist als bei der selbstbestäubenden Art. Die Evolution des MEDEA-Gens hat sich bei der selbstbestäubenden Art einfach deshalb verlangsamt, weil sie dort nicht so von Nutzen ist – der Krieg der Eltern hörte bei ihr auf.
* Der Pollenschlauch ermöglicht so die Befruchtung ohne Wasser, das für begeißelte Spermienzellen notwendig ist.
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2.18 Der Grünbart-Effekt
2.18 Der Grünbart-Effekt Als „Grünbart“ werden Modellallele bezeichnet, die auffällige phänotypische Eigenschaften bestimmen – z. B. einen grünen Bart –, verknüpft mit der Fähigkeit, andere Träger derselben Allele zu erkennen, und schließlich der Tendenz, gerade diesen gegenüber altruistisch zu handeln. Im Unterschied zum Verwandtenaltruismus würde hier das altruistische Verhalten nicht von der Wahrscheinlichkeit abhängen, dass sich in dem Individuum, dem ich helfe, eine Kopie meiner Allele befindet, denn beim Grünbart ist das Vorhandensein solcher Allele direkt sichtbar. Wenn wir allerdings genauer darüber nachdenken, ist der Verwandtenaltruismus nur eine spezielle Art des Grünbarts. Das Individuum hat hier keinen grünen Bart, sondern eher einen Zettel, auf dem steht „Ich bin dein Bruder“ oder (bei Arten, die den Grad der genetischen Verwandtschaft nicht unterscheiden können) „Wir sind gemeinsam in einem Nest aufgewachsen“. In beiden Fällen trägt es irgendeine phänotypische Eigenschaft, die die Familienzugehörigkeit erkennen lässt – z. B. ein auffälliges Muttermal an einer bestimmten Stelle. Obwohl man nicht besonders an die Existenz eines realen Grünbarts glaubte, wurde tatsächlich ein von der unmittelbaren Familienverwandtschaft unabhängiges Grünbart-Allel entdeckt. Bei der amerikanischen Ameise Solenopsis invicta können die Königinnen zwei verschiedene Allele des Gens Gp-9 haben (Abb. 2.35). Die Königinnen, die die Allelkombination bb besitzen, sterben spontan, wahrscheinlich infolge eines Fehlers in der Ontogenese, während die Königinnen mit zwei Kopien des anderen Allels (BB) von den Arbeiterinnen getötet werden. Die Arbeiterinnen selbst sind, ähnlich wie die überlebenden Königinnen, heterozygot – haben also beide Allele (Bb). Kurz und gut, die Trägerinnen des b-Allels (Arbeiterinnen) liquidieren alle, die diese Allelkombination nicht haben – also die Königinnen des BB-Typs. Somit ist das Allel b offensichlich ein Grünbart. Der „grüne Bart“ ist hier ein spezifischer Geruch
2.35 Das „Grünbart-Allel“ bei der Ameise Solenopsis invicta: Das Gen Gp-9 kommt in den Ausprägungen b und B vor. Königinnen, die zwei Kopien des b-Allels besitzen (bb) sterben eines natürlichen Todes, während Arbeiterinnen die Königinnen mit zwei Kopien des B-Allels (BB) töten. Arbeiterinnen und überlebende Königinnen sind heterozygot (Bb). Da die Trägerinnen des b-Allels (Arbeiterinnen) alle liquidieren, die dieses Allel nicht haben (Königinnen des BBTyps), ist das b-Allel offensichtlich ein „Grünbart“.
„Grünbart-Allele“ helfen, Träger derselben Allele zu erkennen und ihnen gegenüber altruistisches Verhalten auszulösen
Ein von der unmittelbaren Familienverwandtschaft unabhängiges „GrünbartAllel“ wurde bei der amerikanischen Ameise Solenopsis invicta entdeckt.
Der „grüne Bart“ ist bei Solenopsis invicta ein spezifischer Geruch.
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2 Selektion
Möglicherweise sind einige für die Artzugehörigkeit zuständige Gene erfolgreiche und daher endgültig fixierte „Grünbärte“.
und der Altruismus der Träger dieser Allele besteht darin, dass sie sich gegenseitig nicht töten. Allerdings kann das b-Allel nie endgültig gewinnen, weil es im homozygoten Zustand bb den eigenen Träger tötet, sodass die Fähigkeit, sich in der Population auszubreiten, durch die geringe Lebensfähigkeit der Individuen, die der Grünbart erfolgreich in Besitz genommen hat, nachhaltig ausgebremst wird. Erinnern wir uns an die „Falken“, die sich selbst einzuschränken beginnen, wenn ihre Anzahl in der Population zunimmt. Der Ameisen-Grünbart ist ein seltener, aber auch interessanter Fall – unter anderem deshalb, weil hier ein komplexes Verhalten ausnahmsweise wirklich nur durch ein einziges, sich selbst durchsetzendes Allel bestimmt ist. Möglicherweise kennen wir nur deshalb so wenige Grünbart-Gene, weil ihre Strategie sehr wirksam ist, sodass sie sich schnell fixieren, wodurch jedoch ihre Variabilität verschwindet, die uns überhaupt erst den eigentlichen Verlauf hätte zeigen können. Wir entdecken sie daher nur dort, wo zufälligerweise irgendein auffälliges biologisches Phänomen hinzukommt, z. B. die gerade erwähnte Mortalität der Ameisen des reinen bb-Typs. Möglicherweise ist so manches Gen, nach dessen Expression wir die Artzugehörigkeit eines Individuums erkennen, ein erfolgreicher und daher endgültig fixierter Grünbart. Im Allgemeinen gilt, dass wir uns gegenüber einem Individuum, in dem wir etwas Menschliches erkennen, deutlich freundlicher verhalten als gegenüber einem Individuum, in dem wir eine Schabe oder eine Kartoffel erkennen – was genau der Definition des Grünbart-Altruismus entspricht.
2.19 Evolution ohne DNA Nach der molekularbiologischen Lehrmeinung sind alle Ausprägungen eines Organismus fast immer direkte Produkte der in der DNA fixierten Information. Die gesamte Evolution wird meist primär unter dem Aspekt der DNAEvolution betrachtet. 2.36 Das „zentrale Dogma“ der Molekularbiologie: Die molekularbiologische Lehrmeinung hält alle Ausprägungen eines Organismus für ein direktes Produkt der in der DNA festgeschriebenen Information. Seit 30 Jahren weiß man jedoch, dass der Informationsfluss auch von der RNA zur DNA verlaufen kann.
Bis jetzt haben wir uns an die klassische molekularbiologische Lehrmeinung gehalten (nicht zufällig als „zentrales Dogma“ bezeichnet), die alle Ausprägungen eines Organismus für ein mehr oder weniger direktes Produkt der in der DNA festgeschriebenen Information hält (Abb. 2.36). Die ganze Evolution wird daher primär unter dem Aspekt der DNA-Evolution betrachtet. Dies ist im Prinzip in Ordnung, aber für Dawkins’ „Evolutionsgene“ gelten ganz andere Kriterien als für die chemische Natur des Substrats, in dem sie niedergeschrieben sind. Wir brauchen nur etwas, was strukturell ausreichend kompliziert ist, damit es Informationen über die alternativen Varianten des Organismus und
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2.19 Evolution ohne DNA
2.37 Wimperntierchen (Gattung Paramecium). Links Zellanatomie, rechts regionale Differenzierung im Rindenmuster der Zelloberfläche. (Nach Iftode et al. 1989)
seiner Äußerungen tragen könnte. Wäre Stärke eine hinreichend komplizierte organische Verbindung mit mannigfaltigen Variationen, könnten verschiedene „Allele“ auch in verschiedenen Formen des Stärkemoleküls bestehen, nur bietet die Stärke diese Möglichkeit nicht. Trotzdem wissen wir heute, dass es auch biologische Phänomene gibt, bei denen die DNA eigentlich nicht involviert ist und die dennoch alle für den Ablauf der biologischen Evolution verlangten Eigenschaften besitzen. Fangen wir mit der „kortikalen“ (vom lateinischen cortex : Rinde) Vererbung bei Wimperntierchen an. Diese relativ großen Einzeller (bei einigen Arten bis zu drei Millimeter lang) weisen insbesondere im Bereich des „Zellmunds“ einen sehr differenzierten Bau der Zelloberfläche (ihrer „Rinde“) auf, mit einem komplizierten Skelett und vielen miteinander verbunden Cilien und Membranen (Abb. 2.37). Bei jeder Zellteilung ist es notwendig, neue Zellstrukturen zu bilden, wobei das Muster für diese Bildung die Mutterzelle ist. Wenn wir bei den Wimperntierchen experimentell die Struktur der Zelloberfläche im Mundbereich verändern, wird diese veränderte Morphologie zur Vorlage für die nächste Generation von Zellen, sodass auch die Tochterzellen veränderte Mundbereiche haben werden, und so weiter. Ohne dass etwas an der DNA verändert wurde, entsteht eine neue und perfekt erbliche Zellmorphologie, und diese Neuheit wird bei den nachfolgenden Teilungen nicht schwächer, zumindest nicht in dem Zeitraum, in dem die Forscher dies untersucht haben. Weil nichts passierte, haben die Forscher ihr Interesse an dieser Thematik mit der Zeit verloren, aber nichts deutet darauf hin, dass die veränderten Wimperntierchen irgendwann spontan wieder zum ursprünglichen, „natürlichen“ Zustand zurückkehren würden. Wir vergessen einen wichtigen Gesichtspunkt, da wir zu sehr auf die Abläufe bei vielzelligen Organismen fixiert sind. Die Morphologie des menschlichen Körpers entsteht natürlich in jeder Generation neu, weil die gesamte Ontogenese der vorherigen Generation in den einzelligen Stadien unseres Entwicklungszyklus, also in den Keimzellen und in der Zygote, in den Ausgangszustand zurückgesetzt wird und wieder bei null beginnt (vergleichbar einem Reset beim Computer). Bei den einzelligen Organismen ist das aber nicht so. Die Zelle ist vor vier Milliarden Jahren entstanden und hat seitdem nie aufgehört zu existieren. Keine Zelle ist jemals aus dem Nichts und nur durch die Tätigkeit der Gene entstanden, sondern stets durch die Teilung der Mutterzelle. Die Zellstruktur wird also genauso vererbt wie die DNA, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Information über diese Struktur „in den Genen festgeschrieben“ ist. Die Gene produzieren sicherlich die richtigen Proteine, aus denen die Zelle gebaut wird, aber die zeitlich-räumliche Anordnung dieser Proteine ist weitestgehend durch die Struktur der Mutterzelle vorgegeben, die als „Muster“
Einige biologische Phänomene werden ohne Beteiligung von DNA vererbt.
Bei Wimperntierchen kann man experimentell die Struktur der Zelloberfläche im Mundbereich verändern, und diese wird zur Vorlage für die nächste Zellgeneration.
Bei Einzellern wird die Ontogenese der Mutterzelle nicht „auf null zurückgesetzt“, da jede Zelle durch Teilung der Mutterzelle entsteht.
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Das genetische „Protokoll“ kann auf verschiedenen alternativen Wegen gelesen werden.
Prionen sind ein weiteres Beispiel für Evolution ohne Beteiligung der DNA.
Die räumliche Struktur der Proteine entsteht üblicherweise unter Beteiligung von spezialisierten Verpackungsproteinen.
2 Selektion
dient. Eine Reihe von Zellstrukturen (beispielsweise die an der Zellkernteilung beteiligten Centriolen) entstehen tatsächlich auf diese autonome Art und Weise. Aus der kortikalen Erblichkeit der Wimperntierchen folgt, dass zumindest in bestimmten Situationen die Vererbung auch ohne DNA funktionieren kann. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass auch die Evolution einer Struktur ohne Evolution der DNA möglich ist. Einige Teile der Zellstruktur überstehen den „Untergang“ des Individuums (hier üblicherweise als unblutiger Untergang durch die Aufteilung auf zwei Tochterzellen zu verstehen), und erfüllen so eines der Hauptcharakteristika der Evolutionsauffassung des „Gens“. Ein Grundproblem für die allgemeine Annahme, dass die Erkenntnis über die genetische „Niederschrift“ ausreichend für das Verständnis der Biologie in ihrer Gesamtheit sei, stellen auch unterschiedliche Lesarten der genetischen „Aufzeichnung“ dar. Die Zelle kann das genetische „Protokoll“ auf verschiedenen alternativen Wegen lesen und ihre „Umsetzung“ ist nicht nur unmittelbar durch die Information an sich bedingt. Manchmal wird ein Gen in Stücke zerschnitten und dann wieder neu – in geänderter Reihenfolge – zusammengesetzt, wobei ein großer Teil entfällt. Diese unterschiedlich zerschnittene Sequenz wird in ein Protein übersetzt; so könnte man z. B. aus einem Gen für das Myosin der Fliege theoretisch 480 verschiedene Versionen dieses Proteins herstellen (beachte, dass Myosin eine der wesentlichen Komponenten des Cytoskeletts im Allgemeinen und der Muskelfasern im Besonderen ist). In anderen Fällen haben einige Gene die meisten ihrer Nucleotide verloren, aber bei der Herstellung des Proteins wird die ursprüngliche genetische Information durch einen komplizierten Mechanismus (die sogenannte RNA-Editierung) wiederhergestellt. Die Beispiele der kortikalen Vererbung oder des alternativen Zerschneidens zeigen auf, dass Evolution des Organismus existiert, ohne dass notwendigerweise Evolution der DNA stattfindet. Zu dieser Kategorie gehören auch die berühmten Prionen – Verursacher einer Reihe neurodegenerativer Erkrankungen. Pathogene Prionen sind infektiöse Formen eines zellulären, hochkonservierten Prionenproteins. Das pathogene Prion wandelt die Anordnung eines jeden zellulären Prionenproteins, dem es begegnet, ebenfalls in diese infektiöse Form um, die sich dann weiter auf Kosten der nichtinfektiösen Formen verbreitet. Weil die Prionen Verursacher einiger exotischer Krankheiten sind (darunter „Rinderwahnsinn“ oder BSE, medizinisch ziemlich unbedeutend, doch für lautstarke Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Rindfleischhändler-Organisationen genutzt), stießen wir auf diese interessante Art der Funktionsregulation von Proteinen, die nicht direkt von den Änderungen ihrer Gene abhängig ist. Ein Gen kann ein Protein produzieren, das mehr als nur eine Raumstruktur und mehr als nur eine Funktion besitzt, und eine der möglichen Strukturen verbreitet sich dann selbst unabhängig weiter. Etwas Ähnliches finden wir bei den Evolutionsmöglichkeiten von besonderen Proteinen – den Chaperonen. Entgegen der klassischen Lehrbuchvorstellung kommt die räumliche Struktur der Proteine nicht einfach durch eine spontane, durch die physikalischen Eigenschaften einzelner Aminosäuren hervorgerufene Windung und Faltung der Aminosäurekette zustande, sondern sie entsteht üblicherweise unter Beteiligung von spezialisierten „Verpackungsproteinen“.
2.19 Evolution ohne DNA
Beispielsweise ist das „Stressprotein HSP90“ ein Chaperon, das sich an der Erhaltung der räumlichen Strukturen verschiedener Proteine beteiligt, die die Übertragung von Signalen zwischen den Zellen gewährleisten. Gene für diese Proteine können mutieren, aber die absolute Mehrheit dieser Mutationen hat keine direkten Folgen, weil HSP90 die ursprünglichen sowie die mutierten Moleküle in eine ziemlich identische Form verpackt. Die Gene können sich heimlich, still und leise, ohne den Phänotyp zu ändern, mit den Mutationen „beladen“, ohne dass die Selektion diese Änderungen entdecken und ggf. entfernen könnte. In dem Augenblick, indem sich die äußere Umwelt schnell ändert, gerät die Zelle unter Stress und die räumliche Struktur von vielen Molekülen bricht zusammen, was die verfügbaren HSP90-Moleküle nicht ausreichend schnell reparieren können. Die ganze versteckte Variabilität des Genoms kommt damit plötzlich an die Oberfläche und „stellt“ sich der Selektion. In seltenen Fällen sind einige Phänotypen tatsächlich bei der Selektion von Vorteil.
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Manche Genmutationen kommen nicht zum Ausdruck, weil die Chaperone ursprüngliche und mutierte Moleküle in relativ ähnlicher Form verpacken. Mutierte Gene müssen den Phänotyp nicht unbedingt ändern, sodass die Selektion keine Chance hat, diese Änderungen zu entdecken und ggf. zu entfernen.
| 2.31 |
Das Phänomen der intrauterinen Position Bei Säugetieren sind die Embryonen der Wirkung von Geschlechtshormonen ausgesetzt. Diese werden vom Embryo selbst, von den im Uterus benachbarten Geschwisterembryonen sowie von der Mutter produziert und können die Amnionflüssigkeit und die Embryonalhüllen durchdringen. Die weiblichen und männlichen Hormone beeinflussen die Entwicklung der phänotypischen geschlechtsspezifischen Charakteristika des einzelnen Indivi-
duums. So wurde bei Säugetieren mit größeren Würfen (Maus, Ratte, Rennmaus, Schwein) das Phänomen der intrauterinen Position (IUP) beschrieben: Ein Weibchen, das sich in der Gebärmutter neben einem Bruder oder gar zwischen zwei Brüdern befindet, wird einem höheren Testosteronspiegel ausgesetzt und dadurch in manchen Eigenschaften und Merkmalen maskulinisiert (vermännlicht) (Abb. 2.38). Die intrauterine Position, die die Mutter während ihrer eigenen embryonalen Entwicklung innehatte, scheint auch das Geschlechterverhältnis ihrer Nachkommen konsistent zu beeinflussen. Mütter, deren eigene Embryonalentwicklung in der Gebärmutter zwischen Brüdern verlief und die dadurch maskulinisiert wurden, zeugen überdurchschnittlich viele Söhne. Daraus folgt aber, dass die Wahrscheinlichkeit für ihre Töchter, in der Gebärmutter zwischen zwei Brüdern zu liegen zu kommen und dadurch maskulinisiert zu werden, erhöht ist. Die intrauterine Position ist auch ein Beispiel für epigenetische Vererbung ( Box 2.29).
2.38 Gegenseitige Beeinflussung von Föten (bei der Hausmaus) durch die intrauterine Position, dargestellt ist die Blutversorgung der Föten. Die Pfeile zeigen auf Weibchen, die durch ihre Position zwischen zwei männlichen Geschwistern (rechts) bzw. neben einem Bruder (links) maskulinisiert werden.
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Protein- und Zellstrukturen können auch autonom (unabhängig von der DNA) vererbt werden und eine eigene Evolution haben.
2 Selektion
Wir wissen noch nicht, wie bedeutend diese und ähnliche molekulare Mechanismen für die Evolution sind, also wie viele der beobachteten Evolutionsneuheiten wirklich so entstanden sind (und nicht den rigorosen Weg über mutierte Allele, deren Fixierung in der Population und die allmähliche Anhäufung phänotypischer Folgen gegangen sind). In jedem Fall wissen wir jedoch, dass die Vererbung von Protein- und Zellstrukturen auch autonom ablaufen kann, unabhängig von der DNA – und dass diese Strukturen eine eigene Evolution haben können. Die Molekularbiologie konfrontiert uns mit einer beunruhigenden Tatsache: Unsere Geschichten über die evolutionären Änderungen gehen natürlich immer aus der Anwendung der biologischen Mechanismen hervor, von denen die Autoren der Geschichten zumindest wissen, dass es sie gibt. Doch was wirklich im Detail in einer Zelle geschieht, oder wie eine Zelle, wie ein vielzelliger Organismus ganz genau entsteht, darüber wissen wir überraschend wenig. Daher ist es nicht ratsam, den gegenwärtigen Evolutionsgeschichten zu sehr zu vertrauen. Wir sind in der Lage, die Ereignisse in der Evolution glaubwürdig zu rekonstruieren, aber wie es dazu wirklich gekommen ist, bleibt meist ein Geheimnis. Das werden wir in den nächsten Kapiteln dieses Buches noch häufiger sehen ( Box 2.31, Abb. 2.38).
2.20 Neolamarckismus
Der Lamarckismus erklärt die Entstehung von Anpassungen einfacher und unmittelbarer als der Darwinismus. Organismen passen sich nach Darwins’ Konzept nicht an, sondern konkurrieren um die Fortpflanzung. Dagegen erwirbt nach Lamarck ein Organismus bestimmte adaptive Eigenschaften direkt und „absichtlich“.
Die Molekularbiologie liefert immer schlagkräftigere Gründe, warum man beginnen sollte, Lamarck’sche Ideen in der Evolutionsbiologie ernst zu nehmen (auch wenn hier nicht der Lamarckismus in seinem ursprünglichen Sinne gemeint ist). Es stimmt nämlich nicht, dass nur der Darwinismus fähig ist, die Entstehung von adaptiven Eigenschaften zu erklären. Der Lamarckismus erklärt die Anpassungen sogar viel einfacher und unmittelbarer ( Box 2.32, Abb. 2.39). Während beim darwinistischen Wettbewerb die Anpassungsprozesse nur nebenbei ablaufen (darwinistische Organismen passen sich nämlich nicht an, sondern konkurrieren um die Fortpflanzung), sind Lamarcks Organismen tatsächlich mit der Anpassung an sich beschäftigt. Nach Lamarck erwirbt ein Organismus „absichtlich“ und direkt bestimmte adaptive Eigenschaften und gibt sie an seine Nachkommen weiter, ohne die überflüssige Nachkommenschaft zu selektionieren. Während der Darwinismus mit dem Zwei-Runden-Evolutionsalgorithmus arbeitet (nichtgerichtete Variabilität und anschließende Selektion), genügt dem Lamarckismus einzig und allein die Produktion der auf Erfahrung beruhenden „richtigen“ Änderungen, die das Individuum während seines Lebens erworben hat, ohne dass Zufall, Variabilität oder Selektion im Spiel wären. Wir haben jedoch keine Vorstellung, wie ein Organismus dies machen könnte und, allgemein gesagt, ist es nicht klar, warum ein Organismus überhaupt den Wunsch haben sollte, sich zu ändern. Heutzutage ist es schwierig, ein Lamarckist zu sein. Nehmen wir an, dass die durch gezieltes Training verstärkten Muskeln sich irgendwie auf die Nachkommen übertragen würden. Woher kommt jedoch die richtige Antwort (also der Muskelaufbau) auf das Training? Wie haben die Muskeln gelernt, so „adaptiv“
2.20 Neolamarckismus
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zu reagieren, sich also infolge des richtigen Trainings zu verstärken? Und lassen sich vielleicht in ähnlicher Weise Lebern mit Schnaps und Ohren mit Technomusik trainieren? Müssen wir nicht davon ausgehen, dass zuvor immer eine Runde mit darwinistischer Selektion stattgefunden haben muss? Letztendlich wissen wir, dass wir durch hartes Training Muskeln aufbauen können. Diese Muskeln besitzen wir aber schon vorher, nur dass sie vor dem Training mehr oder weniger schwach sind. Dagegen sind wir nicht fähig, etwas wirklich Neues (z. B. Schwimmhäute oder Flügel) durch Training entstehen zu lassen. Es stellt sich auch die Frage, warum ausgerechnet starke Muskeln und nicht etwa ein abgebrochener Zahn vererbt werden sollten. Was entscheidet, welche von den Millionen erworbener Eigenschaften die richtige ist, um den Status der Erblichkeit zu verdienen? Da der Mensch in der einzelligen Phase seiner Entwicklung keine Muskeln hat, müssen sie beim jeweiligen Nachkommen | 2.32 |
Lamarckismus und Lysenkoismus Das Lamarck’sche Modell der Evolution nimmt an, dass die zweckmäßigen Eigenschaften der Organismen dadurch entstehen, dass die Individuen zunächst bestrebt sind, diese Eigenschaften zu erlangen (Abb. 2.39). Durch Bemühungen, Übungen, Training etc. gelingt es ihnen auch, und diese im Lauf des individuellen Lebens erworbenen Eigenschaften werden von nun an auch an die Nachkommen vererbt. Im Gegenteil dazu verkümmern die nicht benutzten Organe und die nicht trainierten Fähigkeiten, und auch diese Information wird an die Nachkommen weitergegeben. Es ist unklar, ob Lamarck sich diesen Mechanismus tatsächlich so vorgestellt hat oder ob es sich hier vielmehr um eine metaphorische, vereinfachte Darstellung tiefer gehender Ideen handelt. In den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts gelang es dem Pflanzenphysiologen
Trofim D. Lysenko (1898–1976) in der damaligen Sowjetunion, die Gunst von Stalin zu erlangen und die damalige Genetik, Evolutionsbiologie sowie einige weitere biologische Disziplinen und deren Vertreter physisch zu vernichten. Lysenko und seine Anhänger bestritten u. a. die Existenz der Gene und behaupteten, dass sich die erblichen Eigenschaften durch Umweltbedingungen ändern können. Diese Reinkarnation des Lamarckismus passte zur kommunistischen Ideologie, die ja zum Ziel hatte, die Natur des Menschen zu ändern. Die Ära des Lysenkoismus endete in der Sowjetunion erst in den 60er-Jahren und die dortige Biologie hat sich von diesem Schlag nur sehr langsam erholt. (Der Erholungsprozess wurde durch die kommunistische Vorherrschaft und die weiter bestehende Isolation sehr erschwert.) 2.39 Lamarck’sche und Darwin’sche Sicht der Evolution am Beispiel der Evolution des langen Giraffenhalses: Nach Lamarck streben Giraffen danach, an die oberen Baumkronen zu gelangen, strecken dazu den Hals, und die durch „Training“ erworbene Eigenschaft wird an die nächste Generation vererbt. Nach Darwin sind die Nachkommen eines Tieres in einem Merkmal variabel, aber nur die Nachkommen mit den optimalen Eigenschaften (d. h. einem längeren Hals) können die Ressourcen besser nutzen und produzieren (mehr) Nachkommen. Auch in der nächsten Generation sind die Nachkommen wiederum variabel in dem gegebenen Merkmal, und im Durchschnitt kommt es allmählich zu einer Verschiebung in der Selektionsrichtung ( Abschnitt 5.3).
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Komplizierte Eigenschaften vielzelliger Organismen können durch die Darwinistische Selektion (allerdings nicht durch die Lamarck‘sche Evolution) entstehen.
Bei der Neotenie einiger Salamander handelt es sich scheinbar um eine evolutionäre Änderung im Lamarck’schen Sinne.
2.40 Axolotl (Ambystoma mexicanum). Unten die neotene aquatische Form mit Außenkiemen, oben eine Landform nach der Metamorphose. In Laboratorien werden oft albinotische Axolotl gehalten.
2 Selektion
auf der Grundlage der Erbinformation neu gebildet werden, sodass die Information über das Training irgendwie in das niedergeschrieben werden müsste, was wir Gene nennen. Doch es existiert kein „Gen für Muskelgröße“, das auf irgendeine noch unbekannte Weise aufgrund des Trainings verändert werden könnte. Zweifellos gibt es viele Gene, die auf irgendeine Art die Ontogenese der Muskeln beeinflussen. Man kann also kein einzelnes, klar erkennbares Ziel der Lamarck’schen Verbesserung ausmachen. Und schließlich müssen wir eingestehen, dass die Zellen, die die größte Chance haben, während ihres Lebens etwas zu lernen (z. B. die Muskelfasern), gerade diejenigen sind, aus denen keine Nachkommenschaft hervorgeht. Der Aufenthalt im Fitnessstudio müsste die Gene in den Keimzellen beeinflussen, um hier von Nutzen zu sein. Bei einfachen einzelligen Organismen ist dies möglicherweise anders. Ihre phänotypischen Eigenschaften können wirklich von einem einzigen Gen verursacht werden. Wenn wir uns einen Mechanismus vorstellen könnten, durch den der veränderte Phänotyp in die Sequenz des zuständigen Gens „übersetzt“ wird, wäre die Lamarck’sche Evolution vielleicht möglich. Bisher kennen wir aber keinen solchen Mechanismus, und über eine eventuelle Wiederbelebung des Lamarckismus können wir nur spekulieren. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass komplizierte Eigenschaften vielzelliger Organismen, wie die Länge des Giraffenhalses, die Struktur des Auges oder des Gehirns oder die Tendenz der Frauen, Partner in hohen Positionen zu wählen, durch die darwinistische Selektion und nicht durch Lamarck’sche Evolution entstanden. Hierbei ist es egal, auf welcher Hierarchieebene diese Eigenschaften wirken; wichtig ist nur, dass es sich tatsächlich um Anpassungen handelt. Es existiert allerdings eine Reihe von quasi Lamarck’schen Phänomenen. Wie wir noch sehen werden, können einige Salamander wählen, ob sie sich als kiemenatmende Wassertiere „im Larvenstadium“ fortpflanzen oder ob sie ihre Entwicklung beenden und eine Metamorphose zum landlebenden Salamander durchlaufen (z. B. der mittelamerikanische Axolotl Ambystoma mexicanum) (Abb. 2.40). Dort, wo die Bedingungen für die Metamorphose ausgesprochen ungünstig sind, sind langfristig die Individuen im Vorteil, die sich im Wasser fortpflanzen. Dies ist z. B. in Gebirgs- und Wüstenseen der Fall, da hier die Metamorphose treibenden, das Wasser verlassenden Salamander von der Sonne verbrannt würden ( Box 4.14). Nach einer gewissen Zeit verlieren die Tiere die Fähigkeit, sich überhaupt zu entscheiden und können sich nur noch in der Wasserphase fortpflanzen. Wo ursprünglich zwei verschiedene, aber aus einem einzigen Satz von Allelen abgeleitete Phänotypen koexistierten, wurden später die unveränderten Gene „gezwungen“, nur einen einzigen möglichen Phänotyp
2.20 Neolamarckismus
zu produzieren und diese Einschränkung wurde allmählich in die Gene niedergeschrieben. Scheinbar handelt es sich um eine evolutionäre Änderung im Lamarck’schen Sinne (die mit einer Änderung des Phänotyps beginnt und mit veränderten Genen endet), aber in Wirklichkeit ist auch dieser Typ der Evolution rein darwinistisch. Die Metamorphose der Salamander wird von Schilddrüsenhormonen gesteuert und die von diesen Hormonen beeinflussten Zellen müssen entsprechende Rezeptoren für die Hormonmoleküle aufweisen. Damit die Metamorphose funktioniert, müssen zumindest die an der Produktion des Metamorphosehormons und seines Rezeptors beteiligten Gene fähig sein, funktionelle Moleküle zu produzieren. Das ganze System „verlangt“ nach einer deutlichen Beteiligung der stabilisierenden Selektion, die ungünstige Veränderungen in diesen Genen verhindern würde. Solange sich die Salamander im Wasser fortpflanzen, werden die zuständigen „Gene für Metamorphose“ durch die natürliche Selektion nicht überwacht, weil eventuelle funktionelle Änderungen nicht mehr in Erscheinung treten. Folglich beginnen sich in ihnen Mutationen anzuhäufen, neutrale sowie leicht schädliche, je nachdem welche Mutationen eben auftreten. Bereits nach einiger Zeit verliert das erste der Gene die Fähigkeit, das funktionelle Hormon (oder den funktionellen Rezeptor) zu produzieren, sodass die Möglichkeit der Metamorphose unwiederbringlich aus dem Repertoire verschwindet. Wir nennen dies genetische Assimilation. Dort, wo nur ein Teil des gesamten Spektrums an möglichen Phänotypen realisiert wird, degradieren allmählich auch solche Gene, die nicht in Erscheinung tretende Phänotypen bestimmen. Zur Erklärung dieser seltsamen Phänomene brauchen wir also ebenfalls keinen lamarckistischen Mechanismus der aktiven Anpassung heranzuziehen ( Box 2.33). Trotzdem scheint das Grundaxiom des Neodarwinismus, nämlich die Zufälligkeit der entstehenden Mutationen, einer gewissen Revision zu bedürfen. Wie wir oben schon betonten, bedeutet Zufälligkeit im darwinistischen Sinne nicht, dass alle Mutationen nur auf Irrtümern beruhen. Es gibt auch durch Umwelteinflüsse induzierte Mutationen, und letztendlich arbeitet in der Zelle eine ganze Proteinmaschinerie, die Mutationen produziert und vor allem repariert (weil die meisten Mutationen ihrem Träger schaden). Auch das ist immer noch kein Lamarckismus. Heute wissen wir, dass die Zellen in der Lage sind, sehr genau die geeignete Geschwindigkeit zur Entstehung neuer Mutationen einzustellen, nur ist gerade diese Einstellung der Funktion von Replikations- und Reparaturproteinen zweifellos das Ergebnis vorheriger Selektion. Eine Art, deren Mutationsrate zu gering ist (oder die entstehende Mutationen zu erfolgreich repariert), stirbt wahrscheinlich deshalb aus, weil sich die Organismen im kritischen Augenblick zu ähnlich sind (und das Prinzip der Roten Königin lehrt uns, dass wir den kritischen Augenblicken nicht entgehen können). Entsprechendes gilt natürlich auch für Populationen, Klone etc. Wer andererseits zu schnell mutiert (oder unzulängliche Reparaturmechanismen hat) spaltet sich möglicherweise früher oder später von der ursprünglichen Art ab oder stirbt aus. Zumindest sollten sich die Proteine, die für wirklich wichtige Sachen zuständig sind, nicht dauernd ändern.
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Die „Gene für Metamorphose“ haben sich bei den sich im Wasser fortpflanzenden Salamandern der natürlichen Selektion entzogen.
Genetische Assimilation bedeutet genetische Fixierung eines phänotypischen Merkmals, das bei den Individuen ursprünglich nicht genetisch induziert wurde.
Die Einstellung der geeigneten Geschwindigkeit zur Entstehung neuer Mutationen ist die Funktion von Replikationsund Reparaturproteinen und somit das Ergebnis vorheriger Selektion.
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2 Selektion
In einem alten (allerdings falsch konzipierten) Fluktuationstest stellte man fest, dass sich Bakterien nicht an Bakteriophagen anpassen können und wertete das als Gegenbeweis für die Lamarck’sche Evolution.
Evolution im Lamarck’schen Sinne würde beginnen, sobald sich eine Zelle aufgrund eines Problems die einzig richtige Mutation selbst verordnen könnte, um das Problem zu lösen. Eine durch UV-Strahlung ausgelöste lamarckistische Mutation würde z. B. die Resistenz dieser mutierten Zelle gegen UV-Strahlung erhöhen oder würde sie lehren, UV-Strahlung als Energiequelle zu nutzen. Seit den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass dies nicht geht; Mutationen entstehen nicht auf Bestellung, sondern zufällig. Allerdings beruht unser Wissen auf einem „Fluktuationstest“, der leider falsch konzipiert wurde (Abb. 2.41). Damals wurde getestet, ob sich bakterielle Zellen an die Anwesenheit eines Virus (T-Bakteriophagen) anpassen können, und man stellte fest, dass sie es nicht können: Es überlebten nur die Bakterien, denen schon vorher (also rein zufällig) der Oberflächenrezeptor fehlte, an den sich der T-Bakteriophage bindet. Genauso gut hätte man untersuchen können, ob sich ein Hase an die
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Ohr und Gehör subterraner Säugetiere: Degeneration oder Anpassung? Subterrane, d. h. unterirdisch lebende, Säugetiere sind Paradebeispiele für Konvergenz ( Box 5.10). Besonders eingehend wurde untersucht, wie diese Tiere unter der Erde miteinander kommunizieren und wie sie hören. Für Kommunikation und Orientierung in Dunkelheit scheinen akustische Signale prädestiniert zu sein (wie uns Fledermäuse schön zeigen). Allerdings werden die hohen Schallfrequenzen, die für die Echoortung benutzt und von kleinen Säugetieren auch gut geortet werden können, unter der Erde schnell abgedämpft. Auf der anderen Seite ist es schwierig, niederfrequenten (= langwelligen) Schall zu orten. Es wurde gezeigt, dass in den Tunneln von Blindmäusen und Graumullen (und wahrscheinlich auch bei anderen subterranen Säugetieren) Schall mit Frequenzen um 0,5 kHz besser weitergeleitet wird als Schall niedrigerer oder höherer Frequenz. Im Einklang damit sind Lautäußerungen von zehn bislang untersuchten Arten (aus sieben Gattungen) subterraner Nagetiere auf niedere Frequenzen (0,5–2 kHz) gestimmt, und auch das Hörvermögen weist die beste Empfindlichkeit in diesem Frequenzbereich auf. Für kleine Säugetiere ist dies eher ungewöhnlich, denn Vokalisationen und Hörvermögen liegen bei verwandten oberirdisch lebendenTieren vergleichbarer Körpergröße in höheren Frequenzbereichen (um 8–16 kHz oder höher). Der Frequenz von 0,5 kHz entspricht eine Wellenlänge von 70 Zentimetern. Um eine solche Frequenz orten zu können, müsste man einen Kopf entsprechender Breite haben. Da sich Schall in einem Tunnel allerdings unidirektional ausbrei-
tet, brauchen die Tiere keine Ohrmuschel, um ihn zu orten – er kommt entweder von vorne oder von hinten. Das Gehör ist auch nicht besonders empfindlich. Einige Wissenschaftler bezeichnen dieses eingeschränkte Hörvermögen – infolge des Nichtgebrauchs – als degeneriert, wobei unter Degeneration eine qualitative Rückbildung zu verstehen ist (was einer fast lamarckistischen Interpretation nahekommt). Wenn wir uns allerdings die Morphologie des Mittel- und des Innenohrs dieser Tiere anschauen, sehen wir viele progressive strukturelle Spezialisierungen, die das Tuning des Gehörs auf die gegebenen niederen Frequenzen ermöglichen. Mehrere Facharbeiten haben diverse morphologische Merkmale des Mittel- und des Innenohrs einheitlich bei nahezu allen untersuchten subterranen Säugetieren identifiziert, die somit auch als ein Beispiel für Konvergenz interpretiert werden können. Das Ohr ist also an das Hören von niederen Schallfrequenzen angepasst, und seine Emp-findlichkeit ist sogar systematisch (z. B. durch Vergrößerung von Amboss und Steigbügel-fußplatte) herabgesetzt. Wie kürzlich festgestellt wurde, werden Schallfrequenzen von 0,5–1 kHz in unterirdischen Tunnels verstärkt weitergeleitet (man spricht hier von einem Stethoskop-Effekt). Unter diesen Bedingungen ist es daher notwendig, die Empfindlichkeit des Hörsystems herabzusetzen. Man kann also auch die Reduktion des Hörvermögens als eine Anpassung an das Hören in unterirdischen Gängen interpretieren.
2.20 Neolamarckismus
Kugel im Schädel und eine Maus an die durch die Schnappfalle gebrochene Wirbelsäule adaptieren kann und feststellen müssen, dass sie es nicht können. T-Bakteriophagen töten die Bakterien nämlich binnen kürzester Frist und lassen ihnen keine Zeit für irgendwelche Evolutionsprozesse. Ja, nicht einmal Lamarck’sche Prozesse, die wesentlich schneller als die darwinistischen sein sollten, haben hier Aussicht auf Erfolg. Wiederholt man den Fluktuationstest in einer realistischeren Form, gelangt man allerdings zu leicht beunruhigenden Ergebnissen. Dazu werden Zellen genommen, die eine bestimmte Energiequelle nicht nutzen können, weil sie aus welchem Grund auch immer das für die Verwertung dieser Ressource notwendige Enzym nicht synthetisieren. Gibt man sie in ein Medium, wo diese Quelle im Überschuss vorkommt und andere Quellen Mangelware sind, müssen die Zellen hungern, sodass sich ihre Lebensfunktionen verlangsamen oder gar zum Stillstand kommen. Aber im Unterschied zur tragischen Konfrontation mit dem Bakteriophagen haben die Zellen Zeit, für Abhilfe zu sorgen, indem sie nämlich die Synthese des notwendigen Enzyms entblocken. Die Zellen nutzen allmählich die Quelle und erholen sich nach einiger Zeit tatsächlich. Offensichtlich stellt die Zelle fest, in welcher Situation sie sich befindet, erkennt welches Gen dafür verantwortlich ist und kann es so reparieren, dass sich ihre Situation verbessert. Gibt es also doch echten Lamarckismus? Das ist schwer zu sagen. Eine der Möglichkeiten ist, dass in der hungernden Zelle u. a. auch die Reparatursysteme kollabieren, sodass neu entstehende Mutationen nicht repariert werden können. Dadurch erhöht sich die Gesamtfrequenz der Mutationen, und damit auch die Chance, dass die „richtige“ Mutation erfolgt. Sobald das passiert, fangen die Zellen an, das richtige Protein zu synthetisieren, die Quelle auszunutzen, und eine Kolonie von spezifisch
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Fluktuationstests zeigen, dass bei Bakterien genetische Mutationen spontan, in Abwesenheit der Selektion entstehen
In einer hungernden Zelle können u. a. auch die Reparatursysteme kollabieren; neue Mutationen würden dann nicht repariert.
2.41 Das Prinzip der Fluktuationstests wurde von Max Delbrück und Salvador Luria 1943 ausgearbeitet; für ihre Arbeit erhielten sie 1969 den Nobelpreis. Links: Wären die Mutationen durch das Medium induziert, erwartete man eine hohe und vergleichbare Zahl an Mutanten in den Petrischalen. Dies ist hier nicht der Fall. Rechts: Entstehen die Mutationen spontan und bereits während der Vermehrung noch vor der Ausplattierung, sollten in jeder Petrischale sehr variable Zahlen an Mutanten auftreten. Dies ist hier der Fall. (Modifiziert nach http:// www.webmic.de/fluktuationstest.htm)
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Die erhöhte Transkription eines Gens kann zur Erhöhung der Mutationsrate in diesem Gen führen.
2 Selektion
„belehrten“ Zellen entsteht. Die Entstehung der Mutationen ist nach wie vor zufällig, nichtadaptiv, und es geht weiterhin um eine Lotterie, nur werden häufiger die Gewinnzahlen gezogen. Außerdem scheint es, dass die Zelle erkennt, welches Gen nicht in Ordnung ist, sodass sie (vergeblich) versucht, durch mehr und mehr Transkriptionsversuche an das gewünschte Produkt zu gelangen. Auf noch unbekannte Weise erhöht sich die Gesamtfrequenz der Mutationen nur in diesem nichtfunktionierenden Gen. Letztendlich führt die erhöhte Transkription eines Gens zur Erhöhung der Mutationsrate in diesem Gen, wobei auch dieser Prozess unbekannt ist. Es ist anzunehmen, dass ziemlich exotische molekularbiologische Prozesse involviert sind, aber bis jetzt scheint es nicht so zu sein, dass jede einzelne Zelle fähig wäre, genau die eine notwendige Mutation zu herbeizuführen. Eher läuft hier ein Spiel mit sehr hohen Zahlen ab: Bakterien sind zahlreich und jede einzelne Zelle könnte mit extrem niedriger Wahrscheinlichkeit einen Volltreffer landen. Als Ergebnis sehen wir dann eine wachsende Kolonie, die aus der einzigen Zelle entstand, der die entscheidende Mutation gelungen ist. Allgemein gesagt, sieht es für die Wiederbelebung des klassischen Lamarckismus schlecht aus – Beweise gibt es nicht einmal auf der rein molekularen Ebene und schon gar nicht auf der Ebene vielzelliger Organismen mit ihren morphologischen oder ethologischen Eigenschaften. Trotzdem ist eine Zelle gewiss kein so passives Produkt der genetischen Information, wie wir ursprünglich dachten, und die genetische Information entwickelt sich nicht so spontan ohne Eingriffe der Zelle, wie es die Molekularbiologen gerne hätten.
2.21 Neodarwinismus nach fünfzig Jahren Spielkomponenten, Strategien und Gegenstrategien erweiterten unsere Auffassung der Evolution; dynamische, biologische Aspekte werden betont. Die aktive Konkurrenz zwischen Allelen und Organismen steht nunmehr im Mittelpunkt. Die genozentrische Revolution führte zu einer neuen Auffassung von Leben.
Das Repetitorium der Veränderungen, die während der letzten Dekaden in der Evolutionsbiologie stattgefunden haben, zeigt, dass der heutige Darwinismus ein viel farbigeres Bild der Evolution liefert als das archaische der „Bestangepassten“ im „Kampf ums Überleben“. Zu den wichtigsten Veränderungen der „neuen“ Evolutionsbiologie zählen die Komponenten der Spieltheorie, Strategien und Gegenstrategien, aber auch die Betonung der dynamischen, wirklich biologischen Aspekte. Die aktive Konkurrenz zwischen Allelen und Organismen hat das ursprüngliche „Anpassen an die Umweltbedingungen“ abgelöst, wobei darunter im Großen und Ganzen eher statische und insgesamt uninteressante abiotische Bedingungen verstanden wurden. Die genozentrische Revolution brachte darüber hinaus eine neue Auffassung des Lebens und mit ihr auch eine völlig neue Sprache, mit der wir über das Leben sprechen. Versuchen wir uns zu vergegenwärtigen, wie dieser neue Darwinismus unser Bild vom Menschen verändert hat. Insbesondere verschwindet das Individuum als bedeutende biologische Einheit: Entweder sprechen wir über einen konkreten Satz von Allelen, der sich aus dem Genpool, den die Population zur Verfügung stellt, zusammensetzt, oder über einen konkreten Körper als physiologisch unabhängige, materielle Einheit. Normalerweise ist es ein- und
2.21 Neodarwinismus nach fünfzig Jahren
dasselbe, aber schon eineiige Zwillinge stellen eigentlich ein genetisches Individuum in zwei Körpern dar (mit Ausnahme einiger Gene des Immunsystems, die nicht vererbt werden, sondern während der Ontogenese durch mehrfache Reorganisierung von einfacheren „Bausteinen“ entstehen). Aus der Zygote eines Wasserflohs entsteht während der Sommerzeit in einem Weiher ein Klon mit Millionen von Körpern, die sich im Plankton verteilen, sich üblicherweise nie begegnen und trotzdem ein genetisches Individuum bilden. Es gilt aber auch umgekehrt: Unser Körper ist eine fragile Koalition von Genen, deren Interessen nicht immer identisch sind. Allen voran sind hier Mitochondrien zu nennen, wichtige Bestandteile unserer Zellen, die als Bakterien unser Cytoplasma bewohnen, statt im Wasser oder Schlamm zu leben. Ihre Gene sind teilweise schon in unseren Zellkern verschoben und haben sich mit unseren Genen vermischt. So verschmelzen Mitochondrien allmählich mit unserer Zelle (woran unserer Zelle gelegen ist, da cytoplasmatische Gene, wie die mitochondriellen, im Prinzip andere Interessen haben können als „wir“). Die Anwesenheit völlig fremder Gene in unseren Zellen ist aber nur die Spitze des Eisbergs, denn auch manche „unserer eigenen“ Gene sind dermaßen entartet, dass sie andere Ziele verfolgen als die Mehrheit unserer Gene. Wir können zusammenfassen, dass die Struktur unserer Zellen im allgemeinen anders übertragen wird (nämlich über die mütterliche Linie) als unsere Kern-DNA (die über die beiden elterlichen Linien übertragen wird). In jeder Zelle unseres Körpers schlummert somit ein potenzieller Konflikt zwischen Kern und Cytoplasma. Eine ähnliche Aufweichung der Grenzen eines Organismus finden wir auch auf der „ökologischen“ Seite des Spektrums. Wir haben bereits gesehen, wie die Gene der Parasiten das Verhalten des Wirtes beeinflussen können. Häufig „kastrieren“ Parasiten ihre Wirte, sodass sich Wirtsgene nicht mehr verbreiten können, egal was der Wirt auch tut. In diesen Fällen können wir zu Recht behaupten, dass Körper und Verhalten des Wirts nicht mehr den Phänotyp seiner Gene darstellen, sondern zum erweiterten Phänotyp des Parasiten werden. Das, was wir „Organismus“ nennen, ist nur eine räumliche Ansammlung verschiedener „Evolutionsgene“; der Organismus ist eine Koalition von Genen, die gemeinsam in die nächste Generation übertragen werden. Wenn die reproduktiven Interessen des Wirts und des Parasiten nicht im Konflikt stehen, können beide allmählich verschmelzen. Mensch und Bandwurm verschmelzen deshalb nicht, weil der Bandwurm sich selbständig und unabhängig vom Menschen fortpflanzt; der Mensch hat sich aber allmählich mit seinen intrazellulären Symbionten (z. B. den Mitochondrien) vereinigt, da sie sich nur gemeinsam fortpflanzen. Die vielleicht bedeutendsten Inspirationen für unsere Auffassung der Evolution liefern die Wissenschaften, die sich mit der direkten Entwicklung der Organismen beschäftigen. Insbesondere das als „Evo-Devo“ bezeichnete Fach (Abkürzung von „evolution-development“ – eine Kombination des Studiums der Evolution und der Individualentwicklung), das sich erst seit ein paar Jahren entfaltet, verspricht u. a. die Evolutionsbiologie aus der Dominanz der unterhaltsamen Soziobiologie und der langweiligen Populationsgenetik zu befreien und beispielsweise zum Verständnis dessen beizutragen, wie sich verschiedene Konkurrenzallele beim Bau des Organismus betätigen ( Box 4.12). Letzteres wissen
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Der Organismus ist eine fragile Koalition von Genen, die gemeinsam in die nächste Generation übertragen werden, deren Interessen aber nicht immer identisch sind.
Körper und Verhalten eines Wirts können zum erweiterten Phänotyp des Parasiten werden. Wirt und Parasit können verschmelzen, sofern die reproduktiven Interessen beider nicht miteinander im Konflikt stehen.
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2 Selektion
wir nämlich immer noch nicht genau; der Darwinismus sagt eigentlich nur, wie das Ergebnis ausfällt, wenn bei einer beliebigen Eigenschaft der Organismen Variabilität entsteht. Der Darwinismus erklärt die Zweckmäßigkeit der Eigenschaften von Organismen dadurch, dass er sie mit der Fähigkeit zu überdauern verbindet, sie also durch das Sieb der natürlichen Selektion filtert. Wenn wir diese Vorstellung akzeptieren, wird uns die eigentliche Zweckmäßigkeit nicht mehr interessieren. Andere Fragen werden viel interessanter sein: • Wie entstehen die einzelnen Organisationsebenen des Lebens überhaupt? • Wie beeinflussen die Wechselwirkungen individueller Gene die Entstehung eines Organismus? • Wie entstehen Arten, und wie hat sich der reale „Baum des Lebens“ aufgespalten? • Wie beeinflussen die Wechselwirkungen einzelner Organismen die Entstehung von Gemeinschaften (sowohl inter- als auch intraspezifisch)? • Wie entsteht biologische Vielfalt? • Die Frage ist nicht, „ob“ oder „warum“ es Evolution gibt (denn Evolution kann eigentlich nicht nicht sein), sondern wie sie geschieht und woher wir das alles wissen. Genau darüber werden Sie in den weiteren Teilen dieses Buches lesen.
Kontroll- und Verständnisfragen
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Kontroll- und Verständnisfragen 1 Üblicherweise konkurrieren die Männchen um die Weibchen und die Weibchen wählen. Nennen Sie einige Beispiele für diese Regel. Warum ist das so? 2 Aus unserem Alltagsleben wissen wir, dass das Prinzip der Weibchenwahl beim Menschen nicht uneingeschränkt zutrifft, denn auch Frauen konkurrieren um Männer und versuchen, ihnen zu imponieren, und Männer wählen ihre Lebenspartnerinnen meist sorgsam aus. Warum scheint der Mensch von der allgemeinen Regel teilweise abzuweichen?
Beispiele für die Veränderung des weiblichen Schönheitsideals in Zeit und Raum. Von links nach rechts: Venus von Willendorf (vor ca. 25.000 Jahren); „HottentottenVenus“ (!Kung-Frau aus der Kalahari, nach einer Illustration von 1824); Aphrodite nach dem Gemälde „Das Urteil des Paris“ von Peter Paul Rubens (1636); Twiggy, das britische Topmodel der 1960er-Jahre.
3 Nennen Sie je ein Beispiel aus Botanik, Zoologie, Anthropologie und dem Alltagsleben für stabilisierende, gerichtete, disruptive, harte und weiche Selektion! 4 Nennen Sie jeweils Beispiele für den Flaschenhalseffekt und den Gründereffekt aus der Evolution und der Geschichte der Menschheit! 5 Formulieren Sie das Hardy-Weinberg-Gesetz und begründen Sie es anhand einer Kreuzungstafel! 6 Sinkt bei der Teilung einer Population in mehrere kleine Teilpopulationen der Anteil der Heterozygoten oder der Anteil der Homozygoten? Warum? 7 Sexuelle und Naturselektion können sich ergänzen – so können z. B. Weibchen (oder Männchen) Gefallen an Merkmalen haben, die gleichzeitig auch Anpassungen an die jeweilige Umwelt darstellen. Interpretieren Sie vor diesem
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2 Selektion
Hintergrund, warum beispielsweise in Polynesien ein großer, korpulenter Mann mit gleichmäßig verteilter Fettschicht als „schön“ gilt und eine „schöne Frau“ in manchen Teilen Afrikas einen großen Po besitzt! 8 Geben Sie Beispiele für Merkmale, die „gute Gene“ indizieren und gleichzeitig kein Handicap darstellen! 9 Erklären Sie, warum der Schwangeren-Diabetes den Mutter-Kind-Konflikt repräsentiert! 10 Warum jagen Löwen keine anderen Löwen? Warum laufen Büffel vor Löwen davon, statt sich zu wehren? 11 Erläutern Sie die möglichen (wenn auch äußerst seltenen) Justizirrtümer bei der Feststellung der genetischen Vaterschaft bzw. bei der Ermittlung eines Vergewaltigers! Welche ergänzenden genetischen Untersuchungen würden Sie als Verteidiger bzw. Staatsanwalt jeweils anordnen? 12 Nennen Sie zehn Beispiele für den erweiterten Phänotyp! 13 Was ist der Unterschied zwischen einem egoistischen Gen, einem ultraegoistischen Gen, einem Renegaten-Gen, egoistischer DNA und repetitiver DNA? 14 Geben Sie Beispiele dafür, wie Parasiten das Verhalten ihrer Wirte manipulieren! 15 Ist der Mensch für Plasmodium malariae ein Zwischenwirt oder ein Endwirt? Begründen Sie Ihre Antwort! 16 Gene, die einige spezifische Muster des weiblichen Verhaltens und der weiblichen Fähigkeiten (z. B. manche Elemente der sozialen Intelligenz) bestimmen, sind auf einem Geschlechtschromosom lokalisiert und sind ein Beispiel für genomische Prägung. Welche der nachfolgenden Möglichkeiten ist richtig und warum? a) Sie sind auf dem Y-Chromosom lokalisiert. b) Sie sind auf dem X-Chromosom lokalisiert, aber sie sind nur dann aktiv, wenn sie vom Vater stammen. c) Sie sind auf dem X-Chromosom lokalisiert, aber sie sind nur dann aktiv, wenn sie von der Mutter stammen. 17 Bei Säugetieren ist das Y-Chromosom typischerweise kleiner als das X-Chromosom. Warum? 18 Nennen Sie einige Beispiele für Pleiotropie, Epistase und epigenetische Vererbung!
Kontroll - und Verständnisfragen
19 Welche Rolle spielen die Chaperone in der molekularen Evolution? 20 Der Maulwurf hat kleine Augen und keine Ohrmuscheln. Begründen Sie die Evolution dieser Merkmale aus dem Blickwinkel des Lamarckismus, des Darwinismus und unter Verwendung des Begriffs „genetische Assimilation“! 21 Welche neuen Aspekte (Ideen, Konzepte, Sichtweisen, Entdeckungen) prägten die Evolutionsbiologie während der letzten 50 Jahre? 22 Promiskes Verhalten wird üblicherweise dadurch erklärt, dass es die Fitness des promisken Individuums erhöht. Es könnte sich aber auch um eine durch einen Parasiten manipulierte Verhaltensweise des Wirtes handeln, der durch den sexuellen Kontakt seine Chance erhöht, horizontal – von einem Individuum zum anderen – übertragen zu werden. Entwickeln Sie Ideen, wie so eine einfache Verhaltensmanipulation aussehen könnte! 23 Bei manchen polygam lebenden Tierarten werden die Neugeborenen und Säuglinge bei der Übernahme des Harems durch ein neues dominantes Männchen getötet oder sogar von den eigenen Müttern verlassen bzw. getötet. Bei Mäusen werden die Embryonen in solch einer Situation abortiert oder resorbiert (sogenannter Bruce-Effekt). Geben Sie eine Erklärung für dieses scheinbar paradoxe Verhalten der Weibchen! 24 Unterirdisch lebende Graumulle und Nacktmulle verlassen nur sehr selten ihre Gangsysteme, und auf der Oberfläche bewegen sie sich unbeholfen. Dennoch verfügen sie über Augen und können Licht und Dunkelheit unterscheiden. Als mögliche Erklärung ließe sich vermuten, dass die Augen einen adaptiven Vorteil für die oberirdischen Exkursionen bieten (z. B. um Prädatoren wahrzunehmen) und aus diesem Grund durch natürliche Selektion erhalten werden. Warum ist diese Vermutung wahrscheinlich falsch? 25 Anisogametie (d. h. morphologische Unterschiede zwischen den beiden Gametentypen) könnte eine wirksame Abwehr gegen die Verbreitung von cytoplasmatischen ultraegoistischen Genen sein. Erklären Sie diese These! 26 Nach Vorstellung einiger Forscher werden die im Darm lebenden Helminthen nicht für Parasiten, sondern Symbionten gehalten. Menschen, denen diese Parasiten (dank der Medizin) fehlen, neigen eher zur Entwicklung von Allergien und einiger Autoimmunkrankheiten. Eine Erklärung ist hierbei, dass das Immunsystem unterfordert sein könnte und daher die an sich harmlosen Antigene oder eigene Körperzellen angreift. Nehmen wir an, dass es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang zwischen Parasiten, Immunsystem und Allergien gäbe. Wären dann die „Parasiten“ eigentlich doch Symbionten, die nur unser Immunsystem kontrollieren und uns so vor Allergien schützen?
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Alle Hobbits waren sehr sippenbewusst und gaben sich über ihre Verwandtschaftsbeziehungen genauestens Rechenschaft. Sehr gründlich und ausführlich zeichneten sie die unzähligen Verzweigungen ihrer Familienstammbäume auf ... (Tolkien, Herr der Ringe)
3 Phylogenese
Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen und nicht zweimal eine ihrer Beschaffenheit nach identische vergängliche Substanz berühren, sondern durch das Ungestüm und die Schnelligkeit ihrer Umwandlung zerstreut sie sich und sammelt sich wiederum und naht sich und entfernt sich. Heraklit, Fragment B91
Darum geht es in diesem Kapitel: • • • • • • • • • • • • •
Wie entstand der Mensch? Warum müssen wir die Phylogenese des Menschen kennen, um seine Evolution zu verstehen? Gibt es Arten (und andere Taxa) wirklich, oder haben wir sie uns nur ausgedacht? Was haben Arten und Individuen gemeinsam? Was sind Homologien und Analogien, und wie kann man sie erkennen? Wie wurde die Systematik zu einer Wissenschaft? Wie kann man einen Stammbaum rekonstruieren? Was sind Merkmale, und gibt es Merkmale, die sich für die Rekonstruktion der Genealogie besser eignen als andere? Wozu brauchen wir die Paläontologie, und wie können wir die Vergangenheit auch ohne Fossilien rekonstruieren? Was versteht man unter Anagenese und Kladogenese? Was sind die Prinzipien, Vorteile und Anwendungen der molekularen Taxonomie? Wie lässt sich die Evolutionsgeschwindigkeit abschätzen bzw. messen? Inwiefern wurde während der letzten Jahre am Stammbaum der Tiere im Allgemeinen und dem der Säugetiere im Besonderen gerüttelt?
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3 Phylogenese
3.1 Wie entstand der Mensch? oder Warum wir die Phylogenese brauchen
Hypothesen über die verwandtschaftlichen Beziehungen sind notwendig, um die Hypothesen über die Evolution der Strukturen und Funktionen bewerten zu können.
Die Phylogenese der Primaten ist sehr gut erforscht.
Der Mensch geht auf zwei Beinen, arbeitet, denkt und komponiert Symphonien – zumindest gelegentlich. Dadurch unterscheidet er sich deutlich von anderen Tieren, auch von Affen. Die Fragen, wann, wo und wie der Mensch entstanden ist, ob aus einem Affen oder nicht, und falls ja, aus welchem, und wo und warum seine einzigartigen Eigenschaften entstanden sind, sollten mithilfe der Wissenschaft irgendwie zu beantworten sein. Dafür müssen wir zunächst die nächsten Verwandten des Menschen ausfindig machen, um dann die nahen und entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen allen in dieser Linie bekannten Organismen – also der gegenwärtigen (rezenten) und der ausgestorbenen – zu verfolgen. Erst mit einer Hypothese über die verwandtschaftlichen Beziehungen können wir nämlich glaubhaft die Hypothesen über die Evolution der uns interessierenden Strukturen und Funktionen bewerten. Wir zeigen dies an einem Beispiel. Eine der wichtigen Fragen zur Entstehung des Menschen, auch Hominisation genannt, betrifft den Übergang von der Quadrupedie (Fortbewegung auf vier Beinen) zur Bipedie (Gehen auf zwei Beinen). Auf die Frage, warum sich die Vorfahren des Menschen aufrichteten, hat die Wissenschaft verschiedene mehr oder weniger verschwommene Antworten: um die Vorderpfoten für die Jagd frei zu haben, um große Entfernungen in der offenen Landschaft zu überwinden, um Junge zu tragen, um sitzend, hockend oder stehend Samen zu sammeln, um auf den Fußspitzen stehend Früchte zu pflücken, um auf den Hinterbeinen stehend mit einer Keule oder Ähnlichem Prädatoren zu verscheuchen, um sich besser den Weibchen zu präsentieren oder um sich gegenseitig beim Wetteifern um die Rangordnung zu imponieren. Einige dieser Hypothesen sind offensichtlich unsinnig, wie z. B. der Erklärungsansatz, die Bipedie sei als erfolgreiche Adaptation zum Überwinden großer Entfernungen in offener Landschaft entstanden. Diese Hypothese wird durch die Tatsache widerlegt, dass ein beliebiger quadrupeder Großprädator keine Mühe hat, einen bipeden Menschen zu erjagen und zu fressen, und dass umgekehrt ein bipeder Mensch am besten auf dem Rücken eines quadrupeden Pferdes große Strecken über offenes Gelände zurücklegt. Andere Hypothesen erscheinen weniger unsinnig, doch beruhen sie alle auf einer evolutionären Beziehung zwischen zwei Phänomenen, wie Bipedie und Jagd, Bipedie und Sammeln, Bipedie und Sozialstruktur oder Bipedie und Sex. Dabei ist zu beachten, dass die Bipedie natürlich phylogenetisch nie älter sein kann als ihre angebliche Ursache. Wir brauchen also nur zu rekonstruieren, wann in der Phylogenese der Primaten die Bipedie entstanden ist und wann ihre möglichen Ursachen, und können dann alle Hypothesen über die „Ursachen“, die jünger sind als die Bipedie selbst, als widerlegt ansehen. Nur wenige phylogenetische Ereignisse sind so gut und solide dokumentiert wie die Phylogenese der Primaten der Gruppe Hominoidea, also des Menschen und der Menschenaffen. Wenn wir uns auf die rezenten Vertreter der
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3.1 Wie entstand der Mensch? oder Warum wir die Phylogenese brauchen
hominoiden Primaten beschränken (was keine schlechte Idee ist, weil wir über die fossilen Hominoiden tatsächlich viel weniger wissen, als die Lehrbücher vorgeben, egal ob es sich um die Morphologie, die Ökologie oder die evolutionären Beziehungen handelt), sieht die Phylogenese der Menschenaffen so aus: Zu den Menschenaffen (Hominoidea) gehören zwei phylogenetische Linien, nämlich Gibbons (Hylobatidae) und „große Menschenaffen“ (Hominidae), wobei Letztere auch den Menschen einschließen (Abb. 3.1). Die rezenten Vertreter der „großen Menschenaffen“ teilen sich in zwei Linien: in die asiatische (also Orang-Utans) und die afrikanische Linie. Die grundlegende Spaltung der afrikanischen Linie in Gorillas einerseits und die Gruppe aus Schimpansen und Menschen andererseits fand vor ca. sechs bis zehn Millionen Jahren statt. Etwa vor vier bis acht Millionen Jahren trennte sich der phylogenetische Zweig der Schimpansen ab, zu denen auch der deutlich verschiedene Bonobo aus dem südlichem Kongo gehört. Die Übersicht in Abbildung 3.1 zeigt, dass einige Menschenaffenarten eine engere verwandtschaftliche Beziehung zum Menschen als zu anderen Menschenaffen haben: Schimpansen, Bonobos und Menschen sind einander evolutionär extrem nah. So teilen z. B. Schimpansen, Bonobos und Menschen die folgenden Merkmale: das vergrößerte Gehirn, den späten Beginn der Pubertät, den langen Penis, die Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen, zu nutzen und aufzubewahren, sowie die Fähigkeit der bipeden Fortbewegung über längere Distanzen. Daraus folgt, dass manche der scheinbar einzigartigen Merkmale des Menschen keine neuen Erfindungen sind, sondern nur Fortsetzungen evolutionärer Trends, deren Ursprünge in Wirklichkeit älter sind, da sie bereits bei den gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen vorhanden waren. Ethologische Untersuchungen zeigen, dass Schimpansen uns sogar psychologisch viel näher sind, als wir je gedacht hätten: Sie lügen und schämen sich dafür, sie denken sich neue Begriffe aus alten Wörtern aus und sie praktizieren regelmäßig Rituale zur Feier des Regens ( Box 5.14). Aber Vorsicht! Solange wir angenommen haben, dass Menschenaffen als eine phylogenetisch homogene, dem Menschen verwandte Gruppe existieren, konnten wir sagen, dass sich Menschen und
Schimpanse, Bonobo und Mensch sind nah verwandt und teilen viele morphologische und ethologische Merkmale.
Manche der vermuteten einzigartigen Merkmale des Menschen sind keine neuen Erfindungen, sondern nur Fortsetzungen bereits vorhandener evolutionärer Trends, die der Mensch zum Teil übertrieben ausgebildet hat.
3.1 Phylogenese und Taxonomie der Überfamilie Hominoidea (Menschenaffen und Menschen).
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3 Phylogenese
3.2 Aufspaltung der Stammlinien zwischen afrikanischen Menschenaffen und Menschen. Rechts die Stammlinie, die zur Gattung Homo führt, auf den kreuzenden Linien sind Vorläufer oder Vertreter von Nebenästen nach dem vermuteten Alter angeordnet. Links, im blauen Feld, das Jahr der Entdeckung ihrer Fossilien bzw. Beschreibung der jeweiligen Vormenschen-Gattungen bzw. -(Unter-)Arten. (MJ = Millionen Jahre).
Die Kenntnis der verwandtschaftlichen Beziehungen des Menschen zu anderen Primaten ist für das Testen einiger Hypothesen zur Hominisation wichtig.
Schimpansen eigentlich nur oberflächlich ähnlich sind. Wenn allerdings die phylogenetische Hypothese zutrifft, wonach der Mensch nicht neben, sondern innerhalb der Menschenaffen (und zwar neben den Schimpansen) entstanden ist, haben wir wahrscheinlich alle Merkmale, die wir mit den Schimpansen teilen, von unserem gemeinsamen Vorfahren geerbt. Die meisten „menschlichen“ Eigenschaften charakterisieren dann nicht speziell die Menschen, sondern Schimpansen und Menschen, nur dass wir sie in mancher Hinsicht übertrieben ausbilden. Kurz und gut, die Phylogenese ändert unsere Sicht auf die Vergangenheit der Menschheit wesentlich. Falls die Hominisation durch etwas verursacht wurde, das uns von den Schimpansen unterscheidet, kann es nicht die Bipedie sein, auch nicht die Jagd, das Denken, die Wissen über Heilkräuter, die Kultur, das „zweite Signalsystem“* oder die Verwendung von ziemlich komplizierten, selbst hergestellten Werkzeugen – denn das alles finden wir in weniger ausgeprägter Form auch bei Schimpansen (und manches auch bei anderen Menschenaffen) ( Abschnitt 5.1, 5.12). Hier offenbart sich ein wichtiges grundsätzliches Problem: Um bestimmte Hominisationshypothesen widerlegen und andere formulieren zu können, müssen wir Kenntnisse über die verwandtschaftlichen Beziehungen des Menschen zu anderen Arten haben. Woher nehmen wir aber solche Kenntnisse? Oder anders ausgedrückt, was meinen wir, wenn wir sagen, dass der Schimpanse näher mit dem Menschen verwandt ist als mit dem Gorilla? Woher wissen wir, dass Schimpanse und Mensch einen einzigartigen gemeinsamen Vorfahren haben, der zugleich kein Gorilla-Vorfahre ist? Für die meisten Leser ist jetzt wahrscheinlich die naheliegendste Lösung, dass Fossilien zur Klärung herangezogen werden müssen. Leider gibt es gerade in dem Gebiet, in dem die phylogenetische Spaltung verschiedener Gruppen von * Signale (= Träger von Informationen) können das Gehirn als Sinnesreize über die Sinnesorgane erreichen (erstes Signalsystem) oder über Sprache (= verbale Signale) als besondere Form von Signalen. Die verbale Signalisierung, die den Menschen von den Tieren unterscheidet, bezeichnete I. P. Pawlow als „zweites Signalsystem“.
3.1 Wie entstand der Mensch? oder Warum wir die Phylogenese brauchen
151
| 3.1 |
Chronologie der paläoanthropologischen Entdeckungen Oft wird fälschlicherweise behauptet, Darwin ( S. 10) habe gesagt, dass der Mensch vom Affen abstamme. Doch das ist nicht wahr: Er postulierte, dass der Mensch und die heute lebenden Menschenaffen einen gemeinsamen Vorfahren hatten. Dieses Missverständnis war – und ist es auch noch heute – ein Grund, warum manchen Leuten Darwins Evolutionstheorie missfällt. Charles Darwin stellte 1871 die Behauptung auf, die afrikanischen Menschenaffen stünden dem Menschen verwandtschaftlich am nächsten und die Wiege der Menschheit liege in Afrika. Zu seiner Zeit waren allerdings noch keine Fossilien von Urmenschen aus Afrika bekannt. Als erster fossiler Urmensch wurde der Neandertaler (Homo neanderthalensis) im Neandertal bei Düsseldorf gefunden und als solcher erkannt (1856). Ernst Haeckel ( S. 15) brachte 1868 den hypothetischen Vormenschen Pithecantropus („Affenmensch“) in die Diskussion, der auch das fehlende Übergangsglied („missing link“) zum modernen Menschen darstellen sollte. Der erste „Pithecanthropus“ wurde 1891 auf Java entdeckt
und später dem Homo erectus zugeordnet. Erst 1924 fand man erste Überreste der Vormenschen (Australopithecus africanus) in Südafrika. Fortan galt Südafrika als Wiege der Menschheit, bis die Leakeys ( S. 152) 1959 in Ostafrika Fossilien eines Vormenschen entdeckten, der später als Homo habilis bekannt wurde. Die meisten spektakulären paläoanthropologischen Funde stammen aus Ostafrika (Tansania, Kenia, Äthiopien), wobei viele erst in der letzten Dekade (ab 1999) beschrieben wurden. Unerwartete paläoanthropologische Entdeckungen machte man während der letzten Jahre aber auch in Malawi, im Tschad sowie außerhalb Afrikas – in Spanien, Georgien und auf der Insel Flores in Südostasien (Abb. 3.2, 3.3). Allerdings wurden bislang keine vormenschlichen Fossilien (Australopithecus etc.) außerhalb Afrikas entdeckt. Die ältesten Urmenschfossilien (Gattung Homo) stammen aus Afrika, manche sind auf Afrika beschränkt. Auch molekularbiologische Befunde unterstützen den afrikanischen Ursprung der Menschen ( Box 3.14).
3.3 Stammbaum und räumlich-zeitliche Verbreitung der Urmenschen (Gattung Homo). Angegeben ist das Jahr der Entdeckung der Fossilien bzw. der Beschreibung der jeweiligen Urmenschen-Arten.
152
3 Phylogenese
Louis Seymour Bazett Leakey Lebensdaten: 1903–1972 Nationalität: kenianisch (britischer Herkunft) Leistung: Paläontologe, Paläohistoriker, Archäologe, Naturschützer. Zusammen mit seiner Familie, darunter insbesondere seiner Frau Mary, seinem Sohn Richard und seiner Schwiegertochter Meave, spielte L. die zentrale Rolle bei der Durchsetzung der Theorie der afrikanischen (insbesondere ostafrikanischen) Herkunft der Menschheit. Auf das Konto der Familie Leakey gehen viele wichtige Entdeckungen (Ausgrabungen und Erstbeschreibungen) von fossilen Vor- und Urmenschen mehrerer Arten und Gattungen sowie von fossilen Fußspuren von Vormenschen. L. initiierte langfristige Feldforschungsprojekte zur Erforschung des Verhaltens von Schimpansen (Jane Goodall S. 331), Gorillas (Dian Fossey) und OrangUtans (Biruté Galdikas). Das Nachrichtenmagazin Time zählte L. und seine Familie zu den 100 einflussreichsten Menschen des 20. Jh.
In den letzten Jahren wurden viele fossile Hominoide entdeckt. Fossilien liefern an sich keine direkte Information über den Evolutionsverlauf, sondern stellen nur einen weiteren Organismus dar.
Phylogenetik ist die Wissenschaft von den verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Organismen.
afrikanischen Menschenaffen (einschließlich des Menschen) stattgefunden hat, nur wenige Fossilien, da die afrikanischen Regenwälder kein idealer Ort für die Fossilisierung sind. Dennoch wurde in den letzten Jahren eine Reihe von ausgestorbenen, mit dem Menschen mehr oder weniger nah verwandte Hominoiden entdeckt ( Box 3.1, Abb. 3.2, 3.3). Der Haken ist allerdings, dass der fossile Fund keine direkte Information über den Verlauf der Evolution bietet; denn das Fossil ist wieder nur ein weiterer Organismus, wenn auch ein (aus)gestorbener. Man kann die verwandtschaftlichen Beziehungen an einer Versteinerung nicht besser ablesen als an einem lebenden Wesen, sondern schlechter, denn Fossilien liefern immer nur Fragmente und nie die komplette Information. Beispielsweise ging die Hypothese über die Evolution der Hodengröße (so etwas gibt es tatsächlich) sicher nicht aus der Untersuchung versteinerter Drüsen hervor (S. 348). Darüber hinaus ist klar, dass ein Großteil der Organismen – nämlich die kleinen und weichen – keine fossilen Überreste liefern können ( Abschnitt 3.10). Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Methoden zu betrachten, mit denen wir phylogenetische Hypothesen bilden. Gelegentlich werden wir nicht umhin kommen, sogar Zahlen zu verwenden. Wir versprechen aber, dass wir uns nicht mit technischen Details befassen und uns stattdessen auf die Philosophie konzentrieren, die sich hinter den verschiedenen Methoden verbirgt. Und so wollen wir denn auch mit der Philosophie beginnen …
3.2 Die nominalistische und die realistische Auffassung der Systematik In der Phylogenetik, also der Wissenschaft von den verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Organismen, treffen wir notwendigerweise immer wieder auf eine besondere philosophische Problematik, nämlich auf den mittelalterlichen
3.2 Die nominalistische und die realistische Auffassung der Systematik
Streit zwischen Nominalismus und Realismus. Die Frage lautete damals, woher allgemeine Begriffe wie beispielsweise „Tisch“ oder „Hund“ kommen. Eine Möglichkeit ist, dass der „Hund als solcher“ existiert und jedes zottige, bellende Wesen nur ein bestimmtes Abbild dieses „allgemeinen Hundes“ ist, ähnlich wie jede konkrete Schneeflocke die Tatsache widerspiegelt, dass Wasser (typischerweise im Singular verwendet) im hexagonalen System kristallisiert. Ein allgemeiner Begriff wäre dann „das Ding“, lateinisch res – daher „Realismus“. Die Nominalisten behaupteten dagegen, dass jeder konkrete Hund ein Hund an sich ist und dass der allgemeine Begriff „Hund“ nur ein Name (lateinisch nomen) ist, den wir den Millionen von bellenden Dingen geben, um uns irgendwie verständigen zu können und Ordnung in das Chaos zu bringen ( Box 3.2, Abb. 3.4). Seit den Zeiten des Begründers der biologischen Systematik, Carl von Linné ( S. 154), taucht immer wieder die Frage auf, ob wir die Organismen real existierenden Gruppen zuordnen können (egal worauf ihre „reale Existenz“ beruht) oder ob wir sie nur irgendwie sortieren, damit wir den Überblick behalten. Im ersten Fall suchen und entdecken wir (eventuell auch unzutreffend) Gruppierungen von Individuen, Arten und Überartgruppen (Taxa) ( Box 3.3). Die Entwicklung der Klassifikation spiegelt dann unsere Fähigkeiten und Kenntnisse wider. Im zweiten Fall bilden wir die Taxa, und falls die Bildung der Taxa irgendeiner Regel folgt, spiegeln sie eher die Struktur unserer Wahrnehmung der Welt wider als die Struktur der Welt selbst. Dann ist es legitim, die Organismen nach unserem Belieben zu klassifizieren (so als würde man im
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Nominalismus nimmt an, dass die Arten in der Natur objektiv nicht existieren, sondern erst von Menschen definiert werden. Nach der realistischen Artauffassung existieren die Arten und Grenzen zwischen ihnen in der Natur objektiv, unabhängig von der Zuordnung durch den Menschen
3.4 Das Problem der realistischen Auffassung der Art in der Zeit. (a) Üblicherweise akkumulieren die anagenetischen Änderungen schrittweise, sodass die Grenze zwischen Mutter- und Tochterart nur subjektiv bestimmt werden kann. (b) In einigen Fällen kann die anagenetische Änderung innerhalb weniger Generationen solche Ausmaße annehmen, dass wir veränderte Individuen für eine neue Art halten. (c) Üblicherweise bestehen Arten aber aus mehreren genealogischen Linien und mehreren, mehr oder weniger isolierten Populationen. In diesem Fall werden die Grenzen zwischen der Mutter- und Tochterart wieder konventionell bestimmt, denn wir müssen uns entscheiden, wie groß die Repräsentanz der Individuen mit neuen phänotypischen Merkmalen in der Population sein muss, um die entsprechende Population für eine neue Art zu halten. Der vertikale Pfeil indiziert die Grenze zwischen den beiden so bestimmten Arten. (In Anlehnung an Flegr 2005)
| 3.2 |
Die Art aus philosophischer Sicht Die Frage, ob es Arten objektiv gibt (also unabhängig von der Klassifikation durch den Menschen), ist eher philosophischer als biologischer Natur. Nach der nominalistischen Auffassung existieren die Arten in der Natur objektiv nicht, sondern sie werden künstlich – von Menschen (genauer gesagt den Taxonomen) – abgegrenzt. Die realistische Auffassung nimmt dagegen an, dass die Arten und
die Grenzen zwischen ihnen in der Natur objektiv, unabhängig von Klassifikationen durch den Menschen, existieren. Die meisten heutigen Biologen sind sich einig, dass Arten existieren, doch herrscht keine Einigkeit darüber, warum sie existieren, wie man die Kategorie „Art“ definieren soll und nach welchen Kriterien man die jeweiligen Arten voneinander trennt ( Box 6.3).
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Die grundlegenden Argumente der realistischen Auffassung der Arten stammen aus der Evolutionsbiologie.
Morphologisch und physiologisch ähnliche Arten bilden Gruppen aufgrund ihrer Verwandtschaft.
3 Phylogenese
einen Pilzatlas nach „ausgezeichneter Speisepilz“, „essbar“, „ungenießbar“ und „giftig“ unterscheiden, im anderen nach der Farbe der Pilzhüte und in einem dritten nach den Standorten). Die Tatsache, dass die Taxonomien (also die Gliederungen der Organismen in benannte Taxa) verschiedener Naturvölker auffällig oft mit der wissenschaftlichen Taxonomie übereinstimmen, kann bedeuten, dass Arten und höhere Taxa wirklich existieren. Es kann aber auch bedeuten, dass „Wilde“ und Wissenschaftler letztendlich Menschen sind und daher eine bestimmte menschliche Auffassung der Welt teilen. Weil das menschliche Wesen von Ureinwohner und Wissenschaftler augenscheinlich vorhanden ist, muss man diese (an sich nominalistische) Erklärung für einfacher halten – die Gegenargumente müssen die Realisten, also die Vertreter der realen Existenz der Arten und höheren Taxa, erst einmal liefern. Die grundlegenden Argumente für die realistische Auffassung der Arten und Taxa stammen eigentlich aus der Evolutionsbiologie. Vor einiger Zeit (1981) fragte Colin Patterson, ein britischer Paläontologe und Phylogenetiker, ob wir über die Evolution wirklich etwas sicher wüssten. Diese Frage (»Can you tell me anything you know about evolution, any one thing, any one thing that you think is true?«) wurde als populäres Argument angeführt, dass „die führenden britischen Wissenschaftler die Evolution anzweifeln“, leider ohne Pattersons positive Antwort abzuwarten, die lautete „Ja, wir wissen – die Evolution führt zu Hierarchie“. Wenn wir annehmen, dass die Artenzahl mit der Spaltung der Evolutionslinien allmählich zugenommen hat, müssen wir auch annehmen, dass die morphologischen, physiologischen, ökologischen und ähnlichen Unterschiede zwischen einzelnen Arten nicht gleich sind. Ähnliche Arten bilden Gruppen (sogenannte Cluster) und die Ursache für diese Clusterbildung ist gerade ihre unterschiedliche, evolutionäre Verwandtschaft. Katze und Tiger sind sich näher als Katze und Krokodil oder Tiger und Krokodil, denn Katze und Tiger haben einen gemeinsamen Vorfahren, der nicht gleichzeitig der Vorfahre des Krokodils ist. Von diesem Vorfahren haben sie die Eigenschaften geerbt, die das Krokodil nicht hat. Spinnt man diesen Gedanken weiter, dann kommen
Carl von Linné (Carolus Linnaeus) Lebensdaten: 1707–1778 Nationalität: schwedisch Leistung: Begründer der Taxonomie, Botaniker, Zoologe, Sammler. L. hat mit der binominalen Nomenklatur (jeder Artname besteht aus zwei Wörtern: Gattungsname und Epitheton) die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie geschaffen. Seine beiden Werke Species plantarum (1753) und Systema naturae (in der 10. Auflage von 1758), in denen er mehrere Tausend Pflanzen- und Tierarten beschrieben und katalogisiert hat, sind noch heute für die biologische Nomenklatur von Bedeutung. Die Pflanzen klassifizierte L. nach den Geschlechtsorganen, nach Zahl, Verteilung und Anordnung der Staub- und Fruchtblätter. Seine Einteilung begründete die moderne biologische Systematik. In der Systema naturae beschrieb L. u. a. die Art Homo sapiens und ordnete den Menschen zusammen mit dem Orang-Utan der Gattung Homo zu und diese wiederum zusammen mit den Gattungen anderer Affen der Ordnung Primates (Herrentiere). Den Menschen beschrieb L. ganz lapidar mit den Worten: »Nosce te ipsum.« – »Erkenne Dich selbst.«
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3.2 Die nominalistische und die realistische Auffassung der Systematik
wir irgendwann zu einem gemeinsamen Vorfahren, der nicht der Vorfahre des Hefepilzes ist usw. Die beobachtbare Hierarchie der Organismen ist eigentlich eine vereinfachte Hierarchie der Vorfahren, in der die Zeitdimension fehlt. Aus der Annahme einer „Spaltevolution“ folgt, dass die Organismen hierarchisch angeordnet sein müssen. Selbst wenn wir nicht an die Evolution glaubten, fällt uns etwas auf: Wir können die unterschiedlichen Eigenschaften, die die Autoren der Pilzatlanten zur Klassifizierung der Pilze heranziehen, summieren und eine Gesamtklassifikation bilden, die am besten all dem entspricht, was wir über Pilze wissen. Wenn jemandem die Essbarkeit wichtig ist, weil er farbenblind ist, und für jemand anderen die Farbe, weil er Pilze gar nicht isst, warum sollte man all dies nicht irgendwie zusammenfügen? Das Ergebnis ergibt dann eine einzige allgemeine Hierarchie der Pilze. Die ganze Geschichte der modernen Systematik beruht auf der Überzeugung, dass es eine natürliche Gruppierung der Taxa gibt, die wir suchen müssen, und alle Schulen der gegenwärtigen Systematik gehen davon aus, dass Evolution tatsächlich stattfindet. Alle systematischen Biologen sind Realisten, zumindest in dem mittelalterlichen Sinn des Wortes und fast alle sind auch Evolutionisten. Im Großen und Ganzen herrscht also Einigkeit. Die Streitpunkte treten erst bei folgenden Fragen auf: Brauchen wir irgendeine Evolutionstheorie als unmittelbaren Bestandteil der systematischen Methodologie? Bekommen wir also verschiedene Ergebnisse, wenn wir die Evolution als Voraussetzung einschließen? Beeinflussen verschiedene Evolutionsmodelle letztendlich das Ergebnis unserer Arbeit? Antworten wir negativ, dass wir die Evolution nicht brauchen, bedeutet das nicht, dass wir die Evolution nun ablehnen, nur nehmen wir an, dass die Natürlichkeit einer solchen Gruppe, wie z. B. die der Vögel, auch ohne Evolution evident ist, unabhängig davon, woran wir glauben. Der Glaube an | 3.3 |
Wir können die Organismen aufgrund der Summe ihrer Eigenschaften klassifizieren.
