Die Leserlenkung durch Tacitus in den Tiberius- und Claudiusbuchern der "Annalen" [1 ed.] 3110218763, 9783110218763 [PDF]


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German Pages 472 [488] Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
......Page 2
Inhalt......Page 10
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen......Page 14
Einleitung......Page 16
Teil I. Die Leserlenkung in ann. I-IV anhand ausgewählter Beispiele......Page 24
1. Stereotype Charakterdarstellung......Page 26
2. Darstellung größerer Themenkomplexe am Beispiel der Germanicusgeschichte......Page 128
3. Zusammenfassung Teil I......Page 158
Teil II. Die Claudiusbücher ann. XI und XII......Page 163
1. Ann. 11,1–7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina......Page 165
2. Ann. 11,8–10: Außenpolitischer Exkurs über Ereignisse im Osten des Reiches......Page 210
3. Ann. 11,11–15: Die Säkularspiele im Jahr 47, der Beginn des Messalinaskandals und die Zensur des Claudius......Page 215
4. Ann. 11,16–21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien......Page 233
5. Ann. 11,22–38: Die weiteren Ereignisse in Rom bis zum Tod der Messalina......Page 252
6. Ann. 12,1–9: Die Wahl einer neuen Gemahlin für Claudius, die Hochzeit des Kaisers mit Agrippina sowie das erste Wirken der neuen Kaiserin......Page 328
7. Ann. 12,22–27,1: Weitere Schritte der Agrippina zur Absicherung ihrer Herrschaft und zur Vorbereitung der Herrschaft ihres Sohnes......Page 360
8. Ann. 12,41–43: Die Ereignisse am Kaiserhof des Jahres 51 n.Chr.......Page 374
9. Ann. 12,52 –69......Page 391
Schlußbemerkungen......Page 456
10. Literaturverzeichnis
......Page 459
Namensregister
......Page 467
Sachregister
......Page 471
Stellenindex
......Page 475
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Die Leserlenkung durch Tacitus in den Tiberius- und Claudiusbuchern der "Annalen" [1 ed.]
 3110218763, 9783110218763 [PDF]

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Zitiervorschau

Die Leserlenkung durch Tacitus in den Tiberiusund Claudiusbüchern der Annalen

Michael Hausmann

Walter de Gruyter

Michael Hausmann Die Leserlenkung durch Tacitus in den Tiberius- und Claudiusbüchern der Annalen



Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Heinz-Günther Nesselrath, Peter Scholz und Otto Zwierlein

Band 100

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Die Leserlenkung durch Tacitus in den Tiberius- und Claudiusbüchern der Annalen

von

Michael Hausmann

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1862-1112 ISBN 978-3-11-021876-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Laufen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Meinen Eltern

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine leicht vernderte und gekîrzte Fassung meiner Dissertation, die unter dem Titel „Die Leserlenkung des Tacitus in den Tiberius- und Claudiusbîchern der Annalen“ im Sommersemester 2007 von der Philosophischen Fakultt der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universitt zu Bonn angenommen wurde. Mein aufrichtiger Dank gilt allen, die in vielfltiger Weise beim Zustandekommen und Verfassen dieser Arbeit geholfen haben: Den Mitgliedern des Bonner Oberseminars – darunter in erster Linie Tim Dautzenberg, Dr. Rebekka Junge, Benedikt Oehl, Maren Peek, Dr. Thomas Riesenweber, Sebastian Robens und Nicolas Wiater – fîr die stets konstruktive Kritik, die vielen wertvollen Hinweise und erhellenden Gesprche, auch außerhalb der Seminarsitzungen; ebenso Frau Professorin Dr. Dorothee Gall fîr die freundliche und bereitwillige ˜bernahme des Korreferates und die kritische Prîfung meiner Arbeit sowie den Herren Professoren Dr. Hartmut Galsterer und Dr. Marc Laureys fîr die Bereitschaft, im Promotionsverfahren als weitere Mitglieder der Prîfungskommission betreuend und unterstîtzend ttig zu sein. Dank gebîhrt auch meiner lieben Frau Liesa fîr das Verstndnis und die Geduld, die sie mir whrend der Arbeit an diesem Buch immer wieder entgegengebracht hat. Ganz besonders aber danke ich meinem verehrten Lehrer Herrn Professor Dr. Otto Zwierlein, der diese Arbeit angeregt, geduldig begleitet und mit zahlreichen Verbesserungsvorschlgen, Hinweisen und Beitrgen viele Jahre lang gefçrdert und bereichert hat. Ihm und den Herren Professoren Dr. Gustav-Adolf Lehmann und Dr. Heinz-Gînther Nesselrath verdanke ich zudem die Aufnahme der Arbeit in die von ihnen herausgegebene Reihe der „Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte“. Gewidmet sei dieses Buch meinen Eltern: Zum einen meinem verstorbenen Vater, der mich noch zu Beginn meines Studiums angesichts anfnglicher Zweifel dazu ermutigt hat, den gerade erst eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen. Zum anderen meiner Mutter, die mir whrend meiner gesamten beruflichen Ausbildung in moralischer und nicht zuletzt auch in finanzieller Hinsicht entscheidend den Rîcken gestrkt hat. Bonn im April 2009

Michael Hausmann

Inhalt Verzeichnis der verwendeten Abkîrzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Teil I: Die Leserlenkung in ann. I-VI anhand ausgewhlter Beispiele 1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.4 1.5 2. 3. 3.1 3.2

Stereotype Charakterdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Augustus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Zur Funktion und Rolle des Augustus in den Tiberiusbîchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Zur Funktion und Rolle des Augustus in den Claudiusbîchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Tiberius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Relativierende Nachtrge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Alternative Deutungsmçglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Livia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Germanicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Seian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Darstellung grçßerer Themenkomplexe am Beispiel der Germanicusgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Zusammenfassung Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Mittel der Leserlenkung auf lokal begrenzter Ebene . . . . . 142 Mittel der Leserlenkung auf kapitelîbergreifender Ebene . 144

TEIL II: Die Claudiusbîcher ann. XI und XII 1. 1.1

Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Ann. 11,1 – 4: Messalina als Intrigantin gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

X

Inhalt

1.2

Ann. 11,5 – 7: Politische Folgen des Prozesses: Die Beschrnkung der Honorare fîr Anwlte . . . . . . . . . . . 175

2.

Ann. 11,8 – 10: Außenpolitischer Exkurs îber Ereignisse im Osten des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 11,11 – 15: Die Skularspiele im Jahr 47, der Beginn des Messalinaskandals und die Zensur des Claudius . . Ann. 11,11: Die Skularspiele im Jahr 47 . . . . . . . . . . . . . Ann. 11,12: Der Beginn des Messalinaskandals . . . . . . . . . Ann. 11,13 – 15: Die Zensur des Claudius . . . . . . . . . . . .

3. 3.1 3.2 3.3 4. 4.1 4.2 4.3 5. 5.1 5.2 5.3 6. 6.1 6.2 6.3 6.4

Ann. 11,16 – 21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien Ann. 11,16 – 17: Die Entsendung des Cheruskerfîrsten Italicus in seine Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 11,18 – 20,2: Die Kmpfe Corbulos . . . . . . . . . . . . . Ann. 11,20,3 – 11,21: Die Leistungen des Curtius Rufus und seine Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 11,22 – 38: Die weiteren Ereignisse in Rom bis zum Tod der Messalina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 11,22: Das mißglîckte Attentat des Nonius und der Antrag des Dolabella . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 11,23 – 25: Die weitere Zensorenttigkeit des Claudius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 11,26 – 38: Der Fortgang des Messalinaskandals und das Ende der Kaiserin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius, die Hochzeit des Kaisers mit Agrippina sowie das erste Wirken der neuen Kaiserin . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,1 – 3: Die kaiserliche Brautschau . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,4: Die Intrige gegen Lucius Silanus . . . . . . . . . . . Ann. 12,5 – 7: Die Vermhlung des Claudius mit Agrippina Ann. 12,8 f.: Der Selbstmord des Silanus, die Rîckkehr Senecas aus dem Exil und die Verlobung des Domitius mit Octavia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

194 199 199 202 208 217 217 222 231 236 236 242 263

312 313 322 326 338

Inhalt

7. 7.1 7.2 7.3 7.4 8. 8.1 8.2 8.3 9. 9.0 9.1 9.2 9.3

Ann. 12,22 – 27,1: Weitere Schritte der Agrippina zur Absicherung ihrer Herrschaft und zur Vorbereitung der Herrschaft ihres Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,22: Agrippina schaltet vermeintliche Rivalinnen aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,23 – 24: Weitere Senatsverhandlungen und die Erweiterung des pomerium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,25 f.: Die Adoption des Domitius . . . . . . . . . . . . Ann. 12,27,1: Die Grîndung einer Veteranenkolonie (Kçln) als Symbol fîr Agrippinas Macht . . . . . . . . . . . Ann. 12,41 – 43: Die Ereignisse am Kaiserhof des Jahres 51 n. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,41: Der weitere Aufstieg Neros und seine Rivalitt zu Britannicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,42: Weitere Maßnahmen der Agrippina zur Vorbereitung der Machtîbernahme ihres Sohnes sowie die Steigerung ihres Einflusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,43: Der Prodigienkatalog und Claudius . . . . . . .

XI

344 344 347 348 356 358 358 362 370

Ann. 12,52 – 69 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,52 – 53: Vorgnge im rçmischen Senat . . . . . . . . Ann. 12,54 – 55: Unruhen in Iudaea und Kilikien . . . . . . Ann. 12,56 – 57: Feierlichkeiten zur Trockenlegung des Fuciner Sees . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,58: Neros Vermhlung mit Octavia . . . . . . . . . . . Ann. 12,59: Die Intrige gegen Statilius Taurus . . . . . . . . . Ann. 12,60 f.: Claudius îbertrgt den kaiserlichen Prokuratoren richterliche Befugnisse und beantragt Steuerfreiheit fîr die Insel Kos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ann. 12,62/63: Abgabenfreiheit fîr Byzanz . . . . . . . . . . . . Ann. 12,64 – 69: Das Jahr 54 und das Ende des Claudius .

404 413 414

Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Textausgaben und Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Tacitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.2. Sueton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.3. Cassius Dio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

440 443 443 443 443 444

9.4 9.5 9.6 9.7 9.8

375 375 375 383 389 397 401

XII 10.2 10.3

Inhalt

Hilfsmittel und Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Sekundrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Stellenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Verzeichnis der verwendeten Abkîrzungen Die Abkîrzungen der Zeitschriftentitel richten sich nach den îblichen Siglen in der altertumswissenschaftlichen Jahresbibliographie L’Ann¤e Philologique: Bibliographie critique et analytique de l’antiquit¤ gr¤colatine, begrîndet von J. Marouzeau, 1924 ff. Sonstige Abkîrzungen: ANRW: Aufstieg und Niedergang der Rçmischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, hrsg. v. H. Temporini I, 1–, Berlin / New York 1972–. G&G: A. Gerber / A. Greef und C. John: Lexicon Taciteum, Leipzig 1 1877 – 1890 (Nachdruck Hildesheim 1962). KSt: R. Kîhner : Ausfîhrliche Grammatik der lateinischen Sprache, 2. Teil: Satzlehre, bearbeitet von C. Stegmann, 2 Bde. Hannover 2 1914 (Nachdruck Darmstadt 1997). LHSz: M. Leumann / J. B. Hofmann / A. Szantyr: Lateinische Grammatik, Bd. I: Lateinische Laut- und Formenlehre (Leumann), Mînchen 1977; Bd. II: Lateinische Syntax und Stilistik (Hoffmann / Szantyr), Mînchen, 1972. DNP: Der Neue Pauly. Enzyklopdie der Antike, hrsg. v. H. Cancik und H. Schneider, 16 Bde., Stuttgart / Weimar 1996 – 2003. OLD: Oxford Latin Dictionary, hrsg. v. P. G. W. Glare, Oxford 1968 – 1982. RAC: Reallexikon fîr Antike und Christentum, hrsg. v. T. Klauser, Stuttgart 1950–. RE: Realencyclopdie der classischen Altertumswissenschaft, hrsg. v. G. Wissowa u. a.; neue Bearbeitung, 83 Bde., Stuttgart 1893 – 1980. ThLL: Thesaurus Linguae Latinae Bd. 1–, Leipzig / Stuttgart / Mînchen 1900–.

Einleitung insinuatio est oratio quadam dissimulatione et circumitione obscure subiens auditoris animum. (Cic. inv. 1,15,20)

Publius Cornelius Tacitus hat durch seine Historiographie das Bild, das die Nachwelt îber die rçmische Geschichte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts besitzt, entscheidend geprgt.1 Die Frage nach seiner historischen Glaubwîrdigkeit ist deshalb von jeher ein Gegenstand gewesen, der das besondere Interesse der Altertumswissenschaft auf sich gezogen hat, doch gehen die Meinungen îber die Zuverlssigkeit seines Berichtes weit auseinander.2 Whrend die Forschung auf diesem Gebiet noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine ebenso scharfe wie fîr antike Verhltnisse fragwîrdige Trennlinie zwischen der schriftstellerischen Kunst und der historiographischen Zuverlssigkeit des Tacitus zog und dabei oft den großartigen Stilisten dem sehr tendenziçsen Geschichtsschreiber gegenîberstellte,3 hat man in neuerer Zeit den recht heilsamen Versuch unternommen, beide Aspekte des taciteischen Werkes, sowohl die Kunst 1

2

3

Vgl. Schwabe: P. Cornelius Tacitus, RE 4,1, 1900, Sp. 1566 – 1590, hier 1590: „Trotzdem ist und bleibt es Tacitus, der die Geschichte des ersten kaiserzeitlichen Jahrhunderts fîr alle Zeit geschrieben hat. Wie er sie sah, sehen wir sie, mîssen wir sie sehen, mçgen wir auch um einzelnes mit ihm markten, und durch seine Werke und in seinem Geist wird das Bild dieser Zeit auch in der Zukunft leben.“ Dies gilt insbesondere fîr das taciteische Tiberiusbild, s. den Kommentar E. Koestermanns, Bd. I, 37; I. S. Ryberg: Tacitus’ Art of Innuendo, TAPhA 73, 1942, 383 – 404; in dt. ˜bersetzung nachgedruckt in: V. Pçschl (Hg.): Tacitus (Wege der Forschung Bd. 97), Darmstadt 1969, 60 – 88, hier 60 f. Eine Zusammenfassung der verschiedenen Urteile îber Tacitus als Historiker bietet P. Sinclair: Rhetorical Generalizations in Annales 1 – 6. A Review of the Problem of Innuendo and Tacitus’ Integrity, in ANRW II,33,4 (1991), 2795 – 2831. Koestermann (Bd. I, 7 f.) fîhrt die Schwierigkeiten an, die sich einer angemessenen Beurteilung des Tacitus in den Weg stellen: 1. Die unvollstndige ˜berlieferung seiner Werke; 2. Der Verlust der von Tacitus benutzten Quellen; 3. Die rtselhafte Persçnlichkeit des Tacitus. Vgl. Sinclair, 1991, 2797 – 2799; Koestermann, Bd. I, 7; 35 – 40; W. Ries: Gerîcht, Gerede, çffentliche Meinung. Interpretationen zur Psychologie und Darstellungskunst des Tacitus, Diss. Heidelberg 1969, 6.

2

Einleitung

als auch die Historiographie, als Ausdrucksformen ein und desselben Geistes einander anzunhern und miteinander in Einklang zu bringen.4 Ungeachtet der verschiedenen Lçsungsanstze, zeigen die Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Tacitus als Historiker vor allem eines: Das berîhmte ‘Bekenntnis zur Unparteilichkeit’ sine ira et studio (ann. 1,1,3) ist nicht ohne Vorbehalt, sondern mit großer Vorsicht aufzunehmen – ist es doch mehr als evident, daß die taciteischen Geschichtswerke einem Objektivittsanspruch im Sinne der modernen Historiographie nicht gerecht werden.5 Joseph Vogt hat demgemß bereits vor rund 70 Jahren herausgearbeitet, wie dieses bis zur Redensart erhobene Wort des Tacitus, „das niemand weniger befolgt hat als sein Urheber“, zu verstehen ist:6 Zunchst verkçrpert es auf allgemeiner Ebene nicht mehr als einen Topos, eine bis in die Formulierung hinein der Tradition der antiken Geschichtsschreibung verpflichtete Wendung,7 die der Absicherung gegen eventuelle Parteilichkeitsvorwîrfe dient. In das historiographische Profil fîgt sich dann im besonderen das ganz persçnliche Umfeld des Tacitus ein, nicht zuletzt dessen vielzitiertes ‘Domitianerlebnis’, dessen Erfahrungen als Senator und Redner, die einen wahrhaft objektiven Blick auf die Vergangenheit erschweren und das historische Urteil binden. Doch bei allen zu beachtenden Einschrnkungen sollte die Aufrichtigkeit des Historikers nicht ernsthaft in Frage gestellt werden, entbehrt es doch nicht einer gewissen Ironie, daß Tacitus gerade auch aus seinem Bemîhen um Wahrheit und Objektivitt heraus zu Techniken der Darstellung 4 5

6

7

S. O. Devillers: L’art de la persuasion dans les Annales de Tacite, Brîssel 1994, 5: „Pour les tacitologues actuels, il existe une seule lecture de Tacite, une lecture qui tient compte ” la fois des aspects artistiques et historiques de ses ouvrages.“ Vgl. die hnliche Aussage des Tacitus zu Beginn seiner Historien: sed incorruptam fidem professis neque amore quisquam et sine odio dicendus est (hist. 1,1,3). Zur Aussagekraft solch traditioneller Formeln fîr die rçmische Geschichtsschreibung s. etwa K. Heldmann: Libertas Thraseae servitium aliorum rupit. ˜berlegungen zur Geschichtsauffassung im Sptwerk des Tacitus, in: Gymnasium 98, 1991, 207 – 231, hier 208 f.; R. Syme: Tacitus, 2 Bde., Oxford 1958, 420 mit Anm. 1. J. Vogt: Tacitus und die Unparteilichkeit des Historikers. Wîrzburger Studien zur Altertumswissenschaft 9, 1936, 1 – 20, nachgedruckt in: V. Pçschl (Hg.): Tacitus (Wege der Forschung Bd. 97), Darmstadt 1969, 39 – 59, hier bes. 43 – 45; Zitat auf S. 41; vgl. St. Schmal: Tacitus, Darmstadt 2005, 9 f.; 116 f. Zur Herkunft der Formel s. B. L. Ullman: Sine ira et studio, CJ 38, 1942/43, 420 – 421, wo auf Cic. de orat. 2,62 verwiesen wird. In Anlehnung an Ullman hat H. W. Freudenthal in einem gleichnamigen Aufsatz (Sine ira et studio, CJ 39, 1943/44, 297 – 298) den Ursprung dieser Wendung noch weiter zurîckverfolgt und Polybius als Urheber ausfindig gemacht (s. Polyb. 6,9,11: wyq·r aqc/r C vhºmou).

Einleitung

3

greift, die dem Leser nur unterschwellig ein gewisses Meinungsbild suggerieren. Wie wir noch sehen werden, befhigen sie ihn dazu, bei scheinbarer Unparteilichkeit und gebotener Zurîckhaltung seine nicht selten wohl persçnliche und somit subjektive Sicht der Vergangenheit gleichsam zwischen den Zeilen anklingen zu lassen und damit auch maßgeblichen Einfluß auf die Interpretation der von ihm geschilderten Ereignisse seitens des Lesers zu nehmen. In hnlichem Sinne und mit Bezug auf die taciteische Tiberiusfigur schreibt Ryberg: „Durch verschiedene Kunstgriffe seines Stils gelang es Tacitus, seiner eigenen Forderung gerecht zu werden, in der allgemeingîltigen historischen Tradition sine ira et studio zu schreiben und doch in der Vorstellung des Lesers einen unauslçschlichen Eindruck von der Tyrannei und Unterdrîckung unter Tiberius zu hinterlassen.“8 Es lßt sich demnach feststellen: Tacitus mçchte bei aller Wahrheitsliebe dem aufmerksamen Leser seine vermutlich eigene Sichtweise hufig nicht vorenthalten.9 Um sich als Historiker dabei aber nicht dem Vorwurf der Parteilichkeit auszusetzen, bedient er sich einiger subtiler Techniken der Darstellung, in der Fachliteratur gemeinhin als ‘innuendo’ oder ‘insinuatio’ bezeichnet, die es ihm ermçglichen, das von ihm gewînschte Bild der Vergangenheit im Gedchtnis seiner Leserschaft zu hinterlassen.10 Diese Kunst der taciteischen Leserlenkung ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Freilich ist eine solche Untersuchung nicht neu. In der Vergangenheit hat es bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Bearbeitungen des Themas gegeben.11 Vor diesem Hintergrund ist es ein besonderes Anliegen dieser Arbeit, die verschiedenen, teilweise recht verstreuten Aspekte frîherer Analysen zusammenfîhrend nachzuzeichnen und somit einen allgemeinen ˜berblick îber die wichtigsten Forschungsergebnisse zu vermitteln. Auf dieser Grundlage werden dann nicht selten weiterfîhrende ˜berlegungen und Interpretationen anzustellen sein, die îber das bisher in der Literatur Erarbeitete hinausgehen. 8 Ryberg, bei Pçschl, 1969, 61 f. 9 Dieser Wunsch mag sich fîr Tacitus aus der fîr ihn maßgeblichen Aufgabe der Geschichtsschreibung ergeben, die er ann. 3,65 formuliert: exsequi sententias haud institui nisi insignes per honestum aut notabili dedecore, quod praecipuum munus annalium reor, ne virtutes sileantur utque pravis dictis factisque ex posteritate et infamia metus sit. S. hierzu T. J. Luce: Tacitus on „History’s Highest Function“: praecipuum munus annalium (Ann. 3.65), in: ANRW II,33,4 (1991), 2904 – 2927. 10 Vgl. Schmal, 2005, 117 f. 11 Einen groben ˜berblick vermittelt auch hier Sinclair, 1991, 2795 – 2831.

4

Einleitung

Die folgende Untersuchung ist in zwei Teile geteilt. Der erste Teil ist gewissermaßen ‘propdeutischer’ Natur und mçchte anhand der Tiberiusbîcher der Annalen (ann. I-VI) die wichtigsten Techniken der taciteischen Insinuationskunst exemplarisch vorstellen. Weil die îberwiegende Zahl dieser Techniken immer wieder dazu dienen, bestimmte stereotype Charaktere kritisch zu beleuchten, werden hierbei zunchst die schillernden Personendarstellungen des Augustus, des Tiberius, der Livia, des Germanicus und des Seian behandelt. Diese Auswahl der Charaktere erklrt sich aus deren zentraler Funktion innerhalb der ersten Annalenhexade: Tiberius ist der Protagonist, whrend die anderen Persçnlichkeiten nach Aussage des Tacitus diejenigen Faktoren gewesen sind, die entscheidenden Einfluß auf die charakterliche Entwicklung des Kaisers genommen haben (vgl. die berîhmte Schlußcharakteristik des Tiberius in ann. 6,51,3). Bei der Untersuchung dieser Charakterbilder sollen nach und nach die verschiedenen Techniken der Leserlenkung eingefîhrt werden. Eine kurze Zusammenfassung der jeweils gewonnenen Erkenntnisse am Ende einer jeden Personen-Analyse dient dabei dem einstweiligen Festhalten der Ergebnisse in knapper Form. Im Anschluß an die Beobachtungen zur taciteischen Charakterprsentation wird dann als thematische Einheit die Geschichte des Germanicus Gegenstand der Erçrterung sein. Denn in ihr lassen sich nicht nur alle bis dahin herausgearbeiteten Mittel der Leserlenkung in wirkungsvoller Kombination wiederfinden.12 Sie bietet zudem auch besonderen Anlaß fîr eine Analyse der taciteischen Insinuation auf der Ebene eines grçßeren Darstellungskomplexes, weil in ihr der Unterschied zwischen historischer Realitt und erzeugtem Eindruck mit am deutlichsten ausfllt.13 Dieser mehr an inhaltlichen als an formalen Kriterien orientierte Aufbau der Untersuchung hat sich aus der Vorîberlegung ergeben, daß eine bloße Aneinanderreihung der verschiedenen Insinuationstechniken, wie sie allzu oft in der einschlgigen Literatur zu diesem Thema vorgenommen wird, nicht nur mit der Zeit fîr den Leser etwas ermîdend gewesen wre, sondern auch den natîrlichen Zusammenhang der Darstellung, der an nicht wenigen Stellen fîr unsere Beobachtungen von erheblicher Bedeutung ist, unnçtig zerrissen htte. Ein systematischer ˜berblick îber die hier behandelten Kunstgriffe der taciteischen Leserlenkung bleibt schließlich einer kurzen Zusammenfassung am Ende 12 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 70. 13 Vgl. B. Walker: The Annals of Tacitus. A Study in the writing of History, Manchester 1952, 110.

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dieses ersten Teiles vorbehalten. Insgesamt gesehen scheinen sich die Tiberiusbîcher fîr eine solche querschnittartige Einfîhrung in die wesentlichen Techniken der Leserlenkung wohl am besten zu eignen, da in ihnen der taciteische Stil „seinen Kulminationspunkt […] erreicht, um spter von dieser Hçhe langsam abzusinken […].“14 Den Schwerpunkt der Dissertation bildet der zweite Teil. Dieser beschftigt sich mit dem auf uns gekommenen Text der Claudiusbîcher (ann. XI-XII), die nach Art eines interpretierenden Kommentars Kapitel fîr Kapitel im Hinblick auf die taciteische Leserlenkung analysiert werden. Bei dieser lngsschnittartigen Untersuchung wird vor allem zu prîfen sein, mit welchen Mitteln es Tacitus gelungen ist, das Urteil der Nachwelt îber eine ganze Epoche nachhaltig zu beeinflussen. Da die gngigen Techniken der Insinuation und ihre Wirkung bereits im ersten Teil der Arbeit behandelt worden sind, mîssen diese im zweiten Teil nicht immer wieder aufs Neue eingehend erlutert werden. Daher reicht oft nur ein kurzer Hinweis auf eine bestimmte Technik fîr eine erhellende Behandlung aus. Um so intensiver kann sich die Interpretation der einzelnen Kapitel den stilistischen und narrativen Feinheiten der Darstellung zuwenden. Die Claudiusbîcher der Annalen sind zu einem betrchtlichen Teil in der ˜berlieferung verlorengegangen, so daß der Bericht des Tacitus îber die Regierungszeit des Claudius etwa nur zur Hlfte erhalten ist. Dies wird in der folgenden Analyse immer wieder zu berîcksichtigen sein. Doch trotz der großen ˜berlieferungslîcke stellt der erhaltene Teil immer noch einen in sich abgeschlossenen Erzhlkomplex dar und eignet sich gerade deshalb besonders gut fîr eine detaillierte Analyse, die sich naturgemß auf einen engeren Rahmen beschrnken muß. Wie das Thema der Leserlenkung des Tacitus im allgemeinen, so sind im speziellen auch die Claudiusbîcher hinsichtlich ihrer Erzhltechnik bereits zahlreichen Analysen unterworfen worden. In erster Linie sind hier die umfassenden Arbeiten Seifs und Mehls zu nennen,15 die zu Beginn der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts fast zeitgleich erschienen sind und daher voneinander unabhngige und nicht selten auch divergierende Urteile îber die Art und Intention der taciteischen Darstellungskunst enthalten. Wenige Jahre spter hat die amerikanische 14 Koestermann, Bd. I, 48. 15 K. P. Seif: Die Claudiusbîcher in den Annalen des Tacitus, Diss. Mainz 1973; A. Mehl: Tacitus îber Kaiser Claudius. Die Ereignisse am Hof (Studia et testimonia antiqua Bd. 16), Mînchen 1974.

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Gelehrte Keitel eine strukturanalytisch orientierte Untersuchung des 11. und 12. Annalenbuches vorgenommen,16 die jedoch Seifs Analyse nicht berîcksichtigt und in ihren Thesen bisweilen sehr gewagt erscheint. Vor diesem Hintergrund verspricht eine gleichermaßen kritische wie fruchtbare Zusammenfîhrung der einschlgigen Literatur auch im Hinblick auf die Claudiusbîcher, neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der taciteischen Leserlenkung hervorzubringen. Da sich bisherige Analysen in dem offenbar immer eifriger betriebenen Bemîhen, die Zahl der vermeintlichen ‘Querverweise’ und ‘Anspielungen’ des Tacitus um weitere Beispiele zu erhçhen, oft zu sehr konstruierten und kînstlich wirkenden Gedankenverbindungen verstiegen haben, scheint eine Untersuchung, die nicht nach dem theoretisch Mçglichen, sondern nach dem praktisch Denkbaren und Wahrscheinlichen fragt, zudem eine heilsame Rîckbesinnung auf die Kernpunkte des Forschungsgegenstandes darzustellen. Darauf wird im Einzelfall immer wieder einzugehen sein. Die Behandlung der Claudiusbîcher konzentriert sich vornehmlich auf die innenpolitischen Ereignisse. Die Berichte des Tacitus îber die rçmische Außenpolitik sind lediglich an den Stellen mit in die Analyse einbezogen worden, wo sie ganz bestimmte Rîckschlîsse auf die Claudiusdarstellung zulassen. Die in ihrem Umfang breit angelegten außenpolitischen Exkurse des 12. Annalenbuches (ann. 12,10 – 21; 27 – 40; 44 – 51) sind indessen ausgeklammert worden. Eine ausfîhrliche Behandlung dieser Passagen schien mir îberflîssig zu sein, seit Matthias Pfordt in neuerer Zeit eine Arbeit zur Darstellung der Außenpolitik in den Annalen des Tacitus vorgelegt hat, welche unter Einbeziehung der einschlgigen Literatur den von mir in dieser Arbeit verfolgten Zielen weitgehend Rechnung trgt.17 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß die narrative Funktion insbesondere der Exkurse îber Parthien und Armenien in der Forschung umstritten ist. Whrend manche hierin lediglich ein retardierendes Moment im Rahmen der dramatischen Kompositionstechnik18 oder eine gewisse Abwechslung innerhalb der Berich16 E. Keitel: The Structure of Tacitus’ Annals 11 and 12, Diss. University of North Carolina at Chapel Hill 1977. 17 M. Pfordt: Studien zur Darstellung der Außenpolitik in den Annalen des Tacitus (Europische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 807), Frankfurt a. M., Berlin u. a. 1998. 18 S. insbesondere C. W. Mendell: Tacitus. The man and his work, New Haven/ London 1957, 120. In Bezug auf ann. 11,8 – 10 will eine solche Ansicht jedoch nicht recht passen. Denn „die erhaltenen Kapitel 11,1 – 7 enthalten keine in sich

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terstattung verwirklicht sehen, die dem Leser fîr eine Weile eine Ruhepause gçnnen und ihn von den unerfreulichen Ereignissen in Rom ablenken sollen,19 meinen andere, allen voran E. Keitel, konkrete Bezîge zwischen dem Geschehen in der Hauptstadt und im Osten des Reiches ausmachen zu kçnnen, die den Leser auf kînftiges Geschehen am Kaiserhof vorbereiten sollen.20 Seif vertritt die Auffassung einer „binr“ angelegten Darstellung, in der Tacitus die „Ereignisse ‘domi militiaeque’“ vereine, wobei „unter ‘militia’ nicht die pure Kriegshandlung […] sondern das Geschehen in den Provinzen und im Ausland“ verstanden werden dîrfe.21 Am Beispiel des relativ kurzen Parthien-Exkurses im 11. Annalenbuch (ann. 11,8 – 10) wird diese Problematik exemplarisch beleuchtet. Allgemein lsst sich festhalten, daß die These Keitels nur unter erheblichen Einschrnkungen Gîltigkeit beanspruchen darf. Der problematischen Frage nach der Originalitt des Tacitus vor dem Hintergrund der Parallelîberlieferung des Sueton und des Cassius Dio wird in aller Regel nur dort nachgegangen, wo sie Aufschluß îber eine besondere Intention der taciteischen Darstellung geben kann. Allgemein darf vermutet werden, daß die Grundzîge der taciteischen Darstellung zumindest ihrer Tendenz nach bereits in den (nicht mehr erhaltenen) Quellen des Historikers vorgegeben gewesen sein mîssen.22

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steigernde Entwicklung und an ihrem Ende steht auch kein spannungsvoller Hçhepunkt.“ (Pfordt, 1998, 87.); vgl. Keitel, 1977, 43. Vgl. F. Graf: Untersuchungen îber die Komposition der Annalen des Tacitus, Diss. Bern 1931, 96; Syme, 1958, 259 (mit Bezug auf ann. 12,10 – 21 und 12,44 – 51): „The historian in the meantime, for relief and variety from palace politics, has recourse to a pair of digressions on affairs beyond the eastern frontier under the years 49 and 51 (not of any great moment or relevance)“; 353 mit Anm. 9: „Long narrations in several books of the Annales, escaping from crime or futility at Rome, carried the reader to Nineveh or Adiabene, to realms of legend and the story of the Argonauts“; Koestermann ad ann. 11,8,1; Walker, 1952, 34 f.; D.W.T.C. Vessey: Thoughts on Tacitus’ portrayal of Claudius, AJPh 92, 1971, 385 – 409 (406 zu ann. 12,44 – 51). S. Keitel, 1977, 42 – 44 (zu ann. 11,8 – 10); 151 – 159 (zu ann. 12,10 – 21); 187 – 93 (zu ann. 12,44 – 51); die hier geußerten Thesen hat sie in einem spteren Aufsatz [The Role of Parthia and Armenia, AJPh 99 (1978), 462 – 473] zusammenfassend verçffentlicht (462 Anm. 1 bietet weitere Literatur); vgl. G. Wille: Der Aufbau der Werke des Tacitus (Heuremata 9), Amsterdam 1983, 480. Seif, 1973, 63. Einen sehr guten und îberzeugenden ˜berblick îber diese Problematik gibt D. Flach: Tacitus in der Tradition der antiken Geschichtsschreibung (Hypomnemata 39), Gçttingen 1973 (bes. 126 – 138 zur Darstellung des Augustus und der

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Zum Abschluß dieser Einfîhrung seien noch einige Hinweise zur Benutzung dieser Arbeit gegeben. Der lateinische Text der Annalen wird nach der von Heubner besorgten Gesamtedition zitiert.23 Abweichungen vom Heubner-Text sind im Einzelfall kenntlich gemacht. Die einfachen Unterstreichungen markieren innerhalb der einzelnen Textstellen Passagen oder Wçrter, die fîr die Analyse und Interpretation besonders aufschlußreich sind. Gelegentlich werden zur weiteren Ausdifferenzierung zustzliche Markierungen verwendet. Zitate aus der Sekundrliteratur habe ich aus Grînden der besseren Lesbarkeit an das Format dieser Arbeit angeglichen. So erscheint z. B. der lateinische Text immer im Kursivdruck, unabhngig davon, wie er in der zitierten Vorlage kenntlich gemacht ist.

Livia, 138 – 160 zur Darstellung des Tiberius; 160 – 174 zur Darstellung des Claudius.) Zur problematischen Quellenfrage s. neuerdings die gelungene Zusammenfassung bei Schmal, 2005, 106 – 115. 23 P. Cornelii Taciti libri qui supersunt, Tom. I: Ab excessu Divi Augusti, ed. H. Heubner, editio correctior, Stuttgart/Leipzig 1994.

Teil I: Die Leserlenkung in ann. I-VI anhand ausgewhlter Beispiele

1. Stereotype Charakterdarstellung24 Tacitus steht nicht selten in dem Ruf, als erster Historiker die individuelle Persçnlichkeit in die Geschichtsschreibung eingefîhrt zu haben.25 Dies liegt sicherlich nicht zuletzt in seinen farbigen Charakterbildern, in ‘seinem Tiberius’, ‘seinem Germanicus und Seian’, in ‘seinem Nero’ oder ‘seiner Agrippina’, begrîndet, die uns in seiner dramatischen Geschichtsdarstellung so lebhaft vor Augen gefîhrt werden, daß wir sie wie leibhaftige Akteure auf der historischen Bîhne scheinbar mit Hnden zu greifen vermçgen.26 Dabei îbt im besonderen Maße die psychologische Betrachtungsweise des Tacitus, sein forschender Blick in die unergrîndlichen Tiefen der menschlichen Seele eine besondere Anziehungskraft auf die Leserschaft aus.27 Es muß daher nicht besonders betont werden, daß bereits von derartigen Charakterdarstellungen eine gewaltige suggestive Wirkung ausgeht. Denn fîr Tacitus ist der Charakter eines Menschen von statischer und unvernderlicher Natur: Er kann sein øußeres zwar immer wieder verstellen, doch bleiben seine vorgegebenen 24 Einen allgemeinen und guten ˜berblick îber diese Thematik bietet neuerdings M. Geiser: Personendarstellung bei Tacitus am Beispiel von Cn. Domitius Corbulo und Ser. Sulpicius Galba, Remscheid 2007, 11 – 13 („Personendarstellung und Geschichtsschreibung bei Tacitus“) sowie 23 – 27 („Mittel und Bewertung der Personendarstellung“). 25 Vgl. St. G. Daitz: Tacitus’ technique of character portrayal, AJPh 81, 1960, 30 – 52, hier 30. Als Vorbild fîr die Charakterdarstellungen des Tacitus werde zwar immer wieder Sallust spîrbar (Syme, 1958, 196 ff.; 353 ff.). Doch handle es sich (so Daitz a.a.O.) bei den uns vollstndig îberlieferten Werken des Sallust ausschließlich um Monographien, in deren Zentrum ein bestimmtes Ereignis von begrenzter Dauer stehe. Die Fragmente der Historien, die wie die Annalen des Tacitus einen lngeren Zeitraum umfaßt haben, seien zu dîrftig, um die Originalitt in dieser Frage eindeutig dem Sallust zurechnen zu kçnnen; vgl. Mendell, 1957, 138. 26 Vgl. H. W. Benario: An introduction to Tacitus, Athens (Georgia, USA), 1975, 122: „All his [sc. Tacitus’] characters are literary products, but the reader recognizes them as real people.“ 27 J. Cousin: Rh¤torique et psychologie chez Tacite, REL 29, 1951, 228 – 247, in dt. ˜bersetzung nachgedruckt in: V. Pçschl (Hg.): Tacitus (Wege der Forschung Bd. 97), Darmstadt 1969, 104 – 129, hier 112 urteilt sogar, daß Tacitus weniger auf die eigentlichen Tatsachen als auf die Menschen achte.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

inneren Anlagen ein Leben lang erhalten. Ist in der Darstellung erst einmal der Kern eines bestimmten Charakters aus seiner schîtzenden Hîlle herausgeschlt worden, so ist damit gleichsam der Maßstab fîr die Bewertung seines ganzen Handelns offengelegt.28 Der Leser weiß dadurch immer ganz genau, was er von Charakterstereotypen wie z. B. dem hartherzigen Tyrannen, der bçsen Stiefmutter oder dem machtbesessenen Gînstling zu halten hat, mçgen diese auch gelegentlich ihr wahres Wesen geschickt zu tarnen wissen. Die Meinung îber die eigentlichen Absichten einer handelnden Person wird somit durch die Kenntnis ihres Charakters im Unterbewußtsein des Betrachters vorgeprgt und legt sich wie ein Filter auf ihr gesamtes Tun und Schaffen. Somit wird zum einen der stereotype Charakter selbst zu einem wirksamen Mittel der Leserlenkung,29 insbesondere innerhalb thematischer Zusammenhnge. Zum anderen wendet Tacitus eben auch bei der Zeichnung seiner Charakterportrts neben einer direkten Darstellungsweise ebenfalls verschiedene Techniken an, die dem Leser ein bestimmtes Bild îber eine Person nur unterschwellig vermitteln.30 Im folgenden werden nun die fîr die thematischen Zusammenhnge wesentlichen taciteischen Charakterzeichnungen des Augustus, des Tiberius, der Livia, des Germanicus und schließlich des Seian untersucht. Da der Charakter selbst schon eine wichtige Rolle bei der Leserlenkung spielt, werden dabei nicht nur die 28 Siehe Daitz, 1960, 32. 29 Vgl. Devillers, 1994, 134 – 141. 30 Daitz, 1960, 34; 46 scheidet bei Tacitus folgerichtig die direkte Charakterdarstellung („direct description“) von derjenigen, die mit den Mitteln suggestiver Erzhltechniken (z. B. mit Gerîchten) arbeitet („innuendo“). Nach seiner Definition umfaßt dabei die direkte Darstellung øußerungen îber eine bestimmte Person nicht nur a) durch den Autor, sondern auch b) durch eine andere Person im Text oder c) durch die darzustellende Person selbst. Diese Begrifflichkeit erscheint jedoch problematisch, da die Mçglichkeiten b) und c) oft auch zu der sogenannten indirekten Charakterisierung gerechnet werden, so z. B. bei Benario, 1975, 121; s. auch Geiser, 2007, 23 f. Somit wird eine Trennung zwischen direkter und indirekter Charakterisierung mißverstndlich. Ich folge in dieser Arbeit der herkçmmlichen Unterscheidung im Sinne Benarios, die in der indirekten Charakterisierung die Beschreibung einer Person hauptschlich durch ihr Handeln und Sprechen oder durch den Mund anderer Personen ins Auge faßt. Zu dieser Definition der auf Thukydides zurîckgehenden indirekten Methode s. auch I. Bruns: Die Persçnlichkeit in der Geschichtsschreibung der Alten. Untersuchungen zur Technik der antiken Historiographie, Berlin 1898 (photomechan. Nachdruck, Darmstadt 1961), 18; 69 – 83 zur indirekten Charakterisierung bei Tacitus ann. I-VI (Tiberius).

1.1 Augustus

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suggestiven Techniken behandelt, sondern auch die Zeichnung des Charakters insgesamt.

1.1 Augustus Es gehçrt zu den Eigenheiten der taciteischen Annalen, daß sie die fîr die Prinzipatsverfassung grundlegende Zeit des Augustus lediglich streifen, um dann mit der Herrschaftsîbernahme des Tiberius die eigentliche Darstellung beginnen zu lassen.31 Gleichwohl aber reichen jene pauca de Augusto et extrema,32 die uns Tacitus in seinem Annalen-Proçm als Gegenstand seines Berichtes ankîndigt, aus, um das von ihm prsentierte Augustusbild bis in Einzelheiten nachzeichnen zu kçnnen.33 Es ist in seinen wesentlichen Zîgen negativ gestaltet34 und innerhalb der Annalen 31 Wollte Tacitus die Darstellung frîherer Historiker, insbesondere die des Livius fortfîhren? S. hierzu Syme, 1958, 364 – 377 (bes. 368 – 374) sowie E. O’Gorman: On not writing about Augustus: Tacitus’ Annals Book I, MD 35, 1995, 91 – 114. In ann. 3,24,3 scheint Tacitus jedenfalls auch eine Darstellung der augusteischen Epoche in Aussicht zu stellen: … cetera illius aetatis memorabo, si effectis in quae tendi, plures ad curas vitam produxero. 32 Zum Verstndnis dieser Aussage s. A. D. Leeman: Structure and meaning in the prologues of Tacitus, YClS 23, 1973, 169 – 208, hier 189. Daß das et tatschlich additiv und nicht explikativ aufzufassen ist, kann jedoch nicht sicher behauptet werden. 33 Hier sei insbesondere verwiesen auf die umfassende und detaillierte Untersuchung von B. Witte: Tacitus îber Augustus, Diss. Mînster i. W. 1963, wo die Darstellung ann. 1,1 – 10 die ersten rund 150 Seiten bestimmt. 34 Daß dieses Bild nicht unbedingt die eigene Ansicht des Tacitus widerspiegeln muß, hat jîngst E. Lyasse: Tacite, Auguste et le principat. Quelques remarques, Latomus 67, 2008, 977 – 984 darzulegen versucht. Lyasse stellt die hufig angefîhrte Abneigung des Tacitus gegenîber der Regierungsform des Prinzipats in Frage und kommt vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis, daß der Historiker auch in Bezug auf Augustus wahrscheinlich weniger schlecht gedacht habe als vielfach angenommen. In diesem Zusammenhang bewertet Lyasse auch einige der von mir im folgenden analysierten Textpassagen zu Beginn der Annalen in Teilen etwas anders als ich. Fîr unsere Zwecke dîrfte es jedoch von untergeordneter Bedeutung sein, ob Tacitus îber Augustus seine eigene Sichtweise – dies hat bereits D. C. A. Shotter : The debate on Augustus (Tacitus, Annals I 9 – 10), Mnemosyne 20, 1967, 171 – 174 bezweifelt (vgl. u. Anm. 80) – oder eine tradierte Ansicht wiedergibt oder ob er diesen vor seiner Leserschaft entlarven – so F. Klingner: Tacitus îber Augustus und Tiberius. Interpretationen zum Eingang der Annalen. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Heft 7, 1953 1 – 45, nachgedruckt in: V. Pçschl (Hg.): Tacitus (Wege der Forschung Bd. 97), Darmstadt 1969, 496 – 539, hier bes. S. 515 – oder

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1. Stereotype Charakterdarstellung

mit am besten in dem sogenannten ‘Totengericht’ (ann. 1,9 f.) dokumentiert, das – eingebettet in den Bericht îber den Tag des Leichenbegngnisses fîr Augustus – dem Leser eine differenzierte Beurteilung des ersten Princeps aus der Sicht des rçmischen Volkes bietet.35 Die urteilende Volksmenge wird dem Leser in zwei Gruppen prsentiert. Von der Mehrzahl der Bevçlkerung, die sich îber allerlei Belanglosigkeiten ergeht (ann. 1,9,1 plerisque vana mirantibus) wird in bewußtem Gegensatz die Minderheit der Verstndigen abgehoben, die das Leben des Augustus entweder lobt oder tadelt (ann. 1,9,3: at apud prudentes vita eius varie extollebatur arguebaturve). Die prudentes fllen im folgenden ihr Urteil îber den Begrînder des Prinzipats. Dabei kommen zunchst die positiven (ann. 1,9,3 – 5), dann die negativen Stimmen (ann. 1,10) zu Wort. Trotz dieser rein formal gegebenen Ausgewogenheit der Urteile in Rede und Gegenrede ist der Leser nach der Lektîre des Totengerichts wohl geneigt, sich der Ansicht der Augustusgegner anzuschließen. Im folgenden wollen wir nun den einzelnen Mitteln nachspîren, mit denen Tacitus diese Wirkung erzielt. Der Mehrzahl der Bevçlkerung schenkt der Historiker keine besondere Beachtung. Ihre Aussagen haben fîr ihn nicht mehr als leeres Geschwtz (vana) um Zuflligkeiten36 sowie um ußere ømter und Eh-

lediglich ins „Zwielicht“ rîcken mçchte – so H. Trnkle: Augustus bei Tacitus, Cassius Dio und dem lteren Plinius, WS 82, 1969, 108 – 130, hier 118. Vielmehr soll hier der Frage nachgegangen werden, mit welchen Mitteln Tacitus bei scheinbarer Objektivitt dem Leser ein in der Tendenz negatives Bild suggeriert. Die unterschiedlichen Meinungen zum taciteischen Augustusbild resultieren nicht zuletzt auch aus der Quellenproblematik. Auffllige Gemeinsamkeiten im Aufbau und Ausgestaltung der Augustusdarstellung bei Tacitus und Dio (56,43 – 44) lassen auf eine gemeinsame Quelle als Vorlage schließen, aus denen beide Autoren geschçpft haben mîssen. Da jedoch gleichzeitig in diesen Parallelberichten bei aller sonstigen øhnlichkeit eine recht unterschiedliche Beurteilung des Augustus geboten wird, ist in diesem Zusammenhang zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bis heute nicht ruhende Kontroverse îber die Frage entbrannt, welcher Autor mit seinem Bericht dieser gemeinsamen Quelle wohl nher gekommen sei, bzw. welcher von beiden die meiste Originalitt besitze, s. Flach, 1973, 126 – 136. 35 Demnach greift Tacitus an dieser Stelle zu der Methode der indirekten Charakterisierung, s. Bruns, 1898, 71 f. 36 Ann. 1,9,1: quod idem dies accepti quondam imperii princeps et vitae supremus, quod Nolae in domo et cubiculo, in quo pater eius Octavius, vitam finivisset (sc. Augustus).

1.1 Augustus

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rungen37 im Leben des Augustus zum Inhalt. Dementsprechend nîchtern und kurz ist an dieser Stelle sein Bericht. Der aufmerksame Leser kann jedoch auch hier, bei øußerungen, die scheinbar eine – wenn auch nur ußerlich zutreffende – Ehrenbezeugung fîr den Princeps in sich tragen, durchaus bereits Seitenhiebe erkennen: So bedeutet „die Feststellung, der Verstorbene habe siebenunddreißig Jahre lang die tribunicia potestas ununterbrochen bis zu seinem Tode innegehabt […], in der Wirklichkeit, daß er jeglicher Verantwortung und Richtbarkeit enthoben war.“38 Durch den scharfen Kontrast plerisque vana mirantibus – at39 apud prudentes wird die Geringschtzung der breiten Masse seitens des Tacitus sinnfllig und „die riesige Zahl von Wîrden und Ehrentiteln […] gleich am Anfang als Nichtigkeit abgetan, als etwas, von dem sich nur Unwissende blenden ließen.“40 Doch dieser Gegensatz dient noch einem anderen Zweck: Durch ihn wird im Bewußtsein des Lesers den folgenden øußerungen der prudentes erheblich mehr Gewicht beigemessen als sie ohne ihn vielleicht besßen. Denn indem ihnen hier durch das qualifizierende Attribut prudens ein rationales und hintergrîndiges Urteil – im vollen Gegensatz zu dem eher vordergrîndigen mirari der Masse41 – zuge37 Ann. 1,9,2: numerus etiam consulatuum celebrabatur, quo Valerium Corvum et C. Marium simul aequaverat (sc. Augustus), continuata per septem et triginta annos tribunicia potestas, nomen imperatoris semel atque vicies partum aliaque honorum multiplicata aut nova. 38 Witte, 1963, 135. Tacitus hebt zudem die Dauer durch die nachdrîcklichere Formulierung per septem et triginta (anstelle von triginta septem) hervor (vgl. a.a.O. 134 f.). øhnlich verhlt es sich nach Witte mit den Angaben der îbrigen Titel und Ehrenmter (s. a.a.O. 134 – 137). 39 Vgl. KSt II 81: „At ist in eigentlichem Sinne die Konjunktion des Einwurfs; es drîckt daher einen Gegensatz weit lebhafter und energischer aus als sed. So findet es sich zunchst im Dialog beim Wechsel der Person, wenn der eine Redende dem Anderen seine Ansicht mit lebhaftem Nachdruck entgegenstellt.“ Der adversative Sinn von at hat an dieser Stelle den Vorzug vor dessen – bei Tacitus ansonsten recht hufiger (KSt II 84) – îberleitender Funktion; s. G&G s. v. at (105 f., bes. 106, wo unsere Stelle unter die Flle der adversativen Bedeutung eingereiht ist); vgl. J. Wankenne: Le portrait d’ Auguste d’aprºs Tacite (Annales I, 9 – 10), LEC 45, 1977, 323 – 335, hier 325. 40 Trnkle, 1969, 110; vgl. Witte, 1963, 136. Trnkle sieht (a.a.O.) in dieser Geringschtzung der ußeren Ehren des Augustus zudem auch einen Hinweis auf „das Scheinhafte der durch den Prinzipat geschaffenen politischen Zustnde“ enthalten. 41 Dabei wird die hier angedeutete inhaltliche Unterordnung gegenîber den Meinungen der prudentes durch die syntaktische (mirantibus ist keine finite Verbform, sondern Partizip) besttigt, wie Witte, 1963, 133 f. darlegt.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

sprochen wird, erhalten sie fîr den Leser, der sich wohl ohnehin der erlesenen Schar der Verstndigen mehr verbunden fîhlen mçchte als der ungebildeten Mehrheit, einen besonderen Grad an Tiefe und Ausgewogenheit und dîrfen vor der negativen Folie des leeren Geschwtzes als um so glaubwîrdiger in Erscheinung treten. ˜berhaupt erhlt die Wiedergabe der çffentlichen Meinung in Rede und Gegenrede bei den prudentes den Anstrich besonderer Objektivitt.42 Diese Beurteilung des Augustus ‘in utramque partem’ und der damit erweckte Anschein der unparteilichen Darstellung scheint fîr Tacitus an dieser Stelle sehr wichtig zu sein. Denn er kîndigt diesen Ablauf seines Berichtes bereits vor den eigentlichen Urteilen ausdrîcklich an, indem er mitteilt: vita eius … extollebatur arguebaturve (ann. 1,9,3). Der Leser wird damit im Vorfeld der Betrachtung auf eine vermeintlich objektive Darstellung eingestimmt und kommt im weiteren Verlauf der Schilderung mçglicherweise gar nicht erst auf den Gedanken, die Unparteilichkeit des Autors ernsthaft in Frage zu stellen.43 Mit diesen Kunstgriffen hat sich Tacitus als Historiker bereits vor dem eigentlichen Verdikt îber Augustus fast unbemerkt der Verantwortung fîr das Folgende entzogen und die Weichen fîr den weiteren Lesegang gestellt: Die nun einsetzende Darstellung erscheint objektiv und daher in ihrem Gesamturteil glaubwîrdig. Unter diesem geschickt ausgebreiteten Deckmantel erfolgt nun „nichts Geringeres als eine unbarmherzige Entlarvung, die Augustus zur fragwîrdigen Figur macht.“44 Rein ußerlich îberwiegt das negative Urteil das positive bereits in der Lnge um etwa das Zweieinhalbfache,45 42 Vgl. Vogt, bei Pçschl, 1969, 52. 43 Diese Ansicht steht fîr mich keineswegs in Widerspruch zu den øußerungen Wittes, 1963, 137, wonach die Verben extollere und arguere ihrem Sinne nach schon andeuteten, daß es in beiden Fllen nicht um ein gewollt objektives Abwgen ginge. Denn diese Feststellung hat nur Bezug auf rein inhaltlicher Ebene, nmlich auf die jeweiligen Aussagen der prudentes selbst (die fîr sich genommen natîrlich nicht objektiv sind), nicht aber formal auf die Darstellungskunst des Tacitus, die letztlich entscheidend fîr den erzeugten Eindruck der Unparteilichkeit bleibt; vgl. Shotter, 1967, 171 f.: „In this statement [gemeint ist: … vita eius extollebatur arguebaturve], Tacitus does not display obvious sympathy for either group; rather he is commending both for their attempt to be constructive.“ 44 Klingner, bei Pçschl, 1969, 515. 45 Zhlt man die Zeilen in der Teubner-Ausgabe von Heubner, so liegt ein Verhltnis von 34 (ann. 1,10,1 – 7) : 13 (ann. 1,9,3 – 5) vor. Dabei ist der letzte Satz ann. 1,10,8 ceterum sepultura more perfecta templum et caelestes religiones decernuntur nicht mitgezhlt, da er keinen eigentlichen Vorwurf mehr enthlt. Nichtsdestoweniger dient auch er dem Gesamteindruck: „[…] mit dem Hinweis

1.1 Augustus

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ist an die letzte und damit strkere Position gerîckt und bleibt daher durch seinen abschließenden Charakter dem Leser im Gedchtnis haften. Die voraufgegangenen gînstigen Urteile werden somit entkrftet, îberlagert oder verdrngt.46 Betrachtet man abseits dieser rein formalen Kriterien nun den Inhalt der Darstellungen so stellt man auch in dieser Hinsicht fest, daß Lob und Tadel in deutlichem Mißverhltnis zueinander stehen. Folgendes wird fîr Augustus ins Feld gefîhrt: pietate erga parentem et necessitudine rei publicae, in qua nullus tunc legibus locus, ad arma civilia actum, quae neque parari possent neque haberi per bonas artes. multa Antonio, dum interfectores patris ulcisceretur, multa Lepido concessisse. postquam hic socordia senuerit, ille per libidines pessum datus sit, non aliud discordantis patriae remedium fuisse, quam ab uno regeretur. non regno tamen neque dictatura, sed principis nomine constitutam rem publicam; mari Oceano aut amnibus longinquis saeptum imperium; legiones provincias classes, cuncta inter se conexa; ius apud cives, modestiam aput socios; urbem ipsam magnifico ornatu; pauca admodum vi tractata, quo ceteris quies esset (ann. 1,9,3 – 5).

Bereits bei flîchtiger Lektîre dieses Abschnittes fllt auf, daß es sich hierbei nicht gerade um ein îberschwengliches ‘eulogium Augusti’ handelt. Vielmehr wohnen fast dem gesamten Passus stark apologetische Zîge inne, wenn im wesentlichen der Versuch unternommen wird, unausgesprochene Vorwîrfe zurîckzuweisen und Oktavian fîr sein Verhalten whrend und nach der Bîrgerkriegszeit zu entschuldigen.47 Dieser sei durch die ußeren Begebenheiten (pietate erga parentem et necessitudine rei publicae) in den Krieg getrieben worden, Raum fîr gesetzliches Vorgehen habe es dabei ebensowenig gegeben wie die Mçglichkeit, den Kampf auf ehrenvolle Weise (per bonas artes)48 vorzubereiten und zu fîhren. Doch schwingt in diesen Zeilen nicht indirekt der Vorwurf mit, Oktavian habe nicht nur ungesetzmßig, sondern auch unehrenvoll gehandelt? Enthlt die Aussage non aliud discordantis patriae remedium fuisse, quam ab uno regeretur tatschlich eine echte Herrschaftslegitimation fîr den ersten Kaiser Roms oder lßt sie ihn nicht vielmehr auf die Konsekration des toten Kaisers steht [er] in schreiendem Gegensatz zu den Gesamtausfîhrungen des Kapitels, der als solcher empfunden werden soll“ (so Koestermann ad loc.; vgl. Klingner, bei Pçschl, 1969, 513; Trnkle, 1969, 112). 46 Vgl. Klingner, bei Pçschl, 1969, 515; Ryberg, bei Pçschl, 1969, 66. 47 S. bes. Witte, 1963, 138; Klingner, bei Pçschl, 1969, 516 f. 48 S. Koestermann ad loc.

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als reine Notwendigkeit in Erscheinung treten, zumal sich seine hier namentlich genannten Gegner Lepidus und Antonius an dieser Stelle durch rçmische Untugenden, nmlich der eine durch Unttigkeit (socordia), der andere durch einen ausschweifenden Lebensstil (libidines), nicht gerade als regierungstîchtig erweisen und bereits deshalb als Alternative zu Augustus erst gar nicht in Frage kommen? Und besteht wirklich ein substantieller Unterschied in den Begrifflichkeiten, wenn gesagt wird non regno tamen neque dictatura, sed principis nomine constitutam rem publicam, oder scheint diese Abgrenzung von regnum, dictatura und princeps bei genauerer Betrachtung nicht etwas kînstlich und gewollt herbeigefîhrt, ist sie nicht einfach nur Augenwischerei, ein gewaltiger Etikettenschwindel, der in Wirklichkeit eine Tyrannis kaschieren mçchte und in Begleitung mit dem Ausdruck constitutam rem publicam zu einem regelrechten Zynismus wird? Man hat an dieser Stelle noch deutlich die Aussage des Tacitus gleich im ersten Annalenkapitel im Gedchtnis: (Augustum), qui cuncta discordiis civilibus fessa nomine principis sub imperium accepit (ann. 1,1,1). Dabei spricht die Wendung sub imperium accipere doch eine deutliche Sprache,49 gibt dem Leser somit im Vorgriff eine entscheidende Hilfe zur Interpretation der spteren Aussagen in ann. 1,9,5 an die Hand.50 Diese Feststellung fîhrt uns zu einem wichtigen Aspekt der taciteischen Leserlenkung, nmlich der suggestiv wirkenden retrospektiven Darstellungskunst.51 So ist îberhaupt die Meinung des Lesenden îber Augustus in den Eingangskapiteln der Annalen schon lngst vorgeprgt worden, wenn er zur Lektîre des Totengerichts gelangt. Es sind insbesondere die Kapitel ann. 1,1 – 3, die hierfîr wichtige Vorarbeit geleistet haben. Bereits vom ersten Satz des Werkes: urbem Romam a principio reges habuere, 52 libertatem et consulatum L. Brutus instituit geht durch die ihm innewohnende Antithese von habere – libertas 53 eine die 49 Vgl. Syme, 1958, 408: „The preface defines ‘princeps’ as the name, ‘imperium’ the fact“; Klingner, bei Pçschl, 1969, 500: „Unterwerfung unter eine Befehlsgewalt ist gemeint, gegen die es keine Berufung gibt“; Koestermann ad loc. 50 Vgl. Witte, 1963, 11 f. sowie Koestermann zu ann. 1,1,1 und 1,9,5. 51 Vgl. W. Hartke, Der retrospektive Stil des Tacitus als dialektisches Ausdrucksmittel, Klio 37, 1959, 179 – 195. Unseren Darlegungen kommt dabei das Beispiel auf S. 185 f. (ann. 13,13/14,2) am nchsten; vgl. Devillers, 1994, 117. 52 Ein Hexameter. Zur unterschiedlichen Beurteilung dieses Phnomens s. Leeman, 1973, 192. 53 Habere hier im Sinne von obtinere, libertas im Sinne der republikanischen Freiheit. Dieser jeweilige Wortgebrauch findet sich hufig bei Tacitus (s. Koestermann ad loc.).

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Gefîhle des Lesers beeinflussende Wirkung von nicht zu unterschtzender Kraft aus.54 Dabei zeichnet vor allem das Kolon Pompei Crassique potentia cito in Caesarem, Lepidi atque Antonii arma in Augustum cessere bei aufmerksamer Lektîre den Weg vom Ende der Freiheit unter Csar in die fest etablierte Alleinherrschaft unter Augustus nach.55 Insgesamt erscheint hier die Monarchie gegenîber der Freiheit der Republik (versinnbildlicht durch den Konsulat) als knechtende Regierungsform, wodurch die Leserschaft – sei es ihr bewußt oder nicht – gegen jegliche Form der Alleinherrschaft eingenommen wird. Gleich am Anfang eines Geschichtswerkes îber die frîhe rçmische Kaiserzeit erzeugt, kann eine solche Voreingenommenheit seitens des Rezipienten nicht ohne Folgen fîr den gesamten weiteren Lesegang bleiben. Zu Beginn des nchsten Kapitels ist dann in einer ebenso gewaltigen wie inhaltsreichen Periode56 zu vernehmen, welche Stationen Oktavian bei seinem Aufstieg zum Princeps durchlief:57 Postquam Bruto et Cassio caesis nulla iam publica arma, Pompeius apud Siciliam oppressus exutoque Lepido, interfecto Antonio ne Iulianis quidem partibus nisi Caesar dux reliquus, posito triumviri nomine consulem se ferens et ad tuendam plebem tribunicio iure contentum, ubi militem donis, populum annona, cunctos dulcedine otii pellexit, insurgere paulatim, munia senatus magistratuum legum in se trahere, nullo adversante, cum ferocissimi per acies aut proscriptione cecidissent, ceteri nobilium, quanto quis servitio promptior, opibus 54 Dies legt E. C. Welskopf: Die Kunst der Suggestion in der Darstellungsweise des Tacitus, StudClas 3, 1961, 361 – 368, hier 362 – 364 îberzeugend dar. Die besondere Wirkung liegt in den Assoziationen, die mit diesen Begriffen im allgemeinen verbunden werden. Der Begriff ‘Freiheit’ ruft zumeist positive Stimmungen hervor, whrend der Gedanke an Unfreiheit (hier durch reges habuere und den Kontrast zu libertas hervorgerufen) zumeist mit negativen Gefîhlen verbunden wird; vgl. Witte, 1963, 3 – 6; Klingner, bei Pçschl, 1969, 499. 55 Siehe U. Schillinger-Hfele: Zum Annalenproçmium des Tacitus, Hermes 94, 1966, 496 – 500. Die Worte potentia und arma heben zustzlich den gesetzlosen und militrischen Charakter dieser Entwicklung hervor (so Leeman, 1973, 193). 56 S. hierzu W. Wimmel: Roms Schicksal im Eingang der taciteischen Annalen, A&A 10, 1961, 35 – 52, hier 41: „Nach dem langen Hmmern der Schlge gegen die Freiheit, das in den abgehackten Stzen des 1. Kapitels zum Ausdruck kam, wo die Freiheit doch nie ernsthaft in Gefahr war, soll sich jetzt zeigen, wie mit Augustus sozusagen in einem Zug, ja wie bei geçffneten Schleusen, alle Freiheit niederstîrzt und nur das eine sich behauptet, das Hçllische in taciteischer Sicht: der Wille zur tyrannischen Monarchie“; vgl. Syme, 1958, 347. 57 Wankenne, 1977, 324 spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „¤l¤vation prodigieuse et prestigieuse“.

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et honoribus extollerentur ac novis ex rebus aucti tuta et praesentia quam vetera et periculosa mallent (ann. 1,2,1).

Die durch Unterstreichung hervorgehobenen Worte zeigen deutlich: Es war ein blutiger und gewaltsamer Weg, der zur alleinigen Macht im Staate fîhrte, ein Weg gepflastert mit Rechtlosigkeit, Korruption und Heuchelei, in Unterwîrfigkeit und Knechtschaft fîhrend. In nur einem Satz wird der Untergang der Republik bzw. das gewaltsame Ende der Freiheit – symbolisiert durch den Tod der ‘Tyrannenmçrder’ Brutus und Cassius58 – ebenso kurz und prgnant vor Augen gefîhrt wie die rîcksichtslose Ausschaltung aller noch verbliebenen Gegner. Dabei tuschen die Verben caedere und interficere in Bezug auf den Tod des Brutus und des Cassius bzw. des Antonius îber die historischen Tatsachen hinweg: Whlten die drei genannten Mnner doch alle – wenn auch gezwungenermaßen – den Freitod und kamen nicht etwa durch fremde Hand ums Leben.59 Treffend urteilt in diesem Zusammenhang Willrich, „daß der Ausdruck caedere = hinschlachten den Brutus und Cassius als Opfer roher Grausamkeit erscheinen lassen und somit die Sieger60 moralisch belasten soll. Da nun Antonius selber gleich als interfectus bezeichnet wird, so hat der Leser die Empfindung, daß bei ihm eine Art Sîhne fîr den begangenen Frevel eingetreten ist, whrend fîr seinen Mçrder, Octavian, das Odium noch gesteigert wird.“61 Die Formulierung consulem se ferens offenbart im weiteren Verlauf der Darstellung dann das wahre Gesicht der durch diese Gewalttaten neu geschaffenen politischen Ordnung: Oktavian geriert sich als Konsul, will als Vertreter der alten republikanischen Verfassung angesehen werden – ohne es jedoch zu sein.62 58 Wie sehr diese beiden Persçnlichkeiten – zumindest fîr Tacitus – im Gegensatz zum Prinzipat standen, wird erneut ann. 4,34,1 offenbar. Dort wird dem Historiker Cremutius Cordus allein deshalb der Majesttsprozeß gemacht, weil er in seinen Annalen den Brutus gepriesen und Cassius den letzten Rçmer genannt haben soll (quod editis annalibus laudatoque M. Bruto C. Cassium Romanorum ultimum dixisset). 59 Vgl. Koestermann ad loc. 60 Gemeint sind Oktavian und Antonius. Letzterer besiegte Brutus und Cassius in der Doppelschlacht von Philippi 42 v. Chr. 61 H. Willrich: Augustus bei Tacitus, Hermes 62, 1927, 54 – 78, hier 60 f.; vgl. E. Ammerbauer: Studien zur Typologie des Tacitus, Diss. Tîbingen 1939, 11. 62 Dies legt in sprachlicher Hinsicht der taciteische Wortgebrauch von se ferre nahe. Die Wendung kann wiedergegeben werden mit ‘sich geben als’/‘sich darstellen, angesehen sein wollen als’ (s. Witte, 1963, 38 und Koestermann ad loc.); aber auch auf inhaltlicher Ebene wird dieser Eindruck des ‘erweckten Anscheins’ verstrkt. Denn nach dem Tode des Brutus und des Cassius gab es nach eigener

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Ebenso ist seine scheinbare Genîgsamkeit mit der ‘tribunicia potestas’ zu beurteilen. Aus ihr spricht „bittere Ironie“.63 Entlarvend ist auch der weitere Werdegang des Princeps: insurgere paulatim, munia senatus magistratuum legum in se trahere. Augustus selbst erscheint als treibende Kraft,64 zieht die Befugnisse des Senats, der Beamten und der Gesetze an sich,65 kurz: er entmachtet die alten republikanischen Verfassungsorgane und steigt auf zum absoluten Herrscher. Dies tut er jedoch paulatim, also allmhlich, schrittweise, nahezu unvermerkt. Diese adverbiale Bestimmung verstrkt den Inhalt des gesamten Kolons, das zum Ausdruck bringt, auf welch gerissene und heimtîckische Weise der sptere Kaiser „getarnt hinter republikanischen Formen“66 den Staat mit seinen eigenen Waffen schlug und ihn mit den eigenen Instanzen aus den Angeln hob, indem er durch die rein ußerliche ˜bernahme der îberkommenen Beamtentitel vorgab, die lngst dahinsiechende ‘libera res publica’ wiederbeleben zu wollen, doch tatschlich in der Absicht, seine alleinige Herrschaft durchzusetzen. Diese Fassade konnte er natîrlich um so leichter aufstellen, als er auf korrumpierende Weise das Militr durch Geschenke, das Volk durch Getreidespenden, schließlich alle durch die Annehmlichkeit des ußeren Friedens fîr sich gewonnen, ja regelrecht

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Aussage des Tacitus die republikanische Staatsform ja nicht mehr (nulla iam publica arma – die militrischen Verhltnisse dîrfen hierbei auf die gesamtpolitische Ebene îbertragen werden, vgl. zu diesem Ausdruck die Bemerkungen Koestermanns). P. Cornelius Tacitus, Annalen. Lateinisch-deutsch, hrsg. v. E. Heller, Dîsseldorf/Zîrich 31997, 821 (Anm. 6 ad loc.); vgl. zur wahren Bedeutung der ‘tribunicia potestas’ ann. 3,56,2: id summi fastigii vocabulum Augustus repperit, ne regis aut dictatoris nomen adsumeret ac tamen appellatione aliqua cetera imperia praemineret (s. hierzu auch Witte, 1963, 159). Man beachte dabei insbesondere das Reflexivum. Oktavian nimmt die Befugnisse (munia) ‘fîr sich in Anspruch’, sie werden ihm nicht – nach republikanischer Manier – verliehen, sondern er selbst ist derjenige, der sich mit der Macht ausstattet (s. Witte, 1963, 32). Dieser Hauptsatz „vermittelt das bengstigende Bild des Riesen, der sich allmhlich zu seiner ganzen Grçße erhebt“ (Koestermann ad loc.); eine hnliche, weiter ausmalende Metaphorik gebraucht in diesem Zusammenhang Willrich, 1927, 63: Fîr ihn stellen die Ausdrîcke pellexit und insurgere den Kaiser „mit einem listigen Jger, einem sich aufbumenden Drachen oder einem sich auf die Zehen erhebenden Fechter, der den Gegner von oben her treffen will, auf dieselbe Stufe […].“ Klingner, bei Pçschl, 1969, 500.

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gekçdert hatte (pellexit)67 und nachdem es nach den blutigen Wirren der Bîrgerkriegszeit niemanden mehr gab, der sich widersetzte (nullo adversante).68 Der Abschnitt mîndet schließlich in abschtzigen Bemerkungen îber das opportunistische und unterwîrfige Verhalten der rçmischen Nobilitt, das geprgt ist durch ihren „Verrat […] an der Sache der Republik“.69 Die neuen Verhltnisse der ‘pax Augusta’ (vergegenwrtigt durch die wirkungsvolle Antithese tuta et praesentia – vetera et periculosa) erscheinen so in negativem Licht. Insgesamt ist es eine erdrîckende moralische Last, die hier zu Beginn der Annalen auf Augustus geladen wird. Kehren wir zurîck zum ‘Totengericht’: Ist es nach solchen zuvor erzeugten Eindrîcken îberhaupt noch denkbar, daß der Leser nun in ann. 1,9,3 – 5 die dem verstorbenen Princeps vermeintlich freundlich gesinnten Zeilen eben nicht ‘in malam partem’ interpretiert? Zumindest dîrfte es ihm viel leichter fallen, die unausgesprochenen Vorwîrfe des Abschnitts deutlich herauszuhçren. Denn neu sind sie fîr ihn nicht. Sie sind alle bereits mehr oder weniger offen vorgebracht worden und drngen nun die Anhnger des Augustus in die Defensive. Ihr ‘Lob’ ist an dieser Stelle nicht viel mehr als eine unbeholfene Entschuldigung. Erst die zuletzt genannten Aussagen îber den Zustand des Reiches beim Tode des Kaisers (ann. 1,9,5) befreien sich mîhsam aus diesem Rechtfertigungszwang, zollen den Leistungen des Augustus direkt geußerte Anerkennung70 und lassen so den ansonsten merklich abwehrenden 67 „Tacitus betrachtet alle diese beneficia als einen Kçder, von Augustus ausgeworfen, um das Volk fîr sich zu gewinnen. Die Worte endlich cunctos dulcedine pellexit sind unverhîllter Hohn, sie sollen das Gleißnerische der Politik des Kaisers aufdecken“ (Koestermann ad loc.). 68 Koestermann (S. 65) weist auf die geschickte Rahmung des Kolons munia senatus magistratuum legum in se trahere durch den vorgeschalteten Temporalsatz (ubi … pellexit) und den nachgestellten Ablativus absolutus nullo adversante hin, „Satzglieder, die die Voraussetzungen und Grînde des Aufstieges vom entgegengesetzten Gesichtspunkt her beleuchten“; dabei trgt der locker angeknîpfte Ablativus absolutus durch seine von ihm abhngigen Nebenstze noch sehr wichtige, bedeutungsschwere Informationen nach – eine recht hufige Erscheinung bei Tacitus, vgl. A. Kohl: Der Satznachtrag bei Tacitus, Diss. Wîrzburg, 1959 (S. 53 zu unserer Stelle); vgl. Leeman, 1973, 190 mit Verweis auf R. Enghofer: Der Ablativus absolutus bei Tacitus, Diss. Wîrzburg 1961, 130 ff. 69 Koestermann ad loc. (S. 66). 70 Vgl. Koestermann ad loc.; Willrich, 1927, 65, befindet dabei das Lob hinsichtlich der von Augustus erwirkten Grenzsicherung des Reiches als „sehr krglich“ und lßt bereits einen Verdacht anklingen, der bei Goodyear ad loc. in Anlehnung an Crook [ohne Nachweis der Fundstelle] offen ausgesprochen wird

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Charakter des gesamten Passus etwas weniger spîrbar werden. Soweit das Urteil der Anhnger des Augustus. Wir haben bisher feststellen kçnnen, daß es in seiner Wirkung auf doppelte Weise bereits entkrftet wird:71 Zum einen durch seinen stark apologetischen Charakter zumindest im ersten Teil, der die malae artes des Augustus indirekt zugibt, zum anderen durch die negative Darstellung des Augustus in ann. 1,2. ˜ber dieses ‘Lob’, das in Wirklichkeit keines ist, ergießen nun (ann. 1,10) die Gegner des Augustus nach der lapidaren, und deshalb um so wuchtiger anmutenden Einleitung dicebatur contra72 die Lauge ihrer beißenden Kritik: Zuerst greifen sie die im Eingang der gînstigen Beurteilung gemachten Bemerkungen fast wortwçrtlich auf (pietatem erga parentem / tempora rei publicae) und berauben sie ihrer Wirkung, indem sie die Verpflichtung des jungen Oktavian dem Vater gegenîber sowie die Notlage des Staates als heuchlerischen Vorwand entlarven (obtentui sumpta). Die wahren Beweggrînde werden dem Leser denn auch nicht weiter vorenthalten: Bereits der folgenden Satz, eingeleitet durch ein vernichtendes ceterum,73 nennt als treibende Kraft die Herrschsucht, die cupido dominandi, die im Ablativ dieselbe syntaktische Funktion (ablativus causae)74 erfîllt wie pietate und necessitudine in ann. 1,9,3 und somit auch auf grammatischer Ebene hilft, das Scheinhafte, den vermeintlichen Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit in voller Breite vorzu-

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und mit einem Hinweis auf die Res Gestae divi Augusti (Mon. Ancyr. 26,2) Bekrftigung erfahren soll: Die Aussage ann. 1,9,5: mari Oceano aut amnibus longinquis saeptum imperium enthalte mçglicherweise eine subtile Anspielung auf die gescheiterte bzw. nicht in Angriff genommene Eroberungspolitik des Augustus in Bezug auf Germanien und Britannien – eine feinsinnige, wenn auch vielleicht etwas zu îberspitzte Interpretation. Vgl. Goodyear zu ann. 1,9,3 (S. 156), wo zu Recht Stellung bezogen wird gegen Syme, 1958, 432, der die indirekt anklagenden Zîge aufgrund der eindeutig wohlwollenden Aussagen gegen Ende des Abschnitts (bezogen auf den gesicherten und geordneten Zustand des Reiches) nicht anerkennen mçchte und sagt: „The favourable tribute of Tacitus (some will object) is unduly brief. Yet it is not perfidious or grudging. It is monumental“; vgl. hierzu E. Koestermann: Der Eingang der Annalen des Tacitus, Historia 10, 1961, 330 – 355, hier 348 f. Zur Bedeutung des Adverbs contra fîr die Erzhlstruktur an dieser Stelle s. Witte, 1963, 142. Ceterum hier in der stark adversativen Bedeutung ‘in Wahrheit aber’, wie sie uns zuerst bei Sallust, dann auch bei Livius und spteren Autoren begegnet (s. Koestermann und Goodyear ad loc.); zum Inhalt s. Witte, 1963, 143. Siehe KSt I 394 (Punkt 12a): Der Ablativus causae bezeichnet hier den inneren Beweggrund, d. h. den „in der Seele des Handelnden liegenden“ Grund, aus welchem etwas geschieht.

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fîhren. Die folgenden Aussagen treffen dann subtil ins Mark der augusteischen Selbstdarstellung. Denn nicht zufllig finden sich in den weiteren Worten concitos per largitionem veteranos, paratum ab adulescente privato exercitum deutliche Anklnge an den Beginn der Res gestae divi Augusti.75 Indem bei Tacitus aber in den Augen der Augustusgegner die cupido dominandi zur eigentlichen Triebfeder des jungen Oktavian wird, ist die Aussageabsicht des Augustus, der nach eigenem Bekunden der von Cliquenherrschaft gebeutelten res publica die Freiheit brachte, nicht nur vçllig entstellt, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt.76 Der Vergleich beider Darstellungen „lßt erkennen, wie und wodurch das, was einer rein bejahenden Behandlung sehr wohl fhig gewesen wre und sie wenigstens zum Teil gefordert htte, von vorneherein zur bloßen Verteidigung geworden ist.“77 Das Selbstzeugnis des ersten Princeps in Bezug auf seine Machtîbernahme schwingt also bei Tacitus durch die Reminiszenz an den Tatenbericht im Bewußtsein des kundigen Lesers mit, wird hier jedoch als selbstgeflliges und verlogenes Eigenlob demaskiert und besttigt den unmittelbar zuvor ausgesprochenen Vorwurf der Heuchelei (pietatem erga parentem et tempora rei publicae obtentui sumpta). Nach diesen einleitenden Bemerkungen fhrt die Anklage fort: corruptas consulis legiones, simulatam Pompeianarum gratiam partium. mox ubi decreto patrum fasces et ius praetoris invaserit, caesis Hirtio et Pansa, s i v e hostis illos, s e u Pansam venenum vulneri adfusum, sui milites Hirtium et 75 Vgl. Mon. Ancyr. 1,1: Annos undeviginti natus exercitum privato consilio et privata impensa comparavi, per quem rem publicam a dominatione factionis oppressam in libertatem vindicavi; s. Koestermann und Goodyear ad loc.; ferner R. Urban: Tacitus und die Res gestae divi Augusti, Gymnasium 86, 1979, 59 – 74 (bes. 62 ff.) mit weiteren Spuren der Verwertung der Res Gestae durch Tacitus; Klingner, bei Pçschl, 1969, 516, Anm. 23; vgl. Ammerbauer, 1939, 2 – 4. 76 Man beachte dabei insbesondere die raffinierte Wortwahl des Tacitus: Der Oktavian des Tatenberichts, der die res publica von der dominatio factionis befreit, ist hier seinerseits von der cupido dominandi beseelt. Er wird zu einem Widerspruch in sich. Koestermann, 1961, 351 sieht in dem von Tacitus so eindeutig in den Vordergrund gerîckten Machtstreben jedoch keine „vçllige Abwertung der Person“ verwirklicht und meint: „Durch die suberliche Trennung der verschiedenen Mçglichkeiten der Erklrung cap. 9 und 10 [pietas erga parentem / cupido dominandi] ist ja letzten Endes erreicht worden, daß sich die ˜berzeugung aufdrngen muß, die Wahrheit liege in der Mitte.“ Dabei lßt er sich m. E. in seinem Urteil zu sehr durch den von Tacitus erweckten Anschein von Objektivitt (und den historischen Augustus!) tuschen. 77 Klingner, bei Pçschl, 1969, 516, Anm. 23; Ammerbauer, 1939, 12 sieht îberhaupt im Augustusbild des Tacitus „eine Widerlegung des Monumentum Ancyranum.“

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machinator doli Caesar a b s t u l e r a t , utriusque copias occupavisse; extortum invito senatu consulatum, armaque, quae in Antonium acceperit, contra rem publicam versa; proscriptionem civium, divisiones agrorum ne ipsis quidem, qui fecere laudatas. sane Cassii et Brutorum exitus paternis inimicitiis datos, quamquam fas sit privata odia publicis utilitatibus remittere: sed Pompeium imagine pacis, sed Lepidum specie amicitiae deceptos; post Antonium, Tarentino Brundisinoque foedere et nuptiis sororis inlectum, subdolae adfinitatis poenas morte exsolvisse. pacem sine dubio post haec, verum cruentam: Lollianas Varianasque clades, interfectos Romae Varrones Egnatios Iullos (ann. 1,10,1 – 4).

Im wesentlichen beziehen sich die hier gegen Augustus erhobenen Vorwîrfe auf dessen Verhalten vor der Begrîndung des Prinzipats (44 – 30 v. Chr.).78 Die von den Anhngern lobend ins Feld gefîhrte Erwhnung der unzweifelhaft friedensreichen Zeit danach (ann. 1,9,5) wird hingegen nur kurz aufgegriffen und durch den vernichtenden Nachtrag verum cruentam,79 der aufgrund seiner Prgnanz im Gedchtnis des Lesers haften bleibt, sogleich relativiert. Beschrnkten sich die ‘Verteidiger’ des Augustus in ann. 1,9 noch auf eher allgemein gehaltene Aussagen, so werden die ‘Anklger’ nun konkret.80 Dabei lassen sich deren Aussagen in zwei Abschnitte unterteilen:81 Die Paragraphen 1 – 2 des zehnten Kapitels malen die eingangs erwhnte cupido dominandi weiter aus, indem sie in der Hauptsache zum einen die korrumpierende und gewaltsame Anhufung militrischer Macht (veteranos, exercitum, legiones, copias, arma) und zum anderen die wider78 S. Witte, 1963, 143. 79 „Tendentious and exaggerated“ (Goodyear ad loc.); vgl. Koestermann ad loc.; Syme 1958, 431. 80 Dies sieht Shotter, 1967, 172 als ganz natîrliches Phnomen an: „But surely it is natural, that the eulogists should have to a large extent confined themselves to generalisations; after all, Augustus’ reputation depended upon them – the Pax Romana, political stability, the adornment of the City, and the like. The critics, on the other hand, had the easier task; they could pick out from the emperor’s past a multitude of specific instances […].“ Dies ist fîr ihn auch der Grund fîr die deutliche Diskrepanz in der jeweiligen Lnge von Lob und Tadel, wenn er fortfhrt: „The use of these specific instances inevitably makes the statement of their point of view more expansive.“ Shotter legt dies hauptschlich dar, um den Nachweis zu fîhren, daß das im Totengericht dargebotene Augustusportrt nicht notwendigerweise die eigene Ansicht des Tacitus widerspiegelt, und versucht deshalb, die Aussagekraft, die in der mehr als doppelten Lnge der Anklagepunkte steckt, zu schmlern (vgl. auch neuerdings Lyasse, 2008, 978 f.). Doch leuchtet mir seine Argumentation nicht ein. Wieviel man îber Augustus gerade auch an positiven Einzelheiten htte berichten kçnnen, hat bereits H. Willrich, 1927, 54 – 78 belegt; vgl. ferner auch Anm. 95 dieser Arbeit. 81 S. Witte, 1963, 143.

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rechtliche Erschleichung der staatstragenden ømter (fasces et ius praetoris, consulatum) vorfîhren. Unterstîtzt wird dieser Eindruck durch die Wortwahl: corruptas / invaserit / occupavisse / extortum invito senatu.82 Daneben bleibt der Vorwurf des heuchlerischen Vorgehens weiterhin erhalten (simulatam … gratiam). Schlimmer wiegt freilich der hier vorgebrachte Verdacht, Augustus sei schuld am Tod der beiden Konsuln Hirtius und Pansa.83 Er begegnet dem Leser in der fîr Tacitus charakteristischen Form einer scheinbar objektiven Wahlmçglichkeit, hier – wie so oft – ausgedrîckt durch ein disjunktives sive … seu.84 Der ußeren Form nach wird offengelassen, ob nun die Feinde die beiden Heerfîhrer getçtet oder ob den Pansa ein in die Wunde getrufeltes Gift und den Hirtius die eigenen Soldaten hinweggerafft haben, wobei Augustus der Anstifter des Anschlages (machinator doli) war. Durch seine Darstellung aber erreicht es der Historiker, daß der Leser eher an die Version des Giftmordes bzw. des hinterlistigen Anschlages und damit an die Schuld des Oktavian glauben mçchte. Denn diese Alternative wird sehr viel breiter ausgemalt, nimmt gegenîber der ersten Mçglichkeit, die in nur drei Worten prsentiert wird (sive hostis illos) in der Darstellung erheblich mehr Raum ein und zieht so die Aufmerksamkeit auf sich. Zustzlich steht sie an zweiter Stelle, wodurch sie sich dauerhaft dem Gedchtnis des Lesenden einprgt.85 Dieselbe Technik, die in der Komposition des Totengerichts insgesamt zur Anwendung kommt (s. S. 16 f.), wird hier deutlich auf einen konkreten Vorwurf îbertragen.86 Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch die Verwendung des Indikativs in einem Nebensatz der oratio obliqua (abstulerat). Im Grunde nichts Außergewçhnliches fîr 82 Vgl. Witte, 1963, 144 f. 83 Dieses Gerîcht îberliefert auch Sueton (Aug. 11): hoc bello cum Hirtius in acie, Pansa paulo post ex vulnere perissent, rumor increbruit ambos opera eius [sc. Caesaris] occisos […]. Es handelt sich hierbei mit Sicherheit um eine bçswillige Verleumdung (s. Koestermann ad ann. 1,10,2). 84 Zu dieser Technik insgesamt s. insbesondere D. Whitehead: Tacitus and the loaded alternative, Latomus 38, 1979, 474 – 495 (S. 490 zu unserer Stelle); vgl. D. Sullivan: Innuendo and the „weighted alternative“ in Tacitus, CJ 71, 1975, 312 – 326. Mit diesem Mittel der Leserlenkung werden wir uns noch im Rahmen unserer Beobachtungen îber das taciteische Tiberiusbild eingehend beschftigen (ab S. 51). 85 R. Reitzenstein: Tacitus und sein Werk, Neue Wege zur Antike 4, 1926, 1 – 32, hier 21 f. macht darauf aufmerksam, daß Tacitus „in allen wichtigeren Fllen den Widerspruch seiner Quellen angibt und die Ansicht, die er fîr die richtige hlt, an den Schluß stellt und gewissermaßen das letzte Wort behalten lßt.“ 86 Vgl. Sullivan, 1975, 324.

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nachklassische Autoren,87 soll er jedoch an dieser Stelle mit einiger Sicherheit der vorgebrachten Behauptung den Charakter der Allgemeingîltigkeit verleihen und somit die Schuld des Oktavian als Faktum erscheinen lassen.88 Zuletzt darf nicht vergessen werden, daß der Leser an dieser Stelle in seiner Meinung îber Augustus schon lngst vorgeprgt ist. Der Gedanke an einen Doppelmord an den beiden Konsuln fîgt sich gut in das von Tacitus zuvor entworfene Bild des heuchlerischen und machtbesessenen Princeps und gewinnt hierdurch an ˜berzeugungskraft. Paragraph 3 leitet den zweiten Teil der Vorwîrfe ein. Dieser bezieht sich auf das Verhalten des Augustus gegenîber seinen Gegnern und ehemaligen Mitstreitern. Hierbei erscheinen erneut Heuchelei und Hinterlist als wichtige Charakteristika des machthungrigen Csarerben (imagine pacis / specie89 amicitiae). Daneben spielen bei dessen Handlungen nun auch persçnliche Rachsucht (paternis inimicitiis / privata odia) und Heimtîcke (subdolae adfinitatis) eine wichtige Rolle. Sie unterstreichen allesamt weiterhin die cupido dominandi, die nun selbst vor 87 S. KSt II 544, 2. b); vgl. Nipperdey ad loc. 88 S. Koestermann und Goodyear ad loc.; vgl. KSt II 542 ff., 2. a), wonach in streng klassischer Diktion der Indikativ in Nebenstzen der indirekten Rede u. a. dann steht, „wenn die Gedanken in dem Nebensatze zwar zur Rede oder Meinung des anderen gehçren, aber objektiv als bestimmte Tatsachen oder als allgemeine Wahrheiten bezeichnet, oder wenn die Gedanken des anderen zugleich als die Gedanken des Erzhlenden dargestellt werden sollen.“ Insgesamt muß man sich an unserer Annalenstelle fragen, warum Tacitus ausgerechnet hier den Indikativ whlt, wo er doch kurz zuvor im Satz mit dem konjunktivischen invaserit die klassische Norm befolgt hat. Entspringt der Indikativ bei abstulerat nur dem Wunsch nach einer gewissen Variatio (dies meint Shotter, 1967, 172 f.; vgl. insgesamt die stets wechselnde Abfolge von konjunktivischen bzw. indikativischen Verbformen in ann. 1,10,2 f.: invaserit – abstulerat – acceperit – fecere – sit) oder ist er auch auf inhaltlicher Ebene zum voraufgehenden Konjunktiv bewußt abgesetzt? Gegen eine Auffassung des sive … seu- Satzes als oratio obliqua im Indikativ spricht jedenfalls, daß es nicht recht einleuchtend ist, warum die Augustusgegner ihre boshafte Behauptung in Bezug auf den Tod des Hirtius und des Pansa durch die Nennung einer Alternative (sive hostis illos …) îberhaupt htten abschwchen sollen. Zudem war in ann. 1,9 an vergleichbaren Stellen kein Hang zur Variatio feststellbar (dort steht in den Nebenstzen der indirekten Rede durchgngig der Konjunktiv!). Demnach ist die im Rahmen unserer Analyse vorgebrachte Deutung des Indikativs abstulerat als auktoriale Kommentierung (vgl. auch ann. 1,10,7: iecerat) m. E. durchaus zulssig. 89 Eine Art Lieblingswort des Tacitus fîr die Aufdeckung von Heuchelei. Eine ˜bersicht îber die Verwendung dieses Wortes und hnlicher Begriffe in den Annalen bietet mit den einschlgigen Stellenangaben Walker, 1952, 241 mit Anm. 2; vgl. Cousin, bei Pçschl, 1969, 117 f. mit Anm. 67.

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privaten Bindungen keinen Halt mehr macht.90 Auf die Relativierung der ‘pax Augusta’ durch das nachgetragene verum cruentam wurde bereits verwiesen (s. S. 25). Das hier zur Geltung kommende Oxymoron des ‘blutigen Friedens’ wird durch die Morde an Mnnern wie Varro, Egnatius und Iullus exemplifiziert.91 Daß zumindest A. Terentius Varro und M. Egnatius Rufus eine Verschwçrung angezettelt haben,92 wird mit keinem Wort erwhnt. Dennoch sind sie fîr einen kundigen Leser in gewisser Weise eine konkrete Antwort auf den allgemeinen Gedanken der Augustusanhnger in ann. 1,9,5: pauca admodum vi tractata, quo ceteris quies esset. Durch den Plural Varrones, Egnatios, Iullos scheint das pauca admodum vi nun widerlegt zu sein. Durch die asyndetische Aneinanderreihung der Namen ergibt sich zudem das Bild einer langen Serie blutigen Mordens whrend der Regierungszeit des ersten Kaisers. Dieser Eindruck ist nicht zuletzt durch den zuvor erfolgten Hinweis auf die Proskriptionen (ann. 1,10,2), die zusammen mit der erwhnten Verteilung des Ackerlandes aus rçmischer Sicht sicherlich den Eindruck von „Gewalt und Willkîr“93 vermitteln, vorbereitet worden. Die eindeutig guten Seiten des augusteischen Prinzipats, wie sie uns in ann. 1,9,5 begegnen, werden von den Gegnern des Augustus nicht weiter aufgegriffen. Im Gegensatz zu der dort hervorgehobenen militrischen Grenzsicherung des Reiches werden hier die vereinzelten, aber sehr schmerzhaften Niederlagen des Varus und des Lollius betont.94 Die vielen militrischen Erfolge des Augustus werden hingegen vçllig ausgeblendet. Da selbst die Anhnger solche nicht namhaft machen, fallen sie in der Darstellung des Tacitus gnzlich weg,95 wodurch die in ann. 1,10,4 erwhnten Niederlagen erheblich an Bedeutung gewinnen. Es wird an dieser Stelle deutlich, daß der Historiker die Meinung seiner Leserschaft nicht nur mit dem beeinflußt, was er sagt, sondern auch mit dem, was er ganz bewußt eben nicht sagt. Die Auswahl 90 91 92 93 94 95

Siehe Witte, 1963, 143 f. Vgl. Trnkle, 1969, 111; Ammerbauer, 1939, 7. S. Koestermann ad loc. Witte, 1963, 145. Vgl. Witte, 1963, 148 f. Wie sehr htte Augustus doch glnzen kçnnen, htten seine Verteidiger die siegreichen Feldzîge und Eroberungen in der Alpenregion und in Pannonien sowie die erfolgreichen Vorstçße in Germanien vor der verheerenden VarusKatastrophe mit nur einem Wort erwhnt. Welches Gewicht htte weiterhin ein Hinweis auf die ruhmreiche Zurîckgewinnung der bei der Schlacht von Carrhae (53 v. Chr.) an die Parther verlorenen Feldzeichen fîr den Kaiser in die Waagschale geworfen! Von alledem kein Wort bei Tacitus.

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des Stoffes ist hierbei von entscheidender Bedeutung.96 Indem die Opposition mit konkreten Beispielen argumentiert, wird ihre negative Sichtweise in Bezug auf den Princeps fîr den Leser sehr viel bildhafter und faßbarer als die eher allgemein formulierten, daher auch sehr farblos wirkenden positiven øußerungen. Diese Vorstellungskraft lßt die zuvor ohnehin nur sprlich gesten Hinweise auf die Errungenschaften der augusteischen Epoche nun vollends verblassen.97 Doch die Anklger begnîgen sich nicht nur mit der Widerlegung der Argumente, die fîr Augustus ins Feld gefîhrt werden. Sie setzen sich zustzlich noch mit dessen Privatleben auseinander, ein Bereich, der auf Seiten der Anhnger vçllig unberîhrt geblieben ist und nun Anlaß gibt, die unglîckliche Familienpolitik schonungslos unter die Lupe zu nehmen (ann. 1,10,5 – 8). Mit dem einleitenden Satz nec domesticis abstinebatur hebt Tacitus seine Distanz zu den vorgebrachten Meinungen besonders hervor. Er erinnert in eigener Stellungnahme daran, daß nicht er, sondern weiterhin die Gegner des Augustus das Wort haben.98 Fîr die Fragestellung unserer Untersuchung ergeben die dabei vorgebrachten Einzelheiten nichts wesentlich Neues und kçnnen daher an dieser Stelle unberîcksichtigt bleiben. Festgehalten aber werden soll die Tatsache, daß auch das Privatleben des Kaisers nicht erst hier zum Gegenstand der Darstellung wird. Auch dieser Bereich findet seine Vorbereitung im Eingang der Annalen (ann. 1,3), wo Tacitus das fîr Augustus so brennende Problem der Nachfolgeregelung berîhrt, indem er die verschiedenen personellen Mçglichkeiten (und ihr Scheitern) vorstellt. Demnach kçnnen auch hier retrospektive Elemente der Erzhlstruktur ausfindig gemacht werden. Diese Zusammenhnge sind jedoch wichtiger fîr die taciteische Livia- und Tiberius-Darstellung und werden uns deshalb noch an anderer Stelle beschftigen.99 Wie wir sehen konnten, weist das ‘Totengericht’ îber Augustus viele wesentliche Merkmale der taciteischen Leserlenkung auf. Es empfiehlt sich daher an dieser Stelle der Untersuchung noch einmal zusammenfassend und ordnend festzuhalten, welche Mittel dabei zur Anwendung gekommen sind. 96 Devillers, 1994, widmet diesem Gegenstand ein ganzes Kapitel seiner Untersuchung (S. 185 – 315: La s¤lection de la matiºre). 97 Vgl. Witte, 1963, 146. 98 S. Witte, 1963, 149. Wittes Interpretation, wonach in diesen Worten auch eine scheinbare Mißbilligung des Historikers herauszulesen ist, muß man dagegen nicht unbedingt teilen; vgl. insgesamt auch Ammerbauer, 1939, 4 f. 99 S. u. S. 36 ff. zu Tiberius bzw. S. 66 ff. zu Livia.

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Zunchst mußte sich Tacitus als Historiker von dem Inhalt seines Berichtes distanzieren, wollte er nicht in den Verruf einer parteilichen Schilderung kommen.100 Dies erreicht er vor allem dadurch, daß er die Darstellung in den Mund des Volkes legt und sich durch die Wiedergabe nicht der eigenen, sondern der çffentlichen Meinung der Verantwortung fîr das Ausgesprochene entledigt. Innerhalb dieser geschickten Rahmung erweckt er zustzlich den Eindruck von Objektivitt, indem er betont sowohl die positiven als auch die negativen Urteile wiedergibt. Er lßt dem Leser somit die Wahl, welcher Meinung er sich anschließen mçchte, aber gerade bei dieser Entscheidung ‘hilft’ ihm Tacitus – nicht mehr als Historiker, sondern als meisterhafter Schriftsteller. Folgende Techniken konnten hierbei beobachtet werden: Techniken im Bereich der Komposition: – Wichtig fîr den Gesamteindruck ist zunchst die R e i h e n f o l g e der jeweiligen Urteile. Die Anklger kommen zuletzt zu Wort und sind daher entscheidend im Vorteil: Sie kçnnen auf die Aussagen der Anhnger reagieren, diese also ‘richtigstellen’ und entlarven, ohne jedoch selbst noch einmal Widerspruch erfahren zu mîssen. Ihr Urteil bleibt somit fast unangefochten stehen und besitzt grçßere ˜berzeugungskraft. – Das negative Urteil ist fast dreimal so lang wie das positive. Dieses auffllige M i ß v e r h  l t n i s erklrt sich aus dem doppelten Umstand, daß die Anklage nicht nur die allgemein gehaltene Verteidigung mit konkreten Beispielen aus den Angeln hebt, sondern dabei zustzlich einen gnzlich neuen Bereich mit in ihr Urteil einbezieht, nmlich das Privatleben, das somit ohne Entsprechung im Lob des Augustus nur negativ beleuchtet wird. – Bestimmte Kapitel im Eingang der Annalen a n t i z i p i e r e n gewisse Vorwîrfe und Stimmungen gegen den ersten Princeps, indem sie dessen Portrt in dîsteren Farben ausmalen. Die Meinung des Lesers ist dann bei der Lektîre des Totengerichts bereits vorgeformt und erfhrt nun in der Retrospektive eine gewisse Besttigung. Von vorneherein sind die Augustusanhnger somit diskreditiert. Die Augustusgegner wiederum kçnnen nunmehr die volle Glaubwîrdigkeit fîr sich beanspruchen. 100 Wie gut ihm dies gerade beim Totengericht îber Augustus gelungen ist, zeigt der heftig gefîhrte Streit darîber, ob sich denn hierin die eigene Meinung des Autors wiederfinde oder nicht.

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Techniken im Bereich der Darstellung: – Das formale Mißverhltnis von positivem und negativem Urteil lßt sich auch auf inhaltlicher Ebene feststellen. Das vermeintliche Lob kommt eher einer Verteidigung des Augustus gleich, u n a u s g e s p r o c h e n e Vo r w î r f e sind dabei deutlich aus den Zeilen herauszulesen. Es bildet so kein wirkliches Gegengewicht zu dem ausgedehnten Tadel, bereitet vielmehr den Gegnern des Princeps den Weg zu ihrer harschen Kritik. – Bestimmte C h a r a k t e r e i g e n s c h a f t e n des Augustus werden bestndig wiederholt und besttigt (z. B. Heuchelei). Dabei tritt die cupido dominandi als grundlegendes Merkmal in Erscheinung. Durch sie werden die positiven Leistungen des Augustus entzaubert und als heuchlerisch entlarvt. – Das Gesamtbild lebt wesentlich von einem Kontrast zwischen der Allgemeinheit der Aussagen auf Seiten der Anhnger und der ins Einzelne gehenden Kritik der Gegner. Der Tadel ist durch seine konkreten Beispiele sehr viel anschaulicher und îberzeugender formuliert. Hiermit verbunden ist auch die Frage nach der Auswahl des Stoffes (Was wird wie dargestellt?). – Die angefîhrten Techniken werden in sprachlicher Hinsicht durch die Wortwahl und Wortstellung sowie die gesamte Syntax unterstîtzt. 1.1.1 Zur Funktion und Rolle des Augustus in den Tiberiusbîchern Stand in der eben angestellten Untersuchung die Frage im Vordergrund, mit welchen Mitteln die Person des Augustus dargestellt wird, so soll nun kurz auf die Funktion dieser Figur innerhalb der ersten sechs Bîcher der Annalen eingegangen werden. Denn auch hierbei lassen sich Merkmale der taciteischen Leserlenkung wiederfinden. Zu Beginn der Erçrterung haben wir gefragt, warum Tacitus sein Geschichtswerk îber die frîhe rçmische Kaiserzeit nach einer nur sehr knappen und zusammenfassenden ˜bersicht îber die augusteische Zeit eigentlich erst mit dem Prinzipat des Tiberius einsetzen lßt. Umgekehrt kann jedoch auch gefragt werden, warum Tacitus denn diese Hintergrînde îberhaupt noch erwhnt, wenn es ihm im wesentlichen doch um die Zeit der Festigung der von Augustus geschaffenen Monarchie unter dessen Nachfolger(n) geht. Sicherlich mçchte er den Leser îber die Ursprînge und Kausalitten der Entwicklung hin zur rçmischen Kaiserzeit

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nicht im Unklaren lassen und eine gewisse ˜berleitung zum Hauptgegenstand seiner Darstellung schaffen. Ein Bericht, der diese Kulisse vernachlssigt htte, wre sicherlich etwas unvermittelt und vordergrîndig erschienen. Doch gerade innerhalb der ersten Annalen-Hexade lassen sich neben dieser darstellerischen Begrîndung noch andere Funktionen der Augustusdarstellung namhaft machen. Auf deren wesentliche Bedeutung bei der Begrîndung der Monarchie, also der Beendigung der Freiheit, im Bericht des Tacitus wurde bereits hingewiesen. Eine Bemerkung am Ende des Totengerichts, die wir in unserer Untersuchung bislang îbergangen haben, deutet aber noch eine weitergehende Rolle gewissermaßen an: ne Tiberium quidem caritate aut rei publicae cura successorem adscitum, sed, quoniam adrogantiam saevitiamque eius introspexerit, comparatione deterrima sibi gloriam quaesivisse (ann. 1,10,7). Der Verdacht, Augustus habe Tiberius im Wissen um dessen finsteres Wesen zu seinem Nachfolger erkoren, damit er im Vergleich bei der Nachwelt um so ruhmvoller hervortreten kçnne, findet sich auch bei anderen Autoren und ist somit nicht erst eine Erfindung des Tacitus.101 Dennoch wird unser Historiker diesen Vorwurf dankbar aufgegriffen haben, gab er ihm doch fîr die dîstere Tiberiusdarstellung weiteres Material an die Hand. Zielt die Erwhnung dieser Verdchtigung im Rahmen des Augustus-Nekrologs noch darauf ab, die Ruhmsucht des ersten Princeps zu unterstreichen, so weist sie insgesamt auf eine Funktion des Augustus innerhalb der Darstellung der tiberischen Zeit voraus: Der Vorgnger erscheint hier als Folie, als eine Art Maßstab fîr die Regierung des Nachfolgers. So îberrascht es nicht, daß sich Tiberius bei vielen seiner Handlungen auf den Begrînder des Prinzipats beruft.102 Nun hat zunchst die Tatsache, daß 101 Vgl. Dio 56,45,3; unter der Prmisse einer gemeinsamen Vorlage fîr Tacitus und Dio (s. Syme, 1958, 271 f.; 272: „Dio and Tacitus go back to a common origin“) muß also mindestens ein weiterer Autor diesen Verdacht îberliefert haben. Die Parallele im Bericht des Dio spielt eine gewichtige Rolle bei der Frage, welcher der beiden Historiographen der gemeinsamen Quelle nhergekommen sei. Zur unterschiedlichen Funktion dieser Verdchtigung bei Tacitus und Dio s. B. Manuwald: Cassius Dio und das ‘Totengericht’ îber Augustus bei Tacitus, Hermes 101, 1973, 352 – 374, hier 361. 102 Vgl. D.C.A. Shotter: Tiberius and the spirit of Augustus, G&R 13, 1966, 207 – 212, wo in der Hauptsache versucht wird, vor dem Hintergrund des taciteischen Berichtes die Haltung des Tiberius zu seinem Vorgnger zu beleuchten; vgl. Witte, 1963, 160 – 162. Zur tiberischen imitatio Augusti auch im Parallelbericht des Sueton und des Cassius Dio s. M. Baar: Das Bild des Kaisers Tiberius bei Tacitus, Sueton und Cassius Dio, Stuttgart 1990,176 – 187 (insbesondere ab S. 180).

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Augustus zumindest in seiner Eigenschaft als Staatslenker bei Tacitus nur als ein negatives Vorbild verstanden werden kann (s. o.), wiederum Auswirkungen auf den Leser, der den zweiten Princeps îberall dort, wo er sich auf seinen Vorgnger stîtzt, mit dem machthungrigen und freiheitsfeindlichen Augustus auf eine Stufe gestellt sieht. So lßt sich der vermeintlich tyrannische Zug des Prinzipats wie ein roter Faden bequem auch durch die nachaugusteische Epoche ziehen. Besonders anschaulich wird dies im Bereich der Majesttsprozesse, die ein wesentlicher Bestandteil des taciteischen Berichts in den Bîchern III und IV der Annalen sind.103 Zuvor ist in ann. 1,72, wo Tiberius das Majesttsgesetz nach langer Zeit wieder in Anspruch nimmt, Augustus als eigentlicher Erneuerer der lex maiestatis genannt, wobei bereits er damit Mißbrauch betrieben habe: primus Augustus cognitionem de famosis libellis specie104 legis eius tractavit (ann. 1,72,3). Ammerbauer formuliert den gesamten dahinterstehenden Gedanken sehr treffend, wenn sie schreibt, Tacitus stelle den ersten Kaiser „als Schatten an den Anfang des Werkes und der Geschichte. […] Das Motiv der dominatio, das Tacitus in dem kurzem summarium des augusteischen Principats angeschlagen hat, [ist] bei den successores des ersten Princeps breit ausgesponnen und alle mçglichen und typischen Varianten immer wieder ausfîhrlich dargestellt, denn der Prozess, Schein gegen Wirklichkeit, geheuchelte Tugenden gegen wirkliche Laster, ist mit Augustus nicht abgeschlossen, sondern findet seine Fortsetzung in seinen Nachfolgern“.105 In der Tat wird uns insbesondere das Motiv der Heuchelei auch bei Tiberius sehr ausgeprgt wiederbegegnen. Nun darf aber der taciteische Tiberius nicht einfach nur als ein ‘zweiter Augustus’ angesehen werden. Denn ein gewisser Kontrast ist immer spîrbar, wenn er mit dem ersten Princeps wertend verglichen wird und dabei meistens als der unterlegene hervorgeht.106 Das zçgerliche und unentschlossene Verhalten des Tiberius tritt vor den energischen und zielbewußten Handlungen des ersten Kaisers um so deutlicher in Erscheinung, zeugt es doch nicht von großer Durchsetzungskraft und Ei103 Vgl. ann. 3,36 – 38. 49 – 51. 66 – 70; 4,21 – 22. 28 – 31. 36. 42. 66. 68 – 70. Zu den Hintergrînden s. Walker, 1952, 82 – 110; E. Koestermann: Die Majesttsprozesse unter Tiberius, Historia 4, 1955, 72 – 106; Z. Yavetz: Tiberius. Der traurige Kaiser, Mînchen 1999, 86 – 97 (bes. 87 f.) mit enger Anlehnung an Tacitus. 104 Vgl. Anm. 89. 105 Ammerbauer, 1939, 16. 106 S. Witte, 1963, 165.

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geninitiative, sich auf die Taten des Vorgngers berufen zu mîssen, „um den eigenen Argumenten mehr Gewicht zu geben bzw. die eigene Politik als konsequente Fortfîhrung der von jenem festgelegten Richtlinien hinzustellen.“107 Gerade in den auf das ‘Totengericht’ folgenden Kapiteln îber die (zweite) Senatssitzung, in der dem Tiberius die ˜bernahme der Regierungsgeschfte angetragen wird (ann. 1,11 – 14), dieser sich der großen Verantwortung aber nicht gewachsen fîhlt (ann. 1,11,1; 1,12,1), kommt dieser Gegensatz sehr wirkungsvoll zur Geltung.108 In ann. 1,46 trifft den Kaiser in Rom der Vorwurf der trepida civitas, daß er in der Blîte seiner Jahre (vigens annis) nicht persçnlich den meuternden Legionen im Illyricum und in Germanien entgegengetreten sei, habe doch selbst der altersschwache Augustus so oft nach Germanien reisen kçnnen (an Augustum fessa aetate totiens in Germanias commeare potuisse). Noch deutlicher ist schließlich ann. 1,76,4: Als ein mçglicher Grund109 fîr das Fernbleiben des Tiberius von den in des Drusus und Germanicus Namen ausgerichteten Spielen wird dessen finsteres Wesen und die Furcht vor einem Vergleich mit dem Adoptivvater angefîhrt: cur abstinuerit spectaculo ipse, varie trahebant: alii taedio coetus, quidam tristitia ingenii et metu comparationis, quia Augustus comiter interfuisset.110 An den hier ange107 Witte, 1963, 162. 108 S. auch ann. 1,6,1 (die Ermordung des Agrippa Postumus): primum facinus novi principatus … patris iussa simulabat (sc. Tiberius). 109 Und fîr den Leser ist dies der wahrscheinlichste von allen (vgl. auch ann. 1,54,2). øhnlich wie bei der zuvor angefîhrten Stelle (ann. 1,46,3), so legt Tacitus auch hier die bissige øußerung ein weiteres Mal in den Mund einer nicht nher definierten Volksmenge (quidam), so daß er nicht in eigener Sache zu sprechen scheint. 110 Man beachte erneut die Schlußstellung dieser zweiten Alternative! Vgl. inhaltlich ann. 1,54,2, wo Tacitus im Zusammenhang mit den ludi Augustales ußert: indulserat ei ludicro Augustus …; neque ipse abhorrebat talibus studiis et civile rebatur misceri voluptatibus vulgi. alia Tiberio morum via, sed populum per tot annos molliter habitum nondum audebat ad duriora vertere. Witte, 1963, 165 meint, daß Tacitus an dieser Stelle „die severitas des Tiberius positiv von der Nachgiebigkeit des ersten Kaisers gegen die Schauspieler“ absetze. Doch erscheinen mir Zweifel an der Treffsicherheit einer solchen Interpretation angebracht. Bei allen Seitenhieben gegen den ersten Kaiser, welche der angefîhrten Stelle zweifelsohne innewohnen, kann ich der ‘alia morum via’ des Tiberius keine eindeutig positiven Zîge entnehmen. Vielmehr erscheint dieser doch erneut als zçgerlicher Princeps, der Hemmungen hat, die von Augustus zugrunde gelegten Sitten vorerst anzutasten. Dabei ist besonders die aussagekrftige Formulierung nondum audebat nicht zu unterschtzen, weist sie doch auf kînftige Entwicklungen, eben auf ein ad duriora vertere voraus! Es handelt sich daher m. E. eher

1.1 Augustus

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fîhrten Belegstellen lßt sich erneut die retrospektive Darstellungskunst des Tacitus beobachten: Der Leser kann in ihnen den in ann. 1,7,10 ausgesprochenen Verdacht, daß Augustus aus Ruhmsucht den Tiberius zum Nachfolger bestimmt habe, nachtrglich besttigt finden.111 Wie viele andere Hauptcharaktere innerhalb der ersten Annalenhlfte, so stellt auch der erste Kaiser Roms eine Kontrastfigur zu der Gestalt des Tiberius dar. Daneben lassen sich Rîckgriffe auf Augustus auch in den Handlungen anderer Personen finden, so ann. 2,53.55 durch Germanicus. Sie spielen jedoch eine vergleichsweise untergeordnete Rolle und kçnnen an dieser Stelle vernachlssigt werden. Hingewiesen sei jedoch in diesem Zusammenhang noch auf markante Gemeinsamkeiten zwischen dem Aufstieg zur Macht des Augustus und dem des Seian im vierten Annalenbuch.112 1.1.2 Zur Funktion und Rolle des Augustus in den Claudiusbîchern Auch innerhalb der Claudiusbîcher erfîllt die Gestalt des Augustus eine bestimmte Funktion, indem sie vor allem als Kontrastfigur zu Claudius dient, der an mehreren Stellen des taciteischen Berichtes vergeblich in die großen Fußstapfen des ersten Princeps treten mçchte und dabei durch Scheitern oder Unzulnglichkeit zu einer lcherlich-komischen Figur wird.113 Im Rahmen unserer eingehenden Analyse der Annalenbîcher XI und XII wird darauf im Einzelfall zurîckzukommen sein. Auffllig ist, daß Tacitus die Augustusimitation des Claudius im erhaltenen Teil seines Werkes nirgendwo ausdrîcklich kommentiert. Stattdessen wird der Kontrast zu dem großen Vorbild durch den jeweiligen Kontext oder die um einen von Tacitus bewußt gesetzten Hinweis auf die zunehmende duritia des Tiberius im Laufe seiner Regentschaft als um eine positive Hervorhebung des Princeps. Diese Einschtzung legt die inhaltliche Parallele ann. 1,76,4 (von Witte a.a.O. noch selbst in diesem Sinne angefîhrt) eindringlich nahe (vgl. Koestermnann ad ann. 1,54,2 unter dem Eintrag ‘alia Tiberio morum via’: „Der Weg den er [sc. Tiberius] einschlgt, ist ihm durch seine Sinnesart vorgezeichnet. via kommt also in dieser bildlichen ˜bertragung dem Begriff ratio nahe.“ 111 Demgegenîber gert allzu leicht in Vergessenheit, daß Augustus nach dem Tod der anderen mçglichen Kandidaten keine andere Wahl mehr hatte; vgl. ann. 1,3,3: … Nero solus e privignis erat. 112 S. Ammerbauer, 1939, 59 Anm. 3. 113 Dieses Phnomen ist so markant, daß Seif, 1973, 259 – 262 ihm ein eigenes Kapitel (‘Augustusthematik’) gewidmet hat; vgl. Devillers, 1994, 166 f.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Struktur der Darstellung erzeugt, um dem Leser unterschwellig ein negatives Claudiusbild zu suggerieren.114

1.2 Tiberius Das Tiberiusbild des Tacitus hat bis auf den heutigen Tag immer wieder das besondere Interesse der Forschung auf sich gezogen und dabei eine wahre Flut an Publikationen entstehen lassen115 – ist es doch der Gegenstand, der dem taciteischen Gedanken, sine ira et studio zu schreiben, am aufflligsten zu widersprechen scheint.116 Nun ist das Charakterportrt, das Tacitus von dem zweiten Princeps entwirft, sehr vielschichtig und durchaus nicht einheitlich,117 ja bei genauerer Betrachtung sogar derart doppelgesichtig, daß man innerhalb der Annalen von zwei verschiedenen Kaiserdarstellungen sprechen kann.118 Es fllt daher nicht leicht, einen unmittelbaren Einstieg in das taciteische Tiberiusbild zu finden. Die berîhmte Schlußcharakteristik des verstorbenen Princeps in ann. 6,51 bietet uns vielleicht den besten Zugang, da man erwarten darf, daß an einer solch herausgehobenen Stelle des Werkes die fîr Tacitus signifikanten Wesenszîge seines Protagonisten zusammenfassend beleuchtet werden. An dieser Stelle heißt es îber den Kaiser: morum quoque tempora illi diversa: egregium vita famaque, quoad privatus vel in imperiis sub Augusto fuit; occultum ac subdolum fingendis virtutibus, donec Germanicus ac Drusus superfuere; idem inter bona malaque mixtus incolumi matre; intestabilis saevitia, sed obtectis libidinibus, dum Seianum dilexit timuitve: postremo in scelera simul ac dedecora prorupit, postquam remoto pudore et metu suo tantum ingenio utebatur (ann. 6,51,3). 114 S. Seif, 1973, 260 f. 115 Eine ˜bersicht îber die wichtigste Literatur und den Gang der Forschung (bis 1965) bietet Koestermann in der Einleitung zu Bd. II seines Annalen-Kommentars, S. 10 ff. 116 Vgl. Syme, 1958, 420: „It is mainly for his treatment of Tiberius that Tacitus comes under censure“; U. Knoche: Zur Beurteilung des Kaisers Tiberius durch Tacitus, Gymnasium 70, 1963, 211 – 226, hier 212. 220; Baar, 1990, 214. 117 S. Syme, 1958, 420; Koestermann, Bd. I, 38 f.; Bd. II, 27; Bruns, 1898, 72 – 83 geht insbesondere den Techniken der indirekten Charakterisierung des Tiberius nach und vermittelt dabei in aller Kîrze einen guten ˜berblick îber die Grundzîge des taciteischen Tiberiusbildes. 118 Vgl. Baar, 1990, 210; C. Chr. Mierow: Two Roman Emperors, CJ 36, 1940/ 41, 259 – 274, wo ausfîhrlich das in sich widersprîchliche Tiberiusbild des Tacitus herausgearbeitet wird.

1.2 Tiberius

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Bei eingehender Analyse dieses Textabschnitts fllt die sorgfltige Unterscheidung zwischen den mores und dem ingenium des verstorbenen Kaisers auf,119 die zwei Seiten des menschlichen Charakters einander gegenîberstellt.120 Die mores, hier das allgemeine Benehmen, die Sitten, sind einem steten Wandel unterworfen, doch das ingenium, der wahre Wesenskern des Kaisers, ist unvernderlich und kommt nach dem Wegfall aller Hemmnisse am Ende zum Ausbruch.121 Wir berîhren hier den fîr die Tiberiusdarstellung entscheidenden Prozeß der zunehmenden Charakterenthîllung: Die echte Natur, zunchst mitsamt ihren vitia hinter nur vorgetuschten virtutes verborgen, wird schrittweise freigelegt. Vor diesem Hintergrund wird verstndlich, warum der Wesenszug der Heuchelei in der Tiberiusdarstellung des Tacitus eine derart bedeutende und dominante Rolle einnimmt.122 Denn dem ingenium einer Person folgen gewçhnlich die mores, „lßt sich jedoch eine Diskrepanz feststellen, so liegt simulatio vor.“123 Der Wesenszug der Heuchelei ist gleichsam der Schlîssel zum Verstndnis der taciteischen Tiberiusfigur. Die abschließende Charakteristik in ann. 6,51,3 gibt in einer Art Zusammenfassung die Stationen der schrittweise erfolgten

119 S. G&G s. v. ingenium (634 II A: „i. q. naturell, sinnesart, charakter“) bzw. s. v. mos (868 II, a, b : „plur. i. q. sitten, benehmen, wandel, charakter“); vgl. M. Vielberg: Ingenium und mores: Beobachtungen zur historischen Begriffsbildung an Tac. Ann. 6,51,3, Mnemosyne 49, 1996, 452 – 456, hier 452: „ingenium und mores [sind] korrelative Begriffe […], die zwei Seiten des menschlichen Charakters unterscheiden.“ 120 Das Begriffspaar und die dahinter stehende Lehre geht zurîck auf die griechische Philosophie und hat wohl zuerst durch Poseidonios (ca. 135 – 51 v. Chr.) Einzug in die Historiographie erhalten. Die Korrelation ingenium-mores entspricht dabei den griechischen Begriffen v}¾ir – E¢g ; vgl. Vielberg, 1996, 452 in Anlehnung an K. Bergen: Charakterbilder bei Tacitus und Plutarch, Diss. Kçln 1962, 91. 121 Vgl. die einleitenden Bemerkungen auf S. 11 f. 122 S. Baar, 1990, 147: „In Tacitus’ Werk findet sich […] auf jeder Tiberius betreffenden Seite explizit oder implizit der Vorwurf der simulatio, die sich nach Tacitus auf so gut wie alle Verhaltensbereiche des Tiberius erstreckt.“ Bergen, 1961, 15 – 17 hat in einer Liste die wichtigsten Stellen der Annalen zusammengetragen, an denen dieser Vorwurf gegen den Princeps offen ausgesprochen wird, s. ann. 1,14. 52. 72. 75. 77. 81; 2,5. 28. 30. 36. 42. 63. 84. 87; 3,2. 51. 60; 4,4. 9. 19. 20. 31. 57. 67. 71. 74; 5,2; 6,1. 6. 46. 50. 123 H. Hoffmann: Morum tempora diversa. Charakterwandel bei Tacitus, Gymnasium 75, 1968, 220 – 250, hier 231; Zur simulatio speziell des Tiberius vgl. ebd. 221.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Enthîllung wieder. Dabei lassen sich folgende fînf Stufen der Entwicklung unterscheiden:124 1. 1. Die Zeit vor dem Regierungsantritt im Dienst des Augustus bis zu dessen Tod (14 n. Chr.): egregium vita famaque. 2. Die Zeit bis zum Tode des Germanicus und des Drusus (14 – 19/23 n. Chr.): occultum ac subdolum fingendis virtutibus. 3. Die Zeit bis zum Tode der Livia (23 – 29 n. Chr.): inter bona malaque mixtus. 4. Die Zeit bis zum Tode des Seian (29 – 31 n. Chr.): intestabilis saevitia, sed obtectis libidinibus. 5. Die Zeit nach dem Tode Seians (31 – 37 n. Chr.): scelera et dedecora. Auffllig ist, wie hier die einzelnen Phasen im Enthîllungsprozeß von den Todesdaten bestimmter Personen am Hof des Tiberius abhngig gemacht werden: Jede dieser Personen stellt fîr sich ein Hemmnis fîr die nchste Stufe der Charakterentwicklung dar.125 Erst als im Jahr 31 mit der Hinrichtung des Seian das letzte dieser Hindernisse weggefallen ist, kann der Charakter nach Beseitigung von Scham und Furcht126 seiner naturgegebenen Anlage freien Lauf lassen und offen zutage treten. Nun findet sich in den Annalen neben dieser Charakterkonzeption des Tiberius auch noch eine zweite Deutung, die zu der Charakteristik in ann. 6,51,3 in einem offenen Widerspruch steht. Denn wenige Kapitel zuvor legt Tacitus dem Senator L. Arruntius folgende Worte îber den Kaiser in den Mund: post tantam rerum experientiam vi dominationis convulsus et mutatus sit (ann. 6,48,2). Die fîr Tacitus bisher als geltend angefîhrte Vorstellung von einem unvernderlichen Kern des menschlichen Charakters, der ja die grundlegende Voraussetzung fîr die eben dargestellte Enthîllungstheorie ist, scheint hier widerlegt zu sein, wird doch an dieser Stelle ausdrîcklich erklrt, der Kaiser selbst habe sich trotz seiner großen Erfahrung in seinem Wesen verndert, und zwar unter dem Einfluß der Macht.127 Koestermann128 mçchte in diesem Zusammen124 S. Knoche, 1963, 213 – 216; Hoffmann, 1968, 224; W.-R. Heinz: Die Furcht als politisches Phnomen bei Tacitus (Heuremata 4), Amsterdam 1975, 43. 125 Zur Darstellung dieser Personen s. die noch folgenden Ausfîhrungen îber Livia (S. 66 ff.) Germanicus (S. 80 ff.) und Seian (S. 97 ff.). 126 Der Gedanke ist dem Sallust (Hist. 1,12 M.: Postquam remoto metu Punico simultates exercere vacuom fuit, plurumae turbae, seditiones et ad postremum bella civilia orta sunt…) entlehnt, s. Klingner, bei Pçschl, 1969, 538 f.; vgl. Heinz, 1975, 45 f. 51. 127 Daß die Antike nicht nur die Lehre von der unvernderlichen Natur eines Charakters kannte, sondern auch die Ansicht von einem echten Wandel, legt C.

1.2 Tiberius

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hang annehmen, „daß Tacitus sich nicht vçllig gegenîber anderen Erklrungsmçglichkeiten verschlossen hat“, und vermag keine sichere Antwort auf die Frage zu geben, ob Tacitus in ann. 6,48,2 lediglich die Meinung fîhrender Senatoren wiedergegeben habe oder sich auch selbst von der ˜berzeugungskraft der hier vorgebrachten Theorie habe einnehmen lassen. Er weist jedoch auf die rumliche Nhe dieses Abschnitts zu ann. 6,51 hin und stellt fest: „Die Entscheidung, welcher Erklrung der Vorzug zu geben ist, wird dadurch fast dem Leser zugeschoben“. Sollte Tacitus wirklich eine solche Gegenîberstellung zweier Erklrungsmçglichkeiten fîr das ‘Tiberiusrtsel’ beabsichtigt haben, so wre hier erneut ein Mittel der Leserlenkung festzustellen: Denn die abschließende Charakteristik in ann. 6,51,3 ist um einiges ausfîhrlicher und vermag die zuerst gegebene Erklrung in ann. 6,48,2 zu verdrngen.129 Das Schema der stufenweise erfolgten Charakterentblçßung ist nun keineswegs eine Erfindung des Tacitus, sondern steht ganz in der antiken Tradition der hellenischen Tyrannentypologie:130 „Die scheinbar gute Regierung in der ersten Zeit der Herrschaft, der von Anfang an schlechte Kern, die Heuchelei, als ihr Motiv die Furcht, nach deren Fortfall der Gill: The Question of Character-development: Plutarch and Tacitus, CQ 33, 1983, 469 – 487 dar, hlt aber in Bezug auf das taciteische Tiberiusbild dennoch an der bisherigen Sichtweise fest: „Tacitus himself, notoriously, does not pursue the suggestion of Lucius Arruntius; his account is based firmly on the idea that Tiberius’ character did not change, degenerate or ‘collapse’ but was simply concealed until all external restraints were removed and he felt he could reveal it“ (a.a.O. 482). 128 In der Einleitung zu Bd. I seines Annalenkommentars, S. 38. 129 A.J. Woodman: Tacitus’ obituary of Tiberius, CQ 39, 1989, 197 – 205 hingegen mçchte das Problem lçsen, indem er in Anlehnung an die Arbeiten von Gill, 1983 und A.R. Hands: Postremo suo tantum ingenio utebatur, CQ 24, 1974, 312 – 317 die letzten vier Worte der abschließenden Charakteristik in ann. 6,51,3 vçllig neu interpretiert: „In my view, the clear implication of the whole phrase suo tantum ingenio utebatur is that during earlier periods of his life Tiberius had used the ingenium of other people as well as his own […]. Obviously this passage has nothing to do with ‘true’ or ‘real’ character.“ Er scheint seine Thesen dabei in vçlliger Unkenntnis der Untersuchungen von Bergen, 1962 und Hoffmann, 1968 zu prsentieren. Sie finden deshalb in der neueren Literatur zu Recht wenig Anklang; vgl. Vielberg, 1996, 455 Anm 2.; J. Christes: Tacitus und die moderatio des Tiberius, Gymnasium 101, 1994, 112 – 135, hier 113 Anm. 10. 130 Auch Sueton, der in seinem Bericht nach allgemeiner Auffassung nicht von Tacitus abhngt (s. Syme, 1958, 421: „There is no clear sign that Suetonius used Tacitus“) bietet dieses Schema, vgl. Suet. Tib. 42,1; 57,1; 61 f.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

(ußerliche) Umschwung.“131 Dem gebildeten Lesepublikum begegnen also in der wichtigen Schlußcharakteristik des Tiberius die vertrauten Wesensmerkmale eines stereotypen Alleinherrschers wieder.132 Doch kommt diese Entlarvung fîr den Leser keineswegs unvermittelt. In ann. 1,4,3 lßt sich die Entwicklung des neuen Kaisers in deterius bereits erahnen: Tiberium Neronem maturum annis, spectatum bello, sed vetere atque insita Claudiae familiae superbia, multaque indicia saevitiae, quamquam premantur, erumpere. 133

Die retrospektive Darstellungskunst des Tacitus kommt wieder voll zur Geltung: Erst nach der Lektîre der Charakteristik in ann. 6,51,3 kann der Leser diese Zeilen zu Beginn des Werkes richtig deuten:134 Die saevitia des Kaisers war von Anfang an vorhanden,135 wurde jedoch noch leidlich unterdrîckt, und zwar durch den hemmenden Einfluß der ihn umgebenden Personen, wie der Leser jetzt in der Rîckschau erkennen 131 Hoffmann, 1968, 228 mit Verweis v. a. auf Plat. Pol. 8,566d-e; vgl. Heinz, 1975, 43; Baar, 1990, 188 f. und insgesamt St. Borzsk: Persertum und griechisch-rçmische Antike. Zur Ausgestaltung des klassischen Tyrannenbildes, Gymnasium 94, 1987, 289 – 297 (zu Tacitus 293 – 297). 132 Vgl. die etwas vorsichtigere Haltung von Baar, 1990, 191 f.; 194 – 198 (dabei 196 f. zur Enthîllungstheorie). Zu vergleichen ist ferner ann. 6,6, wo Tacitus den Anfang eines bemerkenswerten Schreibens zitiert, das Tiberius an den Senat verfaßte, und mit einem Kommentar versieht, der mit einem ausdrîcklichen Verweis auf Platons Gorgias (524e-525a), wo die Seele eines Alleinherrschers erçrtert wird, deutlich auf die (griechische) literarische Tyrannentopik abhebt: Insigne visum est earum Caesaris litterarum initium; nam his verbis exorsus est (sc. Tiberius): ‘quid scribam vobis, patres conscripti, aut quo modo scribam aut quid omnino non scribam hoc tempore, di me deaeque peius perdant quam perire me cotidie sentio, si scio.’ adeo facinora atque flagitia sua ipsi quoque in supplicium verterant. neque frustra praestantissimus sapientiae firmare solitus est, si recludantur tyrannorum mentes, posse aspici laniatus et ictus, quando ut corpora verberibus, ita saevitia libidine malis consultis animus dilaceretur. quippe Tiberium non fortuna, non solitudines protegebant, quin tormenta pectoris suasque ipse poenas fateretur (ann. 6,6,1 f.); s. hierzu bes. Heinz, 1975, 30 – 42 (hier 30 f.); vgl. Devillers, 1994, 139; Koestermann ad ann. 6,6. 133 Man beachte, daß es sich bei dieser Charakterisierung des Tiberius um rumores einer pars multo maxima (ann. 1,4,2) handelt. Tacitus ußert sich also auch hier nicht in eigener Stellungnahme, zieht den Leser jedoch durch den Hinweis auf die Mehrheitsmeinung auf die Seite des nacherzhlten Geredes. øhnlich war er im ‘Totengericht’ îber Augustus vorgegangen, wo er ausdrîcklich auf die Ansicht der prudentes verwies; s. hierzu S. 15 f.; vgl. insgesamt Bruns, 1898, 73. 134 S. Hoffmann, 1968, 224 f. 135 Dieser Charakterzug war ja bereits Augustus aufgefallen (ann. 1,10,7).

1.2 Tiberius

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kann. Das Verb erumpere klingt in dem prorupit 136 der rîckblickenden Charakterisierung deutlich an. Die erste ernsthafte Personenbeschreibung des Tiberius in ann. 1,4,3 legt sich wie ein Schatten auf die gesamte Regierungszeit des zweiten Princeps, deutet dessen charakterliche Entwicklung zunchst lediglich an, um am Ende der ersten Annalen-Hexade dann ihre volle Besttigung zu finden.137 Somit ist um die Charakterdarstellung des Kaisers ein Rahmen gelegt, innerhalb dessen sich das wahre Gesicht des ‘Tyrannen’ stufenweise herausbilden kann, ohne daß diese allmhliche Entlarvung fîr den Leser îberraschend wre. Denn dieser rechnet zumindest unterbewußt seit den Eingangskapiteln der Annalen bereits mit dem Schlimmsten. Und er weiß ebenfalls seit diesen ersten Kapiteln um den falschen Schein, um die Heuchelei, die selbst die vermeintlich guten Taten des Tiberius sofort zu relativieren, ja zu enttarnen vermçgen. „So werden Gedanken und Gefîhle, Worte und Taten des Princeps, die ein unbefangener Beobachter anerkennen oder zumindest nicht tadeln mçchte, mit leichter Hand entwertet.“138 Damit ist der grundlegende Zug der taciteischen Tiberiusdarstellung bereits benannt. Der Kaiser kann selbst dort, wo er auf den ersten Blick hin Gutes tut, letzten Endes vor den Augen des Lesers doch nichts anderes als schlecht sein. Das Motiv der Heuchelei wird so zu einer hochwirksamen Allzweckwaffe, und durch deren immer wiederkehrende Erwhnung Tiberius selbst zum stereotypen Heuchler gestempelt. Tacitus hat aus den in ann. 6,51,3 genannten fînf Phasen die eigentliche Struktur fîr seine sechs ‘Tiberiusbîcher’ gewonnen.139 Dabei îberrascht es nicht, daß die erste Phase, welche die Zeit bis zum Tode des Augustus umfaßt und in der Tiberius noch als tîchtiger Feldherr zu Ruhm und Ehre gelangte, in den Annalen so gut wie nicht behandelt wird. Bis auf die Andeutung in ann. 1,4,3 ist ann. 6,51,3 die einzige Stelle, die sich auf den Zeitraum vor dem Regierungsantritt des Tiberius bezieht. Wie schon bei seinem Augustusportrt, so hat Tacitus auch im Bericht îber den zweiten Princeps Einzelheiten, die sein eher negatives Gesamtbild des Tiberius stçren kçnnten, durch die Auswahl des Stoffes bewußt îbergangen. Die von ihm dargestellte Charakterentwicklung 136 „Wie ein wildes Tier“ (Koestermann ad ann. 6,51,3). 137 Vgl. Koestermann, 1961, 337 (zu ann. 1,4): „Von hier fîhrt eine gerade Linie zu der Endcharakteristik, mit der Tacitus seinen Bericht îber die Regierung des Tiberius beschließt (6, 51).“ 138 Hoffmann, 1968, 221. 139 S. Hoffmann, 1968, 224; vgl. Flach, 1973, 157.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

seiner Tiberiusgestalt setzt erst an dem Punkt ein, an dem Tiberius mit seiner Regierungsîbernahme seine ‘positive’ Phase bereits hinter sich gelassen hatte und in der Logik der eben kurz umrissenen Tyrannentypologie nur noch eine Degeneration mçglich war.140 Die zweite Phase der Charakterenthîllung ist demnach die erste ausfîhrlich dargestellte Entwicklungsstufe des Tiberius-Charakters. Sie reicht bis zum Tode des Drusus und umfaßt somit Bîcher ann. I – III. Das Jahr 23 lutet dann die dritte Phase ein (Buch IV), deren Beginn im taciteischen Bericht mit einer deutlichen Zsur in der Regentschaft des Tiberius verbunden ist:141 C. Asino C. Antistio consulibus nonus Tiberio annus erat compositae rei publicae …, cum repente turbare fortuna coepit, saevire ipse aut saevientibus vires praebere (ann. 4,1,1).

Noch deutlicher formuliert Tacitus diese Peripetie zum Schlechteren wenige Kapitel spter: … Tiberio mutati in deterius principatus initium ille annus attulit (ann. 4,6,1).

Die weitere Aufgliederung ist denkbar einfach: Die vierte Phase entspricht dem fînften,142 die fînfte dem sechsten Annalenbuch. Diese grundlegenden Bemerkungen îber die Konzeption des taciteischen Tiberiusbildes sollen an dieser Stelle genîgen. Sie waren notwendig, um einen tieferen Einblick in das Verstndnis der oft rtselhaften und vielschichtigen Kaiserfigur zu gewinnen. Da der zweite Princeps innerhalb der ersten sechs Annalenbîcher die zentrale Person ist, auf die alles andere Geschehen Bezug nimmt,143 wird auf seine Gestalt auch bei der Behandlung der Charaktere des Germanicus, der Livia und des Seian immer wieder zurîckzukommen sein.144 Im folgenden soll im Rahmen der Tiberiusdarstellung die taciteische Kunst der Leserlenkung weiterverfolgt werden, wobei es aufgrund des 140 Wie groß der hier von Tacitus fast vollstndig ausgeblendete Zeitraum ist, lßt sich erahnen, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß Tiberius zur Zeit seines Regierungsantritts bereits 56 Jahre alt war. 141 S. Knoche, 1963, 214 f.; vgl. Syme, 1958, 253 mit Anm. 2. 142 Schmerzlich macht sich hierbei der fast vollstndige Verlust des fînften Annalenbuches bemerkbar. Die vierte Entwicklungsstufe des taciteischen Tiberiusportrts (29 – 31 n. Chr.) ist nur noch in seinen Anstzen erkennbar; vgl. Hoffmann, 1968, 225. 143 S. F. Krohn: Personendarstellungen bei Tacitus, Diss. Leipzig 1934, 55. 144 Besonders im Zusammenhang mit den Betrachtungen zu Germanicus (S. u. S. 80 ff. und S. 112 ff.).

1.2 Tiberius

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hierfîr in Frage kommenden Textumfangs geboten erscheint, eine Auswahl einiger besonders markanter Stellen zu treffen. Zwei Techniken werden dabei im Mittelpunkt unserer ˜berlegungen stehen – die eine, weil sie geradezu typisch fîr die Prsentation der Tiberiusgestalt in den Annalen ist, die andere, weil sie insgesamt gesehen einen bedeutenden Aspekt der taciteischen Insinuationskunst beleuchtet. Es handelt sich hierbei um die Techniken der relativierenden Nachtrge sowie der alternativ dargestellten Betrachtungsweise. 1.2.1 Relativierende Nachtrge Ryberg145 stellt als ein Merkmal der taciteischen Tiberiusdarstellung fest, daß lobende øußerungen îber den Kaiser, „die, aus ihrem Zusammenhang gelçst,146 einen sehr rîhmlichen Bericht ergeben kçnnen“, zumeist auf verschiedene Weise ihrer Wirkung beraubt werden. Diese verschiedenen Mçglichkeiten zur Entkrftung einer positiven Aussage mçchte ich unter dem Begriff ‘relativierende Nachtrge’ zusammenfassen. Hierzu seien nun einige Beispiele behandelt. Aufgrund îbergeordneter thematischer Zusammenhnge muß dabei die chronologische Abfolge der einzelnen Kapitel bisweilen unterbrochen werden. ann. 1,77. In den bisherigen Ausfîhrungen ist bereits deutlich geworden, daß von Tacitus gerade auch das Grundmotiv der Heuchelei immer wieder dazu benutzt wird, gute Seiten des Princeps als Maskerade zu entlarven und ins schlechte Licht zu rîcken.147 So lßt Tiberius in ann. 1,77 einer Senatsdebatte freien Lauf, hlt sich zurîck und ermçglicht so eine freie Aussprache der Senatoren untereinander – soweit die lçbliche Tat. Doch dann heißt es weiter in ann. 1,77,3: silente Tiberio, qui ea simulacra libertatis senatui praebebat. Es ist also nur eine scheinbare Freiheit (simulacra),148 die dem Senat vom Princeps gewhrt wird, seine 145 Ryberg, bei Pçschl, 1969, 63 – 65. 146 Genau diesen Fehler scheint mir auch Mierow, 1940/41, 260 – 264 bei seinen Darlegungen îber die vermeintlich positive Tiberiusfigur des Tacitus allzu oft begangen zu haben. Daß die von ihm aufgefîhrten Belege nicht selten unabhngig vom Kontext betrachtet werden, ist offensichtlich. 147 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 64. 148 S. Koestermann ad loc.: „Scheinbild, Schattenbild“; vgl. G&G s. v. simulacrum; eine eingehende Analyse des Begriffs simulacrum bietet E. O’Gorman: Irony and Misreading in the Annals of Tacitus, Cambridge 2000, 41 – 45 (zu ann. 1,77).

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1. Stereotype Charakterdarstellung

lçbliche Zurîckhaltung im Senat also nicht mehr als seine îbliche simulatio. ann. 3,60. øhnlich verhlt sich der Kaiser in ann. 3,60,1: Sed Tiberius, vim principatus sibi firmans, imaginem antiquitatis senatui praebebat, wobei der Leser hier zustzlich den Grund fîr dieses Verhalten erfhrt: Tiberius mçchte durch sein geheucheltes Benehmen dem Senat gegenîber nur seine eigene Machtstellung festigen. Der Gedanke erhlt durch die Gegenîberstellung des Prinzipats als Zeichen der Monarchie und des Senats als Symbol der republikanischen Regierungsform zustzliche Prgnanz und wirkt vor dem Hintergrund der Heuchelei fast ironisch. In der Rîckschau kann der Leser diese Zusammenhnge auf ann. 1,77,3 îbertragen und weiß, wie er die Freiheiten des Senats unter der Regierung des Tiberius insgesamt aufzufassen hat. ann. 1,81. Die Heuchelei des Princeps entkrftet auch in ann. 1,81,2, dem Schlußkapitel des ersten Buches, die zunchst durchaus positiv einzuschtzende Haltung des Kaisers bei den anstehenden Konsulwahlen. Der Ankîndigung des Tiberius, es kçnnten sich neben den bisher genannten Kandidaten auch noch andere zur Wahl stellen, wenn sie Zutrauen zu ihrer Beliebtheit oder ihren Verdiensten htten (posse et alios profiteri, si gratiae aut meritis confiderent), lßt Tacitus die Worte folgen: speciosa verbis, re inania aut subdola, quantoque maiore libertatis imagine tegebantur, tanto eruptura ad infensius servitium. Mit diesem vernichtenden Nachtrag und den Worten infensius servitium hat Tacitus dem ersten Buch seiner Annalen ein wirkungsvolles Ende gesetzt.149 Beachtlich ist dabei, daß Tacitus das Kapitel zuvor mit der Bemerkung eingeleitet hatte, er mçchte îber die Konsulwahlen, wie sie jetzt erstmals unter diesem Kaiser und dann weiterhin stattfanden, aufgrund der vielen Widersprîche in seinen Quellen sowie in den Reden des Tiberius selbst kaum etwas mit Sicherheit zu behaupten wagen: de comitiis consularibus, quae tum primum illo principe ac deinceps fuere, vix quicquam firmare ausim: adeo diversa non modo apud auctores, sed in ipsius orationibus reperiuntur (ann. 1,81,1).

149 Vgl. Koestermann ad loc.: „Die Worte infensius servitium stehen unîberhçrbar am Ende des ersten Buches, wie das ominçse Wort servitium bereits am Buchanfang (cap. 2,1) in Erscheinung getreten war, und geben damit einen dramatischen Ausblick auf alles sptere Geschehen“; vgl. Syme, 1958, 266.

1.2 Tiberius

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Tacitus gesteht somit ein, wie unsicher seine Ausfîhrungen îber die Konsulwahlen belegt sind, und wird so den Ansprîchen gerecht, die sich an ihn als gewissenhaften Historiker richten.150 Dann wendet er sich Tiberius zu und macht im Laufe seiner Darstellung den schwankenden Boden, auf dem seine Aussagen eigentlich beruhen, fast vergessen.151 So kann Tacitus bei ußerer Objektivitt erneut einen Seitenhieb gegen Tiberius fallen lassen. ann. 3,69. Eine weitere Mçglichkeit, eine positive Handlung des Princeps herabzusetzen, besteht darin, sie als etwas Außergewçhnliches darzustellen.152 Die gute Tat erhlt den Charakter einer Ausnahme, welche die zur Regel erhobene schlechte Handlungsweise besttigt. So heißt es beispielsweise in ann. 3,69 nach einer beeindruckenden Rede des Tiberius: quanto rarior apud Tiberium popularitas, tanto laetioribus animis accepta (ann. 3,69,5). ann. 1,75. øhnlich exzeptionell wird in ann. 1,75 die Freigebigkeit des Princeps behandelt: quam virtutem diu retinuit, cum ceteras exueret153 (ann. 1,75,2). Diese stark verallgemeinernde Aussage bleibt fîr die weitere Lektîre nicht ohne Konsequenzen. Denn durch ihre klare Antithetik brennt sie sich in das Bewußtsein des Lesers ein und gewinnt so eine suggestive Kraft, die noch ausreicht, um in ann. 2,47 das großzîgige Verhalten des Kaisers gegenîber den von einer Erdbebenkatastrophe schwer heimgesuchten Stdten Kleinasiens ebenfalls mit einem dunklen Schatten zu belegen, obgleich an dieser Stelle selbst keine Schmlerung der positiven Bemerkungen mehr zu finden ist. Denn der Leser weiß bereits um die Einzigartigkeit der kaiserlichen liberalitas, und der relativierende Gedanke an den ansonsten gnzlich tugendlosen Herrscher schwingt noch in seinem Unterbewußtsein mit. Der den Stdten Kleinasiens gewhrte Steuererlaß leitet in den Annalen schließlich îber zum nchsten Kapitel, in dem die Freigebigkeit des Tiberius nun offen und direkt hervorgehoben wird: Magnificam in publicum largitionem auxit Caesar haud minus grata liberalitate … (ann. 2,48,1). Sptestens an die150 Vgl. Syme, 1958, 279. 390. 151 S. Develin: Tacitus and techniques of insidious suggestion, Antichthon 17, 1983, 64 – 95, hier 70. 152 S. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 64. 153 Ganz im Sinne der eingangs beschriebenen Enthîllungstheorie! „Wie ein Kleidungsstîck“ (Koestermann ad loc.) legt Tiberius die îbrigen Tugenden ab.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

sem Punkt wird dem Leser durch das nun unmittelbar geußerte Lob die in ann. 1,75,2 umrissene Problematik der kaiserlichen liberalitas ins Gedchtnis zurîckgerufen und gibt der positiven øußerung nun endgîltig den bitteren Beigeschmack, den sie bereits im Kapitel zuvor hat spîrbar werden lassen. ann. 4,66. In ann. 4,66 ist erneut von der Freigebigkeit des Tiberius die Rede. An dieser Stelle wird sie mit einem Hinweis auf die tglich zunehmende Macht der Denunzianten noch im selben Satz entwertet: Sed ut studia procerum et largitio principis adversum casus solacium tulerant, ita accusatorum maior in dies et infestior vis sine levamento grassabatur (ann. 4,66,1).154 ann. 1,4. Das letztgenannte Beispiel fîhrt uns zu der in den Annalen von Tacitus sehr hufig genutzten Technik, bei der ein Lob durch eine direkt im Anschluß vorgetragene Schmhung zunichte gemacht wird.155 Bereits in den ersten Aussagen îber den Charakter des Tiberius in ann. 1,4 kommt dieser Kunstgriff auf beeindruckende Weise zur Anwendung:156 maturum annis, spectatum bello – zwei Vorzîge des Tiberius im Munde der urteilenden Volksmenge. Was danach folgt, ist nicht einfach nur eine Abwertung. Es ist eine Vernichtung, die sich îber den gesamten Rest des Kapitels hinzieht: sed vetere atque insita Claudiae familiae superbia, multaque indicia saevitiae, quamquam premantur, erumpere. hunc et prima ab infantia eductum in domo regnatrice; congestos iuveni consulatus, triumphos; ne iis quidem annis, quibus Rhodi specie secessus exulem egerit, aliud quam iram et simulationem et secretas libidines meditatum. accedere matrem muliebri impotentia: serviendum feminae duobusque insuper adulescentibus, qui rem publicam interim premant quandoque distrahant (ann. 1,4,3 – 5).

Noch aufflliger als beim ‘Totengericht’ îber Augustus ist hier das ˜bergewicht des Negativen gegenîber dem Positiven zu konstatieren: Zwei Vorzîge werden von fînf konkret genannten vitia verdrngt.157 Daneben finden sich abwertende Bemerkungen îber das bisherige Leben 154 Vgl. Devillers, 1994, 176; Martin/Woodman ad loc.: „There is no independent evidence to confirm or refute T[acitus]’ sinister generalisation.“ 155 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 64 f. 156 Zur Stelle vgl. S. 40 f. 157 „Maturum annis, spectatum bello ist das einzig Lobenswerte, das Tiberius zugebilligt wird. Alles andere ist negativ und stempelt ihn zu einer Persçnlichkeit, die von Natur bçse ist“ (Koestermann ad loc.).

1.2 Tiberius

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des Tiberius sowie îber den schdlichen Einfluß seiner îbrigen Familienmitglieder, insbesondere seiner Mutter Livia.158 ann. 1,72. In ann. 1,72,1 beschreibt Tacitus, wie der Princeps ußere Ehrenbezeugungen fîr seine Person ablehnt: nomen patris patriae Tiberius a populo saepius ingestum repudiavit; neque in acta sua iurari, quamquam censente senatu, permisit, cuncta mortalium incerta, quantoque plus adeptus foret, tanto se magis in lubrico dictans.

Doch folgt sogleich die Relativierung dieser bescheidenen Haltung des Kaisers durch einen Hinweis auf die Wiedereinfîhrung des verderblichen Majesttsgesetzes: non tamen ideo faciebat fidem civilis animi; nam legem maiestatis reduxerat (ann. 1,72,2).159

Dabei ist der Hinweis gerade auf die lex maiestatis an dieser Stelle bestimmt nicht zufllig gewhlt. Denn in was fîr einem Kontrast steht dieses Gesetz, das nicht zuletzt auch Schmhungen und Beleidigungen gegen den Princeps ahnden soll, zu den vergeblichen Versuchen (saepius!), den Kaiser mit ußeren Ehrentiteln zu bedenken! ann. 2,87. Mit der zuletzt betrachteten Stelle ist inhaltlich ann. 2,87 zu vergleichen, wo Tiberius erneut den ihm angetragenen Titel ‘Vater des Vaterlandes’ nicht annehmen mçchte. Das Kapitel endet jedoch mit einem Satz, der den vermeintlich freiheitsfeindlichen Zug des tiberischen Prinzipats noch einmal deutlich hervorhebt: unde angusta et lubrica oratio sub principe, qui libertatem metuebat, adulationem oderat. 160 Tiberius erscheint hier in seinem Verhalten widersprîchlich: Zum einen fîrchtet er 158 S. hierzu S. 66 ff. 159 Vgl. Koestermann ad loc.: „Die hochtçnenden Worte des Tiberius, die auf eine streng konstitutionelle Haltung des Kaisers schließen ließen, wurden nach des Tacitus ˜berzeugung dadurch widerlegt, daß er legem maiestatis reduxerat, d. h., nachdem es schon außer Gebrauch gekommen war, wieder eingefîhrt hatte“; vgl. Goodyear ad loc. (S. 149); Walker, 1952, 88 f.; Devillers, 1994, 176. Zum negativen Eindruck, den die Majesttsprozesse in den Annalen erzeugen und zur Absicht des Tacitus bei deren Darstellung s. bes. O’Gorman, 2000, 85 f. (zu ann. 1,72,2). 160 Deutlich kommentiert Koestermann: „Es ist peinlich, daß Tacitus auf die noble Haltung des Princeps mit einer gehssigen Bemerkung reagiert“; vgl. Goodyear ad loc.: „T[acitus] cannot resist depreciating Tiberius’ modesty and civilitas by a contrary assertion of very dubious validity.“

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1. Stereotype Charakterdarstellung

den Freisinn, zum andern haßt er jedoch die dadurch bedingte Schmeichelei. Ein Hauch von Willkîr und Unberechenbarkeit wird freigesetzt, umgibt den Kaiser und rundet das Kapitel wirkungsvoll ab. Vielleicht fîhlt sich der Leser dabei aufgrund der inhaltlichen Parallele sogar an das Majesttsgesetz erinnert, dessen Erwhnung in ann. 1,72,2 im gleichen Zusammenhang effektive Anwendung gefunden hat. ann. 6,51. Schließlich weist auch die weiter oben bereits in einem anderen Zusammenhang behandelte Schlußcharakteristik des Tiberius (ann. 6,51,3) die hier zu untersuchenden Merkmale auf. Die positive øußerung, er sei zu Lebzeiten des Augustus noch ein egregius vir gewesen, geht in den nachfolgenden negativen Bemerkungen îber die weitere Entwicklung seiner mores vçllig unter. Was bisher auf kleiner Ebene in der Abfolge einzelner Stze beobachtet werden konnte, lßt sich durchaus auch auf Kapitelebene îbertragen: Ein Kapitel, das eine eher positive Bewertung des Tiberius zum Ausdruck bringt, wird durch das nachfolgende Kapitel wirkungslos gemacht. Hierzu zwei Beispiele: ann. 4,6 f. In ann. 4,6 ußert sich Tacitus in einem lngeren Bericht recht positiv îber die Staatsverwaltung unter Tiberius. Das nchste Kapitel nimmt unmittelbar darauf Bezug, stellt jedoch der zuvor gelobten Regierungspraxis des Tiberius nun das unfreundliche Naturell des Princeps entgegen: Quae cuncta non quidem comi via, sed horridus ac plerumque formidatus, retinebat tamen, donec morte Drusi verterentur (ann. 4,7,1).161 Dann lßt Tacitus den Drusus einige Stze zu der bedrohlichen Rolle des Seian aussprechen. Nicht nur, daß der Inhalt dieses Kapitels die wohlwollende Sicht in ann. 4,6 wieder aufzuwiegen vermag; der Hinweis, daß sich dies alles mit dem Tode des Drusus nderte, macht zudem deutlich, daß der angekîndigte Umschwung zum Schlechteren auch im Bereich der bisher lobenswerten Staatsverwaltung voll zur Geltung kommen wird. ann. 6,17/18 f. Das zweite Beispiel ist fîr unsere Zwecke noch anschaulicher und bezieht sich auf die Kapitel ann. 6,17/18 f. Auf 161 Vgl. Koestermann ad loc.: „So vorzîglich diese Regierungspraxis des Tiberius insgesamt war, so wurde sie jedoch in den Augen des Tacitus in ihrem Wert erheblich gemindert durch die unliebenswîrdige, keinerlei Sympathien erzeugende Art des Kaisers.“

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ann. 6,17, wo geschildert wird, wie Tiberius der im Zuge der Wuchergesetze entstandenen allgemeinen Geldknappheit hilfreich entgegenwirkte (ann. 6,17,3: eversio rei familiaris dignitatem ac famam praeceps dabat, donec tulit opem Caesar disposito per mensas milies sestertio factaque mutuandi copia sine usuris per triennium, si debitor populo in duplum praediis cavisset), folgen zwei Kapitel, die in dunklen Farben eine regelrechte Hinrichtungswelle schildern. Einleitend heißt es hierzu in ann. 6,18,1: Dein redeunt priores metus postulato maiestatis Considio Proculo; qui nullo pavore diem natalem celebrans raptus in curiam pariterque damnatus interfectusque. Der Hçhepunkt der finsteren Darstellung wird in ann. 6,19,2 erreicht: inritatusque (sc. Tiberius) suppliciis cunctos, qui carcere attinebantur accusati societatis cum Seiano, necari iubet. iacuit inmensa strages, omnis sexus, omnis aetas, inlustres ignobiles, dispersi aut aggerati. Wie bedeutungslos und blaß erscheint doch angesichts solcher Schreckensszenarien das zwei Kapitel zuvor zum Ausdruck kommende „finanzpolitische Talent“162 des Kaisers, wie moralisch verwerflich dessen Handeln: „Wie ein Raubtier, das Blut gekostet hat“163 befiehlt der Princeps, alle, die der Teilnahme an der Verschwçrung des Seian bezichtigt werden, zu tçten und richtet damit ein Blutbad an, das keine Schranken mehr kennt. Und das schaurige Bild wird in leuchtenden Farben weiter ausgemalt: neque propinquis aut amicis adsistere, inlacrimare, ne visere quidem diutius dabatur, sed circumiecti custodes et in maerorem cuiusque intenti corpora putrefacta adsectabantur, dum in Tiberim traherentur, ubi fluitantia aut ripis adpulsa non cremare quisquam, non contingere. interciderat sortis humanae commercium vi metus, quantumque saevitia glisceret, miseratio arcebatur (ann. 6,19,3). F. J. Rauch hat diesen Abschnitt auf seine rhetorischen Elemente hin untersucht und dabei festgestellt, daß es sich hierbei um „ein Musterbeispiel einer ‘evidentia’“ handelt,164 deren 162 So Koestermann ad ann. 6,17,3. 163 Nipperdey ad loc. 164 F. J. Rauch: Suggestio falsi in der ersten Hexade der Annalen des Tacitus, Diss. Innsbruck 1970, 129 in Anlehnung an die Definition Quintilians (inst. 6,2,33: insequitur enargeia, quae a Cicerone illustratio et evidentia nominatur, quae non tam dicere videtur quam ostendere; et affectus non aliter quam si rebus ipsis intersimus sequentur); vgl. H. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einfîhrung fîr Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, Ismaning 101990, 117 f. (§ 369 Detaillierende Hufung: evidentia): „Die detaillierend-konkretisierende Hufung […] besteht in der Direse (dia¸qesir) des Gedankens in mehrere koordinierte Teilgedanken, die als Aufzhlung erscheinen, und zwar als aus ganzen Stzen oder aus syntaktisch

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Wirkung er in Bezug auf ann. 6,19 folgendermaßen wiedergibt (a.a.O. 132): „Nach der Lektîre dieser Stelle befindet sich der Leser in einer starken Gemîtsbewegung, die durch die pathos-entsprechende Darstellung einer pathoserregenden Begebenheit hervorgerufen ist.“ Der sentenzenhafte Schluß des Kapitels (quantumque saevitia glisceret, miseratio arcebatur) verleihe außerdem dem gesamten Bericht mehr Glaubwîrdigkeit, da in ihr „die allgemeine Lebenserfahrung – man hat vor allem an die Zeitgenossen des Tacitus zu denken, die das Schreckensregiment Domitians miterlebt hatten – angesprochen“ werde (a.a.O. 133).165 Der in ann. 6,19 erzeugte Eindruck reiht sich ein in eine lange Kette von Sterbeszenen, die dem sechsten Annalenbuch insgesamt ihren blutigen Stempel aufdrîcken.166 Noch bevor der Leser an unsere Stelle gelangt, hat ihn Tacitus in diese Thematik regelrecht verstrickt.167 Bei dem einleitenden Satz in ann. 6,18,1: Dein redeunt priores metus … handelt es sich demnach nur um eine Wiederaufnahme (redeunt) des durch den kurzen Einschub ann. 6,17 unterbrochenen Hauptgedankens.168 Die positiven Maßnahmen des Tiberius zur Behebung einer finanziellen Krisensituation werden somit nicht nur durch die beiden nachfolgenden Kapitel stark entwertet, sondern gehen auch im allgemeinen thematischen Zusammenhang vçllig unter. Im Rahmen der relativierenden Nachtrge haben wir in Anlehnung an Ryberg nun drei verschiedene Mçglichkeiten kennengelernt, die

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unselbstndigen Wortgruppen bestehendes Isokolon oder als Aufzhlung von Einzelwçrtern oder in syntaktisch freieren Formen.“ Rauch (a.a.O. 130 – 132) hat den Tatbestand der evidentia in ann. 6,19 im einzelnen herausgearbeitet. Vgl. zur abschließenden Funktion solcher Sentenzen (außerhalb der Reden) bei Tacitus R. Kirchner: Sentenzen im Werk des Tacitus (Palingenesia Bd. 74), Stuttgart 2001, 132 – 134; vgl. B.-R.Voss: Der pointierte Stil des Tacitus (Orbis Antiquus Bd. 19), Mînster 1963, 101 – 109. S. Rauch, 1970, 123: „Der Aufbau des sechsten Buches ist einfach: es handelt sich um eine Abfolge von Todesszenen, die zur wichtigsten von allen, nmlich zu Tiberius’ Tod îberleiten.“ Vgl. Rauch, 1970, 123 – 126; auf S. 126 (zu ann. 6,18) fîhrt Rauch folgende Stellen treffend als „Tenor-Stze“ an: ann. 6,5,1: Exim Cotta Messalinus … arguitur; 6,7,2: Q. Servaeus posthac et Minucius Thermus inducti; 6,9,3: acervatim ex eo Annius Pollio, Appius Silanus … maiestatis postulantur; 6,10,1: ne feminae quidem exsortes periculi; 6,14,1: fine anni Geminius, Celsus, Pompeius … cecidere crimine coniurationis (man beachte die geradezu hmmernde Alliteration!); 6,16,1: interea magna vis accusatorum … inrupit. S. Rauch, 1970, 126.

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Tacitus dazu nutzt, eine positive øußerung îber Tiberius ihrer Wirkung zu berauben: 1. Der guten Handlungsweise wird die Heuchelei als Grundmotiv untergeschoben. 2. Lobenswerte Eigenschaften werden wie Ausnahmen behandelt (so z. B. die Freigebigkeit des Tiberius). 3. Ein Lob wird durch eine direkt im Anschluß vorgetragene Schmhung relativiert.169 Dies kann sowohl auf Satzebene als auch auf Kapitelebene geschehen. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse lassen sich eine Reihe der Belege, die Mierow170 fîr das vermeintliche positive Tiberiusbild des Tacitus anfîhrt, in ihrem tatschlichen Aussagewert entkrften. Die negativ gezeichneten Zîge der Tiberiusfigur verdrngen somit deren eher positive Darstellung um Lngen.171 1.2.2 Alternative Deutungsmçglichkeiten Ein beliebtes Mittel des Tacitus, bei ußerer Objektivitt die Meinung des Lesers zu beeinflussen, besteht in der Darstellung alternativer Betrachtungsweisen: Es werden zwei, manchmal sogar drei scheinbar gleichberechtigte Deutungsmçglichkeiten eines konkreten Geschehens gegeben, von denen jedoch hufig eine so geschickt aufbereitet wird, daß sie vom Leser als die allein gîltige anerkannt wird.172 Die Nennung solcher Alternativen wird dabei meist durch folgende sprachliche Wendungen zum Ausdruck gebracht: sive-sive (seu) / vel-vel / aut-aut / an (entweder alleine stehend oder in Verbindung mit utrum oder incertum) / alii-ceteri (mit entsprechenden Varianten und gerne zur Einfîhrung von Gerîchten 169 Vgl. auch ann. 3,28,2 (îber Augustus): sexto demum consulatu Caesar Augustus, potentiae securus, quae triumviratu iusserat abolevit deditque iura, quis pace et principe uteremur. acriora ex eo vincla. 170 S. Mierow, 1940/41, 260 – 264. 171 Vgl. Baar, 1990, 210. 172 Vgl. Develin, 1983, 85 – 86 („insidious alternatives“). Freilich darf im Zusammenhang mit dieser Technik nicht von einer allgemeingîltigen Regel gesprochen werden. Unter den insgesamt 145 (Annalen: 85) alternativen Deutungsmçglichkeiten, die Whitehead bei Tacitus untersucht hat, sind auch 92 (Annalen: 54) Flle zu finden, bei denen eine Leserlenkung durch den Historiker kaum auszumachen ist (Kategorie B: „no discernible emphasis“), s. Whitehead, 1979, 493.

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benutzt).173 Im ‘Totengericht’ des Augustus ist uns bereits ein markantes Beispiel fîr diese Technik begegnet.174 Nun sollen weitere Flle in Bezug auf das taciteische Tiberiusbild zusammengetragen und untersucht werden. ann. 3,3. Zu Beginn des dritten Annalenbuches kehrt Agrippina mit der Asche des verstorbenen Germanicus nach Rom zurîck. Tiberius und seine Mutter Livia halten sich jedoch von der trauernden §ffentlichkeit fern, wofîr Tacitus dem Leser zwei mçgliche Grînde anbietet: Tiberius atque Augusta publico abstinuere, inferius maiestate sua rati, si palam lamentarentur, an ne omnium oculis vultum eorum scrutantibus falsi intellegentur (ann. 3,3,1).175 Auf den ersten Blick scheinen hier beide Mçglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander zu stehen. In ihrem Umfang und in ihrem Inhalt sind sie jeweils als gleichwertig zu betrachten. Und dennoch sieht sich Walker dazu berechtigt, in dieser Stelle „an interesting example of Tacitus’ method of insinuation“ zu erblicken.176 Entscheidend fîr die Lçsung dieses Sachverhalts muß demnach der Kontext sein, in den unsere Stelle eingebettet ist. Er soll im folgenden beleuchtet werden. Die ersten beiden Kapitel des dritten Buches geben ein eindrucksvolles Bild der allgemeinen Trauer um Germanicus ab: Agrippina landet zusammen mit zwei ihrer Kinder und mit der Asche ihres verstorbenen Gemahls in Brundisium und wird dort von der trauernden Menschenmenge empfangen: postquam duobus cum liberis, feralem urnam tenens, egressa navi defixit oculos (sc. Agrippina), idem omnium gemitus, neque discerneres proximos alienos, virorum feminarumve planctus, nisi quod comitatum Agrippinae longo maerore fessum obvii et recentes in dolore anteibant (ann. 3,1,4).

173 S. Sullivan, 1975, 313; vgl. Whitehead, 1979, 475. Sullivan (a.a.O. Anm. 6) ußert Bedenken, auch die disjunktiven Partikel aut-aut und vel-vel mit in die Analyse der suggestiven Techniken einzubeziehen, vor allem weil Tacitus durch sie immer einen echten Zweifel zum Ausdruck bringe. Doch spielt es fîr unsere Thematik keine Rolle, ob der dargebotene Zweifel ein echter oder nur ein vorgegebener ist. In beiden Fllen erçffnet sich fîr Tacitus die Mçglichkeit, den Leser zu lenken, ihn fîr eine der angebotenen Alternativen zu gewinnen. 174 Ann. 1,10,2: caesis Hirtio et Pansa, sive hostis illos, seu Pansam venenum vulneri adfusum, sui milites Hirtium et machinator doli Caesar abstulerat; s. o. S. 26. 175 Diese Stelle wird ausfîhrlich analysiert von Rauch, 1970, 73 – 84. 176 Walker, 1952, 121 Anm. 1; vgl. Rauch, 1970, 76.

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Dann macht sich das Leichenbegngnis auf den Weg nach Rom. Auch hierbei wird die allgemeine Trauerstimmung besonders eindringlich und ergreifend vor Augen gefîhrt: praecedebant incompta signa, versi fasces; atque ubi colonias transgrederentur, atrata plebes, trabeati equites pro opibus loci vestem odores aliaque funerum sollemnia cremabant. etiam quorum diversa oppida, tamen obvii et victimas atque aras dis Manibus statuentes lacrimis et conclamationibus dolorem testabantur … consules M. Valerius et M. Aurelius … et senatus ac magna pars populi viam complevere, disiecti et ut cuique libitum flentes (ann. 3,2,2 f.).

Doch dann fllt abschließend eine Bemerkung, die nach der stimmungsvollen Schilderung den Leser aufrîtteln, ja geradezu erschîttern muß und dadurch besonderes Gewicht erhlt: aberat quippe adulatio, gnaris omnibus laetam Tiberio Germanici mortem male dissimulari (ann. 3,2,3). Tiberius ist froh îber den Tod des Germanicus – dieser abscheuliche Gedanke leuchtet unangenehm grell am Ende des Kapitels. Fîr Tacitus ist er an dieser Stelle zunchst Mittel zum Zweck. Er mçchte deutlich machen, daß die ungehemmte Trauer des Volkes aufrichtig und echt war. Denn es gab ja keinen Anlaß zur schmeichlerischen Unterwîrfigkeit, also zu einer nur gespielten Trauer dem Princeps zuliebe, da dieser seine Freude îber den Tod des Germanicus nur schlecht verhehlen konnte. Die Trauer ist in ihrer Wahrhaftigkeit demnach gerade das Gegenteil einer bloßen adulatio. 177 Ein scharfer Gegensatz hebt Tiberius hier von der trauernden Masse des Volkes ab. Vergebens versucht er, Schmerz und Anteilnahme zu heucheln, da er insgeheim doch froh îber das Schicksal seines Neffen und Adoptivsohnes ist, und – so weiß Tacitus zu berichten – jeder war sich dessen bewußt (gnaris omnibus). Der bçsartigen Unterstellung wird durch diesen Hinweis auf das vermeintlich kollektive Wissen um den wirklichen Sachverhalt der Charakter einer allgemeingîltigen Wahrheit und weithin anerkannten Tatsache verliehen.178 Welcher Leser mçchte es wagen, sich gegen eine solche allgemeine ˜ber177 Zur adulatio vgl. M. Vielberg: Pflichten, Werte, Ideale. Eine Untersuchung zu den Wertvorstellungen des Tacitus (Hermes Einzelschriften Heft 52), Stuttgart 1987, 93: „Die Tatsache, daß Schmeichelei Unwahrheit impliziert, ist fîr Tacitus ein Allgemeinplatz.“ 178 Vgl. Rauch, 1970, 74: „Was aber macht Tacitus aus dem Gedanken der ehrlichen Trauer und vor allem: woher holt er seine Begrîndung? Er knîpft daraus einen Fallstrick fîr Tiberius, indem er die Ehrlichkeit der Trauer aus einem W i s s e n heraus begrîndet, dem Wissen, daß Tiberius glîcklich ist îber den Tod des Germanicus und daß er dies nur schlecht verbergen konnte“; zu der hier zugrunde liegenden Technik s. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 65.

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zeugung zu stellen, zumal die hier erneut bezeugte Heuchelei des Kaisers doch trefflich zu dessen sonstigem Verhalten paßt?179 Und daß Tiberius tatschlich allen Grund zur Freude îber das Ableben des Germanicus hatte, daran kann fîr den Leser nach dem bisherigen Bericht des Tacitus eigentlich auch kein Zweifel mehr bestehen. Immer wieder war von der Furcht und dem Neid des Princeps und der insgesamt feindseligen Haltung seinem Neffen gegenîber zu lesen.180 Der Historiker war in den ersten beiden Bîchern der Annalen nicht mîde geworden, den Germanicus – in bewußtem Kontrast zu Tiberius181 – als Liebling bei Volk und Heer gleichermaßen darzustellen – und dementsprechend auch als ernstzunehmenden Rivalen fîr den Kaiser. Rauch bringt es auf den Punkt: „Tacitus hat hier zielstrebig eine klare Linie verfolgt; die Aussage gnaris omnibus laetam … mortem ist nach all diesen Anspielungen, deren Eindeutigkeit sukzessive gesteigert wird, nur allzu konsequent und damit in Tacitus’ Sinne gerechtfertigt.“182 Der Leser wird somit auf die Motivsuche in ann. 3,3,1 sorgfltig vorbereitet. Als entscheidendes Verbindungsstîck fungiert dabei das Verb dissimulari. Es schlgt inhaltlich die Brîcke zu dem heuchlerischen Verhalten, daß in dem zweiten von Tacitus angegebenen Grund fîr das Fernbleiben des Tiberius und seiner Mutter 179 Vgl. Woodman/Martin ad loc. (s. v. dissimulari). 180 Vgl. ann. 1,7,6 (îber Tiberius): causa praecipua ex formidine, ne Germanicus, in cuius manu tot legiones, immensa sociorum auxilia, mirus apud populum favor, habere imperium quam exspectare mallet; ann. 1,33,1: anxius occultis in se patrui aviaeque odiis (sc. Germanicus); ann. 1,52,1: bellica quoque Germanici gloria angebatur (sc. Tiberius); ann. 1,62,2: quod Tiberio haud probatum, seu cuncta Germanici in deterius trahenti, sive … (s. hierzu die Ausfîhrungen S. 89 f.); und folgende Stellen im Zusammenhang mit der Orientmission des Germanicus: ann. 2,5,1: Tiberio haud ingratum accidit turbari res Orientis, ut ea specie Germanicum suetis legionibus abstraheret novisque provinciis impositum dolo simul et casibus obiectaret; ann. 2,42,1: amoliri iuvenem specie honoris statuit struxitque causas aut forte oblatas arripuit (sc. Tiberius); ann. 2,43,2: sed Tiberius demoverat Syria Creticum Silanum, per adfinitatem conexum Germanico … praefeceratque Cn. Pisonem, ingenio violentum et obsequii ignarum, insita ferocia a patre Pisone; ann. 2,43,4: nec dubium habebat se delectum (sc. Piso), qui Syriae imponeretur ad spes Germanici coercendas. credidere quidam data et a Tiberio occulta mandata; ann. 2,43,5: Germanico alienatio patrui amorem apud ceteros auxerat; ann. 2,77,3 (Domitius Celer an seinen Freund Piso): est tibi Augustae conscientia, est Caesaris favor, sed in occulto; et perisse Germanicum nulli iactantius maerent quam qui maxime laetantur; s. Rauch, 1970, 75 f. Die meisten dieser Stellen werden noch im Zusammenhang mit der taciteischen Germanicusdarstellung behandelt. 181 S. hierzu S. 80 ff. 182 Rauch, 1970, 76.

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Livia von der §ffentlichkeit deutlich genug zum Ausdruck gebracht wird: ne … falsi intellegerentur. 183 Wîrde der bisher skizzierte Zusammenhang ohne weiteres bereits ausreichen, um den Leser fîr diesen zweiten Grund zu gewinnen, so verzichtet Tacitus auch im folgenden nicht darauf, weitere ‘Entscheidungshilfen’ zu liefern, und schließt hierfîr eine weitere – diesmal sogar dreigliedrige – Motivsuche an, die sich nun auf die Rolle der Antonia, der Mutter des Germanicus, konzentriert (ann. 3,3,2 – 3): matrem Antoniam non apud auctores rerum, non diurna actorum scriptura reperio ullo insigni officio functam, cum super Agrippinam et Drusum et Claudium ceteri quoque consanguinei nominatim perscripti sint, seu valitudine praepediebatur (Motiv 1), seu victus luctu animus magnitudinem mali perferre visu non toleravit (Motiv 2). facilius crediderim Tiberio et Augusta, qui domo non excedebant, cohibitam, ut par maeror et matris exemplo avia quoque et patruus attineri viderentur (Motiv 3).

Bei der Durchsicht seiner Quellen fand Tacitus nach eigenem Bekunden keinen Hinweis auf eine besondere Funktion der Antonia bei den Trauerfeierlichkeiten fîr Germanicus, wohingegen die îbrigen Familienangehçrigen alle namentlich Erwhnung gefunden hatten. Hieraus schließt er offensichtlich – und dies muß besonders betont werden –, daß auch sie der §ffentlichkeit fernblieb. Mit dieser ‘Feststellung’ bringt sich der Historiker nun selbst in einen gewissen Erklrungsnotstand, ist es doch hçchst verwunderlich, daß gerade Antonia als die Mutter des Verstorbenen in der allgemeinen Trauer fehlte. Unmçglich konnte Tacitus fîr Antonia dieselben Motive anfîhren wie fîr Tiberius und Livia und schlgt zunchst zwei sehr einleuchtende Begrîndungen vor, die als vçllig gleichwertig anzusehen sind:184 Entweder bestand der Hinderungsgrund fîr Antonia in deren schlechtem Gesundheitszustand oder aber in der allzu großen, unertrglichen Trauer. Doch geht der Historiker nun noch einen Schritt weiter und trgt eine dritte Mçglichkeit vor, die fîr ihn nach eigener Auffassung die grçßte Wahrscheinlichkeit besitzt. Mit der geflligen Wendung facilius crediderim schiebt er die beiden zuvor genannten eher harmlosen Deutungsmçglichkeiten185 rasch beiseite, reißt 183 „Falsi = ‘hypocritical’ and, in view of laetam above, suggests that this second and less favourable explanation is the more important“ (Woodman/Martin ad loc.). 184 Vgl. Whitehead, 1979, 483, wo ann. 3,3,2 mit zu den Stellen gerechnet wird, in denen keine der vorgeschlagenen Alternativen einen erkennbaren Vorzug genießt (Gruppe B: „no discernible emphasis“). 185 Vgl. Koestermann ad loc. (S. 422): „Fîr die Abwesenheit der Antonia gab es mehrere unverfngliche Erklrungen, bei denen Tacitus zunchst verweilt.“ Von

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sie fçrmlich aus dem Blickfeld der Betrachtung und zieht den Leser damit auf die Seite der nun vorgetragenen maliziçsen Auslegung des Sachverhalts:186 Antonia sei von Tiberius und Livia zurîckgehalten worden, damit es so aussehe, als ob die Trauer bei allen gleich groß sei und nach dem Beispiel der Mutter nun auch Großmutter und Onkel zu Hause blieben. Diese dritte Erklrungsmçglichkeit besitzt zum einen durch ihre Schlußstellung grçßeres Gewicht, weil sie abschließend ‘das letzte Wort behlt’,187 zum anderen durch den unmittelbaren Zusammenhang auch grçßere Plausibilitt, da sie das Motiv des heuchlerischen Verhaltens des Tiberius und der Livia weiterfîhrt: Der Kaiser und seine Mutter wollen den Anschein erwecken (ut … viderentur), als seien sie ihrerseits von Antonia im Hause festgehalten worden, obgleich nach dem Urteil des Tacitus genau der umgekehrte Fall zutraf.188 Die bittere Ironie, die sich hinter der Aussage Tiberio et Augustae … cohibitam (sc. matrem Antoniam) verbirgt, ist nicht zu îberbieten! Diese zweite Motivsuche (ann. 3,3,2 – 3) liefert demnach fîr Antonia eine Entschuldigung, fîr Tiberius und Livia jedoch eine weitere Beschuldigung.189 Und diese erneute Beschuldigung wiederum ist fîr den Leser im Rîckblick auf ann. 3,3,1 ein weiteres Indiz fîr die Richtigkeit der dort ausgesprochenen Vermutung, der Princeps und seine Mutter htten sich in der §ffentlichkeit deshalb nicht gezeigt, ne omnium oculis vultum eorum scrutantibus falsi intellegerentur, sowie der allgemeinen ˜berzeugung, Tiberius sei im Grunde froh îber den Tod des Germanicus gewesen und habe dies nur schlecht verhehlen kçnnen. Es lßt sich demnach eine direkte Linie zwischen dem male dissimulari (ann. 3,2,3), dem ne … intellegerentur (ann. 3,3,1) und dem ut … viderentur (ann. 3,3,3) ziehen.190

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einem Verweilen bei diesen mçglichen Grînden kann m. E. jedoch keine Rede sein! Vgl. Furneaux ad loc.: „facilius crediderim: The abrupt transition implies the thought that these suppositions are improbable“; Whitehead, 1979, 483: „But Tacitus at once undercuts both possibilities.“ Vgl. Anm. 85. S. Woodman/Martin ad loc. (S. 92): „Thus the whole passage (2 – 3) provides elaborate evidence for the hypocrisy of Tib[erius] and Livia. They wished it to appear that Antonia restrained them, but the reality was the converse of this: they restrained her, in order to disguise the true motive for their absence“; vgl. Rauch, 1970, 82; vgl. E. Koestermann: Die Mission des Germanicus im Orient, Historia 7, 1958, 331 – 375, hier 361 f. S. Rauch, 1970, 82; vgl. Devillers, 1994, 183. Vgl. Rauch, 1970, 83.

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Kehren wir nun zum Ausgangspunkt unserer ˜berlegungen, nmlich zu ann. 3,3,1 zurîck, so kçnnen wir einstweilen feststellen, daß die erste Erklrungsmçglichkeit, wonach Tiberius und Livia es unter ihrer hoheitlichen Wîrde hielten, çffentlich zu klagen, durch den rahmenden Kontext von Tacitus hinreichend widerlegt wird und der wahre Grund in der zweiten Alternative gesucht werden muß, nmlich in der Befîrchtung der Herrscher, ihr heuchlerisches Gebaren kçnne von der Volksmenge allzu leicht durchschaut werden. Doch ein wesentliches Element der taciteischen Insinuationskunst haben wir in diesem Zusammenhang bisher noch nicht hinreichend beachtet.191 Werfen wir einen Blick auf die eben angestellten Untersuchungen zurîck, so wird deutlich, daß die ˜berzeugungskraft der in ann. 3,3,2 – 3 vorgebrachten Kritik an Tiberius und Livia im wesentlichen von der Annahme lebt, daß auch die Mutter des Germanicus bei der allgemeinen Trauer nicht çffentlich in Erscheinung getreten ist, also abwesend war. Erst diese Annahme bereitet den Boden fîr die bçswillige Unterstellung, der Princeps und seine Mutter htten Antonia in heuchlerischer Absicht zu Hause festgehalten, um ihr eigenes Verhalten zu legitimieren. Doch bei genauerer Betrachtung fllt auf, daß es sich bei dieser grundlegenden Annahme lediglich um eine Schlußfolgerung handeln kann, die Tacitus aus seinem Quellenmaterial zieht – oder besser gesagt: den Leser ziehen lßt. Nirgends ist ausdrîcklich gesagt, daß die Mutter des Germanicus sich der §ffentlichkeit enthielt. Der Historiker weist nur darauf hin, daß er sie in seinen Quellen nicht namentlich erwhnt gefunden habe, und schafft so den doppelten Boden, der es ihm ermçglicht, Tiberius und Livia einem bçsen Verdacht auszusetzen, ohne dabei um seine Glaubwîrdigkeit bangen zu mîssen. Denn die Grundvoraussetzung fîr seine gehssige Kritik wird von ihm selbst ja nicht offen dargeboten, sondern lediglich insinuiert. Letzten Endes ist es der Leser, der aufgrund des Sinnzusammenhangs des weiteren Berichtes die gedankliche Verknîpfung zwischen den Aussagen der Quellen und einem vermeintlichen Fernbleiben der Antonia von der §ffentlichkeit herstellt.192 Wir verstehen nun auch besser, warum Tacitus an dieser Stelle îberhaupt einen deutlichen Hinweis auf seine Quellen eingefîhrt hat, wo 191 Zu den folgenden Ausfîhrungen vgl. insbes. Woodman/Martin, S. 92 f. 192 Selbst Syme, 1958, 282 scheint vor dieser Verknîpfung nicht gefeit zu sein, wenn er in Bezug auf unsere Stelle schreibt: „Tacitus can report, on the basis of the acta diurna, which members of the imperial family (including the easily omitted Claudius) were present at funeral ceremonies in honour of Germanicus Caesar – Antonia his mother made no appearance in public.“

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1. Stereotype Charakterdarstellung

er doch in der Nennung seiner Vorlagen ansonsten ußerst sparsam ist.193 Er hat im Leser zustzliches Vertrauen in seine Objektivitt erwecken wollen.194 ann. 3,64. Im Jahr 22 n. Chr. veranlaßt eine schwere Erkrankung der Livia den Kaiser, seinen lngeren Aufenthalt in Kampanien195 zu beenden und nach Rom zurîckzukehren. Tacitus berichtet: sub idem tempus Iuliae Augustae valitudo atrox necessitudinem principi fecit festinati in urbem reditus, sincera adhuc inter matrem filiumque concordia sive occultis odiis (ann. 3,64,1).

Es werden hier zwei mçgliche Interpretationen zur Wahl gestellt, die das Verhltnis zwischen Tiberius und seiner Mutter betreffen. Entweder bestand hier noch echte Eintracht oder aber Haß, der im verborgenen lag. Und erneut bringt der Kontext den entscheidenden Wink fîr den schwankenden Leser. Denn Tacitus fhrt fort: neque enim multo ante, cum haud procul theatro Marcelli effigiem divo Augusto Iulia dicaret, Tiberi nomen suo postscripserat, idque ille credebatur ut inferius maiestate principis gravi et dissimulata offensione abdidisse (ann. 3,64,2).

Durch die weiterfîhrende Formulierung neque enim wird fîr die zweite Alternative, also fîr den verborgenen Haß, eine breit ausgefîhrte Erluterung angefîgt: Livia hatte kurz zuvor, als sie ein Standbild des vergçttlichten Augustus einweihte, den Namen des Tiberius hinter ihren eigenen setzen lassen. Tiberius soll dies als Herabsetzung seiner kaiserlichen Wîrde durch eine schwere, aber (bisher noch) unterdrîckte

193 Vgl. Woodman/Martin, S. 93: „T[acitus] is no exception to the general rule that ancient historians refer to their sources only with relative infrequency; when they do so, it is often as a means of corroborating matters, which might provoke surprise, scepticism or controversy amongst their readers.“ 194 Vgl. Rauch, 1970, 84; Woodman/Martin, S. 93: „statements of ‘unsuccessful enquiry’ are a literary device for maintaining an author’s credibility.“ 195 Dorthin war der Princeps im Jahr 21 n. Chr. zur eigenen Erholung gereist, s. ann. 3,31,2, wo ebenfalls eine alternative Deutungsmçglichkeit zu finden ist: eius anni principio Tiberius quasi firmandae valitudini in Campaniam concessit, longam et continuam absentiam paulatim meditans, sive ut amoto patre Drusus munia consulatus solus impleret. Doch kann an dieser Stelle nicht eindeutig festgestellt werden, welche Deutung die von Tacitus bevorzugte ist, vgl. Whitehead, 1979, 483.

1.2 Tiberius

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Verstimmung in sich vergraben haben.196 Durch diese nhere Begrîndung kommt der zweiten Deutung das grçßere Gewicht zu: Der verborgene Haß des Tiberius auf seine Mutter hat nun ein Motiv und wirkt deshalb gegenîber der nicht weiter begrîndeten Eintracht als alternative Interpretation sehr viel wahrscheinlicher.197 Dabei erfhrt diese erste Alternative bereits durch ein adhuc eine gewisse Einschrnkung, legt dieses Zeitadverbium doch nahe, daß ein einvernehmliches Verhltnis zwischen Tiberius und Livia – wenn îberhaupt vorhanden – nur von begrenzter Dauer war, und deutet so eine zunehmende Verschlechterung und ein allmhliches Nachlassen einer guten Beziehung an.198 Daß Tiberius dann nach dem Tod der Augusta es in ann. 5,2,1 nicht mehr fîr nçtig erachten wird, nach Rom zu kommen, darf in diesem Zusammenhang als negativer Hçhepunkt gewertet werden.199 Von Spannungen im Verhltnis zwischen Mutter und Sohn, war bereits in ann. 1,72,4 zu lesen: hunc (sc. Tiberium) quoque asperavere carmina incertis auctoribus vulgata in saevitiam superbiamque eius et discordem cum matre animum.

Und noch frîher in ann. 1,14, wo Livia nach dem Tod des Augustus mit Ehrentiteln bedacht werden soll, weist Tiberius die entsprechenden Antrge der Senatoren in scheinbarer Bescheidenheit zurîck. Doch Tacitus bewertet dieses Verhalten als Heuchelei und kommentiert bissig:

196 Vgl. Koestermann ad loc.: „abdere an unserer Stelle bedeutet ‘in sich verbergen, um es bei passender Gelegenheit wieder hervorzuholen’ (vgl. 1,69,5: quae reconderet auctaque promeret).“ Das vorangehende et ist demnach explikativ. 197 Vgl. Whitehead, 1979, 491 (zu ann. 3,64,1); Furneaux ad loc.: „Tacitus intimates a preference for this alternative by inserting the clause ‘neque enim’ etc., to show a probable reason for it.“ 198 Woodman/Martin ad loc. (S. 447) sprechen in diesem Zusammenhang bezeichnend von ‘temporal innuendo’; vgl. ann. 1,54,2: sed populum per tot annos molliter habitum nondum audebat ad duriora vertere (vgl. hierzu Anm. 110). 199 Vgl. Koestermann ad ann. 3,64,1; s. ann. 5,2,1: At Tiberius, quod supremis in matrem officiis defuisset, nihil mutata amoenitate vitae, magnitudinem negotiorum per litteras excusavit, honoresque memoriae eius ab senatu large decretos q u a s i per modestiam imminuit, paucis admodum receptis et addito, ne caelestis religio decerneretur: sic ipsam maluisse. Wie hartherzig und heuchlerisch ist auch hier wieder das Verhalten des Tiberius dargestellt – und wie unglaubwîrdig nach dem, was wir an dieser Stelle bereits îber das Verhltnis zwischen dem Princeps und seiner Mutter haben lesen kçnnen! Aus dem Hinweis sic ipsam maluisse spricht blanker Zynismus. Eine Parallele zum Fernbleiben des Kaisers von den Trauerfeierlichkeiten fîr Germanicus drngt sich hier geradezu auf (so auch Koestermann ad ann. 5,2,1).

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1. Stereotype Charakterdarstellung

ceterum anxius invidia et muliebre fastigium in deminutionem sui accipiens ne lictorem quidem ei (sc. Liviae) decerni passus est aramque adoptionis et alia huiusce modi prohibuit (ann. 1,14,2).

Im Rîckblick verleihen diese Stellen dem prgnanten Ausdruck sive occultis odiis 200 zustzliche Durchschlagskraft. Auch hier kçnnen wir also eine gewisse Vorbereitung des Lesers feststellen, die ihm zustzlich ‘hilft’, sich zwischen den beiden Deutungsmçglichkeiten zu entscheiden. Zudem lassen sich an dieser Stelle (ann. 3,64,1) weitere aufschlußreiche Beobachtungen zur Arbeitsweise des Tacitus machen. Die eigentliche Ausdeutung des fîr den verborgenen Haß des Tiberius auf seine Mutter nachgeschobenen Grundes erfolgt nicht etwa seitens des Autors. Es heißt ausdrîcklich idque ille credebatur … abdidisse, d. h. man glaubte von Tiberius, daß er … usw. Tacitus hat lediglich festgestellt, daß Livia bei der Weihe eines Augustusstandbildes den Namen des Kaisers hinter ihren eigenen hatte setzen lassen. Daraus ein Motiv fîr einen verborgenen Groll abzuleiten, das îberlßt er der çffentlichen Meinung.201 So entzieht sich Tacitus als Historiker ein weiteres Mal der Verantwortung fîr das Gesagte, das dann jedoch von maßgeblicher Bedeutung fîr die ‘richtige’ Entscheidung des Lesers bei der vorangehenden Motivsuche ist. ann. 6,23. Nach langjhriger Haft stirbt im Jahr 33 n. Chr. Asinius Gallus, ein bedeutender Senator und Redner, als Gefangener den Hungertod. Tacitus ußert sich zu den Hintergrînden und bietet dem Leser dabei zwei Alternativen an: Isdem consulibus Asinii Galli mors vulgatur, quem egestate cibi peremptum hau dubium, sponte vel202 necessitate incertum habebatur (ann. 6,23,1). Daß Gallus durch Hunger ums Leben kam, stand demnach außer Frage. Zweifelhaft war jedoch, ob freiwillig 200 „Ein Kolon, das angesichts des vorangehenden langen Satzgliedes sincera-concordia sowohl durch seine prgnante Kîrze wie durch die Assonanz herausfordernd wirkt“ (Koestermann ad loc.). 201 Vgl. zu dieser Technik Ryberg, bei Pçschl, 1969, 65: „Beschuldigungen oder Kritiken werden oft nicht in Tacitus’ eigenem Namen vorgebracht, sondern als Gerîchte, çffentliche Meinung oder allgemein bekannte Tatsachen erwhnt.“ Zur Erhebung von Vorwîrfen in Form allgemeiner Tatsachen vgl. S. 53 f. (zu ann. 3,2,3). 202 Zu dem ungewçhnlichen vel an dieser Stelle vgl. Furneaux ad loc.: „Nipp[erdey] and Ritt[er] may be right in adopting ‘an’ (cp. 4,33,4; 14,51,1); but the use of ‘vel’ in cases where two alternatives are opposed to a third, as in 14,3,2, and ‘insidias an proditionem vel aliquod honestum consilium’ (H. 2,41,2), has been taken to justify it here, where the two alternatives embraced by ‘incertum’ are opposed, on the ground of common uncertainty, to ‘haud dubium’.“

1.2 Tiberius

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oder gezwungenermaßen. Als man den Kaiser danach fragte, ob er ein Begrbnis zulasse – so berichtet Tacitus weiter – schmte er sich jedenfalls nicht, seine Einwilligung zu geben und die unglîcklichen Umstnde zu beklagen, die ihm den Angeklagten entrissen htten, bevor dieser çffentlich îberfîhrt worden sei: consultusque Caesar an sepeliri sineret, non erubuit permittere ultroque incusare casus, qui reum abstulissent, antequam coram convinceretur. Soweit die lakonische Auskunft des Tacitus. Doch der Leser, der sich immerhin bereits im sechsten Buch der Annalen befindet und sich dementsprechend lngst ein Bild îber den finsteren und heuchlerischen Charakter des Princeps hat machen kçnnen, liest diese im Grunde rein feststellende Bemerkung des Historikers etwas anders und deutet sie unwillkîrlich zu einer Spitze gegen Tiberius aus. Er mag die Stelle etwa folgendermaßen verstehen: Der Kaiser htte eigentlich errçten, also sich schmen mîssen, als er seine Zustimmung zu einer Bestattung gab, sich îber die Todesumstnde des Gallus insgesamt beklagte und damit so tat, als ob dieser tatschlich eines Verbrechens schuldig gewesen sei und sich daher f r e i w i l l i g das Leben genommen habe, um einer drohenden Verurteilung aus dem Wege zu gehen. Denn warum weist Tacitus ausdrîcklich darauf hin, daß er eben nicht errçtete? Htte der Princeps ein reines Gewissen gehabt, wre dieses Nicht-Errçten doch eine Selbstverstndlichkeit gewesen und htte nicht eigens erwhnt werden mîssen. Die Bemerkung des Tacitus hat also einen tieferen, und zwar ironischen Hintersinn, der jetzt nur noch lauten kann: Tiberius heuchelt, denn ihn trifft eine Mitschuld am Hungertod des Gallus, die nach der ausschließenden Logik der zur Wahl gestellten Alternativen nun darin zu sehen ist, daß er den Asinius Gallus zum Selbstmord z w a n g . Und warum tat er das? – Weil Gallus dem Princeps ein Dorn im Auge war203 203 Dies klang im Bericht des Tacitus immer wieder an. Asinius Gallus war des çfteren durch (die von Tiberius verabscheute) adulatio oder durch unangenehme Zwischenfragen und Antrge aufgefallen; vgl. bes. ann. 1,12,2 – 4: tum Asinius Gallus ‘interrogo’ inquit ‘Caesar, quam partem rei publicae mandari tibi velis’. perculsus inprovisa interrogatione paulum reticuit (sc. Tiberius) … rursum Gallus (etenim vultu offensionem coniectaverat) non idcirco interrogatum ait, ut divideret quae separari nequirent, sed ut sua confessione argueretur unum esse rei publicae corpus atque unius animo regendum. addidit laudem de Augusto Tiberiumque ipsum victoriarum suarum quaeque in toga per tot annos egregie fecisset admonuit. nec ideo iram eius lenivit, pridem invisus, tamquam ducta in matrimonium Vipsania … plus quam civilia agitaret Polionisque Asinii patris ferociam retineret; 1,76,1: igitur censuit Asinius Gallus ut libri Sybillini adirentur. renuit Tiberius, perinde divina humanaque obtegens; s. hierzu Koestermann ad loc.: „Das Verhalten des Kaisers war nicht unbegrîndet, da der den sybillinischen Bîchern entnommene Spruch

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1. Stereotype Charakterdarstellung

und beseitigt werden sollte, jedoch eine Verurteilung vor Gericht nicht in Frage kam, weil er eigentlich kein Verbrechen begangen hatte.204 Und wenn Tacitus den Bericht mit der sarkastischen Bemerkung beendet, es habe in den vergangenen drei Jahren offenbar an Zeit gefehlt, einer derart bedeutenden Persçnlichkeit den Prozeß zu machen, mag sich der Leser erst recht in dem Eindruck besttigt sehen, daß dem Kaiser an einem Gerichtsverfahren gegen den unliebsamen Senator nichts gelegen war: scilicet medio triennio defuerat tempus subeundi iudicium consulari seni, tot consularium parenti (ann. 6,23,1).205 Tiberius hat Asinius Gallus zum Hungertod gezwungen – das ist die Botschaft, die Tacitus vermitteln mçchte, aber als objektiver Geschichtsschreiber nicht offen aussprechen darf. Was er sagt, ist lediglich, daß der Kaiser sich nicht schmte – und dies ist Feststellung und Fluchtpunkt fîr den Historiker zugleich. Er îberlßt es ein weiteres Mal dem Leser, die Fakten gegen Tiberius auszulegen, hat erneut eine direkte Beschuldigung vermieden und ist seiner Devise, sine ira et studio zu schreiben, treu geblieben.206 Zu dieser Haltung paßt es nur zu gut, daß Tacitus zu Beginn seines Berichtes îber den Tod des Asinius Gallus gesichertes Wissen deutlich von den eher ungesicherten Fakten abgegrenzt (haud dubium – incertum habebatur) und

[…] einen fîr ihn unerfreulichen Sinn haben konnte“; vgl. Syme, 1958, 281 (in Bezug auf unsere Stelle): „Religion could be invoked to embarrass the government. When Asinius Gallus proposed a consultation of the Sybilline books, no doubt knowing what things would emerge, the Princeps refused“; 772: „In A.D. 15 […] Asinius Gallus proposed that the [Sybilline] Books be consulted (Ann. 1,76,1). Not perhaps in innocence.“; ann. 2,32 f. (zur adulatio des Gallus); 4,71,2: tum censuit Asinius Gallus … petendum a principe ut metus suos senatui fateretur amoverique sineret. nullam aeque Tiberius, ut rebatur, ex virtutibus suis quam dissimulationem diligebat: eo aegrius accepit recludi quae premeret. Tacitus hat dem Leser fîr eine Deutung des Kapitels ann. 6,23 zu Lasten des Tiberius also genîgend Material an die Hand gegeben und damit erneut grîndliche Vorarbeit geleistet; vgl. Devillers, 1994, 132: „Au d¤but du rºgne de Tibºre, cet homme [Asinius Gallus] est presque pr¤sent¤ comme un rival pour l’empereur […].“ 204 Vgl. Nipperdey ad loc. Leider entzieht sich die Anklage gegen Asinius Gallus unserer Kenntnis, da der entsprechende Bericht im fînften Annalenbuch verloren ist (vgl. Koestermann ad ann. 6,23,1). Was ihm genau vorgeworfen wurde, muß daher im Ungewissen bleiben. 205 Vgl. Koestermann ad loc. 206 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 62.

1.2 Tiberius

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damit zustzlich Vertrauen in seine gewissenhafte und objektive Berichterstattung geweckt hat.207 ann. 1,80. Als abschließendes und besonders eindrucksvolles Beispiel fîr die Technik der alternativ angebotenen Deutungsmçglichkeiten bei der Charakterisierung des Tiberius sei nun ann. 1,80 behandelt. Gegen Ende des ersten Annalenbuches kommt Tacitus hier auf die Prorogation der Statthalterschaft in der Provinz Moesia zu sprechen. Dieses konkrete Ereignis bietet ihm die willkommene Gelegenheit, sich nun auch in allgemeiner Weise îber einen hervorstechenden Zug der tiberischen Provinzialverwaltung und ømtervergabe zu ußern: id quoque morum Tiberii fuit, continuare imperia ac plerosque ad finem vitae in isdem exercitibus aut iurisdictionibus habere (ann. 1,80,1). Fîr diese Eigenart des Tiberius zhlt Tacitus dann gleich drei mçgliche Grînde auf, die er nach eigener Aussage îberliefert gefunden habe: causae variae traduntur: alii taedio novae curae semel placita pro aeternis servavisse (Grund 1); quidam invidia, ne plures fruerentur (Grund 2); sunt, qui existiment, ut callidum eius ingenium, ita anxium iudicium; neque enim eminentes virtutes sectabatur, et rursum vitia oderat: ex optimis periculum sibi, a pessimis dedecus publicum metuebat. qua haesitatione postremo eo provectus est, ut mandaverit quibusdam provincias, quos egredi urbe non erat passurus (Grund 3).

Die drei mçglichen Deutungen werden diesmal durch nicht nher definierte Quellenangaben suberlich voneinander geschieden (alii / quidam / sunt, qui).208 Als Grînde fîr die lngerfristige Vergabe von Befehlsgewalten (imperia) werden genannt: zuerst ein taedium novae curae, dann die invidia und schließlich das anxium iudicium des Kaisers, das anschließend eine nhere Erluterung erfhrt und somit gegenîber den beiden anderen Grînden deutlich mehr Raum einnimmt. Schon dieser Umstand legt es nahe, in dieser zuletzt genannten Wahlmçglichkeit diejenige zu vermuten, die Tacitus dem Leser als die ‘richtige’ suggerieren

207 „It is a stylistic device to contrast doubt with certainty“ schreibt Develin, 1983, 70 in Bezug auf ann. 6,23. 208 Indem Tacitus nicht in eigener Stellungnahme spricht, sondern hinter den Ansichten seiner Gewhrsmnner zurîcktritt, wirkt sein Bericht besonders objektiv. Die hier vorgetragenen Deutungsmçglichkeiten, die allesamt eine gewisse negative Wertung enthalten (s. Develin, 1983, 73 zu ann. 1,80: „a vicious piece of writing: three cherries“) kçnnen so nicht dem Historiker zur Last gelegt werden.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

mçchte.209 Diese Vermutung lßt sich im folgenden durch weitere Argumente stîtzen.210 ˜berprîfen wir die drei causae auf ihre Glaubwîrdigkeit, so kçnnen wir feststellen, daß ein taedium novae curae zwar eine gewisse ˜berzeugungskraft fîr sich beanspruchen kann, doch nicht so gut zu dem Bild passen mçchte, das Tacitus bisher von dem Kaiser entworfen hat.211 Das rein negative Motiv der invidia ist demgegenîber eine dem Kaiser oft zugeschriebene Charaktereigenschaft, kann an dieser Stelle aber nicht recht ernst genommen werden, da es relativ schnell abgetan wird.212 Erst der zuletzt genannte Grund, das anxium iudicium 213 des Princeps, ist in jeder Hinsicht zufriedenstellend. Er scheint „speziell auf Tiberius zugeschnitten“214 zu sein und stimmt am besten mit der bisherigen Charakterprsentation îberein.215 Zustzlich wird er durch eine nachfolgende Erluterung weiter ausgefîhrt, die durch ihre scharfe Antithetik (neque enim eminentes virtutes sectabatur, et rursum vitia oderat: ex optimis periculum sibi, a pessimis dedecus publicum metuebatur) die innere Zerrissenheit des Tiberius, also das anxium iudicium, geradezu sinnfllig macht, mit Leben fîllt und schließlich zu einer haesitatio zuspitzt, einem Charakterzug, der in den Annalen ausschließlich dem Tiberius zugesprochen wird.216 Weiterhin ist darauf hinzuweisen, daß in der hier genannten Furcht des Tiberius vor den ‘Besten’ und ‘Schlechtesten’ ein typisches Merkmal der antiken Tyrannentopik wiederzuentdecken ist.217 Das letztgenannte Motiv scheint demnach insgesamt am besten zu der 209 Vgl. Sullivan, 1975, 319 (zu ann. 1,80): „Again it is the last point, that receives fullest attention“ Die bloße Lnge sowie die Schlußstellung einer angebotenen Alternative haben wir ja bereits als wichtige Indizien fîr eine Leserlenkung ausmachen kçnnen. 210 S. zu den folgenden Ausfîhrungen bes. Rauch, 1970, 52 – 59. 211 S. Rauch, 1970, 55; vgl. Koestermann ad loc., der dieser ersten causa mit einem Hinweis auf die „schwerblîtige“ Natur des Princeps zwar eine gewisse Glaubwîrdigkeit abgewinnen mçchte, doch anschließend relativiert, wenn er sagt: „Freilich besaß er selbst in hohem Alter noch die Fhigkeit, nachdem er lange scheinbar in Passivitt verharrt hatte, sich aufzuraffen und blitzschnell zuzuschlagen.“ 212 S. Rauch, 1970, 55 f.; vgl. Koestermann ad loc. 213 „Durch widerstreitende Gefîhle gehemmt“ (Koestermann ad loc.). 214 Rauch, 1970, 56. 215 Vgl. bes. das zçgerliche und gehemmte Verhalten des Tiberius in der Senatssitzung, in der ihm die ˜bernahme der Regentschaft angetragen wird (ann. 1,11). 216 Vgl. Rauch, 1970, 54; Develin, 1983, 73, der zustzlich darauf aufmerksam macht, daß diese nhere Erluterung im Indikativ vorgebracht wird. Sie hat damit den Charakter der allgemeingîltigen und objektiv richtigen Feststellung. 217 Vgl. Heinz, 1975, 39; 75 mit Anm. 285.