Die moderne Systematik beruht auf der realistischen Auffassung der Art und auf der Annahme der Evolution.
Taxon, Taxonomie, Klassifikation, Systematik, Nomenklatur Die Klassifikation von Organismen in ein System hierarchisch angeordneter Einheiten, sogenannter Taxa (Einzahl: dasTaxon), erfolgt mithilfe verschiedener Methoden, deren Prinzipien durch die Systematik (= Taxonomie) untersucht und geregelt werden. Sie beschreibt die spezifischen, sogenannten diagnostischen Merkmale, mit deren Hilfe sich ein Taxon bestimmen lässt. Unter Diagnose verstehen wir nicht nur das Erkennen, sondern auch das Benennen eines Organismus oder eines Taxons. Die Benennung erfolgt nach einheitlichen und verbindlichen Nomenklaturregeln. Die Systematik ist bestrebt, die Organismen so einzuordnen, dass ihre Klassifikation die Phylogenese (= Stammesgeschichte, Genealogie) widerspiegelt. Hierzu werden diverse systematische Methoden angewandt ( Box 3.6, 3.8). Das Linné’sche System der Taxa unterscheidet folgende Hierarchieebenen: Art
(species, ( Box 6.3), Gattung (genus), Familie (familia), Ordnung (ordo), Klasse (classis), Stamm (phylum), Reich (regnum). Weil diese Hierarchieebenen in manchen Taxa nicht ausreichen, führte man Zusatz- (z. B.Tribus, Kohorte) und Ergänzungskategorien ein. Letztere sind durch die Präfixe Infra- (infra-), Unter- (sub-), Über- (supra-) gekennzeichnet (z. B. Infrafamilie, Unterfamilie, Überfamilie). Die Klassifikationsebene eines Taxons ist jedoch nicht objektiver als sein Name. Streitigkeiten darüber, ob die Chordaten einen „Stamm mit drei Unterstämmen“ (Manteltiere, Lanzettfischchen, Wirbeltiere) oder „drei selbstständige Stämme“ bilden, sind subjektiv. Wichtiger ist zu wissen, dass die Chordaten eine gemeinsame Stammart hatten (also monophyletisch sind) und ihre Subtaxa ebenfalls jeweils auf einen eigenen Vorfahren zurückgehen.
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3 Phylogenese
Eine richtige Klassifikation muss einen hohen Vorhersagewert haben.
die Evolution ist dann nur die Motivation, sich mit der Systematik ernsthaft zu beschäftigen, aber vor allem liefert er den Grund dafür anzunehmen, dass das Ergebnis auch eine andere (tiefere) Bedeutung hat als nur ein Mittel zur Registrierung zu sein. Von der Evolutionstheorie brauchen wir letztendlich nur den alten Darwin’schen „Stammbaum und Veränderlichkeit“. Die natürliche Klassifikation der Organismen verschmilzt meistens mit der Vorstellung der Klassifikation, die die „Evolution widerspiegelt“. Weil man etwas so Kompliziertes wie die Evolution nicht „widerspiegeln“ kann, handelt es sich in der Tat um etwas anderes. Eine natürliche Klassifikation entsteht, wenn sich die zu einer Art gruppierten Individuen oder die zu einem höheren Taxon gruppierten Arten auch in anderen Merkmalen ähnlich sind als in denen, die für die Bildung der Art oder des Taxons verwendet wurden. Eine richtige Klassifikation muss einen hohen prädiktiven Wert haben, gerade weil die einzelnen Merkmale der Organismen ihre Evolutionsbeziehungen widerspiegeln. Weil der Schlafmausbeutler ein Säugetier ist, sollte er kernlose Erythrocyten und drei Gehörknöchelchen besitzen, auch wenn dies womöglich bisher niemand untersucht hat (denn ob diese Merkmale beim Schlafmausbeutler bereits erforscht worden sind oder nicht, haben wiederum wir nicht untersucht). Dasselbe könnten wir nun, falls es tatsächlich stimmt, dass „Säugetiere“ ein natürliches Taxon bilden, auch von einem fossilen Säugetier behaupten, selbst wenn von ihm nur ein Zahn übrig geblieben wäre.
3.3 Individuum und Klasse
Phylogenetische Linien, sogenannte Kladen, können als evolutionäre Individuen angesehen werden.
Die Einzigartigkeit eines Individuums ist durch seine einmalige zeitlich-räumliche Verankerung gegeben.
Mit der nominalistischen und der realistischen Weltauffassung hängt eng das Problem zusammen, ob wir Arten und sogenannte Kladen (vom griechischen klados : Zweig), also phylogenetische Linien oder phylogenetisch natürliche Gruppierungen von Arten, für evolutionäre Individuen halten sollen. Der Gedanke, dass die „Säugetiere ein Individuum sind“, scheint absurd zu sein. Doch es ist komplizierter. Wenn wir erklären, dass Karel Gott* ein Individuum ist, meinen wir damit noch etwas anderes, nämlich dass es, Gott sei Dank, nur einen gibt. Karel Gott ist vor allem eins: einzigartig, d. h. es kann keinesfalls zwei geben; denn der zweite Karel Gott wäre dann nur ein Doppelgänger, Imitator oder Namensvetter, aber gewiss wäre es nicht DER Karel Gott. Die Einzigartigkeit von Karel Gott ist durch seine einmalige zeitlich-räumliche Verankerung gegeben, dadurch dass er vor x Jahren gezeugt wurde, irgendwann sterben wird und zwischen diesen beiden historischen Ereignissen ununterbrochen existiert. Er ist stets derselbe, obwohl er vor dreißig Jahren etwas anders aussah, und als zweitägiger Embryo * Karel Gott ist ein tschechischer Schlagersänger, der in den 70er- und 80-Jahren auch in Deutschland sehr erfolgreich war. Die meisten heutigen Leser werden ihn aus der Titelmusik der Trickfilmserie „Biene Maja“ kennen. Je nach persönlichen Sympathien oder Antipathien können Sie „Karel Gott“ aber auch durch einen anderen Namen (z. B. Dieter Bohlen) ersetzen.
157
3.3 Individuum und Klasse
dem heutigen Karel gar nicht ähnelte. Dasselbe gilt allerdings auch für eine Art und eine Klade: Jede einzelne ist einmal entstanden (wir werden noch zu der Frage „wie?“ kommen), stirbt irgendwann aus und dazwischen existiert sie kontinuierlich – keine Art entsteht zweimal, und wenn sie „zum zweiten Mal“ entstünde, wäre es doch eine andere, wenn auch ähnliche Art. Als Gegensatz zum Individuum können wir die logische Klasse ansehen – es ist eine Gruppierung von Entitäten, die irgendein Merkmal (oder auch mehrere Merkmale) teilen. Die Willkür der Abgrenzung zwischen logischen Klassen können wir uns am besten am Beispiel des zeitweiligen Streits darüber vergegenwärtigen, was Obst und was Gemüse ist. Den meisten Leuten fällt dazu als Erstes ein, dass Gemüse grün ist (aber was ist mit Möhre, Mais und Co?) oder dass Obst auf Bäumen und Sträuchern wächst (Erdbeere?). Die Gegenbeispiele verunsichern uns, wir graben tiefer und behaupten nun z. B., dass Obst die Pflanzenfrüchte sind. Aber die Erdbeere ist keine Frucht*, die Gurke schon, und was Melone oder Kürbis sind, scheint eine ganz unlösbare Frage zu sein, obwohl dies in den meisten Ländern in eigenen gesetzlichen Normen festgelegt ist**. Es handelt sich dabei um ein Problem, das nicht anders als durch eine normative (Sprach-)Regelung gelöst werden kann. Eine Art oder Klade ist eher ein Individuum als eine Klasse, denn die Zugehörigkeit von Karel Gott zu den Menschen und des Menschen zu den Säugetieren hängt nicht von irgendwelchen Normen ab. Arten und Kladen sind zwar ziemlich seltsame Individuen, aber bestimmt keine logischen Klassen. Daraus folgt u. a., dass alle Angehörigen einer Art mit den Angehörigen einer anderen Art im gleichen Maße verwandt (oder nichtverwandt) sind, und das gilt auch für die Kladen (Schnabeltier und Mensch sind Säugetiere, und deswegen steht das Schnabeltier den Nicht-Säugern nicht näher als der Mensch). Warum aber sollten wir uns mit etwas so Abstraktem beschäftigen? Wird sich die konkrete biologische Arbeit ändern, wenn wir die Arten als evolutionäre Individuen ansehen? Ein bisschen schon. Erstens existieren Phänomene, die darauf hindeuten, dass Arten und Kladen bestimmte Evolutionsrollen tatsächlich als Gesamtheiten spielen. Im letzten Teil des Buches werden wir diesen Punkt beim Thema „unterbrochene Gleichgewichte“ und „Artenselektion“ ansprechen. * Genauer gesagt, ist die Erdbeere keine Beere, sondern eine Sammelnussfrucht. Die wohlschmeckende „Beere“ ist die fleischig verdickte Blütenachse, auf der als grünlich-gelbe Nüsschen die eigentlichen Früchte sitzen. ** Aus botanischer Sicht ist eine klare Abgrenzung der Begriffe nicht möglich. Demnach ist „Obst“ ein Sammelbegriff für alle diejenigen Samen und Früchte kultivierter oder wildwachsender Pflanzen, die im Allgemeinen roh verzehrt werden (Frischobst), während Gemüse (von „Mus“ = „breiige Speise“) vor dem Verzehr in aller Regel gekocht und zubereitet wird. Beim Gemüse spricht man je nach genutztem Pflanzenorgan von Frucht-, Wurzel-, Stängelund Blattgemüse. Eine strenge Abgrenzung der Gemüsefrüchte zum Obst gibt es allerdings auch aus botanischer Sicht nicht; so wird z. B. die Gemüsefrucht Tomate sowohl als rohe Obstmahlzeit als auch gekocht genossen. Letztendlich entscheidet in Deutschland (und in der EU) eine gesetzliche Vermarktungsnorm, was Obst und was Gemüse ist. So wird nach dieser Norm z. B. die Gurke zum Gemüse, die Wassermelone zum Obst gezählt, obwohl es sich um dieselbe Art von Frucht bei nah verwandten Pflanzenarten aus der Familie der Kürbisgewächse (Cucurbitaceae) handelt und beide roh gegessen werden.
Eine logische Klasse ist eine Gruppierung von Individuen, die ein (oder mehrere) Merkmal(e) teilen – z. B. Obst und Gemüse.
Eine Art oder Klade ist eher ein Individuum als eine logische Klasse.
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3 Phylogenese
Individuelle Eigenschaften ändern sich während der Ontogenese. Falls Arten oder Kladen Evolutionsindividuen sind, ist es sinnvoll, die Momente ihrer Entstehung zu erforschen. Die Eigenschaften dienen dann nur als technische Hilfsmittel zur Rekonstruktion dieser Momente.
Nach paläontologischer Auffassung entsteht eine neue „Art“ dort, wo es ein neues, uns wichtig erscheinendes Definitionsmerkmal gibt, oder dort, wo in der fossilen Überlieferung eine Lücke ist.
Die Phylogenese können wir nicht beobachten, sondern müssen sie anhand der Eigenschaften von real existierenden Organismen rekonstruieren.
Zweitens – und das ist nun wesentlich – müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Identität eines Individuums von seiner zeitlich-räumlichen Verankerung und nicht von seinen Eigenschaften bestimmt ist. Ein Individuum kann morphologisch nicht eindeutig „definiert“ werden. Wir ahnen, dass man sich mit polizeilichen Identifizierungshilfen (Identikits) dem Wesen der Identität nicht besonders nähert, da die beschriebene Identität kippt, sobald sich der Betreffende einen Bart wachsen lässt. Darüber hinaus ändern sich die Eigenschaften der Individuen während ihrer Ontogenese. Erinnern wir uns nur daran, wie wir auf dem Klassenfoto der ersten Klasse ausgesehen haben. Falls die Arten oder Kladen Evolutionsindividuen sind, ist es nicht sinnvoll, nach Eigenschaften zu suchen, durch die sie sich auszeichnen, sondern die Momente ihrer Entstehung zu erforschen. Die Eigenschaften sind dann nur technische Hilfsmittel, wie diese Momente zu rekonstruieren sind. Gleichzeitig ist es dann eigentlich unwesentlich, dass sich eine Art während ihrer Existenz ändert: Ihre Identität entstand durch die Artbildung, also die Abspaltung von der Mutterart, und wird entweder durch Aussterben verschwinden oder sich mit einem weiteren Speziationsereignis ändern. Bis dahin ist es immer ein und dieselbe Art – egal, was in der Zwischenzeit mit ihr geschieht. Die „Ontogenese“ der Art stört natürlich nicht ihre Identität, genauso wenig wie die individuelle Ontogenese die Identität eines Individuums stört. Wir betonen das deshalb, weil insbesondere die Paläontologen häufig die Vorstellung haben, eine geologisch ältere Art habe sich als Ganzes, ohne weitere Spaltung, in eine neue Art „verwandelt“ (erinnern wir uns nur an die verschiedenen „Evolutionsreihen“ der Pferde oder der Vorfahren des Menschen). Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die so aufgefassten „Arten“ willkürlich abgegrenzte logische Klassen sind. Eine neue „Art“ entsteht einfach dort, wo es ein neues Definitionsmerkmal gibt, das uns aus einem bestimmten Grund wichtig erscheint (und nicht dort, wo andere Merkmale entstehen, die uns unwichtig vorkommen), oder dort, wo in der fossilen Überlieferung eine Lücke ist. Darüber hinaus ist es fraglich, ob solche großen Änderungen überhaupt ohne Spaltung der Populationen stattfinden können (Abb. 3.4), aber darüber erfahren Sie später mehr. Wir betrachten also die Arten und Kladen als in sich abgeschlossene Ausschnitte aus dem phylogenetischen „Baum des Lebens“. Dieser wächst natürlich nirgendwo und niemand hat die Phylogenese gesehen. Gerne wird das Bild verwendet, dass wir die Phylogenese nicht beobachten können, weil wir nicht über eine Zeitmaschine verfügen. Aber eine Zeitmaschine würde uns in Wirklichkeit nicht helfen. Wenn wir im Jurazeitalter ausstiegen, würden uns ganz andere Tiere und Pflanzen umgeben als heute, aber die Phylogenese erkennen wir durch die Zeitreise nicht besser, als wenn wir heute im Stadtwald spazieren gingen. Die Phylogenese müssen wir anhand der Eigenschaften von real existierenden Organismen, rezenten und ausgestorbenen, rekonstruieren, also nur mit dem, was uns wirklich zur Verfügung steht.
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3.4 Homologie
3.4 Homologie Zwei beliebige Organismen können sich sehr ähneln, doch diese Ähnlichkeit kann, wie wir im Folgenden sehen werden, durchaus unterschiedlichen Typs sein. Haie und Delfine sind aktive Schwimmer im Meer und ähneln sich daher. Es handelt sich um eine Ähnlichkeit, die ganz offensichtlich gerade mit ihrer Bewegungsweise zusammenhängt. Hinsichtlich anderer Merkmale, wie z. B. der Anatomie, der embryonalen Entwicklung oder des Genomaufbaus, sind sie sich nicht ähnlich, bzw. sie sind sich nicht ähnlicher als beispielsweise Hai und Eichhörnchen. Dabei liegt hier die Erklärung für ihre Ähnlichkeit nicht unbedingt in ihrer Evolution. Denn wenn wir ein wendiges, schnell schwimmendes Meereslebewesen künstlich erschaffen wollten, würden wir ihm die Gestalt eines Hais oder Delfins geben (Abb. 3.5). Anders verhält es sich mit den Ähnlichkeiten im Bau der Extremitäten der Landwirbeltiere. Wenn wir uns ihr Skelett anschauen, stellen wir fest, dass sie aus den gleichen Bausteinen bestehen, unabhängig davon, welchem Bewegungstyp sie dienen. Der Flügel der Fledermaus, die Hand des Menschen, die Grabschaufel des Maulwurfs oder die Flosse des Delfins sind sich ähnlich, obwohl kein Konstrukteur sie so bauen würde. Nicht weil sie in dieser Form ihre Aufgaben nicht erfüllen könnten (dies können sie offensichtlich), sondern weil es für die feste Zahl der Knochenelemente keinen funktionalen bzw. „rationalen“ Grund gibt. Die gesamte riesige Variabilität der Wirbeltierextremitäten beruht nur auf Variationen der quantitativen Verhältnisse bzw. der Größe einzelner Elemente oder auf dem Verlust einiger Elemente (das Pferd hat zwar keine fünf Zehen, aber wir können dennoch bestimmen, welche der fünf Zehen übrig geblieben ist). Zum Teil kommt es auch zur Reduktion der gesamten Extremität – aber selbst die winzigen Hinterbeinrudimente des Wals behalten ihren allgemeinen Wirbeltierbau. Die Extremitäten der Wirbeltiere haben nicht die Funktion, sondern den Bauplan miteinander gemein (Abb. 3.6).
3.5 Hydrodynamische Torpedoform bei einem Hai, einem Fischsaurier und einem Delfin als Beispiel für Analogie und Konvergenz.
Die Extremitäten der Wirbeltiere haben nicht die Funktion, sondern den Bauplan miteinander gemein.
3.6 Skelett der Vorderextremität der Tetrapoden als Beispiel der Homologie und Divergenz.
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3 Phylogenese
Die Ähnlichkeit von Hai und Delfin nennen wir Analogie, die Ähnlichkeit des Extremitätenskeletts von Fledermaus und Delfin Homologie.
Die Ähnlichkeit von Hai und Delfin nennen wir Analogie, die Ähnlichkeit der Vorderextremitäten von Fledermaus und Delfin Homologie ( Box 3.4) – Begriffe, die Richard Owen prägte ( S. 162). Offensichtlich handelt es sich de facto um nichtevolutionäre Begriffe, welche die Funktion einerseits und die „innere Anlage“ des Organismus anderseits betreffen. In ihrem Bemühen, das natürliche System aufzuklären, neigte die Systematik stets dazu, Homologien bevorzugt zu betrachten, und gruppierte Organismen aufgrund mysteriöser innerer Beschaffenheiten, die eben nicht auf den ersten Blick für jedermann
| 3.4 |
Homologie, Analogie, Konvergenz, Divergenz, Parallelismus Arten (oder Taxa im Allgemeinen) kann man anhand morphologischer, molekularer, physiologischer, ethologischer und ökologischer Merkmale bestimmen. Für die Rekonstruktion der verwandtschaftlichen Beziehungen sind Homologien von besonderer Bedeutung, d. h. Merkmale, die auf die gleiche genetische Information der Stammart zurückgehen. Homologe Merkmale sind sich nicht zwangsläufig ähnlich, sondern weichen häufig sogar aufgrund unterschiedlicher Anpassungen strukturell und funktionell mehr oder weniger stark voneinander ab (z. B. der Arm des Menschen, der Flügel der Fledermaus, die vordere Flosse des Delfins). Das Gegenstück zu Homologien sind Homoplasien (= Analogien), d. h. Ähnlichkeiten, die in der Evolution zweier Taxa unabhängig entstanden sind und beim gemeinsamen Vorfahren der jeweiligen Arten nicht vorhanden waren (z. B. die hydrodynamische Körperform von Haien, Fischsauriern und Delfinen, Abb. 3.5). Homologe Merkmale sind allerdings stets relativ zu sehen. Die Flügel von Vögeln und Fledermäusen sind auf der Ebene der jeweiligen Gruppen Homoplasien, denn Vögel und Fledermäuse haben ihre Vorderextremitäten unabhängig voneinander modifiziert (Abb. 3.6). Die Ausgangsstruktur ist jedoch ein homologes Merkmal, denn das Vorhandensein und das Grundmuster des Skeletts der vorderen Extremitäten sind Homologien der Tetrapoden. Die einst gleiche Form der Stammart diversifiziert aufgrund unterschiedlicher Selektionsdrücke im Prozess der Divergenz. Homoplasien entstehen durch Konvergenz. Ähnliche Merkmale können aber in zwei phylogenetischen Linien, unabhängig voneinander, auch durch Parallelismus entstehen – hierbei war auch das ursprüngliche Merkmal schon ähnlich und seine Form hat sich, unabhängig, aber parallel transformiert (Abb. 3.7). Befunde aus der Entwicklungs- und der Molekulargenetik zeigen jedoch, dass das morphologische
Homologiekonzept revidiert bzw. spezifiziert werden muss. So sind z. B. die Extremitäten von Insekten und Wirbeltieren unterschiedlich aufgebaut, weshalb man sie stets für analoge Strukturen hielt (d. h. Strukturen unterschiedlicher Herkunft, die sich zur Erfüllung desselben Zwecks spezialisiert haben). Molekulargenetische Analysen ergaben allerdings, dass für die Entstehung der Beine bei Insekten wie auch bei Wirbeltieren dieselben Gene verantwortlich sind. Das Konzept wurde somit um die genetische Ebene erweitert. Danach unterscheidet man zwei Typen von Homologien (Abb. 3.8): Orthologie (vom griechischen orthos: richtig; historische Homologie): Die Gene zweier Arten sind ortholog, wenn sie im Lauf der Phylogenese aus demselben Genort (Locus) eines gemeinsamen Vorfahrens entstanden sind – z. B. die Hämoglobingene des Menschen und der Fledermaus. Paralogie (vom griechischen para: neben; biologische Homologie): Ein Locus bei zwei Arten ist paralog, wenn er durch Genduplikation und nachfolgende Divergenz innerhalb einer Art entstanden ist – z. B. die Gene für Hämoglobin und Myoglobin. Dieses Konzept wurde wiederum auch auf andere Merkmale erweitert. So können der Arm des Menschen und der Flügel der Fledermaus als orthologe, der Arm und das Bein des Menschen als paraloge Strukturen bezeichnet werden. Orthologe Merkmale informieren uns über die Phylogenese, paraloge Merkmale über die Evolution der Formen, Funktionen und Verhaltensweisen. Die kombinierte Betrachtung paraloger und orthologer Gene bietet ein umfassendes Bild der Evolution der Organismen, zumal, wenn jene Körperteile besonders berücksichtigt werden, für deren Entwicklung diese Gene aktiviert worden sind.
3.4 Homologie
161
3.7 Konvergenz, Divergenz und Parallelismus. Gleiche bzw. unterschiedliche Hintergrundfarben symbolisieren ähnliche bzw. unterschiedliche Lebensbedingungen, die Farben der Symbole die Verwandtschaft und die geometrischen Symbole die Transformation der Merkmale. Das Symbol links kennzeichnet jeweils den ursprünglichen Zustand.
ersichtlich sind. Seit sich jedoch Evolutionsdenken zu dem „Spiel“ hinzugesellte, hat sich die Interpretation der beiden Begriffe ein bisschen verschoben, allerdings auch erhellt. Homologe Ähnlichkeit bezeugt die gemeinsame Herkunft der Organismen (Abb. 3.7). Wirbeltiere haben den gleichen Extremitätentyp, weil sie ihn von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben, der bereits eine solche Extremität hatte, während die „offensichtlichere“ analoge Ähnlichkeit parallele Anpassungen nichtverwandter Arten an ähnliche Bedingungen aufzeigt. Das Unterscheiden von homologen und nichthomologen Merkmalen ist im Rahmen der phylogenetisch orientierten Systematik eine unerlässliche Tätigkeit. Dabei geht es nicht mehr um eine Vorliebe bei der Auswahl „versteckter“ Merkmale und damit eher um eine kontraintuitive Wahrnehmung der Welt (gewiss eine bedeutende psychologische Grundlage jeglicher Wissenschaft), sondern um einen grundsätzlichen Punkt: Falls Phylogenese existiert, dann müssen wir − wenn wir die Organismen nach ihrer phylogenetischen Verwandtschaft gruppieren wollen − ausschließlich homologe Ähnlichkeiten suchen. Umso wichtiger ist es, Homologien wirklich verlässlich zu bestimmen. Homologie hat also mit der Phylogenese zu tun und betrifft zwei und mehr Arten. Beispielsweise ist der Flügel der Fledermaus homolog zur Vorderflosse des Delfins. Allerdings lesen wir auch, dass die Insektenantenne homolog zum Insektenbein ist. Beim letztgenannten Beispiel handelt sich um eine Homologie innerhalb eines Individuums, die aber eher auf gemeinsame genetische und ontogenetische Prozesse hinzuweisen scheint. Wichtig ist, dass das Homologiekonzept nicht nur morphologische Merkmale, sondern auch physiologische Eigenschaften und Verhaltensweisen betrifft ( Box 3.5)
Die wissenschaftliche Systematik neigte stets dazu, Homologien als Kriterien der Verwandtschaft bevorzugt zu berücksichtigen.
3.8 Zwei Typen von Homologien: Orthologie entsteht durch Kladogenese und Divergenz, Paralogie durch Duplikation und Divergenz. Graue Ovale repräsentieren einzelne Organismen (Individuen), die Graustufe spiegelt die evolutionäre Linie wider. Vierecke stellen Merkmale dar, verschiedene Farben repräsentieren ihre unterschiedliche Qualität.
162
3 Phylogenese
Richard Owen Lebensdaten: 1804–1892 Nationalität: britisch Leistung: Zoologe, Paläontologe, Anatom. O. wird oft nach C. Darwin als zweitwichtigster Naturforscher des Viktorianischen Zeitalters angesehen. Er prägte den Begriff „Dinosauria“, und revidierte die Gruppen der Wiederkäuer (Ruminantia) und der Dickhäuter (Pachydermata) und ersetzte diese durch die noch heute gebräuchlichen Untergruppen der Paarhufer (Artiodactyla) und der Unpaarhufer (Perissodactyla). O. führte den Begriff „Homologie“ als Gegenstück zur „Analogie“ ein. Er setzte sich für die Gründung des Museum of Natural History in London ein, dessen erster Direktor er bis 1883 war. O. war ein ausgesprochener Gegner von Darwin und dessen Evolutionstheorie.
Orthologie (historische Homologie) entsteht infolge der Artbildung, Paralogie (biologische Homologie) infolge der Duplikation mit nachfolgender Differenzierung.
Remane führte die A-prioriKriterien zur Erkennung von Homologien ein: gleiche Lage, gleiche Ontogenese und „spezielle Ähnlichkeit“.
Es gibt also zwei Arten von Homologien, wobei die eine als historische Homologie oder Orthologie, die andere als biologische Homologie oder Paralogie bezeichnet wird ( Box 3.4, Abb. 3.8). Betrachten wir die Genome von Organismen, so fällt auf, dass neben der Spaltung von phylogenetischen Linien (Artbildung), in deren Verlauf sich Gene dieser Organismen trennen können, auch eine Duplikation, also Verdoppelung von Genkopien innerhalb eines Organismus stattfindet, und zwar mit nachfolgender Differenzierung dieser Kopien. Homologe Gene können ortholog sein, wenn sie durch Speziation entstanden sind (z. B. das Gen für Hämoglobin bei Menschen und Gorillas) und paralog, wenn sie durch Genduplikation mit nachfolgender Differenzierung entstanden sind (z. B. die menschlichen Gene für Hämoglobin und Myoglobin, die zu derselben Genfamilie gehören). Genauso können wir auch orthologe Strukturen (z. B. das Vorderbein des Salamanders und der Katze) von paralogen Strukturen (z. B. Vorder- und Hinterbein des Salamanders) unterscheiden. Man könnte meinen, dass diese zwei Auffassungen von „Homologie“ nichts gemein haben. Dies ist aber doch der Fall − zwei Einheiten eines Körpers sind paralog, weil sie durch Duplikation von ursprünglich nur einer solchen Einheit bei einem Vorfahren entstanden sind oder aber aus zwei Einheiten im Körper eines Vorfahrens stammen, wo sie mehr oder weniger gleich waren und sich erst später funktionell und morphologisch differenziert haben (Flügel und Bein des Huhns). Auf diese Weise erhalten wir immer auch einen Hinweis auf den Vorfahren, also auf die Phylogenese. Im Folgenden werden wir von homologen Strukturen sprechen, weil man über sie am besten reden kann, doch in Wirklichkeit handelt es sich um einen allgemeinen Begriff, der auch auf Entwicklungsprozesse, Verhaltensweisen, ökologische Interaktionen, also auf alles, was der Evolution unterliegt, angewendet werden kann und soll. Adolf Remane ( S. 163) legte formale Kriterien fest, mit denen man eine homologe (ortho- oder paraloge) Ähnlichkeit von einer nichthomologen unterscheidet: die gleiche Lage, die gleiche Ontogenese oder die „spezielle Ähnlichkeit“. Es handelt sich stets um A-priori-Kriterien, die verwendbar sein sollten, wenn wir mit „weisen Augen“ die Organismen betrachten, deren phylogenetische Beziehungen wir nicht kennen müssen (denn erst die Identifizierung der homologen Ähnlichkeiten ermöglicht es uns, die Phylogenese zu erkennen).
3.4 Homologie
163
| 3.5 |
Konvergenz der Verhaltensweisen Konrad Lorenz ( S. 319, Box 1.9, Box 5.11), selbst ursprünglich Anatom, betrachtete Verhaltensmuster wie Organe oder sonstige morphologische Merkmale: Auch Verhaltensweisen haben ihre Ontogenese und Phylogenese und auch bei ihnen lassen sich die Konvergenz- und Divergenz(bzw. Homoplasie- und Homologie-) Konzepte anwenden. So haben sich die Eirollbewegung und das Verleiten bei verschiedenen, nicht näher miteinander verwandten, bodenbrütenden Vogelgruppen konvergent entwickelt. Weitere Beispiele für konvergente Verhaltensweisen sind das Maulbrüten der Buntbarsche (Cichlidae) und Labyrinthfische (Anabantoidei), die seismische Kommunikation der solitär und unterirdisch lebenden Blind-
mäuse (Spalax) und Blessmulle (Georychus), die Sozialorganisation, Ernährungsweise und Kommunikation bei Webervögeln sowie die Echoortung bei Fledermäusen und einigen Nachtvögeln, wie z. B. den Salanganen (Aerodramus) und dem Fettschwalm (Steatornis). Eine interessante Verhaltenskonvergenz zeigen unterirdisch lebende Nagetiere hinsichtlich der Art und Weise, wie sie eine Möhre fressen: Anders als oberirdisch lebende, nicht auf das Wurzelfressen spezialisierte Nagetiere (z. B. Hausmaus, Hamster, Meerschweinchen oder Rennmaus) beginnen Blindmäuse, Graumulle, Coruros, Schermäuse, Sumpfmäuse etc. bevorzugt, die ihnen angebotene Möhre von der Spitze her anzunagen.
Alle diese Kriterien haben jedoch eines gemeinsam: Außer in den Fällen, die einstimmig abgelehnt werden (z. B. dass das Bein der Fliege homolog zum Bein des Schweins ist), hinterlassen sie eine beunruhigend breite graue Zone, in der unterschiedliche Autoritäten mit ihren „weisen Augen“ erstaunlicherweise sehr unterschiedliche Dinge sehen. Nach dem Kriterium der gemeinsamen Lage sind zwei Strukturen, die sich am gleichen Ort befinden, homolog, auch wenn sie sehr unähnlich sind. An den Stellen, an denen bei der Fliege die Halteren (Schwingkölbchen) ansetzen, haben andere Insekten Hinterflügel (Orthologie); an denselben morphologischen Koordinaten des Segments, wo am Hinterthorax Halteren sind, sitzen am Mittelthorax der Fliege Flügel (Paralogie), sodass Halteren und Flügel homolog sind. Doch die Vorderbeine des Salamanders, der Eidechse und des Menschen sind offensichtlich durch ihre gesamte innere Struktur homolog, nur wachsen sie leider an unterschiedlichen Orten. Wirbeltiere haben einen segmentierten Rumpf, was man gut am „Fischfleisch“ und letztendlich auch an der menschlichen Wirbelsäule, den Nerven und einigen Muskeln sieht. An welchen Körpersegmenten wachsen nun die Vorderbeine der Wirbeltiere? Am 2.–5. Segment beim Salamander, am 6.–9. Segment bei der Eidechse und am 13.–18. Segment
Adolf Remane Lebensdaten: 1898–1976 Nationalität: deutsch Leistung: Zoologe. 1952 entwickelte R. die Homologiekriterien, da er davon überzeugt war, aus der Feststellung der Homologie a priori die Verwandtschaft der Organismen herleiten zu können. R. war Professor der Zoologie an den Universitäten in Kiel und (kurzzeitig) in Halle und Gründer des Instituts für Meereskunde an der Kieler Universität und wissenschaftspolitisch aktiv. Federführender Autor des einflussreichen Lehrbuchs Systematische Zoologie. Stämme des Tierreichs (1976).
Die (offensichtlich homologen) Vorderbeine von Amphibien, Eidechsen und Säugetieren wachsen an unterschiedlichen Körpersegmenten.
164
3 Phylogenese
Die Bestimmung der Grenzen zwischen den Ähnlichkeiten ist relativ subjektiv.
Auch die gleiche Ontogenese ist nicht unbegrenzt als Homologiekriterium anwendbar.
Die Unfähigkeit, homologe Merkmale verlässlich zu identifizieren, führte zur methodologischen und konzeptionellen Revolution in der Systematik.
beim Menschen. Also wachsen homologe Wirbeltierextremitäten entweder an nichthomologen Orten (wo das Kriterium der gemeinsamen Lage nicht gilt) oder sie sind nicht homolog (was sie jedoch offensichtlich sind). Die „spezielle Ähnlichkeit“ als Homologie-Kriterium haben wir schon erwähnt: Die Hand des Menschen und der Flügel der Fledermaus sind sich unähnlich (denn Fledermäuse sind keine Handwerker, sondern insektenjagende Luftakrobaten), aber die detailliertere Analyse der Zahl und der Anordnung der Knochen zeigt, dass die Unterschiede eher eine oberflächliche Variation desselben Themas darstellen. Doch wo hören wir auf, nach homologen Merkmalen zu suchen, und welche mehr oder weniger ähnliche Ausformungen sind wir noch bereit, als „spezielle Ähnlichkeit“ zu akzeptieren? Ist die Segmentierung des Insektenbeines und der Antenne eine ausreichend „spezielle Ähnlichkeit“? Macht es etwas aus, dass die Mundwerkzeuge eines Insekts nicht segmentiert sind, sein Bein jedoch sehr wohl? Mit der Ähnlichkeit besteht immer das Problem, dass sich zwei beliebige Arten und zwei beliebige Strukturen stets irgendwie ähnlich sind. Es bleibt die (mehr oder weniger) gleiche Ontogenese als Homologiekriterium. Heute wissen wir jedoch, dass die Strukturen des gleichen evolutionären Ursprungs in der Ontogenese auf unterschiedliche Weisen entstehen können. (Zu diesem grundsätzlichen Phänomen kehren wir im folgenden Teil des Buches zurück, wenn wir die Ontogenese der Seeigel und der Frösche besprechen.) So entsteht z. B. die Augenlinse des Salamanders embryonal aus der modifizierten Epidermis, und wenn der Salamander die Linse verliert (beispielsweise durch ein Skalpell, denn in der Natur kann man vielleicht das Auge, aber kaum nur die Augenlinse verlieren) regeneriert er die Linse aus der benachbarten Regenbogenhaut, also einem völlig anderen Gewebe, nämlich einem Muskel. Man könnte nun einwenden, dass embryonale Entstehung und Regeneration zwei unterschiedliche Dinge sind. Das sind sie gewiss. Aber wenn zwei unterschiedliche Gewebe fähig sind, die gleiche funktionelle Struktur zu bilden, wenn auch zu unterschiedlichen Phasen der Ontogenese, warum hätte sich diese Fähigkeit dann nicht auch phylogenetisch aufspalten können? Was wäre, wenn innerhalb der Wirbeltiere eine Art entstünde (oder schon entstanden ist?), deren Augenlinse sich aus der Regenbogenhaut bildet (bzw. zunächst auf die Bildung derselben wartet und erst dann daraus entstünde)? Wird die Augenlinse dieser Art (und all ihrer Nachkommen, mithin der gesamten Klade) homolog zur Linse anderer Wirbeltiergruppen sein? Nach dem Kriterium der gemeinsamen Ontogenese kann dies offensichtlich nicht sein. Wir fassen zusammen: Es existiert keine verlässliche Methode, um ein homologes von einem nichthomologen Merkmal zu unterscheiden. Durch einen einfachen Blick auf den Organismus (oder zwei Organismen) können wir keine Homologie erkennen, selbst wenn wir ihn (oder sie) unter dem Elektronenmikroskop betrachten, in den frühesten embryonalen Stadien untersuchen oder in einzelne Moleküle zerlegen würden. Die Unfähigkeit, homologe Merkmale verlässlich zu identifizieren, brachte in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine produktive Unruhe unter die jüngeren Systematiker und ließ die Systematik zu einer Wissenschaft werden.
3.5 Revolution in der Systematik
165
3.5 Revolution in der Systematik Die Vorstellung, dass Systematik in den dunklen Hinterzimmern von Museen erforscht wird, wo auch Schulklassen sicherheitshalber nur flüstern, trifft auf Mitteleuropa noch in gewissem Maße zu. Dagegen unterscheiden sich anderswo auf der Welt Molekularbiologen kaum von Forschern der Insektentaxonomie. Dort haben offenbar Veränderungen stattgefunden, die bislang nicht bis nach Mitteleuropa vorgedrungen sind. Die Systematik war früher – und mancherorts ist sie es immer noch – eine Wissenschaft ohne klare und wiederholbare Methodologie, also eigentlich eine Nichtwissenschaft. Die systematische Forschung beruhte auf der persönlichen Erfahrung des Systematikers, auf seinem Gefühl für „wichtige“ und „unwichtige“ Merkmale, auf seiner Einsicht in die innerartliche Variabilität und ihre Grenzen – kurz und gut, die Ergebnisse hingen von einem mehr oder weniger „klinisch“ denkenden Charakter ab. Ein guter Systematiker wurde jemand dadurch, dass er mit einer bestimmten Organismengruppe wirklich lange im Bereich der Systematik gearbeitet und ein Gefühl für sie erworben hatte. Gerade deshalb aber konnten seine Schlussfolgerungen nicht kontrolliert werden, zumindest so lange nicht, bis ein potenzieller Gegner durch ein ebenso langes Studium vergleichbare Einsichten erworben hatte. Forschte an einer gegebenen Organismengruppe nur ein einziger Systematiker, so musste man ihm glauben. Wenn zwei Konkurrenten daran arbeiteten, war ein eventuell auftretender Meinungskonflikt von außen manchmal nicht anders lösbar als durch Konsultation eines Psychiaters. Und das alles nur, weil der eine die Vögel nach dem Verlauf der Beckenmuskulatur klassifiziert hatte und der andere nach dem Bau des Singapparates. Dass ein solcher Zustand nicht haltbar ist, wurde einer Gruppe von „zornigen jungen Männern“* in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts klar. Mit der Entfaltung der Rechnertechnik und der zugehörigen Programmierung war es nämlich möglich, neue Wege zu gehen. Damit sollte nicht untersucht werden, wer von den wenigen Systematikern, die eine bestimmte Gruppe studierten und zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangten, unrecht hatte, sondern es sollte erforscht werden, inwieweit die Gesamtanordnung der Arten in dieser Gruppe durch alle (oder zumindest die meisten) verfügbaren Merkmale unterstützt wird. Wenn wir glauben, dass es die Phylogenese gibt, dann sind alle an den Organismen beobachtbaren Merkmale Produkte dieser Phylogenese, und somit auch ihre Zeugen: Aus der Verteilung der Merkmale können wir die phylogenetischen Beziehungen rekonstruieren. Die „alten“ Systematiker waren überzeugt, sie könnten a priori solche Merkmale, die gute Zeugen der Phylogenese abgeben, von denen unterscheiden, die wertlos sind – wobei diese Einteilung im konkreten Fall eben nicht durch eine Analyse unterstützt, sondern allein vom Glauben getragen wurde. Natürlich sind die einzelnen * Der Begriff „zornige junge Männer“ bezeichnete ursprünglich eine Gruppe von englischen Schriftstellern, die nach dem 2. Weltkrieg Werke von ironischer, z. T. schockierender Sozialkritik veröffentlichten. Im übertragenen Sinne bezeichnet er nonkonforme, kritische Vertreter der jüngeren Generation, die neue, unorthodoxe Wege gehen.
Die systematische Forschung beruhte lange Zeit auf den Kenntnissen des Systematikers.
Die Entfaltung der Rechnertechnik und der zugehörigen Programmierung hat der Systematik neue Impulse gegeben.
166
3 Phylogenese
Merkmale unterschiedlich wertvoll. Wenn wir die Phylogenese der Säugetiere auf der Ebene ihrer Ordnungen untersuchen, interessieren uns gerade jene Merkmale, die innerhalb der Ordnungen mehr oder weniger uniform sind, aber im Rahmen der ganzen Gruppe der Säugetiere nicht uniform auftreten. Es interessiert uns also weder die Schwanzlänge noch die Warmblütigkeit. Es interessieren uns die Merkmale, deren Evolution mehr oder weniger synchron | 3.6 |
Taxonomische Methoden Zurzeit existieren im Wesentlichen drei Schulen der Systematik: die evolutionssystematische, die kladistische und die phänetische Schule. Die Evolutionssytematik ist bestrebt, die verwandtschaftlichen Beziehungen (unabhängig von den Ähnlichkeiten) zwischen den Organismen zu rekonstruieren. Bei der Systemerstellung berücksichtigt sie neben der Kladogenese auch die Anagenese, d. h. die Diversifizierung der Merkmale. Wenn irgendeine phylogenetische Linie eine bedeutende Veränderung der phänotypischen Eigenschaften aufweist (sich also eine wichtige Innovation evolvierte), halten es die Evolutionssystematiker für sinnvoll, diese Linie gegenüber anderen Linien in ein selbstständiges Taxon auszugliedern. Der größte Nachteil dieser Methode beruht darin, dass die Auswahl der Kriterien, nach denen der erreichte Grad der Anagenese beurteilt wird, nicht objektivierbar und die Abgrenzung einzelner Taxa somit subjektiv ist. Evolutionssystematiker fordern, dass die Taxa monophyletisch (auf keinen Fall polyphyletisch) sein sollten, paraphyletische Taxa werden jedoch zugelassen und oft auch bewusst gebildet ( Box 3.9). Die graphische Darstellung des Systems wird als Phylo- oder Dendrogramm bezeichnet. Die Evolutionssystematik hat das früher schon formalisierte hierarchische Linné’sche System der Taxa, einschließlich der Nomenklatur ( Box 3.3), beibehalten. Die kladistische Methode (= phylogenetische Systematik) wurde in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts durch den Entomologen Willi Hennig ( S .171) in Deutschland formalisiert. Für die Rekonstruktion der verwandtschaftlichen Beziehungen werden ausschließlich homologe Merkmale verwendet, wobei die evolutionären Neuheiten (Apomorphien) im Vordergrund der Analyse stehen. Die phylogenetische Systematik sucht konsequent nach Schwestergruppen, denn die Verwandtschaft zweier Arten beruht darauf, dass diese einen gemeinsamen Vorfahren besitzen (Stammart). Systematiker dieser Schule („Kladis-
ten“) berücksichtigen die Kladogenese (also nicht die Anagenese) und interessieren sich verstärkt für den Verlauf der Stammbaumverzweigungen. Die Rekonstruktion der Phylogenese bedeutet die Rekonstruktion der allmählichen Abtrennung der Äste (Linien, Kladen). Die graphische Darstellung des Stammbaums wird als Kladogramm bezeichnet. Paraphyletische Gruppierungen werden nicht zugelassen. Aufgrund der Kenntnis der Kladogenese können wir Monophyla schlüssig begründen. Die Phänetik (= numerische Taxonomie) bildet aufgrund von Ähnlichkeiten in bestimmten Merkmalen ein hierarchisch angeordnetes System einzelner Arten unabhängig von der tatsächlichen Verwandtschaft. Die vieldimensionale statistische Methode der sogenannten Clusteranalyse ermöglicht es, aufgrund der Ähnlichkeit (auch unter Verwendung analoger Merkmale) einzelner Objekte überlappende oder vollkommen getrennte Cluster (= Gruppen) zu bilden. Der Abstand zwischen den Clustern oder der Anteil der Überlappung ist ein Maß der Ähnlichkeit zwischen den analysierten Objekten. Die graphische Darstellung wird als Phänogramm bezeichnet. Diese Methode wurde erst durch leistungsstarke Rechner in der Biologie praktisch anwendbar, da große Datenmengen verarbeitet werden müssen. Verschiedene Formeln zur Berechnung der Ähnlichkeiten und verschiedene Methoden der Gruppierung (Clusterbildung) liefern verschiedene Phänogramme, obwohl sie auf denselben Merkmalen beruhen. Das grundsätzliche Problem der Phänetik liegt darin, dass man nicht entscheiden kann, welches der so entstandenen Phänogramme das beste ist ( Box 3.8). Die Methode kann zur Bildung von polyphyletischen Taxa führen. Trotzdem hat die Entfaltung der Phänetik in der systematischen Biologie zu wesentlichen Änderungen geführt. Der Einsatz von Computerprogrammen wirkte stimulierend und findet seitdem auch in den anderen Schulen Anklang.
3.6 Phänetik
mit der Grunddifferenzierung der Säugetiere einherging. Das Problem ist, ob wir erkennen, welche es sind, noch bevor wir die zugehörige phylogenetische Analyse durchführen. Die Revolution in der Systematik beruht auf einer Grundskepsis: Nein, a priori, vor Durchführung der Analyse, können wir die „guten Merkmale“ nicht erkennen. Wir müssen also alle verfügbaren Merkmale als potenziell gleichwertige Zeugen der Phylogenese analysieren. Damit wurde die numerische Taxonomie oder (genauer) die Phänetik geboren ( Box 3.6).
167
Da wir „phylogenetisch relevante Merkmale“ a priori nicht erkennen können, müssen wir alle verfügbaren Merkmale in die phylogenetische Analyse einbeziehen.
3.6 Phänetik Stellen wir uns vor, wir wollten die phylogenetischen Beziehungen zwischen Taube, Strauß, Krokodil, Eidechse und Hund rekonstruieren. Zunächst müssen wir einen Komplex von Merkmalen bilden, mit dem wir arbeiten werden, und nehmen wir an, uns sei nichts Besseres eingefallen, als die Zahl der Beine, Warmoder Kaltblütigkeit, Schädelform (entweder „synapsid“ oder „diapsid“, je nach Bau der Schläfenregion), die Körperoberfläche und das Brutpflegeverhalten als Kriterien zu berücksichtigen. Daraus entsteht folgende Tabelle: Taube
Strauß
Krokodil
Eidechse
Körperoberfläche
Federn
Federn
Schuppen
Schuppen
Haare
Körpertemperatur
warmblütig
warmblütig
kaltblütig
kaltblütig
warmblütig
Zahl der Beine
2
2
4
4
4
Schädelform
diapsid
diapsid
diapsid
diapsid
synapsid
ja
ja
ja
nein
ja
Brutpflege
Hund
Es ist offensichtlich, dass sich einige Arten ähnlicher sind als andere: Bei Strauß und Taube ist die Ähnlichkeit z. B. sehr groß, Eidechse und Krokodil unterscheiden sich nur in einem Merkmal, während Eidechse und Hund nur eines von fünf Merkmalen teilen. Die numerische Taxonomie entstand aus der Entscheidung, diese Ähnlichkeiten zu quantifizieren; z. B. kann man ausrechnen, wie viel Prozent der Merkmale welches Artenpaar teilt (wir nehmen die Zahl der Merkmale, die das verglichene Paar gemeinsam hat, dividieren sie durch die Gesamtzahl der Merkmale und multiplizieren mit 100, um das Dezimalkomma loszuwerden). Somit erhalten wir diese Tabelle: Taube
Strauß
Krokodil
Eidechse
Hund
Taube
100
100
40
20
40
Strauß
100
100
40
20
40
Krokodil
40
40
100
80
40
Eidechse
20
20
80
100
20
Hund
40
40
40
20
100
Um phylogenetische Beziehungen zwischen mehreren Organismen aufgrund einiger Merkmale zu analysieren, erstellen wir eine Tabelle und quantifizieren die Ähnlichkeiten zwischen den Artenpaaren.
168
3 Phylogenese
Bevor wir weitergehen und uns anschauen, was man mit solch einer Tabelle der Ähnlichkeiten machen kann, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass die Merkmalsformulierungen in dieser Tabelle nicht „natürlicherweise“ vorgegeben sind und dass dieselbe Information auch anders kodiert werden kann. So ließe sich z. B. das Merkmal „Körperoberfläche“ auf die drei Merkmale „Federn“, „Schuppen“ und „Haare“ aufteilen: Taube Federn Schuppen Haare Körpertemperatur Zahl der Beine Schädelform Brutpflege
Sind sich zwei Arten dadurch ähnlich, dass sie bestimmte Merkmale haben oder dass sie sie nicht haben?
Beobachtete Eigenschaften von Organismen lassen sich auf verschiedene Weise in Merkmale kodieren. „Merkmale“ an sich gibt es nicht, sie sind gedankliche Konstrukte.
Strauß
Krokodil
Eidechse
Hund
ja
ja
nein
nein
nein
nein
nein
ja
ja
nein
nein
nein
ja
nein
nein
warmblütig
warmblütig
kaltblütig
kaltblütig
warmblütig
2
2
4
4
4
diapsid
diapsid
diapsid
diapsid
synapsid
ja
ja
ja
nein
ja
Wir bekommen nun nicht nur etwas andere prozentuale Ähnlichkeitswerte, sondern vor allem müssen wir uns nunmehr entscheiden, ob sich zwei Arten auch dadurch ähnlich sind, dass sie etwas nicht haben. Krokodil und Eidechse sind sich zu 57 Prozent ähnlich, wenn wir die negativen Merkmale („keine Haare“) unberücksichtigt lassen, aber zu 86 Prozehnt, wenn wir sie anrechnen. Auch wenn wir wissen, dass das Merkmal „keine Haare“ eigentlich bedeutet, dass „Schuppen vorhanden“ sind, tendieren wir oft dazu, negative Ähnlichkeiten auch mitzuzählen. Dadurch zählen wir die Haare jedoch zweimal und wir müssen uns fragen, ob wir das wollen. Und wenn wir uns um die komplette Phylogenese aller Organismen bemühen, werden auch der Cholera-Erreger, die Tulpe und der Steinpilz das Merkmal „keine Haare“ ausweisen. Sind sich diese Arten tatsächlich dadurch ähnlich, dass sie unbehaart sind? Es gibt viele Möglichkeiten, wie man beobachtete Eigenschaften der Organismen in Merkmale kodieren kann. „Merkmale“ an sich gibt es nicht, „Merkmale“ sind gedankliche Konstrukte. Aber machen wir erst einmal weiter. Aus der Tabelle der Ähnlichkeiten erhalten wir einen baumartigen Graphen, ein sogenanntes Phänogramm: Wenn wir die Tabelle der Ähnlichkeiten betrachten, sehen wir, dass sich Taube und Strauß am nächsten stehen (100 Prozent); wir verbinden sie also und bilden einen Cluster dieser zwei Arten („Vögel“). Der nächste Cluster („Reptilien“) wird von Krokodil und Eidechse gebildet (80 Prozent). Wie geht es weiter? Wir können Vögel mit Reptilien verbinden und den Hund außen vor lassen oder alternativ die Vögel oder die Reptilien mit dem Hund verbinden. Sagen wir, dass uns die durchschnittlichen Entfernungen zwischen den Clustern, also die Entfernungen zwischen den „Zentren“ dieser Cluster, interessieren. Dann gilt, dass sich Hund und Vögel zu 40 Prozent und Hund und Reptilien zu 30 Prozent (Mittelwert von 40 Prozent Ähnlichkeit zwischen Hund und Krokodil und 20 Prozent Ähnlichkeit zwischen Hund und Eidechse) ähnlich sind, während Vögel und
3.6 Phänetik
Reptilien im Durchschnitt 30 Prozent Ähnlichkeit aufweisen. Somit ergibt sich die Verbindung von Vögeln und Hund (wodurch der Cluster „Warmblüter“ entsteht), während die Reptilien den zweiten Grundcluster, also die „Kaltblüter“ bilden. Fertig ist das Phänogramm. Wenn wir glauben, dass die verwendeten Merkmale durch die Evolution entstanden sind und die gesamte Information über die bisherige Phylogenese einschließen, können wir auch glauben, dass wir ein Schema über die verwandtschaftlichen Beziehungen erhalten haben. Aber Vorsicht! Wir haben schon auf das Problem bei der Ähnlichkeitsberechnung aufmerksam gemacht: Es gibt viele Formeln, mit denen man Ähnlichkeiten berechnen kann, die aber zu unterschiedlichen Ergebnissen und Ergebnisphänogrammen führen werden. Darüber hinaus haben wir uns bei der Konstruktion des Phänogramms entschlossen, die Cluster aufgrund der durchschnittlichen Ähnlichkeit zu gruppieren. Eine andere Möglichkeit wäre, dass wir die Cluster aufgrund der größtmöglichen Ähnlichkeit eines beliebigen Artenpaares aus jeweils zwei Clustern gruppieren. In unserem Beispiel beträgt die maximale Ähnlichkeit des Hundes und eines der beiden Vögel 40 Prozent und die des Hundes und eines der beiden Reptilien ebenfalls. Weil auch die maximale Ähnlichkeit eines jeden Vogels und eines jeden Reptils 40 Prozent ist, sind wir nicht fähig, zu unterscheiden, ob sich Vögel und Reptilien, Vögel und Hund oder Reptilien und Hund ähnlicher sind. Die Gruppe „Warmblüter“, die zuvor herauskam, fehlt hier plötzlich, sodass wir zu einem anderen Phänogramm kommen als bei Gruppierung nach durchschnittlichen Ähnlichkeiten, ohne dass sich etwas an unserem Wissen über Hunde, Tauben und Eidechsen geändert hätte. Der Kern des Problems wird anhand des Schemas in Abbildung 3.9 ersichtlich. Es besteht kein Zweifel, dass die Arten 1 und 2 ein homogenes Paar A darstellen, genauso wie die Arten 4 und 5 ein homogenes Paar B bilden. Strittig ist die Art 3, denn sie ist einer Art des Paars A, nämlich der Art 2, ebenso ähnlich wie dem Durchschnitt des Paars B. Wenn wir ein Phänogramm nach dem Kriterium der maximalen Ähnlichkeit erstellen, wird die Art 3 dem Paar A zugeschlagen, während sie nach dem Kriterium der durchschnittlichen Ähnlichkeit der Gruppe B näher steht.
169
Wir können die Arten nach der durchschnittlichen Ähnlichkeit oder nach der größtmöglichen Ähnlichkeit gruppieren.
3.9 Erstellung eines Phänogramms nach dem Kriterium der maximalen Ähnlichkeit (Mitte) und nach dem Kriterium der durchschnittlichen Ähnlichkeit (rechts). Die Arten 1 und 2 stellen ein homogenes Paar A und die Arten 4 und 5 ein homogenes Paar B dar. Problematisch ist die systematische Stellung von Art 3: Sie ist der Art 2 von Paar A in dem gleichen Maß ähnlich wie dem Durchschnitt von Paar B. Das nach dem Kriterium der maximalen Ähnlichkeit erstellte Phänogramm ordnet Art 3 dem Paar A zu, während sie nach dem Kriterium der durchschnittlichen Ähnlichkeit bei Gruppe B eingruppiert wird.
170
Verschiedene Formeln zur Berechnung der Ähnlichkeiten und verschiedene Methoden der Gruppierung liefern uns verschiedene Phänogramme. Es ist allerdings schwierig zu entscheiden, welches der so entstandenen Phänogramme besser ist.
Die Phänetik geht davon aus, dass die Geschwindigkeit der Evolution relativ konstant ist.
Die Phänetik fordert Quantifizierung, Objektivität und Wiederholbarkeit.
3 Phylogenese
Verschiedene Formeln zur Berechnung der Ähnlichkeiten und verschiedene Methoden der Gruppierung (Clusterbildung) liefern uns also verschiedene Phänogramme, dabei beruhen sie alle auf denselben Merkmalen. Das grundsätzliche Problem der Phänetik liegt darin, dass man nicht entscheiden kann, welches von den so entstandenen Phänogrammen besser ist. Es gibt keinen Weg, wie man eine „schlechte“ Gruppierung der Cluster nach durchschnittlichen Ähnlichkeiten von einer „guten“ Gruppierung nach den nahestehenden Arten (und umgekehrt) unterscheiden kann. Was der Phänetik fatalerweise fehlt, ist das Kriterium der Richtigkeit. Es gibt hier aber ein weiteres Problem: Was passiert, wenn sich eine Art im Rahmen seiner Klade in überdurchschnittlichem Maße abgesondert hat? Wenn wir die phänetische Methodologie auf die Beziehungen zwischen Beutelratte, Spitzmaus, Igel und Wal anwendeten, würden wir wahrscheinlich feststellen, dass sich der Wal von jedem der analysierten Säugetiere mehr unterscheidet als die anderen drei untereinander. Wir gelangen zum Cluster Beutelratte-Spitzmaus-Igel und den Wal lassen wir außen vor. Allerdings ist der Wal weder ein Nichtsäuger noch ein primitiver Ursäuger. Der Wal ist ein extrem abgewandeltes Säugetier und daher den anderen Säugetieren weniger ähnlich – das bedeutet jedoch nicht, dass er mit den anderen weniger verwandt wäre. In der Tat ist der Wal mit der Spitzmaus und dem Igel näher verwandt als die Beutelratte. Die Phänetik geht von der impliziten Vorstellung aus, dass die Geschwindigkeit der Evolution, also die Größe der Evolutionsänderung pro Zeiteinheit, mehr oder weniger konstant ist. Wenn das so wäre, müsste die große Verschiedenheit zweier Arten ein Beweis für ihre längst vergangene Spaltung oder auch ihre Nichtverwandtschaft sein. Wenn dem nicht so ist – und wir werden sehen, dass es wirklich nicht so ist – kann man aus dem Gesamtgrad der Ähnlichkeit über die phylogenetische Verwandtschaft nichts Eindeutiges ableiten. Trotzdem hat die Entfaltung der Phänetik in der systematischen Biologie zu wesentlichen Änderungen geführt: Heute werden wiederholbare Forschungsmethoden und quantitative Ansätze gefordert, „Evolutionsspekulationen“ und Arbeit mit traditionellen Methoden nach „Augenmaß“ dagegen gemieden.
3.7 Kladistik
Willi Hennig formalisierte die methodischen Schritte der Systematik und begründete die Kladistik.
Parallel zu den stürmischen Diskussionen im Anfangsstadium der numerischen Taxonomie entstand in den 50er-Jahren in Deutschland die zweite Quelle der gegenwärtigen Systematik: die „phylogenetische Systematik“ des Entomologen Willi Hennig ( S. 171). Weil alle damaligen Systematiker, einschließlich der Phänetiker, meinten, dass sie „phylogenetische“ Systematik betreiben, entstand für die Forschungsrichtung von Hennig und seinen Nachfolgern – ursprünglich abwertend gemeint – die Bezeichnung „Kladistik“. Damit wollte man ausdrücken, dass die Kladisten nur am Verlauf der Verzweigung des „Lebensbaums“ interessiert seien. Ähnlich wie andere als Beschimpfung gemeinten Bezeichnungen, z. B. „Impressionismus“ („keine echten Bilder, nur flüchtige Impressionen“) oder „Gotik“ („so schrecklich wie von den Goten gebaut“), hat sich
3.7 Kladistik
auch diese etabliert und wurde insbesondere von den Kladisten selbst stolz akzeptiert, da sie ja tatsächlich am Verlauf der Verzweigungen des Lebensbaums interessiert sind. Hennigs Ansatz zur Systematik war eigentlich nicht neu. Er hat lediglich die Schritte, die jeder phylogenetisch orientierte Systematiker bereits einhielt, umfassend, klar und explizit formalisiert. Nicht jede Ähnlichkeit hat einen phylogenetischen Sinn: Es muss sich um eine homologe Ähnlichkeit und eine Neuheit handeln, um eine abgeleitete und nicht um eine „primitive“ (im Sinne einer ursprünglichen) Ähnlichkeit. Während alle Wissenschaftler die Forderung nach Homologie befürworteten und noch heute befürworten, wirkt der eigentliche Kern der Hennig-Schule, nämlich die Forderung, dass die Organismen nur aufgrund gemeinsamer Evolutionsneuheiten klassifiziert werden sollten, auf den ersten Blick absurd. Die Organismen werden in dem Fall nicht aufgrund aller Eigenschaften, die sie besitzen, bewertet, sondern nur aufgrund von Merkmalen, die eines von vielen möglichen Kriterien erfüllen. Aber warum? Die Rekonstruktion der Phylogenese bedeutet eigentlich die Rekonstruktion der allmählichen Abtrennung der Kladen. Phylogenetische Verwandtschaft zweier Arten beruht darauf, dass die Arten einen hypothetischen gemeinsamen Vorfahren besitzen. Wenn wir annehmen, dass das gegenwärtige Leben auf der Erde nur einmal entstanden ist und dass alle Organismen, die wir kennen, einen gemeinsamen Ahnen haben (und wir verfügen über gute biochemische, genetische und cytologische Gründe, dies wirklich zu glauben), dann haben auch zwei beliebige Arten einen gemeinsamen Vorfahren wie beispielsweise Mensch und Schimpanse oder Mensch und Tulpe. Der Unterschied liegt allerdings in der „Unmittelbarkeit“ dieser Vorfahren: Der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse war ein vor etwa sechs Millionen Jahren in Afrika lebender Menschenaffe (wir haben zwar immer noch nicht gesagt, woher wir das wissen, aber das holen wir bald nach), der gemeinsame Ahne von Mensch und Tulpe
171
Phylogenetisch sinnvoll sind nur evolutionäre Neuheiten, d. h. abgeleitete Merkmale, die gleichzeitig auch Homologien darstellen.
Mit der Rekonstruktion der allmählichen Abtrennung der Kladen rekonstruieren wir die Phylogenese.
Beliebige Arten haben stets einen gemeinsamen Vorfahren. Der Unterschied liegt aber in der „Unmittelbarkeit“ dieser Vorfahren.
Emil Hans Willi Hennig Lebensdaten: 1913–1976 Nationalität: deutsch Leistung: Zoologe, Begründer der phylogenetischen Systematik (Kladistik). H. war ein renommierter Entomologe (Spezialist für Zweiflügler, Diptera) und vielseitiger Zoologe. Er war vor allem in Berlin, Stuttgart und Tübingen tätig. Mit seinen Arbeiten zur Evolution und Systematik revolutionierte er die Systematik. Er entwickelte eine streng phylogenetische Systematik sowie die dafür anzuwendende objektive Methodik. Damit ersetzte er eine Taxonomie, die maßgeblich auf Ähnlichkeiten und Formverwandtschaften beruhte, durch eine Systematik, die der genealogischen, also der evolutionären Verwandtschaft folgte. Er prägte die Begriffe „apomorph“ und „plesiomorph“. Lange Zeit war H. nur den deutschen Dipterologen bekannt, doch mit der Publikation von Phylogenetic Systematics (1966) gelang ihm der Durchbruch. Obwohl er oft kritisiert wurde (u. a. von E. Mayr), sind seine Auffassung und Methode der Systematik heute weitgehend akzeptiert, und es gibt keine ernstzunehmende Alternative dazu. H. verfasste einflussreiche Lehrbücher wie das Taschenbuch der Speziellen Zoologie (1972), das in mehreren Auflagen erschien.
172
Wird eine Tiergruppe durch einen Merkmalskomplex definiert, weist ihn auch der hypothetische gemeinsame Vorfahre auf.
Abgeleitete Merkmale, Evolutionsneuheiten, nennen wir Apomorphien.
3 Phylogenese
war ein Einzeller aus dem Zeitalter vor 850 Millionen Jahren. Der Vorfahre von Schimpanse und Mensch unterschied sich von seinen Nachkommen kaum, während der Vorfahre des Menschen und der Tulpe keinem der beiden ähnelte; diese Ahnen sind von ihren Nachkommen unterschiedlich weit entfernt. Der gemeinsame Vorfahre von Schimpanse und Mensch ist darüber hinaus auch noch der Vorfahre des Bonobos und einiger weniger ausgestorbener Hominiden, während der Vorfahre des Menschen und der Tulpe gleichzeitig der Ahne aller Tiere, aller Pflanzen, aller Pilze, und eines Großteils der (wenn auch nicht aller) einfachen eukaryotischen Organismen ist, die wir gewöhnlich „Einzeller“, „Algen“ oder „Schimmel“ nennen. Unterschiedliche Vorfahren sind phylogenetisch unterschiedlich weit entfernt, und die Phylogenese führt zu einer Hierarchie der Vorfahren, wobei nach der Zeit, in der sie gelebt haben, und auch nach ihren jeweiligen Nachkommen sortiert wird. Während wir zumindest hoffen können, dass wir den gemeinsamen Vorfahren von Schimpanse und Mensch als Fossil finden werden, ist der gemeinsame Vorfahre des Menschen und der Tulpe prinzipiell unauffindbar. Ein mikroskopisch kleiner, einzelliger Organismus wird wohl kaum fossilisieren, und selbst wenn dies zufällig geschähe, hätten wir keine Chance, an einem solchen Fossil cytologische oder biochemische Details zu entdecken, durch die es als gemeinsamer Vorfahre identifiziert werden könnte. Sicherlich ist dem Gestein, in dem sich ein solches Fossil befinden könnte, in den vergangenen 850 Millionen Jahren Schlimmes wiederfahren. Dies alles betrifft jedoch die weitaus meisten Vorfahren, deren Platz in der Hierarchie wir suchen. Obwohl wir auf der Suche nach der „Hierarchie der Vorfahren“ sind, suchen wir de facto etwas anderes. Schimpansen, Bonobos und Menschen (also die Gruppe Hominini) haben, wie wir bereits wissen, ein großes Gehirn, einen langen Penis, die Bipedie und die Fähigkeit Werkzeuge herzustellen. Nehmen wir an, dass Menschen, Schimpansen und Bonobos tatsächlich einen gemeinsamen Vorfahren hatten, und weil alle Nachkommen dieses Vorfahren die genannten Eigenschaften teilen, gibt es keinen Zweifel daran, dass sie auch der Ahne selbst besessen hat. Wir wissen es, ohne dass wir ihn irgendwo ausgraben müssten: Wenn eine Tiergruppe in der phylogenetischen Analyse durch einen Merkmalskomplex definiert wird, dann weist auch der hypothetische gemeinsame Vorfahre diesen Merkmalskomplex auf. Wir suchen also die „Hierarchie der gemeinsamen Merkmale“, aus der beispielsweise hervorgeht, welche Merkmale nur von den Primaten geteilt werden im Gegensatz zu denen, die alle Säugetiere gemein haben. Den gemeinsamen Merkmalen aller Primaten stellen wir wiederum solche gegenüber, die nur von den Hominoiden geteilt werden, und diesen wiederum solche, die nur die „großen Menschenaffen“ besitzen. Deshalb interessieren uns nur abgeleitete Merkmale, d. h. Evolutionsneuheiten, sogenannte Apomorphien ( Box 3.7). Natürlich teilen Schimpansen, Bonobos und Menschen auch den genetischen Code, das Skelett oder das binokulare Sehen, aber diese Eigenschaften charakterisieren nicht nur die Gruppe Hominini. Das soll nicht heißen, dass solche Merkmale uninteressant sind, sie sind nur auf einer anderen hierarchischen Ebene von Interesse. Jedes Merkmal war irgendwann neu, jedes Merkmal ist also eine Apomorphie. Die Frage ist nur, wovon, also von welcher Klade, es
173
3.7 Kladistik
eine Apomorphie ist: Der genetische Code ist eine Apomorphie aller Organismen, das Skelett eine Apomorphie aller Wirbeltiere und das binokulare Sehen eine Apomorphie der Primaten. Das Gegenstück zu den apomorphen Merkmalen sind primitive, ursprüngliche, sogenannte plesiomorphe Merkmale. Das Wort „primitiv“ hat in der Phylogenetik eine andere Bedeutung als im üblichen Leben. Es ist kein Schimpfwort, sondern eine ganz neutrale Bezeichnung für einen Organismus, der nur wenige abgeleitete Eigenschaften, also wenige Evolutionsneuheiten besitzt. Wir sprechen hier auch von ursprünglichen Merkmalen. Ein Organismus ist also umso primitiver, je mehr er seinen Vorfahren ähnelt. Vergessen wir jedoch nicht, dass auch die sekundäre „Rückkehr“ zum primitiven Zustand eine Apomorphie ist: Die Zähne sind eine Apomorphie aller Wirbeltiere, weil andere Tiere zahnlos sind; aber die sekundäre Zahnlosigkeit ist eine Apomorphie der Bartwale. Ein Mitmensch, der sich nicht wäscht und nie die Oper besucht, wäre in diesem Sinne nur dann primitiv, wenn keiner seiner Vorfahren sich jemals gewaschen und eine Oper besucht hätte. Ein hypothetischer Vorfahre von Schimpansen, Bonobos und Menschen ist also nur durch seine Evolutionsneuheiten, die ihn von den übrigen Hominoiden abgrenzen, klar und eindeutig charakterisiert. Die von uns gesuchte Hierarchie der Vorfahren ist also die Hierarchie der Apomorphien und das, was wir phylogenetische Hypothese nennen, ist eigentlich die Hypothese der gemeinsamen Apomorphien verschiedener Arten. Das Problem liegt aber darin, dass sich verschiedene Apomorphien nicht so schön konfliktlos verhalten, wie es uns die Hierarchie „genetischer Code Skelett binokulares Sehen“ zu suggerieren scheint. Binokular sehen z. B. auch die Eulen. Wenn wir sie bei den Primaten einordnen möchten, müssten wir alle ihre Vogelmerkmale als nichthomologe Merkmale verwerfen. Entscheiden wir uns dafür, die Eulen für Vögel zu halten, verlieren wir allerdings das binokulare Sehen als evolutionär
Ursprüngliche, primitive Merkmale nennen wir Plesiomorphien.
Die von uns gesuchte Hierarchie der Vorfahren ist die Hierarchie der Apomorphien.
| 3.7 |
Apomorphien und Plesiomorphien Apomorphien bezeichnen abgeleitete, „moderne“ Merkmale oder evolutionäre Neuheiten, die im Vergleich zur Schwestergruppe der untersuchten phylogenetischen Linie neu erworben wurden. Eine Autapomorphie ist eine evolutionäre Neuheit, die nur bei einer Art oder im Grundmuster eines terminalen Taxons vorkommt und dieses damit von anderen unterscheidet. Synapomorphien sind apomorphe Merkmale, die mehreren Arten auf Ebene der Schwestertaxa gemein sind. Gegenstück zu den apomorphen Merkmalen bilden die Plesiomorphien (ursprüngliche, konservative, primitive Merkmale), die bereits früh in der Evolution entstanden sind und sich gegenüber dem
Merkmalszustand der untersuchten Stammart nicht verändert haben. Das Wort „primitiv“ ist im phylogenetischen Kontext nicht abwertend gemeint, sondern wird im Sinn von „ursprünglich“ gebraucht: Ein ursprünglicher Organismus weist nur wenige abgeleitete Eigenschaften, also wenige evolutionäre Neuheiten auf und ist umso primitiver, je mehr er seinen Vorfahren ähnelt. Vergessen wir jedoch nicht, dass auch die sekundäre „Rückkehr“ zum primitiven Zustand eine Apomorphie ist: Die Zähne sind eine Apomorphie aller Wirbeltiere, weil die „Nichtwirbeltiere“ zahnlos sind; aber sekundäre Zahnlosigkeit ist z. B. eine Apomorphie der Bartwale und Monotremata.
174
3 Phylogenese
bedeutende Homologie der Eulen und Affen. Die Eule wird durch ihre verschiedenen Apomorphien in verschiedene Richtungen gezerrt: Hier zeigt sich der Konflikt der Merkmale.
3.8 Wie erstellt man ein Kladogramm? oder Der Merkmalskonflikt
Wir können a priori nicht erkennen, welche Merkmale homolog sind, und müssen jede Ähnlichkeit zunächst als Homologie ansehen.
Homologie ist das Ergebnis der phylogenetischen Analyse. Die Methode der maximalen Sparsamkeit geht davon aus, dass alle gemeinsamen Merkmale homolog sind und führt zur Konstruktion der kürzestmöglichen Verbindung zwischen den Arten in einem Kladogramm.
Das vielleicht wichtigste Erbe von Willi Hennig ist die etwas mysteriös klingende „Hennig’sche Hilfsregel“. Sie besagt, dass wir a priori nicht erkennen können, was eine Homologie ist und was nicht, und dass wir deswegen mit jeder Ähnlichkeit vorläufig so arbeiten müssen, als sei sie eine Homologie. In diesem Punkt stimmt die Kladistik mit der Phänetik überein, aber im Unterschied zur Phänetik berechnet die Kladistik keine Indizes der Gesamtähnlichkeiten. Wenn wir eine Schwalbe, eine Fledermaus und eine Katze klassifizieren, betrachten wir zunächst alle Ähnlichkeiten beliebiger Artenpaare als potenziell homolog. Das bedeutet nicht, dass wir das wirklich glauben sollen, doch ist es ein unerlässlicher methodologischer Ansatz. Sind die Flügel der Schwalbe und der Fledermaus nun also homolog und sollen wir demnach die beiden Arten in eine Gruppe einordnen und die Katze außen vor lassen? Die Antwort lautet ja, wenn andere Merkmale damit nicht im Konflikt stehen. Doch genau das tun sie. Die Katze und die Fledermaus weisen mehr allgemeine Apomorphien auf (und sind daher Säugetiere) als Schwalbe und Fledermaus (die daher keine „Flieger“-Klasse bilden). Wie üblich gewinnt die Mehrheit – Milchdrüsen, Fell und kernlose Erythrocyten haben die zu Flügeln umgewandelten Vorderextremitäten überstimmt. Daher sind Milchdrüsen, Fell und kernlose Erythrocyten homolog, die Flügel aber nicht. Dass die Nichthomologie des Vogel- und des Fledermausflügels auf den ersten Blick offensichtlich ist, weil Vögel und Fledermäuse ganz unterschiedlich fliegen, wollen wir jetzt nicht weiter betrachten, da es uns nur um ein illustratives Beispiel geht. (Wir möchten aber noch anfügen, dass Vogel- und Fledermausflügel zwar als Vorderextremitäten homolog sind, nicht jedoch als Flugorgane.) Homolog sind also nur die Merkmale, die sich in der Evolution gemeinsam verändern, also die Merkmale, die eine Koalition bildeten und sich dadurch von anderen Merkmalen absetzten, die unfähig waren, eine Koalition zu bilden, und lieber allein spielten. Homologie ist das Ergebnis der phylogenetischen Analyse. Natürlich nutzt niemand die „Hennig’sche Hilfsregel“ in dieser handwerklichen Form: Gerade weil es sich um eine quantitative Analyse der Apomorphienzahl handelt, entstand die „numerische Kladistik“, die heute als Methode der maximalen Sparsamkeit (maximum parsimony) bekannt ist ( Box 3.8). Die Methode zur Erstellung eines Baumgraphen oder Kladogramms verläuft in der Kladistik ganz anders als in der Phänetik. Dort haben wir die Arten nach der Gesamtähnlichkeit gruppiert. Die Methode der maximalen Sparsamkeit, die von der A-priori-Voraussetzung ausgeht, dass alle gemeinsamen Merkmale
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3.8 Wie erstellt man ein Kladogramm? oder Der Merkmalskonflikt
homolog sind, führt zur Konstruktion der kürzestmöglichen Verbindung zwischen den Arten. Das Kladogramm ist nicht die Gruppierung nach der Gesamtähnlichkeit, bei der die ähnlichsten Arten am nächsten beieinander stünden, sondern es resultiert aus der sparsamsten Hypothese (d. h. aus einer Hypothese, die mit den wenigsten Voraussetzungen auskommt) zur Verbreitung einzelner Apomorphien, also der sparsamsten Lösung des Merkmalskonflikts. Wenn wir die einfachste Lösung suchen, heißt das nicht, dass wir uns damit zu einer allzu einfachen Weltauffassung bekennen würden oder dass wir behaupteten, die Welt sei einfach. Kehren wir nochmals zu dem Beispiel von Schwalbe, Katze und Fledermaus zurück. Wir haben vier apomorphe Merkmale, von denen Katze und Fledermaus drei teilen, während nur eines Fledermaus und Schwalbe verbindet. Schwalbe Flügel
Fledermaus
Katze
ja
ja
nein
kernlose Erythrocyten
nein
ja
ja
Milchdrüsen
nein
ja
ja
Haarkleid
nein
ja
ja
Das Kladogramm, das die Flieger miteinander verbindet, ist nicht notwendigerweise weniger „wahr“ als das die Säugetiere verbindende Kladogramm. Es steht nur stärker im Widerspruch zu dem, was wir beobachten. Allerdings stehen beide Kladogramme in gewisser Hinsicht zur Realität im Widerspruch, denn das Beobachtete ist an sich ein innerer Konflikt. Einige Eigenschaften müssen als phylogenetisch unbedeutend, also nichthomolog klassifiziert werden. Und gerade diese Eigenschaften müssen wir irgendwie erklären und uns dazu irgendein Evolutionsmärchen ausdenken (z. B. dass Schwalbe und Fledermaus die Flügel als voneinander unabhängige Anpassungen an das Fliegen entwickelt haben, was in beiden Fällen Selektionsvorteile brachte, weil die Fluginsekten eine bedeutende und durch die nichtfliegenden Wirbeltiere wenig ausgenutzte Energiequelle darstellen – oder noch irgendwie komplizierter). Die Wahl des kürzesten Kladogramms minimalisiert allerdings das Erfordernis, solche Geschichten zu erfinden, und lässt sich daher leichter verfechten. Wenn ein Vorfahre ein Merkmal A hat, und sein Nachkomme auch, kommt es uns vernünftig vor anzunehmen, dass kein Evolutionsereignis stattgefunden hat, obwohl natürlich auch die Änderungen A B A (oder vielleicht A B C D A) stattgefunden haben könnten. Analog dazu nehmen wir die Evolutionsänderung A B an, wenn der Vorfahre das Merkmal A hat und der Nachkomme das Merkmal B, und nicht fünf oder 50 Zwischenschritte, obwohl wir das natürlich nicht wissen. Wie wir Abbildung 3.10 entnehmen können, verlangt das die Katze und die Fledermaus verbindende Kladogramm fünf Änderungen (Flügel sind nicht homolog), das die Schwalbe und die Fledermaus verbindende Kladogramm verlangt dagegen sieben Evolutionsneuheiten (Flügel sind homolog, aber die anderen Merkmale nicht). Wenn wir dieses längere Kladogramm wählen, müssen wir erklären, warum wir die Dinge so kompliziert interpretieren wollen, wenn wir es auch einfacher machen könnten.
Beim Merkmalskonflikt kommt die Frage auf, welche Merkmale „wichtiger“ sind.
Die einfachste, sparsamste Lösung muss nicht unbedingt die richtige sein, doch lässt sich das kürzeste Kladogramm meist am einfachsten erklären.
176
3 Phylogenese
| 3.8 |
Quantitative phylogenetische Analyse Ziel der quantitativen phylogenetischen Analyse ist die möglichst genaue Bestimmung der Verwandtschaftsgrade zwischen biologischen Objekten, also zwischen biologischen Arten, Genen etc. Mithilfe der phylogenetischen Analyse können vielfältige biologische Fragen beantwortet werden, z. B. nach der zeitlichen Abfolge evolutionärer Ereignisse oder nach der Funktion von Genen. Grundlage für eine aussagekräftige phylogenetische Analyse ist die tatsächliche Verwandtschaft der untersuchten Objekte. Da die Verwandtschaft nicht immer zweifelsfrei gegeben ist, bedient man sich ersatzweise eines geeigneten Ähnlichkeitsmaßes, wobei relativ ähnliche Objekte als verwandt gelten. Wie bestimmt man aber die Ähnlichkeit von biologischen Objekten? Eine wichtige Klasse von Objekten sind Sequenzen von Nucleotiden in Genomen oder von Aminosäuren in Proteinen. Die Ähnlichkeit eines Ensembles solcher Sequenzen wird üblicherweise über ein multiples Sequenzalignment bestimmt. Vereinfacht ausgedrückt, geht man dabei so vor, dass Sequenzen zeilenweise übereinander geschrieben werden, d. h. eine Zeile für jede Sequenz, und man dann die Spalten zählt, in denen alle Sequenzen das gleiche Nucleotid oder die gleiche Aminosäure besitzen. Je größer die Anzahl dieser übereinstimmenden Spalten im Verhältnis zur gesamten Sequenzlänge, umso ähnlicher ist sich die Gruppe der Sequenzen. Auf der Grundlage des multiplen Sequenzalignments wird im zweiten Schritt der quantitativen phylogenetischen Analyse ein Verfahren zur Ableitung der Phylogenie angewendet, also eines Baums, in dem die gegebenen Sequenzen die Blätter sind und die Länge und Verknüpfung der Zweige zwischen den Blättern die Verwandtschaft zwischen den Sequenzen darstellen. Angesichts der großen Bedeutung phylogenetischer Analysen und der Komplexität des Problems ist es nicht verwunderlich, dass mehrere Verfahren mit verschiedenen Vor- und Nachteilen entwickelt wurden. Allen Verfahren gemeinsam ist, dass sie ein schwieriges Optimierungsproblem lösen: Wie sieht der Baum aus, der die Ähnlichkeiten im multiplen Sequenzalignment in optimaler Weise erklärt? Ein Beispiel soll die Komplexität des Problems illustrieren: Wenn wir die Aufgabe haben, einen optimalen Baum für nur zehn verwandte Sequenzen zu finden, so müssen wir den besten unter ca. zwei Millionen theoretisch möglichen Bäumen finden, falls wir uns auf Bäume beschränken, die nur Astgabeln
besitzen, bei denen genau drei Zweige zusammenkommen; dabei wurden nicht einmal Zweiglängen optimiert, sondern nur die Topologie des Baumes, also das Verknüpfungsmuster der Zweige und Blätter. Bei 20 Sequenzen steigt die Anzahl der Topologien bereits auf ca. 2 x 1020! Welche Verfahren gibt es für die Berechnung von Phylogenien? Aus der relativ großen Zahl verfügbarer Methoden wollen wir zwei der gebräuchlichsten Verfahren skizzieren: Neighbourjoining (abgekürzt NJ; „Nachbarn verknüpfen“) und Maximum-Likelihood (abgekürzt ML; „größte Wahrscheinlichkeit“). Das NJ produziert für eine gegebene Sequenzmenge nur einen Baum, ist schneller, ungenauer und kann größere Sequenzmengen verarbeiten als ML. ML erstellt viele, unterschiedlich wahrscheinliche Bäume und liefert damit eine andere Qualität, stößt aber mit wachsender Sequenzmenge schneller an die Grenzen der Rechenleistung. Das Neighbour-joining beruht auf dem Prinzip der minimalen Evolution und sucht den kleinsten Baum, der die Unterschiede erklärt, die im multiplen Sequenzalignment sichtbar werden. Mit dem „kleinsten“ Baum ist hier der Baum gemeint, für den die Summe der Zweiglängen minimal ist, wobei die Zweiglängen die Bedingung erfüllen müssen, dass die Summe der Zweiglängen zwischen zwei Blättern der Distanz der beiden Blätter entspricht. Die Distanz ergibt sich aus dem multiplen Sequenzalignment: Zwei gleiche Sequenzen haben die Distanz null, und je mehr Unterschiede zwischen zwei Sequenzen vorliegen, umso größer ist ihre Distanz. Das NJ-Verfahren wurde nach seinem Algorithmus benannt, in dem schrittweise jeweils benachbarte Sequenzen, also Sequenzen mit minimaler Distanz, zu einem gemeinsamen neuen Pseudoblatt des Baums vereinigt werden. Dieses Blatt übernimmt später im vollständigen Baum die Rolle der Verzweigung zwischen den beiden Sequenzen. Bei jedem dieser Schritte wird die Länge des Zweigs zum neu entstandenen Blatt so bestimmt, dass die erwähnte Distanz-Bedingung erfüllt ist. Der algorithmische Schritt wird so lange wiederholt, bis alle Zweiglängen im Baum und damit der gesamte Baum bestimmt ist. Die Maximum-Likelihood-Methode bestimmt für das gegebene Ensemble von Sequenzen den wahrscheinlichsten Baum unter der Annahme eines bestimmten Modells der Evolution. Häufig wird angenommen, dass alle Sequenzpositionen und
3.8 Wie erstellt man ein Kladogramm? oder Der Merkmalskonflikt
alle Zweige des Baums unabhängig voneinander evolvieren. Weiter wird zugelassen, dass die Evolution in verschiedenen Zweigen unterschiedlich schnell voranschreiten kann. Schließlich werden für alle möglichen Mutationen gewisse Wahrscheinlichkeiten vorausgesetzt, z. B. eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Mutation der Aminosäure Alanin in die Aminosäure Glycin etc. Diese Wahrscheinlichkeiten wurden durch Beobachtung solcher Mutationen in vielen verwandten Sequenzen gewonnen. Im ML-Verfahren werden implizit oder explizit viele mögliche Bäume erstellt, mit den genannten Parametern deren Wahrscheinlichkeiten berechnet und am Ende die wahrscheinlichsten Bäume ausgegeben. Die meisten Verfahren liefern einen Baum ohne Wurzel (unrooted tree), er enthält also keinen hypothetischen gemeinsamen Vorfahren aller Blätter und zeigt damit auch keine Evolutionsrichtung zwischen diesem Vorfahren und den Blättern. Der gebräuchlichste Weg, eine Wurzel (root) einzufügen, ist die Einbeziehung einer zweiten Gruppe (outgroup, Außengruppe) von Sequenzen, die untereinander enger verwandt sind, aber weniger eng mit der uns interessierenden Gruppe von Sequenzen. Nach der Berechnung des ungewurzelten Baums wird die Wurzel zwischen den beiden Unterbäumen eingefügt, die die Außengruppe und die uns interessierende Gruppe aufspannen, denn genau zwischen diesen beiden weitläufig verwandten Unterbäumen sollte der gemeinsame Vorfahre aller betrachteten Sequenzen liegen. Schließlich kann man untersuchen, wie robust die berechneten Bäume sind. Würde z. B. das
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Weglassen einer einzelnen Sequenz die ganze Topologie des Baums ändern, oder wäre der Effekt eher lokal begrenzt auf die direkte Verwandtschaft der weggelassenen Sequenz? Sequenzen wegzulassen ist allerdings problematisch, da die Verkleinerung der Datenbasis den Baum nicht zuverlässiger macht. Man könnte auch daran denken, Sequenzen hinzuzunehmen. Dies ist jedoch häufig nicht realisierbar, da es bedeuten kann, neue Sequenzen durch aufwendige Experimente zu gewinnen. Eine Alternative für die Untersuchung der Robustheit ist das bootstrapping, im Deutschen manchmal auch als „MünchhausenMethode“ bezeichnet, da sich die Methode, im übertragenen Sinn, am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Bootstrapping geht davon aus, dass der tatsächlich verfügbare Datensatz von n Sequenzen (oder sonstigen biologischen Objekten) ein repräsentatives Ensemble aus der theoretisch vorhandenen größeren Datenmenge ist. Es wird dann aus dem verfügbaren Datensatz ein neuer Datensatz erzeugt, in dem jeweils n Sequenzen zufällig aus dem verfügbaren Datensatz gezogen werden, wobei jede mehrfach gezogen werden kann. Aus diesem zufälligen Datensatz wird ein neuer Baum berechnet. Das Verfahren wird häufig wiederholt und damit eine große Zahl von Bäumen erzeugt. Je häufiger man in diesem Ensemble Bäume mit einem bestimmten Charakteristikum findet, z. B. einer Verzweigung zwischen zwei bestimmten Sequenzgruppen, umso wahrscheinlicher, also robuster ist dieses Charakteristikum.
3.10 Kladogramme, die die möglichen phylogenetischen Beziehungen zwischen Schwalbe, Katze und Fledermaus anhand einiger weniger Merkmale durchspielen: Die Merkmale „Flügel“, „kernlose Erythrozyten“, „Milchdrüsen“ und „Haarkleid“ sind durch verschiedene Farben in dem Kladogramm repräsentiert. Das Kladogramm oben ist das sparsamste. Weitere Erklärungen im Text.
178
3 Phylogenese
3.11 Longisquama insignis. (In Anlehnung an Haubold und Buffetaut 1987)
3.12 Kladogramm der Sauropsida.
Schauen wir uns das konkrete Beispiel von Longisquama insignis an – eines kleinen Archosauriers aus der mittelasiatischen Trias. Er ist Angehöriger einer Gruppe, die Vögel, Dinosaurier, Pterosaurier, Krokodile und vielleicht auch Schildkröten einschließt. Aus dem Rücken wuchsen diesem eidechsenähnlichen Tierchen zwei Reihen langer Fortsätze, offensichtlich modifizierter Schuppen, die vielleicht zum passiven Flug, vielleicht auch zur sexuellen Schau genutzt wurden (Abb. 3.11). Longisquama wurde vor Jahren in Kirgisien entdeckt, aber weil der Fund nach den damaligen russischen paläontologischen Gewohnheiten beschrieben wurde, also die Gesamtform betonend und ohne detaillierte morphologische Analyse, kam dabei nicht viel mehr heraus als eine weitere Bestätigung der bekannten Tatsache, dass Tiere seltsam sind, und die, die wir nicht aus dem Zoo kennen, noch viel seltsamer. Vor ein paar Jahren stellten Wissenschaftler fest, dass die Auswüchse von Longisquama in ihrer Struktur nicht den klassischen Reptilienschuppen ähnelten, sondern Vogelfedern, die selbst allerdings modifizierte Schuppen sind. »Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Evolution der Vögel über ein dem Longisquama ähnliches Stadium verlief«, sagte einer der Autoren, die über diese Entdeckung berichteten. Allerdings überwiegt zurzeit die Meinung, dass Vögel nicht bloß „Verwandte von Dinosauriern“ sind, sondern „richtige“, modifizierte Dinosaurier, die eng mit der Familie der Dromaeosauridae (Abb. 3.12, 3.13) verwandt sind. Wir kennen Dutzende von anatomischen Merkmalen, die die Vögel mit einigen fleischfressenden Dinosauriern verbinden, nicht zuletzt auch federartige Auswüchse, die in letzter Zeit bei einer Reihe von Dinosauriern entdeckt wurden.
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3.8 Wie erstellt man ein Kladogramm? oder Der Merkmalskonflikt
Die hartnäckigen Opponenten der Hypothese der Dinosaurier-Herkunft der Vögel (in Fachkreisen als BAND = Birds Are Not Dinosaurs bezeichnet) müssten nur das im phylogenetischen Kontext einzig Sinnvolle machen, um ihre Vorstellung zu belegen: nämlich irgendwelche Nichtdinosaurier vorweisen, die mehr Apomorphien mit den Vögeln teilen als Vögel mit den Dinosauriern. Bisher haben sie nichts dergleichen getan, und die vagen Überlegungen, dass die Vögel keine Dinosaurier sind, sondern mit den Dinosauriern einen gemeinsamen „thekodonten Vorfahren“ teilen, überzeugen nicht. „Thecodontia“ ist ein künstliches Mischtaxon, ein sogenanntes paraphyletisches Taxon ( Box 3.9, Abb. 3.13), das alle primitiven Archosaurier einschließt, die weder Vögel noch Dinosaurier, Pterosaurier oder Krokodile sind (Abb. 3.14). Und hier kommt nun die Hypothese ins Spiel, dass der nächste Verwandte der Vögel gerade Longisquama ist. Diese Hypothese sagt eigentlich, dass alle Dinosauriermerkmale der Vögel nichthomolog sein müssen, damit die Federform von Longisquama homolog sein könnte. Denn entweder ist Longisquama mit den Vögeln nah verwandt und ihre Federn sind den Federn der Vögel homolog, oder sie ist mit den Vögeln nicht unmittelbar verwandt und die Federn entstanden bei beiden Gruppen unabhängig voneinander. Was die Zahl der
Sind die Vögel Dinosaurier oder Verwandte der Dinosaurier?
| 3.9 |
Monophylie, Polyphylie, Paraphylie Fast alle Phylogenetiker sind sich seit Darwin einig, dass ein Taxon nur dann natürlich ist, wenn es die Arten enthält, die auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Ein Taxon ist immer monophyletisch (dieses Begriffspaar ist somit ein „weißer Schimmel“) und umfasst die sogenannte Stammart und deren Nachkommen. Es repräsentiert einen ganzen Zweig des „Baums des Lebens“, keine Art aus dieser Gruppe wird künstlich abgetrennt (z. B. aufgrund einer subjektiven Einschätzung, dass sie von verwandten Arten zu verschieden wäre). Viele traditionell benutzte Gruppierungen sind jedoch nicht monophyletisch, sondern paraphyletisch. So enthält z. B. die „Klasse der Reptilia“ zwar ihren Vorfahren, aber nicht alle ihre Nachkommen (Abb. 3.13). Die Vögel wurden als selbstständige, gleichwertige „Klasse“ abgetrennt, weil Systematiker zu große Unterschiede zwischen Reptilien und Vögeln sahen. Das verschleierte jedoch die Tatsache, dass die Vögel die Schwestergruppe der Krokodile sind. Sie teilen mit ihnen eine Reihe abgeleiteter Merkmale, wie z. B. ein ähnliches Sozialverhalten und die Brutpflege. Die Krokodile sind sicher mit den Vögeln näher verwandt als mit allen anderen Reptilien (S. 178). Im Gegensatz dazu siedelt man die ebenfalls spezialisierten Schildkröten traditionell innerhalb der „Klasse Reptilia“ an, weil uns der Unterschied nicht so groß erscheint. Dieses
Beispiel verdeutlicht, dass Zoologen, die Organismen nach subjektiven Eigenschaften und nicht nach phylogenetischen Beziehungen sortieren, schnell in Bereiche der Willkür geraten. Noch größere Probleme bereiten künstliche Gruppierungen, die auf mehrere Stammarten zurückgehen. Wir sprechen dann von polyphyletischen Gruppen, die nahezu alle Schulen der Systematik ablehnen. Ein Beispiel für eine polyphyletische Gruppierung sind die Fische („Pisces“).
3.13 Unterschied zwischen einer monophyletischen (dunkelblau) und einer paraphyletischen (hellblau plus dunkelblau) Gruppe am Beispiel der „Reptilia“. Der blaue Punkt unten repräsentiert den letzten gemeinsamen Vorfahren.
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3 Phylogenese
Merkmale anbelangt, sieht es für Longisquama nicht gerade gut aus, aber nun gibt es Paläontologen, die sagen, dass es nicht um die Anzahl, sondern um die Qualität der Merkmale geht.
3.9 Merkmalsqualität und kladistische Analyse
Die Verfechter der A-priori-Homologisierung argumentieren, dass bei der Merkmalsauswahl ohne vorherige Prüfung auf phylogenetische Eignung schlechte, nichthomologe Merkmale, die ein zufälliges Rauschen darstellen, das echte phylogenetische Signal überdecken.
Die Analyse großer Merkmalskomplexe beseitigt das Problem des zufälligen, „nichtphylogenetischen“ Rauschens.
Die Signale werden summiert, weil es nur eine Phylogenese gibt, wohingegen das Rauschen zufällig ist und sich nicht addieren kann.
Bei der Auswahl von Merkmalen ohne vorherige Prüfung auf phylogenetische Eignung müssen wir befürchten, dass schlechte, nichthomologe Merkmale, die keine phylogenetischen Informationen tragen und ein zufälliges Rauschen darstellen, das echte phylogenetische Signal überdecken. Wie wir schon gesehen haben, entbehrt die Unterscheidung von guten und schlechten Merkmalen, also die A-priori-Identifizierung von Homologien, einer klaren Methodik, die anders als nur dank der eigenen, gut entwickelten Kenntnisse funktioniert. Aber machen wir die Probe aufs Exempel, bitten wir einen gelehrten Verfechter der „A-priori-Homologisierung“, alle Merkmale auszuschließen, von denen er annimmt, dass es keine Homologien sind. Wenn danach eine größere Anzahl von Merkmalen (sagen wir mehr als zwanzig) übrigbleibt, tritt bestimmt einer der beiden nachfolgenden Fälle ein: Entweder wird die kladistische Analyse wieder einige dieser Merkmale als „homologe“ (also mit der resultierenden phylogenetischen Hypothese übereinstimmende) und andere als „nichthomologe“ enthüllen, wodurch erneut ein Konflikt darüber entsteht, welche der Merkmale zu den „echten“ Homologien zählen. Das allein sollte uns genügen, zu erkennen, dass A-priori-Kriterien wertlos sind. Oder es werden alle Merkmale als „Homologien“ bestätigt, aber dann könnte man den Verdacht hegen, dass der „Apriorist“ die Entscheidung „Homologie, ja oder nein?“ auf Grundlage einer vorher schon – bewusst oder unbewusst vorhandenen Hypothese – getroffen hatte und deshalb eigentlich nicht a priori gearbeitet hat. Er könnte beispielsweise die Zahnlosigkeit einiger Säugetiere als schlechte, nichthomologe Ähnlichkeit aus der Analyse ausgeschlossen haben, nach dem Motto „Abwesenheit der Zähne bei Ameisenbären und Bartenwalen ist phylogenetisch irrelevant, weil wir doch wissen, dass Ameisenbären und Bartenwale unabhängig voneinander aus bezahnten Vorfahren entstanden sind“. Es wäre schon sehr merkwürdig, wenn es bei einem Großteil der verwendeten Merkmale zu keinen Widersprüchen käme! Das oben angesprochene Problem mit dem zufälligen, „nichtphylogenetischen“ Rauschen entsteht nicht, wenn wir mit großen Merkmalskomplexen arbeiten. Angenommen wir haben einen Komplex von zehn Arten mit je zwanzig Merkmalen, also eine Tabelle mit 200 Feldern. Die Hälfte, d. h. zehn der Merkmale, repräsentieren das phylogenetische Signal. Es sind die Merkmale, die die Phylogenese hinterlassen hat. Das zufällige Rauschen macht also ebenfalls 50 Prozent aus. Stellen wir uns vor, dass wir eine zweite, ebenso große und ebenso gute Tabelle von anderen Merkmalen für dieselben zehn Arten haben (10 × 20, 50 Prozent Rauschen) und dass wir diese zwei Sätze in einer neuen Tabelle verbinden (10 × 40). Die Signale werden summiert, weil es nur eine Phylogenese gab. Das Rauschen hingegen können wir nicht addieren, weil es ein zufälliges Rauschen
3.9 Merkmalsqualität und kladistische Analyse
ist, das in alle Richtungen zerrt und keiner Logik folgt. Das Hinzufügen von neuen Merkmalen wird das phylogenetische Signal relativ verstärken, obwohl diese neuen Merkmale nicht weniger zufällig sind als die ursprünglichen. Und das passiert bei der Bearbeitung von großen Merkmalskomplexen tatsächlich. Wenn sich dabei aber auch das Rauschen addieren würde, so würde dies bedeuten, dass das Rauschen irgendeine innere Logik hätte, weshalb es dann aber natürlich kein Rauschen mehr wäre. Es kann jedoch noch etwas anderes sein. Es gibt mehrere mögliche Gründe für einen Merkmalskonflikt und unsere Ignoranz ist nur einer (vielleicht der häufigste) davon. Manchmal kann es sich um eine direkte Konsequenz der Adaptation nichtverwandter Organismen an gleiche ökologische Bedingungen handeln. In diesem Fall sprechen wir von einer konvergenten Evolution (vom lateinischen convergere: sich hinneigen), wie es beispielsweise bei Hai und Delfin hinsichtlich der hydrodynamischen Anpassungen an den Lebensraum Wasser der Fall ist. Ähnlich häufig entsteht ein Merkmalskonflikt deswegen, weil bei einer Art eine entstandene Apomorphie sekundär verschwindet – es kommt zu einer reversen Evolution. Das Vorkommen von Flügeln bei der Fledermaus und der Schwalbe können wir in unserem Kladogramm, das Katze und Fledermaus in eine Gruppe (Säugetiere) verband (Abb. 3.10), auf zwei Arten interpretieren: Entweder entstanden die Flügel bei der Fledermaus und der Schwalbe konvergent, oder die Katze hat sie sekundär verloren. Wir halten fest, dass man zwischen diesen Alternativen nicht entscheiden kann, da sie beide zwei Evolutionsereignisse verlangen (entweder zwei Entstehungen oder eine Entstehung und eine Rückbildung). Sobald wir der Analyse aber weitere Arten zufügen, z. B. Eidechse, Krokodil und Känguru, entfernen sich die beiden fliegenden Arten voneinander, und die Hypothese von der Konvergenz kommt mit wesentlich weniger Evolutionsereignissen aus (zwei Entstehungen) als die Hypothese von der Reversion (eine Entstehung und viele unabhängige Verluste). Ein weiterer Mechanismus, der den Merkmalskonflikt verursachen kann, ist der horizontale Gentransfer (und daher auch der Transfer der Merkmale, die durch diese Gene beeinflusst werden) ( Box 2.26). Für den horizontalen Genfluss können wir uns viele Beispiele denken: Ein Virus befreit sich aus einem Genom und lässt sich in ein anderes einschleusen, wobei es auch ein Stück Genom des ursprünglichens Wirts in den neuen Wirt mitnimmt. Oder ein Gen aus einer eukaryotischen Zelle gelangt aus dem Chloroplasten in den Kern der Zelle und später geht der Chloroplast zugrunde. Oder zwei Arten kreuzen sich und der Hybrid teilt verschiedene Merkmale mit seinen (verschiedenen) Eltern. Damit kommen wir zum Kern der Sache. Es gibt keinen Grund, das zufällige Rauschen zu fürchten, wenn wir mit Hunderten oder Tausenden von zufällig ausgewählten Merkmalen arbeiten. Stattdessen gibt es einen guten Grund, nach den nichtzufälligen Fehlern in phylogenetischen Rekonstruktionen zu suchen, nach Situationen beispielsweise, in denen wir Ähnlichkeit mit Verwandtschaft verwechseln. Wir müssen die Situationen finden, in denen sich die nichtverwandten Arten auffällig ähnlich sind, und um erfolgreich suchen zu
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Mögliche Gründe für einen Merkmalskonflikt können unsere Unwissenheit, Konvergenz oder der sekundäre Verlust einer Apomorphie sein.
Auch horizontaler Gentransfer (und damit Transfer der Merkmale) können einen Merkmalskonflikt verursachen.
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Es gibt zwei gefährliche Vorurteile bei der Auswahl von Merkmalen: ein Merkmal als sinnlos abzutun, oder anzunehmen, ein Merkmal sei nur einmal entstanden.
3 Phylogenese
können, dürfen wir nicht vorher schon blind geworden sein. Es gibt im Grunde genommen zwei gefährliche Vorurteile: Erstens „dieses Merkmal ist sinnlos“, wir arbeiten lieber mit nur wenigen „sinnvollen“ Merkmalen, und verstärken damit jedoch verlässlich das zufällige Rauschen, das sich in den Satz „richtiger Merkmale“ vielleicht irgendwie eingeschlichen hat. Zweitens „dieses Merkmal ist nur einmal entstanden“ und wir lehnen das Gegenteil behauptende Beweise ab, um sicher zu sein, dass wir die phylogenetische Hypothese erhalten, an der wir vorher (vielleicht unbewusst) Gefallen gefunden haben. Der erste Ansatz führt zu Irrtümern, der zweite ist (Selbst-)Täuschung. Fällt Ihnen auf, dass der Fall Longisquama diese beiden Vorurteile einschließt? Alle Überlegungen werden auf ein einziges Merkmal („Feder“) beschränkt, und dieses Merkmal wurde a priori zweifellos für homolog gehalten.
3.10 Phylogenese und Paläontologie
Fossilien stellen die „in Gesteinen fixierte Evolution“ dar; die heute lebenden Organismen können wir als „in Eiweißen manifestierte Evolution“ betrachten.
Gewöhnlich gelten Fossilien als grundlegende Informationsquelle für den Verlauf der Phylogenese – obwohl uns vorherige Kapitel gezeigt haben, dass den Fossilien diese Schlüsselbedeutung nicht mehr zukommt ( Box 3.10). Dies bedeutet jedoch nicht, dass Kladistik nur mit rezenten Organismen arbeiten könnte. Fossilien stellen gewiss die „in Gestein fixierte Evolution“ dar, genauso wie wir heute lebende Organismen als „in Proteinen manifestierte Evolution“ betrachten können. Es stimmt nicht, dass für die Kladistik Fossilien besser geeignet seien als rezente Organismen, nur weil sie aus der Vergangenheit kommen. Durch sie erfahren wir das minimale Alter der entsprechenden Gruppe (denn wir wissen nie, ob uns nicht ein noch älteres Fossil fehlt). Eine solche Datierung würde uns über den Verlauf der Phylogenese dieser Gruppe nur dann etwas Wesentlicheres sagen, wenn wir sicher sein könnten, dass z. B. ein Krokodil aus dem Jura primitiver ist als ein heute lebendes Krokodil und dass es zudem dem Vorfahren des heutigen Krokodils nahesteht. Erst dann könnten wir etwas über den Weg sagen, den die Evolution heutiger Krokodile einschlug. Eine derartige Sicherheit haben wir jedoch nicht. So stellt etwa das jurassische Krokodil Metriorhynchus – ein Meerestier mit Flossen – gewiss einen sehr abgeleiteten Typ von Krokodil dar, der wesentlich fortgeschrittener ist als die heutigen Arten. Älter bedeutet also nicht notwendigerweise primitiver. Ein Beispiel ist auch das bereits erwähnte Problem der Ableitung der Vögel aus Dinosauriern. Ein Großteil der Einwände gegen diese Hypothese rührt von der Analyse der stratigraphischen Beziehungen, d. h. der Platzierung der Fossilien in geologischen Schichten, die Rückschlüsse auf das absolute Alter der Funde erlauben. In Abbildung 3.14 stellen die dicken Linien bekannte stratigraphische Zeitspannen verschiedener Archosauriergruppen und die dünnen Linien die phylogenetischen Beziehungen zwischen ihnen dar. Demnach stehen uns für die Rekonstruktion Urvögel aus dem Jura zur Verfügung, während die Fossilien der meisten „vogelartigen“ Dinosaurier, Dromaeosaurier („D“ im Bild), erst aus der Kreide stammen, also aus einem viel jüngeren Zeitalter.
3.10 Phylogenese und Paläontologie
Wenn die paläontologische Überlieferung komplett wäre, würde es nicht ins Bild passen, dass wir die Vorfahren in einem späteren Zeitabschnitt finden als die Nachkommen. Leider ist die paläontologische Überlieferung aber ziemlich unvollständig und noch schlimmer ist, dass wir üblicherweise fast nie die direkten Vorfahren finden, sondern Angehörige von mehr oder weniger weit entfernten Schwestergruppen (Schimpansen und Menschen sind Schwestergruppen, ebenso Gorillas und Homini, Orang-Utans und afrikanische Menschenaffen und so weiter). Wenn wir sagen, dass irgendeine Untergruppe der Dinosaurier die Schwestergruppe der Vögel ist, heißt es, dass diese Dinosaurier und Vögel einen gemeinsamen Vorfahren hatten, der natürlich älter war als jeder seiner Nachkommen. Es sagt nichts aus über das relative Alter verschiedener Nachkommen und daher ist es durchaus möglich, dass wir den Nachkommen A (z. B. Dromeosaurus) in späteren Schichten finden als den Nachkommen B (z. B. einen Vogel). Falls der jurassische Vogel und der Dromaeosaurus aus der Kreide wirklich zueinander gehören, ist keiner des anderen Vorfahre, sondern man kann nur sagen, dass beide einen gemeinsamen Vorfahren hatten, der zumindest im Jura lebte. Auf dem Weg von diesem jurassischen Vorfahren zum vogelähnlichen Dinosaurier der Kreide fehlen einige Versteinerungen. Das kann vorkommen. Trotzdem haben Fossilien für die Phylogenetik eine große Bedeutung. Zum einen ermöglichen sie die absolute Datierung von Evolutionsereignissen und einen Abgleich zwischen Kladogramm und fossiler Überlieferung, der uns hilft, die Vollständigkeit der fossilen Überlieferung zu bewerten. Zwei von einem gemeinsamen Vorfahren abstammende Schwestergruppen, z. B. Tiere und Pilze, Schimpansen und Menschen oder Krokodile und Vögel (als Beispiele rezenter Organismen), sind per Definition gleich alt, und wenn wir eine Gruppe aus
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Fossilien ermöglichen die absolute Datierung von Evolutionsereignissen. Ein Abgleich zwischen Kladogramm und fossiler Überlieferung macht es möglich, die Vollständigkeit der fossilen Überlieferung zu bewerten.
3.14 Kladogramm und stratigraphische Zeitspannen verschiedener ArchosaurierGruppen („D“ steht für Dromaeosaurier).
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3 Phylogenese
Fossilien stellen einzigartige Kombinationen von Merkmalen dar. Sie können das Ergebnis der kladistischen Analyse stark beeinflussen. Berücksichtigt man weitere Arten bei der Analyse, können sich auch die Beziehungen zwischen den bereits analysierten Arten ändern.
dem Devon kennen, müsste die zweite ebenfalls im Devon gelebt haben. Wenn wir die andere Gruppe jedoch erst aus dem Eozän kennen, gibt es zumindest in der Zeitspanne Devon–Eozän eine Lücke in der fossilen Überlieferung. Zum anderen stellen Fossilien einzigartige und in der heutigen Natur nicht vorkommende Kombinationen von Merkmalen dar, die das Ergebnis der kladistischen Analyse markant ändern können. Ein Laie würde erwarten, dass bei einem zehn Arten umfassenden Kladogramm die Beziehungen zwischen fünf der Arten erhalten bleiben, auch wenn die Analyse nur auf diese fünf Arten eingeschränkt wird. Das ist aber nicht unbedingt der Fall. Zieht man weitere Arten in die Analyse mit ein, können sich auch die Beziehungen zwischen den bereits vorgegebenen Arten ändern, weil sich so auch die Kombinationen der Daten ändert, aus denen wir schließen, welches Merkmal eine homologe Apomorphie ist und welches nicht. Ein anschauliches Beispiel ist die Phylogenese der Wirbeltiere. Ein großer Teil der auf rezenten Arten beruhenden kladistischen Analysen (inklusive einiger molekularbiologischer Untersuchungen), führte
| 3.10 |
Fossilien und ihre Datierung Fossilien (Einzahl: Fossil, vom lateinischen fossilis: ausgegraben) sind Überreste von Organismen, die nach dem Tod dank günstiger biologischer, chemischer und mechanischer Bedingungen nicht oder nicht vollkommen zerfallen sind. Während der Fossilisierung werden die Gewebe konserviert (z. B. durch Frost, Harzeinbettung, Mumifizierung) oder durch widerstandsfähiges Material ersetzt (Versteinerung). Taphonomie bezeichnet die Lehre, die die Fossilisierungsprozesse untersucht. Eine besondere Form von Fossilien sind versteinerte Abgüsse (z. B. der Hirnkapsel) oder Steinkerne, die dann entstehen, wenn Lebewesen einen Hohlraum im Sediment hinterlassen, der später ganz oder teilweise mit Sediment verfüllt wird. Spurenfossilien umfassen alle Hinweise auf Leben, die nicht das Lebewesen selbst betreffen wie beispielsweise Fußabdrücke, Bewegungs- und Grabspuren. Makrofossilien erkennt man mit bloßem Auge, Mikrofossilien erst unter dem Lichtmikroskop. Leitfossilien (Indexfossilien) sind typische, geographisch weit verbreitete Fossilien, die in der jeweiligen Gesteinsschicht häufig vorkommen, sodass sie es ermöglichen, die gegebene Schicht (und damit auch die Begleitfossilien) in die Zeitskala einzuordnen (relative Datierung). Für eine möglichst präzise Datierung ist es wichtig, dass eine solche Art nur relativ kurze Zeit existierte. Die Trilobiten sind beispielsweise wichtige Leitfossilien für das Paläozoikum. Die absolute Datierung (Altersbestimmung) beruht auf dem Prinzip der „radiometrischen
Uhr“, dem Phänomen des gesetzmäßigen Zerfalls radioaktiver Isotope (Radionuclide) zu nichtradioaktiven Isotopen. Im einfachsten Fall wird bei der radiometrischen Datierung das Mengenverhältnis von Mutter- zu Tochterisotopen in einem Gestein oder Mineral festgestellt, woraus das Alter berechnet werden kann. Verschiedene Isotope haben verschiedene Zerfallsgeschwindigkeiten (Halbwertszeiten) und eignen sich daher zum Messen unterschiedlicher Zeitmaßstäbe mit unterschiedlicher Genauigkeit. Radiokohlenstoffmethode (14C-Methode, „Radiokarbonmethode“): Das radioaktive KohlenstoffIsotop 14C wird ständig durch Kernreaktionen in den obersten Schichten der Erdatmosphäre neu gebildet. Durch Atmung bleibt in einem lebenden Organismus die Konzentration von 14C in konstantem Gleichgewicht mit der 14C-Konzentration in der Umwelt. Nach dem Tod des Organismus gibt es keinen Kohlenstoffaustausch zwischen Organismus und Umwelt mehr und 14C zerfällt, ohne ersetzt zu werden. Der relativ schnelle Zerfall von 14C (Halbwertszeit 5.730 Jahre) begrenzt im Allgemeinen den Datierungszeitraum auf ungefähr 50.000 Jahre – für die Erdgeschichte eine recht präzise Datierung. Andere radiometrische Methoden sind z. B. die Kalium-Argon-Methode (basierend auf dem Zerfall von radioaktivem Kalium-40 zu Argon-40 und Calcium-40), die Argon-Argon-Methode, die Rubidium-Strontium-Methode, die Uran-BleiMethode oder die Blei-Blei-Methode.
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3.10 Phylogenese und Paläontologie
zu einem eigenartigen Taxon mit dem Namen Haemothermia, das Vögel und Säugetiere einschließt. Als man aber auch fossile Wirbeltiere mitberücksichtigte, rückten die Vögel näher zu den Krokodilen, und die Säugetiere erschienen dort, wo sie wahrscheinlich wirklich hingehören, nämlich als Schwestergruppe der riesigen Klade, die – wenn wir uns wieder nur auf rezente Tiere beschränken – alle Reptilien und Vögel einschließt. Die Vorstellung, fossile Arten seien eher primitiv, bringt uns zur traditionellen Überzeugung, dass wir die direkten Vorfahren rezenter Gruppen schon finden werden, wenn wir nur richtig suchen und ein bisschen Glück haben, was die Unversehrtheit der Gesteinsschichten angeht. Einer der von der Kladistik hervorgerufenen Skandale war die Abwendung von der Jagd auf mögliche Vorfahren hin zur Identifizierung von Schwestergruppen und die Erklärung, dass man die Vorfahren nicht finden könne. Das grundlegende Problem mit der Suche nach den „Vorfahren“ ist nicht, dass es die Vorfahren nicht gegeben hätte (sicherlich gab es sie) oder dass wir sie in der fossilen Überlieferung nicht finden könnten (ab und zu gelänge dies bestimmt). Das Problem liegt vielmehr darin, dass wir nicht in der Lage sind zu beweisen, dass es sich wirklich um den gesuchten Vorfahren handelt. Diejenigen, die behaupten, die Evolutionsbiologen hätten es nicht geschafft, einen Vorfahren beispielsweise der Säugetiere zu finden, weil es keine „Übergangsglieder“ gebe, wären überrascht, wie viele „Übergangsglieder“ wir tatsächlich kennen. Gerade die Entstehung der Säugetiere ist Schritt für Schritt dokumentiert und fast jedes morphologische Merkmal, das für die „Definition“ der Säugetiere maßgeblich ist, können wir mit vielen Übergangszwischenstufen belegen ( Box 3.11). Über welche Eigenschaften sollte der echte Säugetiervorfahre nun verfügen? Er muss die gemeinsamen Apomorphien aller Säugetiere aufweisen (sozusagen als plesiomorphe Merkmale), darf keine einzigartigen Apomorphien einer beliebigen Untergruppe der Säugetiere besitzen (es sollte z. B. kein Beuteltier oder Nagetier sein), aber auch keine eigenen einzigartigen Apomorphien haben. Falls er sie hat, handelt es sich nicht mehr um einen Vorfahren der Säugetiere, sondern um einen Angehörigen einer eigenen Untergruppe der Säugetiere, wenn auch
Die Kladistik versucht, Schwestergruppen zu identifizieren, und interessiert sich weniger für ihre Vorfahren.
Die Vorfahren kann man nicht eindeutig identifizieren.
Ein wirklicher Vorfahre ist dadurch gekennzeichnet, dass ihm einige der apomorphen Merkmale seiner Nachkommen fehlen. Das lässt sich bei Fossilien jedoch schwer beweisen.
3.15 Kladogramm der basalen Tetrapoda. Angegeben sind die ausgestorbenen Gattungen, die die Übergangsformen zwischen „Fischen“ und „Amphibien“ darstellen (jeweils mit dem Jahr der Entdeckung des Fossils bzw. Beschreibung der Art). Die farbigen Unterlegungen bei den Jahreszahlen visualisieren das zeitliche Spektrum von den ältesten Funden (rot) bis zu den jüngsten (violett).
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3 Phylogenese
vielleicht um einen extrem primitiven (mit nur wenigen abgeleiteten Merkmalen) oder um einen extrem basalen (der sich zeitlich sehr nah am echten gemeinsamen Vorfahren abgespalten hat). Und hier kommen wir der Sache auf den Grund. Ein wirklicher Vorfahre ist dadurch gekennzeichnet, dass ihm einige der apomorphen Merkmale fehlen. So etwas lässt sich jedoch schwer beweisen, ins| 3.11 |
Missing links Ein beliebtes Argument der Kreationisten gegen die Evolutionstheorie ist die Behauptung, dass in der fossilen Überlieferung Übergangsformen zwischen zwei Taxa fehlen. Den Begriff missing links (fehlende Bindeglieder) verwendeten u. a. Lyell ( S. 7), Darwin ( S. 10) und Huxley ( S. 14) für die hypothetischen Zwischenformen, die ein Mosaik von Merkmalen zweier Taxa aufweisen sollten, jedoch (noch) nicht gefunden wurden. Charles Darwin bezeichnete das Fehlen der Übergangsformen in seiner Entstehung der Arten als »vielleicht die handgreiflichste und gewichtigste Einrede, die man meiner Theorie entgegenhalten kann« und begründete das Fehlen solcher Fossilien mit der »äussersten Unvollständigkeit der geologischen Überlieferungen«. Wie so oft haben Kreationisten nur einen Satz aus dem Kontext herausgerissen und halten dogmatisch an einem alten, schon seit langem überholten Argument fest. In der Tat fehlten 1859 (als der Origin of Species erschien) solche Übergangsfossilien, aber schon 1861 wurde Archaeopteryx als Bindeglied zwischen Dinosauriern und Vögeln entdeckt und bald danach wurden die ersten Fossilien von Urmenschen und Vormenschen beschrieben. Mittlerweile kennt man Hunderte von angeblichen missing links, von denen manche erst in den letzten Jahren gefunden wurden ( Box 3.1, Abb. 3.2, 3.3, 3.15). Das hartnäckige Beharren der Kreationisten auf dem Nachweis solcher Zwischenglieder und ihre Vorstellungen davon, wie diese Zwischenglieder aussehen sollten, zeugen von einer unglaublichen Naivität und Ignoranz der Fakten. Beispielsweise ist der Fossilbericht der Säugetiere und ihrer Vorfahren dermaßen vollständig, umfassend und kontinuierlich, dass wir Schwierigkeiten haben, die Grenzen zwischen „Reptilien“, „säugetierähnlichen Reptilien“, „reptilähnlichen Säugetieren“ und „Säugetieren“ überhaupt festzulegen. Einige der von den Kreationisten geforderten Übergangsglieder haben nie existiert, und daher ist es sinnlos, sich über ihr Fehlen zu wundern. Einem gemeinsamen Vorfahren zweier Taxa fehlten in vielen Fällen die Merkmale, die für die heutigen Vertreter dieser Taxa
charakteristisch sind, sodass wir in ihm nicht das Bindeglied zwischen den beiden Taxa erkennen können. Ein „evolutionäres“ Bindeglied zwischen einem Männer- und einem Frauengesicht wäre ein Kindergesicht und kein Gesicht mit Dreitagebart, mittelkurzen Haaren, langem Kinn und vollen Lippen (Abb. 3.16). Im Internet und in kreationistischen Broschüren wimmelt es von Behauptungen wie „Niemals wurde in den letzten 125 Jahren ein ‚missing link‘ zwischen Reptil und Vogel, zwischen Krokodil und Adler, Schildkröte und Taube gefunden“. Solche „Argumente“ können wirklich nur diejenigen überzeugen, die nicht einmal versucht haben, die Phylogenese und ihre Prinzipien zu begreifen. Und natürlich gilt auch heute noch Darwins Argument, dass wir manche Übergangsglieder niemals entdecken werden, weil sie nicht fossilisiert erhalten sind. Allerdings sind die Evolutionsbiologen heutzutage nicht mehr so sehr am Finden neuer missing links interessiert, da man solche Bindeglieder auf verschiedenen Organisationsebenen eigentlich überall um uns herum sieht.
3.16 „Missing links“. Das Schema illustriert den Hauptgrund, warum Übergangsglieder zwischen einzelnen höheren Taxa oftmals fehlen. Meistens haben solche Übergangsglieder nie existiert, denn der nächste gemeinsame Vorfahre der beiden Taxa zeigte die charakteristischen Merkmale der jeweiligen Taxa nicht. (In Anlehnung an Flegr 2005)
3.11 Die Rekonstruktion der Anagenese
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besondere wenn es sich um ein Fossil handelt. Auch wenn wir einen fossilen Schädel finden, der die gegebenen Kriterien erfüllen würde, können wir nicht nachweisen, ob dieses Tier eine apomorphe Nierenstruktur oder ein apomorphes Paarungsverhalten hatte. Wir können also nicht wissen, ob es sich um einen Vorfahren der Säugetiere handelt oder nicht. Mit anderen Worten, wir sind nicht in der Lage, den Vorfahren der Säugetiere verlässlich zu identifizieren ( Box 3.11, Abb. 3.15, 3.16).
3.11 Die Rekonstruktion der Anagenese Wir haben bereits gesehen, dass ein Kladogramm auch Informationen über die Richtung der Evolution verschiedener Eigenschaften von Organismen enthält, da es auf der sparsamsten Hypothese zur Verteilung dieser Eigenschaften unter den einzelnen Arten beruht. Dass ursprüngliche Wirbeltiere im Wasser lebten, wissen wir nicht, weil „das Leben im Wasser entstanden ist“ (vielleicht ist es ja dort entstanden, aber wir wissen es nicht ganz sicher und vor allem muss dies gar nicht die Wirbeltiere betreffen, weil diese schließlich auch sekundär ins Wasser zurückgekrochen sein könnten − was manche Säugetiere letztendlich wirklich getan haben). Wir wissen es vielmehr deswegen, weil alle basalen, vom gemeinsamen Vorfahren nicht weit entfernten Kladen der Wirbeltiere nur und ausschließlich Wasserorganismen beinhalten. Wenn wir annehmen, dass ursprüngliche Wirbeltiere Wassertiere waren, benötigen wir nur eine Evolutionsänderung, nämlich die Eroberung des Landes durch die Tetrapoden (in Abbildung 3.17 als braunes Viereck dargestellt). Würden wir dagegen Landwirbeltiere als ursprünglich voraussetzen, hätten z. B. Schleimaale, Neunaugen, Knorpelfische, Lungenfische, Quastenflosser und moderne Knochenfische mehrfach unabhängig voneinander den Lebensraum Wasser besiedelt (blaue Vierecke). Außerdem leben auch alle Verwandten der Wirbeltiere im Wasser; die Hypothese der ursprünglichen Landwirbeltiere würde daher noch eine weitere Evolutionsänderung verlangen, nämlich die urzeitliche Eroberung des Landes durch die Wirbeltiervorfahren und erst danach die mehrfache Rückkehr ins Wasser. Die Hypothese von der Wasserherkunft der Wirbeltiere ist also um Vieles einfacher und, wie Sie merken, kommen wir ganz ohne Fossilien von Urwirbeltieren aus Wassersedimenten zu diesem Schluss. Ein Beispiel, bei der uns die phylogenetische Information hilft, auch solche Merkmale fossiler Organismen zu rekonstruieren, die man gewöhnlich nur schwer nachweisen kann, ist die Brutpflege bei den Dinosauriern. Die Verhaltensbiologie (Ethologie) können wir nur bei rezenten Vertretern der Gruppe Archosauria, also bei Vögeln und Krokodilen, direkt untersuchen, aber die Phylogenetik sagt uns darüber hinaus, dass Dinosaurier mit den Vögeln näher verwandt sind als mit den Krokodilen. Auch wenn es unserer Vorstellung nicht ganz entspricht, sind sich Vögel und Krokodile in ihrem Verhalten doch auffällig ähnlich. Krokodile überwachen die Nester, in denen sie ihre Eier ausbrüten, und bei manchen Arten wurde eine ziemlich komplizierte Brutpflege beschrieben
Ein Kladogramm enthält Informationen über die Richtung der Evolution verschiedener Eigenschaften von Organismen.
Das Kladogramm ermöglicht es uns, auch manche Eigenschaften und Verhaltensweisen von ausgestorbenen Organismen zu rekonstruieren.
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3.17 Verwandtschaftsdiagramm der Wirbeltiere. Alle basalen Kladen der Wirbeltiere beinhalten nur Wasserorganismen. Nähmen wir an, dass ursprüngliche Wirbeltiere im Wasser lebten, benötigen wir nur eine Evolutionsänderung, die Eroberung des Landes durch die Tetrapoden (braunes Viereck links). Setzten wir dagegen Landwirbeltiere als ursprünglich voraus (braunes Viereck rechts), hätten z. B. Knorpelfische, Lungenfische und Knochenfische mehrfach unabhängig voneinander das Wasser besiedelt (blaue Vierecke).
3.18 Krokodile betreiben aufwendige Brutpflege. (Nach Moravec 1999)
3 Phylogenese
(die bestimmt auch bei anderen Arten vorkommt, jedoch kommen Krokodile nicht überall vor, leben versteckt und sind gefährlich, sodass sie im Vergleich zu Vögeln viel weniger erforscht sind). Noch in der Eischale machen sich die jungen Krokodile bemerkbar und locken damit ihre Eltern an, die dann das Nest auseinanderscharren, um den Jungen an die Oberfläche zu helfen. Zumindest bei einigen Arten helfen die Eltern den Jungen anschließend beim Schlüpfen (mit ihren bezahnten Kiefern, mit denen sie spielend das Bein einer Kuh durchbeißen könnten, brechen sie vorsichtig die Reste der Eischale ab) und tragen sie ins Wasser (Abb. 3.18). Die Jungen verbleiben lange Zeit bei ihren Eltern – der amerikanische Alligator sogar zwei Jahre – und ernähren sich u. a. von den Resten der elterlichen Nahrung. Bei Gefahr rufen sie ihre Eltern. Krokodile sind im Allgemeinen recht stimmgewaltige Archosaurier: Mit Gebrüll untermalen sie sowohl die Territoriumsverteidigung als auch Hochzeitsrituale. Auch Vögel singen beim Territorial- und Paarungsverhalten, auch sie kommunizieren über Lautäußerungen mit ihren Jungen noch vor dem Schlüpfen, auch sie bauen Nester. Primitive Vögel füttern ihre Junge nicht (Strauß, Huhn, Ente), sondern überwachen sie nur – wie die Krokodile – und führen sie dorthin, wo es ausreichend geeignete Nahrung gibt. Die australoasiatischen Thermometerhühner (Megapodiidae) legen ihre Eier in den Sand oder Haufen von Pflanzenresten und – genau wie die Krokodile – bebrüten sie die Eier nicht. Die einfachste Erklärung für solche ethologischen Ähnlichkeiten von zwei nah verwandten Gruppen ist, dass diese Form des Sozialverhaltens vom gemeinsamen Vorfahren der Vögel und Krokodile vererbt wurde. Dieser Vorfahre war aber auch der Ahne von vielen anderen Archosauriern, also auch von Dinosauriern und Pterosauriern (Abb. 3.12, 3.13). Solange es keine Gegenbeweise gibt, müssen wir annehmen, dass auch Dinosaurier beim territorialen und sexuellen Verhalten gebrüllt, gefaucht oder gezischt haben, dass sie Nester gebaut, mit ihren Jungen schon vor dem Schlüpfen kommuniziert und sie dann längere Zeit überwacht haben und ihnen beim Nahrungserwerb halfen. Und wir müssen nicht einmal fossile Beweise für ein solches Verhalten finden. Es ist aber
3.12 Molekulare Systematik
keineswegs überraschend, dass wir solche Beweise tatsächlich gibt: Wir kennen Dinosauriernester, junge Dinosaurier mit einem so schnellen Knochenwachstum, dass die Tiere vermutlich auf die elterliche Fütterung angewiesen waren und auch Dinosaurier mit merkwürdigen Auswüchsen am Kopf, die am ehesten der Schallresonanz dienten. In anderen Fällen hilft uns jedoch die Kenntnis der Phylogenese nicht weiter. So kann beispielsweise die populäre Frage, ob die Dinosaurier warmblütig waren, mit diesen Methoden nicht beantwortet werden: Da es die Vögel sind, die Krokodile aber nicht, muss die Warmblütigkeit als Apomorphie irgendwo zwischen dem Vorfahren der Vögel und dem Vorfahren aller Archosaurier entstanden sein. Es ist schwierig zu sagen, wann das war. Allerdings helfen hier bestimmte Fossilien, denn fossile Reste von zumindest einigen Dinosauriern zeigen die Warmblütigkeit mehr oder weniger offensichtlich. Wir können es auch allgemein sagen: Ohne Kenntnis der Kladogenese oder der Stammbäume, können wir nicht zu einer glaubwürdigen Hypothese zum Verlauf der Evolutionsänderungen gelangen. Wann immer uns eine Evolutionsänderung einer bestimmten Art interessiert und wir erforschen wollen, wie, wann, warum und woraus sie entstanden ist, müssen wir untersuchen, wie die jeweilige Eigenschaft bei anderen Arten aussieht. Der Verwandtschaftsgrad ist dabei das eigentliche Maß für die Relevanz dieser „anderen Arten“. Für die Evolution des Dinosaurierverhaltens sind Vögel und Krokodile wichtiger als Eidechsen und Säugetiere: Dinosaurier, Vögel und Krokodile bilden eine Klade, zu der weder Eidechsen noch Säugetiere gehören.
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Ohne die Kenntnis der Kladogenese oder der Stammbäume können wir nicht zu einer glaubwürdigen Hypothese über den Verlauf der Evolutionsänderungen gelangen.
3.12 Molekulare Systematik Zur Rekonstruktion der Phylogenese werden – beginnend in den 70er-Jahren und verstärkt seit Ende der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts – Nucleotidsequenzen von Nucleinsäuren sowie Aminosäuresequenzen in Proteinen analysiert. Obwohl es sich dabei um eine ganz neue Quelle für eine ungeheure Menge von Merkmalen handelt, unterscheidet sich die Methodologie der molekularphylogenetischen Forschung nicht wesentlich von der klassischen Phylogenetik. Trotzdem hat die molekulare Phylogenetik ein paar Besonderheiten, die eine eigene Betrachtung verdienen. Ein Vorteil ist, dass es bei der molekularen Phylogenetik keine Probleme mit der Differenzierung einzelner Merkmale gibt. Wir können voraussetzen, dass sich unter normalen Bedingungen jedes Nucleotid unabhängig von den anderen ändert und somit also jedes Nucleotid ein selbstständiges Merkmal darstellt. Die Probleme des Typs „großer Kopf – kleiner Kopf“ (Betrachten wir nur die „Kopfgröße“ oder sind es mehrere Merkmale?) spielen hier keine bedeutende Rolle. Es ist unmöglich, auf molekularer Ebene a priori homologe und nichthomologe Merkmale zu unterscheiden, selbst wenn wir auf der Ebene der morphologischen Merkmale glauben, Homologien identifizieren zu können. Keine auch noch so detaillierte Analyse eines Nucleotids ermöglicht es uns, ein ursprünglich vorhandenes Guanosinphospat von einem später mutierten
In der Phylogenetik nimmt die Analyse von Nucleotid- und Aminosäuresequenzen exponentiell zu.
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3 Phylogenese
| 3.12 |
Molekulare Merkmale In den letzten Dekaden werden bei der Erforschung der Phylogenese verstärkt auch molekulare Methoden eingesetzt. Hierbei werden üblicherweise Nucleotidsequenzen, Zwischen-Gen-Segmente (sogenannte intergene Regionen) der DNA und teilweise auch Aminosäuresequenzen untersucht. Ein wesentlicher Vorteil dieser Methoden ist natürlich die riesige Menge verwendbarer Moleküle („Merkmale“). Während üblicherweise in der phylogenetischen Analyse maximal Hunderte morphologischer Merkmale verwendet werden können, deren Erforschung extrem zeitaufwendig ist, stehen den Molekularbiologen in vergleichsweise kurzer Zeit Zehntausende von Sequenzen zur Verfügung, und ihre Zahl wächst exponentiell. Auf der anderen Seite wäre es naiv zu glauben, dass molekulare Merkmale „objektiver“ seien als morphologische. Bevor DNA-Sequenzen zu „Merkmalen“ werden, muss man zunächst entscheiden, welche DNA-Abschnitte und Nucleotide evolutionär zusammengehören, damit sie miteinander verglichen werden können. Auch bei Molekülen müssen wir homologe Abschnitte bestimmen. Bei der Auswahl der Moleküle, die tatsächlich etwas über die Phylogenese der Großgruppen aussagen, müssen wir daher hohe Anforderungen stellen. Ein ausreichend langes Gen muss bei allen uns interessierenden Arten vorhanden sein und eine mehr oder weniger identische Funktion haben. Nur dann können wir einigermaßen sicher sein, dass es ähnlichen Evolutionsdrücken unterlegen ist. Letztendlich muss es sich mit einer Geschwindigkeit entwickelt haben, die es uns ermöglicht, die relevanten Evolutionsereignisse zu verfolgen. Während zu konservative Gene, die nur sehr langsam evolvieren, üblicherweise nicht genügend Informationen enthalten, werden Informationen über frühere Ereignisse bei „zu schnell evolvierenden“ Genen rasch durch neue Änderungen ersetzt. Es wäre naiv zu glauben, es gäbe das eine „richtige“ Gen, mit dem alle phylogenetischen Fragestellungen beantwortet werden können. Unterschiedliche Gene eignen sich zur Lösung unterschiedlicher Fragestellungen. Somit bleibt uns nichts anderes übrig, als eine möglichst große Anzahl von Genen zu analysieren, wenn wir zu einer einheitlichen Hypothese der Phylogenese aller existierenden Taxa gelangen wollen. Das erste Gen, dessen Sequenz man für eine ausreichende Anzahl von Arten kannte, war ein nucleäres Gen, das eine Ribonucleinsäure (RNA)
kodiert. Diese ist am Aufbau der kleinen Untereinheit des Ribosoms beteiligt. Nach den Sedimentierungseigenschaften der Untereinheit wird sie 18S-rRNA oder auch SSU-rRNA genannt (SSU ist die Abkürzung des englischen small-subunit: kleine Untereinheit). Gegen die Nutzung dieses Gens in der Phylogenetik wurden ernstzunehmende Einwände erhoben. Da es sich um ein Gen handelt, das nicht in ein Protein übersetzt wird, hat es eine sehr variable Evolutionsgeschwindigkeit. Seine Länge variiert, wodurch die Arbeit mit diesem Gen erschwert wird. Einige evidente Missinterpretationen beruhen auf der Nutzung dieses Gens. Auf der anderen Seite liefert 18S-rRNA die Ergebnisse, die am besten mit den Ergebnissen der traditionellen, morphologischen Forschung übereinstimmen. In letzter Zeit wird verstärkt ein Gen der ribosomalen RNA aus der großen Untereinheit des Ribosoms verwendet, die sogenannte 28S-rRNA oder LSUrRNA (LSU = large-subunit: große Untereinheit). Die Erweiterung des Untersuchungsspektrums auf Gene, die Proteine kodieren, erfüllte die in sie gesetzten Hoffnungen bis jetzt nicht. Einige dieser Gene scheinen geeignet zu sein (z. B. die Gene für Natrium-Kalium-ATPase und die schwere Kette von Myosin II), andere ergeben – mit wachsender Zahl der untersuchten Arten – weniger glaubhafte Ergebnisse (etwa die Elongationsfaktoren 1 und 2, das Histon H3 oder mitochondriale Proteine). Die Sequenzierung kompletter Genome ausgewählter Modellorganismen könnte neue Möglichkeiten für die Rekonstruktion der Stammesgeschichte liefern, denn dann würden nicht nur Nucleotidsequenzen, sondern auch Mutationen ermittelt werden, beispielsweise Änderungen der Reihenfolge von Genen auf Chromosomen, Duplikationen, Inversionen und Fusionen von Genen. Die Anzahl der untersuchten Arten beeinflusst das Ergebnis der phylogenetischen Analyse jedoch noch markanter als die Zahl der Merkmale. Hundert bekannte Merkmale bei 100 Arten sagen über die Phylogenese üblicherweise mehr aus als 1000 Merkmale bei zehn Arten. Ein ausreichend repräsentativer Satz von Arten enthält genügend einzigartige Kombinationen von konkreten Merkmalen der Organismen, um homologe Merkmale identifizieren und aus dem Mosaik von Merkmalen Ableitungen vornehmen zu können. Besondere Aufmerksamkeit wird heute den HoxGenen gewidmet, Genkomplexe, die eine wichtige Rolle bei der Regulation der Ontogenese spielen
191
3.12 Molekulare Systematik
(S. 232). Mitochondrien sind als Organellen in unseren Zellen unverzichtbar; sie stammen von symbiotischen Bakterien ab, die die Vorfahren der eukaryotischen Zellen besiedelten. Daher verfügen sie über eigene Genome, die in Tierzellen zwar relativ einheitlich sind, aber ebenfalls abgeleitete Sequenzen aufweisen können. Der genetische Code der Mitochondrien unterscheidet sich häufig vom genetischen Code des Zellkerns. Während die Sequenz einzelner mitochondrialer Gene für die Phylogeneseforschung üblicherweise nur wenig
informativ ist (die Gene sind vergleichsweise kurz und entwickeln sich zu schnell), können die Reihenfolge dieser Gene, die Abweichungen vom genetischen Code des Zellkerns und die Ultrastruktur der Mitochondrien wichtige Informationen liefern. Allerdings scheint die anfängliche Begeisterung für Mitochondriengenome bereits wieder nachzulassen, da festgestellt wurde, dass Änderungen in deren Gensequenzen viel häufiger vorkommen als ursprünglich angenommen ( Box 3.14).
Guanosinphospat zu unterscheiden ( Abschnitt 3.13) oder festzustellen, dass Thymidinphosphat bei zwei Arten nicht zweimal unabhängig voneinander entstanden ist – stets geht es um zwei völlig identische, chemisch klar definierte Moleküle. Schon aus diesem Grund beruht die molekulare Systematik auf numerischen Methoden. Ein zweiter Grund ist natürlich die riesige Menge molekularer Merkmale. Für die phylogenetische Analyse der Beziehungen zwischen Tierstämmen können wir Hunderte von morphologischen Merkmalen zusammentragen; an molekularen Merkmalen stehen uns für eine solche Analyse heute schon ungefähr 10.000 zur Verfügung, und diese Menge wächst exponentiell ( Box 3.12). Das zweite bedeutende Charakteristikum der Molekularphylogenese betrifft die Geschwindigkeit der molekularen Evolution. Wir haben schon gesehen, dass der überwiegende Teil der Änderungen auf molekularer Ebene selektionsneutral ist. Demnach spiegelt die Anzahl der Nucleotide, in denen sich die Sequenzen zweier Arten unterscheiden, mehr oder weniger direkt wider, wann sich die beiden Arten in der Vergangenheit von einander getrennt haben. Demnach sollte es möglich sein, das Maß der genetischen Ähnlichkeit als direkten Maßstab für das paläontologische Alter zu nehmen („molekulare Uhr“) – die molekulare Ähnlichkeit hätte die gleiche Funktion wie ein fossiler Fund ( Box 3.13). Doch leider ist die Sache etwas komplizierter: Manchmal führt das Verfahren zum Erfolg, manchmal nicht. Das Problem liegt, wie wir noch sehen werden, darin, dass die Geschwindigkeit der molekularen Evolution bei ein und derselben Sequenz oftmals sehr stark variiert. Offensichtlich können die phänetischen Methoden die Phylogenese nur dann beschreiben, wenn die molekulare Uhr mit einer mehr oder weniger konstanten Geschwindigkeit tickt; sonst würde man unter Umständen eine erst kürzlich abgespaltene Art, die extrem abgeleitet ist und ihren nächsten Verwandten unähnlich sieht, irrtümlich für eine vor langer Zeit abgespaltene Linie halten. Im Gegensatz dazu ist die kladistische Methode nicht unmittelbar von der Geschwindigkeit der Evolution abhängig. Auch eine extrem abgeleitete Art wird im Kladogramm zu den Arten gestellt, mit denen sie die meisten Apomorphien teilt, unabhängig davon wie viele einzigartige Neuheiten sie darüber hinaus noch hat. Das Problem entsteht erst dann, wenn die abgeleitete Art so viele einzigartige Apomorphien hat, dass diese die gemeinsamen Apomorphien überdecken.
Für die phylogenetische Analyse stehen sehr viele molekulare Merkmale zur Verfügung, wobei die qualitative und quantitative Differenzierung einzelner Merkmale irrelevant ist.
Die Anzahl der Nucleotide, in denen sich die Sequenzen zweier Arten unterscheiden, spiegelt wider, wann sich die beiden Arten in der Vergangenheit voneinander getrennt haben. Die molekulare Uhr tickt bei verschiedenen Genen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die kladistische Methode ist nicht von der Geschwindigkeit der Evolution abhängig. Ein Problem entsteht erst dann, wenn die abgeleitete Art so viele einzigartige Apomorphien hat, dass diese die gemeinsamen Apomorphien überdecken.
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3 Phylogenese
| 3.13 |
Molekulare Uhr Die molekulare Evolution eines bestimmten Gens läuft mit einer mehr oder weniger konstanten Geschwindigkeit ab. Angenommen, wir hätten durch genetische Analysen festgestellt, dass sich zwei Arten in ihren Gensequenzen um 10 Prozent unterscheiden, und durch Fossilfunde ermittelt, dass sich diese Arten vor ca. 100 Millionen Jahren getrennt haben. Mithilfe eines einfachen Dreisatzes könnten wir nun berechnen, wann sich demnach Linien getrennt hätten, deren Sequenzen zu 50 Pro-
Je nach Geschwindigkeit der Evolution eignen sich verschiedene Gene zum Studium verschiedener Fragestellungen.
zent verschieden sind. Es ist jedoch offensichtlich, dass Evolution nicht so einfach abläuft. Wenn wir aber Sequenzen verschiedener Gene miteinander vergleichen und jedes Mal zu einem ähnlichen Ergebnis kommen, können wir tatsächlich abschätzen, wann eine Aufspaltung stattgefunden hat. Durch die gegenseitige Kalibrierung molekularer und paläontologischer Daten wird die Genauigkeit der Datierung weiter erhöht.
Eins ist jedoch klar: Selbst wenn die molekulare Uhr mit einer konstanten Geschwindigkeit ticken sollte, wird die Geschwindigkeit für verschiedene Gene trotzdem unterschiedlich sein. Wenn wir eine Millionen Jahre alte Evolutionsereignisse erforschen wollen, dürfen wir keine zu konservativen Sequenzen verwenden, wo die Fixierung einer Mutation vielleicht einmal pro 100 Millionen Jahre stattfindet. Es ist nämlich sehr unwahrscheinlich, dass sich z. B. zwei Arten, die sich vor einer Million Jahren voneinander getrennt haben, gerade in dieser seltenen Mutation unterscheiden. Und umgekehrt eignet sich ein Gen, dessen Sequenz sich einmal pro 1000 Jahren ändert, nicht zum Studium der längst vergangenen Phylogenese, weil alle vor 100 Millionen Jahren fixierten Mutationen ziemlich sicher durch die ständige Mutagenese überschrieben wurden. Es wäre naiv, nach dem einen „richtigen“ Gen zu suchen, das alle phylogenetischen Probleme auf allen Ebenen lösen kann. Verschiedene Gene eignen sich zur Lösung verschiedener Fragen, und wenn wir zu einem einheitlichen Kladogramm aller existierenden Arten gelangen wollen (und das wollen wir), bleibt uns nichts anderes übrig, als möglichst viele Gene gleichzeitig zu analysieren und es dem Rechnerprogramm zu überlassen, die Gene auf die unterschiedlich schnell wachsenden Zweige aufzuteilen ( Box 3.12).
3.13 Evolutionsgeschwindigkeit Es ist nichts dagegen einzuwenden, nach der sparsamsten Erklärung für die beobachtete Diversität zu suchen. – Solange wir unsere Aufgabe wirklich so definieren, gibt es nichts Besseres als die Kladistik. Manch einer möchte jedoch die „wahre“ Phylogenese studieren, und dann ist die Kernfrage, ob die Phylogenese wirklich auf dem sparsamsten Wege verläuft. Die Antwort fällt aber anscheinend negativ aus, denn selbst das kürzeste Kladogramm schließt immer irgendwelche nichthomologen Merkmale mit ein – es ist zwar das kürzestmögliche, es ist aber nicht unbedingt widerspruchsfrei. Die Widersprüche zwischen der Verteilung einzelner Merkmale existieren; die kladistische Methodologie minimalisiert zwar ihre Anzahl, aber sie kann sie nicht ganz eliminieren. So-
3.13 Evolutionsgeschwindigkeit
bald wir beginnen, die Wahrheit zu suchen, ist Schluss mit der Einfachheit als Kriterium für die Richtigkeit eines Kladogramms, und wir müssen irgendein anderes Kriterium suchen. Mit der Entfaltung der molekularen Systematik entwickelten sich auch Bestrebungen, die Fehler aufzudecken, zu denen es bei der Bildung von Kladogrammen nicht etwa irrtümlich, sondern aufgrund der Verwendung des kladistischen Ansatzes gesetzmäßig kommt. Die neue Methode nennt sich die Methode der maximalen Wahrscheinlichkeit (maximum likelihood) ( Box 3.8). Es geht dabei, ganz allgemein gesagt, um die Untersuchung, welche der phylogenetischen Hypothesen den beobachteten Merkmalen am besten entspricht, wenn wir die Gültigkeit irgendeines allgemeinen Evolutionsmodells voraussetzen. Die technischen Details sollen uns momentan nicht interessieren, sondern wir sehen uns gleich an, was uns diese Methode bringt. Stellen wir uns vor, dass uns siebzehn Nucleotidsequenzen von vier Arten A, B, C und D vorliegen, wobei wir wissen, dass die ursprüngliche Sequenz, die von Art D ist (die bei mehreren Arten gemeinsam vorliegenden Evolutionsneuheiten sind markiert): Position Nr.
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Art A
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C
C
C
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Art B
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C
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C
G
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A
C
G
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Art C
C
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
Art D
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A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
A
Offensichtlich teilen sich die Arten B und C ein abgeleitetes Merkmal (CytidinPhosphat in Position 1) und die Arten A und B drei abgeleitete Merkmale (Cytidin-Phosphat in Position 7, Guanosin-Phosphat in Position 12 und Thymidin-Phosphat in Position 17). Die kladistische Prozedur wird also eindeutig zu einem Kladogramm führen, bei dem die Arten A und B zusammengehören (unterstützt durch drei Apomorphien) (Abb. 3.19). Die Art A besitzt neun einzigartige, abgeleitete Merkmale, die Art B zehn. Bei Art C entdecken wir nur ein einziges abgeleitetes Merkmal (und zwar eines das auch bei Art B vorkommt). Ein alternativer, die Arten B und C verbindender Baum hält zwar das Merkmal Nr. 1 für homolog und verkürzt damit das Kladogramm um eine Apomorphie, dafür hält er aber die Merkmale 7, 12 und 17 für nichthomolog, wodurch das Kladogramm um drei Apomorphien verlängert wird (insgesamt ist also dieses Kladogramm um zwei Apomorphien länger). Trotzdem ist klar, dass wir wegen dieser drei Apomorphien nicht jubeln sollten: Die Arten A und B sind so extrem abgeleitet, dass die drei identischen Nucleotide ein Zufallsprodukt sein könnten. Vergessen wir nicht, dass wir mit nur vier Möglichkeiten arbeiten (A, C, G und T), sodass die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Übereinstimmung hier sehr hoch ist. Kurzum, der „Klade“ bestehend aus den Arten A und B können wir nicht ganz vertrauen, wobei der Grund für dieses Misstrauen eigentlich in der Beschleunigung der molekularen Evolution liegt, die bei diesen Arten stattgefunden hat. Deswegen sind ihre Sequenzen der ursprünglichen Sequenz von
193
Die Methode der maximalen Wahrscheinlichkeit untersucht, welche der phylogenetischen Hypothesen den beobachteten Tatsachen am besten entspricht.
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3 Phylogenese
3.19 Kladogramme, erstellt mit den Daten der Tabelle von S. 193). Als Daten liegen 17 Nucleotidsequenzen der Arten A, B und C vor, wobei wir wissen, dass die nur aus A (Adenosin) bestehende Sequenz der Art D ursprünglich ist. Alle Evolutionsneuheiten, die bei mehreren Arten vorkommen, sind rot markiert. Die blauen Zahlen geben die Positionen der jeweils neuen Sequenzen an. Weitere Erläuterungen im Text.
Die komplizierten Wahrscheinlichkeitsmethoden werden immer populärer.
Der Wahrscheinlichkeitsbaum ist in der Regel länger (und nimmt somit eine kompliziertere Hypothese zur Phylogenese an) als das Kladogramm.
siebzehn Adenosinen so unähnlich – in dem Zeitraum, in dem sich innerhalb der Sequenzen der Arten C und D maximal eine Mutation ereignet hat, gab es bei den Sequenzen der Arten A und B 12 bzw. 13 Mutationen. Besser gesagt sind es mindestens 12 und 13 Mutationen, denn es ist sehr wahrscheinlich, dass auch einige ihrer Adenosine nicht mehr die ursprünglichen sind, sondern dass diese sekundär zur Ausgangssituation zurückkehrten. Ein Merkmal, das die Arten B und D verbindet, ist somit insgesamt vielleicht glaubwürdiger als drei Apomorphien der Arten A und B. Es geht also nicht mehr um die Gesamtlänge des Baumgraphen. Was uns interessiert, ist die Wahrscheinlichkeit einzelner Änderungen. An dieser Stelle verlassen wir jedoch die Methode der maximalen Wahrscheinlichkeit, denn genauere Erklärungen würden eine zu technische Debatte erfordern. Wir bilden stattdessen ein Modell, wie die Evolution abläuft: Der richtige Baum ist demnach jener, der am besten den beobachteten Tatsachen wie auch diesem Modell entspricht. Weil die kladistische Methode für die Suche nach der Wahrheit offensichtlich nicht ganz brauchbar ist (niemand glaubt ernsthaft, dass die Evolution den einfachsten Weg nimmt), werden die komplizierteren Wahrscheinlichkeitsmethoden immer populärer. Schauen wir uns also an, welche Ergebnisse die neuen Methoden – verglichen mit der Kladistik – liefern bzw. nicht liefern können. Es existieren viele mögliche Evolutionsmodelle, ohne dass es jedoch einen Anhaltspunkt dafür gibt, welches man wählen sollte (denn wie im Fall der phänetischen Formeln fehlt ein klares Kriterium für Richtigkeit). Andererseits ist unverkennbar, dass es sich um grob vereinfachte Modelle handelt, die wahrscheinlich auch nicht das richtige Bild der Phylogenese widerspiegeln. Man kann natürlich erklären, dass ein Kladogramm kaum ein glaubwürdigeres Schema der Evolution darstellt als ein auf dem Wahrscheinlichkeitsmodell beruhender Baum, aber gerade das Kladogramm hat solche Ambitionen gar nicht. Wahrscheinlichkeitsbaum und Kladogramm unterscheiden sich vor allem darin, dass der Wahrscheinlichkeitsbaum länger ist und somit eine kompliziertere Hypothese zur Phylogenese annimmt als das Kladogramm. Wir müssten uns also irgendwelche Evolutionsereignisse ausdenken, die keine offensichtlichen Spuren in den
3.13 Evolutionsgeschwindigkeit
Eigenschaften der Organismen hinterlassen haben, um eine Übereinstimmung mit dem gewählten Modell zu erreichen und den Wahrscheinlichkeitsbaum zu akzeptieren. Was die Anordnung der beobachteten Daten betrifft, ist der Wahrscheinlichkeitsbaum offenbar schlechter (da länger) als das Kladogramm, andererseits könnte nur jemand, der schon weiß, wie die Evolution „wirklich“ verlaufen ist, bei der Suche nach dem „wahren Verlauf“ der Evolution dem Wahrscheinlichkeitsbaum guten Gewissens den Vorzug geben. Ein zweites wichtiges Problem des Wahrscheinlichkeitsansatzes besteht darin, dass die Modelle von irgendeiner, möglicherweise sogar berechtigten, Vorstellung ausgehen, wie Evolution üblicherweise abläuft. Eines wissen wir allerdings mit Sicherheit über die „Geschichte der Evolution“, nämlich dass ab und zu auch unwahrscheinliche Sachen geschehen. Einen bestimmten Prozentsatz der phylogenetischen Ereignisse können wir bei der Suche nach der wahrscheinlichsten Erklärung also nicht enthüllen, sodass einige Zweige des Wahrscheinlichkeitsbaumes bestimmt falsch sind. Leider wissen wir nicht, welche und wie viele es sind. Die Phylogenetik handelt nicht von der „durchschnittlichen“ oder „wahrscheinlichen“ Phylogenese, sondern von der realen Phylogenese, die irgendwie verlaufen ist, wobei jedes phylogenetische Ereignis nur einmal stattfindet. Dass etwas „wenig wahrscheinlich“ ist, bedeutet nicht, dass dieses Ereignis niemals eintreten wird. Jede auch noch so geringe Wahrscheinlichkeit (größer als null) bedeutet, dass das Ereignis irgendwann passieren kann. Kehren wir aber nochmals zum Problem der auffällig beschleunigten molekularen Evolution der Arten A und B zurück. Modellsimulationen zeigen, dass die Methode der maximalen Wahrscheinlichkeit die Tendenz hat, ein solches Paar einfach voneinander zu trennen (genauso wie die Kladistik dazu tendiert, sie zu verbinden). Der Haken ist folgender: Wenn verschiedene Arten eine unterschiedlich schnelle molekulare Evolution aufweisen (und gerade weil die Kladistik diese Tatsache nicht berücksichtigt und die sich schnell verändernden Arten A und B „künstlich“ verbindet, wollen wir sie ja verwerfen), heißt das natürlich, dass sich die Geschwindigkeit der molekularen Evolution im Verlauf der Phylogenese änderte. Es kann also sehr gut sein, dass zwei Arten mit einer auffällig schnellen Evolution Nachkommen eines gemeinsamen Vorfahrens sind. Die gemeinsame beschleunigte Evolution ist dann allerdings der Beweis ihrer Verwandtschaft, und die Kladistik tut gut daran, sie zusammenzufügen. Die Frage lautet also, wie hoch die Geschwindigkeit der molekularen Evolution im Verhältnis zur Geschwindigkeit der Abspaltung phylogenetischer Linien (also der Kladogenese) ist. Falls sich das Tempo der Evolution langsamer ändert, als die Kladogenese verläuft, müssen Gruppen verwandter Arten existieren, die die gleiche (mitunter extrem erhöhte) Geschwindigkeit der molekularen Evolution miteinander als Merkmal teilen. Falls aber im Gegenteil die Kladogenese langsamer ist, sollte das Tempo der molekularen Evolution einzelner Arten und Kladen mehr oder weniger zufällig verteilt sein. Im ersten Fall gewinnt die Kladistik, im zweiten Fall die Methode der maximalen Wahrscheinlichkeit. Dies ist allerdings ein Thema für eine empirische Untersuchung. Finden wir unter den Gruppen mit schneller molekularer Evolution auch solche, an deren Existenz niemand zweifelt (weil sie auf unstrittigen morphologischen Apomorphien beruhen),
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Jedes phylogenetische Ereignis findet nur einmal statt und bestimmt die reale Phylogenese. Ein „wenig wahrscheinliches“ Ereignis bedeutet nicht, dass es niemals eintreten wird.
Unterliegen die analysierten Arten einer beschleunigten Evolution, neigt die Methode der maximalen Wahrscheinlichkeit dazu, ein solches Paar zu trennen, während die Kladistik dazu tendiert, sie zu verbinden.
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Beispiele für Gruppen mit beschleunigter Evolution sind u. a. Blutegel, Zweiflügler oder parasitische Myxozoa.
Üblicherweise stimmen der kladistische und der Wahrscheinlichkeitsansatz in ihren Ergebnissen relativ gut überein.
3 Phylogenese
heißt das, dass zumindest gelegentlich der kladistische Ansatz berechtigt ist. Mehr verlangt auch niemand, denn es ist klar, dass der kladistische Ansatz ab und zu auch nicht berechtigt ist. Solche „beschleunigten“ Gruppen kennen wir tatsächlich – beispielhaft nennen wir Blutegel, Zweiflügler (Diptera) oder die seltsamen parasitischen Myxozoa, über die wir später mehr erfahren werden. In dem Moment, in dem wir uns entscheiden, irgendeine Methode zu benutzen, sollten wir uns auch bewusst sein, was wir machen. Andererseits gibt es keinen Grund zum Pessimismus. Der kladistische und der Wahrscheinlichkeitsansatz (und auch der neue Ansatz nach Bayes, der von einer ganz anderen mathematischen Berechnung der Wahrscheinlichkeiten ausgeht) stimmen in ihren Ergebnissen üblicherweise ziemlich gut überein. Darüber hinaus kommt es zu einer erstaunlichen Übereinstimmung der phylogenetischen Hypothesen, unabhängig davon, ob sie auf morphologischen oder molekularen Merkmalen beruhen.
3.14 Zur Phylogenese der (Säuge-) Tiere In den letzten Dekaden wurden bei der Erforschung der Phylogenese verstärkt auch molekulare Methoden eingesetzt. Dies ist vor allem der Entwicklung der PCR-Methode (Polymerase-Kettenreaktion) zu verdanken. Dank dieser labortechnischen Methode, bei der durch In-vitro-Replikation die Zahl der Kopien einer DNA-Sequenz erhöht wird, konnte die Genetik auch erfolgreich mit der Paläontologie verknüpft werden, wodurch die Paläogenetik etabliert wurde. Diese befasst sich mit der Analyse genetischer Proben fossiler, subfossiler und prähistorischer Überreste von Organismen. Aus den Proben wird die DNA extrahiert, mittels PCR kloniert, sequenziert und entsprechend der Fragestellung weiteranalysiert. So konnten die Verwandtschaftsbeziehungen einiger ausgestorbener Arten zu den rezenten Arten geklärt werden (z. B. Neandertaler, Mammut, Moa). Begründer der Paläogenetik ist Svante Pääbo ( s. u.).
Svante Pääbo Lebensdaten: geb. 1955 Nationalität: schwedisch (in Deutschland tätig) Leistung: Einer der Begründer der Paläogenetik. Seit 1997 leitet P. als Direktor die Abteilung Evolutionäre Genetik des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. 1985 gelang ihm erstmalig die Klonierung von DNA einer ägyptischen Mumie. P. und sein Team publizierten wichtige Arbeiten zu genetischen Unterschieden (besser gesagt: zu den Ähnlichkeiten) zwischen Menschen und Schimpansen. 2002 sorgte die aus seinem Labor stammende Arbeit zur Evolution und zum Alter des „Sprachgens“ (FOXP2, dessen Fehlen oder Defekt zu Sprachunvermögen führt) für große Aufregung. P. ist für seine Erfolge, DNA von alten Fossilien, darunter auch Neandertalern, gewonnen, sequenziert und analysiert zu haben, bekannt. 2009 kündigten P. und sein Team die vollständige Entschlüsselung des Erbguts eines Neandertalers an. 2007 zählte P. dem Nachrichtenmagazin Time zufolge zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt.
3.14 Zur Phylogenese der (Säuge-)Tiere
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| 3.14 |
Die „Eva der Mitochondrien“ und der „Adam des Y-Chromosoms“ R. L. Cann, M. Stoneking und A. C. Wilson publizierten 1987 das Konzept der „Eva der Mitochondrien“. Es beruht auf der Tatsache, dass Mitochondrien vorwiegend in mütterlicher Linie vererbt werden und eine eigene DNA (mtDNA) besitzen, die eine hohe Mutationsrate aufweist. Aufgrund der Analyse mitochondrialer Genome von 147 Menschen aus fünf geographisch verschiedenen Populationen stellten sie die Hypothese auf, dass diese gesamte mtDNA von einer Frau stammt, die vor etwa 200.000 Jahren, wahrscheinlich in Afrika, lebte. Alle untersuchten Populationen, mit Ausnahme der afrikanischen Population, sind multiplen Ursprungs, wodurch impliziert wird, dass jede Region wiederholt kolonisiert wurde. Diese Arbeit sorgte sowohl in Fachkreisen als auch in der Öffentlichkeit für sehr viel Aufregung und inspirierte zahlreiche weitere Forschungen. Die Analyse und ihre Interpretation wurde bestätigt, aber auch kritisiert. Abgesehen von den Vorwürfen, dass die mtDNA, wie man heute weiß, nicht ausschließlich in der mütterlichen Linie (matrilinear) vererbt wird und dass auch bei der mtDNA Rekombination möglich ist (wobei beide Phänomene die Ergebnisse aber wahrscheinlich nicht wesentlich beeinflussen), führten unterschiedliche Studien zu teilweise (jedoch nicht dramatisch) unterschiedlichen Berechnungen des Zeitraums, wann die „Eva der Mitochondrien“ lebte. Heute wird meistens eine Zeit vor ca. 140.000 Jahren angenommen. Allerdings wurde (und wird immer noch) die Interpretation der Ergebnisse oft missverstanden. Die Autoren sagten, dass die gesamte mtDNA der untersuchten Menschen von einer Frau stammt. Das heißt jedoch nicht, dass diese Frau der einzige und älteste gemeinsame Vorfahre aller untersuchten Menschen wäre. Es gab in der Zeit, als die „Eva der Mitochondrien“ lebte, (und davor) auch andere Frauen, und auch deren Gene tragen wir. Die „Eva der Mitochondrien“ war nur der jüngste gemeinsame Vorfahre der gesamten heutigen mtDNA (Abb. 3.20). Während Mitochondrien matrilinear vererbt werden, werden Y-Chromosomen, ähnlich wie in manchen Gesellschaften die Familiennamen (Abb. 3.21), patrilinear weitergegeben. Der jüngste gemeinsame Vorfahre der Männer (der „Adam des Y-Chromosoms“) lebte vor etwa 84.000 Jahren
(die Schätzungen schwanken zwischen 30.000 und 180.000 Jahren), also nach der „Eva der Mitochondrien“, und stammte ebenfalls aus Afrika. Die „Eva der Mitochondrien“ und der „Adam des Y-Chromosoms“ waren also kein Paar. Dies lässt sich dadurch erklären, dass Männer einen viel höheren Fortpflanzungserfolg haben können als Frauen. Ein Beispiel: Während die Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) 16 Kinder gebar (was schon sehr beachtlich ist), hatte ihr Zeitgenosse Mulai Ismail (1646–1727), Sultan von Marokko, angeblich mindestens 888 Kinder. Eine Frau braucht also viel mehr Generationen, um ebenso viele Nachkommen zu erreichen wie ein Mann. Das Problem des Missverständnisses ist in Abb. 3.20 dargestellt. „Adam“ und „Eva“ sind nur zwei von vielen gemeinsamen Vorfahren. Wir tragen auch Gene von anderen Vorfahren, und je nachdem welches Gen (Allel) wir zurückverfolgen, kommen wir zu einem anderen Vorfahren. Verschiedene Gene erzählen verschiedene Geschichten. Die Hypothese der „Eva der Mitochondrien“ unterstützt die schon von Charles Darwin postulierte afrikanische Herkunft des Homo sapiens ( Box 3.1). Auch weitere molekularbiologische Daten sowie die Fossilfunde ( Box 3.1) unterstützen die heute weitgehend akzeptierte Out-of-AfricaTheorie, nach der die Angehörigen der Gattung Homo ihren Ursprung in Afrika hatten und von dort wiederholt (über Asien) andere Kontinente besiedelten. Die wichtigsten Migrationswellen waren die von Homo erectus vor ca. 1,7 Millionen Jahren und von H. sapiens vor 100.000 bis 120.000 Jahren. Von Afrika aus verbreitete sich der moderne H. sapiens über die ganze Welt, wobei er allerdings durch einen „engen Flaschenhals“ ging, und ersetzte die Populationen von H. erectus und dem archaischen H. sapiens. Dem konkurrierenden „multiregionalen Modell“ lag die Annahme zugrunde, Homo sapiens habe sich in Afrika, Europa und Asien – getrennt – aus dem Homo erectus, einem gemeinsamen Vorfahren, entwickelt, wobei an den Grenzen der Verbreitungsgebiete Vermischungen stattgefunden haben sollen. Möglicherweise liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen, und es gab mehrere Migrationswellen aus Afrika, aber auch aus Asien wieder nach Afrika zurück.