1.2 Tiberius

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Persçnlichkeit des Kaisers zu passen, steht an der starken letzten Position, und ist zudem stilistisch besonders betont. Es genießt daher zweifellos den Vorzug vor den beiden anderen dargebotenen Mçglichkeiten.218 Mit den bisher zusammengetragenen Beispielen ist die Behandlung der alternativ gebotenen Deutungsmçglichkeiten als Technik der Leserlenkung in dieser Arbeit noch keineswegs abgeschlossen. Wir werden auch in den noch folgenden Kapiteln immer wieder auf diesen Kunstgriff des Tacitus zurîckkommen. Einstweilen kçnnen wir folgende Ergebnisse 218 Zur Problematik der zu ann. 1,80 im Widerspruch stehenden Darstellung des Tacitus in ann. 4,6,2 f., wonach der Kaiser die hohen Staatsmter gerade an die vortrefflichsten Mnner vergab (mandabatque honores nobilitatem maiorum, claritudinem militiae, inlustres domi artes spectando, ut satis constaret non alios potiores fuisse. … res suas Caesar spectatissimo cuique, quibusdam ignotis ex fama mandabat, semelque adsumpti tenebantur prorsus sine modo, cum plerique isdem negotiis insenescerent) s. Rauch, 1970, 52 – 59, der das Kapitel ann. 1,80 im Hinblick auf seine rhetorische Gestaltung untersucht und dabei festgestellt hat, daß die hier vorgetragene Zergliederung der verschiedenen Grînde fîr die Praxis der Prorogationen unter Tiberius nach den Gesichtspunkten der dispositio erfolgt (vgl. Lausberg, 101990, 27 – 41), die bei einer Dreiteilung des Ganzen dessen lîckenlose Vollstndigkeit betonen mçchte (vgl. Lausberg, 101990, 29, §51). Rauch (a.a.O. 56) geht aufgrund der auch in unserer Untersuchung gemachten Beobachtungen nun zurecht davon aus, daß es sich in ann. 1,80 bei dem letztgenannten Grund, der das anxium iudicium als Motiv einfîhrt, eindeutig um diejenige Alternative handelt, die Tacitus dem Leser suggerieren mçchte, und weist darauf hin, daß demgegenîber der Frage danach, welches von den aufgezhlten Motiven (auch vor dem Hintergrund der Darstellung in ann. 4,6) nun fîr uns am wahrscheinlichsten erscheint, wenig Bedeutung zukommt. Er schreibt (a.a.O. 57): „Das von Tacitus vertretene Motiv ist das letzte, und um dieses strker wirken zu lassen, wurden die beiden anderen erdacht, damit der Leser durch die Mçglichkeit der Auswahl das Gefîhl erhlt, wirklich a l l e mçglichen Erklrungen vor sich zu haben. In Wirklichkeit liegt keine Vollstndigkeit vor, da Tacitus das einleuchtendste Motiv, das er selbst IV,6,2 angibt […] hier unerwhnt lßt.“ Demnach hat Tacitus in ann. 1,80 dem Leser den wahren Grund fîr die langfristige ømtervergabe des Tiberius bewußt vorenthalten, um den Kaiser in ein ungînstiges Licht zu rîcken; vgl. Syme, 1958, 441, der ebenfalls an eine Vernachlssigung der eigentlichen Erklrung in ann. 1,80 denkt: „The historian does not add what might seem obvious, the Emperor’s care for the welfare of the subject population.“ Die berechtigte Annahme, daß Tacitus zwei der von ihm genannten Motive nur erfunden hat, lassen an der Aufrichtigkeit anderer dreigliedriger Motivsuchen in den Annalen ernsthafte Zweifel aufkommen, vgl. beispielsweise ann. 4,38,4, wo Aufbau und Erzhlstruktur (weiterfîhrende Erluterung und damit verbundene Verstrkung des zuletzt genannten Motivs) der hier behandelten Stelle (ann. 1,80) sehr hnlich ist, und das von uns bereits analysierte Kapitel ann. 3,3,2 f.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

bereits festhalten: Indem Tacitus verschiedene Motive oder Grînde einer bestimmten Handlung oder eines Ereignisses anbietet, verleiht er seiner Darstellung einen objektiven Charakter. Er îberlßt es nach außen hin dem Leser, sich fîr eine der zur Wahl gestellten Alternativen zu entscheiden, doch beeinflußt er dessen Entscheidung, indem er eine der genannten Deutungsmçglichkeiten mit einem besonderem Gewicht versieht. Wichtige Indizien fîr eine von Tacitus bevorzugte Alternative sind 1) deren Position an letzter Stelle, 2) deren Lnge und 3) der sie umgebende Kontext. Im Idealfall treffen dabei alle drei Indizien zusammen: Die zuletzt genannte Alternative ist zugleich auch die lngste und aufgrund ihres inhaltlichen Zusammenhangs die fîr den Leser am meisten einleuchtende.

1.3 Livia Gravis in rem publicam mater, gravis domui Caesarum noverca – belastend fîr den Staat als Mutter, belastend fîr das Kaiserhaus als Stiefmutter: Dieser schlichte Parallelismus bringt die Rolle der Kaiserinmutter in den Annalen auf eine ebenso einfache wie prgnante Formel. Tacitus legt ihn im ‘Totengericht’ îber Augustus den Gegnern des ersten Princeps in den Mund (ann. 1,10,5), als diese das Privatleben des Verstorbenen kritisch untersuchen. Die Aussage bezieht sich somit noch auf die Zeit vor der Machtîbernahme des Tiberius. Und dieser Rîckblick hat an dieser Stelle seinen guten Grund. Er dient als nachtrgliche Besttigung von gleich drei bçsen Verdchtigungen, die Tacitus in den Anfangskapiteln der Annalen wirkungsvoll darzustellen weiß, ohne selbst die Verantwortung hierfîr zu îbernehmen. Zunchst soll Livia am allzu frîhen Tod der Augustusenkel Gaius und Lucius, der beiden Lichtgestalten und Hoffnungstrger der unglîcklichen augusteischen Nachfolgepolitik, eine Mitschuld getroffen haben (ann. 1,3). Diese erste Verdchtigung wird dem Leser in der eben im Zusammenhang mit der Tiberiusfigur ausfîhrlich behandelten und fîr Tacitus typischen Form einer mçglichen Alternative geboten.219 Die zweite ist in ein Gerîcht gekleidet, demzufolge Livia dem Tod ihres Gatten Augustus mit Gift ‘nachgeholfen’ haben soll (ann. 1,5). Schließlich wird sie im Zusammenhang mit der Ermordung des Agrippa Postumus, des einzig noch verbliebenen Enkels des 219 Das wahrscheinlich berîhmteste Beispiel fîr diese Technik (s. Develin, 1983, 86; Ryberg, bei Pçschl, 1969, 67; vgl. Goodyear ad ann. 1,3,3).

1.3 Livia

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Augustus, als treibende Kraft dargestellt (ann. 1,6). Alle drei Verdchtigungen zielen auf die Umstnde des tiberischen Regierungsantritts ab, der direkt zu Beginn der Annalen einem schlimmen Verdacht ausgesetzt werden soll. ann. 1,3. Gleich bei ihrer ersten Erwhnung im dritten Kapitel des ersten Annalenbuches wird Livia in ein unheilvolles Licht gerîckt. Tacitus berichtet hier der Reihe nach îber die verschiedenen von Augustus vorgesehenen Kandidaten fîr die Princeps-Nachfolge. Er legt detailgetreu dar, wie dieser als Stîtzen seiner Herrschaft (subsidia dominationi) zunchst seinen Neffen Marcellus durch ein Priesteramt und die kurulische ødilitt, seinen alten Kampfgefhrten Agrippa hingegen mit zwei aufeinanderfolgenden Konsulaten auszeichnete und letzteren nach dem Tode des Marcellus sogar zum Schwiegersohn nahm. Seine Stiefsçhne Tiberius und Drusus habe der erste Kaiser durch den Imperatortitel hervorgehoben – und dies, obwohl sein eigenes Haus auch jetzt noch ungeschwcht dastand (ann. 1,3,1: integra etiam tum domo sua).220 Denn – so lautet nun die Begrîndung fîr den vorangegangen konzessiven Ablativus absolutus – er hatte Agrippas Sçhne Gaius und Lucius, also seine Enkel, in die Familie der Caesaren aufgenommen und fîr beide trotz ihres noch jugendlichen Alters221 die Ernennung zu principes iuventutis und die Bestimmung zu Konsuln mit heißem Herzen gewînscht, auch wenn er nach außen hin den Anschein erweckt habe, dies abzulehnen (ann. 1,3,2: specie recusantis flagrantissime cupiverat).222 Und dann faßt Tacitus den weiteren Gang der Ereignisse in einem folgenschweren Satz zusammen, der Livia und ihre Rolle in der gesamten Nachfolgeregelung in einem ganz ungînstigen Licht erscheinen lßt: ut Agrippa vita concessit, L. Caesarem euntem ad Hispanienses exercitus, Gaium remeantem Armenia et vulnere invalidum mors fato propera vel novercae Liviae 220 Vgl. hierzu Kohl, 1959, 58: „Im Nachtrag wird auf einen Umstand hingewiesen, der dem im eigentlichen Satz Ausgesagten nochmals ein besonderes Licht verleiht. Man beachte, daß der folgende Satz nur daran anknîpft.“ 221 Die Caesaren Gaius und Lucius, von Augustus im Jahre 17 v. Chr. adoptiert, waren bei ihrer Designation zu Konsuln (5 bzw. 2 v. Chr.) jeweils erst 15 Jahre alt; vgl. Koestermann ad ann. 1,3,2. 222 Auch hier wird das Motiv der Heuchelei greifbar, das in Bezug auf Augustus gewissermaßen als Vorbild fîr die sptere simulatio des Tiberius dient. Die Heuchelei erscheint somit als Grundîbel der gesamten Regierungsform des Prinzipats.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

dolus abstulit Drusoque pridem exstincto Nero solus e privignis erat, illuc cuncta vergere (ann. 1,3,3).

In nur einem Satz fîhrt Tacitus in gedrngter Kîrze223 die gesamte Tragik der augusteischen Nachfolgepolitik vor Augen: Alle bisherigen Kandidaten sterben, allein Tiberius bleibt îbrig.224 Und Livia? Sie wird dem Leser als intrigante noverca prsentiert, die mçglicherweise Schuld am frîhen Tod der Augustusenkel trug. Die bçse Stiefmutter – ein Motiv, das so alt zu sein scheint wie die Menschheit selbst und wohl in allen Kulturen der Welt die Affekte der Menschen auf unheimliche Weise zu berîhren vermag, nicht zuletzt auch bei den alten Rçmern.225 Die Gestalt der noverca ruft beim Leser unwillkîrlich negative Assoziationen hervor:226 Mißgunst und Abneigung gegenîber den Stiefkindern bei gleichzeitiger Bevorzugung der eigenen Sçhne und Tçchter, Haß, Klte, Lieblosigkeit. Die Volksphantasie wartet hier mit einer langen Liste dîsterer Vorstellungen auf, die mit dem Stichwort dolus in ann. 1,3,3 eine schlagkrftige Verbindung eingehen. Die Stiefsçhne Gaius und Lucius sind tot, und Tiberius, der leibliche Sohn der Livia, wird Kaiser (illuc 223 Der hier so kurz umrissene Zeitraum zwischen dem Tod des Agrippa (12 v. Chr.) und dem des Gaius Caesar (4 n. Chr.) umfaßt immerhin 15 Jahre! 224 Vgl. Koestermann ad loc.: „Die Periode markiert in großartiger Weise den Zusammenbruch der Hoffnungen des Augustus, der nach dem Scheitern aller anderen Plne auf Tiberius als den einzig îbrig gebliebenen Anwrter zurîckgreifen mußte“; vgl. Goodyear ad loc. 225 Vgl. A. Otto: Die Sprichwçrter und sprichwçrtlichen Redensarten der Rçmer, Leipzig 1890 (reprographischer Nachdruck: Hildesheim 1962) s. v. noverca (S. 245 f.), wo die einschlgigen Stellen der rçmischen (und griechischen) Literatur zu diesem Motiv zusammengetragen sind; zu den gngigen Attributen einer noverca vgl. bes. Verg. ecl. 3,33 (iniusta noverca); Sen. Phaedr. 558 (taceo novercas: mitius nil est feris); Stat. silv. 2,1,49 (saevae … novercae); Quintil. inst. 2,10,5 (dira illa femina et malitiae novercalis exemplar); in Verbindung mit dem Motiv der Giftmischerin: Verg. georg. 2,128 (pocula si quando saevae infecere novercae); 3,281 ff. (… lentum destillat ab inguine virus, / hippomanes, quod saepe malae legere novercae / miscueruntque herbas et non innoxia verba); Ov. met. 1,147 (lurida terribiles miscent aconita novercae); vgl. A.A. Barrett: Tacitus, Livia and the evil Stepmother, RhM 144, 2001, 171 – 175, hier 172: „The stepmother was traditionally a hated figure in Roman literature and culture“ (mit weiteren Belegen). 226 S. Welskopf, 1961, 366 f. (zu ann. 1,3); vgl. C.G. Calhoon: Livia the poisoner: Genesis of a historical myth, Diss. Irvine 1994, 313: „The stepmother, already at a remove from the natural order, and thus an apt object of suspicions not readily cast on the natural mother, begins a sequence of shadings that include the witch and the poisoner.“

1.3 Livia

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cuncta vergere). Welcher Leser mçchte nach solch lebhaften Eindrîcken, die mit der Gestalt der noverca hervorgerufen worden sind, jetzt noch an das farblose und unergrîndliche fatum, die zuerst genannte Alternative, als wahre Todesursache glauben!227 Und wenn Tacitus anschließend beschreibt, wie Tiberius nach dem Tod der Augustusenkel sogleich adoptiert, zum Mitregenten und Mitinhaber der tribunicia potestas erhoben und schließlich bei allen Heeren vorgestellt wurde, und zwar nicht, wie frîher, aufgrund dunkler Rnkespiele seiner Mutter, sondern auf unverhîllte Aufforderung hin (ann.1,3,3: non obscuris, ut antea, matris artibus, sed palam hortatu), da sie zuvor den greisen Augustus dazu bewegt hatte (devinxerat), den einzig ihm noch verbliebenen Enkel (und damit mçglichen Nachfolger) Agrippa Postumus, der zwar jeglicher Bildung entbehrte und auf dummdreiste Weise viel auf seine Kçrperkrfte gab, doch keines Verbrechens îberfîhrt worden war (ann. 1,3,4: rudem sane bonarum artium et robore corporis stolide ferocem, nullius tamen flagitii compertum),228 auf die Insel Planasia zu verbannen (ann. 1,3,3 – 5), ist die Gedankenlinie endgîltig klar gezogen: Livia hat Gaius und Lucius umbringen lassen, um ihren eigenen Sohn an die Macht zu bringen. Das war ihr Ziel, zu dessen Verwirklichung ihr jedes Mittel recht war. Man erkennt am Ende des Kapitels auch den tieferen Sinn, der hinter der eingangs getroffenen Aussage steckte, Augustus habe integra etiam tum domo sua Tiberius und Drusus durch Ehrentitel besonders hervorgehoben. Das durch den Ablativus absolutus deutlich hervorgehobene ‘obwohl’ des Satzes unterstreicht vorausblickend die obscurae artes der Livia, die hinter der Nachfolge des Tiberius stecken. Die Erhebung ihrer Sçhne zu mçglichen Nachfolgern war gar nicht nçtig, solange Gaius und Lucius noch lebten. Trotzdem wurde sie von Augustus vorgenommen, und dies – so lautet nun der Schluß, den der Leser aus dem Gesagten unwillkîrlich zieht – auf Betreiben seiner Gattin, die schließlich nur noch die anderen Kandidaten aus dem Wege rumen mußte, um nach dem Tode des Drusus ihren einzig noch verbliebenen Sohn Tiberius auf den Thron zu bringen. 227 Vgl. Develin, 1983, 86 (zu ann. 1,3): „The emotive language – not least ‘novercae’ – guides the reader“; vgl. Syme, 1958, 306; Ryberg, bei Pçschl, 1969, 67 f.; Whitehead, 1979, 489; Goodyear ad loc. 228 Vgl. hierzu Kohl, 1959, 59: „Die nheren Angaben îber Agrippa Postumus hinken ziemlich nach; sie kommen deshalb etwas îberraschend und deswegen wirkungsvoller. Nicht nur seinen Enkel verstçßt Augustus, sondern er verstçßt ihn auch noch, ohne daß er etwas Schlechtes begangen hat.“

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1. Stereotype Charakterdarstellung

ann. 1,5. Das fînfte Kapitel des ersten Annalenbuches spinnt den in ann. 1,3 aufgenommenen Faden des von den Rnken der Livia begleiteten Regierungsantritts des Tiberius weiter, indem es nun die Geschichte des verbannten Agrippa Postumus in der Form eines Gerîchtes weiter zuspitzt.229 Als ußerer Rahmen und Anlaß der Schilderung dient hierbei der Verdacht, Livia habe Augustus vergiftet: Haec atque talia agitantibus gravescere valitudo Augusti, et quidam scelus uxoris suspectabant. quippe rumor incesserat paucos ante menses Augustum electis consciis et comite uno Fabio Maximo Planasiam vectum ad visendum Agrippam; multas illic utrimque lacrimas et signa caritatis, spemque ex eo fore ut iuvenis penatibus avi redderetur. quod Maximum uxori Marciae aperuisse, illam Liviae. gnarum id Caesari; neque multo post exstincto Maximo, dubium an quaesita morte, auditos in funere eius Marciae gemitus semet incusantis, quod causa exitii marito fuisset. (ann. 1,5,1 – 2).

Der hier gegebene Textabschnitt enthlt alle Zutaten fîr eine gute Kriminalgeschichte: Spannend und fesselnd ist das von Tacitus nacherzhlte Gerîcht îber den vermeintlichen Besuch, den der reumîtige Augustus unter strengster Geheimhaltung seinem verbannten Enkel auf Planasia abgestattet haben soll, îber deren angebliche Versçhnung und die dadurch aufkeimende Hoffnung, Agrippa Postumus kçnne wieder in das Haus seines Großvaters aufgenommen werden. Denn der Leser weiß zu gut, welch große Gefahr eine derartige Versçhnung fîr die herrschsîchtigen Plne der Livia bedeuten mußte. Schließlich war sie es gewesen, die im Bestreben, ihren Sohn an die Spitze des Staates zu bringen, den alten Augustus dazu gebracht hatte, Agrippa Postumus zu verbannen (ann. 1,3,4). Sie erfhrt nun îber Marcia, die Frau des Maximus, des einzigen Augenzeugen der Zusammenkunft auf Planasia, von dieser geheimen Unternehmung und muß handeln, wenn sie ihre ehrgeizigen Ziele ungestçrt verwirklichen will. Maximus kommt auf dubiose Weise ums Leben (dubium an quaesita morte), der Gesundheitszustand des Augustus, der wiederum von der Mitwisserschaft seiner Gattin wußte, verschlechtert sich. Die Tatsache, daß Marcia sich beim Begrbnis ihres Mannes verzweifelte Selbstvorwîrfe macht, ist schließlich das noch fehlende Glied in der Beweiskette, die Livia im Bewußtsein des Lesers als Strippenzieherin hinter all diesen merkwîrdigen Vorgngen îberfîhrt. Denn die einzige Handlung und damit der einzige mçgliche Fehler der Marcia bestand ja darin, das geheime Wissen an Livia weitergegeben zu 229 Vgl. Syme, 1958, 306 f.; I. Shatzman: Tacitean rumours, Latomus 33, 1974, 549 – 578, hier 561 f.

1.3 Livia

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haben. Wenn hierin der Grund fîr den Tod ihres Mannes zu suchen war, so heißt das im Umkehrschluß, daß Livia nicht nur Schuld trug am Tod des Maximus, sondern auch Augustus vergiftete. Das Gerîcht îber die Reise des Augustus nach Planasia dient somit als Besttigung des am Kapitelanfang ausgesprochenen Mordverdachts.230 Auch auf sprachlicher Ebene ist dieser Kausalzusammenhang durch das begrîndende quippe mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht worden.231 Der Kreis hat sich somit geschlossen. ˜berraschend sind diese Erkenntnisse fîr den Leser freilich nicht mehr. Maximus und schließlich auch Augustus sind nach dem Tod der Caesaren Gaius und Lucius nur weitere Opfer der dunklen Intrigen am Kaiserhof, die fîr Tiberius und seine Mutter den Weg zur Macht ebnen. Die Ermordung des Agrippa Postumus im nchsten Kapitel (ann. 1,6), das berîhmte primum facinus novi principatus, ergibt sich nun als logische Konsequenz. Eine versteckte oder unzweideutige Beschuldigung ist hierbei gar nicht mehr erforderlich, sondern nahezu selbstverstndlich.232 Doch bevor wir uns der nheren Analyse des sechsten Kapitels widmen, mîssen wir noch einige abschließende Beobachtungen zu ann. 1,5 nachtragen. Was dort in den Paragraphen 1 – 2 noch Volksgerede war, wird unmittelbar durch den weiteren Bericht des Tacitus erhrtet. Zunchst bricht er seine ‘Nacherzhlung’ des Gerîchtes etwas unvermittelt ab: utcumque se ea res habuit, vixdum ingressus Illyricum Tiberius properis matris litteris accitur; neque satis compertum est, spirantem adhuc Augustum apud urbem Nolam an exanimem reppererit (ann. 1,5,3).233

Er lßt den rumor unkommentiert und unwidersprochen wirken, whrend sich seine weitere Erzhlung wie eine zustzliche Anklage und nachtrgliche Besttigung des Giftmordverdachts liest:234 230 Vgl. B. J. Gibson: Rumours as causes of events in Tacitus, MD 40, 1998, 111 – 129, hier 118 (zu ann. 1,5,1): „The rumour of Augustus’ visit to Agrippa Postumus on Planasia itself gives rise to suspicions that Augustus’ illness was the result of his wife’s criminal activities.“ 231 Zur Bedeutung von quippe vgl. KSt I 807; Gibson, 1998, 118; 123. 232 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 62: „Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich Tacitus nach Capri zurîckzieht, wird nur e i n e unzweideutige Beschuldigung gegen den Kaiser erhoben. Diese betrifft die Ermordung des Agrippa Postumus […].“ 233 Hier scheint ein echter Zweifel vorzuliegen, der ohne Absicht der Leserlenkung vorgebracht wird (vgl. Whitehead, 1979, 482). Dagegen wird in ann. 1,13,2 ein letztes Gesprch zwischen Augustus und Tiberius vorausgesetzt (vgl. Koestermann ad ann. 1,5,3). 234 Vgl. Shatzman, 1974, 562; Klingner, bei Pçschl, 1969, 504 f.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

acribus namque custodiis domum et vias saepserat Livia, laetique interdum nuntii vulgabantur, donec provisis quae tempus monebat simul excessisse Augustum et rerum potiri Neronem fama eadem tulit (ann. 1,5,4).

Durch strenge Bewachung hatte Livia also das Sterbebett des Augustus – ‘wie einen Tatort’ mag sich der Leser denken – abgeschirmt, tuschte die §ffentlichkeit îber den Gesundheitszustand des Princeps, und zwar so lange, bis das vorbereitet war, was die Lage gebot, und zur gleichen Zeit ein und dasselbe Gerîcht die Nachricht verbreitete, Augustus sei tot und Tiberius îbernehme die Macht235 – all diese Handlungen scheinen fîr den Leser das von manchen Zeitgenossen vermutete scelus uxoris (ann. 1,5,1) zu belegen, obwohl dieses im Bericht des Tacitus letztlich im Dunkeln bleibt.236 ann. 1,6. Das erste Verbrechen des neuen Prinzipats war die Ermordung des Agrippa Postumus – so leitet Tacitus wirkungsvoll das nchste Kapitel ann. 1,6 ein. Welche Gefahr der einzig noch lebende Augustusenkel fîr die Nachfolge des Tiberius darstellte, ist bereits aus dem vorangegangen Bericht des Tacitus allzu deutlich geworden – jedenfalls deutlich genug, um Livia bereits ohne weitere Anklagen den schlimmsten Verdchtigungen aussetzen zu kçnnen. Livia war nach Ansicht des Lesers schließlich maßgeblich an der Verbannung des Rivalen beteiligt gewesen, hat den Tod des Augustus mit Gift beschleunigt, als die Gefahr einer 235 Die Erzhlung erinnert an dieser Stelle stark an die Darstellung der Kçnigin Tanaquil bei Livius. Diese sichert nach dem Tod ihres Mannes Tarquinius Priscus auf ganz hnliche Weise den ˜bergang der Kçnigsherrschaft auf ihren Schwiegersohn Servius Tullius (Liv. 1,41,1 – 7); bei Tacitus wiederum wird an spterer Stelle die jîngere Agrippina beim Tod des Claudius durch vergleichbare Handlungen ihrem Sohn Nero die Thronnachfolge erleichtern (ann. 12,68 f.); s. hierzu insgesamt R. A. Bauman: Tanaquil-Livia and the death of Augustus, Historia 43 (2), 1994, 177 – 188 mit weiterer Literatur. Bauman zieht die Mçglichkeit in Betracht, daß Livius die tatschlichen Ereignisse beim Tod des Augustus miterlebt und in Form eines Nachtrags zum lngst verçffentlichten ersten Buch seines Geschichtswerkes in die rçmische Frîhzeit projiziert hat. Sollte diese Annahme richtig sein, wre der Bericht des Tacitus mit hoher Wahrscheinlichkeit als historisch zutreffend zu beurteilen. 236 Vgl. Klingner, bei Pçschl, 1969, 501 f.: „Ob Livia der Krankheit des Augustus mit Gift nachgeholfen hat, um die Entscheidung fîr Tiberius, die ganz zuletzt noch in Frage gestellt schien, zu erzwingen, bleibt im unklaren. Sicher ist, daß sie whrend der letzten Krankheit des Augustus vorausschauend geplant und alles so angeordnet hat, daß gleichzeitig mit der Todesnachricht die Nachfolge des Tiberius bekanntwerden konnte.“

1.3 Livia

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versçhnlichen Rîckberufung seines Enkels drohte.237 Somit ist der Boden fîr die nun folgende Verleumdung, Livia sei auch verantwortlich fîr die Beseitigung des bedrohlichen Konkurrenten gewesen, bestens vorbereitet.238 Dabei greift Tacitus erneut auf das bewhrte Motiv der bçsen Stiefmutter zurîck, um den Leser auf seine Seite zu ziehen. Zu diesem Zweck muß er jedoch zuvor noch eine andere Mçglichkeit bezîglich der Todesumstnde des Agrippa Postumus in ihrer Glaubwîrdigkeit entkrften, die er den neuen Kaiser in Form einer hilflos anmutenden Ausflucht vorbringen lßt. Demnach gab Tiberius vor, die grausame Tat sei auf den ausdrîcklichen Befehl des Augustus hin begangen worden: patris iussa simulabat (sc. Tiberius), quibus praescripsisset tribuno custodiae adposito, ne cunctaretur Agrippam morte adficere, quandoque ipse supremum diem explevisset (ann. 1,6,1). Deutet das Verb simulabat bereits die Unaufrichtigkeit dieser Rechtfertigung an, so wird ihr nun in der weiteren Darstellung endgîltig die Grundlage entzogen, indem Tacitus die Motive, die Augustus zu einem solchen Befehl htten veranlassen sollen, als unwahrscheinlich abtut. Er rumt zwar gewisse Vorbehalte des ersten Princeps gegenîber seinem Enkel ein, die ihn schließlich dazu bewogen htten, eine Verbannung auszusprechen. Doch eine Schuld des Augustus an der zuletzt erfolgten Tçtung des Postumus sei nicht glaubhaft. Als Bekrftigung seiner Argumentation dient dem Historiker dabei ein Hinweis auf einen allgemeinen Grundzug der augusteischen Familienpolitik. Er schreibt: multa sine dubio saevaque Augustus de moribus adulescentis questus, ut exilium eius senatus consulto sanciretur, perfecerat; ceterum in nullius umquam suorum necem duravit, neque mortem nepoti pro securitate privigni inlatam credibile erat, … (ann. 1,6,2)

Erst jetzt lßt Tacitus seine eigene Deutung folgen, die im Unterbewußtsein des Lesers jedoch lngst existiert und deshalb nicht unmittelbar in den Verdacht einer subjektiven und parteilichen Geschichtsflschung gert: … propius vero Tiberium ac Liviam, illum metu, hanc novercalibus odiis, suspecti et invisi iuvenis caedem festinavisse (ann. 1,6,2 – 3). Auch hier ist der Vorwurf des Historikers nicht mehr als ein Produkt einer vorgenommenen Wahrscheinlichkeitsanalyse (propius vero),239 die jedoch um 237 Vgl. Syme, 1958, 307: „Livia is tied up with the affair of Agrippa Postumus in a closely woven nexus of insinuations.“ 238 Vgl. Koestermann, 1961, 334 f.; Wimmel, 1961, 48. 239 Insofern ist auch diese Anschuldigung nicht in aller Deutlichkeit vorgebracht, doch kann sie im Zusammenhang mit der einleitenden, feststellenden Bemer-

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1. Stereotype Charakterdarstellung

so wirkungsvoller zur Geltung gelangt, als sie sorgfltig vorbereitet worden ist: Die Vermutung, daß Tiberius und Livia den Agrippa Postumus schleunigst beseitigen ließen, ist die einzig noch verbleibende Erklrungsmçglichkeit fîr das begangene Verbrechen. Niemals habe sich Augustus, wie streng er auch sonst mit seinen Familienangehçrigen verfuhr, zu einer Ermordung eines der Seinen verhrtet. Ein von ihm erlassener Tçtungsbefehl scheidet schon aus diesem Grunde aus. Desweiteren erscheint das unverhohlen vorgebrachte Motiv fîr die Tat, nmlich die securitas des Tiberius, in Bezug auf den ersten Princeps als unglaubhaft, sagt Tacitus – sehr viel weniger unglaubhaft aber in Bezug auf Livia, denkt der Leser. Und nun taucht als wohl schlagkrftigstes Mittel der Leserlenkung und als Besttigung der wahrscheinlichsten Erklrung erneut das Motiv der bçsen noverca auf, diesmal als Adjektiv zu dem negativen Schlagwort odium: Der stiefmîtterliche Haß auf den verdchtigen und unliebsamen Stiefsohn (suspecti et invisi iuvenis), die bevorzugte Behandlung des eigenen Kindes, das auf den Thron gehoben werden soll, die securitas des Tiberius als Triebfeder – dies alles ergibt im Bewußtsein des Lesenden am Ende ein schlîssiges Bild.240 Betrachtet man den Aufbau des Kapitels etwas genauer, so lßt sich erneut eine von Tacitus bewußt eingefîhrte alternative Motivsuche erkennen, die diesmal nicht sprachlich durch ein disjunktives Verhltnis, sondern inhaltlich durch die erzhltechnische Abfolge zweier Deutungen vorgebracht wird. Als mçgliche ‘Tter’ werden dem Leser bei der Ermordung des Agrippa Postumus entweder Augustus oder aber Livia und Tiberius angeboten. Tacitus hat seine Leserschaft schließlich fîr die zweite Alternative gewonnen, wobei alle bisher im Zusammenhang mit den alternativen Betrachtungsweisen gemachten Beobachtungen wiederzufinden sind: Die von Tacitus bevorzugte Deutung steht zuletzt, wird nher begrîndet und wirkt vor dem Hintergrund des gesamten Kontexts glaubwîrdiger und îberzeugender.241 Mit ann. 1,6 ist die mit Agrippa Postumus verbundene Thematik fîr Tacitus noch lngst nicht abgeschlossen.242 Immer wieder nimmt er in spteren Kapiteln darauf Bezug243 und sorgt dafîr, daß dieses primum

240 241 242 243

kung primum facinus novi principatus fuit Postumi Agrippae caedes als offene Anklage gewertet werden. Vgl. Koestermann, 1961, 335. Vgl. hierzu die Komposition des Totengerichts îber Augustus, wo diese Technik ebenfalls in der Abfolge der jeweiligen Urteile auf die Gesamtdarstellung îbertragen worden ist. S. Syme, 1958, 306 f. S. ann. 1,53,2; 2,39 f.; 3,30,3.

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facinus im Gedchtnis seiner Leserschaft als Belastung fîr die gesamte Regentschaft des Tiberius lebendig bleibt. Blicken wir nun auf die drei nher behandelten Kapitel ann. 1,3/1,5/ 1,6 zurîck, so erscheint Livia hier als machtbesessene und hinterlistige Stiefmutter, die mit allen Mitteln versucht, ihrem Sohn Tiberius den Weg zur Macht zu ebnen und deren Erhalt zu sichern. Der Tod des Gaius und des Lucius sowie die Verbannung und sptere Ermordung des Agrippa Postumus stehen durch ihr Wirken gedanklich in einer aufsteigenden Linie und werfen direkt zu Beginn der Annalen ein dunkles Licht auf den gesamten Prinzipat des Tiberius. Zug um Zug hat Livia die mçglichen Kandidaten, die einer Thronerhebung ihres Sohnes noch im Wege gestanden hatten, durch Heimtîcke beseitigt. Tacitus hat diesen schlimmen Vorwurf an keiner Stelle offen ausgesprochen, und doch meint man, ihn im Bericht des Historikers deutlich gelesen zu haben. Was waren die Techniken, die Tacitus angewendet hat, um diesen Eindruck hervorzurufen? Von entscheidender Bedeutung ist die Einfîhrung des novercaMotivs gewesen, und zwar an einer Stelle, die den Leser zur Parteinahme auffordert (ann. 1,3,3):244 Ist Livia schuld am frîhen Tod der Augustusenkel oder nicht? Die Stichworte noverca und dolus ziehen den Leser sofort in ihren Bann, sprechen ihn auf seiner Gefîhlsebene an und rufen in ihrer Kombination derart negative Assoziationen hervor, daß das rationale Urteilsvermçgen durch das Typenbild der bçsen Stiefmutter gnzlich außer Kraft gesetzt wird.245 Wie bewußt Tacitus diese Methode der Leserlenkung an dieser Stelle angewendet hat, wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß Livia gar nicht die Stiefmutter des Gaius und des Lucius im eigentlichen Sinne war.246 Man erkennt daran rasch, daß das Motiv von Tacitus mit Bedacht eingefîhrt worden ist, um den Leser gegen die Person der Livia einzunehmen. Daß es in Bezug auf Lucius und Gaius etwas in die Schieflage geraten muß, spielt demgegenîber eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Wie wir gesehen haben, wird die Kaiserinmutter das eingangs heraufbeschworene Odium der mala noverca

244 Vgl. Welskopf, 1961, 366. 245 Zu dieser suggestiven Technik des Tacitus s. Welskopf, 1961, 366. 246 Siehe Barrett, 2001, 172: „She had not supplanted their mother by marrying their father, and was only a stepmother in a technical sense as a result of their being adopted by their grandfather for political/dynastic reasons, at a time, when their mother remained an honourable member of the house. But the very use of the word creates prejudicial damage.“

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auch im weiteren Bericht des Tacitus nicht mehr los.247 Einmal eingefîhrt, wird es zu Beginn der Annalen wiederholt dazu benutzt, um ihrem Ansehen grçßtmçglichen Schaden zuzufîgen. Neben dieser Technik, die durch das Hervorrufen negativer Gefîhle den Leser geschickt zu beeinflussen weiß, fand noch eine andere Methode der Leserlenkung ihre wirkungsvolle Anwendung. Es handelt sich hierbei um die Wiedergabe von Gerîchten, die eine offene Anklage seitens des Historikers vermeiden hilft und besonders in den Anfangskapiteln248 ein beliebtes Mittel ist, um negative Stimmungen zu erzeugen.249 So wird der Verdacht, Livia habe den Tod des Augustus durch Gift beschleunigt (ann. 1,5), einer nicht nher definierten Menge in den Mund gelegt: quidam scelus uxoris suspectabant. Der Bericht îber das Motiv fîr ein solches Verbrechen wird dann in die Form eines Gerîchts gekleidet (quippe rumor incesserat …), dessen Inhalt jedoch so glaubhaft dargestellt wird, daß es dem Leser wie ein verbîrgter Tatsachenbericht erscheinen muß. Wie dies im Einzelnen geschehen ist, haben wir bei der Analyse des entsprechenden Kapitels bereits dargelegt. Die Wiedergabe von Gerîchten und çffentlicher Meinung als eine Technik zur Beeinflussung des Lesers fîhrt uns nun an den Beginn unserer Darlegungen îber Livia zurîck, wo uns die kritische Beurteilung der Kaiserinmutter im Munde der Augustusgegner als Einstieg in ihr Charakterportrt gedient hatte: gravis in rem publicam mater, gravis domui Caesarum noverca (ann. 1,10,5). Diese einprgsame Charakterisierung aus der Sicht des verstndigen Volkes250 rundet nun das Bild, das Tacitus in den Eingangskapiteln seiner Annalen von Livia gezeichnet hat, wirkungsvoll ab. Alle bisher gegen sie erhobenen Vorwîrfe finden sich in ihr nachtrglich besttigt,251 ohne daß der Historiker selbst die Bîrde der Verantwortung dafîr tragen mîßte. Er benutzt die Stimme der §ffent247 Vgl. zustzlich zu den hier untersuchten Stellen ann. 1,33,3 (Livia als Gegenspielerin Agrippinas): accedebant muliebres offensiones novercalibus Liviae in Agrippinam stimulis. 248 S. Shatzman, 1974, 556. 249 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 66; Welskopf, 1961, 367. 250 Es sprechen an dieser Stelle ja die prudentes! 251 Vgl. Devillers, 1994, 124 f.: „En traitant Livie de gravis domui Caesarum noverca (I,10,5), ceux qui tiennent des propos critiques ” l’¤gard d’Auguste au moment des ses fun¤railles semblent consid¤rer comme av¤r¤e la version selon laquelle Livie serait responsable des morts de Caius et de Lucius“; Develin, 1983, 86 (in Bezug auf ann. 1,3): „When we get to Ann. 1,10, the insinuation is given increased status.“

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lichkeit, um seine eigene Sichtweise abschließend zu verkînden.252 Dieser Umstand sei hier deshalb noch einmal besonders betont, da wir bezîglich dieser Technik nun eine neue bemerkenswerte Beobachtung anfîgen kçnnen, ohne dabei den îbergeordneten Zusammenhang der taciteischen Liviadarstellung verlassen zu mîssen. Denn die Vorwîrfe, die Tacitus zu Beginn der Annalen in Form von Gerîchten, çffentlicher Meinung oder auch als unbewiesene Mçglichkeiten anfîhrt, werden nachtrglich besttigt, indem sie spter wie erwiesene Tatsachen fîr die weitere Darstellung vorausgesetzt werden.253 So heißt es in ann. 3,19 im Zusammenhang mit dem Ableben der Vipsania, daß sie als einzige von Agrippas Kindern eines friedlichen Todes gestorben sei. Denn die îbrigen seien, wie jeder wîßte, durch das Schwert oder, wie man glaubte, durch Gift oder Hunger umgekommen: … Vipsania … excessit, una omnium Agrippae liberorum miti obitu: nam ceteros manifestum ferro vel creditum est veneno aut fame exstinctos (ann. 3,19,3). Diese Aussage kann sich nur auf den gewaltsamen Tod des Agrippa Postumus (ferro), des Lucius und des Gaius (veneno) sowie der Iulia (fame) beziehen.254 Lßt Tacitus sich bezîglich der drei zuletzt genannten Personen durch die unpersçnliche Aussage creditum est noch einen Fluchtweg aus der Verantwortung offen, so klingt in ann. 4,71, wo nun der Tod der jîngeren Iulia zum Gegenstand der Darstellung wird, die Besttigung des Mordverdachts gegen Livia unverhohlen an: Per idem tempus Iulia mortem obiit, quam neptem Augustus convictam adulterii damnaverat proieceratque in insulam Trimetum, haud procul Apulis litoribus. illic viginti annis exilium toleravit Augustae ope sustentata, quae florentes privignos cum per occultum subvertisset, misericordiam erga adflictos palam ostentabat (ann. 4,71,4).255

Das Stichwort privignos beschwçrt hierbei erneut den Gedanken an die mala noverca herauf. Die heimtîckische Ermordung des Gaius und des Lucius durch Livia, in ann. 1,3,3 noch als bloße Mçglichkeit bezeichnet, 252 Vgl. Koestermann ad ann. 1,10,5: „gravis in rem publicam mater, gravis domui Caesarum noverca: Diese Auffassung deckt sich offenbar mit der eigenen des Tacitus (vgl. cap. 3,3 f. 6,2 u. a.).“ 253 S. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 68. 254 Ihr Tod wird in ann. 4,71,4 geschildert, ohne daß hierbei ein Hungertod erwhnt wird. Dagegen war die ltere Iulia ausdrîcklich eines solchen Todes gestorben, wobei eine offene Mordanklage gegen Tiberius vermieden wird (ann. 1,53; vgl. hierzu Ryberg, bei Pçschl, 1969, 63 u. 69; Whitehead, 1979, 489 mit Anm. 26). Liegt mçglicherweise eine Verwechslung des Tacitus vor? 255 S. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 69.

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wird hier fîr den Bericht endgîltig als Tatsache anerkannt. Der Stein ist fîr den Leser damit ins Rollen gebracht: Ist Livia tatschlich schuld am Tod der drei in Frage kommenden Kinder des Agrippa, so ist sie es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch fîr den am Ende so raschen Tod ihres Gatten Augustus. Der zu Beginn der Annalen eng geknîpfte Sinnzusammenhang legt diese Vermutung nun eindringlich nahe. Die unheilvolle Rolle, die Livia im Bericht des Tacitus bei der Thronerhebung ihres Sohnes spielt, hat auch Auswirkungen auf das Schicksal einer bisher noch nicht nher betrachteten Hauptfigur in den Annalen, nmlich der des Germanicus. Auch er war in ann. 1,3 bei seiner ersten Erwhnung als mçglicher Thronprtendent genannt worden,256 im weiteren Bericht îber die Rnke der Livia dann jedoch konsequent îbergangen worden, wahrscheinlich deshalb, weil sein Tod erst im Jahre 19 n. Chr. erfolgte und somit nicht in die îbergeordnete Darstellungsabsicht des Tacitus paßte, die er zu Beginn seines Werkes verfolgte, nmlich den Regierungsantritt des Tiberius durch den Verweis auf die Intrigen seiner Mutter in ein dîsteres Licht zu rîcken.257 Doch bereits nach dem Bericht îber die Ermordung des Agrippa Postumus, die ein vorlufiges Ende der Livia-Thematik markiert,258 taucht die Gestalt des Germanicus in ann. 1,7 wieder auf, und zwar erneut als Gefahr fîr die gerade erst erworbene Machtstellung des Tiberius, der hier die Befîrchtung hegt, sein waffenmchtiger und allseits beliebter Neffe wolle womçglich die Herrschaft lieber in den Hnden haben als auf sie warten.259 Danach ist von dem Sohn des Drusus erst wieder im Zusammenhang mit dem Aufstand der rheinischen Legionen in ann. 1,31 zu lesen, wo seine Gestalt bei den Heeren die Hoffnung aufkeimen lßt, er wîrde mit ihrer Hilfe seinen Thronansprîchen zur Durchsetzung verhelfen.260 Der in256 S. ann. 1,3,5: at hercule Germanicum, Druso ortum, octo apud Rhenum legionibus imposuit (sc. Augustus) adscirique per adoptionem a Tiberio iussit, quamquam esset in domo Tiberii filius iuvenis, sed quo pluribus munimentis insisteret. 257 Vgl. Koestermann, 1961, 334; vgl. Klingner, bei Pçschl, 1969, 504. 258 Vgl. Koestermann ad ann. 1,3,3: „Livia ist die einzige lebendig gezeichnete Persçnlichkeit, die das Geschehen bis einschließlich cap. 6 eindeutig beherrscht.“; vgl. ders., 1961, 332. 259 S. ann. 1,7,6: causa praecipua ex formidine, ne Germanicus, in cuius manu tot legiones, immensa sociorum auxilia, mirus apud populum favor, habere imperium quam exspectare mallet. 260 S. ann. 1,31,1: Isdem fere diebus isdem causis Germanicae legiones turbatae, quanto plures, tanto violentius, et magna spe fore ut Germanicus Caesar imperium alterius pati nequiret daretque se legionibus vi sua cuncta tracturis.

1.3 Livia

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haltliche Rîckbezug auf ann. 1,7 ist hierbei mehr als offensichtlich. Es liegt daher die Vermutung nahe, daß Tacitus die beiden ersten Erwhnungen des Germanicus im Eingang der Annalen sorgfltig und mit Bedacht plaziert hat.261 Sie bilden gewissermaßen einen Rahmen um den Erzhlkomplex der intriganten Stiefmutter. Gewiß, Germanicus bleibt zunchst von den Rnken der Livia verschont, doch Tacitus mçchte, daß der Leser im Hinterkopf behlt, daß auch er als Kandidat fîr die Nachfolge des Augustus ebenso eine Gefhrdung fîr die Herrschaft des Tiberius ist wie die Agrippasçhne Gaius, Lucius und Agrippa Postumus und damit zugleich ein potentielles Opfer der herrschsîchtigen Livia. Damit ist bereits zu Beginn des Werkes ein ahnungsvoller Hinweis auf das kînftige Schicksal des Tiberiusneffen plaziert worden. Wir werden auf diese Zusammenhnge noch zurîckkommen, wenn wir die Geschichte des Germanicus als zusammenhngenden Themenkomplex nher untersuchen werden. Auch dort wird Livia eine Schlîsselstellung in der Insinuationskunst des Tacitus einnehmen. Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, daß auch das Charakterportrt der Livia in den Annalen nicht einheitlich gezeichnet ist. Die bisher ins Blickfeld unserer Untersuchung gerîckte dîstere Darstellung der Augusta steht in einem gewissen Gegensatz zu der moderaten Schlußcharakteristik in ann. 5,1 wo die Kaiserinmutter nach ihrem Tod eine vergleichsweise positive und gerechte Wîrdigung erfhrt.262 Doch bis dahin ist die impotentia, die Zîgellosigkeit, ihr dominanter Charakterzug, noverca, die Stiefmutter, ihr eigentliches Prdikat.263 Ihr wachsender Einfluß auf die Regentschaft des Tiberius endet schließlich in einem regelrechten Machtkampf zwischen Mutter und Sohn.264 261 Vgl. Krohn, 1934, 58 f. 262 S. Barrett, 2001, 171; vgl. C.-M. Perkounig: Livia Drusilla – Iulia Augusta. Das politische Portrt der ersten Kaiserin Roms, Wien, Kçln u. a. 1995, 197 f. Diese gegenstzliche Darstellung in ann. 5,1 mag ein Indiz dafîr sein, daß Tacitus den Epilog auf die verstorbene Livia noch vor einer ˜berarbeitung der frîheren Stellen geschrieben hat, in denen er die Augusta eindeutig negativ charakterisiert hat (a.a.O. 198); vgl. Syme, 1958, 697: „If Books I-III were in fact published separately, later insertions might have been made when Tacitus was writing IV-VI, or after he had completed that instalment. Some of the remarks about Tiberius and about Livia may therefore be posterior to the obituaries on those persons (VI,51; V,1) – with which, in fact, they are not in complete harmony“; vgl. Koestermann, 1961, 334 Anm. 12. 263 Vgl. Perkounig, 1995, 201. 264 Vgl. Syme, 1958, 307 f.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Im Hinblick auf die Methoden der Leserlenkung sind uns bei der Behandlung der Liviadarstellung insbesondere zwei neue Techniken begegnet: 1) Tacitus setzt das rationale Urteilsvermçgen des Lesers herab, indem er ihn gezielt auf der Gefîhlsebene anspricht. In Bezug auf Livia geschah dies durch das negative Epitheton der noverca. 2) Durch die Wiedergabe von Gerîchten vermeidet Tacitus eine offene Anklage in eigener Person. Den Gerîchten wird dann jedoch besonderes Gewicht verliehen, indem sich der Historiker an spteren Stellen auf sie beruft, als wren sie verbîrgte Tatsachen. Diese Verfahrensweise lßt sich auch bei anderen bereits behandelten Mitteln der Leserlenkung beobachten, durch die eine direkte Parteinahme des Historikers verhindert wird, z. B. dort, wo eine Anklage als alternative Mçglichkeit vorgebracht wird.

1.4 Germanicus Der Gestalt des Germanicus gehçren im Ganzen gesehen die Sympathien des Tacitus. Als positive Kontrastfigur zu Tiberius dient sie dem Historiker als helle Folie, auf deren Hintergrund er das finstere Wesen des Kaisers um so deutlicher hervorheben kann. In dieser Funktion wird sie auch zu einem Mittel der Leserlenkung und sei daher im folgenden einer nheren Betrachtung unterzogen.265 Als Ausgangspunkt unserer Darle265 Es sei an dieser Stelle auf ein markantes Problem der taciteischen Germanicusfigur hingewiesen, das in der augenscheinlichen Inkonsistenz ihrer Charakterzeichnung gegeben ist (s. in neuerer Zeit Chr. Pelling: Tacitus and Germanicus, in: Tacitus and the Tacitean tradition, hrsgg. v. T. J. Luce u. A. J. Woodman, Princeton 1993, 59 – 85, hier 59 sowie ganz aktuell K. F. Williams: Tacitus’ Germanicus and the Principate, Latomus 68, 2009, 117 – 130, hier 117): Whrend Germanicus im ersten Buch der Annalen bei seinen Unternehmungen in Germanien (Befriedung der aufstndischen Rheinlegionen und seine anschließenden Feldzîge) oft schwach und inkompetent wirkt, wird er im zweiten Annalenbuch zunehmend mit heroisch-idealisierenden Zîgen ausgestattet, die nach dessen Tod den trauernden Menschen sogar Anlaß zu einem Vergleich mit Alexander dem Großen geben (ann. 2,73). Die ltere Tacitusforschung hat diese Inkonsistenz zu erklren versucht, indem sie auf den offensichtlichen Unterschied zwischen den historischen Fakten und der vordergrîndigen Darstellungsabsicht des Tacitus abhob. Demnach seien dem Historiker die tatschlich vorhandenen Unzulnglichkeiten seiner Lieblingsfigur zwar durchaus bewußt gewesen, doch habe er versucht, îberall dort, wo die Fakten gegen Germanicus sprachen, diesem

1.4 Germanicus

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gungen soll uns Kapitel ann. 1,33 dienen, da es fîr das von Tacitus aufgezeigte Verhltnis zwischen Germanicus und Tiberius von zentraler Bedeutung ist. ann. 1,33. Die erste ausfîhrliche Erwhnung des Germanicus in ann. 1,33 bietet dem Leser einen Einblick in dessen Herkunft und Charakter. Bereits hier versumt es Tacitus nicht, seine Lieblingsfigur einem direkten Vergleich mit dem Princeps zu unterziehen und dabei einen scharfen Gegensatz aufzuzeigen, der die bis dahin schon angeklungene Rivalitt zwischen Onkel und Neffen einem ersten Hçhepunkt entgegenfîhrt: Interea Germanico per Gallias, ut diximus, census accipienti excessisse Augustum adfertur. neptem eius Agrippinam in matrimonio pluresque ex ea liberos habebat, ipse Druso fratre Tiberii genitus, Augustae nepos, sed anxius occultis in se patrui aviaeque odiis, quorum causae acriores quia iniquae. quippe Drusi magna apud populum Romanum memoria, credebaturque, si rerum potius eine bestmçgliche Darstellung zukommen zu lassen (eine gewisse ˜bersicht îber die Hauptvertreter dieses Standpunktes bietet D. O. Ross: The Tacitean Germanicus, YClS 23, 1973, 209 – 227, hier 209 f.). Gegen dieses bis dahin gngige Verstndnis des taciteischen Germanicus hat sich wohl zuerst D. C. A. Shotter: Tacitus, Tiberius and Germanicus, Historia 17, 1968, 194 – 214 gewandt, und damit gleichsam eine Lawine der unterschiedlichsten Erklrungsmçglichkeiten fîr das inkonsistente Charakterbild ins Rollen gebracht, worauf hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann (s. hierzu L. Rutland: The Tacitean Germanicus. Suggestions for a Re-Evaluation, RhM 130, 1987, 153 – 164, hier 153 f. und Williams, 2009, 117 – 30, die jîngst die These vertreten hat, daß das widersprîchliche Germanicusbild bei Tacitus dem Historiker wesentlich dazu diene, die widersprîchliche und paradoxe Natur der Regierungsform des Prinzipats zu beleuchten, indem er Germanicus immer wieder als potentiellen Princeps in Erscheinung treten ließe). Als gemeinsamen Nenner der neueren Forschungen lßt sich das Ergebnis anfîhren, daß die Gestalt des taciteischen Germanicus nicht allein auf ihre Funktion als Kontrastfigur zu Tiberius beschrnkt werden darf, sondern vielmehr auf noch anderen Ebenen wirkt (vgl. bes. St. Borzsk: Zum Verstndnis der Darstellungskunst des Tacitus. Die Vernderungen des Germanicus-Bildes, AAntHung 18, 1970, 286 – 288; Ross, 1973, 227; Rutland, 1987, 154; Pelling, 1993, 78 – 81). Wichtig fîr unsere Zusammenhnge ist, daß sich trotz dieser neueren Erkenntnisse auch das traditionelle Bild der Germanicusfigur als Folie zu Tiberius weiterhin halten lßt. Es gilt zwar nicht mehr uneingeschrnkt, und der Kontrast zu Tiberius ist sicherlich weniger schwarz-weiß gemalt als man es frîher allgemein angenommen hat (so z. B. noch Daitz, 1960, 48: „The actions and personalities of Tiberius and Germanicus […] are continually being contrasted. […] The colors here are certainly jet black and pure white“), doch hat diese Sichtweise insgesamt immer noch ihre Berechtigung und sei deshalb in unsere Analyse als Mittel zur Leserlenkung aufgenommen.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

foret, libertatem redditurus; unde in Germanicum favor et spes eadem. nam iuveni civile ingenium, mira comitas et diversa a Tiberii sermone vultu, adrogantibus et obscuris. accedebant muliebres offensiones novercalibus Liviae in Agrippinam stimulis, atque ipsa Agrippina paulo commotior, nisi quod castitate et mariti amore quamvis indomitum animum in bonum vertebat (ann. 1,33).

Nach einleitenden Bemerkungen îber die Familie des Germanicus und deren vornehme Abkunft, kommt Tacitus direkt auf dessen Verhltnis zum Kaiserhaus zu sprechen: Er ist der Sohn des Kaiserbruders Drusus und der Enkel der Livia. Doch gleichzeitig ist er anxius, unruhig und bekîmmert, aufgrund der verborgenen Haßgefîhle seines Onkels und seiner Großmutter seiner Person gegenîber. Dieser adversative Nachtrag bringt fîr den Leser einen îberraschenden Umschwung von einer rein vordergrîndigen verwandtschaftlichen zu einer tiefschîrfenden psychologischen Sichtweise. Dabei ist zu beachten, daß die dabei von Tacitus gettigte Aussage ohne nhere Erluterung bleibt und wie eine allgemein bekannte Tatsache prsentiert wird:266 Tiberius und Livia empfinden dem Germanicus gegenîber verborgenen Haß. Wenn der Historiker nun jedoch fortfhrt, indem er die Grînde fîr die occulta odia des Kaisers und seiner Mutter ihrem Verwandten gegenîber fîr ungerecht und daher fîr um so krnkender erklrt (quorum causae acriores quia iniquae), und allein diese Aussage mit einem Hinweis auf den lngst verstorbenen Drusus begrîndet,267 so setzt er damit stillschweigend die genaue Kenntnis der von ihm an dieser Stelle nicht genannten Ursachen fîr die verborgenen Haßgefîhle bei seiner Leserschaft voraus. Den einzigen Grund aber, den diese bisher fîr eine solch tiefe Abneigung auszumachen weiß, besteht nun in der am Kaiserhof gehegten Befîrchtung, Germanicus wolle womçglich die Herrschaft îbernehmen. Denn ausschließlich in diesem Zusammenhang ist die Gestalt des Prinzen bis dahin erwhnt worden.268 Betrachten wir den eben flîchtig gestreiften Hinweis des Tacitus auf die Beliebtheit des Drusus nun etwas genauer, so offenbart sich darin der eigentliche Trick des Historikers. In raffinierter Weise hat er nmlich das Motiv fîr das mißtrauische Verhalten der Livia und des 266 Vgl. Koestermann ad loc.: „Tacitus hat es verschmht, auf die Vorgeschichte einzugehen, die das gespannte Verhltnis erst verstndlich macht. Er erwhnt nicht einmal, daß Germanicus seit Beginn des illyrischen Aufstandes und hernach in Germanien mit seinem Adoptivvater zusammen im Felde gestanden hatte. Seine Aussage hngt unter diesen Umstnden sachlich in der Luft.“ 267 Als Bindeglied dient dabei erneut ein nachdrîcklich begrîndendes quippe (vgl. S. 71 mit Anm. 231); zum Inhalt vgl. Krohn, 1934, 59. 268 S. ann. 1,3,5; 1,7,6; 1,31,1; vgl. die Ausfîhrungen S. 78 f.

1.4 Germanicus

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Tiberius, nmlich die Angst um ihre Machtstellung, das in der Meinung des Lesers eigentlich dem Germanicus gelten sollte, auf dessen Vater Drusus bezogen: Dessen Andenken habe demnach beim Volk in großem Ansehen gestanden, und man habe von ihm geglaubt (credebatur),269 daß dieser die Freiheit zurîckgebracht htte, wenn er nur zur Herrschaft gelangt wre. Dieselbe Zuneigung und Hoffnung sei schließlich auf dessen Sohn Germanicus îbertragen worden.270 Wie wir bereits festgestellt haben, dient dieser Hinweis als Begrîndung fîr die Aussage, der Haß des Princeps und seiner Mutter sei ungerecht gewesen. Denn was konnte Germanicus dafîr, wenn das Volk ihn mit seinem Vater gleichsetzte? Doch wohl offenbar nichts, so die unmittelbare Antwort des Lesers. Damit ist der junge Prinz von der Last vermeintlicher Umsturzplne befreit, erscheint jedoch im Bewußtsein des um die wahren Hintergrînde wissenden Lesers an dieser Stelle erneut als potentieller Herrscher und damit als Bedrohung fîr die Regentschaft seines eifersîchtigen Onkels. Die aufsteigende Linie, in der dieser Gedanke bisher entwickelt wurde, ist schließlich nicht zu verkennen (vgl. ann. 1,3; 7; 31). Doch welchen Zweck hat der Historiker hiermit verfolgt? Germanicus soll zum einen als tatschlich gegebene Bedrohung fîr die Regentschaft des Tiberius weiterhin im Gedchtnis des Lesers prsent bleiben. Mit dem deutlichen Hinweis auf die ungerechtfertigten Grînde aber, die hinter 269 Erneut beruft sich der Historiker in seinem Bericht auf den Glauben und die Hoffnungen der Allgemeinheit (credebatur). Seine Aussagen sind daher nicht nur schwer nachprîfbar, sondern erscheinen auch ußerst objektiv, da sie die eigene Anschauung des Historikers in den Hintergrund treten lassen (vgl. ann. 1,31,1, wo der Gedanke an eine Herrschaftsîbernahme durch Germanicus als angebliche Hoffnung der Soldaten geußert wird). Der Rîckgriff auf den vermeintlichen ‘consensus omnium’, auf die çffentlich anerkannte Meinung zur Bekrftigung und Tarnung einer vorgebrachten Aussage ist uns bereits an anderen Stellen begegnet (vgl. bes. S. 53 f. zu ann. 3,2,3; S. 60 zu ann. 3,64,1; Anm. 201) und kann hier als Mittel der Leserlenkung noch einmal deutlich festgehalten werden. 270 Krohn 1934, 76 stellt bei seiner Interpretation des Kapitels ann. 1,33 den favor populi des Germanicus als Ursache fîr den verborgenen Groll des Tiberius und der Livia in den Vordergrund und sieht dabei einen allmhlichen ˜bergang von der formido in die invidia des Kaisers vollzogen. Dabei mißt er jedoch der Aussage îber die in Drusus gelegte Hoffnung des Volkes auf eine Wiederherstellung der Freiheit m. E. zu wenig Gewicht bei. Es geht nicht nur um die Beliebtheit des Drusus bzw. des Germanicus, sondern auch um die fîr Tiberius daraus erwachsende Bedrohung seiner Macht. So lçst die invidia die formido nicht ab, sondern kommt als neuer Aspekt hinzu; vgl. Develin, 1983, 76 (zu ann. 1,33): „Tacitus surely did not believe that Germanicus would bring back liberty, but that is suggestive and suits the role he wants Germanicus to play.“

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1. Stereotype Charakterdarstellung

dem latenten Haß des Princeps und seiner Mutter stecken, mçchte Tacitus zum anderen deutlich zu verstehen geben, daß der junge Prinz trotz seiner starken Position keinerlei Ansprîche auf den Kaisertitel erhoben habe. Damit wird nun dessen Gestalt zu einem unschuldigen Opfer der geheimen Intrigen am Kaiserhof stilisiert. Germanicus konnte zwar ohne weiteres die Macht ergreifen, wollte sie aber nicht. Diese Darstellungsabsicht des Tacitus lßt sich auch am Anfang des folgenden Kapitels deutlich festmachen: Sed Germanicus quanto summae spei propior, tanto impensius pro Tiberio niti (ann. 1,34,1).271 Das gehssige Mißtrauen seines Onkels und seiner Großmutter machen ihn zu einem tragischen Helden, dessen Schicksal sich von nun an auf genau dem Boden zu entfalten beginnt, der hierfîr sorgfltig vorbereitet ist. Damit kommt dem Kapitel ann. 1,33 im Bericht des Tacitus eine zentrale Aufgabe zu. Zum ersten Mal wird hier darauf hingewiesen, daß die am Kaiserhof herrschende Eifersucht gegen Germanicus in der Sache unbegrîndet war. Nun muß Tacitus jedoch noch erklren, warum es denn îberhaupt dazu kam, daß das Volk in Germanicus einen zweiten Drusus und damit eine hoffnungsvolle Alternative zum Prinzipat des Tiberius sah. Dafîr 271 Vgl. Koestermann ad loc.: „Zum zweiten Mal innerhalb diese Abschnittes (vgl. cap. 31,1) greift Tacitus damit zurîck auf die Mçglichkeiten fîr Germanicus angesichts der gegenwrtigen Konstellation. Das strikt loyale Verhalten des Prinzen hebt sich nunmehr um so glnzender von dem cap. 33 gezeichneten dunklen Hintergrunde ab.“ Es sei vermerkt, daß der Ausdruck summae spei proprior keineswegs die subjektive Hoffnung des Germanicus und damit eventuelle Herrschaftsgelîste des Prinzen bezeichnet (‘seiner grçßten Hoffnung’ îbersetzt Heller, 1997, 57 m. E. unzutreffend), sondern die objektive und allgemeine Aussicht auf den Thron, die sich mit der starken Position des Germanicus verbindet. Diese Auffassung lßt sich durch einen Vergleich mit ann. 1,35,3 f. stîtzen, wo die meuternden Truppen dem Germanicus fîr den Fall, daß dieser die Herrschaft erringen wolle, ihre Hilfe anbieten, der Prinz jedoch auf dieses Angebot mit tiefer Bestîrzung reagiert und sich selbst unter Drohungen der Soldaten nicht zu einem Umsturz hinreißen lßt, ja lieber sogar sterben mçchte als dem Princeps die Treue zu brechen: tum vero, quasi scelere contaminaretur, praeceps tribunali desiluit (sc. Germanicus). opposuerunt abeunti arma, minitantes, ni regrederetur. at ille moriturum potius quam fidem exueret clamitans ferrum a latere diripuit elatumque deferebat in pectus, ni proximi prensam dextram vi attinuissent (ann. 1,35,4). Die im Anschluß vorgetragene Verhçhnung des Prinzen durch einen Soldaten namens Calusidius (ann. 1,35,5: et miles nomine Calusidius strictum obtulit gladium, addito acutiorem esse) gehçrt dagegen zu den peinlichen Auftritten des Germanicus, die sein Charakterportrt im Vergleich zur spteren Darstellung im zweiten Annalenbuch so inkonsistent erscheinen lassen (vgl. Anm. 265).

1.4 Germanicus

85

verweist er auf den Charakter des Prinzen, sein civile ingenium und seine mira comitas, und es ist nun vor dem Hintergrund der eben herausgearbeiteten Darstellungsabsicht des Historikers nur allzu verstndlich, wenn er diese Eigenschaften bewußt von der in Redeweise und Gesichtsausdruck des Kaisers vorherrschenden adrogantia und obscuritas absetzt. Doch Tacitus lßt es nicht bei einem Vergleich zwischen Germanicus und Tiberius bewenden, sondern fîgt im weiteren Verlauf seiner Darstellung einen Hinweis auf angebliche Spannungen zwischen Livia und Agrippina an, die hnlich unmotiviert als Tatsache festgestellt werden wie die zu Beginn des Kapitels erwhnten occulta odia. Dabei greift er durch die Wendung novercalibus Liviae in Agrippinam stimulis erneut auf das eindrucksvolle Bild der mißgînstigen Stiefmutter zurîck,272 das nicht nur dem vermeintlichen Wahrheitsgehalt der ganzen Aussage ein besonderes Gewicht verleiht, sondern auch gezielt an die unheilvolle Rolle der Livia bei der Herrschaftsîbernahme ihres Sohnes erinnert. Der Leser versteht diese Anspielung sofort und verknîpft den Gedanken der intriganten noverca îber die Gestalt der Agrippina unwillkîrlich mit dem Schicksal des Germanicus, ohne daß hierfîr eine deutlichere Sprache vonnçten ist. Das Kapitel ist somit in zweifacher Hinsicht wirkungsvoll zum Abschluß gelangt: Einerseits sind die eingangs erwhnten Ressentiments des Kaiserhauses gegen die Person des Germanicus nun auch auf dessen Frau Agrippina ausgeweitet worden. Andererseits hat Tacitus den oben herausgearbeiteten Gesamteindruck, den er dem Leser vermitteln mçchte, noch einmal unterstrichen. Der zuletzt erfolgte Hinweis auf das etwas zu leidenschaftliche Temperament der Agrippina, das sie aber durch Sittenreinheit und Gattenliebe zum Guten gekehrt habe, enthlt mçglicherweise einen zustzlichen Seitenhieb auf die Person der Livia, die ja ihren Ehegatten noch auf dem Sterbebett vergiftet haben soll (ann. 1,5). Betrachten wir abschließend noch einmal die in ann. 1,33 zugrunde gelegte Gedankenfîhrung, so erkennen wir rasch, daß Tacitus zu Beginn dieses Kapitels die Familienverhltnisse des Germanicus dem Leser vor allem deshalb so sorgfltig vor Augen gefîhrt hat, weil er sie im folgenden 272 Wie in ann. 1,3,3 in Bezug auf die Caesaren Lucius und Gaius (s. S. 75), so ist auch hier das Bild der noverca im eigentlichen Sinne nicht gerechtfertigt und nur um seiner suggestiven Kraft willen eingefîhrt worden; vgl. Barrett, 2001, 173 (zu ann. 1,33,3): „This is probably the best illustration of the cynical exploitation of the concept, since the relationship here was not simply strained but absurd. Livia was the stepmother of Agrippina’s m o t h e r Julia“; vgl. Koestermann ad loc.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

psychologisch ausdeuten wollte.273 Ausfîhrlich stellt er die Angehçrigen des jungen Prinzen vor und nennt dabei alle Personen, die fîr seine weitere Darstellung noch von erheblicher Bedeutung sein werden, mit Namen: Agrippina, Drusus, Tiberius und Livia. In seinem weiteren Bericht kommt es dem Schriftsteller dann in besonderer Weise auf den scharfen Kontrast zwischen dem dîsteren Charakter des Kaisers und der leutseligen Natur seines Neffen an, der zunchst indirekt durch die Person des Drusus und schließlich auch direkt durch einen unmittelbaren Vergleich der beiden unterschiedlichen Charaktere zum Ausdruck gebracht wird. Wie wir gesehen haben, stellt Tacitus bei der ersten ausfîhrlichen Erwhnung des Germanicus in ann. 1,33 dessen civile ingenium und mira comitas in direkten Gegensatz zu der adrogantia und obscuritas des Tiberius und gibt damit klar zu erkennen, auf welchen Charaktereigenschaften er den Kontrast zwischen den beiden Personendarstellungen nunmehr aufbauen mçchte. Wenn er am Ende der ‘Germanicusgeschichte’ in ann. 2,72 vom Tod des Prinzen berichtet und seiner tragischen Heldengestalt eine abschließende Charakterisierung zuteil werden lßt (ann. 2,72 f.), wird dies im Rîckblick besttigt: indoluere exterae nationes regesque: tanta illi (sc. Germanico) comitas in socios, mansuetudo in hostes; visuque et auditu iuxta venerabilis, cum magnitudinem et gravitatem summae fortunae retineret, invidiam et adrogantiam effugerat (ann. 2,72,2).

Tiberius wird hier zwar nicht namentlich genannt, doch ist die Spitze gegen ihn in den letzten Worten dieses Kapitels mehr als deutlich zu vernehmen.274 Der hervorstechende Charakterzug, den Tacitus an seiner Germanicusfigur hervorheben mçchte, ist demnach die comitas,275 die sich in weiteren Eigenschaften wie der clementia276 oder der mansuetudo in hostes277 ußert. Daneben tritt das civile in273 Vgl. Koestermann ad ann. 1,33,1; Kohl, 1959, 64: „Bei einigen weiteren Fllen vollends ist durch Appositionen oder appositionelle Adjektive und Partizipien die Charakteristik von Personen oder die Ausmalung einer Situation ziemlich breit ausgefîhrt, whrend der eigentliche Satz entweder nur Stîtze dafîr ist oder doch nur ganz allgemein in die Situation einfîhrt.“ (Als ein Beispiel hierfîr ist a.a.O. unsere Annalenstelle gegeben). 274 Vgl. Koestermann ad ann. 2,72,2. 275 Vgl. die zustzlichen Belege dieser Eigenschaft in ann. 1,71,3; 2,13,1; 2,55,1. 276 Vgl. ann. 1,58,5; 2,57,2; 2,73,3. 277 Vgl. hierzu Koestermann ad ann. 2,72,2: „Die mansuetudo hielt ihn [sc. Germanicus] freilich nicht davon ab, gegen die Germanen mit brutaler Gewalt

1.4 Germanicus

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genium. 278 Man merkt rasch, daß Germanicus mit genau den Eigenschaften ausgestattet wird, die im Charakterportrt des Tiberius gnzlich fehlen.279 Friedrich Krohn hat in seiner Analyse der taciteischen Personendarstellungen nun jedoch zurecht darauf hingewiesen, daß „das Wesentliche des Verhltnisses Tiberius–Germanicus nicht in dieser Hinsicht zu suchen sei.“280 Sicherlich dient dem Historiker die bewußte Zuweisung gegenstzlicher Eigenschaftsbezeichnungen als Kontrastmittel, das den dunklen Charakter des Tiberius um so deutlicher in Erscheinung treten lßt. Vielmehr aber kommt es Tacitus darauf an, aus diesen gegenstzlich gezeichneten Persçnlichkeiten die eigentliche Handlungsstruktur seiner weiteren Darstellung in den ersten beiden Annalenbîchern zu gewinnen. Daher sollen nun ausgehend von ann. 1,33 exemplarisch einzelne Stellen analysiert, werden, die das gespannte Verhltnis des Kaisers zu seinem Neffen nher beleuchten. Die dabei gewonnenen Ergebnisse sind wesentlich fîr die in einem spteren Kapitel dieser Arbeit noch anzustellende Untersuchung zur Geschichte des Germanicus und seien hier aufgrund des engen Zusammenhanges, der in der Funktion des Charakterportrts als Kontrastfolie gegeben ist, bereits vorweggenommen. Daß der Kaiser in der Darstellung des Tacitus seinen Neffen insgeheim haßte und mit Neid verfolgte, dieser sich jedoch trotz seiner starken Position strikt loyal zeigte, haben wir bereits feststellen kçnnen. Dieser unbegrîndete Haß ist eine grundlegende Konstante, die sich wie ein roter Faden durch die spteren Aussagen weiterverfolgen lßt.

vorzugehen (vgl. 1,51,1. 60,3. 2,8,4). Aber die Erinnerung an die Greuel der Varusschlacht (1,61,3 f.) macht diese Haltung, wenn nicht verzeihlich, so doch verstndlich.“ 278 Diese Charaktereigenschaft ußert sich meistens in der Handlungsweise des Germanicus, vgl. etwa ann. 2,53,2 (Besuch der Buchten bei Aktium im Gedenken an seine Vorfahren) oder ann. 2,59,1 (§ffnung der Kornspeicher in øgypten und Senkung der Getreidepreise). Ausdrîcklich zugesprochen wird ihm das civile ingenium (neben ann. 1,33,2) noch in ann. 2,82,2. 279 Vgl. Goodyear ad ann. 1,33,2: „In Ann. 1 – 2 T[acitus] sets off Germanicus against Tiberius. One way in which he does so is by depicting Germanicus as endowed with precisely those desirable qualities which Tiberius lacks, or which, if they sometimes appear to be manifested in Tiberius’ conduct, he will, if he can, depreciate and explain away“; vgl. Krohn, 1934, 55 – 58. 280 Krohn, 1934, 58.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

ann. 1,52.281 In ann. 1,52 wird die Reaktion des Tiberius auf die von Germanicus durch einen ersten Feldzug in Germanien glîcklich beendete Meuterei der rheinischen Legionen geschildert: Nuntiata ea Tiberium laetitia curaque adfecere: gaudebat oppressam seditionem, sed quod largiendis pecuniis et missione festinata favorem militum quaesivisset, bellica quoque Germanici gloria angebatur. rettulit tamen ad senatum de rebus gestis multaque de virtute eius memoravit, magis in speciem verbis adornata quam ut penitus sentire crederetur. paucioribus Drusum et finem Illyrici motus laudavit, sed intentior et fida oratione (ann. 1,52,1 – 3).

Tiberius reagiert auf die Vorgnge in Germanien mit gemischten Gefîhlen. Tacitus hat dies durch die Antithese laetitia curaque auf eine einprgsame Formel gebracht, die wie eine Art ˜berschrift am Anfang des Kapitels steht. Einerseits ist der Kaiser natîrlich froh darîber, daß die Militrrevolte unterdrîckt werden konnte. Andererseits aber ist er auch besorgt. Denn er befîrchtet, Germanicus habe durch die Zugestndnisse, die er den Soldaten im Zusammenhang mit ihrer Erhebung gemacht hatte, deren Gunst erworben. Zugleich beklemmt ihn der Kriegsruhm des Germanicus. Das Verhalten des Kaisers gegenîber den Taten seines Neffen ist geprgt von Mißtrauen und Neid.282 Er hat Angst vor der Machtstellung des Germanicus, die ihm aus seiner Beliebtheit beim Heer und seinen militrischen Erfolgen erwachsen kçnnte. Durch die konjunktivische Verbform quaesivisset ist diese Besorgnis des Princeps jedoch eindeutig als rein subjektives Empfinden gekennzeichnet.283 Trotz seiner ambivalenten Haltung erstattet der Kaiser vor dem Senat Bericht îber die Taten seines Neffen.284 Und sofort wird er von Tacitus dabei als Heuchler gebrandmarkt: Tiberius habe viele Dinge îber die Tîchtigkeit des jungen Prinzen erwhnt, die jedoch mehr nach außen hin mit Worten ausgeschmîckt waren, als daß man glauben konnte, der Kaiser fîhle in seinem Innersten so. Dieser Rede des Princeps stellt Tacitus dann dessen Aussagen îber die Erfolge des Drusus in Illyrien entgegen. Hierîber habe Tiberius weniger Worte verloren, die dafîr aber um so aufrichtiger erschienen seien.285 Das hier betonte heuchlerische Verhalten des Kaisers 281 S. hierzu insbes. Rauch, 1970, 32 – 38 (mit eingehender stilistischer Analyse des Kapitels). 282 Vgl. Krohn, 1934, 61 (zu ann. 1,52); Rauch, 1970, 34. 283 S. Rauch, 1970, 34. 284 Das tamen betont dabei deutlich das ˜bergewicht der cura, s. Rauch, 1970, 35. 285 Vgl. Krohn, 1934, 62 (zu ann. 1,52): „Das Lob des Germanicus ist ausfîhrlich (multa) und sozusagen gerade deshalb nicht ernst zu nehmen. Das Lob des

1.4 Germanicus

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unterstreicht den Eindruck, Tiberius habe seinen Neffen beneidet und insgeheim gehaßt. ann. 1,62. Als Germanicus bei seinem zweiten Germanienfeldzug die Sttte der Varusschlacht aufsucht und dabei die noch vorhandenen ˜berreste der Gefallenen bestattet, bringt ihm das die Kritik seines Onkels ein, fîr die Tacitus in der fîr ihn typischen Manier mehrere Grînde zur Wahl stellt: quod Tiberio haud probatum, seu cuncta Germanici in deterius trahenti, sive exercitum imagine caesorum insepultorumque tardatum ad proelia et formidolosiorem hostium credebat; neque imperatorem auguratu et vetustissimis caerimoniis praeditum adtrectare feralia debuisse (ann. 1,62,2).

Es ist an dieser Stelle nicht leicht zu erkennen, welchem der insgesamt drei286 genannten Grînde der Historiker den Vorzug einrumt. Der erste mag fîr den Leser am besten zu der bisherigen Darstellung des Tacitus passen, unterstreicht er doch eindrucksvoll das generelle Mißtrauen und den Neid des Kaisers gegenîber seinem Neffen.287 Etwas befremdend ist jedoch, daß er an erster Stelle genannt wird und im Vergleich zu der zweiten und dritten Erklrungsmçglichkeit relativ kurz dargeboten wird. Welche Rolle bei solchen Motivsuchen Position und Lnge der jeweils zur Wahl gestellten Deutungsmçglichkeiten spielen, haben wir ja bereits in anderen Zusammenhngen deutlich sehen kçnnen. Whrend also inhaltlich der zuerst genannte Grund dem Leser am willkommensten erscheint, sprechen die rein formalen Kriterien gegen die Vermutung, daß Tacitus diesen tatschlich auch bevorzugt. Hinzu kommt, daß auch das zweite dargebotene Motiv fîr die Mißbilligung des Kaisers einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad fîr sich beanspruchen kann. Die Befîrchtung, das Heer kçnne durch den schaurigen Anblick des Schlachtfeldes in lhmende Furcht vor dem Feind geraten, ist nicht von der Hand zu weisen. Der dritte Grund schließlich, der durch ein weiterfîhrendes neque eng an den zweiten angeknîpft wird, fîhrt sakrale Bedenken des Drusus ußerlich geringer und gerade deshalb echt“; vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 71. 286 Obwohl das mit neque eingeleitete Kolon noch syntaktisch von dem vorhergehenden ‘sive-Satz’ abhngig ist und damit formal noch zur zweiten Alternative gehçrt, sei es hier aufgrund seines neuartigen inhaltlichen Aspekts als ein eigenstndiger dritter Grund betrachtet. ˜berhaupt scheint es auffllig ‘nachzuklappen’. 287 Vgl. Krohn, 1934, 62 (zu ann. 1,62): „Unausgesprochen liegt eine invidia vor.“

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Kaisers gegen die von Germanicus vorgenommene Leichenbestattung an und verdient besondere Beachtung. Durch seine Position an letzter Stelle wird er deutlich betont. Wenn wir ihn jedoch in seinem Aussagegehalt îberprîfen, so kçnnen wir feststellen, daß der hierin zum Ausdruck gebrachte Vorwurf des Tiberius aus zwei Grînden nicht gerechtfertigt war: Erstens gehçrte die Bestattung der Gefallenen zu den selbstverstndlichen Pflichten eines jeden Feldherrn. Zweitens hatte Germanicus die Leichen nicht berîhrt und sich somit als Augur nicht verunreinigt.288 Die zuletzt vorgetragene Anfeindung war demnach ungerecht. Und gerade diese ungerechte Behandlung des jungen Prinzen durch seinen Onkel muß den Leser nun aufhorchen lassen, war sie doch in ann. 1,31 von zentraler Bedeutung gewesen. Setzt man voraus, daß der Leser die Ungerechtigkeit der religiçsen Vorbehalte des Kaisers erkennt und sie damit als einen Vorwand entlarvt, so verstrkt die zuletzt vorgebrachte Deutungsmçglichkeit in gewisser Weise die zuerst genannte, wonach Tiberius alles, was sein Neffe tat, îbel auszulegen pflegte. Man kann daher m. E. mit Recht vermuten, daß Tacitus eben doch dem erstgenannten Motiv einen gewissen Vorzug einrumt.289 Trifft diese Vermutung zu, so haben wir es hier mit einer besonderen Form der von Tacitus im Rahmen der Leserlenkung immer wieder eingesetzten Motivsuche zu tun. Er gibt drei Grînde, von denen der letzte den ersten auf subtile Weise rîckwirkend besttigt. Die formalen Schwierigkeiten, die sich dem Leser einer Entscheidung fîr die inhaltlich verlockende erste Alternative in den Weg stellen, sind unter diesen Gesichtspunkten jedenfalls ausgerumt. Doch selbst wenn Tacitus dem ersten Motiv nicht den Vorzug geben mçchte, so hat er durch dessen Erwhnung zumindest erneut an das argwçhnische Verhalten des Princeps erinnert, das fîr die Darstellungsabsicht des Historikers von grundlegender Bedeutung ist. 288 Vgl. Koestermann ad loc. 289 Vgl. Whitehead, 1979, 482: „Tacitus might well have wished to believe, and wished us to believe, the first explanation, but in fact he gives full weight […] to the religious scruples.“ Wie Koestermann ad loc., so weist auch Whitehead a.a.O. darauf hin, daß Tacitus als gewissenhafter Quindecemvir ein breiteres Verstndnis fîr solch sakrale Bedenken besessen habe. Doch muß man unbedingt biographische Einzelheiten des Historikers bemîhen, um die Angabe der dritten Deutungsmçglichkeit zu rechtfertigen? Legt man unsere Ergebnisse zugrunde, so lßt sie sich auch unmittelbar aus der Darstellungsabsicht des Tacitus heraus begrînden. Die Tatsache, daß ihr das volle Gewicht zukommt, ist vor dem Hintergrund unserer Beobachtungen ebenfalls einleuchtend: Sie verstrkt abschließend das zuerst genannte Motiv und sorgt dafîr, daß dieses auf gewisse Weise doch das letzte Wort behlt.

1.4 Germanicus

91

ann. 2,5. Zu Beginn des zweiten Annalenbuches berichtet Tacitus von den im Jahr 16 n. Chr. ausgebrochenen Thronwirren im Partherreich und in Armenien (ann. 2,1 – 4). Im fînften Kapitel schwenkt sein Blick zurîck auf die Verhltnisse in Rom: Ceterum Tiberio haud ingratum accidit turbari res Orientis, ut ea specie Germanicum suetis legionibus abstraheret novisque provinciis impositum dolo simul et casibus obiectaret. at ille, quanto acriora in eum studia militum et aversa patrui voluntas, celerandae victoriae intentior, tractare proeliorum vias et quae sibi tertium iam annum belligeranti saeva vel prospera evenissent (ann. 2,5,1 f.).

Der Text spricht eine deutliche Sprache, die kaum einer weiteren Erluterung bedarf.290 Alle in ann. 1,33 betonten Aspekte der latenten Feindschaft des Tiberius gegenîber Germanicus finden sich hier in kurzer Folge vereint: Die Heuchelei (ea specie) des Princeps, mit der dieser den Haß auf seinen Neffen zu verbergen weiß, die starke Position des Germanicus bei seinen Legionen (suetis legionibus / acriora … studia militum) als Grund fîr das Mißtrauen des Onkels (aversa patrui voluntas) und schließlich das gegenstzliche Verhalten des Prinzen (at ille), der auch hier seine zunehmende Beliebtheit beim Heer nicht etwa gegen die bestehende Staatsordnung, sondern vielmehr fîr einen siegreichen dritten Germanienfeldzug ausnutzen mçchte, obwohl er um die gegen ihn gerichtete Abneigung des Princeps allzu gut weiß. Das in ann. 2,5,1 beschriebene rnkevolle Verhalten des Tiberius findet sich spter in ann. 2,42,1 wiederholt: … amoliri iuvenem specie honoris statuit struxitque causas aut forte oblatas arripuit. ann. 2,26. Noch im selben Jahr wird Germanicus schließlich von seinem Oberbefehl in Germanien abberufen – und dies, obwohl man nicht daran zweifelte, daß der Widerstand der Feinde gebrochen und der Krieg zu Ende gebracht werden kçnne, wenn man noch einen Sommer hierfîr aufwenden wîrde. Doch der Kaiser beharrt auf der Rîckkehr seines Neffen: nec dubium habebatur labare hostes … et, si proxima aestas adiceretur, posse bellum patrari. sed crebris epistulis Tiberius monebat, rediret ad decretum triumphum (ann. 2,26,1 f.). Die ˜berzeugung, daß im nchsten Jahr die Feldzîge in Germanien siegreich beendet werden 290 „Es kommt uns nach dem Vorangegangenen fast selbstverstndlich vor, daß nach Tacitus’ Meinung die Unruhen im Orient nur einen Vorwand bedeuteten, hinter dem Tiberius seine wahren Grînde verbirgt“ meint Krohn, 1934, 63 (zu ann. 2,5) zu Recht.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

kçnnten, wird von Tacitus erneut in die Form einer allgemeingîltigen und objektiv richtigen Feststellung gegossen, und der Leser tritt dieser Ansicht nach den in ann. 2,5 erzeugten Eindrîcken nur allzu gern bei. Die Ereignisse in Germanien werden dann bewußt von dem Verhalten des Tiberius abgesetzt (sed … Tiberius; vgl. ann. 2,5,2: at ille in Bezug auf Germanicus!), der seinen Neffen durch wiederholte Schreiben dazu ermahnt, er solle zu dem ihm bewilligten Triumph nach Rom zurîckkehren. Der Verweis auf die beschlossene Siegesfeier erinnert an das heuchlerische Verhalten des Princeps in ann. 1,52,2, das dort in seiner unaufrichtig anmutenden Belobigung des Prinzen zum Ausdruck kommt. øußere Ehrenbezeugungen, die der Princeps dem jungen Feldherrn gewhrt, dienen demnach nur zur ußeren Tarnung des im innersten empfundenen Hasses. Daher erscheinen auch die von Tiberius nun gegen eine Fortsetzung des Germanienfeldzuges erhobenen Einwnde (ann. 2,26,2 f.) – so begrîndet sie in der Sache auch sein mçgen291 – letzten Endes doch nur als bloße Finte. Wenn Germanicus dann seinen Onkel bittet, ihm noch ein Jahr zur Beendigung des begonnenen Krieges in Germanien zu gewhren, dieser ihn aber um so nachdrîcklicher an seine gebotene Bescheidenheit erinnert und ihm einen zweiten Konsulat in Aussicht stellt, wird dieser Eindruck nur noch verstrkt: precante Germanico annum efficiendis coeptis, acrius modestiam eius adgreditur (sc. Tiberius) alterum consulatum offerendo, cuius munia praesens obiret (ann. 2,26,4). Das angebotene Ehrenamt wirkt fîr den Leser jetzt wie ein Kçder, den der Princeps fîr seinen Neffen auslegt, um ihn von seinen Legionen zu trennen (vgl. ann. 2,5,1) und in Rom besser kontrollieren zu kçnnen. Nicht ohne Grund wird daher der kaiserliche Wunsch nach einer persçnlichen Ausîbung des Amtes, die Germanicus an die Hauptstadt des Reiches binden soll, von Tacitus deutlich hervorgehoben (cuius munia praesens obiret). Durch den Appell an die modestia des Prinzen îbt der Kaiser zustzlich einen moralischen Druck aus, den er anschließend durch einen Hinweis auf eine scheinbare Benachteiligung des Drusus drastisch erhçht: simul adnectebat (sc. Tiberius), si foret adhuc bellandum, relinqueret materiem Drusi fratris gloriae, qui nullo tum alio hoste non nisi apud Germanias adsequi nomen imperatorium et deportare lauream posset (ann. 2,26,4). Wenn denn noch Krieg in Germanien zu fîhren sei, so solle Germanicus diese Angelegenheit doch lieber seinem Bruder îber291 Koestermann ad loc. spricht von einer „fairen“ Wiedergabe der Argumente des Kaisers durch Tacitus, „obwohl er von ihrer Durchschlagskraft keineswegs îberzeugt war.“

1.4 Germanicus

93

lassen, der nur noch dort den Imperatortitel erreichen und zu Ruhm und Ehre gelangen kçnne.292 Dabei verwickelt sich der Kaiser nun in einen Widerspruch: Ist ein weiterer Feldzug in Germanien nun erforderlich oder nicht? Whrend er dem Germanicus in diesem Zusammenhang noch vorgehalten hatte, es habe bereits genug der Erfolge und genug auch der Rîckschlge gegeben (ann. 2,26,2: satis iam eventuum, satis casuum), so scheint er sich in Bezug auf seinen leiblichen Sohn dieser Aussagen nicht mehr ganz so sicher zu sein. Diese widersprîchliche Sichtweise entlarvt schließlich auch das mit dem Fingerzeig auf Drusus gegebene gerechte Gebaren des Princeps als reine Heuchelei.293 Das Kapitel endet mit einem Satz, der ein weiteres Mal das fîgsame Verhalten des Germanicus zum Ausdruck bringt und dabei wie eine Zusammenfassung die wahren Motive seines Onkels deutlich benennt: haud cunctatus est ultra Germanicus, quamquam fingi ea seque per invidiam parto iam decori abstrahi intellegeret (ann. 2,26,5). Obwohl Germanicus den Kaiser durchschaut, zçgert er dennoch nicht, sich dessen Anordnungen zu fîgen. Ausdrîcklich wird die invidia erwhnt, wobei es Tacitus dem Leser îberlßt, den Namen des Tiberius hinzuzudenken. Der Neid des Kaisers ist in den Augen des Prinzen (und des Lesers!) der eigentliche Grund fîr seine Abberufung.294 ann. 2,59. Im Zusammenhang mit seiner Orientmission besucht Germanicus die unmittelbar dem Kaiser unterstellte Provinz øgypten und erregt damit heftigen Anstoß bei Tiberius: M. Silano L. Norbano consulibus Germanicus Aegyptum proficiscitur cognoscendae antiquitatis. sed cura provinciae praetendebatur, levavitque apertis horreis pretia frugum multaque in vulgus grata usurpavit: sine milite incedere, pedibus intectis et pari cum Graecis amictu, P. Scipionis aemulatione, quem eadem factitavisse apud Siciliam quamvis flagrante adhuc Poenorum bello accepimus. Tiberius cultu habituque eius lenibus verbis perstricto accerrime increpuit, quod contra instituta Augusti non sponte principis Alexandriam introisset. nam Augustus inter alia dominationis arcana, vetitis nisi permissu ingredi senatoribus aut equitibus Romanis inlustribus, seposuit Aegyptum, ne fame 292 Vgl. Koestermann ad loc.: „Der Hinweis auf Drusus, zu dem Germanicus ein gutes Verhltnis hatte (vgl. cap. 43,6), erfolgte, um Germanicus auch von der menschlichen Seite zu beeindrucken“; vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 73. 293 Vgl. Koestermann ad loc.: „Mit dem Gedanken, Drusus als Befehlshaber an die Rheinfront zu entsenden, hat sich der Kaiser gewiß niemals getragen. Und ‘Ruhm’ htte jener auch ernten kçnnen, wenn er mit der Mission im Orient betraut wurde.“ 294 Vgl. Krohn, 1934, 64 (zu ann. 2,26).

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1. Stereotype Charakterdarstellung

urgeret Italiam, quisquis eam provinciam claustraque terrae ac maris quamvis levi praesidio adversum ingentes exercitus insedisset (ann. 2,59).

Germanicus war dem Bericht des Tacitus zufolge nach øgypten gereist, um dort die Altertîmer des Landes kennenzulernen. Dieses eigentliche Interesse habe er jedoch hinter dem Vorwand versteckt, er wolle sich um die Provinzen kîmmern, wobei er in die Getreideversorgung eingegriffen und durch sein ungezwungenes Auftreten in der Bevçlkerung viel Wohlwollen erworben habe. Der Stein des Anstoßes sei fîr den Kaiser nun nicht etwa das populre Verhalten seines Neffen gewesen, sondern die Mißachtung einer noch von Augustus erlassenen Verordnung, nach der kein Senator oder angesehener rçmischer Ritter ohne besondere Erlaubnis des Kaisers die Provinz øgypten betreten durfte. Auffallend ist der scharfe Ton, der in der Schelte des Princeps zu vernehmen ist (acerrime increpuit). Deutlich wie nie zuvor ußert Tiberius in Bezug auf den Neffen hier seine Mißbilligung, versteckt sein wahres Denken und Fîhlen nicht mehr hinter beschçnigenden Worten.295 Dabei ist seine Ansicht durch den Konjunktiv (quod … introisset) erneut als subjektive Empfindung kenntlich gemacht (vgl. ann. 1,52,1 quaesivisset). Denn nach objektiven Maßstben îbertreibt der Kaiser, wenn er fîr seinen Zorn die Anordnungen seines Vorgngers geltend macht. Germanicus war schließlich kein Senator im herkçmmlichen Sinne, sondern immerhin ein Mitglied der kaiserlichen Familie, das fîr einen øgyptenbesuch kaum einer ausdrîcklichen Erlaubnis des Princeps bedurfte.296 So erweckt 295 Vgl. Koestermann, 1958, 350 (zu ann. 2,59). Die dort vertretene Ansicht, daß Tiberius „sein Mißfallen bisher stets hinter freundlichen Worten verborgen hatte“, muß m. E. eine gewisse Einschrnkung erfahren. Die offen geußerte Kritik des Kaisers an den Taten seines Neffen konnte man bereits in ann. 1,62 (s. o. S. 89) vernehmen, als Germanicus die Leichen der in der Varusschlacht gefallenen Soldaten bestattet hatte. Der abschließende AcI neque imperatorem … adtrectare feralia debuisse stellt eindeutig eine direkt erhobene Anfeindung aus der Sicht des Princeps dar, die dort freilich weniger heftig ausfllt als in ann. 2,59. 296 Vgl. Koestermann, 1958, 350 Anm. 46; etwas skeptischer sieht H. Y. McCulloch Jr.: Narrative cause in the annals of Tacitus (Beitrge zur klassischen Philologie 160), Kçnigstein/Ts. 1984, 69 f. diese Berechtigung des Germanicus, nach øgypten einzureisen: „Certain scholars have made special allowances to justify Germanicus’ entrance to Egypt, but they tend to confuse Tacitus’ account and interpretation of Germanicus’ actions with what they assume really happened. And to make matters worse – because Tacitus’ account is the fullest that we have on Germanicus’ visit to Egypt – scholars tend to take certain phrases from Tacitus out of context to support their own views of what really happened“ (a.a.O. 69). Dabei ist jedoch immer noch nicht erklrt, warum die

1.4 Germanicus

95

der Bericht des Tacitus den Anschein, als habe der Kaiser die Bestimmung seines Vorgngers nur vorgeschoben, da sie ihm die willkommene Gelegenheit bot, rechtlich gegen den mit Argwohn beobachteten Rivalen vorzugehen. Wenn der Historiker die Grînde erlutert, die seinerzeit Augustus dazu bewogen hatten, die Einreise nach øgypten einer so strikten Regelung zu unterwerfen, merkt der Leser rasch, daß er aus ihnen das Motiv fîr das so gereizte Verhalten des Tiberius herausfiltern kann. Es ist fîr ihn ein Leichtes, in der angefîhrten Sichtweise des ersten Kaisers die des zweiten zu erkennen. Diese Doppelbçdigkeit der Darstellung regt ihn nun dazu an, die allgemeine Regel des Augustus auf die besondere Situation des Tiberius anzuwenden. Somit entspringt die heftige Verstimmung des Tiberius aus der Befîrchtung, Germanicus kçnne sich der strategisch îberaus wichtigen Provinz øgypten bemchtigen und ihren Reichtum an Getreide mçglicherweise dazu benutzen, sich dort langfristig festzusetzen und Italien auszuhungern. Doch diese Angst ist in den Augen des Lesers îbertrieben, da Germanicus ja derlei hochverrterische Absichten nicht verfolgt hatte. Schließlich waren es ausdrîcklich sein Bildungshunger und sein Interesse an den Sehenswîrdigkeiten der alten Hochkultur, die ihn an den Nil gefîhrt hatten. Freilich konnte er diesen wahren Hintergrund seines øgyptenbesuches nicht çffentlich zugeben. Immerhin befand er sich auf einer offiziellen Dienstreise, deren Zwecke sich sicherlich nicht mit solch privaten Interessen vereinbaren ließen. Deshalb schob er die Fîrsorge um die Provinzbevçlkerung vor und ahnte nicht, welche Stimmung er damit bei seinem Onkel hervorrufen mußte. Und gerade diese Ahnungslosigkeit, die zu Beginn des nchsten Kapitels noch deutlicher zum Ausdruck gelangt,297 lßt ihn in dem von Tacitus gewînschten Licht erscheinen: Er hat nur lautere Absichten, hegt eben nicht die ihm von Tiberius immer wieder unterstellten Herrschaftsgelîste und kommt deshalb gar nicht erst auf den Gedanken, daß er mit seinem Verhalten den Unmut des Kaisers auf sich ziehen kçnnte. Damit steht er Reaktion des Tiberius auf den øgyptenbesuch seines Neffen so heftig ausfiel. Gerade die hier herausgestellte Neigung mancher Forscher, den Bericht des Tacitus mit den tatschlichen Gegebenheiten zu verwechseln, spricht fîr die hohe Darstellungskunst des Historikers und seine Meisterschaft, Eindrîcke hervorzurufen, fîr die er die Verantwortung nicht îbernehmen mçchte. 297 S. ann. 2,60,1: Sed Germanicus, nondum comperto profectionem eam incusari, Nilo subvehebatur, orsus oppido a Canopo. Man beachte auch hierbei den aufflligen Kontrast, der durch das sed zu Beginn des Satzes ausgedrîckt wird und somit erneut das Gegenstzliche im Verhalten des Kaisers und des Germanicus sinnfllig macht.

96

1. Stereotype Charakterdarstellung

in direktem Kontrast zu dem dunklen und argwçhnischen Charakter des Princeps. Der Vergleich mit Scipio Africanus, einer Heldengestalt der alten libera res publica, verschrft diesen Gegensatz sehr wirkungsvoll, klingen in ihm doch die vom Volk zuerst in Drusus und dann in Germanicus gelegten Hoffnungen auf die Wiederherstellung der Freiheit wieder an (vgl. ann. 1,33,2). Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse wird die heftige Reaktion des Tiberius auf die øgyptenreise seines Neffen zu einem weiteren schlagkrftigen Beweis fîr das immerwhrende Mißtrauen und die verborgenen Animositten des Kaisers gegenîber dem jungen Prinzen. Der scharfe Ton der Kritik ist fîr den Leser ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Lage fîr Germanicus immer ernster wird. Fassen wir nun die wesentlichen Zîge der taciteischen Germanicusfigur als Kontrastperson zu Tiberius zusammen, so kçnnen wir sagen, daß sie gewissermaßen auf zwei Ebenen wirkt. Zunchst werden ihr exakt die Charaktereigenschaften zugesprochen, die dem Kaiser fehlen. Hierbei handelt es sich insbesondere um die comitas und das civile ingenium. Aus diesen gegenstzlich angelegten Personendarstellungen leitet Tacitus dann in einem zweiten Schritt das Grundmuster seiner weiteren Darstellung ab. Denn in den kontrren Persçnlichkeiten liegt letzten Endes der Grund fîr das mißtrauische Verhalten des Kaisers gegenîber seinem Neffen, das gekennzeichnet ist durch Angst, Neid und verborgenen Haß. Diese Abneigung des Kaisers wird nun durchweg als unbegrîndet und îberzogen dargestellt. Germanicus ist loyal, die gegen ihn gerichteten Anfeindungen sind daher ungerechtfertigt. „Der Leser wird dazu gezwungen, Tiberius fîr einen ausgemachten Bçsewicht zu halten. Denn alles was er tut, mag es noch so gut scheinen, ist Maske, hinter der sich ein schlechtes Inneres verbirgt“ schreibt Krohn298 und lßt dabei erkennen, wie das Grundmotiv der Heuchelei von Tacitus auch im Rahmen seiner Germanicusdarstellung dazu genutzt wird, vermeintlich gute Taten des Princeps in ein schlechtes Licht zu rîcken.299 Mit diesem Hinweis sind wir nun bei den Techniken angelangt, die der Historiker zur Verwirklichung seiner Darstellungsabsichten einsetzt. Im Hinblick auf das Verhltnis zwischen Tiberius und Germanicus kann dabei der Kontrast als îbergeordnetes Mittel angesehen werden, der deutlich durch die entgegengesetzten Handlungsweisen zum Ausdruck gebracht wird. Sprachlich wird auf diese Gegenîberstellung oft durch ein adversatives at 298 Krohn, 1934, 80. 299 Vgl. S. 41 und S. 43 – 45 (zu ann. 1,77; 3,60; 1,81 im Zusammenhang mit der Analyse der relativierenden Nachtrge als Mittel der Leserlenkung).

1.5 Seian

97

oder sed aufmerksam gemacht (vgl. ann. 2,5,2: at ille; 2,26,2: sed … Tiberius). Wo Tacitus den direkten Zusammenstoß jedoch vermeiden mçchte, whlt er den Umweg îber eine dritte Person, die er zum Trger genau desjenigen Handlungsmotivs macht, das dem Sinne nach eigentlich fîr eine der beiden Hauptfiguren gilt, und îberlßt es so der Kombinationsgabe seiner Leserschaft, die ‘richtigen’ Bezîge herzustellen. In ann. 1,33 geschah dies durch einen Hinweis auf Drusus, in ann. 2,59 durch einen Rîckgriff auf Augustus. In beiden Fllen wollte der Schriftsteller die innere Sichtweise des Tiberius darstellen, um somit dessen Furcht vor Germanicus als rein subjektives Empfinden zu kennzeichnen. Durch die Wahl des obliquen Konjunktivs (ann. 1,52,1: quaesivisset; ann. 2,59,2 introisset) macht er diese innere Haltung des Kaisers auch in syntaktischer Hinsicht deutlich. Diese tiefenpsychologische Betrachtung des Verhltnisses des Tiberius zu Germanicus ist charakteristisch fîr die Darstellung des Tacitus.

1.5 Seian Peritia morum Tiberii odia in longum iaciens, quae reconderet auctaque promeret (ann. 1,69,5): vorausschauend planend, kîhl agierend und berechnend, ein Mann, der auf seinem Weg zur Macht keine Skrupel kennt, das ist das Bild, das Tacitus von Seian, dem Prtorianerprfekten und Gînstling des Kaisers, zeichnet.300 Seian kennt die mores des Tiberius genau, erschleicht sich im Wissen um dessen Charakter301 das volle 300 Dabei sind manche Parallelen zum Aufstieg des Augustus (vgl. ann. 1,10; 4,1 f.) unverkennbar; s. Ammerbauer, 1939, 59 Anm. 3. 301 Bezeichnenderweise spricht Tacitus hier von den mores des Princeps und nicht von dessen ingenium (zur Unterscheidung der beiden Begriffe vgl. S. 37 zu ann. 6,51,3). Wie sehr sich Seian letzten Endes in seiner Einschtzung vom wahren Wesen des Kaisers dann doch tuschte, beweist schließlich sein jher Fall. Der Bericht des Tacitus îber den Sturz und die Hinrichtung des Verschwçrers im fînften Annalenbuch ist nicht erhalten, vgl. jedoch die vorausweisenden Bemerkungen des Historikers zu Beginn des vierten Annalenbuches, ann. 4,1,2: … mox Tiberium variis artibus devinxit (sc. Seianus), adeo ut obscurum adversum alios sibi uni incautum intectumque efficeret, non tam sollertia (quippe isdem artibus victus est) quam deum ira in rem Romanam, cuius pari exitio viguit ceciditque). „Wie groß seine [sc. Seians] Fhigkeit war, Menschen zu umgarnen, so konnte dies doch nicht den Einfluß erklren, den er auf Tiberius ausîbte. Denn der Kaiser war ihm in all jenen Kînsten îberlegen (vgl. Syme, Tac. I 406: ‘Seianus was deep and crafty. He met his master’)“, so der Kommentar Koestermanns zu

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Vertrauen des menschenscheuen und verschlossenen Kaisers. Bereits bei seiner ersten Erwhnung in den Annalen, wo er als praefectus praetorii den Kaisersohn Drusus zu den aufstndischen Legionen in Pannonien begleitet, heißt es von ihm, er sei magna apud Tiberium auctoritate (ann. 1,24,2). Wir haben es hier mit zwei ahnungsvollen Andeutungen im ersten Annalenbuch zu tun, die wie Kassandrarufe den spteren Ereignissen warnend vorausgeschickt werden. Whrend im zweiten Buch des Geschichtswerkes nichts îber die Person des Seian zu vernehmen ist, gewinnt sie in der Darstellung des dritten Buches vor allem nach der Beendigung des Pisoprozesses (ann. 3,19) immer mehr an Einfluß,302 bevor sie im vierten Buch schließlich zu einer regelrechten Schlîsselfigur des taciteischen Berichtes wird. Im folgenden wollen wir uns zunchst dem von Tacitus gezeichneten Charakterportrt des Seian zuwenden und dann dessen Rolle im Bericht îber den Tod des Drusus behandeln, in dem die Kunst der Leserlenkung besonders deutlich zum Tragen kommt, was sich nicht zuletzt auch aus dem Umstand erklren mag, daß die Darstellung unseres Historikers, wonach Seian den Drusus habe vergiften lassen, den historischen Tatsachen wohl nicht entspricht.303 ann. 4,1. Wie bereits im Zusammenhang mit der taciteischen Tiberiusdarstellung erwhnt (s. o. S. 42), ist der Beginn des vierten Annalenbuches mit einer deutlichen Zsur in der Regentschaft des Tiberius verbunden. Ausgangspunkt und Ursache der Peripetie zum Schlechteren liegen fîr Tacitus ausdrîcklich in der Person des Prtorianerprfekten

dem hier gegebenen Textabschnitt; vgl. O’Gorman, 2000, 89 f.; Martin/ Woodman ad loc. weisen zustzlich darauf hin, daß der in ann. 4,1,2 geußerte Gedanke ein Topos der antiken Tyrannentypologie ist. 302 S. ann. 3,16; 3,29; 3,35; 3,66; 3,72; vgl. Koestermann, Bd. II, 23; A. D. Heinrichs: Sejan und das Schicksal Roms in den Annalen des Tacitus, Diss. Marburg 1976, 103 Anm. 178: „Die sich hufenden Erwhnungen Sejans im dritten Buch bereiten, ohne dort erkennbaren inneren Zusammenhang, den Eintritt Sejans in das Geschehen vor […]“; vgl. Devillers, 1994, 133. 303 Vgl. Rauch, 1970, 85 – 100 (bes. S. 97 f.); D. Hennig: L. Aelius Seianus. Untersuchungen zur Regierung des Tiberius, Mînchen 1975, 38 f.; Heinrichs, 1976, 90 – 93; W. Eisenhut: Der Tod des Tiberius-Sohnes Drusus, MH 7, 1950, 123 – 128 geht ausfîhrlich auch auf die Parallelîberlieferung ein und weist darauf hin, daß auch Sueton und Cassius Dio von einer Ermordung des Prinzen durch Seian berichten. Der Bericht des Tacitus ist seiner Tendenz nach zu urteilen nicht originr, wenn auch manche Unterschiede zu den Darstellungen der beiden anderen Autoren nicht von der Hand zu weisen sind.

1.5 Seian

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Seian begrîndet, dessen Herkunft, Charakter und verbrecherischen Weg zur Macht der Historiker nun beleuchten mçchte: C. Asino C. Antistio consulibus nonus Tiberio annus erat compositae rei publicae, florentis domus (nam Germanici mortem inter prospera ducebat), cum repente turbare fortuna coepit, saevire ipse aut saevientibus vires praebere. initium et causa penes Aelium Seianum, cohortibus praetoriis praefectum, cuius de potentia supra memoravi: nunc originem mores et quo facinore dominationem raptum ierit, expediam (ann. 4,1,1).

Programmatisch ist die dmonische Gestalt des Seian von Tacitus an den Beginn des vierten Buches gerîckt worden, um bereits hier einen dunklen Schatten auf die nun folgenden vierzehn Regierungsjahre des Tiberius zu werfen. Dabei nutzt der Schriftsteller ein weiteres Mal das auch sonst von ihm bevorzugte Mittel der Antithese. So wird die bisherige Regentschaft des Princeps im Rîckblick als eine Zeit des wohlgeordneten Staatswesens, in der das Kaiserhaus in voller Blîte stand (nonus Tiberio annus erat compositae rei publicae, florentis domus), effektvoll von der nun anbrechenden Phase seiner Herrschaft abgesetzt (cum repente turbare fortuna coepit).304 Hat er sich in diesen einleitenden Worten bereits „der erhabenen Formel bedient, mit der Sallust den Umschwung Roms zum 304 Vgl. Welskopf, 1961, 365. Die zu Beginn des vierten Annalenbuches zutage tretende positive Bewertung der ersten neun Regierungsjahre des Tiberius erscheint angesichts des Eindrucks, den Tacitus in ann. I-III von dem Regiment des Augustusnachfolgers hinterlassen hat, etwas îberraschend. „Denn in den ersten drei Bîchern der Annalen sind dem Leser von I, 6, dem primum facinus novi principatus, der Ermordung des Agrippa Postumus, an eine so große Zahl von Intrigen und schndlichen Vorhaben des Princeps als glaubwîrdig hingestellt, ja auch die unleugbar nîtzlichen Taten aus jeweils îblen Motiven entsprungen oder zumindest mit solchen Nebenabsichten verbunden, geschildert worden, daß jetzt die Kennzeichnung dieses ganzen Regierungsabschnittes als einer Zeit compositae rei publicae fîr den, der nicht alles eben Gelesene unter dem Eindruck zukînftigen Unheils vergißt, zumindest verblîffend wirkt“ (a.a.O.). Tacitus habe durch die Anwendung eines allgemeinen Begriffes wie der composita res publica das Ziel verfolgt, „die Summe der negativen einzelnen Eindrîcke, die der Leser aus der bisherigen Darstellung gewinnen mußte, auszuwischen, und zwar um aus dem Schwarzen ins wirkungsvoll Schwrzere zu leiten […]“ (a.a.O. 366). Immerhin ist mit dem Hinweis auf das Schicksal des Germanicus, der dem Historiker zu einem weiteren Seitenhieb gegen Tiberius dient (vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 78), auch die dunkle Seite des bisherigen tiberischen Regiments nach außen gekehrt worden. Man sieht jedenfalls, wie der Historiker seine bisher verfolgte Linienfîhrung zugunsten einer einmalig zur Geltung gebrachten suggestiven Wirkung an dieser Stelle vernachlssigt hat; vgl. Rauch, 1970, 86 – 88.

100

1. Stereotype Charakterdarstellung

Verfall nach dem Ende Karthagos bezeichnet hatte“,305 so steht die nun im Anschluß vorgetragene Charakteristik des Seian ganz im Zeichen des berîhmten sallustianischen Catilina-Portrts.306 Eine vergleichende Gegenîberstellung beider Charakterzeichnungen mag dies verdeutlichen: Catilina Sall. Cat. 5,3 – 6

Seian Tac. Ann. 4,1,3

corpus patiens inediae algoris vigiliae supra quam quoiquam credibile est. animus audax subdolus varius, quoius rei lubet simulator ac dissimulator, alieni adpetens sui profusus, ardens in cupiditatibus; satis eloquentiae, sapientiae parum. vastus animus immoderata incredibilia n i m i s a l t a semper cupiebat. Hunc post dominationem L. Sullae lubido maxima invaserat rei publicae capiundae, neque is quibus rebus adsequeretur, dum sibi regnum pararet, quicquam pensi habebat.

corpus illi laborvm tolerans, animus audax;

sui obtegens, in alios criminator; iuxta adulatio et superbia;

palam compositus pudor, intus s u m m a apiscendi libido, eiusque causa modo largitio et luxus, saepius industria ac vigilantia, haud minus noxiae, quotiens parando regno finguntur.

305 Klingner, bei Pçschl, 1969, 535; vgl. Sall. Cat. 10,1: Sed ubi labore atque iustitia res publica crevit, reges magni bello domiti, nationes ferae et populi ingentes vi subacti, Carthago aemula imperi Romani ab stirpe interiit, cuncta maria terraeque patebant, saevire fortuna ac omnia miscere coepit. Die Ansicht Klingners wird von der Forschung gemeinhin geteilt. Allein Bergen, 1962, 66 – 71 bestreitet, daß sich Tacitus hier in seiner Formulierung bewußt an sein Vorbild Sallust angelehnt hat, findet mit seinen Thesen jedoch wenig Zustimmung, vgl. bes. Heinrichs, 1976, 3 mit Anm. 2; Flach, 1973, 151 Anm. 144. 306 S. Walker, 1952, 75 f.; Syme, 1958, 353; Koestermann, Bd. II, 24; K. Schneider : Tacitus und Sallust, Diss. Heidelberg 1964, 31; Hennig, 1975, 29 mit Anm. 13; Martin/Woodman ad loc. (S. 84 f.). Heinrichs, 1976, 164 – 171 weist auch auf die bestehenden Unterschiede zwischen beiden Charakterportrts hin; zur ˜bernahme von Form- und Stilelementen Sallusts im SeianPortrt des Tacitus vgl. Voss, 1963, 76 – 79.

1.5 Seian

101

Durch die enge sprachliche und inhaltliche Anlehnung an das Vorbild Sallust erreicht Tacitus, daß der gebildete Leser auch die Charaktereigenschaften des Catilina auf Seian îbertrgt, von denen im Bericht der Annalen keine Rede ist,307 und damit in seinem Unterbewußtsein nichts anderes vor Augen hat als das Bild des klassischen Verschwçrers schlechthin.308 Die Rolle des Prtorianerprfekten ist damit direkt zu Beginn des vierten Buches, das nun zur eigentlichen Bîhne seines unheilvollen Wirkens wird, von vorneherein festgelegt.309 ann. 4,2. Tacitus macht aus den verbrecherischen Absichten des Seian (s. ann. 4,1,1: … quo facinore dominationem raptum ierit) auch im folgenden kein Hehl. In ann. 4,2 berichtet der Historiker, wie Seian die bislang eher mßige Machtstellung des praefectus praetorii verstrkte, indem er die bisher îber das ganze Stadtgebiet Roms verteilten Prtorianerkohorten in ein einziges Lager zusammenzog. Dabei werden die wahren Motive dieser Handlung deutlich von den hierfîr nur vorgegebenen Grînden abgehoben: Vim praefecturae modicam antea intendit (sc. Seianus), dispersas per urbem cohortes una in castra conducendo, ut simul imperia acciperent numeroque et robore et visu inter se fiducia ipsis, in ceteros metus oreretur. praetendebat lascivire militem diductum; si quid subitum ingruat, maiore auxilio pariter subveniri; et severius acturos, si vallum statuatur procul urbis inlecebris (ann. 4,2,1).

Das heuchlerische Verhalten des Seian stimmt mit dessen zuvor erfolgten Charakterisierung îberein, vor allem aber mit der dort gemachten Aussage, der Gînstling des Kaisers sei nach außen hin geprgt gewesen von einer aufgesetzten Bescheidenheit, nach innen aber von dem Verlangen, hçchste Ziele zu erreichen (s. ann. 4,1,3: palam compositus pudor, intus summa apiscendi libido). Damit ist fîr den Leser klar, welchen Zweck der 307 S. Walker, 1952, 76: „The resemblance is too close to be unnoticed, and the reader remembering the previous work will envisage Sejanus as a second Catilina, a moral anarchist, possessing those qualities which Sallust described but are not mentioned by Tacitus […]“; Rauch, 1970, 90 spricht in diesem Zusammenhang zurecht von einer ˜berrumpelung des Lesers, „der zu Assoziationen verleitet [wird], die ihn kaum zu einer Erfassung des wirklichen Tatbestandes, in diesem Fall des wahren Charakters Sejans, gelangen lassen.“ 308 Vgl. Hennig, 1975, 29: „Tacitus hat hier unabhngig von seiner Vorlage die klassische Schilderung des intelligenten und skrupellosen Verbrechers, dessen Ziel es ist, sich der obersten Staatsgewalt zu bemchtigen, von Sallust îbernommen.“ 309 Vgl. zustzlich Devillers, 1994, 112.

102

1. Stereotype Charakterdarstellung

Prtorianerprfekt mit der Konzentration seiner Kohorten in Wahrheit verfolgte. Aus dem bisherigen Bericht des Tacitus sind nun bereits folgende Dinge îber Seian deutlich geworden: Er ist der Inbegriff eines Verschwçrers, zudem im Besitz bedeutender militrischer Macht, die er dazu benutzen mçchte, die hçchste Macht im Staat an sich zu reißen. Und Tiberius? Er lßt dem Treiben seines Gînstlings, der nach der Errichtung seiner Kaserne um die Gunst der Soldaten und Senatoren gleichermaßen buhlt, freien Lauf, ist diesem sogar so sehr zugeneigt, daß er ihn nicht nur in Gesprchen, sondern auch im Senat und vor dem Volk als socius laborum preist und die Verehrung seiner Bildnisse in der §ffentlichkeit zulßt,310 worin ein erneuter Beweis fîr die Richtigkeit des zu Beginn des vierten Buches gemalten Seian-Bildes festzustellen ist, s. ann. 4,1,2: … mox Tiberium variis artibus devinxit (sc. Seianus), adeo ut obscurum adversum alios sibi uni incautum intectumque efficeret. ann. 4,3. So eingestimmt gelangt der Leser nun zum nchsten Kapitel, in dem sofort der Sohn des Kaisers in den Mittelpunkt des Interesses gerîckt wird: Ceterum plena Caesarum domus, iuvenis filius, nepotes adulti moram cupitis adferebant; et quia vi tot simul corripere intutum, dolus intervalla scelerum poscebat. placuit tamen occultior via et a Druso incipere, in quem recenti ira ferebatur. nam Drusus impatiens aemuli et animo commotior orto forte iurgio intenderat Seiano manus et contra tendentis os verberaverat (ann. 4,3,1 f.).

Die Aussage, daß die umfangreiche Familie der Caesaren, der Sohn (Drusus) und die erwachsenen Enkel, fîr die Wînsche des Seian ein Hindernis darstellten, kommt dem Leser nach dem bisherigen Bild, das Tacitus von dem Prfekten gezeichnet hat, nun ganz natîrlich vor. Offen kann der Historiker daher in seinem weiteren Bericht Anklage erheben, ohne sich dem Verdacht der Geschichtsflschung aussetzen zu mîssen: Weil es gefhrlich gewesen sei, mit Gewalt so viele Angehçrige des Kaiserhauses auf einmal ‘ins Verderben zu ziehen’ (corripere),311 habe Seian zur List greifen mîssen, die nach zeitlichen Abstnden zwischen den 310 S. den weiteren Bericht des Tacitus ann. 4,2,2 f.: ut perfecta sunt castra, inrepere paulatim militares animos adeundo, appellando; simul centuriones ac tribunos ipse deligere. neque senatorio ambitu abstinebat clientes suos honoribus aut provinciis ornandi, facili Tiberio atque ita prono, ut socium laborum non modo in sermonibus, sed apud patres et populum celebraret colique per theatra et fora effigies eius interque principia legionum sineret. 311 Vgl. Koestermann ad loc.; G&G 230 s. v. corripio.

1.5 Seian

103

jeweils durchzufîhrenden Verbrechen verlangte. Beginnen wollte der Verschwçrer dabei mit Drusus, zu dem er in frischem Zorn entbrannt gewesen sei. Die Ursache, die der Historiker hierfîr liefert, mutet als Motiv fîr eine solch tiefe Abneigung nun etwas vordergrîndig an:312 Der Sohn des Kaisers habe Seian in einer zufllig entstandenen Handgreiflichkeit ins Gesicht geschlagen. Rechtfertigt eine solche Begebenheit das Vorhaben des Seian, zuallererst Drusus zu beseitigen? – wohl kaum. Der fragende Leser sucht unweigerlich nach einem tieferen Grund fîr den Haß des Seian auf Drusus und wird dabei fîndig in der kurzen aber bedeutsamen Charakterisierung des Kaisersohnes, von dem es an dieser Stelle heißt, er sei impatiens aemuli et animo commotior gewesen. Diese Bemerkung ist deshalb so wichtig, weil sie Seian ausdrîcklich als aemulus, als Nebenbuhler des Drusus im Streben nach Macht bezeichnet. Da selbst der Kaiser die Augen vor den wahren Plnen seines begînstigten praefectus praetorio verschließt,313 wird Drusus als eine Person, die keinen Rivalen ertragen kann, nun zur unmittelbar grçßten Gefahr fîr die von Machthunger geleiteten Ambitionen des Verschwçrers.314 Die zustzliche Angabe, der Sohn des Kaisers sei ziemlich leidenschaftlich (animo commotior) gewesen, bietet die Erklrung fîr die ttliche Auseinandersetzung mit Seian, der wiederum darin den Beweis fîr die unnachgiebige und eifersîchtige Haltung des Drusus oder kurz gesagt fîr dessen bedrohliche Position erblicken konnte. Deshalb ist Drusus das primre Ziel der verbrecherischen Machenschaften des Seian. Der hier aufgenommene Faden wird wenige Kapitel spter weitergesponnen (s. ann. 4,7). Doch bevor wir diese Zusammenhnge weiterverfolgen, wollen wir kurz den Rest des Kapitels ann. 4,3 betrachten. Nachdem Seian die ihm durch Drusus erwachsende Bedrohung erkannt hat, schreitet er unverzîglich zur Tat, indem er sich Livia, eine Schwester des Germanicus und die Gattin des Drusus, auf schndlichste Weise zur Gehilfin nimmt: Er heuchelt ihr seine Liebe vor, verfîhrt sie zum Ehebruch und stiftet sie durch verheißungsvolle Versprechen schließlich zum Mord an ihrem Gatten an: igitur cuncta temptanti promptissimum visum ad uxorem eius (sc. Drusi) Liviam convertere … hanc ut amore incensus adulterio pellexit, et postquam primi

312 Vgl. Heinrichs, 1976, 125; Koestermann ad loc. 313 Man beachte die rumliche Nhe der beiden Darstellungen ann. 4,2,3 und ann. 4,3,2, die den Gegensatz im jeweiligen Verhalten des Tiberius und des Drusus dem Seian gegenîber um so deutlicher in Erscheinung treten lßt. 314 Vgl. Koestermann ad loc.

104

1. Stereotype Charakterdarstellung

flagitii potitus est (neque femina amissa pudicitia alia abnuerit), ad coniugii spem, consortium regni et necem mariti impulit (ann. 4,3,3).

Wieder paßt das Vorgehen des Seian vorzîglich zu dessen Charakterbild. Der Leser mag Abscheu fîr das Handeln des Ehebrechers empfinden, doch wundern dîrfte er sich darîber nicht. Die offen vorgebrachte Anklage gegen den stereotypen Verschwçrer wirkt vor dem Hintergrund der Charakterzeichnung von vorneherein nicht parteiisch, sondern nur konsequent und damit auch richtig. Die Verfîhrung der Drususgattin war die erste Schandtat (primum flagitium) des Seian, sagt Tacitus und deutete damit an, daß weitere folgen werden.315 Nach abflligen Bemerkungen îber das Verhalten der Livia berichtet der Historiker îber das weitere Vorgehen des Seian: pellit domo Seianus uxorem Apicatam, ex qua tres liberos genuerat, ne paelici suspectaretur. Sed magnitudo facinoris metum prolationes, diversa interdum consilia adferebat (ann. 4,3,5). Seian kennt keine Skrupel. Jedes Mittel ist ihm zur Erfîllung seiner Absichten recht. Kaltherzig verstçßt Seian seine Frau Apicata, mit der er immerhin drei Kinder hatte, nur um bei Livia keinen Zweifel an der vorgegebenen Ernsthaftigkeit seines Vorhabens aufkommen zu lassen. Der Leser traut ihm nun nach der Lektîre des dritten Kapitels im vierten Annalenbuch alles zu. Die abschließenden Worte îber die Grçße des geplanten Verbrechens greifen an den Anfang des Kapitels zurîck und rufen damit in Erinnerung, welchen Weg Seian zur Macht beschreiten mçchte, und Drusus ist das erste Hindernis, das er dabei auszurumen hat. ann. 4,7. Nach einem Exkurs îber Roms Flotten- und Heeresmacht sowie îber die Staatsverwaltung unter Tiberius (ann. 4,4 – 6) knîpft Tacitus den zu Beginn des vierten Annalenbuches aufgenommenen Handlungsstrang weiter. Dabei wird zunchst auf die bedeutende Rolle verwiesen, die der Tod des Drusus fîr die bisherige Regentschaft des Tiberius eingenommen habe: Quae cuncta 316 non quidem comi via, sed horridus ac plerumque formidatus, retinebat tamen (sc. Tiberius), donec morte Drusi verterentur: nam dum superfuit, mansere, quia Seianus incipiente adhuc potentia bonis consiliis notescere volebat et ultor metuebatur non occultus odii, sed crebro querens incolumi filio adiutorem imperii alium vocari (ann. 4,7,1). 315 Vgl. ann. 1,6,1: primum facinus novi principatus Postumi Agrippae caedes. 316 Gemeint sind die wohlgeordneten Staatsangelegenheiten, von denen noch im Kapitel ann. 4,6 die Rede gewesen ist.

1.5 Seian

105

Hat man den bisherigen Bericht des Tacitus im vierten Annalenbuch aufmerksam verfolgt, kann man bei der Lektîre dieses Textabschnitts nicht umhin, gleichsam zwischen den Zeilen eine weitere Anklage gegen Seian zu vernehmen. Durch den erneuten Hinweis auf den Wendepunkt innerhalb der Regierung des Kaisers fîhlt sich der Leser zunchst an die Worte erinnert, mit denen Tacitus das vierte Buch eindringlich erçffnet hatte. Whrend dort jedoch der Umschwung ausdrîcklich mit dem Wirken des Seian in Verbindung gebracht worden war (s. ann. 4,1,1: initium et causa penes Aelium Seianum), wird er hier durch den Tod des Drusus markiert (donec morte Drusi verterentur). Tacitus lßt seine Leserschaft nun beide Aussagen kombinieren und erlaubt ihr dabei nur folgenden Schluß: Der ußere Grund fîr die Peripetie ist der Tod des Drusus, daran Schuld ist wiederum Seian. Dieser erscheint somit im Bewußtsein des Lesers ein weiteres Mal als verantwortlich fîr den Mord an Drusus – und dies noch bevor das Verbrechen in der Darstellung des Historikers îberhaupt zur Ausfîhrung gelangt ist. Und wenn Tacitus sagt, daß Drusus zu seinen Lebzeiten von Seian, dessen Macht noch im Entstehen gewesen sei und der durch gute Ratschlge habe bekannt werden wollen, als Rcher gefîrchtet wurde, sitzt der Prtorianer erneut auf der Anklagebank. Wofîr htte denn der Sohn des Kaisers als ultor dem Seian gegenîber auftreten sollen? Die Antwort auf diese Frage fllt dem Leser leicht, denn er weiß um die verschwçrerischen Absichten des zweiten Catilina, um dessen summa apiscendi libido. Und Drusus weiß anscheinend auch darum, – als einzige der beteiligten Personen. Seine tiefe Abneigung gegen den Gînstling des Tiberius habe er nicht fîr sich behalten (non occultus odii) und sich stndig darîber beklagt, daß ein anderer die Stîtze der Herrschaft genannt wurde, obwohl noch ein leiblicher Sohn des Princeps hierfîr zur Verfîgung stand (incolumi filio). Was bisher von Tacitus nur vage angedeutet wurde, nmlich daß einzig und allein Drusus die wahren Absichten des Seian durchschaute und ihn deshalb verachtete (vgl. auch ann. 4,3,2), wird nun im folgenden offenbar, wenn der Historiker die erwhnten Klagen des Kaisersohnes weiter ausfîhrt und dabei eine Art Zusammenfassung der bisher îber die Machenschaften des Seian bereits erfolgten øußerungen gibt: et quantum superesse, ut collega dicatur (sc. Seianus)? primas dominandi spes in arduo: ubi sis ingressus, adesse studia et ministros. exstructa iam sponte praefecti castra, datos in manum milites, cerni effigiem eius in monimentis Cn. Pompei, communes illi cum familia Drusorum fore nepotes: precandam post haec modestiam, ut contentus esset. neque raro apud paucos talia iaciebat, et secreta quoque eius corrupta uxore prodebantur (ann. 4,7,2 f.).

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Der Leser ist nach dem kurzen Exkurs des Tacitus wieder im Bilde îber die gefhrlichen Konstellationen im Verhltnis zwischen Tiberius, Seian und Drusus. Doch nicht nur das. Indem Tacitus hier den Drusus zu Wort kommen lßt und dessen Sichtweise wiedergibt, wirken die zu Beginn des vierten Annalenbuches gegen Seian geußerten Vorwîrfe und Verdachtsmomente besonders glaubwîrdig, um nicht zu sagen richtig. Die Angst des Seian vor Drusus ist nicht mehr nur aus der Sicht des Historikers heraus begrîndet, sondern aus der Perspektive einer der beteiligten Personen selbst. Was Tacitus von außen her îber Drusus und Seian berichten konnte, ist nun von innen her besttigt worden. Die abschließende Bemerkung, der Sohn des Princeps habe solcherlei Klagen weder selten noch in Gegenwart Weniger fallen lassen, wobei auch seine geheimen Reden durch die (von Seian) verfîhrte Gattin verraten worden seien, nimmt nicht nur den bereits weiter oben geußerten Gedanken, daß Drusus aus seiner Abneigung gegen den Verschwçrer kein Hehl machte, wieder auf, sondern bewirkt kurz vor dem Bericht îber den Mord an dem Mitglied der kaiserlichen Familie eine dramatische Zuspitzung. Drusus durchschaut Seian und trgt dies auch nach außen. Die unbestimmte Formulierung talia iaciebat bietet dabei viel Raum fîr Spekulationen. Mçglicherweise hat Drusus nicht nur seinen Haß, sondern auch seine Befîrchtungen hinsichtlich des Machtzuwachses des Prtorianerprfekten çffentlich gemacht. Wie deutlich waren doch bereits seine Worte, als er meinte, daß die ersten Hoffnungen auf die Herrschaft gefhrlich (in arduo) seien, nach deren Erlangung aber sich ergebene Helfer bereitfnden (adesse studia et ministros), um dann auf die Akquirierung von Soldaten, die çffentliche Verehrung und die durch ein angestrebtes Verwandtschaftsverhltnis mit der Familie der Drusi317 sich ergebende Machtposition des Seian zu verweisen! Wenn er bereits in der §ffentlichkeit seine Meinung derart unverblîmt vertrat, wie scharf und angreifend muß dann erst der Inhalt seiner geheimen Gesprche gewesen sein, die durch seine Gattin verraten wurden und deshalb auch Seian zu Ohren kamen. Wenn Seian seine herrschsîchtigen Plne nicht aufgeben wollte – und alles andere htte er wohl lieber aufgegeben als das –, mußte er nun schleunigst handeln. ann. 4,8. Nahtlos knîpft sich jetzt der Bericht îber den Tod des Drusus an: 317 Die Tochter Seians sollte mit einem Sohn des Claudius vermhlt werden, der jedoch kurze Zeit nach der Verlobung starb; siehe Koestermann ad loc.

1.5 Seian

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Igitur Seianus maturandum ratus deligit venenum, quo paulatim inrepente fortuitus morbus adsimularetur. id Druso datum per Lygdum spadonem, ut octo post annos cognitum est (ann. 4,8,1).

Das ist nunmehr alles, was Tacitus îber das Ableben eines der wichtigsten Mitglieder des kaiserlichen Hofes noch zu sagen hat. Das îbrige ist dem Leser bereits bestens bekannt. Er kennt den eigentlichen Tter und er kennt das Motiv. Lediglich die nheren Umstnde mîssen noch nachgetragen werden: Drusus wurde heimtîckisch vergiftet. Die helfende Hand des Seian sei ein Eunuch namens Lygdus gewesen,318 der dem Prinzen das Gift verabreicht habe, wie acht Jahre spter (nach dem Tod des Seian)319 festgestellt worden sei. ann. 4,10 f. Seian trgt die Schuld am Tod des Drusus. Ungewohnt offen hat Tacitus diesen Vorwurf in seiner bisherigen Darstellung immer wieder zum Ausdruck gebracht und htte deswegen nicht eigens der eben analysierten Mittel der Leserlenkung bedurft, um den Eindruck der Verantwortung des Verschwçrers am Ableben des Kaisersohnes im Bewußtsein des Lesers zu hinterlassen. Mehr oder weniger unverhohlen hat der Historiker den ‘adiutor imperii’ auch direkt des Mordes schuldig gesprochen.320 Doch Tacitus mçchte letzten Endes auch hierfîr als Historiker nicht gnzlich einstehen. Zum Abschluß seiner Erzhlung îber das Ende des Drusus sichert er sich ausdrîcklich vor einem eventuellen Vorwurf einer subjektiv gefrbten Berichterstattung ab, indem er sich in seinem Bericht auf die allgemeine ˜berlieferung beruft: In tradenda morte Drusi quae plurimis maximaeque fidei auctoribus memorata sunt rettuli … (ann. 4,10,1). Durch den Hinweis, daß er in seiner Darstellung gerade den meisten und glaubwîrdigsten Gewhrsmnnern gefolgt sei, lßt der Geschichtsschreiber seine Sicht der Dinge nicht nur besonders objektiv, sondern auch als historisch gesichert erscheinen. Wie so oft nennt er seine Quellen jedoch nicht beim Namen und entzieht sich so der 318 Sprachlich wird diese Funktion einer Mittelsperson durch das per mit nachfolgendem Akkusativ zum Ausdruck gebracht, s. KSt I 378 Anm. 8. Der eigentliche Urheber der Tat bleibt natîrlich Seian, der das Gift schließlich auch ausgewhlt hat. 319 S. Koestermann ad loc. 320 S. noch einmal ann. 4,1,1: … quo facinore dominationem raptum ierit (sc. Seianus), expediam; ann. 4,3,1 f.: … et quia vi tot simul corripere intutum, dolus intervalla scelerum poscebat. placuit tamen occultior via et a Druso incipere …; ann. 4,3,5: sed magnitudo facinoris …; ann. 4,8,1: Igitur Seianus maturandum ratus deligit venenum …; id Druso datum per Lygdum spadonem.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Nachprîfbarkeit seiner Aussagen. Doch der eigentliche Kunstgriff des Tacitus erfolgt im Anschluß an diese Absicherung. Der Vollstndigkeit halber erzhlt er nun ein mit Hartnckigkeit verbreitetes Gerîcht nach, um es spter (ann. 4,11) mit Nachdruck zu widerlegen: … sed non omiserim eorundem temporum rumorem, validum adeo, ut nondum exolescat. corrupta ad scelus Livia Seianum Lygdi quoque spadonis animum stupro vinxisse, quod is [Lygdus] aetate atque forma carus domino interque primores ministros erat; deinde, inter conscios ubi locus veneficii tempusque composita sint, eo audaciae provectum, ut verteret et occulto indicio Drusum veneni in patrem arguens moneret Tiberium vitandam potionem, quae prima ei apud filium epulanti offeretur. ea fraude cum senem, postquam convivium inierat, exceptum poculum Druso tradidisse, atque illo ignaro et iuveniliter hauriente auctam suspicionem, tamquam metu et pudore sibimet inrogaret mortem, quam patri struxerat (ann. 4,10,1 – 3).

Es ist in der Tat eine recht abenteuerliche Geschichte îber die vermeintlich wahren Hintergrînde des Drusustodes, die in diesem Gerîcht die Runde bis in die Zeit des Tacitus gemacht haben soll. Sie ist geprgt von geradezu heimtîckischer Raffinesse des Seian, der geschickt den Spieß umdreht, indem er Drusus des geplanten Mordes an seinem Vater bezichtigten lßt.321 Wir brauchen auf den Inhalt nicht nher einzugehen. Fîr unsere Untersuchung ist vielmehr der Umstand von Bedeutung, daß Tacitus dieses Gerede ausdrîcklich verwirft: Haec vulgo iactata super id, quod nullo auctore certo firmantur, prompte refutaveris. quis enim mediocri prudentia, nedum Tiberius tantis rebus exercitus, inaudito filio exitium offerret, idque sua manu et nullo ad paenitendum regressu? quin potius ministrum veneni excruciaret, auctorem exquireret, insita denique etiam in extraneos cunctatione et mora adversum unicum et nullius ante flagitii compertum uteretur? sed quia Seianus facinorum omnium repertor habebatur, ex nimia caritate in eum Caesaris et ceterorum in utrumque odio quamvis fabulosa et immania credebantur, atrociore semper fama erga dominantium exitus (ann. 4,11,1 f.).

Mit Vernunftgrînden in Form von rhetorischen Fragen weist der Historiker das von ihm nacherzhlte Gerîcht als vçllig widersinnig zurîck und bietet zustzlich eine Erklrung dafîr, weshalb es sich so hartnckig halten konnte: Bei Seian, dem Anstifter von Verbrechen aller Art, habe man auch noch so unglaubhafte und ungeheuerliche Anschuldigungen fîr wahr gehalten. Erneut wird in diesem Zusammenhang daran erinnert, 321 Vgl. hierzu bes. Shatzman, 1974, 556 – 558; Hennig, 1975, 36; P. Sinclair: Tacitus the Sententious Historian. A Sociology of Rhetoric in Annales 1 – 6, Pennsylvania 1995, 71 – 76.

1.5 Seian

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daß Tiberius der einzige war, der dem Verschwçrer gegenîber (allzu große) Zuneigung empfunden hat. Alle îbrigen htten beide, sowohl Tiberius als auch Seian, gehaßt. Damit werden in einem Seitenhieb gegen die beiden unliebsamen Personen die wesentlichen Grundkonstanten der taciteischen Seiandarstellung noch einmal drastisch vor Augen gefîhrt. Doch kehren wir zurîck zu den Techniken der Leserlenkung und stellen uns die Frage, was Tacitus mit seiner eindrucksvollen Zurîckweisung des Gerîchtes erreichen wollte. Der Historiker gibt auf diese Frage selbst eine Antwort: mihi tradendi arguendi rumoris causa fuit, ut claro sub exemplo falsas auditiones depellerem peteremque ab iis, quorum in manus cura nostra venerit, divulgata atque incredibili avide accepta veris neque in miraculum corruptis antehabeant (ann. 4,11,3).

Demnach hat der Historiker in seiner Wiedergabe und Widerlegung eines besonders abwegigen Gerîchtes die Absicht verfolgt, einmal in prinzipieller Form vor allzu viel Glauben an wahrheitswidrigem Gerede und Hçrensagen zu warnen. Wir mîssen diese grundlegende Aussage des Tacitus nun auf zwei Ebenen weiter analysieren, zunchst hinsichtlich ihrer Funktion innerhalb der Erzhlung vom Tode des Drusus, dann in Bezug auf ihren allgemeinen Wert innerhalb der gesamten Annalen, in denen die Wiedergabe von Gerîchten von zentraler Bedeutung fîr die Kunst der Leserlenkung ist.322 Betrachten wir nun also die erste Ebene. Tacitus dementiert ein Gerîcht, das im Zusammenhang mit dem Tode des Drusus einen weiteren, schwerwiegenden Vorwurf gegen Seian enthlt. Damit setzt er ein deutliches Gegengewicht zu seiner bisher verfolgten Darstellung, die Seian als notorischen Verbrecher und Verschwçrer stempelt, dem letzten Endes doch alles zuzutrauen ist.323 Hierdurch wirkt der Bericht des Historikers îber den Tod des Drusus in sich besonders ausgeglichen.324 Tacitus weist darauf hin, daß das unglaubwîrdige Gerede von keinem 322 Vgl. o. S. 66 ff. zu Livia und die noch folgenden Ausfîhrungen zur Geschichte des Germanicus. 323 Diese Tendenz kommt – wie wir bereits sehen konnten – selbst in der Widerlegung des Gerîchtes noch einmal deutlich zum Ausdruck, wenn als Grund fîr dessen nachhaltiges Wirken angefîhrt wird, daß man aufgrund der Persçnlichkeit des Prtorianerprfekten, der als facinorum omnium repertor galt, schlichtweg alles glaubte, was gegen ihn erhoben wurde. 324 Erneut kann auf das ‘Totengericht’ des Augustus (ann. 1,9 f.) zurîckverwiesen werden, wo durch das Nebeneinander von Fîr und Wider ein hnlicher Effekt erzielt wurde.

110

1. Stereotype Charakterdarstellung

zuverlssigen Gewhrsmann (nullo auctore certo)325 besttigt worden sei, und bekrftigt damit zustzlich seine Aussage, er habe îber das Ende des Drusus nur das wiedergegeben, was von den meisten und glaubwîrdigsten Quellen bereits îberliefert worden sei (ann. 4,10,1). Dem Geschwtz der Leute, das darîber hinausging, schließt er sich in aller Deutlichkeit nicht an. Man beachte dabei, daß Tacitus mit der Widerlegung des Gerîchts jedoch nur einen ganz speziellen Vorwurf gegen Seian beiseite schiebt. Die grundstzliche Annahme von der Schuld des Verschwçrers am Tode des Prinzen bleibt weiterhin bestehen, ja erhlt erst vor diesem Hintergrund ihr volles Gewicht, da sie sich von dem abwegigen Inhalt des nacherzhlten Geredes als um so glaubhafter absetzen kann. Man versteht nun besser, warum Tacitus der Wiedergabe eines solchen Gerîchts, dessen Glaubwîrdigkeit er selbst in Abrede stellt, îberhaupt so viel Raum gegeben hat. Es dient dem Historiker in erster Linie dazu, den Eindruck von Seians genereller Schuld am Tod des Drusus endgîltig zu zementieren.326 Indem sich Tacitus in ann. 4,10 f. als ußerst kritischer Beobachter gibt, erweckt er beim Leser also zustzliches Vertrauen in die historische Zuverlssigkeit seines allgemeinen Berichtes. Wie steht es nun um die Bedeutung dieser beiden Kapitel in Bezug auf die gesamten Annalen? Auch auf dieser Ebene kçnnen wir natîrlich zunchst einmal feststellen, daß Tacitus durch seine warnenden Worte ein hohes Maß an Glaubwîrdigkeit und Objektivitt gewinnt, distanziert sich der Historiker doch auf den ersten Blick von Gerede jeglicher Art.327 Doch stellt er damit auch alle bisher nacherzhlten Gerîchte in Frage? – Keineswegs. Beachtet man den Wortlaut seiner Aussage genau, so stellt man fest, daß er lediglich vor allzu viel Glauben an offensichtlich wahrheitswidriges Hçrensagen warnt: falsas auditiones ist das Objekt seiner Ermahnung.328 Und inhaltlich falsch war das hier gegen Seian angefîhrte Gerîcht allemal. Es fiel Tacitus sichtbar leicht, es mit Nachdruck zu widerlegen. Die Gerîchte zu Beginn der Annalen (be325 Siehe Koestermann ad loc. 326 Vgl. Rauch, 1970, 97. 327 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 65; Martin/Woodman ad loc. (S. 123): „T[acitus]’ stated reason for the excursus [gemeint ist die Wiedergabe des Gerîchts] is the enhancement of his historiographical credibility through the rejection of improbabilities and fantasies. This motif is as old as Hecataeus […] and indicates that the excursus should not be read, as it often is by modern scholars, as an example of ‘source criticism’.“ 328 Vgl. Martin/Woodman ad loc.: „T[acitus]’ point is not that the rumour is false qua rumour but that its contents are ‘beyond belief ’ […].“

1.5 Seian

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sonders îber Livia) oder in Bezug auf die Geschichte des Germanicus werden hierdurch nicht in ihrer Aussagekraft gemindert. Sie erschienen durch den jeweiligen Kontext so plausibel, daß kaum ein Zweifel an der Richtigkeit ihres Inhaltes aufkommen konnte und sie somit nicht zu den rumores gehçren, die ganz offensichtlich nicht der Wahrheit entsprechen. Wenn Tacitus auch alle bisher wiedergegebenen Gerîchte in seine allgemeine Warnung htte miteinbeziehen wollen, so htte er sie (die Warnung) bereits zu Beginn seines Werkes ausgesprochen – im vierten Annalenbuch kommt sie jedenfalls zu spt, um die inzwischen festgefîgte Lesermeinung zu den Ereignissen der ersten drei Annalenbîcher noch revidieren zu kçnnen. So ist das einzige, was an dieser Stelle bleibt, der Eindruck einer kritisch îberprîfenden Unparteilichkeit des Tacitus. Man kann vielleicht sogar noch weiter gehen und sagen, daß alle bisher dargebotenen Gerîchte durch die nun vorgetragenen Vorbehalte des Tacitus um so glaubhafter erscheinen. Denn warum hat er nicht bereits bei frîherer Gelegenheit den Hinweis auf die mangelhafte Zuverlssigkeit eines jeden Klatsches wirksam werden lassen? – Doch wohl offenbar deshalb, weil es dort eben nicht angebracht erschien, an dem Inhalt des Geredes zu zweifeln. Wie man diese Zusammenhnge auch sehen mçchte – Tacitus hat in jedem Fall seine ußere Objektivitt deutlich unterstreichen kçnnen, ohne daß seine bisherigen Darstellungsabsichten hierdurch ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen werden. Zum Abschluß unserer ˜berlegungen zur taciteischen Seiandarstellung wollen wir uns die hierbei hauptschlich angewandten Techniken der Leserlenkung noch einmal kurz ins Gedchtnis rufen: – Durch die enge Anlehnung an das Catilinaportrt des Sallust hat Tacitus von Seian zu Beginn des vierten Annalenbuches das eindrucksvolle Typenbild des klassischen Verschwçrers gezeichnet, das den Leser in seinem Urteilsvermçgen einnimmt. Er sieht in der Person des Seian nunmehr die Verkçrperung des skrupellosen und machtbesessenen Verbrechers, dem zur Durchsetzung seiner ehrgeizigen Ziele alle Mittel recht sind. – Dieser Eindruck wird in der weiteren Darstellung durch die Handlungen des Seian verstrkt. Dessen angeblicher Charakter und dessen Verhalten stimmen îberein und ergeben ein in sich schlîssiges Bild. – Schlîssig sind auch die Ausfîhrungen des Historikers îber die angeblich von Seian in die Wege geleitete Ermordung des Drusus. Das Verbrechen ergibt sich in der Darstellung des Tacitus fast als logische

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Konsequenz aus dem Charakter des Angeklagten. Unterstîtzt wird diese Vorstellung durch ein sorgfltig ausgezeichnetes Spannungsfeld zwischen Drusus und Seian. Der Gegensatz beider Persçnlichkeiten zueinander wird derart auf die Spitze getrieben, daß die verbrecherische Tat des Seian sich wie von selbst zu ergeben scheint. – Tacitus macht insgesamt kein Hehl aus seiner Antipathie gegen Seian. Trotzdem widerlegt er am Ende seiner Erzhlung vom Tode des Drusus ein Gerîcht, das eine konkrete Anklage gegen den Prtorianerprfekten in sich birgt. Dadurch wirkt seine Darstellung ausgeglichen und objektiv. Der Leser zweifelt nun nicht mehr an der Richtigkeit der allgemein geußerten Behauptung, Seian sei verantwortlich fîr den Tod des Drusus gewesen, zumal dieser Vorwurf durch den Hinweis des Historikers, er stîtze sich in seinem Bericht gerade auf die meisten und zuverlssigsten Quellen, zustzlich an Glaubwîrdigkeit gewinnt.

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe am Beispiel der Germanicusgeschichte329 Im Zusammenhang mit der taciteischen Germanicusfigur haben wir bereits den Personengegensatz zwischen Germanicus und Tiberius beleuchtet, der sich in den ersten beiden Annalenbîchern vor allem in dem gespannten Verhltnis zwischen Tiberius und Germanicus offenbart.330 Wir konnten dabei feststellen, daß die Haltung des Princeps gegenîber dem jungen Prinzen geprgt ist von Neid, Mißtrauen und verborgenem Haß, dem die unbegrîndete Befîrchtung zugrunde liegt, Germanicus kçnne seine allseitige Beliebtheit bei Volk und Heer fîr vermeintliche Umsturzplne zum Einsatz bringen. Doch dieser verhlt sich – wohlwissend um die Anfeindungen seines Onkels – strikt loyal, und wird somit zu einem unschuldigen Opfer hçfischer Intrigen.331 Auf diesem Gegensatz baut die weitere Darstellung der Geschichte des Germanicus auf, die wir nun als Beispiel fîr die Leserlenkung innerhalb grçßerer Erzhlkomplexe der ersten Annalen-Hexade untersuchen mçchten. Dabei 329 Die Bezeichnung ‘Germanicusgeschichte’ umfaßt im folgenden die Ereignisse nach der Abberufung des Germanicus von seinem Kommando in Germanien. 330 S. o. S. 80 ff. 331 Vgl. Syme, 1958, 492: „The prince is also the victim of a jealous and suspicious ruler.“

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Konsequenz aus dem Charakter des Angeklagten. Unterstîtzt wird diese Vorstellung durch ein sorgfltig ausgezeichnetes Spannungsfeld zwischen Drusus und Seian. Der Gegensatz beider Persçnlichkeiten zueinander wird derart auf die Spitze getrieben, daß die verbrecherische Tat des Seian sich wie von selbst zu ergeben scheint. – Tacitus macht insgesamt kein Hehl aus seiner Antipathie gegen Seian. Trotzdem widerlegt er am Ende seiner Erzhlung vom Tode des Drusus ein Gerîcht, das eine konkrete Anklage gegen den Prtorianerprfekten in sich birgt. Dadurch wirkt seine Darstellung ausgeglichen und objektiv. Der Leser zweifelt nun nicht mehr an der Richtigkeit der allgemein geußerten Behauptung, Seian sei verantwortlich fîr den Tod des Drusus gewesen, zumal dieser Vorwurf durch den Hinweis des Historikers, er stîtze sich in seinem Bericht gerade auf die meisten und zuverlssigsten Quellen, zustzlich an Glaubwîrdigkeit gewinnt.

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe am Beispiel der Germanicusgeschichte329 Im Zusammenhang mit der taciteischen Germanicusfigur haben wir bereits den Personengegensatz zwischen Germanicus und Tiberius beleuchtet, der sich in den ersten beiden Annalenbîchern vor allem in dem gespannten Verhltnis zwischen Tiberius und Germanicus offenbart.330 Wir konnten dabei feststellen, daß die Haltung des Princeps gegenîber dem jungen Prinzen geprgt ist von Neid, Mißtrauen und verborgenem Haß, dem die unbegrîndete Befîrchtung zugrunde liegt, Germanicus kçnne seine allseitige Beliebtheit bei Volk und Heer fîr vermeintliche Umsturzplne zum Einsatz bringen. Doch dieser verhlt sich – wohlwissend um die Anfeindungen seines Onkels – strikt loyal, und wird somit zu einem unschuldigen Opfer hçfischer Intrigen.331 Auf diesem Gegensatz baut die weitere Darstellung der Geschichte des Germanicus auf, die wir nun als Beispiel fîr die Leserlenkung innerhalb grçßerer Erzhlkomplexe der ersten Annalen-Hexade untersuchen mçchten. Dabei 329 Die Bezeichnung ‘Germanicusgeschichte’ umfaßt im folgenden die Ereignisse nach der Abberufung des Germanicus von seinem Kommando in Germanien. 330 S. o. S. 80 ff. 331 Vgl. Syme, 1958, 492: „The prince is also the victim of a jealous and suspicious ruler.“

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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gehen wir aus von Kapitel ann. 2,26, in dem Tacitus von der Abberufung des Feldherrn aus Germanien berichtet. Sie kann als Wendepunkt innerhalb des Schicksals des Germanicus angesehen werden.332 Denn zum ersten Mal taucht hier in den Augen des Germanicus das Schlagwort der invidia auf. Sie ist in der Erzhlung des Tacitus der eigentliche Grund fîr die Rîckberufung seiner Lieblingsgestalt und wird zum Dreh- und Angelpunkt der weiteren Erzhlperspektive. Der Neid des Kaisers als Ausdruck seiner Befîrchtungen wird dem Prinzen von nun an zunehmend zum Verhngnis. ann. 2,26. Germanicus wird trotz allgemeiner Siegesgewißheit und der Bitte, den Krieg in Germanien innerhalb des nchsten Jahres zu einem glîcklichen Ende fîhren zu dîrfen, von Tiberius von seinen Legionen am Rhein abberufen. Wir haben dieses Kapitel bereits im Zusammenhang mit den Personendarstellungen des Tacitus und im Hinblick auf das Verhltnis des Prinzen zum Kaiser nher analysiert.333 Ausgangspunkt unserer weiteren ˜berlegungen soll nun der letzte Satz des Kapitels werden, der die Reaktion des Prinzen auf den zunehmenden Druck des Kaisers zum Ausdruck bringt: haud cunctatus est ultra Germanicus, quamquam fingi ea seque per invidiam parto iam decori abstrahi intellegeret (ann. 2,26,5). Germanicus fîgt sich dem Willen des Princeps, obwohl er weiß, daß es sich bei den von Tiberius vorgebrachten Grînden fîr seine Abberufung nur um Vorwnde handelt, und daß er vielmehr aus Eifersucht von dem Ruhm, den er bereits erworben hatte, weggezogen werden sollte. Tacitus vermeidet hier die offene Anklage und lßt den Prinzen genau das denken, was fîr die weitere Darstellung wichtig ist: Die invidia als Motiv fîr seine Rîckbeorderung, getarnt hinter Grînden, die nichts weiter als Ausflîchte sind. Dabei ist eine unmißverstndliche Anspielung auf die zu Beginn des zweiten Annalenbuches vorgetragene Behauptung, Tiberius habe in den Wirren im Orient eine willkommene Gelegenheit erblickt, seinen beargwçhnten Neffen von seinen Legionen zu trennen und in neuen Provinzen Rnken und Widerwrtigkeiten zugleich auszusetzen, zu vernehmen: Ceterum Tiberio haud ingratum accidit turbari res Orientis, ut ea specie Germanicum suetis legionibus abstraheret novisque provinciis impositum dolo simul et casibus obiectaret (ann. 2,5,1). Offen werden hier sowohl das heuchlerische Verhalten (ea specie) als auch die heimtîckischen Absichten des Tiberius aufgezeigt, die er mit der 332 S. Krohn, 1934, 64. 333 S. o. S. 91 – 93.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Abberufung des Germanicus von der Rheinfront verfolgt. Sein Motiv, die invidia, ist hier noch nicht ausgesprochen, klingt jedoch zwischen den Zeilen bereits an. Endgîltige Gewißheit hierîber gewinnt der Leser nun in ann. 2,26,5 durch die Perspektive des abberufenen Feldherrn. Sprachlich greift das abstrahi unmittelbar das abstraheret in ann. 2,5,1 auf,334 so daß derselbe Sinn einmal aktivisch aus der Sicht des Tiberius und einmal passivisch aus der Sicht des Germanicus ausgedrîckt wird. Das Besondere an diesem Rîckblick ist aber, daß sich im Bewußtsein des Lesers durch dieses enge Zusammenspiel der beiden Kapitel nun ein schlîssiges Bild ergibt, indem die jeweils gemachten Aussagen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dem Motiv der invidia kommt dabei eine Schlîsselstellung zu. Der Neid des Kaisers hat demnach nicht nur zur Abberufung des Germanicus von seinen Legionen gefîhrt, sondern auch zu dessen Beauftragung mit der Orientmission, die von vorneherein als inszeniertes Rnkespiel des Tiberius dargestellt wird.335 Damit sind nun bereits die Weichen fîr den weiteren Gang der Ereignisse gestellt: Germanicus wird letzten Endes der invidia seines Onkels zum Opfer fallen. ann. 2,41. Bevor Tacitus dann endgîltig auf die Orientmission des Germanicus zu sprechen kommt, lßt er in ann. 2,41 im Munde des Volkes bereits eine ahnungsvolle Andeutung fallen, die wie eine erste Vorwarnung auf das kînftige Schicksal des Germanicus verstanden werden kann. Er berichtet hier îber den Triumph des abberufenen Feldherrn îber die niedergeworfenen Germanenstmme im Jahr 17 n. Chr. und gibt dabei die Sicht der Zuschauermenge wieder: augebat intuentium visus eximia ipsius species currusque quinque liberis onustus. sed suberat occulta formido, reputantibus haud prosperum in Druso patre eius favorem vulgi, avunculum eiusdem Marcellum flagrantibus plebis studiis intra iuventam ereptum, breves et infaustos populi Romani amores (ann. 2,41,3).

Unter die Bewunderung des Volkes mischt sich eine occulta formido. Es erinnert sich an das Schicksal des Drusus und des Marcellus, die beide sehr beliebt waren, doch in relativ jungen Jahren starben,336 und leitet daraus abschließend die allgemeine Vermutung ab, daß die Lieblinge des rçmischen Volkes kurzlebig und vom Unglîck verfolgt seien. Und Germanicus ist ein solcher Liebling des rçmischen Volkes, wie der Leser seit 334 Vgl. bes. Devillers, 1994, 117 f. 335 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 72. 336 Drusus wurde 30, Marcellus nur 20 Jahre alt; vgl. Koestermann ad loc.

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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ann. 1,33 weiß.337 Die Beliebtheit seines Vaters Drusus, hier erneut in Erinnerung gerufen, war dort schließlich auf seinen Sohn îbertragen worden und mit ein Grund fîr die verborgenen Haßgefîhle des Tiberius und seiner Mutter gewesen. Die Angst des Volkes um Germanicus ist Rîckblick und Ausblick zugleich.338 Der allzu frîhe Tod der Vorfahren in der Vergangenheit weist bedrohlich in die Zukunft des jungen Prinzen voraus.339 Tacitus nutzt hier die çffentliche Meinung als Sprachrohr seiner eigenen Darstellungsabsicht, die darin besteht, Germanicus als Opfer der kaiserlichen invidia erscheinen zu lassen.340 Es ist kein Zufall, wenn er direkt im nchsten Kapitel auf die Lage im Orient zu sprechen kommt, die fîr den Kaiser der willkommene Anlaß ist, den unliebsamen Neffen endlich zu entfernen. Tacitus hat somit in ann. 2,41 seiner Leserschaft einen sorgfltig plazierten Hinweis auf das weitere Schicksal des Germanicus gegeben. Wie wir noch sehen werden, wird es nicht der letzte gewesen sein. ann. 2,42. Im Anschluß an den Triumph des Germanicus berichtet Tacitus zunchst kurz îber weitere Ehrungen, die der Kaiser seinem Neffen zubilligte, nmlich eine Schenkung an das Volk in dessen Namen und den gemeinsamen Konsulat. Dann schreibt er weiter: nec ideo sincerae caritatis fidem adsecutus amoliri iuvenem specie honoris statuit struxitque causas aut forte oblatas arripuit. 341 rex Archelaus … (ann. 2,42,1 f.). Nachdem der Kaiser durch die zustzlich zum Triumph gewhrten Ehrenbezeugungen fîr Germanicus keinen Glauben an die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung gefunden hatte, beschloß er, den jungen Prinzen unter dem Anschein einer (weiteren) Ehrung zu entfernen (amoliri), konstruierte hierfîr Grînde oder griff gierig nach solchen, die der Zufall mit sich brachte. Anschließend berichtet Tacitus îbergangslos îber die Verhltnisse im Orient und gibt damit zu erkennen, daß sich dem Princeps hierin genau die Gelegenheit bot, nach der er hnderingend gesucht hatte. Tiberius macht im Bericht des Tacitus ‘aus der Not eine Tugend’. Die Lage im Orient liefert ihm nicht nur den lange ersehnten Grund fîr 337 Vgl. McCulloch Jr., 1984, 103 f. (zu ann. 2,41,3): „The popular attitude that Tacitus here explains has important implications. We recall that Tacitus tells us at 1.33.2 that Germanicus inherited his popularity from his father, Nero Drusus.“ 338 Vgl. O’Gorman, 2000, 55 f.; 69. 339 Vgl. Walker, 1952, 119; Devillers, 1994, 124. 340 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 73. 341 „[…] an important sentence, pregnant with Tacitean innuendo“ (McCulloch Jr., 1984, 75).

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1. Stereotype Charakterdarstellung

die Beseitigung seines Neffen, sondern auch die Mçglichkeit, unter dem Vorwand einer weiteren Ehrenbezeugung fîr Germanicus nun doch endlich Vertrauen in die scheinbare Aufrichtigkeit seiner Zuneigung gegenîber dem Prinzen zu gewinnen. Seine bisherigen Bemîhungen hatten schließlich keine Glaubwîrdigkeit gefunden. Durch den Hinweis auf die Heuchelei (specie honoris) werden letzten Endes alle dem Germanicus vom Kaiser angetragenen Ehrungen (Triumph/Konsulat) entkrftet und fîr wertlos erklrt.342 Zudem weiß der Leser seit ann. 2,5,1 um die perfiden Absichten des Kaisers, die sich mit der Orientmission des Germanicus verbinden. Ein direkter Vorwurf gegen den Princeps wird in ann. 2,42,1 lediglich durch die etwas unklare Bedeutung des Verbs amoliri vermieden.343 Wenn man sich jedoch vergegenwrtigt, in welchem Zusammenhang Tacitus dieses Wort sonst verwendet, mag die hier getroffene Aussage einen eindeutigen Sinn annehmen: Tiberius beschloß, den Prinzen wie eine unangenehme Last zu beseitigen.344 ann. 2,43. Nachdem Tacitus in ann. 2,42,2 – 5 die Lage im Orient geschildert hat, fîhrt er im nchsten Kapitel die weiteren Schritte des Tiberius vor: Der Princeps legt die Angelegenheit dem Senat vor und verweist darauf, daß die Unruhen in den çstlichen Provinzen nur durch die Klugheit des Germanicus beigelegt werden kçnnten. Denn sein eigenes Leben neige sich dem Ende zu und Drusus sei hierfîr noch nicht

342 Somit kçnnen wir ann. 2,42 als ein weiteres Beispiel fîr einen relativierenden Nachtrag anfîhren, bei dem der Eindruck der simulatio zur Herabsetzung ußerlich positiver Handlungen des Princeps eingesetzt wird. 343 S. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 72. 344 Siehe G&G s. v. amolior; vgl. insbes. hist. 1,13,3 mit einer zustzlichen inhaltlichen Parallele: namque Otho pueritiam incuriose adulescentiam petulanter egerat, gratus Neroni aemulatione luxus. eoque Poppaeam Sabinam, principale scortum, ut apud conscium libidinum deposuerat, donec Octaviam uxorem amoliretur. mox suspectum in eadem Poppaea in provinciam Lusitaniam specie legationis seposuit; hist. 3,31,2: primores castrorum nomen atque imagines Vitellii amoliuntur; hist. 3,75,3: sed Vitellius consulis supplicium poscenti populo restitit, placatus ac velut vicem reddens, quod interrogantibus, quis Capitolium incendisset, se reum Atticus obtulerat eaque confessione … invidiam crimenque agnovisse et a partibus Vitellii amolitus videbatur; ann. 14,59,3: et posito metu nuptias Poppaeae ob eius modi terrores dilatas maturare parat Octaviamque coniugem amoliri (sc. Nero), quamvis modeste ageret, nomine patris et studiis populi gravem (vgl. hist. 1,13,3); vgl. McCulloch Jr., 1984, 76: „[…] here amoliri almost comes to mean ‘eliminate’ […].“

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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reif genug: Igitur haec et de Armenia, quae supra memoravi 345 apud patres disseruit (sc. Tiberius), nec posse motum Orientem nisi Germanici sapientia componi; nam suam aetatem vergere, Drusi nondum satis adolevisse (ann. 2,43,1). Tiberius nennt demnach als ußeren Grund fîr die Entsendung gerade des Germanicus in den Orient dessen sapientia und offenbart dabei in den Augen des Lesers seine heuchlerische Absicht, den Prinzen specie honoris (ann. 2,42,1) zu beseitigen.346 Mag man die Aussagen bezîglich seines eigenen Alters noch gelten lassen,347 so erscheint sein Hinweis auf die mangelnde Reife des Drusus als reine Ausflucht – war dieser doch nur wenige Jahre jînger als sein Adoptivbruder und hatte bei der Niederschlagung der Militrrevolte in Pannonien sehr viel wirkungsvoller und selbstsicherer agiert (ann. 1,24 – 30) als Germanicus zur selben Zeit bei der Meuterei der rheinischen Legionen.348 Er war demnach mindestens ebenso qualifiziert fîr die Orientmission wie der etwas ltere Prinz. Zudem htte sich fîr den leiblichen Sohn des Princeps mit der Beilegung der Wirren im Orient die Gelegenheit geboten, sich endgîltig den Ruhm zu verschaffen, den der Kaiser selbst in ann. 2,26,4 im Zusammenhang mit der Abberufung des Germanicus von der Rheinfront in den Vordergrund gerîckt hatte.349 Doch Tiberius mçchte Germanicus schicken, und der Leser weiß bereits warum. Der Senat betraut schließlich auf dessen Ausfîhrungen hin den jungen Prinzen mit den Angelegenheiten im Osten und stattet ihn hierfîr mit einem maius imperium aus, das diesem ausdrîcklich eine hçhere Befehlsgewalt zukommen lßt als allen anderen, die nach Auslosung oder auf Weisung des Princeps eine Statthalterschaft innehaben: tunc decreto patrum permissae Germanico provinciae, quae mari dividuntur, maiusque imperium, quoquo adisset, quam iis qui sorte aut missu principis obtinerent (ann. 2,43,1). Vor diesem Hintergrund liest sich der nun folgende Bericht des Tacitus geradezu wie ein strategischer Plan des Kaisers zur Ausfîhrung seiner hinterhltigen Intrige: 345 Damit knîpft Tacitus an seine Darstellung in ann. 2,1 – 4 an; vgl. hierzu bes. Devillers, 1994, 121 f. 346 Vgl. Koestermann ad loc.: „Der Ausdruck sapientia umschließt hohes Lob, wie der Vergleich mit 2,64,1 veranschaulicht: laetiore Tiberio, quia pacem sapientia firmaverat, quam si bellum per acies confecisset.“ Doch es ist nur eine scheinbare Belobigung, wie Tacitus auch im folgenden noch deutlich machen wird (vgl. Anm. 350); vgl. McCulloch Jr., 1984, 75. 347 Tiberius stand zu diesem Zeitpunkt (17 n. Chr.) im 59. Lebensjahr. 348 Vgl. Koestermann, 1958, 332 Anm. 3. 349 Vgl. Anm. 293 (Koestermann ad ann. 2,26,4).

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1. Stereotype Charakterdarstellung

sed Tiberius 350 demoverat Syria Creticum Silanum, per adfinitatem conexum Germanico, quia Silani filia Neroni vetustissimo liberorum eius pacta erat, praefeceratque Cn. Pisonem, ingenio violentum et obsequii ignarum, insita ferocia a patre Pisone … sed praeter paternos spiritus uxoris quoque Plancinae nobilitate et opibus accendebatur; vix Tiberio concedere, liberos eius ut multum infra despectare (ann. 2,43,2 f.).

Tiberius setzt offenbar alles daran, seinem Neffen Schwierigkeiten zu bereiten. Nicht nur, daß er Creticus Silanus, den bisherigen Statthalter Syriens, der aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen ein gutes Verhltnis zu Germanicus hat, abberuft. Er ersetzt ihn auch noch ausgerechnet durch Cn. Piso, einen Mann von gewaltttigem Wesen und ohne jeden Sinn fîr Unterordnung, der von seinem Vater eine trotzige Sinnesart geerbt hat.351 Der Konflikt scheint an dieser Stelle bereits programmiert: Auf der einen Seite steht Germanicus, der Inhaber des îberlegenen imperium proconsulare maius, auf der anderen Seite der gewaltbereite und trotzige Piso, fîr den Unterordnung etwas vçllig Unbekanntes ist, der selbst die Autoritt des Kaisers kaum anerkennen mçchte und zustzlich aufgrund der edlen Abkunft und des Reichtums seiner Frau Plancina auf dessen Kinder wie auf etwas weitaus tiefer Stehendes herabblickt.352 Lßt bereits die kurze Charakterisierung des Piso den Leser fîr den Fortgang der Ereignisse nichts Gutes erahnen, so erhlt die gesamte konflikttrchtige Konstellation durch weitere Hinweise des Tacitus zustzlichen Zîndstoff: 350 Dieser adversative Nachtrag wirkt nun erneut relativierend zu den vermeintlich positiven øußerungen des Tiberius zu Beginn des Kapitels; vgl. Koestermann ad loc.: „Die einleitende Adversativpartikel entwertet die voraufgegangenen, fîr Tiberius scheinbar gînstigen Ausfîhrungen des Historikers.“ 351 Vgl. Syme, 1958, 492: „Alleging that he [sc. Germanicus] was needed in the eastern lands, Tiberius did his best to impede the legitimate ambitions of the young prince by appointing as governor of Syria Cn. Piso, a man of intractable temper with a family tradition of hostility to the Caesars“; McCulloch Jr., 1984, 76: „[…] we have not merely a parenthetical comment on Silanus’ marital connection with Germanicus, but the implied reason for Silanus’ removal: Tiberius had removed Silanus from Syria because he was connected to Germanicus by way of marriage.“ McCulloch Jr. (a.a.O.) weist desweiteren darauf hin, daß das Plusquamperfekt (demoverat) die sorgfltige Planung des Tiberius unterstreicht. Es verstrkt somit zustzlich den Eindruck, als habe der Kaiser eine Intrige gegen seinen Neffen von langer Hand vorbereitet. Zur Einsetzung Pisos zum Statthalter Syriens s. a.a.O. 77. 352 Vgl. Syme, 1958, 401: „Anybody could see that the relation between a prince of the dynasty, invested with proconsular imperium, and Caesar’s legate in Syria was a tricky matter […].“

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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nec dubium habebat (sc. Piso) se delectum, qui Syriae imponeretur ad spes Germanici coercendas. credidere quidam data et a Tiberio occulta mandata; et Plancinam haud dubie Augusta monuit aemulatione muliebri Agrippinam insectandi (ann. 2,43,4).

Der hier gegebene Text ist ein Musterbeispiel der taciteischen Insinuationskunst. Auf subtile Weise werden hier die gegen das Kaiserhaus im Zusammenhang mit der Orientmission des Germanicus erhobenen Vorwîrfe indirekt besttigt, ohne daß der Historiker in eigener Anschauung sprechen mîßte. Tacitus gibt zunchst die rein persçnliche Sicht des Piso wieder, der nicht daran zweifelte, daß er zum Statthalter Syriens erwhlt worden sei, um Germanicus in Schranken zu halten. Diese Einschtzung deckt sich mit der des Lesers, der lngst davon îberzeugt ist, daß Tiberius seinen Neffen im Orient Rnken und Widerwrtigkeiten aussetzen wollte (vgl. ann. 2,5,1; 2,42,1) und sich nun in dieser Meinung vollends besttigt findet. Dann beruft sich der Autor auf unbestimmte Gewhrsmnner (credidere quidam), die glaubten, daß Piso vom Princeps geheime Auftrge erhalten hatte, und liefert damit nichts anderes als den Beweis fîr die Richtigkeit der bisher gewonnenen Eindrîcke.353 Schließlich wird wie eine allgemein bekannte Tatsache (haud dubie) die Behauptung angefîhrt, Livia habe Plancina in ihrer weiblichen Eifersucht dazu angehalten, der Frau des Germanicus Unannehmlichkeiten zu machen. Dabei sind die Anklnge an ann. 1,33 nicht zu îberhçren: accedebant muliebres offensiones novercalibus Liviae in Agrippinam stimulis (ann. 1,33,3), wodurch wirkungsvoll an den dort eindringlich vor Augen gefîhrten verborgenen Haß des Kaisers und seiner Mutter gegenîber Germanicus – und damit an das grundlegende Motiv ihrer Intrigen – erinnert wird.354 Der Leser vermag der ˜berzeugungskraft der in ann. 2,43 dargebotenen Aussagen kaum zu widerstehen. Sie passen allzu gut in das bisher von Tacitus entworfene Szenario, als daß ernsthafte Zweifel an ihrer Glaubwîrdigkeit aufkommen kçnnten. Demnach steht nun fest, daß Tiberius und auch Livia aus tiefer Abneigung und Eifersucht heraus den beargwçhnten Prinzen in den Orient entsandt haben, um ihn dort in einen bçsen und wohlberechneten Machtkampf zu verstricken, der ihn schließlich das Leben kosten wird. 353 Vgl. Walker, 1952, 120: „So when Germanicus goes to the East he is a doomed man, and though the story of Piso’s instructions is given only as rumour (‘credidere quidam’), it seems to follow naturally on ‘struxit causas …’“; Shatzman, 1974, 564. 354 Vgl. Koestermann ad ann. 2,43,4.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Piso dient ihnen dabei als Mittel zum Zweck. Durch seinen trotzigen und hochmîtigen Charakter ist er der ideale Gegenspieler fîr Germanicus, und es drngt sich dem Leser unwillkîrlich der schlimme Verdacht auf, der Kaiser habe seinem Neffen durch die Wahl des neuen Statthalters bewußt eine Falle gestellt. Doch durch die aufgezeigten literarischen Kunstgriffe hat es der Historiker erneut vermieden, einen Vorwurf in Form einer direkten Beschuldigung zu erheben. ann. 2,54. Betrachten wir nun den weiteren Gang der Ereignisse: Auf seinem Weg in den Orient trifft Germanicus in Griechenland ein, wo ihm in Athen ein besonders ehrenvoller Empfang bereitet wird (ann. 2,53,3). Von dort aus reist er weiter nach Euboia, setzt îber nach Lesbos und gelangt an die Kîste Kleinasiens, wo er Ilion und andere verehrungswîrdige Orte besichtigt und schließlich bei Kolophon das Orakel des Apollon von Klaros aufsucht, um es zu befragen. Tacitus nutzt nun die Darstellung dieses Ereignisses zu einer weiteren Andeutung auf das kînftige Schicksal seiner tragischen Heldengestalt. Denn wie man berichtete, habe das Orakel in typischer Manier in dunklen Andeutungen Germanicus seinen frîhen Tod vorausgesagt: et ferebatur Germanico per ambages, ut mos oraculis, maturum exitum cecinisse (ann. 2,54,4). Der Hinweis auf das allzu frîhe Ableben des jungen Prinzen erfolgt hier in enger Anlehnung an das Kapitel ann. 2,41,3, wo das Volk sich um Germanicus Sorgen machte und abschließend feststellte: breves et infaustos populi Romani amores. Durch diesen engen inhaltlichen Zusammenhang wird der Leser dazu eingeladen, beide Stellen miteinander zu kombinieren und zu dem Orakelspruch das Motiv der invidia des Kaisers, die sich gegen die Beliebtheit seines Neffen richtet und der Grund fîr dessen Untergang ist, zu ergnzen.355 Damit hat Tacitus erneut auf den unterschwelligen Haß des Kaisers hingewiesen, ihn zum Schuldigen erklrt, ohne daß er dies offen zum Ausdruck bringen muß. Schließlich stîtzt er sich auch bei der Wiedergabe des ahnungsvollen Orakels, das ohnehin den Charakter einer vagen und unklaren Aussage in sich birgt, auf ein Gerîcht (ferebatur) und hat sich so ein weiteres Mal aller Verantwortung fîr dessen Inhalt entzogen.

355 Denn die Eifersucht des Tiberius konnte ja auch in ann. 2,41,3 durch den Rîckbezug auf ann. 1,33 deutlich zwischen den Zeilen herausgelesen werden (s. o. S. 114 f.). Man erkennt die klare Linie, die Tacitus ausgehend von ann. 1,33 bis hierhin gezogen hat.

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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ann. 2,55. Direkt im Anschluß an diese ‘Vorwarnung’ kommt nun im nchsten Kapitel ann. 2,55 erstmalig die feindselige Haltung des Piso gegenîber Germanicus offen zum Ausdruck. Diese rumliche Nhe ist dabei sicherlich nicht zufllig bedingt: Der subtile Hinweis auf das nahe Ende des Prinzen bekommt hierdurch rîckwirkend eine besondere Note. Denn der Leser ist durch die enge Abfolge der beiden Informationen (Vorhersage eines frîhen Todes des Germanicus / die offene Feindschaft des Piso) dazu geneigt, hier einen Kausalzusammenhang herzustellen und Piso in Verbindung mit dem baldigen Ende des Germanicus zu bringen.356 Betrachten wir nun den Inhalt von ann. 2,55 etwas genauer: Als der neue Statthalter nun seinerseits in Athen ankommt, geißelt er in scharfen Worten das Verhalten seines Gegenspielers, der die Einwohner der Stadt entgegen der Ehre des rçmischen Namens mit allzu großer Leutseligkeit (comitate nimia) behandelt habe (ann. 2,55,1). Im Eiltempo reist Piso weiter und erreicht auf abgekîrztem Seeweg bei Rhodos den Germanicus, der wohl um die drohend bevorstehenden Anfeindungen des Piso wußte. Trotzdem rettet der Prinz seinen Widersacher anschließend aus hçchster Seenot und stellt damit seine mansuetudo erneut unter Beweis (ann. 2,55,3). Piso bleibt hiervon jedoch unbeeindruckt, eilt dem Germanicus nach Syrien voraus und versucht, die dort stationierten Legionen fîr sich zu gewinnen – mit verheerenden Konsequenzen fîr die Moral der Truppe: et postquam Syriam ac legiones attigit (sc. Piso), largitione, ambitu, infimos manipularium iuvando, cum veteres centuriones, severos tribunos demoveret locaque eorum clientibus suis vel deterrimo cuique attribueret, desidiam in castris, licentiam in urbibus, vagum ac lascivientem per agros militem sineret, eo usque corruptionis provectus est, ut sermone vulgi parens legionum haberetur (ann. 2,55,5).

Dann kommt Tacitus auf das Verhalten der Plancina zu sprechen und fîhrt erneut ein Gerîcht an, das den Kaiser schwer belastet: nec Plancina se intra decora feminis tenebat, sed exercitio equitum, decursibus cohortium interesse, in Agrippinam, in Germanicum contumelias iacere, quibusdam etiam bonorum militum ad mala obsequia promptis, quod haud invito imperatore ea fieri occultus rumor incedebat (ann. 2,55,6).

Das gesamte Kapitel vermittelt den Eindruck, daß Tiberius hinter der feindseligen Haltung des Piso und seiner Frau Plancina steckt.357 Wirken 356 S. Devillers, 1994, 178. 357 Vgl. Shatzman, 1974, 564.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

die Anfeindungen gegen Germanicus in Athen nicht etwas îbertrieben, und htte der neue Statthalter Syriens wenigstens nach der großzîgigen Rettungsaktion des Germanicus nicht versçhnlicher gestimmt sein mîssen? Mußte er unbedingt die Legionen unter Einsatz solch ußerst fragwîrdiger Mittel an sich binden? Warum ist Plancina so eifrig dabei, die Truppen gegen die Familie des Prinzen aufzuhetzen? Ein solches Verhalten hat in den Augen des Lesers nur dann einen Sinn, wenn er die in ann. 2,43,4 genannten occulta mandata des Tiberius zugrunde legt, die zu einem solchen Vorgehen ermunterten.358 Die geheimen Auftrge des Kaisers, die zuvor nur in der Vermutung einer unbestimmten Gruppe Ausdruck gefunden hatten (credidere quidam), sind damit durch den inhaltlichen Kontext an dieser Stelle so gut wie besttigt worden. Das abschließend vorgetragene Gerîcht, nach dem die Schmhungen gegen Agrippina und Germanicus nicht ohne den Willen des Kaisers erfolgten, steht ganz in dieser Linie.359 Vor dem Hintergrund des vorangegangenen Orakelspruchs in ann. 2,54 kann der Leser nun den Ausgang der Germanicusgeschichte bereits erahnen: Piso wird nicht unschuldig am frîhen Tod des Prinzen sein, hauptverantwortlich ist aber letzten Endes Tiberius, der seinem Statthalter entsprechende Auftrge erteilt hat. Die Spannungen zwischen Piso und Germanicus nehmen nun immer weiter zu. Nach einem Treffen in Kyrrhos scheiden die beiden schließlich in offenem Haß (ann. 2,57). Der endgîltige Bruch ist damit vollzogen. Doch Germanicus îbt weiterhin Geduld, nimmt Krnkungen des Piso 358 Vgl. Koestermann ad ann. 2,55,6: „Angesichts der Schmhungen, mit denen Plancina Germanicus und Agrippina bedachte, konnte sich die Meinung verbreiten, daß sie von Tiberius und seiner Mutter gedeckt wurde, da ohne eine solche Voraussetzung ihr Treiben kaum begreifbar war.“ Die von Piso angewandten Methoden zum Gunsterwerb des Heeres standen vielleicht nicht im Einklang mit seiner eigenen Vergangenheit und widersprachen mçglicherweise auch den Prinzipien, die Tiberius hochzuhalten pflegte (so Koestermann ad ann. 2,55,4 f.), doch kçnnen sie den hier gewonnenen Eindruck, daß der Princeps die Machenschaften seines Statthalters insgesamt guthieß, nicht entkrften. Piso war von seiten des Kaisers offenbar mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet worden, die ihm ein solch eigenmchtiges und unkonventionelles Vorgehen durchaus gestatteten. So notiert Koestermann selbst an anderer Stelle (ad ann. 2,69,1): „Man muß also annehmen, daß jener [sc. Tiberius] Piso weitgehend freie Hand gelassen hat.“ Daß zudem das Verhalten des Statthalters auch nicht so recht zu seiner eigenen Vergangenheit passen mçchte, unterstreicht in meinen Augen nur zustzlich den Verdacht, daß der Princeps ihn durch seine geheimen Vorgaben zu einem solchen Gebaren gezwungen hat; vgl. insgesamt auch Devillers, 1994, 127. 359 Vgl. Shatzman, 1974, 564; Gibson, 1998, 119.

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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gelassen hin (ann. 2,57,4), kîmmert sich im folgenden um Angelegenheiten der Bundesgenossen in Armenien (ann. 2,58) und reist schließlich nach øgypten (ann. 2,59 – 61), womit er den Unmut des Kaisers auf sich zieht.360 ann. 2,69. Bei seiner Rîckkehr aus øgypten findet Germanicus alle Anordnungen, die er in den Legionen oder Stdten getroffen hatte, von Piso außer Kraft gesetzt oder ins Gegenteil verkehrt. Es kommt zu gegenseitigen schweren Vorwîrfen, und Piso ist entschlossen, Syrien zu verlassen. Doch dann wird Germanicus plçtzlich krank: dein Piso abire Syria statuit. mox adversa Germanici valitudine detentus, ubi recreatum accepit votaque pro incolumitate solvebantur, admotas hostias, sacrificalem apparatum, festam Antiochensium plebem per lictores proturbat. Tum Seleuciam degreditur, opperiens aegritudinem, quae rursum Germanico acciderat. saevam vim morbi augebat persuasio veneni a Pisone accepti; et reperiebantur solo ac parietibus erutae humanorum corporum reliquiae, carmina et devotiones et nomen Germanici plumbeis tabulis insculptum, semusti cineres ac tabo obliti aliaque malefica, quis creditur animas numinibus infernis sacrari. simul missi a Pisone incusabantur ut valetudinis adversa rimantes (ann. 2,69,1 – 3).

Germanicus wird zweimal krank. Dabei scheint die erste kurze Erkrankung von Tacitus nur deshalb angefîhrt worden zu sein, um die heftige Reaktion Pisos auf die Genesung seines Gegenspielers zu schildern. „Mit barscher Hand“361 greift der Statthalter ein, als das Volk von Antiochia ein Dankopfer fîr die wiederhergestellte Gesundheit des Prinzen darbringen mçchte und damit nichts anderes tut als seiner innigen Zuneigung zu Germanicus Ausdruck zu verleihen. Dessen Beliebtheit beim Volk ist somit abermals deutlich zwischen den Zeilen herauszulesen, und – wie es scheint – das Motiv fîr das strenge Vorgehen des Piso. Handelt er dabei nicht insgeheim im Auftrag des Kaisers? Schlagartig fîhlt sich der Leser an die invidia des Tiberius erinnert, wenn der favor populi des Germanicus an dieser Stelle wie ein unausgesprochenes Stichwort auftaucht. Die occulta mandata, die lngst als tatschlich gegeben erscheinen mîssen (s. o. S. 122), bieten auch hier den nçtigen Raum fîr eine maliziçse Interpretation der Ereignisse: Tiberius lßt den Sympathiebekundungen des Volkes fîr seinen Neffen durch Piso enge Zîgel anlegen. Dann erkrankt Germanicus ein zweites Mal, und sofort ist dieser der 360 S. hierzu o. S. 93 ff. 361 Koestermann ad loc.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

˜berzeugung, er sei von Piso vergiftet worden. Plçtzlich erscheint die zuvor gemachte Aussage des Tacitus, daß der Statthalter in Seleukia den Verlauf der wieder ausgebrochenen Krankheit abgewartet habe, in einem ganz anderen Licht. „Opperiens aegritudinem kann so verstanden werden, als sollte damit unterstellt werden, er [Piso] habe Grund gehabt zu erwarten, daß sie ernst sei“ schreibt Ryberg.362 Man kann diesen Gedanken sicherlich noch deutlicher formulieren und sagen, Piso habe aus sicherer Entfernung die Wirkung des von ihm verabreichten Giftes abwarten wollen. Der in der ˜berzeugung des Germanicus ausgesprochene Verdacht eines Giftanschlags wird nun eindrucksvoll erhrtet, indem Tacitus îber Anzeichen schwarzer Magie berichtet, die man im Umfeld des Erkrankten vorgefunden habe.363 Es ist ein schauerliches Bild von gewaltiger suggestiver Kraft, das hier vor den Augen des Lesers breit ausgemalt wird: Leichenreste, Zaubersprîche und Verwînschungen, Bleitfelchen, auf denen der Name des Germanicus eingeritzt war, mit Jauche beschmierte, halbverbrannte Kçrperteile und andere Zaubermittel, von denen man annahm, daß durch sie die Seelen von Menschen den Unterweltsgçttern geweiht wîrden, holte man aus dem Boden und den Wnden hervor. Der Leser wird durch dieses Schreckensgemlde auf seiner Gefîhlsebene angesprochen und erregt. Die abschließende Bemerkung, daß von Piso gesandte Boten beschuldigt wurden, sie sphten nach Anzeichen fîr eine Verschlimmerung der Krankheit, fllt damit auf fruchtbaren Boden. Sie verstrkt zustzlich den Eindruck, der Statthalter Syriens habe Germanicus vergiftet und wolle sich nun durch Spher der Wirksamkeit seines Attentats vergewissern.364 Man beachte, daß Tacitus den Vorwurf des Giftanschlags an keiner Stelle in eigener Verantwortung vorbringt. Er trgt lediglich die entsprechende ˜berzeugung des Germanicus vor, die er jedoch in seinem Bericht vor allem durch das verdchtige Verhalten des Piso als richtig erscheinen lßt. Auch das folgende Kapitel steht ganz im Zeichen dieser raffinierten Erzhlstrategie. ann. 2,70. Germanicus macht sich auf dem Krankenlager Sorgen um das weitere Wohlergehen seiner Familie und bezichtigt ein weiteres Mal den Piso des Giftanschlags und spricht nun offen von Mord. Tacitus schreibt erneut aus der Sicht des jungen Prinzen: 362 Ryberg, bei Pçschl, 1969, 74. 363 Vgl. Shatzman, 1974, 564. 364 Vgl. Devillers, 1994, 127.

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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si limen obsideretur, si effundendus spiritus sub oculis inimicorum foret, quid deinde miserrimae coniugi, quid infantibus liberis eventurum? lenta videri veneficia: festinare et urgere, ut provinciam, ut legiones solus habeat. sed non usque eo defectum Germanicum, neque praemia caedis apud interfectorem mansura (ann. 2,70,1).365

Die Kunde von der Ankunft der Gesandten Pisos, die nun in seinen Augen als Feinde seine Schwelle belagern, veranlaßt den Prinzen zu der Bemerkung, daß das Gift dem Piso anscheinend nicht schnell genug wirke. Er eile und drnge, um die Provinz mitsamt ihren Legionen in seine Hand zu bekommen. Dann berichtet Tacitus von den Gegenmaßnahmen des Germanicus, wie dieser dem Statthalter brieflich die Freundschaft kîndigte und – so berichteten jedenfalls die meisten Quellen zustzlich – ihm befahl, die Provinz zu verlassen: componit epistulas (sc. Germanicus), quis amicitiam ei (sc. Pisoni) renuntiabat; addunt plerique iussum provincia decedere (ann. 2,70,2). Und Piso verhlt sich nun entsprechend den Verdchtigungen des Germanicus und stellt fîr den Leser damit erneut durch sein Handeln deren Richtigkeit unter Beweis: nec Piso moratus ultra naves solvit, moderabaturque cursui quo propius regrederetur, si mors Germanici Syriam aperuisset (ann. 2,70,2). Der Statthalter lichtet zwar die Anker und verlßt die Provinz, doch verlangsamt er die Fahrt, damit er aus um so nherer Entfernung zurîckkehren kçnne, wenn der Tod des Germanicus ihm den Weg nach Syrien freigemacht habe. Dabei scheint die prgnante Wendung ‘Syriam aperuisset’ doch ganz auf die Behauptung des Germanicus zugeschnitten zu sein, daß sein Gegenspieler sich der gesamten Provinz bemchtigen wolle, und deshalb ungeduldig auf die tçdliche Wirkung des Giftes wartete.366 Verdchtig ist zudem, daß Piso bei seiner Abreise bereits fest mit dem Tod des Germanicus zu rechnen scheint. Dies kann fîr den Leser nur bedeuten, daß er îber die Vergiftung des Prinzen genauestens im Bilde war. ann. 2,71. In ann. 2,71,1 bezeichnet sich Germanicus als scelere Pisonis et Plancinae interceptus und bittet angesichts des nahen Todes seine Freunde um einen letzten Gefallen: 365 Zur stilistische Ausgestaltung dieser Stelle s. Walker, 1952, 122: „This passage is of course highly rhetorical in style – in the extreme dramatisation of the situation, the short, urgent clauses, the repeated questions – and it leads directly to Germanicus’ dying address to his friends (§71).“ 366 Schließlich versucht Piso nach dem Tod des Germanicus tatschlich, die Provinz widerrechtlich zurîckzuerobern (s. bes. ann. 2,76 – 81); vgl. Koestermann ad ann. 2,70,2.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

referatis patri ac fratri, quibus acerbitatibus dilaceratus, quibus insidiis circumventus miserrimam vitam pessima morte finierim. si quos spes meae, si quos propinquus sanguis, etiam quos invidia erga viventem movebat, inlacrimabunt quondam florentem et tot bellorum superstitem muliebri fraude cecidisse (ann. 2,71,1 f.).

Deutlich ußert Germanicus noch einmal seine Sicht der Dinge: Von Drangsalen zerrissen und von Hinterlist umstrickt habe er sein unglîckliches Leben pessima morte beendet. Davon solle dem Vater und dem Bruder berichtet werden. Dienten diese Aussagen bisher nur der weiteren Besttigung der bçsen Intrigen, in die der junge Prinz verwickelt worden war, so wird durch die anschließenden Bemerkungen subtil an die dahinter stehenden Beweggrînde erinnert. Alle wîrden sie um ihn weinen, egal welche Gefîhle ihm zu Lebzeiten auch entgegengebracht wurden – so lauten sinngemß die Worte des sterbenden Germanicus. Diese Gefîhle sind nun dreierlei Art. Zunchst werden die in den Prinzen gelegten Hoffnungen, dann die zu ihm bestehende Blutsverwandtschaft und schließlich die invidia genannt, diese deutlich hervorgehoben durch ein bekrftigendes etiam. Damit ist fîr den Leser nun das Stichwort fîr die gedankliche Verbindung zu Tiberius gegeben: Die Eifersucht des Princeps auf seinen Neffen wird der Trauer nicht im Wege stehen.367 Auch die beiden anderen hier genannten Empfindungen kann der Leser jetzt in Bezug auf den Kaiser deuten und dabei feststellen, daß darin nichts anderes zum Ausdruck kommt als die Grînde fîr dessen geheimen Haß auf Germanicus. Denn die in den Prinzen gelegten Hoffnungen (vgl. ann. 1,33,2) und die Blutsverwandtschaft zum Kaiserhaus waren schließlich die auslçsenden Krfte fîr die Befîrchtung des Princeps gewesen, sein Adoptivsohn kçnnte seine starke Position dazu nutzen, die Herrschaft an sich zu reißen. So hat Tacitus in den von ihm wiedergegebenen letzten Worten des Germanicus auf die unheilvolle Rolle des Tiberius – und nicht zuletzt auch die der Livia – in der gesamten ‘Tragçdie’ des Germanicus hingewiesen. Ihn, den Kaiser, will der Historiker immer noch als Schuldigen im Hintergrund gesehen wissen, auch wenn er im unmittelbaren Zusammenhang auf die Machenschaften des Piso und seiner Frau abzielt. Die Ansicht des Prinzen, er sei muliebri fraude

367 Wie sehr sich Germanicus in dieser Einschtzung irrte, beweist Kapitel ann. 3,3, wo vom Fernbleiben des Kaisers von der çffentlichen Trauer um den Prinzen berichtet wird (s. o. S. 52 ff.).

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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umgekommen, lßt hier wahrscheinlich Plancina als die Hauptverantwortliche fîr dessen Tod erscheinen.368 ann. 2,72. Der Tod des Germanicus wird nun in ann. 2,72 berichtet: neque multo post exstinguitur (sc. Germanicus), ingenti luctu provinciae et cumiacentium populorum (ann. 2,72,2). Auffallend ist dabei das Prdikat exstinguitur. Tacitus scheint hier m. E. mit den verschiedenen Anwendungsbereichen des Verbums zu spielen. Man kann es an dieser Stelle einerseits mediopassivisch im Sinne von mori oder vitam amittere auffassen.369 Andererseits lßt sich die Form auch als reines Passiv deuten,370 wobei der Leser dazu verleitet wird, sich den Urheber des Mordes hinzuzudenken. Dann wîrde die Aussage lauten: ‘Germanicus wurde ausgelçscht’, also umgebracht, womit deutlich zum Ausdruck gebracht wre, daß beim Ableben des Prinzen eine fremde Hand im Spiel war. Tacitus îberlßt es nun dem Leser, ob er in dem Prdikat lediglich ein harmloses Synonym fîr ‘sterben’ oder aber einen weiteren Hinweis auf den gewaltsamen Tod des Germanicus herauslesen mçchte. Jedenfalls muß man sich fragen, warum der Schriftsteller bei der großen Auswahl an Begriffen, welche die lateinische Sprache fîr das Hinscheiden eines Menschen bereithlt, gerade diese zweideutige Form gewhlt hat.371 Zudem erweckt das Wort den Gedanken an das Auslçschen eines Lichtes:372 Mit Germanicus stirbt ein glanzvoller Hoffnungstrger des rçmischen Volkes.

368 Vgl. Koestermann ad loc.; Goodyear ad loc. weist jedoch darauf hin, daß der Ausdruck muliebri fraude auch auf den Giftmord im allgemeinen Sinne hinweisen kçnnte: „Poison is a woman’s weapon.“ 369 S. G&G 432: „i. q. mori“; vgl. ThLL V,2, Sp. 1925 f.; OLD 657. 370 S. G&G 432: „i. q. necare“; vgl. ThLL V,2, Sp. 1918 f.; OLD 657. 371 Vgl. ann. 6,23,2: Drusus deinde exstinguitur (s. hierzu Ryberg, bei Pçschl, 1969, 79). 372 exstinguere wird hufig in Bezug auf lumen, lux, sol verwendet; vgl. ThLL V,2 Sp. 1914; s. auch R. Cramer: Vergils Weltsicht. Optimismus und Pessimismus in Vergils Georgica, Berlin, New York 1998, 59 f. zu Verg. georg. I, 466 – 468 (Tod Caesars); Cramer verweist u. a. auf Cic. Deiot. 15, wo Cicero seinen Klienten gegen den Vorwurf verteidigt, er habe Caesar umbringen wollen. Zu diesem Zweck hebt er auf die Grausamkeit des Vorhabens ab, omnium gentium atque omnis memoriae clarissimum lumen exstinguere; nat. deor. 2,14 (îber den Tod des jîngeren Africanus): … quo quidem anno P. Africanus sol alter exstinctus est; vgl. Tac. ann. 2,37,1: … ne clarissima familia exstingueretur.

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1. Stereotype Charakterdarstellung

ann. 2,73. Nach dem Tod des Germanicus gab es manche Leute, die den Verstorbenen aufgrund aufflliger Parallelen mit Alexander dem Großen verglichen (ann. 2,73). et erant qui formam aetatem genus mortis, ob propinquitatem etiam locorum, in quibus interiit (sc. Germanicus), magni Alexandri fatis adaequarent. nam utrumque corpore decoro, genere insigni, haud multum triginta annos egressum, suorum insidiis externas inter gentes occidisse … (ann. 2,73,1 f.).

Beide Persçnlichkeiten seien durch Anschlge der eigenen Leute umgekommen. Insidiis suorum kann sich unmittelbar auf die Aktivitten des Piso und seiner Frau, mittelbar aber auch auf die Intrigen des Tiberius und der Livia beziehen.373 Dabei hat Tacitus den hier zugrundeliegenden Vorwurf ein weiteres Mal in den Mund der çffentlichen Meinung gelegt (erant qui) und somit seine objektive Distanz gewahrt.374 ann. 2,74. Nach dem Tod des Germanicus wird in Rom der Prozeß gegen Piso vorbereitet. Auf Verlangen der Anklger schickt Sentius, der neue Statthalter Syriens, eine gewisse Martina in die Hauptstadt des Reiches: isque (sc. Sentius) infamem veneficiis ea in provincia et Plancinae percaram nomine Martinam in urbem misit … (ann. 2,74,2). Nachdem Tacitus am Ende des vorangegangenen Kapitels seine objektive Berichterstattung noch einmal bekrftigt hat, indem er darauf aufmerksam machte, daß man aufgrund der jeweiligen Parteinahme fîr oder gegen Germanicus nicht sicher feststellen konnte, ob der Leichnam des Prinzen nun wirklich Merkmale einer Vergiftung aufgewiesen habe,375 lßt er nun wiederum eine seiner subtilen Anspielungen fallen, die den Giftmordverdacht v. a. gegen Plancina erhrtet. Die nach Rom entsandte Martina war in der Provinz Syrien eine wegen ihrer Giftmischerei berîchtigte Frau. Daß gerade eine solche Frau zum Prozeß gegen Piso geladen wird, ist fîr den Leser bereits aussagekrftig genug, wird doch damit der bisher 373 Vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 76. 374 Koestermann ad loc. weist darauf hin, daß sich Tacitus bei dem Elogium des Germanicus des gleichen Kunstgriffes bediene wie beim ‘Totengericht’ îber Augustus, indem er die Worte anonymen Sprechern in den Mund lege und sich dadurch von dem Pomp der Darstellung ein wenig distanzieren kçnne; vgl. Syme, 1958, 315. 375 S. ann. 2,73,4: corpus (sc. Germanici) antequam cremaretur nudatum in foro Antiochensium, qui locus sepulturae destinabatur, praetuleritne veneficii signa, parum constitit: nam ut quis misericordia in Germanicum et praesumpta suspicione, aut favore in Pisonem pronior, diversi interpretantur, vgl. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 75; Develin 1983, 93.

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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nur in den Augen des Germanicus bestehende Verdacht auf eine Vergiftung nun auf eine allgemeingîltige und offizielle Ebene gehoben. Der Vorwurf des Giftmords war demnach fîr Außenstehende glaubwîrdig genug, um ihn vor Gericht einer nheren Untersuchung zu unterziehen. Nun war Martina aber nicht nur eine berîhmte Giftmischerin, sondern auch eine enge Vertraute der Plancina. Diese beiden Aussagen lßt Tacitus nun unkommentiert wirken und vermeidet so eine direkte Beschuldigung. Der Gedankengang, den der Leser vollziehen soll, ist jedoch klar: Plancina hat mit Hilfe ihrer Freundin Martina das Attentat auf Germanicus durchgefîhrt. Die Intensivform percaram gibt zu verstehen, wie eng das Verhltnis zwischen den beiden Frauen war, und verstrkt den hier gewonnenen Eindruck des gemeinschaftlich verîbten Mordes an dem Prinzen. ann. 2,77; 2,82. Auch nach dem Bericht îber den Tod des Germanicus reißt die Serie der versteckten oder indirekt vorgebrachten Beschuldigungen gegen Piso und Plancina bzw. Tiberius und Livia nicht ab. Als Domitius Celer in ann. 2,77 seinen engen Freund Piso dazu bewegen mçchte, die Statthalterschaft in Syrien wieder an sich zu reißen, ermutigt er ihn mit dem Hinweis, daß Tiberius und Livia insgeheim auf seiner Seite stînden. Und der Tod des Germanicus wîrde von niemandem mehr beklagt als von denen, die sich am meisten darîber freuten: est tibi Augustae conscientia, est Caesaris favor, sed in occulto; et perisse Germanicum nulli iactantius maerent quam qui maxime laetantur (ann. 2,77,3).376 Sehr eindrucksvoll ist dann Kapitel ann. 2,82, wo das Volk in Rom auf die Nachricht der Erkrankung des Germanicus mit lauten Klagen reagiert und in einer Art Zusammenfassung alle Gerîchte und Verleumdungen wiederholt, die im Zusammenhang mit dem Schicksal des Germanicus bisher vorgebracht worden sind. Dabei ist zu beachten, daß Tacitus zu Beginn des Kapitels zur Vorsicht mahnt. Wie bei der weiten Entfernung verstndlich, sei alles schlimmer dargestellt worden: At Romae, postquam Germanici valitudo percrebuit cunctaque ut ex longinquo aucta in deterius adferebantur, dolor ira, et erumpebant questus: ideo nimirum 376 Vgl. hierzu Koestermann, 1958, 358 f. Die Darlegungen Celers lassen erkennen, „was Tacitus von den gegen Piso und Tiberius vorgebrachten Beschuldigungen fîr erwiesen hlt, nmlich einmal die Geheiminstruktionen und zum anderen die unverhohlene Feindschaft des Kaisers und seiner Mutter gegen Germanicus“ (a.a.O. 359).

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1. Stereotype Charakterdarstellung

in extremas terras relegatum, 377 ideo Pisoni permissam provinciam; hoc egisse secretos Augustae cum Plancina sermones. vera prorsus de Druso seniores locutos: displicere regnantibus civilia filiorum ingenia, neque ob aliud interceptos, quam quia populum Romanum aequo iure complecti reddita libertate agitaverint (ann. 2,82,1 f.).

Die Warnung des Tacitus, daß das Volk in seinem Gerede mçglicherweise îbertreibe, tut der Wirkung des wiedergegebenen Geschwtzes keinen Abbruch. Sie dient dem Historiker lediglich dazu, seine Distanz zu den anschließend vorgetragenen Vorwîrfen zu verdeutlichen und damit erneut Vertrauen in seine Objektivitt zu erwecken. Gegen Ende des zweiten Annalenbuches bieten die sermones vulgi eine abschließende Besttigung fîr die Schuld des Tiberius und seiner Mutter Livia am Tode des Germanicus. Schritt fîr Schritt werden hier die Intrigen des Kaiserhauses und deren Beweggrînde noch einmal in das Gedchtnis des Lesers zurîckgerufen. Dabei ist zu beachten, daß Tacitus die Deutung der Ereignisse, îber die er bisher als objektiver Historiker berichtet hat, dem Volk in den Mund legt.378 Er selbst stellt wiederum nur fest und îberlßt es anderen, die prsentierten Fakten in malam partem zu interpretieren. ann. 3,7; 3,11; 3,14 f. Auch im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Piso, der in den Eingangskapiteln des dritten Buches der Annalen behandelt wird, gibt Tacitus deutliche Hinweise auf die ‘wahren’ Hintergrînde der ‘Germanicustragçdie’. Nach der allgemeinen Trauer um den Prinzen kehrte man zu seinen Geschften zurîck, und alle warteten mit Spannung darauf, daß an Piso Rache genommen werde. Vielfach erhob man Klage, daß dieser, whrend er im schçnen Asia und Achaia umherreiste, durch sein anmaßendes und hinterlistiges Sumen die Beweismittel fîr seine Verbrechen habe beseitigen wollen (ann. 3,7,1: … quod vagus interim per amoena Asiae et Achaiae adroganti et subdola mora scelerum probationes subverteret). Der Grund fîr diesen Vorwurf ist der plçtzliche Tod der Giftmischerin und wichtigen Zeugin Martina: nam vulgatum erat missam, ut dixi, a Cn. Sentio famosam veneficiis Martinam subita morte Brundisii exstinctam, venenumque nodo crinium eius occultatum, nec ulla in corpore signa sumpti exitii reperta (ann. 3,7,2). Nicht nur, daß Piso hier ein weiteres Mal des Verbrechens an Germanicus be377 S. hierzu Walker, 1952, 123: „The entirely inaccurate but effective use of ‘relegatum’ indicates that Tacitus is here choosing words for their emotional value rather than for their meaning.“ 378 S. Develin, 1983, 93: „The interpretation of events is in others’ mouths (2.82).“

2. Darstellung grçßerer Themenkomplexe

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schuldigt wird. Wie ein Beweis fîr diese Anschuldigung trifft ihn auch noch der indirekt geußerte Vorwurf, er habe Martina umbringen lassen, um seine Schuld zu vertuschen. Aufschlußreich ist nun weiterhin, was îber die Todesumstnde dieser Martina ausgesagt wird. Zwar sei in ihrem Haarknoten Gift versteckt gewesen, doch habe man keinerlei Anzeichen fîr einen Selbstmord vorfinden kçnnen. Demnach hielt man es fîr mçglich, daß sie sich selbst vergiftet haben kçnnte, ohne irgendwelche Spuren hinterlassen zu haben. Die von Tacitus in ann. 2,73,4 zur Bekrftigung seiner Objektivitt angefîhrte Bemerkung, man habe nicht sicher feststellen kçnnen, ob der Leichnam des Germanicus Merkmale einer Vergiftung aufgewiesen habe, erscheint nun rîckblickend in einem neuen Licht. Denn der von den Anhngern des Piso als Gegenbeweis fîr den Giftmordverdacht angefîhrte Hinweis auf den Kçrper des toten Prinzen scheint nun entkrftet. Wie raffiniert der Bericht des Tacitus an dieser Stelle ist, erkennt man rasch, wenn man sich vor Augen fîhrt, daß es fîr Piso und seine Frau Plancina kein Entrinnen mehr aus der Verantwortung fîr den Tod des Germanicus gibt. Denn entweder steckt Piso selbst hinter dem Tod der wichtigen Zeugin und spricht sich gerade deshalb schuldig, oder Martina hat sich mit Gift das Leben genommen, ohne daß man dies nachweisen konnte. Dann wre der Beweis erbracht, daß die Giftmischerin als enge Vertraute der Plancina Germanicus ebenso unbemerkt aus dem Wege hat rumen kçnnen.379 Der Umstand, daß man an der Leiche des Prinzen keine Anzeichen einer Vergiftung habe feststellen kçnnen, ist jedenfalls vçllig belanglos geworden. Es sei abschließend vermerkt, daß erneut die anonyme Volksmasse Anklage erhebt und nicht Tacitus.380 In ann. 3,11,2 berichtet der Historiker, wie der Angeklagte mehrere bedeutende Persçnlichkeiten als Verteidiger fîr sich gewinnen wollte, diese aber bezeichnenderweise verschiedene Grînde zu ihrer Entschuldigung vorbrachten.381 Nur drei Mnner waren schließlich bereit, Piso zur Seite zu stehen, unter ihnen dessen Bruder Lucius, wobei die gesamte 379 Vgl. Koestermann ad loc.: „Da man sich ihren [sc. Martinas] plçtzlichen Tod nicht anders erklren konnte, nahmen die Menschen in ihrem Argwohn an, das Gift habe keine Spuren in ihrem Kçrper hinterlassen. Dasselbe konnte auch bei Germanicus der Fall gewesen sein, wenn die Giftmischerin im Auftrage der Plancina ihre Hand im Spiel gehabt htte (vgl. Nipperdey z. St.).“ 380 Vgl. Shatzman, 1974, 565. 381 Vgl. Koestermann ad loc.: „Daß soviele angesehene Mnner sich Piso auf seine Bitte hin versagten, beweist, daß man nicht in eine Sache hineingezogen werden wollte, deren Hintergrînde in Dunkel gehîllt waren.“

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1. Stereotype Charakterdarstellung

Bîrgerschaft gespannt war, wie groß die Treue bei den Freunden des Germanicus war, wieviel Selbstvertrauen der Angeklagte besaß und ob Tiberius seine Gefîhle hinreichend beherrschen und unterdrîcken konnte. ˜berhaupt habe sich das Volk bei keiner anderen Gelegenheit mehr gegen den Princeps an geheimen Reden oder mißtrauischem Schweigen erlaubt: … arrecta omni civitate, quanta fides amicis Germanici, quae fiducia reo, satin cohiberet ac premeret sensus suos Tiberius. [is]382 haud alias intentior populus plus sibi in principem occultae vocis aut suspicacis silentii permisit (ann. 3,11,2). Im Verhalten des Volkes ußert sich indirekt eine Anschuldigung gegen den Kaiser. Sollte er am Tod des Germanicus unschuldig gewesen sein, warum achtete man so genau darauf, ob er seine Gefîhle unter Kontrolle halten konnte? Was hatte die Volksmenge im Geheimen gegen Tiberius zu tuscheln, weshalb schwieg sie andererseits so verdchtig? Der Leser weiß, daß Tacitus in seiner Schilderung des Volksgebarens auf die invidia des Princeps gegen seinen Neffen anspielen mçchte. Diese muß der Kaiser unterdrîcken, will er sich nicht zum Schuldigen erklren. Den Schuldspruch fllt jedoch Tacitus, indem er das Volk dem Princeps îberhaupt einen Grund zur Selbstbeherrschung unterstellen lßt. Diese Art der versteckten Anschuldigung findet sich bereits wenige Kapitel spter wieder, diesmal aus der Perspektive des Historikers selbst: … nullo magis exterritus est (sc. Piso) quam quod Tiberium sine miseratione, sine ira, obstinatum clausumque vidit, ne quo adfectu perrumperetur (ann. 3,15,2). Dort spricht zustzlich der Schrecken des Piso vor dem regungslos dasitzenden Tiberius fîr dessen Beteiligung am Tod des Germanicus. Denn der Leser kann aus dem Entsetzen des angeklagten Statthalters Rîckschlîsse îber Tiberius ziehen: Aus der Sicht des Piso, der ja um die wahren Hintergrînde der ‘Germanicustragçdie’ wissen mußte, war es unbegreiflich, wie gut der Kaiser sein wahres Gesicht und damit seine Schuld verbergen konnte. In ann. 3,14 werden die einzelnen Anklagepunkte im Prozeß gegen Piso kritisch geprîft. Whrend die Verteidigung weder das Buhlen um die Soldatengunst noch die Auslieferung der Provinz an gerade die schlechtesten Elemente, ja nicht einmal die Beleidigungen gegen Germanicus abstreiten konnte, schien Piso allein den Vorwurf des Giftmordes entkrftet zu haben, weil nicht einmal die Anklger dies hinrei382 Zur Textîberlieferung s. Koestermann ad loc. Das handschriftlich bezeugte, doch syntaktisch schwer zu deutende is (Dativ?) ist wahrscheinlich eine Dittographie im Anschluß an Tiberius oder aus einem Mißverstndnis des Schreibers heraus entstanden.