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3 Phylogenese
3.20 Vererbung bzw. Substitution der mitochondrialen DNA, des Y-, des X-Chromosoms und beliebiger auf Autosomen lokalisierter Allele im Verlauf mehrerer Generationen. Das Schema illustriert ein Missverständnis des Konzepts „Eva der Mitochondrien“ bzw. „Adam des Y-Chromosoms“. Obwohl die mtDNA und das Y-Chromosom selbst nach einigen Generationen in unserem Schema alle von einer Frau bzw. einem Mann stammen, ist es klar, dass die Population nicht von einem einzigen Paar gegründet wurde, und dass Allele auf Autosomen und X-Chromosomen der Gründer aller Vorfahren auch in den nächsten Generationen vertreten sind. Unterschiedliche Farben repräsentieren unterschiedliche Haplotypen (Allel, mtDNA bzw. Chromosom).
Aber auch die Analyse der lebenden Organismen kann zu neuen Erkenntnissen über ihre Evolution und Geschichte führen. Auf große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen stoßen insbesondere molekularbiologische Studien, die unsere eigene Vergangenheit untersuchen. Erste Untersuchungen zur Variabilität humaner mitochondrialer DNA wurden bereits 1983 durchgeführt. Für viel Aufregung und auch etliche Missverständnisse sorgte die Theorie der „Eva der Mitochondrien“, die 1987 publiziert und zu einer wichtigen Säule der Out-of-Africa-Theorie der Herkunft der Menschen wurde ( Box 3.14, Abb. 3.20, 3.21).
3.21 Die Vererbung von Familiennamen in der männlichen Linie ist analog zur Vererbung des Y-Chromosoms und verdeutlicht die zufällige Substitution des Familiennamens (des Y-Chromosoms) ohne größere Unterschiede in der Fitness der berücksichtigten Personen. (Rosa Ovale = weiblich, blaue Vierecke = männlich)
3.14 Zur Phylogenese der (Säuge-)Tiere
Die vielleicht auffälligsten Veränderungen haben wir in den letzten Jahren bei den phylogenetischen Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppen der Säugetiere wahrnehmen können (Abb. 3.22). Während die morphologischen Analysen ziemlich verlässlich die natürlichen Grundgruppen („Ordnungen“ wie z. B. Primaten, Wale oder Raubtiere) identifiziert haben, konnten sie die Beziehungen dieser Ordnungen zueinander nicht eindeutig klären. Dagegen haben die molekularen Analysen von Anfang an die Natürlichkeit mancher Ordnungen (d. h. die Zusammengehörigkeit der Arten einer Ordnung) angezweifelt, wodurch auch die auf den molekularen Merkmalen beruhende supraordinale Phylogenese (also die Phylogenese oberhalb der Ordnungen) nicht besonders glaubwürdig erschien. Eine Sensation, die die Anwendung der molekularen Daten zu Tage förderte, war die Feststellung, dass Wale (Cetacea) eine Untergruppe der Paarhufer (Artiodactyla) und ihre nächsten Verwandten die Flusspferde sind. Zwar hatte man schon früher vermutet, dass Wale und Paarhufer nah verwandt sind, aber die Vorstellung, Delfine und Wale könnten in direkter Nachbarschaft des Flusspferds entstanden sein, erschien dann doch zu weit hergeholt, obwohl Flusspferde und Wale einige einzigartige Merkmale teilen, wie z. B. die Fähigkeit, Jungtiere unter Wasser zu säugen. Die andere durch molekulare Studien (beinahe) zerrüttete Gruppe ist die der Nagetiere. Die Behauptung, dass Meerschweinchen keine Nagetiere seien, sondern Angehörige einer selbstständigen Klade der Säugetiere, wurde – unter Angabe der entsprechenden Wahrscheinlichkeiten – oft als Musterbeispiel der revolutionären Änderungen zitiert, zu denen die Molekularsystematik gelangt. Seit 2001 wurden jedoch einige Arbeiten publiziert, die die Phylogenese der Säugetiere aufgrund der Untersuchungen einer Vielzahl verschiedener Gene revidieren. Und vor allem wurden sehr viele Modellarten in die Studien einbezogen, die sämtliche bedeutenden Gruppen der Säugetiere repräsentieren. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind weitaus „vernünftiger“ als die ursprünglichen Molekularkladogramme, die in der Zahl der Arten und Merkmale beschränkt waren. Nach diesen neueren Studien ist das Meerschweinchen nun wieder ein Nagetier, und alle traditionellen Säugetierordnungen gehen als natürliche Kladen hervor (mit Ausnahme der Paarhufer, bei denen sich hartnäckig die Wale halten). Die nächsten Verwandten der Nagetiere sind die Hasen (was jeder sieht, Lehrbücher aber hundert Jahre lang bestritten). Darüber hinaus bekommen wir endlich eine verlässliche Hypothese zur Grundphylogenese placentaler Säugetiere. Diese besteht aus drei Gruppen (Überordnungen): einer ursprünglich afrikanischen Gruppe „Afrotheria“ (Elefanten, Schliefer, Seekühe, Erdferkel, Goldmulle, Borstenigel und Rüsselspringer), einer zweiten südamerikanischen Gruppe der „Zahnarmen“ bzw. „Xenarthra“ (Gürteltiere, Faultiere und Ameisenbären), und einer dritten Gruppe, die den gesamten Rest der ursprünglich insbesondere die Nordhalbkugel bewohnenden placentalen Säugetiere umfasst („Boreoeutheria“). Eine der wenigen ursprünglich unorthodoxen Molekularhypothesen, die überlebt hat, ist die Zuordnung der Wale in die Nähe der Flusspferde, die zu einer der best unterstützten Gruppen der
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In den letzten Jahren wurde heftig am Stammbaum der Säugetiere „gerüttelt“.
Wale sind eine Untergruppe der Paarhufer, und ihre nächsten Verwandten sind die Flusspferde.
Die Placentalia lassen sich in drei Gruppen einteilen: Afrotheria, Xenarthra und Boreoeutheria.
200
Immer häufiger werden bei der phylogenetischen Analyse morphologische und molekulare Ansätze kombiniert.
3.22 Kladogramm der Säugetiere. Rote Linien kennzeichnen Gruppen, deren Monophylie nicht gesichert ist bzw. deren phylogenetische Beziehungen unsicher sind.
3 Phylogenese
Säugetiere überhaupt zählen. Neben den molekularen Daten sprechen auch noch immunologische und einige morphologische Merkmale (Rollbein) für die Verwandtschaft von Walen und Flusspferden. Wenn wir uns die nächsthöhere Hierarchieebene anschauen, also die Phylogenese der Tiere als Ganzes, sehen wir, wie sich der morphologische und der molekulare Ansatz gegenseitig beeinflussen. Die Kladogramme in Abbildung 3.23 sind stark vereinfacht und schließen nur einige Tiergruppen ein; links ist die traditionelle, auf morphologischen Merkmalen (und eher vorkladistischen Prozeduren) basierende Vorstellung, rechts ein aus der kladistischen Analyse molekularer und morphologischer Merkmale hervorgehendes Kladogramm.
3.14 Zur Phylogenese der (Säuge-)Tiere
201
3.23 Vergleich der Kladogramme des Tierreichs. Traditionelle Verwandtschaftshypothese (links) und die auf der Kombination von molekularen und morphologischen Daten beruhende Hypothese (rechts). Farbig unterlegt sind die wichtigsten Änderungen. Blau unterlegt sind die Deuterostomier.
Als die Molekularphylogenetiker feststellten, dass Gliederfüßer (wie Insekten, Krebse oder Spinnen) zusammen mit Krallenträgern (Onychophora) und Bärtierchen (Tardigrada) nicht wie allgemein angenommen Verwandte der Anneliden sind (z. B. Regenwürmer, Blutegel und „Vielborster“), sondern einer Gruppe viel einfacherer Würmer, die den Fadenwürmern (z. B. Spulwürmern) nahe stehen, konnten das die Morphologen nicht glauben. Dabei weisen Gliederfüßer und Fadenwürmer eine Reihe gemeinsamer morphologischer Merkmale auf, die die Morphologen schon früher kannten – insbesondere die regelmäßig gehäutete Cuticula. Weitere Untersuchungen der Details dieses Häutungszyklus und seiner hormonellen Steuerung zeigten, dass die Ähnlichkeiten zwischen Gliederfüßern und Fadenwürmern weit über die Ebene einer möglichen Konvergenz hinausreichen. Ähnlich wurde festgestellt, dass „Plattwürmer“ aus der Gruppe Acoela, die mehrere Dutzend Arten von auffällig einfachen Meerestieren umfassen, wahrscheinlich gar nicht zu den Plattwürmern gehören. Sie sind somit nicht mit Strudelwürmern (die bei uns in Bächen leben), Saugwürmern und Bandwürmern verwandt, sondern es handelt sich um die primitivsten zweiseitig symmetrischen Tiere (Bilateria) überhaupt. Des Weiteren zeigten Morphologen, dass sich die Gruppe Acoela im Bau des Nervensystems völlig von anderen Tieren unterscheidet, unter anderem dadurch, dass ihnen ein dem Gehirn anderer Tiere homologes Nervenzentrum vollkommen fehlt. Wenn wir die gegenwärtigen molekularbiologischen Hypothesen zur Phylogenese der Säugetiere und anderer Tiere miteinander kombinieren und mit den morphologischen Hypothesen vergleichen, stellen wir fest, dass sich beide Kladogramme auffällig ähneln. Die Vorstellung, dass beide Ansätze grundsätzlich verschieden sind und dass die molekularbiologischen Analysen unorthodoxe Ergebnisse lieferen, stammt aus der „Steinzeit“ der Molekularsystematik. Zwischen den Ergebnissen der phylogenetischen Analyse molekularer Merkmale und denen der morphologischen Merkmale gibt es keinen grundsätzlichen Widerspruch, sondern vielmehr gibt es Diskrepanzen zwischen den Ergebnissen der phylogenetischen Analyse beliebiger Merkmale auf der einen Seite und den
Neu eingeführt wurde das Taxon Ecdysozoa (Fadenwürmer und Gliederfüßer), wohingegen das Taxon Articulata (Gliederfüßer und Ringelwürmer) aufgelöst wurde.
Das traditionelle System der Plathelminthen wurde dramatisch umgestellt: aus einem „Stamm“ mit drei „Klassen“ wurden zwei „Stämme“ mit etwa zehn „Klassen“.
Die morphologischen und die molekularen phylogenetischen Hypothesen unterscheiden sich nicht so gravierend, wie es anfangs bei Einführung der molekularen Methoden erschien.
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3 Phylogenese
Die wirkliche Revolution in der Phylogenetik verursachten die neuen Methoden und nicht neue Merkmalsquellen.
altertümlichen Lehrbuchspekulationen über den möglichen Ablauf der Evolution auf der anderen Seite. Die eigentliche Revolution in der Phylogenetik geht somit von den neuen Methoden aus und nicht von den neuen Merkmalsquellen. Im folgenden Teil schauen wir uns an, wie Evolutionsinnovationen entstehen, die in der Phylogenese zu „Apomorphien“ werden und es uns ermöglichen, phylogenetische Beziehungen zwischen den Organismen zu rekonstruieren. Dies ist ein Schlüsselgebiet der Evolutionsbiologie. Kaum jemand zweifelt an der Existenz und der Funktionalität des eigentlichen „Darwin’schen Algorithmus“ (Variabilität – Konkurrenz – Selektion), dafür aber an seiner Fähigkeit, Evolutionsneuheiten herauszubilden. Wir werden uns also mit einigen grundlegenden Fragen beschäftigen, z. B. ob wirklich einzelne Apomorphien einheitliche Komplexe bilden oder ob sie − eine nach der anderen − unabhängig entstehen, wie die Beziehung zwischen der genetischen Steuerung des Organismus und seiner Evolution ist, wie innerhalb der Kladen morphologische Vielfalt entsteht und wie Ontogenese und Entstehung neuer morphologischer oder ökologischer Eigenschaften in der Evolution in Wechselwirkung stehen. Wir werden uns ein bisschen mit Genetik, Biochemie und Embryologie auseinandersetzen müssen, aber der wesentliche Punkt liegt wieder in der Schlüsselrolle des phylogenetischen Ansatzes für das Verständnis der biologischen Natur der Vielfalt der Organismen.
Kontroll- und Verständnisfragen
Kontroll- und Verständnisfragen 1 Zu einer Zeit, als noch keine Fossilien von Ur- und Vormenschen bekannt waren und noch keine molekularbiologischen Beweise vorlagen, postulierte Charles Darwin, dass der Mensch ursprünglich in Afrika evolvierte. Womit begründete er diese Idee? 2 Wie sah unsere Vorstellung der Evolution des Menschen um 1870, 1900, 1930, 1960, 1990 aus? Wie sieht sie heute aus? 3 Wie würden Sie Carl von Linné, den Vater der Taxonomie und der taxonomischen Nomenklatur, charakterisieren? War er ein Botaniker, Darwinist, Evolutionist, Kladist, Kreationist, Nominalist, Phylogenetiker, Realist, Systematiker, Taxonom, Zoologe? (Mehrere Antworten sind möglich.) 4 Welche der zwei folgenden Aussagen ist richtig? a) Morphologisch ähnliche Arten bilden Gruppen aufgrund ihrer Verwandtschaft. b) Verwandte Arten bilden Gruppen aufgrund ihrer morphologischen Ähnlichkeit. 5 „Obst“ und „Gemüse“ sind keine systematischen Taxa, sondern logische Klassen. Ähnlich ist es z. B. mit „Süßwasser- und Meeresfischen“, ,,Haus- und Wildtieren“. Begründen Sie, warum man diese Begriffe (bzw. die Zuordnung zu diesen Klassen) nur durch Konvention definieren kann und nennen Sie weitere solcher Beispiele. 6 Ein norddeutscher Fischer kann Probleme haben, sich mit einem Bauern aus den deutschen Alpen zu verständigen. Gäbe es eine Zeitreise-Möglichkeit, würden Sie Probleme haben, Karl den Großen (747–814) zu verstehen. Dabei sprechen bzw. sprachen alle Deutsch. Sowohl Sprachen als auch Organismen kann man mit phylogenetischen und taxonomischen Methoden untersuchen und klassifizieren. Erläutern Sie am Beispiel der Sprachen die Problematik der Definition einer Art in Zeit und Raum! 7 Fossilien werden oft als Beweise für die Evolution angegeben, und wenn sie fehlen, interpretieren Kreationisten dies gern als Beweis gegen die Evolution. Dabei sind die beiden großen Fossilienkenner und Begründer der Paläontologie, George Cuvier (er interpretierte z. B. als erster die Fossilien von Flugsauriern richtig) und Richard Owen (er prägte u. a. die Begriffe „Homologie“ und „Dinosauria“), als Gegner der Evolution bekannt. Ist das nicht ein Paradoxon? Erklären Sie diesen Widerspruch! 8 Erläutern Sie am Beispiel der Evolution der Autos die Begriffe „Konvergenz“, „Divergenz“, „Parallelismus“, „Homologie“, „Analogie“!
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3 Phylogenese
9 Charakterisieren Sie folgende Merkmalspaare als Analogie, Homologie, Orthologie oder Paralogie! (Mehrere Antworten sind möglich.) a) Vorder- und Hinterflügel eines Schmetterlings b) Vorderflügel und Halteren (Schwingkölbchen = reduzierte Hinterflügel) einer Fliege c) Vorderflügel eines Schmetterlings und Halteren einer Fliege d) Hinterflügel eines Schmetterlings und Halteren einer Fliege e) Vorderflügel einer Fliege und Flügel eines Vogels f ) Flügel eines Vogels und Flügel eines Flugsauriers 10 Warum ist die Familie „Pongidae“ (Menschenaffen) aus Sicht der Kladistik nicht gültig? Nennen Sie andere Beispiele für eine ähnliche taxonomische Problematik! 11 Sind sich zwei Arten dadurch ähnlich, dass sie bestimmte Merkmale haben oder dass sie sie nicht haben? Nennen Sie Beispiele, wo dieses Problem bei der verwandtschaftlichen Analyse vorkommen kann! 12 Nennen Sie Beispiele für Merkmale, bei denen das gewählte Merkmal in einer Vergleichsgruppe eine Apomorphie, in einer anderen Gruppe jedoch eine Plesiomorphie darstellt! 13 Wie würde ein Phylogenetiker einen Eremiten, der die Stadt verlassen hat, nun abgeschieden von der übrigen Gesellschaft in den Bergen lebt, sich kaum wäscht, und sich nicht für das politische Geschehen interessiert, bezeichnen? (Mehrere Möglichkeiten sind denkbar.) a) primitiv b) basal c) modern d) konservativ b) abgeleitet e) ursprünglich 14 Warum wird durch Hinzufügen von neuen Merkmalen in die phylogenetische Analyse das phylogenetische Signal relativ verstärkt, nicht aber das Rauschen, obwohl diese neuen Merkmale nicht weniger zufällig sind als die ursprünglichen? 15 Definieren Sie die Begriffe „Anagenese“ und „Kladogenese“! Welche Schule der Systematik betont die Anagenese, welche die Kladogenese? 16 Im Film Jurassic Park wurden manche Verhaltensweisen von Dinosauriern sehr anschaulich dargestellt. Dabei beruhte diese Darstellung keineswegs auf reiner Phantasie und „künstlerischer Freiheit“. Woher wissen wir, wie sich die Dinosaurier wahrscheinlich verhielten?
Kontroll- und Verständnisfragen
17 Welche Moleküle oder Gene verwendet man bevorzugt, wenn Phylogeneseprozesse mit molekularen Methoden rekonstruiert werden sollen? 18 Welche Konstellation ist für die Rekonstruktion der Phylogenese geeigneter: a) die Analyse von 100 Merkmalen bei 100 Arten oder b) 1000 Merkmale bei zehn Arten? 19 Nennen Sie Vor- und Nachteile von morphologischen oder molekularen Merkmalen für die Rekonstruktion der Phylogenese! 20 Mutationen eines bestimmten Typs kommen beim Vergleich von Menschen und Schimpansen 32-mal häufiger vor als beim Vergleich von Afrikanern und Nichtafrikanern. Die Datierung der Fossilfunde deutet daraufhin, dass der gemeinsame Vorfahre von Schimpansen und Menschen vor sechs Millionen Jahren lebte. Wann kam es, ausgehend von diesen Kenntnissen, zur Auswanderung aus Afrika? 21 Nachnamen haben eine unterschiedliche Frequenz in der Bevölkerung. a) Der Name „Müller“ führt in der Liste der deutschen Familiennamen (Häufigkeit 9,5 Prozent). Welche „phylogenetische“ bzw. „taxonomische“ Erklärungsmöglichkeit gibt es hierfür? b) Den häufigsten Familiennamen in Korea („Kim“) tragen 21 Prozent der Population. Welche Erklärungsmöglichkeiten könnte es für den Unterschied in der Frequenz zwischen dem deutschen „Müller“ und dem koreanischen „Kim“ geben? 22 Die „mitochondriale Eva“ lebte vor ca. 140.000 Jahren, „Adam des YChromosoms“ dagegen vor ca. 84.000 Jahren. Wie ist diese Aussage zu verstehen, und wie kann man die Diskrepanz erklären? 23 Nennen Sie die wichtigsten neuen Änderungen im Stammbaum der Tiere! 24 Nennen Sie die wichtigsten neuen Änderungen im Stammbaum der Säugetiere! 25 Unter welchen Voraussetzungen könnte allein die Analyse der mtDNA enthüllen, ob die Hybridisierung zwischen Homo sapiens und H. neanderthalensis stattgefunden hat? Unter welchen Voraussetzungen liefert diese Analyse keine eindeutige Aussage?
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MacGyver, der Held einer 1985 gestarteten US-amerikanischen Fernsehserie, die inzwischen Kultstatus erreicht hat, besitzt einen unglaublichen Einfallsreichtum und großes handwerkliches Geschick, wenn es darum geht, aus Alltagsgegenständen Dinge zu basteln, mit denen er sich aus schwierigen Situationen befreit. So kommt es durchaus vor, dass er einen Kaugummi zweckentfremdet und ihn als Sprengstoff einsetzt oder dass er eine Bombe mithilfe einer Büroklammer entschärft. ( S. 253)
4 Evolutionäre Neuheiten
Das Widerstreitende zusammenbringend, und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie. Heraklit, Fragment B8
Darum geht es in diesem Kapitel: • Wann und wo entstanden die ersten Tiere? Wie sahen sie aus? • Was verstehen die Biologen unter einem Bauplan? • Wie entstanden die Wirbeltiere? • Können auch heute noch neue Baupläne entstehen? • Wie schnell verläuft die Evolution? • Was verstehen Zoologen unter einer „Kaste“? • Welche Rolle spielt die Duplikation der Gene in der Evolution? • Womit beschäftigt sich „Evo-Devo“? • Wie wird auf Grundlage der genetischen Information eine Fliege „hergestellt“? • Was haben Flügel, Beine und „Augen“ von Tagpfauenaugen gemeinsam? • Worauf beruht die morphologische Vielfalt der Pflanzen? • Worauf beruht die Vielfalt der Wirbeltiere? • Warum sind die Augen nicht vollkommen und warum ist ihre Entstehung durch graduelle Evolution durchaus plausibel? • Warum arbeitet die Evolution eher wie ein Bastler und nicht wie ein Konstrukteur? • Was sagt uns die Ontogenese über die Evolution und die Phylogenese? • Ist die frühe Ontogenese konservativ oder instabil? • Wie kann die Geschwindigkeit der Ontogenese die Morphologie und das Verhalten von erwachsenen Organismen beeinflussen? • Was verstehen die Kreationisten unter „Paleys Uhr“ und „nichtreduzierbarer Komplexität“?
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4 Evolutionäre Neuheiten
4.1 Kambrische Explosion
Die Grenzen der geologischen Zeiträume richten sich nach großen Umbrüchen in der Zusammensetzung von Fauna und Flora.
4.1 Geochronologische Zeittafel des Phanerozoikums (MJ = Millionen Jahre. Die Grenze des Quartärs wurde neulich auf - 2,6 MJ gesetzt, sodass das Quartär auch die obere Stufe des Pliozäns einschließt. Die Hintergrundfarben entsprechen der Konvention geologischer Karten: http:// ccgm.free.fr/index_gb.html. Altersangaben nach Gradstein, Ogg, Smith 2004) (In Anlehnung an diverse Quellen)
Das Paläozoikum ( Box 4.1, Abb. 4.1) begann vor ca. 542 Millionen Jahren mit einer bedeutenden Evolutionsperiode unseres Planeten, die wir Kambrium nennen und die etwa 55 Millionen Jahre andauerte. Nicht zufällig ist das Kambrium der Beginn des Paläozoikums und damit auch der Beginn einer großen Ära (in der paläontologischen Fachsprache nicht als „Ära“, sondern als „Äon“ bezeichnet), des Phanerozoikums (= „Zeitalter der sichtbaren Tiere“), in dem wir noch heute leben. Die Paläontologen legen die Grenzen dieser Zeiträume nämlich nicht willkürlich fest, sondern richten sich nach großen Umbrüchen in der Zusammensetzung von Fauna und Flora. Wenn wir mit dem Beginn des Kambriums auch das Phanerozoikum einleiten, heißt das, dass zu Beginn des Kambriums ein unvergleichliches Evolutionsereignis stattgefunden hat, das das Leben auf der Erde für die nächste halbe Milliarde Jahre formte und dem in späteren Zeiten kein anderes Ereignis vergleichbaren Ausmaßes folgte. Wir bezeichnen dieses Evolutionsereignis auch als „kambrische Explosion“.
4.1 Kambrische Explosion
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| 4.1 |
Geschichte der Erde und des Lebens: die ersten drei Äonen Wie schon im Vorwort erläutert, soll dieses Buch die Evolutionsmechanismen und nicht die konkrete Erdgeschichte behandeln. Die Fragen der Protobiologie (d. h. die Lehre der Entstehung lebender Systeme aus nichtlebender Materie) könnte ein ganzes Buch füllen; wir lassen sie hier außer Acht. Dennoch sind einige Bemerkungen zu diesemThema notwendig, um die besprochenen Ereignisse zeitlich grob einordnen zu können. Die Erdgeschichte wird chronologisch in vier Äonen eingeteilt (Hadaikum, Archaikum, Proterozoikum und Phanerozoikum), die wiederum in Ären (Einzahl: Ära; Erdzeitalter) eingeteilt werden. Die weitere Unterteilung des jüngsten Äons (Phanerozoikum) ist in Abbildung 4.1 dargestellt. Kürzere Zeitabschnitte heißen Perioden (Systeme), die wiederum in Epochen (Serien) unterteilt sind. Diese hierarchische Zeiteinteilung beruht auf geologischen Erkenntnissen und entspricht der Bezeichnung für Gesteinseinheiten. Gravierende geologische oder paläontologische Ereignisse bzw. Änderungen charakterisieren die Zeiteinheiten bzw. deren Grenzen. Heute nimmt man an, dass unsere Erde vor ca. 4600 Millionen Jahren (MJ) durch Kondensation kosmischen Staubs und größerer Körper entstanden ist. Wegen der vorherrschenden Bedingungen wird das erste Äon (bis 4000 MJ vor unserer Zeit), in Anlehnung an die Bezeichnung für die Unterwelt in der griechischen Mythologie, Hadaikum genannt. Die Kondensierung führte zur Verschmelzung des gesamten Erdkörpers und nach dem Erkalten bildete sich die Erdkruste. Erst danach konnten sich die organischen Verbindungen bilden. Allerdings schlugen vor 4300–3800 MJ enorm viele Meteoriten auf der Erde ein. Sehr wahrscheinlich konnte das heutige Leben erst danach entstehen bzw. sich etablieren. Durch verschiedene Überlegungen kamen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass die ersten sich replizierenden und polymerisierenden Moleküle imTemperaturbereich von 0 bis 35 °C in einer wässrigen Lösung von organischen Verbindungen („Ursuppe“) entstanden; nach einer alternativen Hypothese waren die ersten Organismen, wie die Archaeen, hyperthermophil. Das Leben entstand in anaerobem Milieu, in einer Atmosphäre mit Methan, Ammoniak, Wasserdampf und Wasserstoff.
Die ersten paläontologisch nachgewiesenen Lebenszeichen sind 3500 MJ alt und stammen aus dem Archaikum (vor 4000–2500 MJ). Allerdings ist es nicht einfach, ältere Lebensspuren zu finden, denn es ist auch nicht einfach, so alte Gesteine zu finden. Die ältesten, in Grönland gefundenen Gesteine sind 3750 MJ alt und bereits stark metamorphiert, sodass eventuelle Fossilspuren in ihnen zerstört wurden. Die ersten (ca. 3400–3500 MJ alten) „Fossilien“ sind Stromatolithen, säulenförmige Gebilde, deren Durchmesser zum Teil mehrere Meter beträgt. Jeder Stromatolith ist ein kleines Ökosystem, das aus mehreren, von verschiedenenTypen prokaryotischer Organismen gebildeten Schichten besteht. Die fossilen Stromatolithen ähneln den rezenten stark, sind allerdings sehr selten (z. B. Shark Bay in Westaustralien). Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des Lebens war die Erfindung der Photosynthese durch Cyanobakterien, deren erste Spuren manchen Autoren zufolge 3750 MJ alt sind. Die Sauerstoffatmosphäre und damit eine stabile aerobe Umwelt entstanden allerdings erst im Proterozoikum (2500–542 MJ) und zwar vor ca. 2000 MJ. Die Evolution der Prokaryoten verlief sehr langsam, und sie sind taxonomisch wenig differenziert ( Abschnitt 368). Einzellige Eukaryoten erschienen vor 1800– 2000 MJ. Diese Mikroalgen unklarer biologischer Stellung werden als Acritarcha bezeichnet. Sie haben sich 600 MJ lang praktisch nicht verändert. Erst danach kam es zur Diversifizierung vermutlich in Folge der Erfindung der sexuellen Fortpflanzung. Vor ca. 950–850 MJ begann der allmähliche Rückgang der Acritarcha – wahrscheinlich infolge der Erhöhung der Sauerstoff- und der Senkung der Kohlenstoffdioxidkonzentration. Vor 1300 MJ entstanden vielzellige Organismen. Aus dieser Zeit stammt die bandförmige Alge (oder Bakterienkolonie) Grypania spiralis. Die ältesten Anzeichen für die Existenz vielzelliger wurmartiger Organismen sind die über eine Milliarde alten Grabegänge, die in Indien und Texas gefunden wurden. Der direkte Nachweis vielzelliger Organismen kam allerdings erst mit der Lebensgemeinschaft, die sogenannte Ediacara-Fauna, die am Ende des Proterozoikums auf der Erde erschien ( Box 4.2).
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4 Evolutionäre Neuheiten
Die präkambrischen Fossilien unterscheiden sich sehr von den heutigen Organismen. Die ersten bekannten Vertreter aller großen Tiergruppen stammen aus dem Kambrium.
Aus diesem Zeitalter stammen die ersten bekannten Vertreter aller großen Gruppen („Stämme“) der vielzelligen Tiere, die für die Fossilisierung groß und hart genug waren. Im Gegensatz dazu sind nur wenige vorkambrische Fossilien erhalten, die aber von der gegenwärtigen Natur so sehr abweichen, dass uns eine Interpretation schwer fällt. Als Beispiel möge Spriggina dienen (Abb. 4.2), das von einigen Autoren für ein segmentiertes regenwurmähnliches Tier und von anderen für ein sesshaftes farnähnliches Wesen gehalten wird. Die Schwierigkeiten bei der Zuordnung dieses Organismus zu Flora oder Fauna verdeutlichen die Ratlosigkeit ( Box 4.2). Dagegen können die kambrischen Tiere in aller Regel sehr wohl den heute lebenden Stämmen zugeordnet werden. Als die ersten kambrischen Schichten mit gut erhaltener Fauna, vor allem die berühmten Burgess-Schiefer in BritischKolumbien (Kanada), entdeckt wurden, ordnete man die kambrischen Tiere aufgrund der allgemeinen Form ohne Bedenken den heutigen Gruppen zu ( Box 4.3). So wurde z. B. Opabinia regalis, ein wenige Zentimeter langes Tier
| 4.2 |
Ediacarium Das Ediacarium (früher auch als Vendium bezeichnet) ist die jüngste Periode (vor 635–542 MJ) des Proterozoikums. Den Namen trägt es nach den bekannten Fossilien, der sogenannten EdiacaraFauna, die man in den Ediacara-Hügeln der Flinders Ranges, einer Bergkette in Südaustralien, gefunden hatte und die 1947 beschrieben wurden. Später wurden ähnliche fossile Gemeinschaften in England, Neufundland, Russland, Ukraine, und im Südwesten der USA entdeckt, und auch ältere Funde aus Namibia ordnete man hier ein. Diese erste größere Gemeinschaft von vielzelligen, mit bloßem Auge sichtbaren Organismen (Makrofossilien) erschien nach Ende der globalen Vereisung („Schneeball-Erde-Hypothese“), also zu einer Zeit der globalen Erwärmung und auch des Anstiegs der Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre. Die höhere Sauerstoffkonzentration war wahrscheinlich für die Atmung und auch die Synthese des Kollagens, das nur bei vielzelligen Tieren vorkommt, notwendig. Die Ediacara-Organismen repräsentieren vermutlich die ersten Gewebetiere (Eumetazoa) (Abb. 4.2). Sie besaßen jedoch zunächst noch keine mineralisierten Skelettteile. Eine der wichtigsten Besonderheiten vieler Arten ist die Tatsache, dass sie keinen Verdauungstrakt hatten. Vielleicht ernährten sie sich durch osmotische Diffusion über die Körperoberfläche oder dank symbiotischer Bakterien. In dieser Gemeinschaft fehlen die Prädatoren. Über die taxonomische Natur der Ediacara-Tiere wird bis heute diskutiert.
Nach manchen Autoren (z. B. Adolf Seilacher S. 212) steht die Ediacara-Fauna in keinem Zusammenhang mit der Fauna des Phanerozoikums, d. h. es handelte sich um eine „evolutionäre Sackgasse“. Doch aus dem Ediacarium stammen die ältesten Funde von Spicula (Nadeln) von Schwämmen. Heute nimmt man an, dass auch andere Tiere, die erst im Kambrium „sichtbar“ wurden, bereits im Ediacarium entstanden sind. Am Ende des Ediacariums verschwanden die meisten Ediacara-Formen. Die letzten Ediacara-Tiere sind im oberen Kambrium nachgewiesen.
4.2 Einige Repräsentanten der Ediacara-Fauna. (In Anlehnung an Palmer 2000, Xiao und Laflamme 2009)
4.1 Kambrische Explosion
211
mit segmentiertem Rumpf und einem Paar blattförmiger Gliedmaßen an jedem Segment, als kambrischer, mit den Kiemenfüßern verwandter Krebs bezeichnet (Abb. 4.3). In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts begann die detaillierte Erforschung der kambrischen Fauna und die Paläontologen konnten bei diesem „kambrischen Kiemenfüßer“ nur staunen – seine „Gliedmaßen“ sind in Wirklichkeit unsegmentierte Flossen und auf dem Kopf befinden sich fünf Komplexaugen und ein flexibler (dem Schlauch eines Staubsaugers nicht unähnlicher) Rüssel, der mit einem Paar Beißorganen endet. Aus dieser Phase der Erforschung der kambrischen Fauna stammt das berühmte und einflussreiche Buch Wonderful life von Stephen Jay Gould, das auf Deutsch unter dem weniger treffenden Titel Zufall Mensch erschien. Der US-amerikanische Paläontologe Gould ( S. 35) versuchte in seinem Buch zu beweisen, dass nur wenige kambrische Tiere mit | 4.3 |
Burgess-Schiefer Der Burgess-Schiefer (engl. Burgess shale) ist eine der weltweit bedeutendsten fossilen Lagerstätten und wurde nach dem Burgess-Pass im Yoho-Nationalpark in den kanadischen Rocky Mountains benannt. Die 505 MJ alte Lokalität ist für die außergewöhnlich gut erhaltenen Fossilien einer vielfältigen Fauna aus dem Kambrium bekannt. Die Bedeutung der Fundstätte wird auch dadurch deutlich, dass sie zum Weltkulturerbe der Unesco erklärt wurde. Die Fossilien wurden hier erstmalig 1909 von Charles Doolittle Walcott entdeckt. Walcott erkannte die Bedeutung der Erhaltung der Weichteile, fand an dieser Lokalität innerhalb von 15 Jahren 65.000 Fossilien und versuchte sie, den rezenten Taxa zuzuordnen. Erst 1962 inspizierte Alberto Simonetta die Fossilien wieder und stellte fest, dass Walcott nur die Spitze des Eisbergs gesehen bzw. erkannt hat: Viele der fossilen Organismen passen nicht richtig zu den bekannten Taxa rezenter Tiere, und diese Sammlung bietet viel mehr Informationen als bis dato publiziert. Der renommierte britische Paläontologe Harry Blackmore Whittington, begann mit seinen Studenten Derek Briggs and Simon Conway Morris ( S. 212) erneut im Burgess-Schiefer nach den Fossilien zu suchen, um die Sammlung von Walcott zu revidieren. Die Untersuchungen bestätigten den Verdacht von Simonetta, dass die Burgess-Schiefer-Fauna sehr vielfältig, ungewöhnlich und seltsam bis bizarr ist (Abb. 4.3). In den neuen Steinbrüchen fand man schneller Fossilien, als man sie zu untersuchen vermochte. Ähnliche, noch etwas ältere, Funde aus dem Kambrium (525–520 MJ alt) sind aus der Cheng-
jiang-Faunengemeinschaft in der chinesischen Provinz Yunnan bekannt. Aus dieser, erst 1984 entdeckten Fossillagerstätte wurden bisher fast 200 Arten beschrieben, die verschiedensten „Stämmen“ zugeordnet wurden. Etwa 12 Prozent dieser Arten erwiesen sich allerdings als problematisch und können nicht eindeutig klassifiziert werden.
4.3 Einige Repräsentanten der kambrischen Fauna. (In Anlehnung an diverse Quellen)
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Die kambrischen Formen sind selbstständige phylogenetische Linien, die mit den heutigen „Stämmen“ verwandt sind.
4 Evolutionäre Neuheiten
den gegenwärtigen Gruppen verwandt sind (z. B. der Gliederfüßer Canadaspis oder das Chordatier Pikaia), während die Mehrheit der kambrischen Formen den heutigen Tieren höchstens oberflächlich ähnlich ist. Nach Goulds Auffassung hat die kambrische Explosion eine sehr viel größere Zahl verschiedener Baupläne gebildet, als wir je dachten, und wir sind heute fast ausschließlich von mehr oder weniger zufälligen „Gewinnern“ umgeben, die es über weite Strecken der Evolution geschafft haben – sei es aufgrund ihrer Qualitäten oder dank des Zufalls –, nicht auszusterben. In der dritten Phase der kambrischen Phylogenetik begann man, die kambrischen und die heutigen Tiere kladistisch zu analysieren. Dabei stellte man – letztendlich erwartungsgemäß – fest, dass die kambrischen Formen selbstständige phylogenetische Linien darstellen, die mit den heutigen „Stämmen“ mehr oder weniger verwandt sind. Bislang sind wir bei der Analyse der Gliederfüßer (Arthropoden) und ihrer Verwandten am weitesten fortgeschritten. Opabinia ist sicherlich weder ein Kiemenfüßer noch ein anderer Krebs, stellt aber auch kein „selbstständiges Experiment der Natur“ dar, mit dessen Hilfe ein segmentiertes Tier geschaffen wurde. Opabinia gehört wahrscheinlich zusammen mit einigen weiteren verwandten Arten dem ausgestorbenen „Stamm“ der Anomalopoda an, der vermutlich eine Schwestergruppe der Gliederfüßer und Bärtierchen ist (wobei Gliederfüßer, Bärtierchen, Stummelfüßer und Anomalopoda offensichtlich eine Klade nah verwandter Formen bilden).
Adolf Seilacher Lebensdaten: geb. 1925 Nationalität: deutsch Leistung: Paläontologe, Paläoökologe. S. ist u. a. bekannt für seine bedeutenden Beiträge zum Studium der Spurenfossilien (d. h. fossilen Lebensspuren), Konstruktionsmorphologie,Taphonomie und der EdiacaraFauna. Von 1964 bis zu seiner Emeritierung war er an der Universität Tübingen tätig. »Für seine innovative Forschung, welche die Evolution des Lebens in Wechselwirkung mit der Umwelt, wie sie in geologischen Aufzeichnungen dokumentiert wird, betrifft« wurde er 1992 mit dem Crafoord-Preis („der komplementäre Nobelpreis“) ausgezeichnet.
Simon Conway Morris Lebensdaten: geb. 1951 Nationalität: britisch Leistung: Paläontologe. C. M. erforschte die Fossilien des Burgess-Schiefers. Er vertritt die Meinung, dass der Zufall in der Evolution keine Rolle spielt und Konvergenz eine größere Bedeutung hat und damit auch eine gewisse Vorhersagbarkeit der Evolutionsrichtung gegeben ist. Sein Buch Jenseits des Zufalls. Wir Menschen im einsamen Universum ist 2008 auf Deutsch erschienen.
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4.1 Kambrische Explosion
Die kambrische Fauna ist wahrscheinlich nicht als außergewöhnliches Wunder zu bezeichnen, obwohl ihr zahlenmäßiges Auftreten gewaltig erscheint (zumindest aus der Sicht der meisten Paläontologen). Wenn wir unsere Enkelkinder nur einmal pro Jahr sähen, würden wir jedes Mal über ihr sprunghaftes Wachstum staunen. Da wir keine Möglichkeit haben, die allmähliche Entwicklung von Tieren des modernen Typs Jahr um Jahr zu verfolgen (oder besser in Abständen von jeweils einer Million Jahre), muss uns ihr Auftreten in dem Augenblick, indem wir sie plötzlich alle auf einmal sehen, sehr explosiv erscheinen. Je älter die Organismen sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass wir heute noch Fossilien von ihnen finden (man kann sich gut vorstellen, dass es wahrscheinlicher ist, die Hähnchenknochen vom heutigen Mittagessen übermorgen wiederzufinden als in 1000 oder einer Million Jahre). Manche Analysen molekularer Sequenzen weisen darauf hin (vorausgesetzt, dass die molekulare Zeitmessung verlässlich ist), dass große Stämme der gegenwärtigen Fauna, z. B. Arthropoden oder Chordaten, eher vorkambrischen | 4.4 |
Arthropoden und Chordaten entstanden wahrscheinlich schon im Präkambrium.
Was löste die kambrische Explosion aus (falls es sie gab)? Die überwiegende Mehrheit der heutigen „Tierstämme” erschien im Kambrium (vor 542–488 MJ), in einer, geologisch gesehen, sehr kurzen Zeitspanne. Es waren segmentierte Tiere mit Flossen, Beinen, Augen, Mund und Mundwerkzeugen, Rüssel, Außenskelett und mineralisierten Panzern, die auf unterschiedliche Nahrung spezialisiert waren. Die kambrische Fauna löste vor ca. 530 MJ die Ediacara-Fauna ab, die zum großen Teil schon vor 570 MJ ausgestorben war. Angesichts dieser Tatsachen spricht man gerne von der „kambrischen Explosion“ oder, weniger plakativ, von der „kambrischen Radiation“. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird darüber diskutiert, was diese „Explosion“ ausgelöst haben könnte. (Der Name „Kambrium“ wurde schon 1835 von Adam Sedgwick, ein Lehrer von Charles Darwin, geprägt, als man die Besonderheit dieser geologischen Schichten und ihrer Leitfossilien, wie z. B. Trilobiten und Armfüßer, erkannte.) Darwin war von dem plötzlichen Erscheinen derTiere im Kambrium beunruhigt und erklärte es damit, dass die älteren Fossilien nicht erhalten oder noch nicht entdeckt seien. In derTat wurde die Ediacara-Fauna erst viel später entdeckt. Zwischen dem Untergang der Ediacara-Fauna und der Entstehung der neuenTiergemeinschaften im Kambrium fanden mehrere Ereignisse statt: Der Rückzug der Gletscher führte zur Erhöhung des Meeresspiegels und damit zur Entstehung seichter Küstengewässer. Durch die Erosion wurde Meerwasser mit Nährstoffen (insbesondere Phosphat) angereichert. Die globalen Veränderungen
in der Chemie der Ozeangewässer sind durch die Entstehung großer Phosphorit-Ablagerungen dokumentiert. Die globale Erwärmung belebte auch die ozeanische Zirkulation wieder, wodurch Phosphat besser verteilt wurde, was wiederum das Phytoplankton förderte. Die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre stieg dramatisch, und in Kombination mit dem verfügbaren Phosphat wurde wahrscheinlich die Entstehung mineralisierter Skelette (und damit auch die bessere Fossilisierung der Tiere) ermöglicht. Für die Entstehung der Skelette ist auch Calcium unerlässlich. Man nimmt an, dass die Calciumkonzentration in den Ozeanen infolge der Veränderung der Alkalinität der Gewässer anstieg. Eine Hypothese geht davon aus, dass Calcium als Nebenprodukt von Stoffwechselprozessen anfiel und die Tiere es in ihren Außenpanzern deponierten. Die Diversifizierung der Fauna wird auch mit zahlreichen ökologischen Hypothesen erklärt: als adaptive Radiation und Besetzen neuer Umwelttypen (so entstanden neue ökologische Nischen) oder als Wettrüsten zwischen den neu entstandenen Prädatoren und Beutetieren. Einige Hypothesen betonen die Entstehung von Augen als wichtigen Stimulus für die weitere Evolution. Und schließlich vertreten immer mehr Wissenschaftler die Meinung, dass es eigentlich keine richtige Explosion gab, sondern die meisten der im Kambrium plötzlich auftauchenden „Stämme“ schon lange davor „unsichtbar“ existiert hatten.
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Im Kambrium verbesserte sich die Fossilisationsfähigkeit der Tiere.
4 Evolutionäre Neuheiten
Ursprungs sind. Darüber hinaus zeigen die fossilisierten Spuren und Grabgänge von verschiedenen Meerestieren, dass sich die Vielfalt an der unteren Grenze des Kambriums (also hin zum Präkambrium) viel langsamer entwickelte, als uns die An- oder Abwesenheit der tatsächlich fossilisierten Körper nahelegen will. Im Kambrium verbesserte sich vielmehr die Fähigkeit der Tiere zu fossilisieren. Auch heute noch hat nur ca. ein Fünftel der Meerestiere gute Aussichten auf eine zukünftige Fossilisation. Der Rest sind weiche „Meereswürmer“, die vermutlich keine Überreste hinterlassen. Und dasselbe galt auch im Kambrium, wie einige ausnahmsweise gut erhaltene Sedimente belegen. Das plötzliche Auftreten der fossilisierten Tiere in der Evolution konnte also nur diese 20 Prozent betreffen. Dabei haben sich einige Tiergruppen im Kambrium einfach vergrößert oder feste Schalen bzw. Skelette ausgebildet. Was diese Veränderungen im Kambrium eigentlich ausgelöst hat (falls sie überhaupt erfolgten) – was es also den Enkelkindern ermöglichte, plötzlich ein paar Zentimeter in die Höhe zu schießen, interessiert uns nun weniger ( Box 4.4). Viel wichtiger ist die Frage, warum seit dem Kambrium nichts Wesentliches geschieht und keine neuen Stämme entstehen (falls dem tatsächlich so ist).
4.2 Baupläne
Die Klassifikationsebene eines Taxons (z. B. Ordnung, Klasse, Stamm) ist genauso subjektiv wie sein Name (z. B. Primaten, Säugetiere, Chordatiere).
In Kapitel 3 haben wir mehrfach betont, dass wir eigentlich auf der Suche nach der Hierarchie der Vorfahren sind, die sich in der Hierarchie der gemeinsamen Apomorphien widerspiegelt. Diese Hierarchie teilen wir dann in Gruppen ein, die sogenannten Taxa, und wir bemühen uns, sie möglichst natürlich zu belassen, um bereits bekannte verwandtschaftliche Beziehungen optimal darzustellen ( Box 3.3). Diesen Taxa geben wir Namen („Berggorilla“, „Gorilla“, „Menschenaffen“, „Primaten“, „Säugetiere“, „Wirbeltiere“, „Tiere“) und ordnen ihnen eine hierarchische Ebene zu („Art“, „Gattung“, „Familie“, „Ordnung“, „Klasse“, „Stamm“, „Reich“). Die Klassifikationsebene eines Taxons ist also genauso subjektiv wie sein Name. Niemand würde untersuchen, was verschiedene Taxa, die mit dem Buchstaben M beginnen, gemeinsam haben, denn jedem ist klar, dass sie wahrscheinlich nichts gemeinsam haben. Die vergleichende Untersuchung verschiedener „Stämme“ oder „Familien“ ist jedoch üblich, hier tut man so, als ob sie real existieren würden. Beispielsweise kommen die Arbeiten zur Frage, wie lange „Familien von Mollusken“ und „Familien von Säugetieren“ in der paläontologischen Überlieferung überdauern, zu dem Schluss, dass die „Säugetierfamilien“ schneller verschwinden und die Evolution der Mollusken demnach wesentlich konservativer verläuft. Vielleicht ist es tatsächlich so, aber eigentlich hat diese Forschung nur gezeigt, dass die Wissenschaftler (die selbst Säugetiere sind) feinere Details bei den Säugetieren bemerken, sodass die Klassifikationsebene „Familie“ viel kleinere Gruppen umfasst, deren Dauer natürlich kürzer ist. Sobald wir sagen, dass die Klassifikationsebene der „Mollusken-Familien“ eher einer „Säugetierordnung“ entspricht (die Mollusken als Gesamtgruppe in der Hierarchie also eine Ebene nach oben rutschen), stellen wir wahrscheinlich fest, dass der „Konservatismus“
215
4.2 Baupläne
beider Gruppen vergleichbar ist. Und dabei haben wir durch diese „Änderung“ keineswegs das verzerrt, worum es uns wirklich geht – also um die Struktur des Kladogramms und das reale Alter einzelner Gruppen. Aus der formalen Klassifikation der Organismen, ihrer Einordnung in benannte Taxa verschiedener hierarchischer Stellung, können wir rein gar nichts folgern. Je älter eine Gruppe ist, desto eher neigen wir dazu, ihr eine hohe hierarchische Ebene zuzuordnen. Die Tatsache, dass die „Stämme“ aus dem Kambrium stammen, während die „Klassen“ jünger sind, spiegelt genau diese Neigung wider. Hinter der Tatsache, dass „die Tierstämme im Kambrium erschienen sind“, steckt wahrscheinlich nichts. Wir müssen aber auch die verwandte Problematik der Baupläne näher betrachten ( Box 4.5). Und logischerweise gehen mit der Entstehung neuer Tier- und Ontogenesetypen auch neue, nie zuvor dagewesene Lebensstrategien einher. Es gab vielleicht keine Unmengen neuer Baupläne, aber die es gab, waren „explosiv“ neu. Wenn wir die Baupläne untersuchen wollen, müssen wir sie aus analytischen Gründen in einzelne morphologische, embryologische oder genetische Apomorphien einteilen und dann ihre Evolution weiterverfolgen. Falls hinter dem Begriff „Bauplan“ tatsächlich ein tieferer Sinn steckt, sollten wir herausfinden, dass sich diese Eigenschaften in der Evolution synchron verändert haben, dass also der „Bauplan“ kein von uns hausgemachtes Mosaik evolutionär unabhängiger Eigenschaften ist, sondern wirklich einen einheitlichen evolutionären Merkmalskomplex darstellt. Bei einem hypothetischen Vorfahren eines „Stamms“ sollten wir also den Ursprung vieler bedeutender, den „Stamm“ charakterisierenden Apomorphien seiner zukünftigen Nachkommen finden, wobei die meisten von ihnen in der nächsten Evolutionsrunde nicht verloren gingen. Außerdem sollte die Anzahl neuer Apomorphien im Augenblick der Entstehung des „Stamms“ (also im Kambrium) größer sein, als sie es vorher war oder später jemals sein wird.
Älteren Gruppen ordnen wir eher eine höhere hierarchische Ebene zu. Die kambrische Explosion war möglicherweise eine Phase der Entstehung neuer Baupläne.
Ein Bauplan ist ein einheitlicher evolutionärer Merkmalskomplex.
| 4.5 |
Bauplan „Bauplan“ ist eines der wenigen deutschen Wörter, die den Weg auch in die englische biologische Terminologie gefunden haben (andere Beispiele sind „Anlage“,„Zeitgeber“ oder „Gestalt“). Die Idee des Bauplans geht vor allem auf G. Cuvier ( S. 6) und R. Owen ( S. 162) zurück; das Wort wurde aber dank des Einflusses der deutschen vergleichenden Morphologie international etabliert. Als Bauplan wird das ursprüngliche Organisationsund Konstruktionsschema (also die morphologischen Eigenschaften) eines höheren Taxons (üblicherweise eines „Stamms“) bezeichnet, das sich grundsätzlich von denen anderer Taxa unterscheidet. So spricht man z. B. vom Bauplan der Mollusca oder der Arthropoda. Ein Bauplan charakterisiert
den gemeinsamen Vorfahren dieses Taxons, muss aber, insbesondere bei höheren Taxa, den jeweiligen rezenten Arten nicht gleichen. So gehören z. B. die Säugetiere zu den Chordaten, zu deren Bauplan u. a. die Chorda dorsalis und die Kiemenspalten gehören – also die Merkmale, die bei den Säugetieren schon während der Embryonalentwicklung weitgehend rückgebildet werden. Somit sind alle ursprünglichen und neuen Merkmale einesTaxons im Bauplan enthalten. Merkmale, die nur bei einzelnen Untertaxa neu auftreten (oder verloren gingen), bilden die Apomorphien der jeweiligen Untertaxa und sind im Bauplan des Taxons nicht eingeschlossen.
216
4 Evolutionäre Neuheiten
4.3 Wie entstanden die Wirbeltiere?
Apomorphien der Chordaten (Wirbeltiere, Manteltiere und Lanzettfischchen) sind u. a. die Chorda dorsalis, das Neuralrohr auf der Körperrückenseite und ein muskulöser Schwanz.
Der dorso-ventrale Aufbau der Chordaten ist umgekehrt wie bei anderen Tieren.
Die dorso-ventrale Ausrichtung betrifft auch die Gene: In den Rückenzellen werden andere Gene aktiviert als in den Bauchzellen.
Wir wollen im Folgenden einen Blick auf die Entstehung des „Stamms“ werfen, der uns persönlich am meisten interessieren sollte – nämlich die Chordatiere oder Chordaten. Die Chordaten (also die Wirbeltiere und zwei ausschließlich marine Gruppen, die Manteltiere und die Lanzettfischchen) haben eine Reihe von Apomorphien gemeinsam, insbesondere die namensgebende Chorda dorsalis (also die Rückensaite, die von einem Zellstreifen auf der Rückenseite des Körpers gebildet wird), das als Hohlrohr organisierte zentrale Nervensystem (zwischen Chorda und Körperoberfläche liegend) und den muskulösen Schwanz (also der hinter dem After befindliche Körperteil; beachten Sie, dass der Körper bei allen Tieren außer den Chordaten mit dem After endet). Es geht dabei natürlich um die Apomorphien der Klade Chordata, also um die Betrachtung der Eigenschaften ihrer gemeinsamen Vorfahren und nicht um die Eigenschaften eines jeden Chordaten. Seit Entstehung dieser Klade ist die Evolution nicht zum Stillstand gekommen, und manche Apomorphien sind möglicherweise wieder verschwunden. So haben wir Menschen z. B. als Erwachsene keine durchgehende Chorda mehr und unser muskulöser Schwanz ist auch nicht mehr das, was er einmal war*. Die Positionierung des Nervensystems im Rückenteil des Körpers stellt vielleicht die bedeutendste Apomorphie der Chordaten dar. Wenn wir ein Chordatier sezieren, stellen wir fest, dass sein dorso-ventraler (Rücken-Bauch-) Aufbau verglichen mit dem anderer Tiere, z. B. eines Regenwurms oder eines Käfers, „auf den Kopf“ gestellt ist. Nicht nur, dass das Zentralnervensystem bei den meisten Tieren auf der Bauchseite liegt, ihr Hauptblutgefäß verläuft auch auf der Rückenseite – während sich bei uns Chordaten das Gefäß mit dem Herzen auf der Bauchseite des Körpers befindet. Schon 1882 kam Geoffroy Saint-Hilaire ( S. 7) der ziemlich gewagte Gedanke, dass die Chordaten irgendwie um ihre Längsachse gedreht seien, so als ob sie mit dem Bauch nach oben schwimmen würden („dorso-ventrale Inversion“) (Abb. 4.4). Nachdem diese Idee auch von dem großen Naturforscher George Cuvier ( S. 6) abgelehnt wurde, ist sie in Vergessenheit geraten, bis man in den 90erJahren des 20. Jahrhunderts feststellte, dass die dorso-ventrale Ausrichtung auch die Gene betrifft. Falls sich Rücken- und Bauchseite eines Tieres unterscheiden, müssen die Zellen der jeweiligen Körperseite „Lageinformationen“ bekommen, die ihnen sagen, ob sie zum Rücken oder zum Bauch gehören, damit sie sich dementsprechend verhalten. Daher sind in den Zellkernen der Rückenzellen andere Gene aktiviert als in denen der Bauchzellen – so werden etwa die Proteine der BMP-Gene (Abk. von englisch bone morphogenetic protein: knochenbildendes Protein) nur in den Bauchzellen der Chordaten-Embryonen produziert. Die von entsprechenden Genen (z. B. Gen decapentaplegic) produzierten Proteine kommen auch bei den Insekten vor, dort werden sie aber in den Rückenzellen produziert. Weil beide Gene auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen * Die Chorda dorsalis ist in Gestalt der Gallertkerne der Bandscheiben bei Menschen noch fragmentarisch vorhanden.
4.3 Wie entstanden die Wirbeltiere?
und beide im Prinzip dasselbe machen (nämlich den dorso-ventralen Aufbau des Körpers bestimmen), muss das entsprechende Ur-Gen beim gemeinsamen Vorfahren der Tiere bereits etwas Ähnliches gemacht haben. Der konkrete Einfluss der Ableger dieses Ur-Gens auf die anatomische Ausrichtung bei den Embryonen unterschiedlicher Tiergruppen ist jedoch ganz verschieden: Während der Evolution einzelner Tiergruppen hat sich entweder die Aktivität dieser Gene (z. B. das BMP-Gen, das statt am Rücken nun am Bauch aktiv ist) oder die Anatomie der Tiere verändert. Es gibt mehrere solcher Genpaare, die bei Chordaten eine andere dorso-ventrale Polarität aufweisen als bei anderen Tieren. Bislang ist unklar, ob es sich wirklich um eine Folge der dorso-ventralen Inversion handelt, die irgendwann in der Vergangenheit der Chordaten stattgefunden hat. Damit kommen wir zu den Evolutionsneuheiten, die die Wirbeltiere charakterisieren. Ein Wirbeltier ist ein Chordat mit einem knorpeligen oder knöchernen Innenskelett. Insbesondere der Knochen ist ein einzigartiges Gewebe und nur bei Wirbeltieren zu finden, obwohl das dahinterstehende Prinzip der Mineralisierung von Geweben (meistens durch Einlagerung von Calciumsalzen) auch bei vielen anderen Tieren vorkommt. Eine detaillierte phylogenetische Analyse der primitiven Wirbeltiere (einschließlich der paläozoischen Fossilien) zeigt allerdings, dass die Entstehung dieses neuen Gewebetyps nicht plötzlich erfolgte, sondern allmählich verlief. Dasselbe gilt auch für weitere „typische Wirbeltiergewebe“ wie das Zahnbein (Dentin) oder den Zahnschmelz (Enamel). Es handelt sich also nicht um Apomorphien der Wirbeltiere als ganze Gruppe, sondern um Apomorphien unterschiedlicher Wirbeltiergruppen, die in vielen Fällen sogar mehrfach unabhängig voneinander entstanden. Darüber hinaus stellte man fest, dass alle Gene für Zahnschmelz-, Zahnbein-, und Knochenproteine phylogenetisch eng miteinander verwandt sind. Große morphologische, physiologische und ethologische Veränderungen, die mit der Entstehung der Kiefer und der
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Während der Evolution einzelner Tiergruppen veränderte sich entweder die Aktivität dieser Gene oder die Anatomie der Tiere.
4.4 Dorso-ventrale Inversion. Die Schemazeichnungen verdeutlichen, dass sich der Chordatenkörper erst dann mit dem Körper eines Protostomiers vergleichen lässt, wenn das Chordatier mit dem Bauch nach oben dargestellt wird. Ein Hemichordat ist dem inversen Chordaten jedoch noch ähnlicher. Das Dreieck bezeichnet die Position der Mundöffnung bei den Vorfahren der Chordaten. Die definitive Mundöffnung entsteht sekundär an einer anderen Position. (Nach Nübler-Jung und Arendt 1999)
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Die Entstehung des Knochengewebes und der Zähne der Wirbeltiere hängt mit der allmählichen Differenzierung der Genfamilie EMP zusammen.
Apomorphien der Wirbeltiere sind der Kiemenapparat, das dreiteilige, im Schädel liegende Gehirn, paarige Augen, Hör- und Riechorgane, ein endokrines Drüsensystem und paarige Nieren.
Einige Wirbeltierapomorphien sind auf die Neuralleiste zurückzuführen.
4 Evolutionäre Neuheiten
Zähne und damit auch mit der räuberischen Lebensweise bei Wirbeltieren einhergehen, sind mit der allmählichen Differenzierung der Genfamilie EMP (Abk. von englisch epithelial membrane protein: epitheliales Membranprotein) verbunden, von der sich bei den Landwirbeltieren auch die Gene für die Speichelproteine und bei Säugetieren die Gene für bestimmte Milchproteine, die Caseine, abgespaltet haben. Die Idee von der parallelen Entwicklung der Gewebe des Wirbeltierskeletts wird so von der Genetik unterstützt. Ähnlich mosaikartig entstanden sehr wahrscheinlich auch weitere Merkmale, mit denen man die Wirbeltiere üblicherweise charakterisiert. Schleimaale (Myxinoidea) sind wurmartige Wirbeltiere des Meeresbodens. Ihnen fehlt ein Großteil der angeblichen Wirbeltierapomorphien (z. B. Wirbel, ein Hautskelett, unpaarige Flossen mit Strahlen, Linsenaugen, und sie haben nur zwei Bogengänge im Innenohr). Dabei kann es sich um die Folge einer sekundären Reduktion handeln oder aber um einen Hinweis auf die Ursprünglichkeit der Schleimaale, und damit um den Beweis, dass die Merkmale der Wirbeltiere allmählich, also eines nach dem anderen entstanden sind, sodass nur die abgeleiteten Gruppen alle vermuteten Wirbeltierapomorphien besitzen. Heute nehmen wir an, dass die Merkmale der Wirbeltiere, die wirklich allen gemeinsam sind, ein komplizierter Kiemenapparat, ein dreiteiliges Gehirn in einem einfach gebauten Schädel, paarige Augen, Hör- und vielleicht auch Riechorgane, paarige Nieren und ein endokrines Drüsensystem sind. Zumindest haben wir bis jetzt keine Beweise, dass diese Merkmale nach und nach entstehen, und wir können sie – falls wir keine weiteren „Übergangsglieder“ finden – als einen Merkmalskomplex betrachten, der die Wirbeltiere als Ganzes charakterisiert. Jedenfalls lehrt uns die Erfahrung mit der Evolution von angeblichen Wirbeltierapomorphien, ein gewisses Maß an Skepsis aufzubringen: Auch verschiedene „wirbeltierartige“ Gewebe in Fossilien sahen aus, als seien sie einst bei einem gemeinsamen Vorfahren entstanden – bis die Funde einmal näher untersucht wurden. Die zwei vielleicht wichtigsten, wenn auch etwas versteckten Merkmale der Wirbeltiere sind der grundsätzliche Umbau der embryonalen Entwicklung und die Entstehung eines vollkommen neuen Gewebetyps, nämlich der Zellen der Neuralleiste. Seitlich der Linie, an der sich auf der Rückenseite des Embryos das Neuralrohr einstülpt, bilden sich zwei längliche Zellstreifen, die später tiefer in den Embryo wandern und sich an der Entstehung von ca. 40 verschiedenen Geweben und Organen, einschließlich Schädel, Kiemenapparat und Sinnesorganen beteiligen. In der Abbildung 4.18 (S. 245) sind zwei Expansionswellen erkennbar: eine frühe innere Welle (die insbesondere zur Entstehung von Knochen- und Muskelgeweben führt) und die spätere „Unterhautwelle“, aus der insbesondere die Sinnesorgane und die Pigmentzellen gebildet werden ( Abschnitt 4.10). Weil wir heute eine Reihe von Genen kennen, die an der Entstehung der Neuralleiste mitwirken, können wir erforschen, was die ihnen homologen Gene bei Manteltieren und Lanzettfischchen machen, um zu erfahren, wo und wie diese grundsätzliche Neuheit entstanden ist. Tatsächlich finden wir auch bei anderen Chordaten die Aktivität dieser Gene in Embryonalzellen, aus denen die künftigen Nerven- und Hautzellen entstehen. Schon das zeigt, dass die
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4.3 Wie entstanden die Wirbeltiere?
Neuralleiste der Wirbeltiere nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern, dass es sich um die Modifikation eines Grundzustands handelt, den wir schon von primitiven Chordaten kennen. Darüber hinaus unterscheiden sich die Zellen der Kopf- und Rumpfneuralleiste der Wirbeltiere markant durch das, was und wie sie etwas in der Embryonalentwicklung machen, und auch die paläontologischen Arbeiten lassen darauf schließen, dass die Kopfneuralleiste früher entstanden ist. Wie schon zuvor führt uns die Betrachtung der Veränderungen des Körperbauplans zu dem Schluss, dass es sich um viele unabhängige kleine Änderungen handelt, von denen keine an sich sehr revolutionär erscheint. Und natürlich hört mit den Wirbeltieren die allmähliche Entstehung von weiteren wichtigen Apomorphien nicht auf. Die Verlagerung des Kiemenapparats vom Vorderdarm in die Rachenregion, die Entstehung von paarigen Gliedmaßen (zunächst in Form von Flossen), die Duplikation einer Reihe von Genen oder die Entstehung des auf „persönlicher Erfahrung“ einzelner „informierter Blutzellen“ beruhenden Immunsystems sind nur einige bedeutende Evolutionsneuheiten. Diese haben jedoch auffällig an der Umstrukturierung des Wirbeltierbauplans, an ihrer embryonalen Entwicklung und an den Lebensstrategien mitgewirkt. Es ist schwer zu sagen, ob sie wesentlich weniger bedeutend sind, nur weil sie nicht im Kambrium entstanden sind (sondern vielleicht erst im Mesozoikum) und weil sie nicht die Gruppen charakterisieren, die wir als „Stämme“ kennen. Die allmähliche, mosaikartige Entstehung des Körperbauplans der Wirbeltiere ist nichts Außergewöhnliches. Dasselbe Spiel können wir bei der Entstehung der Arthropoden verfolgen: Änderungen wie die Körpersegmentierung, die Entstehung des festen Außenskeletts und der gegliederten Extremitäten, die „Verschmelzung“ der vorderen Rumpfsegmente zu einem stufenweise entstehenden Kopf und die Modifikation ihrer vorderen Gliedmaßen zu Sinnes- und Mundorganen verliefen unabhängig und haben daher eine Menge unterschiedlich gebauter „Übergangsglieder“ hinterlassen. Auch der „Bauplan der Arthropoden“ ist nur unser Konstrukt. „Baupläne“ entstehen offenbar, weil wir die „Übergangsglieder“ nicht kennen oder nicht zur Kenntnis nehmen. In dieser Situation ist es zu früh (und vielleicht auch sinnlos), über die grundsätzlich unterschiedlichen genetischen und embryologischen Mechanismen, die die kambrische Diversität gesteuert haben, zu spekulieren. Zumindest haben wir bis jetzt nichts gefunden, was eine Erklärung mit irgendwelchen exotischen Mechanismen erfordert hätte. Das bedeutet nicht, dass die Entstehung der jeweiligen Evolutionsneuheiten an sich nicht interessant wäre, allerdings gestaltet sich die Suche nach Apomorphien, die wesentlich interessanter wären als die nur gewöhnlich interessanten Neuheiten, äußerst schwierig.
Manche bedeutende Apomorphien, die an der Evolution des Wirbeltierbauplans mitgewirkt haben, sind erst nach dem Kambrium entstanden.
Veränderungen des Körperbauplans verlaufen meistens graduell und mosaikartig.
„Baupläne“ entstehen als Gedankenkonstrukte, weil wir die „Übergangsglieder“ nicht kennen oder ignorieren.
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4 Evolutionäre Neuheiten
4.4 Neue Baupläne: Wurzelkrebse, Myxozoa, Henrietta Lacks und CTVT
Wurzelkrebse sind seltsame Parasiten anderer Krebsarten. Wurzelkrebse sind morphologisch extrem vereinfachte, aber dennoch kompliziert funktionierende Tiere.
Schauen wir uns nun einige besonders repräsentative Fälle von vollkommen neuen Bauplänen im Rahmen der „Stämme“ an, bei denen es kaum Zweifel gibt, dass sie einen relativ jungen (üblicherweise spätpaläozoischen oder mesozoischen, aber sicherlich keinen kambrischen) Ursprung haben. Wurzelkrebse (Rhizocephala) sind parasitische Krebse, welche die Körper anderer Krebsarten, etwa die verschiedener Krabben, bewohnen (Abb. 4.5). Obwohl parasitische Tiere häufig sehr seltsam sind, übertreffen die Wurzelkrebse alles bislang Bekannte. Aus den Eiern schlüpfen Planktonlarven des gewöhnlichen Krebstypus (nur an diesen Larven können wir erkennen, dass es sich um Krebse handelt). Die Larven des Spätstadiums setzen sich auf den künftigen Wirt, verwandeln sich in ein sackartiges Stadium und bilden eine Art Spritze, mit deren Hilfe sie das nächste, wurmartige Stadium, das sogenannte Vermigon, in den Wirt injizieren. Das Vermigon beginnt sich allmählich zu verästeln und bildet so ein verwickeltes Netzwerk von Röhrchen, einem Pilzmyzel nicht unähnlich, mit dem der Wirt ausgesaugt wird. Auf diesem Netzwerk entsteht wiederum ein sackartiges Gebilde, das nach der nächsten Häutung des Wirtes an dessen Körperoberfläche austritt. Den beschriebenen Entwicklungszyklus durchläuft nur das Weibchen des Wurzelkrebses; das Männchen beginnt zwar auch als kleine Larve, doch setzt sich das letzte Larvenstadium an das aus dem
4.5 Lebenszyklus von Loxothylacus panopaei (Rhizocephala), der die Zuiderzeekrabbe Rhithropanopeus harrisii parasitiert. Die pelagischen Larven (Nauplien), die vom externen reproduktiven Körper freigesetzt werden, entwickeln sich zu Cypriden. Ein weibliches Cypris besiedelt die Kiemenhöhle der Krabbe und macht eine Metamorphose zum Kentrogon durch, das das Integument der Krabbe penetriert und das Vermigon in deren Bluträume injiziert. Das Vermigon wandert durch die Krabbe und wächst zu einem internen Parasiten, der letztendlich mit seinem reproduktiven Körper (das gelbe Oval an der Bauchseite der Krabbe) nach außen durchbricht. Die Zellen des primordialen Eierstocks können als globulärer Zellkörper (rot) schon ab dem Stadium des Kentrogons verfolgt werden. Alle Stadien im parasitischen Lebenszyklus, einschließlich des frühen Vermigons, sind mit Epidermis und Cuticula bedeckt. Männliche Stadien werden im Schema nicht berücksichtigt. Externe Phase = Phase des pelagischen Lebens außerhalb des Wirts; interne Phase = Phase des Lebens im Wirt. (Nach Glenner und Høeg, 1995)
4.4 Neue Baupläne: Wurzelkrebse, Myxozoa, Henrietta Lacks und CTVT
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4.6 Vereinfachter Lebenszyklus und Entwicklung von Myxozoen, dargestellt am Beispiel von Myxobolus (Verursacher der „Beulenkrankheit der Fische“). (a) und (b) Auf vegetativem Weg entsteht ein Trophozoit (Gewebsform mit multiplen Kernteilungen, das sogenannte Plasmodium, hier gelb gefärbt), in dem aus den Kernen und Cytoplasma Tochterzellen entstehen. (c) Die Tochterzellen entwickeln sich zu multizellulären Myxosporen. Es kommt zur Bildung von Beulen am Fischkörper. (d) Die Myxosporen werden aus dem Fisch freigesetzt und schließen die Entwicklung ab. Bei den sogenannten histozoischen Arten werden die Sporen nach dem Tod des Wirts freigesetzt, bei coelozoischen Arten werden sie mit dem Kot oder Urin freigesetzt. (e) Ringelwürmer infizieren sich, nachdem sie die Myxosporen verschluckt haben. Im Wurm entwickeln sich die Myxosporen zu „Actinosporen“. (f) Die „Actinospore“ wird aus dem Wurm freigesetzt und infiziert den Fischwirt. (Nach Kent und Poppe 1998)
Wirt hervorgetretene Weibchen und injiziert das nächste männliche Entwicklungsstadium, das Trichogon, in das Weibchen, nicht in den Wirt. Dort kommt es zur Befruchtung und aus den befruchteten Eiern schlüpfen die Larven. Vermigon und Trichogon sind extrem vereinfachte Entwicklungsstadien der Arthropoden – beschränkt auf die bloße Epidermis, die Cuticula und einen Zellhaufen, aus dem allmählich Keimdrüsen entstehen. Nichtsdestoweniger kann man nicht nur von einer rein morphologischen Vereinfachung sprechen; denn während man das Vermigon als Krebs ohne Kopf, ohne Beine, ohne innere Organe usw. ansehen kann, ist das eigentliche parasitäre Stadium strukturell höchst kompliziert, aber einem Krebs absolut unähnlich. Myxozoen findet man in den meisten Zoologie-Lehrbüchern in den Kapiteln über parasitische Einzeller. Es sind jedoch sehr merkwürdige „Einzeller“: Der eigentliche Parasit im Fischkörper ist ein vielzelliges Gebilde, in dem mehrzellige Infektionsstadien, Sporen, entstehen (Abb. 4.6). Die Struktur der Sporenzellen und deren Ontogenese deuteten schon in der „vormolekularen Zeit“ an, dass es sich um mehrzellige Tiere handeln könnte, die durch Parasitismus extrem verändert sind. Außerdem gab es Hinweise, dass man die nächsten Verwandten der Myxozoen unter den Nesseltieren (Süßwasserpolypen, Quallen oder Korallen) suchen sollte, deren Nesselzellen den Zellen der Sporen von Myxozoen auffällig ähnlich sind.
Myxozoen sind vereinfachte, einzellige Nesseltiere, die Fische parasitieren.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Buddenbrockia stellt ein Übergangsglied zwischen Nesseltieren und Myxozoen dar.
HeLa-Zellen leben in Reagenzgäsern in vielen Laboratorien der Welt, haben aber ein menschliches Genom.
Beim „übertragbaren venerischen Tumor des Hundes“ (CTVT) werden Krebszellen als solche auf andere Hunde übertragen.
Obwohl wir uns bislang hinsichtlich der detaillierten verwandtschaftlichen Beziehungen der Myxozoen nicht sicher sind (die „Cnidarien-Hypothese“ wird heute für die wahrscheinlichste gehalten) (Abb. 4.7), wissen wir, dass es sich tatsächlich um vereinfachte mehrzellige Tiere handelt, sogar um Tiere, die von ziemlich hoch organisierten Vorfahren abstammen, die schon Nerven- und Muskelgewebe besaßen. Die Reduktion auf einige wenige (vier bis sechs) Zellen stellt unter den tierischen Eigenschaften einen präzedenzlosen Verlust dar. Unlängst wurde sogar bewiesen, dass Buddenbrockia – ein zwar seit Langem bekannter, aber bislang wenig erforschter und geheimnisvoller wurmartiger Parasit von Süßwassermoostierchen* – in Wirklichkeit ein primitives Myxozoon ist, das sogar seine Muskelfasern beibehalten hat. Den von den Myxozoen während ihrer Evolution beschrittenen Weg können wir somit mithilfe eines „Übergangsglieds“ rekonstruieren, von dessen Existenz wir bis vor Kurzem keine Ahnung hatten. Aber eigentlich müssen wir gar nicht so weit gehen. Im Jahr 1951 wurde in Baltimore, USA, bei der 31-jährigen Henrietta Lacks Gebärmutterhalskrebs diagnostiziert und einige ihrer Zellen wurden zur Laboruntersuchung geschickt. Henrietta selbst starb acht Monate später, doch die Nachkommen ihrer Krebszellen werden unter dem Namen HeLa-Zellen in den Laboratorien der ganzen Welt bis heute kultiviert. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich die Tatsache zu vergegenwärtigen, dass eine HeLa-Zellkolonie offensichtlich kein Mensch im üblichen Sinn ist: Sie hat eine ganz andere Morphologie, Physiologie und Ökologie (da es sich um einzellige Organismen handelt, die in Laborgefäßen leben) – und besitzt doch ein Primatengenom. Vor unseren Augen entstand ein einzelliges Säugetier, ein einzelliger Primat, ein einzelliger Mensch – also klar ein neuer „Bauplan“ – und das nicht im Kambrium, sondern vor sechzig Jahren. Schön und gut, dies sieht nach freier Spekulation aus, die mit der Natur und Evolution nichts gemeinsam hat. Allerdings hat man unlängst festgestellt, dass der „übertragbare venerische Tumor des Hundes“ (CTVT, vom englischen Canine Transmissible Venereal Tumor, auch als „Sticker-Sarkom“ bekannt) eine ziemlich ungewöhnliche Krebserkrankung ist. Normaler Krebs bildet sich aus „entarteten“ Zellen, die nichtsdestoweniger weiterhin integrale Bestandteile des Körpers bleiben. Deswegen kann das eigene Immunsystem sie nicht entdecken und liquidieren. Wenn wir dagegen einem gesunden Individuum einen Tumor transplantieren, kann sein Immunsystem damit fertig werden. Trotzdem sind manche Tumore „ansteckend“. Üblicherweise heißt es, dass der Tumor durch ein Infektionsagens verursacht wird, in der Regel ein Virus (es liegt im Interesse eines Virus, die Wirtszellen zu vermehren und sie der Kontrolle des befallenen Organismus zu entziehen – und genau das nennen wir „Krebs“). CTVT ist aber etwas ganz anderes. Das, was hier von einem Hund auf den anderen übertragen wird (durch geschlechtlichen Kontakt, aber auch durch Lecken, Beißen und Beschnüffeln der vom Tumor befallenen Stellen), ist nicht das Agens, das im neuen Wirt einen * Die Wiederentdeckung der lange beschriebenen, aber völlig rätselhaften Buddenbrockia war Ende des 20. Jahrhunderts eine echte zoologische Sensation.
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4.4 Neue Baupläne: Wurzelkrebse, Myxozoa, Henrietta Lacks und CTVT
4.7 Verwandtschaftsdiagramm der basalen Eumetazoa. Die Schwestergruppenverhältnisse sind in hohem Maße unsicher. Das den Bilateria nächstverwandte Taxon ist unsicher (blaue Linie). Die Myxozoa sind eingekreist. (Nach Burda, Hilken, Zrzavý 2008)
neuen Krebs auslöst, sondern hier werden Krebszellen als solche übertragen. Die Krebszellen von vielen nichtverwandten Hunden aus Europa, Amerika, Asien und Afrika sind genetisch fast identisch und die phylogenetische Analyse hat gezeigt, dass es sich um die Nachkommen einer einzigen ursprünglichen Zelle handelt, die vor 200 bis 1000 Jahren entartete (bei solchen extremen Ausreißern kann man das Alter nur schlecht abschätzen, denn die molekulare Uhr „tickt“ mit einer schwer abschätzbaren Geschwindigkeit). Wir können also von der am längsten kontinuierlich existierenden Linie von somatischen Säugetierzellen sprechen, von einer spontan entstandenen und sich spontan erhaltenden „Zellkultur“, die sich über die ganze Welt verbreitet hat. Oder noch anders, wir können sie als eine neue, sich ungeschlechtlich fortpflanzende, einzellige und parasitische Art der hundeartigen Raubtiere (Canidae) bezeichnen, die andere hundeartige Raubtiere befällt. Säugetiere müssen nicht unbedingt vielzellig sein. (Und letztendlich können auch andere Tiere betroffen sein – der Infektionskrebs, der die Populationen der tasmanischen Teufel (Beutelteufel, Sarcophilus harisii) dezimiert, ist wahrscheinlich ähnlicher Natur.) Es ist nahezu unmöglich, die Wurzelkrebse und Myxozoen für einfache winzige Modifikationen des Arthropoden- und Cnidarien-Bauplans zu halten, geschweige denn ähnliches von der einzelligen Form von Henrietta Lacks oder der ansteckenden Hunde anzunehmen. Natürlich können wir uns eine
CTVT-Zellen sind Nachkommen einer einzigen Zelle, die vor ein paar Hundert Jahren entartete.
Die CTVT-Zellen stellen sich asexuell fortpflanzende, einzellige, parasitische Hunde dar.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Strukturelle Vereinfachungen müssen evolutionär nicht einfach sein.
Hintertür offen lassen und behaupten, dass es sich hier stets um sekundäre Reduktionen primitiver Baupläne handelt. Aber dies hilft uns nicht besonders weiter: Strukturelle Vereinfachungen müssen evolutionär keinesfalls einfach sein. Myxozoen leben ohne Organe und ohne Gewebe, aber dieses Leben erfordert irgendeinen „Kniff“, den wir anderen nicht beherrschen. Wenn diese seltsamen Tiere lange nach Ende des Kambriums entstehen konnten, werden die im Kambrium entstandenen Baupläne wahrscheinlich keine Besonderheit darstellen. „Baupläne“ müssen wir als Produkt unserer Abstraktion wahrnehmen, als Komplexe einzelner evolutionärer Neuheiten. Wie evolutionäre Neuheiten entstehen, ist Thema der nächsten Abschnitte.
4.5 Evolutionsgeschwindigkeit: Entstehung der Wale und Milchverdauung Innerhalb der Säugetiere war die Entstehung der Wale vor ca. 45–50 Millionen Jahren der radikalste evolutionäre Schritt.
Die nächsten Verwandten der Wale sind Paarhufer.
Ende des 20. Jh. fand man die Übergangsglieder zwischen Urpaarhufern und Urwalen.