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chend begrînden konnten: solum veneni crimen visus est diluisse, quod ne accusatores quidem satis firmabant, in convivio Germanici, cum super eum Piso discumberet, infectos manibus eius cibos arguentes (ann. 3,14,1). Damit scheint Piso zunchst in Hinblick auf den Giftmordverdacht entlastet zu sein. Betrachtet man jedoch die Begrîndung fîr diesen vermeintlichen ‘Freispruch’ etwas genauer, so fllt doch auf, daß dieser allein auf eine konkrete Situation bezogen ist, nmlich auf ein Gastmahl des Germanicus, bei dem der Statthalter von Syrien unmittelbar vor dem Prinzen seinen Platz eingenommen hatte. In der Tat muß es widersinnig angemutet haben, daß Piso bei dieser Gelegenheit ein Attentat auf seinen Rivalen verîbt haben soll, wie selbst Tacitus begrîndend ausfîhrt: quippe absurdum videbatur inter alia servitia et tot adstantium visu, ipso Germanico coram, id ausum (ann. 3,14,2). Doch die von den Anklgern vorgebrachte und von den Verteidigern abgeschmetterte Gastmahl-Situation ist doch nur eine von vielen denkbaren Mçglichkeiten fîr einen Anschlag gegen Germanicus gewesen. Was ist darîber hinaus mit Plancina, was mit deren enger Freundin und Giftmischerin Martina, die so plçtzlich und unter mysteriçsen Umstnden gestorben war? Kein Wort wird an dieser Stelle îber diese beiden Frauen verloren. Allein die Anschuldigung gegen Piso, allein der Vorwurf einer Vergiftung des Opfers im Rahmen eines Gastmahls wird hier als unglaubwîrdig abgewiesen. Ein Beweis fîr die generelle Unschuld des Verdchtigen ist damit noch lngst nicht erbracht. Der konkret gehaltene Vorwurf traf nicht zu. Mit ruhigem Gewissen konnte der Angeklagte daher auch sein Gesinde zum Verhçr anbieten und die Vernehmung der aufwartenden Diener verlangen: offerebatque familiam reus et ministros in tormenta flagitabat (ann. 3,14,2). Eine nachgetragene Bemerkung îber die unerbittliche Haltung des Kaisers und des Senats bringt die nur bedingt erfolgte Entlastung des Angeklagten auf den Punkt: sed iudices per diversa implacabiles erant, Caesar ob bellum provinciae inlatum, senatus numquam satis credito sine fraude Germanicum interisse (ann. 3,14,3). Dabei wird eine merkwîrdige Umkehrung der eigentlich zu erwartenden Denkweisen offenbar: Fîr Tiberius stand nicht etwa die Ahndung des vermeintlichen Giftmordes an seinem eigenen Neffen im Vordergrund. Vielmehr wollte er Piso bestrafen, weil er die Provinz in den Kriegszustand gebracht habe. Dem Senat wiederum schien es nie hinreichend glaubhaft gewesen zu sein, daß Germanicus ohne Heimtîcke ums Leben gekommen sei. Htte man nicht vermuten sollen, daß die hier vorgetragenen Motive fîr die Unerbittlichkeit der Richter genau in umgekehrter Weise Geltung beanspruchen mußten? Htte der Kaiser nicht viel mehr um den Tod eines

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seiner Familienmitglieder bekîmmert sein sollen als der Senat? Sicherlich, Syrien war eine dem Kaiser direkt unterstellte Provinz. Die Aufrechterhaltung des Friedens war somit von besonderem Interesse fîr den Princeps, von dem es schon an anderer Stelle geheißen hat, daß ihm nichts in gleicher Weise Sorgen bereitete wie eine mçgliche Stçrung der bestehenden Ordnung.383 Doch wie kalt und gefîhllos wirkt dessen Verhalten, wenn er hier die Wahrung des Friedens gegenîber dem ungeklrten Schicksal des Germanicus so in den Vordergrund schiebt! Wenn dagegen der Senat sich des Todes des Prinzen annimmt, so unterstreicht dies nur den bisher gewonnenen Eindruck, daß der diesbezîgliche Tatverdacht gegen Piso zu dringend war, als daß er bisher ausreichend entkrftet werden konnte. Klingt die Schuld des Tiberius in seiner Gefîhlsklte bereits an, so wird sie im folgenden durch eine zustzliche Anspielung weiter erhrtet: ** scripsissent expostulantes, quod haud minus Tiberius quam Piso abnuere (ann. 3,14,3). Der auf uns gekommene Text ist an dieser Stelle nicht vollstndig erhalten. Doch es spricht einiges dafîr, daß in der anzusetzenden Lîcke von einer Erneuerung der Anklage gegen Piso die Rede war, wobei die Anklger nun Einsicht in den Briefwechsel zwischen dem Kaiser und seinem Statthalter forderten.384 Dies lehnten beide gleichermaßen ab. Die Grînde fîr diese ablehnende Haltung nennt Tacitus nicht. Und doch meint der Leser sie genau zu kennen. Fîr ihn ist es nach der ganzen Vorgeschichte nur allzu verstndlich, wenn Tiberius und Piso sich der Forderung nach einer Offenlegung ihrer brieflichen Korrespondenz versagten. Htte dieses zustzliche Beweismaterial doch die occulta mandata ans Licht bringen kçnnen, die beide nicht nur schwer belastet, sondern auch ihrer Intrigen regelrecht îberfîhrt htten. Ihre Weigerung ist daher an sich schon sehr aussagekrftig. Tacitus endet mit einem eindrucksvollen Hinweis auf die aufgebrachte Stimmung im Volk: simul populi ante curiam voces audiebantur: non temperaturos manibus, si patrum sententias evasisset (sc. Piso). effigiesque Pisonis traxerant in Gemonias ac divellebant, ni iussu principis protectae repositaeque forent. igitur inditus lecticae et a tribuno praetoriae cohortis deductus est, vario rumore, custos saluti an mortis exactor sequeretur (ann. 3,14,4 f.).

Nach der Lektîre des Kapitels ist nun endgîltig klar, wen Senat und Volk von Rom, immerhin die Vertreter der alten republikanischen Freiheit, fîr 383 S. ann. 2,65,1 im Zusammenhang mit Unruhen in Thrakien: Nihil aeque Tiberium anxium habebat, quam ne composita turbarentur. 384 Vgl. Koestermann ad loc.

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den Tod des Germanicus verantwortlich machen. Der Leser schließt sich ihrer ˜berzeugung gerne an. Ebenso groß war der Haß, der sich gegen Plancina richtete, doch stand sie in grçßerer Gunst, weshalb man nicht sicher wußte, wie weit der Princeps gegen sie vorgehen durfte. Mit diesen einleitenden Worten wendet Tacitus nun im nchsten Kapitel ann. 3,15 das Augenmerk auf die Frau des Piso. Solange die Hoffnungen ihres Mannes noch in der Schwebe waren, hatte sie versichert, sie werde jedes beliebige Schicksal mit ihm teilen und notfalls mit in den Tod gehen. Doch dann geschah etwas Merkwîrdiges: ut secretis Augustae precibus veniam obtinuit, paulatim segregari a marito, dividere defensionem coepit (ann. 3,15,1). Livia deckt Plancina und erwirkt durch geheime Bitten Gnade fîr ihren Schîtzling. Doch Gnade wofîr? Doch wohl fîr ihr Verbrechen an Germanicus. Man erkennt, daß im Bericht des Tacitus die Schuld der Plancina stillschweigend vorausgesetzt und damit anerkannt wird. Der Hinweis auf die geheime Intervention der Kaiserinmutter lßt zudem auch Livia in einem ungînstigen Licht erscheinen. Schließlich war sie es gewesen, die in ann. 2,43,4 Plancina aemulatione muliebri zweifellos (haud dubie) dazu angehalten hatte, Agrippina, der Frau des Germanicus, Ungelegenheiten zu machen. Tacitus hat somit versteckt auch an die Schuld der Augusta am Tod des Germanicus erinnert. Piso weiß, daß sein Untergang jetzt nicht mehr aufzuhalten ist. Noch einmal tritt er vor den Senat, um sich der erneuten Anklage zu stellen, erschrickt dabei bezeichnenderweise vor dem Verhalten des Kaisers (s. o. S. 132), bevor er schließlich am nchsten Morgen in seinem Schlafgemach mit durchschnittener Kehle tot aufgefunden wird (ann. 3,15,2 f.). Er hatte, als die Dinge fîr ihn aussichtslos geworden waren, offenbar seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Tacitus deutet diesen Selbstmord jedoch nur an. Seine Schilderung îber das Ende des Piso ist so unverbindlich wie mçglich gehalten: relatus domum, tamquam defensionem in posterum meditaretur, pauca conscribit obsignatque et liberto tradit; tum solita curando corpori exsequitur (sc. Piso). dein multam post noctem, egressa cubiculo uxore, operiri fores iussit; et coepta luce perfosso iugulo, iacente humi gladio, repertus est (ann. 3,15,3).

Es gibt keine Zeugen fîr die Tat, man findet bei Tagesanbruch die Leiche, daneben ein Schwert. Warum scheut sich der Historiker so sehr, hier offen von einem Selbstmord zu sprechen, der doch vor dem Hintergrund der berichteten Ereignisse einleuchtend erscheint? Eine Antwort auf diese Frage bietet das nchste Kapitel, worin Tacitus erneut Gerîchte

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wiedergibt – diesmal, um Tiberius im Zusammenhang mit dem Tod des Piso schwer zu belasten. ann. 3,16. Die eben erwhnten Gerîchte, die Tacitus nach seinem Bericht îber das Ende des Piso vortrgt, sind nun folgende: Audire me memini ex senioribus visum saepius inter manus Pisonis libellum, quem ipse non vulgaverit; sed amicos eius dictitavisse litteras Tiberii et mandata in Germanicum contineri, ac destinatum promere apud patres principemque arguere, ni elusus a Seiano per vana promissa foret; nec illum sponte exstinctum, verum immisso percussore. quorum neutrum adseveraverim; neque tamen occulere debui narratum ab iis, qui nostram ad iuventam duraverunt (ann. 3,16,1).

Wieder ist von geheimen Schriftstîcken, von Auftrgen des Kaisers gegen Germanicus, die Piso erhalten haben soll, die Rede. Zudem sei der Angeklagte nicht freiwillig aus dem Leben geschieden, sondern ermordet worden. Von erheblicher Bedeutung ist nun in diesem Zusammenhang die Bemerkung, daß Piso angeblich zu seiner eigenen Entlastung einen Brief, der geheime Auftrge des Kaisers enthielt, dem Senat habe vorlegen wollen und nur durch leere Versprechungen des Seian von diesem Vorhaben abgebracht worden sei. Nicht nur, daß dem Leser hier eine nachtrgliche Erklrung geboten wird, wie es in ann. 3,14,3 zu der Weigerung auch des Piso gekommen sein kçnnte, den Briefwechsel mit dem Kaiser vor Gericht offenzulegen. Auch die Todesumstnde des Angeklagten erscheinen nun in einem neuen Licht. Immerhin hatte Tiberius ein Motiv fîr einen Mord an Piso, wollte dieser doch die occulta mandata vor den Senat bringen.385 Wir verstehen nun besser, warum Tacitus den genauen Hergang der Ereignisse in der Todesnacht des Piso in ann. 3,15,3 so sehr in der Schwebe gelassen hat. Die vage Schilderung hatte ihm dort zur Vorbereitung des nchsten Kapitels gedient, worin Tiberius in Zusammenhang mit dem Tod des Piso gebracht werden soll. Er mçchte im Bewußtsein des Lesers den Eindruck hinterlassen, daß der Kaiser den gefhrlichen Mitwisser beseitigen ließ, bevor die ganze Wahrheit îber die gegen Germanicus gerichteten Intrigen ans Licht kommen konnte. Doch auch fîr diesen in ann. 3,16 indirekt vorgebrachten Vorwurf îbernimmt der Historiker nicht die Verantwortung, sondern erzhlt Gerîchte nach, fîr die er sich ausdrîcklich nicht verbîrgen mçchte. Ohne das Gerede in irgendeiner Form entkrftet zu 385 Vgl. Shatzman, 1974, 566: „As Piso had a proof, he was dangerous and had to be killed.“

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haben, distanziert er sich davon und weist darauf hin, daß er nichts verschweigen durfte, was von den Leuten erzhlt worden ist, die bis zu seiner Jugendzeit gelebt htten.386 Damit hat er seine Objektivitt erneut besonders betont. ann. 3,17. In ann. 3,17 berichtet der Historiker, wie sich Tiberius mit Scham und Schande (cum pudore et flagitio) fîr Plancina einsetzte, indem er die bereits erwhnten Bitten seiner Mutter vorschîtzte, gegen die sich nunmehr die geheimen Klagen gerade der besten Leute (optimi cuiusque … questus) immer schrfer erhoben. Tacitus gibt diesen Klagen breiten Raum: id ergo fas aviae, interfectricem nepotis aspicere adloqui, eripere senatui. quod pro omnibus civibus leges obtineant, uni Germanico non contigisse. Vitellii et Veranii voce defletum Caesarem, ab imperatore et Augusta defensam Plancinam. proinde venena et artes tam feliciter expertas verteret in Agrippinam, in liberos eius, egregiamque aviam ac patruum sanguine miserrimae domus exsatiaret (ann. 3,17,2).

Plancina wird vom Volk unverhohlen als Mçrderin am Enkel der Augusta bezeichnet, der ganze Ausgang des Prozesses als ungerecht, da die Verantwortliche durch das Eingreifen der Livia der Gerichtsbarkeit des Senats entrissen und damit der Grundsatz von der Gleichheit aller Bîrger vor dem Gesetz in Frage gestellt worden sei. Indem die Kaiserinmutter die Verbrecherin deckt, macht sie sich mitschuldig an deren kriminellen Machenschaften.387 Weiterhin wird drohend auf das weitere Schicksal der Familie des Germanicus hingewiesen,388 was eines bissigen Seitenhiebs

386 Koestermann ad loc. hlt es zu Recht fîr „wenig wahrscheinlich, daß sich Tacitus unmittelbar auf Ohren- oder Augenzeugen berufen konnte, denn diese htten das 80. Lebensjahr weit îberschritten haben mîssen“, und verweist auf Syme, 1958, 299; 401. 387 Vgl. Walker, 1952, 97. 388 Der Gedanke erhlt zustzliche Brisanz, wenn man sich ins Gedchtnis zurîckruft, daß Germanicus auf dem Sterbebett seine Frau dazu ermahnte, im Andenken an ihn und die gemeinsamen Kinder ihre trotzige Sinnesart abzulegen, das blindwîtende Schicksal unterwîrfig zu ertragen und nach ihrer Rîckkehr in die Hauptstadt die ‘Strkeren’ nicht durch ehrgeiziges Streben nach Macht herauszufordern, s. ann. 2,72,1: Tum ad uxorem versus per memoriam sui, per communes liberos oravit (sc. Germanicus), exueret ferociam, saevienti fortunae summitteret animum, neu regressa in urbem aemulatione potentiae validiores inritaret. Man beachte besonders die daran anschließende Bemerkung des Tacitus: haec palam et alia secreto, per quae ostender credebatur metum ex Tiberio,

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gegen den Kaiser und seine Mutter nicht entbehrt: Plancina solle die bereits erfolgreich eingesetzten Giftmischerkînste doch auch gegen Agrippina und deren Kinder anwenden und damit die vortreffliche Großmutter und den Onkel mit dem Blut des unglîcklichen Kaiserhauses sttigen. Bittere Ironie spricht hier aus den Worten des zornigen Volkes. Tiberius und Livia als blutdîrstige Potentaten – wie gut paßt dieses Bild zu dem eingangs der Annalen hervorgerufenen Eindruck der machtbesessenen und mißgînstigen Stiefmutter und des um seine Herrschaft bangenden Princeps, die beide zum Erhalt ihrer Machtstellung selbst vor Mord an den eigenen Familienangehçrigen (an Augustus, den Caesaren Lucius und Gaius und Agrippa Postumus) nicht zurîckschreckten.389 Deutlich fîhlt sich der Leser hier an das Motiv der gravis in rem publicam mater, gravis domui Caesarum noverca (ann. 1,10,5) und die saevitia des Tiberius (ann. 1,4,3) erinnert. Damit dîrfte hinreichend klar sein, wer fîr das Volk letzten Endes hinter dem Tod des vom Kaiserhaus mit soviel Argwohn verfolgten Germanicus steckt. Der Prinz war das jîngste Opfer des Machthungers seiner Verwandten, und Agrippina wird das nchste sein. Das ist die Botschaft, die Tacitus seiner Leserschaft nahebringen mçchte. Um diese schwere Anklage nicht in eigener Sache erheben zu mîssen, hat er sie in der fîr ihn typischen Weise der Bevçlkerung in den Mund gelegt. Durch den Hinweis, daß es sich hierbei um die Ansicht gerade der angesehensten Menschen gehandelt habe (optimi cuiusque … questus), wird der Leser zustzlich auf die Seite der hier geußerten Meinung gezogen.390

wobei sich der Historiker ein weiteres Mal auf den nicht zu îberprîfenden Glauben der Allgemeinheit beruft; vgl. Develin, 1983, 76. 389 Es ist sicherlich kein Zufall, wenn nur zwei Kapitel spter im Bericht îber den Tod der Agrippatochter Vipsania, der Mutter des Drusus, auf diese Zusammenhnge angespielt wird: paucosque post dies Vipsania mater eius (sc. Drusi) excessit, una omnium Agrippae liberorum miti obitu: nam ceteros manifestum ferro vel creditum est veneno aut fame exstinctos (ann. 3,19,3); vgl. zu dieser Stelle die Ausfîhrungen auf S. 77. 390 Vgl. beim ‘Totengericht’ îber Augustus den Hinweis auf die prudentes, mit denen sich der Leser doch eher verbunden fîhlen mçchte als mit der breiten Mehrheit der Bevçlkerung, die sich îber bloße Nichtigkeiten ergeht (plerisque vana mirantibus); s. hierzu bes. S. 15 f. Vgl. ferner Koestermann ad ann. 3,17,2: „Auch hier identifiziert sich Tacitus nicht unmittelbar mit dem Inhalt der Klagen. Aber daß er sich auf den optimus quisque beruft, gibt zu denken. Damit gibt er indirekt zu verstehen, daß er an die Mçglichkeit des Giftmordes glaubte.“ Diesen ‘Glauben’ mçchte der Historiker an seine Leserschaft weitergeben!

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ann. 3,19. Zum Abschluß seiner Darstellung des Pisoprozesses verweist Tacitus ausdrîcklich darauf, wie sehr der Tod des Germanicus nicht nur bei den Zeitgenossen, sondern auch in der Folgezeit aufgrund widersprîchlicher Gerîchte immer wieder erçrtert wurde, und macht auf die allgemeinen Schwierigkeiten aufmerksam, die sich aus solcherlei Gerede fîr den wahrheitsliebenden Historiker bei der Wiedergabe geschichtlich bedeutender Ereignisse ergeben: is finis fuit ulciscenda Germanici morte, non modo apud illos homines, qui tum agebant, etiam secutis temporibus vario rumore iactata. adeo maxima quaeque ambigua sunt, dum alii quoquo modo audita pro compertis habent, alii vera in contrarium vertunt, et gliscit utrumque posteritate (ann. 3,19,2).

Damit hat Tacitus am Ende seiner Germanicusgeschichte noch einmal ein deutliches Zeichen seiner Distanz gesetzt.391 Doch so objektiv diese Art einer Zusammenfassung auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so hlt sie bei nherer Betrachtung immer noch die Behauptung aufrecht, daß Germanicus durch fremde Hand ums Leben gekommen sei. Denn indem Tacitus den Abschluß des Pisoprozesses mit den folgenden Worten zum Ausdruck bringt: is finis fuit ulciscenda Germanici morte, so impliziert er damit, daß es im Zusammenhang mit dem Tod des Prinzen îberhaupt etwas zu rchen gegeben habe, daß hier also ein Verbrechen begangen worden sei.392 Wre Germanicus eines natîrlichen Todes gestorben, so wre diese Aussage des Tacitus widersinnig. Damit sind wir am Ende unserer Analyse der Germanicusgeschichte angelangt. Man kann den hierbei durch Tacitus erzeugten Eindruck am besten mit einem vielzitierten Ausspruch Friedrich Leos wiedergeben, den dieser in ein generelles Urteil îber unseren Historiker hat einfließen lassen: „Tacitus hat sicherlich nirgends absichtlich etwas Unwahres gesagt; denn er dachte hoch von der Wîrde seiner Kunst. Aber er weiß so zu erzhlen, daß in allen Fllen, in denen sein Gefîhl mitspricht, der Leser, auch gegen die 391 Vgl. Koestermann ad loc.: „Die Worte adeo quaeque ambigua besagen […], daß seine eigene Deutung [sc. die des Tacitus], soviel Zurîckhaltung er sich im einzelnen auferlegt hat, nicht îberall gesichert ist“; vgl. insgesamt zu dieser Technik S. 107 ff. zu ann. 4,10 f. 392 S. Shatzman, 1974, 566 f.: „At first glance, this might seem an objective summary, without giving a verdict on the reliability of the rumours. Yet the opening sentence, ulciscenda Germanici morte, is very powerful: vengeance strongly suggests that a crime was committed. If so, the previous narrative leaves little doubt in the reader’s mind about who was responsible for that crime“; vgl. Develin, 1983, 94.

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Tatsachen, von demselben Gefîhl ergriffen wird und das glaubt, was Tacitus fast glauben mçchte. Noch heute werden die meisten Leser des Tacitus meinen, bei ihm gelesen zu haben, daß Tiberius den Germanicus habe durch Piso vergiften lassen; und doch sagt Tacitus selbst, dieser Teil der Anklage sei als grundlos nachgewiesen worden; auch gibt er nirgends dem Tiberius, wie wohl der Livia, geradezu die Schuld. Wohl aber geht die Absicht seiner Erzhlung darauf, den Leser das Schlimmste glauben zu machen; und er erreicht sie.”393

Gehen wir nun abschließend den Techniken nach, die Tacitus bei seiner angestrebten Objektivitt angewendet hat, um den hier zur Sprache gebrachten Eindruck bei seiner Leserschaft hervorzurufen. In der Hauptsache bediente er sich der Form einer indirekt geußerten Beschuldigung. Der Vorwurf des Giftmordes erscheint zunchst allein in der ˜berzeugung des Germanicus selbst, dann unentwegt vor allem im Geschwtz der Leute.394 Niemals trgt ihn der Historiker in eigener Anschauung vor. Gerade der Bericht vom Tod des Germanicus ist eines der eindrucksvollsten Beispiele fîr die Technik des Tacitus, durch die Wiedergabe von Gerîchten bei seinen Lesern einen Eindruck zu hinterlassen, fîr den er selbst die Verantwortung nicht tragen mçchte, ja nicht tragen kann, da die historischen Fakten dagegen sprechen.395 Am Ende der Germanicusgeschichte ist der Leser von den Eindrîcken so îberwltigt, daß er vollends davon îberzeugt ist, Germanicus sei Opfer eines heimtîckischen Verbrechens gewesen. Dabei scheint es unserem Historiker gar nicht so sehr darauf anzukommen, wer dieses Verbrechen tatschlich, d. h. vor Ort, verîbt haben soll. Als mçgliche Tter erscheinen bald Piso, bald Plancina, bald die Giftexpertin Martina. Entscheidend fîr die Darstellungsabsicht des Tacitus ist vielmehr, daß der Leser deutlich erkennt, wer die Drahtzieher des mutmaßlichen Anschlages sind, nmlich Tiberius und seine Mutter Livia, die Germanicus aus unbegrîndetem Haß und îbertriebener Eifersucht heraus haben umbringen lassen. Piso und seine Frau Plancina sind lediglich die Werkzeuge 393 Fr. Leo: Tacitus (Rede zur Feier des Geburtstages des Kaisers), Gçttingen 1896, nachgedruckt in: V. Pçschl (Hg.): Tacitus (Wege der Forschung Bd. 97), Darmstadt 1969, 1 – 15, hier 10 f. [Hervorhebung durch Kursivdruck von mir]. 394 Vgl. Devillers, 1994, 98: „Dans la narration de la mort de Germanicus (II,69 – 83), Tacite multiplie les traits qui montrent que la plupart des gens sont convaincus que ce personnage a ¤t¤ empoisonn¤.“ 395 S. Shatzman, 1974, 567: „The narrative of Germanicus’ death is an excellent example of Tacitus’ skill to create an impression which the bare facts do not support. Rumours play a major part in the technique he employs. Nowhere else can we find so many rumours, full of insinuations or even of direct accusations.“

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zur Ausfîhrung ihrer Intrigen.396 So wenig sich Tacitus nun fîr den einmal vorgebrachten Vorwurf des Giftmordes verbîrgen mçchte, so wenig tut er, um ihn danach zu entkrften – hat man doch auch an den Stellen, wo er in eigener Darstellung die Ereignisse rund um den Tod des Germanicus vortrgt, durchgngig das Gefîhl, als habe er das Verbrechen, dessen Benennung er immer anderen in den Mund legt, zur Grundlage seines Berichtes gemacht und damit stillschweigend als Tatsache anerkannt. Das von ihm geschilderte Verhalten aller beteiligten Personen und Gruppen, seien es Angeklagte, Klger oder Richter, die mysteriçsen Todesumstnde der Martina und des Piso, das geheime Wirken des Princeps und der Augusta – all dies paßt vorzîglich zu der Vermutung, daß Germanicus auf den ausdrîcklichen Befehl des Tiberius hin ermordet worden ist.397 Tacitus erweist sich als ein wahrhaft neutraler Beobachter sine ira et studio. Die Dinge jedoch, die er beobachtet und feststellt, lßt er fîr sich sprechen. „Fîr einen Historiker, der es am Ende ablehnt, irgendein abschließendes Urteil îber den Fall [des Germanicus] auszusprechen, hat Tacitus einen sehr îberzeugenden Eindruck von Eifersucht, Verrat und Verbrechen geschaffen und dies, indem er bçse Absichten voraussetzt, dem Germanicus Beschuldigungen in den Mund legt, øußerungen verschiedener Personen zitiert, Klatsch und Gerîchte nacherzhlt und spter Bemerkungen einflicht, die frîhere Beschuldigungen als Wahrheit gelten lassen“, schreibt Ryberg398 und faßt damit przise die Kunstgriffe zusammen, die Tacitus im Rahmen seiner gesamten Germanicusgeschichte einsetzt, um den Leser auf den von ihm gewînschten Weg zu bringen, welcher zu der – wenn auch historisch unhaltbaren – Erkenntnis fîhrt, daß Tiberius aus niedertrchtigen Motiven wie Neid, Herrschsucht und unbegrîndetem Mißtrauen heraus und mit Rîckendeckung seiner Mutter Livia sich des Mordes an seinem eigenen Neffen schuldig gemacht hat.399 396 397 398 399

S. Shatzman, 1974, 566; vgl. Krohn, 1934, 66 f. Vgl. Devillers, 1994, 127. Ryberg, bei Pçschl, 1969, 79. Zum Abschluß dieses Kapitels sei der Hinweis gegeben, daß wir seit dem Auffinden des senatus consultum de Cn. Pisone patre vor rund 15 Jahren in der Lage sind, die Darstellung der Germanicusgeschichte bei Tacitus mit dem originalen Urteil zu vergleichen, das der Senat im Pisoprozeß gefllt hat (s. W. Eck, A. Caballos, F. Fernndez: Das senatus consultum de Cn. Pisone patre, Mînchen 1996). Auf eine Behandlung des epigraphischen Befundes kann hier verzichtet werden, da die Grundzîge eines solchen Vergleiches in der Forschung bereits detailliert herausgearbeitet worden sind. Aus der einschlgigen Literatur sind hier besonders hervorzuheben: T. D. Barnes: Tacitus and the Senatus consultum de Cn. Pisone patre, Phoenix 52, 1998, 125 – 144; C. Damon: The trial of Cn. Piso

3. Zusammenfassung Teil I Wir haben im Rahmen unserer bisherigen Untersuchung verschiedene Mittel kennengelernt, mit denen Tacitus bei scheinbarer Wahrung der Objektivitt entscheidenden Einfluß auf die Meinungsbildung seiner Leser nehmen kann. Wenn wir diese Mittel nun zum Abschluß des ersten Teiles dieser Arbeit systematisch erfassen mçchten, empfiehlt sich dabei eine Aufteilung zwischen solchen Techniken, die lokal begrenzt, d. h. innerhalb eines bestimmten Textabschnitts wirken, und solchen, die von kapitelîbergreifender Bedeutung sind.

3.1 Mittel der Leserlenkung auf lokal begrenzter Ebene – An erster Stelle derjenigen Mittel, die den Leser innerhalb eines bestimmten Textabschnitts zur Parteinahme verleiten, seien die alternativen Deutungsmçglichkeiten genannt. Indem Tacitus mehrere mçgliche Grînde fîr ein konkretes Geschehen anbietet und dem Leser damit nach außen hin îber eventuelle Zweifel oder Ungewißheiten in in Tacitus’ Annals and the Senatus consultum de Cn. Pisone patre: New light on narrative technique, AJPh 120, 1999, 143 – 162; W. Eck: Die Tuschung der §ffentlichkeit – oder: Die ‘Unparteilichkeit’ des Historikers Tacitus, A&A 46, 2000, 190 – 206; W. D. Lebek: Das Senatus consultum de Cn. Pisone patre und Tacitus, ZPE 128, 1999, 183 – 211; W. Polleichtner : Das Senatus consultum de Cn. Pisone patre und Tacitus’ Bericht vom Prozess gegen Piso. Zur Frage der Datierung des Prozesses gegen Piso, Philologus 147, 2003, 289 – 306; R. J. A. Talbert: Tacitus and the Senatus consultum de Cn. Pisone patre, AJPh 120, 1999, 89 – 97; A. J. Woodman, R. H. Martin: The Annals of Tacitus. Book 3 (Cambridge classical texts and commentaries 32), Cambridge 1996, 67 – 75; 114 – 120. Nachdem in anfnglicher Euphorie die These vertreten wurde, daß das Originaldokument deutliche Spuren im Bericht des Tacitus hinterlassen habe, hat eine etwas nîchternere und tiefergehende Analyse inzwischen starke Zweifel aufkommen lassen, ob Tacitus das Dokument îberhaupt eingesehen, geschweige denn als Quelle benutzt hat. Vor allem Lebek, 1999, 197 – 211 vertritt îberzeugend die Ansicht, daß Tacitus das senatus consultum mçglicherweise ganz bewußt mißachtet hat. Denn zu der Frage, ob und wie weit die kaiserliche Familie in den Tod des Germanicus verstrickt gewesen war, konnte er von dem offiziellen Senatsdokument keine befriedigende Antwort erwarten.

3.1 Mittel der Leserlenkung auf lokal begrenzter Ebene

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seiner Berichterstattung nicht im Unklaren lßt, wirkt sein Bericht auf den ersten Blick ußerst objektiv, ehrlich und ausgewogen. Doch vermag er durch seine geschickte Darstellung, den Leser fîr eine der angebotenen Alternativen zu gewinnen. Wichtige Indizien fîr eine von Tacitus bevorzugte Deutungsmçglichkeit sind vor allem deren Position an letzter Stelle, die sie das ‘letzte Wort’ behalten lßt, deren Lnge, die oft durch eine weiterfîhrende Erluterung bedingt ist und der betreffenden Alternative somit ein besonderes Gewicht verleiht, sowie der sie umgebende Kontext, der dem Leser eine Entscheidung erleichtert. – Als weiteres Mittel der Leserlenkung haben wir die relativierenden Nachtrge kennengelernt. Sie spielen insbesondere fîr die taciteische Tiberiusdarstellung eine große Rolle und ermçglichen es dem Historiker, auch an sich positiv zu bewertende Taten des Princeps nachhaltig zu entkrften. Dabei wird die lçbliche Handlung meistens durch den Hinweis auf die ihr zugrundeliegende Heuchelei entwertet. Sie kann aber auch relativiert werden, indem sie nachtrglich als Ausnahme behandelt oder aber durch eine anschließende Schmhung wieder aufgehoben wird. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel fîr diese Technik, das nicht auf die Person des Tiberius abzielt, haben wir im ‘Totengericht’ îber Augustus ausmachen kçnnen. Dort wurde die zunchst positiv einzuschtzende pax Augusta durch den Hinweis auf das Morden nach der Bîrgerkriegszeit und die militrischen Niederlagen des Lollius und des Varus von den Augustusgegnern in dunkle Farben getaucht (ann. 1,10,4). – Eine Eigenart der taciteischen Insinuationskunst besteht weiterhin in der Doppelbçdigkeit der Darstellung. Tacitus lßt hufig unausgesprochene Anklagen oder Kausalzusammenhnge gleichsam zwischen den Zeilen seines Berichtes anklingen. Der Leser wird dabei meistens aufgrund von dargebotenen Analogien (s. ann. 2,41,3 oder die Seiancharakteristik in ann. 4,1,3, die sich eng an das Catilinaportrt des Sallust anlehnt) oder durch die enge Abfolge von Informationen, die eine logische Verknîpfung nahelegen (s. ann. 2,54,4 im Zusammenspiel mit ann. 2,55,1) zu Schlîssen verleitet, die oftmals den historischen Fakten nicht gerecht werden und daher von Tacitus als einem gewissenhaften Historiker nicht offen geußert werden dîrfen. – Tacitus versteht es zudem, den Leser geschickt auf der Gefîhlsebene anzusprechen und somit dessen rationales Urteilsvermçgen herabzusetzen (emotionale Appelle). Dies erreicht er zum einen durch das Hervorrufen negativer Assoziationen (so z. B. durch das Stichwort noverca in Bezug auf Livia), zum anderen durch seine bildhafte Dar-

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3. Zusammenfassung Teil I

stellung (s. ann. 2,69; ann. 6,18 f.). Durch die hierdurch erzeugten Stimmungen wird der Leser ‘eingefangen’ und ergreift unwillkîrlich Partei. – Oft stîtzt der Historiker seine eigene Darstellung zustzlich durch den Hinweis auf die vermeintlich dahinterstehende Mehrheitsmeinung der §ffentlichkeit (meistens ausgedrîckt in unpersçnlichen Wendungen wie z. B. credebatur oder haud dubium habebatur) oder prsentiert Fakten als allgemein bekannte Tatsachen. Der Leser wagt es an diesen Stellen kaum, sich gegen einen solchen consensus omnium zu stellen, ja kommt womçglich gar nicht erst auf den Gedanken, den Bericht des Tacitus in seiner Zuverlssigkeit anzuzweifeln. – Schließlich nutzt Tacitus auch viele sprachliche Mittel wie Wortwahl, Wortstellung und Syntax (z. B. Wahl des Konjunktivs bzw. des Indikativs), um beim Leser bestimmte Eindrîcke hervorzurufen. Sein gedrngter, oft sentenzenartiger Stil prsentiert zudem leitende Gedanken in bestechender Kîrze und Prgnanz. Sie bleiben somit im Gedchtnis des Lesers haften und kçnnen so noch an spteren Stellen nachwirken (z. B. die bissige Bemerkung des Tacitus zur Freigebigkeit des Kaisers in ann. 1,75,2: quam virtutem diu retinuit, cum ceteras exueret).

3.2 Mittel der Leserlenkung auf kapitelîbergreifender Ebene – Ein beliebtes und von Tacitus oft angewendetes Mittel der Leserlenkung besteht in der Nacherzhlung von Gerîchten. Sie bietet dem Historiker die Mçglichkeit, unter Wahrung der ußeren Distanz bestimmte Eindrîcke hervorzurufen, die mit den historischen Fakten nicht im Einklang stehen. Diese Technik gewinnt dann kapitelîbergreifend an Bedeutung, wenn Tacitus an spteren Stellen seines Berichtes auf den Inhalt der von ihm zuvor nacherzhlten rumores Bezug nimmt, diese oft sogar zur Grundlage seiner weiteren Darstellung macht und so stillschweigend als richtig anerkennt. Diese Art der Leserlenkung ist uns in besonderem Maße in der Germanicusgeschichte begegnet. – Diese Bemerkungen îber den Umgang mit nacherzhlten Gerîchten leiten îber zu einem weiteren wichtigen Merkmal der taciteischen Berichterstattung, nmlich der retrospektiven Darstellungskunst. Durch sprachliche oder inhaltliche Anklnge an frîhere Stellen der Annalen wird der Leser an Aussagen erinnert, die von entscheidender

3.2 Mittel der Leserlenkung auf kapitelîbergreifender Ebene

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Bedeutung fîr die Interpretation der jeweils vorliegenden Textpassage sind. So gewinnen oft auch scheinbar unwichtige Einzelheiten in der Rîckschau erheblich an Bedeutung, ja erhalten erst dann ihren vollen Sinn. Die retrospektive Darstellung dient dabei auch hufig der nachtrglichen Besttigung vorher erzeugter Eindrîcke. – Der retrospektiven Darstellungskunst entspricht in umgekehrter Weise die Antizipation. Tacitus nimmt bisweilen durch mancherlei Hinweise oder ahnungsvolle Andeutungen den Ausgang kînftiger Ereignisse vorweg und bereitet den Leser auf diese gleichsam vor. So kann er noch vor der eigentlichen Behandlung eines bestimmten Geschehens die diesbezîgliche Meinung seiner Leserschaft beeinflussen und formen. Oft geht die Antizipation mit der retrospektiven Darstellungskunst eine schlagkrftige Verbindung ein. – Im Bereich der taciteischen Personendarstellung ist die stndige Wiederholung stereotyper Charaktereigenschaften (Heuchelei, Neid, Machtgier usw.) besonders hervorzuheben. Durch sie werden dem Leser bestimmte Typenbilder von gewaltiger suggestiver Kraft regelrecht eingehmmert. So wird Tiberius durchgngig als heuchlerischer Tyrann, Livia als bçse und intrigante Stiefmutter gebrandmarkt. Germanicus gilt immer wieder als leutseliger Liebling der Massen, Seian als machtbesessener und skrupelloser Gînstling. Hinzu tritt dann das zu diesen Typenbildern jeweils passende Verhalten, das die Richtigkeit der ihnen zugeschriebenen Wesensmerkmale eindrucksvoll unter Beweis stellt. Eine besondere Wirkung geht schließlich von der Gegenîberstellung gegenstzlich gezeichneter Charaktere aus. Dies gilt insbesondere fîr das taciteische Tiberiusbild. Das dunkle und verschlossene Wesen des Kaisers wird in den ersten beiden Annalenbîchern immer wieder in bewußten Gegensatz zum offenherzigen Naturell des Germanicus gesetzt. Die Gestalt des Prinzen wird somit zu einer hellen Folie, vor deren Hintergrund der finstere Charakter des Princeps um so deutlicher in Erscheinung tritt. Damit sind die wichtigsten Mittel der Leserlenkung, die uns in unserer Analyse der ersten sechs Annalenbîchern begegnet sind, zusammenfassend aufgefîhrt. Wie wir bei unseren Darlegungen bereits sehen konnten, tritt kaum eine der hier angefîhrten Techniken in der Darstellung des Tacitus isoliert in Erscheinung. In der Regel finden sich mehrere dieser Kunstgriffe in wirkungsvoller Kombination miteinander vereint, wie auch die folgende Untersuchung der Claudiusbîcher immer wieder zeigen wird.

TEIL II: Die Claudiusbîcher ann. XI und XII

1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina Nach der großen ˜berlieferungslîcke hinter den Tiberiusbîchern setzt der auf uns gekommene Bericht des Tacitus erst fîr das Jahr 47 wieder ein. Der erhaltene Text beginnt in Buch 11 und versetzt den Leser vçllig unvermittelt in eine Intrige am Kaiserhof: Messalina, die Ehefrau des Kaisers Claudius, lßt dem hochrangigen Senator Valerius Asiaticus und der fîr ihre Schçnheit berîhmten Poppaea Sabina den Prozeß machen. Whrend dieser Prozeß selbst in den Kapiteln ann. 11,1 – 4 behandelt wird, sind die Kapitel ann. 11,5 – 7 seinen politischen Folgen gewidmet.400

1.1 Ann. 11,1 – 4: Messalina als Intrigantin gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina Die Hintergrînde der Intrige lassen sich trotz des verlorengegangenen Anfangs der Erzhlung aus der Darstellung des Tacitus wie folgt rekonstruieren:401 Messalina war in Liebe zu dem Pantomimen Mnester entbrannt, der jedoch seinerseits mit der schçnen Poppaea Sabina liiert war. Eine Anklage wegen Ehebruchs sollte die unliebsame Nebenbuhlerin aus dem Wege rumen. Als deren ehebrecherischen Liebhaber durfte die Kaiserin vor Gericht jedoch nicht Mnester benennen, da ansonsten auch ihm eine Verurteilung drohte. Messalina lçste dieses Problem offenbar, indem sie Valerius Asiaticus als Liebhaber der Poppaea vorschob. Dieser hatte, wie sie glaubte, einst ein Verhltnis mit der Rivalin gehabt und besaß zudem noch prachtvolle Grten, die das gierige Verlangen der Kaiserin auf sich zogen, s. ann. 11,1,1: *** nam Valerium Asiaticum, bis consulem, fuisse quondam adulterum eius [sc. Poppaeae] credidit [sc. Messalina]; pariterque hortis inhians, quos ille a Lucullo coeptos insigni magnificentia extollebat, Suillium accusandis utrisque immittit. 400 Vgl. Wille, 1983, 476. 401 Vgl. Seif, 1973, 19 f.

150 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina Messalinas Handlungen sind doppelt motiviert.402 Primr geht es ihr um die Vernichtung der Poppaea Sabina. Daneben wird sie von Habgier geleitet. Beide Motive sind sprachlich durch den Anschluß pariterque … immittit aufs engste miteinander verknîpft.403 Doch whrend der erste Grund, die vermeintliche Affre des Asiaticus mit Poppaea Sabina, im Bericht des Tacitus lediglich als Glaube der Messalina erscheint,404 steht das Motiv der Habgier an starker zweiter Position, wirkt durch die krftige Formulierung hortis inhiare îberaus plastisch405 und wird zustzlich durch den Hinweis auf die besondere Pracht der begehrten Grten (insigni magnificentia in Verbindung mit dem Verb extollere) weiter ausgeschmîckt und sehr plausibel begrîndet. Hierdurch tritt der angebliche Ehebruch des Angeklagten vçllig in den Hintergrund zurîck, und es entsteht der Eindruck, als sei Asiaticus vor allem wegen seiner reichen Besitzungen ins Visier der Kaiserin geraten. In Bezug auf das ihm nachgesagte Verhltnis mit Poppaea Sabina mag er in den Augen des Lesers ohnehin unschuldig wirken, da Tacitus ihm durch die besondere Betonung seines zweimaligen Konsulats ein hohes Maß an wîrdevoller Autoritt verliehen hat. Der hier gewonnene Eindruck wird im folgenden weiter verstrkt: Messalina bedient sich ausgerechnet der Hilfe des berîchtigten Delators P. Suillius Rufus, der bei Tacitus durchweg negativ gezeichnet ist.406 Die Wortwahl des Historikers rundet das Bild einer 402 Vgl. Seif, 1973, 22; Mehl, 1974, 13 f. 403 Vgl. Mehl, 1974, 15; pariterque bedeutet hier wohl ‘gleichermaßen’, nicht ‘zur gleichen Zeit’, wie Koestermann ad loc. schreibt. 404 Dabei spielt der Umstand, „daß Messalinas ˜berzeugung als echt und aufrichtig erscheint“ (so Mehl, 1974, 14 mit Anm. 5 unter Verweis auf den Indikativ credidit), eine weniger wichtige Rolle. Von Bedeutung ist der Eindruck, daß Messalina îberhaupt nach rein subjektiven und ganz persçnlichen Gesichtspunkten handelt. 405 Vgl. Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 28 meint sogar, die Assonanzen innerhalb der Wortfolge hortis inhians kçnnten mçglicherweise „Messalina’s gaping avidity“ zum Ausdruck bringen. Sie verweist auf denselben Wortgebrauch des Tacitus an inhaltlich vergleichbaren Stellen, s. ann. 12,59,1 (Agrippina begehrt die Grten des Statilius Taurus hortis eius inhians) und ann. 16,17,4 (Nero begehrt die Reichtîmer des Mela: opibus eius inhians). 406 S. Seif, 1973, 23. Von besonderem Gewicht fîr die Beurteilung des AsiaticusProzesses dîrfte dabei die recht ausfîhrliche Charakterisierung des Suillius in ann. 4,31,3 sein: At P. Suillium, quaestorem quondam Germanici, cum Italia arceretur convictus pecuniam ob rem iudicandam cepisse, amovendum in insulam censuit (sc. Tiberius), tanta contentione animi, ut iure iurando obstringeret e re publica id esse. quod aspere acceptum ad praesens mox in laudem vertit regresso Suillio; quem vidit sequens aetas praepotentem, venalem et Claudii principis amicitia

1.1 Ann. 11,1 – 4: Messalina als Intrigantin

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falschen Anklage wirkungsvoll ab: immittere ( = ‘auf jemanden ansetzen’)407 lßt den Leser eher an eine erbarmungslose Jagd als an eine gerechtfertigte gerichtliche Untersuchung denken und unterstreicht das skrupellose und entschlossene Vorgehen der Kaiserin.408 Neben Suillius findet Messalina einen zweiten Gehilfen in Sosibius, dem Erzieher des Britannicus. Dieser versucht, den Kaiser fîr eine Verurteilung des Asiaticus zu gewinnen, s. ann. 11,1,1 – 2: adiungitur Sosibius Britannici educator, qui per speciem benivolentiae moneret Claudium cavere vim atque opes principibus infensas: praecipuum auctorem Asiaticum interficiendi Caesaris non extimuisse contione populi Romani fateri gloriamque facinoris ultro petere; clarum ex eo in urbe, didita per provincias fama parare iter ad Germanicos exercitus, quando genitus Viennae multisque et validis propinquitatibus subnixus turbare gentiles nationes promptum diu prospere, numquam bene usum. Wenn diese Stelle auch mehrere Bîcher zurîckliegt, mag folgendes dazu beitragen, daß sie dem Leser auch im 11. Buch zumindest im Unterbewußtsein noch prsent ist: 1. Die relative Ausfîhrlichkeit ihrer Darstellung; 2. Ihre exponierte Stellung im Bericht des Tacitus, fungiert die Ausweisung des Suillius aus Italien unter Tiberius doch als einzigartiges Beispiel fîr eine Maßnahme des zweiten Princeps, die sich spter als positiv erweisen sollte (vgl. die Einleitung durch at); 3. Der Vorverweis des Tacitus auf die unheilvolle Rolle des zurîckgekehrten Suillius unter der Regierung des Claudius, der den Sinn des Lesers fîr die spteren Ereignisse schrft. Mçglicherweise ist Suillius auch vor dem Asiaticus-Prozeß in dem nicht erhaltenen Teil der Claudiusbîcher negativ in Erscheinung getreten; vgl. ann. 13,42,1. 407 S. Koestermann ad loc.; Keitels Beobachtung, daß Tacitus immittere in dieser Bedeutung ansonsten nur noch in Bezug auf die Machenschaften des Seian gegen die øltere Agrippina gebraucht (1977, 29; s. ann. 4,19,1), ist fîr den Wortgebrauch des Tacitus sicherlich aufschlußreich, doch fîr die Thematik der Leserlenkung wenig aussagekrftig, da dem Leser angesichts des ursprînglich gegebenen großen Abstandes zwischen dem vierten und dem elften Annalenbuch dieser Umstand kaum zu Bewußtsein kommen dîrfte. Keitels Vermutung (a.a.O.), daß ann. 4,54,1 (Ceterum Seianus maerentem et improvidam altius perculit, immissis qui per speciem amicitiae monerent paratum ei venenum, vitandas soceri epulas) die sprachliche Vorlage fîr ann. 11,1,1 (… Suillium … imittit. adiungitur Sosibius …, qui per speciem benivolentiae moneret) sein kçnnte, mag zutreffend sein, ist jedoch aus demselben Grund nicht als Indiz fîr eine von Tacitus beabsichtigte Reminiszenz zu werten. 408 Vgl. Keitel, 1977, 29, die insbesondere auf die unmittelbare Abfolge der Verben in den ersten beiden Stzen des Kapitels abhebt: „The action moves quickly and abruptly from the first to the second sentence through the juxtaposition of the two verbs inmittit, adiungitur […].“ Der Eindruck von Messalina als schnell agierender Intrigantin wird auch in den folgenden Kapiteln weiter aufrecht erhalten.

152 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina haberet. Unter dem Deckmantel wohlmeinender Ratschlge (per speciem benivolentiae)409 macht Sosibius beim Kaiser Stimmung gegen Asiaticus, indem er diesem konkrete politische Ambitionen unterstellt. Um Absicht und Eigenart der taciteischen Darstellung in den folgenden Kapiteln angemessen beurteilen zu kçnnen, muß deutlich hervorgehoben werden, daß die hier gegen Asiaticus geußerten Vorwîrfe historisch gesehen wohl nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Aus einer Stelle der berîhmten Erztafel von Lyon, welche die offizielle Version der Claudiusrede îber die Zulassung der Gallier in den Senat enthlt und uns bei spterer Gelegenheit noch weiter interessieren wird,410 geht mit einiger Wahrscheinlichkeit hervor, daß der hochrangige Politiker fîr den Kaiser keineswegs so ungefhrlich gewesen ist, wie Tacitus es in seinem Bericht insgesamt glauben machen mçchte.411 Bei ihm erscheint der Angeklagte als vçllig 409 Keitel, 1977, 29 weist auf den hufig ironischen Gebrauch des Wortes benevolentia durch Tacitus in den Annalen hin (z. B. ann. 4,4,1; 4,39,2; 6,2,4; 13,21,3); vgl. Koestermann ad loc. An keiner der Parallelstellen wird das Scheinhafte des Ausdrucks jedoch so deutlich betont (per speciem!) wie hier zu Beginn des 11. Annalenbuches. Der Leser dîrfte somit kaum auf eine der anderen Textstellen angewiesen sein, um in ann. 11,1,1 den Sarkasmus in den Worten des Tacitus zu vernehmen. 410 S. u. S. 242 ff. zu ann. 11,23 f. 411 S. CIL XIII 1668 (= Dessau 212), Col. II, 9 – 18 (Claudius ußert sich îber Vienna, die Heimat des Asiaticus): Ornatissima ecce colonia valentissimaque Viennensium, quam longo iam tempore senatores huic curiae confert! ex qua colonia inter paucos equestris ordinis ornamentum L. Vestinum familiarissime diligo et hodieque in rebus detineo […]; ut dirum nomen latronis taceam, et odi illud palaestricum prodigium, quod ante in domum consulatum intulit, quam colonia sua solidum civitatis Romanae beneficium consecuta est [Hervorhebungen von mir]. Mit dem drastischen Ausdruck latro ist aller Wahrscheinlichkeit nach Asiaticus gemeint; jedenfalls legen die Worte palaestricum prodigium diese Auffassung nahe; vgl. Furneaux in seiner Appendix I zum elften Annalenbuch (S. 58 zu der hier gegebenen Stelle der Inschrift): „The allusion is to Valerius Asiaticus, on whom see 11.1 – 3; and the epithet palaestricum refers to his habits of life (cp. quibus insueverat exercitationibus 11.3,2)“; vgl. Syme, 1958, 318 mit Anm. 7; 460. Demnach muß es zwischen dem Kaiser und dem hochrangigen Senator zu erheblichen Spannungen gekommen sein, deren Ursachen wohl am leichtesten im politischen Bereich gesucht werden dîrften. Anders lßt sich der persçnliche Haß des Claudius auf Asiaticus kaum erklren; vgl. F. Rçmer: Das Ende des Valerius Asiaticus bei Tacitus, WS Beiheft 5, 1972 (=Antidosis, Festschrift fîr W. Kraus), 290 f.; Seif (1973, 304 – 307) verteidigt hingegen die taciteische Darstellung des Geschehens um Asiaticus mit Nachdruck und wendet gegen das inschriftliche Zeugnis ein: „[…] daß Claudius in seiner Rede îber das ius honorum der Gallier den Valerius Asiaticus als palaestricum prodigium beschimpfte,

1.1 Ann. 11,1 – 4: Messalina als Intrigantin

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unschuldiges Opfer einer bçsen Verleumdung. Da der Leser bereits im Vorfeld îber die ‘wahren’ Hintergrînde des Prozesses (Eifersucht und Habgier der Messalina) in Kenntnis gesetzt worden ist, mîssen ihm die von Sosibius vorgetragenen ‘Warnungen’ von vorneherein als dreiste Lîgen vorkommen.412 Tacitus hat die Ausfîhrungen des Prinzenerziehers in indirekter Rede wiedergegeben und somit deutlich als dessen subjektive Meinung gekennzeichnet. Nach der ganz allgemeinen Mahnung, Claudius solle sich vor Gewalt und Machtmitteln, die gegen das Kaisertum gerichtet seien, in Acht nehmen, konkretisiert Sosibius diesen Ratschlag und schneidet ihn ganz auf die Person des Asiaticus zu, indem er nicht nur auf dessen Fîhrungsrolle bei der Ermordung des Caligula hinweist, sondern auch noch erwhnt, daß sich der Angeklagte nicht gescheut habe, in einer Volksversammlung freimîtig Ruhm und Anerkennung fîr diese Tat zu erstreben. Auf diese Weise wird der Tyrannenmçrder im Munde des Sosibius zu einem „Prinzipatsgegner aus innerer ˜berzeugung“413 gestempelt.414 Seine Behauptung, Asiaticus sei seit dieser Begebenheit in der Stadt berîhmt, bereite Gerîchten zufolge, die sich in den Provinzen verbreiteten, eine Reise zu den germanischen Heeren vor und kçnne aufgrund seiner Herkunft aus Vienna und seiner einflußreichen Beziehungen die Stmme seiner Heimat leicht zu einem Aufstand bewegen, zielt dabei auf die ‘Urangst’ der rçmischen Kaiser vor einem bewaffneten Umsturzversuch berîhmter und einflußreicher Perdeutet lediglich darauf hin, daß der Kaiser die Schuld des Asiaticus fîr erwiesen hielt, nicht aber, daß dieser wirklich schuldig war“ (a.a.O. 306). 412 Vgl. Seif, 1973, 22: „An seinem [Asiaticus’] Schicksal will Tacitus aufweisen, wie eine machtvolle Persçnlichkeit nicht etwa wegen politischer Vergehen verurteilt wurde, sondern privaten Interessen der Kaiserin zum Opfer fiel“; Keitel, 1977, 27: „It should be noted, however, that Messalina’s action is ascribed to greed and sexual jealousy, and not to political rivalry.“ 413 Seif, 1973, 24. 414 Etwas zuviel des Guten scheint mir Keitels Deutung zu sein, die hnlich wie Koestermann ad loc. in der zweimaligen Wiederholung eines f-Lautes (fateri gloriamque facinoris ultro petere) gleich eine „harsh alliteration of ‘f ’“ sehen mçchte, welche die Stze stark verbinde und die Empçrung („outrage“) des Sosibius verdeutliche (1977, 29). Desweiteren soll ihrer Meinung nach das Kolon in contione populi Romani auf ironische Weise zum Ausdruck bringen, daß ausgerechnet Sosibius als mchtiger Freigelassener „is concerned with the rights and dignity of the Roman people.“ (a.a.O. 30). In beiden Fllen îbersieht sie m. E., daß es an dieser Stelle nicht so sehr um Sosibius, sondern um Asiaticus geht, dessen Freimîtigkeit und Einfluß auch auf das rçmische Volk unterstrichen werden sollen, um ihn ganz im Sinne der spteren Anklage als ußerst gefhrlichen politischen Rivalen des Kaisers erscheinen zu lassen.

154 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina sonen ab. Seif hat in seiner Untersuchung der Stelle festgestellt, daß „das Gespenst eines von truppenstarken germanischen Militrbezirken ausgehenden Bîrgerkrieges“ exakt auf Claudius abgestimmt ist, und in diesem Zusammenhang auf den Umsturzversuch des Arruntius Camillus und Annius Vinicianus (42 n. Chr.) verwiesen, der ebenfalls von einer Provinz (Dalmatien) ausgegangen sei.415 In der Tat scheint es von einiger Bedeutung zu sein, daß Tacitus den Sosibius neben der Heimat des Asiaticus gerade auch Germanien mit den dort stationierten Truppen (Germanicos exercitus) als potentielle Gefahr fîr den Kaiser anfîhren lßt, wird hierdurch doch eine gedankliche Verbindung hergestellt zu der (unangemessenen!) Furcht des Tiberius vor einem Staatsstreich des bei Volk und Heer beliebten Germanicus, des Befehlshabers der germanischen Rheinlegionen.416 Diese unterschwellige Parallelisierung des zweimaligen Konsuls mit dem zu Unrecht verdchtigten Neffen des Tiberius mag ein Bewußtsein fîr eine gleichgeartete Unschuld des Asiaticus schaffen.417 Die Behauptungen des Sosibius erscheinen somit als typische Verleumdungen und Unterstellungen gegen eine verhaßte Person, die aus vçllig anderen Grînden beseitigt werden soll.418 Die fîr den wissenden Leser so durchsichtige Aktion des Sosibius verfehlt ihre erwînschte Wirkung nicht, s. ann. 11,1,3: at Claudius nihil ultra scrutatus citis cum militibus tamquam opprimendo bello Crispinum praetorii praefectum misit, a quo repertus est apud Baias vinclisque inditis in urbem raptus. Ein scharfer Kontrast (at) leitet von der Rede des Sosibius zu den Maßnahmen des Claudius îber.419 Angesichts der offensichtlichen Verleumdung gegen Asiaticus bringt dieser Kontrast die ˜berraschung îber die vçllig îberstîrzte Handlungsweise des Kaisers deutlich zum Ausdruck und steigert auf diese Weise die Ungeheuerlichkeit der kaiserlichen Reaktion. Die ˜berstîrzung des Claudius wird von Tacitus wie415 Seif, 1973, 25. 416 S. hierzu insbes. ann. 1,7,6. 417 Inwiefern die hier gegen Asiaticus verbreiteten Gerîchte zutrafen, lßt sich nicht feststellen. Zur geschickten Argumentationsweise des Sosibius, die tatschliche Begebenheiten rund um Asiaticus (bes. seine Rolle bei der Ermordung Caligulas und sein anschließendes çffentliches Auftreten) in einen Zusammenhang stellt, der eine negative Interpretation dieser Fakten nahelegt, s. Seif, 1973, 23 f., der auch vor dem Hintergrund der Parallelîberlieferung die Eigenheit des taciteischen Berichtes herausgearbeitet hat. 418 Vgl. Seif, 1973, 25 f. 419 Vgl. Mehl, 1974, 16; Keitel, 1977, 30 mit einer etwas anderen Akzentuierung: „The initial at makes Claudius seem to respond almost before Sosibius has finished speaking.“

1.1 Ann. 11,1 – 4: Messalina als Intrigantin

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derum durch den gedrngten Partizipialstil dieser Textpassage sinnfllig gemacht.420 Der Kaiser glaubt den Unterstellungen des Sosibius offenbar aufs Wort. Seine vçllig îberzogenen Maßnahmen werden in eindringlichen Worten beschrieben und stehen in einem gewissen Kontrast zu seiner mangelnden ˜berprîfung des Sachverhalts (nihil ultra scrutatus), der dem ganzen Bericht eine sarkastische Frbung verleiht:421 Als gelte es, einen Krieg zu unterdrîcken, lßt er ohne weitere Nachforschungen den Asiaticus offenbar whrend eines Badeurlaubs durch die Prtorianer aufspîren und in Ketten nach Rom bringen. Dabei mag der von Tacitus eigens erwhnte Umstand, daß der Beschuldigte im Urlaubsort Baiae aufgegriffen wurde, fîr den Leser ein weiterer Beleg fîr dessen Unschuld sein. Denn es erscheint kaum glaubhaft, daß Asiaticus unmittelbar vor einer Verschwçrung gegen den Kaiser noch die Muße fîr eine Erholungsreise gefunden haben soll.422 Claudius ist auf das fîr den Leser fadenscheinige Intrigenspiel hereingefallen. Vor diesem Hintergrund wirkt er naiv, leichtglubig und hçchst beeinflußbar. Der von Tacitus erzeugte Eindruck der Unrechtmßigkeit der gegen Asiaticus ergriffenen Maßnahmen pflanzt sich ins nchste Kapitel fort, s. ann. 11,2,1: Neque data senatus copia: intra cubiculum auditur, Messalina coram, et Suillio corruptionem militum, quos pecunia et stupro in omne flagitium obstrictos arguebat, exim adulterium Poppaeae, postremum mollitiam corporis obiectante. Dem Angeklagten wird das Recht verwehrt, sich vor dem Senat zu den Vorwîrfen zu ußern. Stattdessen wird er im Beisein der Messalina in den Gemchern des kaiserlichen Palastes verhçrt. Durch den engen Anschluß des Kapitels mit neque sowie die Ellipse von est (zu data) wird die Geschwindigkeit der von Messalina initiierten Handlungsablufe effektvoll beibehalten.423 Die Ereignisse scheinen auf Asiaticus wie auf einen plçtzlich ˜berfallenen regelrecht hereinzubrechen. Der Angeklagte wirkt vçllig îberrumpelt. Die hierdurch erzielte Fragwîrdigkeit des gesamten Verfahrens wird durch die scharfe Gegenîberstellung der Begriffe senatus und cubiculum noch erheblich gesteigert.424 Der von Tacitus betonte Ausschluß der Senatsçffentlichkeit 420 Keitel, 1977, 30 hebt auch auf die formale Kîrze der kaiserlichen Reaktion ab, die weniger als halb so viel Platz einnehme wie die Ausfîhrungen des Sosibius. 421 Vgl. Seif, 1973, 26 f. 422 Vgl. Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 30 f. 423 S. Keitel, 1977, 31. 424 Vgl. Mehl, 1974, 17; Keitel, 1977, 31; Seif, 1973, 27.

156 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina entspricht ganz dem Umstand, daß Asiaticus in Wirklichkeit das Opfer einer Hofintrige ist, deren Urheberin das Geschehen weiterhin dominiert (Messalina coram).425 Suillius erhebt drei Vorwîrfe gegen den Angeklagten, die grammatisch in die Form eines weitlufigen Ablativus absolutus gegossen sind (Suillio … obiectante) und somit fast als nebenschliche Randinformation zum Hauptsatz erscheinen.426 Damit wird erneut darauf hingedeutet, daß es sich bei den Anklagepunkten in Wirklichkeit nur um vorgeschobene Vorwîrfe handelt, welche die tatschlichen Hintergrînde des Prozesses bemnteln sollen und deshalb keine wirkliche Rolle spielen. Im einzelnen wirft Suillius dem Asiaticus Bestechung seiner Soldaten mit Geld und Unzucht, ein ehebrecherisches Verhltnis zu Poppaea sowie die Preisgabe des eigenen Kçrpers zu unzîchtigen Handlungen vor. Dabei ist nur der erstgenannte Vorwurf (corruptionem militum) eindeutig politischer Natur und soll offenbar den von Sosibius unterstellten politischen Ambitionen des Angeklagten (s. o. zu ann. 11,1,2) Rechnung tragen.427 Daß jedoch auch dieser Vorwurf mit Vorhaltungen sittlicher Art untermauert werden muß (pecunia et stupro), wirft ein erhellendes Licht auf die Schwche der von Sosibius aufgestellten Behauptungen. øhnlich verhlt es sich mit dem vermeintlichen Ehebruch des Angeklagten mit Poppaea, der als Behauptung so wenig ˜berzeugungskraft zu besitzen scheint, daß er der Unterstîtzung eines nachgeschobenen dritten Vorwurfes bedarf, der vage in dieselbe Richtung zielt (mollitiam corporis) und im Grunde genommen „nichts anderes darstellt als die Summierung des zweiten Punktes und eines Argumentes, das den ersten Vorwurf erhrten soll […].“428 Die Anklage gegen Asiaticus stîtzt sich somit zum grçßten Teil auf dessen angebliches sittliches Fehlverhalten. Daß solche Vorwîrfe ausgerechnet von moralisch derart verkommenen Menschen wie Suillius und Messalina vertreten werden, ist eine Ironie, die das gesamte Verfahren zustzlich absurd erscheinen lßt 425 Vgl. Seif, 1973, 27; Mehl, 1974, 17 verweist in diesem Zusammenhang auf ann. 11,28,1 und schreibt: „Messalina, die durch den Ehebruch mit Mnester das cubiculum principis verhçhnt [ann.11,28,1], nimmt in dem gleichen Gemach an einer Verhandlung teil, in der jemand auf ihr Betreiben hin des Ehebruchs angeklagt wird!“ Diese Ironie kann jedoch nicht fîr diese Stelle in Anspruch genommen werden, da sie sich dem Leser – wenn îberhaupt – erst aus der Rîckschau der spteren Annalenstelle erschließen kann. 426 Vgl. Mehl, 1974, 21; Keitel, 1977, 31. 427 Vgl. Mehl, 1974, 18, der die von Suillius vorgeworfene corruptio militum „gleichsam als Ersatz fîr die rein politische Anklage des Sosibius“ ansieht. 428 Mehl, 1974, 18.

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und ihren Hçhepunkt in einem plçtzlichen Gefîhlsausbruch des Asiaticus erreicht, s. ann. 11,2,1: ad quod victo silentio prorupit reus et ‘interroga’ inquit ‘Suilli, filios tuos: virum esse me fatebuntur’. Die erboste Antwort des Angeklagten, die den Vorwurf der mollitia corporis an die Familie des Suillius zurîckgibt, ist durch ihre ußere Form der direkten Rede besonders hervorgehoben und lßt die gesamte Scheinheiligkeit seines Anklgers ußerst lebhaft ans Licht treten,429 ohne jedoch umgekehrt der moralischen Integritt des Asiaticus, der hier ja indirekt zu verstehen gibt, daß er mit den Sçhnen des Suillius sexuell verkehrt hat, im Bewußtsein des Lesers nennenswerten Schaden zuzufîgen. Denn dafîr ist die Stoßrichtung der Aussage viel zu sehr gegen die Verlogenheit des Anklgers gerichtet: Nicht die Verfehlung des Asiaticus, sondern die des Suillius steht an dieser Stelle im Mittelpunkt des Interesses.430 Asiaticus beginnt sodann mit seiner Verteidigung, auf deren Einzelheiten Tacitus nicht nher eingeht.431 Auch dies vermag als Zeichen der Kritik am gesamten Prozeß gedeutet werden: Die Anklage scheint derart willkîrlich zu sein, daß sich eine genaue Wiedergabe der Gegenargumente gar nicht erst lohnt. So beschrnkt sich der Historiker auf das fîr seine Darstellung Wesentliche und berichtet lediglich von der Wirkung, welche die Gegenrede des Angeklagten auf den Kaiser und auf Messalina hatte, s. ann. 11,2,1: ingressusque defensionem (sc. Asiaticus), commoto maiorem in modum Claudio, Messalinae quoque lacrimas excivit. Claudius zeigt sich durch die Ausfîhrungen des Asiaticus stark beeindruckt, und sogar Messalina vermag angesichts der defensio Trnen der Rîhrung nicht zu unterdrîcken. Indem die Person des Kaisers dabei in einem Ablativus absolutus und damit zumindest auf syntaktischer Ebene lediglich als Randfigur in Erscheinung tritt, wird alles Augenmerk auf seine Gattin gelenkt.432 Die Ereignisse haben einen kritischen Punkt erreicht: Die Stimmung scheint zugunsten des Asiaticus umzukippen, Messalinas In429 Der bissige Seitenhieb des Asiaticus gegen die Sçhne des Suillius findet seine nachtrgliche Besttigung in ann. 11,36,4. s. u. S. 303; vgl. Seif, 1973, 28. 430 Trotz dieser Tendenz ist diese Stelle ein Beleg dafîr, daß auch die Figur des Asiaticus bei Tacitus nicht einheitlich gezeichnet ist. Wie bei vielen Charakteren kommt es auch hier zu gewissen Brîchen, welche ein differenziertes Persçnlichkeitsbild zum Vorschein kommen lassen und erst den Reiz der Personendarstellung ausmachen, vgl. Anm. 265 zur Darstellung des Germanicus. 431 Vgl. Keitel, 1977, 31: „The details of Asiaticus’ defense are omitted.“ 432 S. Keitel, 1977, 32. Claudius wird von Tacitus auch an anderen Stellen in einem Ablativus absolutus syntaktisch isoliert; vgl. direkt im Anschluß ann. 11,2,2 (ignaro Caesare); ann. 11,11,2 (sedente Claudio).

158 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina trige droht zu scheitern. Die emotionale Erregung der Kaiserin wirkt auf den Leser etwas îberraschend. Besondere Bedeutung bei der Interpretation dieser Stelle scheint mir der bislang wenig beachteten Formulierung lacrimas excire zuzukommen, welche die Rîhrung der Messalina eindeutig als von außen herbeigefîhrt charakterisiert.433 Die Kaiserin scheint an dieser Stelle ihre Gefîhle nicht mehr kontrollieren zu kçnnen und lßt ihren Emotionen freien Lauf. In grammatischer Hinsicht wird dieser Eindruck dadurch hervorgerufen, daß ihre Person als Dativobjekt der Handlung des Subjektes (Asiaticus) untergeordnet ist.434 Dies deutet insgesamt darauf hin, daß die Trnen der Messalina keineswegs geheuchelt, sondern durchaus echt und aufrichtig sind, wofîr auch die durch das quoque hergestellte inhaltliche Nhe zu der zweifellos echten Gefîhlsregung des Claudius sprechen mag. Was aber bezweckt Tacitus, wenn er einen solchen Eindruck erweckt? Die Beantwortung dieser Frage ist eng mit den nun folgenden Worten des Historikers verknîpft, die einen scharfen inhaltlichen Kontrast zu den Trnen der Messalina herstellen, s. ann. 11,2,2: quibus abluendis cubiculo egrediens monet Vitellium, ne elabi reum sineret; ipsa ad perniciem Poppaeae festinat, subditis qui terrore carceris ad voluntariam mortem propellerent […]. Um ihre Trnen zu trocknen, verlßt die Kaiserin das Zimmer, wobei sie Vitellius ermahnt, den Angeklagten nicht davonkommen zu lassen, und sich selbst eilig anschickt, den Untergang der Poppaea ins Werk zu setzen. Durch einen relativischen Satzanschluß wird das weitere Vorgehen der Kaiserin stark mit der vorangegangenen Szenerie ihrer Rîhrung verknîpft.435 In Kombination mit der gedrngten Abfolge verbalnominaler Fîgungen (abluendis: Dativ des Gerundivs anstelle eines finalen Nebensatzes; 433 Ihre Trnen werden von Asiaticus gewissermaßen ‘erzeugt’, vgl. ThLL V,2, Sp. 1247, 44 f. 434 Man vgl. dagegen den theatralischen Auftritt des ‘weinenden’ Vitellius wenige Stze spter in ann. 11,3,1 (flens Vitellius), der durch den gesamten Kontext eindeutig als heuchlerisch entlarvt wird (vgl. S. 162 ff. zu ann. 11,3). Dort wird das vermeintliche Weinen durch das aktivische Partizip Prsens des konkreten Verbs flere mit Bezug auf das Subjekt des Satzes zum Ausdruck gebracht. 435 Seif, 1973, 30 hat im Rahmen seiner Strukturanalyse die hier beginnende Verlagerung des Geschehens rund um Asiaticus auf den „parallelen Handlungsstrang“, das Vorgehen der Kaiserin gegen Poppaea, untersucht und zu Recht bemerkt: „Die Schwenkung zu der Parallelhandlung vollzieht sich nahezu unmerklich, da der Blick auf Messalina gerichtet bleibt und die Bewegung Messalinas selbst zum synchronen Geschehen hinîberleitet. Beide Handlungsstrnge greifen in dem Bericht îber Messalinas Verhalten ineinander. Dadurch wird verdeutlicht, daß sie Dreh- und Angelpunkt ist.“

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egrediens; subditis: satzwertige Partizipien), die dem nun geschilderten Geschehensablauf eine hohe dramatische Dichte und Kîrze verleiht, fîhrt diese enge Verknîpfung dazu, daß die emotionale Ergriffenheit der Messalina mit ußerster Hrte auf die offensichtliche Gefîhlsklte prallt, mit der sie auf ein drohendes Scheitern ihrer Intrige reagiert. Man darf annehmen, daß Tacitus die Trnen der Messalina vor allem deshalb erwhnt hat, um ihr anschließendes Verhalten mçglichst drastisch davon absetzen zu kçnnen. Im Hinblick auf den zuvor erweckten Eindruck ihres tatschlichen Mitleids mit dem Angeklagten bieten sich nun zwei Mçglichkeiten der Interpretation an. Entweder man sieht sich durch den scharfen Kontrast in diesem Eindruck getuscht und kommt zu dem Schluß, daß das Weinen der Kaiserin eben doch nur gespielt war.436 In diesem Falle mîßte man der gesamten Szene eine stark ironische Wirkungsabsicht unterstellen,437 die den zuvor erzeugten Anschein echter emotionaler Erregung auf Seiten der Messalina als zustzliche Wîrze benutzt. Oder aber man hlt die Trnen der Messalina weiterhin fîr echt und sucht nach einer anderen Auflçsung des Sachverhalts. Mehl hat in seiner Untersuchung der Stelle zu Recht festgestellt, daß der gesamte Abschnitt ann. 11,2,2 ein „retardierendes Moment“ darstellt, „das der Charakterzeichnung von Messalina, Claudius und Scipio, dem Gemahl der Poppaea, dient.“438 Mçchte man diesen Ansatz weiterverfolgen und an unserer Stelle eben nicht von dramatischer Ironie ausgehen, wird man als alternative Ausdeutung die Mçglichkeit in Betracht ziehen kçnnen, daß Tacitus im Falle des Messalinaportrts die Gelegenheit nutzen wollte, um eine ganz bestimmte Seite der intriganten Kaiserin beispielhaft zu 436 So Seif, 1973, 30 f.; ebenso beurteilt Keitel, 1977, 32 die Stelle und spricht von „calculated tears“. Beide gehen jedoch nicht auf die problematische Formulierung lacrimas excire ein. 437 So Koestermann ad loc., der in Anlehnung an Walker, 1952, 45 auf die „dramatische Ironie“ der Textpassage abhebt; vgl. Nipperdey ad loc. unter Verweis auf weitere Textstellen innerhalb des elften Annalenbuches: „Tac[itus] gibt sein Urteil îber die Trnen der Messalina bloß durch die drastische Zusammenstellung der sich widersprechenden Tatsachen. Ebenso îber die Geistesschwche des Claudius c. 3 zu Anf., wo offen ironisch nur das eine Wort clementiam ist, c. 13 durch die Aufzhlung seiner rastlosen zensorischen Ttigkeit nach dem Bericht îber die Buhlschaften der Messalina. So wirkt er strker durch die ˜berraschung und tritt nicht aus seiner Erhabenheit heraus. Vgl. XII 42 zu Ende und 54.“ 438 Mehl, 1974, 25; îber die hier erwhnte Darstellung des Claudius und des Scipio wird im folgenden noch zu sprechen sein.

160 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina beleuchten, die mçglicherweise in seinem bisherigen Bericht439 zu wenig deutlich geworden ist. Vielleicht kam es ihm darauf an, dem Leser zu zeigen, daß Messalina zwar ein von ihren Trieben und Leidenschaften bestimmtes ‘sexuelles Monstrum’ gewesen ist,440 aber dennoch zu echten menschlichen Empfindungen wie Mitleid fhig war, die sie freilich in dem Augenblick brutal zu unterdrîcken verstand, wo sie ihren lngerfristigen Zielen im Wege waren.441 Um diese unbedingte Entschlossenheit im Handeln der Kaiserin verdeutlichen zu kçnnen, brauchte er einen Kontrast, der die Empfindungen der Messalina ihrer Zielstrebigkeit mçglichst scharf gegenîberstellte. Die Situation eines von ihr in die Wege geleiteten Prozesses gab hierfîr eine ideale Grundlage ab. Doch der Eindruck echter Rîhrung trgt nicht nur zu einer gehaltvollen Differenzierung innerhalb des taciteischen Messalinabildes bei. Indirekt wirkt er auch auf die Personendarstellung des Asiaticus zurîck: Wenn sogar Messalina als seine erbitterte Feindin ihm gegenîber echtes Mitleid zeigen muß, kann dies nur als ein weiteres Indiz fîr seine tatschliche Unschuld gewertet werden. Der Anschein echter Trnen auf Seiten der Kaiserin entspricht demnach auch dem bereits aufgezeigten Bedîrfnis des Historikers, Asiaticus von Schuld zu subern. Aufgrund dieser ˜berlegungen sollte man die Trnen der Messalina nicht vorschnell und vereinfachend als Zeichen der Heuchelei abtun. Wie so oft bei Tacitus ist der im Text verborgene Sinn weitaus vielschichtiger und diffiziler als es ein erster flîchtiger Blick vermuten lßt.

439 In diesem Punkt lßt uns freilich die ˜berlieferung im Stich. 440 Vgl. Mehl, 1974, 13. Diese Charakterzeichnung der Kaiserin wird auch in dem verlorenen Teil der Claudiusbîcher bereits zur Genîge vorgenommen worden sein. 441 Vgl. Mehl, 1974, 25 mit Anm. 73. In eine hnliche Richtung weist eine Interpretation, die H. Drexler [Tacitus. Grundzîge einer politischen Pathologie, Frankfurt a. M. 1939 (reprographischer Nachdruck Darmstadt 21970), 98] bereits vor îber 60 Jahren zu ann. 11,2 geboten hat. Auch er deutet die Trnen der Messalina und ihr anschließendes Handeln nicht als Zeichen der Heuchelei, sondern als „p\hor im wahrsten Sinne des Wortes“ als einen „Affekt, der mit der Notwendigkeit eines mechanischen Vorgangs durch den Reiz ausgelçst wird […].“ Bei seinen Rîckschlîssen auf die Aussageabsicht des Tacitus setzt Drexler a.a.O. jedoch leicht andere Akzente: „Die Geschichte ist von abgrîndiger Tiefe und beleuchtet blitzartig eine psychische Stçrung, die sich oft genug bis zur Perversitt steigert und freilich bei weitem schlimmer ist als jede Verlogenheit. Denn selbst die Mçglichkeit zur schlichten Wahrheit des Gefîhls scheint verloren gegangen zu sein [Hervorhebungen durch Kursivdruck jeweils von mir].“

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Kommen wir nun auf den Rest des Kapitels mit den Charakterisierungen des Claudius und des Scipio zu sprechen, der in Form einer Schleppe locker an das Vorhergehende angehngt ist, s. ann. 11,2,2: … adeo ignaro Caesare, ut paucos post dies epulantem apud se maritum eius Scipionem percontaretur, cur sine uxore discubuisset, atque ille functam fato responderet. Nachdem der erzwungene Selbstmord der Poppaea zuvor lediglich als Vorhaben der Messalina erwhnt worden ist, wird dieser im weiteren Verlauf der Darstellung als bereits geschehen vorausgesetzt. Plan und Ausfîhrung fallen in der Erzhlung gewissermaßen zusammen, wodurch die geraffte Kîrze der grammatischen Struktur (s. o.) auf inhaltlicher Ebene komplettiert wird. Messalina wird als schnell und erfolgreich agierende Intrigantin wirkungsvoll in Szene gesetzt. Dieser Eindruck bietet nun das Fundament fîr einen weiteren einschneidenden Kontrast, der dem Leser die vçllige Ahnungslosigkeit des Claudius drastisch vor Augen fîhrt und insbesondere durch den nachgetragenen Ablativus absolutus ignaro Caesare seine besondere Wucht erfhrt:442 Der Kaiser wußte so wenig von den Machenschaften seiner Gattin, daß er wenige Tage nach dem Tod der Poppaea deren Gatten Scipio bei einem Gastmahl nach dem Verbleib der Toten fragte. Die Schilderung dieser hçchst peinlichen Situation lßt im Bewußtsein des Lesers aus der Unwissenheit des Kaisers eine ungeschickte Trottelei werden und wirft auf den Geisteszustand des Princeps ein sehr negatives Licht.443 Die Antwort 442 Man beachte auch hier, daß Claudius durch seine Einbindung in den Ablativus absolutus aus der Satzstruktur herausgelçst ist, was den Eindruck der vçlligen Ignoranz des Kaisers verstrkt. Im Rahmen der Intrige gegen Asiaticus (bzw. Poppaea) wirkt er wie ein Außenstehender, der trotz seiner zentralen Stellung am Kaiserhof in das gesamte Geschehen um ihn herum nicht wirklich integriert ist. Wichtige Bereiche der kaiserlichen Herrschaft scheinen ihm aus der Hand genommen und seiner Kontrolle vçllig entzogen zu sein. 443 Vgl. Keitel, 1977, 33: „The interview between Claudius and Poppaea’s husband, Scipio, only reinforces the impression of the emperor’s ineptitude and passivity.“ Vorsichtiger urteilt Mehl, 1974, 27, der aus der Unwissenheit des Claudius îber das Ende der Poppaea keine Rîckschlîsse auf dessen Geistes- oder Gemîtsverfassung ziehen mçchte: „Denn Poppaea ist zwar von Suillius bei Claudius angeschwrzt, aber es ist gegen sie noch kein Verfahren erçffnet worden: Im Prozeß intra cubiculum ist nur Asiaticus angeklagt. Daß Poppaea bestraft worden sein oder aus Angst vor drohender Strafe sich das Leben genommen haben sollte, kann daher der Kaiser, der nicht informiert ist, nicht wissen oder auch nur ahnen.“ Diese Einschtzung mag historisch gesehen zwar richtig sein, doch stellt sich angesichts der hier von Tacitus gemalten Szenerie die Frage, ob dem Leser diese Sachlage tatschlich zu Bewußtsein kommt; vgl. Seif, 1973, 31 f.; Koestermann und Furneaux ad loc.

162 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina des Scipio auf die tolpatschige Frage des Claudius zeugt hingegen von hoher Geistesgegenwart und vermag sich auf diese Weise von der Naivitt des Kaisers positiv abzuheben.444 Dabei verleiht der alliterierende Ausdruck functam fato durch seine beschçnigende Wirkung der Erzhlung einen zynischen Beigeschmack, weiß der Leser doch um die tatschlichen Todesumstnde der Poppaea. Kurz vor dem Urteilsspruch gegen Asiaticus (s. u.) verdeutlicht die hier geschilderte Szene eindringlich, wie wenig Claudius von den wahren Hintergrînden des gesamten Prozesses wußte, und stellt damit dessen Urteilsfhigkeit als Richter erheblich in Frage.445 Nach dem kurzen Einschub îber das Ende der Poppaea kommt Tacitus auf das Prozeßgeschehen um Asiaticus zurîck, s. ann. 11,3,1: Sed consultanti super absolutione Asiatici flens Vitellius, commemorata vetustate amicitiae utque Antoniam principis matrem pariter observavissent, dein percursis Asiatici in rem publicam officiis recentique adversus Britanniam militia, quaeque alia conciliandae misericordiae videbantur, liberum mortis arbitrium ei permisit; et secuta sunt Claudii verba in eandem clementiam. Der mutige und schlagfertige Auftritt des Asiaticus scheint zunchst seine Wirkung nicht verfehlt zu haben: Claudius denkt ausdrîcklich îber einen Freispruch nach. Da greift Vitellius in das Geschehen ein. Wîßte der Leser nichts von dem Auftrag, den Messalina ihrem Gehilfen wenige Zeilen zuvor erteilt hat (ne elabi reum sineret; s. o.), so kçnnte er bei der Lektîre dieser Textpassage zunchst ganz dem Gedanken verfallen, Vitellius betreibe als Anhnger des Asiaticus dessen vçllige Entlastung. In der eindringlichen Kîrze und Prgnanz mehrerer Partizipialkonstruktionen und anderer verbalnominaler Wendungen (consultanti;446 flens; commemorata vetustate; percursis … officiis recentique … militia; conciliandae misericordiae) lßt Tacitus den Anklger rîhrselige Worte îber ihre alte Freundschaft und die gemeinsame Verehrung der Kaiserinmutter, îber die zahlreichen Verdienste des Angeklagten um das rçmische Gemeinwesen oder îber dessen Teilnahme am Britannienfeldzug verlieren. Die Schnelligkeit, mit der in diesen Stzen îber die Leistungen des Asiaticus hinweggeglitten wird, mag dem Leser ein Zeichen dafîr sein, wie ernst es Vitellius mit seiner ‘laudatio’ tatschlich ist. Dennoch wirken seine Worte vor dem Hintergrund der energischen Weisung der Kaiserin, er solle den Angeklagten nicht entkommen lassen, ußerst îberraschend. 444 Vgl. Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 33. 445 Vgl. Seif, 1973, 32. 446 Zum Dativ s. Koestermann und Furneaux ad loc. Aus permisit oder commemorata muß ein Begriff des Sagens oder Antwortens ergnzt werden.

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Um so drastischer kann nun das Ende des Satzes wirken, das durch den Antrag des Klgers den Sachverhalt auf zynische Weise aufklrt: Der gerechte Lohn fîr die erwhnten officia des Angeklagten um den rçmischen Staat soll nicht etwa in einem Freispruch liegen, sondern einzig und allein in der freien Wahl der Todesart.447 In diesem Zusammenhang entfalten die Worte des Vitellius nachtrglich eine vollkommen hçhnische Wirkung. Ausdrîcke wie misericordia oder permittere scheinen nun vçllig unangemessen zu sein.448 Ungeachtet des zuvor erzeugten Eindrucks setzt die Rede des Anklgers am Ende die Schuld des Asiaticus als erwiesen voraus, lßt eine Verurteilung somit als gewiß und das vorgeschlagene Urteil als großzîgiges und barmherziges Entgegenkommen eines alten Freundes erscheinen.449 Die Reaktion des Claudius wiederum ist fîr den Leser ußerst bezeichnend. Hat der Kaiser zuvor noch offenbar an die Unschuld des Asiaticus geglaubt und an einen Freispruch gedacht, schwenkt er nun ohne weitere Fragen nach dessen tatschlicher Schuld auf die Seite der Anklage îber und stellt damit innerhalb der gesamten Intrige erneut sein wankelmîtiges und lenkbares Wesen unter Beweis. Je nachdem, wer gerade das Wort gefîhrt hat, hat sich Claudius bald als Gegner (ann. 11,1,3), bald als Anhnger (ann. 11,2,1 bzw. 11,3,1) und schließlich wieder als Gegner (ann. 11,3,2) des Asiaticus prsentiert und dabei seine Meinung stets der aktuellen Lage angepaßt, ohne den vorgebrachten Informationen jemals auf den Grund gegangen zu sein.450 Daneben gilt es zu beachten, daß der Kaiser erst an dieser Stelle des Kapitels, wo er eindeutig negativ in Erscheinung tritt, namentlich erwhnt wird.451 Als er zu Beginn von ann. 11,3 an den in den Augen des Lesers gerechtfertigten Freispruch dachte und daher ein positives Bild von sich gab, mußte sein Name zu dem Partizip consultanti hingegen gedanklich ergnzt werden. Die Bemerkung et secuta sunt Claudii verba in eandem clementiam verzerrt aus den bereits erwhnten Grînden sowohl 447 Vgl. Keitel, 1977, 34: „The illogical conclusion of Vitellius’ arguments – a list of Asiaticus’ good works followed by a plea for misericordia – turns out surprisingly to be the death sentence for an innocent man.“ 448 Vgl. Mehl, 1974, 27 ff.; 28: „Nach der erfolgreichen Verteidigung erwartet man Gerechtigkeit fîr Asiaticus, die nur im Freispruch bestehen kann, nicht Mitleid und Erbarmen.“ Die Trnen des Vitellius werden in diesen Zusammenhang eindeutig als heuchlerisch entlarvt; vgl. Seif, 1973, 32 f. und die vorangegangenen Ausfîhrungen zu den Trnen der Messalina im Kapitel zuvor. 449 Vgl. Koestermann ad loc. 450 Vgl. Mehl, 1974, 29. 451 Auch hierbei jedoch nicht als Subjekt des Satzes!

164 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina den Auftritt des Vitellius als auch den des Claudius auf ironische Weise. Doch wird diese Ironie durch ein Aprosdoketon noch erheblich gesteigert: Denn jeder antike Leser htte an dieser Stelle mit Sicherheit die fast formelhafte Wendung in eandem sententiam erwartet, mit der hufig die Zustimmung zu einem Antrag (im Senat) oder einer Meinung bezeichnet wird.452 Der verchtliche Ton fllt damit unwillkîrlich auf den Begriff der clementia, eine Tugend, die im Bewußtsein der Zeitgenossen sptestens seit Caesar untrennbar mit der Person eines Herrschers bzw. des Kaisers verbunden war.453 Wenn Tacitus gerade diese zentrale Eigenschaft am Beispiel des Claudius zu einer Farce werden lßt, gibt er zu verstehen, daß der vierte Princeps den hohen Ansprîchen an seine Stellung nicht gerecht wird und sich seines Amtes als unwîrdig erweist.454 Zudem macht die kaiserliche ‘Milde’ an dieser Stelle die gesamte Willkîr und Rechtlosigkeit des Prozeßgeschehens deutlich: Dem Rechtsempfinden des Lesers zufolge ist Asiaticus unschuldig und daher von vorneherein nicht auf die clementia des Claudius angewiesen.455 Ironisch aufgeladen ist auch die Antwort des Asiaticus. Als einige ihm den Hungertod als sanfte Todesart nahelegen, lehnt er diese ‘Wohltat’ ab und geht gelassen dem Freitod entgegen, s. ann. 11,3,2: hortantibus de452 Diesen Hinweis verdanke ich O. Zwierlein; vgl. Liv. 1,32,12: inde ordine alii rogabantur; quandoque pars maior eorum, qui aderant, in eandem sententiam ibat, bellum erat consensum; 3,63,11: in eandem sententiam multa et a ceteris senioribus patrum cum essent dicta, omnes tribus eam rogationem acceperunt; Caes. bell. civ. 1,1,4: in eandem sententiam loquitur Scipio; Cic. post redit. ad Quir. 17: itaque cum P. Servilius, gravissimus vir et ornatissimus civis, dixisset opera mea rem publicam incolumem magistratibus deinceps traditam, dixerunt in eandem sententiam ceteri; Sen. epist. 66,41: Cum alicuius in senatu sententiam sequimur, non potest dici: ille magis adsentitur quam ille: ab omnibus in eandem sententiam itur. Plin. epist. 1,20,6: haec ille multaque alia, quae a me in eandem sententiam solent dici, ut est in disputando incomprehensibilis et lubricus, ita eludit, ut contendat hos ipsos, quorum orationibus nitar, pauciora dixisse, quam ediderint. Mçglicherweise mçchte Tacitus durch seine ironisierende Abkehr von einem gngigem Terminus der Senats- und Gerichtssprache auch darauf anspielen, daß das Verfahren gegen Asiaticus eben nicht vor der Senatsçffentlichkeit ausgetragen wurde. 453 Vgl. K. Winkler: Clementia, RAC 3, 1957, Sp. 206 – 231, hier 213 f.; Seif, 1973, 34 (mit Verweis auf Syme, 1958, 414 f. und T. Adam: Clementia Principis. Der Einfluß hellenistischer Fîrstenspiegel auf den Versuch einer rechtlichen Fundierung des Principats durch Seneca, Stuttgart 1970); Mehl, 1974, 30. 454 Vgl. Seif, 1973, 34: „Durch den Kontrast zwischen der Handlungsweise des Kaisers und der zitierten clementia wird die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich.“ 455 Vgl. Mehl, 1974, 30 mit weiterer Literatur.

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hinc quibusdam inediam et lenem exitum, remittere beneficium Asiaticus ait; et usurpatis quibus insueverat exercitationibus, lauto corpore, hilare epulatus, cum se honestius calliditate Tiberii vel impetu C. Caesaris periturum dixisset, quam quod fraude muliebri et impudico Vitellii ore caderet, venas exsolvit, viso tamen ante rogo iussoque transferri partem in aliam, ne opacitas arborum vapore ignis minueretur: tantum illi securitatis novissimae fuit. Das hier geschilderte Ende des Valerius Asiaticus vereint auf engstem Raum mçglichst viele der typischen Elemente eines ‘Philosophentodes’, wie sie in der antiken Literatur immer wieder anzutreffen sind.456 Vor dem Hintergrund der dîsteren und unheilvollen Prozeßatmosphre kehrt die heitere Gelassenheit des Angeklagten, die in ihrer standhaften Todesverachtung und rîhrenden Fîrsorge fîr die Gartenanlagen stoische wie epikureische Zîge trgt, einen besonders feinen und kultivierten Lebensstil hervor, der sich positiv von den rohen und rechtlosen Gepflogenheiten am Kaiserhof abhebt und auf diese Weise den Eindruck einer skrupellosen Intrige gegen einen Unschuldigen zustzlich ver456 S. Rçmer, 1972, 290 – 296, bes. 294 ff. Als inhaltliche Parallelen kçnnen etwa die Sterbeszenen des jîngeren Cato (Plut. Cato min. 67 – 70; vgl. Sen. de provid. 2,9 – 12), des Seneca (Tac. ann. 15,60 – 64), des Petron (Tac. ann. 16,19) und des Thrasea Paetus (Tac. ann. 16,34 – 35) herangezogen werden. Rçmer hlt vergleichend fest (a.a.O. 295): „Der Held lßt sich in seinem gewohnten Tagesablauf zunchst nicht stçren, was durch eine in Ruhe eingenommene Mahlzeit [so auch im Falle Catos und Petrons] betont werden kann, er spricht letzte Worte, die einen Trost fîr die Angehçrigen oder auch eine scharfsinnige Beurteilung der politischen Situation zum Inhalt haben, und schließlich folgt noch irgend eine Handlung, die seine Unerschîtterlichkeit bis zum letzten Augenblick leuchtend hervorhebt“; vgl. Seif, 1973, 36, der in der von Tacitus geschilderten Sorge des Asiaticus um seine Grten sogar eine „thematische Brîcke zu den Ausfîhrungen in [ann.] 11,1,1“ sieht, wo die Pflege der Grten des Lucull seitens des Angeklagten besonders betont wird. Abzulehnen ist die Interpretation Keitels, die in der Sterbeszene des Asiaticus einen deutlichen Kontrast zum allgemeinen Verhalten des Kaisers bei Tisch sehen mçchte: „Asiaticus’ end is composed and self-aware. His tasteful last banquet (hilare epulatus) contrasts with the ignorance Claudius displays at the table in 11,2, after Messalina’s death (11,38) and at his own death (12,67).“ Keitel legt bei dieser Deutung augenscheinlich ein zu großes Gewicht in die Worte hilare epulatus, die viel zu offensichtlich zu der hier vorliegenden Topik gehçren, als daß man sie fîr einen beabsichtigten Seitenhieb des Tacitus allein an die Adresse des genußsîchtigen oder stumpfsinnigen Claudius in Anspruch nehmen dîrfte. Auch Mehls Versuch (a.a.O. 34), in der Fîrsorge des Asiaticus um seinen Park u. a. einen „Kontrast zu Messalina und ihren Helfern, die zur Durchsetzung ihrer Ziele nicht einmal Menschenleben schonen“, zu erblicken, erscheint mir zu gewagt.

166 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina strkt.457 Dieser Intention gemß hebt Tacitus am Ende des Kapitels die Seelenruhe des Todgeweihten noch einmal mit Nachdruck hervor: tantum illi securitatis novissimae fuit. Da die Einzelheiten der Sterbeszene erwiesenermaßen einer gngigen Topik geschuldet sind, wre deren intensivere Betrachtung fîr unsere Belange kaum ergiebig. Allein die Bemerkung des Asiaticus, daß es fîr ihn ehrenvoller gewesen wre, durch die Gerissenheit des Tiberius oder die Unbeherrschtheit des Caligula umzukommen, als daß er durch ‘weibische Hinterlist’ oder das Schandmaul des Vitellius falle, verdient hier einige Beachtung. Insgesamt gesehen wird hier im Munde des Verurteilten scharfe Kritik an den Regierungszeiten der Augustusnachfolger geîbt, wobei die Regentschaften des Tiberius und des Caligula jeweils kurz durch eine hervorstechende negative Charaktereigenschaft des betreffenden Herrschers markiert werden: Whrend der eine durch seine calliditas zweifelhaften Ruhm erwarb, tat sich der andere durch seinen impetus unrîhmlich hervor. Und Claudius? Welcher Wesenszug ist fîr seine Herrschaft prgend? Im Gegensatz zu seinen Vorgngern wird der vierte Princeps an dieser Stelle namentlich nicht erwhnt.458 Sein Regiment wird hingegen durch andere Personen charakterisiert, nmlich Messalina (vertreten durch den drastischen Ausdruck fraude muliebri) und Vitellius. Nicht Claudius, sondern bezeichnenderweise dessen Frau und deren Gehilfe werden hier in einer Reihe mit den beiden letzten Kaisern genannt und erscheinen gewissermaßen als deren gleichrangige Nachfolger. Gerade dadurch, daß er den Namen des Claudius in der Reihenfolge der Principes nicht auftauchen lßt, bringt Tacitus die Schwche dieses Kaisers wohl am deutlichsten zum Ausdruck, nmlich dessen uneigenstndiges und lenkbares Wesen, das ihn zu einer machtlosen Marionette seiner engsten Umgebung macht.459 Dem Leser wird 457 Vgl. Mehl, 1974, 34 f.: „Die Sterbeszene gibt auch den Schlîssel fîr die oben herausgearbeiteten Tendenzen des Tacitus in den vorhergehenden Kapiteln: Im Mittelpunkt steht Asiaticus als tragischer Held. Gegenspielerin ist Messalina mit ihren Helfern; sie setzt das Intrigenstîck in Gang und erreicht ihren wohl grçßten Triumph. Aufrechter Mut steht gegen falsche List.“ 458 Vgl. Keitel, 1977, 35 mit Verweis auf Ryberg 404, Anm. 83 (= Ryberg, bei Pçschl, 1969, 87 f. Anm. 83), welche die Nicht-Erwhnung des Claudius als ein Mittel des Tacitus nennt, um diesen Kaiser in ein schlechtes Licht zu rîcken. 459 Vgl. Seif, 1973, 36 f.; Keitel, 1977, 35 kommt zu dem Ergebnis, „that Claudius is made to seem the worst ruler yet in a sequence of deteriorating personalities“, wobei sie offenbar von einer negativen Steigerung in der Abfolge der Ausdrîcke calliditas und impetus ausgeht, die ich an dieser Stelle nicht ohne jeden Zwang auszumachen vermag. Weitaus zweifelhafter ist jedoch ihr Versuch (a.a.O. 35 f.),

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hier in aller Schrfe vor Augen gefîhrt, wer am Hof des vierten Princeps das Szepter in den Hnden hlt.460 Darîber hinaus lßt die Aussage des Asiaticus noch einmal abschließend erkennen, daß er das Intrigenspiel der Messalina voll und ganz durchschaut hat. Dies wiederum hebt ihn fîr den Leser positiv von Claudius ab, der sich gegenîber den Machenschaften seiner Gattin als vçllig ahnungslos erwiesen hat. in den letzten Worten des Asiaticus eine Parallele zu den ultima verba des Arruntius (ann. 6,48) zu sehen: an, cum Tiberius post tantam rerum experientiam vi dominationis convulsus et mutatus sit, C. Caesarem vix finita pueritia, ignarum omnium aut pessimis innutritum, meliora capessiturum Macrone duce, qui ut deterior ad opprimendum Seianum delectus plura per scelera rem publicam conflictavisset? prospectare iam se acrius servitium, eoque fugere simul acta et instantia. haec vatis in modum dictitans venas resolvit [sc. Arruntius]. documento sequentia erunt bene Arruntium morte usum. (ann. 6,48,2 – 3). Die von Keitel in Anspruch genommene „connection between Asiaticus and Arruntius made by diction and theme“ soll sich auf die Gemeinsamkeiten „death scene, prophetic speech and manner of death“ stîtzen und vor dem Hintergrund der Tatsache, daß Arruntius kurz vor Tiberius aus dem Leben schied, dem Leser mçglicherweise bedeuten, daß auch der Niedergang des Claudius nun begonnen habe. Und Keitel geht in ihrer Interpretation noch weiter: „Arruntius chose to die in A.D. 37, not long before the emperor himself while Asiaticus’ remarks precede Claudius’ actual demise by seven years and over 100 chapters. From this cross-reference the reader may conclude that the feebleness that overcame Tiberius only in his last year marked Claudius’ reign for much longer: he lost control of the government long before the formal transfer of power to his successor.“ Der hier bemîhte ‘Querverweis’ des Tacitus steht sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht auf ußerst schwachen Fîßen. Die aufgezeigten Entsprechungen der beiden Sterbeszenen sind entweder erneut auf die allgemeine Topik des Philosophentodes zurîckzufîhren (‘prophetic speech’, wobei in der øußerung des Asiaticus gerade keine Prophetie vorliegt, sondern lediglich Kritik an vergangenen und gegenwrtigen Zustnden!) oder innerhalb der Annalen viel zu hufig auch an anderen Stellen vertreten (‘manner of death’; Selbstmord durch §ffnen der Pulsadern unter Verwendung der Junktur venas exsolvere bzw. resolvere ebenso in ann. 4,22,3; 6,9,2; 16,17,5; die gleiche Todesart auf andere Weise ausgedrîckt findet sich auch ann. 6,29,1; 13,30,2; 15,35,3; 15,63,3; 16,9,2; 16,11,2; 16,19,2), als daß man daraus eine von Tacitus beabsichtigte Reminiszenz ableiten dîrfte. Auch Mehl, 1974, 33 vergleicht die Sterbeszene des Asiaticus mit der des Arruntius (und der Senecas!), ohne jedoch weitere Schlîsse im Hinblick auf eine bestimmte Aussageabsicht des Tacitus zu ziehen; vgl. Koestermann ad ann. 11,3,2. Insgesamt darf nicht vergessen werden, daß zwischen den beiden hier verglichenen Stellen ursprînglich noch vier weitere Bîcher lagen, wodurch das Erinnerungsvermçgen des Lesers zustzlich beeintrchtigt worden sein dîrfte. 460 Vgl. Mehl, 1974, 34: „Die Intrige ist das Werk der Kaiserin und ihres Gînstlings Vitellius; der Kaiser hat daran keinen aktiven Anteil.“

168 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina Auf einen Vergleich der taciteischen Darstellung mit der Parallelîberlieferung vor allem der Dio-Exzerptoren kann an dieser Stelle verzichtet werden. Die wesentlichen Punkte einer solchen Gegenîberstellung sind insbesondere durch die Untersuchungen Mehls und Seifs umfassend zusammengetragen und ausgewertet worden.461 Sie lassen die Eigenheiten der taciteischen Darstellung deutlich zum Vorschein kommen und erlauben gewisse Rîckschlîsse auf die Intention des jeweiligen Autors und die Quellenfrage.462 Verbunden mit dem Bericht îber die Intrige gegen Asiaticus und Poppaea Sabina ist als eine Art Nachspiel der Prozeß gegen die Gebrîder Petra in ann. 11,4. Der ˜bergang zur neuen Thematik erfolgt zunchst rein ußerlich durch den einleitenden Hinweis des Tacitus, daß der Senat erst nach dem Tod des Asiaticus einberufen worden sei, s. ann. 11,4,1: Vocantur post haec patres, pergitque Suillius addere reos equites Romanos inlustres, quibus Petra cognomentum. Nachdem bereits in ann. 11,2,1 durch die Bemerkung neque data senatus copia auf die Fragwîrdigkeit des Prozeßgeschehens im Fall des Asiaticus aufmerksam gemacht worden ist, erfolgt hier an betonter Stelle ein erneuter Fingerzeig auf das unrechtmßige Vorgehen gegen den Angeklagten hinter verschlossener Tîr, der nun auch ein dunkles Licht auf das folgende juristische Geschehen werfen mag. Vor allem aber ist es die Wortwahl des Tacitus, die den Rahmen fîr eine gedankliche ˜bertragung des gegen Asiaticus ergangenen Unrechts jetzt auf den Fall der beiden angeklagten Brîder bildet. Durch die Verben pergere und addere wird der Handlung eine drastische Rastlosigkeit seitens des Anklgers verliehen, die im Gegensatz zu der eher passiven Rolle des Senats steht463 und dem Eindruck einer grîndlich und sachgerecht vorgenommenen gerichtlichen Untersuchung deutlich zuwiderluft: In aller Eile werden neue Anklagen vorgebracht, diesmal gegen zwei angesehene Mnner aus dem rçmischen Ritterstand. øhnlich wie im Falle des Asiaticus durch den Hinweis auf dessen zweimaligen Konsulat wird hier den beiden equites Romani durch das Attribut inlustres besonderes Ansehen

461 S. Mehl, 1974, 18 – 23 (zum Prozeßgeschehen); 23 – 25 und 30 – 32 (zum Fortgang der Intrige, dem Eingreifen des Vitellius und dem Vorgehen gegen Poppaea Sabina), vgl. Seif, 1973, 20 – 37 (passim). 462 Zu Letzterem s. Mehl, 1974, 35 – 37. 463 Vgl. Keitel, 1977, 37, die zustzlich auf die alliterierende Gegenîberstellung von Vocantur … patres, pergitque Suillius aufmerksam macht, wodurch der Gegensatz zustzlich verschrft wird.