Die Entstehung der Wale im Paläozän vor ca. 45–50 Millionen Jahren ist von allen radikalen Evolutionsänderungen, die die Säugetiere vollzogen, vielleicht die radikalste. Im Vergleich zu einem Delfin ist der Mensch ein ganz normales, im Prinzip primitives Säugetier, das während seiner Evolution außer der Reduktion des Schwanzes, der verlängerten Brutpflege und der zwanghaften Neigung zum Musikkomponieren nicht viel geschafft hat. Wale waren dagegen dramatischeren Änderungen unterworfen: Sie haben die wellenartige Auf-und-ab-Bewegung des Körpers als Hauptantrieb der Fortbewegung erfunden, sie haben ihre hinteren Gliedmaßen und das Becken reduziert und deren Bewegungsfunktion durch die Schwanzfluke ersetzt, sie haben die vorderen Extremitäten in Flossen umgewandelt und Kiefer und Gehörknöchelchen so umgebaut, dass ein gutes Hören unter Wasser möglich ist. Alle diese Evolutionsneuheiten sind selbstverständlich auch am versteinerten Skelett nachweisbar, sofern man Glück hat und die entsprechenden Fossilien findet. Solch ein Glück hatten wir lange Zeit nicht. Außer den heutigen Gruppen von Walen (Cetacea), zu denen Delfine, Pottwale und Bartwale gehören und deren Differenzierung vor 30 Millionen Jahren stattfand, kannten wir lange Zeit nur die Gruppe der Archaeoceti aus dem Tertiär. Nichtsdestoweniger waren auch diese Urwale schon eindeutig Wassertiere, obwohl sie noch gut erhaltene Hinterbeine besaßen, die zwar zum Laufen zu klein waren, aber vielleicht als Hilfsorgane bei der Paarung dienten. Sowohl durch die Paläontologie als auch durch das Studium der rezenten Säugetiere, konnten die nächsten landlebenden Verwandten der Wale (also die Nilpferde) identifiziert werden ( Abschnitt 3.14). Doch die Lücke zwischen diesen landlebenden Säugetieren, am ehesten Paarhufern, einerseits und den ursprünglichsten Urwalen andererseits war zu auffällig und zu breit. Erst Ende des 20. Jahrhunderts wurden fast alle erforderlichen „Übergangsglieder“ gefunden. Der primitivste Verwandte der Wale, den wir heute kennen, ist der ca. 50 Millionen Jahre alte Ambulocetus (Abb. 4.8). Sein Schädel war schon sehr „walähnlich“, dafür zeigen die Vorder- und
4.5 Evolutionsgeschwindigkeit: Entstehung der Wale und Milchverdauung
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4.8 Der ausgestorbene Vorfahr der Wale Ambulocetus natans. (Nach Carl Buell, http://olduvaigeorge.com)
Hinterbeine mit großen Füßen, langen Fingern und kleinen Hufen, dass sich dieses Tier noch auf dem Land bewegen konnte, mit einem vergleichbaren Erfolg wie heutige Seebären. Im Wasser schwamm er schon wie die heutigen Wale, also durch das Auf- und Abschlagen der Fluke. Diese „Übergangsglieder“ stammen aus dem früheren Tertiär, und die gesamte Änderung vom landlebenden Säugetier zum primitiven Wal hat wahrscheinlich nicht nur drei Millionen Jahre gedauert. Die Entdeckung dieser „Vorwale“ liefert uns einen zusätzlichen Beweis dafür, dass nicht einmal die Evolution der Wale sprunghaft verlief, sondern allmählich, wenn auch geologisch schnell. Aber die vielleicht interessanteste Entdeckung, die wir bei der Entstehung der Wale machen können, ist der mosaikartige Charakter dieser Änderung. Der Süßwasserurwal Pakicetus kombiniert den terrestrischen Unterkiefer mit dem „amphibischen“ Übergangsbau des Ohrs, und diese Kombination aus primitiven und abgeleiteten Merkmalen war offensichtlich lebensfähig (über die beunruhigende Tatsache, dass alle fossilen Tiere, die wir kennen, offensichtlich tot sind, und sie niemand lebendig gesehen hat, müssen wir einmal hinwegsehen). Die heftige und schnelle Änderung der Lebensstrategie bedeutet nicht, dass sich alle Merkmale gleichzeitig, also parallel, geändert haben müssen. An dieser Stelle ist es nützlich anzumerken, dass wir keine allgemeine Theorie der Evolutionsgeschwindigkeit haben und wir uns demnach nicht wundern sollten, dass irgendeine Evolutionsänderung „zu schnell“ verläuft. Die Geschwindigkeit, mit der evolutionäre Änderungen eintreten, hängt zumindest von der Intensität der Selektion und der Populationsgröße ab, in der diese Selektion stattfindet. Diese Faktoren können wir höchstens grob – oft aber mangels Kenntnis überhaupt nicht – abschätzen. Häufig wundern sich die Leute über die „zu schnelle“ (und daher wundersame) Entstehung des menschlichen Gehirns. Neben der Hypothese von der auffällig schnellen Evolution des menschlichen Gehirns kann man allerdings gleichberechtigt die Hypothese aufstellen, dass die Evolution des menschlichen Gehirns (zum Glück) nicht zu langsam verlief, sondern gerade noch schnell genug war. Manche Evolutionsänderungen fanden – insbesondere beim Menschen – wirklich auffällig schnell statt. Die Fähigkeit vieler erwachsener Menschen, Milch bzw. Milchzucker zu verdauen, ist unter den Säugetieren einmalig und als Anpassung an die Domestikation von Schafen, Ziegen und Kühen zu werten. Diese Ereignisse erfolgten vor ca. 7000–9000 Jahren ( Box 4.6). Andere Evolutionsänderungen sind auffällig langsam und die meisten Evolutionsänderungen spielen sich mit einer Geschwindigkeit ab, die irgendwo in der Mitte liegt. Das ist mit der Tatsache vergleichbar, dass einige Menschen sehr groß, andere sehr klein und die meisten ziemlich durchschnittlich groß sind. Es ist schwer zu sagen, wie lange die
Die Änderung vom landlebenden Säugetier zum primitiven Wal verlief allmählich, mosaikartig und relativ schnell (wahrscheinlich innerhalb von drei Millionen Jahren).
Die Lebensstrategie kann sich schnell ändern, ohne, dass sich alle Merkmale gleichzeitig geändert haben müssen.
Manche Evolutionsänderungen – gerade beim Menschen – verliefen auffällig schnell. Die Fähigkeit erwachsener Menschen, Milchzucker zu spalten, ist eine junge (ca. 8000 Jahre alte) Adaptation in Folge der Domestikation von Schafen, Ziegen und Kühen.
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4 Evolutionäre Neuheiten
| 4.6 |
Milchverdauung und Alkoholverträglichkeit Milch, eine besondere Nahrungsquelle junger Säugetiere, bedarf auch besonderer Verdauungsenzyme. Das Lactose (Milchzucker) spaltende Enzym Lactase ist ein sehr empfindliches Enzym, weshalb nach Darminfektionen ein Lactasemangel entstehen kann. Während Säuglinge Lactase in ausreichender Menge produzieren, wird nach der Entwöhnung eines Säugetiers die Lactaseproduktion eingestellt. Durch die Mutation eines Kontrollgens können viele Menschen lebenslang Lactase produzieren. Unter diesem Blickwinkel ist also der Lactasemangel bei vielen erwachsenen Menschen nicht als genetischer Defekt, sondern als normaler Zustand zu werten. Es gibt auf der Welt mehr Menschen mit Milchzuckerintoleranz als Menschen, die unproblematisch Milchzucker vertragen. Die entsprechende Mutation hat sich als Anpassung an die bequeme Nahrungsquelle erst bei Hirten in prähistorischen und historischen Zeiten ausgebreitet. Während unter Europäern ca. 30 Prozent der Menschen den genetisch bedingten Lactasemangel aufweisen, sind es in Afrika, Ostund Südostasien, Australien und Ozeanien 70 Prozent der Menschen. Bei der Käseherstellung wird Lactose von Bakterien vergoren, weshalb auch Menschen mit Lactasemangel Käse verdauen können (sofern der Fermentationsprozess ausreichend lange geführt wurde).
Ganz ähnlich beruht die Fähigkeit, Alkohol ab-zubauen auf der Überproduktion des Enzyms Alkoholdehydrogenase mithilfe einer Gengruppe auf dem 4. Chromosom. Die meisten Menschen sind in der Lage, die Produktion dieses Enzyms zu steigern. Dies war bei den sesshaften Bauern eine nützliche Eigenschaft. Fermentierte Flüssigkeiten sind meist frei von Parasiten und bedrohlichen krankheitserregenden Mikroorganismen, die die Wasserquellen der menschlichen Siedlungen besiedeln. Würde heute irgendwo die hygienische und sichere Trinkwasseraufbereitung und -versorgung versagen, wären Seuchen unvermeidbar. Touristische Führer raten uns beim Besuch von Entwicklungsländern, kein (unbehandeltes) Wasser zu trinken. Ohne chemische Wasseraufbereitung ist gekochtes oder durch Fermentation behandeltes Wasser die einzige sichere Wasserquelle. Die Nomaden (Jäger und Sammler) hatten keine landwirtschaftlichen Produkte, die man fermentieren könnte. Allerdings brauchten sie das fermentierte Wasser nicht – die Populationsdichte war gering und die natürlichen Gewässer sicher. Es sollte uns nicht überraschen, dass das „Feuerwasser“ (also scharfes, im Hals „brennendes“ Wasser) besonders den „Naturvölkern“, wie den Indianern Nordamerikas, den Inuit oder den australischen Aborigines, bedrohlich erscheint.
Differenzierung des menschlichen Gehirns von dem der Menschenaffen dauern sollte, damit die Menschen, die ein paar Millionen Jahre als zu wenig erachten – befriedigt werden. Allerdings sollten diese Menschen dann auch eine Hypothese von der „richtigen Geschwindigkeit der Evolution“ wovon auch immer, z. B. des menschlichen Gehirns, vorlegen.
4.6 Gene und Evolution
Die Gene sind keine harten Programmierer.
Die derzeitige Vorstellung über die Entstehung von Evolutionsneuheiten setzt voraus, dass einer morphologischen oder ökologischen Apomorphie stets eine genetische Neuheit vorausgeht oder sie zumindest begleitet, d. h. es entstehen modifizierte oder völlig neue Gene bzw. deren Funktionen oder Wechselwirkungen werden umorganisiert. In der Realität weist nichts darauf hin, dass Genome so harte und unbeugsame Programmierer wären. Im Gegenteil, sie sind ganz opportunistisch, so lange es um die Eigenschaften „ihrer“ Organismen
227
4.6 Gene und Evolution
geht, und sie ermöglichen ihnen damit eine enorme evolutionäre Flexibilität. Ein anschauliches Beispiel sind polymorphe Tiere, z. B. Termiten ( Box 4.7, Abb. 4.9). Üblicherweise stellen wir uns die individuelle Entwicklung als eine programmierte Bahn vor, die bestimmt, wie sich aus einem Ei ein Individuum entwickelt, dessen Eigenschaften schon vorher durch das Genom dieses Eis festgelegt wurden. Die Tiere mit unterschiedlich gestalteten und unterschiedlich lebenden Kasten zeigen uns, dass es so nicht sein muss. Dasselbe gilt auch für verschiedene Pflanzen wie z. B. das Pfeilkraut (Sagittaria). Der Wasser-Knöterich (Persicaria amphibia) sieht anders aus, je nachdem ob er an Land, in Ufernähe, oder unter Wasser wächst (Abb. 1.8), wobei es sich in beiden Fällen um unterschiedliche Ausprägungen ein- und desselben Genoms handelt ( Box 1.17). Welche Gestalt die Pflanze haben wird, hängt hier rein von den Standortverhältnissen ab (Wasserstand). Wir vergessen, dass auch die Organismen, die als Erwachsene nicht auffällig polymorph sind, im Laufe ihrer Entwicklung (oftmals extrem) unterschiedliche Stadien durchlaufen, natürlich ohne dass sie dabei ihre Genome ändern. Ein und dasselbe Genom kann eine Raupe, eine Puppe und einen Schmetterling oder eine Kaulquappe und einen Frosch oder verschiedene Entwicklungsphasen | 4.7 |
Verschiedene Entwicklungsstadien sind Beispiele für einen altersabhängigen Polymorphismus.
Kasten In der Biologie wird der Begriff „Kaste“ vor allem für die eusozialen Insekten benutzt ( Box 2.16). Er bezeichnet eine Gruppe von Individuen, die bestimmte Aufgaben zu erfüllen haben und die in ihrem Verhalten und ihrem Körperbau auf die jeweilige Aufgabe spezialisiert sind. Die häufigsten Kasten sind die Geschlechtstiere (Königin und König), die als einzige fortpflanzungsfähig sind bzw. sich als einzige fortpflanzen, Soldaten, die den Staat verteidigen, und Arbeiter für die Nahrungssuche, Bau- und Reinigungsarbeiten und für die Brutpflege. Bei den meisten Staaten bildenden Insekten (Ameisen, Termiten) bleiben Angehörige verschiedener Kasten zeitlebens auf bestimmte Tätigkeiten spezialisiert (Abb. 4.9). Bei Honigbienen übernimmt jede Arbeiterin im Lauf ihres Lebens nacheinander verschiedene Aufgaben. Die ersten drei Tage nach dem Schlüpfen reinigt die junge Arbeiterin leere Brutzellen, bis zum 10. Lebenstag versorgt sie als Ammenbiene die Larven mit Nahrung, zwischen dem 10. und dem 16. Lebenstag ist sie als Bauarbeiterin tätig, vom 16. bis zum 20. Lebenstag produziert sie Honig, um den 20. Lebenstag verteidigt sie als Wächterin den Stockeingang, danach ist sie bis zu ihrem Lebensende (durchschnittliche Lebenserwartung ist 28–35Tage) als Sammlerin tätig. Ähnliche sukzessive Rollen-
wechsel (Alterspolymorphismus) stellen wir auch bei den eusozialen Graumullen, unterirdisch lebenden afrikanischen Nagetieren (Abb. 2.11), fest. Problematisch ist es, die Königinnen der Nacktmulle unter Hinweis auf Merkmale (z. B. Körpergröße, Verlängerung der Lendenwirbel), die auch sich häufig und regelmäßig fortpflanzende Weibchen bei anderen Säugetieren charakterisieren (z. B. Hausschweine), als „reproduktive Kaste“ zu bezeichnen. Auch die Nacktmullkönigin war früher in ihrem Leben eine Arbeiterin, und prinzipiell kann jede Arbeiterin Königin werden (sofern sie die Chance erhält). ( Box 4.17)
4.9 Kasten der Termiten. (In Anlehnung an diverse Quellen)
228
4 Evolutionäre Neuheiten
Die Unterschiede zwischen Mensch und Schimpanse beruhen eher auf unterschiedlichen Genaktivitäten als auf genetischen Unterschieden.
Genomik und Proteomik beschäftigen sich mit den Analysen kompletter Genome bzw. Proteome.
von Karel Gott (S. 156) oder auch alle höchst sonderbaren Stadien in der Ontogenese der Wurzelkrebse herausbilden. Die Fähigkeit des Genoms, verschiedene Formen, Funktionen und Lebensweisen zu produzieren, ist offensichtlich allen komplizierteren Organismen gemein ( Box 1.17, 4.7, 4.8). Dennoch basiert die morphologische und ökologische Evolution der Organismen üblicherweise auf genetischen Änderungen. Die Tatsache, dass die Nucleotidsequenzen von Mensch und Schimpanse zu 95–99 Prozent identisch sind, weist darauf hin, dass die Unterschiede zwischen den beiden Arten eher auf unterschiedlichen Genaktivitäten als auf direkten genetischen Differenzen beruhen. (Die andere Möglichkeit wäre natürlich, dass nicht nur die genetischen, sondern wie auch immer geartete, andere Unterschiede zwischen Mensch und Schimpanse sehr gering sind, was auch wahrscheinlich ist.) Die Frage, worin der Unterschied zwischen den Evolutionsneuheiten und der Entstehung neuer Gene liegt, beantworten uns die „boomenden“ Wissenschaften Genomik und Proteomik, die sich mit den Analysen kompletter Genome und Proteome (Proteinsätze) verschiedener Arten beschäftigen. Heute kennen wir die menschlichen Gegenstücke zu mehr als 99 Prozent der Hausmausgene, und es fehlen uns nur noch die menschlichen Gegenstücke zu 118 Genen der Maus. Das liegt vermutlich daran, dass sich die Gene des Menschen oder der Maus (oder beide) so weit vom gemeinsamen Vorfahren entfernt haben, dass es nicht einfach ist, sie überhaupt als homologe Gene zu identifizieren. Wenn wir uns die Mausproteine anschauen, erkennen wir, dass ungefähr ein Viertel (23 Prozent) davon bei allen Organismen vorkommen und für die Grundfunktionen der Zelle offenbar unentbehrlich sind (Tabelle rechts). Weitere 29 Prozent sind mit der Entstehung der Eukaryotenzelle verbunden, und 27 Prozent der Mausproteine sind Moleküle, die im Zusammenhang mit der Entstehung
| 4.8 |
Sex verlängert das Leben (zumindest bei sozialen Insekten und Graumullen) Die sozialen Insekten zeigen – trotz desselben Genoms – nicht nur eine große morphologische und ethologische Plastizität ( Box 4.7), sondern auch unterschiedliche life histories ( Box 5.7). Während die Lebenserwartung der Arbeiter bzw. Arbeiterinnen üblicherweise relativ kurz ist ( Box 4.7), leben die Königinnen wesentlich länger. Man weiß sogar von einzelnen Ameisenköniginnen, die 30 Jahre und länger lebten – atemberaubend für ein so kleines Tier! Die eusozialen Insekten stellen damit eine Ausnahme von der allgemein angenommenen Regel dar, dass ein Kompromiss (englisch: trade-off) zwischen Fekundität und Lebenserwartung eingegangen wird ( Box 5.8). Dieser Kompromiss ist für die meisten Theorien zur Evolution der life histories entscheidend. Unlängst wurde beschrie-
ben, dass auch die eusozialen Nagetiere, Nacktund Graumulle ( Box 5.9), zehnmal länger leben können (20–30 Jahre) als mausartige Nagetiere vergleichbarer Körpergröße. Interessanterweise ist die Lebenserwartung der reproduktiven Tiere doppelt bis dreimal so hoch wie die der nichtreproduktiven Arbeiter und Arbeiterinnen (maximale Lebensdauer acht Jahre). Dieser Unterschied wurde bei im Labor unter identischen Bedingungen gehaltenen Tieren festgestellt und kann nicht mit unterschiedlicher Nahrungsaufnahme bzw. unterschiedlicher Aktivität (und damit mit unterschiedlichem Energieumsatz) oder durch Unterschiede im Dominanzstatus erklärt werden; er spiegelt damit offenbar eine unterschiedliche Genexpression wider. Damit werden diese Tiere zu interessanten Modellen der Altersforschung.
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4.6 Gene und Evolution
vielzelliger Tiere stehen. Weitere sechs Prozent der Mausproteine entstanden wahrscheinlich, als sich die Chordaten herausbildeten, 14 Prozent stammen aus der Anfangszeit der Säugetiere und weniger als ein Prozent der Mausproteine erwecken den Verdacht, dass es sich um spezifische Nagetierproteine handeln könnte (was gerade den Genprodukten entspricht, durch die sich Menschen und Mäuse unterscheiden). Obwohl es sich natürlich um sehr ungefähre Zahlen handelt (deren Ungenauigkeit aus der ungenügenden Kenntnis der Genome der übrigen Millionen Arten von Organismen resultiert), liefern sie uns trotzdem eine gewisse Vorstellung über die Evolution der Genome. Es liegt vermutlich an unserer Naivität, dass wir eine morphologische, embryologische oder ethologische Neuheit, die uns gerade interessiert, mit der Entstehung eines neuen Gens in Verbindung bringen wollen. Anteile der Mausproteine, die man auch bei anderen Organismen findet (in %) bei allen Organismen
23 %
bei allen Eukaryoten
29 %
bei allen Tieren
27 %
bei allen Chordaten
6%
bei allen Säugetieren
14 %
bei allen Nagetieren
1%
Allerdings brauchen wir neue Gene zur Erklärung von Evolutionsneuheiten nicht oder zumindest nicht immer. Um das zu verstehen, müssen wir wissen, dass jede genetische Aktivität kompliziert geregelt ist (u. a. auch durch die Produkte anderer Gene). Weil sich ein beträchtlicher Teil der Gene nur mit der Regulation anderer Gene beschäftigt und nicht direkt an der Ausbildung des Organismus beteiligt ist, stellen die verschiedenen Regulationsgene eine vielversprechende Gruppe möglicher Verursacher von Evolutionsänderungen dar. Hawaiische Pflanzen der Gattungen Argyroxiphium, Dubautia und Wilkesia aus der Familie Asteraceae sind ein exzellentes Beispiel für die schnelle Entstehung vieler und vielfältiger Arten. Es handelt sich um eine Gruppe von etwa 30 nah verwandten Arten, die Bäume, Büsche, Kräuter und Lianen einschließen und deren Lebensraum sich von ariden Gebieten bis hin zu feuchten Urwäldern erstreckt. Vergleichen wir ihre am Blütenbau und an der Photosynthese beteiligten Regulationsgene mit den homologen Genen verwandter nordamerikanischer Pflanzen, stellen wir eine signifikante Zunahme von Mutationen bei den hawaiischen Arten fest. Es scheint, dass in diesem Fall die schnelle morphologische Differenzierung im Verlauf der Radiation wirklich von einer beschleunigten Evolution der Regulationsgene begleitet wurde, sodass die ursprünglichen Beziehungen zwischen den Aktivitäten verschiedener Gene gewissermaßen gelockert sind. Regulationsgene sind insofern bedeutend, als dass sie manchmal die Prozesse beeinflussen, die uns am meisten interessieren, nämlich die Morphogenese, also die Entstehung von Formen in der individuellen Entwicklung der Tiere. Eine Zelle, in der ein bestimmtes Gen aktiv ist, erhält durch diese Aktivität
Viele Gene sind nur mit der Steuerung anderer Gene beschäftigt.
Mutationen in Regulationsgenen sind oft für schnelle morphologische Differenzierung und Artbildung verantwortlich.
230
4 Evolutionäre Neuheiten
| 4.9 |
Maternaleffekt-Gene und Morphogene Das Kernproblem der Entwicklungsgenetik betrifft die Frage, wie die eindimensionale Information (Basensequenz) in die vierdimensionale (Raum und Zeit) Struktur eines Organismus umgesetzt wird. Die Gene, welche die räumliche Anordnung des Körpers (Kopf-Schwanz-Achse, Bauch- und Rückenseite und Segmentierung) kontrollieren, wurden zuerst bei der Taufliege beschrieben. Christiane Nüsslein-Volhard ( S. 231) behandelte zusammen mit Eric Wieschaus Taufliegen mit mutagenen Substanzen, um die Gene zu untersuchen, deren Mutationen zu Fehlbildungen bei der Entstehung der Körperachse oder des Segmentierungsmusters führen. So wurden 15 unterschiedliche Gene identifiziert, die − sofern mutiert − Defekte in der Segmentierung verursachen. Dieser Ansatz war einfach, doch originell und die Methode revolutionierte die Entwicklungsgenetik. Die Entdeckung wurde 1995 mit dem Nobelpreis für Medizin oder Physiologie honoriert. Schon in der unbefruchteten Eizelle vieler Tiere existiert eine Polarität, die durch ein Konzentrationsgefälle cytoplasmatischer Komponenten (mRNA, Proteine, Dotter) bestimmt ist. Durch die Furchung der Zygote in kleinere Blastomere werden unterschiedliche Plasmabereiche der Zygote unterschiedlichen Tochterzellen zugeteilt. Die verschiedenen Bereiche teilen sich auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, sodass ein Keim entsteht, der zumindest in einigen Achsen asymmetrisch sein kann. In den verschiedenen Blastomeren erhalten die Zellkerne über das Cytoplasma Informationen (z. B. aufgrund der Existenz und Konzentration bestimmter Proteine) über die Lage der Zelle im Keim (S. 237). Anders als bei Säugetieren, bilden sich die Polaritätsachsen bei den meisten Tieren schon zu Anfang der Furchung aus. Bei der Taufliege bestimmen Maternaleffekt-Gene die Achsenpolarität bereits in der Eizelle. Sie produzieren mRNA, welche in der Eizelle ungleichmäßig verteilt wird. Diese mRNA wird in der Zygote in regulatorische Proteine, die sogenannten Morphogene, translatiert. Die KopfSchwanz-Achse in einem Fliegenembryo wird durch die Morphogene Bicoid und Hunchback, im hinteren Bereich durch die Morphogene Nanos und Caudal bestimmt (Abb. 4.10). Die Morphogene diffundieren im Cytoplasma zu jeweils gegenüberliegenden Polen der Eizelle und bilden ein Konzentrationsgefälle. Letzteres spiegelt sich später in den unterschiedlichen Konzentrationen
dieser Proteine in den Blastomeren wider, die in verschiedenen Bereichen der Zygote entstanden sind. Damit vergleichbar bestimmen die Proteine Dorsal und Toll die dorso-ventrale Achse. Die Gradienten der Achsen-Proteine verursachen regionale Unterschiede in der Expression der Segmentierungsgene. Zunächst bewirken die Gap-Gene eine grobe Einteilung des Keims in eine vordere, mittlere und hintere Region. Mutationen in diesen Genen verursachen große Lücken (englisch gap) im Segmentierungsmuster der Tiere. Als nächstes werden die Paarregelgene aktiviert, die die Entstehung der primären Körpersegmente (Parasegmente) bewirken. (Bei der Fliege sind es 14 Parasegmente). Zuletzt bestimmen die Segmentpolaritätsgene die anterior-posteriore Polarität in den jeweiligen Segmenten. Die endgültigen Segmente (z. B. Körpersegmente bei Insekten oder Wirbel bei Wirbeltieren) entstehen durch Verschmelzung des hinterenTeils eines Parasegments mit dem vorderen Teil des daran anschließenden Parasegments.
4.10 Expressionsmuster einiger wichtiger Kontrollgene, die die Positionsinformation im Ei der Taufliege bestimmen und schrittweise weitere Gene weiterer Gengruppen aktivieren. Unten ist die Projektion auf die endgültigen Segmente dargestellt. Mn = Mandibula, Mx = Maxilla, La = Labium, T 1–3 = Thoraxsegment 1–3, A 1–9 = Abdominalsegment 1–9. (In Anlehnung an diverse Quellen)
231
4.6 Gene und Evolution
Informationen über ihre Lageposition im Embryo. Ihr wird gewissermaßen ihre „Adresse“ mitgeteilt, und aufgrund dieser Information beginnt sie, sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln, die von der Richtung der Nachbarzelle mit einer anderen Adresse abweichen kann. Natürlich bekommt die Zelle diese Positionsinformation nicht einfach so aus dem Nichts. Auch die Regulationsgene müssen zunächst Informationen darüber erhalten, in welcher Zelle sie aktiv sein sollen und in welcher nicht. Und auch die Aktivität der Regulationsgene ist wiederum irgendwie reguliert. Es handelt sich um eine komplizierte Übertragungskaskade, bei der die Positionsinformationen allmählich verfeinert werden. Am Anfang erfolgt die Grunddifferenzierung der Eizelle in einen vorderen und hinteren oder dorsalen und ventralen Teil. Dies bestimmt die Mutter in ihrem Körper während der Eiproduktion z. B. mithilfe von Molekülgradienten, die aus verschiedenen Richtungen in das Ei gesandt werden ( Box 4.9, Abb. 4.10). Die Tatsache, dass einige Gene homologe Nucleotidsequenzen gemeinsam haben, beweist ihre phylogenetische Verwandtschaft, also ihre Zugehörigkeit zu einer „Genfamilie“. Genauso wie wir die Verwandtschaft zwischen Arten rekonstruieren, können wir auch nach den verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Genen suchen. Hier stoßen wir allerdings auf ein Problem: Neben orthologen (durch Speziation entstandenen) Genpaaren, gibt es paraloge (durch Duplikation entstandenen) Genpaare ( Box 3.4, Abb. 3.8). Während die orthologen Gene etwas über die Phylogenese der Organismen aussagen, verraten uns paraloge Gene als Zeugen der allmählichen Steigerung der Komplexität des Genoms manches über die Evolution der Formen, Funktionen und Lebensweisen. Das kombinierte Studium von paralogen und orthologen Genen bietet so ein sehr komplexes Bild der Evolution der Organismen, insbesondere wenn wir sie noch hinsichtlich der Körperteile vergleichen, in denen diese Gene aktiv sind. Das Problem ist, dass wir die orthologen und paralogen Kopien eines Gens bei verschiedenen Arten als solche erkennen müssen. Die Gene für das Hämoglobin von Mensch, Schimpanse und Gorilla sind ortholog und können uns etwas über die Phylogenese der Menschenaffen aussagen; die Gene für das menschliche Hämoglobin und das Myoglobin sind paralog und helfen uns die Evolution der Globin-Genfamilie zu rekonstruieren. Wenn wir aber nicht wüssten, dass es mehrere paraloge Kopien von Globingenen in einem Organismus gibt, würden wir bei phylogenetischen Untersuchungen am Hämoglobin
Christiane Nüsslein-Volhard Lebensdaten: geb. 1942 Nationalität: deutsch Leistung: Entwicklungsbiologin, Genetikerin. Direktorin der Abteilung Genetik des Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie inTübingen. Sie erhielt 1995 zusammen mit Eric F. Wieschaus und Edward B. Lewis den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für ihre Forschungen über die genetische Kontrolle der frühen Embryonalentwicklung. Auf Deutsch erschienen von ihr u. a. die Bücher Von Genen und Embryonen (2004) und Das Werden des Lebens – Wie Gene die Entwicklung steuern (2006).
Die Regulationsgene selbst werden in einer komplizierten Übertragungskaskade reguliert.
Gene, die homologe Nucleotidsequenzen gemeinsam haben, bilden eine Genfamilie. Orthologe Gene entstehen durch Speziation und verraten etwas über die Phylogenese. Paraloge Gene entstehen durch Duplikation und verraten etwas über die Anagenese.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Die „Familie der Hox-Gene“ stellt eine besondere Gruppe von Kontrollgenen dar.
des Menschen, am Myoglobin der Katze und am Hämoglobin des Hais herausfinden, dass der Hai mit dem Menschen näher verwandt ist als die Katze. Die Kombination von Paralogie und Orthologie ist ein echter Segen für die Evolutionsbiologie – aber nur dann, wenn man paraloge von orthologen Genen unterscheiden kann. Einer besonderen Aufmerksamkeit unter den vielen Kontrollgenen erfreut sich die „Familie der Hox-Gene“ ( Box 4.10, Abb. 4.11). Die Hox-Gene bestimmen bereits bei primitiven Tieren die Positionsinformation der Zellen
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Homöotische Gene Eine weitere Differenzierung einzelner Segmente und damit ihre individuellen Eigenschaften werden durch homöotische (homeotische) Gene bestimmt. Diese Kontrollgene entscheiden darüber, welches Segment mit welchen „Körperanhängen“ (Beine, Flügel, Antennen) ausgestattet wird. Bei Mutationen in diesen Genen entstehen die vorgesehenen Organe am falschen Ort: z. B. zusätzliche Beine an der Stelle, an der normalerweise Antennen gebildet werden sollten, oder ein zweites Flügelpaar statt Schwingkölbchen (Halteren). Diese Fehlbildungen (Transformation eines Organs an einen anderen Ort) sind schon seit 100 Jahren bekannt und wurden als Homöosis (Homeosis, Wortbildung aus dem griechischen homoios: gleichartig und der Silbe -osis, mit der ein krankhafter Zustand bezeichnet wird) bezeichnet. Edward B. Lewis (1918–2005, Nobelpreis 1995) hat die genetische Basis für homöotische Transformationen untersucht und festgestellt, dass durch die Duplikation eines ganzen Körpersegments ein zusätzliches Flügelpaar entstehen kann. Homöotische Gene beinhalten die Homöobox (Homeobox), eine Sequenz von 180 Basenpaaren, die für die Homöodomäne (60 Aminosäuren) eines Proteins kodiert und an die DNA bindet. Homöobox-Gene kodierenTranskriptionsfaktoren, die Kaskaden von weiteren Genen aktivieren oder unterdrücken, um z. B. einen Flügel zu bilden. Die Homöobox ist in der Phylogenese hoch konserviert und wurde bei allen homöotischen Genen und bei allen bisher untersuchten Tieren sowie bei Pilzen und Pflanzen gefunden. („Homöobox“ ist nicht mit „homöotisch“ gleichzusetzen: „Homöobox“ bezeichnet das konservierte Sequenzmotiv, „homöotisch“ dagegen die Fähigkeit, homöotische Transformationen zu verursachen.) Homöotische Gene sind auf den Chromosomen hintereinander in einem sogenannten Cluster angeordnet. So befindet sich der HOM-C-Cluster
bei der Taufliege auf dem 3. Chromosom, wobei es aus zwei Gen-Komplexen besteht: Der Antennapedia-Komplex (Antp-C) aus fünf Genen ist für den vorderen Körperteil und der BithoraxKomplex (BX-C) aus drei Genen für den hinteren Körperteil zuständig. Die Reihenfolge der Gene auf dem Chromosom entspricht der Reihenfolge ihrer Ausprägung entlang der Längsachse des Körpers (Kolinearitätsprinzip) (Abb. 4.11). Auch bei anderen Taxa sind homöotische Gene (bei Wirbeltieren Hox-Gene genannt, abgeleitet von Homöobox) innerhalb des Clusters auf dem Chromosom in einer Reihe angeordnet und werden der Reihe nach entlang der Körperachse aktiviert. Bei Säugetieren gibt es vier paraloge Hox-Cluster – Hoxa, Hoxb, Hoxc, Hoxd (jeweils mit 9–13 Genen), die auf vier Chromosomen liegen; beim Menschen sind das die Chromosomen 2 (HOXD), 7 (HOXA), 12 (HOXC) und 17 (HOXB) (Abb. 4.11). Gerade die Erkenntnis, dass homologe HoxGene auch bei so entfernt verwandten Tieren wie der Fliege und der Maus in ähnlichen Kontexten wirken, führte zum allmählichen Zusammenwachsen der Entwicklungs- und der Evolutionsbiologie („Evo-Devo”) ( Box 4.12). Änderungen in der Anzahl der Hox-Gene und ihrer Sequenzen beeinflussen die Regulation ihrer Tätigkeit und die Diversifizierung der Baupläne der Tiere in erheblichem Maße. Auch wenn wir die Entwicklungsgeschichte der Hox-Gene erst wenig kennen und daher die Struktur des ursprünglichsten HoxKomplexes nur mit Schwierigkeiten rekonstruieren können, liefert das Studium der Abwandlungen dieser Komplexe wichtige Informationen über die Stammesgeschichte derTiere. Es geht jedoch nicht nur um die molekulare Struktur, sondern auch um die morphologischen Zonen der Aktivität der HoxGene. Beide ermöglichen eine Homologisierung von Körperregionen auch bei phylogenetisch sehr entfernten Organismen.
4.6 Gene und Evolution
233
4.11 Reihenfolge der homöotischen Gene des HOM-C-Clusters auf dem 3. Chromosom und ihre Ausprägung entlang der Körperlängsachse bei Drosophila (links). Ab = Abdomen, An = Antennen, Ic = Intercalarsegment, La = Labium, Mn = Mandibeln, Mx = Maxillen, Pa = Präantennalsegment, Th = Thorax. Lokalisation und Reihenfolge der homöotischen Gene der HOX-Gene auf dem 7. (HOXA), 17. (HOXB), 12. (HOXC) und 2. Chromosom (HOXD) und ihre Ausprägung im menschlichen Körper (rechts). (In Anlehnung an Burda 2005, nach verschiedenen Quellen)
entlang der antero-posterioren Körperachse und daher auch die Grundeinteilung des Körpers in Kopf- und Rumpfteil. Aus dem Vergleich dieser Gene bei verschiedenen Tieren können wir ableiten, dass schon der gemeinsame Vorfahre aller bilateralen Tiere mehrere verschiedene Hox-Gene besaß. Die entsprechenden Gene wurden bei Insekten erstmalig beschrieben und als labial, Deformed, Antennapedia und Abdominal-B bezeichnet. (Ja, die Hox-Gene haben wirklich so seltsame Namen und werden mal mit großem, mal mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben.) ( Box 4.11). Das Gen labial hat den Auftrag, das Vorderende des Tiers zu markieren, Abdominal-B kennzeichnet das Hinterende und Deformed und Antennapedia kümmern sich um die dazwischen liegende Region. Die ersten Duplikationen des ursprünglichen Hox-Gens mussten also aufgetreten sein, noch bevor die Gruppe Bilateria entstanden war (Abb. 4.12). Die Hox-Gene sind auf dem Chromosom dicht hintereinander angeordnet und zwar so, dass die Reihenfolge der Gene auf einem Chromosom interessanterweise der Reihenfolge der Zonen entspricht, für die sie „zuständig“ sind: Das Gen labial befindet sich auf dem Chromosom „vor“ dem Gen Deformed, das wiederum „vor“ dem Gen Antennapedia liegt, und das Gen Abdominal-B ist auf dem Chromosom ganz „hinten“ (Abb. 4.11). (Dort, wo wir verlässlich wissen, dass diese Gene auf dem Chromosom hintereinander liegen, sind sie auf dem Bild mit einer Linie vertikal verbunden; in anderen Fällen wissen wir
Hox-Gene bestimmen die Grundeinteilung des Körpers in Kopf und Rumpf.
Die Anordnung der Hox-Gene auf einem Chromosom entspricht der Reihenfolge der Körperzonen, für die sie „zuständig“ sind.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Die Duplikation eines Gens und die Differenzierung seiner paralogen Kopien ermöglicht die Verfeinerung der Positionsadressen.
zwar, dass es dort diese Gene gibt, aber wir kennen die genaue Position nicht; nichtsdestoweniger ist es höchst wahrscheinlich, dass sie auch dort kontinuierliche Komplexe bilden.) In weiteren Duplikationsrunden spezialisierten sich die neu entstandenen Gene hinsichtlich ihrer Funktion als Indikator für die Positionsinformation, doch behielten sie stets die grundsätzliche Beziehung zwischen der Genposition auf dem Chromosom und der Zone im Tier bei. Die Duplikation des Gens und die Differenzierung seiner paralogen Kopien begleitete so die Verfeinerung der Positionsadressen: Wenn sich ein „Gen für den hinteren Teil des Kopfes“ verdoppelte, bekamen die beiden neuen Gene die Aufgabe, zwei unterschiedliche Abschnitte des hinteren Kopfteils zu organisieren. (Die Anführungszeichen für die Spezifikation der Gene, also das, „wofür sie kodieren“, sind hier angebracht, denn an der Bildung des hinteren Teils des Kopfes beteiligen sich sicher Hunderte von Genen. Das Hox-Gen, von dem wir hier sprechen, sagt nur, welche Gene wann und wo aktiv sein sollen.) Neben der Duplikation einzelner Gene, die zu einem komplizierteren Bau des chromosomalen Hox-Komplexes führt, kann sich auch der gesamte Komplex als solches verdoppeln, was bei Wirbeltieren sogar zweimal nacheinander passierte. So finden wir bei den höheren Wirbeltieren vier verschiedene Hox-Komplexe statt eines einzigen, den die übrigen Tiere aufweisen (Abb. 4.11, 4.12). Bei der Betrachtung einzelner Gruppen von Chordaten stellen wir fest, dass sich die Größe ihrer Genome fortlaufend und markant vergrößerte. Das Genom des Lanzettfischchens ist bezüglich des DNA-Gehalts vergleichbar mit den kleinsten bekannten Wirbeltiergenomen. Verglichen mit den placentalen Säugetieren ist das Genom des Lanzettfischchens dagegen immer noch ca. fünfmal kleiner. Wahrscheinlich erfolgte die Duplikation in mehreren Runden (erstmalig an der Basis der Wirbeltiere, zum zweiten Mal an der Basis der Kiefermünder, und dann noch einmal bei der Entstehung der Fische) und hat also nicht nur die Hox-Gene betroffen. Man bekommt das ungute Gefühl, dass die Evolution der Wirbeltiere vor allem mit einer Steigerung der Komplexität auf der „Leiter des Fortschritts“ von den marinen Urwirbeltieren zu den Säugetieren einhergeht.
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Schreibweise von Gennamen und Genprodukten Gemäß den Konventionen der Datenbanken werden Gene und ihre mRNA kursiv geschrieben. Normalerweise beginnen rezessive Gene mit kleinen und dominante Gene mit großen Anfangsbuchstaben. Genprodukte beginnen immer mit Großbuchstaben und werden nicht kursiv, sondern häufig in KAPITÄLCHEN geschrieben. Die Namen der Gene von Menschen werden, anders als Gene von Tieren, mit großen Buchstaben geschrieben: HOXA1, HOXA2 beim Menschen und Hoxa1,
Hoxa2 bei der Maus. Für detaillierte nomenklatorische Regeln siehe z. B. folgende Internetquellen: Taufliege: http://www.flybase.org/docs/nomenclature/lk/ nomenclature Maus: http://www.informatics.jax.org/mgihome/nomen Mensch: http://www.genenames.org
4.6 Gene und Evolution
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4.12 Darstellung der Evolution der homöotischen Gene. Die Anordnung auf den Chromosomen entspricht der Reihenfolge, in der sie im Embryo exprimiert werden, wobei lab das Vorder-, Abd-B das Hinterende des Tieres bestimmen. Die Farbboxen grenzen verschiedene Gruppen paraloger Gene ab. Bei Wirbeltieren findet man Hox-Gene auf vier verschiedenen Chromosomen. (Nach Carroll et al. 2001, Duboule 2007 und anderen Quellen)
Allerdings vermissen wir hier die erwartete genetische Revolution, die den Menschen oder zumindest die Säugetiere von den anderen Kiefermündern trennen würde. 1970 postulierte Susumu Ohno ( s. u.), dass die Genduplikation eine bedeutende Rolle in der Evolution spielt, eine Hypothese, die durch nachfolgende molekularbiologische Untersuchungen unterstützt wurde. Die Duplikation der Regulationsgene ist für die Entstehung von ganz neuen Eigenschaften der Organismen viel wahrscheinlicher als z. B. eine einfache Mutation, die die Sequenz eines einzelnen Regulationsgens ändert. Eine Genduplikation muss nicht unbedingt eine wesentliche Evolutionsänderung verursachen; eher scheint sie den Organismus empfindlicher gegenüber künftigen Änderungen zu machen. Es geht darum, Freiräume zu schaffen, in denen die künftige Selektion wirken kann, um z. B. die parallele Entwicklung von vielen Evolutionsneuheiten bei den ersten Wirbeltieren oder den ersten Kiefermündern zu ermöglichen. In verschiedenen Familien von Regulationsgenen kam es nach der Genduplikation zur funktionellen Differenzierung der Tochtergene: Denken wir etwa an die allmähliche Komplexitätssteigerung der Genfamilie EMP, die nach und nach die Synthese von Knochen- und Zahngewebe, Speichel und Milch beeinflusste. Die verwandten Hox-Gene haben eine ähnliche (jedoch nicht identische) Rolle
Susumu Ohno Lebensdaten: 1928–2000 Nationalität: US-Amerikaner südkoreanischer Herkunft Leistung: Genetiker. 1970 postulierte O., dass die Duplikation der Gene eine besondere Rolle in der Evolution spielt. 1956 entdeckte er, dass das Barr-Körperchen in den Zellkernen bei Säugetierweibchen ein kondensiertes X-Chromosom darstellt. O. zeigte, dass das X-Chromosom bei den Säugetieren in der Phylogenese hoch konserviert ist – d. h. es ist bei verschiedenen Arten homolog und wenig veränderlich (Ohnos Gesetz).
Die Duplikation der Gene und ihre nachfolgende Differenzierung spielt in der Evolution eine bedeutende Rolle.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Gene übernehmen während der Evolution eher neue Funktionen, als dass die ursprünglichen Aufgaben durch neue ersetzt würden. „Alte“ Eigenschaften können zur Erfüllung neu entstandener Bedürfnisse angepasst werden.
bei der Entwicklung des Nervensystems; gleichzeitig aber unterscheiden sie sich dramatisch durch ihre Aktivität in anderen Geweben. Die Blockade von einzelnen Hox-Genen verursacht viel größere Schäden in diesen Geweben als im Nervensystem, was darauf hindeutet, dass sich die Funktionen verschiedener Hox-Gene bei der Bildung des Neuralrohrs teilweise überlappen, anderswo aber nicht. Diese Tatsache sagt etwas Wesentliches darüber, wie sich die Regulationsgene an der Morphogenese beteiligen. Die meisten Hox-Gene haben ihre ursprüngliche Funktion bei der Steuerung des Nervensystems beibehalten, und einige weitere, morphogenetische Funktionen sind hinzugekommen. Das mag vielleicht nicht außerordentlich erscheinen. Alle Kenntnisse, die wir bislang zur Evolution morphogenetisch bedeutender Gene haben, zeigen, dass sich ihre Funktionen während der Evolution eher aufspalten und vermehren, als dass die ursprünglichen Aufgaben durch neue ersetzt würden und verloren gingen. Etwas Ähnliches werden wir im nächsten Teil bei morphologischen und öko-physiologischen Eigenschaften von vielzelligen Organismen sehen. Für neu entstandene Bedürfnisse werden eher alte Eigenschaften angepasst, anstatt schnell (und riskant) neue Eigenschaften zu erfinden. Dies bezeichnen wir als „Exaptation“ ( Abschnitt 5.8).
4.7 Evo-Devo I: Wie baut man eine Fliege?
Die Vielfalt der Insekten beruht auf der Diversität von einigen wenigen Merkmalen.
Kommen wir nun zu einem Thema, bei dem Morphologie und Paläontologie mit den experimentellen genetischen und embryologischen Ansätzen wirklich zusammenwirken, nämlich die Evolution der Insekten. Insbesondere der Untersuchung der Insekten verdankt auch das als „Evo-Devo“ bezeichnete Fach (also „evolution-development“ – eine Kombination des Studiums der Evolution und der individuellen Entwicklung) seine Entstehung und Entfaltung ( Box 4.12). Seltsamerweise beruht die riesige Vielfalt der Insekten auf der Diversität einiger weniger grundlegender Merkmalskomplexe, insbesondere der Art und Weise der Ontogenese, der Zahl und Form der Flügel und den Gestaltungs-
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Evolutionäre Entwicklungsbiologie: Evo-Devo Als „Evo-Devo“ (aus dem Englischen evolutionary developmental biology bzw. evolution of development) wird die neue Forschungsrichtung bezeichnet, die die Evolution der Ontogenese sowie die Beeinflussung evolutionärer Prozesse durch ontogenetische Prozesse und ihrer Modifikation untersucht. Die Beziehung zwischen Ontogenese und Evolution bzw. Phylogenese weckte schon vor langer Zeit das Interesse der Biologen und wurde besonders von Geoffrey Saint-Hilaire ( S. 7), Karl Ernst von Baer (1792–1876), Charles Darwin ( S. 10), Ernst Haeckel ( S. 15) und August Weis-
mann ( S. 15) betont. Später wurde dieses Interesse vor allem durch Stephan Jay Gould ( S. 35) neu geweckt. Aus heutiger Sicht repräsentiert diese Etappe allenfalls die Zeit der „vorgeburtlichen Entwicklung“ von Evo-Devo. Die Geburtsstunde von Evo-Devo wurde erst mit der Entfaltung der Entwicklungsgenetik eingeläutet, genauer gesagt mit der Entdeckung der Homöobox im Jahre 1983 durch Bill McGinnis, Mike Levine und andere Forscher im Labor von Walter Gehring ( S. 237). Evo-Devo wird z. B. in dem Buch von S. B. Carroll (2008) vorgestellt (s. Literatur).
4.7 Evo-Devo I: Wie baut man eine Fliege?
modifikationen des Mundapparats. Wenn wir die Insekten mit ihren nächsten Verwandten, den Krebstieren, vergleichen, stellen wir fest, dass die Zahl der Krebstierarten zwar um eine Größenordnung niedriger ist, ihre morphologische und ökologische Vielfalt dafür aber die der Insekten deutlich übersteigt. Die Insekten sind eine morphologisch auffällig uniforme Gruppe, insbesondere was die Zahl der Glieder (Segmente) und den Bau der Körperabschnitte (Tagmata) betrifft. Der Insektenkörper besteht aus ungefähr zwanzig Segmenten (die Wissenschaftler streiten sich noch über die Anzahl der Segmente im vorderen Teil des Kopfes und teilweise auch im hinteren Teil des Abdomens) und ist in drei funktionelle Abschnitte (Tagmata) geteilt: Kopf (ungefähr sechs Segmente), Thorax (drei Segmente) und Abdomen (ungefähr elf Segmente). Jedes Segment trägt ein Paar Gliedmaßen, das morphologisch und funktionell unterschiedlich spezialisiert ist. Die Gliedmaßen des Kopfes bilden die Fühler und die Mundorgane, die Thoraxgliedmaßen dienen als Beine und die Gliedmaßen des Abdomens sind mehr oder weniger reduziert (z. B. bei Silberfischchen) oder vollständig rückgebildet (bei den meisten geflügelten Insekten). Die hinteren Paare sind am Bau der Geschlechtsorgane beteiligt, und das letzte Paar bildet eine Art „Hinterfühler“ (die sogenannten Cerci). Darüber hinaus haben die meisten Insekten, bis auf die primitivsten Gruppen, je ein Paar Flügel auf dem zweiten und dritten Thoraxsegment. Die Umsetzung dieses Bauplans wird durch eine mehrstufig arbeitende genetisch-embryologische Maschinerie gewährleistet, von der wir einige Teile bereits kennen. Wieder einmal sind die Kontrollgene am Werk, die auf die ursprüngliche, schon von der Mutter festgelegte, antero-posteriore und dorsoventrale Einteilung des Eis reagieren ( Box 4.9). Wenn sich der Körper einer Fliege zu bilden beginnt, ist der Embryo noch sehr einfach aufgebaut: Anfangs besteht er aus einer einzigen oberflächlichen Zellschicht, das Innere ist mit Dotter gefüllt. Vom Standpunkt einer Einzelzelle aus betrachtet, handelt es sich bei der Außenschicht während dieses Stadiums also um eine zweidimensionale Fläche. Die Bestimmung der „Adresse“ der Zellen auf der „Karte des Embryos“ können wir uns wie die Bestimmung eines konkreten Ortes auf dem Globus vorstellen – auch die Erde ist rund, aber für die eindeutige Bestimmung einer Lokalität auf der Erdoberfläche genügt uns der Schnittpunkt eines konkreten Breitengrades mit einem konkreten Längengrad, also nur zwei Daten (Abb. 4.13). Für die genaue Lokalisierung einer konkreten Zelle werden ebenfalls nur
Walter Jakob Gehring Lebensdaten: geb. 1939 Nationalität: Schweizer Leistung: Entwicklungsbiologe, Molekularbiologe. Professor der Biologie an der Universität Basel. Zusammen mit seinem Team entdeckte und beschrieb er u. a. Homöobox-Gene und das für die Augenentwicklung entscheidende Kontrollgen Pax-6. Weitere wichtige Beiträge betreffen das Studium der Hitzeschockproteine und der Transposons. Zusammen mit R. Wehner verfasste er das Lehrbuch Zoologie (24. Aufl. 2007).
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Der Insektenkörper ist in drei funktionelle Abschnitte (Tagmata) eingeteilt: Kopf, Thorax und Abdomen.
Der frühe Embryo einer Fliege besteht aus einer einzigen oberflächlichen Zellschicht, das Innere ist mit Dotter gefüllt.
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4 Evolutionäre Neuheiten
4.13 Ableiten und Festlegen der embryonalen Koordinaten durch Drehen (a) und Strecken (b) der Standardglobuskoordinaten sowie anschließende Projektion auf den Embryo (c). „Embryonale Breite“ und „embryonale Länge“ bestimmen die exakte Position einer konkreten Zelle. Die Maternaleffekt-Gene und die Morphogene informieren die Zelle, in welchem Segment sie sich befindet. Die Segmentierungsgene bestimmen die Position innerhalb eines Segments.
Die Hox-Gene kontrollieren die Identität einzelner Körpersegmente.
Die Insekten unterscheiden sich von anderen Arthropoden vor allem dadurch, dass sich die Aktivitätszonen ihrer drei „Rumpf-Gene“ Antennapedia, Ultrabithorax und abdominal-A nur teilweise überlappen.
zwei Grunddaten benötigt, nämlich ihre antero-posteriore Platzierung (sprich: die „embryonale Breite“) und ihre dorso-ventrale Ortung („embryonale Länge“). Durch die Aktivität einiger antero-posteriorer Gene zerfällt der Embryo auf die entsprechende Zahl von gleich gebauten Segmenten, während andere Gene diese Grundbausteine des Insektenkörpers morphologisch differenzieren. Mit anderen Worten, während einige Gene (Maternaleffekt-Gene und Morphogene, ( Box 4.9) der Zelle mitteilen, in welchem konkreten Segment sie sich aufhält, sagen ihr die Segmentierungsgene, wo genau sie sich innerhalb eines Segments befindet, ob in seinem vorderen oder hinteren Teil (beachten Sie, dass dieselbe „Segmentierungsadresse“ in einem Embryo mehrfach vorkommt, je nachdem aus wie vielen Segmenten der Embryo besteht). Mit den morphologischen Unterschieden zwischen einzelnen Segmenten beschäftigen sich die meisten Hox-Gene. Durch ihre Aktivität geben sie den Zellen die notwendigen Instruktionen: „Du befindest dich in einem Antennalsegment, und daher wird das hier entstehende Paar Gliedmaßen als Fühler gestaltet“ oder „Du bist im dritten Abdominalsegment, weshalb deine Gliedmaßen stark reduziert werden“. Mutationen, die diese Gene ausschalten, bewirken tiefgreifende Störungen des Körperbaus. Wenn die Zellen des Antennalsegments nicht die entsprechende Instruktion bekommen „Entwickle Antennen!“, entsteht eine Fliege mit einem Beinpaar am Kopf, weil in einem Segment immer irgendwelche Gliedmaßen gebildet werden, wenn ihre Entstehung nicht durch die lokalen Hox-Gene geblockt wird ( Box 4.10). Die Hox-Gene kontrollieren so die Identität einzelner Körpersegmente, und die Evolution ihrer Aktivität hängt eng mit der morphologischen und ökologischen Ausdifferenzierung in der Phylogenese der Insekten zusammen. Während der Evolution der Familie der Hox-Gene haben sich zunächst die „Kopfgene“ (labial, Deformed und die ihnen verwandten Gene) und das Gen Abdominal-B abgespalten, das die Gestaltung des hinteren Körperendes festlegt, während die Gene, die die Identität einzelner Rumpfabschnitte bestimmen (Antennapedia, Ultrabithorax, abdominal-A) eine untereinander eng verwandte und erst vor Kurzem geteilte Dreiergruppe bilden (Abb. 4.14). Die Insekten unterscheiden sich von anderen Arthropoden (Gliederfüßern) vor allem dadurch, dass sich die Aktivitätszonen ihrer Gene Antennapedia, Ultrabithorax und abdominal-A nur teilweise überlappen, während diese drei Gene bei anderen Arthropoden, z. B. bei Branchiopoden (Blattfußkrebse) gemeinsam, in denselben Körpersegmenten, aktiv sind. Dadurch haben natürlich
4.7 Evo-Devo I: Wie baut man eine Fliege?
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4.14 Evolution durch Genduplikation der Arthropoden: (a) primitive Tiere mit einem noch nicht duplizierten Gen; (b) primitive Arthropoden mit drei verschiedenen Genen, deren Aktivitätszonen sich aber noch zum großen Teil überlappen, und (c) Höhere Krebse und Insekten, bei denen sich diese Gene schon funktionell spezialisiert haben und unterschiedliche Körperregionen kontrollieren. Beachten Sie die Zonen der Überlappung der Aktivität der drei „Rumpf-Gene“ Antennapedia (Antp), Ultrabithorax (Ubx) und abdominal-A (abd-A). Das Gen Abdominal-B (Abd-B) legt bei allen drei Arthropoden-Gruppen einheitlich die Gestaltung des hinteren Körperendes fest.
auch alle Rumpfsegmente der Branchiopoden dieselbe (wenn auch dreifache) Hox-Identität – und sie können sich morphologisch nicht unterscheiden, denn sie „wissen“ ja nicht, dass sie eigentlich unterschiedlich sind. Morphologisch unterscheiden sie sich tatsächlich nicht voneinander. Interessant ist, dass die Malacostraca (Höhere Krebse, zu denen Flusskrebse, Hummer oder Krabben gehören) ebenfalls aufwendig differenzierte Körpersegmente haben, die aber anders gestaltet sind als die der Insekten; und auch die Aktivitätszonen der Gene Antennapedia, Ultrabithorax und abdominal-A sind bei ihnen differenziert, aber wiederum ganz anders als die der Insekten. Dementsprechend verlief die Evolution der Arthropoden: Die primitiven Insekten aus dem Paläozoikum hatten noch gut entwickelte Gliedmaßen am gesamten Abdomen, und obwohl die leicht verlängerten Thoraxextremitäten eher für die Lokomotion bestimmt waren, war der Unterschied zwischen Thorax und Abdomen marginal. Die primitiven geflügelten Insekten besaßen nicht wie die heutigen Insekten nur am zweiten und dritten Thoraxsegment Flügel, sondern auch je ein Paar kleiner Flügel auf anderen Thorax- und Abdominalsegmenten. Abdominalflügel können wir auch heute noch bei Eintagsfliegenlarven (Ephemeroptera) sehen – sie fungieren als bewegliche Kiemendeckel. Zu der auffälligen Differenzierung der Rumpfsegmente der Insekten kam es graduell. In Abbildung 4.15 sehen wir, dass der Unterschied zwischen einer Fliege und einem primitiven Insekt mit vielen Gliedmaßen- und Flügelpaaren vor allem darin liegt, dass bei abgeleiteten Insektengruppen die Anlagen für Gliedmaßen und Flügel in den meisten Körpersegmenten auf irgendeine Weise „ausgeschaltet“ sind.
Die Gene für den Bau von Beinen und Flügeln sind in den meisten Körpersegmenten bei abgeleiteten Insektengruppen „ausgeschaltet“.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Während der Evolution einzelner Gruppen der Arthropoden fand die funktionelle Spezialisierung einzelner paraloger Kopien der Hox-Gene statt. Während der Evolution der Arthropoden erkennen wir auf Ebene der Hox-Gene drei Phasen.
Die funktionelle Spezialisierung einzelner paraloger Kopien der Hox-Gene hat erst während der Evolution bestimmter Gruppen der Arthropoden stattgefunden. Dies ist jedoch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass erst ein Duplikationsereignis das genetische Material für die Entstehung eines neuen Gens liefert und auch die Zeit für seine Evolution bietet: Denn dann kann das Original „seine gewohnten Pflichten“ erfüllen, während das Duplikat frei ist für neue Aufgaben. Wir sehen hier alle drei Phasen der Evolution: erstens primitive Tiere mit einem, noch nicht duplizierten Gen, zweitens primitive Arthropoden, die drei verschiedene Gene haben, deren Aktivitätszonen sich aber noch zum großen Teil überlappen, und drittens Insekten oder Höhere Krebse, bei denen sich diese Gene schon funktionell spezialisiert haben und unterschiedliche (wenn auch benachbarte und teilweise sich überlappende) Körperregionen beherrschen. Die Geschichte ist schön, sie hat nur einen Makel: Wir vergleichen hier zu weit entfernt verwandte Organismen, die sich nicht nur in ihren Hox-Genen und in ihrer Morphologie, sondern leider auch in vielen anderen Aspekten unterscheiden. Es wäre interessanter, eine verlässliche Änderung der Hox-Gene oder ihrer Aktivität bei nah verwandten Arten zu finden, die sich vor relativ kurzer Zeit voneinander abgespalten haben, sich aber in einem einzigen morphologisch bedeutsamen Merkmal unterscheiden. Denn in einem solchen Fall könnten wir den Anteil der Hox-Gene an der Evolution der Körperformen der Tiere viel detaillierter untersuchen. Wir wissen nämlich, dass bei dem Spiel auch andere Faktoren eine Rolle spielen. Kenner der genetischen Maschinerie, die den Insektenkörper produziert, wissen, dass es gar kein Problem ist, mithilfe einer winzigen genetischen Veränderung ein Insekt mit einer ungewöhnlichen, (z. B. halbierten) Anzahl an Körpersegmenten zu produzieren. Aber merkwürdigerweise gibt es in der Natur solche Insekten nicht. Wir wissen, wie üblich, dass es so (vielleicht) funktionieren könnte, haben jedoch keinen direkten Beweis, dass es tatsächlich so war und die morphologische Evolution wirklich der Evolution der Hox-Gene entspricht.
4.8 Evo-Devo II: Flügel, Beine und Tagpfauenaugen Bislang haben wir uns damit beschäftigt, wie die „Breite“* eines Embryos bestimmt wird. So wie die Orte mit gleicher geographischer Breite auf der Erdoberfläche eine Parallele bilden (einen von den Polen in bestimmtem Abstand entfernten Kreis), bilden auch die Zellen gleicher „embryonaler Breite“ einen Kreis, der die Punkte verbindet, die gleich weit entfernt vom vorderen Pol des Embryos liegen (Abb. 4.13). Die Zellen mit der gleichen „Embryonalbreite“ * Ja, wir meinen die Breite. Lassen Sie sich nicht dadurch irritieren, dass wir es gewohnt sind, den Globus immer mit den Polen oben und unten zu betrachten. Die Breite bestimmt die Entfernung von (Mund-)Pol zu (After-)Pol. Die Länge hat keinen klaren Anfang und kein klares Ende.
4.7 Evo-Devo II: Flügel, Beine und Tagpfauenaugen
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4.15 Stilisierter Insektenembryo von der Bauchseite betrachtet. Die Orte, an denen die Gliedmaßen entstehen sollen, werden durch die Schnittpunkte (grün) der Aktivitätszonen der Segmentierungsgene (gelb) und der dorso-ventralen Gene (blau) bestimmt. An diesen Punkten – von denen es also pro Körpersegment je ein Paar gibt – beginnt die Transkription des Gens Distal-less (rote Punkte), dessen Aktivität für die Zellen der Gliedmaßen typisch ist. Das „BeinGen“ Distal-less ist auch in den Anlagen der Flügel aktiv. Diese Anlagen trennen sich von den ursprünglichen Beinanlagen ab (schwarze Punkte).
haben jedoch nicht dieselbe genetische Adresse, denn sie unterscheiden sich in ihrer embryonalen „Länge“. Diese wird durch die dorso-ventralen Gene festgelegt, die die Rücken- und Bauchseite des Embryonen bestimmen (z. B. durch das Gen decapentaplegic, von dem wir bereits gesprochen haben). In Abbildung 4.15 sehen wir einen stilisierten Insektenembryo von der Bauchseite her betrachtet. Die Orte, an denen die Gliedmaßen entstehen sollen, werden durch die Schnittpunkte (grün) der Aktivitätszonen der Segmentierungsgene (gelbe Streifen) und der dorso-ventralen Gene (blau) bestimmt. In diesen Punkten – von denen es also je ein Paar pro Körpersegment gibt – beginnt die Transkription eines weiteren wichtigen Gens, Distal-less (dargestellt durch rote Punkte), dessen Aktivität für die Zellen der Gliedmaßen typisch ist. Die Extremität entsteht zunächst in einer Fläche, als Kreis epidermaler Zellen mit dem aktiven Gen Distal-less, und erst nachträglich stülpt sie sich in die dritte Dimension aus. Wir können es uns wie einen Berg (mit dem Gipfel in der Mitte) auf einer topographischen Karte vorstellen. Genauso ist es auch bei der Entstehung der Extremitäten – in der Mitte des Kreises befinden sich die Zellen des künftigen Extremitätenendes, des Gebiets also, wo später die Klauen sein werden. Die Insekten haben jedoch noch ein anderes wichtiges Organ, nämlich die Flügel, und über den Ursprung der Flügel stritten sich die Entomologen ganze zwei Jahrhunderte lang. Die Insektenflügel sind nämlich etwas Besonderes. Jedes „anständige“ Tier, das fliegen kann, tut dies mithilfe von modifizierten Gliedmaßen (Vögel, Fledermäuse, Flugsaurier). Nach modifizierten Gliedmaßen sehen die Insektenflügel jedoch nicht aus; darüber hinaus müsste es ursprünglich auf jedem Körpersegment zwei Extremitätenpaare gegeben haben und nicht nur eines.
Die dorso-ventralen Gene legen Rücken- und Bauchseite des Embryos fest (d. h. dessen embryonale „Länge“).
Die Transkription des Gens Distal-less beginnt in den Schnittpunkten der Segmentierungsgene und der dorso-ventralen Gene. Die Extremität entsteht zunächst als Kreis epidermaler Zellen mit dem aktiven Gen Distal-less und stülpt sich erst später aus.
Die Evolution der Insektenflügel war Gegenstand vieler Hypothesen.
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4 Evolutionäre Neuheiten
4.16 Die Projektion eines Berges auf eine zweidimensionale Landkarte erfolgt so, dass die mehr oder weniger konzentrischen Kreise die Höhenlinien (Isohypsen oder Höhenschichtlinien), benachbarte Punkte gleicher Höhe darstellen. Eine Beinanlage, die sich nicht ausstülpt, kann analog einen „Augenfleck“ bilden. Die Anlagen der Flügel trennen sich von denen der ursprünglichen Beinanlagen ab.
Das Gen Distal-less ist auch in den Augenflecken der Schmetterlingsflügel aktiv.
Die Anlagen für Beine und Flügel werden wie der Augenfleck als kreisförmige Bezirke von determinierten Zellen angelegt: Die konzentrischen Kreise in der Extremitätenanlage bekommen Informationen über das zu bildende Glied, die analogen Kreise in der Augenfleckanlage erhalten Informationen zu den Farbschuppen.
Daher überwog die Meinung, dass es sich um seitliche Ausstülpungen der Rumpfsegmente handelt, die ursprünglich dem Segeln und erst später – nachdem sie mehr Bewegungsfreiheit erlangt hatten – dem aktiven Flug dienten. Die Alternative, die lange Zeit von der tschechisch-kanadischen Paläontologin Jarmila Kukal-Peck propagiert wurde, geht davon aus, dass der Flügel als seitlicher Ausläufer der Extremität entstanden ist, von Anfang an beweglich war und zunächst als Kieme diente. Nach dieser Hypothese gelangte der Flügel an seinen jetzigen Ort, indem die Basis der Extremität mit der Körperwand verschmolz (demnach entspräche das, was wir heute als „Basis“ bezeichnen, nicht der ursprünglichen Basis). Außerdem hätte der Flügel erst sekundär die neue Bewegungsfunktion übernommen. Dies alles klingt abenteuerlich, aber mindestens drei Dinge wissen wir ganz bestimmt: 1) Die Flügel waren ursprünglich nicht auf das zweite und dritte Thoraxsegment beschränkt (und hatten vermutlich andere Funktionen als Fliegen; zumindest ist es schwierig, sich ein Insekt vorzustellen, das mithilfe von zehn Flügelpaaren fliegt), 2) die primitiven Arthropoden haben tatsächlich verzweigte Extremitäten mit seitlichen Ausläufern, die häufig als Kiemen dienen, und 3) die Basis der Extremität (bzw. das, was wir heute als deren Basis betrachten) neigt wirklich dazu, sich in die Körperwand einzustülpen. Scheinbare Unterstützung bekam diese Hypothese durch die Entdeckung, dass das „Bein-Gen“ Distal-less auch in den Anlagen der Flügel aktiv ist und dass sich diese Anlagen von den ursprünglichen Beinanlagen abtrennen (schwarze Kreise in Abb. 4.15). Bevor wir erläutern, warum dies nur eine „scheinbare“ Unterstützung ist (was uns das Fenster zum Verständnis vieler weiterer interessanter Phänomene öffnet), möchten wir dem Leser mitteilen, dass diese „Kiementheorie“ inzwischen durch das Studium der Aktivität von vielen Genen in Insektenflügeln und Krebskiemen bestätigt wurde. Das Problem mit dem Gen Distal-less besteht darin, dass es auch in den Augenflecken der Schmetterlingsflügel aktiv ist, wie wir sie z. B. vom Tagpfauenauge (Abb. 2.20) kennen. Weil kein Mensch glaubt, dass die Augenflecken der Falter irgendwelche unfertigen Beine sind oder dass die Beine aus den Augenflecken auf den Körperseiten eines wurmartigen, beinlosen Vorfahren der Arthropoden entstanden sein könnten, müssen wir wohl oder übel akzeptieren, dass dasselbe Gen Distal-less von einem Organismus für verschiedene Strukturen benutzt wird, die jedoch anatomisch-topographisch unterschiedlicher Herkunft sind. Was aber könnten die Anlagen von Beinen und Flügel mit den Augenflecken gemeinsam haben? Erinnern wir uns, dass die Anlagen von Beinen und Flügeln als kreisförmige Bezirke von determinierten Zellen angelegt werden, also in einer Form, die mit dem Augenfleck völlig vergleichbar ist. Den Augenfleck können wir als eine Flächenanlage von einem Körperausläufer ansehen, die aber in dieser Form erhalten bleibt. Während die konzentrischen Kreise in der Anlage der Extremität verschiedene Informationen darüber bekommen, welches Glied der Extremität sie bilden werden, bekommen die analogen konzentrischen Kreise in der Anlage des Augenflecks Informationen über die Farbschuppen, die sie bilden sollen (Abb. 4.16). Das Gen Distal-less, das – und wir wiederholen erneut – genauso wie andere Gene in jeder Körperzelle vorhanden ist, wird immer dann benutzt, wenn es notwendig ist, eine Struktur zu bilden, die es
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4.9 Ursprung der morphologischen Vielfalt der Pflanzen
bilden kann, nämlich eine Kreisscheibe. Heute wissen wir, dass die Extremitäten aller Tiere im Prinzip eine identische genetische Determinierung haben, obwohl sie als Strukturen sicherlich nicht homolog sind. Will ein Organismus eine neue Form bilden, wird er schon ein entsprechendes Gen dafür finden. Mit anderen Worten (wenn auch vereinfacht): Sobald ein Gen entstanden ist, das die kreisförmige Anlage für irgendeine Struktur determinieren konnte, war es ein Leichtes, die Extremitäten mehrfach voneinander entstehen zu lassen. Und so geschah es tatsächlich.
4.9 Ursprung der morphologischen Vielfalt der Pflanzen Die Kenntnis darüber, wie sich ein Organismus bildet, hilft uns zu begreifen, woher die morphologische Vielfalt kommt, denn die Vielfalt der Formen und Funktionen kommt vor allem durch die Vielfalt der Prozesse zustande, die Formen und Funktionen entstehen lassen. Grundvoraussetzung ist, dass wir erkennen, worauf die Vielfalt beruht, die wir so gerne verstehen möchten. Und dies ist nicht immer trivial. So beruht z. B. ein großer Teil der Pflanzenvielfalt auf verschiedenartigen Blütenständen oder auf verschiedenen Blatt- und Blütenformen, die aber wiederum durch die Art der Verzweigung der Blattaderung determiniert sind. Die Ontogenese der Pflanzen unterscheidet sich von der Ontogenese der Tiere in einigen wesentlichen Punkten. Vor allem ist jede Pflanzenzelle von einer Zellwand umgeben, die fest mit den Zellwänden der Nachbarzellen verbunden ist, sodass in der Entwicklung der Pflanzen weder Zellmigrationen noch Gewebebewegungen stattfinden können. Alle Änderungen der Form der Pflanzen werden nur durch unterschiedlich schnelle Teilung und unterschiedlich schnelles Wachstum der Zellen verursacht. Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass das Wachstum einer Pflanze, im Gegensatz zu tierischen Organismen, zeitlebens andauert. Es beruht auf der Aktivität von Meristemen, Teilungsgeweben, die aus pluripotenten Zellen bestehen. Die beiden primären, bereits im Embryo etablierten Meristeme, das Sprossapikalmeristem und das Wurzelmeristem, bringen sämtliche Organe einer Pflanze hervor. Nebenbei bemerkt, geht der große Evolutionserfolg der Gräser darauf zurück, dass sich ihre Meristeme dicht über dem Boden befinden, sodass die Pflanze von weidenden Tieren nicht vollständig ausgemerzt wird. Die Koevolution von Gräsern und Pflanzenfressern, die durch diese Neuheit ermöglicht wurde, hat seit dem Mesozoikum das Aussehen der Erde stark beeinflusst: Es entstanden die zuvor unbekannten Ökosysteme Steppe und Savanne. Die Ontogenese der Pflanzen hängt eng mit der Aktivität der Meristeme zusammen, und durch das Studium der Mutationen von Schlüsselgenen, die die Tätigkeit der Meristeme beeinflussen, können wir die Natur der Pflanzenmorphologie und den Ablauf ihrer Evolution nachvollziehen. Am besten untersucht ist die genetische Determinierung der Art der Blütenstandsverzweigung: Hier bewirkt die nicht besonders markante Verlangsamung der Aktivität des FLORICAULA-
Die Pflanzenvielfalt beruht vor allem auf verschiedenen Typen der Sprossachsenverzweigungen, der Blütenstände oder der Blattaderung.
In der Entwicklung der Pflanzen finden weder Zellmigrationen noch Gewebebewegungen statt.
Bei der Pflanze bleiben die „Embryonalgewebe“ oder Meristeme lebenslang erhalten.
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4 Evolutionäre Neuheiten
4.17 Einige Vertreter der Familie der Rachenblütler (Scrophulariaceae).
Das FLORICAULA-Gen bestimmt die Blütenstandsverzweigung, für Änderungen der Blütensymmetrie ist das CYCLOIDEA-Gen verantwortlich.
Gens, dass die Morphologie des Blütenstands deutlich komplizierter wird, denn es laufen mehrere Verzweigungen ab, noch bevor die Blüten entstehen können. Soweit wir wissen, spielt ein und dasselbe FLORICAULA-Gen bei allen höheren Pflanzen dieselbe Rolle. Dasselbe gilt auch für die Evolution der Blütensymmetrie. Zweiseitig (bilateral-) symmetrische Blüten (Löwenmaul, Taubnessel, Stiefmütterchen, Orchidee) sind zweifellos von den primitiveren radiärsymmetrischen Blüten abgeleitet, wobei für diese Änderungen das CYCLOIDEA-Gen verantwortlich ist. Phylogenetische Analysen von einzelnen Pflanzengruppen (z. B. der Familie der Rachenblüter, Scrophulariaceae), zu denen sowohl Arten mit bilateralen Blüten (Löwenmaul, Antirrhinum) wie auch solche mit mehr oder weniger radiärsymmetrischen Blüten (Königskerze, Verbascum) gehören, zeigen, dass die bilateralen Blüten im Lauf der Evolution mehrfach unabhängig voneinander entstanden sind (Abb. 4.17). Dies deutet darauf hin, dass die Entstehung einer bilateralsymmetrischen Blüte sehr einfach ist und gerade diese ontogenetische Einfachheit es ermöglicht, dass auch in der Evolution der Blüten bestimmte Selektionsdrücke, also im Prinzip ökologische Aufträge, unmittelbar zur Geltung kommen. Im Fall der Blüten spielt hier die Koevolution mit den Insektenbestäubern eine wichtige Rolle – eine Reihe von bilateralsymmetrischen Blüten ist direkt an den Kontakt mit einer bestimmten Bestäuberart angepasst, und ab und zu lockt die Blüte den Bestäuber auch betrügerisch zur „Paarung“, indem sie sich das Aussehen eines Sexualpartners gibt (unter den einheimischen Arten z. B. verschiedene Vertreter der Gattung Ragwurz, Ophrys). Eine derart extreme Verengung des Bestäuberspektrums, verknüpft mit Änderungen der Aktivität des CYCLOIDEA-Gens, spielt zweifellos auch eine große Rolle bei der Entstehung von neuen Pflanzenarten. Die Gene der KNOX-Familie wirken ebenfalls an der Regulation der Meristeme mit. Sequenz und Funktion dieser Gene sind bei allen Linien der höheren Pflanzen relativ stark konserviert, und unlängst wurde auch bei einigen
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4.10 Neuralleiste: versteckte Vielfalt der Wirbeltiere
Algenarten ein KNOX-Gen gefunden. Verschiedene Veränderungen der Aktivität dieser Gene, seien es experimentelle oder spontane, haben einen bedeutenden Einfluss auf die Form der Pflanzen, und ähnliche Änderungen beteiligten sich bestimmt an zahlreichen Ereignissen in der Phylogenese einzelner Arten oder Evolutionslinien der Pflanzen. Das Schicksal der KNOX-Familie steht wahrscheinlich auch im engen Zusammenhang mit der eigentlichen Entstehung der Landpflanzen. Bei ihnen trennen sich nämlich die Gene der KNOX-Familie in zwei Evolutionslinien, während bei allen bisher untersuchten Arten von Grünalgen KNOX-Gene gefunden wurden, die die Eigenschaften der beiden KNOX-Gen-Linien der Landpflanzen vereinigen. Es sieht so aus, als ob die Entstehung der höheren Pflanzen und die Eroberung des Landes durch sie eng mit einer alten Duplikation der Gene der KNOX-Familie zusammenhängt, also einem Prozess, der parallel zu der mehrfachen Duplikation der Hox-Gene im Lauf der Evolution der Wirbeltiere verlief.
Die Duplikation der KNOX-Gene bei höheren Pflanzen ist analog zur Duplikation der HoxGene bei Wirbeltieren.
4.10 Neuralleiste: versteckte Vielfalt der Wirbeltiere Wir haben schon erwähnt, dass die wesentliche Evolutionsneuheit der Wirbeltiere die Entstehung eines neuen Gewebetyps war, der Neuralleiste, die graduell aus den epidermalen und neuronalen Zellen der primitiven Chordaten gebildet wird (Abb. 4.18). Die Zellen der Neuralleiste wandern in zwei Schüben an
4.18 Entstehung der Neuralleiste. Zwei Entwicklungsstadien (oben bzw. unten) eines Chordatenembryos im Längs- und im Querschnitt (links bzw. rechts). Seitlich der Linie, entlang derer sich auf der Rückenseite des Embryos das Neuralrohr einstülpt, bildet sich die Neuralleiste (blau). Die beiden Zellstreifen wandern später tiefer in den Embryo ein und sind an der Entstehung von ca. 40 verschiedenen Geweben und Organen, einschließlich Schädel, Kiemenapparat und Sinnesorganen, beteiligt. Zwei Wellen dieser Expansion lassen sich nachweisen: Die frühe, innere Welle, die insbesondere zur Entstehung von Knochenund Muskelgeweben führt (oben), und die spätere „Unterhautwelle“ (unten), aus der u. a. Sinnesorgane und Pigmentzellen hervorgehen.
Die wesentliche Apomorphie der Wirbeltiere ist die Neuralleiste.
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Die Neuralleiste produziert u. a. Knochen und Knorpel des Schädels, Kiemenbögen, Zähne, das Hautskelett und Pigmentzellen.
Die Evolution der von den Neuralleistenzellen abgeleiteten Gewebe und Organe ging mit der Evolution der Wirbeltiere einher.
4.19 Unterschiedliche Schnabelformen bei Vögeln: 1 Kormoran, 2 Pelikan, 3 Löffler, 4 Tölpel, Reiher, 5 Ente, 6 Flamingo, 7 Falke, 8 Adler, 9 Kernbeißer, 10 Fichtenkreuzschnabel, 11 Schnepfe, 12 Specht, 13 Auerhuhn, 14 Taube, 15 Ziegenmelker, 16 Kohlmeise, 17 Großer Brachvogel, 18 Säbelschnabel, 19 Kolkrabe, 20 Racke.
4 Evolutionäre Neuheiten
verschiedene Bestimmungsorte, wo sie sich schnell teilen und differenzieren und dadurch verschiedene Gewebe und Organe entstehen lassen: das periphere Nervensystem, Drüsen, einige glatte Muskeln, Pigmentzellen, die meisten Knochen und Knorpel des Schädels, Kiefer und Kiemenbögen, Zähne und Hautskelett (z. B. Fischschuppen). Diese Wanderungs-, Teilungs- und Differenzierungsprozesse stellen einen wesentlichen Teil der späteren Embryonalentwicklung der Wirbeltiere dar. Vom phylogenetischen Standpunkt aus betrachtet, ist die Neuralleiste an der Entstehung gerade derjenigen Organe beteiligt, die für das Verständnis der Wirbeltiervielfalt eine Schlüsselrolle spielen. Die ältesten bekannten Produkte der Neuralleiste waren – wie wir zumindest aufgrund der offensichtlichen Homologie dieser Gewebe mit Geweben von rezenten Wirbeltieren annehmen – die Knochenpanzer der „Ostracodermi“, primitiver paläozoischer Wirbeltiere aus der Zeit vor 450 Millionen Jahren. Die Evolution der Wirbeltiere während der letzten halben Milliarde Jahre ist zum großen Teil gleichbedeutend mit der Evolution von Geweben und Organen, die von den Zellen der Neuralleiste abgeleitet sind. Diese enorme Vielseitigkeit geht zum einen auf eine gewisse genetische Vielfalt dieser Zellpopulation zurück, zum anderen auf die Fähigkeit einzelner Zellen, sich an die Bedingungen des Orts anzupassen, in den sie eingewandert sind und wo sie in komplizierte Beziehungen mit lokalen Geweben eintreten. Die Vermehrungsfähigkeit der Zellen der Neuralleiste ist unglaublich, und es ist daher kein Wunder, dass die meisten vergrößerten Organe der Wirbeltiere gerade von ihnen abgeleitet sind – und zwar unabhängig davon, ob ihre Entstehung durch sexuelle Selektion oder durch Prädationsdruck vorangetrieben wurde. Bei dem ausgestorbenen nordeuropäischen Riesendamhirsch (Megaloceros) mit einer Geweihspanne von drei Metern (Abb. 2.15) sowie bei den enormen Auswüchsen an Kopf und Rücken mancher Dinosaurier muss die Teilungsaktivität der Neuralleistenzellen alles übertroffen haben, was wir von anderen Tiergeweben kennen. Auch die Vogelschnäbel werden von den Zellen der Neuralleiste abgeleitet. Sie wandern während der Embryonalentwicklung in den vorderen Teil des Kopfes und bilden dort fünf Zellbereiche, die mit der lokalen Oberhaut interagieren und zu den beiden schnabelförmigen Kiefern heranwachsen (wobei der obere Kiefer aus drei, der untere aus zwei der Zellbereiche entsteht). Transplantationsexperimente zeigen, dass die Schnabelform tatsächlich von der autonomen Aktivität der Neuralleistenzellen bestimmt ist. Wenn diese Zellen von einem Wachtelembryo auf einen Entenembryo übertragen werden, bildet diese Chimäre den Schnabel des Wachteltyps und umgekehrt. Darüber hinaus besitzen Chimärenembryonen auch Gewebe, die zwar vom Empfänger stammen, aber nach dem Programm der transplantierten Neuralleistenzellen (also des Spenders) geformt werden. Studien zur Aktivität der zugehörigen Gene zeigen, dass sich die Zellen der Neuralleiste an ihr ursprüngliches Programm „erinnern“ und so die Aktivität der Gene und den Verlauf der Zelldifferenzierung in benachbarten Geweben beeinflussen, wenn sie sie auch nicht gleich bestimmen. Die Größenund Formenvielfalt der Vogelschnäbel (Abb. 4.19), die auf unterschiedlichem Wachstum dieser Zellen beruht, entsteht wahrscheinlich mit extremer Geschwin-
4.10 Neuralleiste: versteckte Vielfalt der Wirbeltiere
digkeit. „Darwinfinken“ auf Galápagos (eigentlich sind es Ammern) haben unterschiedliche Schnabelformen, die an unterschiedliche Funktionen angepasst sind. Die Erhöhung der Wassertemperatur im Ostpazifik (bedingt durch die klimatische El-Niño-Anomalie) verursachte vor einigen Jahren eine kurzfristige Veränderung des Klimas auf den Galápagosinseln, vor allem eine erhöhte Feuchtigkeit und damit einhergehend die Vermehrung von kleinen Samen. Erstaunlicherweise fand man auch eine erbliche Verkleinerung des Schnabels bei einer „Finkenart“. Der Selektionsdruck auf die Änderung der Schnabelgröße war eigentlich ein Druck auf die Änderung des Verhaltens der Neuralleistenzellen – und diese Zellen haben tatsächlich blitzschnell reagiert ( S. 356), Abb. 6.1). Ein anderes Beispiel für die Beteiligung der Neuralleiste an der Morphologie des Gesichtsschädels sind verschiedene Hunderassen – die extreme Verkürzung der Kiefer und der Nasenbeine bei Bulldoggen oder Möpsen geht ebenfalls auf Aktivitätsänderungen dieser Zellen zurück. Wenn wir Hunderasse züchten, selektieren wir eigentlich unterschiedlich aktive Populationen der Neuralleistenzellen (Abb. 4.20). Ähnliches zeigen uns die afrikanischen Buntbarsche (Cichlidae): Wie wir im Abschnitt 6.8 noch sehen werden, wird die Entstehung neuer Arten, die sich farblich unterscheiden, durch sexuelle Selektion vorangetrieben, und dieser Prozess läuft hier im wahrsten Sinnes des Wortes vor unseren Augen ab. Auch die Pigmentzellen der Wirbeltiere gehören in die Produktpalette der Neuralleiste ( Box 2.20, Abb. 2.30). Und wieder – und nicht zum letzten Mal – stoßen wir darauf, dass tiefe und auffällige Veränderungen der Eigenschaften der Organismen oft nur eine geringfügige Beeinflussung der Aktivität einiger Gene oder Gewebe verlangen. Ab und zu entstehen jedoch während der Evolution vollkommen neue Organe, wie z. B. das Kameraauge der Wirbeltiere und Kopffüßer. Weil das Auge schon seit Langem als Wunderorgan angesehen wird, dessen Evolution eine synchrone Veränderung von verschiedenen, embryologisch nicht verwandten
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Die Zellen der Neuralleiste bilden auch Vogelschnäbel.
Bei der Züchtung von Hunderassen selektieren wir letztendlich unterschiedlich aktive Populationen von Neuralleistenzellen.
Große Veränderungen der Eigenschaften der Organismen verlangen oft nur eine minimale Beeinflussung der Genaktivität.
4.20 Unterschiedliche Schädelformen bei verschiedenen Hunderassen. Die Fotos wurden (unter Beibehaltung der Proportionen) so verkleinert, dass die Schädellänge vom Kinn bis zu den Hinterhauptshöckern immer gleich ist.
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4 Evolutionäre Neuheiten
und räumlich nicht ganz zusammenhängenden Geweben verlangte (darunter Hornhaut, Linse und Netzhaut), betrachten wir die Evolution des Auges in den nächsten Kapiteln detaillierter.
4.11 Die Evolution der Augen Das Kameraauge entstand im Tierreich bei Wirbeltieren, Kopffüßern und bei einigen Quallen, also mehrfach unabhängig.
Bei den Kopffüßern ist die Evolution des Kameraauges Schritt für Schritt dokumentiert.
Das Kameraauge entstand im Tierreich dreimal unabhängig – bei Wirbeltieren, bei Kopffüßern (Kraken, Tintenfischen und ihren Verwandten) und bei einigen Quallen aus der Gruppe Cubozoa (Quallen haben weder Kopf noch Gehirn und ihre Augen sind entlang des Glockenrandes angeordnet). Über die Augen der Quallen wissen wir sehr wenig, über die Augen der Wirbeltiere fast alles, aber ihre Entstehung können wir dennoch nur spekulativ rekonstruieren. Alle bekannten Wirbeltiere haben entweder Kameraaugen, oder sie haben gar keine Augen. Vom Pigmentfleck des Lanzettfischchens bis zum Wirbeltierauge sind keine Zwischenschritte erhalten geblieben. Schauen wir uns also die Mollusken an, wo die Evolution des Kameraauges bei Kopffüßern Schritt für Schritt dokumentiert ist, wobei wir uns ziemlich sicher sein können, dass die Entstehung des Linsenauges der Wirbeltiere recht ähnlich verlief (zumindest spricht nichts gegen diese Annahme). Bei den Mollusken beginnt die Evolution des Auges mit einer Gruppe von veränderten Haut- und Nervenzellen, die – als Insel von Lichtsinneszellen auf der Körperoberfläche liegend – von innen durch eine Schicht pigmenthaltiger Zellen abgeschirmt und von oben durch eine durchsichtige Schutzschicht bedeckt sind. Woher kommt das Kameraauge als vielzelliges Organ? Wie bekommt es seine Form und insbesondere die Augenlinse, die Hauptstruktur des dioptrischen Apparats, die die Lichtstrahlen in den schmalen Bezirk der Lichtsinneszellen fokussiert? Wie viele Zwischenschritte brauchen wir auf dem Weg vom ursprünglichen Pigmentepithel zum Linsenauge? Können solche Zwischenstufen funktionieren, und wenn ja, funktionieren sie besser als der vorherige Evolutionsschritt? Wie wahrscheinlich ist der Übergang von Zwischenschritt A zu Zwischenschritt B? Die beste Antwort auf die Frage, ob eine Zwischenstufe funktioniert, ist die Existenz eines Tiers, das tatsächlich mit solch einer Zwischenstufe in die Welt guckt. Die Antwort auf die anderen Fragen geben uns Computersimulationen. Zu diesem Zweck wurde ein virtuelles System entwickelt, bei dem alle drei Schichten des anfänglichen lichtempfindlichen Flecks beliebig zufällig und voneinander unabhängig ihre räumliche Anordnung ändern konnten (Abb. 4.21 Computersimulation der Evolution des Kameraauges. Die Evolution beginnt mit einer Insel von Lichtsinneszellen (grün), die auf der Körperoberfläche liegen. Sie werden von innen durch eine Schicht pigmenthaltiger Zellen (schwarz) abgeschirmt und sind von oben mit einer durchsichtigen Schutzschicht (hellblau) bedeckt. Die Schichten des lichtempfindlichen Flecks konnten beliebig zufällig und voneinander unabhängig ihre räumliche Anordnung ändern. Bei jeder Variante wurden die optischen Eigenschaften, insbesondere die Sehschärfe, „vermessen“ und selektiert. Weitere Erläuterungen im Text.
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4.11 Die Evolution der Augen
4.21). Die Randbedingung der Evolution des Auges wurde in dem Programm als graduell und allmählich festgelegt, größere sprunghafte Änderungen waren verboten. In jedem Schritt entstanden so viele Varianten, wie es verschiedene geringfügige Modifikationen des vorherigen Zustands gab. Bei jeder Variante wurden die optischen Eigenschaften, insbesondere die Sehschärfe, „vermessen“, und die Computerselektion hat nur die Versionen bestehen lassen, die zumindest ein bisschen schärfer gesehen haben als ihre virtuellen Vorfahren. Es handelte sich also um einen ganz gewöhnlichen Algorithmus – und wir können nun schauen, wie viele Schritte wir brauchen, damit sich in dieser virtuellen Welt ein Kameraauge bildet. Nach weniger als 1000 „Evolutionsschritten“ haben sich alle drei Schichten eingestülpt, und es hat sich eine Hohlkugel gebildet, mit einer schmalen Öffnung, durch die der Lichtstrahl eindringt und die Netzhaut bestrahlt. Bei Mollusken finden wir viele, in unterschiedlichem Maße eingestülpte Augen und wir entdecken erstaunlicherweise auch eine solche Hohlkugel. Ein derartiges „Lochauge“ hat das Perlboot (Nautilus), der nächste Verwandte der Kopffüßer mit echten Kameraaugen (Linsenaugen). Schon nach 1000 Simulationsschritten sind wir also sehr nah dran: In den nächsten Phasen der „Computerevolution“ schließt sich der Augapfel, die durchsichtige Schutzschicht verdichtet sich, der Brechungsindex erhöht sich und die Linse wird gebildet – am Anfang gibt es zwar nur eine miserable Linse, die ist aber besser als gar keine. (Wir wollen uns hier nur merken, dass sich der Brechungsindex erhöht hat, denn in dieser Phase der Überlegungen klingt es etwas mystisch. Wie macht man das?) Die weiteren Simulationsschritte führen zur Optimierung der Linsenform, durch die die parallel verlaufenden Lichtstrahlen in einem Punkt an der Netzhaut gebrochen und damit scharfes Sehen ermöglicht werden kann. Für das Herausbilden eines geschlossenen Kameraauges mit einer echten Linse benötigt man keine weiteren 1000 Schritte, insgesamt also nicht mehr als 2000 Schritte – und die unterschiedlichen, in der Simulation berechneten Zwischenstufen gibt es auch wirklich. Danach wurde in das System eine Schätzung eingeführt, wie stark die Selektion sein muss, um Individuen mit schlechten Augen auszumustern. Daraus wurde dann berechnet, wie lange die Evolution der Augen theoretisch dauern müsste, oder mit anderen Worten, wie lange man in etwa für die 2000 Zwischenschritte benötigt. Das Ergebnis ist etwas beunruhigend: Es reichen nämlich nur 400.000 Generationen. Da man annehmen kann, dass das Auge bei kleinen Tieren entstand, deren Generationszeit üblicherweise nicht länger als ein Jahr beträgt, ergibt sich, dass das Auge als optisches System im Lauf von ca. 500.000 Jahren entstehen konnte – eine unglaublich kurze Zeit. Vor 500.000 Jahren entstand schon der moderne Mensch, Homo sapiens. Natürlich ist die Zahl „400.000“ nur eine „Hausnummer“, an die man nicht glauben muss. Würden in das Evolutionsmodell andere Parameter für die Änderungen eingeführt, kämen wir zu einem anderen Ergebnis. Auch die Hochrechnung der Selektionsstärke ist nur eine Abschätzung. Aber selbst wenn wir uns bei diesen Überlegungen wirklich gründlich geirrt und die Evolution des Auges fünf Millionen Jahre gedauert hätten, geht es immer noch um eine rasche
Die Computersimulation der Evolution des Auges beginnt mit einem dreischichtigen lichtempfindlichen Fleck, und alle drei Schichten können beliebig (zufällig) und voneinander unabhängig ihre räumliche Anordnung ändern. Bei jeder Variante wurden die optischen Eigenschaften „vermessen“ und selektiert.
Die Computersimulation zeigt, dass nur 400.000 Generationen genügen, um ein vollständiges Auge zu bilden.
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Das Kameraauge ist kein perfektes Organ, doch auch ein unvollkommenes Auge ist besser als gar kein Auge.
Die graduelle Evolution von komplexen Organen ist eine Herausforderung für unsere Vorstellungskraft, nicht für unseren Verstand.
4 Evolutionäre Neuheiten
Änderung. Auch vor fünf Millionen Jahren gab es auf der Erde schon die Natur des heutigen Typs – denn vor fünf Millionen Jahren haben sich in Afrika die Schimpansen- und die Menschen-Linien getrennt. Natürlich fand diese schnelle Evolution des Auges irgendwann im Kambrium statt, wenn nicht noch früher. Dass heute, direkt vor unseren Augen, keine neuen Kameraaugen mehr entstehen, ist wahrscheinlich vor allem dadurch bedingt, dass alle Tiere bereits so sehen, wie sie sehen – wenn auch vielleicht mithilfe anderer Strukturen (z. B. der Facettenaugen der Insekten). Die wichtigste Erkenntnis aus der Evolution des Auges bei Mollusken ist die Feststellung, dass es die Zwischenstufen im Meer wirklich gibt (wie z. B. Nautilus), was ein schöner Beweis ihrer Funktionstüchtigkeit ist, und dass das Kameraauge kein Organ ist, das entweder perfekt ist und funktioniert oder unvollkommen ist und nicht funktioniert. Auch wenn ein unvollkommenes Auge nicht perfekt funktioniert, ist es immer noch viel besser als gar kein Auge. Wären Sie eine Schnecke, müssten Sie für den größten Teil Ihrer Lebensvorgänge nur Licht und Dunkel unterscheiden. Auch wir Menschen müssen im Grunde genommen nicht unbedingt scharf und farbig sehen. Da wir aber diese Fähigkeiten besitzen, nutzen wir das scharfe Farbsehen auch dazu, um festzustellen, in welcher Tunnelrichtung der Ausgang liegt. Allerdings würden wir dies mit dem unvollkommenen Sehsinn ebenfalls herausfinden. Auch sehr stark kurz- oder weitsichtigen Menschen ist eine weitere Sehverschlechterung sicherlich nicht egal. Viele Menschen wundern sich über die „Vollkommenheit“ des menschlichen Auges, weil sie das Gefühl haben, dass das Gegenteil dieser Vollkommenheit eine absolute Funktionslosigkeit sei. Die Vorstellung, dass das Auge oder ein beliebiges anderes Organ wie ein Uhrwerk arbeitet, dessen Bestandteile perfekt ineinander passen, ist von Uhrwerken, Straßenbahnen oder Kernreaktoren, jedoch nicht von lebenden Organismen inspiriert. Kein Wunder, dass wir gerade unter den Evolutionsgegnern, den Kreationisten, auffallend viele technisch orientierte Menschen finden. Sie wissen, dass die Werkteile ineinander passen müssen, damit die Dinge funktionieren, und deshalb glauben sie, dass so, wie die Menschen eine Straßenbahn konstruiert haben, jemand bestimmt auch das Auge konstruiert haben muss. Schon Darwin wies darauf hin, dass die Evolution von komplexen Organen (wie unserem Auge) durch graduelle Selektion eine Herausforderung für unsere Vorstellungskraft, nicht für unseren Verstand, darstellt. Die Computersimulation illustriert dies schön. Damit ist jedoch der traditionelle Einwand der Evolutionsgegner nicht ausgeräumt, nämlich der, dass sie sich die Entstehung eines komplizierten Kameraauges nicht vorstellen können. Aber, ehrlich gesagt, wen interessiert es schon, was sich diese Leute vorstellen können oder nicht?
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4.12 MacGyver-Prinzip I oder wie bildet sich eine Augenlinse?
4.12 MacGyver-Prinzip I oder Wie bildet sich eine Augenlinse? Die Entstehung des Auges als optisches Organ, als Kamera, ist also nicht besonders mysteriös, aber immer noch gibt es eine Reihe offener Fragen, insbesondere hinsichtlich biochemischer Aspekte. Betrachten wir nun einen von ihnen: Die Erhöhung des Brechungsindexes während der Evolution der Augenlinse, also einen der unerlässlichen Schritte bei der Bildung komplizierter Augentypen. Es ist nur eines von vielen Problemen, wenn auch nicht das wesentlichste, aber zumindest eines, über das wir schon Erkenntnisse gewonnen haben. Und wie sich die Augenlinse bildet, sagt uns auch viel über die allgemeinen Gesetze der Entstehung von Evolutionsneuheiten. Die Linse entsteht durch Verdickung und Formänderung der Oberflächenschicht durchsichtiger Zellen. Die Augenlinse ist aber vor allem mit speziellen Proteinen gefüllt, Kristallinen, die etwa die Hälfte der Zellmasse bilden. Es sind kugelige Moleküle, die – um ihre Funktion erfüllen zu können – während ihrer gesamten Existenz in gelöster Form bleiben müssen. Zellen produzieren stets Proteine, die sie benötigen, und zwar gemäß den in den Genen verankerten Instruktionen. Einige Zellen unseres Körpers haben allerdings keinen Kern, und daher auch keine Kerngene, wobei sie natürlich aus normalen Zellen entstanden sind und den Kern erst sekundär während ihrer Ontogenese verloren haben. Auch die Zellen im Zentrum der Augenlinse sind kernlos, da die Linse möglichst durchsichtig sein muss, und die Kerne die klare Sicht behindern würden. Beim Menschen muss die Form eines jeden Kristallinmoleküls im Durchschnitt etwa siebzig Jahre erhalten bleiben; im Unterschied zu anderen Proteinen kann es nicht durch ein neues Molekül ersetzt werden, weil dies in einer kernlosen Zelle nicht geht. Es muss sich hier also um ziemlich sonderbare Proteine handeln. Aber dem ist nicht so. Bei verschiedenen Wirbeltiergruppen dienen ganz verschiedene, biochemisch und genetisch nicht verwandte Moleküle als Kristalline. Die häufigsten Typen von Wirbeltierkristallinen sind selbstständige Proteintypen, die mit den Stressproteinen der HSP-Gruppe verwandt sind (über sie haben wir schon im 2. Kapitel gesprochen, S. 133). Dafür ist das Epsilon-Kristallin der Vögel und Krokodile eine einfache Lactatdehydrogenase B4, also ein Protein, das normalerweise als Enzym arbeitet und im Metabolismus jeder Zelle Pyruvat in Milchsäure umwandelt. Auch das aus der Augenlinse isolierte Epsilon-Kristallin übt diese metabolische Funktion normal aus. Warum auch nicht, wenn es sich um ein Produkt ein und desselben Gens handelt. Das Tau-Kristallin der meisten Wirbeltiere ist eigentlich das Enzym Enolase; und wieder werden beide Proteine vom selben Gen transkribiert. Es scheint also, dass verschiedene Proteine schnell, glatt und ohne Umstände die Funktion der Kristalline übernehmen können, was nicht nur die unterschiedliche biochemische Natur der Kristalline beweist, sondern auch die Tatsache, dass verschiedene Gruppen von Wirbeltieren ganz verschiedene Augenkristalline besitzen. Die Augenlinse ist als Struktur offensichtlich homolog für alle Wirbeltiere; sie wird jedoch mit unterschiedlichen geeigneten Proteinen gefüllt, ohne dass dabei ihre Funktion beeinträchtigt würde ( Box 4.13).
Die Augenlinse ist mit speziellen Proteinen, Kristallinen, gefüllt.
Die Zellen der Linse sind kernlos; in ihnen können keine Proteine gebildet werden. Woher kommen also die Kristalline?
Wirbeltierkristalline sind mit den Stressproteinen verwandt; oft sind es gewöhnliche Enzyme, die sonst metabolische Funktionen ausüben können.
Die Augenlinse wird bei verschiedenen Taxa mit verschiedenen, geeigneten Proteinen gefüllt.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Die Produktion mancher Augenkristalline wird durch die Pax-Gene reguliert.
Sollten die von einem Gen produzierten Proteine zwei Funktionen erfüllen, oder sollten sich zwei paraloge Kopien ein und desselben Gens auf verschiedene Berufe spezialisieren, muss sich die Regulation der Aktivität des Gens oder der Genfamilie ändern. Eine Gruppe von Kontrollgenen sind die Pax-Gene, die sowohl an der Entwicklung des Gehirns wie auch der Augen aller Typen mitwirken; die Produktion mancher Augenkristalline wird tatsächlich von den Pax-Genen reguliert. Pax-Gene kommen bei allen bilateralsymmetrischen Tieren vor, sie stammen offensichtlich von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Das bedeutet natürlich nicht, dass das Facettenauge einer Fliege und das Linsenauge des Menschen zueinander homologe Organe wären. Es bedeutet nur, dass die Art, wie die Photorezeptoren aus den Anlagen des Nervensystems entstehen, homolog, und demnach sehr alt ist. Wir sehen also, dass nicht einmal so auffällige Evolutionsneuheiten wie das Kameraauge und seine Linse unbedingt
| 4.13 |
Augenlinse der Blindmaus Die Blindmaus (Spalax sp.) ist ein rattengroßes Nagetier, das unterirdisch lebt (ähnlich unserem Maulwurf) und in Südosteuropa, im Nahen Osten und in Nordostafrika vorkommt. Das Auge ist reduziert und mit Haut überzogen ( Box 5.10, 6.11). Embryonal entwickelt sich das Auge zunächst unauffällig und scheinbar normal; es entsteht auch eine Linse. Dann aber kommt die Entwicklung des Auges zum Stillstand, und die Linse beginnt zu degenerieren. Es ist nicht überraschend, dass im Genom von Spalax auch das für das Alpha-Kristallin kodierende Gen, ein Linsen füllendes Protein, identifiziert wurde. Im Vergleich mit normal sehenden Nagetieren anderer Arten, evolvierte das Alpha-Kristallin-Gen von Spalax offensichtlich aber viel schneller. Dies kann man nicht nur an der Rate der Substitution einzelner Nucleotidbasen, sondern auch an der Rate der Substitution von Aminosäurensequenzen ablesen. Während Hausmaus, Wanderratte, Rennmaus und Hamster, die alle zu derselben Superfamilie (Muroidea) gehören wie die Blindmaus, aber auch das Eichhörnchen, in ihrem Alpha-Kristallin dieselbe Aminosäurensequenz aufweisen, unterscheidet sich das AlphaKristallin der Blindmaus von dem dieser Nagetiere in neun Positionen. (Das Alpha-Kristallin des Igels weist im Vergleich zu dem der Maus sieben Substitutionen auf.) Bei den Wirbeltieren ändern sich in der Evolution des Alpha-Kristallins durchschnittlich drei von hundert Aminosäuren pro 100 Millionen Jahre. In der Spalax-Linie erhöhte sich die Substitutionsrate auf 13 Prozent pro 100 Mil-
lionen Jahre. Darüber hinaus handelt es sich um Ersetzungen eines anderen Typs, die an anderen Positionen auftreten als bei anderen Wirbeltieren. Diese Entdeckung führte zu einer gewissen Vorsichtigkeit, denn offensichtlich wird die molekulare Uhr doch auch durch die Selektion kontrolliert. Die Beschleunigung der Substitutionsrate zeigt, dass die Evolution von Alpha-Kristallin offensichtlich nicht mehr durch die Selektion kontrolliert wird, was man aber bei einem blinden Tier auch erwarten kann. Doch wäre das Gen (besser gesagt sein Produkt) ganz ohne Funktion, sollte sich das Alpha-Kristallin noch schneller und dramatischer verändern. Was ist also die eigentliche Funktion von Alpha-Kristallin bei der Blindmaus? Wahrscheinlich ist das Alpha-Kristallin für die anfänglich normale Entwicklung des Auges, insbesondere der Netzhaut, notwendig. Die Netzhaut bei der Blindmaus synthetisiert das Hormon Melatonin und ist für die Kontrolle der Tagesrhythmik wichtig. Mit anderen Worten, für die Erhaltung der Tagesrhythmik ist die Netzhaut erforderlich, und für deren Bildung muss anfänglich das Alpha-Kristallin-Gen exprimiert werden. Möglicherweise übernimmt aber Alpha-Kristallin bei Spalax noch irgendeine andere, bis jetzt unbekannte Funktion außerhalb des Auges, was eigentlich nicht überraschend wäre, denn die Alpha-Kristalline selbst stammen von den Hitzeschockproteinen ab, die von Stress induziert werden und bei diversen Eukaryoten diverse Funktionen, darunter auch die der Linsenfüllung, übernehmen.
4.13 MacGyver-Prinzip II oder Milch und die Entstehung neuer Moleküle
neue Gene erfordern, sondern eher die Einbindung alter Gene in einen neuen Regulationskontext und in eine neue Funktion, üblicherweise verbunden mit einer Duplikation der Gene (und manchmal nicht einmal das). Auch die Augenlinsen der Kopffüßer sind mit Kristallinen gefüllt, obwohl sie unabhängig von den Augen der Wirbeltiere entstanden sind. Bestimmt wird uns die Feststellung nicht überraschen, dass das S-Kristallin der Kopffüßerlinse mit dem Enzym Glutathiontransferase verwandt ist und dass das etwas seltenere Omega-Kristallin die leicht modifizierte Aldehyddehydrogenase ist. Allerdings können die Kopffüßer nicht nur gucken, sondern manchmal sogar leuchten, und ihre Leuchtorgane enthalten oft ebenfalls Linsen, die das ausgestrahlte Licht fokussieren. Die Leuchtorgane sind allerdings mit den Augen nicht homolog, und bei den Linsen handelt es sich um modifizierte Muskeln, nicht um modifizierte Epidermiszellen. Die Linsen der Leuchtorgane haben also mit den Augenlinsen absolut nichts gemein bis auf die oberflächliche funktionelle Übereinstimmung – und das Vorkommen von Omega-Kristallin. Falls Sie nun meinen, die Linsen der Leuchtorgane der Tiefseekopffüßer seien ein zu exotisches Beispiel, sollten wir daran denken, dass die Augenlinse bei Wirbeltieren aus der Regenbogenhaut regeneriert werden kann, die jedoch ein Muskel ist (zur Regeneration kommt es immer dann, wenn das Tier die ursprüngliche Linse verliert – was im Labor schnell passiert). Es gibt aber auch noch ganz andere Möglichkeiten, Licht linsenartig zu bündeln, und man braucht noch nicht einmal eine neue Struktur dazu. Erst kürzlich konnten Solovei und Kollegen zeigen, dass die Architektur der Stäbchen (genauer gesagt des Chromatins der Zellkerne) bei nachtaktiven Tieren stark von dem Grundmuster tagaktiver Tiere abweicht. Hetero- und Euchromatin sind hier nämlich umgekehrt angeordnet, wodurch Lichtstrahlen besser gebündelt und an die lichtempfindlichen äußeren Segmente der Stäbchen geleitet werden. Für die Bildung des inversen Musters bedarf es lediglich der Remodellierung der herkömmlichen Struktur – ohne große Zauberei. Wie man sieht, macht die molekulare Evolution, genauso wie die morphologische, alles passend, was ihr in die Hände fällt – für uns Menschen eine ziemlich vertraute Art der Problemlösung. Oder haben Sie noch nie ein wackelndes Tischbein mit Bierdeckeln stabilisiert oder eine Bierflasche mit einem Feuerzeug geöffnet? Die Evolution ist in diesem Sinne wie MacGyver: erfinderisch und einfallsreich (Abb. S. 206).
4.13 MacGyver-Prinzip II oder Milch und die Entstehung neuer Moleküle Wie wir bereits gesehen haben, füllen die Wirbeltiere ihre Augenlinsen mit relativ beliebigen Proteinen: Manchmal sind es von alten Typen neu abgeleitete, dann wieder unveränderte Proteine, die nur in neuer Funktion benutzt werden. Eine wirkliche Evolutionsneuheit verlangt jedoch auch eine ganz neue molekulare Ausstattung.
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Die Linsen der Leuchtorgane der Kopffüßer sind mit denselben Kristallinen gefüllt wie die Augenlinsen.
Die Evolution macht − wie ein Bastler − alles passend, was ihr in die Hände fällt.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Lactose kommt nur in der Milch der Placentatiere vor.
Lactosesynthetase (bestehend aus Galactosyltransferase und AlphaLactalbumin) katalysiert die Synthese von Lactose aus Glucose und Galactose. Galactosyltransferase bindet die Galactose normalerweise an neu entstehende Proteine. Alpha-Lactalbumin erhöht die Neigung der Galactosyltransferase zur Verarbeitung von Glucose und verhindert, dass sich die Galactose mit neu entstandenen Proteinen verbindet.
Alpha-Lactalbumin ist vom Lysozym abgeleitet, das in den Eiern von Vögeln und Reptilien vorkommt und als Bakteriostatikum wirkt.
Säugetiere produzieren – in modifizierten Schweißdrüsen – Milch als erste Nahrung für ihre Jungtiere, was weitreichende Konsequenzen für ihre Physiologie und Ökologie, ihre Fortpflanzung, aber auch ihre sozialen Beziehungen hat. Die Milch enthält Stoffe, die das Bakterienwachstum hemmen (Bakteriostatika), z. B. das Protein Lysozym, das auch in Vogel- und Reptilieneiern vorhanden ist sowie die eigentlichen Nährstoffe; bei Letzteren handelt es sich ursprünglich wahrscheinlich vor allem um Caseine, die ebenfalls Proteine sind. Erst bei Placentatieren erscheint in der Milch auch die Lactose (Milchzucker), die nur während der Stillzeit in den Milchdrüsen produziert wird; bei keiner anderen Tiergruppe wird Lactose in einer größeren Menge gebildet ( Box 4.6). Lactose entsteht durch die Verbindung von zwei einfachen Zuckern, Glucose und Galactose, und diese Verbindung wird durch das Enzym Lactosesynthetase gewährleistet. Weil Glucose und Galactose gewöhnliche organische Stoffe sind, stellt insbesondere die Lactosesynthetase die grundlegende molekulare Innovation der Placentatiere dar. Woher kommt sie? Die Lactosesynthetase ist ein Komplex aus zwei Proteinen, Galactosyltransferase und Alpha-Lactalbumin, wobei jedes von einem anderen Gen produziert wird. Galactosyltransferase ist kein Enzym, das spezifisch für die Produktion der Lactose wäre; unter normalen Umständen bindet sie Galactose an neu entstehende Proteine und gehört zum Grundrepertoire aller Eukaryotenzellen. Darüber hinaus kann sich die Galactose an Glucose binden, also Lactose produzieren, aber das macht sie nur selten und nicht bereitwillig. Fast jedes Molekül der Galactosyltransferase findet irgendein sich neu bildendes Protein (und bindet Galactosemoleküle daran), bevor es auf eine ausreichend hohe (d. h. fast schon sirupartige) Glucosekonzentration stößt. Der zweite Bestandteil der Lactosesynthetase, das Alpha-Lactalbumin, ist nur in Milch enthalten. Dadurch, dass es an Galactosyltransferase bindet, erhöht sich deren Neigung zur Verarbeitung von Glucose um den Faktor 1000. Gleichzeitig wird ihr Bestreben, die Galactose mit neu entstandenen Proteinen zu verbinden, blockiert. Mit anderen Worten: Die Bindung des Alpha-Lactalbumins sorgt dafür, dass die Galactosyltransferase von zwei Berufen nur einen, nämlich den ursprünglich weniger beliebten, ausüben kann: die Synthese der Lactose. Für die Entstehung der Milch, das Stillen und den Mutter-Kind-Konflikt hat also die Entstehung von Alpha-Lactalbumin eine Schlüsselbedeutung. Dieses Protein ist zwar einzigartig für die Placentatiere, aber seine Aminosäurensequenz hat große Ähnlichkeit mit einem bestimmten Lysozym aus Eiern. Dieses Enzym, das Bakterienzellwände spaltet und dadurch dem Ei hilft, Infektionen abzuwehren, ist so alt wie die Wirbeltiere selbst. Noch interessanter als die Ähnlichkeit der Aminosäuresequenzen von Alpha-Lactalbumin und Lysozym ist die außerordentliche Übereinstimmung ihrer Oberflächenstrukturen. Obwohl sich die Sequenzen dieser Proteine während der Evolution verändert haben, blieb ihre Form annähernd erhalten. Die Umbildung des Lysozyms in Alpha-Lactalbumin verlief offensichtlich langsam, unabhängig von der Entstehung der Milch und des Säugens; zwar produzieren zumindest einige Kloakentiere Milch, diese enthält aber fast keine Lactose. Auch die Milch der Beuteltiere ist lactosearm, und den Jungtieren fehlt
4.14 Mophologische Transformation und Ontogenese
das Lactose spaltende Enzym Lactase. (Daher müssen verwaiste Kängurusäuglinge in Obhut des Menschen mit lactosefreier Milch gefüttert werden.) Es scheint, als sei die älteste Funktion des Säugens die Infektionsabwehr gewesen, also die Weitergabe von Lysozymen an die Jungtiere, während die Nährfunktion erst später entstand und dann überwog. Allmählich (und unter dem Gesichtspunkt der Raumstruktur unbedeutend) begann das sich ändernde Lysozym einen Komplex mit dem alten und unveränderten Enzym Galactosyltransferase zu bilden, wodurch es dessen Tätigkeit beeinflusste. Und das ist eigentlich das einzige Evolutionsereignis, das sich in der Evolution der Milch zugetragen hat.
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Die älteste Funktion des Säugens war wahrscheinlich die Infektionsabwehr.
4.14 Morphologische Transformation und Ontogenese Was wir auch immer über die Entstehung von Evolutionsneuheiten denken, eines wissen wir bereits: Die Evolution der morphologischen Formen ist zumindest bei vielzelligen Organismen eigentlich die Evolution der individuellen Entwicklung, also die Evolution der Ontogenese. Die Morphologie des vielzelligen Körpers entsteht in jeder Generation neu – durch die individuelle Entwicklung. Vererbt wird nur das Rezept für die Ontogenese. Eigentlich haben diejenigen recht, die sagen, dass der Mensch nicht aus einem Affen entstanden ist – vielmehr ist aus dem Ei, aus dem sich normalerweise ein Affe entwickelt, ein Ei geworden, aus dem sich ein Mensch entwickelt. Wir haben gelernt, dass die „Ontogenese die Phylogenese wiederholt“ („Rekapitulationsgesetz“ oder „Haeckel’sches Gesetz“) ( S. 15), und es scheint, dass die Evolution zu einer einfachen Ontogenese des Vorfahren weitere Phasen hinzufügt, bis sich die kompliziertere Ontogenese des Nachkommen entwickelt hat; sonst könnte der Eindruck einer Wiederholung natürlich nicht entstehen. War z. B. der Vorfahre einzellig, so ist auch der Nachkomme zunächst einzellig
Die Evolution der morphologischen Formen ist bei vielzelligen Organismen eigentlich die Evolution der Ontogenese.
Das „Rekapitulationsgesetz“ besagt, dass die Ontogenese die Phylogenese rekapituliert.
4.22 Ontogenese des Plattfisches (Paralichthys dentatus). Ausgewählte Entwicklungsstadien (links von oben nach unten, rechts von oben nach unten). Die Position des wandernden rechten Auges ist rot dargestellt. (Nach Martinez und Bolker 2003)
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4 Evolutionäre Neuheiten
4.23 Phylogenetische Herkunft der Schädelasymmetrie der Plattfische. (Friedman 2008)
Beispiele für die Terminaladdition (Hinzufügen weiterer Entwicklungsphasen) sind die Ontogenese des Plattfisches oder der hemimetabolen Insekten.
4.24 Ontogenese ohne Metamorphose: Ametabolie am Beispiel des Silberfischchens (oben) und Hemimetabolie am Beispiel der Heuschrecke (unten).
(Zygote) und im nächsten Schritt vielzellig. Also „wiederholt“ die Ontogenese des Nachkommen (Einzelligkeit Vielzelligkeit) tatsächlich in groben Zügen die Evolution des Vorfahren. Ein anderes konkretes Beispiel könnte die Ontogenese des Plattfisches sein (Abb. 4.22, 4.23). Aus dem Rogen schlüpft er als ein recht normaler Fisch (auch seine Vorfahren waren ziemlich normale Fische) und erst später legt er sich seitlich auf den Meeresboden, sein Körper flacht ab, sein Schädel verdreht sich so, dass sich sein „unteres“ Auge auf die „obere“ Seite (nicht jedoch auf die „Rückenseite“!) des Kopfes verschiebt. Diese Phase des asymmetrisch verdrehten Fisches wurde also zur ursprünglichen Fischontogenese hinzugefügt, und das Aussehen des adulten Vorfahren der Plattfische können wir aus der Ontogenese des heutigen Plattfisches grob abschätzen. Diese Art der Evolution der Ontogenese nennen wir „Terminaladdition“ (was bedeutet, dass der Entwicklung am Ende etwas hinzugefügt wurde). Terminaladdition ist jedoch bei Weitem nicht die einzige mögliche evolutionäre Veränderung der Ontogenese. Primitive Insekten waren flügellos, mit einer mehr oder weniger direkten Entwicklung, die durch regelmäßige Häutung der Cuticula lediglich in mehrere Perioden unterteilt war und bei der sich die einzelnen Abschnitte der Ontogenese, die Häutungsstadien (englisch instars), nicht besonders voneinander unterschieden. Das geflügelte erwachsene Insekt (Imago) wirkt tatsächlich wie zu dieser Ontogenese „hinzuaddiert“. (Bei ausgestorbenen Gruppen gab es mehrere geflügelte Häutungsstadien; in der heutigen Fauna haben die Eintagsfliegen zwei und alle anderen Gruppen ein einziges
257
4.15 Heterochronie
4.25 Ontogenese mit Metamorphose. Holometabolie am Beispiel der Stechmücke; die Larve (links) und die Puppe (Mitte) entwickeln sich im Wasser.
geflügeltes Stadium.) Die hemimetabole Ontogenese (also die Entwicklung ohne echte, ein Puppenstadium einschließende, Metamorphose) könnte auch ein Beispiel für die Terminaladdition sein (Abb. 4.24). Als später noch ein weiteres Stadium vor dem Adulttier hinzukam, nämlich die Puppe, ging es nicht mehr um eine bloße Addition. Bei Insekten der Gruppe Holometabola (Käfer, Schmetterlinge, Fliegen usw.) hatte nämlich eine ausgeprägte ökologische und morphologische Spezialisierung der Larven zu anderen Lebensweisen hin stattgefunden, die mit denen der Imagines wenig gemein hatten (vergleichen Sie eine Raupe und den Schmetterling, oder Fliegenmaden mit der adulten Fliege) (Abb. 4.25). Zu dieser Spezialisierung gehörte auch die Rückbildung der hinderlichen äußeren Flügelanlagen bei den Larven. Wir gehen davon aus, dass die primitiven Insekten Larven hatten, die mit der Zeit immer größere unbewegliche Auswüchse bildeten, aus denen sich später bei den Adulten funktionelle Flügel entwickelten. Die Larven der holometabolen Insekten haben keine äußeren Flügelanlagen, die Flügel entstehen durch eine viel dramatischere Umwandlung innerhalb der Larve. Die Puppe frisst nicht und üblicherweise bewegt sie sich auch nicht und widmet sich die meiste Zeit der anspruchsvollen Metamorphose: Um die Entstehung der Flügel kümmert sich also ein einziges spezialisiertes Puppenstadium. Dieses Stadium wurde der Ontogenese irgendwie „hinzugefügt“, jedoch mitten hinein in die ontogenetische Bahn. Allerdings entspricht die Raupe, also die spezialisierte Insektenlarve, dem Schema der Rekapitulation nicht mehr, denn kein Vorfahre der Schmetterlinge sah als erwachsenes Individuum aus wie eine Raupe.
Bei holometabolen Insekten, deren Metamorphose ein weiteres Stadium (Puppe) beinhaltet, verlief die Evolution nicht mehr über einfache Addition.
Die Raupe entspricht dem Schema der Rekapitulation nicht mehr.
4.15 Heterochronie Damit wir über die Ontogenese als eine Folge von getrennten Stadien sprechen können, müssen wir grob vereinfachen. In der Realität ist die Ontogenese jeder Art natürlich ein kontinuierlicher Prozess. Sogar die Ontogenese der Insekten verläuft graduell, obwohl sie scheinbar in isolierte Stadien unterteilt ist: Das, was gehäutet und verworfen wird (Exuvie oder „Häutungshemd“) und sich daher scheinbar sprunghaft verändert, ist die Cuticula, aber die Cuticula ist kein Tier. Die Cuticula ist nur ein Produkt der epidermalen Zellen, eine de facto nicht lebende Sache. Stellen wir uns kurzfristig dennoch die Ontogenese als eine Sequenz von Stadien vor: Die Evolution könnte dann über Veränderungen der zeitlichen Koordinierung einzelner Schlüsselmomente dieser Sequenz wirken. Unter heterochroner Evolutionsänderung verstehen wir dann, dass sich die relative Geschwindigkeit, der Beginn oder das Ende einer Wachstumsphase
Heterochronie bedeutet die Änderung der relativen Geschwindigkeit, des Beginns oder des Endes einer Wachstumsphase irgendeines Körperteils.
258
4 Evolutionäre Neuheiten
irgendeines Gewebes oder Organs ändert ( Box 4.14, Abb. 4.26). Während die eigentliche Änderung in der Ontogenese nicht besonders auffällig sein muss, kann das morphologische (und ökologische) Ergebnis doch frappierend sein. Schauen wir uns einmal die Beziehung zwischen den Keimzellen (Gameten) und den somatischen Zellen an, also allen Körperzellen von Geweben und Organen, die sich an der Entstehung der neuen Generation nicht direkt beteiligen. Bei vielen Organismen gibt es keine klare Trennung zwischen Keim- und Körperzellen, und eine neue Generation kann auch aus einer somatischen Zelle | 4.14 |
Heterochronie Unter Heterochronie verstehen wir eine zeitliche Verschiebung der Entwicklungsprozesse bei zwei eng verwandten Taxa, d. h. bestimmte Strukturen oder Organe der einen Art entwickeln sich zu einer anderen Zeit (bzw. mit abweichender Geschwindigkeit) als bei der verwandten Art. Dieses Phänomen beruht zumeist auf Mutationen oder epigenetischen Veränderungen jener Gene, die für den zeitlichen Entwicklungsablauf zuständig sind. Häufig führt eine Heterochronie zum Ausfall der Metamorphose bzw. zur Erhaltung juveniler Merkmale. Man spricht in diesem Fall von Pädomorphose. Zwei Formen der Heterochronie können die Pädomorphose herbeiführen (Abb. 4.26): Neotenie ist eine Verzögerung (Retardierung) der somatischen Entwicklung relativ zur „normal“ (d. h. wie bei verwandten Arten) verlaufenden Gonadenentwicklung (Beispiel: Axolotl, Abb. 2.40). Pädogenese ist das Ergebnis einer beschleunigten Gonadenentwicklung. Dadurch entsteht eine Tendenz zu kleineren Nachkommen. Pädogenese hat eine „verfrühte“ Zeugungsfähigkeit zur Folge (Beispiel: Bei den Gallmücken entwickelt sich die parthenogenetische Generation bereits in der Mutterlarve, die von innen aufgefressen wird). In beiden Fällen hört die somatische Entwicklung auf, sobald der Organismus seine Geschlechtsreife erreicht hat. 4.26 Heterochronie: zwei Formen der Pädomorphose. Wachstum und Differenzierung werden jeweils mit der Geschlechtsreife beendet. Neotenie entsteht bei der Verzögerung der somatischen Differenzierung relativ zur „normal“ verlaufenden Gonadenentwicklung. Pädogenese ist das Ergebnis einer beschleunigten (früher auftretenden) Gonadenentwicklung. Auf der x-Achse symbolisieren unterschiedlich große Ovale das Körperwachstum, auf der x-Achse geben die verschiedenen Farben die Differenzierung (qualitative Entwicklung) an.
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4.15 Heterochronie
entstehen (vegetative Fortpflanzung bei Pflanzen und manchen Tieren). Aber genauso bedeutend ist es festzustellen, in welchem Augenblick ein Organismus beginnt, fortpflanzungsfähig zu sein. Nach dem Erreichen der Fortpflanzungsfähigkeit endet nämlich üblicherweise die weitere Morphogenese der somatischen Gewebe: Die meisten Organismen pflanzen sich nur einmal im Leben fort und sterben danach ( Box 1.7), andere Organismen altern und verfallen nach dem Erreichen des Fortpflanzungsalters, ohne dass sie sich noch sonderlich progressiv verändern. Wir sehen dies an uns selbst. Heterochronie können wir daher als zeitliche Verschiebung verstehen, bei der das Fortpflanzungsstadium im Verhältnis zur Ontogenese seines Körpers verzögert oder verfrüht eintritt. Besonders gravierend sind die Änderungen, wenn eine abgeleitete Art sich – relativ betrachtet – früher fortzupflanzen beginnt als ihre Vorfahren. In einem solchen Fall „hakt“ die Ontogenese, endet in einer früheren Phase der somatischen Entwicklung und läuft nicht bis zum Ende durch. Es scheint, als ob sich ein Jungtier oder eine Larve, also ein „nicht erwachsenes“ Individuum, fortpflanzen würde. Hier merken wir, dass das „Rekapitulationsgesetz“ nicht gilt, da das neue Stadium zur ursprünglichen Ontogenese nicht hinzugefügt, sondern im Gegenteil, das ursprüngliche Endstadium weggelassen wurde. Die Ontogenese wurde also, streng genommen, „vereinfacht“. Diese Erhaltung larvaler oder jugendlicher Merkmale auch im erwachsenen Alter bezeichnen wir als Pädomorphose. Dazu kann es entweder durch eine relative Beschleunigung der Entwicklung der Keimzellen oder durch eine relative Verlangsamung der Entwicklung anderer Gewebe kommen. Das vielleicht bekannteste Beispiel für Pädomorphose ist der Axolotl (Ambystoma mexicanum) (Abb. 2.40). Er pflanzt sich gewöhnlich als „Wasserlarve“ fort, aber unter bestimmten Bedingungen ist er fähig, die komplette Entwicklung zu Ende zu bringen und sich in einen landlebenden Salamander zu verwandeln. Die Pädomorphose mancher Salamanderarten ist allerdings fest fixiert und die Rückkehr zur ursprünglichen komplizierteren Entwicklung ist nicht mehr möglich, wie das Beispiel des Grottenolms (Proteus anguinus) (Abb. 1.10) zeigt ( Abschnitt 2.20). Auch die Menschen unterscheiden sich von anderen Menschenaffen vor allem durch den einzigartigen Entwicklungszyklus, die einzigartige Ontogenese. Die menschliche Ontogenese ist prinzipiell langsamer. Menschen reifen später, leben länger und kümmern sich länger um ihre Jungen. Der Mensch wird in einem relativ frühen Entwicklungsstadium geboren; ein neugeborener Schimpanse entspricht eher einem einjährigen Kind als einem menschlichen Neugeborenen (Abb. 4.27). Die Versorgung eines menschlichen Nachkommen dauert wesentlich länger als die Versorgung eines jungen Schimpansen. Der ist nämlich, genauso wie jedes andere Säugetier, im Prinzip ab der Entwöhnung selbstständig, während die Eltern eines Menschenkinds dieses mindestens zehn Jahre „am Hals haben“. Der Mensch ist auch morphologisch im Vergleich mit anderen Primaten ein überdimensioniertes Junges oder eher ein „Spätembryo“; der erwachsene Mensch ähnelt einem Neugeborenen viel stärker als ein erwachsener Schimpanse dem Schimpansen-Neugeborenen. Schon in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die erste Liste mit angeblichen pädomorphen Merkmalen
Nach dem Erreichen der Fortpflanzungsfähigkeit endet üblicherweise die weitere Morphogenese.
Heterochronie führt zur zeitlichen Verschiebung, wobei das Erreichen des Fortpflanzungsstadiums und die Ontogenese des Körpers nicht synchronisiert sind.
Die Erhaltung juveniler Merkmale bei Adulten bezeichnen wir als Pädomorphose. Das bekannteste Beispiel für Pädomorphose ist die Neotenie des Axolotls.
260
4 Evolutionäre Neuheiten
4.27 Neotenie beim Menschen: Kopfprofile von Schimpansen- und Menschenbaby bzw. ausgewachsenem Schimpansen und einem Mann. (Modifiziert nach Naef 1926)
Die Hypothese von der Pädomorphie des Menschen beruht auf der Annahme der Verlangsamung der somatischen Entwicklung.
Es gibt Hinweise, dass sich einige Körpergewebe beschleunigt oder Keimzellen verlangsamt entwickeln.
des Menschen vorgelegt: Neugeborene und erwachsene Menschen sowie neugeborene Schimpansen ähneln sich in manchen Eigenschaften wie der reduzierten Behaarung, dem großen Gehirn und dem flachen Gesicht mit kurzen Kiefern, der Lage des großen Hinterhauptlochs (und somit der Anbindung des Schädels an die Wirbelsäule), dem Bau der Hände und Füße sowie der Neugier, Kreativität und dem Sinn für Humor. In die wissenschaftliche Diskussion wurde die Idee vom Menschen als pädomorphem Menschenaffen insbesondere von Stephen Jay Gould ( S. 35) eingeführt. Sein Konzept beruhte jedoch nicht auf einer Liste heterochroner Merkmale, sondern auf der Vorstellung einer Gesamtverlangsamung der Entwicklung der somatischen Gewebe und Organe. Der Mensch sollte also ein allgemein pädomorpher Primat sein, obwohl einzelne Merkmale, z. B. die Verlängerung der Beine, das spät abgeschlossene Körperwachstum und die Verzögerung der Geschlechtsreife eher auf Veränderungen in die Gegenrichtung hindeuten, also auf die beschleunigte Entwicklung der Körpergewebe oder verlangsamte Entwicklung der Keimzellen. Manche Züge der Ontogenese des Menschen unterscheiden sich aber so stark von der Ontogenese anderer Menschenaffen, dass wir diese Unterschiede nicht mit einer heterochronen Veränderung erklären können. So geht z. B. die typische, angeblich pädomorphe Form der menschlichen Schädelbasis mit dem Umbau der oberen Atemwege und der (im Vergleich zu anderen Säugetieren) deutlichen Senkung des Kehlkopfs einher, was mit der Entstehung der Sprache zusammenhängt. Diese Änderung ist keineswegs offensichtlich heterochron. Das menschliche Gehirn ist auch nicht nur ein übergroßes Schimpansengehirn, obwohl manche Eigenschaften unseres Gehirns, z. B. der Grad der Furchung oder die Größe des Neocortex eine solche Interpretation erlauben würden. Die ausgeprägte Rechts-Links-Asymmetrie des menschlichen Gehirns, wie beispielsweise die Entstehung des Broca-Zentrums in der linken Hemisphäre, können aber kaum mit der „allgemeinen Pädomorphose“ des Menschen erklärt werden.
4.16 Heterochronie und Evolution Das Konzept der Heterochronien beruht auf einer im Prinzip geometrischen Sicht der Ontogenese und ihrer möglichen Änderungen.
Die wirkliche Bedeutung der heterochronen Änderungen in der Evolution kennen wir nicht. Wir möchten betonen, dass das Konzept der Heterochronien auf einer formalen, geometrischen, im Prinzip nichtbiologischen Sicht der Ontogenese und ihrer möglichen Änderungen beruht. Dass eine neue morphologische oder ökologische Form infolge einer heterochronen Verschiebung entstanden ist, sagt nichts darüber, ob sich die Selektion an dieser Entwicklung beteiligt hat oder nicht. Es handelt sich offensichtlich um ein Missverständnis,
4.16 Heterochronie und Evolution
wenn in der Literatur ein gewisser Hang bemerkbar ist, die „Evolution der Heterochronien“ als Gegenstück zur „Evolution durch natürliche Selektion“ zu interpretieren. Heterochronie ist eine der möglichen Erklärungen, wie Evolutionsneuheiten entstehen (proximate Mechanismen), während die Selektion erklärt, wozu sie eigentlich nütze sind (ultimate Ursachen) ( Box 4.15, 4.16, Abb. 4.28-4.30).
261
Die „Evolution der Heterochronien“ steht nicht im Widerspruch zur „Evolution durch natürliche Selektion“.
| 4.15 |
Morphometrische Transformation Einige als Strukturalisten bezeichnete Biologen sind der Ansicht, dass bestimmte Mutationen und damit auch bestimmte Strukturen, nie entstehen können, weil es objektiv gewisse innere (biochemische, physikalische oder auf der Konstruktion beruhende Zwänge) gibt, die die Evolution nicht überwinden kann. So können sich z. B. die Flügel nicht aus Ohrmuscheln entwickeln, weil der Hals das Gewicht des Körpers nicht tragen könnte, weil der Kopf nicht ausreichend Fläche für die notwendige Flugmuskulatur bietet etc. Kleine Säugetiere können die Richtung, aus der Infraschall kommt,
4.28 Anwendung des Prinzips der Transformation der Körperform bei nah verwandten Fischarten: (a) Polyprion sp. (Ausgangsform), (b) Pseudopriacanthus altus, (c) Antigonia capros, (d) Scorpaena sp. und (e) Tetraodon sp. (Ausgangsform), (f) Mola mola. (Nach D’Arcy Thompson 1917)
nicht lokalisieren, weil zur Ortung langer Schallwellen ein großer Abstand zwischen den beiden Ohren notwendig ist. Der Klassiker dieser Richtung, Sir D‘Arcy W. Thompson ( S. 262), zeigte, dass gerade einfache physikalische Kräfte und geometrische Gesetzmäßigkeiten die Formen der Organismen und Organe zum großen Teil auch vorhersagen können. In seiner Theorie der Koordinaten-Transformation zeigte er, dass man viele Gestalten mit der Veränderung des Systems der Koordinaten, die die Ausgangsform (Blatt, Schädel, Körpergestalt, Knochen etc.) umschreiben, ableiten kann. Durch dieTransformation dieses grundlegenden orthogonalen Netzes in ein schiefwinkliges, dreieckiges oder anderweitig deformiertes Netz kann man die Beziehungen zwischen manchen Strukturen und Körperformen bei einigen „Wirbellosen“, sowie bei einigen Fischen vorhersagen (Abb. 4.28); Ähnliches gilt für die Beziehungen zwischen den Schädelformen mancher Säugetiere etc. (Abb. 4.29). Die Berechtigung dieser Methode hat Thompson durch ein oft zitiertes Beispiel dokumentiert: Durch Interpolation zwischen den Koordinaten, die den Schädel des rezenten Pferdes und den Schädel des ausgestorbenen Hyracotherium umschreiben, das ein basales Taxon der „Pferdereihe“ darstellt, sagte Thompson Formen und Größen von Schädeln der, zu seiner Zeit, noch unbekannten „Übergangsglieder“ vorher. Die später gefundenen Schädel korrespondierten meist sehr gut mit den vorhergesagten Formen.
4.29 Anwendung des Prinzips der Transformation der Schädelform bei Primaten. (Nach D’Arcy Thompson 1917)
262
Die Wahl einer jungen Partnerin ist bei Menschen selektiv vorteilhaft und könnte zur Fixierung „juveniler“ Merkmale geführt haben.
4 Evolutionäre Neuheiten
So löst z. B. der Axolotl durch die Pädomorphose ein wichtiges Problem, das das Leben in Gebirgs- oder Wüstenseen mit sich bringt. Auch das juvenile Aussehen der Menschen (lassen Sie uns zunächst annehmen, dass es sich vielleicht doch um die Kombination komplizierter Heterochronien handelt) kann eine Antwort auf den Selektionsdruck darstellen. Wenn die Erziehung eines Menschenkinds sehr lange dauert und ein hohes elterliches Engagement verlangt, ist es selektiv vorteilhaft, eine möglichst junge Partnerin zu wählen, denn so erhöht sich die Chance, dass sie das Junge tatsächlich großziehen kann. (Vergessen wir nicht, dass die Lebenserwartung der Menschen unter „natürlichen“ Bedingungen viel niedriger ist als die Lebenserwartung, mit der wir uns heute in den Industriegesellschaften brüsten). Die Auswahl eines möglichst jungen Mannes ist dagegen erstens weniger wichtig angesichts der geringeren väterlichen Investition in die Nachkommenschaft, und zweitens steht sie in einem deutlichen Konflikt mit der Auswahl eines möglichst reichen und mächtigen Partners, der – dank der ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen – seinen Nachkommen den Weg durchs Leben erleichtert, auch wenn er selbst vielleicht bald sterben wird. In der heutigen zivilisierten Gesellschaft weiß jeder, wann sie bzw. er geboren ist (und wir anderen erfahren es durch Nachfragen bzw. durch einen Blick in den Ausweis). In der damaligen Gesellschaft, in der der heute existierende Entwicklungszyklus des Menschen entstanden ist, gab es aber keine Dokumente, sodass das Alter nur anhand des Aussehens der potenziellen Partnerin geschätzt werden konnte. Bis heute sind die Eigenschaften, die Männer bei Frauen als „hübsch“ einschätzen – Augen, Haare, Haut, Figur –, prinzipiell fest mit dem Jungsein verankert, und ohne intensive Einflussnahme und Manipulation mit Mitteln der modernen Industrie überleben diese jugendlichen Eigenschaften nur schwer die Dreißig. Zwei Frauen (und ihre Gene), die im Alter von 25 Jahren auf Partnersuche gehen, werden nicht gleich erfolgreich sein, wenn die eine auf 20 und die andere auf 30 Jahre geschätzt wird. Die bevorzugte Auswahl von jung erscheinenden Partnerinnen führte gewiss zu einer allmählichen Verjüngung des Aussehens, und dass aufgrund dieser Selektion junger Partnerinnen insgesamt eine „Verjüngung“ beider Geschlechter erfolgte, ist kein Mysterium – schließlich haben wir gemeinsame und sich stets durchmischende Gene.
Sir D‘Arcy Wentworth Thompson Lebensdaten: geb. 1860–1948 Nationalität: britisch Leistung: Biologe, Mathematiker. T. gilt als Pionier für die Anwendung der Mathematik in der Biologie („erster Biomathematiker“). Sein 1917 erschienenes Buch On Growth and Form (dt. Über Wachstum und Form) beeinflusste mehrere Generationen von Biologen. T. zeigte an zahlreichen Beispielen die Ähnlichkeiten zwischen biologischen und mechanischen Strukturen auf. Besonders bekannt sind seine Untersuchungen zur Form verwandter Organismen, die er über mathematische Transformationen zueinander in Beziehung setzte. T. übersetzte auch Aristoteles‘ Historia animalium ins Englische.
4.16 Heterochronie und Evolution
263
Als weiteres Beispiel für adaptive heterochrone Änderungen können die „Helfer“ bei sozial lebenden Tieren angesehen werden. Das sind geschlechtsreife Individuen, die ihren Eltern bei der Aufzucht ihrer jüngeren Geschwister helfen, obwohl sie sich selbst bereits fortpflanzen könnten ( Box 2.15). Wie lange das junge Individuum den Eltern helfen wird, hängt u. a. auch von der Chance einer erfolgreichen Emanzipation, also „Verselbstständigung“, ab. Je größer die Gruppen (Familien, Kolonien, „Staaten“) sind, in denen die Vertreter einer gegebenen Art leben, und je größer die Reviere sind, die eine solche Gruppe monopolisiert, um überleben zu können, desto geringer ist die Chance, dass es einem Einzelkämpfer gelingt, erfolgreich eine neue Kolonie zu gründen. Desto
Bei sozial lebenden Tieren könnten sich „Helfer“ durch adaptive heterochrone Änderungen evolviert haben.
| 4.16 |
Warum hat das Zebra Streifen? Diese Frage kann man auf zwei verschiedene Weisen interpretieren ( Box 1.6): Wozu dienen die Streifen? und Wie entstehen die Streifen ontogenetisch? Die herkömmliche Erklärung besagt, dass die Streifen der Tarnung dienen und die Umrisse des Tieres auflösen (die sogenannte Somatolyse). Dadurch seien sie insbesondere in der Dämmerung, wenn die Raubtiere hauptsächlich aktiv sind, schwer zu erkennen. Eine andere Erklärung ist, dass die Streifen zu einer optischen Täuschung führen und ein Löwe beim Angriff die Entfernung nicht richtig einschätzt und der Sprung zu kurz sei. Eine dritte Erklärung behauptet, dass die Streifen den Löwen bei der Annäherung verwirren und es dem Löwen erschweren, sich auf die fliehende Beute zu konzentrieren. Eine andere, weithin akzeptierte Hypothese, besagt, dass die Streifen die Zebras vor Tsetsefliegen, und damit vor Nagana, schützen, eine von Tsetsefliegen übertragene Parasitenkrankheit, für die Pferde in Afrika besonders anfällig sind.Tsetsefliegen orientieren sich optisch – aus der Ferne können sie die Zebras nicht erkennen (Somatolyse) und ansonsten landen sie nur ungern auf leuchtend weißen und schwarzen Streifen. Weitere Hypothesen sehen die Bedeutung der Streifen in der Thermoregulation, und wieder andere als Muster, die die individuelle Erkennung und Arterkennung ermöglichen. Für die Frage nach der ontogenetischen Entstehung der Streifen gibt es weitaus weniger Erklärungsansätze. Das Streifenmuster entsteht während der Ontogenese durch unterschiedliche Verteilung und Aktivität der Pigmentzellen (Produkte der Neuralleiste, Box 2.20). Die Entstehung verschiedener Streifenmuster bei verschiedenen Zebraarten lässt sich damit erklären, dass ein bestimmtes Gen zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingeschaltet wird (Abb. 4.30).
4.30 Die Entstehung des unterschiedlichen Streifenmusters bei Zebras (links Bergzebra, rechts GrevyZebra) kann durch den unterschiedlichen Zeitpunkt des Einschaltens eines Gens erklärt werden, wie das Beispiel der Luftballons veranschaulicht: Die Streifen werden beim früheren Einschalten (Bemalen eines kleinen Luftballons) breiter, da mehr Zeit zum Wachstum zur Verfügung steht. Im Gegensatz dazu bleiben die Streifen relativ schmal, wenn dasselbe Gen erst später eingeschaltet wird (erst der größere Luftballon wird mit demselben Streifenmuster bemalt). (Nach Burda 2005)
264
4 Evolutionäre Neuheiten
Sterben die meisten Helfer, bevor sie selbstständig werden, besteht die Kolonie aus sich nichtfortpflanzenden Individuen, die einem einzigen, sich fortpflanzenden Paar helfen (z. B. Nacktmulle).
Heterochronie-Gene können kleine Verschiebungen in der Entwicklung auslösen.
größer ist auch der Druck, zu Hause zu bleiben und seinen Eltern zu helfen, insbesondere wenn der Helfer aus genetischer Sicht keinen Verlust erleidet. Stellen wir uns eine Situation vor, in der die meisten Helfer sterben, bevor sie selbstständig werden, dann erhalten wir eine Kolonie von Individuen, die sich nicht fortpflanzen und die einem einzigen sich fortpflanzenden Paar oder Harem helfen. Genau so ein Sozialsystem finden wir bei Termiten und einigen Arten von afrikanischen Sandgräbern (Bathyergidae) und bezeichnen es als „eusozial“ ( Box 4.17, 5.9). Der Unterschied zwischen der weniger bemerkenswerten kurzfristigen Familienhilfe der Florida-Buschhäher (Aphelocoma coerulescens) und der Eusozialität der Termiten, die wir kompliziert erklären, beruht einzig und allein im Zeitpunkt des Emanzipationsschrittes. Mit dem Konzept der Heterochronien gibt es ein Problem. Normalerweise haben wir keine proximate biologische Erklärung, wie es zu solchen Änderungen kommen könnte. Wir kennen einige Beispiele von Heterochronie-Genen, die die zeitliche Abfolge von verschiedenen Ereignissen in der larvalen Entwicklung der Fadenwürmer ändern. Wir wissen, dass diese Gene auch bei anderen Tieren verbreitet sind und dass sie dort ebenfalls die zeitliche Regulation der Entwicklung ändern. Es handelt sich jedoch nicht um große Evolutionsänderungen. Auch der Fadenwurm mit einem mutierten Heterochronie-Gen sieht wie ein Fadenwurm aus. Weil uns primär der Anteil der Heterochronien an der
| 4.17 |
„Abwanderer-Kaste“ bei Nacktmullen? Nacktmulle gehören zu den sehr wenigen eusozialen Säugetierarten ( Box 2.16, 5.9). 1996 weckte die Beschreibung der bei den Nacktmullen vorkommenden Abwanderer-Kaste (dispersive caste) in der renommierten Fachzeitschrift Nature das Interesse der Soziobiologen. Hier wurde nun eine weitere Analogie zu den Termiten gesehen. Die Autoren argumentierten, dass die AbwandererIndividuen sehr selten sind: Von 1000 untersuchten, im Labor gehaltenen Individuen wurden nur 19 Tiere als Abwanderer identifiziert, also 1,9 Prozent. Es waren größere, ältere, „fette“ Tiere, überwiegend Männchen (18 von 19 Individuen), die eine größere „Wanderlust“ an den Tag legten als andere Nacktmulle. Die Analyse der Daten ist eine interessante Gedankenübung. Die 1000 untersuchten Tiere gehörten zu 48 Familien unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Alters. Die AbwandererKaste fehlte in allen kleinen Familien, war aber in größeren Familien (> 40 Mitglieder, > 4 Jahre alt) nicht so selten. Alle 19 Abwanderer stammen aus sechs dieser größeren Familien mit insgesamt 385 nichtreproduktiven Individuen (dies entspricht 5,3 Prozent). Die Verteilung war also ungleich. In einer alten Familie mit 43 nichtreproduktivenTieren gab
es sogar sechs Abwanderer, was einem Anteil von 14 Prozent entspricht. Da fast alle Abwanderer Männchen waren (und da das Geschlechterverhältnis insgesamt ausgewogen ist) waren 27 Prozent (also ein Viertel der Familie, die mindestens vier Jahrgänge enthält) der Männchen Abwanderer. Die Abwanderer-Kaste ist somit gar nicht so selten. Selten war an dieser Untersuchung das Vorkommen von größeren, reifen Familien. Ein Nacktmull, der das Glück hat, länger als vier Jahre zu leben, wird zum Abwanderer. Was die Nacktmulle von anderen monogamen Säugetieren mit Helfern ( Box 2.15) unterscheidet, ist die langsamere Reifung und das verspäteteTiming der Abwanderung. Nacktmulle sind somit doch mehr säugetier- als termitenähnlich. Entsprechend der Säugetiernorm ist die (frühere) Abwanderung vor allem eine Angelegenheit der Männchen. Abwanderung ist bei Säugetieren eine Begleiterscheinung der Pubertät. Die Pubertät wird bei Nacktmullen (genauso wie bei Menschen) durch den Anstieg des luteinisierenden Hormons (LH) ausgelöst. Bei den Menschen wird die Pubertät durch harte Arbeit (aber auch durch Sport) verzögert. Könnte dies auch auf Nacktmullarbeiter in kleinen Familien zutreffen, die hart arbeiten müssen?
4.16 Heterochronie und Evolution
Entstehung neuer Baupläne, Lebensstrategien und letztendlich großer Kladen interessiert, müssen wir wie üblich in der Evolutionsbiologie von kleinen und gut dokumentierten Änderungen auf größere Änderungen schließen – und glauben, dass solch eine Extrapolation sinnvoll ist. Der Fall des Axolotls, wo wir experimentell Formen mit kompletter Metamorphose in pädomorphe Formen ändern können und umgekehrt, ist ganz außergewöhnlich. Gerade hier sehen wir, wie kleine Änderungen große Evolutionsereignisse auslösen können. Ohne dass große – und wahrscheinlich letale – Mutationen stattfinden müssen, kann eine Gruppe von Organismen mittels heterochroner Evolution irgendwie der bisherigen Spezialisierung entkommen und beginnen, sich in eine andere Richtung zu entwickeln. Fraglich ist, ob so etwas aber überhaupt passiert. Es gibt viele Hypothesen, die postulieren, dass irgendeine Gruppe durch heterochrone Änderung (üblicherweise pädomorph) entstanden ist, aber meistens handelt es sich um Überreste vorphylogenetischer Überlegungen, oder die Hypothesen wurden durch Erweiterung der Kenntnisse über die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Organismen widerlegt. Beispielsweise schlüpfen die Doppelfüßer (Diplopoda) als sechsbeinige Larven aus dem Ei, und allmählich wachsen ihnen weitere Glieder und Extremitäten. Ein neugeborener Doppelfüßer sieht also wie ein Insekt aus und Insekten hätten auch aus pädomorphen Diplopoden entstehen können. Aber das konnte nicht der Fall sein, da die Diplopoda phylogenetisch viel weiter von den Insekten entfernt sind als die Krebstiere.
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Der Fall des Axolotls zeigt, wie kleine Änderungen große Evolutionsereignisse auslösen können.
Es gibt viele ältere Hypothesen, die behaupten, dass manche Gruppen durch heterochrone Änderungen entstanden sind.
Sind die Wirbeltiere pädomorph? Das zumindest für uns Menschen vielleicht wichtigste Beispiel für die mögliche Entstehung einer großen Klade mittels Pädomorphose sind die Wirbeltiere. Der Theorie, dass Wirbeltiere (und Lanzettfischchen) aus pädomorphen Manteltieren entstanden sind, liegt die auffällige Ähnlichkeit zwischen Wirbeltieren, Lanzettfischchen und Manteltierlarven zugrunde: Letztere sind im Prinzip frei bewegliche Tiere mit einer Chorda dorsalis und dorsalem Neuralrohr, während ein typisches erwachsenes Manteltier, also eine Seescheide, eine vereinfachte Anatomie aufweist: Es ist ein zylindrisches sessiles, von einem Zellulosemantel überzogenes Tier, das sich nur dem Filtrieren von Meerwasser widmet (Abb. 4.31). Wirbeltiere und Lanzettfischchen haben also augenscheinlich mit einer erwachsenen Seescheide nichts gemeinsam, mit ihrer Larve allerdings schon. Aber Vorsicht, denn nach der gleichen Logik könnten wir auch erklären, dass ein gewöhnlicher Fisch, z. B. eine Forelle, eigentlich ein pädomorpher Plattfisch sei: Auch ein juveniler Plattfisch ist ein normaler, forellenähnlicher Fisch, während ein erwachsener Plattfisch unsinnigerweise auf der Körperseite liegt und beide Augen auf eine Gesichtshälfte verschoben sind. Natürlich ist bislang niemand auf diese gewagte Idee zur Evolution der Forellen gekommen, da allen klar ist,
Wirbeltiere, Lanzettfischchen und Manteltierlarven weisen auffällige Ähnlichkeiten auf. Sind Wirbeltiere aus pädomorphen Manteltieren entstanden?
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4 Evolutionäre Neuheiten
4.31 Der Vergleich der Baupläne der Chordatiere. (In Anlehnung an Steiner 1977)
Sind Lanzettfischchen und Wirbeltiere den Manteltierlarven deshalb ähnlich, weil primitive Chordaten so ausgesehen haben? Die wirklich abgeleitete Form der Chordatiere stellt die adulte Seescheide dar.
dass das Plattfisch-Jungtier keine „Larve“ darstellt und das wirklich Seltsame und Bemerkenswerte an einem Plattfisch nicht das Jungtier, sondern der „entartete“ (anomale) Adultus ist (Abb. 4.22). Um tatsächlich annehmen zu können, dass Wirbeltiere pädomorphe Manteltiere sind, müssen wir zunächst glauben, dass das frei bewegliche Stadium der Manteltiere wirklich eine „Larve“ ist (so wird diese Form in Lehrbüchern gewöhnlich auch bezeichnet) und dass die erwachsene Seescheide einem erwachsenen Stadium der primitiven Chordaten entspricht und dass es sich nicht (wie bei einem erwachsenen Plattfisch) um eine Apomorphie handelt, die sich an eine ursprünglich einfache Ontogenese anschließt. An all das zu glauben, ist schwer, aber trotzdem wird jedes Chordatier, wenn es sich bewegt und wie ein Tier aussieht, für pädomorph gehalten. Nach einer einfacheren (und daher auch berechtigten) Interpretation sind Lanzettfischchen und Wirbeltiere den „Larven“ der Seescheiden deswegen ähnlich, weil primitive Chordaten so ausgesehen haben; die wirklich abgeleitete Form der Chordatiere stellt die adulte Seescheide dar. Die erwachsene Seescheide entstand durch terminale Addition – und daher ist es kein Wunder, dass sie in ihrer Ontogenese die vorherige Phylogenese rekapituliert und dass das frühe Stadium der Seescheide wie ein primitives Chordatier aussieht. Die Vorstellung, dass die Wirbeltiere pädomorph seien, beruht also eigentlich auf einem absurden Missverständnis über die Evolution als einer geraden Leiter, die zur Krone der Schöpfung, pardon: aller Organismen, führt – nämlich zu uns. In einem solchen Fall müsste dann tatsächlich jedes Merkmal, in welchem sich ein Wirbeltier von einem beliebigen Nichtwirbeltier unterscheidet, eine Apomorphie der Wirbeltiere sein. In Wirklichkeit bestehen die Wirbeltiere, wie jede andere Gruppe auch, aus einem Mosaik von ursprünglichen und abgeleiteten Eigenschaften. Der Mensch ist in mancher Hinsicht primitiver als die Seescheide, der Lebenszyklus des Menschen ist einfacher als der Zyklus der
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4.17 Ist die frühe Ontogenese konservativ oder instabil?
Seescheide, und wir brauchen hier keine Heterochronie-Erklärung (höchstens als Erklärung, warum die Seescheide sich nicht im Stadium eines beweglichen Tiers fortpflanzt – aber darüber erfahren Sie später mehr). Momentan gibt es keine Organismengruppe von der Größe einer „Klasse“ oder eines „Stammes“, von der wir überzeugend sagen könnten, dass sie heterochron entstanden ist. Gewisse Hoffnungen erwecken vielleicht nur die Plattwürmer und Rädertierchen. Wir kennen ein paar gut dokumentierte Fälle von Heterochronien auf der Ebene der Arten oder der Populationen, eine Reihe von weiteren Evolutionsereignissen bezeichnen wir mit verdächtiger Leichtigkeit als „wahrscheinlich heterochron“, wir können uns vorstellen, wie einfach die Evolution von neuen Stämmen mittels Heterochronie wäre – aber wir kennen keinen glaubhaften Fall, bei dem ein Stamm wirklich heterochron entstanden wäre.
Vermutlich ist keines der größeren Taxa heterochron entstanden.
4.17 Ist die frühe Ontogenese konservativ oder instabil? Die Grundannahme vieler Biologen, dass die evolutionären Änderungen eher die späteren Stadien der Ontogenese betreffen und man daher besser aus den früheren Stadien phylogenetische Schlussfolgerungen ableiten kann, sollten wir kritisch betrachten, auch wenn diese Vorstellung durch ein gewisses Maß an Erfahrung gestützt wird. So sind z. B. Mollusken und Anneliden zwei nah verwandte Stämme, die sich irgendwann vor dem Kambrium trennten. Sie sind also mehr als 500 Millionen Jahre alt. Umso interessanter ist die Feststellung, dass Mollusken und Anneliden trotz ihrer Verschiedenheit große Ähnlichkeit in den ersten Phasen der Ontogenese aufweisen, nämlich Eifurchung, Entstehung der Gewebegrundtypen, Entstehung der Körperhöhle und – falls sie im Meer leben (wo sie ursprünglich herkamen) – auch einen ähnlichen Typ von Planktonlarve. Diese Eigenschaften müssen extrem konservativ sein, obwohl die späteren Stadien auffällig divergierten und sich an unterschiedliche Lebensweisen anpassten. Das eigentliche Konzept der „Baupläne“ bezieht sich auf die Embryonalentwicklung und die Existenz eines konservativen Stadiums irgendwann zu Beginn der Ontogenese. Niemand bezweifelt, dass ein Krake anders aussieht als eine Muschel, und dennoch glauben wir, die grundlegenden Ähnlichkeiten, die Beweise ihrer Molluskenzugehörigkeit, irgendwo in den Tiefen ihrer embryonalen oder larvalen Entwicklung finden zu können. Wenn wir einmal nicht auf die oberflächlichen Äußerlichkeiten einer Organismengruppe achten, die sich während der Evolution relativ schnell verändern können, suchen wir irgendeinen Archetypen des gegebenen Stamms, sprich irgendeine Übereinstimmung zwischen Arten, die auf den ersten Blick kaum Gemeinsamkeiten teilen. Eine solche Ontogenesephase, die zeigt, dass ansonsten nichtverwandte Tiere wirklich zusammengehören, weil sie extrem evolutionär konserviert ist und eine minimale Vielfalt aufweist, nennen wir das phylotypische Stadium.
Evolutionsänderungen betreffen vermutlich eher spätere Ontogenesestadien. Frühere Stadien sind daher besser geeignet, um phylogenetische Schlussfolgerungen abzuleiten. Die frühe Ontogenese der beiden nah verwandten „Stämme“ Mollusken und Anneliden verläuft sehr ähnlich, obwohl sich die späteren Stadien auffällig unterscheiden.
Das phylotypische Stadium bezeichnet eine evolutionär konservierte Ontogenesephase, in der sich auch manche nichtverwandten Arten ähnlich sind.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Die Pharyngula der Chordaten ist ein Beispiel für das phylotypische Stadium.
Als Beispiel für ein phylotypisches Stadium kann die Pharyngula der Chordaten angesehen werden. Das ist ein Embryonalstadium mit ausgebildeter Chorda dorsalis, Kiemenspalten, Extremitätenanlagen, Neuralrohr, Schwanz, großem Kopf und gut entwickelten Augen. Es entspricht der Entwicklungsphase, während der die Bildung der definitiven Organe beginnt und die Zellen der Neuralleiste wandern. Ein kleiner Haken liegt allerdings darin, dass es die Pharyngula, die wir von Ernst Haeckels Bildern kennen und die seit jeher von einer Lehrbuchgeneration in die nächste übernommen wurde (ja, gemeint sind diese C-förmigen Tierchen, mit höckrigen Köpfen, großen Augen oben, Kiemenspalten in der Mitte und gedrehtem Schwanz unten), so nicht gibt. Als man vor ein paar Jahren intensiv nach diesem Stadium suchte (die gezeichneten Bilder überdauerten tatsächlich hundert Jahre), stellte man fest, dass sich die Embryonen von Fisch, Salamander, Huhn, Kaninchen und Menschen nicht nur in der Größe (bis zum Zehnfachen, obwohl Haeckel sie sehr suggestiv gleich groß zeichnete) und in den Proportionen unterscheiden (wodurch der Einfluss der Allometrie und der Heterochronie auf die Entwicklungsdynamik nicht mehr erkennbar ist), sondern auch in der An- oder Abwesenheit von verschiedenen Organen ( Box 4.18). Dennoch müssen wir zugeben, dass bestimmte ontogenetische Stadien tatsächlich deutlich konservativer sind als andere (Abb. 4.32). Es bleibt aber immer noch ein Problem. Wir finden diese phylotypischen Stadien in einer relativ späten Phase der Ontogenese. Der Zeitpunkt, zu dem das phylotypische Stadium in der Ontogenese auftritt, widerlegt damit sowohl
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Ende eines Gesetzes Das Verhältnis von Ontogenese und Phylogenese ist eines der faszinierendsten Themen in der Geschichte der Biologie des 19. Jahrhunderts. Die Idee „die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese“, auch als „Rekapitulationstheorie“ bekannt, ist vor allem mit dem Namen von Ernst Haeckel ( S. 15) verknüpft, der das Konzept 1866 zum „Biogenetischen Grundgesetz“ erklärte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Rekapitulationstheorie außerordentlich populär und blieb es bei der Öffentlichkeit praktisch bis heute. DieTheorie behauptet, dass sich in der embryonalen Entwicklung jeder Wirbeltierart deren Phylogenese widerspiegelt. Tatsächlich findet man viele Beispiele von Strukturen (Chorda, Kiemenbogen, Schwanz), die unsere Wirbeltiervorfahren charakterisiert haben und die auch in der menschlichen Embryogenese vorkommen. Um seineTheorie zu unterstützen, zeichnete Haeckel Embryonen verschiedener Arten während verschiedener Stadien. Hierbei betonte er die Ähnlichkeiten zwischen Embryonen verwandter Arten übermäßig stark und manipulierte
so die Zeichnungen. Die Zeichnungen waren so suggestiv, dass sie den Weg in Biologie-Lehrbücher fanden und ganze Generationen von Schülern beeinflussten, ohne dass über einen Zeitraum von 100 Jahren jemand an ihrer Richtigkeit gezweifelt und sie überprüft hätte. Die Tatsache, dass die moderne Biologie das Biogenetische Grundgesetz ablehnt, wurde und wird heute noch von Kreationisten als Argument gegen die Evolution verwendet. Die Rekapitulationstheorie wird von Kreationisten weiterhin gerne als Zielscheibe benutzt, um zu zeigen, dass diese „wichtige Säule des Darwinismus“ den Angriffen nicht mehr standhält. Doch dabei wird verschwiegen, dass die Ähnlichkeit der Wirbeltierembryonen – trotz Haeckels wissenschaftlich nicht korrekter Darstellung – eine Tatsache ist. Nur interpretiert man diese Tatsache heute anders. Die Ähnlichkeit der phylotypischen Stadien ist für die Evolutionsbiologie gewiss nicht weniger interessant und bedeutsam als es das „Biogenetische Grundgesetz“ einst war.
4.17 Ist die frühe Ontogenese konservativ oder instabil?
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4.32 Der Vergleich der Embryonalentwicklung von Salamander, Huhn und Mensch zeigt, dass die frühen Phasen der Embryonalentwicklung sehr variabel sind. Haeckels „Biogenetisches Grundgesetz“ gilt allenfalls ab dem phylotypischen Stadium, nicht jedoch für die vorphyletische Phase. Baupläne, die sich im phylotypischen Stadium sehr ähnlich sehen, können auf ganz unterschiedlichen Wegen gebildet worden sein.
das von Ernst Haeckel ( S. 15) propagierte „Biogenetische Grundgesetz“ („die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese“) als auch das von Karl von Baer schon früher (1828) formulierte „Gesetz der Embryonenähnlichkeit“ („frühe ontogenetische Stadien ähneln sich stärker; die Arten unterscheiden sich vor allem durch die späteren Stadien“). Die frühen Phasen der Embryonalentwicklung sind nämlich sehr variabel. Anders gesagt: Während der Evolution der Stämme ändern sich normalerweise gerade die frühesten Prozesse, die Eifurchung, die Entstehung der Gastrula oder die Entstehung der Körperhöhlen. Letztendlich sind auch die Größenunterschiede des Salamander-, Hühner- und Menscheneis, deutlich erkennbar in Abbildung 4.32, unter diesem Gesichtspunkt sehr illustrativ. Die beiden „biogenetischen Gesetze“ gelten allenfalls ab dem phylotypischen Stadium, nicht jedoch für die vorphyletische Phase. Die ontogenetisch frühesten Stadien müssen uns also nichts über die
Das späte Auftreten des phylotypischen Stadiums während der Ontogenese widerlegt das Biogenetische Grundgesetz.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Einigen Froscharten fehlt das Kaulquappenstadium, sie schlüpfen also als fertige Frösche. Nicht der Frosch, sondern die Art und Weise, wie der Frosch gebildet wird, hat sich während der Evolution geändert.
Phylogenese sagen, und Haeckels Rekapitulation funktioniert hier schon gar nicht. Baupläne, die sich im phylotypischen Stadium sehr ähnlich sehen, können auf ganz unterschiedlichen Wegen gebildet worden sein. Einige Froscharten schlüpfen als fertige Frösche aus dem Ei und überspringen das Kaulquappenstadium (z. B. bei südamerikanischen Fröschen der Gattung Eleutherodactylus). Die einfachste Erklärung wäre die Heterochronie: Das Kaulquappenstadium wurde im Ei vollzogen, weil sich der Augenblick des Schlüpfens verschoben hat. Dies ist aber nicht der Fall, denn die ganze embryonale Entwicklung von Eleutherodactylus ist anders als bei anderen Fröschen. Es bilden sich gar keine larvalen Strukturen – und dennoch ist das Ergebnis ein ganz gewöhnlicher Frosch. In der Evolution ändert sich also nicht der Frosch, sondern die Art und Weise, wie der Frosch gebildet wird.
Wie baut man einen Seeigel?
Die meisten Seeigel haben eine Planktonlarve, die sich von Mikroorganismen ernährt. Bei etwa 20 % der Seeigelarten gibt es jedoch eine einfache Larve, die sich von Dotterreserven ernährt.