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verliehen,464 das im Zusammenspiel mit den îbrigen genannten Faktoren beim Leser bereits im Vorfeld gewisse Vorbehalte gegen den im Anschluß geschilderten Prozeß wecken mçchte. Ohne Umschweife nennt Tacitus dann den eigentlichen Grund fîr die Verurteilung der Petra-Brîder. Sie sollen ihr Haus fîr die Zusammenkînfte zwischen Mnester und Poppaea zur Verfîgung gestellt haben, s. ann. 11,4,1: et465 causa necis ex eo, quod domum suam nesteris466 et Poppaeae congressibus praebuissent. Der Vorwurf wird durch den Konjunktiv im quod-Satz deutlich als rein subjektive Meinung markiert. Damit kann im Grunde nur auf den Glauben der Messalina Bezug genommen werden, da nach der Darstellung des Tacitus allein sie von der Verbindung ihres geliebten Pantomimen zu Poppaea wußte und wissen durfte.467 Die schreckliche Kon464 Equites illustres wurden diejenigen Ritter genannt, die îber den senatorischen Zensus verfîgten und daher Senatoren werden konnten, s. Nipperdey ad loc. 465 Heubner folgt in seiner Ausgabe der Konjektur Ernestis, die das (schwer zu deutende) adversative at der Handschriften zu erat ndern und als Verb zum vorangegangenen Satz ziehen mçchte (quibus cognomentum … at; vgl. ann. 5,1,1). Doch findet sich elliptisches quibus cognomentum auch ann. 12,55,1. Hlt man hingegen wie die meisten Editoren am îberlieferten at fest, muß man zu ußerst umstndlichen Erklrungen Zuflucht nehmen (vgl. Nipperdey, Furneaux, Koestermann und Draeger ad loc.), die fast alle an dem Umstand kranken, daß der noch zu behandelnde Gegensatz zwischen dem wirklichen und dem scheinbaren Grund fîr die Hinrichtung der Petra-Brîder erst spter durch das einleitende verum des nchsten Paragraphen angezeigt wird. Das von Ryckius vorgeschlagene ac hat K. L. Ulrichs, RhM 6, 1848, 637 verteidigt: „Der Fortgang der Handlung erfordert nach der Einfîhrung der Beschuldigten eine bloße Verbindungspartikel […].“ Diese Einschtzung ist sicherlich richtig, doch bewirkt ac vor dem nachfolgenden causa eine oft gemiedene Kakophonie (doppelter c-Laut). Setzt man als Verbindungspartikel jedoch et in den Text (Vorschlag von O. Zwierlein), sind smtliche Schwierigkeiten durch einen einfachen Eingriff behoben (zu derlei Abschreibefehlern durch Buchstabenvertauschung s. O. Zwierlein: Kritischer Kommentar zu den Tragçdien Senecas (Akademie der Wissenschaften und der Literatur: Abhandlungen der Geistesund Sozialwissenschaftlichen Klasse, Einzelverçffentlichung 6), Mainz / Stuttgart 1986, 481 – 497; 482: Vertauschung der Buchstaben e/a. 466 So die Lesart des Mediceus II; der Leidensis bietet die kaum zu haltende Variante Valerii, womit offenbar Asiaticus gemeint ist, der den Ehebruch mit Poppaea ja nach offizieller Meinung begangen haben soll; vgl. Seif, 1973, 38 f. Auf diese textkritische Problematik wird im folgenden noch zurîckzukommen sein. 467 Vgl. Nipperdey ad loc.: „praebuissent, weil Tac[itus] fîr diesen Glauben der Messalina keine Gewhr îbernehmen will [Hervorhebungen von mir].“ Um Mnester vor einer Verurteilung wegen Ehebruchs zu schonen, hatte sie ja zuvor Asiaticus als Liebhaber der Poppaea vorschieben mîssen; s. o. zu ann. 11,1,1; vgl. Koestermann ad ann. 11,4,1. Die Person des Mnester hat in dem offiziellen

170 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina sequenz dieses angeblichen ‘Vergehens’ ist zuvor durch die drastische Vokabel nex bereits in dîsterer Form vorweggenommen worden.468 Es entsteht insgesamt der Eindruck, daß in weitgehender Analogie mit dem Schicksal des Asiaticus469 auch den Gebrîdern Petra rein persçnliche Motive der Kaiserin zum Verhngnis wurden. Messalina bleibt weiterhin als intrigante Strippenzieherin im Hintergrund erkennbar. Nach der Klrung des wahren Prozeßhintergrundes, der nicht çffentlich werden durfte, wird nun der vorgeschobene Anklagepunkt prsentiert,470 eingeleitet durch ein verrterisches verum, das den Gegensatz zwischen Sein und Schein der Anklage augenfllig macht und den nun folgenden Vorwurf bereits im Ansatz als bloße Fassade entlarvt,471 s. ann. 11,4,2:

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Prozeß gegen Asiaticus bzw. Poppaea daher nie eine Rolle gespielt und darf aus demselben Grund auch im Zusammenhang mit der Anklage gegen die Brîder Petra nicht erwhnt werden; vgl. Seif, 1973, 38 f. Vgl. Keitel, 1977, 37. Vgl. zu den ˜bereinstimmungen mit dem Asiaticus-Prozeß Seif, 1973, 39. Gerade diese Angabe eines zur Tarnung vorgeschobenen Scheingrundes spricht nun fîr die Lesart Mnesteris des Mediceus II anstelle der Variante Valerii (sc. Asiatici; s. o. Anm. 466), wie auch Seif, 1973, 38 f. richtig feststellt. „Wre nmlich die Begînstigung des Ehebruchs mit Poppaea der Anlaß fîr den Prozeß gegen die Brîder Petra gewesen, so htten diese offen wegen lenocinium belangt werden kçnnen.“ (a.a.O. 38 unter Verweis auf Th. Mommsen, Rçmisches Strafrecht, Leipzig 1899 [unvernderter Nachdruck Darmstadt 1961], 700). Im Falle der Lesart Valerii wre eine solche Anzeige wegen Kuppelei fîr Messalina kein Problem gewesen, war das angebliche Verhltnis zwischen Asiaticus und Poppaea doch bereits Gegenstand des letzten Verfahrens gewesen und mußte von Messalina nicht als Geheimnis behandelt werden. Eines vorgeschobenen Anklagepunktes gegen die beiden Ritter htte es demnach gar nicht mehr bedurft. Ganz anders verhlt es sich jedoch im Falle der Lesart Mnesteris. In Bezug auf den Schauspieler war ein solches Tuschungsmançver aus den bereits dargelegten Grînden dringend erforderlich; vgl. insgesamt die grundlegende Untersuchung des Problems durch F. R. D. Goodyear: The readings of the Leiden manuscript of Tacitus, CQ 15, 1965, 299 – 322, hier 314 f., der nach der Erçrterung der inhaltlichen Argumente zu Gunsten des Mediceus („it makes perfectly good sense that Tacitus should suggest involvement as accomplices in the adultery of Mnester and Poppaea as the true reason for the death of the Petrae, while the charges mentioned in 11,4,2 are the alleged reasons.“ [a.a.O. 314]) sich auch zur Frage ußert, bei welcher der beiden Lesarten es sich am wahrscheinlichsten um eine Interpolation handeln kçnnte: „[…] nothing in what precedes of our existing text would suggest to an interpolator the insertion of Mnesteris for Valerii, but everything in what precedes would suggest the converse […].“ S. Draeger ad loc.; vgl. Keitel, 1977, 37; Seif, 1973, 41. Somit handelt es sich hierbei gerade nicht – wie Koestermann ad loc. vertritt – um eine „zweite Motivation“, sondern lediglich um den Versuch, die wahre Ursache des Prozesses

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verum nocturnae quietis species alteri obiecta, tamquam vidisset Claudium spicea corona evinctum spicis retro conversis, eaque imagine gravitatem annonae dixisset. quidam pampineam coronam albentibus foliis visam atque ita interpretatum tradidere, vergente autumno mortem principis ostendi. illud haud ambigitur, qualicumque insomnio ipsi fratrique perniciem adlatam. Irgendein Traum, zu Ungunsten des Kaisers ausgelegt, soll demnach der Grund fîr die Hinrichtung der beiden Brîder gewesen sein. Fîr den Inhalt des Traumes fîhrt Tacitus zwei verschiedene Versionen an und kann sich damit als gewissenhafter und vertrauenswîrdiger Berichterstatter erweisen. Indem er jedoch beide Fassungen im Anschluß an ihre Schilderung abtut und lediglich resîmierend festhlt, daß ohne jeden Zweifel ein wie auch immer gearteter Traum den Brîdern zum Verhngnis wurde, macht er deutlich, wie unwesentlich und nebenschlich der genaue Inhalt des vorgeworfenen Traumbildes fîr den gesamten Vorgang gewesen ist, da es sich dabei ja ohnehin nur um eine Scheinanklage gehandelt hat.472 Folgerichtig hat er auch hier beide Versionen zu vertuschen. Allein der Leser weiß durch den Hinweis des Tacitus zu Beginn des Kapitels um die enge Verquickung des Petra-Falles mit dem des Asiaticus bzw. der Poppaea. Fîr den Senat war dieser tatschlich gegebene Zusammenhang aus der offiziellen Anklage nicht zu ersehen. Wenn die beiden Ritter dennoch im Rahmen der Verurteilung des Asiaticus und der Poppaea vor Gericht gebracht wurden – dies geht nach der Formulierung addere reos sptestens aus ann. 11,4,3 hervor, wo u. a. der Prtorianerprfekt Crispinus wieder eine Rolle spielt und die Senatoren nachtrglich auch îber den Fall der Poppaea zur Abstimmung gerufen werden (s. u.) –, so mag dies ußerlich darin begrîndet liegen, daß auch sie in die vermeintlichen Umsturzplne des Asiaticus verwickelt werden sollten. In diesem Sinne lassen sich zumindest die im folgenden vorgeworfenen Traumdeutungen verstehen, die eine fîr den Kaisersturz gînstige Atmosphre bereiten konnten; vgl. Koestermann ad ann. 11,4,2. 472 Vgl. Seif, 1973, 41. Aus diesem Grund sollen auch uns die beiden Traumversionen nicht weiter interessieren; zu ihrer politischen Relevanz s. G. Weber: Kaiser, Trume und Visionen in Prinzipat und Sptantike (Historia Einzelschriften, Heft 143), Stuttgart 2000, 334 (333 – 335 zu ann. 11,4); Seif, 1973, 39 – 41; Mehl, 1974, 38 sowie die Kommentare ad loc. Keitel, 1977, 37 weist in diesem Zusammenhang auf spter tatschlich eintretende Ereignisse hin: „Although these dreams are the basis for a false charge, they do come true later for the emperor: the gravitas annonae in A.D. 51 (at 12,43,2 [=12,43,1]) and his death in the autumn of 55. With an even greater irony the second version of the dream, the Bacchic crown, brings death in the autumn of 48, not to the princeps, but to Messalina who meant to overthrow him. Death comes to her shortly after the revel at which Silius dresses as Bacchus.“ Man sollte sich jedoch davor hîten, hier eine beabsichtigte Andeutung kînftiger Ereignisse zu sehen. Sowohl die zur Diskussion stehende Hungersnot als auch der Tod des Claudius liegen im Jahr 47

172 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina jeweils als rein subjektive Meinung dargestellt (tamquam vidisset /… praedixisset473 bzw. quidam … tradidere). Zu beachten ist desweiteren der Umstand, daß die nocturnae quietis species ausdrîcklich nur einem der beiden Brîder (alteri) vorgeworfen wird, jedoch beide (ipsi fratrique) offenbar dieselbe Strafe trifft, was insgesamt auf eine ungleiche Behandlung der Angeklagten hindeutet und somit auch diesen Prozeß als ußerst fragwîrdig erscheinen lßt.474 Auch hier spîrt der Leser zwischen den Zeilen, daß es in Wahrheit um etwas ganz Anderes ging als um die hier vor dem Senat verhandelte Anschuldigung. In direktem Anschluß lßt Tacitus nun eine Szenerie folgen, die voller Sarkasmus die ‘Entlohnung’ der Anklagevertreter schildert und gerade durch ihre unmittelbare Nhe zu der Nachricht vom Verderben der PetraBrîder ihre besondere hçhnische Wucht bezieht: Denn auf die Worte perniciem adlatam prallen unvermittelt die gewaltigen Geldsummen und noch in relativ weiter Ferne, so daß ihre unterschwellige Vorwegnahme an dieser Stelle ihre dramatische Wirkung wohl verfehlen wîrde. Bei dem Versuch, die pampinea corona in Verbindung mit dem Tod der Messalina zu bringen, muß die hierfîr nçtige Vertauschung der Bezugsebenen (der Traum soll ja den bevorstehenden Tod gerade des Princeps andeuten) ußerst stutzig machen und darf m. E. nicht allein durch die vage Annahme, hier liege mçglicherweise eine ‘besondere Ironie’ vor, gerechtfertigt werden. 473 Zum Gebrauch von tamquam mit Konjunktiv durch Tacitus s. Nipperdey ad ann. 3,72,3: „Bei Tac[itus] […] steht tamquam mit dem Konjunktiv, aber auch mit Partizip, Adjektiv, Substantiv und anderen Satzteilen sehr hufig so, daß es bloß die fremde Aussage oder die Ansicht, den Grund, die Absicht jemandes, die sich bei einer Handlung oder einem Ereignis zeigt, ohne ein Urteil îber die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Sache bezeichnet, welche letztere nur anzunehmen ist, wenn sie sich aus besonderen Grînden ergibt“; vgl. KSt II 456 (8b). 474 Vgl. Weber, 2000, 334, der diese Problematik folgendermaßen umreißt und erklrt: „[…] im Hinblick auf die Trume macht es keinen Sinn, daß beide Brîder belangt wurden. Wahrscheinlich aber wurden sie kollektiv als Urheber der Verbreitung verantwortlich gemacht und konnten den Verdacht nicht von sich abweisen […].“ øhnliche ˜berlegungen dîrften Seif, 1973, 41 bei seiner Bemerkung geleitet haben, daß „das Todesurteil gegen die Brîder Petra in beiden Fllen seine Berechtigung“ gehabt habe. Das Besondere der taciteischen Darstellung besteht jedoch darin, daß sie das etwas îberraschende Urteil eben nicht nher erlutert und eine kollektive Schuld der Brîder an keiner Stelle deutlich werden lßt. Vielmehr wird das vorgeworfene Vergehen immer nur als von einer Person begangen hingestellt (neben dem bereits genannten alteri beachte man auch die Singularformen vidisset / praedixisset; innerhalb des AcI, welcher die zweite Traumversion enthlt, lßt sich eine solche Fixierung freilich nicht treffen), und es deutet nichts darauf hin, daß bald der eine, bald der andere Bruder gemeint ist.

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Auszeichnungen, mit denen nun die einzelnen Personen bedacht werden,475 s. ann. 11,4,3: sestertium quindecies et insignia praeturae Crispino decreta. adiecit Vitellius sestertium decies Sosibio, quod Britannicum praeceptis, Claudium consiliis iuvaret. Mit der Nennung des Prtorianerprfekten Crispinus, des Vitellius und des Sosibius wird der Bogen zurîck zum Beginn des Prozesses gegen Asiaticus geschlagen und daran erinnert, daß das Verfahren gegen die Brîder Petra noch im Zusammenhang mit der Anklage gegen Asiaticus und Poppaea gefîhrt wurde,476 freilich unter Verschleierung der wahren Motive. Der hier erzeugte Eindruck der makabren Ironie477 weitet sich damit auch auf das Schicksal der zuvor zum Selbstmord getriebenen Opfer aus, um dann vollends auf die Spitze getrieben zu werden, wenn Sosibius fîr seine Ratschlge an den Kaiser belohnt werden soll, noch dazu auf Antrag des Vitellius. Der Leser hat an dieser Stelle noch genau die per speciem benivolentiae erfolgten consilia des Sosibius vor Augen, die den Kaiser durch gezielte Panikmache viel mehr zu îberstîrzten Handlungen als zu einem îberlegten Vorgehen veranlaßt und ebenso wie die Maßnahmen des Vitellius dazu beigetragen haben, einen Unschuldigen in den Tod zu treiben. So wird er in den Augen des Lesers gerade nicht fîr seine Dienste gegenîber dem Kaiser, sondern fîr seine hinterlistige Schandtat im Dienste der Messalina belohnt.478 Den Schluß des Kapitels bildet eine Szene, in der Scipio als Ehemann der ins Verderben gezogenen Poppaea vor dem ironisch-makabren Hintergrund durch eine geistesgegenwrtige Antwort erneut (vgl. ann. 11,2,2) positiv hervorsticht, s. ann. 11,4,3: rogatus sententiam et Scipio ‘cum idem’ inquit ‘de admissis Poppaeae sentiam quod omnes, putate me idem dicere quod omnes’, eleganti temperamento inter coniugalem amorem et senatoriam necessitatem. Die wçrtliche Zitierweise sowie die Worte eleganti temperamento bringen offen die Bewunderung zum Ausdruck, die Tacitus der klugen und ausgewogenen Antwort des Scipio entgegenbringt,479 die in ihrer Doppeldeutigkeit480 freilich ebenfalls stark ironisch ist. Sie ermçglicht dem Ehemann und Senator die schwierige Gratwanderung zwischen Gattenliebe und senatorischer Pflichterfîllung, die ihm 475 Vgl. Koestermann ad loc: „Asyndetischer Anschluß von abrupter Hrte“; vgl. Keitel, 1977, 38. 476 Vgl. Koestermann ad loc.; Seif, 1973, 41. Crispinus hatte Asiaticus in Baiae festnehmen und nach Rom bringen lassen (ann. 11,1,3). 477 So das zutreffende Urteil Mehls, 1974, 38. 478 Vgl. Mehl, 1974, 38 f.; Seif, 1973, 41. 479 Vgl. Keitel, 1977, 38; Koestermann ad loc. 480 Vgl. Koestermann ad loc.; Mehl, 1974, 39.

174 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina abverlangte Anpassung an die drîckenden Verhltnisse ohne gleichzeitige servile Preisgabe persçnlichen Ehrempfindens. In der Literatur ist unter Bezugnahme auf den taciteischen Agricola betont worden, daß die hier îber Scipio berichtete Anekdote fîr die Geschichtsauffassung des Historikers exemplarischen Wert besitzt, spiegelt sie doch offenbar die am Beispiel seines Schwiegervaters aufgezeigte Mçglichkeit oppositioneller Kreise wider, auch in den Zeiten politischer Unterdrîckung durch Zurîckhaltung und Mßigung einen gangbaren Weg zwischen persçnlicher Freiheit und moralischer Integritt auf der einen und ußerer Pflichterfîllung auf der anderen Seite zu beschreiten, der ein sinnloses Selbstopfer ausschließt.481 Dieser Vergleich bedarf jedoch einer wesentlichen Einschrnkung: Im Falle des Agricola kam es darauf an, trotz der widrigen Umstnde in großem Stil Wichtiges gefahrlos leisten zu kçnnen. Scipios Verhalten hingegen ist zwar immer wieder von schlagfertiger Klugheit geprgt, kommt aber kaum îber den Charakter spontaner und singulrer Handlungen, mit denen er sich aus einer momentanen Verlegenheit geschickt zu retten weiß, hinaus. Man sollte daher auch die hier gegebene Szene nicht allzu sehr pressen und dem Historiker die Absicht unterstellen, er wolle dem Leser in der Figur des Scipio ein leuchtendes Vorbild ‘passiven Widerstandes’ geben.482 Im Vordergrund dîrfte vielmehr die bereits bei der Asiaticusdarstellung beobachtete Intention stehen, durch einen Kontrast zwischen dem eindrucksvollen Verhalten einzelner Mnner und dem bçsen Treiben am Kaiserhof die politischen Rahmenbedingungen der frîhen Kaiserzeit an den Pranger zu stellen.483

481 Vgl. Seif, 1973, 42; Mehl, 1974, 39. 482 Vgl. Seifs berechtigte Skepsis gegenîber dem Versuch, aus solch vereinzelten „Momenten der Darstellung ein religiçses, politisches, soziales oder anthropologisches Glaubensbekenntnis“ des Tacitus zu entnehmen, das dann auf das Gesamtwerk angewandt werden kçnne (1973, 42 f.). 483 Vgl. Keitel, 1977, 38, die insbesondere einen Gegensatz im Verhalten zwischen Vitellius und Scipio in ihrer jeweiligen Eigenschaft als Senator herauszuarbeiten versucht, dann aber sicherlich einen Schritt zu weit geht, wenn sie in der auf Scipio bezogenen Phrase coniugalem amorem einen Seitenhieb gegen den betrogenen Ehemann Claudius vermutet.

1.2 Ann. 11,5 – 7: Politische Folgen des Prozesses

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1.2 Ann. 11,5 – 7: Politische Folgen des Prozesses: Die Beschrnkung der Honorare fîr Anwlte Seit dem Prozeß gegen die Petra-Brîder ist der Senat Ort des Geschehens. Doch kommt dies erst in den folgenden drei Kapiteln richtig zur Geltung – so sehr haben bisher Messalina und ihre Intrigen die Darstellung bestimmt.484 Nun aber tritt der Senat selbst in den Mittelpunkt des Interesses, da es um ein Thema geht, das fîr ihn in seiner Funktion als Gerichtsinstanz von grundlegender Bedeutung ist: Die Neubelebung der lex Cincia, welche die Annahme von Geldern oder Geschenken fîr die Fîhrung eines Prozesses verbot. Als Hintergrund dieser Maßnahme beleuchtet Tacitus das skandalçse Treiben der Delatoren, wobei die Person des Suillius die inhaltliche Brîcke zu den vorherigen Kapiteln bildet,485 s. ann. 11,5,1 – 2: Continuus inde et saevus accusandis reis Suillius, multique audaciae eius aemuli; nam cuncta legum et magistratuum munia in se trahens princeps materiam praedandi patefecerat. nec quicquam publicae mercis tam venale fuit quam advocatorum perfidia, adeo ut Samius, insignis eques Romanus, quadringentis nummorum milibus Suillio datis et cognita praevaricatione ferro in domo eius incubuerit. Tacitus beschreibt zunchst mit eindringlichen Worten den angeprangerten Mißstand des Denunziantentums. Dabei lassen die Worte continuus und saevus an einen fieberhaften Anklagewahn des Suillius denken, der losgelçst scheint von aller Rationalitt und Rechtlichkeit.486 Mit Hilfe der verbalnominalen Wendung accusandis reis 487 wird zudem eine Kîrze des Ausdrucks erreicht, die den Eindruck des ruhelosen, hastigen Eifers wirkungsvoll verstrkt. Das Treiben des Suillius und seiner Nachahmer wird unmißverstndlich als audacia gebrandmarkt, whrend der Begriff aemuli den 484 Zur Einbindung der Kapitel ann. 11,5 – 7 in die ‘geschlossene’ Kapitelreihe ann. 11,1 – 7 s. Seif, 1973, 58. 485 Vgl. Wille, 1983, 478; Koestermann ad loc. War Suillius bisher insbesondere als Werkzeug der Messalina in Erscheinung getreten, tritt er nun als Hauptakteur in den Vordergrund der Darstellung, s. Seif, 1973, 44; 58, wo darîber hinaus noch andere Verknîpfungspunkte thematischer Art herausgearbeitet werden, die hier nicht weiter interessieren mîssen (s. hierzu Wille, 1983, 479). 486 Vgl. Keitel, 1977, 39, die darauf hinweist, daß Tacitus fîr seine Behauptung keine weiteren Belege anfîhrt und der hier erzeugte Eindruck allein aufgrund der Wortwahl und der engen Verknîpfung des Gesagten mit dem vorangegangenen Geschehen erzeugt wird. 487 Der Form nach wohl als Abl. respect. zu saevus und continuus zu verstehen; vgl. Koestermann ad loc.

176 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina Gedanken an einen makabren Wettkampf unter den Delatoren weckt. Doch sind die hier geschilderten Zustnde lediglich ein Symptom eines viel tiefer liegenden ˜bels, nmlich der Herrschaft des Princeps selbst, wie Tacitus durch ein begrîndendes nam hervorhebt. Denn der Kaiser habe, indem er smtliche Kompetenzen der Gesetze und Beamten an sich zog, erst die Mçglichkeit zu derlei ‘ruberischem’ Verhalten geschaffen. Die unverschmte Unrechtmßigkeit im Vorgehen der Delatoren wird durch die Verwendung der Vokabel praedari noch einmal eindringlich auf den Punkt gebracht. Die Formulierung legum et magistratuum munia in se trahens erinnert indessen auffallend an die Augustuskritik in ann. 1,2,1: munia senatus magistratuum legum in se trahere. Da diese Parallele zu Beginn der Annalen an prominenter Stelle steht, mag sie dem Leser auch viele Bîcher spter noch im Gedchtnis sein. Man darf daher annehmen, daß Tacitus in ann. 11,5,1 durch seine auffllige Anlehnung an den Wortlaut der frîheren Stelle diese Reminiszenz bewußt erzeugen wollte. Doch muß hier nicht zwangslufig ein ironischer Vergleich zwischen Augustus und Claudius beabsichtigt sein,488 wenngleich eine solche Gegenîberstellung der beiden Herrscher ansonsten ein beliebtes Mittel des Tacitus zur Herabwîrdigung des vierten Princeps ist. Aufgrund der allgemein gehaltenen Bezeichnung princeps kommt auch eine Kritik am Prinzipat insgesamt als Deutungsmçglichkeit in Betracht. Daß beide Auffassungen grundstzlich nicht einander ausschließen mîssen, zeigt die Analyse Keitels, die offenbar beide Alternativen in der Darstellung des Historikers verwirklicht sieht: „[…] the reminiscence stresses the arbitrary and autocratic nature of the principate more than the particular problem, Claudius’ penchant for personally deciding cases and his malleability and inconsistency (just seen in 11.3) which facilitated convictions and confiscations. The parallel is especially cruel in view of Claudius’ well known admiration for and emulation of Augustus.“489 Die Doppeldeutigkeit der Darstellung kçnnte demnach durchaus beabsichtigt sein, um mit nur einem Hinweis gleich zwei unterschiedliche Probleme kritisch zu beleuchten, von denen je nach Gewichtung verschiedener Einzelaspekte mal das eine, mal das andere im Vordergrund steht. 488 So Mehl, 1974, 40 – 42; ganz hnlich Seif, 1973, 44 f.; vgl. Devillers, 1994, 166. Mehl, 1974, weist a.a.O. Anm. 186 auf den Unterschied hin, daß „zur Methodik des augusteischen Principates […] fîr Tacitus […] auch die Entmachtung des Senats (vgl. ann. 1,2,1: munia senatus … in se trahere)“ gehçrt, whrend dies bei Claudius nicht der Fall gewesen zu sein scheint. 489 Keitel, 1977, 39.

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Whrend die Auffassung eines ironischen Vergleichs zwischen Claudius und Augustus in der Literatur mehrfach behandelt und gestîtzt worden ist, muß dies im Falle der zweiten Interpretationsmçglichkeit noch nachgeholt werden. Neben der bereits erwhnten Tatsache, daß an der hier verhandelten Stelle die offizielle Bezeichnung princeps genannt wird, die zwar auf Claudius bezogen werden kann, aber auch auf jeden anderen seiner Vorgnger paßt,490 ist weiterhin zu bedenken, daß Claudius nicht der erste Kaiser nach Augustus war, der eine solche Fîlle an Befugnissen auf seine Person vereinte, daß die gegenseitige politische Kontrolle der herrschenden Schichten aufgeweicht wurde.491 Schließlich ermçglicht

490 Vgl. dagegen kurz zuvor ann. 11,4,2: … mortem principis ostendi … und wenig spter ann. 11,7,4: ut minus decora haec, ita haud frustra dicta princeps ratus …, wo der Bezug auf Claudius durch den Kontext jeweils eindeutig festgelegt wird. An unserer Stelle mag freilich der Umstand, daß Claudius wenige Stze zuvor namentlich erwhnt worden ist (ann. 11,4,3), Tacitus zu einer Variation im Ausdruck veranlaßt haben (vgl. abermals die Verwendung von princeps in ann. 11,4,2 nach der Aussage: … tamquam vidisset Claudium …). An anderer Stelle wiederum scheint die mehrmalige Wiederholung des Eigennamens auf relativ begrenztem Raum den Schriftsteller nicht zu stçren, s. die enge Abfolge von ann. 11,1,1 (… moneret Claudium …); 11,1,3 (at Claudius …); 11,2,1 (… commoto … Claudio …), wobei innerhalb von etwa 20 Teubnerzeilen dreimal Claudius explizit genannt wird; die erste Variation erfolgt dann erst ann. 11,2,2 (… ignaro Caesare …). 491 Man fîhre sich nur einmal die Vielzahl der Majesttsprozesse unter Tiberius vor Augen, die letzten Endes auf das gleiche machtpolitische Phnomen zurîckzufîhren waren; vgl. etwa ann. 3,65 – 70; 4,28 – 32 (4,32: îber Suillius!); 4,36 (4,36,1: Ceterum postulandis reis tam continuus annus fuit); 6,38 – 39; vgl. Keitel, 1977, 39; daher greifen alle Versuche, die in ann. 11,5 geschilderten Zustnde allein auf die Person oder die Regierungszeit des Claudius zurîckzufîhren, etwas zu kurz; so Seif, 1973, 44 – 46, der (44) unter Verweis auf Dio und Sueton auf die „unermîdliche Richterttigkeit“ des Claudius abhebt sowie (45 f.) „die Kuflichkeit der Advokaten“ als ein „Grundîbel des forensischen Lebens unter Claudius“ hinstellt, nachdem er selbst im Satz zuvor noch von den Tiberiusbîchern gesprochen hat, „wo eine Woge von Prozessen nach der anderen îber den Senat hinwegbrandet“; Mehl, 1974, 39 f. scheint in hnlicher Weise das Treiben der Delatoren als spezifisches Problem der Claudiusregentschaft zu begreifen und beruft sich dabei nicht nur ebenfalls auf die Parallelberichte Suetons und Dios, sondern auch auf den nicht îberlieferten Teil der Annalen: „Daß unter Claudius’ Regierung Delatoren und Intriganten sich unbehindert bettigen konnten, zeigte sich sehr schnell nach dem Regierungsantritt des Kaisers. Und die Schilderung des Asiaticus-Prozesses setzt eigentlich voraus, daß Tacitus explizit oder implizit in den verlorenen Annalenbîchern darauf eingegangen ist.“ Vgl. Koestermann ad loc. Keines der hierbei vorgetragenen Argumente scheint mir

178 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina auch das Plusquamperfekt patefecerat einen Bezug auch auf die Regierungszeit der Kaiser vor Claudius:492 Der erste Princeps hatte sich die hier kritisierte Regierungspraxis zu eigen gemacht und hierin als Vorbild fîr seine Nachfolger gedient. Es darf daher mit einigem Recht vermutet werden, daß Tacitus durch seinen versteckten Verweis auf Augustus nicht nur die Person des Claudius in Verruf bringen will, sondern auch zeitîbergreifend deutlich machen mçchte, daß der hier beklagte Mißstand nicht etwa ein spezifisches Merkmal der Regierung eines ganz bestimmten Kaisers, sondern ein generelles Grundîbel des frîhen Prinzipats gewesen ist. Im folgenden wird im Zusammenhang mit der lex Cincia auf diesen Gedanken noch einmal zurîckzukommen sein. Nach dieser doppeldeutigen Kritik wird sodann das Augenmerk auf die perfidia advocatorum gelenkt, wobei bereits mit dem Ausdruck perfidia genau das Gegenteil dessen bezeichnet wird, was einen Anwalt vor Gericht auszeichnen sollte. Diese Untreue ist zudem das kuflichste aller ‘çffentlichen Waren’. Die Folgen solch rechtloser Zustnde werden anhand eines Beispiels anschaulich gemacht, wonach ein angesehener Ritter namens Samius sich das Leben nahm, nachdem er Suillius 400.000 Sesterzen gezahlt hatte und dennoch von ihm verraten worden war. Offenbar aus Rache hatte er den skandalçsen Selbstmord im Hause des Suillius verîbt, um diesen in Verruf zu bringen.493 Nach den beiden Petra-Brîdern (ann. 11,4) ist demnach ein weiterer insignis494 eques Rojedoch zwingend zu sein fîr die Annahme, Tacitus wolle an der hier verhandelten Stelle allein auf eine Schwche des vierten Princeps hinweisen. 492 Vgl. Keitel, 1977, 39, die im Zusammenhang mit der Augustus-Parallele (ann. 1,2,1) offenbar darîber nachdenkt, ob mit dem Tempus vielleicht auf eine Stelle im verlorenen Teil der Claudiusbîcher rekurriert wird: „At 11.5, unlike 1.2, we are shown neither cause nor process; perhaps this had already been described as the tense of patefecerat suggests.“ 493 Vgl. Nipperdey ad loc.; aus dem Bericht des Tacitus sind die genauen Hintergrînde der praevaricatio nicht zweifelsfrei zu klren. Mçglicherweise hatte Suillius in seiner bewhrten Rolle als Delator trotz Annahme des Bestechungsgeldes die Klage gegen Samius aufrecht erhalten oder aber als Anwalt seinen Klienten im Stich gelassen; vgl. Koestermann ad loc., der Ersteres zu favorisieren scheint. Die zweite Mçglichkeit mag hingegen inhaltlich besser passen, ist doch insgesamt von der perfidia advocatorum die Rede, welche im folgenden durch eine Erneuerung der lex Cincia eingedmmt werden soll; vgl. Seif, 1973, 46 mit Anm. 4. Keitel, 1977, 40 scheint davon auszugehen, daß Tacitus hier eine bewußte Ambiguitt erzeugt: „Tacitus seems to combine two distinct but equally unflattering appraisals of Suillius as prosecutor and defense counsel.“ 494 Insignis hat hier die gleiche Bedeutung wie illustris in ann. 11,4,1 (s. o. Anm. 464); s. Koestermann und Nipperdey ad loc.

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manus ein Opfer des Suillius geworden. Die zu Beginn des Kapitels erfolgte Charakterisierung des berîchtigten Delators als continuus und saevus scheint damit ihre Besttigung zu finden. Skrupellos wîtet Suillius – sei es als Denunziant oder treuloser Advokat – unter den Angehçrigen der rçmischen Oberschicht, wobei er sich anscheinend nur von dem einen Ziel leiten lßt, sich persçnlich zu bereichern. Indem Tacitus ausdrîcklich die hohe Geldsumme nennt, die Suillius offensichtlich nicht zufriedenstellte, lßt er dessen Habgier als das nchstliegende Motiv fîr den Verrat an Samius erscheinen und suggeriert, daß der Verrter durch seinen Treuebruch gegenîber dem hochrangigen Ritter auf eine noch weitaus reichere ‘Entlohnung’ durch die Gegenseite gehofft habe. Wenn an wenig spterer Stelle gleichgesinnte Delatoren unter Einbeziehung des Suillius z. B. behaupten, sie seien vergleichsweise noch bescheidene Senatoren (ann. 11,7,3: se modicos senatores), ist es nicht zuletzt der hier erzeugte Eindruck, der diese Behauptung vçllig absurd erscheinen lßt.495 Der Selbstmord des Samius ist nun der Anlaß fîr die Forderung einer Gruppe von Senatoren um den designierten Konsul C. Silius nach einer Beachtung der lex Cincia, die von altersher die Annahme von Geld oder sonstigen Geschenken fîr die Anwaltsttigkeit verbot, s. ann. 11,5,3: igitur incipiente C. Silio consule designato, cuius de potentia exitio in tempore memorabo, consurgunt patres legemque Cinciam flagitant, qua cavetur antiquitus, ne quis ob causam orandam pecuniam donumve accipiat. Seif hat zutreffend festgestellt, daß die Formulierung consurgunt patres den Eindruck erweckt, „als suche der gesamte Senat die Konfrontation mit Suillius und seinesgleichen.“496 Durch diese Frontstellung zwischen den senatores auf der einen und den advocati auf der anderen Seite wird der Umstand, daß Suillius und andere Anwlte ebenfalls Senatoren waren, vçllig verwischt, und „die Perspektive leicht zugunsten des Senats verrîckt.“497 Der Blick engt sich auf Suillius und seine frechen Nachahmer als die unliebsamen Gegenspieler des Senates unter der Fîhrung des Silius ein. Sie wirken isoliert und scheinen durch den hier zu Grunde gelegten Antagonismus gerade das Gegenteil senatorischer Standesehren zu verkçrpern. Mit der lex Cincia wiederum wird eine Thematik berîhrt, die erneut einen Bezug zur Regierungszeit des Augustus aufweist. Denn das fragliche Gesetz aus dem Jahr 204 v. Chr. war bereits Gegenstand der Reformbemîhungen des ersten Princeps gewesen, der es 17 v. Chr. er495 S. u. S. 188 f. zu ann. 11,7,3. 496 Seif, 1973, 47. 497 Seif, 1973, 47.

180 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina neuern ließ.498 Bei einer gebildeten Leserschaft durfte Tacitus die Kenntnis dieser Tatsache gewiß voraussetzen, so daß ein kleiner Wink genîgen konnte, um die hier gegebene Parallelitt ins Bewußtsein zu rufen. War also der weiter oben erfolgte indirekte Rîckbezug auf die Herrschaft des Augustus etwa auch vorbereitend erfolgt, um den Leser bei der Erwhnung der lex Cincia daran zu erinnern, daß bereits unter dessen Regierung die Treulosigkeit der Anwlte ganz hnlich virulent wurde? Eine solche Auffassung ginge zumindest konform mit dem vorhin umrissenen Gedanken einer Kritik, die nicht nur speziell auf die Person des Claudius, sondern eben auch auf den gesamten Prinzipat zugeschnitten ist.499 Dem Zeitadverb antiquitus, vordergrîndig auf die altehrwîrdige republikanische Tradition des Gesetzes zu beziehen, kme dann zustzlich eine etwas ironische Bedeutung zu.500 Besondere Beachtung verdient an dieser Stelle der Vorverweis des Tacitus auf das weitere Schicksal des C. Silius (C. Silio consule designato, cuius de potentia et exitio in tempore memorabo), der den Leser auf die Rolle des designierten Konsuls als Liebhaber der Messalina in den noch folgenden Kapiteln in einer ganz bestimmten Weise vorbereitet, die uns spter noch beschftigen wird.501 An die Forderung nach der Beachtung der lex Cincia schließt sich der Bericht îber die darîber erfolgte Debatte im Senat an, die in indirekter 498 Nach Cassius Dio 54,18,2; s. Koestermann ad loc. 499 Augustus kme dann ja gerade nicht mehr als Folie in Betracht, vor der Claudius in ironischer Weise abgehoben werden kçnnte. Denn daß er mit seiner Neubelebung des Gesetzes letzten Endes gescheitert war, geht nicht zuletzt aus der hier verhandelten Stelle im elften Annalenbuch hervor. 500 Auch Keitel, 1977, 40 hebt auf den Gebrauch von antiquitus ab, wobei sie jedoch eine recht kîhne Vermutung in Bezug auf die noch folgende Darstellung des Tacitus in ann. 11,7 ußert: „The use of antiquitus is noteworthy. It occurs twice more in the Claudian books, each time associated with a change instituted by Claudius the traditionalist (11,11,4 [11,11,1] and 12,42,3 [12,42,2]). In the present instance, it could be argued that Claudius undermines tradition when he sanctions the payment of advocates (11,7,8 [11,7,4]).“ Die Annahme, dem Leser sei nach zwei inhaltsreichen Kapiteln in ann. 11,7,4 das antiquitus noch so prsent, daß er rîckblickend die Neuregelung des Kaisers als eklatanten Bruch mit der lex Cincia erlebt, erscheint mir etwas zu gewagt. 501 S. u. S. 191 f. Zum recht breit gefcherten Gebrauch des Wortes potentia bei Tacitus s. I. Cogitore: La potentia chez Tacite: accusation indirecte du Principat, BAGB 1991, 158 – 171. Innerhalb des elften Annalenbuches wird es insgesamt fînfmal verwendet, jedoch immer in Bezug auf eine jeweils andere Person, so daß es nach Cogitore (a.a.O. 160) sehr schwierig ist, hier gewisse Rîckschlîsse auf die Aussageabsicht des Tacitus zu ziehen.

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Form von Rede (ann. 11,6) und Gegenrede (ann. 11,7) ußerlich unparteiisch zur Darstellung gebracht worden ist:502 Tatschlich fllt es dem Leser nach der Lektîre der beiden Kapitel nicht ganz leicht, die von Tacitus favorisierte Position zu erkennen. Gleichwohl nutzt der Historiker die Gelegenheit, um abseits der îbergeordneten Thematik, die ohne konkreten Zeitbezug die Frage nach der angemessenen Entlohnung der Beredsamkeit beleuchtet, ganz bestimmte Zeitumstnde auf ironische Weise zu entlarven.503 Vor allem auf diesen Punkt soll die folgende Analyse gerichtet sein, bevor ein kurzer Vergleich mit dem taciteischen Dialogus sich dem Problem zuwenden wird, wie Tacitus selbst geurteilt haben mag. Zunchst hebt Silius – offenbar vom Protest der Gegenseite provoziert – zu einer Rede an, welche die Erneuerung des fraglichen Gesetzes forcieren soll,504 s. ann. 11,6,1: Deinde obstrepentibus iis, quibus ea contumelia parabatur, discors Suillio Silius acriter incubuit, veterum oratorum exempla referens, qui famam et posteros praemia eloquentiae cogitavissent. pulcherrima alioquin et bonarum artium principem sordidis ministeriis foedari; ne fidem quidem integram manere, ubi magnitudo quaestuum spectetur. Die bereits deutlich gewordene Frontstellung der zwei Parteiungen im Senat wird nun auf die Personen des Silius und des Suillius dramatisch zugespitzt. Die beiden Namen prallen in ihrer unmittelbaren Abfolge hart aufeinander, wobei die drastische Vokabel discors ebenso wie das Adverb acriter die entscheidenden Akzente setzt. Zuvor ist durch den erweiterten Ablativus absolutus obstrepentibus iis, quibus … die lautstarke Empçrung der Antragsgegner ußerst lebhaft zum Ausdruck gebracht worden, um sie in dem weiterfîhrenden Relativsatz sofort ironisch zu verzerren. Denn kurz nach der dîsteren Schilderung des Delatorenunwesens erscheint die Forderung nach einer Beachtung der lex Cincia dem Leser mehr als berechtigt. Wenn diese nun als contumelia fîr die Advokaten bezeichnet wird, kann dies auf ihn nur îberaus spçttisch wirken. Dem ‘Lrmen’ der Gegenseite wird damit die moralische Grundlage entzogen, der stîrmisch-aufbrausende Protest als blanke Hysterie entlarvt, die nach dem Gesagten allein auf der Angst zu beruhen 502 Vgl. Koestermann ad ann. 11,6,1; Syme, 1958, 329; 541 (unter Verweis auch auf unsere Stelle): „Various passages in the Annales show a gift for rendering contrary opinions in a spirit of equity“; E. Aubrion: L’eloquentia de Tacite et sa fides d’historien, ANRW II,33,4 (1991), 2597 – 2688, hier 2657. Man fîhlt sich bei dieser Darstellungsform an das ‘Totengericht’ îber Augustus zu Beginn des ersten Annalenbuches erinnert. 503 Vgl. hierzu Mehl, 1974, 47 – 50; Devillers, 1994, 222 f. 504 Zum Gedankengang dieser Rede s. insgesamt Seif, 1973, 49 – 51.

182 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina scheint, durch die beantragte Novellierung des Gesetzes eine stattliche Einnahmequelle zu verlieren. Der hier erzeugte Eindruck wirkt sich nicht zuletzt auch auf die an spterer Stelle vorgebrachten Argumente der advocati unter Suillius aus (s. ann. 11,7), indem er ihnen von vorneherein das Motiv der Habgier unterstellt und sie damit als scheinhaft enttarnt. Dem fragwîrdigen Verhalten der obstrepentes werden nun die Beispiele alter Redner gegenîbergestellt, die den Lohn der Redekunst lediglich im Ruhm bei der Nachwelt gesehen htten. In deutlichen Worten fîhrt Silius dann die Folgen einer îberzogenen materiellen Entlohnung der Anwlte aus: Die Beredsamkeit als vorrangige und schçnste aller Kînste werde durch schmutzige Dienste (sordidis ministeriis) besudelt (foedari), nicht einmal die fides bleibe unangetastet, schaue man erst auf die Hçhe des Erwerbs.505 Durch die zu Beginn des Kapitels erfolgte Zuspitzung der Debatte auf die beiden Kontrahenten Silius und Suillius ist der Leser nun geneigt, diese drastischen Worte insbesondere auf die Ttigkeit des berîchtigten Delators zu beziehen. ˜berhaupt scheint der Inhalt dieser Textpassage genau auf die Person des Suillius zugeschnitten zu sein, hat dieser doch wenige Zeilen zuvor durch seinen Verrat an Samius ein Musterbeispiel des hier angeprangerten Fehlverhaltens gegeben. Schndlicher Mißbrauch der Redekunst, Treulosigkeit und Habgier – genau diese Eigenschaften waren mehr oder weniger offen dem Bericht îber den tragischen Selbstmord des Ritters in ann. 11,5,2 mit konkretem Bezug auf Suillius zu entnehmen gewesen.506 Anschließend kommt Silius auf den Nutzen einer erneuerten lex Cincia zu sprechen, bevor er seine Ausfîhrungen mit dem Hinweis auf C. Asinius und M. Messala sowie Arruntius und Aeserninus als Vorbilder fîr integre Rednerpersçnlichkeiten beendet, s. ann. 11,6,2: quodsi in nullius mercedem negotiantur, pauciora fore: nunc inimicitias accusationes, odia et iniurias foveri, ut quo modo vis morborum pretia medentibus, sic fori tabes pecuniam advocatis ferat. meminissent C. Asinii, Messalae ac recentiorum Arruntii et Aesernini: ad summa provectos incorrupta vita et facundia. Fiele der Lohn fîr die Beschftigungen, also fîr die Prozesse, weg, so Silius, wîrden diese auch weniger werden. Es mag ein Zufall sein, daß das 505 Hierzu Seif, 1973, 50: „Das Gewinnstreben der Advokaten rîttelt nach seinen [= des Silius] Worten an einer Grundfeste des rçmischen Staates, der fides, und droht sie auszuhçhlen“; vgl. ann. 11,5,2, wo die advocatorum perfidia als Hauptîbel erscheint. 506 Vgl. Koestermann ad ann. 11,6,1: „In ne fidem quidem etc. steckt der Begriff der praevaricatio (cap. 5,2).“

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Prozeßwesen an dieser Stelle etwas verallgemeinernd mit dem Begriff negotium umschrieben wird, der insbesondere in Kombination mit der Vokabel mercedes gerade auch an eine Art kommerzieller Geschftsttigkeit denken lßt – in den Gedankengang unserer Passage paßt eine solche Begrifflichkeit, die den Gelderwerb in den Vordergrund des Anwaltberufes rîckt, allemal.507 Offen spricht der designierte Konsul von den Feindschaften, Anklagen, Haßgefîhlen und Ungerechtigkeiten, die unter den gegenwrtigen Zustnden nur geschîrt wîrden. Auch diese Aussage lßt sich nicht zuletzt durch Schlagwçrter wie iniuriae oder accusationes auf das vorangegangene Prozeßgeschehen beziehen, sei es auf das unrechtmßige Verfahren gegen Valerius Asiaticus, die willkîrliche Anklage gegen die Petra-Brîder oder auf den Verrat an Samius. Rîckwirkend und gleichsam zusammenfassend wird im Unterbewußtsein des Lesers das Geschehene noch einmal ins ‘rechte’ Licht gerîckt und darauf verwiesen, daß es bei keinem dieser Verfahren um ein tatschliches Vergehen der jeweils Angeklagten ging, sondern um rein persçnliche Motive (vgl. inimicitiae; odia) der Anklger. In einem Vergleich mit der Ttigkeit der ørzte, welche ihren Lohn aus der Schwere der Krankheiten bezçgen, wird das korrupte Gerichtswesen nun in aller Deutlichkeit als Seuche bezeichnet, die den Anwlten Geld einbringt.508 Die beiden zentralen Begriffe tabes und pecunia stehen dabei in wirkungsvoller Juxtaposition, welche Ursache und Wirkung des ˜bels auf einen Schlag vor Augen 507 Diese Feststellung bleibt vom textkritischen Problem (s. hierzu Koestermann ad loc.) unberîhrt. Auch im Falle einer Verbalform (andere codices bieten negotiantur) bliebe dieser Eindruck bestehen; vgl. G&G 927, wo negotium an der hier verhandelten Stelle im Sinne von ‘Rechtssache’ / ‘Prozeß’ verstanden wird (unter Verweis auf einige Parallelen aus dem Gesamtwerk des Tacitus). Ob der Historiker mit dieser Wortwahl nun tatschlich den Gedanken an ein ‘Geldgeschft’ anklingen lassen wollte, kann vor diesem Hintergrund nicht befriedigend beantwortet werden. Zum Vergleich mag ann. 4,62,1 herangezogen werden, wo im Zusammenhang mit dem tragischen Einsturz des Amphitheaters in Fidenae (27 n. Chr.) dessen nachlssige Bauweise unter einem gewissen Atilius angeprangert wird: … neque fundamenta per solidum subdidit (sc. Atilius) neque firmis nexibus ligneam compagem superstruxit, ut qui non abundantia pecuniae nec municipali ambitione, sed in sordida mercede id negotium quaesivisset. Wenige Zeilen spter (ann. 11,7,1) taucht der Begriff erneut auf, wobei das Lexicon Taciteum (G&G) a.a.O. diesen Gebrauch dann unter dem Rubrum „i. q. res“ auffîhrt. 508 Vgl. Koestermann ad loc. (mit Verweis auf Walker, 1952, 215): „fori tabes = ‘Prozeßpest’. Das Bild von der Seuche […] von Tacitus (wie schon von Sallust) verwendet, um die pathologische Ansteckungskraft ungesunder Verhltnisse darzutun“; Seif, 1973, 51.

184 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina fîhrt. Bevor Tacitus nun die Gegenseite zu Wort kommen lßt, schildert er kurz die Situation im Senat, hervorgerufen durch die øußerungen des Silius, s. ann. 11,6,3: talia dicente consule designato, consentientibus aliis, parabatur sententia, qua lege repetundarum tenerentur, cum Suillius et Cossutianus et ceteri, qui non iudicium, quippe in manifestos, sed poenam statui videbant, circumsistunt Caesarem, ante acta deprecantes. Als Silius unter Zustimmung anderer Senatoren auf diese Weise gesprochen habe, sei bereits ein Antrag vorbereitet worden, wonach in derartigen Fllen das Entschdigungsgesetz greifen solle. Der Plural tenerentur ist entweder allgemein zu verstehen oder bereits auf den im folgenden genannten Personenkreis um Suillius zu beziehen,509 auf den mit Hilfe eines inversiven cum nun ruckartig die Aufmerksamkeit gelenkt wird.510 Die Lage fîr die Delatoren scheint sich plçtzlich vçllig verndert zu haben: Aus den skrupellosen Anklgern sind bangende Angeklagte geworden, denen nun ihrerseits Strafe droht, und den Kaiser daher flehentlich umringen und um Schonung fîr ihre frîheren Vergehen bitten. Ihr stîrmischhektisches Verhalten (circumsistunt511 … deprecantes) ist fîr den Leser in doppelter Hinsicht aufschlußreich. Zum einen besttigen sie damit ihre tatschliche Schuld, die Tacitus zuvor unter Berufung auf die communis opinio durch das Kolon quippe in manifestos als unbestreitbares Faktum hingestellt hat. Zum anderen vermag man zwischen den Zeilen wiederum die Geldgier der advocati zu vernehmen, die aufgrund ihres schndlichen Fehlverhaltens in frîheren Prozessen nun befîrchten, nach dem Repetundengesetz hohe Entschdigungssummen zahlen zu mîssen. Nach dem dramatischen Umschwung des Geschehens berichtet Tacitus ußerst knapp von der Reaktion des Claudius – dessen Name bezeichnenderweise unerwhnt bleibt –, um dann sofort die Stimme der Advokaten aufleben zu lassen, s. ann. 11,7,1: Et postquam adnuit, agere incipiunt: … Die Zustimmung des Kaisers zu ihrem Antrag auf rîckwirkende Straflosigkeit stellt fîr Suillius und seinen Gesinnungsgenossen offenbar kein Problem dar, wird sie in dem Nebensatz doch wie beilufig und selbstverstndlich erwhnt. Das sowohl einleitende als auch an509 Vgl. Koestermann ad loc. Letzteres bereitet dem Leser schon allein deswegen keine Schwierigkeiten, weil Suillius und seine Anhnger in der Rede des Silius ohnehin als Bezugspunkte allenthalben hervorgeschimmert sind. 510 S. Wille, 1983, 479. 511 Vgl. Koestermann ad loc.: „circumsistunt Caesarem: Sie drngen sich dicht um den Kaiser, Bild von dramatischer Anschaulichkeit […].“ Man beachte auch den abrupten Tempuswechsel ins historische Prsens, wodurch die Szene an Lebhaftigkeit gewinnt.

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knîpfende et postquam erklrt das Einverstndnis des Kaisers zu einer regelrechten Formsache, welche die Dynamik der Handlungsablufe (man beachte die enge Abfolge der Verbalformen adnuit, agere incipiunt) îberhaupt nicht weiter beeinflußt. Prgnanter htte das leicht berechenbare Wesen des Claudius an dieser Stelle wohl kaum zum Ausdruck gebracht werden kçnnen.512 Es folgt in indirekter Rede die Stellungnahme der von Silius angegriffenen Advokaten, s. ann. 11,7,1: … quem illum tanta superbia esse, ut aeternitatem famae spe praesumat? usui et rebus subsidium praeparari, ne quis inopia advocatorum potentibus obnoxius sit. neque tamen eloquentiam gratuito contingere: omitti curas familiares, ut quis se alienis negotiis intendat. multos militia, quosdam exercendo agros tolerare vitam: nihil a quoquam expeti, nisi cuius fructus ante providerit. Die hier vorgebrachten Argumente gegen eine Erneuerung der lex Cincia sind rein ußerlich betrachtet durchaus berechtigte Einwnde, die im Kern darauf abheben, daß die Advokaten, wie jeder andere Berufsstand auch, ihren Lebensunterhalt bestreiten mîßten, um ihrer wichtigen Verantwortung gegenîber ihren Klienten angemessen nachkommen zu kçnnen. Besonders der Hinweis auf ihre schîtzende Funktion gegenîber den ‘Mchtigen’ (ne quis … potentibus obnoxius sit) verleiht der Argumentation objektiv gesehen durchaus einiges Gewicht. Doch da der Leser bei den zuvor geußerten Klagen die Person des Suillius als unausgesprochenes Ziel deutlich vor Augen hatte, diese zudem mit anderen berîchtigten Delatoren (Cossutianus) Handlungstrger der dramatischen Szene am Ende des vorangegangenen Kapitels war,513 nimmt er die hierauf erfolgte Antwort der Gegenseite eben nicht mehr objektiv wahr, sondern ist vielmehr versucht, diese wiederum auf die Person des professionellen Anklgers zu beziehen, mit dem Ergebnis, daß aus den hier wiedergegebenen Worten nur noch beißende Ironie spricht. Wenn sich die advocati hier zu Anwlten der Schutzlosen aufschwingen, so fllt dieser 512 Seif, 1973, 52 setzt an dieser Stelle einen etwas anderen Akzent, indem er von einer „gndigen Geste des Claudius“ spricht und vor allem dessen Mitschuld am weiteren Agieren der advocati ausgedrîckt sieht: „Der Kaiser selbst bannt die Gefahr fîr Personen, die nach geltendem Recht eine Bestrafung verdient hatten, d. h. er deckt kriminelle Handlungen und ermuntert die Tter zu weiterem Agieren“; vgl. Mehl, 1974, 44: „Der Kaiser schafft mit seinem adnuit nur die Voraussetzung fîr die folgende Agitation der advocati.“ 513 Vgl. ann. 11,6,3: … cum Suillius et Cossutianus et ceteri … circumsistunt Caesarem … deprecantes. Man ist fast gezwungen, diese Personengruppe nun auch als Subjekt des direkt im Anschluß folgenden Satzes agere incipiunt aufzufassen. Lediglich die Kapitelgrenze bewirkt hier eine gewisse Distanz.

186 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina Anspruch gerade auf Mnner wie Suillius negativ zurîck, die doch maßgeblich dazu beigetragen haben, daß unschuldige Menschen den Interessen solcher potentes – man denke hier vor allem an Messalina – zum Opfer fielen. Der Sinngehalt der in diesem Zusammenhang geußerten Wendung usui et rebus subsidium praeparari bleibt etwas im Dunkeln und ist daher in der einschlgigen Literatur unterschiedlich interpretiert worden. Ein gutes Verstndnis ergibt sich, wenn man sie als direkte Antwort auf die zuvor von Silius vertretene Position begreift: Hatte dieser den Ruhm der Nachwelt als Lohn der Beredsamkeit in den Vordergrund gerîckt (famam et posteros) und damit eine an Ethik und Moral orientierte Haltung vertreten, fîhrt die Gegenseite nun eine pragmatisch ausgerichtete Ansicht vom Zweck der Beredsamkeit ins Feld:514 Die Hoffnung auf eine aeternitas famae sei Ausdruck von Arroganz (superbia). „Fîr ein Bedîrfnis [usui] und fîr Prozesse [rebus] werde Hilfe bereitgestellt, damit niemand aus Mangel an Sachwaltern von den Mchtigen abhngig sei.“515 Dieser stichhaltige Einwand ist fîr sich betrachtet nicht von der Hand zu weisen. Doch wiederum bezogen auf solch schamlose Denunzianten wie Suillius, muß die darin zum Ausdruck kommende Sorge der Anwlte um das Wohlergehen ihrer ‘hilflos ausgelieferten Schîtzlinge’ vçllig absurd erscheinen.516 Ebenso verhlt es sich mit der anschließenden øußerung, die auf den minimalen Lebensunterhalt der Advokaten abzielt und dazu noch deren uneigennîtziges Verhalten betonen soll: curas familiares omitti, ut quis se alienis negotiis intendat, wobei erneut der (verrterische?) Begriff des negotium auftaucht (s. o. Anm. 507). In einem Hinweis auf die Erwerbsmçglichkeiten anderer Senatoren517 wird ihr schndliches Treiben sogar auf eine Stufe gestellt mit den fîr einen Rçmer so ehrenvollen Beschftigungen des 514 S. Seif, 1973, 52 – 54. 515 So Seif, 1973, 54; vgl. Furneaux ad loc.; Seif beruft sich (a.a.O. 52 f. mit Anm. 16) auf eine von J. Mîller, Beitrge zur Kritik und Erklrung des Tacitus, 4. Heft, Innsbruck 1875, 1 f. vorgeschlagene Interpretation. Zu res = ‘Prozeß’ s. G&G 1392; einen etwas anderen inhaltlichen Akzent setzt dagegen eine von G&G 1166 (sowie von Koestermann und Nipperdey ad loc.) vertretene materielle Deutung des Satzes („man verschaffe sich fîr die ‘nçtigen Bedîrfnisse des Lebens’ im voraus eine ‘finanzielle Rîcklage’, damit niemand aus ‘Armut der Advokaten’ den Mchtigen ausgeliefert sei“ [Hervorhebungen von mir]). Diese scheint wiederum besser zur Aussage in ann. 11,6,2 zu passen: quodsi in nullius mercedem negotia agantur […]. Eine Entscheidung zwischen den beiden Interpretationen fllt schwer. 516 Vgl. Seif, 1973, 55. 517 Vgl. Koestermann ad loc.

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Kriegsdienstes (militia) und des Ackerbaus und innerhalb dieser Gegenîberstellung erneut der Eindruck erweckt, als ginge es auch bei der Anwaltsttigkeit nur darum, das lebensnotwendige Mindestmaß an Einkommen zu sichern (tolerare vitam). Auch die Bemerkung, daß niemand etwas erstrebe, wenn er nicht zuvor dessen gewinnbringenden Nutzen (fructus) erkannt habe – ein Argument, daß ohnehin „dem nîchternen rçmischen Erwerbsinn angemessen“ ist und „sehr im Widerspruch zu der idealisierenden Beweisfîhrung des Silius (cap. 6,1)“ (Koestermann ad loc.) steht –, lßt sich in malam partem deuten, wenn man sich das im Falle des Suillius offensichtliche Motiv der persçnlichen Bereicherung vor Augen hlt: Ist der zu erwartende Lohn nur hoch genug, so ist der gerissene Delator zu jeder Schandtat bereit. Es wird immer mehr deutlich, wie wichtig das in ann. 11,5,2 genannte Beispiel des von Suillius betrogenen Ritters fîr die ‘richtige’ Interpretation der nachfolgenden zwei Kapitel ist. Die Ausfîhrungen der Gegenseite gehen dann konkret auf die von Silius vorgebrachten Argumente ein, wobei sie vor allem darauf aus sind, die vom designierten Konsul genannten Redner in ihrer vermeintlichen Vorbildfunktion zu diskreditieren, s. ann. 11,7,2 – 3: facile Asinium et Messalam, inter Antonium et Augustum bellorum praemiis refertos, aut ditium familiarum heredes Aeserninos et Arruntios magnum animum induisse. prompta sibi exempla, quantis mercedibus P. Clodius aut C. Curio contionari soliti sint. se modicos senatores quieta re publica nulla nisi pacis emolumenta petere. cogitaret plebem, qua toga enitesceret: sublatis studiorum pretiis etiam studia peritura. Die Argumentation der advocati bleibt ußerlich betrachtet weiterhin schlîssig und kehrt die genannten Beispiele um: Asinius und Messala sowie Aeserninus und Arruntius htten leicht in das Gewand der Großzîgigkeit schlîpfen kçnnen, nachdem sie sich in der Bîrgerkriegszeit bereichert bzw. als Erben reicher Familien ein stattliches Vermçgen gehabt htten. Die von Silius ins Spiel gebrachten Redner scheinen damit tatschlich ihre Vorbildfunktion einzubîßen. Offenbar war ihr Lebenswandel doch nicht so moralisch vollkommen gewesen, wie zuvor behauptet.518 Doch rîckt auch hier ein Bezug zu Suillius und seinen frechen aemuli diese Aussagen in einen anderen Blickwinkel. Kçnnten sie sich die Tugend der Großherzigkeit denn nicht mit derselben Leichtigkeit leisten? Und ist in diesem Zusammenhang ihre Art des Wohlstandserwerbs im Vergleich zu den hier genannten exempla nicht als die schndlichste von allen anzusehen? Immerhin wird im Falle des 518 Vgl. Mehl, 1974, 46.

188 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina Asinius und des Messala deren Bereicherung durch den historischen Bezug zur Bîrgerkriegszeit zwar nicht entschuldigt, aber immerhin im Lichte eines Ausnahmezustandes prsentiert, whrend der durch Erbschaft erworbene Reichtum eines Aeserninus oder Arruntius gar nicht auf moralisches Fehlverhalten zurîckgefîhrt werden kann. Vçllig anders verhlt es sich hingegen mit der schamlosen Ruberei der dreisten advocati. Ohne den Zwang ußerer Verhltnisse (vgl. weiter unten quieta re publica!) bringen sie sich aktiv und in moralisch hçchst anfechtbarer Weise in den Besitz eines immensen Vermçgens. Whrend bei den genannten Rednern der Vermçgenserwerb zudem gerade nicht im Zusammenhang mit ihrer Anwaltsttigkeit stand, mißbrauchen allein sie ihre Redekunst, um sich vor Gericht persçnlich zu bereichern, und erfîllen damit genau den von Silius zuvor beklagten Tatbestand (s. ann. 11,6,1: pulcherrimam alioquin et bonarum artium principem sordidis ministeriis foedari). Durch ihre eigenen øußerungen offenbaren sie dem ‘wissenden’ Leser somit lediglich ein weiteres Mal ihr zentrales Laster der Habgier. Diese Art der ironischen Selbstentlarvung erreicht schließlich ihren Hçhepunkt, wenn die Sprecher nun zu ihrer eigenen Rechtfertigung ausgerechnet auf die Beispiele des P. Clodius und des C. Curio zurîckgreifen, deren Kuflichkeit geradezu legendre Zîge trug.519 Entsprechend heuchlerisch muten ihre weiteren Ausfîhrungen an. Die Be519 Vgl. Mehl, 1974, 48: „Entlarvende Funktion haben die beiden exempla P. Clodius und C. Curio, deren allzu bekannte Bestechlichkeit man nicht zum Vergleich mit dem biederen Gelderwerb ‘bescheidener Senatoren’ heranziehen durfte.“ øhnlich Koestermann ad loc., der sich zu Recht mit dem Gedanken trgt, daß Tacitus diese beiden Beispiele „aus Eigenem hinzugefîgt hat, um die Sprecher ironisch zu entlarven.“ Wenn Seif, 1973, 55 f. dagegen meint, ein solches Verstndnis gehe „am Sinn dieses Exempels vorbei“, da die advocati mit dem Hinweis auf Clodius und Curio sich ja nicht auf deren Korruption beriefen, sondern vielmehr die Absicht verfolgten, „sich desto eindrucksvoller von ihnen abheben zu kçnnen und [im folgenden] „zu Recht als ‘modici senatores’ zu erscheinen“, so hat er in Verkennung der hier gegebenen doppelbçdigen Darstellung lediglich die vordergrîndige Ebene der Argumentation erfaßt, die ohne jeglichen Bezug auf Personen wie Suillius natîrlich auf die relative Bescheidenheit der einfachen Anwlte hinweisen soll. Gerade in dieser rein ußerlich vorhandenen ‘Stichhaltigkeit’ der vorgetragenen Argumente liegt ja die feine Ironie der taciteischen Darstellung begrîndet. Gleiches gilt fîr Aubrions Argumentation, die ebenfalls gegen Koestermann gerichtet ist (2657): „Mais ceux-ci [Clodius et Curion] donnent une leÅon de r¤alisme au grand seigneur, qui pr¤tend qu’un avocat doit travailler uniquement pour la gloire et ils fournissent ” Claude des raisons ¤cononomiques et sociales de fixer les honoraires des avocats“; vgl. Devillers, 1994, 223 mit Anm. 105.

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hauptung, sie seien bescheidene Senatoren (se modicos senatores), erscheint angesichts des immensen Reichtums eines Suillius geradezu lcherlich,520 ihr vorgegebenes Streben allein nach den ‘Vorteilen des Friedens’ wie bitterer Hohn, wenn man die Wendung emolumenta pacis auf das schwere Unrecht bezieht, das die Skrupellosigkeit solch habgieriger advocati zu verantworten hat. Vor diesem Hintergrund wirken auch die Worte quieta re publica wie eine Pervertierung der Prinzipatsideologie mit ihrem Anspruch auf inneren Frieden und Stabilitt.521 Ihr Eintreten fîr die Belange des einfachen Volkes, das es nur durch forensische Bettigung (toga) zu etwas bringen kçnne, ist nicht mehr als falscher Schein.522 Die abschließenden Worte sublatis studiorum pretiis etiam studia peritura erinnern stark an das Argument des Silius in ann. 11,6,2: quodsi in nullius mercedem negotiantur, pauciora fore – mit dem Effekt, daß die von den advocati als ehrenvoll herausgestellten studia mit den schndlichen negotia gewissermaßen gleichgesetzt und hierdurch negativ beleuchtet werden. Wie sich gezeigt hat, ist die bei unabhngiger Betrachtung in sich geschlossene und argumentativ sicherlich gleichwertige Gegenposition der advocati durch ihre Einbettung in den erzhlerischen Kontext zu einer ironischen Demaskierung ihrer selbst geraten. Es muß dabei betont werden, daß Tacitus die Argumentation der advocati fîr sich betrachtet nicht ablehnt oder gar verurteilt. Es geht ihm vielmehr darum, die Schamlosigkeit solcher Anwlte wie Suillius herauszukehren.523 Daß er 520 Vgl. Koestermann ad loc.; Mehl, 1974, 46 mit Anm. 232. 521 S. Seif, 1973, 56; vgl. Mehl, 1974, 47. 522 Der Hinweis auf die Verpflichtungen des Kaisers gegenîber der plebs erweist sich als geschickter Schachzug der advocati, der Claudius auf ihre Seite zieht. Vgl. Seif, 1973, 56: „Damit berîhren die Anwlte einen neuralgischen Punkt: Gerade der plebs galt notgedrungen das Interesse der Kaiser.“ Bereits die Schlagworte quies und pax hatten den Princeps an seine Aufgaben erinnert, vgl. Mehl, 1974, 47. 523 Vgl. Mehl, 1974, 50; Devillers, 1994, 223. In dieser prinzipiellen Anerkennung ihrer øußerungen mag auch der Grund dafîr zu finden sein, daß Tacitus die Person des Suillius lediglich zwischen den Zeilen hat hervorschimmern lassen und eben nicht in direkter Form zum Sprecher aller advocati erhoben hat, obwohl der Inhalt der hier wiedergegebenen Worte mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Rede des Suillius entnommen worden ist, die Tacitus in den acta senatus finden konnte; vgl. hierzu Mehl, 1974, 44 Anm. 218; 46 Anm. 232, der allerdings vermutet, daß der Historiker mit dieser Form der Darstellung die Person des Silius in den Vordergrund rîcken wollte: „Tacitus hat den Verlauf der Senatssitzung so dargestellt, daß Silius als einzelner gegen mehrere steht“ (a.a.O. 44).

190 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina auf allgemeiner Ebene die pragmatischen Ansichten îber den Lohn der Beredsamkeit durchaus anerkennt, zeigen nicht zuletzt auch die Worte des Claudius, mit denen die gesamte Thematik der Senatsverhandlungen abgeschlossen wird, s. ann. 11,7,4: ut minus decora haec, ita haud frustra dicta princeps ratus, capiendis pecuniis modum usque ad dena sestertia , quem egressi repetundarum tenerentur. Wie in einer Zusammenfassung des gewonnenen Eindrucks kommen beide Standpunkte der Diskussion noch einmal zur Geltung: Hatte Silius zweifellos die ehrenvollere Position vertreten (minus decora ist hier als echter Komparativ zu verstehen), konnten die nîchternen Argumente der advocati nicht gnzlich von der Hand gewiesen werden. Das herbeigefîhrte Ergebnis ist schließlich ein ausgewogener Kompromiß, der den gegebenen Verhltnissen Rechnung trgt und dem ˜bel der forensischen Bereicherung begegnet. In diesen Zusammenhang fîgt es sich gut, daß Claudius hier mit der offiziellen Bezeichnung princeps angefîhrt wird. Doch welcher Seite gibt nun Tacitus den Vorzug? Ein vergleichender Blick auf den taciteischen Dialogus mag der Klrung dieser Frage nherkommen. Da auch dort – wenn auch unter einem etwas anderem Gesichtspunkt – die Gegenîberstellung der „alten“ und der „neuen“ Redner eine zentrale Rolle spielt, finden sich zwischen den beiden Texten gewisse Entsprechungen: Sowohl das von Silius in ann. 11,6 verteidigte Ideal, daß der Lohn der Beredsamkeit im Ruhm bei der Nachwelt liege, als auch der Gedanke, daß die Redner fîr ihre Ttigkeit verdientermaßen Geld erwerben wîrden, finden sich bereits in dem frîheren Werk des Historikers formuliert.524 Am aufflligsten aber ist, daß das ausgeglichene Bild, das im Bericht der Annalen durch die Entscheidung des Kaisers abschließend vermittelt wird, in gewisser Weise dem ‘offenen Ende’ des taciteischen Dialogus gleicht: Nachdem Maternus einerseits die Bedeutung der sptrepublikanischen politischen Wirren fîr die Entfaltung der Redekunst betont und in diesem Zusammenhang sinngemß die These aufgestellt hat, daß in einem ideal geordneten Staat die Redekunst îberflîssig sei und daher notwendigerweise verkîmmern mîsse,525 meldet er andererseits starke Zweifel an, ob die hçher zu bewertende elo524 Zu famam et posteros als die praemia eloquentiae (ann. 11,6,1) vgl. insbesondere dial. 7,3 f. (dort das Stichwort fama); speziell zu praemia: 36,4; 36,8 – 37,1; zu der Gegenposition usui et rebus subsidium praeparari (ann. 11,7,1) vgl. vor allem dial. 5,4 – 6; 8,4 zusammen mit 10,7 f.; 13,6.; s. auch Seif, 1973, 54 mit Anm. 21 und 22. 525 S. dial. 36 – 41.

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quentia der Bîrgerkriegszeit denn all die Opfer wert gewesen sei.526 Zum Abschluß seiner Ausfîhrungen hlt Maternus abwgend fest: credite, optimi et in quantum opus est disertissimi viri, si aut vos prioribus saeculis aut illi, quos admiramur, his nati essent, ac deus aliquis vitas ac [vestra] tempora repente mutasset, ne vobis summa illa laus et gloria in eloquentia neque illis modus et temperamentum defuisset: nunc, quoniam nemo eodem tempore adsequi potest magnam famam et magnam quietem, bono saeculi sui quisque citra obtrectationem alterius utatur (dial. 41,5). Mçglicherweise wollte Tacitus bei seinem Bericht îber das Rededuell in den Annalen an diese Gedanken anknîpfen. Vor allem der ausdrîckliche Hinweis der advocati auf die quieta res publica und die pacis emolumenta (ann. 11,7,3) deutet in diese Richtung.527 Der Leser soll ein differenziertes und ausgewogenes Bild der Problematik gewinnen und sich ein eigenes Urteil bilden. Tacitus lßt es an dieser Stelle offen, welche Seite die bessere Position vertritt.528 Trotzdem hat er auf einer zweiten Ebene die dreisten Anwlte speziell unter Claudius ironisch demaskiert. Abschließend zu der Kapitelreihe ann. 11,5 – 7 sei noch auf die Interpretation Keitels eingegangen, welche die feine Ironie dieser Passage nicht so sehr vor dem Hintergrund des vorangegangenen Geschehens betrachtet, als vielmehr bezogen auf die noch folgenden Ereignisse im Bericht des Tacitus: „Yet behind the facade of reasonableness, the chapters pave the way for several later ironies.“529 So werde die ethische und am Ideal îberkommener Werte orientierte Haltung des Silius an spterer Stelle entlarvt, wenn er sich von Messalina gewissermaßen kaufen ließe und seine in ann. 11,6,3 geußerten Worte ad summa provectos incorrupta vita et facundia nicht zu seinem Lebenswandel paßten, der darauf ausgerichtet sei, mit schndlichen Mitteln (Ehebruch mit der Gattin des Kaisers) die Kaiserwîrde zu erlangen.530 Da Tacitus in ann. 11,5,3 ausdrîcklich auf das sptere Schicksal des Silius hingewiesen wissen wollte (cuius de potentia exitio in tempore memorabo), darf diese These auf 526 Vgl. dial. 40,4: sed nec tanti rei publicae Gracchorum eloquentia fuit, ut pateretur et leges, nec bene famam eloquentiae Cicero tali exitu pensavit. 527 Vgl. dial. 36,2: composita et quieta et beata re publica; 37,6 f.: turbidis et inquietis temporibus; frui pace; pax; 38,2: … postquam longa temporum quies … pacaverat; 40,2 (îber die Beredsamkeit): non de otiosa et quieta re loquimur; 40,4: pax. 528 Vgl. Mehl, 1974, 49 f. 529 Keitel, 1977, 40. 530 S. Keitel, 1977, 40 f. unter Verweis auf ann. 11,12,4 [=11,12,3] 11,30,3 [=11,30,2] bzw. 11,26,5 [=11,26,3: … ne Silius summa adeptus sperneret adulteram …].

192 1. Ann. 11,1 – 7: Der Prozeß gegen Valerius Asiaticus und Poppaea Sabina den ersten Blick sicherlich eine gewisse Berechtigung fîr sich in Anspruch nehmen.531 Wie Seif jedoch richtig dargelegt hat, spricht die sptere Darstellung des Historikers, wonach Silius gerade im Wissen um das flagitium nur widerwillig dem Treiben der Messalina Folge leistete, gegen eine Deutung im Sinne Keitels.532 Zutreffender scheint mir daher ein anderes Verstndnis des Vorverweises, welches die Antizipation als vorbereitenden Hinweis auf eine ganz besondere Tragik zukînftiger Ereignisse begreift: „Nimmt man […] an, daß er [Silius] in der Senatsrede sein wahres Gesicht zeigte, so wirkt es als tragische Ironie, daß Messalina ausgerechnet diesen Mann fîr eine Affre ausersieht, die jeglichen îberkommenen Normen spottet.“533 Demnach soll Silius an spterer Stelle nicht moralisch ins Zwielicht gerîckt werden, sondern vielmehr als Opfer der Messalina erscheinen. Auf diesen Gedanken werden wir bei spterer Gelegenheit zurîckkommen mîssen.534 Einen weiteren Bezugspunkt fîr eine retrospektive Ironie sieht Keitel dagegen vçllig zu Recht in den Kapiteln 42 und 43 des dreizehnten Annalenbuches, wo dem berîchtigten Delator Suillius endlich der Prozeß gemacht und direkt zu Beginn der Darstellung nachdrîcklich an dessen unheilvolles Wirken unter der Regierung des Claudius sowie an die Debatte îber die Erneuerung der lex Cincia erinnert wird.535 Der Ver531 Vgl. insbesondere Seif, 1973, 57, der diese Mçglichkeit der Interpretation ebenfalls kurz in Erwgung zieht; Mehl, 1974, 44 mit Anm. 213; Wille, 1983, 478. 532 S. Seif, 1973, 57; ann. 11,12,2: neque Silius flagitii aut periculi nescius erat; sed certo, si abnueret, exitio et nonnula fallendi spe, simul magnis praemiis o

periri futura et praesentibus frui pro solacio habebat. Eine solche Aussage htte Tacitus wohl nicht îber Silius getroffen, wenn er ihn moralisch htte bloßstellen wollen. Auch die von Keitel ins Feld gefîhrte Kuflichkeit des designierten Konsuls erweist sich bei genauerer Betrachtung als nicht recht stichhaltige Unterstellung, kçnnen die magna praemia oder die Geschenke der Kaiserin (ann. 11,12,3: illa … largiri opes honoresque) doch nicht als Hauptmotiv des Silius fîr sein flagitium in Anspruch genommen werden. Wie Tacitus unmittelbar zuvor deutlich gemacht hat, war es vor allem die Angst vor Messalinas Rache, die Silius in das Spiel der Kaiserin einwilligen ließ. Alles andere erschien ihm lediglich als Trost in einer ußerst gefhrlichen Lage. Die andere von Keitel angefîhrte Annalenstelle (ann. 11,30,2: domum servitia et ceteros fortunae paratus) liefert keinen echten Beleg fîr die Habgier des Silius! 533 Seif, 1973, 57. 534 S. u. S. 206 zu ann. 11,12,2. 535 S. Keitel, 1977, 41 f. (passim); vgl. Mehl, 1974, 42; 43; s. ann. 13,42,1: is fuit Publius Suillius, imperitante Claudio terribilis ac venalis […]. eius opprimendi gratia repetitum credebatur senatus consultum poenaque Cinciae legis adversum eos,

1.2 Ann. 11,5 – 7: Politische Folgen des Prozesses

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gleich mit der frîheren Annalenstelle lßt den Leser vor allem die Verteidigung des Suillius ironisch betrachten, s. insbesondere ann. 13,42,4 (Suillius sagt îber sich selbst): at sibi labore quaesitam et modicam pecuniam esse. Mit einer These ist Keitel jedoch wiederum zu weit gegangen: Ihrer Meinung nach soll ann. 11,7,1 (ne quis inopia advocatorum potentibus obnoxius sit) den Leser auf eine sptere Verwendung von obnoxius in Bezug auf Claudius (ann. 12,1,1 – mehr als 30 Kapitel spter!: Claudio caelibis vitae intoleranti et coniugum imperiis obnoxio) vorbereiten und dann folgendes deutlich werden lassen: „The emperor who has drawn all offices and laws to himself cannot render justice effectively since he is subservient to his own household.“536 Eine solche Behauptung lediglich an einer einzigen und relativ hufig verwendeten Vokabel festzumachen,537 ist ußerst gewagt und wird einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Frage nach den Absichten des Tacitus wohl kaum gerecht.

qui pretio causas oravissent; vgl. 13,43,2: … iam equitum Romanorum agmina damnata omnemque Claudii saevitiam Suillio obiectabant (wobei der Leser unwillkîrlich an den Verrat am Ritter Samius denkt). Man beachte bei ersterer Stelle, daß unter Berufung auf die çffentliche Meinung (credebatur) der in ann. 11,5 erzeugte Eindruck besttigt wird, wonach die Erneuerung der lex Cincia nicht zuletzt aufgrund der Umtriebe des Suillius beantragt wurde (zum ebenfalls erwhnten Senatsbeschluß, bei dem es sich wohl um eine Verschrfung der von Claudius in ann. 11,7,4 getroffenen Maßnahme handelte, s. ann. 13,5,1). 536 Keitel, 1977, 41. 537 Obnoxius mit Dativ ist im erhaltenen Teil der Annalen an zehn weiteren Stellen belegt; vgl. ann. 2,75,1; 3,14,1; 3,34,3; 3,58,3; 11,36,1 (nur wenige Kapitel vor 12,1,1!); 13,45,3; 14,1,1;14,40,1; 14,55,4; 16,61.

2. Ann. 11,8 – 10: Außenpolitischer Exkurs îber Ereignisse im Osten des Reiches Nach Abschluß der in ann. 11,1 – 7 dargestellten Thematik verlßt Tacitus den Schauplatz Rom, um sich in einem Exkurs den Ereignissen im Osten des Reiches zuzuwenden. Wie hufig bei derartigen Einschîben îber die Außenpolitik innerhalb der Claudiusbîcher hat er auch hier das annalistische Schema durchbrochen und in einer Art Zusammenfassung das Geschehen mehrerer Jahre (ca. 41 – 47/48 n. Chr.) resîmiert.538 Diese auffllige Kompositions- und Darstellungsform539 hat die Frage nach der narrativen Funktion solch eingeschobener Exkurse – insbesondere derer îber die Geschehnisse in Armenien und Parthien – aufgeworfen, die in der Forschung unterschiedlich beantwortet worden ist.540 Am Beispiel von ann. 11,8 – 10 soll diese Problematik exemplarisch behandelt werden. Zuvor sei zunchst ein grober ˜berblick îber den Inhalt dieser Kapitel gegeben und mit einigen Bemerkungen versehen. Auf Veranlassung des Claudius kehrt im Jahr 47 (ann. 11,8,1: sub idem tempus)541 der bislang in Rom inhaftierte Mithridates in sein ehemaliges Kçnigreich Armenien zurîck. Die Situation hierfîr ist gînstig, nachdem ein Thronstreit die mchtigen Parther gespalten und ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat. Dieser Hintergrund wird von Tacitus rîckblickend beleuchtet: Der parthische Thronprtendent Gotarzes hatte seinen Bruder Artabanos und dessen Familie grausam ermorden lassen. Daraufhin war es dem Vetter und Adoptivbruder Vardanes, von den Anhngern der Getçteten herbeigerufen und in einem zweitgigen Gewaltritt herangerîckt, gelungen, den vçllig îberraschten und aufgeschreckten Gotarzes wieder zu vertreiben und sich der Herrschaft îber die nchstgelegenen Prfekturen zu bemchtigen. Allein das stark befestigte Seleukia hatte den neuen Machthaber abgelehnt und sich 538 Vgl. Seif, 1973, 59; Wille, 1983, 480; hnliche Exkurse: ann. 12,10 – 21 (Parthien); 12,31 – 40 (Britannien); ann. 12, 44 – 51 (Armenien / Parthien). 539 Vgl. Seif, 1973, 63; Koestermann ad ann. 11,8,1; Mehl, 1974, 50 Anm. 256. 540 S. hierzu die Bemerkungen in der Einleitung S. 6 f. 541 Zur chronologischen Unstimmigkeit dieser Angabe s. Seif, 1973, 62; Pfordt, 1998, 86.

2. Ann. 11,8 – 10: Außenpolitischer Exkurs îber Ereignisse im Osten des Reiches

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daher der Belagerung ausgesetzt gesehen. In der Zwischenzeit war wiederum Gotarzes mit verstrkten Truppen zurîckgekehrt, um den Krieg gegen seinen Rivalen wieder aufzunehmen (ann. 11,8). Die hierdurch verursachten Wirren nutzt nun Mithridates aus, um mit Hilfe rçmischer Truppen das bislang von den Parthern besetzte Armenien zurîckzugewinnen. Bei seinem erfolgreichen Kampf leistet allein Kotys, der Kçnig von Kleinarmenien, strkeren Widerstand, bis er durch ein Schreiben des Kaisers in Schranken verwiesen wird. Nachdem Mithridates sein ehemaliges Reich wieder unter seine Kontrolle gebracht und sich dabei nach Tacitus hrter erwiesen hat als es seinem Herrschaftsantritt von Nutzen gewesen ist (ann. 11,9,2 atrociorem quam novo regno conduceret), schließen die beiden rivalisierenden parthischen Machthaber angesichts einer Verschwçrung ihrer Landsleute einen Vergleich und sinnen bei einer feierlichen Versçhnungszeremonie auf Rache an ihren gemeinsamen Feinden. Gotarzes îberlßt Vardanes zunchst den Thron und zieht sich selbst tief nach Hyrkanien zurîck, um kein Anzeichen einer weiteren Rivalitt aufkommen zu lassen. Mit dem Hinweis auf die endlich gelungene Eroberung Seleukias durch Vardanes endet das Kapitel (ann. 11,9). Vardanes festigt seine Herrschaft, indem er die wichtigsten Prfekturen besichtigt, und trifft Vorbereitungen fîr eine Rîckeroberung Armeniens. Eine Kriegsdrohung des rçmischen Legaten in Syrien, Vibius Marsus, lßt ihn von diesem Vorhaben jedoch Abstand nehmen. Aus Reue îber seinen Thronverzicht und auf Betreiben des Adels sammelt Gotarzes neue Truppen und zieht erneut in den Kampf gegen Vardanes, wird in mehreren Gefechten jedoch vçllig geschlagen. Der siegreiche Vardanes unterwirft sich daraufhin weitere Volksstmme bis hin zum Sindefluß, womit er dem Einflußbereich der Parther neue Grenzen setzt. Nach Parthien zurîckgekehrt, fllt der gewaltttige Kçnig einem Komplott seiner Untertanen zum Opfer, die ihn whrend der Jagd ermorden. Durch den Tod des Vardanes entstehen im Partherreich neue Unruhen, aus denen Gotarzes als neuer Machthaber hervorgeht. Als sich dieser ebenfalls grausam und ausschweifend verhlt, schicken die Parther eine geheime Abordnung an den rçmischen Kaiser mit der Bitte, Meherdates, den Rçmern als Sproß einer parthischen Kçnigsfamilie einst als Geisel gegeben, als Kçnig einsetzen zu dîrfen (ann. 11,10). An dieser Stelle endet der Bericht îber Ereignisse im Osten des Reiches. Die am Ende erwhnte Gesandtschaft der Parther dient in ann. 12,10 als Anknîpfungspunkt fîr die Fortfîhrung des Erzhlstranges îber die Vorgnge im Orient.

196 2. Ann. 11,8 – 10: Außenpolitischer Exkurs îber Ereignisse im Osten des Reiches Bemerkenswert ist, daß innerhalb dieses außenpolitischen Exkurses die Person des Claudius an einigen Stellen auf den ersten Blick recht positiv in Erscheinung tritt.542 Entgegen der sonstigen Darstellung scheinen seine politischen Maßnahmen von Geschick, Klugheit und Entschlossenheit gekennzeichnet zu sein: Er weiß den rechten Moment fîr die Rîckfîhrung des Mithridates zu nutzen, weist entweder selbst oder durch seinen Legaten Vibius Marsus die regionalen Machthaber in Schranken und kann Armenien wieder unter rçmische Kontrolle bringen. Dabei handelt der Kaiser anscheinend vçllig eigenstndig. Die negative Tendenz des taciteischen Claudiusbildes scheint hier fîr einen Moment aufgehoben. Doch hat Tacitus auch dafîr gesorgt, daß der Kaiser nicht in allzu hellem Ruhmesglanz erstrahlt, wie in jîngster Zeit Devillers im einzelnen herausarbeiten konnte.543 Der Historiker ist bemîht, die Leistungen des Claudius in den Hintergrund zu drngen und zu relativieren. Dies geschehe laut Devillers einmal dadurch, daß Tacitus den Eindruck erwecke, als ginge die Idee zur Wiedereinsetzung des Mithridates letzten Endes nicht auf den Kaiser selbst, sondern auf den Bruder des Klientelkçnigs, Pharasmanes, zurîck (s. ann. 11,8,1: Sub idem tempus Mithridates, quem imperitasse Armeniis Caesaris vinctum memoravi, monente Claudio in regnum remeavit, fisus Pharasmanis opibus. is rex Hiberis idemque frater nuntiabat discordare Parthos summaque imperii ambigua, minora sine cura haberi.) Dann beharre Tacitus derart auf dem Umstand, daß die Parther durch innere Streitigkeiten geschwcht waren (ann. 11,8,2 – 4; vgl. 11,9,1: Tunc, distractis Orientis viribus et quonam inclinarent incertis, casus Mithridati datus est occupandi Armeniam …), daß die von Claudius ins Werk gesetzten Unternehmungen viel von ihrem Glanz verlçren. Auch sei aus der Beurteilung des von ihm eingesetzten Kçnigs durch Tacitus Kritik am Kaiser zu vernehmen (11,9,2: atrociorem quam novo regno conduceret). Die Erwhnung weitlufiger Eroberungen durch den Partherkçnig Vardanes (ann. 11,10,2) diene mçglicherweise der Relativierung des vom Princeps im ‘bescheidenen Armenien’ erzielten diplomatischen Erfolges. Tacitus biete insgesamt durch seine Anordnung der Fakten dem Leser keinerlei Anhaltspunkte, um den engeren Zusammenhang innerhalb der einzelnen Maßnahmen des Claudius wahrzunehmen und diese im Rahmen einer sinnvollen und effizienten Außenpolitik zu betrachten. Auf diese Weise sei es dem His542 Vgl. Seif, 1973, 61. 543 S. Devillers, 1994, 64; 275 f.

2. Ann. 11,8 – 10: Außenpolitischer Exkurs îber Ereignisse im Osten des Reiches

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toriker gelungen, vom Erfolg des Claudius mçglichst abzulenken und trotzdem einen sachlich zutreffenden Bericht zu liefern. Wie steht es nun mit der narrativen Funktion dieses außenpolitischen Exkurses? Keitel meint: „Here is no dramatic retardation. No high point has been reached in 11.5 – 7 from which the reader needs relief nor does the narrative in 11.11 resume at the point where it ended in 11.7. Rather 11.8 – 10 foreshadow events at Rome in 11.11 – 12 and 11.26 – 38. The foreshadowing is a general one of motive and consequences, not a specific analogy between individuals in Parthia and at Rome. Tacitus draws this connection through the use of diction which makes the reader recall the earlier events of Book 11 while preparing for future conflicts.“544 Keitel hebt dabei insbesondere auf die Rivalitt zwischen (den Brîdern) Gotarzes und Vardanes ab, welche der Rivalitt zwischen Nero und Britannicus entspreche, sowie auf die intriganten Machtkmpfe am jeweiligen Herrschaftszentrum in Parthien und Rom. Da zumindest die Gegnerschaft zwischen Nero und Britannicus direkt im Anschluß an den außenpolitischen Exkurs Gegenstand der Darstellung ist, scheint eine solche These einiges Gewicht zu besitzen.545 Doch hat Pfordt berechtigte Einwnde gegen eine solche Interpretation geußert.546 Mag der Bruderzwist an dieser Stelle vielleicht tatschlich als eine inhaltliche Brîcke zwischen den außen- und innenpolitischen Vorgngen dienen,547 mîssen die von Keitel weiterhin hergestellten Bezîge zu ann. 12,26, 12,41 sowie 13,15 – 17 mit großer Skepsis betrachtet werden.548 Kein Leser dîrfte sich an einer dieser spteren Stellen noch an den Konflikt zwischen Gotarzes und Vardanes erinnert fîhlen. Noch gewagter und fast willkîrlich muten ihre ‘Parallelen’ an, die sie anhand der Diktion ziehen mçchte, um eine Analogie der Vorgnge im Partherreich zu den machtpolitischen Zustnden in Rom zu konstruieren.549 Reduziert man 544 Keitel, 1977, 43; vgl. dies., 1978, 463. 545 Dies îbersieht Seif, 1973, wenn er schreibt (63): „Ebensowenig zeigen sich innere Bezîge oder Querverbindungen zu dem nachstehenden Bericht îber die ludi saeculares (11,11)“. 546 Vgl. Pfordt, 1998, 88. 547 Vgl. Devillers, 1994, 276, der Anm. 227 (unter Verweis auf U. Kahrstedt: Artabanos III. und seine Erben, Bern 1950, 18 – 22) zustzlich darauf hinweist, daß Gotarzes und Vardanes keine leiblichen Brîder, sondern genau wie (spter) Nero und Britannicus Adoptivbrîder waren. 548 Vgl. Keitel, 1977, 43; Pfordt, 1998, 88 f. 549 Vgl. Keitel, 1977, 43 f.; dies., 1978, 464 f.; Pfordt, 1998, 89 (zu Begriffen wie saevitia, luxus, dominatio, regnum, atrox, ferox, dolus, insidiae, die von Tacitus

198 2. Ann. 11,8 – 10: Außenpolitischer Exkurs îber Ereignisse im Osten des Reiches dagegen Keitels Interpretationen auf ihren ursprînglichen Gedanken einer ganz allgemeinen Parallelitt, wird man der Intention des Tacitus wohl am nchsten kommen. Denn die Sichtweise, wonach die außenpolitischen Exkurse insbesondere der Claudiusbîcher lediglich der Zerstreuung des Lesers dienen, darf sicherlich als zu eng zurîckgewiesen werden. Sowohl ihre jeweils auffllige Position und Erzhlstruktur als auch ihr meist recht wenig erbaulicher Inhalt sprechen deutlich fîr eine tiefere Funktion, die Vessey folgendermaßen umrissen hat: „These digressions become regular in the later books and serve a definite artistic purpose. They alternate with analyses of increasing decadence at home, accentuating the trend, and illuminating, by contrast and difference in tempo, the ridiculous or macabre turns of events in the capital. […] Tacitus’ predominating interest lay in the psychology, or pathology, of despotism; his treatment of foreign affairs is directed towards this larger end. The digressions, natural to the annalistic form, serve as interludes and subsidiary episodes in the development of a tragi-comedy played out at home, at the centre of a vast and powerful empire.“550 ˜ber solch ganz allgemeine ˜berlegungen wird man nicht wesentlich hinauskommen kçnnen, wenn man der Darstellung des Tacitus nicht Gewalt antun mçchte.

sowohl auf die Verhltnisse in Parthien als auch auf die Situation in Rom angewendet werden, ohne jedoch zwangslufig auf konkrete Analogien hinweisen zu mîssen). Zweifelhaft ist auch Keitels Versuch, aus lediglich zwei Stellen (ann. 11,8,2: unde metus [eius] in ceteros; 11,8,3: exterritum Gotarzen proturbat) das fîr hçfische Intrigen zentrale Motiv der ‘Angst’ herauszulesen, das an dieser Stelle „the almost comic confusion of Messalina’s abortive plot against Claudius“ vorwegnehmen soll (1977, 44 mit Verweis auf ann. 11,26,2; 11,28,1 – 2; 11,29,2; 11,31,1; 11,32;1). Ebenso wagemutig ist a.a.O. ihr Vergleich zwischen der Unnachgiebigkeit (‘intransigence’) und superbia (!) des Vardanes und des Gotarzes (s. ann. 11,10,3: regreditur ingens gloria atque eo ferocior et subiectis intolerantior bzw. 11,10,4: potitusque regiam per saevitiam ac luxum adegit Parthos …) auf der einen und denselben negativen Charaktereigenschaften bei den Machthabern in Rom auf der anderen Seite, wobei sie insbesondere auf die von Tacitus ann. 1,4,3 erwhnte insita Claudiae familiae superbia abhebt, ohne daß der Begriff superbia jedoch auch nur ein einziges Mal explizit auf einen der beiden parthischen Potentaten in ann. 11,8 – 10 angewendet wîrde. 550 Vessey, 1971, 391; diese Beobachtungen hatte auch Keitel zum Ausgangspunkt ihrer Analysen gemacht und bezeichnenderweise als „apt but not specific“ charakterisiert (1977, 42).

3. Ann. 11,11 – 15: Die Skularspiele im Jahr 47, der Beginn des Messalinaskandals und die Zensur des Claudius551 3.1 Ann. 11,11: Die Skularspiele im Jahr 47 Mit dem Bericht îber die ludi saeculares des Jahres 47 kehrt Tacitus zu den stadtrçmischen Ereignissen zurîck, s. ann. 11,11,1: Isdem consulibus ludi saeculares octingentesimo post Romam conditam, quarto et sexagesimo, quam Augustus ediderat, spectati sunt. utriusque principis rationes praetermitto, satis narratas libris, quibus res imperatoris Domitiani composui. nam is quoque edidit ludos saeculares, iisque intentius adfui sacerdotio quindecimvirali praeditus ac tunc praetor. quod non iactantia refero, sed quia collegio quindecimvirum antiquitus ea cura, et magistratus potissimum exsequebantur officia caerimoniarum.

Offensichtlich gilt das Interesse des Historikers nicht den Feierlichkeiten an sich.552 Schnell gleitet er mit einem Hinweis auf die bereits abgehaltene Skularfeier des Augustus und auf die in den Historien erfolgte Behandlung der unterschiedlichen Berechnungen des Skulums îber das Ereignis hinweg, um anschließend an seine Stellung als Quindecimvir und Prtor bei den gleichen Feierlichkeiten unter Domitian zu erinnern. Insgesamt verfolgt der Historiker auch an dieser Stelle das Ziel, die Leistungen des Claudius zu schmlern. Durch die Vielzahl der hier vergebenen Informationen geht die eigentliche Leistung des Claudius nicht nur vçllig unter, sondern verliert gerade vor dem Hintergrund der beiden anderen genannten Skularfeiern auch erheblich an Bedeutung. Der Rîckbezug auf Augustus entspringt sicherlich auch hier dem Bedîrfnis nach einem ironischen Vergleich der beiden Herrscherpersçnlichkeiten.553 551 Zur Gliederung dieser Kapitelreihe, s. Wille, 1983, 481 – 484. 552 Vgl. Seif, 1973, 64. 553 Vgl. O’Gorman, 2000, 108 f.; Devillers, 1994, 166. Keitel, 1977, 45 f. legt erneut großes Gewicht auf den Gebrauch von antiquitus (vgl. o. Anm. 500), worin sie offenbar eine Art Schlîssel zum Verstndnis der etwas îberraschenden Auskunft des Tacitus îber seine eigene Karriere vermutet. Erneut weise das Zeitadverb auf einen Traditionsbruch unter Claudius hin. „The implication seems to be that the quindecimviri were quite capable of carrying out the games,

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3. Ann. 11,11 – 15: Die Skularspiele im Jahr 47

Der beabsichtigten Relativierung der kaiserlichen Maßnahme entspricht es, daß die Skularspiele im folgenden Bericht des Historikers nicht mehr abgeben als den ußeren Rahmen fîr eine wesentlich bedeutendere Thematik, die in der (spteren) Konkurrenz zwischen Nero und Britannicus besteht und durch einen sorgfltig plazierten Fingerzeig auf kînftige Verhltnisse vorbereitet wird, s. ann. 11,11,2: sedente Claudio circensibus ludis, cum pueri nobiles equis ludicrum Troiae inirent interque eos Britannicus imperatore genitus et L. Domitius adoptione mox in imperium et cognomentum Neronis adscitus, favor plebis acrior i Domitium loco praesagii acceptus est. Bei der Auffîhrung des Troiaspiels befinden sich unter den auftretenden pueri nobiles auch Britannicus und Domitius (Nero). Entscheidend fîr den Vorverweis auf das kînftige Geschehen ist die Aussage, wonach die lebhaftere Zuneigung des Volkes fîr Domitius als Vorzeichen aufgefaßt worden sei. In diesem Licht erscheinen die von Tacitus zustzlich gegebenen Informationen in einem neuen Licht. Die Frage nach der Thronfolge vor Augen, wgt der Leser die Ansprîche der beiden Kandidaten gegeneinander ab, wobei er die leibliche Abstammung des Britannicus vom Kaiser (imperatore genitus) als hçherwertig ansehen muß als die durch Adoption erworbene Stellung des Domitius (adoptione … adscitus).554 Durch das praesagium wird jedoch angedeutet, daß Nero trotz seiner schwcheren Ausgangsposition der kînftige Kaiser sein wird.555 Britannicus wird demnach in den Augen des Lesers um seinen Vorrang in der Nachfolge betrogen werden – ohne daß Claudius gegen diese Zurîcksetzung seines eigenen Sohnes etwas unternehmen wird. Bezeichnenderweise wird dem Kaiser hier explizit die Rolle des passiven Zuschauers zugewiesen. Dies ist um so aufflliger, als seine Erwhnung fîr ein rein vordergrîndiges Verstndnis der hier geschilderten Szene vçllig îberflîssig erscheint.556 Der Eindruck der Passivitt und Teilnahmslosigkeit wird durch die Grammatik unterstîtzt (sedente their ancient responsibility, correctly before the emperors began meddling with the chronological reckoning.“ Offenere Kritik an den von Claudius abgehaltenen Skularspielen îbt Sueton (Claud. 21,2); vgl. Seif, 1973, 64. 554 An dieser Ansicht wird auch der favor plebis acrior nicht rîtteln kçnnen, da dieser nicht als echte Herrschaftslegitimation angesehen werden darf. Ohnehin wird die Nero entgegengebrachte Gunst des Volkes wenige Zeilen spter relativiert, s. u. zu ann. 11,12,1. 555 Vgl. Seif, 1973, 65 f. 556 Der Kommentar Kostermanns ad loc.: „Der Hinweis auf die Anwesenheit des Kaisers soll der Szene ein grçßeres Gewicht verleihen“ wird diesem Sachverhalt nicht hinreichend gerecht.

3.1 Ann. 11,11: Die Skularspiele im Jahr 47

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Claudio: Ablativus absolutus!). Die hier auf subtile Weise aufgenommene Thematik der ‘unrechtmßigen’ Thronfolge Neros und der dabei zutage tretenden Ohnmacht des Claudius nimmt im zwçlften Annalenbuch dann deutlichere Zîge an. Das erwhnte praesagium dient gewissermaßen als Stichwort fîr die Prsentation eines weiteren ‘Vorzeichens’ in Bezug auf Nero, das in die Form eines Gerîchtes gegossen ist, s. ann. 11,11,3: vulgabaturque adfuisse infantiae eius dracones in modum custodum, fabulosa et externis miraculis adsimilata; nam ipse, haudquaquam sui detractor, unam omnino anguem in cubiculo visam narrare solitus est. Tacitus steht diesem Gerede sichtlich distanziert gegenîber, verbannt es mit den Worten fabulosa et externis miraculis adsimilata eindeutig in den Bereich mrchenhafter Exotik. Aufmerksamkeit verdient die hierfîr angefîhrte Begrîndung, die zu einem bissigen Seitenhieb gegen den selbstgeflligen Charakter Neros gert.557 Deutlich ist der Spott des Historikers zu vernehmen, wenn er das Gerîcht von den Schlangen, die dem spteren Kaiser in seiner Kindheit als Wchter gedient htten, mit dem Hinweis auf die von Nero selbst gegebene Version der Geschichte zurîckweist, wonach lediglich eine Schlange in seinem Gemach gesehen worden sei – eine kaum andersartige Variante ein und derselben Wundergeschichte, die nicht viel glaubwîrdiger klingt als die vom Volk verbreitete Legende, doch von Tacitus durch die stark abwertende Charakterisierung Neros als haudquaquam sui detractor auf sarkastische Weise ‘gestîtzt’ wird.558 Lßt die Geschichte bereits in ironischer Weise die Heraklessage anklingen,559 erinnert gerade diese Formulierung an die von Livius vorgenommene Charakterisierung des lteren Cato als haud sane detrectator laudum suarum (Liv. 34,15,9) und verleiht der Darstellung des Tacitus hierdurch einen „pittoresken Reiz“,560 der die Figur des jungen Prinzen noch weiter ins Lcherliche 557 Vgl. Devillers, 1994, 193. 558 Vgl. Koestermann ad loc.: „Die Litotes verstrkt das Abfllige des Ausdrucks (Walker [1952] 55,2).“ 559 Laut Mythos entsandte Hera in ihrem Haß auf Herakles zwei Schlangen, um diesen noch in der Wiege zu tçten, vgl. etwa H. Hunger: Lexikon der Griechischen und Rçmischen Mythologie, Wien 81988, 201. Die Ironie liegt an unserer Stelle demnach auch in der Umkehr der mythologischen Vorlage begrîndet: Aus den Schlangen, die den kleinen Herakles vernichten sollten, sind im Falle Neros custodes geworden. 560 Koestermann ad loc.; vgl. Syme, 1958, 349 mit Anm. 12. Die Kenntnis der Liviusstelle durfte Tacitus angesichts der legendren Berîhmtheit des Cato censorius bei einer gebildeten Leserschaft sicherlich voraussetzen.

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3. Ann. 11,11 – 15: Die Skularspiele im Jahr 47

zieht. Der Historiker lßt die Wundergeschichte îber Neros Kindheit ußerlich zwar bestehen, macht aber mehr als deutlich, wie er darîber denkt. Mit seinem Hohn verfolgt er offenbar den Zweck, den kînftigen Kaiser der îbernatîrlichen Sphre zu entrîcken und dem Eindruck entgegenzuwirken, als ob dieser „unter einem besonderen gçttlichen Schutz gestanden habe.“561 Sollte es sich in ann. 11,11 tatschlich um die erste Erwhnung des spteren Princeps in den Annalen handeln,562 kommt dieser Beobachtung zustzliche Bedeutung zu.

3.2 Ann. 11,12: Der Beginn des Messalinaskandals Im Anschluß an die spçttische Behandlung der Legende zu Neros frîhester Kindheit fîhrt Tacitus die Abstammung des kînftigen Kaisers als den eigentlichen Grund fîr dessen Popularitt an, s. ann. 11,12,1: Verum inclinatio populi supererat ex memoria Germanici, cuius illa reliqua suboles virilis … Ein adversatives verum stellt zu Beginn des neuen Kapitels einen scharfen Kontrast zu der zuvor karikierten Schlangenmr und der tatschlichen Ursache fîr Neros Beliebtheit her und bewirkt, daß Mythos und Realitt hart aufeinandertreffen. Auf diese Weise wird die eben beobachtete ‘Entzauberung’ des jungen Prinzen weiter vorangetrieben. Nero scheint nicht aufgrund seiner eigenen Persçnlichkeit oder Ausstrahlung die Sympathien des Volkes zu genießen, sondern einzig und allein deshalb, weil er der letzte mnnliche Nachfahre des beliebten Germanicus ist. Dieser Eindruck wird durch das Verb supererat gestîtzt, welches das Fortleben des Großvaters in den Kçpfen der Menschen wirkungsvoll zum Ausdruck bringt.563 Der ˜bergang zur neuen Thematik, die das skandalçse Treiben der Messalina zum Inhalt hat, erfolgt ußerst gekonnt îber Neros Mutter Agrippina, der wegen der Feindseligkeit der Kaiserin wachsendes Mitgefîhl gegolten habe,564 s. ann. 11,12,1: … et matri Agrippinae miseratio 561 E. Aumîller: Das Prodigium bei Tacitus, Diss. Frankfurt a. M. 1948, 90. 562 Dafîr spricht die ausfîhrliche Umschreibung seiner Identitt (L. Domitius adoptione mox in imperium et cognomentum Neronis adscitus) sowie der bedeutungsvolle Kontext seiner Erwhnung (Skularfeier), vgl. Walker, 1952, 80 Anm. 1; O’Gorman, 2000, 162. 563 Vgl. Nipperdey ad loc: „supererat ‘war geblieben’, ‘noch vorhanden’.“ 564 Seif, 1973, 68 hat die strukturelle Bedeutung dieses Einschubs fîr den weiteren Bericht des Tacitus herausgearbeitet. Im Zusammenhang mit der kurz zuvor angedeuteten zukînftigen Regentschaft Neros soll die Erinnerung an die Riva-

3.2 Ann. 11,12: Der Beginn des Messalinaskandals

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augebatur ob saevitiam Messalinae, quae semper infesta et tunc commotior, quo minus strueret crimina et accusatores, novo et furori proximo amore distinebatur. Schlagwortartig tauchen in nur wenigen Zeilen grundlegende Charaktereigenschaften der Messalina auf, die dem Leser zum großen Teil bereits aus anderen Zusammenhngen bekannt sind und nun gewissermaßen als Folie zu einem neuartigen Verhalten der Kaiserin benutzt werden. Der Satz scheint mit seinem auffllig vorweggenommenen Nebensatz quo minus strueret crimina et accusatores (abhngig von dem folgenden distinebatur) eigens so konstruiert zu sein, daß der fîr die folgende Thematik zentrale Begriff des novus et furori proximus amor betont am Ende steht565 und damit auch optisch als Gipfelpunkt einer charakterlichen Degeneration in Erscheinung tritt, der auf inhaltlicher Ebene dadurch zum Ausdruck gebracht wird, daß gerade diese ‘neue und an Wahnsinn grenzende Liebe’ ausdrîcklich der Grund fîr eine Abkehr von bisher gewohnten Verhaltensmustern ist.566 Dabei verleiht das Attribut novus der gesamten Aussage eine pikante Zweideutigkeit, lßt es neben der Bedeutung ‘neuartig’ oder ‘ungewçhnlich’ doch auch ein Verstndnis im Sinne einer ‘weiteren’ Affre nach zahlreichen anderen Liebschaften zu,567 birgt also bei nherer Betrachtung eine zustzliche Spitze gegen das ausschweifende Sexualleben der Kaiserin. Die zustzliche Beschreibung furori proximus deutet das Irrationale und Unheilvolle der neuen Liaison an, die Messalina schließlich ins Verderben stîrzen wird.568

565 566

567 568

litt zwischen Messalina und ihrer Nachfolgerin der im Anschluß geschilderten Affre der Kaiserin mit Silius, die deren Untergang nach sich ziehen wird, ihre eigentliche politische Bedeutung verleihen: „Messalina schafft paradoxerweise die Voraussetzungen dafîr, daß ihre Gegnerin Agrippina minor Claudius heiraten kann und ebnet damit Nero den Weg zur Macht.“ Keitel, 1977, 46 f. hat hingegen hervorgehoben, daß Tacitus Agrippina hier nicht als Feindin, sondern als Opfer der Messalina darstelle, um die selbstzerstçrerische Tendenz im Verhalten der Kaiserin an spterer Stelle besser in Szene setzen zu kçnnen: „A potent female enemy would only undermine the climactic episode of the book (11.26 – 38) which traces the course of her [= Messalina’s] ruin through lustful selfindulgence.“ Vgl. Keitel, 1977, 48. Tacitus berichtet nichts von dem Anschlag der Messalina auf Nero, der sich bei Suet. Nero 6,4 in Zusammenhang mit der auch bei Tacitus îberlieferten Schlangenfabel (s. o.) findet; s. hierzu Mehl, 1974, 52 f., der davon ausgeht, daß Tacitus an dieser Stelle aus literarischen Grînden von der geschichtlichen ˜berlieferung abweicht; vgl. Keitel, 1977, 75 Anm. 53. Vgl. Seif, 1973, 69. Seif, 1973, 69 f. hat eingehend den taciteischen Wortgebrauch von furor / furere untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, „daß bei Tacitus immer dann

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Auf diese Weise ist der Blickwinkel auf die Affre der Messalina zu Silius vorgegeben, noch bevor Tacitus sie îberhaupt zur Sprache gebracht hat. Denn erst im Anschluß wird das Verhltnis konkret benannt und das jeweilige Verhalten der Kaiserin und ihres Liebhabers nher beschrieben, s. ann. 11,12,2: nam in C. Silium, iuventutis Romanae pulcherrimum, ita exarserat (sc. Messalina), ut Iuniam Silanam, nobilem feminam, matrimonio eius exturbaret vacuoque adultero poteretur. neque Silius flagitii aut periculi nescius erat; sed certo, si abnueret, exitio et nonnulla fallendi spe, simul magnis praemiis, op

eriri569 futura et praesentibus frui pro solacio habebat. Die Affre wird jeweils in Bezug auf Messalina und in Bezug auf Silius beleuchtet. Drastische Verben kennzeichnen die Handlungen der Kaiserin: Brennende Leidenschaft (exarserat), rigoroses Vorgehen (exturbaret) sowie der dringliche Wunsch nach Inbesitznahme des Geliebten von furor die Rede ist, wenn die rçmische Ordnung von innen her in Gefahr gert. Der furens verliert das Bewußtsein seiner Verantwortung und gefhrdet dadurch diese und implizit sich selbst.“ (Anm. 8); vgl. Keitel, 1977, 48. Diese Sichtweise bleibt unangefochten von den Bemerkungen Mehls, 1974, 52, der die Topik des furor amoris in den Vordergrund rîckt, und in Anlehnung an V. Grassmann: Die erotischen Epoden des Horaz, Zetemata 39, Mînchen 1966, 94 – 99 anfîhrt, daß furor „in der Erotik nicht schlechthin mit Wahnsinn wiedergegeben werden“ kçnne [Zitat: Grassmann 94]. Mehl kommt es dabei jedoch hauptschlich auf den Nachweis an, daß der furor amoris nicht sittlich beurteilt werden darf. Der Bericht des Tacitus aber zielt mit dem Begriff des furor weniger auf die Offenlegung einer moralischen Verfehlung der Messalina ab als vielmehr auf deren vçllige geistige Verwirrung. Grassman selbst richtet sich gegen eine Gleichsetzung des amatorius furor mit insania (vgl. ThLL VI,1, Sp. 1624, 19) und verweist 94 Anm. 21 auf die definitorische Abgrenzung des furor von insania bei Cic. Tusc, 3,11. Liest man dort nach, so wird man feststellen, daß die von Cicero gebotene Symptomatik des furor durchaus auf den Fall der Messalina bei Tacitus und die von Seif, 1973, vorgelegte Interpretation zutrifft: (…) quem nos furorem, lekacwok_am illi [sc. Graeci] vocant; quasi vero atra bili solum mens ac non saepe vel iracundia graviore vel timore vel dolore moveatur; quo genere Athamantem, Alcmaeonem, Aiacem, Orestem furere dicimus. qui ita sit adfectus, eum dominum esse rerum suarum vetant duodecim tabulae; itaque non est scriptum ‘si insanus’, sed ‘si furiosus escit’. stultitiam enim censuerunt constantia, id est sanitate, vacantem posse tamen tueri mediocritatem officiorum et vitae communem cultum atque usitatum; furorem autem esse rati sunt mentis ad omnia caecitatem. Messalinas Geisteszustand wird durch ihre Affekte beinahe vçllig verdunkelt. 569 So die von Heubner îbernommene Konjektur des Beroaldus fîr das îberlieferte operiri; operire (‘aus den Gedanken verbannen’) schlagen Nipperdey, Furneaux und Koestermann vor; vgl. insgesamt die Kommentare ad loc.; Mehl, 1974, 55 Anm. 289 sowie den textkritischen Apparat bei H. Weiskopf, WS Beiheft 4, 1973, 15.

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(poteretur) prgen ihr Verhalten und unterstreichen den zuvor aufgebrachten Gedanken, daß ihre Liebe hart an der Grenze zum furor verlaufe.570 Silius wird eigens als iuventutis Romanae pulcherrimus beschrieben, wodurch der Eindruck entsteht, als sei dessen Schçnheit und damit sexuelle Begierde der vorrangige Grund fîr Messalinas Liebesglut.571 Im Gegenzug wird die aus der Ehe vertriebene Frau des Silius, Iunia Silana, als nobilis femina bezeichnet und damit in sozialer Hinsicht deutlich aufgewertet. Vor diesem Hintergrund gewinnt das rîcksichtslose Gebaren der Kaiserin erheblich an Brisanz. Ihre Gier kennt offenbar keine Schranken. Dieser rasend agierenden Messalina steht ein resignierendpassiver Silius gegenîber, der ußerst nîchtern seine Situation analysiert und sich aufgrund einer vçlligen Ausweglosigkeit damit zu arrangieren

570 Keitel, 1977, 48 weist zustzlich auf die Nhe des verwendeten Vokabulars (exturbare; potiri) zur ‘Militrsprache’ („language reminiscent of battle“) hin. Außerdem werde durch das Verb exardescere eine moralische øquivalenz zwischen den sexuellen Ausschweifungen der Messalina (Ehebruch) und des Claudius (Inzest) hergestellt: „Claudius anger at his wife’s excesses becomes hypocritical in view of his own behaviour after her death: haud multo post flagitia uxoris noscere ac punire adactus est ut deinde ardesceret in nuptias incestas (11,25,8 [=11,25,5; Hervorhebungen von mir]).“ Es scheint mir jedoch etwas zweifelhaft, ob Tacitus diese Parallele tatschlich erzeugen wollte. 571 S. Seif, 1973, 71; vgl. Mehl, 1974, 54, der meint, daß sich dieses erotische Verstndnis in ann. 11,28,1 als „Tuschung“ heraustelle, wenn die Freigelassenen des Kaisers dem Silius eine dignitas formae nachsagen, die ihn zu p o l i t i s c h e m Ehrgeiz befhige: iuvenem nobilem dignitate formae, vi mentis ac propinquo consulatu maiorem ad spem accingi. Sollte die dort genannte dignitas formae tatschlich das pulcherrimus der hier verhandelten Stelle widerspiegeln, so muß immerhin beachtet werden, daß das politische Potenzial des Silius noch von zwei anderen, viel wesentlicheren Punkten abhngig gemacht wird, nmlich von seiner Herkunft (nobilis!) und seiner Geisteskraft (vis mentis). øhnliches ußert Mehl, 1974, 54 in Bezug auf den Begriff flagitium, dessen vermeintlich erotische Konnotation in ann. 11,12,2 an spterer Stelle (ann. 11,26,2; 11,32,3; 11,34,1) zugunsten einer politischen Tendenz aufgegeben werde. Jedoch ist seine Annahme, daß in ann. 11,12,2 eine erotische Deutung von flagitium naheliege, rein subjektiver Natur. Auch hier kann flagitium recht zwanglos ebenso gut in politischem Sinne verstanden werden. Wenn Mehl, 1974, 55 aufgrund dieser Gedanken zu dem Ergebnis kommt: „Liebesglut und Liebesabenteuer sind nur ein schçner Schein“ so hat er m. E. die falschen Begriffe ausgewertet. Ein solches Urteil ist nach den eindringlichen Worten, mit denen Tacitus in ann. 11,12,2 die Gefîhle der Messalina beschreibt, zumindest in Bezug auf die Kaiserin zurîckzuweisen.

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scheint.572 Ausdrîcklich wird er von Tacitus moralisch in Schutz genommen, sein Verhalten psychologisch meisterhaft in Szene gesetzt.573 Er weiß sehr wohl um sein schndliches Verhalten oder seine gefhrliche Lage, hat aber keine andere Wahl, als sich auf das Spiel der Messalina einzulassen, da ihn ansonsten der sichere Untergang erwartet.574 In der Hoffnung, daß er unentdeckt bleibe (fallendi spe),575 und in Erwartung großer Belohnungen wartet er das Kommende ab und trçstet sich mit den gegenwrtigen Verhltnissen. Durch den tiefen Einblick in die Psyche des hin und her gerissenen Mannes weckt Tacitus im Leser Mitgefîhl und Verstndnis, erreicht, daß dieser in Silius nicht einen mitverantwortlichen Liebhaber, sondern ein hilfloses Opfer der Messalina sieht. Politische Ambitionen des Silius sind an dieser Stelle noch nicht konkret zu erkennen. Alle Vorteile, die sich aus der Beziehung zu Messalina fîr ihn ergeben kçnnten (etwa die magna praemia), sind fîr ihn offenbar kein echtes Motiv, sondern lediglich ein Trost (vgl. pro solacio habebat). Dieser Eindruck ist wichtig, um die folgenden Zeilen nicht mißzuverstehen, die wiederum Messalinas Verhalten in leuchtenden Farben beschreiben, s. ann. 11,12,3: illa non furtim, sed multo comitatu ventitare domum, egressibus adhaerescere, largiri opes honores; postremo, velut translata iam fortuna, servi liberti paratus principis apud adulterum visebantur. Ohne Rîcksicht auf die Folgen fîr sich oder ihren Geliebten stellt die Kaiserin ihr Verhltnis mit Silius regelrecht zur Schau und beweist mit dieser Unbesonnenheit weiterhin ihren selbstzerstçrerischen furor. Auch hierbei ist die Wortwahl des Tacitus von ußerster Bildhaftigkeit gekennzeichnet: ventitare als Intensivform zu venire, die eine effektvolle Reihung mehrerer hmmernder t-Laute abschließt (multo comitatu ventitare), drîckt eindringlich die beharrliche und stndig wiederholte Mißachtung jeglicher Vorsicht aus, die prgnante Formulierung egressibus adhaerescere (‘sie hngte sich ihm beim Verlassen um den Hals’) offenbart in konzentrierter Form den leichtsinnigen ˜berschwang der Kaiserin. Historische Infinitive, ein „chiastischer Umschlag der Verben“576 (ventitare domum, egres572 Vgl. Mehl, 1974, 53; Keitel, 1977, 49. Beide verweisen auf die hnlich passive Silius-Figur bei Juvenal (10,330 – 345) und Cassius Dio ([Exc. Val., Xiph., Zon.] 60,31,1 – 5). 573 Vgl. Koestermann ad loc. 574 Dieses Verhalten fîgt sich gut in das Bild, das Tacitus in ann. 11,6 von dem Mann gezeichnet hat (s. o. S. 191 f.); vgl. Seif, 1973, 71. 575 Fallere hat hier die nicht seltene Bedeutung von kamh\meim ; s. Koestermann und Furneaux ad loc. 576 Koestermann ad loc.

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sibus adhaerescere, largiri opes…) und ein Asyndeton (opes honores; vgl. im folgenden servi liberti paratus) zeugen zustzlich von der leidenschaftlichen Ruhelosigkeit der Messalina.577 Die kurz zuvor geschilderte Hoffnung des Silius auf eine Geheimhaltung der Affre ist angesichts eines solchen Verhaltens zunichte gemacht,578 sein Untergang damit besiegelt. Daher nîtzt es ihm gar nichts, wenn sich seine andere hoffnungsvolle Erwartung, mit der er sich îber seine Lage hinwegzutrçsten versucht, nmlich die magna praemia, durch die opes honores erfîllt zu haben scheint.579 Vielmehr verschrfen die von Messalina gemachten Geschenke seine Lage nur, wie weiterhin deutlich wird. Ausdrîcklich sagt Tacitus im Zusammenhang mit den weiteren Gaben der Kaiserin, die schließlich einen betrchtlichen Teil des kaiserlichen Hofstaates umfaßt htten (servi liberti paratus principis), daß es schließlich so ausgesehen habe, als sei die Herrschaft bereits auf ihn îbergegangen (velut translata iam fortuna).580 Ohne sein Zutun wird er durch das unvorsichtige und selbstsîchtige Verhalten der Messalina zu einer immer grçßeren Bedrohung fîr Claudius. Da er sich gegen Messalina aus den bereits genannten Grînden nicht wehren kann, seine trçstenden Aussichten sich jedoch fast smtlich zerschlagen haben, wird ihm nichts anderes mehr îbrig bleiben, als die Flucht nach vorne anzutreten und den bisher nie beabsichtigten Kaisersturz schließlich doch ins Werk zu setzen.581 Folgerichtig tritt er ab ann. 11,26 aus seiner bisherigen Passivitt heraus.582 Mit Abschluß des zwçlften Kapitels hat Tacitus den ersten Teil seiner in ann. 11,5,3 ge577 Vgl. Keitel, 1977, 49. 578 Vgl. Seif, 1973, 71. 579 Die Frage, ob mit den honores auch die Designation des Silius zum Konsul gemeint ist, kann nicht zweifelsfrei geklrt werden (s. hierzu Seif, 1973, 72; vgl. Mehl, 1974, 57 mit Anm. 304), ist fîr das unmittelbare Verstndnis des Textes jedoch auch unerheblich. 580 Fortuna ist hier im Sinne von ‘Kaiserwîrde’ gebraucht; s. Koestermann und Furneaux ad loc. Zu weit geht Keitel, 1977, 49 mit ihrer Deutung: „The reader must wonder at this trivialization of empire. There is no mention of control of armies, provinces or legates. Dignitas and imperium have been reduced to the cosily domestic – slaves, freedman and household goods. This is appropriately the woman’s realm for it is Messalina not Claudius who controls the empire.“ Es darf doch nicht vergessen werden, daß es hier um Geschenke der Messalina an ihren Geliebten geht. Wie htte denn Messalina auch ganze Armeen oder gar Provinzen schenken kçnnen! Davon abgesehen ist es sicherlich schon bezeichnend genug, wenn sie Silius den paratus principis îberlßt. 581 Vgl. Seif, 1973, 72; Mehl, 1974, 55. 582 Dies im Unterschied zu den Silius-Darstellungen des Iuvenal und Cassius Dio; s. Mehl, 1974, 53 Anm. 273.

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machten Ankîndigung (… C. Silio consule designato, cuius de potentia et exitio in tempore memorabo) erfîllt und seinem Publikum die potentia des Silius vor Augen gefîhrt.583 Deren zweiter Teil, nmlich dessen exitium, wird auf die Fortfîhrung des Handlungsstranges an spterer Stelle verschoben. Zunchst wendet sich Tacitus anderen Themen zu.

3.3 Ann. 11,13 – 15: Die Zensur des Claudius Der Bericht îber die Zensur des Claudius teilt sich in zwei Blçcke (ann. 11,13 – 15 und 11,23 – 25) auf, die durch einen Einschub mit îberwiegend außenpolitischen Begebenheiten (ann. 11,16 – 21; erst ann. 11,22 handelt wieder von Ereignissen in Rom) getrennt werden.584 Nach der eindrucksvollen Schilderung des zîgellosen Treibens der Messalina lenkt Tacitus mit einem scharf kontrastierenden at die Augen des Lesers auf Claudius und dessen Ttigkeit als Zensor, s. ann. 11,13,1: At Claudius, matrimonii sui ignarus et munia censoria usurpans, theatralem populi lasciviam severis edictis increpuit, quod in Publium Pomponium consularem (is carmina scaenae dabat) inque feminas inlustres probra iecerat. Durch die scharfe Gegenîberstellung des ausschweifenden Lebensstils seiner Gattin und der strengen zensorischen Maßnahmen wird der Kaiser zu einer Karikatur seiner selbst.585 Obwohl Messalina alles andere als ein Hehl aus ihrer Affre zu Silius macht (man beachte, daß das auffllige und unvorsichtige Verhalten der Kaiserin unmittelbar im Satz zuvor seinen Hçhepunkt erreicht hat: servi liberti paratus principis apud adulterum visebantur), weiß der Kaiser vom Zustand seiner Ehe nichts, whrend er gleichzeitig als oberster Sittenrichter die munia censoria verrichtet. Ein kontrastierendes et lßt die vçllige Ahnungslosigkeit des 583 Die potentia des Silius geht aus ann. 11,12,3 (opes honores etc.) eindeutig hervor; vgl. Keitel, 1977, 49: „The political implications of the affair are the clearest in the climactic postremo, velut translata iam fortuna, servi liberti paratus principis apud adulterum visebantur […].“ Daher ist es nicht ganz richtig, wenn Mehl, 1974, 53 f. schreibt, daß der Leser an dieser Stelle nichts von der Macht erfahre, die Tacitus an frîherer Stelle angedeutet habe, whrend ihm die Ohnmacht des Silius um so deutlicher vor Augen gefîhrt werde. Die Ohnmacht des Silius besteht lediglich in seiner Hilflosigkeit gegenîber Messalina! 584 Zu dieser Einteilung s. Seif, 1973, 75; Wille, 1983, 487; Mehl, 1974, 58 Anm. 309. 585 Vgl. Keitel, 1977, 50; Mehl, 1974, 56.

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Claudius wirkungsvoll mit seinem Verhalten aufeinanderprallen.586 Das Verb usurpare – vordergrîndig sicherlich neutral im Sinne von ‘ausîben’ oder ‘ausfîhren’ zu verstehen – ist aufgrund seiner mehrdeutigen Semantik in der Lage, im ironischen Kontext seiner Verwendung zustzlich den Beigeschmack der widerrechtlichen Amtsanmaßung zu entfalten:587 Ein Mann, dessen Frau in aller §ffentlichkeit derart unsittlich lebt, der obendrein so blind ist, daß er von diesem hemmungslosen Treiben seiner Gattin nichts bemerkt, scheint fîr das Zensorenamt jedenfalls vçllig ungeeignet zu sein. Der ironische Kontrast wird weiter auf die Spitze getrieben, wenn Claudius mit ußerster Energie und Strenge (severis edictis increpuit) gegen die theatralis lascivia des einfachen Volkes vorgeht, die gemessen am lasziven Verhalten der Messalina eine lcherliche Lappalie ist.588 Whrend der Kaiser peinlich genau darauf achtet, daß die Ehre ‘erlauchter Damen’ nicht durch Beleidigungen beschmutzt wird, scheint seine eigene Frau jegliches Ehrempfinden verloren zu haben.589 Nach diesen einleitenden Stzen kommen die nun im Anschluß vorgebrachten und durchaus positiv zu bewertenden weiteren zensori586 Vgl. Koestermann ad loc.: „et hebt mit bedeutungsvoller Ironie den Kontrast hervor.“; vgl. Furneaux ad loc. 587 Vgl. G&G 1709 f.; unsere Stelle wird aufgefîhrt unter ‘B) i. q. in gebrauch haben, ausîben’ (1710). der gleiche Wortgebrauch findet sich – wenn auch in etwas anderer Bedeutung – wenig spter in ann. 11,16,2 auf den Cheruskerfîrsten Italicus bezogen: … modo comitatem et temperantiam, saepius vinolentiam ac libidines usurpans (s. hierzu u. S. 218 f.). Vçllig wertneutral hingegen ist die Anwendung des Wortes in ann. 11,25,1: datum id foederi antiquo, et quia soli Gallorum fraternitatis nomen cum populo Romano usurpant; Mehl, 1974, 56 verweist in Anlehnung an T. Grigull: De auctoribus a Tacito in enarranda Divi Claudii vita adhibitis, Diss. Mînster 1907, 24 auf ann. 6,11,1 und mçchte den den Ausdruck „rein technisch“ werten; vgl. zustzlich ann. 11,3,2 (îber Asiaticus): usurpatis quibus insueverat exercitationibus. 588 Vgl. Seif, 1973, 74; Mehl, 1974, 56. 589 Vgl. Keitel, 1977, 51 zum strengen Vorgehen des Kaisers gegen die theatralis populi lascivia: „The first [decree] may be a satiric joke on Claudius’ ignorance of his own wife’s indiscretions. Claudius does not realize that Messalina herself may be the object of the lampoons“; Devillers, 1994, 176; Vessey, 1971, 394, dessen zustzlicher Versuch, auch die kaiserlichen Maßnahmen gegen die creditores (s. das Folgende) symbolisch zu deuten („The glance here is to the future. Sons must be protected from unwise actions taken during their fathers’ lifetime. But the emperor was himself to fail entirely in protecting his own son from the saevitia of his stepmother. Worse still that sons should be forced to long their fathers’ death as the only way to escape from debt. Claudius’ adopted son was to gain the empire by patricide.“) hingegen allzu gezwungen erscheint; vgl. hierzu die berechtigten Einwnde Seifs, 1973, 76 Anm. 21 und Keitels, 1977, 76 Anm. 57.

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schen Maßnahmen des Claudius nicht mehr richtig zur Geltung; zu sehr stehen auch sie unter dem Eindruck des ironisch-spçttischen Kontrastes zum Verhalten der Kaiserin,590 s. ann. 11,13,2: et lege lata saevitiam creditorum coercuit, ne in morte parentum pecunias filiis familiarum faenori darent; fontesque aquarum Simbruinis collibus deductos urbi intulit; ac novas litterarum formas addidit vulgavitque, comperto Graecam quoque litteraturam non simul coeptam absolutamque. Die kommentarlose Aneinanderreihung zweier ußerst sinnvoller Neuerungen, nmlich der Einschrnkung der Praktiken schamloser Geldverleiher und der Fertigstellung einer neuen Wasserleitung nach Rom, wird der eigentlichen Leistung des Claudius kaum gerecht.591 In knappen Stzen gleitet der Historiker darîber hinweg, um dann ausfîhrlich (vgl. den anschließenden Exkurs îber die Entwicklung der Schrift!) bei der Reform des Alphabets durch Claudius zu verweilen, die fîr die Belange der Stadt Rom und ihrer Geschichte jedoch von vergleichsweise untergeordneter Bedeutung war, wie Tacitus im folgenden selbst erkennen lßt (s. u.). Diese merkwîrdige Gewichtung des Materials mag zum Teil auch mit dem persçnlichen Interesse des Tacitus zusammenhngen,592 erweist sich bei nherer Betrachtung jedoch auch als geschicktes Mittel, um enorm wichtige und positive Verordnungen des Claudius im Gesamtbericht 590 Seif, 1973, 74 mißachtet das Besondere der taciteischen Darstellung, wenn er die zensorischen Handlungen des Kaisers von dem Erzhlstrang rund um die Ausschweifungen der Messalina abkoppelt, fîr sich betrachtet und dabei zu dem Ergebnis kommt, „daß Tacitus […] die Leistungen des Claudius als censor im großen und ganzen frei von polemischer Verzeichnung und bçswilliger Kritik zur Darstellung gebracht hat, ja, daß dieser Komplex sogar ein durchaus positives Bild des Claudius vermittelt.“ Abgesehen davon, daß eine strikte Trennung der beiden Handlungsstrnge der Intention des Autors massiv zuwiderlaufen dîrfte, hat Seif bei seinem Urteil verschiedene andere Signale im Text des Historikers îbersehen, die im folgenden noch behandelt werden mîsssen. Wenn Tacitus, wie Seif in diesem Zusammenhang bemerkt, vor dem „Wust alberner Geschichtchen“ (a.a.O.) zurîckschreckt, mit denen Sueton (Claud. 16) die Zensur des Claudius in Verbindung bringt, so tut er dies sicherlich, um seinem Bericht mehr Ernsthaftigkeit zu verleihen. Dies hindert ihn aber keineswegs daran, die Leistungen des Kaisers auf subtile Weise zu schmlern; vgl. Wille, 1983, 482 f.; Keitel, 1977, 50 f.; Vessey, 1971, 393 f. 591 Wenn man bedenkt, daß es sich bei der hier erwhnten Wasserleitung wohl um den grçßten aller Aqudukte gehandelt hat (vgl. Plin. NH 36,122; Suet. Claud. 20,1 zhlt sie an erster Stelle zu den opera magna … ac necessaria des Kaisers), ist es erstaunlich, wie wenig Interesse Tacitus fîr dieses gewaltige und nîtzliche Bauprojekt îbrig hat; vgl. Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 51. 592 Vgl. Koestermann ad loc.; Seif, 1973, 77.

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untergehen zu lassen. Der Kaiser ist in seiner Ttigkeit als Zensor insgesamt von einer sonst ungewohnten Agilitt und energischer Entschlußkraft geprgt.593 Bezeichnenderweise verfolgt Tacitus dabei den Zweck, seine Maßnahmen nicht nur als recht unbedeutend, sondern auch als erfolglos erscheinen zu lassen,594 wie insbesondere das folgende Kapitel zeigt. Die Alphabetsreform des Claudius gibt dem Historiker Anlaß zu einem ausfîhrlich angelegten kulturgeschichtlichen Exkurs îber die Entwicklung und Verbreitung des Schriftwesens von den øgyptern bis hin zu den Etruskern und Italikern, s. ann. 11,14,1 – 3: Primi per figuras animalium Aegyptii sensus mentis effingebant – ea antiquissima monimenta memoriae humanae impressa saxis cernuntur –, et litterarum semet inventores perhibent; inde Phoenicas, quia mari praepollebant, intulisse Graeciae gloriamque adeptos, tamquam reppererint, quae acceperant. quippe fama est Cadmum classe Phoenicum vectum rudibus adhuc Graecorum populis artis eius auctorem fuisse. Quidam Cecropem Atheniensem vel Linum Thebanum et temporibus Troianis Palamedem Argivum memorant sedecim litterarum formas, mox alios ac praecipuum Simoniden ceteras repperisse. at in Italia Etrusci ab Corinthio Demarato, Aborigines Arcade ab Euandro didicerunt; et forma litteris Latinis quae veterrimis Graecorum. sed nobis quoque paucae primum fuere, deinde additae sunt. quo exemplo Claudius tres litteras adiecit, quae usu imperitante eo, post obliteratae, adspiciuntur etiam nunc in aere publico [dis plebiscitis] per fora ac templo fixo. Nicht zuletzt die umfassende, bis ins Pedantische gesteigerte Gelehrsamkeit dieses Exkurses mit all ihren mythologischen Details und Varianten lßt vermuten, daß die Worte des Tacitus hier unmittelbar auf Claudius selbst zurîckgehen, der fîr sein antiquarisches Interesse bekannt gewesen ist: Als mçgliche Quellen kommen eine Rede des Kaisers in Betracht oder auch dessen Monographie îber das Alphabet, von der Sueton (Claud. 41,3) im gleichen Zusammenhang berichtet.595 Freilich 593 Vgl. Keitel, 1977, 50. Entsprechend hufig kommt Claudius whrend des Berichts îber seine Zensur als Subjekt eines Satzes vor, was ansonsten eher selten der Fall ist; vgl. Wille, 1983, 482 Anm. 9. 594 Dies gilt jedenfalls in Bezug auf den ersten Teil der Darstellung îber die Zensur des Claudius (ann. 11,13 – 15). 595 S. Syme, 1958, 704 f. zu diesem und noch zwei anderen Exkursen; 705: „It is a fair assumption that these three digressions come from imperial orations by the way of the acta senatus“; vgl. Keitel, 1977, 52; R. Papke: Des Kaisers neue Buchstaben. Claudius in Tac. ann. 11,14 und Sen. apocol. 3,4, WJA 12, 1986, 183 – 196, hier 183 (Anm. 1 bietet einen ˜berblick îber die einschlgige Lite-

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dîrfen wir in diesem Fall davon ausgehen, daß Tacitus seine Vorlage gekîrzt und fîr seine Zwecke bearbeitet hat. Der Schlîssel zum Verstndnis der taciteischen Darstellung dîrfte nun in der eigenen Stellungnahme des Historikers liegen, die den Exkurs beendet und rîckblickend als Satire auf das allgemein bekannte antiquarische Interesse des Claudius erscheinen lßt.596 Die Bemerkung, daß die drei von Claudius eingefîhrten Buchstaben noch heute auf çffentlichen Erztafeln zu finden seien (adspiciuntur etiam nunc in aere publico), erinnert inhaltlich an die eingangs gemachte Bemerkung îber die Hieroglyphen der øgypter, welche man als die ltesten Zeugnisse menschlicher ˜berlieferung in Fels gehauen sehen kçnne (ea antiquissima monimenta memoriae humanae impressa saxis cernuntur). Durch diesen Rîckbezug wird die uralte und ehrwîrdige Schrifttradition der øgypter, die sich zudem als litterarum inventores rîhmen dîrfen, mit Claudius als dem ‘Erfinder’ neuer Schriftzeichen ironisierend auf eine Stufe gestellt.597 Whrend die antiquissima monimenta memoriae der øgypter offenbar îber Jahrtausende Bestand gehabt haben, scheinen die neuen Buchstaben die Regierungszeit des Claudius nicht lange îberdauert zu haben: quae in usu imperitante eo, post obliteratae.598 Man beachte, daß das hier gebrauchte Verb obliterare

ratur und die Forschungsdiskussion). Unter Voraussetzung dieser Quellenlage hat Papke den Exkurs bei Tacitus untersucht und vor dem Hintergrund der antiken ‘heurematologischen Buchstaben-Literatur’ die wissenschaftliche Leistung des Kaisers gewîrdigt: „Die Interpretation der Tacitus-Stelle zeigt: Claudius stand nicht nur auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau, er muß auch seine Gedanken in der §ffentlichkeit mit großem Anspruch vorgetragen haben: Er stellte sich als Schrifterfinder in eine Reihe mit bedeutenden Persçnlichkeiten der Vergangenheit und sah sich selbst als Vollender des lateinischen Alphabets“ (a.a.O. 191). 596 Vgl. Keitel, 1977, 51 f.; Syme, 1958, 514 f.; Vessey, 1971, 394. Walkers Urteil (1952, 46), wonach der Exkurs „no dramatic relevance“ besitze und lediglich der unterhaltsamen Zerstreuung des Lesers diene (vgl. Seif, 1973, 77: „Dieser kulturgeschichtliche Exkurs ist lose eingefîgt und trgt zum Verstndnis des Berichtes nichts bei“), muß in diesem Sinne ebenso eingeschrnkt werden wie Koestermanns ad ann. 11,13,2 (S. 52) geußerte Vermutung, daß der Historiker die Mçglichkeit genutzt habe „seiner Erzhlung lumina aufzusetzen.“ 597 Vgl. Keitel, 1977, 53 f.; O’Gorman, 2000, 110 f. 598 Zu diesem Gedanken s. O’Gorman, 2000, 114; Koestermann ad loc.: „Tacitus selbst macht sich anscheinend îber die gelehrten Einflle des Kaisers ein wenig lustig“; Wille, 1983, 484: „Gemessen an der Dauerhaftigkeit gyptischer Hieroglyphen wirkt seine ephemere Neuerung lcherlich.“

3.3 Ann. 11,13 – 15: Die Zensur des Claudius

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genau auf den hier gegebenen Sachverhalt (litterae!) zugeschnitten ist.599 Die hier zugrunde liegende Paronomasie lßt ein îbertragenes Verstndnis der Vokabel im Sinne von ‘in Vergessenheit bringen’, ‘aus dem Gedchtnis streichen’ in den Hintergrund treten, indem sie den Leser vielmehr zurîck zu deren ursprînglicher Bedeutung ‘auslçschen’, ‘tilgen’ mit speziellem Bezug auf bildliche und schriftliche Darstellungen fîhrt.600 Erzeugt wird ein Bild von gewaltiger Zerstçrungskraft, welches das Aussterben der neuen Buchstaben eindrucksvoll zur Darstellung bringt. Diesem Gesamteindruck entspricht es, daß sich Tacitus trotz des langen und tiefschîrfenden Exkurses nicht die Mîhe macht, die drei neuen Buchstaben des Kaisers konkret zu benennen, und auch auf diese Weise zu verstehen gibt, von welch geringer Bedeutung die kurzlebige kaiserliche Alphabetsreform fîr die Geschichte des Schriftwesens gewesen ist. Damit hat sich gerade die Maßnahme, die im ersten Teil des Berichtes îber die Zensur des Claudius (ann. 11,13 – 15) am ausfîhrlichsten behandelt wird und deshalb dem Leser am besten im Gedchtnis bleiben wird, als totaler Fehlschlag erwiesen.601 Vor dem Hintergrund der mittlerweile staatsgefhrdenden Umtriebe und Ausschweifungen der Messalina wird die Person des Claudius an dieser Stelle zu der eines verschroben-naiven Trottels herabgewîrdigt, der sich im Rahmen seines antiquarischen Interesses um gelehrte Belanglosigkeiten kîmmert und dabei derart in seiner eigenen Welt zu leben scheint, daß er offenbar als einziger nicht wahrnimmt, wie er als Ehemann und Herrscher in aller §ffentlichkeit betrogen wird. Auch im folgenden Kapitel dient der Eindruck der weltfremden Schrulligkeit der Relativierung der kaiserlichen Zensorenttigkeit. Diesmal geht es inhaltlich um die Fîrsorge des Kaisers fîr das Kollegium der Opferschauer. Tacitus behandelt das Thema, indem er eine Senatsrede des Kaisers wiedergibt,602 s. ann. 11,15,1 – 3: Rettulit deinde ad senatum super collegio haruspicum, ne vetustissima Italiae disciplina per desidiam exolesceret. saepe adversis rei publicae temporibus accitos, quorum monitu redintegratas caerimonias et in posterum rectius habitas; primoresque Etruriae 599 Beide Wçrter lassen sich auf linere zurîckfîhren; vgl. ThLL IX,2, Sp. 104, 72 ff..; OLD s. v. littera bzw. oblittero; A. Walde/J. B. Hofmann: Lateinisches etymologisches Wçrterbuch, Bd. I (A-L), Heidelberg 1938, 814 f. s. v. littera. 600 Vgl. ThLL IX,2, Sp. 105, 76 ff. 601 Vgl. Devillers, 1994, 291: „C’est donc sur un ¤chec de l’empereur que la digression attire l’attention.“ 602 Als Quelle kommen auch hier mçglicherweise die acta senatus in Betracht; vgl. Syme, 1958, 616 Anm 4; 704 f.; Koestermann ad ann. 11,15,1.

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3. Ann. 11,11 – 15: Die Skularspiele im Jahr 47

sponte aut patrum Romanorum impulsu retinuisse scientiam et in familias propagasse. quod nunc segnius fieri publica circa bonas artes socordia, et quia externae superstitiones valescant. et laeta quidem in praesens omnia, sed benignitati deum gratiam referendam, ne ritus sacrorum inter ambigua culti per prospera obliterarentur. factum ex eo senatus consultum, viderent pontifices quae retinenda firmandaque haruspicum. Wie der Exkurs îber die Entwicklung der Schrift, so wartet auch die Rede des Claudius super collegio haruspicum mit gelehrten antiquarischen Einzelheiten auf, die das exzentrische Interesse des Kaisers an altertîmlichen Einrichtungen (vetustissima … disciplina) belegen. Als Verfasser einer 20 Bîcher umfassenden Etruskergeschichte (Suet. Claud. 42,2) galt Claudius insbesondere in der Materie der Opferschauer den Zeitgenossen des Tacitus als ausgewiesener Experte.603 Man darf davon ausgehen, daß der Historiker mit seinen dem Kaiser in den Mund gelegten Worten (primoresque Etruriae …) genau darauf anspielen mçchte. Keitel sieht in dem Kapitel ann. 11,15 eine ‘ironische Dublette’ zu ann. 11,14: Hatte der Kaiser dort mit seiner Buchstabenreform eine nutzlose Neuerung eingefîhrt, so ist er nun bestrebt, eine fast in Vergessenheit geratene Institution wieder aufleben zu lassen, wobei die auffllige Wiederholung des Verbs obliterare (vgl. ann. 11,14,3) einen Hinweis auf den mangelnden Nutzen auch dieser Bemîhungen gibt.604 Immer noch wirkt der Kontrast zum Verhalten der Messalina sowie der diesbezîglichen Unwissenheit des Claudius nach und lßt die ehrwîrdigen und stark moralisierenden Ausfîhrungen des Kaisers grotesk erscheinen. Wçrter und Phrasen wie per desidiam, segnius, socordia wenden sich im Munde des ahnungslosen Claudius ironisch gegen ihn selbst.605 Whrend er die Vernachlssigung einer vetustissima disciplina angeblich zum Wohle des Staates bekmpft (vgl. saepe adversis rei publicae temporibus accitos [sc. haruspices]), gefhrdet gerade seine intensive Beschftigung mit solchen altertîmlichen Wissenschaften, wenig spter sogar bonae artes genannt, erst recht den Bestand der res publica, da sie ihn nicht erkennen lßt, welch ernste Bedrohung von dem Treiben seiner Gattin ausgeht.606 Der îbertriebene Traditionalismus des Kaisers erweist sich damit als eine viel schdlichere 603 604 605 606

Vgl. Seif, 1973, 77 f. S. Keitel, 1977, 54; dieser Ansicht folgt auch Wille, 1983, 484. Vgl. Vessey, 1971, 394 Anm. 31; Keitel, 1977, 55. Vgl. Keitel, 1977, 55 mit einer etwas zu schwachen Akzentuierung: „[…] bonae artes in Claudius’ case are nothing but arcane studies which do not benefit the people.“

3.3 Ann. 11,13 – 15: Die Zensur des Claudius

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Verirrung als die von ihm angeprangerten externae superstitiones.607 Diese unterschwellige Ironie erreicht schließlich ihren Gipfelpunkt, wenn der Kaiser die gegenwrtige Lage als ‘in jeder Beziehung erfreulich‘ (et laeta quidem in praesens omnia) bezeichnet.608 Eine solche Auffassung steht nicht nur in hartem Widerspruch zu der in ann. 11,12 geschilderten Situation, sondern auch zu dem Gesamtbild, das seit dem Bericht îber den Prozeß gegen Asiaticus und Poppaea Sabina vom Zustand der innerrçmischen Verhltnisse gezeichnet worden ist: Intrigen, falsche An607 Keitels Deutung (1977, 55), wonach die externae superstitiones auf die ausschweifende Bacchanalienfeier der Messalina (ann. 11,31,2) oder gar auf die sptere inzestuçse Verbindung des Claudius mit Agrippina – von Vitellius in ann. 12,6,3 mit dem Hinweis auf die Sitten anderer Vçlker dîrftig gerechtfertigt – gemînzt sein kçnnten, erscheint mir zu gezwungen, zumal sich ein solcher ‘Querverweis’ dem Leser erst im Nachhinein erçffnen kçnnte und daher an dieser Stelle keinerlei Wirkung htte. Seif, 1973, 78 hingegen weist auf die anderenorts erkennbare Abneigung des Tacitus gegenîber solchen externae superstitiones (s. ann. 15,44,3 – 5; hist. 5,13,1) hin und zieht daraus den Schluß, daß der Historiker die Bemîhungen des Claudius sicherlich positiv gesehen habe (hnlich Devillers, 1994, 234; vgl. Koestermann ad ann. 11,15,1). Dies mag durchaus richtig sein, doch lßt Tacitus an der hier verhandelten Stelle keinerlei Zustimmung oder Billigung deutlich werden. Zu Seifs Deutung der Kapitelreihe ann. 11,13 – 15 s. o. Anm. 590. 608 Womçglich liegt hier eine beabsichtigte Reminiszenz an Hor. carm. 2,16,25 ff. (laetus in praesens animus quod ultra est / oderit curare et amara lento / temperet risu. nihil est ab omni / parte beatum) vor, welche die øußerung des Kaisers zustzlich satirisch untermalen soll; vgl. Koestermann ad loc; Keitel, 1977, 55 f., die in Einzelheiten jedoch zu weit zu gehen scheint, insbesondere, wenn sie in Anlehnung an F. C. Bourne: Poetic Economy in the Annals of Tacitus, CJ 46, 1951, 174 und unter Verweis auf Tac. hist. 2,70,2 (quae laeta in praesens mox perniciem ipsis fecere) und hist. 3,6,1: (laeta ad praesens male parta mox in perniciem vertere) sich zu dem Gedanken versteigt, daß der Historiker durch die Horaz-Reminiszenz auch auf zukînftiges Unheil hinweisen wolle. Weder der Kontext der Annalenstelle noch der Inhalt der zitierten Horaz-Verse, die lediglich von der Sorge um die ungewisse Zukunft und die ‘bitteren Dinge’ des Lebens abraten, bieten fîr eine solche Vermutung irgendwelche Anhaltspunkte. Ebenso gewagt erscheint Keitels These (a.a.O. 56), daß Tacitus mit der Formulierung laeta in praesens omnia auch an seine Augustus-Chrakteristik in ann. 1,4,1 (nulla in praesens formidine, dum Augustus aetate validus seque et domum et pacem sustentavit) erinnern wollte, um durch einen Verweis auf das große Vorbild des Claudius eine zustzliche Ironie zu erzeugen, welche in der Hauptsache auf die kçrperliche und geistige Schwche des vierten Princeps abziele. Daß der Leser, mittlerweile bereits im im elften Buch der Annalen angelangt, allein aufgrund der Junktur in praesens plçtzlich an den auch im Alter noch rîstigen Augustus des ersten Annalenbuches als Kontrastfigur zu dem noch relativ jungen, doch altersschwach erscheinenden Claudius denken sollte, ist vçllig abwegig.

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klagen, ungerechtfertigte Todesurteile, die sich abzeichnende Rivalitt zwischen Domitius und Britannicus – all dies lßt an dieser Stelle die optimistische Sicht des Kaisers als eklatante Fehleinschtzung erscheinen. Dieses deutliche Zeichen seiner Naivitt und Ignoranz tritt dem Leser um so schrfer vor Augen, als der Princeps sogar noch eine benignitas deum am Werke sieht,609 der man dadurch Dank erweisen mîsse, daß man die heiligen Bruche, die in Notlagen Beachtung gefunden htten, auch im Glîck nicht in Vergessenheit geraten ließe (ne ritus sacrorum inter ambigua culti per prospera obliterarentur),610 und ausgerechnet mit dieser øußerung sein Eintreten fîr den Erhalt der alten Institutionen rechtfertigt. Seine Gegenîberstellung von gefhrlichen (ambigua) und glîcklichen (prospera) Zeiten stellt eine ironisch wirkende Vertauschung der Realitten dar. Whrend er sich und den Staat offenbar in seliger Lage und fernab jeglicher Gefhrdung whnt, verhalten sich die Dinge fîr den wissenden Leser genau anders herum: Gerade jetzt sind die Verhltnisse eben nicht prospera, sondern ambigua.611 Entsprechend steht auch der feierliche Ton, mit dem zum Ende des Kapitels der in dieser Angelegenheit ergangene Senatsbeschluß wiedergegeben wird,612 in einem deutlichen Mißverhltnis zur tatschlichen Lage des Staates. Auf diese Weise macht sich Tacitus auch insgesamt lustig îber das politische Treiben in Rom.613

609 Zum Gebrauch dieser ‘konventionellen Phrase’ bei Tacitus s. Syme, 1958, 707 f; Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 56. 610 Zur Brachylogie des Ausdrucks (gratiam referendam, ne … obliterarentur = ‘die Dankbarkeit muß darin bestehen daß nicht …’) s. die Kommentare ad loc. 611 S. Keitel, 1977, 56. 612 Vgl. Koestermann ad loc; Seif, 1973, 78, der darin wiederum ein Zeichen der Billigung des Tacitus sehen mçchte. 613 M. Griffin: Claudius in Tacitus, CQ 40, 1990, 482 – 501 vertritt hingegen die Ansicht, daß Tacitus in ann. 11,15 kein Zeichen der Mißbilligung zeige (a.a.O. 484): „Tacitus shows no sign of disapproval when Claudius adduces arguments to persuade the Senate to strengthen the college of the haruspices (11.15), combining his enthusiasm for things Etruscan with a distrust of foreign superstition.“ Diese Meinung kann jedoch nur auf vordergrîndiger Ebene geltend gemacht werden. Die Kritik des Tacitus offenbart sich erneut zwischen den Zeilen seines Berichtes.

4. Ann. 11,16 – 21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien Tacitus unterbricht die Thematik der kaiserlichen Zensur durch einen Einschub îber außenpolitische Ereignisse, die untereinander recht locker durch den Schauplatz Germanien und ihre Chronologie verbunden sind. Es kçnnen folgende drei Teile voneinander geschieden werden: Die Entsendung des in Rom lebenden Cheruskerfîrsten Italicus in seine Heimat (ann. 11,16 – 17), die Kmpfe Corbulos gegen die Chauken und Friesen (ann. 11,18 – 20,2) und die Aktionen des Curtius Rufus im Gebiet der Mattiaker, verbunden mit einer kurzen Biographie des Feldherrn (ann. 11,20,3 – 11,21).614

4.1 Ann. 11,16 – 17: Die Entsendung des Cheruskerfîrsten Italicus in seine Heimat Die ˜berleitung von den Ereignissen in der Hauptstadt des Reiches zu denen in Germanien erfolgt beinahe nahtlos: Der Volksstamm der Cherusker, durch innere Kriege seines Adels beraubt, erbittet von Rom seinen dort lebenden Stammesfîrsten Italicus als neuen Kçnig. Der Kaiser gewhrt den Wunsch und entsendet den stattlichen und im Kriegshandwerk vielfltig geîbten Mann, der ein Sohn des Flavus und Neffe des Arminius ist, in seine germanische Heimat (ann. 11,16,1). Dort wird er zunchst mit viel Wohlwollen und Freude aufgenommen, erregt jedoch bald den Neid und das Mißtrauen einiger seiner Stammesangehçrigen, die sich zu den benachbarten Stmmen begeben, diese in einer Schmhrede gegen Italicus aufwiegeln und eine große Streitmacht gegen ihn zusammenbringen (ann. 11,16,2 – 11,17,1). Italicus wendet sich in einer Gegenrede gegen seine Widersacher, mobilisiert seine Anhngerschaft und vermag sich in einer Schlacht als Kçnig zu behaupten. Hierdurch zum ˜bermut verleitet, erleidet er in der Folge 614 Zu dieser Einteilung vgl. Pfordt, 1998, 90; Seif, 1973, 85; Keitel, 1977, 57; Wille, 1983, 484 – 486.

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4. Ann. 11,16 – 21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien

wiederum eine Niederlage, wird vertrieben und schließlich mit Hilfe der Langobarden wieder eingesetzt (ann. 11,17,1 – 3). Fortan habe er die Macht der Cherusker îber gute wie schlechte Zeiten hinweg (per laeta per adversa) zerrîttet, so das abschließende Urteil des Tacitus. Die Darstellung in ann. 11,16 – 17 verdient nicht nur aufgrund ihrer Ausgestaltung in Rede und Gegenrede das besondere Interesse unserer Analyse. Auch andere Punkte lassen sich im Hinblick auf leserlenkende Mittel untersuchen. Bemerkenswert ist etwa die Ausdrucksweise, mit der das Verhalten des Italicus nach seiner Ankunft in Germanien beschrieben wird, s. ann. 11,16,2: ac primo laetus Germanis adventus, atque eo, quod nullis discordiis imbutus pari in omnes studio ageret, celebrari coli, modo comitatem et temperantiam, nulli invisa, saepius vinolentiam ac libidines, grata barbaris, usurpans … Die hier gewhlte Diktion erinnert stark an die Wortwahl, mit der nur wenige Kapitel zuvor die zensorische Ttigkeit des Claudius umschrieben wurde (ann. 11,13,1: munia censoria usurpans), mag die semantische Bedeutung des Partizips an dieser Stelle auch eine etwas andere sein.615 Nun ist die Annahme, daß Tacitus hier Begriffe wie vinolentia und libidines mit dem Kaiser in Rom in Verbindung gebracht wissen wollte, um ihn unterschwellig als barbarische Natur (vgl. grata barbaris) erscheinen zu lassen, allerdings problematisch, da Italicus neben diesen negativen Eigenschaften ja auch ausdrîcklich comitas und temperantia zeigt, die in syntaktischer Hinsicht ebenfalls von usurpans abhngig sind, jedoch als Charaktermerkmale gar nicht in das taciteische Claudiusbild passen mçchten.616 Was jedoch ohne eine allzu starke Pressung der Darstellung festgehalten werden kann, ist der Umstand, daß der rçmische Kaiser und ein ‘barbarischer’ Stammesfîrst durch den exakt gleichen Wortgebrauch, der ihre Handlungen beschreibt, in ihrem Ver615 Vgl. die jeweilige Einordnung der beiden Stellen im Lexicon Taciteum (G&G 1709 f.). 616 Dies scheint Keitel, 1977, 57 f. (und in hnlicher Weise auch Vessey, 1971, 395) zu vergessen, wenn sie davon ausgeht, daß der Leser durch die hier gegebenen Begriffe der vinolentia und libidines (sowie an spterer Stelle superbia; ann. 11,17,3) auf die Verhltnisse am Kaiserhof und insbesondere auf den Charakter des Claudius und der Messalina verwiesen wird. Eine solche Ansicht birgt zudem die Schwierigkeit, daß sich alle Belege fîr einen Bezug von vinolentia oder libidines auf den vierten Princeps bzw. seine Gattin (s. Keitel, 1977, 77 Anm. 74) erst nach der hier verhandelten Stelle befinden, wobei freilich nicht auszuschließen ist, daß Tacitus in dem verlorenen Teil der Annalen bereits auf diese Eigenschaften der betreffenden Personen aufmerksam gemacht hat; vgl. Pfordt, 1998, 91 Anm. 314. Auf die auffllige Wiederholung des Partizips usurpans geht Keitel nicht ein.

4.1 Ann. 11,16 – 17: Die Entsendung des Cheruskerfîrsten

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halten auf eine Stufe gestellt werden. Der Leser kann dies in jedem Fall nur als Abwertung des Claudius verstehen. Kommen wir nun zu den Argumenten, welche die Gegner des Italicus in ihrer Schmhrede bei den benachbarten Stmmen ins Feld fîhren. Tacitus hat sie relativ ausfîhrlich in indirekter Rede wiedergegeben, s. ann. 11,16,2 – 3: iamque apud proximos, iam longius clarescere [sc. Italicus], cum potentiam eius suspectantes, qui factionibus floruerant, discedunt ad conterminos populos ac testificantur adimi veterem Germaniae libertatem et Romanas opes insurgere. adeo neminem isdem in terris ortum, qui principem locum impleat, nisi exploratoris Flavi progenies super cunctos attollatur? frustra Arminium praescribi: cuius si filius hostili in solo adultus in regnum venisse, posse extimesci, infectum alimonio servitio cultu, omnibus externis: at si paterna Italico mens esset, non alium infensius arma contra patriam ac deos penates quam parentem eius exercuisse. Die hier geußerten Einwnde gegen die Herrschaft des Italicus beziehen sich hauptschlich auf dessen Abstammung und rçmische Erziehung. Damit wenden sie sich gerade gegen die Eigenschaften des Cheruskerfîrsten, die Claudius zuvor bei dessen Entsendung nach Germanien als besonders vorteilhaft hervorgehoben hat, s. ann. 11,16,1: igitur Caesar auctum pecunia, additis stipatoribus, hortatur gentile decus magno animo capessere: illum primum Romae ortum nec obsidem, sed civem ire externum ad imperium.617 Liegt in den øußerungen der Italicus-Gegner also eine indi617 Vgl. Pfordt, 1998, 91; Seif, 1973, 86. Devillers, 1994, 223 f. macht in Anlehnung an J. N. Keddie: Italicus and Claudius. Tacitus Annals XI, 16 – 17, Antichthon 9, 1975, 54 auf sprachliche und inhaltliche Rîckbezîge zu ann. 2,9 – 10, wo ebenfalls von Flavus die Rede ist, aufmerksam: „Ce rapprochement non seulement est explicite (XI,16,3: exploratoris Flavi progenies), mais il se d¤veloppe ” travers diverses similitudes d’ordre lexical […]: a) entre II,9,3 (aucta stipendia) et XI,16,1 (auctum pecuniis); b) entre II,9,3 (servitii) et XI,16,3 (servitio); c) entre II,10,1: (magnitudinem Romanam, opes Caesaris) et XI,16,2 (Romanas opes); d) entre II,10,1 (fas patriae, libertatem avitam) et XI,16,2 (veterem Germaniae libertatem) ainsi que 16,3 (arma contra patriam); e) entre II,10,1 (penetralis Germaniae deos) et XI,16,3 (deos penates).“ Devillers zieht daraus folgenden Schluß (a.a.O.): „En assimilant de la sorte Italicus ” son pºre, qui a ¤t¤ odieux aux Germains, Tacite suggºre que le choix de Claude est inacceptable pour de nombreux patriotes germains.“ Jedoch sind die hier aufgezeigten Parallelen keineswegs so schlagend, daß man unbedingt von einem bewußten Rîckbezug seitens des Tacitus ausgehen muß. Die meisten der sprachlichen Gemeinsamkeiten ergeben sich fast zwangslufig aus der Gleichartigkeit des jeweils behandelten Themas. Beide Stellen beleuchten den Gedanken eines freien und von Rom unabhngigen Germanien aus der Perspektive der Cherusker. In diesem Kontext sind Vokabeln wie servitium, patria, deos und libertas sicherlich nicht so

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4. Ann. 11,16 – 21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien

rekte Kritik des Tacitus an der Maßnahme des Claudius vor? Seif hat eine solche Vermutung mit dem Hinweis auf den fîr die Rçmer letzten Endes recht erfolgreichen Ausgang der gesamten Unternehmung zurîckgewiesen.618 Doch muß man m. E. eine Trennlinie ziehen zwischen ursprînglicher Absicht und tatschlicher Wirkung der kaiserlichen Entscheidung, die auch im Bericht des Tacitus deutlich zum Vorschein kommt. Als der Princeps Italicus als neuen Kçnig der Cherusker nach Germanien schickte, tat er dies in der festen ˜berzeugung, hierfîr den richtigen Kandidaten gefunden zu haben. Seine ˜berlegungen hinsichtlich der besonderen Eignung seines Schîtzlings erwiesen sich trotz anfnglicher Erfolge jedoch relativ rasch als vollkommen irrig. In diesem Licht betrachtet, scheint aus den Worten der Italicus-Gegner zumindest eine vçllige Fehleinschtzung der außenpolitischen Situation seitens des Kaisers hervorzuschimmern, die durch das Pathos der zuvor an Italicus ergangenen Worte des Claudius zustzlich in den Bereich des Lcherlichen gert.619 Die Gegenrede des Italicus vermag die Argumente seiner Gegner zwar weitgehend zu entkrften (s. ann. 11,17,1 – 2), ndert jedoch nichts an der eingetretenen Konfliktsituation. Offenbar hat Tacitus die halb rçmische und halb germanische Persçnlichkeitsstruktur des Cheruskerfîrsten zu einer dialektischen Behandlung des Themas in Rede und Gegenrede motiviert, welche beide Seiten mit ihren Sichtweisen zu außergewçhnlich, daß der Leser (îber mehrere Bîcher hinweg!) Querbezîge herstellen wîrde. Selbst die durch die Person des Flavus gegebene inhaltliche Parallele scheint mir hierfîr nicht ausreichend zu sein. Aus ganz hnlichen Grînden halte ich im îbrigen die von Devillers, 1994, 166 vertretene Ansicht, wonach Tacitus in ann. 11,16 ein weiteres Mal auf einen ironischen Vergleich zwischen Claudius und Augustus abhebe, fîr allzu konstruiert. Die hierfîr in Anspruch genommene Stelle ann. 2,2,1, die von einem ganz hnlichem Mißerfolg des ersten Princeps zu berichten weiß, liegt m. E. viel zu weit zurîck, um den Leser im elften Annalenbuch ohne weiteren Hinweis noch prsent zu sein, mçgen die inhaltlichen Entsprechungen auch zweifellos sehr groß sein. 618 S. Seif, 1973, 86. 619 Vgl. Devillers, 1994, 156; 278, der Bezîge zu spteren außenpolitischen Aktionen des Kaisers herstellt: „Les chapitres XI, 16 – 17 retracent la vaine tentative de Claude pour donner un roi aux Ch¤rusques. Ce passage constitue une n a r r a t i o n g ¤ m i n e ¤ avec les chapitres XII, 11 – 14, dans lesquels on voit Claude s’efforcer, ¤galement sans succºs, d’imposer un souverain aux Parthes. Notamment, dans les deux cas, Tacite insiste sur le fait que Claude adresse des conseils et des exhortations ” son prot¤g¤ (XI, 16,1; XII, 11, 2 – 3). Cette instance souligne le ridicule des pr¤tentions de l’empereur ” ¤mettre des avis en matiºre de gouvernement“ (a.a.O. 278). All dies ergibt sich freilich erst in der Rîckschau der spteren Stelle.

4.1 Ann. 11,16 – 17: Die Entsendung des Cheruskerfîrsten

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Wort kommen lßt und damit ein sehr ausgewogenes und problemorientiertes Bild vor allem der psychologischen Hintergrînde vermittelt.620 Doch im Hinblick auf den weiteren Gang der Ereignisse erweist sich die Gegenrede als fruchtlos, kann sie doch lediglich die eigenen Anhnger begeistern und den bevorstehenden Bîrgerkrieg nicht abwenden. Haften bleibt am Ende das Bild einer glîcklich gewonnenen Schlacht (s. u. secunda fortuna), daraus resultierenden ˜bermuts (superbia) und weiterer Wirren in der Folgezeit. Der von Claudius eingesetzte Kçnig kann sich nur mit großer Mîhe und lediglich durch die Unterstîtzung anderer Volksstmme halten, s. ann. 11,17,3: et magno inter barbaros proelio victor rex, dein secunda fortuna ad superbiam prolapsus pulsusque ac rursus Langobardorum opibus refectus per laeta per adversa res Cheruscas adflictabat. Diese Aussage wird durch eine Kombination verschiedener Stilmittel besonders betont: Ein metaphorisches prolabi in Assonanz zu pulsus hebt zusammen mit der polysyndetischen Satzstruktur (pulsusque ac rursus … refectus) das Auf und Ab im weiteren Schicksal des Italicus eindringlich hervor.621 Zudem verdichtet die anaphorische Formulierung per laeta per adversa seinen wechselvollen Werdegang zu ußerster Prgnanz. Die dauerhafte Schwchung des Cheruskers und seines Stammes wird von Tacitus also sehr anschaulich prsentiert und steht in einem gewissen Gegensatz zu dem kraftvollen Bild, das Claudius zuvor von dem jungen Prinzen gezeichnet hat.622 Damit wird klar, daß der Historiker an dieser Stelle weniger das Ziel verfolgt, eine fîr die rçmische Außenpolitik gînstige Entwicklung aufzuzeigen, als die Absicht, das ganz persçnliche Scheitern des Claudius hervorzukehren. Denn daß der Kaiser durch die Entsendung des Italicus den mchtigen und gefhrlichen Stamm der Cherusker letzten Endes in bîrgerkriegshnliche Verhltnisse gestîrzt und somit nachhaltig als Gegner ausgeschaltet hat, entsprach nicht seinem eigentlichen Vorsatz und kann deshalb nicht als Ergebnis eines klugen außenpolitischen Kalkîls in Anspruch genommen werden.623 620 Vgl. Koestermann ad ann. 11,16,3 (S. 60); Devillers, 1994, 224 sieht durch die Gegenrede die Spaltung der Cherusker in zwei Lager besonders betont: „C’est cette division des Ch¤rusques en deux clans que traduit, sur le plan litt¤raire, l’insertion de discours contradictoires.“ 621 Vgl. Koestermann ad loc. 622 Vgl. Keddie, 1975, 56. 623 In diesem Punkt scheint Devillers, 1994, 182 seinen Ausfîhrungen 156; 223 f.; 278 (s. o. Anm. 617 u. 619) zu widersprechen, wenn er mit zustzlichem Blick auf ann. 11,8 – 10 (Claudius entsendet Mithridates als Herrscher nach Armenien) diese außenpolitischen Maßnahmen des Kaisers als „signe d’une activit¤ diplo-

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4. Ann. 11,16 – 21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien

Claudius scheint vielmehr aus einem Irrtum heraus das Richtige getan zu haben – ein Eindruck, der auf ironische Weise die vçllige Inkompetenz des vierten Princeps deutlich macht.

4.2 Ann. 11,18 – 20,2: Die Kmpfe Corbulos624 gegen die Chauken und Friesen Tacitus leitet nun von den Cheruskern zu den Chauken îber und berichtet zunchst îber deren Raubzîge unter der Fîhrung eines gewissen Gannascus, s. ann. 11,18,1: Per idem tempus Chauci nulla dissensione domi et morte Sanquinii alacres, dum Corbulo adventat, inferiorem Germaniam incursavere duce Gannasco, qui natione Caninefas, auxiliare endium meritus, post transfuga, levibus navigiis praedabundus Gallorum maxime oram vastabat, non ignarus dites et imbelles esse. Nachdem Tacitus im voraufliegenden Kapitel die inneren Kmpfe der Cherusker unter ihrem umstrittenen Kçnig Italicus als Grund fîr deren anhaltenden Machtverlust angefîhrt hat, prsentiert er nun die Chauken als eine Art Gegenbild: Von keinerlei inneren Zwistigkeiten zerrissen, scheinen sie in Gannascus einen allseits anerkannten und fhigen Anfîhrer zu haben, der den Tod des rçmischen Statthalters von Niedergermanien, Sanquinius Maximus,625 geschickt fîr seine Zwecke zu nutzen versteht. Freilich wird die Person des Gannascus selbst von Beginn an sehr negativ dargestellt: Er ist ein rîcksichtsloser Verrter (transfuga), der sich offenbar aus Habgier (praedabundus) an friedfertigen Opfern vergreift und deren Siedlungsrume verwîstet (vastabat). Seine gierige Skrupellosigkeit wird durch den Satznachtrag non ignarus dites et imbelles esse [sc. Gallos] mit besonderem Nachdruck betont. Gleichzeitig taucht in der Person des Corbulo bereits ein Rcher auf. Sein Anrîcken erhlt durch die Intensivform adventare den Charakter einer energischen Entschlossenheit, den ruberischen Aktivitten der Chauken unter Gannascus entgegenzutreten. Damit findet schon im ersten Satz eine Polarisierung statt, die den Leser matique intense et efficace“ ansieht und die These vertritt, Tacitus habe die wiederholt erfolgreiche Einsetzung eines Klientelkçnigs durch eine separate Behandlung der Einzelereignisse in den Hintergrund drngen wollen. 624 Zur taciteischen Personendarstellung des Corbulo in den Annalen insgesamt s. neuerdings Geiser, 2007 (S. 31 – 41 zu den Kapiteln ann. 11,18 – 20). 625 Hierîber wird Tacitus im verlorenen Teil der Annalen berichtet haben; vgl. Koestermann ad loc.

4.2 Ann. 11,18 – 20,2: Die Kmpfe Corbulos

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fîr den rçmischen Feldherrn einnimmt. Gemß dieser Konzeption leitet Tacitus den folgenden Satz, der îber die Maßnahmen des Corbulo informiert, mit einem scharf kontrastierenden at ein,626 s. ann. 11,18,2: at Corbulo provinciam ingressus magna cum cura et mox gloria, cui principium illa militia fuit, triremes alveo Rheni, ceteras navium, ut quaeque habiles, per aestuaria et fossas adegit; luntribusque hostium depressis et exturbato Gannasco, ubi praesentia satis composita sunt, legiones operum et laboris ignavas, populationibus laetantes veterem ad morem reduxit, ne quis agmine decederet nec pugnam nisi iussus iniret. Corbulos Aktionen erweisen sich als ußerst effektiv. Sein Erfolg wird durch die Bemerkung magna cum cura et mox gloria, cui principium illa militia fuit bereits zu Beginn dieses Textabschnitts vorweggenommen, wobei er auch im Glanz noch kommender Ereignisse erstrahlen darf.627 Der Sieg îber Gannascus erscheint in den locker angehngten absoluten Ablativen luntribusque depressis hostium et exturbato Gannasco wie die selbstverstndliche Folge seines umsichtigen Vorgehens und lediglich als Voraussetzung fîr weitere, viel tiefgreifendere Maßnahmen, mit denen er sich nun – als Bewahrer des vetus mos 628 – der verwahrlosten Disziplin seiner Soldaten widmet.629 Deren schndliches Treiben wird von Tacitus sehr eindringlich geschildert (operum et laboris ignavas). Der Ausdruck populationibus laetantes stellt sie sogar auf eine Stufe mit dem ruberischen Verhalten der barbarischen Chauken. Vor diesem Hintergrund sieht der Leser die im folgenden geschilderten harten Disziplinierungsmaßnahmen im Ganzen als gerechtfertigt an, s. ann. 11,18,3: stationes vigiliae, diurna nocturnaque munia in armis agitabantur; feruntque militem, quia vallum non accinctus, atque alium, quia pugione tantum accinctus foderet, morte punitos. quae nimia et incertum an falso iacta originem tamen e severitate ducis traxere; intentumque et magnis delictis inexorabilem scias, cui tantum asperitatis etiam 626 Vgl. Pfordt, 1998, 92; Geiser, 2007, 32. 627 Tacitus weist an dieser Stelle v. a. auf Corbulos Ruhmestaten unter der Regierung des Nero voraus; s. hierzu Koestermann ad ann. 11,18,1; Geiser, 2007, 32: „Durch eine kleine Zwischenbemerkung gelingt es Tacitus […], zum einen die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Figur Corbulos zu lenken und zum anderen im Leser eine positiv-erwartungsvolle Grundhaltung Corbulo gegenîber zu erzeugen.“ 628 Geiser, 2007, 33 mit Anm. 97 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß das Adjektiv vetus bei Tacitus durchweg positiv besetzt sei. Corbulo werde damit indirekt als ein Feldherr der ‘guten alten Zeit’ charakterisiert. 629 Vgl. Pfordt, 1998, 92: „Die eigentlichen Kmpfe werden von Tacitus nur kurz – wie um die Leichtigkeit des Sieges zu belegen – beschrieben […]“; Geiser, 2007, 32 f.

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adversus levia credebatur. Gerîchte, wonach Corbulo bei relativ harmlosen Vergehen seiner Soldaten sogar Todesurteile ausgesprochen haben soll, weist Tacitus ausdrîcklich als îbertrieben und mçglicherweise sogar als gnzlich erfunden zurîck (incertum an falso iacta dabei an strkerer zweiter Position!). Ihren Ursprung sieht der Historiker in der Strenge des Feldherrn begrîndet, die auch im folgenden Bericht des Tacitus immer wieder als hervorstechende Charaktereigenschaft des Corbulo hervortritt.630 Sollte die literarische ˜berlieferung Anzeichen fîr eine îberzogene Hrte des rçmischen Heerfîhrers geboten haben,631 hat Tacitus diese zwar anklingen lassen, jedoch in seinem erkennbaren Bestreben, Corbulo mçglichst positiv darzustellen, geschickt als unglaubwîrdige Folie benutzt, vor deren Hintergrund die tatschliche severitas des Feldherrn weniger grausam erscheint.632 Dies wird besonders im letzten Satz deutlich, der nach Art eines Enthymems die unerbittliche Haltung des Corbulo rhetorisch zugespitzt auf den Punkt bringt: Wenn man ihm schon bei geringeren Vergehen offenbar eine solche Hrte zutraute, wie streng muß er erst gegen grobe Delikte vorgegangen sein! Attribute wie intentus und inexorabilis sprechen an dieser Stelle zwar eine deutliche Sprache, lassen sich jedoch nur noch auf die Ahndung wirklich großer Verstçße (magna delicta) beziehen.633 Die Todesstrafe, die bei schlimmen Vergehen tatschlich Anwendung gefunden haben dîrfte, klingt an dieser Stelle, wo die real gegebene Strenge des Corbulo vor Augen gefîhrt 630 Vgl. Seif, 1973, 88; Devillers, 1994, 148 f.; 283, der außerdem auf weitere Konstanten im Charakterbild des Corbulo hinweist; zur Strenge des Feldherrn vgl. insbes. ann. 13,35. 631 Vgl. die hnliche Darstellung Corbulos bei Cassius Dio (Xiph.) 60,30,4 – 6; einen detaillierten Vergleich der beiden Texte hat insbesondere A. Mehl: Kaiser Claudius und der Feldherr Corbulo bei Tacitus und Cassius Dio, Hermes 107, 1979, 220 – 239, hier 224 – 229, vor dem Hintergrund der Quellenfrage (Plinius maior?) durchgefîhrt; vgl. Seif, 1973, 88; Koestermann ad ann. 11,18,2. 632 Vgl. Geiser, 2007, 34 mit etwas anderer Akzentuierung. 633 Daher ist die Ansicht Keitels, 1977, 58 f.: „Yet diction and word order only affirm the harshness which Tacitus takes pains to mitigate. The alliterative intentumque … inexorabilem (used in a personal sense only here by Tacitus), asperitatis, and the final credebatur all strengthen what they are intended to deny“ zurîckzuweisen. Desweiteren sind ihre Versuche (a.a.O. 59), aus einem Vergleich zu der (moderaten) Strenge des taciteischen Agricola (s. Agr. 9,3; 19,3) ein unvorteilhaftes Bild von der (îbertriebenen) Strenge des Corbulo abzuleiten, methodisch ußerst fraglich. Die von ihr angefîhrten sprachlichen Parallelen (intentus, severus / severitas) sind zu schwach und ergeben sich zwangslufig aus der Gleichartigkeit des jeweils dargestellten Sachverhalts. Sie dîrfen daher nicht als Hinweis auf eine von Tacitus beabsichtigte Reminiszenz gewertet werden.

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werden soll, zwischen den Zeilen zwar an, findet jedoch keine explizite Erwhnung mehr. Bei seinen Bemîhungen, die strengen Disziplinierungsmaßnahmen des Corbulo in mçglichst gînstigem Licht erscheinen zu lassen, geht Tacitus im folgenden sogar noch einen Schritt weiter, wenn er deren positive Effekte aufzuzeigen versucht,634 s. ann. 11,19,1: Ceterum is terror milites hostesque in diversum adfecit: nos virtutem auximus, barbari ferociam infregere. et natio Frisiorum post rebellionem clade L. Apronii coeptam infensa aut male fida, datis obsidibus consedit apud agros a Corbulone descriptos; idem senatum magistratus leges imposuit. Das straffe Regiment Corbulos findet in der Bezeichnung terror zunchst einen ußerst drastischen Ausdruck, der die Realitt treffend und ungeschminkt beschreiben dîrfte. Doch direkt im Anschluß erfhrt dieser Begriff eine positive Aufwertung, indem der vom Feldherrn ausgehende ‘Schrecken’ als wesentliche Voraussetzung fîr den Erfolg der rçmischen Truppen gegen die germanischen Stmme dargestellt wird.635 Wirkungsvoll stellt Tacitus in einem Parallelismus die Auswirkungen des von Corbulo praktizierten terror auf die eigenen Truppen einerseits und auf die Germanen andererseits gegenîber: Whrend die Moral der rçmischen Soldaten hierdurch vergrçßert worden sei, htten die Barbaren ihren trotzigen Kampfgeist fahren lassen.636 Letzteres wird anschließend am Beispiel der Friesen besonders anschaulich gemacht, die sich entgegen ihrer bisherigen Feindseligkeit den Anweisungen des Corbulo anscheinend ohne jeglichen Widerstand fîgen und Geiseln stellen.637 Durch den Hinweis auf die Niederlage des Apronius und die ausdrîckliche Bezeichnung der Friesen als natio infensa aut male fida wird dieser Erfolg des rçmischen Heerfîhrers erheblich gesteigert.638 Mîhelos weist er dem 634 Vgl. Pfordt, 1998, 93; Seif, 1973, 88: „Die Wirkung seiner Strenge wird panegyrisch îberhçht.“ 635 Vgl. Geiser, 2007, 34 f. 636 Koestermann ad loc.: „[…] barbari ferociam [infregere] statt barbarorum ferocia (infracta) ist îberaus kîhn, gewhlt um der Antithese zu virtutem auximus willen. In beiden Fllen soll der Wille der Betroffenen bewirkender Faktor sein, nicht die ußeren Umstnde.“ 637 S. hierzu Geiser, 2007, 35 mit Anm. 105: „Es zeigt sich also wiederum Tacitus’ psychologische Deutung der Tatsachen. Denn tatschlich werden sich die Friesen kaum kampflos und freiwillig ergeben haben.“ 638 Bezeichnenderweise spricht der Historiker an dieser Stelle etwas îberspitzt und „îber den frîheren Bericht hinausgehend“ (Koestermann ad loc.) von einer clades des Apronius. Tatschlich hat es sich dabei eher um eine wenig erfolgreiche Expedition gehandelt (vgl. die Schilderung ann. 4,72 f.); vgl. Geiser, 2007, 35.

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ansonsten so rebellischen Germanenstamm Lndereien zu und sorgt zustzlich fîr geordnete Verhltnisse, indem er ihm einen øltestenrat, Behçrden und Gesetze gibt. Das Asyndeton senatum magistratus leges macht die vermeintliche Leichtigkeit der hier verordneten Maßnahmen ußerst sinnfllig.639 Als wolle Tacitus die im Kapitel zuvor (ann. 11,18,2) gepriesene magna cura des Corbulo unter Beweis stellen,640 berichtet er anschließend, wie der Feldherr das Erreichte nun sichert, s. ann. 11,19,2: ac ne iussa exuerent, praesidium immunivit, missis qui maiores Chaucos ad dedicationem pellicerent, simul Gannascum dolo aggrederentur. nec inritae aut degeneres insidiae fuere adversus transfugam et violatorem fidei. Zu den Sicherungsmaßnahmen zhlt vor allem ein hinterlistiger Anschlag auf Gannascus, der von Tacitus in aufflliger Weise gerechtfertigt wird.641 Es darf vermutet werden, daß die literarische ˜berlieferung auch in Bezug auf dieses Ereignis deutliche Kritik an Corbulo geîbt hat. Tacitus entschuldigt das umstrittene Verhalten des Feldherren mit einem erneuten Hinweis (s. o. zu ann. 11,18,1) auf die treulose und verrterische Natur des Germanenfîrsten und vertieft damit den bisher erweckten Eindruck. Die hier gewhlten Bezeichnungen transfuga und violator fidei sollen dem Leser das unehrenhafte Verhalten des Gannascus so deutlich vor Augen fîhren, daß er die Maßnahme des Corbulo nur als gerechte Strafe fîr eine beispiellose Niedertracht verstehen kann. Der Anschlag sei erfolgreich (nec inritae) und keineswegs verwerflich (degeneres) gewesen, so die eindeutige Rechtfertigung des Historikers. Warum Tacitus das Verhalten des Corbulo so ausdrîcklich in Schutz nimmt, tritt im folgenden Bericht nun immer deutlicher zutage, s. ann. 11,19,3: sed caede eius (sc. Gannasci) motae Chaucorum mentes, et Corbulo semina rebellionis praebebat, ut laeta apud plerosque, ita apud quosdam in 642 sinistra fama. cur hostem conciret? adversa in re publica casura; sin prospere egisset, for639 Vgl. Koestermann ad loc.: „Tacitus gleitet îber diese Dinge hinweg.“ 640 Vgl. Geiser, 2007, 35 f. 641 Vgl. Koestermann ad loc.: „Tacitus billigt also das Vorgehen Corbulos, das unerfreulich genug absticht von der noblen Art des Tiberius, der eine hnliche Taktik gegen Arminius strikt abgelehnt hatte (zu 2,88,1)“; Geiser, 2007, 36. 642 Zum textkritischen Problem s. Koestermann ad loc. Ich schließe mich an dieser Stelle der von Mehl, 1979, 223 Anm. 11 îberzeugend vertretenen Konjektur Ritters an. Die nachfolgenden durch igitur eingeleiteten Ausfîhrungen ergeben nur dann einen guten Sinn, wenn sich die Bedenken des Kaisers auf seine Umgebung in Rom zurîckfîhren lassen; vgl. die im folgenden angestellte Untersuchung.

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midulosum paci virum insignem et ignavo principi praegravem. igitur Claudius adeo novam in Germanias vim prohibuit, ut referri praesidia cis Rhenum iuberet. Der Tod des Gannascus versetzt die Chauken in Aufruhr. Corbulo mçchte diese Situation nutzen, um einen weiteren Krieg gegen den Germanenstamm zu provozieren (semina rebellionis praebebat). Tacitus prsentiert die (in Rom) hervorgerufenen Reaktionen auf dieses Vorgehen in zwei Gruppen, die in einem wirkungsvollen Chiasmus gegenîbergestellt werden: Die Mehrheit (apud plerosque) rechnet diese Taktik dem Feldherrn positiv an (laeta … fama), einige (quosdam) jedoch negativ (sinistra fama). Durch die Reaktion der plerique macht der Historiker deutlich, daß Corbulo bei der breiten Masse der Bevçlkerung großes Ansehen genoß. Vor diesem Hintergrund erscheinen die nun im folgenden in indirekter Rede ausgefîhrten Bedenken der Kritiker, die im Falle eines erfolgreichen Feldzuges vor einer Gefhrdung des Kaisers durch Corbulo warnen, in der Sache um so berechtigter zu sein. Corbulo wird durch seine tatkrftige Entschlossenheit systematisch als Alternative zum schwachen Claudius aufgebaut: Durch die chiastische Anordnung der Wçrter steht er hier nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch als vir insignis dem ignavus princeps diametral gegenîber, gilt als Gefahr fîr den inneren Frieden (formidolosum paci) und als schwere Belastung fîr den unttigen Kaiser (principi praegravem in effektvoller Assonanz!).643 Unter Berîcksichtigung des Umstandes, daß der Begriff pax an dieser Stelle auf die Verhltnisse unter Claudius angewendet wird, klingt diese Charakterisierung des Heerfîhrers jedoch weit weniger negativ als es bei flîchtiger Betrachtung vielleicht erscheinen mag. Der innere Zustand des Staates ist nach dem bisherigen Bericht des Tacitus îber die unrechtmßigen Prozesse und Intrigen am Kaiserhof des vierten Princeps wohl kaum als friedlich zu bezeichnen. Die „giftige Sentenz“644 im Munde des Volkes findet sodann ihre prompte Besttigung im Verhalten des Claudius, der Corbulo jede weitere militrische Aktion gegen die Germanen verbietet und den Rîckzug der rçmischen Besatzung auf das linke Rheinufer befiehlt. Ein verrterisches igitur stellt hier eine enge konklusive Verknîpfung zwischen dem Inhalt des stadtrçmischen Klatsches und der Entscheidung des Kaisers her und lßt auf diese Weise das 643 Vgl. Keitel, 1977, 59; Seif, 1973, 90; Geiser, 2007, 37, die vor dem Hintergrund der von Claudius in Angriff genommenen Eroberung Britanniens zustzlich auf die „ ungerechtfertigte Beleidigung“ des Princeps als ignavus hinweist. 644 Koestermann ad loc.

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4. Ann. 11,16 – 21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien

Gerede der Leute als zutreffend erscheinen.645 Es zeigt sich, daß Tacitus Corbulos Taten deshalb so ausdrîcklich in Schutz genommen und gerechtfertigt hat, weil er ihn als positive Kontrastfigur zu Claudius darstellen wollte.646 Im îbergeordneten Rahmen der Germanienpolitik ist der Kaiser ungewollt und eher zufllig erfolgreich (s. o. zu ann. 11,17,3), Corbulo hingegen durch sorgfltiges Planen und weitsichtiges, entschlossenes Agieren. Whrend der Kaiser lediglich in antiquarischen Belanglosigkeiten îberkommene Bruche pflegt, erweist sich der strenge Traditionalismus des Feldherrn auch in der Praxis als ußerst effektiv.647 Sein tatkrftiger und energischer Charakter weist ihn gegenîber dem entscheidungsschwachen und wankelmîtigen Princeps als weitaus besseren Herrscher aus. Den vom Kaiser befohlenen Rîckzug empfindet der Leser als ungerechte, allein aus eifersîchtiger Angst getroffene Maßnahme, die Corbulo um die verdienten Frîchte seines klugen und beherzten Handelns betrîgt. Sachliche Grînde, die Claudius zur Aufgabe der rechtsrheinischen Gebiete veranlaßt haben kçnnten, wie etwa der erhçhte Truppenbedarf zur Sicherung der Eroberungen in Britannien, werden von Tacitus ausgeblendet.648 Im folgenden Kapitel berichtet Tacitus zunchst îber die Reaktion des Corbulo auf die kaiserliche Entscheidung, s. ann. 11,20,1: Iam castra in hostili solo molienti Corbuloni eae litterae redduntur. ille re subita, quamquam multa simul offunderentur, metus ex imperatore, contemptio ex barbaris, ludibrium apud socios, nihil aliud prolocutus quam ‘beatos quondam duces Romanos’, signum receptui dedit. Fîr Corbulo, der gerade sein Lager auf feindlichem Territorium aufschlgt, kommt die Nachricht aus Rom vçllig îberraschend (re subita).649 Ahnungslos wird er mitten aus seiner eifrigen Beschftigung herausgerissen (iam … molienti). Durch diese Darstellung mçchte Tacitus seinen Lesern zu verstehen geben, daß 645 Vgl. Seif, 1973, 90 f.; Keitel, 1977, 60; zu igitur im Sinne von itaque (von der auf Tatsachen beruhenden Folge) s. KSt II 138 (10 a). 646 Vgl. Keitel, 1977, 58. 647 Vgl. Pfordt, 1998, 92: „Im Gegensatz zu Claudius, der Reden îber unerhebliche Antiquitten hlt, erweist sich Corbulo, indem er mit Strenge die alte rçmische Tradition wiederherstellen will, als echter Wahrer der Tradition.“ 648 S. Pfordt, 1998, 94; vgl. Koestermann ad ann. 11,19,3: „Der Entschluß des Kaisers war wahrscheinlich dadurch ausgelçst worden, daß der Kaiser die Truppen fîr Britannien brauchte“; Seif, 1973, 91; Keitel, 1977, 60: „ […] a plan sensible enough in itself and faithful to Augustan policy, but made to seem, by context, the fearful reaction of a cowardly princeps“; Geiser, 2007, 38 f. 649 Vgl. Geiser, 2007, 39.

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Corbulo keineswegs die von manchen Leuten in Rom befîrchtete Absicht hatte, seine machtvolle Position einmal gegen den Kaiser auszuspielen. Seine Ahnungslosigkeit soll als indirekter Beweis fîr seine Unschuld gelten, indem der Eindruck erweckt wird, daß der erfolgreiche Feldherr gar nicht erst auf den Gedanken gekommen sei, fîr Claudius auf Dauer gefhrlich werden zu kçnnen. Der Rîckzugsbefehl ist fîr Corbulo ein Schock: Viele Dinge (multa), die im folgenden durch metus ex imperatore, contemptio ex barbaris und ludibrium apud socios weiter konkretisiert werden, brechen gleichzeitig îber ihn herein (offunderentur). In dieser Reihung fllt das Spiel des Tacitus mit der etwas unprzisen Wendung metus ex imperatore auf. Vordergrîndig ist metus hier sicherlich im Sinne von ‘Bedrohung’ oder ‘Strafandrohung’ zu verstehen, die von Seiten des Kaisers fîr Corbulo ausgeht.650 Diese Auffassung fîgt sich gut zu den beiden anderen Gliedern der Aufzhlung, die jeweils ein fîr Corbulo unmittelbar negatives Ergebnis der von Claudius getroffenen Entscheidung benennen. Bezieht man jedoch den Gesamtkontext der Stelle mit in die ˜berlegungen ein und sieht die Aussage vor dem Hintergrund der von Tacitus bisher stark und entschlossen gezeichneten Persçnlichkeit des Corbulo, so dringt durchaus auch die Auflçsung von metus als ‘Furcht’ (des Kaisers vor dem tîchtigen Heerfîhrer) in das Bewußtsein des Lesers.651 Diese letztere Auffassung wird dann durch die konzessiv gefrbte Aussage des Tacitus gestîtzt, daß Corbulo trotz der plçtzlich eingetretenen Umstnde lediglich (nihil aliud) eine recht zurîckhaltende øußerung von sich gegeben habe. Mit einem Verweis auf die ‘glîcklichen Feldherren frîherer Zeiten’ kritisiert Corbulo offenbar die gegenwrtigen Zustnde des Prinzipats, die neben dem Kaiser keine machtvollen und angesehenen Persçnlichkeiten dulden.652 Der erfolgreiche Militr scheint demnach die ‘wahren’ Hintergrînde des kaiserlichen Befehls durchschaut zu haben.653 Dennoch fîgt er sich der kaiserlichen Entscheidung und gibt das Zeichen zum Rîckzug. Nach der stilistisch durchgefeilten Passage bringt der nîchtern und prosaisch anmutende 650 Zu dieser Bedeutung von metus s. ann. 1,29,3: ex duce metus; 2,38,3: nullus ex se metus; 2,72,1; metum ex Tiberio; 3,65,1: ex posteritate et infamia metus; vgl. Furneaux ad ann. 1,29,3; Zwierlein, 1986, 520 (Index s. v. metus). 651 Das umgekehrte Verstndnis ‘Furcht (des Corbulo) vor Claudius’ scheidet dabei aus sprachlichen und inhaltlichen Grînden praktisch aus, wie Mehl, 1979, 223 f. Anm. 13 îberzeugend dargelegt hat; vgl. Geiser, 2007, 39 mit Anm. 119. 652 Vgl. Geiser, 2007, 39. 653 Vgl. Keitel, 1977, 60: „Corbulo seems disturbingly well aware of the repercussions at Rome.“

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4. Ann. 11,16 – 21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien

Abschluß signum receptui dedit seine Resignation gekonnt zur Darstellung.654 Trotz aller Enttuschung erweist sich Corbulo weiterhin als absolut loyal. Die ihm unterstellten politischen Ambitionen erweisen sich damit als vçllig haltlos.655 Tacitus geht bei seiner Charakterdarstellung des Corbulo jedoch noch einen Schritt weiter: Nicht nur, daß sich der enttuschte Feldherr dem kaiserlichen Willen widerstandslos fîgt. Zudem fîhlt er sich auch noch weiterhin der Aufrechterhaltung der Disziplin seiner Soldaten verpflichtet und fîhrt sie einer sinnvollen unkriegerischen Beschftigung zu, s. ann. 11,20,2: ut tamen miles otium exueret, inter Mosam Rhenumque trium et viginti milium spatio fossam perduxit, qua incerta Oceani vitarentur. insigne tamen triumphi indulsit Caesar, quamvis bellum negavisset. Corbulo erweist Rom weiterhin großen Nutzen: Sein in Auftrag gegebener 23 Meilen langer Kanal zwischen Maas und Rhein macht die gefhrliche Schiffahrt auf dem Meer nunmehr îberflîssig. Tacitus berichtet spîrbar beeindruckt von dem aufwendigen Bauprojekt und entwirft das Bild eines rastlosen und eifrigen Charakters, der auch nach persçnlichen Rîckschlgen nicht aufhçren mag, Sinnvolles zu leisten.656 Zudem ist zu beachten, daß Corbulo mit der Durchfîhrung solch çffentlicher Baumaßnahmen einen Aufgabenbereich berîhrt, der ansonsten eng mit der Person des Kaisers verbunden war.657 Auch hierin tritt er also in offensichtliche Konkurrenz zum Princeps. Die abschließend vermerkte Bewilligung der Triumphinsignien durch Claudius wirkt indessen ußerst heuchlerisch. Tacitus hat diese Aktion mit einer deutlichen Widersprîchlichkeit versehen (tamen indulsit … quamvis negavisset), die an dieser Stelle einen ganz eigenen Sinn entfaltet: Denn indem der Historiker die Auszeichnung des Corbulo erst jetzt – nach der Schilderung des Kanalbaus –, erwhnt, koppelt er sie von den glnzenden militrischen Erfolgen gegen die Chauken und Friesen in ann. 11,18 f. inhaltlich ab.658 Vor dem Hintergrund des weiterhin sichtbaren und ungebremsten Tatendrangs des Corbulo scheint der Kaiser den agilen Heerfîhrer mit dieser Auszeichnung nun lediglich abspeisen und endlich ruhigstellen zu wollen. 654 655 656 657

Vgl. Koestermann ad loc. Vgl. Geiser, 2007, 40. Vgl. Geiser, 2007, 40. Vgl. die Bauprojekte des Claudius, von denen Tacitus in ann. 11,13,2 (Wasserleitung) und ann. 12,56,1 (Kanaldurchbruch zwischen Lirisfluß und Fuciner See) berichtet; vgl. Suet. Claud. 20,1. 658 S. Keitel, 1977, 60 f.

4.3 Ann. 11,20,3 – 11,21: Die Leistungen des Curtius Rufus und seine Biographie

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4.3 Ann. 11,20,3 – 11,21: Die Leistungen des Curtius Rufus und seine Biographie Die Verleihung der Triumphabzeichen an Corbulo dient als Brîcke zu einem neuen Themenkomplex, der ebenfalls in den îbergeordneten Rahmen des Berichtes îber Germanien fllt.659 Im Mittelpunkt steht dabei die Person des Heerfîhrers Curtius Rufus, der im Gebiet der Mattiaker nach Silberadern hatte graben lassen. Auch er erhlt die Triumphinsignien, s. ann. 11,20,3: Nec multo post Curtius Rufus eundem honorem adipiscitur, qui in agro Mattiaco recluserat specus quaerendis venis argenti; unde tenuis fructus nec in longum fuit, at legionibus cum damno labor, effodere rivos, quaeque in aperto gravia, humum infra moliri. quis subactus miles, et quia plures per provincias similia tolerabantur, componit occultas litteras nomine exercituum, precantium imperatorem, ut, quibus permissurus esset exercitus, triumphalia ante tribueret. Tacitus macht aus seiner Mißbilligung der an Curtius Rufus vergebenen Auszeichnung kein Hehl. In deutlichen Worten prangert er den geringen und kurzlebigen Nutzen der durchgefîhrten Grabungen bei gleichzeitigem immensem Arbeitsaufwand an.660 Um das eklatante Mißverhltnis zwischen ‘Kosten und Nutzen’ der Silberschîrfungen mçglichst deutlich hervorzuheben, hat der Historiker neben der Verwendung der starken Adversativpartikel at auch an dieser Stelle zu einer chiastischen Satzstruktur (tenuis fructus nec in longum fuit, at legionibus cum damno labor) gegriffen, welche die große Mîhe der Legionen betont ans Ende des Kolons rîckt. Die strapaziçsen Arbeiten, die im folgenden durch die verwendeten Vokabeln effodere und moliri besonders anschaulich und eindringlich geschildert werden, sind dabei nicht nur von ußerst geringem Wert, sondern ausdrîcklich auch schdlich (cum damno labor). Die Verleihung der Triumphinsignien hat Tacitus durch die Erwhnung des geheimen Bittschreibens der Soldaten an Claudius nun in einen grotesken Zusammenhang gestellt, der den Eindruck vermittelt, als habe Curtius Rufus seine Soldaten allein deshalb so geschunden, um die begehrten Abzeichen zu erhalten.661 Ohne eine hervorragende Leistung auf militrischem Ge659 Vgl. Koestermann ad ann. 11,20,3; Wille, 1983, 485. 660 Vgl. Seif, 1973, 88 f.; Geiser, 2007, 40. 661 S. hierzu Geiser, 2007, 41, die zusammen mit Seif, 1973, 89 auf einen etwas abweichenden und weniger konkreten Bericht bei Sueton, Claud. 24,3 verweist. Dort bitten die Soldaten den Kaiser ganz allgemein, ut legatis consularibus simul cum exercitu et triumphalia darentur, ne causam belli quoquo modo quaererent.