Seeigel der Gattung Heliocidaris bilden je nach Art Larven unterschiedlichen Typs. Die Larve eines Hybriden repräsentiert einen weiteren Typus.
Das vielleicht am besten untersuchte Beispiel für grundlegende Änderungen in der frühen Ontogenese stellen die Seeigel der Gattung Heliocidaris dar. Bei einem normalen Seeigel entwickelt sich das Ei sehr stereotyp: Bis zum Stadium der Planktonlarve, Pluteus genannt, der alles enthält, was einen erwachsenen Seeigel ausmacht, ist der Verlauf bei allen Arten ziemlich ähnlich. Diese Art der Ontogenese ist seit etwa 250 Millionen Jahren konserviert und repräsentiert offensichtlich die ursprüngliche Art, einen Seeigel zu bilden. Allerdings durchlaufen etwa 20 Prozent der heute lebenden Seeigel-Arten das Stadium der Pluteuslarve nicht, wobei diese Vereinfachung mehrfach unabhängig voneinander bei verschiedenen phylogenetischen Linien stattgefunden hat. Aus dem Ei schlüpft aber nicht etwa ein fertiger kleiner Seeigel – das modifizierte Larvenstadium ist ein bewimpertes sackartiges Gebilde, das im Unterschied zu den Pluteen nicht jagt, sondern sich von Reservestoffen ernährt, die ihm aus dem Ei übriggeblieben sind. Daher können diese Larven morphologisch unvergleichlich einfacher sein. Diese beiden Entwicklungstypen können wir bei zwei sehr nah verwandten Arten der australischen Seeigel finden: Bei der Art Heliocidaris tuberculata kommt die urspüngliche Pluteuslarve vor, bei H. erythrogramma dagegen die einfache, sackartige Larve. Diese Arten sind so nah miteinander verwandt, dass sich der neue Ontogenesetyp bei H. erythrogramma in den letzten fünf bis zehn Millionen Jahren entwickelt haben muss. In Wirklichkeit verlief diese Änderung aber noch schneller – denn die ost- und die westaustralischen Populationen der Art H. erythrogramma sind bereits seit rund zwei Millionen Jahren voneinander isoliert, haben jedoch den gleichen, abgeleiteten Ontogenesetyp, der also im Augenblick der Trennung beider Populationen schon fertig entwickelt gewesen sein muss. Wenn wir uns die Details der Embryonalentwicklung beider Arten anschauen, stellen wir fest, dass die Zellen bereits im 16-Zell-Stadium (also nur vier Zellteilungen nach der Befruchtung des Eis) völlig unterschiedlich angeordnet sind (Abb. 4.33).
4.17 Ist die frühe Ontogenese konservativ oder instabil?
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4.33 Die Entwicklung von zwei verwandten und im Erwachsenenstadium ähnlichen Seeigelarten der Gattung Heliocidaris verläuft sehr unterschiedlich. (Skelettzellen = skelettbildende Zellen)
Spezielle embryonale Zellen, Mikromeren, aus denen bei primitiven Seeigeln das Skelett und die Körperhöhle (Coelom) entstehen, existieren bei H. erythrogramma gar nicht als selbstständiger Zelltyp. Ihre Funktionen wurden von Zellen übernommen, die u. a. auch den künftigen Darm ausbilden. Alles ist also von Anfang an ganz anders, selbst wenn wir noch nicht wissen, wie groß die genetischen Änderungen sind, die diesen unterschiedlichen Entwicklungswegen zugrunde liegen. Und nicht genug damit: Wenn ein Ei der Art H. erythrogramma künstlich mit einem Spermium von H. tuberculata befruchtet wird, bildet der Hybride wieder einen anderen Larventyp, der in vielerlei Hinsicht
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Verschiedene Stadien der Ontogenese können eine „eigene“ Evolution durchlaufen. Es ist möglich, in die frühe Embryonalentwicklung experimentell einzugreifen.
Das phylotypische Stadium stellt einen engen Flaschenhals für die sonst flexible Ontogenese dar.
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eine Übergangsform zwischen der Pluteuslarve des Vaters (der er insgesamt ähnlicher ist) und dem sackartigen Stadium der Mutter darstellt. In anderen Aspekten weist der neue Larventyp aber auch ganz eigenständige Merkmale auf; aber der neue Ontogeneseablauf funktioniert und führt wieder zu einem normalen Seeigel. Es ist also nicht so, dass die Ontogenese bei verwandten Arten völlig gleich abläuft bzw. sich nur im Timing einzelner Ereignisse und der Wachstumsrate unterscheidet, wie es diejenigen annehmen, die dem Anteil der Heterochronien an der Evolution der Organismen eine große Rolle zuschreiben. Zumindest sieht es so aus, dass verschiedene Stadien der Ontogenese eine „eigene“ Evolution durchlaufen und daher in einem sehr unterschiedlichen Maße diversifiziert sind. Diese Feststellung ist eigentlich wieder nicht so überraschend, wenn wir uns daran erinnern, was die experimentelle Embryologie zeigt: Bei sehr vielen Organismen kann man in die frühe Embryonalentwicklung eingreifen und z. B. einige Zellen eliminieren, ohne dass es dadurch zu einer wesentlichen Beeinflussung des Ergebnisses käme. Die übriggebliebenen Zellen übernehmen die Funktion ihrer ausgelöschten Schwestern und Cousinen und komplettieren den Organismus. Man sieht es am Schicksal der Embryonalzellen, die das Skelett des Seeigels bauen. Während der normalen Seeigel-Entwicklung über die Pluteuslarve haben spezialisierte Mikromeren die Aufgabe des Skelettaufbaus. Wenn wir diese künstlich entfernen, wird ihre Rolle von anderen Embryonalzellen übernommen, die unter normalen Umständen hauptsächlich den Darm bauen würden. Es ist also kein Wunder, dass ab und zu etwas Ähnliches in der Evolution passiert. Auch der Seeigel H. erythrogramma produziert sein Skelett aus Zellen, die normalerweise den Darm bilden, weil er keine Mikromeren hat. Die große Veränderlichkeit der frühen Ontogenesestadien einiger Organismen können wir also als adaptive Reaktion ansehen. Es ist nämlich eine Anpassung an nichtoptimale Umweltbedingungen, unter denen die Ontogenese verläuft. Je genauer die Ontogenese vorprogrammiert ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine geringe Störung fatale Folgen haben wird. Wir sollten uns daher nicht über die Flexibilität einiger Phasen der Ontogenese bei einigen Tieren wundern, sondern im Gegenteil über die extreme Konservierung anderer Stadien oder über die Tatsache, dass z. B. einige Fadenwürmer ihre Ontogenese strikt determiniert haben, einschließlich der exakten Zellzahl im erwachsenen Tier, ohne Möglichkeit einer Regeneration. Phylotypische Stadien (obwohl sie wahrscheinlich nicht so konservativ sind, wie oft behauptet wird) bedürfen eigentlich der Erklärung, warum sie bei unterschiedlichen Arten so ähnlich sind. Eine der Hypothesen besagt, dass sich gerade in den phylotypischen Stadien die Hox-Gene am deutlichsten äußern, deren fest untereinander verbundene Cluster mit strikter gegenseitiger Regulation keine Diversität ermöglichen. Das phylotypische Stadium können wir demnach als engen Flaschenhals für die sonst flexible Ontogenese ansehen. Dies wäre ein Flaschenhals, in dem die wichtigsten morphogenetischen Prozesse schnell, kontrolliert und vorhersagbar ablaufen.
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4.18 „Nichtreduzierbare Komplexität“
4.18 „Nichtreduzierbare Komplexität“ Bis jetzt haben wir immer wieder gezeigt, dass es eigentlich keine „großen Änderungen“ in der Evolution gibt, da jede der scheinbar großen Veränderungen aus einer Verkettung kleinerer Änderungen entsteht, die oft nicht synchron verlaufen (es erscheint uns nur so, weil wir die ausgestorbenen „Übergangsglieder“ nicht kennen). Die wichtigsten Argumente für diese Feststellung ergaben sich stets aus der Phylogenese und aus dem Wissen darum, wie verschiedene Organismen genetisch und embryologisch aufgebaut und gesteuert werden. Ohne den vergleichenden Ansatz kann man in der Regel kaum eine sinnvolle Aussage treffen. Um z. B. zu erfahren, wie die wesentlichen Innovationen bei den Wirbeltieren entstanden sind, müssen wir die Gene, den Bau der Gewebe und die Ontogenese der Lanzettfischchen oder Schleimaale kennen. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Sehr viele experimentelle oder labortechnische Disziplinen der Biologie sind auf eine kleine Zahl von Modellarten beschränkt, wie Laborratte, Huhn, Krallenfrosch (Xenopus laevis), Zebrafisch (Brachydanio rerio), Taufliege (Drosophila), Fadenwurm (Caenorhabditis), Bäckerhefe, Mais, Acker-Schmalwand (Arabidopsis) und einige Bakterienarten. Bei solchen Forschungen arbeitet man üblicherweise mit isolierten, phylogenetisch entfernten (bzw. auch stark abgeleiteten) Organismen. Da verwundert es nicht, wenn jemand behauptet, sich die graduellen Schritte „nicht vorstellen zu können“, durch die derart verschiedene Eigenschaften von Organismen entstanden sind. Zum Befürworter des Denkansatzes, der die Existenz von „Übergangsgliedern“ ablehnt, wurde Michael Behe, ein amerikanischer Biochemiker, der sich mit Proteinen beschäftigt. In seinem Buch Darwin’s Black Box: the biochemical challenge to evolution (dt. Darwins Black Box. Biochemische Einwände gegen die Evolutionstheorie) führt er den Begriff „nichtreduzierbare Komplexität“ ein. Ein nichtreduzierbarer Komplex ist nach seiner Auffassung eine komplizierte Struktur, deren Bausteine derart unabdingbar für die Funktion des Ganzen sind, dass jedwede Änderung, geschweige denn ein Verlust, alles Übrige völlig funktionsunfähig macht. Behe behauptet, dass wir gerade dieses Phänomen praktisch überall in den Zellen und in deren Beziehungen untereinander sehen, und dass die Proteinmaschinerie der Zelle zu kompliziert und zu perfekt abgestimmt sei, um durch eine graduelle Evolution entstanden sein zu können. Wenn die komplizierten Komplexe durch graduelle Evolution ihrer Bestandteile und anschließendes Zusammenfügung dieser Teile hätten entstehen sollen, dann wäre es in der Tat schwierig, sich einen solchen Prozess vorzustellen. Solange die Teile nicht vollkommen sind, können sie nämlich keinen Komplex ausbilden, aber gleichzeitig können sie sich auch nicht schrittweise vervollkommnen, weil sie nicht „wissen“, dass sie einmal einen Komplex bilden werden. Das gilt allerdings nur dann, wenn „jemand“ die Absicht hat, so einen Komplex herzustellen. Dieser Jemand wird gewöhnlich als „intelligenter Designer“ bezeichnet. Als Beispiele
Scheinbar große Veränderungen in der Evolution resultieren aus vielen kleineren Änderungen, die oft nicht synchron verlaufen.
Die Kenntnis der Phylogenese, der Ontogenese und der genetischen Steuerung ist wesentlich, um die Evolution von Merkmalen zu rekonstruieren. Es wird nur eine kleine Zahl von Modellarten experimentell erforscht.
Für die Befürworter des Konzepts der „nichtreduzierbaren Komplexität“ ist die graduelle Evolution einiger umfassender und komplizierter Strukturen unvorstellbar.
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4 Evolutionäre Neuheiten
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Vom Kreationismus zum philosophischen materialistischen Evolutionismus (und zurück) Mit der wachsenden Erkenntnis der Menschen haben sich im Lauf der Zeit auch die Weltanschauungen, u. a. die Vorstellungen über die Entstehung und die Geschichte der Erde und des Lebens, weiterentwickelt (um nicht zu sagen evolviert). Das heißt, man kann unterschiedliche Entwicklungsphasen der Weltanschauung feststellen, und auch wenn wir über manche Vorstellungen heute nur noch lachen oder staunen, wurden sie zu früheren Zeiten völlig ernst genommen. Das ist eigentlich nichts Besonderes – bemerkenswert ist nur, dass manche dieser Vorstellungen bis heute überlebt haben bzw. wieder neu zum Leben erweckt werden. Je nach Standpunkt können wir auch in der Gesellschaft vom „Lazarus-Effekt“ bzw. von „lebenden Fossilien“ sprechen ( Box 6.7). Interessant ist, wie viele es von ihnen um uns herum gibt. Die älteste Form der Weltanschauung ist der Kreationismus, die Vorstellung, dass die Erde und das Leben in seiner jetzigen Form in einem schöpferischen Akt eines übernatürlichen Wesens namens „Gott“ entstanden sind. Es gibt viele Formen des Kreationismus: angefangen von den primitiven Vorstellungen der (ignorierenden) Ignoranten, also „Personen, die nichts wissen“ (bzw. auch „absichtlich Wissen übersehen“), die noch an die um die Erde kreisende Sonne oder sogar an eine „Scheibenwelt“* glauben, über die „Junge-Erde-Kreationisten“, die das biblische Alter der Erde von 6000 Jahren ernst nehmen, bis hin zu Weltanschauungen, die der Realität etwas näher stehen und sich als „wissenschaftliche Kreationisten“ bezeichnen. Ihre „Wissenschaft“ beruht auf Überlegungen, wie man das in der Natur Beobachtete mit der Idee der Schöpfung in Einklang bringen könnte, was keine schwierige Aufgabe ist, denn mit der Existenz Gottes lässt sich alles erklären. Außerdem üben sie ständig Kritik an den Naturwissenschaften. Diese Kritik zeichnet sich durch Unwissen bzw. beschränktes Wissen und unverstandene Sachverhalte aus, mündet in unlogischen Schlussfolgerungen und absichtlichem oder unabsichtlichem Verdrehen der Fakten. Die einflussreichste Form des gegenwärtigen Kreationismus beruht auf der Idee, dass die Welt das Werk eines (weiter nicht spezifizierten) intelligenten Designers ist. In der bekanntesten * Hiermit meinen wir natürlich nicht Terry Pratchett und die Anhänger seiner Kultromane.
Überlegung dieser Art hat der britische Theologe William Samuel Paley 1802 die Komplexität und Kompliziertheit des mechanischen Uhrwerks mit der Vollkommenheit des menschlichen Auges verglichen. (Die Begeisterung für die Vollkommenheit des menschlichen Auges hat sich seit der Zeit von Johannes Kepler, 1571–1630, ungebrochen bis heute erhalten.) So etwas Wunderbares kann doch, nach Überzeugung der Vertreter dieser Auffassung, nicht zufällig entstehen! Auch wenn wir Millionen von Jahren lang eine Dose mit Uhrenkomponenten schütteln würden, so behaupten sie, entstünde kein funktionierendes Uhrwerk. Dieses berühmte Beispiel zeugt nur davon, dass diese Leute die Prinzipien der natürlichen Selektion nicht verstanden haben. Sie haben nicht einmal bemerkt, dass auch die Uhr als solche eine durch „Variation und künstliche Selektion“ von begnadeten Handwerkern und Feinmechanikern betriebene Evolution und Phylogenese durchläuft – also nicht nur eine „Ontogenese“ nach einem gegebenen Plan verfolgt, die sie als Einziges vor ihrem geistigen Auge haben. Sie ziehen nicht in Betracht, dass die lebende Materie andere Eigenschaften und damit auch andere Evolutionsmöglichkeiten hat als die unbelebte Materie. Schließlich besitzen auch Organismen eine „innere Uhr“ (beim Menschen lokalisiert im suprachiasmatischen Nucleus im Gehirn), die aber nach einem nichtmechanischen Prinzip arbeitet und in der man, morphologisch betrachtet, bestimmt kein Uhrwerk erkennen würde. Und schließlich ist das Auge, wie wir im Abschnitt 4.11 gezeigt haben, keineswegs so vollkommen, wie man es von einem gottähnlichen intelligenten Designer erwarten würde, und es kann tatsächlich durch die natürliche Selektion entstehen. Als Vater der Intelligent-Design-Bewegung gilt der US-amerikanische Jurist, Phillip E. Johnson (geb. 1940). Zu den bedeutenden Vertretern gehört auch Michael J. Behe, ein US-amerikanischer Biochemiker. Fortgeschrittenere Formen des Kreationismus (progressiver K., evolutionistischer K.) sind in ihrer Argumentation ziemlich biegsam und nehmen die Angaben in der Bibel nur als Metapher, sodass z. B. die biblischen Tage nicht unsere Tage, sondern Äonen von Millionen oder Milliarden Jahren darstellen. Adam sei zwar nicht das erste menschliche Wesen gewesen, aber der erste Mensch mit Bewusstsein etc.
4.18 „Nichtreduzierbare Komplexität“
Wichtig ist anzumerken, dass sich die Auffassungen der evangelischen und der katholischen Kirche deutlich von den Positionen des Kreationismus unterscheiden. Die Kirche vertritt die historischkritische Methode bei der Auslegung der Bibel, während der Kreationismus sie wörtlich interpretiert. Nach Auffassung der katholischen Lehre übersteigt der Glaube die Naturwissenschaft, kann ihr jedoch nicht widersprechen, da beide auf Gott zurückgehen. Schon 1980 erklärte Papst Johannes Paul II., dass es keinen Widerspruch zwischen Naturwissenschaft und Glauben gebe. 1996 schrieb er in seiner Botschaft an die Päpstliche Akademie der Wissenschaft, die Evolution sei nicht mehr nur als reine Hypothese zu betrachten, und bekräftigte weiter, dass Evolutionstheorie und Glauben sich nicht ausschließen, nicht einmal hinsichtlich der Evolution des Menschen. Die Auffassung der katholischen und der evangelischen Kirche kommt somit dem Konzept des theistischen Evolutionismus am nächsten. Nach diesem Konzept schöpft Gott mittels Evolution. Damit kann diese Form des Kreationismus problemlos alle Erkenntnisse der modernen Wissenschaft akzeptieren. Einer der bedeutendsten und einflussreichsten Vertreter des theistischen Evolutionismus war der berühmte französische Philosoph, Paläontologe, Theologe, Evolutionsbiologe, Anthropologe und Jesuit Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955). Eine radikalere Form des theistischen Evolutionismus ist der methodologische materialistische
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Evolutionismus, der Gott aus seinen Überlegungen nicht ganz ausschließt, allerdings behauptet, dass er zwar möglicherweise die Evolution gestartet hat, aber nicht weiter eingreift. Diese Auffassung erklärt die natürliche Welt mit natürlichen Ursachen und äußert sich nicht zur übernatürlichen Welt – die Auffassung strebt weder danach, die Existenz des Übernatürlichen oder seiner Rolle im Leben zu bestätigen noch zu widerlegen. Dies ist allerdings nicht als Alibismus zu verstehen. Diese Haltung beruht auf der strikt definierten Aufgabe der Wissenschaft, die keine Mittel und auch keine Ambitionen hat, sich mit übernatürlichen Kräften zu beschäftigen; ihre Haltung zum Glauben ist neutral. Die Wissenschaft ist weder pro- noch antireligiös. Dies war die Auffassung von Agnostikern wie Immanuel Kant (1724–1804), Charles Darwin ( S. 10),Thomas H. Huxley ( S. 14) oder Stephen Jay Gould ( S. 35). Am Ende des erdachten kreationistisch-evolutionististischen Kontinuums steht der philosophische materialistische Evolutionismus, eine rein materialistische und atheistische Auffassung, in der es für Gott keinen Platz gibt. Seine grundlegende Prämisse ist, dass es das Übernatürliche nicht gibt. Die führenden Vertreter dieser Gedankenrichtung sind Richard Dawkins ( S. 37), der US-amerikanische Philosoph Daniel Clement Dennett (geb. 1942) und der britische Astrophysiker und Kosmologe Stephen William Hawking (geb. 1942).
für nichtreduzierbare komplexe Systeme führt Behe bakterielle Geißeln, intrazelluläre Transportsysteme, die komplizierte Kaskade der Blutgerinnung oder einige Aspekte des Immunsystems der Wirbeltiere an. Behe kommt schließlich auf William Paley zurück, einen englischen Theologen aus dem 19. Jahrhundert, der das Argument einführte, dass komplizierte Strukturen die Beteiligung eines intelligenten Konstrukteurs direkt voraussetzen. Dort, wo Paley einen Uhrmacher als unabdingbare Erklärung für die auf der Straße gefundene Uhr angibt, transferiert Behe diese Denkweise auf die biochemische Ebene. Behe sagt zwar nicht klar, wen er sich hinter der Aktivität des „intelligenten Designers“ vorstellt ( Box 4.19), ob Gott oder einen Außerirdischen, aber dem Darwinismus wirft er vor, nicht in der Lage zu sein, den Verlauf von bedeutenden Evolutionsänderungen genau zu erläutern und sich stattdessen nur Geschichten auszudenken. In gewissem Maß hat er recht. (Eventuelle Antievolutionisten mögen bitte weiterlesen.) Kein Evolutionsereignis können wir ganz genau „erklären“, weil alle Evolutionsereignisse einzigartig sind, und einfach schon stattgefunden haben. Deswegen haben unsere Evolutionserklärungen stets ein wenig den Charakter von „Geschichten“. Und dennoch sind es Geschichten, die auf testbaren Hypothesen
Der englische Theologe William Paley argumentierte, dass komplizierte Strukturen (wie z. B. eine Uhr) die Beteiligung eines intelligenten Konstrukteurs voraussetzen.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Mit der Existenz Gottes könnten wir absolut alles erklären. Michael Behe ignoriert die genetische Ebene der Evolution. Einer seiner „Beweise“ ist die Komplexität der Bakteriengeißel, deren Funktion von einem komplizierten Zusammenspiel einiger Dutzend Proteine abhängt. Es gibt Bakterien, denen einige der „Geißelproteine“ fehlen, und dennoch können sich ihre Geißeln bewegen.
Zusammengesetzte Strukturen entstehen nicht durch allmähliche Ansammlung von Einzelteilen.
beruhen, die wiederum von bekannten Fakten ausgehen. Im Gegensatz dazu kann das von keiner Erklärung gesagt werden, die sich auf einen intelligenten Designer beruft. Von der Existenz Außerirdischer wissen wir nichts und können sie deshalb nicht für eine vernünftige Erklärung, wovon auch immer, anführen, und mit der Existenz Gottes könnten wir absolut alles erklären, sodass es sinnlos wäre, sich weitere Gedanken zu machen. Leider beschäftigt sich Behe fast gar nicht mit den Genen, die Proteininformationen tragen, und auch nicht mit ihrer Zugehörigkeit zu Genfamilien; er berücksichtigt weder die orthologen Gene noch fragt er, ob sie zufälligerweise nicht (auch) etwas anderes machen. Wenn wir uns auf einen seiner Beweise der nichtreduzierbaren komplexen Systeme fokussieren, nämlich die bakterielle Geißel, entdecken wir wirklich ein kompliziertes Zusammenspiel von einigen Dutzend Proteinen, ohne deren präzise Zusammenarbeit die Geißel nicht funktionieren würde. Nähmen wir aber an, dass jedes Element dieses Komplexes wirklich für die Funktion unabdingbar ist, müssen wir auch eine absolute Uniformität im Bau der bakteriellen Geißeln erwarten. Wenn ein Bakterium ohne einige seiner „Geißel-Proteine“ existieren kann und sich seine Geißel dennoch bewegt, ist es ein direkter Beweis, dass es sich um eine „reduzierbare“ Struktur handelt. Und so ist es auch. Schon die Struktur des Basalkörperchens, über das die Geißel in der Zelloberfläche verankert ist, hängt von der Struktur der Zellwand ab; einige Bakterien, wie z. B. das berühmte Darmbakterium Escherichia coli, haben an der Basis ihrer Geißel vier Ringe, aber Bacillus hat zwei und Caulobacter fünf. Ähnlich ist es mit der Anzahl der angeblich unabdingbaren Proteine der Geißel – Escherichia braucht 40 Proteine, aber Treponema, Verursacher von Syphilis, nur 38, Borrelia, Verursacher der Lyme-Krankheit, hat nur 35 davon, und Helicobacter, Verursacher von Magengeschwüren, kommt mit 33 Geißelproteinen aus. Und natürlich kennen wir auch einige Bakterienmutanten, bei denen die Funktion irgendeines der „unabdingbaren“ Proteine ausgeschaltet ist; manchmal bewegen sie sich schlechter als ursprünglich nichtmutierte Stämme, aber sie haben immer noch einen Vorteil gegenüber den unbeweglichen Bakterien, wenn sie sich in einem Konzentrationsgradienten in Richtung der höheren Konzentration eines notwendigen Nährstoffs bewegen sollen. Es ist also schwer zu glauben, dass die Geißel von Escherichia wirklich eine nichtreduzierbare Struktur darstellt – und ebenso, dass 33 Proteine wirklich das Minimum darstellen und wir niemals ein noch sparsamer ausgestattetes Bakterium entdecken werden. Dennoch ist, wie wir bereits erwähnt haben, die Frage nach der Entstehung von komplizierten Strukturen durch eine graduelle Evolution ihrer Bestandteile nicht trivial, und wir müssen noch zu ihr zurückkehren. In Wirklichkeit glauben wir nicht, dass zusammengesetzte Strukturen durch allmähliche Ansammlung entstehen würden. Wir können uns mehrere alternative Szenarien vorstellen. Betrachten wir im Folgenden etwas von Menschenhand Geschaffenes, von dem wir also ausgehen können, dass wir dessen „Erschaffung“ nachvollziehen können: einen Bogen, der aus zwei zueinander geneigten Steinsäulen besteht (Abb. 4.34). Diese stützen sich am höchsten Punkt des Bogens auf einen Stein, den sogenannten Schlussstein. Der Schlussstein ist ein unentbehrlicher Bestandteil des Bogens, ohne ihn würde er herabstürzen. Allerdings befindet sich der
4.18 „Nichtreduzierbare Komplexität“
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4.34 Die Steine im Rundbogen sind schräg abgekantet, sodass die durch die Fugen verlaufenden Geraden in einem Punkt zusammenkommen und die Steine sich so gegenseitig stützen. Die Kräfte im Bogen sind optimal verteilt und kompensieren sich gegenseitig. Die Steine werden beim Bau auf ein hölzernes Lehrgerüst gemauert. Nachdem der oberste Bogenschlussstein gesetzt ist, und der Bogen (oder das Gewölbe) die nötige Festigkeit erreicht, wird das Lehrgerüst schrittweise abgesenkt und entfernt. Der Bogen trägt sich nun durch seine Form selbst. (Nach diversen Quellen)
Schlussstein weit oberhalb des Bodens und wird nur dadurch gehalten, dass ihn andere Steine des Bogens stützen. Daraus könnte man schließen, dass der Bogen nur dann zustande kommt, wenn seine drei Bestandteile (linke Säule, Schlussstein und rechte Säule) gleichzeitig gebildet werden und von Anfang an zeitlich und räumlich funktionell miteinander verbunden sind. Ein solcher Bogen wäre von nichtreduzierbarer Komplexität, denn er konnte nicht graduell aus einzelnen Steinen entstehen, sondern nur durch einen einmaligen Akt, also durch ein Wunder. Es scheint hier so, als ob wir an die Grenzen dieser Analogie stießen: Denn der Bogen wird von Menschen gebaut, und Behe sagt nichts weiter, als dass die Organismen auch von „jemandem“ gebaut werden. Aber wir können unsere Schlusssteinanalogie fortsetzen. In Wirklichkeit baut der Mensch die Bögen nicht in einem einzigen Schritt, was wirklich ein Wunder wäre, sondern eben doch schrittweise, indem er sich nämlich ein Gerüst zuhilfe nimmt, das er nach Beendigung der Arbeit wieder abbaut. Die Frage lautet also, ob die Evolutionsinnovationen der Organismen nicht vielleicht auch mithilfe irgendeines „Gerüstes“ entstehen. Selbstverständlich entstehen sie so. Nehmen wir als Beispiel den Übergang vom Reptilien-Kiefergelenk zum Säugetier-Kiefergelenk ( Box 4.20, Abb. 4.35). Dieser Übergang ist nur schwer vorstellbar, denn die beiden Gelenktypen bestehen aus ganz unterschiedlichen Knochen. Die Paläontologie hat jedoch anhand von Funden von Triasund Jura-Tieren gezeigt, dass Vertreter der „Säugetierlinie“ der Landwirbeltiere beide Kiefergelenke in unterschiedlichem Maße entwickelt hatten, sozusagen ein „Reptilien-“ und ein „Säugergelenk“ gleichzeitig. In der weiteren Phase konnte dann die funktionelle Redundanz eines der Gelenke abgeschwächt bzw. unterdrückt werden, sodass es für die Übernahme einer anderen Funktion frei wurde (nämlich für die Gehörfunktion, denn das Gelenk zwischen den Gehörknöchelchen Hammer und Amboss wird für ein modifiziertes ReptilienKiefergelenk gehalten). Es konnte also ein Prozess starten, der dem der Duplikation und Vervielfältigung der Gene ganz analog ist. Nebenbei bemerkt, wäre auch die graduelle Veränderung des ursprünglichen Kiefergelenks in das Gelenk zwischen den Mittelohrknöchelchen, die die Schallvibrationen vom Trommelfell in das innere Ohr übertragen, wo sich die eigentlichen Hörzellen befinden, kaum vorstellbar, wenn die Organismen nicht redundant „arbeiteten“ und sie nicht gleichzeitig zwei unabhängige Gelenke besäßen. So können wir insgesamt ein widerspruchsfreies Szenario einer solchen Änderung skizzieren, ohne Generationen von phantastischen „Übergangsgliedern“ voraussetzen zu müssen, die weder hören noch fressen konnten.
Evolutionsneuheiten der Organismen können auch „mithilfe eines Gerüsts“ entstehen (wie z. B. der Übergang vom Reptilien-Kiefergelenk zum Säugetier-Kiefergelenk).
Das Reptilien-Kiefergelenk wurde im Lauf der Evolution zum HammerAmboss-Gelenk umgewandelt, und die Säugetiere entwickelten ein sekundäres Kiefergelenk. Es gibt fossile Vertreter der Säugetierlinie, die beide Gelenke gleichzeitig besaßen.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Die ursprüngliche Funktion einer alten Struktur kann schrittweise verbessert werden, indem den vorhandenen Elementen weitere hinzugefügt werden (wie z. B. bei der Jagdmethode der Bolaspinne).
In anderen Fällen kann es sich wiederum um die schrittweise Verbesserung der ursprünglichen Funktion einer alten Struktur handeln, indem zu den vorhandenen Elementen weitere zugefügt werden. Sie sind nicht unentbehrlich, sie helfen nur und daher handelt es sich nicht um „nichtreduzierbare Komplexität“, solange keine sekundäre Reduktion eines der ursprünglichen Elemente stattfindet, die aus den übriggebliebenen Elementen einen nichtreduzierbaren Komplex macht. So spinnt z. B. die nordamerikanische Bolaspinne (Mastophora) aus der Familie der Kreuzspinnen einen einzigen Faden, an dessen Ende ein
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Kiefergelenke, Gehörknöchelchen und Reichert-Gaupp-Theorie Säugetiere werden u. a. durch die beiden folgenden Merkmale charakterisiert: das sekundäre Kiefergelenk und drei Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss und Steigbügel). Andere Landwirbeltiere besitzen das primäre Kiefergelenk und ein Gehörknöchelchen, Columella, das mit dem Steigbügel homologisiert wird. Im primären Kiefergelenk sind die Knochen, die anatomisch als Quadratum (auf der Schädelseite) und Articulare (ein hinterer Bestandteil des Unterkiefers) bezeichnet werden, gelenkig verbunden. Säugetiere haben das primäre Kiefergelenk (Quadratum-Articulare-Gelenk) aufgegeben und durch ein sekundäres Kiefergelenk (Squamosum-Dentale-Gelenk) ersetzt (Abb. 4.35). So verfügte z. B. bereits Diarthrognathus (ein „reptilähnliches Säugetier“ aus dem frühen Jura, vor ca. 200 Millionen Jahren) über ein primäres und ein sekundäres Kiefergelenk. Diese Gelenke lagen seitlich nebeneinander, nicht hintereinander, und bildeten damit ein normales funktionierendes Kiefergelenk. Allmählich reduzierte sich das innere Quadratum-Articulare-Gelenk, löste sich vom Schädel und vom Unterkiefer ab, wurde zum zweiten und dritten Gehörknöchelchen (Hammer und Amboss), die weiterhin gelenkig miteinander verbunden sind, und verlagerten sich ins Mittelohr. Beim Säugetierembryo wird der Hammer aus dem sogenannten Mandibularbogen gebildet, also aus derselben Anlage, aus der bei Reptilien (einschließlich Vögeln) das Articulare entsteht. Der Amboss entsteht wiederum aus den Anlagen, aus denen bei anderen Landwirbeltieren das Quadratum gebildet wird. Aufgrund dieser Übereinstimmungen hat der deutsche Anatom, Karl B. Reichert (1811–1883) schon 1836 in seiner Doktorarbeit die Hypothese aufgestellt, dass Hammer und Amboss homologe Strukturen zu Articulare und Quadratum seien. Später (1899, 1913) bestätigte der deutsche Anatom Ernst Gaupp (1865–1916) diese Schlussfolgerungen. Heute ist diese Interpretation als
Reichert-Gaupp-Theorie bekannt und anerkannt, auch wenn mit Vertiefung der Kenntnisse über die Anatomie der frühen Säugetiere (Cynodontia) und der frühen embryonalen Stadien der Säugetiere festgestellt wurde, dass die Situation etwas komplizierter ist, da die einzelnen Knöchelchen aus mehreren unterschiedlichen Anlagen entstehen. Man weiß noch nicht, wie die beiden Knöchelchen ins Mittelohr verlagert werden, wie es zur Verbindung zwischen Amboss und Stapes kommt, und es gibt Vermutungen, die die Homologie zwischen Amboss und Quadratum infrage stellen.
4.35 Primäres (oben) und sekundäres (unten) Kiefergelenk. AN = Angulare, AR = Articulare, CO = Columella, DE = Dentale, IN = Incus (Amboss), MA = Malleus (Hammer), OK = Ohrkapsel, QJ = Quadratojugale, SA = Supraangulare, SQ = Squamosum, ST = Stapes (Steigbügel). (Nach Feldhamer et al. 1999)
4.18 „Nichtreduzierbare Komplexität“
Klebstofftropfen hängt und gleichzeitig produziert sie ein Pheromon, mit dem sie ihre Beute (Eulenfalter) anlockt. Ein Männchen fliegt heran, berührt den Klebstofftropfen und wird gefangen. Man könnte denken, dass dieses System bestimmt ein nichtreduzierbarer Komplex ist. Ohne das Pheromon käme kein Schmetterling und damit würde auch kein einziger Tropfen verwendet, ohne Klebstoff könnte die Spinne keine Beute fangen und ohne Faden würde sich die Spinne mit ihrem Klebstoff nur selbst immobilisieren. Trotzdem kann man sich leicht vorstellen, wie so ein System entstanden ist, weil wir wissen, dass die Bolaspinne eine Kreuzspinne ist, und damit ein Vertreter der Spinnen, die klebrige Radnetze bauen. Fügen wir ein Pheromon hinzu, das anfänglich sehr unvollkommen ist – einen Stoff, den die Spinnen zu irgendetwas nutzen und auf den die Falter zufälligerweise reagieren. Im Prinzip kann jede Chemikalie, die evaporiert und hinreichend weit getragen wird, zu einem Pheromon werden, also einem Stoff mit symbolischer Bedeutung, der allein deshalb Träger einer Information wird, weil jemand beginnt sie so zu lesen. Blumen duften und ziehen Insekten an – aber auch Gammelfleisch „duftet“ und lockt Insekten, und zumindest das Gammelfleisch macht es nicht „absichtlich“. In das Kommunikationssystem einer anderen Art einzudringen, ist durchaus möglich, und wenn man es schafft, kann man durch allmähliches Präzisieren der symbolischen Bedeutung der produzierten Chemikalie mittels der fremden Kommunikation erfolgreich parasitieren. Das ganze System wird so im Laufe der Zeit perfektioniert. Diejenigen Spinnen, deren „Pheromon“ dem Schmetterlingspheromon sehr ähnelt, haben gegenüber anderen Spinnen sicherlich einen Vorteil. Das Spinnennetz funktioniert jedoch auch ohne Pheromonanlockung, denn auch die Spinnen ohne oder mit einem minderwertigen Pheromon überleben, und die Selektion hat viel Zeit. In dem Augenblick, in dem das Pheromon ausreichend wirksam ist, lohnt es sich nicht mehr, die Seide für den Bau eines großen Netzes herzustellen, denn die Beute kommt selbst zur Spinne. Je sparsamer das Spinnennetz ausgeführt wird, desto wichtiger ist das Pheromon. Das, was am Anfang eine Luxusverbesserung war, wird zur Notwendigkeit. So ist ein nichtreduzierbares komplexes System entstanden, aber nicht durch das Zusammenfügen von ursprünglich unabhängigen Bestandteilen. Kurz und gut: Es existieren sicherlich viele sehr komplizierte Systeme, manche sogar „nichtreduzierbar komplex“, und bestimmt konnten sie nicht durch die Verbindung von ursprünglich unabhängigen Einheiten entstehen, sondern im Normalfall durch die Reduktion von Systemen, die ursprünglich noch komplizierter, gleichzeitig aber auch unabhängiger waren. Beispielsweise entstanden Hammer und Amboss nicht als selbstständige Strukturen im Vakuum, sondern sie fingen in dem Moment an zusammenzuarbeiten, wo sie fertig waren und im Mittelohr aufeinandertrafen. Merkwürdigerweise denkt Michael Behe, dass der Darwinismus die Entstehung komplexer Systeme durch natürliche Auslese, die auf alle Komponenten gleichzeitig und unabhängig wirkt, für die einzige mögliche Art der Evolution hält, und aus der offenkundigen Absurdität dieser Vorstellung leitet er dann die Existenz eines intelligenten Designers ab.
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Manche „nichtreduzierbaren Komplexe“ entstanden dadurch, dass sich ursprünglich noch kompliziertere, aber unabhängige Systeme reduzierten.
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4 Evolutionäre Neuheiten
| 4.21 |
Voltaire und sein Schneider oder Kreationismus in der Schule? Hinter den verschiedenen Streitereien um Kreationismus versus Darwinismus hören wir die Frage, mit der eigentlich alles anfing, nämlich die Frage des „Affenprozesses“*: Was sollen die Kinder in der Schule lernen – Darwin, Bibel, beides, oder nichts? Eigentlich sollte dies ein Problem für die Bildungspolitiker, nicht für die Biologen sein – doch können wir uns auf sie verlassen? Warum gibt es für die Kinder Schulpflicht, warum finanzieren der Staat und die Familie dieses System? Damit die neue Generation mit den herrschenden und überwiegenden Verhaltensmustern konform geht und loyal gegenüber der Obrigkeit ist, sich an die Gesetze hält und Steuern zahlt, und nicht zuletzt soll sie lernen zu arbeiten. Wir müssen zugeben, dass wir nicht wissen, ob eher der Darwinismus oder der Kreationismus die Jugendlichen in diese Richtung beeinflusst. Es gibt Staaten, wo an den Schulen Darwin und andere, wo die Heilige Schrift, und wieder andere, wo beides gelehrt wird. Wo gibt es mehr Kriminalität und Steuerhinterziehung? Das ist die eigentliche Frage, um die es den Kreationisten geht – die Antwort meinen sie bereits zu kennen. Der Kampf der Kreationisten (wie aller Fundamentalisten und religiösen Sektierer) gegen Aufklärung und Rationalismus ist im wahren Kern ein Kampf gegen eine als unmoralisch gewertete Moderne. Beliebt ist das Argument vieler Kreationisten, der Darwinismus habe Hitler und Stalin hervorgebracht. Abgesehen von der vollkommenen Absurdität ist dieses Argument schlichtweg falsch (sollte man nicht einmal auswerten, wie viel Unterdrückung und Unheil in der Menschheitsgeschichte „Im Namen Gottes“ geschehen ist?). Darüber hinaus zeigt dieses Argument was eigentlich hinter diesem Streit steckt – es geht um politisch-ideologische Ziele, nicht um die Suche nach der Wahrheit. Die Schule können wir entweder als eine Institution betrachten, die so einen Menschentyp konserviert, der in die gegebene Gesellschaft passt, oder aber als eine Institution, die durch egoistische Meme gebildet wurde, damit sie sich verbreiten könnten. Aus pädagogischer Sicht betrachtet, bedeutet der Kreationismus ein ständiges Unterlaufen der Latte: Auf alle Fragen hat er eine fertige * Als „Affenprozess“ ist der Prozess vor einem Gericht in Tennessee, 1925, bekannt, woraufhin verboten wurde, Evolutionstheorie an öffentlichen Schulen zu unterrichten. Weil der Lehrer John Thomas Scopes sich nicht daran hielt, wurde er zu 100 Dollar Bußgeld verurteilt.
Antwort parat. Leider ist es immer die gleiche, die den Kreationismus so wenig inspirativ erscheinen lässt. Da er zudem eine Lösung ohne Bemühungen bietet, verführt er zum Nichtstun. Der „Intelligente Designer“ übernimmt die Rolle eines sofortigen Explanans (das Erklärende) dessen, was wir gerade nicht verstehen. Der Wissenschaft droht dadurch die Versteinerung der Unwissenheit (die Lücke, die wir schon mit Gott ausgefüllt haben, brauchen wir nicht weiter zu untersuchen); die Religion erwartet eine weitere Enttäuschung, wenn wir später erfahren, dass Gott nicht einmal zum Verstopfen dieser Lücken notwendig war. DieTheologen nennen das Prinzip „Gott der Lücken“ und mögen es nicht besonders. Gott lässt sich nicht „wissenschaftlich beweisen“, und es ist auch sinnlos, die Evolution „zu widerlegen“, um für IHN den „wissenschaftlichen“ Raum zu bilden. ER braucht ihn nicht. Theologisch nicht aufgeklärte Leute setzen den Kreationismus mit der Position der Kirche gleich; diejenigen, die biologisch aufgeklärt sind, durchschauen die Naivität und den Dogmatismus der kreationistischen Sichtweisen und wenden sich von der Kirche ab. Die Kirche schadet ihrem eigenen Image dadurch, dass sie die Problematik wenig thematisiert. Für die Verbreitung kreationistischen Gedankenguts ist nicht einzig und allein eine gute Werbung durch die Kreationisten verantwortlich, sondern auch die zu geringe Thematisierung und Problematisierung in Schulen und Gemeinden. Die Lehrpläne müssen überarbeitet werden, damit das Konzept der Evolution von den Schülern früher verinnerlicht und verstanden werden kann. Thematisierung der Problematik im Unterricht, heißt jedoch nicht, Kreationismus in Lehrplänen auf Kosten der Biologie zu verankern. Solange aber Evolutionsbiologie in den Schulen nicht (quantitativ und qualitativ) ausreichend unterrichtet wird, kann der Kreationismus gedeihen. Voltaire sagte angeblich, dass er nicht an den Teufel glaube, aber er begrüße es, wenn sein Schneider an ihn glaubte, denn so wird er ihn nicht betrügen. Wenn wir wissen wollen, was richtig ist, müssen wir die Richtigkeit zunächst irgendwie klar definieren („richtig“ wann? wo? für wen?). Wenn wir wissen wollen, was nützlich ist, müssen wir es irgendwie empirisch messen. Macht das eigentlich jemand? Der Streit um Kreationismus und Evolution ist ideologischer und politischer, nicht wissenschaftlicher Natur. Das sollte jedem klar sein.
4.18 „Nichtreduzierbare Komplexität“
All diese Überlegungen zur Unmöglichkeit der graduellen Evolution zeigen – neben unserer Unkenntnis der realen Diversität vieler Eigenschaften der Organismen – vor allem, dass nach wie vor nicht klar ist, was man sich eigentlich unter „Übergangsgliedern“ vorstellen soll. In keinem Fall handelt es sich nämlich um „arithmetische Mittelwerte“, gebildet über die Eigenschaften der bekannten heute lebenden Organismen. Diese wären nämlich tatsächlich in den meisten Fällen nicht lebensfähig. Alle, die zu „beweisen“ versuchen, dass eine graduelle Entstehung von komplizierten biochemischen Systemen unmöglich ist, tappen in dieselbe Logikfalle, die das folgende Beispiel illustriert. Aus der Tatsache, dass die Bulldogge eine kurze und der Windhund eine lange schmale Schnauze hat, könnte man ableiten, dass der gemeinsame Vorfahre weder eine kurze noch eine lange Schnauze haben konnte, demnach keine Schnauze hatte, somit nicht lebensfähig war und daher auch nicht existierte. Folglich müssen die Bulldogge und der Windhund, jeder einzeln, durch zwei selbstständige Wunder geschaffen worden sein. Eine andere „Interpretationsmöglichkeit“ wäre, dass die lange Schnauze die Fortsetzung der „Evolutionsreihe“ wäre und folglich der Vorfahre der Hunde keine Schnauze hatte. Merkwürdigerweise war der gemeinsame Vorfahre von Bulldogge und Windhund aber etwas ganz anderes, nämlich der Wolf ( Box 3.11). Die Erfahrung lehrt uns, dass es schwierig, wenn nicht gar unnütz ist, sich mit Menschen anderer Weltanschauung zu streiten. Es gibt Menschen, die um sich herum Beweise für die Evolution sehen, andere, die Beweise für die Schöpfung sehen, und wieder andere, die nichts sehen. Entweder sind die Beweise für die Evolution so offensichtlich, dass derjenige, der sie nicht sieht oder nicht erkennt, ein kranker Mensch ist, oder aber wir müssen die Beweisführung aufgeben und akzeptieren, dass die Unterscheidung Evolution / Schöpfung einfach nur auf der Existenz von zwei menschlichen Psychotypen beruht ( Box 4.21). In diesem Teil haben wir uns vor allem mit der Frage beschäftigt, wie Evolutionsneuheiten entstehen, und wir haben versucht zu zeigen, dass ein Organismus einer „perfekt zusammengebauten komplizierten Maschine“ viel weniger ähnelt, als wir üblicherweise annehmen. Außer der eigentlichen graduellen Entstehung der großen Innovationen wird (oftmals berechtigterweise) kritisiert, dass alle diese Änderungen durch den Darwin‘schen Algorithmus vorangetrieben werden sollen. Anders gesagt, es ergibt sich die Frage, ob diese Innovationen adaptiv sind, ob sie durch die Selektion „herausgebildet“ wurden. Manchmal bestimmt, aber manchmal auch nicht. Ob irgendeine Eigenschaft eines Organismus adaptiv ist, ist nämlich gar nicht so einfach zu erkennen.
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„Übergangsglieder“ sind keine Durchschnittswerte, die über die Eigenschaften der bekannten heute lebenden Organismen gebildet werden.
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4 Evolutionäre Neuheiten
Kontroll- und Verständnisfragen 1 Was versteht man unter der „kambrischen Explosion“, und wie wird dieses Phänomen erklärt? 2 Welche Hinweise deuten darauf hin, dass Chordaten eigentlich auf dem Rücken liegende Protostomier darstellen? 3 Welche Innovationen (Apomorphien) erfanden die Wirbeltiere? Welche dieser Merkmale haben ihre embryologische Herkunft in der Neuralleiste? 4 Gibt es Apomorphien des Menschen (also Merkmale, Eigenschaften und Fähigkeiten, die uns vom Schimpansen unterscheiden), deren graduelle Evolution kaum vorstellbar ist? (Und wenn Sie meinen, eine solche Apomorphie identifiziert zu haben, überlegen Sie auch, ob diese in der individuellen Entwicklung graduell oder sprunghaft entsteht.) 5 Einzellige Pilze nennen wir Hefepilze, einzellige Nesseltiere sind Myxozoen, einzellige Hunde bezeichnen wir aber als Hundekrebs (genauer als StickerSarkom, CTVT). Warum eigentlich? Worin liegt der Unterschied? Und worin besteht der Unterschied zwischen dem Sticker-Sarkom und anderen Krebsformen? 6 Wer sind die nächsten Verwandten der Wale, der Robben, der Seekühe? 7 Der Mensch hat Alkoholdehydrogenase, um Alkohol zu spalten, Lactase, um Milch zu spalten? Warum verfügt der Mensch eigentlich nicht auch über Zellulase, um Zellulose zu spalten? 8 Insekten sind die artenreichste „Klasse“ der Tiere, die sich an verschiedenste ökologische Nischen angepasst haben. Worauf beruht ihre Vielfalt? 9 Beschreiben Sie, beginnend mit der Befruchtung eines Eis, wie sich eine Fliege bildet! 10 Auf welche Gene würden Sie einwirken, um eine Fliege mit zwei oder sogar drei Flügelpaaren zu produzieren? 11 Welches der folgenden Gene (oder welche der aufgeführten Gengruppen) ist (bzw. sind) für die Entstehung der Augenflecken auf Schmetterlingsflügeln zuständig: Segmentierungsgene, Hox-Gene, KNOX-Gene, abdominal-A, Antennapedia, BMP, CYCLOIDEA, Distal-less, Otx, Pax, Ultrabithorax? 12 Die Evolution der Gräser wird als Wettrüsten mit den Herbivoren interpretiert. Wieso? Worin liegt der Abwehrmechanismus der Gräser gegen den Fraß?
Kontroll- und Verständnisfragen
13 Rekonstruieren Sie die Evolution des Kameraauges! 14 Was hat die Milch mit dem Hühnerei gemeinsam? 15 Der unlängst ausgestorbene australische Magenbrüterfrosch (Rheobatrachus silus) zeichnete sich dadurch aus, dass die Kaulquappen im Magen der Mutter heranwuchsen. Entwickeln Sie ein Szenario, wie diese einzigartige Art der Brutpflege evolvieren konnte! 16 Der Papagei nutzt seinen Fuß zur Manipulation von Objekten, der Specht nutzt den Schnabel zum Meißeln, der Graumull seine Scheidezähne zum Graben, der Magenbrüterfrosch (siehe Frage 15) nutzte seinen Magen als Brutschrank. Nennen Sie weitere Beispiele aus dem Tierreich, dem Pflanzenreich und dem Alltagsleben für die zweckfremde Nutzung verschiedener Körperteile bzw. Strukturen! 17 Nennen Sie Beispiele, die Haeckels Biogenetisches Grundgesetz („die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese“) bestätigen, und andere, die sie widerlegen! 18 Was ist der Unterschied zwischen Heterochronie, Neotenie, Pädogenese und Pädomorphose? 19 Wer sind die nächsten Verwandten der Wirbeltiere? Begründen Sie Ihre Antwort! 20 Nennen Sie einige „Konstruktionsfehler“ des menschlichen Auges und des menschlichen Körpers! 21 Nennen Sie einige Beispiele für angeblich „nichtreduzierbare Komplexität“ und entwickeln Sie die Szenarien, wie man ihre Entstehung erklären kann! 22 Inwiefern kann der Rückzug der kontinentalen Gletscher die adaptive Radiation der Meeresorganismen auslösen? 23 Alkohol wird im menschlichen Körper dank des Enzyms Alkoholdehydrogenase abgebaut. Bei einigen Individuen und sogar ganzen Populationen ist das Alkoholdehydrogenase-System hoch- bei anderen herunterreguliert. Doch das Gen für die Expression der Alkoholdehydrogenase haben alle Menschen – auch wenn sie und ihre Vorfahren nie Alkohol getrunken haben. Wozu eigentlich?
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Dr. Pangloss: „Bemerke wohl, dass die Nase gemacht wurde, um eine Brille zu tragen.“ (F. M. A. Voltaire, Candide oder die beste aller Welten, 1776) ( S. 301)
5 Adaptation
Meerwasser ist das Reinste und das Scheußlichste, für Fische trinkbar und heilsam, für Menschen ungenießbar und verderblich. Heraklit, Fragment B618
Darum geht es in diesem Kapitel: • • • • • • • • • • • • • •
Was ist eine Adaptation, und was ist keine? Wie kann man Adaptationen untersuchen? Warum hat der Mensch ein großes Gehirn? Ist die menschliche Homosexualität adaptiv? Wozu ist der Blinddarm (Wurmfortsatz) gut? Warum hat die Giraffe einen langen Hals? Warum ist das Geschlechterverhältnis manchmal zugunsten eines Geschlechts verschoben? Was sind life histories? Wie optimieren die Tiere ihr Verhalten und ihre Reproduktion? Was lehren uns die Fortpflanzungsorgane der weiblichen Tüpfelhyänen? Was ist der Unterschied zwischen genetischer und kultureller Evolution? Was sind Meme? Was versteht man unter „Exaptation“ und constraints? Was sind „Spandrillen“? Was sind Atavismen und Rudimente, und sind einmal verlorene Merkmale tatsächlich dauerhaft verloren oder nur vergessen?
286
5 Adaptation
5.1 Fallbeispiel I: Beine, Lungen und Gehirne Terrestrische und aquatische Wirbeltiere unterscheiden sich in vielen Eigenschaften, z. B. hinsichtlich Bewegung, Atmung und Begrenzung des Wasserverlustes.
Mit dem Landleben sind u. a. die innere Befruchtung und die Entwicklung von Embryonalhüllen verbunden.
Die Apomorphien der Landwirbeltiere sind nicht gleichzeitig entstanden; üblicherweise halten wir sie dennoch für Adaptationen an das Landleben. Häufig wird das menschliche Gehirn als Adaptation an das Denken interpretiert. Doch welche Vorteile brachte es seinen Trägern in der Anfangszeit seiner Vergrößerung?
Terrestrische Wirbeltiere unterscheiden sich von aquatischen in vielen miteinander verknüpften Eigenschaften; am auffälligsten sind vermutlich die Unterschiede in Atmung und Fortbewegung. Im Fall der Fortbewegung geht es einerseits um die Entwicklung von Schreitbeinen, aber auch um Modifikationen der Extremitätengürtel und der Wirbelsäule. Die Atmungsfunktion der Kiemen wird von Lungen übernommen. Ein weiterer Komplex von Eigenschaften betrifft die Begrenzung des Wasserverlustes. Hierzu gehören vor allem die Verhornung der Oberhaut, also die Entstehung der Hornschuppen bei Reptilien (diese haben absolut nichts mit den Schuppen von Knochen- und Knorpelfischen gemein) und ihrer späteren Derivate (z. B. der Vogelfeder) sowie um die Veränderung der Art der Ausscheidung stickstoffhaltiger Metabolite. Wirbeltiere sind wahrscheinlich mehrfach unabhängig von der Ammoniak- zur Harnstoffausscheidung und später zur Harnsäureausscheidung übergegangen. Diese Form der Stickstoffentsorgung erfordert eine wesentlich geringere Wasserausscheidung. Hierbei ist zu betonen, dass sich die genannten Modifikationen nicht gleichzeitig mit dem Übergang auf das Land entwickelten, sondern bereits vorher; damit waren aber gute Voraussetzungen für eine solche Veränderung der Lebensweise geschaffen. Ursprünglich hatten diese Modifikationen weniger mit Änderungen in der Ausscheidung als vielmehr mit der Osmoregulation zu tun. Eine weitere Neuerung war die Entstehung von Augenlidern, die ein Austrocknen der Augen verhindern. Auf dem Land ist eine klassische äußere Befruchtung (womit eigentlich die Besamung gemeint ist), bei der die Eltern die Keimzellen in das Wasser abgeben, nicht möglich. Zum Leben auf dem Land gehört deshalb auch die innere Befruchtung. Die letzte evolutionäre Erfindung auf diesem Gebiet ist das amniotische Ei. Außer der festen oder lederartigen Schale sind für diesen Eityp vor allem die Embryonalhüllen charakteristisch, aus denen bei den placentalen Säugetieren später die Placenta wurde. Obwohl es hier um Apomorphien (evolutionäre Neuigkeiten) geht, die schrittweise in verschiedenen Abzweigungen des Wirbeltier-Kladogramms entstanden (z. B. ist das Schreitbein viel älter als das amniotische Ei), halten wir sie automatisch für Adaptationen an das Leben auf dem Land. Wir merken nicht einmal, dass unsere Annahmen nicht auf Beobachtungen beruhen, sondern ziemlich hypothetisch sind. Die Adaptationen sind nämlich gar nicht so leicht zu „sehen“ ( Box 5.1). Manchmal ist es mit der adaptiven Erklärung wesentlich komplizierter. Das große, hochkomplexe menschliche Gehirn kann man sicher für eine Adaptation an das Denken halten – bis jemand die beunruhigende Frage stellt, welche Vorteile Vergrößerung und Komplizierung des Gehirns seinen Trägern in der Zeit brachten, als dieser Vergrößerungsprozess einsetzte. Den primären Grund für die Gehirnvergrößerung dürfen wir nur in den Bereichen suchen, die bereits im Leben der Menschenaffen oder der ersten Vertreter des menschlichen Abstammungszweigs eine Rolle spielten. Diese lebten in kleineren Gruppen in der afrikanischen Wildnis und ernährten sich von allem, was sie fanden bzw.
5.1 Fallbeispiel I: Beine, Lungen und Gehirne
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was sie zu sammeln oder zu erjagen fähig waren. Dass man ein solches Gehirn eines Tages zum Erstellen von theologischen Schriften oder Drehbüchern für Seifenopern benutzen würde, war damals noch nicht klar.
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Adaptation, Adoption, Akklimatisation, Akklimation, Anpassung, Angepasstheit Als Adaptation bezeichnen wir allgemein die Fähigkeit eines Organismus, sich an seine Umwelt anzupassen. In der Biologie meint Adaptation die genetisch bedingte Anpassung, die aufgrund von Mutationen und der Naturselektion entstanden ist; diese Definition ist auch in die Psychologie und die Soziologie eingegangen. Mit anderen Worten: Adaptation bedeutet die Entwicklung von Eigenschaften, die ein Lebewesen für seine jeweilige Umwelt geeigneter machen, d. h. die seine Lebenserwartung und seine Fitness sowie die seiner Nachkommen erhöhen. Adaptation kann als evolutionärer Prozess verstanden werden, also das Sichanpassen, oder als Ergebnis dieses Vorgangs, d. h. als adaptive Eigenschaft – im letzteren Fall wird sie auf Deutsch auch als Angepasstheit bezeichnet. Üblicherweise geht jedoch aus dem Kontext hervor, ob wir einen Prozess, dessen Ergebnis oder beides meinen. Aus diesem Grund differenzieren wir in diesem Buch nicht zwischen den beiden Begriffen. Adaptationen gibt es im morphologischen Bereich (z. B. Körpergröße, Fellfarbe, Felldichte, Schnabelform), im physiologischen Bereich (z. B. Hitze-, Kälte- oder Hypoxietoleranz, Farbensehen, Produktion von Toxinen) und im Verhaltensbereich (z. B. Jagdtechniken, Kommunikation, Nestbau, Lerndisposition). Im Allgemeinen stehen die Adaptationen in engem Zusammenhang mit der Ökologie, denn die Anpassung erfolgt in der Regel an eine ökologische Nische und ist immer mit einer mehr oder weniger starken Toleranz gegenüber spezifischen Umweltfaktoren verbunden, woraus sich schließlich die ökologische Potenz ergibt.Teilgebiete der Biologie, die sich mit den morphologischen, physiologischen oder Verhaltensanpassungen beschäftigen, sind die Ökomorphologie, die Ökophysiologie bzw. die Ökoethologie (die auch als Verhaltensökologie bezeichnet wird). Adoption bezeichnet nicht nur die Übernahme der Pflege eines fremden Jungtiers (Abschnitt 1.2). Nach der Hypothese der evolutionären Adoption entsteht die Zweckmäßigkeit in der Evolution
dadurch, dass Mutanten nachträglich solche Verhaltensmuster ausbilden und solche Habitate bzw. solche ökologischen Nischen aussuchen, die ihren Mutationen (ihren neuen Eigenschaften) am besten entsprechen. So kann z. B. ein größeres Säugetier aus thermoregulatorischen Gründen eher kältere Habitate aufsuchen oder ein Mutant mit kleineren Augen (Mikrophthalmie) seine Nahrung mithilfe anderer Sinne auch in der Nacht suchen. Organismen können sich an veränderte Umweltbedingungen (z. B. bei jahreszeitlich bedingten Temperaturschwankungen oder bei der Besiedlung neuer Habitate) relativ schnell anpassen. Diese physiologische Anpassung (Gewöhnung) wird als Akklimatisierung (Akklimatisation) bezeichnet. Eine Akklimatisierung an Kälte erfolgt z. B. durch die Erhöhung der Metabolismusrate, die Verdichtung des Haar- bzw. Federkleids, die Verdickung der Unterhautfettschicht oder Verhaltensänderungen. Dabei werden auch die „Sollwerte“ der Regelzentren im Hypothalamus „auf neue Werte eingestellt“. Während die Akklimatisierung selbst durch Umweltänderungen ausgelöst wird, ist die Disposition für eine entsprechende Reaktion genetisch bedingt und stellt damit eine evolutionäre Anpassung, also eine Adaptation, dar. Die thermischeToleranz ändert sich bei manchen Arten auch mit den Jahreszeiten, wobei die Tageslänge (Photoperiode) als Auslöser fungiert. So liegt z. B. das thermische Maximum fürs Überleben für den Zwergwels (Ameiurus nebulosus) im Sommer bei 36 °C, im Winter bei 28 °C. Die Akklimatisierung betrifft üblicherweise Anpassungen an mehrere Faktoren (so ist z. B. der Winter durch niedrigere Temperaturen, eine kürzere Photoperiode und ein geringeres Nahrungsangebot charakterisiert; Akklimatisierung an Höhenlagen betrifft niedrigere Sauerstoffkonzentration, niedrigeren atmosphärischen Druck, niedrigere Temperatur). Unter Laborbedingungen kann eine Umstellung allein aufgrund der Änderung einer einzigen Variablen erfolgen – eine solche Akklimatisierung bezeichnen die Physiologen als Akklimation.
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5 Adaptation
Theorien über die adaptive Bedeutung des menschlichen Gehirns beruhen oft auf angeblich schwierigen Lebensbedingungen und der Nahrungsbeschaffung. Sie können einer kritischen Analyse jedoch nicht standhalten.
Im Mittelpunkt anderer Hypothesen über die Evolution des menschlichen Gehirns stehen die sozialen Interaktionen.
Die Fähigkeit, sich im komplizierten Netz der sozialen Beziehungen zurechtzufinden, wird als „machiavellistische Intelligenz“ bezeichnet.
Die bekanntesten Theorien über die adaptive Bedeutung des menschlichen Gehirns beziehen sich auf die angeblich schwierigen Lebensbedingungen und die Beschaffung der Nahrung: So ein Urmensch musste wissen, welche Beeren giftig sind, welche Pflanzen über den richtigen Knollen stehen, und wie man einer Affenmutter ihr Junges wegnimmt. So schockierend es klingen mag, Schimpansen jagen und verzehren sehr gerne Affenkinder, und – genauso wie manche in und mit der Natur lebenden Naturvölker* – ziehen sie die Jagd auf trächtige Weibchen vor, weil diese einfacher zu jagen sind. Für das alles brauchte der Urmensch sicherlich ein sehr leistungsfähiges Gehirn. Allerdings wissen auch Schimpansen, Paviane und letzten Endes alle Tiere, was, wann und wo zu fressen ist. Ihre Gehirne sind ausreichend leistungsfähig, ohne dass sie dem menschlichen Gehirn in der Größe oder in der Komplexität seines Aufbaus besonders ähneln. Eine zweite Hypothese betrachtet das Gehirn unter dem Aspekt sozialer Adaptation. Bekanntermaßen leben die Menschenaffen im tropischen Urwald in einer ziemlich lebensfreundlichen und wenig veränderlichen Umgebung, wo sie aufgrund ihrer Körpergröße von fast niemandem bedroht werden und nicht an Nahrungsmangel leiden. Für ihren Fortpflanzungserfolg ist etwas anderes entscheidend, nämlich die sozialen Interaktionen. Menschenaffen sind bekannt für ihre Fähigkeiten zu intrigieren, sich zu verbünden, vorübergehende Koalitionen zu bilden und zu politisieren, für die eine gewisse Intelligenzstufe nötig ist ( Box 5.2). Es ist wirklich frappierend, wie viel Zeit und Energie wir Menschenaffen in die fortwährende Erkundung sozialer Beziehungen stecken, in die wir tatsächlich oder vielleicht auch nur möglicherweise eingebunden sind. Das, was uns wirklich interessiert und was über unseren Erfolg entscheidet, ist nicht das Klima oder die Nahrung, sondern es sind andere Menschen – Freunde, Feinde, Liebhaber, Verwandte, Rivalen, Vorgesetzte, und das in verschiedenen Alters- und Geschlechtsvarianten. Es ist zwar denkbar, dass der Mensch hin und wieder in Situationen gerät, in denen das Klima oder der Mangel an Nahrung bedeutsame Selektionsfaktoren darstellen, doch die Fähigkeit zur sozialen Kommunikation und Manipulation gehört ebenfalls zu den wichtigen Überlebenskriterien. Auch wenn in Afrika jemand an Hunger stirbt, ist es – so gesehen – nicht ganz zufällig, wen es dabei konkret trifft. Das Wissen um das komplizierte Netz sozialer Beziehungen ist eine notwendige Voraussetzung, um sich in seiner unmittelbaren Umgebung zurechtzufinden. Erst, wenn sich irgendein strategisches Spiel mit bekannten Partnern wiederholt, beginnt sich eine zeitweilige Zusammenarbeit unter Umständen zu lohnen: Wir wissen nämlich, mit wem wir spielen, wie er in der vorherigen Runde gespielt hat, wie er schummelt, wie man ihn betrügen kann; wir wissen einfach, wie man ihm beikommt. In diesem Zusammenhang sprechen wir von der
* Unter „Naturvolk“ verstehen wir Ethnien, die isoliert von der industrialisierten Zivilisation in einer nicht oder kaum veränderten Natur und als Jäger und Sammler, ähnlich wie der prähistorische Mensch, leben. Der anthropologische Begriff soll nicht romantisierend („in völliger Harmonie“ mit der Natur lebende Menschen) missverstanden werden.
5.1 Fallbeispiel I: Beine, Lungen und Gehirne
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Schimpansenpolitik Harold Dwight Lasswell (1902–1978), ein ehemals führender US-amerikanischer Politologe definierte die Politik lapidar als einen Sozialvorgang, der bestimmt, wer was wann und wie bekommt (»Who gets what, when, and how«). In seinem einflussreichen* Buch Chimpanzee Politics: Power and Sex among Apes (dt. Unsere haarigen Vettern: Neueste Erfahrungen mit Schimpansen), beschrieb Frans de Waal ( S. 290) die Geschichte (und die Geschichten) von der Schimpansenkolonie im Affenzoo im niederländischen Arnheim. Es ist offensichtlich, dass sich auch die Schimpansen mit Politik (im oben genannten Sinn) beschäftigen. Die Schimpansengesellschaft ist sehr veränderlich. Frans de Waal zeigte diese Dynamik anhand eines schönen Beispiels: »Jedesmal, wenn ich Arnheim besuche, müssen die Betreuer und Forscher mich genau ins Bild setzen, als hätte ich einen Film verpaßt: „Schimpanse A stützt sich jetzt auf Schimpanse B, der noch zögert, nach der Macht zu greifen, weil er von Schimpanse C übel zugerichtet wurde. Doch wenn seine Wunden wieder verheilt sind, werden die Frauen ihm bei der Revanche helfen, weil sie für ihn viel mehr übrig haben als für C.“.« Die * Das Buch wurde 1994 von Newt Gingrich, Sprecher des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten, den neugewählten Kongressmännern als Lektüre empfohlen.
Schimpansenmänner sind hungrig nach Macht, sie bilden Allianzen, und wenn sie ihre Macht verlieren, sind sie, wie Menschen, verzweifelt. Die Fähigkeit zu Kompromissen und Versöhnung gehören genauso zu ihren politischen Fähigkeiten wie die Kampfeskraft. Ein Individuum, das nicht kompromissfähig ist, kann dafür unter Umständen teuer bezahlen. Ein wichtiger Teil der Schimpansenpolitik ist, so wie bei Menschen, der Opportunismus. Und, natürlich gibt es eine offensichtliche Verbindung zwischen Sex und Macht. Schimpansenmänner investieren viel Energie in die Politik und in den Machtkampf, und ihre durchschnittliche Lebenserwartung ist, auch in Zoos, zehn Jahre kürzer als die von Schimpansenfrauen. Die Schimpansen sind alles andere als friedliche Schmuseäffchen, wie sie in Fernsehserien gerne vorgeführt werden. Jane Goodall ( S. 331) schrieb: »Wenn Schimpansen Schusswaffen und Messer hätten und wüssten, wie man damit umgeht, würden sie ohne jeden Zweifel ebenso davon Gebrauch machen wie wir Menschen.« Während die Schimpansen vor allem mit Machtund Hierarchiekonflikten beschäftigt sind, stehen die Bonobos für eine ausgeprägte und freizügige Sexualität nach dem Hippie-Motto „Make love, not war“.
„machiavellistischen Intelligenz“*. Die Hypothese, dass unser Gehirn ein Werkzeug des erfolgreichen Soziallebens ist, erscheint glaubwürdiger als die ökologische Hypothese, denn das menschliche Sozialleben ist komplizierter als das der Schimpansen, wohingegen die menschliche Omnivorie im Vergleich zu der von Schimpansen keinesfalls exzessiv ist. Die machiavellistische Hypothese über den Ursprung des menschlichen Gehirns erklärt seine übermäßige Größe mit dem gleichen Mechanismus, wie die Hypothese der sexuellen Selektion bzw. die Rote-Königin-Hypothese die exzessive Größe des Pfauenrads erklärt. Die Evolution des menschlichen Gehirns als ein Werkzeug für soziale Spiele kann nicht zum Stillstand kommen, es sei denn, sie hätte bereits ein Niveau erreicht, das mit dem Leben unvereinbar wäre. Wenn die Gegenspieler klüger sind, ist es notwendig, noch klüger zu werden. Letztendlich zeigt die Tatsache, dass die Menschen bei der Suche nach einem Sexualpartner eindeutig Intelligenz als Kriterium vorziehen, dass echte sexuelle Selektion ein evolutionärer Mechanismus sein könnte, der die Entwicklung des * Niccolò Machiavelli (1469–1527), italienischer Politiker, Philosoph und Literat. Sein Name wird heute vor allem mit rücksichtsloser Machtpolitik, unter raffinierter Ausnutzung aller rechtmäßigen Mittel und ohne moralische Bedenken, zum eigenen Nutzen verbunden.
Das menschliche Gehirn als Grundlage sozialer Spiele muss sich stets weiterentwickeln, es sei denn, das erlangte Niveau wäre mit dem Leben unvereinbar.
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5 Adaptation
Frans de Waal Lebensdaten: geb. 1948 Nationalität: niederländisch, seit 1981 in den USA Leistung: Verhaltensforscher, Psychobiologe, Primatologe. Befasst sich mit der Erforschung des Verhaltens von Schimpansen, Bonobos, Makaken und Kapuzineraffen sowie der Evolution des menschlichen Verhaltens. In Deutschland wurde er vor allem durch seine populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen über das Verhalten der Menschenaffen bekannt: Primaten und Philosophen. Wie die Evolution die Moral hervorbrachte (2008), Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind (2006), Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere (2005), Eine schöne Verwandtschaft. Das Familienleben der Menschenaffen (2004), Der gute Affe. Der Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren (2000), Bonobos. Die zärtlichen Menschenaffen (1998), Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen (1991), Unsere haarigen Vettern: Neueste Erfahrungen mit Schimpansen (1983). Das Time-Magazin zählte F. d. W. 2007 zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt.
Die Vergrößerung unseres Gehirns kann nicht mit einfacher Pädomorphose erklärt werden. Es muss einen adaptiven Grund geben, da das Gehirn ein energetisch sehr teures Organ ist.
menschlichen Gehirns unterstützte. Ein leistungsfähiges Gehirn wäre dann tatsächlich mit dem Pfauenrad vergleichbar: Es würde somit nicht von seinem eigentlichen Zweck in seiner Entwicklung vorangetrieben, sondern dadurch, dass es Sexualpartner (eventuell sogar als Handicap) anlockt („Der Typ muss gut sein, wenn er als Intellektueller sogar für sich sorgen kann!“). Wir haben bereits im vorigen Kapitel die Möglichkeit angesprochen, dass der Mensch ein pädomorpher Menschenaffe sein könnte (S. 260, Abb. 4.27). Und wir haben Gründe angeführt, warum man diese Vorstellung mit einer gewissen Skepsis betrachten sollte. Gerade das menschliche Gehirn weist eine Menge struktureller Eigenschaften auf, die man nicht mit einer einfachen Veränderung von Wachstumsraten erklären kann (selbst wenn wir nicht genau wissen, wie kompliziert – oder auch einfach – der genetische Hintergrund dieser Eigenschaften ist). Die Hypothese, dass die Vergrößerung unseres Gehirns durch einfache Pädomorphose verursacht wurde und dass es deswegen nicht nötig sei, nach einer funktionellen Erklärung zu suchen, weil die Gehirngröße an sich nicht adaptiv sei, hat eine auffallende Schwachstelle. Das Gehirn ist nicht irgendein Ornament, das sich so nebenbei entwickelt hat und nur deshalb beibehalten wurde, weil es niemandem im Weg stand oder zur Last fiel. Das menschliche Gehirn ist ein ausgesprochen „kostspieliges“ Organ: Obwohl es nur zwei Prozent des menschlichen Körpergewichts ausmacht, verbraucht es 15–20 Prozent, bei Säuglingen bis 60 Prozent (!) der gewonnenen Energie. Es muss daher einen Grund geben, weshalb es beibehalten bzw. sogar weiterentwickelt wurde. Damit kehren wir zu den adaptiven, wenn auch etwas schwammigen Erklärungen zurück, am ehesten zu einer Kombination von Machiavellismus und Sex.
5.2 Fallbeispiel II: männliche Homosexualität
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5.2 Fallbeispiel II: männliche Homosexualität Falls die Existenz von Organismen ihren evolutionären Sinn in der Produktion von Nachkommen findet, stellt uns das Vorkommen von Homosexuellen, die (zumindest theoretisch) keine Nachkommen zeugen, vor ein Problem. Vor allem, wenn wir bedenken, dass sie gar nicht so selten sind (unter hundert Männern finden Sie garantiert einige Homosexuelle) und ihre sexuelle Orientierung in erheblichem Maß genetisch bedingt ist. Da die „Gene für Homosexualität“ in der Population erhalten bleiben, müssen sie folgerichtig über einen Überlebenstrick verfügen. Wir müssen zugeben, dass die Idee, Homosexualität als erlerntes, anstößiges Verhalten zu betrachten, nicht uninteressant ist. Viele sozial lebende Tiere benutzen Sex als „gewöhnliches“ Mittel, um soziale Vorteile zu erlangen. Besonders auffallend ist dies bei Bonobos, die sich praktisch den lieben langen Tag mit nichts anderem beschäftigen als mit hetero- oder homosexuellem Sex. Mit Sex lösen sie alle sozialen Probleme, die bei ihnen auftreten. Es ist nicht verwunderlich, dass sich unter den amerikanischen Zoologen das Verb to bonobo („bonobieren“) als Bezeichnung für sexuelle Aktivitäten eingebürgert hat. Es gibt keinen Grund, warum das menschliche homosexuelle (wie auch jedes andere sexuelle) Verhalten diese soziale Komponente nicht einschließen sollte. Um durch homosexuelles Verhalten soziale Vorteile erlangen zu können, muss es allerdings auch (Spiel-)Partner geben, die bereit sind, sich mit solchen Vorteilen für die angebotene homosexuelle Handlung zu revanchieren. Damit kommen wir zur „biologischen“ Grundlage der Homosexualität zurück, wobei man von einem signifikanten genetischen Anteil an der Entstehung der sexuellen Orientierung ausgehen muss. Betrachten wir deshalb einige alternative Erklärungen für dieses Phänomen. Die wahrscheinlich älteste Erklärung beruht auf der Verwandtenselektion: Homosexuelle könnten, auch wenn sie selbst keine Nachkommen haben, durch irgendeine Aktivität die Anzahl der Kinder ihrer Verwandten erhöhen. Ihnen käme somit eine ähnliche Funktion zu wie den Arbeitern bei den Termiten oder den „Helfern“ bei den Wölfen. Wir nehmen an, dass in der Vergangenheit alle menschlichen Gruppen mehr oder weniger Familiencharakter hatten. Dies betrifft vor allem die männliche Linie, denn sowohl bei den Schimpansen und Bonobos als auch bei den meisten menschlichen Populationen bleiben in der Regel die Söhne zu Hause, während die Töchter abwandern. Ein Vorteil für eine Familie mit homosexuellen Angehörigen könnte tatsächlich in der Fürsorge für Familienmitglieder liegen bzw. in der Anwesenheit von reichen und einflussreichen Verwandten, denn homosexuelle Männer erreichen oft einen höheren sozialen Status als Heterosexuelle. Ein anderer Vorteil ergäbe sich daraus, dass homosexuelle Männer von der Fürsorgepflicht für eine eigene Familie entbunden sind und damit Kapazitäten für die Ausübung von intellektuellen Aktivitäten, wie Schamanie, Philosophie, Kunst usw. frei haben. Die erste Hypothese ist eher absurd; denn wirklich homosexuelle Männer weisen keine besonderen Neigungen hinsichtlich der Fürsorge für ihre Geschwister auf. Was die alternative Hypothese
Wenn der evolutionäre Sinn von Organismen in der Produktion von Nachkommen liegt, dann ist die Existenz der Homosexualität offensichtlich unerklärlich.
Das menschliche homosexuelle Verhalten könnte auch ein Mittel sein, um soziale Vorteile zu erlangen. Dann müsste es aber (Spiel-)Partner geben, bei denen Homosexualität biologisch begründet ist und die bereit sind, für die angebotene homosexuelle Handlung zu „bezahlen“. Unter dem Gesichtspunkt der Verwandtenselektion könnte Homosexualität dann adaptiv sein, wenn Homosexuelle ihren sich fortpflanzenden Verwandten Vorteile verschafften. Diese Hypothese wird jedoch empirisch nicht unterstützt.
Auch die Annahme, dass Homosexuelle mehr Zeit haben, sich intellektuell zu betätigen, bringt uns in den Überlegungen über den adaptiven Wert der Homosexualität nicht weiter.
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Homosexualität könnte auch ein extremer Fall von Bisexualität sein: Bisexuelle sind eher promisk und hinterlassen mehr Nachkommen als Heterosexuelle.
Die Pleiotropie-Hypothese nimmt an, dass sich die Gene für Homosexualität auf dem X-Chromosom befinden. Dieses Gen könnte dann erfolgreich sein, wenn es die Fruchtbarkeit von Frauen erhöht. Wodurch die Mütter homosexueller Söhne begünstigt wären, ist allerdings noch unklar.
5 Adaptation
angeht, so stimmt es, dass der Anteil an Homosexuellen bei einigen intellektuellen Berufen wesentlich höher ist als bei anderen. Man könnte ebenfalls annehmen, dass die Ausübung solcher Berufe ohne Ehefrauen, Kinder, Schwiegermütter und Elternbeiräte eher vereinfacht, wenn nicht sogar erst ermöglicht wird. Dies bedeutet jedoch wenig. Zunächst müsste man beweisen, dass das Vorkommen von Intellektuellen von irgendeinem Nutzen wäre, z. B. dass eine Familie mit einem Intellektuellen mehr Nachkommen hinterlässt als eine Familie ohne einen Intellektuellen, was heutzutage sicher nicht stimmt. Es bleibt uns nichts anderes übrig als zu glauben, dass ein paläolithischer Schamane für das Überleben seiner Familie nützlicher war als es heute ein Psychoanalytiker, ein Darwinist oder ein Lehrer ist. Des Weiteren kann man sicherlich nicht von einem höheren Anteil an Homosexuellen in irgendeinem Lebensbereich darauf schließen, dass die Homosexualität tatsächlich eine Adaptation für diesen bestimmten Lebensbereich darstellt. Nach der gleichen Logik könnten wir feststellen, dass unter Lehrern und Pfadfinderführern häufiger Pädophilie vorkommt, und daraus ableiten, dass die Pädophilie eine von der Gruppenselektion produzierte Adaptation darstellt, um irgendwoher Lehrer und Pfadfinderführer rekrutieren zu können. Die soziobiologische „Familienerklärung“ der Homosexualität kann allerdings nicht ganz abgelehnt werden; sie mag eine Rolle in der Erhaltung der männlichen Homosexualität spielen, es ist jedoch schwer zu sagen, ob die Vorteile eines Homosexuellen im Haus so gewichtig sind, dass sie per se die Homosexualität erklären könnten. Es ist auch möglich, dass die Homosexualität nur einen extremen Fall von Bisexualität darstellt. Die wirkliche Frage lautet dann, welche Selektionsvorteile Bisexuelle haben. Die Tatsache, dass Bisexuelle früher sexuell aktiv werden als Heterosexuelle und dass sie wesentlich promisker sind, führt zu dem Schluss, dass die Bisexuellen tatsächlich mehr Nachkommen hinterlassen könnten, wodurch die „Gene für Homosexualität“ in der Population aufrechterhalten würden. Ein ausschließlich homosexuell aktiver Mensch wäre dann ein Individuum, das diese (bei einer Ausprägung von unter 100 Prozent) durchaus nützliche Eigenschaft ad absurdum entwickelt hätte. Die Gene für Homosexualität würden nach dieser Theorie über Bisexuelle in der Population verbreitet und nicht durch echte Homosexuelle (die, wenn sie wirklich echt sind, sowieso keine Gene weitergeben). Die wahrscheinlich interessanteste Theorie über den Ursprung der Homosexualität berücksichtigt die Art und Weise der Vererbung der Homosexualität, statt wilde soziobiologische Spekulationen anzustellen. Auch wenn wir darüber relativ wenig wissen, könnte die männliche Homosexualität über die mütterliche Linie vererbt werden, denn der nächste homosexuelle Verwandte eines Homosexuellen ist üblicherweise der Onkel mütterlicherseits. In der Tat ist es möglich, dass sich die Gene für Homosexualität auf dem X-Chromosom befinden, auf dem Chromosom also, das es in einer männlichen Zelle nur in einer Ausgabe gibt, das in der weiblichen Zelle jedoch paarweise vorkommt. Jedes konkrete, auf dem X-Chromosom befindliche Gen verbringt einen bestimmten Teil seines Lebens in männlichen Zellen, und einen anderen, wesentlich längeren Teil in weiblichen Zellen – im Verhältnis 1:2. Ein auf dem X-Chromosom befindliches
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5.3 Fallbeispiel III: der Giraffenhals
Gen könnte dazu neigen, Weibchen auf Kosten der Männchen zu bevorzugen. Falls es die Fruchtbarkeit der Frauen erhöht, wird dieses Gen erfolgreich sein, selbst wenn es gleichzeitig die Fruchtbarkeit der Männer verringert. Welche Vorteile Frauen hätten, die vermehrt homosexuelle Söhne gebären, wissen wir noch nicht. Über das komplizierte pleiotrope Netzwerk der Gene ist insgesamt leider bisher nur wenig bekannt. Außerdem scheint es so zu sein, dass die Homosexualität von der Reihenfolge der Geburten abhängt. Am wahrscheinlichsten ist das Auftreten von Homosexualität bei den Männern, die mindestens einen älteren Bruder haben, nicht jedoch jüngere Brüder oder ältere Schwestern. Dies gilt nicht für lesbische Frauen. Es sieht so aus, als ob die neun in einer Gebärmuter verbrachten Monate, in der sich zuvor bereits männliche Embryonen befanden, die Eigenschaften eines Menschen beeinflussen könnten. Wiederum wissen wir noch zu wenig, aber einiges deutet darauf hin, dass die Histokompatibilitäts-H-Y-Antigene, die von einer Dreier-Gengruppe auf dem nur bei Männern vorkommenden Y-Chromosom produziert werden, etwas mit der Ausbildung des männlichen Gehirns (und vielleicht auch mit der Ausbildung der sexuellen Orientierung) zu tun haben, wobei sie gleichzeitig eine feindliche Reaktion seitens des Immunsystems der Mutter hervorrufen. Je größer die Menge an H-Y-Antigenen ist, denen eine Frau während des eigenen Lebens ausgesetzt war (also je mehr Söhne sie bereits empfangen und geboren hat), desto stärker wird ihre Immunreaktion gegen nachfolgende männliche Embryonen ausfallen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Gehirne von jüngeren Brüdern im Gegensatz zu denen ihrer älteren Brüder von dieser Reaktion irgendwie beeinflusst werden. Die beschriebenen vier Möglichkeiten der Entstehung der männlichen Homosexualität schließen sich nicht gegenseitig aus; sie können alle gleich richtig sein. Man kann an ihnen auch die Verschiebung im evolutionsbiologischen Denken während der letzten zwei Jahrzehnte ablesen: ausgehend von den adaptiven Eigenschaften von Individuen und Familien bis zu einzelnen, sich selbst durchsetzenden genetischen Elementen, zu genetischen Konflikten. Auch solche Eigenschaften können adaptiv sein. Dabei geht es jedoch um eine Adaptation von Genen oder um die Adaptation von anderen Menschen in der Umgebung, z. B. der Mütter, aber nicht um die Adaptation des Homosexuellen. Dieser war nur in einen fremden Konflikt verwickelt und wurde zu seinem „Opfer“, wie es oftmals im Leben vorkommt.
Männliche Homosexualität scheint mit der Geburtenfolge zu korrelieren.
Die Immunreaktion der Mutter gegen einen männlichen Embryo nimmt zu, je mehr Söhne sie vorher ausgetragen hat. Diese Immunreaktion könnte die Gehirne jüngerer Brüder modifizieren. Die Hypothesen zur Entstehung der männlichen Homosexualität können sich ergänzen.
5.3 Fallbeispiel III: der Giraffenhals Fast jedes evolutionsbiologische Buch behandelt die Länge des Giraffenhalses und ebenso merkwürdiger- wie seltenerweise wird dieses Phänomen seit Ewigkeiten völlig übereinstimmend erklärt: Die Giraffe hat einen langen Hals, um die Baumkronen zu erreichen und dort die Blätter fressen zu können (Abb. 2.40). In der Tat überragt die heutige Giraffe alle anderen Huftiere um ein paar Meter, wobei die Vorfahren der Giraffe dem heutigen Okapi (Ocapia johnstoni) ähnliche, also wesentlich kleinere Tiere waren.
Der Giraffenhals wird üblicherweise als eine Adaptation an das Abweiden hoher Bäume angesehen.
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Voraussetzung für die Hypothese zur Nahrungsadaptation müsste eine der beiden Alternativen sein: Die Nahrungskonkurrenz dauert immer noch an, oder die Kosten für die Erhaltung dieser Eigenschaft sind unerheblich (Trägheitseffekt).
Giraffen konkurrieren insbesondere während der Trockenzeit mit anderen Tieren um Nahrung und weiden dann oft Sträucher in der Reichweite der anderen Tiere ab.
5.1 Während der Trockenzeit weiden die Giraffen üblicherweise Sträucher unterhalb einer Höhe von zwei Metern (also in Schulterhöhe oder niedriger) ab.
5 Adaptation
Wenn der lange Giraffenhals tatsächlich eine die Nahrungskonkurrenz einschränkende Adaptation ist, dann muss eine der beiden folgenden Voraussetzungen gelten: Entweder dauert diese Nahrungskonkurrenz immer noch an, sodass der lange Hals durch die Selektion erhalten bleibt, oder die Kosten für die Erhaltung dieser Eigenschaft sind unerheblich und der lange Hals wird nur „mitgeschleppt“. Ähnlich wie das menschliche Gehirn ist auch der Giraffenhals nicht frei von Kosten: Bei der jungen Giraffe wächst der Hals bis zu 23 Zentimeter pro Woche, und das Gehirn der erwachsenen Giraffe wird mit Blut aus einem Herzen versorgt, das etwa drei Meter tiefer schlägt. Die Giraffe hat zwar auch lange Beine, aber deren Länge ist nicht ausschlaggebend für die Gesamthöhe des Tieres. Der Hals wächst völlig disproportional, als ob es eher um seine Länge und nicht um die Höhe der Giraffe ginge. Die Lehrbuchweisheit besagt, dass alle Säugetiere, ob Mensch, Maus, Maulwurf, Elefant, Buckelwal oder Giraffe, sieben Halswirbel haben. Aber gerade die Giraffe weicht offensichtlich von dieser Regel ab. Die Giraffe (nicht jedoch das Okapi) hat einen Halswirbel mehr, dafür aber einen Brustwirbel weniger. Die Zoologen, die diese Wirbel einst gezählt haben, verwirrte das (denn zählt man Hals- und Brustwirbel zusammen, so ist die Zahl bei Giraffe und Okapi gleich). Man könnte zwar argumentieren, dass die Giraffe ebenfalls sieben Halswirbel hat und der achte eigentlich der erste Brustwirbel ist, der zum Halswirbel umgestaltet wurde. Allerdings spricht nicht nur die Morphologie der Wirbel gegen diese Interpretation, sondern auch die typischen Muskelanbindungen und die Innervation. Diese „Wirbelrochade“ hat auch einen interessanten Einfluss auf die Silhouette der Giraffen: Der Hals ist nach hinten und der Schultergürtel nach vorne versetzt. Man muss nur in den Zoo gehen (oder die Abbildung 5.17 näher betrachten), um zu sehen, wie auffällig das Brustbein hervorragt. Wir alle glauben zu wissen, dass Giraffen wirklich das fressen, wonach sie sich strecken müssen, denn so haben wir es ja im Zoo schon häufig beobachtet, wo ihnen das Futter unter die Decke gehängt wird. Doch in der realen Welt fressen Giraffen die Akazienblätter der Kronen nur während der Regenzeit (wenn die Blätter proteinreich und in großen Mengen vorhanden sind). Während der Trockenzeit, wenn die Konkurrenz um die Nahrung mit verschiedenen
5.3 Fallbeispiel III: der Giraffenhals
Antilopen am härtesten ist, weiden die Giraffen üblicherweise die Sträucher unterhalb einer Höhe von zwei Metern ab, ganz in der Reichweite der anderen Tiere (Abb. 5.1). Die Giraffe verbringt mehr als 50 Prozent der Zeit damit, Nahrung in ihrer Schulterhöhe oder noch niedriger abzuweiden. Genauer gesagt: So machen es die Giraffenweibchen und die rangniedrigen Männchen, während die dominanten Giraffenbullen aus den afrikanischen Savannen herausragen. Diese sexuell-soziale Gliederung der Giraffen ist so auffällig, dass Bestimmungsbücher und Feldführer empfehlen, das Geschlecht der Tiere aus der Ferne zu bestimmen. Dabei ist anscheinend niemandem aufgefallen, dass ein solches Verhalten im Widerspruch zu dem Glauben steht, Giraffen hätten einen langen Hals, um die Blätter der hohen Bäume zu fressen. Die Orte, an denen Giraffen am häufigsten fressen, weisen auf etwas anderes hin: Weibchen fressen am häufigsten in 1,5–2,5 Metern Höhe, Männchen in Männchengruppen in der Höhe von etwa drei Metern, Männchen in Weibchengruppen in der Höhe von fünf Metern. Der lange Giraffenhals symbolisiert Dominanz, ist also das Produkt der sexuellen Selektion. Tatsächlich nutzen Giraffenbullen ihre Hälse für eine Form des Dominanzkampfes, der unter Säugetieren ganz einzigartig ist. Die gewöhnlichen Kampfarten wie Beißen oder Kicken kennen wir von Giraffen nicht (von Okapis schon). Die Giraffenbullen stehen nebeneinander und teilen mit den Oberseiten ihrer dicken, behornten Schädel wie mit Schlegeln Schläge gegen Hals, Rippen und Beinen aus (Abb. 5.2). Auch wenn man es nicht erwarten würde, können sie sich ab und zu auf diese merkwürdige Art und Weise auch verletzen oder töten, wobei die Stärke und Aggressivität dieser Kämpfe in der Anwesenheit von Weibchen enorm zunimmt. Die Giraffenbullen wandern durch die Savanne und verteidigen einzelne Giraffenkühe, nicht die Territorien oder Herden, und die Weibchen können jederzeit während des Jahres trächtig werden, sodass es immer genug Grund für Kämpfe unter den Männchen gibt. Weil die Energie des Halsschlags mit der Kopfmasse und der Länge und Stärke des Halses wächst, kann man erwarten, dass Männchen mit langen, massiven Hälsen siegen werden. Kein Wunder also, dass die Hälse der Männchen im Verhältnis länger und mächtiger sind als die der Weibchen. Und es ist ebenso kein Wunder, dass die dominanten Männchen gerade die mit den längsten und dicksten Hälsen sind. Dass es sich um ein sexuell selektiertes, dem Pfauenrad nicht unähnliches Merkmal handelt, zeigt auch die Tatsache, dass ein gut entwickelter Hals seinen Träger im Normalleben eher behindert. Obwohl die Giraffenbullen etwa um die Hälfte schwerer sind als die Weibchen, fallen sie fast zweimal häufiger Löwen zum Opfer. In Giraffenpopulationen überwiegen die Weibchen, was ebenfalls den Verdacht nährt, dass die Männchen eine höhere Sterblichkeit haben. Es scheint also, dass etwa bis zur Größe und Proportion des Okapis die Gesamthöhe des Tieres das Selektionskriterium war, während für die weitere extreme Verlängerung des Giraffenhalses wohl eher die sexuelle Selektion verantwortlich zu machen ist. Im Unterschied zum Federkleid des Pfaus sind allerdings die Proportionen von Knochen und Muskeln ein derart integraler Bestandteil des
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Giraffenbullen haben längere und kräftigere Hälse als Giraffenkühe. Sie präsentieren die langen Hälse beim Fressen besonders in Weibchengruppen und nutzen sie für Dominanzkämpfe.
5.2 Die kämpfenden Giraffenbullen stehen nebeneinander und teilen mit den oberen Teilen ihrer dicken, behornten Schädel Schläge in Hals, Rippen und Beine der Gegner aus. (Nach Veselovský 2005)
Der lange Hals der Giraffen ist ein sexuell selektiertes Merkmal, das seine Träger im Normalfall eher behindert.
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5 Adaptation
Es ist manchmal nicht einfach, zu erkennen, wozu selbst eine auffällige Eigenschaft dient.
Körperbaus, dass man sich die Evolution der männlichen Giraffengestalt nicht losgelöst von der Evolution der Weibchen vorstellen kann (weshalb sich auch deren Hälse verlängert haben). Wie uns die Beispiele Gehirn, Homosexualität und Giraffenhals zeigen, ist es oft gar nicht einfach zu erkennen, wozu eine extrem auffällige Eigenschaft gut ist – sofern wir uns nicht mit der traditionellen Ausrede begnügen: „Vielleicht ist es nützlich, sonst hätten sie sie ja nicht.“ Diese Überlegung würde nur dann gelten, wenn wir keine anderen Wege kennen würden, wie Evolutionsneuheiten entstehen und sich durchsetzen können – was, wie wir noch sehen werden, nicht der Fall ist.
5.4 Geschlechterverhältnis: Adaptation und Stabilität Selektion führt zu einer stabilen Lösung eines Problems, die nicht optimal sein muss.
Ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis ist vom Standpunkt der Population langfristig eine evolutionär stabile Strategie.
Mit der Identifizierung adaptiver Eigenschaften gibt es noch weitere Probleme. Wir haben schon gezeigt, dass die Selektion nicht zur optimalen, sondern zu einer stabilen Lösung eines Problems führt, mit dem ein Organismus konfrontiert ist. Das bedeutet jedoch auch, dass das adaptive Merkmal oftmals nicht die „technisch beste“ Lösung darstellt; das gilt zumindest dort, wo ein Spiel über den Erfolg entscheidet. Dieser Aspekt der Anpassung ist keineswegs nur auf unterschiedliche Verhaltensweisen und soziale Interaktionen beschränkt. Ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis beispielsweise, bei dem auf ein Weibchen ein Männchen kommt, muss einen Biologen zum Grübeln bringen, denn dabei handelt es sich um ein offensichtlich ungünstiges Geschlechterverhältnis ( Box 5.3). Da nämlich ein Männchen mit relativ geringem Aufwand eine Menge Spermien produziert, kann es potenziell viele Weibchen befruchten, und weil die Herstellung eines Männchens üblicherweise genauso aufwendig ist wie die Herstellung eines Weibchens und das Populationswachstum unmittelbar von der Zahl der Weibchen beeinflusst wird, scheint es unsinnig zu sein, dass die Natur in viele überflüssige Männchen investiert. Andererseits stimmt es natürlich, dass das 1:1-Verhältnis unter dem Gesichtpunkt der Genrekombination am günstigsten ist. Wäre das Geschlechterverhältnis 1:100, würden in einer hundertköpfigen Population die Spermien eines einzigen Männchens für die Befruchtung aller Weibchen ausreichen – aber alle Nachkommen einer solchen Population besäßen eine ziemlich uniforme väterliche Genomhälfte. Das Verhältnis von 1:1 ermöglicht die maximale Kombinierbarkeit der Gene und somit auch die vielfältigste Nachkommenschaft. Sollte allerdings in einer Population mit einem Geschlechterverhältnis von 1:1 ein mutiertes Weibchen auftauchen, das in der Lage wäre, fast ausschließlich Töchter zu gebären, würde es viel mehr Enkelkinder haben und seine Eigenschaften würden bald überwiegen. Dass sich diese Strategie eines Tages negativ auf die Population auswirken wird, weil diese dann genetisch nicht ausreichend variabel wäre, ist eine andere Sache. Wir würden erwarten, dass mehr Arten mit unausgewogenem Ge-
5.4 Geschlechterverhältnis: Adaptation und Stabilität
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schlechterverhältnis vorkommen, die dafür bislang nicht „bestraft“ wurden, als es tatsächlich gibt. Warum also beträgt das Geschlechterverhältnis bei den meisten Arten in etwa 1:1? Die Antwort lautet: Weil es evolutionär stabil ist ( Abschnitt 2.7). Sobald Töchter produzierende Mutanten erscheinen und in der Population überwiegen, werden Söhne allmählich seltener. Jedes Männchen wird sich reproduktiv betätigen, weil die Männchenkonkurrenz um die Weibchen nachlässt. Daher wird es vorteilhaft sein, Söhne zu bekommen und jeder Söhne produzierende Mutant wird Erfolg haben. Nach einiger Zeit wird sich das Geschlechterverhältnis umkehren, es wird wieder viele Männchen geben, Weibchen werden rar und es beginnt günstig zu sein, Töchter zu produzieren. Das Verhältnis von 1:1 ist nur eine imaginäre Größe, um die die tatsächlichen Geschlechtsverhältnisse | 5.3 |
Elterninvestitionen und das Geschlechterverhältnis Das Geschlechterverhältnis (englisch sex ratio) beschreibt das Zahlenverhältnis von Männchen zu Weibchen (und es ist allein der Tradition geschuldet, dass die Männchen an erster Stelle stehen). Das primäre Geschlechterverhältnis (zum Zeitpunkt der Befruchtung) und das sekundäre Geschlechterverhältnis (beim Schlüpfen, bei der Geburt) beträgt bei den meisten Tieren 1:1 oder 0,5 bzw. 50 Prozent – wenn der Anteil der Männchen pro 100 Tiere angegeben wird. Das tertiäre Geschlechterverhältnis (unter Adulten) sowie auch das effektive Geschlechterverhältnis (unter den reproduktiv aktiven Mitgliedern der Population) kann dagegen in Raum und Zeit stark aus dem Gleichgewicht geraten. Die Abweichungen von der Norm beschäftigen die Evolutionsbiologen seit Darwin. Ein Geschlechterverhältnis von 1:1, das die meisten Tierpopulationen charakterisiert, stellt eine evolutionär stabile Strategie dar ( Abschnitt 2.7) Denn würden in einer Population Weibchen überwiegen, die fast nurTöchter zeugten, wären die Männchen bald eine Rarität. Nun könnte sich jedes Männchen reproduzieren, und es wäre vorteilhaft, Söhne zu zeugen. Nach einer bestimmten Zeit würde sich folglich in unserer hypothetischen Population das Geschlechterverhältnis wieder umkehren. Es gibt viele Berichte, die zeigen, dass bei manchen Tierarten auch das sekundäre Geschlechterverhältnis in Raum und Zeit von 1:1 abweichen kann. Manche Studien erlauben die Annahme, dass bei einigen Tierarten die Eltern (meist die Mütter) fähig sind, das Geschlechterverhältnis der Nachkommen zu manipulieren ( Box 5.4). Verschiedene theoretische Modelle versuchen das unausgeglichene Geschlechterverhältnis zu erklären und
fragen nach dem Anpassungswert des Phänomens. Am bekanntesten ist die Hypothese von Trivers und Willard (1973) ( S. 298), nach der der prozentuale Anteil der Söhne im Wurf mit der physischen Kondition der Mutter positiv korreliert sein sollte. Die Männchen müssen um ihren Reproduktionserfolg stärker konkurrieren als die Weibchen; sie sind zumindest bei den Säugetieren in der Regel auch größer als die Weibchen und verlangen eine höhere Investition. Es ist anzunehmen, dass die Söhne von kräftigeren Müttern „besser auf das Leben vorbereitet sind“ und ihren Müttern mehr Enkelkinder schenken. Dagegen werden sich wahrscheinlich dieTöchter unabhängig von der Höhe der mütterlichen Investition fortpflanzen können. Daher wäre es für eine Mutter, die über weniger Ressourcen verfügt, sinnvoller,Töchter zu produzieren − soweit die Hypothese. Tatsächlich unterstützen einige Analysen und Untersuchungen die Hypothese (z. B. bei Beutelratten, Rothirschen, Zebras). Die Ergebnisse der experimentellen Überprüfung der Hypothese waren jedoch inkonsistent. Während einige zumindest tendenziell dieTrivers-Willard-Hypothese bestätigen, zeigen andere keine oder sogar eine gegenläufige Tendenz. So wurde festgestellt, dass gut gefütterte Mäuse mehr Söhne zeugen, wohingegen gut ernährte Ziegen und Schafe mehr Töchter gebären. Der Mechanismus der Verschiebung des Geschlechterverhältnis könnte aber auch einfacher, und im Prinzip nichtadaptiv, sein − so haben Kruuk et al. (1999) gezeigt, dass bei Rothirschen in schlechten Zeiten mehr männliche Embryonen absterben, und zwar nur deshalb, weil sie empfindlicher sind als weibliche Embryonen.
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Robert L. Trivers Lebensdaten: geb. 1943 Nationalität: US-amerikanisch Leistung: Evolutionsbiologe, Anthropologe. Bekannt wurde er vor allem durch das Konzept des reziproken Altruismus und als Mitautor der Trivers-Willard-Hypothese, die ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis aufgrund der unterschiedlichen mütterlichen Investition erklärt. Weitere wichtige Beiträge leistete T. zur Problematik des Eltern-Kind-Konflikts, zur sexuellen Selektion, zum Männchen-Weibchen-Konflikt und zur evolutionären Psychologie (Täuschung und Selbsttäuschung). »Für seine fundamentale Analyse von sozialer Evolution, Konflikt und Kooperation« wurde er 2007 mit dem Crafoord-Preis („der komplementäre Nobelpreis“) ausgezeichnet. Abweichungen vom 1:1Geschlechterverhältnis sind in der Regel instabil: Abweichungen werden früher oder später kompensiert, sodass das Ausgangsverhältnis irgendwann wiederhergestellt ist. Mehr Nachkommen des Geschlechts zu zeugen, das eine höhere Sterblichkeit hat (auch wenn dieses Geschlecht reproduktiv erfolgreicher ist), bedeutet Nachkommen mit überdurchschnittlicher Sterblichkeit zu produzieren.
Milben aus der Familie Pyemotidae haben nur einen Sohn und mehrere Töchter. Mehr Söhne zu produzieren, würde die Fitness nicht erhöhen können, da die Nachkommen bereits im mütterlichen Körper befruchtet werden.
oszillieren. Jede Abweichung von diesem Gleichgewicht ist instabil, und die gleiche Kraft, die zu dieser Abweichung geführt hat – also das Bestreben, den reproduktiven Gewinn zu maximieren –, wird zur Wiederherstellung der bisherigen Verhältnisse führen. Diese Überlegung bezieht sich zwar auf die primäre Bestimmung des Geschlechterverhältnisses, also das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Zygoten, gilt aber im Prinzip auch für das spätere Leben. Selbst wenn ein Geschlecht, üblicherweise das männliche, eine höhere Sterblichkeit hat und die restlichen Männchen dadurch reproduktiv erfolgreicher werden, bedeutet das noch nicht, dass es sich für die Weibchen lohnen würde, mehr Söhne auf die Welt zu bringen. Der reproduktive Erfolg der überlebenden Söhne wird nämlich durch den Misserfolg der toten Söhne aufgehoben – und zum Zeitpunkt der Geburt weiß niemand, wie sie gedeihen werden. Mehr Nachkommen des Geschlechts zu zeugen, das eine höhere Sterblichkeit hat, bedeutet auch, Nachkommen mit überdurchschnittlicher Sterblichkeit zu produzieren. Dies alles ist allerdings unter normalen Umständen sinnvoll, wenn die Eltern Nachkommen zeugen, ohne zu wissen, wie erfolgreich der jeweilige Nachkomme auf dem „globalen Markt“ sein wird, wo er auf andere Artgenossen trifft. Die Eltern müssen in dieser Situation mehr oder weniger statistisch den potenziellen Erfolg „berechnen“. (Sicherheitshalber wiederholen wir, dass kein Elternteil tatsächlich etwas kalkuliert, aber wer die gegebenen Randbedingungen ignoriert, wird nicht lange im Spiel bleiben.) Es gibt jedoch auch Fälle, in denen ein Elternteil als Angehöriger einer Art, bei der es nur zur lokalen Konkurrenz um Geschlechtspartner kommt, ganz genau weiß, wie die Situation für seine Nachkommen aussehen wird. Wer sicher sein kann, dass sein Sohn mit seinen Töchtern Nachkommen zeugen wird und nicht mit anderen Weibchen, der muss sich nicht darum bemühen, viele Söhne zu haben, denn für die Befruchtung vieler Töchter reicht ein Sohn vollkommen aus. Und so etwas gibt es wirklich. Die Milben aus der Familie Pyemotidae, deren Junge sich noch im Körper der Mutter befruchten, haben nur einen Sohn und mehrere Töchter. Der Druck auf ausgeglichene Chancen der Nachkommen in einer nicht geregelten Lotterie ist hier dem Druck auf die Maximierung des direkten Reproduktionsgewinns gewichen, dem Druck auf die Produktion von Söhnen. Und zwar nur deshalb, weil es sich in diesem Fall nicht um eine Lotterie handelt.
5.4 Geschlechterverhältnis: Adaptation und Stabilität
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Eine andere Möglichkeit, wie es zur Verschiebung im Geschlechterverhältnis kommen kann, lässt sich bei Populationen mit Haremsstrukturen beobachten. Bei diesen sogenannten polygynen Arten, z. B. Rothirschen oder Seelöwen, sind einige Männchen, und zwar die Haremseigentümer, außerordentlich reproduktiv erfolgreich, während viele ihrer Konkurrenten sterben, noch bevor sie das Fortpflanzungsalter erreichen oder durch ihre Misserfolge im reproduktiven Wettkampf zu einem mehr oder weniger straffen Zölibat verurteilt sind. Wie schon gesagt, kann ein durchschnittliches Weibchen nichts gewinnen, wenn es unter diesen Umständen mehr Söhne gebiert, weil es keine Garantie hat, dass seine Söhne mehr als durchschnittlich erfolgreich sein werden. Allerdings kann man sich ein Weibchen vorstellen, das ziemlich genau „weiß“, dass es über dem Durchschnitt liegt, und dass auch seine Nachkommen überdurchschnittlich sein werden. Ranghohe Weibchen, deren Nachkommen stark und gut ernährt sind, bringen deutlich mehr Söhne zur Welt (die stark und gut ernährt sein müssen, um einen Harem zu gewinnen und zu verteidigen), während die niedriger gestellten Weibchen mehr Töchter produzieren. Diese Verschiebung ergibt sich unmittelbar aus der Tatsache, dass die Weibchen nicht um die Geschlechtspartner an sich konkurrieren, weil es genügend Männchen und noch viel mehr Spermien gibt. Deutlich größere Konkurrenz herrscht unter den Männchen, und auf die individuelle Qualität des jeweiligen Männchens kommt es viel mehr an. Fast jedes Weibchen gelangt zur Fortpflanzung, was für die meisten Männchen nicht gesagt werden kann, und in einer Haremsstruktur gilt dies schon gar nicht. Die soziale Stellung beeinflusst den reproduktiven Erfolg der Nachkommen, entweder weil die soziale Stellung wie z. B. bei Adelsgeschlechtern direkt vererbt wird oder weil die guten Eigenschaften weitergegeben werden, die es den Eltern ermöglichten, diese Stellung einzunehmen. Für Eltern niederen Rangs lohnt es sich nicht, Söhne zu zeugen, die wahrscheinlich ebenfalls von niederem Rang sein werden, und sie in einen hoffnungslosen Kampf zu schicken. (Vergessen wir nicht, dass wir von Gesellschaften mit polygynem Paarungssystem sprechen.) Auf welche Art und Weise die Eltern das Geschlechterverhältnis regulieren können, ist aus dem Blickwinkel der Evolutionsbiologie nicht besonders interessant ( Box 5.4). Wo molekulare und hormonelle Regulationsmechanismen versagen, kann man spontane Aborte oder auch die Tötung (Infantizid) der Jungen des „unerwünschten“ Geschlechts beobachten. In Indien entscheiden sich 96 Prozent der Mütter für einen Schwangerschaftsabbruch, wenn sie erfahren, dass sie eine Tochter erwarten, während alle Frauen einen Sohn behalten würden. Hier sollten wir ergänzen, dass die Inderin, die das Geschlecht ihres Embryos in Erfahrung bringen kann, eher zu einer hochrangigen Familie gehört. Es ist kein Wunder, dass die chinesische Regierung angesichts des unausgeglichenen Geschlechterverhältnisses von 117:100 zugunsten neugeborener Söhne (in einigen Regionen bis zu 144:100) die pränatale Diagnostik zu verbieten versucht. Wie es amerikanische Präsidenten geschafft haben, drei Söhne auf je zwei Töchter zu bekommen (die letzten drei Präsidenten sind in dieser Hinsicht nicht repräsentativ) wissen wir nicht – direkter Infantizid wird in diesen Kreisen eher eine Seltenheit sein.
Bei polygynen Arten ist das effektive Geschlechterverhältnis stark zugunsten der Weibchen verschoben.
Ranghohe Weibchen tendieren dazu, mehr Söhne zu produzieren, die eine höhere Chance haben, später dominant zu sein und sich fortzupflanzen.
Die proximativen Mechanismen der Regulation des Geschlechterverhältnisses sind vielfältig und meist noch wenig erforscht. Sie umfassen molekulare und hormonelle Mechanismen, aber auch Infantizid des „unerwünschten“ Geschlechts.
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5 Adaptation
| 5.4 |
Manipulation des Geschlechterverhältnisses Die physiologischen Mechanismen für die beobachtete Variation des Geschlechterverhältnisses bei Säugetieren sind weitgehend unbekannt. Diskutiert werden unterschiedliche Motilität und Sterblichkeit von X- bzw. Y-Chromosomen tragenden Spermien, Unterschiede in der Sterblichkeitsrate von männlichen gegenüber weiblichen Blastozysten sowie der Zusammenhang zwischen der geschlechtspezifischen Entwicklungsrate der Blastozysten, ihrer Sterblichkeit und der physiologischen Vorbereitung der Gebärmutter zur Einnistung. Der Zeitpunkt der Begattung bezogen auf den Zeitpunkt der Ovulation bzw. Befruchtung könnte die beiden Geschlechter unterschiedlich fördern. Es werden mehr Söhne gezeugt, wenn die Besamung kurz vor als wenn sie zum Zeitpunkt der Ovulation stattfindet. Häufige Paarungen, wie sie bei Weibchen in guter Kondition bzw. bei Weibchen mit höherem Dominanzstatus anzunehmen sind, könnten so die Chancen für die Befruchtung mit einem ein Y-Chromosom tragenden Spermium bzw. die Einnistungschancen für die kurzlebigeren männlichen Blastozysten erhöhen. Es wurden zahlreiche andere Faktoren getestet, wie z. B. das Alter der Mutter (die Wahrscheinlichkeit einen Sohn zu gebären steigt mit dem Alter bei der Hirschkuh, sinkt jedoch angeblich bei der Frau) oder der Zeitpunkt der Empfängnis (in den USA scheinen im Februar und im Juni mehr Jun-
Die Adaptation des Geschlechterverhältnisses ist wie ein „Spiel“, das zu einer langfristig stabilen „Klimaxlösung“ führt.
gen geboren zu werden als in den übrigen Monaten, während es in Deutschland die Monate April und Mai sind). Und so könnte die Liste von Faktoren, welche mit dem ungleichen Geschlechterverhältnis bei verschiedenen Tierarten wie auch beim Menschen korrelieren, noch weiter fortgesetzt werden. Leider sind die Ergebnisse dieser Studien meist nicht reproduzierbar und können nicht verallgemeinert werden. Lediglich die intrauterine Position der Mutter ( Box 2.31) scheint das Geschlechterverhältnis ihrer Nachkommen konsistent zu beeinflussen. Die Mütter, die neben ihren eigenen Brüdern in der Gebärmutter heranwuchsen und dadurch maskulinisiert wurden, zeugen überdurchschnittlich viele Söhne. Die Geschlechtshormone beeinflussen die Aktivität von zwei Substanzen: das im Nebenhoden produzierte Glycerylphosphorylcholin (GPC) sowie das im Genitaltrakt der Weibchen produzierte Enzym Glycerylphosphorylcholin-Diesterase (GPCD). Ein hoher Spiegel dieser Stoffe korreliert mit einem zugunsten der Männchen verschobenen Geschlechterverhältnis. Interessanterweise führt periodisches Hungern (Futterdeprivation an jedem zweiten Tag) sowie auch eine mit Calcium und Magnesium angereicherte Nahrung bei Laborratten zur Herabsetzung der GPCD-Aktivität in der Gebärmutter und zu Würfen mit einer höheren Anzahl von Töchtern.
Wie man sieht, sind das Geschlechterverhältnis von 1:1 und die verschiedenen Möglichkeiten, es zu umgehen, adaptiv, aber in allen Fällen handelt es sich um eine „Adaptation durch ein Spiel“, das zu einer langfristig stabilen „Klimaxlösung“, nicht jedoch zu einer technisch optimalen Lösung führt.
5.5 Adaptation, Geschichte und Funktion
Wäre nur die natürliche Selektion am Werk, wären alle neuen Merkmale adaptiv und alle Organismen völlig zweckmäßig gebaut.
Vor nicht allzu langer Zeit glaubten wir noch, dass alles in der Natur einen Sinn hat, und zwar deshalb, damit es einen Sinn hat: Wenn ein Organismus eine bestimmte Eigenschaft oder Struktur besaß, dann deshalb, weil er sie brauchte, und wenn er sie nicht besaß, dann, weil er sie nicht brauchte. Eigentlich ist es merkwürdig, dass die Menschen, die in einer Welt leben, in der nach Meinung vieler nichts richtig funktioniert, eine so erfreulich optimistische Sichtweise auf den Lauf der Dinge annehmen konnten. Wenn wir davon ausgehen, dass neue Merkmale nur durch natürliche Selektion entstehen, müssten in der Tat alle neu entstandenen Merkmale Adaptationen sein (denn sonst hätte sie die Selek-
5.5 Adaptation, Geschichte und Funktion
tion nicht überleben lassen). Anpassung wird somit zu einem zentralen Begriff der Evolutionsbiologie: Wir haben uns die Evolution als Geschichte zurechtgedacht, die erklären soll, dass Organismen völlig zweckmäßig gebaut sind. Diese Zweckmäßigkeit mit dem Wirken Gottes zu erklären, war uns zu simpel ( Box 1.2). Noch einmal, damit klar ist, worüber wir reden: Wir sprechen hier von evolutionären Adaptationen, von adaptiven Eigenschaften ganzer Populationen und Arten, wir sprechen nicht über „Anpassung“ im alltäglichen Sinn ( Box 5.1). Ein Bergsteiger kann sich nicht an den Aufenthalt in hohen Gebirgen „adaptieren“ – er kann sich höchstens daran gewöhnen und sich akklimatisieren (daran adapiert sind nur Hochgebirgspopulationen wie die Sherpas im Himalaja oder die Quechuas in den Anden). Eine Adaptation kann hier die Fähigkeit sein, sich zu akklimatisieren, nicht aber die Akklimatisation an sich. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, welche Eigenschaften der Organismen eigentlich adaptiv sind. Die einfache Vorstellung, dass das adaptiv ist, was funktioniert, ist nämlich nicht evolutionär. Wenn wir uns die Welt aus der historischen Perspektive anschauen, ist die gegenwärtige Funktion nur ein Aspekt der Sache, nicht weniger wichtig ist auch die Art und Weise ihrer Entstehung. Wenn etwas „zufälligerweise“ entstanden ist, aber erst Jahrtausende später nützlich wird, dann ist das etwas anderes, als wenn es „zum Zweck“ dieses Nutzens entstanden ist ( Box 1.2). Ist die Fischflosse eine Adaptation an das Schwimmen, weil der Fisch mithilfe der Flossen schwimmt? Nicht unbedingt, wenn nämlich die Flosse ursprünglich nicht durch Selektion gut schwimmender Individuen entstanden ist, sondern irgendwie anders. Die Fischflosse können wir als Beweis für die Existenz Gottes, als Beweis für lamarckistische adaptive Änderungen wie auch als Beweis für die natürliche Selektion heranziehen. Die verschiedenen Weltanschauungen sind letztendlich ideologischer Natur, und mit wissenschaftlichen Methoden lässt sich nicht entscheiden, welche „besser“ oder „richtiger“ ist. Wenn wir die ideologischen Differenzen einmal beiseite lassen, würden wir feststellen, dass sie alle etwas gemeinsam haben: nämlich den Glauben, dass der Grund ihrer Existenz ihre Funktion ist. Diese Sichtweise wird abwertend als Panadaptationismus oder noch abwertender als „Panglossismus“ bezeichnet ( Box 5.21). Doktor Pangloss ist eine Figur, die sich Voltaire ausgedacht hat, um seinen Kollegen Leibniz lächerlich zu machen. Gottfried Wilhelm Leibniz hielt unsere Welt nämlich für die beste aller möglichen Welten (denn Gott, der Allmächtige, könnte unendlich viele logische Welten schöpfen, doch da Gott, der Gutmütige, nur eine einzige Welt erschuf, muss sie die vollkommene sein). Pangloss denkt genauso, aber er führt diese Idee ad absurdum, z. B. indem er die Nase als ein zum Tragen von Brillen bestimmtes Organ interpretiert (Abb. S. 284). Pangloss lebt somit in einer Welt der allgemeinen Nützlichkeit. Bevor wir uns aber über die heutigen (nicht seltenen) „Panglosse“ lustig machen, sollten wir ein alternatives Konzept vorschlagen. Was aber sind die Eigenschaften und Merkmale der Organismen, wenn es keine Adaptationen sind?
301
Unter „Adaptation“ verstehen wir eine artspezifische, genetisch verankerte Anpassung, die durch natürliche Selektion entstanden ist und von Anfang an der gegebenen Funktion gedient hat.
Die einfache Vorstellung, dass das adaptiv ist, was funktioniert, ist oft falsch.
Die Sichtweise, dass alle Strukturen und Eigenschaften Adaptationen darstellen, wird abwertend als Panadaptationismus oder „Panglossismus“ bezeichnet.
302
5 Adaptation
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Vavilovs Gesetz der homologen Reihen Die strukturalistische Auffassung der Art beruht auf der Vorstellung, dass der Phänotyp vor allem von konstruktionsbedingten Zwängen und der Art der ontogenetischen Prozesse bestimmt wird. Selektion und Gendrift spielen nach Meinung der Strukturalisten nur eine untergeordnete Rolle. Ihrer Ansicht nach gibt es nur eine beschränkte Zahl von Möglichkeiten, wie man aus Biomolekülen mithilfe der existierenden ontogenetischen Prozesse einen funktionierenden Organismus aufbauen kann. Jede existierende Art müsste demnach ein Beispiel für die konkrete Realisierung einer dieser Möglichkeiten darstellen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind Ansätze bekannt, Gruppen und Untergruppen sowie homologe Reihen von Organismen nach dem Vorbild chemischer Gruppen zu beschreiben. Ähnlich wie Mendelejew, der die chemischen Elemente in einer Tabelle (dem sogenannten Periodensystem) angeordnet hatte, versuchte man, auch Organismen in Tabellen zu klassifizieren, sodass diese Tabellen Eigenschaftskombinationen zeigen, welche man bei möglichen Varianten von Organismen theoretisch erwarten könnte. Diese Tabellen bildeten „Koordinatensysteme” für die Merkmale realer Organismen. Später wurden diese Prinzipien sowohl in der Taxonomie einiger Organismengruppen als auch in Studien zur Variabilität genutzt. Die Daten aus Variabilitätsreihen, ähnlich den Reihen chemischer Substanzen, wurden von N. I. Vavilov ( S. 303) verallgemeinert: Bei verwandten Arten existieren Anlagen für einige identische Eigenschaften, wobei bei jeder Art nur eine dieser Eigenschaften realisiert ist. Durch künstliche Zuchtwahl (und damit Befreiung von der natürlichen Selektion) können sich in einer gegebenen Art auch mehrere dieser Eigenschaften durchsetzen. Als Vavilov das Gesetz der homologen Reihen 1920 in Saratov erstmals öffentlich vortrug, wurde er enthusiastisch als „Mendelejew der Biologie“ gefeiert. Und in der Tat ermöglichte das Gesetz, ähnlich wie das Periodensystem der chemischen Elemente, auf der Grundlage bekannter Zusammenhänge die Vorhersage der Existenz noch unbekannter Formen, die dann tatsächlich auch gefunden wurden. Bekannt ist die Gültigkeit des Gesetzes für Hülsenfrüchtler, Gräser und Kreuzblütler (Abb. 5.3). Neben morphologischen Merkmalen gibt es homologe Wiederholungen auch bei physiologischen Merkmalen wie Variabilität, Widerstandsfähigkeit gegen niedrige Temperaturen und Krankheiten, Länge der Vegetations-
zeit, photoperiodisches Reaktionsvermögen, Gehalt an primären Pflanzenstoffen (Kohlenhydrate, Proteine, Fette) und an sekundären Pflanzeninhaltsstoffen (Alkaloide, Glycoside, Gerbstoffe). Das strukturalistische Modell könnte auch die Diversität der Schmetterlingsflügel bzw. die interspezifische Variabilität von nichtadaptiven Merkmalen im Rahmen einer Gattung erklären. Entwicklungseinschränkungen könnten auch eine Rolle in der Evolution der Viren oder Bakterien spielen; dennoch scheint dieses Modell keine breitere, geschweige denn eine allgemeine Gültigkeit zu haben. Die Etablierung von Systemen, die mit denen der Chemie vergleichbar sind, ist in der Biologie offenbar nicht möglich. In der Biologie hängen alle großen Verallgemeinerungen mit der Idee der Evolution zusammen.
5.3 Vavilovs homologe Reihen beim Weizen und bei der Gerste. Gleiche Phänotypformen, in diesem Fall unterschiedliche Typen des Verlusts oder der Modifikation von Grannen, erscheinen parallel bei verschiedenen Pflanzenarten. 1−4 Saat- oder Weichweizen Triticum aestivum (2n = 42 Chromosomen); 5−8 Hartweizen Triticum durum (2n = 28); 9−12 Gerste Hordeum vulgare. (Nach Vavilov 1967)
303
5.5 Adaptation, Geschichte und Funktion
Manche Morphologen und Embryologen – insbesondere die aus (Kontinental-)Europa und weniger die aus der angelsächsischen Welt – dachten (und denken teilweise bis heute), dass die Organismen deshalb so aussehen, wie sie aussehen, weil ihre Morphologie den allgemeinen strukturellen Gesetzen unterliegt. Wenn also etwas entsteht, kann es zu irgendetwas gut sein, aber eine Funktion steht nicht im Vordergrund. Es gibt nur eine beschränkte Zahl biologischer Formen, so wie es nur eine beschränkte Zahl chemischer Elemente gibt, wobei diese beschränkte Diversität der Elemente nicht durch irgendeine beschränkte Zahl von „Rollen“ vorgegeben ist, die diese Atome in der Natur spielen, sondern durch ihre beschränkte Entstehungsweise; denn die Elementarteilchen werden in natürlichen Zahlen gezählt und zwischen dem Wasserstoff mit einem Proton und dem Helium mit zwei Protonen kann kein anderes Element stehen. Wenn in der Biologie die Funktion eine vorrangige Rolle spielen würde, warum sollten dann verschiedene Wirbeltierbeine, die den unterschiedlichen Bewegungsarten dienen, aus denselben Elementen bestehen? Nach Meinung einiger Leute wären zwei ähnliche Organismenarten nicht mit zwei ähnlichen Äxten (z. B. Zimmermannsaxt und Kriegsbeil) vergleichbar, weil die Härte von Holzklötzen und Schädeln vergleichbare funktionelle Ansprüche stellt, sondern mit zwei sich ähnelnden Schneeflocken, die sich deshalb ähnlich sind, weil das Wasser nicht anders kristallisieren kann als in einem hexagonalen System. Die Vorstellung, es könnte eine Mendelejews Periodensystem der Elemente vergleichbare „Tabelle der biologischen Formen“ geben, die von der Selektion und vielleicht auch von der Geschichte unabhängig ist, taucht in der Biologie hin und wieder auf; in den letzten Dekaden wurde sie als „biologischer Strukturalismus“ bezeichnet ( Box 4.15, 5.5–5.6, Abb. 5.3). Dass heute automatisch der Glaube an die Evolution mit dem Glauben an einen zweckmäßigen Bau der Organismen verschmilzt, ist unser Fehler, ein Gebot (oder eine Gewohnheit?) unseres gegenwärtigen biologischen Denkens.
Einige Wissenschaftler meinen, dass allgemeine strukturelle Gesetze die Morphologie bestimmen. Bei der Entstehung von Neuem stünde dann nicht die Funktion im Vordergrund.
Es gibt kein „Periodensystem der biologischen Formen“.
Nikolai Iwanowitsch Vavilov (Wawilow) Lebensdaten: 1887–1943 Nationalität: russisch Leistung: Botaniker, Genetiker, Pflanzenzüchter, Forschungsreisender. Er begründete dieTheorie von den geographischen Genzentren der Kulturpflanzen (Entstehungszentren der Kulturpflanzen), die von außerordentlicher Bedeutung für die internationale Kulturpflanzenforschung sind. Die weltweit größte Sammlung genetischer Ressourcen von Kulturpflanzen existiert derzeit im Vavilov-Institut in Sankt Petersburg. Bekannt ist V. auch für die Formulierung des „Gesetzes der homologen Reihen“. Aufgrund von Anschuldigungen durch T. Lysenko ( Box 2.32), einem treuen Anhänger Stalins, wurde V. 1940 seiner Ämter enthoben und zum Tode verurteilt. Dieses Urteil wurde in 20 Jahre Haft umgewandelt. V. starb im Gefängnis, wahrscheinlich an Hunger.
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5 Adaptation
| 5.6 |
Hydraulik-Theorie In den 1970er- bis 90er-Jahren war im deutschsprachigen Raum die Hydraulik-Theorie der Evolution, oft auch als „Frankfurter Evolutionstheorie“ bezeichnet, von Wolfgang Friedrich Gutmann (1935– 1997) populär. Wie viele andere Evolutionskonzepte davor und danach, stellte Gutmanns Theorie einen ambitionierten Versuch dar, die angeblich falsche „traditionelle darwinistische Selektionstheorie“ zu ersetzen. Dabei konnte sie nie eine dem Darwinismus ähnliche, globale und allgemeine Evolutionserklärung anbieten, denn letztendlich beschäftigte sie sich nur mit den biomechanischen Aspekten der tierischen Baupläne. Die kritische Ablehnung des gesamten Darwinismus und die Beschränkung auf einen einzigen Aspekt der Evolution, wurde Gutmanns Theorie zum Verhängnis, obwohl manche ihrer Ideen durchaus inspirierend waren und die Evolutionstheorie hätten bereichern können. Gutmann verstand die Organismen als Konstruktionen und Energiewandler, die wie Maschinen arbeiten. Solche Konstruktionen, die sich arbeitend selbst mit Nahrung versorgen müssen, können nur nach Maßgabe ihrer inneren Eigenschaften und nur unter Erhaltung ihrer Leistungsfähigkeit als Konstruktionen im Evolutionslauf verändert werden. Selektion ist dann ein rein interner, durch
den Aufbau und die Leistung der Organismen begründeter Mechanismus. Lebewesen passen sich nicht an die Umwelt an, sondern dringen, soweit es ihre Konstruktion erlaubt, unter Konkurrenzdruck in die verschiedenen Lebensräume ein und entwickeln sich – immer nach Maßgabe ihrer internen Konstruktion – weiter. Evolution ist, nach Gutmann, somit kein von der Umwelt bestimmter Prozess, sondern wird von Aktivität und Aufbau der Lebewesen bestimmt und intern kontrolliert. In der Erklärung der Stammesgeschichte kommt bei Gutmann der Hydraulik-Mechanismus als durchgängiges Prinzip lebender Organisation ins Spiel. Leben ist an wässrige Lösungen in flexiblen Membranen gebunden. Solche Gebilde stellen hydraulische Apparate dar. Eine Abweichung von der automatisch gebildeten Kugelgestalt kann nur durch mechanisch wirkende Elemente, meist Verspannungen, aber auch Bandagen und Versteifungen erreicht werden. Bewegung besteht in der durch Energiewandel bewirkten Deformation der Konstruktion durch das Gleiten von Proteinfibrillen (Actomyosin in Zellen, Muskeln) oder von Mikrotubuli (Cilienbewegung). Gutmann hat den Hydraulik-Mechanismus zum grundlegenden Naturprinzip erkoren, das jede Formbildung und jede Bewegung bestimmt.
5.6 Wie studiert man Adaptationen?
Die Gehäuse der Hainbänderschnecken kommen in vielen Farbvarianten vor.
Um die Angepasstheit der Variationen zu testen, müssen wir Merkmale und Vorkommen im Einzelnen untersuchen.
In der ersten Phase des Studiums eines Phänomens muss man dieses Phänomen überhaupt erst einmal als etwas Bemerkenswertes wahrnehmen. Wenn wir nach einem Regenschauer am Wegesrand viele kleine Hainbänderschnecken (Cepaea nemoralis) antreffen, erscheint es uns vielleicht ungewöhnlich, wie viele verschiedene Farben und Zeichnungen wir bei den Individuen einer Art auf engem Raum finden: Es gibt gelbe, rosafarbene, bräunliche Tiere, solche ohne Zeichnung oder solche mit einem bis fünf dunklen Bändern (Abb. 5.4). Wenn wir dann auf die Idee kommen, dass verschiedene Färbungen verschiedene Adaptationen darstellen könnten, müssen wir anfangen, dieses Phänomen in seine Einzelheiten zu zerlegen. Wie ist die Verbreitung der unterschiedlichen Farbformen, und überwiegt vielleicht in irgendeinem konkreten Biotop eine Form? Falls dem so ist (und es ist so), kann es sich um eine thermoregulatorische Adaptation handeln (dunkle Gehäuse erwärmen sich besser und sollten daher in kälteren Biotopen, z. B. in Gebirgen überwiegen) oder um eine Antiprädationsadaptation, vielleicht eine Tarnfärbung, die die Schnecken vor Räubern
5.6 Wie studiert man Adaptationen?
305
5.4 Hainbänderschnecken (Cepaea nemoralis) sind bekannt für eine große Variationsbreite in Farbe und Zeichnung ihrer Gehäuse. (Nach www.mollus.ca/tgc/index.htm und weiteren Quellen)
schützt. Dann ist es wichtig zu wissen, ob Hainbänderschnecken tatsächlich von jemandem gejagt werden und, wenn ja, mit welchen Sinnen sich der Prädator dabei orientiert. Sind für ihn z. B. bestimmte Schnecken in einer bestimmten Umwelt schlechter sichtbar als dieselben Schnecken an einem anderen Ort?* Wir könnten es hier mit einer Adaptation zu tun haben, die gerade entsteht, sodass der morphologische, ökologische und vermutlich auch der genetische Polymorphismus in den realen Populationen (noch) vorhanden ist. Oder aber dieses Merkmal bleibt im polymorphen Zustand erhalten – z. B. dadurch, dass die Vögel vor allem die häufigeren Gehäusetypen aussuchen, sodass sich die selteneren Varianten erfolgreicher vermehren können. Dadurch würden die Vögel in der nächsten Generation lernen, gerade diese selektiv zu jagen (was die Phänotypen schützt, die in der Zwischenzeit seltener geworden sind). Die Eigenschaften, die uns ausreichend interessant erscheinen, um nach ihrer Bedeutung zu fragen, sind allerdings schon seit Langem fixiert. Wenn wir erfahren wollen, welchen Nutzen das Sonar für einen Delfin hat, müssen wir uns einen Delfin ohne Sonar ausdenken. Wir finden gewiss Tiere ohne Echoortungssystem – z. B. die gerade besprochene Hainbänderschnecke –, aber es ist schwer zu sagen, wie bedeutsam diese Tatsache bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage ist, welchen Nutzen das Sonar für einen Delfin hat, denn die Tiere ohne Sonar haben eine völlig andere Lebensweise und sind anderer Abstammung. Eine Hypothese zur adaptiven Natur irgendeiner Eigenschaft können wir auf verschiedene Art und Weise testen. Entweder sehen wir tatsächlich einen Polymorphismus in dieser Eigenschaft oder wir können ihn zumindest experimentell simulieren. Als letzte Möglichkeit können wir verschiedene Arten miteinander vergleichen und versuchen, aus den Experimenten, die die Natur für uns durchgeführt hat, irgendeine Regel abzuleiten – dabei fassen wir jede Art als ein mehr oder weniger erfolgreiches Design-Experiment auf und vergleichen, wie (auf welche Weise) die einzelnen Arten aufgebaut sind. Dafür müssen wir aber wissen, inwieweit diese Arten miteinander vergleichbar sind, d. h. wir brauchen * Unter http://www.evolutionmegalab.org/ wurde 2009 ein interessantes europaweites Forschungsprojekt zum Mitmachen gestartet.
Hypothesen zur adaptiven Natur einer Eigenschaft können wir auf verschiedene Art und Weise testen; experimentelle und vergleichende Methoden sind besonders wichtig.
306
Beim Vergleich von zwei oder mehr Arten müssen wir auch ihre phylogenetischen Verwandtschaftsbeziehungen berücksichtigen.
5 Adaptation
auch eine phylogenetische Hypothese über ihre Verwandtschaftsbeziehungen. Zwei Schwesterarten mit einer identischen, also homologen, Adaptation, stellen nämlich keine zwei unabhängigen Experimente dar.
Der experimentelle Ansatz
Guppys (Poecilia reticulata) in Trinidad kommen in zwei Typen von Bächen vor, wo sie mit zwei unterschiedlichen Raubfischarten zusammen leben.
Verglichen mit „Buntbarsch-Guppys“ werden „Zahnkarpfen-Guppys“ später erwachsen und investieren relativ wenig in die Fortpflanzung.
Guppys, die in unterschiedlichen Flüssen unter vergleichbaren Selektionsregimes leben, entwickelten unabhängig voneinander ähnliche Lebensstrategien. Diese Evolution lässt sich auch experimentell auslösen.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Optimierung, die Auswahl einer relativ optimalen Lebensstrategie, die den adaptiven Aufträgen der Umwelt am besten entspricht.
Der experimentelle Versuchsansatz wird zum Studium von Adaptationen sowohl in der Natur als auch im Labor verwendet. Eine Gruppe von Genetikern untersucht schon seit Jahren die Guppy-Populationen (Poecilia reticulata) in Trinidad. Sie leben dort in zwei Typen von Bächen zusammen mit zwei ganz unterschiedlichen Raubfischarten, dem Buntbarsch Crenicichla alta und dem Zahnkarpfen Rivulus harti. Der Buntbarsch ist ein wirklich starker Prädator für kleine Fische, während der Zahnkarpfen ein Allesfresser ist, der Guppys nur gelegentlich und zufälligerweise verschluckt und sich darüber hinaus auf Jungfische beschränkt. Die Guppys leben hier also unter zwei unterschiedlichen Selektionsregimes. Es zeigte sich, dass die „Zahnkarpfen-Guppys“ später erwachsen werden, sich weniger oft fortpflanzen und relativ betrachtet weniger Ressourcen in die Fortpflanzung investieren als die „Buntbarsch-Guppys“: Die produzieren weniger Jungtiere pro Wurf, dafür sind ihre Jungtiere aber etwas größer, da sie so der Prädation durch den Zahnkarpfen besser entgehen können. Für so eine Lösung muss man selbstverständlich zahlen, in diesem Fall in Form einer Reduktion der Reproduktionsaktivität. Die Guppys aus einem bestimmten Flussgebiet sind genetisch miteinander näher verwandt als die Fische aus einem anderen Flussgebiet, ohne Rücksicht auf den konkreten ökologischen Bachtyp. Ein „Buntbarsch-Guppy“ aus Flussgebiet A steht dem „Zahnkarpfen-Guppy“ aus demselben Flussgebiet genetisch näher als einem „Buntbarsch-Guppy“ aus Flussgebiet B. Die beiden Formen mussten also unabhängig voneinander in jedem der beiden Flussgebiete entstehen. Dies unterstützt die Schlussfolgerung, dass die Unterschiede in der Lebensstrategie der verschiedenen Guppy-Populationen wirklich adaptive Antworten auf unterschiedlichen Prädationsdruck darstellen. Und tatsächlich geschieht Erstaunliches, wenn ein kleiner Fluss durch Wasserfälle in „Zahnkarpfen“- und „Buntbarsch“- Abschnitte unterteilt ist und man „Buntbarsch-Guppys“ in einem „Zahnkarpfen“-Abschnitt aussetzt: Innerhalb weniger Generationen verlangsamt sich das Erwachsenwerden der Jungfische, die Wurfgröße wird kleiner, und die Neugeborenen werden größer. Adaptationen kann man auch mithilfe von direkten experimentellen Manipulationen untersuchen, z. B. durch Zugabe oder Wegnahme von Eiern in Vogelnester, denn der Idealzustand – viele große (also dotterreiche) Eier – wird normalerweise nicht erreicht. In diesem Fall muss man aus den Alternativen eine auswählen und die anderen vernachlässigen oder einen Kompromiss eingehen. Die Kompromisslösung kommt allerdings selten vor. Was wir untersuchen, ist also die Optimierung – das Aussuchen einer relativ optimalen Lebensstrategie, die den adaptiven Aufträgen der Umwelt am besten entspricht ( Box 5.7, 5.8, Abb. 5.5). Die Optimierung führt zur maximalen Verbesserung dessen, was ich am besten kann, und berücksichtigt, dass ich andere Sachen
5.6 Wie studiert man Adaptationen?
schlecht oder vielleicht auch gar nicht machen werde. Sie führt zur Spezialisierung, die durchaus Vorteile gegenüber der Generalisierung aufweist: Selbst der beste Zehnkämpfer wird keinen Wettkampf in einer der Einzeldisziplinen gewinnen. Der Optimierungsansatz fragt, welche der möglichen Strategien in der beobachteten biologischen Situation die „optimale“ ist. Wenn die Zahl der Eier eines Geleges zunimmt, sinkt der durchschnittliche Erfolg der aus diesen Eiern | 5.7 |
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Welche der möglichen Strategien ist in der beobachteten biologischen Situation „optimal“?
Life history und trade-offs Life history bzw. life histories bezeichnet, wie der Name bereits vermuten lässt, die Lebensgeschichte(n) eines oder mehrerer Organismen im vergleichenden und evolutionären Kontext. Üblicherweise wird der Begriff life history mit life history evolution synonymisiert. Zur „Lebensgeschichte“ zählen die populationsökologischen (demographischen) Parameter: z. B. Alter bei der Geschlechtsreife, Zahl und „Qualität“ der Nachkommen pro Reproduktionsepisode (Wurf-, Gelegegröße, Nesthocker, Nestflüchter) und die damit zusammenhängende Intensität der Brutpflege, Zahl der Reproduktionsepisoden pro Leben (Semelparie versus Iteroparie, Box 1.7), Lebenserwartung und Lebensdauer. Oft wird die Frage gestellt, warum es keinen „Darwin’schen Dämon“ gibt (einen Organismus, der sich sofort nach der Geburt reproduziert, ewig lebt und viele Nachkommen produziert), wenn doch die Selektion die Fitness fördert. Die Antwort lautet: Es gibt physiologische (insbesondere energetische), ontogenetische, phylogenetische, ökologische und zeitlich-räumliche Randbedingungen und Zwänge (englisch constraints), und die Organismen können nicht unbegrenzt in ihre Fortpflanzung investieren. Die Organismen sind bemüht, mit minimalen Bedürfnissen zu überleben und die maximale Anzahl an Nachkommen in die Welt zu setzen. Sie müssen wie Ökonomen Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen, einen wirtschaftlichen Kompromiss, den sogenannten trade-off, finden und ihre Strategien optimieren, um unter den gegebenen Randbedingungen eine maximale Fitness zu erzielen. Ein trade-off liegt dann vor, wenn man einen Aspekt nur dadurch verbessert (oder erreicht), dass man die Verschlechterung (oder den Verlust) eines anderen Aspekts in Kauf nimmt. Ein Organismus kann in der gegeben Zeit z. B. entweder in hohe Fekundität (Zahl der Nachkommen) oder in die „Qualität“ der Nachkommen (Größe und Reife bei der Geburt, die eine lange Entwicklungsdauer verlangen) und/ oder intensive Brutpflege, aber nicht in alles gleichzeitig investieren ( Box 5.8).
Die Kosten-Nutzen-Analysen können empirisch, vergleichend und experimentell besonders gut bei Vögeln durchgeführt werden. Als Pionier dieser Untersuchungen und Denkweisen gilt David Lack ( S. 308). Optimierungsstrategien und KostenNutzen-Abwägungen betreffen nicht nur die life histories, sondern z. B. auch die Nahrungsökologie (Abb. 5.5).
5.5 Sundkrähen (Corvus caurinus) können Gehäuseschnecken und Muscheln aufschlagen, indem sie diese auf einen Felsen fallen lassen. Je höher sie fliegen, desto weniger Würfe benötigen sie, um das Gehäuse oder die Schalen zu öffnen. Wenn der Mollusk allerdings groß und dickschalig ist, muss die Krähe viel höher fliegen. Dazu braucht sie unter Umständen mehr Energie, als sie aus dem Körper ihrer Beute gewinnt. Die Krähen präferieren Schnecken und Muscheln mit Schalen bzw. Gehäusen, die sie aus minimaler Höhe einfach zerschlagen können. (Nach Zach 1978)
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Untersuchungen zur „optimalen“ Gelegegröße verschiedener Vogelarten zeigen, dass die Optimierung nicht zur Vollkommenheit führt.
Die adaptiven Änderungen der Lebensstrategien und Optimierungen können durch kurzfristigen und fluktuierenden Selektionsdruck ausgelöst werden und sind reversibel.
5 Adaptation
schlüpfenden Nachkommen, weil sie um so intensiver um die beschränkten Ressourcen kämpfen müssen (z. B. um die Nahrungsmenge, die die Eltern ihnen ins Nest bringen können). Die Eltern wollen möglichst viele Jungen produzieren, doch tun sie es wirklich, sterben einige der Jungen, sodass sie letztendlich weniger Nachkommen hinterlassen als die Konkurrenz aus der Nachbarschaft, deren Gelege viel kleiner waren. Das Gelege sollte aber auch nicht zu klein sein, denn die Jungen eines solchen Paares würden zwar überleben, doch gäbe es dann zu wenig von ihnen in der Population. Dieses einfache Modell nimmt an, dass sich der Erfolg der Eltern durch Multiplikation der Gelegegröße mit der Wahrscheinlichkeit, dass aus dem Ei ein erwachsenes Individuum entsteht, berechnen lässt. Mit dieser Formel kann man die maximale produktive Eizahl in einem Gelege ausrechnen. Große Untersuchungen fanden an Kohlmeisen in der Region um Oxford statt (Abb. 5.6). Die Forscher zählten dort etwa 4500 Gelege aus, die 4–14 Eier enthielten, wobei nach ihren Berechnungen das produktivste Gelege zwölf Eier umfassen sollte. Den Kohlmeisen hat das aber keiner gesagt, und so gaben die sich meist mit acht bis neun Eiern zufrieden. Warum? Wahrscheinlich weil die Kohlmeise nicht weiß, wie das Wetter sein wird, und deshalb ist ihr ein großes Gelege zu riskant. In einem klimatisch schlechten Jahr verliert sie unter Umständen viel mehr, wenn sie die maximale Gelegegröße voll ausreizt, als wenn sie nur acht Eier legt. Die Meise geht auf Nummer sicher. Große Gelege führen zu großem Ertrag, sind aber auch mit einer großen Unsicherheit verbunden, ob der Ertrag überhaupt realisiert werden kann. Die Optimierung führt wieder nicht zur Vollkommenheit. Die Adaptation liegt in der Wahl der bestmöglichen Alternative, die nicht unbedingt die beste (denkbare) sein muss. Die Adaptationisten haben viele ähnliche Beispiele für Adaptationen aufgezeigt; es handelt sich aber um reversible Änderungen, die durch kurzfristigen und hinsichtlich der Wirkungsrichtung chaotisch fluktuierenden Selektionsdruck ausgelöst werden. Selbst mit einer akademischen Laufbahn von 40 Jahren Dauer kann heute kaum noch jemand den langfristigen Selektionsdruck untersuchen, u. a. weil die derzeitige Forschungsförderung für ein Projekt selten mehr als ein paar Jahre umfasst. Die Ergebnisse der Studien betreffen eher die Populationsgenetik als die Evolution, und ob man solche Beobachtungen auf die
David Lambert Lack Lebensdaten: 1910–1973 Nationalität: britisch Leistung: Ornithologe, Populationsökologe. L. etablierte populationsökologische Studien zu den Lebensgeschichten (life histories) von Vögeln, mit der Betonung der Optimierung der Fortpflanzungsraten und der natürlichen Regulation der Gelegegröße. L. erforschte Galápagos-Finken und prägte die Bezeichnung „Darwinfinken“. Er trug wesentlich zur Erforschung des Vogelzugs bei. Daneben war er auch ein begnadeter Popularisierer, und seine Bücher, insbesondere The Life of the Robin („Das Leben des Rotkehlchens“, 1943) und Darwin‘s Finches („Darwins Finken“, 1947), waren sehr einflussreich.
5.6 Wie studiert man Adaptationen?
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5.6 Der „Schlechte-Jahre-Effekt” und die Gelegegröße bei Kohlmeisen. Die Zahl der überlebenden und sich fortpflanzenden Nachkommen wird als Funktion der Gelegegröße für drei qualitativ unterschiedliche Jahre illustriert. Rote Kurve: schlechtes Jahr: größtes Gelege mit 7 Eiern; gelbe Kurve: Durchschnittsjahr: größtes Gelege mit 9 Eiern; grüne Kurve: gutes Jahr: größtes Gelege mit 11 Eiern. Stellen wir uns eine Serie von schlechten und guten Jahren vor, die mit gleicher Häufigkeit vorkommen. Die durchschnittlichen Fitnesswerte (arithmetische Mittel) für Individuen mit Gelegen von 7−11 Eier sind durch blaue Kreuzchen (x) gekennzeichnet. Weil Individuen mit großen Gelegen in schlechten Jahren eine deutlich reduzierte Fitness aufweisen, ist die durchschnittliche Fitness für Individuen mit einer Gelegegröße von 11 Eiern die niedrigste. Die höhere Varianz der Fitness für die Individuen, die große Gelege haben, reduziert ihre geometrisch durchschnittliche Fitness (blaue Kreise). Für Gelege mit mehr als 13 Eiern sind die Linien gestrichelt dargestellt, weil solche Gelegegrößen unter natürlichen Bedingungen extrem selten vorkommen. (Nach Boyce und Perrins 1987)
Entstehung großer Evolutionsänderungen extrapolieren kann, ist wieder reine Glaubenssache. Trotzdem zeigen uns diese Beispiele, dass adaptive Erklärungen manchmal ziemlich kompliziert sind. Auch die Trivialität, dass Vögel mehr Schnecken fressen, die sie (gut) sehen als solche, die sie nicht sehen können, stellt ein kompliziertes und schlecht beschreibbares evolutionsökologisches System dar. Manche Selektionen wirken einander entgegen, und die resultierende Adaptation besteht dann aus verschiedenen Kompromissen. Selbstverständlich wäre es für die Kohlmeise am besten, wenn sie in jeder Saison mehrere große Gelege hätte, doch dafür reichen die Ressourcen nicht, und so kann sie entweder einige kleine Gelege oder ein großes haben. Beides hat Vorteile, aber beides ist nicht gleichzeitig realisierbar. Große Gelege findet man vor allem bei Meisen, weil sie in Höhlen brüten, wo das Risiko, dass jemand die Eier frisst, nicht sehr
Manche Selektionen wirken einander entgegen, was zu verschiedenen adaptiven Kompromissen führt.
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5 Adaptation
| 5.8 |
Warum leben wir nicht länger, warum altern wir? Verschiedene Organismen leben unterschiedlich lange. Die maximal mögliche Lebensdauer (englisch lifespan) ist artspezifisch, wird jedoch von den wenigsten Individuen erreicht. Die durchschnittliche (zu erwartende) Lebensdauer wird als Lebenserwartung (englisch life expectancy) bezeichnet. Es gibt − analog zu den Versuchen, das Altern zu erklären (s. u.) − viele Theorien, welche die maximale Lebensdauer betreffen. Die meisten proximaten Erklärungen gehen von einer (genetischen) Determinierung der Lebensdauer aus. So wurde gezeigt, dass die Zahl der Zellteilungen, die ein Klon von Zellen durchlaufen kann, festgelegt ist. Auch die Zahl der Herzschläge und Atemzüge korreliert mit der Lebensdauer bei verschiedenen Tieren. Die meisten Kleinsäugetiere haben eine höhere Stoffwechselrate (Herz- und Atemfrequenz) und leben weniger lang („schneller“) als die großen Säugetiere ( Box 4.8). Die Frage, warum die Organismen altern (und letztendlich sterben) ist nicht trivial und hat die Menschheit seit jeher beschäftigt. Es gibt mehr als 300 in Fachzeitschriften publizierte Hypothesen bzw. Theorien, die versuchen, die Ursachen des Alterns und damit auch der begrenzten Lebensdauer zu erklären. Dabei muss man zwischen zwei Fragestellungen unterscheiden: Die eine fragt nach den proximaten Mechanismen, die zweite nach den ultimaten Ursachen ( Abschnitt 2.1). Hier können nur einige der bekanntesten Erklärungen skizziert werden. Proximate Mechanismen des Alterns Abnutzung, Verschleiß – Zur Kategorie der Abnutzung zählt die Theorie der Verkürzung von Telomeren, jenen langen Abschnitten repetitiver Nucleotide am Ende der Chromosomen, die bei jeder Zellteilung ein bisschen verbraucht werden. Sobald dieTelomerenlänge eine bestimmte Grenze unterschreitet, kann sich die Zelle nicht mehr teilen und erneuern und stirbt ab. Ihre Lebensdauer ist somit wesentlich von der Telomerenlänge bestimmt. Die Verkürzung derTelomeren erklärt auch den sogenannten Hayflick-Effekt: Manche Zellen können nur eine bestimmte Zahl von Teilungen in ihrem Leben durchlaufen und sterben dann ab. Die Produktion des für die Verlängerung vonTelomeren notwendigen EnzymsTelomerase wird eingestellt. Eine Ausnahme stellen embryonale Stammzellen und Gametogonien sowie auch Krebszellen dar, die Telomerase besitzen und die sich folglich auch
unbegrenzt oft teilen können. Doch der Zusammenhang mit dem Altern des gesamten Organismus bleibt unklar, denn schließlich sind einige lebenswichtige Zelltypen, wie Herzmuskelzellen oder Neurone, im differenzierten Zustand ohnehin nicht teilungsfähig. Chemische Schädigung – Chemische Schädigung kann durch freie Radikale erfolgen, jene aggressiven chemischen Verbindungen, die als Nebenprodukte bei der oxidativen Phosphorylierung anfallen und durch Oxidation funktionale Makromoleküle wie z. B. Proteine oder Nucleinsäuren beschädigen. Sie können z. B. mit Superoxiddismutase, Vitamin C oder Melatonin abgefangen bzw. neutralisiert werden. Die Glykierung (englisch glycation) bezeichnet einen Prozess, bei dem Glucose ohne Beteiligung von Enzymen an Proteine gebunden wird. Eine Reduktion der Nahrungskalorien kann im Experiment bei Laborratten die Glykierungsrate verringern und die Lebenserwartung verlängern. „Altersgene“ – Solche Gene könnten nach einer bestimmten Zahl von Zellteilungen oder durch angesammelte Stoffwechselprodukte (wie z. B. Lipofuscin) eingeschaltet werden. Das rezessiv vererbliche Krankheitsbild der Progerie (WernerSyndrom) ist durch eine vorzeitige Vergreisung gekennzeichnet. Man vermutet, dass ähnliche genetische Mechanismen wie die, die Progerie auslösen, auch die normale Seneszenz begleiten könnten. Ein weiterer genetischer Faktor, der möglicherweise für die Zellalterung verantwortlich ist, könnte die Reprimierung des Gens für das Enzym Telomerase sein (s. o.). Ultimate Ursachen des Alterns Die Evolutionstheorien schließen einander nicht aus und betrachten das Altern als ein Produkt der natürlichen Selektion. Hierzu einige Erklärungsansätze: Anhäufung von schädlichen Mutationen im Alter (Medawar 1952): Eine allgemeine Eigenschaft der Lebewesen ist die Fähigkeit, sich fortzupflanzen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist bei einem Neugeborenen gleich null, dagegen bei einem jungen Adulten am höchsten. Mit fortschreitendem Alter sinkt sie jedoch, denn die „Gegenwahrscheinlichkeit“, dass das Individuum stirbt (durch Prädatoren, Parasiten, Unfall oder Hunger), nimmt zu. Wird ein mutiertes Gen vererbt, das im Nachkommen zum Tod vor der Geschlechtsreife oder zur Unfruchtbar-
5.6 Wie studiert man Adaptationen?
keit führt, wird es alsbald wieder ausselektiert. Wird die schädliche (die Lebenstüchtigkeit beeinträchtigende) Mutation dagegen erst nach Beginn der Fortpflanzungsfähigkeit exprimiert („angeschaltet“), kann sie immer weitergegeben werden (z. B. Chorea Huntington). Im Lauf der Evolution werden sich Gendefekte nach dieser Theorie also passiv anhäufen. Sie belasten die spätere Lebensphase immer mehr – der Organismus altert. Antagonistische Wirkung pleiotroper Gene (Williams 1957): Nach dieser Theorie gibt es Gene mit pleiotroper (= vielseitiger) Wirkung, die im jüngeren Alter die Fitness begünstigen und daher durch die Selektion gefördert werden, jedoch im Alter einen negativen Effekt haben. So könnte z. B. ein Gen die Speicherung von Calcium in Knochen junger Individuen fördern und damit Knochenbrüche verhindern. Im höheren Alter könnte dasselbe Gen das Risiko der Osteoarthritis (vom Knochen auf das Gelenk übergreifende Entzündung) erhöhen. Der wesentliche Unterschied zur vorgenannten Theorie ist, dass eine aktive Erhaltung der pleiotropen Gene im Genpool durch die Selektion angenommen wird. Theorie des „Wegwerf-Somas“ (Kirkwood und Holliday, 1979): Folgt man diesem Modell, ist es zwecklos, zu viel Energie für die Körpererhaltung
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und -reparatur zu verwenden, wenn die Chancen, lange in einer „gefährlichen Welt“ zu leben, ohnehin niedrig sind. In einer solchen Situation erscheint es sinnvoller, die verfügbaren Ressourcen in eine schnelle Fortpflanzung zu investieren, um dadurch die eigene Fitness zu halten. Da die verfügbare Energie limitiert ist, wird ein Individuum folglich gezwungen, „eine Entscheidung zu treffen“: Vermehrung oder Instandhaltung. Die Körper, die zugunsten einer frühen Fortpflanzung nicht repariert und instand gehalten werden, verschleißen auch schnell. „Den Jungen Platz machen“: Diese auf dem Konzept der Gruppenselektion ( Box 1.15) beruhende Erklärung erwähnen wir nur, weil sie eine in den Medien und in der Öffentlichkeit populäre, weit verbreitete Meinung darstellt. Nach dieser Vorstellung beschränken die Eltern ihre eigene Lebensdauer, um ihren Nachkommen Platz zum Leben zu überlassen. Dies ist jedoch evolutionär nicht zu erklären – die Mutanten, die selbst länger leben würden und sich länger (auch im höheren Alter) fortpflanzen, hinterließen auch mehr Nachkommen, die ebenfalls über diese Eigenschaft verfügen, sodass sich diese Eigenschaft schnell in der Population verbreiten würde.
groß ist. Andere Vögel, die vor demselben Problem stehen, aber im Gebüsch nisten, haben mehrere kleine Gelege, weil der Verlust, der durch die Zerstörung eines der Gelege entsteht, nicht so groß ist. Für ein- und dasselbe Problem kann es also unterschiedliche und sogar entgegengesetzte Lösungen geben, und darüber, welche Lösung zum Tragen kommt, können geringe Unterschiede in den Anfangsbedingungen entscheiden – oder auch der Zufall. Wir merken, dass wir hier die Adaptationen in sehr gewöhnlichen und unauffälligen Sachen suchen und finden, es sind weder die auf einem Weg liegende Paley-Uhr ( Box 4.19) noch die Fischflosse oder das menschliche Gehirn. Es sind nicht die Dinge, die uns durch ihre Komplexität, Besonderheit oder Unwahrscheinlichkeit auffallen und nach einer Erklärung verlangen würden. Es genügt, für die Gelegegrößen von Meisen irgendeine Gesetzmäßigkeit entdecken und dann erklären zu wollen. Wir arbeiten hier mit aktuell vorhandener (intraspezifischer) Variabilität und sind daher zur Erforschung von feinen Unterschieden zwischen nahezu identischen alternativen Strategien verurteilt. Wenn wir den adaptiven Wert der Augen oder des Sonars untersuchen wollen, also Eigenschaften, deren intraspezifische Variabilität heute bei null liegt, bleibt uns nichts anderes übrig, als eine andere Methode zu verwenden.
Zu einem Problem kann es unterschiedliche und sogar entgegengesetzte Lösungen geben; Unterschiede in den Anfangsbedingungen (oder der Zufall) entscheiden, welche Lösung eingesetzt wird.
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5 Adaptation
Die vergleichende Methode Vergleichbare, von verschiedenen Arten mehrfach unabhängig in ähnlichen ökologischen Kontexten entstandene Eigenschaften sind wahrscheinlich adaptiv.
Verwandte Arten besitzen oft deshalb ähnliche Eigenschaften, weil sie bereits der gemeinsame Vorfahre der Klade besaß.
Eine Möglichkeit, nach Adaptationen zu suchen, ist die vergleichende Methode. Wenn vergleichbare Eigenschaften von verschiedenen Arten mehrfach unabhängig in ähnlichen ökologischen Kontexten entstanden sind, waren sie wahrscheinlich in dieser Hinsicht adaptiv. Nicht miteinander verwandte Arten können demselben Selektionsdruck ausgesetzt sein und sind sich deshalb ähnlich. Bei der vergleichenden Methode muss man aber notwendigerweise auch die Phylogenese berücksichtigen und bedenken, dass verschiedene Arten unterschiedlich nah miteinander verwandt sind. In einigen früheren Analysen wurde beispielsweise die Beziehung zwischen Körpermasse und Anzahl der Nachkommen bei verschiedenen Arten erforscht; dabei betrachtete man jede untersuchte Art wie eine unabhängige Einheit, ohne Rücksicht auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu anderen untersuchten Arten, ganz so, als seien sie unabhängig entstanden. Es ist zu erwarten, dass einige Eigenschaften − die auffallend genug sind, damit wir sie bemerken und beginnen, sie zu untersuchen − ziemlich konservativ sind und sich langsamer ändern als die Arten selbst (d. h. die Änderungsrate ist langsamer als die Artbildungsrate). Daher müssen wir auch annehmen, dass einige Cluster (Gruppen) ähnlicher Arten, die wir entdecken, systematisch ohnehin zusammengehören und Kladen bilden. In diesem Fall besitzen die betreffenden Arten die gesuchten Eigenschaften nicht deshalb, weil diese Eigenschaften irgendwie funktionell zusammenhängen, sondern weil sie bereits der gemeinsame Vorfahre der Klade hatte. So gibt es etwa 40.000 Spinnenarten, die Spinnwarzen am Hinterleib tragen, und es gibt ca. 40.000 Spinnenarten, die mit dem zweiten Extremitätenpaar (sogenannten Pedipalpen) Spermien übertragen. Da alle zu den Spinnen gehören, fragt man sich, welchen funktionellen Zusammenhang es wohl zwischen den Spinnwarzen und der Spermienübertragung mithilfe von Pedipalpen geben könnte? Wahrscheinlich keinen. Alle Spinnen bilden nämlich eine Klade, d. h. alle stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Dann stellen jedoch diese 40.000 Spinnenarten nicht 40.000 unabhängige, von Mutter Natur durchgeführte Experimente dar, die wir statistisch untersuchen könnten (und über die hundertprozentige Korrelation zwischen dem Vorkommen von Pedipalpen und Spinnwarzen staunen würden), sondern ein einziges und einzigartiges Experiment. Vernachlässigt man die Phylogenese, so wird die Stärke der möglichen Korrelationen überbewertet. Dort, wo wir eigentlich mit einer Art, nämlich dem Vorfahren der ganzen Klade arbeiten sollten, arbeiten wir irrtümlicherweise mit zehn, hundert oder einer Million Arten, je nachdem, wie stark sich die Nachkommenschaft der zugehörigen Urart diversifiziert hat. Nach dieser phylogenetischen Präzisierung bringen vergleichende Analysen oft bemerkenswerte Ergebnisse. Bei einigen Primatenarten (z. B. Languren) sparen die Mütter Kräfte, indem sie ihre Jungen anderen Weibchen, den „Tanten“, anvertrauen, während sie sich nur um sich selbst kümmern; andere Arten (Makaken und letztendlich auch die Menschenaffen) machen so etwas nicht. Es zeigte sich, dass sich die Tanten bei Arten mit schnellem postnatalen Wachstum und einer früheren Entwöhnung (wobei jedoch dank des schnelleren
5.6 Wie studiert man Adaptationen?
Wachstums eine vergleichbare Größe erreicht wird) öfter an der Aufzucht der Jungtiere beteiligen als bei Arten mit einer niedrigeren Wachstumsrate. Die frühe Entwöhnung und das „Tantentum“ ermöglichen es der Mutter, ihre Geburtenfrequenz zu erhöhen und ihren Fortpflanzungserfolg weiter zu steigern. Umgekehrt ist es jedoch nicht klar, ob und inwiefern eine solche Strategie auch für das Kind günstig ist. Es wurde weder ein Zusammenhang zwischen dem Tantentum und einem schnelleren Heranreifen der Jungen (was auf einen höheren Reproduktionserfolg der Jungtiere hinweisen würde) noch ein Zusammenhang zwischen dem Tantentum und einer höheren Überlebensrate der Jungtiere festgestellt (was auf eine Strategie hinweisen würde, die Tötung der Jungtiere durch Männchen, die sich um die Paarung mit der Mutter bemühen, zu verhindern). Zu diesen Schlussfolgerungen kam man jedoch nicht durch Experimente an Affen (z. B. durch Messungen des Erfolgs der Mütter, denen Hilfe durch Tanten versagt wurde), sondern durch den Vergleich von ökologischen, ethologischen und ontogenetischen Daten bei verschiedenen – und unterschiedlich verwandten – Arten ( Box 5.9, Abb. 5.7). Es gibt hier ein Problem. Wenn wir den Zusammenhang zwischen bestimmten historischen Ereignissen untersuchen wollen, z. B. der Entstehung des Tantentums und der Beschleunigung der Entwicklung von Affenjungen, müssen wir zunächst vernünftige Kriterien dafür ausmachen, was „vergleichbar“ ist und was nicht. Falls sich bestimmte Evolutionsereignisse nämlich mehrfach unabhängig voneinander ereignet haben, sind es nicht dieselben Ereignisse, und wenn wir sie unter demselben Oberbegriff zusammenfassen, müssen wir Grund zu der Annahme gehabt haben, dass die so gebildeten logischen Klassen (im Gegensatz zu anderen logischen Klassen vom Typ „Obst“ und „Gemüse“) nicht ganz unsinnig sind. Wir können z. B. den Übergang der Tiere ans Land und die damit verbundenen biologischen Eigenschaften untersuchen. Das Problem liegt hier darin, dass es keinen einmaligen „Übergang der Tiere ans Land“ gab, sondern dass viele, jeweils einzigartige Invasionen von Gastropoden, Spinnentieren, Krebstieren, Insekten oder Wirbeltieren stattfanden, die historisch aber nichts gemein haben und die sich nur teilweise ähneln. Mit der Ähnlichkeit ist es in der Biologie immer schwierig: Wie stark und in welchen Merkmalen müssen die Dinge einander ähnlich sein, damit wir sie als ähnlich erkennen, zumal wenn wir bedenken, dass sich alle Dinge auf der Welt letztendlich irgendwie ähnlich sind? Wenn wir nämlich irgendwelche Gesetzmäßigkeiten und Gemeinsamkeiten finden, die mit dem Übergang von Organismen vom Meer ans Land verbunden sind, ist Vorsicht geboten. Antworten wir nicht vielleicht auf eine Frage, die wir uns deshalb gestellt haben, weil uns die Antwort vorher schon intuitiv bekannt ist? D