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4. Ann. 11,16 – 21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien

biet erbracht zu haben, bekommt er die Auszeichnung offenbar aufgrund seiner ußerst fragwîrdigen Silbergrabungen zuerkannt.662 Dies wird zumindest durch den Relativsatz (qui … recluserat specus) suggeriert, der direkt nach der Information îber die an Curtius Rufus ergangene Ehrung zu dessen fruchtlosem Treiben im Gebiet der Mattiaker îberleitet. Die Vergabe der Triumphabzeichen an seine Person erscheint demnach als vçllig ungerechtfertigt und steht in einem krassen Mißverhltnis zu der Verleihung derselben Abzeichen an Corbulo, der sich diese durch seine hervorragenden Leistungen redlich verdient hat, mag er auch an noch grçßeren Taten gehindert worden sein.663 Die insbesondere von Keitel und Wille vertretene Ansicht, daß Tacitus durch diese Kontrastschilderung auch die Leistungen des Corbulo nachtrglich schmlern wolle,664 ist zuletzt von Pfordt zu Recht zurîckgewiesen worden. Nach dem deutlich apologetischen Eintreten des Historikers fîr die Aktionen des strengen Feldherrn, wîrde eine solche nachgeschobene Relativierung keinen rechten Sinn ergeben.665 Vielmehr muß die Intention des Historikers aus der genau umgekehrten Perspektive betrachtet werden: Es geht ihm nicht darum, die Taten des Corbulo herabzusetzen, sondern vielmehr darum, deren ungerechte Wîrdigung durch eine Auszeichnung deutlich zu machen, die im Verlauf der frîhen rçmischen Kaiserzeit ihren ursprînglichen Wert offenbar dermaßen eingebîßt hatte, daß sie sogar an zwielichtige Personen wie Curtius Rufus verliehen wurde.666 Daß Corbulo trotz seiner glanzvollen Leistungen am Ende nicht besser abschneidet als sein vçllig erfolgloser ‘Konkurrent’, empfindet der Leser als große Ungerechtigkeit und als typisches Zeichen der Zeit. Indem Tacitus deutlich macht, daß es fîr tîchtige und fhige Mnner offenbar keine Entfaltungsmçglichkeiten mehr gab, geraten nicht zuletzt auch die politischen Rahmenbedingungen des frîhen Prinzipats ins Schußfeld der Kritik. Der soeben umrissenen Intention dient auch die nun in einem Exkurs angehngte Biographie des Curtius Rufus, welche dessen Herkunft und

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Hierzu meint Geiser a.a.O. „Whrend bei Tacitus der Brief eine Spitze gegen Curtius Rufus enthlt, kçnnte er in der Fassung Suetons mçglicherweise eher gegen Corbulo gerichtet gewesen sein.“ Vielleicht hat Tacitus die Stoßrichtung des besagten Schreibens seiner Darstellungsabsicht angepaßt. Vgl. Vessey, 1971, 396. Vgl. Devillers, 1994, 279; Geiser, 2007, 40 f. S. Keitel, 1977, 61; Wille, 1983, 485 f. S. Pfordt, 1998, 95. Vgl. Geiser, 2007, 40.

4.3 Ann. 11,20,3 – 11,21: Die Leistungen des Curtius Rufus und seine Biographie

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Werdegang ußerst kritisch beleuchtet, s. ann. 11,21,1: De origine Curtii Rufi, quem gladiatore genitum quidam prodidere, neque falsa prompserim et vera exsequi pudet. postquam adolevit, sectator quaestoris, cui Africa obtigerat, dum in oppido Adrumeto vacuis per medium diei porticibus secretus agitat, oblata ei species muliebris ultra modum humanum et audita est vox ‘tu es, Rufe, qui in hanc provinciam pro consule venies’. Die Angaben des Historikers zur Abstammung des Rufus sind fîr die taciteische Insinuationskunst geradezu mustergîltig. Einerseits mçchte er nichts Falsches ußern, andererseits aber scheut er sich, die (ihm offenbar bekannte) Wahrheit detailliert offenzulegen. Mit dieser Aussage lßt er die von ihm referierte Ansicht mancher seiner Quellen (quidam prodidere), wonach der Vater des spteren Senators ein Gladiator gewesen sei, nicht nur als unzutreffend erscheinen, sondern gibt gleichzeitig auch zu verstehen, daß dessen tatschliche Herkunft noch viel beschmender war. Durch seine geschickte Praeteritio (vera exsequi pudet) legt sich Tacitus in seiner Aussage jedoch nicht fest, und der Leser ahnt gerade deswegen Schlimmstes.667 In deutlich verchtlichem Ton schildert Tacitus anschließend den Aufstieg des Curtius Rufus und zeichnet dabei zunchst das Bild eines mîßigen Taugenichts, der sich einst als Anhnger des îber Afrika eingesetzten Qustors um die Mittagszeit allein in leeren Sulenhallen der Stadt Hadrumetum herumgetrieben und dabei das wohl zentrale Erlebnis seines Lebens gehabt haben soll, als ihm eine îbermenschlich große weibliche Gestalt erschien und ihm die Statthalterschaft îber die Provinz Afrika prophezeite. Indem Tacitus diese Vision ausgerechnet in den Rahmen einer mittglichen Faulenzerei stellt (dum … agitat), zieht er die gesamte Szenerie in den Bereich des Lcherlichen hinab.668 Insbesondere die pathetische Erhabenheit, in der die Prophezeiung der Frauengestalt geschildert wird – man beachte vor allem die direkte Rede und ihren feierlichen Ton – steht in ironischem Kontrast zur 667 Vgl. Syme, 1958, 563: „Some alleged that the consular novus homo Curtius Rufus was the son of a gladiator. The shameful truth was far worse. Tacitus refuses to disclose it“; Keitel, 1977, 61; Pfordt, 1998, 95. 668 Agitare steht hier in der Bedeutung degere, esse; s. G&G 58. Als inhaltlicher Vergleich kann die Darstellung des jîngeren Plinius herangezogen werden, der in ep. 7,27,2 dieselbe Wundergeschichte erzhlt und dabei eine leicht andere, weniger possenhafte Atmosphre schafft: Inclinato die spatiabatur in porticu [sc. Curtius Rufus]; offertur ei mulieris figura humana grandior pulchriorque. Perterrito Africam se futurorum praenuntiam dixit: iturum enim Romam honoresque gesturum, atque etiam cum summo imperio in eandem provinciam reversurum, ibique moriturum.

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4. Ann. 11,16 – 21: Außenpolitische Ereignisse in Germanien

Banalitt der ußeren Umstnde. Nichts anderes als dieses grotesk anmutende Ereignis gilt nun im folgenden als Ausgangspunkt fîr eine steile Karriere des Rufus, s. ann. 11,21,2: tali omine in spem sublatus degressusque in urbem largitione amicorum, simul acri ingenio quaesturam et mox nobiles inter candidatos praeturam principis suffragio adsequitur, cum hisce verbis Tiberius dedecus natalium eius velavisset: ‘Curtius Rufus videtur mihi ex se natus’. In nur einem Satz skizziert Tacitus in der wirkungsvollen Kîrze seines Partizipialstils den beispiellosen sozialen und politischen Aufstieg des Curtius Rufus, wobei er dessen niedere Abkunft weiterhin deutlich abwertend hervorhebt (dedecus natalium) und somit nicht mîde wird, den Finger in die Wunde der erfolgreichen Laufbahn zu legen. Ein weiterer Makel besteht fîr den Leser sicherlich darin, daß Rufus seine Karriere nicht gnzlich aus eigener Kraft gemeistert zu haben scheint.669 Zwar stellt Tacitus dessen scharfen Verstand heraus. Doch ohne die finanzielle Unterstîtzung seiner Freunde (largitione amicorum) htte er als Mann niederen Standes innerhalb der aristokratisch geprgten rçmischen Oberschicht (nobiles inter candidatos) wohl kaum Aussichten auf einen so großen Erfolg gehabt. Daß darîber hinaus ausgerechnet ein derart zwielichtiger und finsterer Charakter wie Tiberius als Fîrsprecher des Aufsteigers prsentiert wird, wirft nicht gerade ein besseres Licht auf dessen beruflichen Werdegang.670 Vor diesem Hintergrund fallen die abschließenden Worte des Historikers, vornehmlich zum Charakter des Curtius Rufus, beim Leser auf fruchtbaren Boden, s. ann. 11,21,3: longa post haec senecta, et adversus superiores tristi adulatione, adrogans minoribus, inter pares difficilis, consulare imperium, triumphi insignia ac postremo Africam obtinuit, atque ibi defunctus fatale praesagium implevit. Das hier entworfene Charakterportrt ist îberaus abstoßend: Gegenîber Vorgesetzten liebdienerisch, anmaßend gegenîber seinen Untergebenen und unter Gleichrangigen unleidlich (difficilis), erfîllt Curtius Rufus wohl die typischen Merkmale eines rîcksichtslosen Karrieristen. Die chiastisch strukturierte Beschreibung seines opportunistischen Wesens wird wirkungsvoll mit der Aufzhlung der von ihm erreichten ømter und Aus669 Vgl. Keitel, 1977, 62. 670 Zum taciteischen Tiberiusbild s. S. 36 ff. In geradezu typischer Weise versucht Tiberius seine Umgebung îber die Herkunft seines Gînstlings hinwegzutuschen. Das Verb velare paßt vorzîglich zu seiner heuchlerischen Persçnlichkeit. Mçglicherweise liegt in dem wçrtlich zitierten Ausspruch des Kaisers eine Parodie auf Cic. Phil. 6,17 vor: Quid enim non debeo vobis, Quirites, quem vos a se ortum hominibus nobilissimis omnibus honoribus praetulistis?; vgl. Keitel, 1977, 62; Koestermann ad loc.

4.3 Ann. 11,20,3 – 11,21: Die Leistungen des Curtius Rufus und seine Biographie

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zeichnungen verbunden, indem die prdikativ zu deutenden Attribute (tristi adulatione; adrogans; difficilis) eine gewisse Kausalitt suggerieren, die zu einer deutlichen Kritik an den innenpolitischen Zustnden der frîhen rçmischen Kaiserzeit gert.671 Vor allem das Stichwort der triumphi insignia schlgt den thematischen Bogen zurîck zu Corbulo und ldt den Leser erneut ein zu einem kritischen Vergleich: Whrend tîchtigen und fhigen Mnnern der verdiente abschließende Erfolg verwehrt bleibt, schaffen es kriecherische Naturen mit offensichtlicher Leichtigkeit, bis in die hçchsten ømter aufzusteigen. Taktkrftiger Mut wird anscheinend nicht besser belohnt als serviler Opportunismus.672 Daß Curtius Rufus mit seiner geistigen Haltung ein hohes Alter erreicht hat (vgl. longa post haec senecta), wundert den Leser am Ende kaum, scheint es dem Emporkçmmling doch immer gelungen zu sein, sich durch kriecherische Anpassung an die jeweiligen Verhltnisse jeglicher Gefhrdung zu entziehen. Auch in sprachlicher Hinsicht wird dieser Gedanke zum Ausdruck gebracht: „Der brachylogische Abl[ativus] qual[itatis] (Nipperdey) senecta korrespondiert mit adulatione.“673

671 Vgl. Keitel, 1977, 62. Zur Bedeutung von tristis an dieser Stelle s. Nipperdey ad loc.: „tristi adulatione: Schmeichelei unter dem Schein des Ernstes (‘ein Schmeichler mit ernstem Gesicht’).“ Pikanterweise ist diese Art der tristitia auch eines der hervorstechenden Charaktermerkmale des taciteischen Tiberius (s. Baar, 1990, 32 mit Anm. 1). 672 Vgl. Pfordt, 1998, 95: „Daß ein solcher Mensch [Curtius Rufus] von Claudius mit Corbulo auf eine Stufe gestellt wird, muß dem Leser jetzt als eine Zumutung erscheinen“; Seif, 1973, 89: „Damit erweist sich die Darstellung als Ganzes als eine Kritik am Kaiser, der die Triumphalinsignien verlieh“; Keitel, 1977, 61; 62. 673 Koestermann ad ann. 11,21,3. Ob Tacitus im Rahmen seiner kontrastierenden Darstellung auch indirekt auf das Ende des Corbulo vorausweisen wollte, wie Keitel, 1977, 63 vermutet („One suspects that Tacitus inserted Rufus’ curriculum vitae here not just to contrast it unfavorably with Corbulo’s […], but to foreshadow in part Corbulo’s eventual ruin“), erscheint mir jedoch fraglich.

5. Ann. 11,22 – 38: Die weiteren Ereignisse in Rom bis zum Tod der Messalina Mit der exkursartigen Biographie des Curtius Rufus beendet der Historiker seinen eingeschobenen Bericht îber die außenpolitischen Ereignissen in Germanien und lenkt fîr den Rest des elften Annalenbuches den Blick zurîck auf die innenpolitischen Begebenheiten in Rom. Nach kurzen Nachtrgen zum Jahr 47 (ann. 11,22) greift die Darstellung des neuen Jahres zunchst den unterbrochenen Handlungsstrang îber die Zensorenttigkeit des Claudius wieder auf (ann. 11,23 – 25) und widmet sich schließlich in relativ breiter Ausfîhrlichkeit dem dramatischen Fortgang der Messalinageschichte bis zum Untergang der Kaiserin (ann. 11,26 – 38).674

5.1 Ann. 11,22: Das mißglîckte Attentat des Nonius und der Antrag des Dolabella Tacitus kehrt zu den Ereignissen in Rom zurîck, indem er zunchst von einem mißglîckten Attentat auf den Princeps berichtet, das ein rçmischer Ritter namens Nonius in der Zwischenzeit unternommen hatte, s. ann. 11,22,1: Interea Romae, nullis palam neque cognitis mox causis, Cn. Nonius eques Romanus ferro accinctus reperitur in coetu salutantum principem. nam postquam tormentis dilaniabatur, de se non i conscios non edidit, incertum an occultans. Indem Tacitus die Hintergrînde des geplanten Mordanschlages mit der sprachlich aufflligen Formulierung nullis palam neque cognitis mox causis 675 ausdrîcklich im Dunkeln lßt, ldt er seine Leserschaft dazu ein, sich selbst auf die Suche nach den mçglichen Ursachen zu begeben, und erzielt damit einen verheerenden Effekt. Denn bei seiner Motivsuche lßt der Leser nun vor seinem geis674 S. Wille, 1983, 487; 488; vgl. Seif, 1973, 92. 675 Keitel, 1977, 63 weist auf die kraftvoll alliterierende Ausgestaltung der Phrase hin, Koestermann ad loc. auf den „kîhnen Wechsel zwischen palam und cognitis“; vgl. Nipperdey ad loc.: „palam steht ungewçhnlich als Prdikat […].“

5.1 Ann. 11,22: Das mißglîckte Attentat des Nonius

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tigen Auge alle Mißstnde der Claudius-Regentschaft vorîberziehen, die im bisherigen Bericht des Tacitus in breiter Vielfalt dargestellt worden sind, und allesamt fîr eine Atmosphre der Unzufriedenheit und Mißstimmung gegen den Kaiser gesorgt haben kçnnten. Da der Attentter ein Angehçriger des ordo equester ist, mag man hierbei vor allem die Unrechtsprozesse gegen rçmische Ritter (s. ann. 11,4 f.) denken;676 doch auch das schamlose und intrigante Treiben der Messalina oder die innenund außenpolitischen Mißgriffe des Princeps geraten bei weiterer Suche durchaus ins Blickfeld des fragenden Lesers. Auf diese Weise wird zu Beginn des wiederaufgenommenen Erzhlstranges îber die stadtrçmischen Ereignisse subtil und unaufdringlich an die Probleme erinnert, welche den Prinzipat des Claudius bislang charakterisiert haben. Wenn Tacitus weiterhin den Umstand, daß Nonius unter grausamster Folter – man beachte hierbei die drastische Formulierung tormentis dilaniabatur, welche im Leser zustzlich Abscheu erregt677 – seine eigene Schuld zwar eingestand, aber keine Mitwisser preisgab mit dem nachgetragenen und betont ans Ende gerîckten Kolon incertum an occultans kommentiert, suggeriert er bei ußerer Objektivitt, daß der Mordversuch keineswegs nur der Plan eines verwegenen Einzelgngers war, sondern daß der Attentter in Verbindung zu oppositionellen Gruppierungen gestanden haben muß. Die Mißstimmung gegen Claudius scheint somit von anderen Menschen geteilt zu werden und innerhalb der rçmischen Bevçlkerung auf einer breiteren Basis zu beruhen. Das in diesem Sinne aussagekrftige Partizip occultans beschließt den kurzen Bericht îber den vereitelten Anschlag auf das Leben des Kaisers und vermag daher im Gedchtnis des Lesers nachzuwirken. In diese nachdenkliche und kritische Stimmung versetzt, vernimmt man nun den weiteren Bericht des Historikers, der einen Antrag des P. Dolabella zum Inhalt hat, wonach in Zukunft die neugewhlten Qustoren eines jeden Jahres auf eigene Kosten ein Gladiatorenspiel abhalten sollten, s. ann. 11,22,2: Isdem consulibus P. Dolabella censuit spectaculum gladiatorum per omnes annos celebrandum pecunia eorum, qui quaesturam adipiscerentur. Direkt im Anschluß lßt der Historiker durchblicken, was er von dem Antrag hlt. Ein Vergleich mit den Sitten der Vorfahren dient

676 Vgl. Seif, 1973, 92. 677 Vgl. Keitel, 1977, 63.

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5. Ann. 11,22 – 38: Die weiteren Ereignisse in Rom

ihm dabei als Kontrastmittel,678 s. ann. 11,22,3: apud maiores virtutis id praemium fuerat, cunctisque civium, si bonis artibus fiderent, licitum petere magistratus; ac ne aetas quidem distinguebatur, quin prima iuventa consulatum et dictaturas inirent. Indirekt erhebt Tacitus den Vorwurf, daß das Qustorenamt durch den Antrag des Dolabella kuflich geworden sei. Denn nicht mehr Tugend oder Eignung wie in frîherer Zeit, sondern das private Vermçgen rîckt nunmehr als Vorbedingung zu seiner Bekleidung in den Vordergrund. Wer sich die teuren Spiele zu Beginn der Qustur nicht leisten kann, dem ist der Einstieg in den cursus honorum kînftig von vorneherein verwehrt. Die positiv besetzten Begriffe virtus und bonae artes treten in Konkurrenz zu pecunia, wodurch ein krasser Werteverfall gekennzeichnet wird. Der Vergleich mit der Vergangenheit mîndet sodann in einen bei der Kçnigszeit ansetzenden Exkurs zur Entwicklung der Qustur, der îber mehrere Stationen luft und dabei eine schrittweise erfolgte Degeneration beschreibt, s. ann. 11,22,4 – 6: sed quaestores regibus etiam tum imperantibus instituti sunt, quod lex curiata ostendit ab L. Bruto repetita. mansitque consulibus potestas deligendi, donec eum quoque honorem populus mandaret. creatique primum Valerius Potus et Aemilius Mamercus sexagesimo tertio anno post Tarquinios exactos, ut rem militarem comitarentur. dein gliscentibus negotiis duo additi, qui Romae curarent. mox duplicatus numerus, stipendiaria iam Italia et accedentibus provinciarum vectigalibus. post lege Sullae viginti creati supplendo senatui, cui iudicia tradiderat. et quamquam equites iudicia recuperavissent, quaestura tamen ex dignitate candidatorum aut facilitate tribuentium gratuito concedebatur, donec sententia Dolabellae velut venundaretur. Der Schlußsatz dieser Ausfîhrungen schlgt den Bogen zurîck zum Antrag des Dolabella und trgt die zuvor nur indirekt geußerte Kritik nunmehr ganz offen vor. Derart eingebettet in den Exkurs zur Geschichte und Entwicklung des Qustorenamtes, empfindet der Leser den Antrag des Dolabella nun beinahe als Sakrileg, als eklatanten Verstoß gegen die îberkommenen Werte und Normen der Vorfahren sowie als negativen End- und Hçhepunkt einer fortschreitenden Dekadenz. Zwar bedeuteten bereits die Neuerungen unter Sulla eine gewisse Abkehr von der altehrwîrdigen Tradition. Doch wurde damals das Qustorenamt immerhin noch entweder nach Wîrde des Kandidaten oder auch nach Belieben der Verleihenden, vor allem aber ohne Gegenleistung vergeben (quaestura 678 Vgl. Seif, 1973, 93 f., der sich thematisch zu Recht an die Rede des Silius zur Erneuerung der lex Cincia (ann. 11,6) erinnert fîhlt. Auch dort diente das Idealbild der Vergangenheit als Folie; vgl. Keitel, 1977, 64 f.

5.1 Ann. 11,22: Das mißglîckte Attentat des Nonius

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tamen … gratuito concedebatur).679 Zu dieser Aussage steht, durch Assonanz besonders hervorgehoben, die auf den Antrag des Dolabella bezogene Aussage velut venundaretur in effektvollem Gegensatz, kehrt durch diesen Kontrast das Ungeheuerliche des nun ergangenen Beschlusses eindringlich hervor und bildet das betonte Ende der Ausfîhrungen.680 Auffllig ist, daß Tacitus an dieser Stelle entgegen seiner sonstigen Intention nicht auch Claudius zum Zielpunkt seiner Kritik erklrt, sondern seine Mißbilligung lediglich gegen den Antragsteller des neuen Gesetzes richtet.681 Seif hat vermutet, daß der Grund hierfîr mçglicherweise in der ablehnenden Haltung des Historikers gegenîber der Person des Dolabella zu suchen sei, der bereits unter Tiberius durch îbermßige Schmeichelei gegenîber dem Kaiser aufgefallen war (s. ann. 3,47,3; 3,69,1) und sich an der schndlichen Anklage gegen Quintilius Varus beteiligt hatte (s. ann. 4,66,2).682 Doch scheint es mir fîr Tacitus noch einen anderen triftigen Grund zu geben, den ansonsten bei jeder sich bietenden Gelegenheit geschmhten Claudius an dieser Stelle zu schonen. Wie wir noch sehen werden, ist der Historiker in den kommenden zwei bis drei Kapiteln darum bemîht, im Zusammenhang mit der von ihm gebilligten und von Claudius herbeigefîhrten Entscheidung zur Aufnahme von Galliern in den Senat (ann. 11,23 f.) ein mçglichst positives Bild des Kaisers zu entwerfen. Vermutlich htte eine unmittelbar zuvor erfolgte herbe Kritik auch an Claudius einen allzu starken Bruch bedeutet, der die Darstellungsabsicht des Tacitus empfindlich gestçrt htte.683 Hierzu fîgt sich der bereits erwhnte Umstand, 679 Vgl. Seif, 1973, 93. 680 Vgl. Koestermann ad loc. 681 Seif, 1973, 94 weist auf den Parallelbericht Suetons hin, der ausdrîcklich den Kaiser als Verantwortlichen benennt, s. Suet. Claud. 24,2: collegio quaestorum pro stratura viarum gladiatorium munus iniunxit (sc. Claudius). Außerdem geht aus dem Bericht des Biographen hervor, daß die Vergabe des Qustorenamtes bereits zuvor an eine bestimmte Gegenleistung, nmlich die Pflasterung der Straßen, gebunden war, die durch die nun beschlossene Ausrichtung von Gladiatorenspielen lediglich ersetzt wurde. „Damit wird der Kritik des Tacitus […] der Boden entzogen“ (Seif, 1973, 94); vgl. Koestermann ad ann. 11,22,2. 682 S. Seif, 1973, 94. 683 Die mehrfach vorgetragene Ansicht Keitels, 1977, 63; 64; 66 (vgl. Wille, 1983, 486), wonach der positive Eindruck, den die Kapitel ann. 11,23 f. von Claudius vermitteln, durch die vorangegangene Darstellung (ann. 11,21 f.) gewissermaßen relativiert werde [a.a.O. 64: „With perfect unawareness, Claudius fosters the fortunes of the Senate (11,24 – 25), while putting the quaestorship, the office that insured entry into the Senate, up for sale“] vermag ich nicht zu teilen.

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5. Ann. 11,22 – 38: Die weiteren Ereignisse in Rom

daß Tacitus seinen Bericht îber die Zensur des Claudius in zwei Abschnitte unterteilt hat, die durch die Darstellung der außenpolitischen Ereignisse voneinander getrennt werden. Fîr diese Komposition mag neben chronologischen Erwgungen684 auch die Absicht eine Rolle gespielt haben, den ersten Teil der Claudius-Zensur, der ein skurril-lcherliches Zerrbild des Kaisers bietet, von dem von Ernst und Entscheidungskraft des Princeps geprgten zweiten Teil (s. u.) abzusondern und auf diese Weise den hier gegebenen Gegensatz abzumildern.685 Es mag zwar sein, daß Tacitus diesen Gegensatz in einem gewissen Maße ganz bewußt erzeugt hat, um gleichsam auf indirektem Wege den ambivalenten und oft widersprîchlichen Charakter des Claudius hervorzuKeitel îbersieht bei ihrer Analyse des Kapitels ann. 11,22 – hnlich wie Devillers, 1994, 291 f. – die so wichtige Tatsache, daß im Bericht des Tacitus eben nicht Claudius, sondern allein Dolabella kritisiert wird. Htte Tacitus tatschlich einen relativierenden Effekt auf die folgenden Kapitel erzielen wollen, so htte er doch ganz bestimmt auch Claudius mit dem Antrag des Dolabella in Verbindung gebracht (vgl. dagegen ann. 13,5,1, wo das entsprechende Gesetz ausdrîcklich zu den acta Claudii gerechnet wird). Der fehlende Bezug zum Kaiser in ann. 11,22,2 – 6 ist um so aufflliger, als der Historiker fîr die gelehrten Einzelheiten des Exkurses mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit gerade auf øußerungen des Princeps selbst zurîckgegriffen hat, die dieser im Rahmen des Dolabella-Antrages gettigt haben mag; s. hierzu Koestermann ad ann. 11,22,3; Syme, 1958, 704 f.; 708 f. 684 Der erste Teil (ann. 11,13 – 15) gehçrt dem Berichtsjahr 47, der zweite Teil (ann. 11,23 – 25) hingegen dem Jahr 48 an. Doch scheint Tacitus auch hierbei die Chronologie nicht allzu streng beachtet zu haben; vgl. Koestermann ad ann. 11,13,2 (zum Bau der Wasserleitung der Jahre 47 – 52): „[…] fontes … urbi intulit ist ein Vorgriff […].“; Seif, 1973, 76. 685 Zur Komposition der hier in Frage kommenden Kapitel sowie zum teilweise widersprîchlichen Claudiusbild s. insbesondere Seif, 1973, 95 f., der die Gegenstze in der Charakterdarstellung des Claudius jedoch weniger innerhalb der Zensorenttigkeit wahrnehmen mçchte als vielmehr in der Gegenîberstellung der innen- und außenpolitischen Aktivitten (a.a.O. 95): „In den beiden Berichten îber die Censur […] erscheint er [Claudius] als der ernsthafte Reformer, der kîhne Neuerer, der selbstndig seine Entscheidungen trifft, als ein Kaiser, der sich gegenîber den Senatoren auffallend rîcksichtsvoll und mitfîhlend zeigt, dessen censorische Leistungen Anlaß zur Freude fîr den ganzen Staat sind. Dieser regen und fruchtbaren Aktivitt des Kaisers in der Innenpolitik wird in dem zentral gestellten und umfangreichsten Abschnitt des Mittelteiles […] die ignavia des Kaisers in der Außenpolitik entgegengehalten.“ Unsere Analyse der Kapitel ann. 11,13 – 15 (s. o.) hat gezeigt, daß die hier von Seif geußerte Sichtweise in Bezug auf den ersten Teil der zensorischen Maßnahmen des Claudius wenig gerechtfertigt ist.

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kehren, von dem auch Sueton zu berichten weiß.686 Doch ist in den folgenden Kapiteln immer wieder auch die Absicht des Historikers zu erkennen, den ‘Riß’ im Claudiusbild nicht allzu scharf in Erscheinung treten zu lassen. Wie wir sehen konnten, sind die zwischen die beiden Blçcke îber die Zensur des Claudius positionierten Kapitel alles andere als frei von Kritik: Vieles war dort zu vernehmen vom Ungeschick und Scheitern des Kaisers im Bereich der Außenpolitik, von dessen Furcht und Neid gegenîber erfolgreichen und angesehen Heerfîhrern wie Corbulo. Und auch das gegen ihn geplante Attentat lßt den Leser an die vielen Mißstnde seiner Regentschaft denken. Doch gerade das Bild des naiven und ahnungslosen, îberwiegend in antiquarische Belanglosigkeiten verliebten Zensors wurde seit ann. 11,15 nicht mehr bemîht. Was Claudius in den nun kommenden Kapiteln an weiteren, nunmehr durchweg positiven zensorischen Maßnahmen ergreift, soll mçglichst ungetrîbt in das Bewußtsein des Lesers treten.687 Daher kritisiert er mit dem Antrag des Dolabella zwar die gegenwrtigen Zustnde, nicht jedoch – zumindest nicht in offener Form – den Kaiser selbst. Diese Art der ‘Schonfrist’ ist freilich am Ende von Kapitel ann. 11,25 wieder vorbei, wenn Tacitus den Princeps gleichsam wieder von dem Sockel stçßt, auf den er ihn fîr einen kurzen Moment selbst gehoben hat.

686 Dies meint Keitel, 1977, 54; vgl. Griffin, 1990, 483 f; Suet. Claud. 15,1: in cognoscendo autem ac decernendo mira varietate animi fuit (sc. Claudius), modo circumspectus et sagax, interdum inconsultus ac praeceps, nonnumquam frivolus amentique similis; 16,1: Gessit et censuram intermissam diu post Plancum Paulumque censores, sed hanc quoque inaequabiliter varioque et animo et eventu. Mit Bezug auf die antiquarischen Interessen des Kaisers, die bald lcherlich, bald (in ann. 11,24; s. u.) nîtzlich erscheinen, sagt Keitel a.a.O.: „Rather than telling the reader of Claudius’ own inconsistency […], Tacitus shows us the emperor applying the same methodology to matters great and small, sometimes appropriately and sometimes not“; in eine hnliche Richtung zielen ihre Aussagen a.a.O. 65 f. 687 Die Grînde hierfîr sollen gegen Ende der Analyse des folgenden Kapitels noch genauer untersucht werden.

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5. Ann. 11,22 – 38: Die weiteren Ereignisse in Rom

5.2 Ann. 11,23 – 25: Die weitere Zensorenttigkeit des Claudius Die weiteren Amtshandlungen des Kaisers als Zensor betreffen fast ausschließlich den Senat. Die sinnvollen und zum Teil historisch bedeutenden Maßnahmen stoßen dabei auf die deutliche Zustimmung des Tacitus, deren genaue Hintergrînde noch zu erçrtern sein werden. Im Mittelpunkt der drei folgenden Kapitel steht der von den fîhrenden Mnnern der sogenannten Gallia Comata gestellte Antrag zur Aufnahme in den Senat, îber den Tacitus in Form der diesbezîglichen vor dem Kaiser und in der Kurie ergangenen Debatte berichtet. Bereits die kompositorische Anordnung des Stoffes ist ein Hinweis auf die Sympathien des Tacitus: Den zuerst ausgefîhrten Argumenten der Antragsgegner (ann. 11,23) steht die etwa doppelt so lange und an die starke zweite Position gesetzte Gegenrede des Claudius gegenîber (ann. 11,24),688 die in der Forschung viel Beachtung gefunden hat, seit im Jahr 1528 das in Fragmenten erhaltene Original auf einer Bronzetafel in Lyon entdeckt worden ist.689 øhnlich wie beim ‘Totengericht’ îber 688 Vgl. Seif, 1973, 82 f. 689 CIL XIII 1668 (=Dessau 212). Hierzu immer noch grundlegend ist das Werk von P. Fabia: La table claudienne de Lyon, Lyon 1929. Zu den recht unterschiedlichen Urteilen îber Art und Grad der Benutzung durch Tacitus s. Koestermann ad ann. 11,24,1 / 11,24,7 (jeweils mit weiterfîhrender Literatur). Auf einen detaillierten Vergleich zwischen der taciteischen Claudiusrede und den erhaltenen Teilen des Originals, dessen wesentliche Punkte die bisherige Forschung bereits herausgestellt hat, muß an dieser Stelle verzichtet werden (s. hierzu in neuerer Zeit sehr ausfîhrlich Devillers, 1994, 197 – 203; vgl. M. v. Albrecht: Meister rçmischer Prosa von Cato bis Apuleius, Tîbingen, Basel 31995, 164 – 189; einen raschen vergleichenden ˜berblick vermitteln M. Griffin: The Lyons Tablet and Tacitean Hindsight, CQ 32, 1982, 404 – 418; hier 408 – 411 sowie N. P. Miller: The Claudian Tablet and Tacitus: A Reconsideration, RhM 99, 1956, 304 – 315). Im folgenden wird auf die Inschrift lediglich insoweit Bezug genommen, als es fîr unsere Thematik der Leserlenkung von besonderem Interesse ist. Innerhalb der Literatur hervorzuheben ist die grundlegende Analyse von F. Vittinghoff: Zur Rede des Kaisers Claudius îber die Aufnahme von „Galliern“ in den rçmischen Senat, Hermes 82, 1954, 348 – 371, der auf die teilweise recht erheblichen Unterschiede zwischen den beiden Redeversionen sowie auf die generellen Schwierigkeiten hinweist, die sich einem fruchtbaren Vergleich in den Weg stellen (a.a.O. 362 ff.). Zudem betont er die Mçglichkeit, „daß Tacitus nach den damals verbindlichen historiographischen Gesetzen die Originalrede nicht nachschlug, sondern lediglich eine schon umstilisierte Rede, wie er sie bei einer historiographischen Quelle, die ihrerseits die acta [senatus]

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Augustus prsentiert Tacitus auf diese Weise ußerlich objektiv ‘beide Seiten der Medaille’, erçrtert das behandelte Thema in utramque partem, ohne jedoch am Ende einen Zweifel daran zu lassen, welche Argumentation in seinen Augen die ‘richtige’ ist.690 Tacitus erçffnet die neue Thematik mit einer kurzen Einleitung, welche den îbergeordneten Rahmen fîr die anschließende Darstellung in Rede und Gegenrede abgibt und gleichzeitig den Beginn des neuen Berichtsjahres markiert, s. ann. 11,23,1: A. Vitellio L. Vipsano consulibus, cum de supplendo senatu agitaretur primoresque Galliae, quae Comata appellatur, foedera et civitatem Romanam pridem adsecuti, ius adipiscendorum in urbe honorum expeterent, multus ea super re variusque rumor. Schon diese kurze Einleitung enthlt Informationen, welche die Sichtweise des Lesers auf die kommenden Ausfîhrungen nachhaltig beeinflussen. Der in einem kausal auflçsbaren Participium coniunctum betont nachgetragene Hinweis etwa, daß die fîhrenden Mnner der Gallia Comata schon seit langer Zeit Bîndnisvertrge und das rçmische Bîrgerrecht erlangt htten (pridem adsecuti), lßt deren Zulassung zum Senat als fast îberfllig und in der Sache vçllig gerechtfertigt erscheinen. Wenn nach der weiteren Aussage des Historikers darîber nun viel und vielerlei Gerede entstanden sei, so empfindet man die hierdurch zum Ausdruck gebrachten Widerstnde bereits jetzt als etwas îbertrieben. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet der Leser nun die im folgenden in indirekter Rede dargebotenen Argumente der namentlich nicht nher genannten Antragsgegner, s. ann. 11,23,2 – 3: et studiis diversis apud principem certabatur, adseverantium non adeo aegram Italiam, ut senatum suppeditare urbi suae nequiret. suffecisse olim indigenas consanguineis populis, nec paenitere veteris rei publicae. quin adhuc memorari exempla, quae priscis moribus ad virtutem et gloriam Romana indoles prodiderit. an parum quod Veneti et Insubres curiam inruperint, nisi coetus alienigenarum velut captivitas inferatur? quem ultra honorem residuis nobilium, aut si quis pauper e Latio senator foret? Gerade vor dem Hintergrund der zu Beginn benutzte, vorfand, in seiner Weise umbildete“ (a.a.O. 363). Jedenfalls sticht die taciteische Rede gegenîber dem Original durch ihre wesentlich straffere Form und klarere Gedankenfîhrung sowie durch ihre rhetorisch kunstvolle Ausgestaltung hervor; vgl. insbesondere v. Albrecht, 31995, 186 – 189; Griffin, 1990, 484. Beide Redeversionen weisen deutliche Reminiszenzen an die Rede des Canuleius bei Liv. 4,3 – 5 auf, weshalb man annehmen darf, daß zumindest Claudius die Liviuspassage als Vorlage fîr seine Rede herangezogen hat; vgl. Koestermann ad ann. 11,24,1; Syme, 1958, 710; Miller, 1956, 312. 690 Vgl. S. 13 ff. zu ann. 1,9 f.

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des Kapitels ergangenen Einleitung des Tacitus tritt aus diesen Zeilen eine sentimental bestimmte Abwehrhaltung hervor, die kein einziges sachlich begrîndetes Argument gegen die debattierte Neuerung fîr sich in Anspruch nehmen kann. In larmoyantem Ton wird das Idealbild einer ruhmvollen republikanischen Vergangenheit und einer alten Verfassungstradition heraufbeschworen, das angesichts der herrschenden politischen Rahmenbedingungen des frîhen Prinzipats, an die durch das verrterische quin adhuc (‘ja sogar heute noch’) ebenso beilufig wie subtil erinnert wird, dem Leser als îberholt, illusorisch und vçllig fehl am Platze erscheinen muß. In drastischen Formulierungen wird eine eigenartige Abgrenzung vorgenommen zwischen dem als vorbildhaft geschilderten ‘Urrçmischen’ (indigenae, Romana indoles) und dem als Bedrohung angesehenen ‘Fremden’ (alienigenae), das bereits mit der Aufnahme von Insubrern und Venetern regelrecht in den Senat eingebrochen sei (curiam inruperint) und nun mit dem bevorstehenden Einzug nichtitalischer Senatoren gleichsam eine Gefangenschaft (captivitas) mit sich bringen werde.691 Das hierbei verwendete Substantiv coetus entfaltet in vollem Umfang seinen oft abwertenden Sinn, der etwa mit ‘Zusammenrottung (îbler Elemente)’ oder ‘Auflauf ’ îbersetzt werden kann.692 Es fllt dem Leser schwer, diesen rîhrseligen Ressentiments etwas Stichhaltiges abzugewinnen, zumal die eigentliche Triebfeder dieser ‘Einwnde’ nicht lange im Verborgenen bleibt: Allzu deutlich sprechen Neid und kleinmîtiges 691 Zum Verstndnis der Ausdrucksweise an parum quod … nisi s. Nipperdey ad loc.: „‘Oder sei es etwa nicht genug, daß – ? Mîßte auch noch – ?’“; vgl. Koestermann ad loc.: „Auf das schon stark metaphorische inruperint […] folgt mit affektierter Steigerung der Inhalt des nisi-Satzes.“ Die meisten Herausgeber (auch Heubner) ndern das îberlieferte coetus zu coetu (Ritter). Coetus als Subjekt verleiht dem gesamten Gedankengang der Passage durch die Parallelitt der Formulierungen Veneti et Insubres … inruperint / coetus … inferatur jedoch viel mehr Durchschlagskraft (inferri im Sinne von ‘eindringen’ ist nach inrumpere ein weiterer Begriff der Militrsprache; vgl. ann. 2,17,3: simul pedestris acies infertur…; ferner Liv. 31,37,3; 33,15,6) und lßt sich halten, wenn man im folgenden captivitas als prgnanten Ausdruck versteht: „Ursache fîr Gefangenschaft“; vgl. Furneaux ad loc., der ebenfalls an coetus festhlt und îbersetzt: „‘the condition of a captured city’ (cp. 13. 25, 2), governed by an alien race (on the supposition that the new senators would swamp the old).“ Die von Koestermann fîr den Erhalt von coetus als notwendig erachtete konkrete Auflçsung von captivitas als „fremdes Gesindel von Gefangenen, die auf uns losgelassen werden“ (vgl. Orelli – zitiert bei Furneaux ad loc.) ergibt keinen befriedigenden Sinn. 692 S. ThLL III, Sp. 1440, 33 ff. (unsere Stelle dann 1443, 33 f.); vgl. OLD s. v. coetus.

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Konkurrenzdenken aus der anschließend vorgebrachten Frage, welche Ehre denn noch fîr die verbliebenen (romstmmigen) Adligen oder einen ‘bedîrftigen’ Senator aus Latium verbleibe, wobei das Attribut pauper in Anbetracht des gewaltigen senatorischen Mindestzensus eine fîr jedermann erkennbare maßlose Verzerrung der Realitt darstellt.693 Die Animositten gegen die alienigenae erreichen schließlich ihren Hçhepunkt, wenn die Sprecher am Ende ihrer Ausfîhrungen die alte, lngst der geschichtlichen Vergangenheit angehçrende Feindschaft zwischen Rçmern und Galliern beschwçren und damit nichts anderes als ihre vçllige Hilflosigkeit verraten, s. ann. 11,23,4: oppleturos omnia divites illos, quorum avi proavique hostilium nationum duces exercitus nostros ferro vique ceciderint, divum Iulium apud Alesiam obsederint. recentia haec: quid si memoria eorum oreretur, qui Capitolio et are Romana manibus eorundem prostrati s? fruerentur sane vocabulo civitatis: insignia patrum, decora magistratuum ne vulgarent. Unzulssig verallgemeinernd wird hier behauptet, daß jene Reichen – auch aus den Worten divites illos tritt unverhohlen Neid hervor – alle Bereiche (omnia) anfîllen wîrden, obwohl es im Grunde konkret nur um den Zugang zum Senat geht. Die angeblich erst kîrzlich erfolgten (recentia haec) verlustreichen Kmpfe der Gallier gegen rçmische Heeresaufgebote, oder gegen Caesar bei Alesia, liegen bei nherer ˜berprîfung des Sachverhalts bereits mindestens einhundert Jahre zurîck, und wenn danach mit der Erwhnung des ‘Galliersturms’ und der Belagerung des Kapitols im Jahres 390 v. Chr. die noch viel weiter zurîckliegende Vergangenheit bemîht wird,694 gewinnt die ganze Argumentation nicht eben an ˜berzeugungskraft, sondern rutscht vielmehr in den Bereich des Lcherlichen hinab. Daß sie sich ‘Bîrger’ nennen dîrften, sei fîr die Gallier bereits Ehre genug. Ein „schwîlstiger Abschluß der Rede“695 zieht das Fazit: Man dîrfe die Insignien der Senatoren, die Ehrenzeichen der Magistrate nicht zum Gemeingut erklren. Gnzlich unbeeindruckt von derlei Auslassungen habe sich der Kaiser sowohl sofort als auch spter vor dem Senat zu Wort gemeldet,696 be693 Vgl. Koestermann ad loc. 694 Die ˜berlieferung dieser Zeilen ist stark verderbt (s. Koestermann und Furneaux ad loc.), weshalb auf eine detaillierte Interpretation des genauen Wortlautes an dieser Stelle verzichtet werden muß. 695 Koestermann ad loc. 696 Die unmittelbare Reaktion wird im engen Kreis des Kronrates stattgefunden haben. Tacitus hat demnach in den folgenden Ausfîhrungen des Claudius den Inhalt von zwei Reden zusammengefaßt; vgl. Koestermann ad loc.

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richtet Tacitus weiter und leitet mit diesen Worten îber zu der nun in direkter Form (!) wiedergegebenen Rede des Kaisers,697 s. ann. 11,24,1: His atque talibus haud permotus princeps et statim contra disseruit et vocato senatu ita exorsus est: … In einer fîr den Leser ganz ungewohnten Art und Weise wird der ansonsten als schwach und leicht beeinflußbar geschilderte Claudius hier als selbstsicherer und entschlossener Princeps prsentiert, der sich unbeirrt und tatkrftig fîr seine ˜berzeugungen engagiert.698 Es ist sicherlich nicht allein dem Effekt einer wirkungsvollen Assonanz geschuldet, daß der Historiker an dieser Stelle Claudius nicht namentlich erwhnt, sondern ihn unter Verwendung der ‘offiziellen’ Kaisertitulatur princeps in Aktion treten lßt, wird doch auch auf diese Weise ein allzu starker Kontrast innerhalb der Charakterdarstellung des Kaisers vermieden.699 Der gedrngte Partizipialstil (haud permotus princeps / vocato senatu) bringt zusammen mit dem gleichsam gedoppelten Auftreten des Kaisers (et statim … et vocatu senatu) dessen unverdrossene und energische Reaktion eindringlich zum Ausdruck.700 Ohne weitere Umschweife folgt nun die Gegenrede, in der sich Claudius zunchst auf seine eigenen Vorfahren bezieht, s. ann. 11,24,1: … ‘maiores mei, quorum antiquissimus Clausus origine Sabina simul in civitatem Romanam et in familias patriciorum adscitus est, hortantur uti paribus consiliis in re publica capessenda, transferendo huc quod usquam egregium fuerit. Indem der Kaiser an seinen ltesten Vorfahren Attus Clausus erinnert, der trotz seiner sabinischen Herkunft zugleich in die rçmische Bîrgergemeinschaft und unter die Familien der Patrizier aufgenommen worden sei, und sich mit dieser øußerung gerade auf die rçmische Frîhzeit bezieht, welche zuvor von der Gegenseite als Idealbild beschworen worden ist, straft er deren Argumentation ein erstes Mal Lîgen. Mit dem Beispiel des Urahns der gens Claudia ist ihre Behauptung, daß zur Zeit der alten Republik die mit Rom verwandten Stmme sich mit stadtrçmischen Senatoren zufrieden gegeben htten (s. ann. 11,23,2: suffecisse olim indigenas consan697 Es handelt sich hierbei um die einzige direkte Wiedergabe einer Rede des Claudius innerhalb der erhaltenen Annalenbîcher; s. Syme, 1958, 295; Griffin 1990, 484. 698 Vgl. Seif, 1973, 81 f.; Griffin, 1982, 418. 699 Wie befremdlich htte hingegen die Junktur haud permotus Claudius auf einen Leser des Tacitus wirken mîssen! 700 Vgl. U. Schillinger-Hfele: Claudius und Tacitus îber die Aufnahme von Galliern in den Senat, Historia 14, 1965, 443 – 454, hier 449: „Dabei ist der Szenenwechsel so beilufig erwhnt (vocato senatu), daß der Eindruck unmittelbar aufeinanderfolgender Rede und Gegenrede erhalten bleibt.“

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guineis populis, nec paenitere veteris rei publicae) offensichtlich widerlegt.701 Der Hinweis auf seine eigene Abstammung bietet dem Leser zugleich die Erklrung fîr sein eifriges Eintreten fîr die Sache der Gallier. Der Kaiser fîhlt sich durch seine Vorfahren dazu verpflichtet, denselben Prinzipien in der Staatsfîhrung zu folgen (maiores mei … hortantur). Der Grundsatz, was irgendwo ausgezeichnet gewesen ist, nach Rom in den Senat (huc) zu holen,702 ist in der Sache durch qualitative Kriterien gut begrîndet: Fhige Senatoren, gleich welcher Herkunft (vgl. quod usquam egregium), kçnnen dem Staat doch nur von Nutzen sein. Souvern îbertrgt der Kaiser nun in seiner weiteren Rede das durch seine eigene Ahnen gegebene Exempel zunchst auf andere große und altehrwîrdige Familien Roms, um dann den verhandelten Sachverhalt geographisch immer weiter auszudehnen, erst auf verschiedene Landschaften Italiens, dann auf Italien selbst und schließlich auf die Provinzen, s. ann. 11,24,2 – 3: neque enim ignoro Iulios Alba, Coruncanios Camerio, Porcios Tusculo, et ne vetera scrutemur, Etruria Lucaniaque et omni Italia in senatum adscitos, postremo ipsam ad Alpes promotam, ut non modo singuli viritim, sed terrae, gentes in nomen nostrum coalescerent. tunc solida domi quies703 et adversus externa floruimus, cum Transpadani in civitatem recepti, cum specie deductarum per orbem terrae legionum additis provincialium validissimis fesso imperio subventum est. num paenitet Balbos ex Hispania nec minus insignes viros e Gallia Narbonensi transivisse? manent posteri eorum nec amore in hanc patriam nobis concedunt. Nachdem sich Claudius insbesondere durch seinen Verweis auf die Herkunft der Iulii, Coruncanii und Porcii als sachkundiger Fachmann auf antiquarischem Gebiet ausgewiesen hat (man beachte die Litotes neque enim ignoro), behandelt er in chronologischer Reihenfolge die schrittweise erfolgte Ausweitung des rçmischen Bîrgerrechts von dem engeren Umkreis Roms bis hin zu den Alpen und darîber hinaus, betont das dadurch bewirkte Zusammenwachsen Italiens und des rçmischen Bundesgebietes nach innen sowie die durch die Einbeziehung gerade der krftigsten Elemente der 701 Vgl. Schillinger-Hfele, 1965, 451; die Zugehçrigkeit zu den Patriziern war in frîhrepublikanischer Zeit die Voraussetzung fîr die senatorische ømterlaufbahn. 702 huc steht an dieser Stelle fîr in hanc curiam, wie D. Flach: Die Rede des Claudius de iure honorum Gallis dando, Hermes 101, 1973, 313 – 320 (hier 318) gegenîber einer Deutung von Schillinger-Hfele, 1965, 451 îberzeugend dargelegt hat. 703 An dieser Stelle weiche ich von der Interpunktion Heubners (Semikolon hinter quies) ab; die Grînde wird die folgende Analyse geben.

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Provinzen in die rçmischen Legionen gewonnene Strkung des bereits erschçpften Reiches nach außen. Damit entkrftet er die von den Antragsgegnern vorgebrachten Argumente, die ja gerade eine angebliche Schwchung des Gemeinwesens durch den coetus alienigenarum (ann. 11,23,3) geltend machen wollten (velut captivitas inferatur). Dabei zeichnet sich die Darstellung des Tacitus durch eine besondere Dichte aus: In der Formulierung in nomen nostrum coalescerent kollidiert die Prposition in leicht mit dem Prfix des nachfolgenden Verbums (co-). Auf diese Weise werden ein Hinein- und ein Zusammenwachsen zugleich ausgedrîckt.704 Der folgende Satz bietet dem Verstndnis Schwierigkeiten, die manche Herausgeber zu einer starken Interpunktion hinter quies veranlaßt haben.705 Da auf den ersten Blick daß einleitende Kolon tunc solida domi quies aus inhaltlichen Grînden nicht zu dem folgenden cumSatz zu passen scheint, soll es davon abgetrennt und auf die vorhergehende Aussage bezogen werden. Dieser Eingriff scheint jedoch nicht nçtig zu sein, wenn man die gesamte Aussage tunc solida domi quies et adversus externa floruimus als zusammenfassenden Rîckbli ck auf die inneren und ußeren Verhltnisse auffaßt: ‘Damals herrschte Ruhe im Innern und Sicherheit nach Außen, nachdem die Transpadaner eingebîrgert und dem Reich in Gestalt der îber den Erdkreis entsandten Legionen, in denen nunmehr auch die krftigsten Mnner provinzialer Herkunft dienten, neue Kraft eingeflçßt worden war.’706 Das vorzeitige Partizip Perfekt deductarum (nicht deducendarum!) kann als weiteres Indiz fîr eine rîckblickende Aussage angesehen werden. Die rhetorisch zu wertende Frage, ob man sich etwa der aus Spanien stammenden Balbi707 schmen mîsse (num paenitet Balbos … transivisse) erinnert 704 S. v. Albrecht, 31995, 183, der hier von einer „˜berlagerung zweier Vorstellungen“ spricht. 705 So namentlich Heubner und Koestermann, die beide ein Semikolon hinter quies setzen und hierin einem von Syme, 1958, 803 geußerten Vorschlag folgen. 706 Vgl. Schillinger-Hfele, 1965, 451, die das durch tunc eingeleitete Kolon offenbar als Folge begreifen mçchte: „die Einbeziehung der Transpadana in das Bîrgerrecht hat gerade eine Epoche innerer und ußerer Stabilitt gebracht (tunc solida domi quies … recepti).“; Nipperdey und Furneaux ad loc. Die von Flach, Hermes 101, 1973, 319 f. vorgetragene Interpretation des Satzgefîges, die auf der Annahme einer chiastischen Satzstruktur beruht, scheint mir zu spitzfindig und kompliziert zu sein, als daß sie der Darstellungsabsicht des Tacitus gerecht werden kçnnte. 707 Gemeint sind an dieser Stelle L. Cornelius Balbus aus Gades, der von Pompeius das Bîrgerrecht erhalten hatte und im Jahr 40 v. Chr. als erster Auslnder Konsul war, sowie dessen Neffe, dem als ersten Nichtrçmer ein Triumph bewilligt

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sprachlich an die Formulierung der Gegenseite, die ausgesagt hatte: … nec paenitere veteris rei publicae (ann. 11,23,2).708 Die allgemeine ˜berlegung, daß man sich vergangener Zeiten durchaus positiv erinnern dîrfe, kann offenbar von beiden Seiten fîr die jeweilige Argumentation in Anspruch genommen werden, wobei die konkreten øußerungen des Kaisers, der mit der namentlichen Nennung der Cornelii Balbi zumindest ein greifbares Beispiel fîr eine erfolgreiche Ausweitung des ius honorum anfîhren kann, mehr ˜berzeugungskraft besitzen als der sehr abstrakte Bezug auf eine vetus res publica. Außerdem seien, so lßt der Princeps desweiteren sinngemß verlauten, auch aus anderen Provinzen wie der Gallia Narbonensis fhige Mnner nach Rom gelangt, deren Nachkommen noch lebten und in ihrer Liebe zum Vaterland den inzwischen eingefleischten Stadtrçmern (nobis) nicht nachstînden. Es besteht demnach îberhaupt kein triftiger Grund, so mag der Leser jetzt bereits folgern, das bewhrte Erfolgsrezept nicht auch auf weitere Teile des Reiches anzuwenden. Doch begnîgt sich der Kaiser nicht mit der bloßen sachlichen Widerlegung der gegnerischen Argumente. Darîber hinaus ist er bemîht, an den historischen Beispielen der Lakedaimonier und Athener aufzuzeigen, daß die konsequente Ausgrenzung auslndischer Elemente fîr einen Staat nicht einfach nur tçricht und unvorteilhaft sei, sondern trotz aller militrischer Strke sogar zu einer existenziellen Gefhrdung der gesamten politischen Ordnung geraten kçnne, s. ann. 11,24,4: quid aliud exitio Lacedaemoniis et Atheniensibus fuit, quamquam armis pollerent, nisi quod victos pro alienigenis arcebant? at conditor nostri Romulus tantum sapientia valuit, ut plerosque populos eodem die hostes, dein cives habuerit. advenae in nos regnaverunt; libertinorum filiis magistratus mandare non, ut plerique falluntur, repens, sed priori populo factitatum est. Durch das Stichwort der alienigenae wird auf sprachlicher Ebene eine nicht zu îbersehende Verbindung zu den øußerungen der Vorredner hergestellt (vgl. erneut ann. 11,23,3: coetus alienigenarum). Dem Leser soll in aller Deutlichkeit bewußt werden, daß der hier aufgezeigte historische Fehler der Lakedaimonier und Athener gleichzeitig auch der Fehler ist, den die Gegner der beantragten Neuerung nun im Begriff sind zu wiederholen. Ausgerechnet diejenigen, die sich zuvor als Beschîtzer des Gemeinwesens aufgeschwungen haben, erscheinen somit als die eigentlichen Triebkrfte eines drohenden machtpolitischen Niedergangs. Diese ironische Entlarwurde; s. Koestermann ad loc. Beide Personen tauchen im Original der Rede nicht auf; s. hierzu weiter unten Anm. 738. 708 Vgl. Schillinger-Hfele, 1965, 451.

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vung der Gegenseite wird im folgenden noch weiter getrieben, wenn Claudius dem Versagen der beiden griechischen Poleis die kluge Praxis des rçmischen Staatsgrînders entgegenhlt, der die meisten Vçlker an ein und demselben Tag zunchst als Feinde, dann als Bîrger betrachtet habe. Denn durch den Verweis auf Romulus wird die Integration fremder Vçlkerschaften in das Gemeinwesen mit den ersten Ursprîngen Roms verknîpft und somit zu einem typischen Zug gerade der ‘urrçmischen’ Sitten und Verhaltensnormen erklrt, welche die Verfechter des tugendhaften priscus mos (vgl. ann. 11,23,2) doch so sehr auf ihre Fahnen geschrieben haben. Es hat an dieser Stelle ganz den Anschein, als seien ihre diesbezîglichen øußerungen ohne eine tatschliche Kenntnis der rçmischen Frîhgeschichte erfolgt und daher schlichtweg unzutreffend gewesen. Dieser Eindruck wird im weiteren Verlauf der Rede verstrkt: Belehrend klrt sie der Kaiser darîber auf, daß Rom bereits zu Beginn von Fremden (advenae) regiert worden sei und daß es sich bei der Vergabe von ømtern an die Sçhne Freigelassener nicht erst um eine erst kîrzlich ergangene Regelung handle, wie die meisten (plerique) irrtîmlicherweise glaubten, sondern um eine bereits zur Zeit der ølteren (priori populo) îbliche Verfahrensweise.709 Die lngst gngige Praxis in der Ausweitung des ius honorum wird durch das Frequentativum factitare sinnfllig gemacht.710 Alle die von Claudius angefîhrten Details scheinen die Antragsgegner bei ihrer nunmehr oberflchlich und ignorant anmutenden Argumentation außer Acht gelassen zu haben. Fîr den Leser sind sie von nun an zu den unwissenden plerique zu zhlen, die vçllig irrigen Vorstellungen anhngen und deshalb nicht in der Lage sind, in der hier debattierten Frage ein sachgerechtes Urteil zu fllen. Anschließend wendet sich Claudius gegen das von der Gegenseite aufgebaute Feindbild der Gallier, s. ann. 11,24,5 – 6: at cum Senonibus 709 Vgl. Koestermann ad loc.: „Mit priori populo lenkt Tacitus das Augenmerk auf die alte Republik […].“ Keitel, 1977, 68 ist der Ansicht, daß der Hinweis auf die libertinorum filii, der keine Entsprechung in der Originalrede des Kaisers findet (vgl. Griffin, 1982, 410; Miller, 1956, 312), ein versteckter Seitenhieb des Tacitus auf die machtvolle Position der Freigelassenen am Hof des Claudius sei; vgl. K. Wellesley: Can you trust Tacitus?, Greece&Rome N.S. 1, 1954, 13 – 33; hier 27. Zutreffender interpretiert m. E. v. Albrecht, 31995, 184 die Stelle: „Auf diese Zuspitzung [Sçhne von Freigelassenen erhalten Staatsmter] hatte Tacitus schon zuvor hingearbeitet, als er die Verwandlung der Feinde in Bîrger sich innerhalb eines Tages vollziehen ließ. Solche Flle sollen als dunkler Hintergrund die Harmlosigkeit der augenblicklichen Maßnahme hervortreten lassen.“ 710 S. v. Albrecht, 31995, 184.

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pugnavimus: scilicet Vulsci et Aequi numquam adversam nobis aciem instruxere. capti a Gallis sumus: sed et Tuscis obsides dedimus et Samnitium iugum subiimus. ac tamen, si cuncta bella recenseas, nullum breviore spatio quam adversus Gallos confectum: continua inde ac fida pax. iam moribus artibus adfinitatibus nostris mixti aurum et opes suas inferant potius quam separati habeant. Durch den rhetorischen Kunstgriff der Occupatio greift der Kaiser zunchst die letzten noch bestehenden Einwnde seiner Gegner auf, wobei eine „unmittelbare Kontrastierung von Behauptung und Gegenargument“711 eine einprgsame, gleichsam Punkt fîr Punkt erfolgte Widerlegung erzielt: Der Bemerkung, daß man gegen den gallischen Stamm der Senonen habe kmpfen mîssen, hlt der Kaiser in beißender Ironie entgegen, daß andere, italische Vçlkerschaften wie die Volsker und Aequer ‘freilich niemals’ gegen Rom die Waffen erhoben htten.712 Jedem antiken Leser dîrften die schweren Kmpfe, die Rom whrend seiner frîhrepublikanischen Phase gerade gegen die beiden hier erwhnten Stmme durchzustehen hatte, allein schon aus der berîhmten Sage um Coriolan bestens bekannt gewesen sein.713 Danach wird durch die Formulierung capti a Gallis sumus die von den Antragsgegnern erwhnte schmachvolle Einnahme des Kapitols (vgl. ann. 11,23,4) aufgegriffen, jedoch sofort mit Beispielen großer Demîtigungen pariert, welche die Rçmer gegen die Etrusker und vor allem gegen die Samniten erlitten haben.714 Die Erinnerung an Lars Porsenna, auf dessen Wirken 711 Koestermann ad loc.; vgl. v. Albrecht, 31995, 184 f. 712 Vgl. Schillinger-Hfele, 1965, 452; v. Albrecht, 31995, 186. 713 Zu den wechselvollen und immer wieder aufflammenden Kmpfen der Rçmer gegen Volsker und øquer im 5. und 4. Jh. v. Chr. vgl. G. Radke: Volsci, RE 9, A1, 1961, Sp. 773 – 827, bes. 807 – 821; M. Buonocore: Volsci, DNP 12,2, 2002, Sp. 312 – 314; Chr. Hîlsen: Aequi/Aequiculi; RE 1,1, 1893, Sp. 597 f.: „In der Geschichte treten die A[equer] von Anfang an in enger Verbindung mit den Volskern als gefîrchtete Feinde Roms auf […].“ Fîr unseren Zusammenhang besonders aussagekrftig ist eine Stelle bei Livius, welche sich auf die Zeit unmittelbar nach der Einnahme Roms durch die Gallier im Jahre 390 v. Chr. bezieht, s. Liv. 6,2,1 f: Nec diu licuit quietis consilia erigendae ex tam gravi casu rei publicae secum agitare. Hinc Volsci, veteres hostes, ad exstinguendum nomen Romanum arma ceperant; hinc Etruriae principum ex omnibus populis coniurationem de bello ad fanum Voltumnae factam mercatores adferebant. 714 Die Einnahme Roms wird im Original der Rede von Claudius nicht erwhnt; vgl. Miller, 1956, 311; Griffin, 1982, 406; 410 vermutet in Anlehnung an Syme, 1958, 624, daß Tacitus diesen Zusatz von sich aus eingefîgt hat, um die Gegenseite zu diskreditieren, s. Syme a.a.O.: „Anger and pathos are helped out (it happens often) by the appeal to race or history, with arguments crude, feeble, or

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der Kaiser hier mit den Worten sed et Tuscis obsides dedimus anspielt,715 sowie das Trauma der Niederlage an den Caudinischen Pssen dîrften im Bewußtsein der Zeitgenossen nicht minder schwer gewogen haben als die Einnahme Roms durch die Kelten. Damit ist gleichzeitig der Boden bereitet fîr einen entwaffnenden Vergleich: Wenn man smtliche Kriege îberdenke, so sei keiner in so kurzer Zeit beendet gewesen wie der gegen die Gallier.716 Nach dieser Argumentation, die genau dem Denkmuster der Gegenseite entspricht und daher um so schlagkrftiger ist, mîßten die Gallier also noch vor allen anderen unterworfenen Vçlkern das Recht erhalten, rçmische ømter zu bekleiden und in den Senat zu ziehen. Mit der Aussage, daß seither (d. h. seit den Feldzîgen Caesars), ununterbrochener und zuverlssiger Friede (continua inde ac fida pax) mit den Galliern herrsche,717 versucht Claudius das Bild der kriegerischen und den Rçmern feindlich gesinnten Kelten endgîltig zu zerstçren, um es anschließend durch die Betonung der mittlerweile gewachsenen Gemeinsamkeiten zwischen Rçmern und Galliern gerade in sein Gegenteil umzukehren. Das dreigliedrige Asyndeton moribus artibus adfinitatibus sowie das besonders anschauliche prdikative Partizip mixti bringen die Vielfltigkeit und den hohen Grad der bereits (iam) bestehenden Verbindungen eindringlich zum Ausdruck. Vor dem Hintergrund, daß die Gallier bereits durch Sitten, Bildung und Verwandtschaftsbeziehungen mit den Rçmern gleichsam ‘vermischt’ seien, scheint deren Aufnahme in den Senat nur noch die letzte Stufe einer vçllig harmonischen Entwicklung zu sein. Hierzu paßt auch die Bemerkung des Claudius, daß die auswrtigen Mnner angesichts der engen Verquickung mit dem Rçmervolk lieber ihr Gold und ihren Reichtum in die Hauptstadt einfîhren als fîr sich allein behalten sollten. Mit diesem Argument kommt er spurious. So Tacitus intended. He made them up, to refute them majestically [mit weitere Belegen fîr die Anwendung dieser Technik in Anm. 1].“ 715 Vgl. Koestermann ad loc. 716 Die Aussage bezieht sich auf den gallischen Krieg Caesars; Nipperdey ad loc. sieht an dieser Stelle gegenîber der Originalrede des Kaisers eine gewisse Glttung durch Tacitus; vgl. Wellesley, 1954, 30 f. 717 Dabei verliert der Kaiser leicht die Wahrheit aus den Augen; vgl. Koestermann ad loc.: „Auf die Erschîtterungen durch den Sacrovir-Aufstand im J. 21 n. Chr. (zu 3,40 – 46) gehen weder Claudius noch Tacitus ein, wohl ein eindeutiger Beweis, daß letzterer hier nur die Rede des Kaisers vor Augen hatte.“ Dieser ußert sich im Original tatschlich hnlich glttend, s. CIL XIII 1668 (=Dessau 212), Col. II, 32 – 36: … si quis hoc intuetur, quod bello per decem annos exercuerunt divom Iulium, idem opponat centum annorum immobilem fidem obsequiumque multis trepidis rebus nostris plusquam expertum.

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zurîck auf den von der Gegenseite unternommen Seitenhieb gegen die divites illi (s. ann. 11,23,4) und kehrt ihn durch seinen indirekt geußerten Gedanken, daß die aus Gallien stammenden Senatoren ihren Reichtum teilen und damit dem Staat zugute kommen lassen kçnnten, fîr seine Zwecke um.718 Damit ist auch der letzte noch îbrige gegnerische Einwand entkrftet. Am Ende seiner Rede zieht der Kaiser das Fazit seiner Ausfîhrungen, das die beantragte Neuerung abermals einreiht in die lange Tradition der rçmischen Verfassungsentwicklung, s. ann. 11,24,7: omnia, patres conscripti, quae nunc vetustissima creduntur, nova fuere: plebei magistratus post patricios, Latini post plebeios, ceterarum Italiae gentium post Latinos. inveterascet hoc quoque, et quod hodie exemplis tuemur, inter exempla erit.’ Indem der Kaiser aufzeigt, daß alles, was heutzutage als uralt gelte, einmal neu gewesen sei, stellt er die Aufnahme der Gallier in den Senat in die kontinuierliche Fortentwicklung des rçmischen Staates. Ein einprgsames Isokolon veranschaulicht die schrittweise erfolgte Ausweitung des ius honorum auf die einzelnen Bevçlkerungsgruppen von den Patriziern îber die Plebejer und Latiner bis hin zu den italischen Stmmen. Die Vergabe dieses Rechtes auf die Gallier erscheint vor diesem Hintergrund als der nur konsequente nchste Schritt.719 Auch dieser werde sich mit der Zeit zu etwas Altem entwickeln, und was man heute mit Beispielen verteidige, werde einst selbst zu den Beispielen gehçren. Mit diesen abschließenden Bemerkungen ist den Argumenten der Gegenseite nun vollends der Boden entzogen. Die Rede des Claudius ist insgesamt geprgt von der ihm eigenen antiquarischen Gelehrsamkeit.720 Diese typische Eigenart des Kaisers, die Tacitus an vielen anderen Stellen seiner Annalen mit beißendem Spott hervortreten lßt, kommt hier ußerst positiv zur Geltung: Als Experte kennt sich Claudius in der rçmischen Geschichte bestens aus und vermag daher seine sehr emotional agierenden Gegner mit sachlich fundierten Argumenten zu widerlegen, oft sogar bloßzustellen. Aus diesem Gegensatz von subjektiver Sentimentalitt auf der einen und objektivem Sachverstand auf der anderen Seite gewinnen die Ausfîhrungen des 718 Vgl. Schillinger-Hfele, 1965, 452; zurîckzuweisen ist der von Keitel, 1977, 68 suggerierte Zusammenhang zwischen dieser Stelle und dem Bild des Tacitus von der Kuflichkeit Roms zur Zeit des Claudius; vgl. Wellesley 1954, 31. Fîr eine solche Assoziation bietet der Text keinerlei Anhaltspunkte. 719 Vgl. Schillinger-Hfele, 1965, 453. 720 Dies mag auf die (direkte oder indirekte) Heranziehung der Originalrede als Quelle zurîkzufîhren sein; vgl. die lehrreichen detaillierten Ausfîhrungen des Claudius CIL XIII 1668 (=Dessau 212), Col. I, 9 – 27.

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Kaisers wesentlich an ˜berzeugungskraft.721 Die Rede des Claudius widerlegt die Argumente der Gegenseite Punkt fîr Punkt. So gut wie kein einziger der zuvor genannten Einwnde bleibt am Ende des Kapitelpaares unwidersprochen stehen. Die gegenstzlichen Reden scheinen exakt aufeinander zugeschnitten zu sein,722 um einen mçglichst großen Kontrast zu erzielen, der die øußerungen des Kaisers um so îberzeugender erscheinen lßt.723 Sollte Tacitus die Originalrede des Claudius als Quelle herangezogen und die Worte der Antragsgegner nicht ebenfalls den acta senatus entnommen haben, so ist es durchaus denkbar, daß er die gegnerische Position aus der tatschlich gehaltenen Rede des Kaisers gleichsam herausgelesen und seine Version der Rede darauf abgestimmt hat.724 721 Vgl. Devillers, 1994, 207 f. 722 Vgl. Seif, 1973, 81; Schillinger-Hfele, 1965, 450 – 453. 723 Vgl. Vittinghoff, 1954, 370: „Tacitus wre in der Lage gewesen, die Gegengrînde der Opposition, wenn er sie geteilt htte, îberzeugender darzulegen, als es jene Anfîhrung von lngst îberholten antigallischen und antitranspadanischen Ressentiments vermag. […] So wie es [das Urteil des Tacitus] jetzt da steht, wirkt der Widerspruch nur reaktionr und seltsam anachronistisch, fast nur wie eine Folie, von der sich die klaren und unwiderlegbaren politischen Einsichten der großartigen Kaiserrede abheben“; Griffin, 1982, 414: „The extant portion of the inscribed speech suggests that the opposition was less narrow minded than in Tacitus […].“ Somit erîbrigt sich wohl die von Devillers, 1994, 205; 206 f. aufgeworfene Frage, warum Tacitus trotz der fîr sich allein bereits îberzeugenden Rede des Claudius die Gegenseite îberhaupt zu Wort hat kommen lassen. Seine hierzu angebotene Erklrung, daß Tacitus die Opposition deshalb in seine Darstellung aufgenommen habe, um durch die Angabe von Gegengrînden die Maßnahme des Claudius zu kritisieren und das in ann. 11,24 entworfene positive Bild des Kaisers mit einem Schatten zu belegen (a.a.O. 207: „Il [Tacite] jette une ombre sur l’ initiative du prince en montrant que, toute justifi¤e qu’elle f•t, elle ne faisait pas l’unanimit¤. Comme dans le r¤cit de l’avºnement de Tibºre par exemple, il cherche ” minimiser une circonstance favorable a l’empereur en montrant l’existence d’une opposition. Dºs lors, le discours rapport¤ en XI, 23,2 – 4 para‚t mis au service d’un thºme sp¤cifique, la critique de Claude […]“), geht m. E. vçllig an der Intention des Autors vorbei. Htte Tacitus das Bild des Claudius tatschlich auf diese Weise relativieren wollen, so htte er die Position der Gegenseite doch etwas weniger absurd erscheinen lassen und zudem sicherlich als Antwort auf die Ausfîhrungen des Princeps gestaltet. Zu den relativierenden Nachtrgen in Bezug auf das taciteische Tiberiusbild s. o. S. 43 ff. 724 Vgl. Devillers, 1994, 206; Griffin, 1982, 405; 414; Miller, 1956, 313, wo die Ansicht vertreten wird, daß den Argumenten der Gegner viel mehr noch durch die Originalrede des Kaisers begegnet wird: „[…] if a careful comparison is made, it will be seen that the arguments in chapter 23 are answered much more specifically by the original speech than by A. xi, 24 [ …].“ Da Tacitus im Falle der hier angenommenen Quellenlage den Inhalt der Originalrede also offenbar

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Neben den erwhnten inhaltlichen Aspekten wirken in formaler Hinsicht die Position der kaiserlichen Gegenrede an zweiter Stelle sowie deren doppelte Lnge in die von Tacitus gewînschte Richtung.725 Die in direkter Form wiedergegebenen Worte des Kaisers muten außerdem weitaus lebhafter und eindringlicher an als die in der oratio obliqua dargestellten øußerungen der Gegenseite. Am Ende des Rededuells schließt sich der Leser bereitwillig der Seite des Claudius an. Kommen wir nun zu den mçglichen Grînden, warum Tacitus den Ausfîhrungen des ansonsten ungeliebten Kaisers an dieser Stelle so ungemein positiv gegenîbersteht. Bereits Vittinghoff hat in seiner Analyse des Kapitelpaares ann. 11,23 f. bemerkt, daß die øußerungen des Claudius zweifellos die Ansichten des Tacitus widerspiegeln, und diese Feststellung mit der provinzialen Herkunft unseres Historikers verknîpft.726 Zwar liegen deren Hintergrînde bis heute im Dunkeln, doch darf an der außeritalischen Heimat des Tacitus, dessen Geburtsort womçglich sogar in Gallien (Belgica) zu suchen ist, wohl nicht mehr gezweifelt werden.727 Tacitus hatte demnach ein außerordentliches Interesse an dem in ann. 11,23 f. behandelten Fall und konnte aufgrund seines eigenen Werdeganges den Worten des Kaisers nur beipflichten.728

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auf zwei Reden aufgeteilt hat, mîssen bei einem Vergleich mit der Inschrift von Lyon unbedingt auch die Worte der Opposition herangezogen werden. Eine isolierte Betrachtung allein der (taciteischen) Claudiusrede wre fîr diese Zwecke verfehlt, wie Schillinger-Hfele, 1965, 453 zu Recht betont. S. hierzu auch Vittinghoff, 1954, 370. S. Vittinghoff, 1954, 370; 371; vgl. Seif, 1973, 82. Der von Plin. NH 7,76 genannte Ritter und Procurator der Belgica, Cornelius Tacitus, dîrfte mit großer Wahrscheinlichkeit der Vater oder Onkel unseres Historikers gewesen sein; vgl. Vittinghoff, 1954, 371. Andere Indizien wiederum deuten auf die Transpadana oder andere Regionen außerhalb des italischen Kernlandes, etwa die Gallia Narbonensis; zur ußerst strittigen Frage nach der Herkunft des Tacitus s. ausfîhrlich Syme, 1958, 611 – 624; 797 f.; vgl. St. Borzsk: P. Cornelius Tacitus. Der Geschichtsschreiber, RE-Suppl. XI, Mînchen 21978, Sp. 376 – 385. Vgl. Griffin, 1982, 418, die zustzlich auf die Zeitumstnde verweist, in denen der Historiker selbst lebte: Zur Zeit Traians und Hadrians, beide Kaiser selbst aus Spanien stammend, hatten sich tîchtige Mnner aus den Provinzen lngst in der politischen Fîhrungsschicht Roms etabliert. Der Erfolg der auch von Claudius unternommenen Anstrengungen zur Integration außeritalischer Elemente war dabei nicht zu îbersehen und konnte von keinem Historiker ernsthaft in Zweifel gezogen werden; vgl. Syme, 1958, 624. Wohl zu Recht wendet sich Griffin 1982, a.a.O. Anm. 49 gegen die von A. de Vivo geußerte Vermutung, Tacitus wolle den Philhellenismus Traians und Hadrians an den Pranger stellen, indem er

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Doch geht die Sympathie, die Tacitus der Rede des Princeps an dieser Stelle deutlich entgegenbringt, einher mit dem bereits auf kompositorischer Ebene beobachteten Bestreben, den unvermeidbaren Kontrast zu dem ansonsten negativ gezeichneten Charakterportrt des Claudius etwas abzufedern. Das îberraschend starke Engagement des Princeps wird durch den eigens angefîhrten Hinweis auf die sabinische Abstammung seines ltesten Vorfahren (ann. 11,24,1) dem Leser auf indirekte Weise begreiflich gemacht.729 Denn als Nachfahre eines Mannes nichtstadtrçmischer Herkunft konnte auch er sich von den irrationalen und fremdenfeindlichen Ressentiments der Opposition durchaus betroffen und angegriffen fîhlen. Somit ist abseits aller sachlich begrîndeten ˜berzeugung des Princeps, die freilich ebenfalls aus der taciteischen Claudiusrede spricht, dessen energischer Auftritt in der Darstellung des Annalenautors auch durch diesen ganz persçnlichen Aspekt motiviert. Zieht man in diesem Punkt die auf uns gekommenen Fragmente der Originalrede zum Vergleich heran, so stellt man fest, daß dort der Fingerzeig des Claudius auf die eigene Genealogie gnzlich fehlt.730 Wenn er nun weder in den verlorenen Teilen der Inschrift enthalten gewesen war noch in einer der literarischen Vorlagen des Tacitus, wird man mit der Mçglichkeit rechnen mîssen, daß der Historiker den Hinweis auf die origo Sabina des claudischen Stammvaters aus eigenem Ermessen in seine Darstellung hat einfließen lassen, um mit der Erçffnung einer ganz persçnlichen Dimension gleichsam eine psychologisch begrîndete ‘Ausnahmesituation’ zu schaffen, in der Claudius stark und entschlossen auftreten kann, ohne daß hierdurch das bisherige Bild vom schwachen und lenkbaren Kaiser allzu sehr gestçrt wîrde.731 Bezeichnend ist weiin der Rede des Claudius zum einen spanische (und gallische) homines novi lobend hervortreten lßt (ann. 11,24,3), zum anderen Kritik an der griechischen Staatenwelt îbt (ann. 11,24,4). 729 S. o. S. 247. 730 Vgl. Griffin, 1982, 409; Miller, 1956, 311 f., v. Albrecht, 31995, 173 – 175, wo jeweils weitere ‘Zustze’ des Tacitus aufgefîhrt werden. Miller verweist in diesem Zusammenhang auf Liv. 4,3,14 (aus der Rede des Canuleius), die hier als mçgliche Vorlage des Tacitus (und/oder des Claudius) in Betracht kommt: Claudiam certe gentem post reges exactos ex Sabinis non in civitatem modo accepimus, sed etiam in patriciorum numerum; vgl. Koestermann ad ann. 11,24,1; Syme, 1958, 707; 710. 731 Griffin, 1982, 411 sieht den von Tacitus dargebotenen Hinweis auf Attus Clausus in seiner argumentativen Funktion begrîndet: „Tacitus retains, if he does not add, the mention of Claudius’ ancestor because he provides a prime example of how the Roman governing class was enriched by the assimilation of

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terhin, daß der Hinweis auf Attus Clausus innerhalb der von Tacitus dargebotenen Kaiserrede den einzigen direkten Bezug zur Person des Claudius darstellt. Es ist eine bereits oft beobachtete Eigenart der taciteischen Claudiusrede, daß ihr im Vergleich zum Original so gut wie jegliche persçnliche Note fehlt.732 Dieser Umstand ist insbesondere von Devillers hervorgehoben worden, der unter der Prmisse, daß Tacitus die tatschlich gehaltene Senatsrede des Kaisers unmittelbar benutzt hat, zu dem Ergebnis gekommen ist, daß der Historiker offenbar bemîht war, bei seiner Wiedergabe der Rede die in der Vorlage vielfltig vorhandenen Bezîge zur Person des Claudius sowie auch zu den politischen Rahmenbedingungen des Jahres 48 in Form und Inhalt so weit wie mçglich auszublenden.733 Tatschlich enthlt die îberwiegend sachlich orientierte Redeversion des Tacitus fast ausschließlich objektive Argumente fîr eine Aufnahme von Provinzialen in den Senat, die, so Devillers, im Grunde genommen jeder andere Kaiser zu einer anderen Zeit ebenfalls htte anfîhren kçnnen.734 Hinzu kommt, daß unser Historiker entgegen seiner foreigners, the theme that Tacitus pursues single-mindedly.“ Keitel, 1977, 68 ist offenbar der Ansicht, Tacitus habe den Hinweis auf die gens Claudia deshalb in seine Darstellung aufgenommen, um den Kaiser an spterer Stelle ironisch zu entlarven, wenn er in ann. 12,25 von der Adoption des Nero berichtet und dabei erneut auf die Claudii und ihren Urahnen zu sprechen kommt; s. ann. 12,25,2: adnotabant periti nullam antehac adoptionem inter patricios Claudios reperiri, eosque ab Atto Clauso continuos duravisse. Diese und hnliche Thesen, die Keitel a.a.O. aufstellt, mîssen mit großer Skepsis betrachtet werden. So auch ihr in dieselbe Richtung zielender Hinweis auf die weniger rîhmliche Rolle des von Claudius ann. 11,24,3 (ebenfalls ohne Entsprechung im Original) hervorgehobenen Balbus in ann. 12,60,4. Zumindest in diesem zweiten Fall ist der Abstand zwischen den beiden Kapiteln so groß, daß sich kaum ein Leser allein durch die Erwhnung des Balbus an den Inhalt der Claudiusrede erinnert fîhlen dîrfte. 732 Neben dem Hinweis auf die Abstammung des Claudius mag allein noch die antiquarische Gelehrsamkeit die Handschrift des Claudius verraten. Doch selbst diese wird, wie wir sehen konnten, in ann. 11,24 auf untypische Weise positiv in Szene gesetzt. 733 S. Devillers, 1994, 197 – 205; vgl. Vittinghoff, 1954, 369; Griffin, 1982, 411. Auch in stilistischer Hinsicht ist Claudius in der Darstellung des Tacitus kaum noch wiederzuerkennen; vgl. v. Albrecht, 31995, 186 – 189; Wellesley, 1954, 26; E. Aubrion: Rh¤torique et histoire chez Tacite, Metz 1985, 575 f. 734 S. Devillers, 1994, 203: „ […] l’auteur des Annales s’efforce de faire dispara‚tre tous les ¤l¤ments – ils sont nombreux dans l’original – qui rapellent Claude, sa famille, ses contemporains, son action politique ou le contexte de l’ann¤e 48. Il fait en sorte que le discours soit le plus impersonnel possible et qu’il paraisse avoir pu Þtre prononc¤ par n’importe quel empereur.“ Anders urteilt hingegen Miller,

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sonstigen Darstellungsabsicht mehrere, aus einigen Stellen der Originalrede sich leicht ergebende Gelegenheiten, den Kaiser zu parodieren, offenbar bewußt ungenutzt gelassen hat.735 Devillers zieht aus seinen Beobachtungen den Schluß, daß Tacitus aufgrund seiner eigenen Interessen, die auf das Verhltnis zwischen Rom und seinen Provinzen im Großen und Ganzen gerichtet waren, das dargestellte Thema auf einer mehr universellen, d. h. îber die spezielle Situation in Gallien hinausgehenden Ebene behandelt wissen wollte, und daher jeden konkreten Zeit- oder Personenbezug nach Mçglichkeit vermieden hat.736 Diese Vermutung bietet eine plausible Erklrung dafîr, daß Tacitus – sollte er tatschlich auf das Original unmittelbar zurîckgegriffen haben – neben vielen stçrenden Elementen737 auch manches gewichtige Argument des Kaisers fîr die Verleihung der Senatorenwîrde gerade an Gallier in seiner 1956, 314 in Anlehnung an E. Liechtenhan: Quelques r¤flexions sur la table Claudienne et Tac., ann. XI, 23 et 24, REL 24, 1946, 198 – 209; hier 208 f. 735 S. Devillers, 1994, 203 f.; vgl. Vittinghoff, 1954, 370; Griffin, 1982, 416 f., die aufzeigt, wie etwa Seneca die hier behandelte Rede satirisch gegen Claudius verwendet hat. 736 S. Devillers, 1994, 205; vgl. Griffin, 1982, 411; 414 : „Claudius’ discourse […] is an advocate speech in favour of a particular proposal, not, as it becomes in Tacitus, a programmatic speech in favour of novi homines.“ Eine hnliche Auffassung vertritt Keddie in seinem Aufsatz zu ann. 11,16 f. Er weist darauf hin, daß die in ann. 11,23 f. behandelte Thematik von Tacitus bereits in den Kapiteln îber den neuen, von Claudius als Kçnig der Cherusker nach Germanien entsandten Italicus entwickelt worden ist (s. o.). Neben der strukturellen Parallele, daß in ann. 11,16 f. ebenfalls zuerst anonyme Gegner zu Wort kommen (ann. 11,16,3) bevor Italicus selbst eine Gegenrede hlt (ann. 11,17,1), hat Keddie vor allem innerhalb der jeweils zuerst aufgefîhrten Redepartien auch Entsprechungen inhaltlicher Art herausarbeiten kçnnen (a.a.O. 56 f.:); vgl. ann. 11,16,3: adeo neminem isdem in terris ortum, qui principem locum impleat mit ann. 11,23,2: … non adeo aegram Italiam, ut senatum suppeditare urbi suae nequiret; ann. 11,16,3: cuius si filius hostili in solo adultus in regnum venisse, posse extimesci, infectum alimonio servitio cultu, omnibus externis mit ann. 11,23,2: suffecisse olim indigenas consanguineis populis und mit ann. 11,23,3: coetu alienigenarum; ann. 11,16,3 (îber Italicus): … non alium infensius arma contra patriam ac deos penates quam parentem eius exercuisse mit ann. 11,23,4: oppleturos omnia divites illos, quorum avi proavique hostilium nationum duces exercitus nostros ferro vique ceciderint. Devillers, 1994, 208 spricht in Anlehnung an die Beobachtungen Keddies von einer „narration g¤min¤e“, welche dazu beitrage, den Kapiteln ann. 11,11 – 25 eine thematische Kohrenz zu verleihen. 737 Etwa den scharfen Angriff des Kaisers auf Valerius Asiaticus, der nicht zum Bild gepaßt htte, das Tacitus in ann. 11,1 – 3 vermitteln wollte (s. hierzu o. S. 152 mit Anm. 411; vgl. Keitel, 1977, 67).

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Version weggelassen hat.738 Doch fîgt sich die von Devillers betonte Unpersçnlichkeit der Darstellung sowie der offenbar bewußte Verzicht des Tacitus auf jegliche Kritik auch gut zu der von uns herausgearbeiteten Absicht, den Bruch in der Personendarstellung des Claudius abzumildern. Denn die unpersçnliche Frbung der taciteischen Claudiusrede bewirkt, daß die damit verbundene positive Leistung des Kaisers im Bewußtsein des Lesers nicht allzu direkt mit seiner Person in Verbindung gebracht wird.739 Nach der eindrucksvollen und îberzeugenden Rede des Claudius ist die Zustimmung des Senats fîr den Leser fast selbstverstndlich. Wie beilufig erwhnt Tacitus den in der verhandelten Sache ergangenen Senatsbeschluß in einem Ablativus absolutus, um rasch zu den Haeduern zu gelangen, die als erste in den Genuß der neuen Rechtslage gekommen seien, s. ann. 11,25,1: Orationem principis secuto patrum consulto primi Aedui senatorum in urbe ius adepti sunt. datum id foederi antiquo, et quia soli Gallorum fraternitatis nomen cum populo Romano usurpant. Erneut wird der Eindruck erweckt, als sei die nun getroffene Entscheidung zur Aufnahme der Gallier bzw. der Haeduer in den Senat lngst îberfllig gewesen. Neben der Geschwindigkeit im Geschehensablauf, die Rede, Beschluß und Ausfîhrung unmittelbar aufeinander folgen lßt,740 wird dies im folgenden auch durch den Hinweis auf ein altes Bîndnis (foedus antiquum) sowie das enge Verhltnis der Rçmer gerade zu den Haeduern deutlich gemacht, das in dem Ehrentitel ‘Brîder des rçmischen Volkes’ zum Ausdruck gebracht wird. Die Aussagen des Claudius hinsichtlich der continua ac fida pax (ann. 11,24,6) finden in diesen Zeilen ihre nachdrîckliche Besttigung. Bezeichnenderweise wird der Kaiser auch an dieser Stelle nicht beim Namen genannt, sondern wiederum mit der 738 S. hierzu Vittinghoff, 1954, 366 f. Auf diese Absicht lßt sich mçglicherweise auch die Erwhnung der Cornelii Balbi aus Spanien zurîckfîhren, die in den erhaltenen Teilen der authentischen Claudiusrede nicht enthalten ist. Ich sehe daher keine Veranlassung fîr die von Wellesley 1954, 27 – 30 vorgetragene Kritik an Tacitus, auf deren Einzelheiten hier nicht weiter eingegangen werden soll, zumal sich bereits Miller, 1956, 310 f. mit îberzeugenden Argumenten dagegen ausgesprochen hat. Er vermutet, daß der Verweis auf die Balbi durch die Rede Ciceros pro Balbo inspiriert sein kçnnte. 739 Einen ganz hnlichen Gedanken scheint mir Griffin, 1990, 488 zu verfolgen, wenn sie schreibt: „[…] the transfiguration of Claudian material by Tacitus is another of his techniques […] for conveying the passivity of the Emperor“; vgl. Syme, 1958, 710. 740 Man beachte, daß das positive Ergebnis des senatus consultum sich vor allem durch die Mitteilung îber den Einzug der Haeduer in Kurie ergibt.

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offiziellen Bezeichnung princeps angefîhrt. Auch im folgenden spricht Tacitus zunchst nicht namentlich von Claudius, sondern bezeichnet ihn als Caesar oder censor. Auch hierbei mag der Historiker von der Absicht geleitet sein, die konkrete Person des Herrschers in den Hintergrund zu rîcken. Denn auch bei dessen weiteren Maßnahmen, von denen nun im Anschluß berichtet wird, handelt es sich um durchaus sinnvolle, in Vorhaben und Ausfîhrung deutlich positiv zu bewertende Reformen, s. ann. 11,25,2: Isdem diebus in numerum patriciorum adscivit Caesar vetustissimum quemque e senatu aut quibus clari parentes fuerant, paucis iam reliquis familiarum, quas Romulus maiorum et L. Brutus minorum gentium appellaverant, exhaustis etiam quas dicttor Caesar lege Cassia et princeps Augustus lege Senia sublegere; laetaque haec in rem publicam munia multo gaudio censoris inibantur. Die vorgenommene Ergnzung des Patriziats wird von Tacitus mit deutlichen Worten und in feierlichem Ton begrîßt. Der knappe ˜berblick îber die Entwicklung und den bedrohlichen Rîckgang der alten rçmischen Adelsfamilien bringt in einem zweifachen nachgetragenen Ablativus absolutus die Dringlichkeit der getroffenen Maßnahmen prgnant und eindringlich zum Ausdruck. Der Kaiser erscheint insgesamt als Wohltter am gesamten Staatswesen (laeta … in rem publicam munia).741 Dieses Bild wird im folgenden zunehmend verfestigt, wenn es um die Suberung des Senates geht, s. ann. 11,25,3: famosos probris quonam modo senatu depelleret anxius, mitem et recens repertam quam ex severitate prisca rationem adhibuit, monendo, secum quisque de se consultaret, peteretque ius exuendi ordinis: facilem eius rei veniam; et motos senatu excusatosque simul propositurum, ut iudicium censorum ac pudor sponte cedentium permixta ignominiam mollirent. Anstatt den Weg der alten Strenge (severitas prisca) einzuschlagen, geht der Kaiser hier ußerst umsichtig und rîcksichtsvoll (vgl. anxius; mitis) zu Werke und lßt den inkriminierten Senatoren die mit weniger Schande verbundene Mçglichkeit, freiwillig aus der Kurie zu scheiden. Doch selbst die Ehre derjenigen, die erst durch ein entsprechendes Urteil der Zensoren aus dem Senat gestoßen werden mîssen, liegt ihm offenbar am Herzen, da er bei der Verçffentlichung der Namen keinen Unterschied machen mçchte zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Aufgabe des senatorischen Ranges. Dieser respekt- und taktvolle Umgang mit dem Senat verleitet sodann den Konsul Vipstanus zu dem Antrag, man solle Claudius mit dem neuen Ehrentitel ‘Vater des Senats’ auszeichnen, s. ann. 11,25,4: ob ea Vipsanus consul rettulit patrem senatus appellan741 Vgl. Seif, 1973, 82.

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dum esse Claudium: quippe promiscum patris patriae cognomentum; nova in rem publicam merita non usitatis vocabulis honoranda. sed ipse cohibuit consulem ut nimium adsentantem. Claudius – in den Ausfîhrungen des Konsuls nun wieder namentlich erwhnt – weist den Vorschlag des Vipstanus als îbermßige Schmeichelei souvern zurîck. Der positive Eindruck vom Kaiser wird hierdurch um ein weiteres Element verstrkt.742 Anschließend gelangt Tacitus zum Abschluß seines Berichtes îber die Zensur des Claudius, s. ann. 11,25,5: condiditque lustrum, quo censa sunt civium quinquagies novies centena octoginta quattuor milia septuaginta duo. isque illi finis inscitiae erga domum suam fuit: haud multo post flagitia uxoris noscere ac punire adactus, ut deinde ardesceret in nuptias incestas. Mit einem Paukenschlag holt der Historiker den Kaiser aus der glanzvollen Sphre des souvern und umsichtig agierenden Monarchen und Zensors unvermittelt zurîck auf den harten Boden der innenpolitischen Krisen. Auf geradezu plakative Weise erinnern die Begriffe inscitia und flagitia uxoris an das schamlose Treiben der Messalina und die diesbezîgliche Ahnungslosigkeit des Claudius und versetzen den Leser schlagartig um etwa zehn Kapitel zurîck, fîhren ihm wieder das ironisch-groteske Bild des sittenstrengen und pedantischen Zensors vor Augen, der geringfîgige Vergehen hart bestraft und den enormen moralischen Verfall im eigenen Haus nicht im geringsten wahrnimmt. Bezeichnenderweise erfolgt dieser abrupte Wechsel zurîck zum negativen Claudiusbild wiederum im engeren Rahmen der cura morum des Zensors, in diesem Fall gegenîber dem Senat: Gerade im Bereich des Sittlichen bietet der Kaiser vor dem Hintergrund des Messalinaskandals nach wie vor die grçßte Angriffsflche: Die Bemîhungen, die Wîrde und das Ansehen des Senates zu erhalten, die lectio senatus, die Verrichtung des Sîhneopfers – all dies steht am Ende des Kapitels in dem bereits bekannten Kontrast zu dem Verhalten der Kaiserin.743 Dabei sollen nicht etwa die positiven Neuerungen des Kaisers nachtrglich lcherlich gemacht werden. Eine solche Absicht befnde sich in offenem Widerspruch zu der spîrbaren Zustimmung, die Tacitus den zuletzt durchgesetzten Neuerungen des Claudius entgegengebracht hat.744 Vielmehr geht es ihm bei seiner Kritik um die Person des Kaisers, genauer gesagt um dessen 742 Vgl. Seif, 1973, 83 f. 743 Vgl. Seif, 1973, 84. 744 Das in diesem Zusammenhang geußerte Urteil Keitels, 1977, 66: „Tacitus undoes all the good Claudius did in the act of describing it“ geht sicherlich zu weit.

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inscitia gegenîber dem Treiben seiner Gattin (erga domum suam). Rîckblickend hat es den Anschein, als habe Tacitus in ann. 11,25 mit dem immer weiter vorangetriebenen positiven Eindruck von Claudius vor allem auch eine enorme Fallhçhe aufbauen wollen. Mit dem Schlußsatz stîrzt der Kaiser ins Bodenlose hinab. Durch diesen drastischen Schnitt in der Darstellung werden seine positiven Leistungen – sofern sie îberhaupt mit dessen Person in enge Verbindung gebracht worden sind – zwar nicht relativiert, aber schnell wieder vergessen gemacht. Der ironische Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit hat seine Vorherrschaft zurîckgewonnen, blendet mit seinem îberaus grellen Licht das Vorhergehende nahezu vçllig aus. Um diesen Effekt zu erreichen, hat Tacitus den Bericht îber die Zensur des Claudius virtuos mit der Schilderung der Messalina-Affre umrahmt.745 Diese sorgfltig gewhlte Anordnung des Stoffes erlaubt es dem Historiker, die sinnvollen zensorischen Maßnahmen des Claudius objektiv zu wîrdigen, ohne dabei jedoch von der allgemeinen Tendenz seiner Darstellung abweichen zu mîssen.746 Doch dient der Schluß des Kapitels nicht nur der Rîckkehr zum alten Claudiusbild. In groben Zîgen nimmt er auch die zukînftige Entwicklung am Kaiserhof vorweg und prgt auf diese Weise die Sichtweise des Lesers auf das kommende Geschehen entscheidend vor:747 Der Kaiser wird nicht etwa aus eigener Kraft die flagitia seiner Gattin erkennen und bestrafen. Wieder ganz im Sinne des frîheren Charakterportrts wird er erst von außen dazu gezwungen werden mîssen (noscere ac punire adactus).748 Seine kînftige inzestuçse Verbindung mit der jîngeren Agrippina, seiner Nichte, wird mit unmißverstndlichen und eindringlichen Worten an den Pranger gestellt: Whrend das Verb ardescere die von Claudius spter begangene Verfehlung als leidenschaftliche Raserei hervorgekehrt,749 schließt incestas das Kapitel effektvoll ab: Der sittenstrenge Zensor wird einst Inzest begehen.750

745 Vgl. Mehl, 1974, 56; Keitel, 1977, 50; O’Gorman, 2000, 115. 746 Vgl. Griffin, 1990, 485: „Tacitus could afford to be generous […] because the whole censorship is carefully framed by his account of Messalina’s marital intrigue […].“ 747 Vgl. Keitel, 1977, 83. 748 Vgl. Mehl, 1974, 58; Keitel, 1977, 82. 749 S. G&G 95b; vgl. ThLL II, Sp. 488, 72 ff. 750 S. Koestermann ad loc.; vgl. Mehl, 1974, 58, der darauf verweist, daß Tacitus „die inzestuçse Ehe des Claudius an wesentlichen Stellen des Geschehens [erwhnt]: hier, 11,25,5 vor Messalinas Ende als Vorverweis, in 12,5,1 whrend der

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5.3 Ann. 11,26 – 38: Der Fortgang des Messalinaskandals und das Ende der Kaiserin Mit dem Ende von Kapitel ann. 11,25 ist nun der Boden bereitet fîr die Fortfîhrung des nach ann. 11,12 abgebrochenen Erzhlstranges rund um Messalina.751 Die von Koestermann konstatierte „erstaunliche Breite“, in der nun ihr weiteres Schicksal bis zum Ende des elften Annalenbuches verfolgt wird, hngt zu einem nicht unerheblichen Teil mit der Absicht des Historikers zusammen, „den îbermchtigen Einfluß der Hofkamarilla auf den ‘schwachen und gemîtsblçden Claudius’ gleichsam paradigmatisch herauszustellen.“752 Tacitus kehrt zunchst zum ehebrecherischen Verhltnis der Kaiserin zu Silius zurîck. Ein einleitendes iam gibt dem Leser zu verstehen, daß die skandalçse Liebesgeschichte in der Zwischenzeit immer weitere Ausmaße angenommen hat,753 s. ann. 11,26,1: Iam Messalina facilitate adulterorum in fastidium versa ad incognitas libidines profluebat, cum abrumpi dissimulationem etiam Silius, [sive]754 fatali vaecordia an imminentium periculorum remedium ipsa pericula ratus, urguebat … Messalina ist offenbar sîchtig nach immer weiteren erotischen Exzessen. Sie hat die Leichtigkeit ihrer zahllosen Ehebrîche (man beachte den Plural: adulteriorum), die schlichtweg aus der Blindheit ihres Gatten resultiert,755 offenkundig satt und ist auf der Suche nach neuen, bisher unbekannten Ausschweifungen (incognitas libidines). Das Verb profluere macht deutlich, daß sie sich nunmehr ungehemmt von ihren Begierden leiten lßt.756 Nach diesem kurzen Blick auf das ungezîgelte Triebleben der Kaiserin lenkt Tacitus durch ein inversives cum alle Aufmerksamkeit auf Silius. Hatte er sich in

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Intrige, die zu der Heirat Claudius – Agrippina fîhrt, und in 13,2,2 nach Claudius’ Tod […].“ Zu den teilweise recht unterschiedlichen Gliederungsversuchen dieses Abschnittes durch Seif, Mehl und Keitel s. Wille, 1983, 489 – 495. Koestermann ad ann. 11,26,1 unter Verweis auf die Knappheit der Darstellung bei Suet. Claud. 26,2; 29,3; 36; vgl. Syme, 1958, 375; Devillers, 1994, 67, der im îbrigen darauf verweist, daß Tacitus in ann. 11,26 – 38 das Motiv der Angst auf Seiten der handelnden Personen besonders in den Vordergrund rîckt (von den Freigelassenen: 11,28,2; 11,29,2; von Silius: 11,32,1; vom Kaiser: 11,31,1); vgl. hierzu Mehl, 1974, 68. Vgl. Nipperdey ad loc.: „Iam bezeichnet, wie spt die Erkenntnis des Claudius [s. ann. 11,25,5] eintrat.“ Zur Tilgung des sive durch Acidalius s. Koestermann ad loc. Vgl. Seif, 1973, 100. Vgl. Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 85.

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ann. 11,12,2 noch seinem Schicksal ergeben und gehofft, sein Verhltnis mit der Kaiserin werde mçglicherweise unentdeckt bleiben, tritt er nun aus seiner Passivitt heraus und drngt auch seinerseits darauf, der Heimlichkeit ein plçtzliches Ende (vgl. abrumpi) zu bereiten.757 Besondere Beachtung verdient an dieser Stelle das etiam, das zu verstehen gibt, daß vor Silius bereits Messalina eine ganz hnliche Forderung erhoben haben muß.758 Waren die einleitend erwhnten incognitae libidines etwa in diesem Sinne zu verstehen? Die Antwort auf diese Frage wird erst das Ende des Kapitels geben. Der Leser weiß nur, daß seit dem ungenierten Auftreten der Messalina in ann. 11,12,3 ohnehin nicht mehr von einer dissimulatio gesprochen werden kann. Das Verhltnis der Kaiserin zu Silius ist lngst kein Geheimnis mehr. Jegliches Bemîhen um Diskretion ist damit fîr den Geliebten sinnlos geworden. Doch warum drngt er nun geradezu in die entgegengesetzte Richtung? Dem Leser werden zwei alternative Erklrungen angeboten: fatali vaecordia an imminentium periculorum remedium ipsa pericula ratus. Rasch wird klar, daß auch an dieser Stelle die zuletzt genannte Alternative von Tacitus bevorzugt wird:759 Sie steht an der strkeren Position, ist etwa dreimal so lang wie die erste Deutungsmçglichkeit und sticht inhaltlich durch ihren epigrammatischen Charakter760 hervor. Der geistreiche Gedanke, ‘daß gegen drohende Gefahren das Heilmittel in den Gefahren selbst liege’, lßt die erste Erklrung, die ziemlich vage eine fatalis vaecordia anfîhrt, vçllig verblassen. Hinzu kommt, daß die Annahme eines ‘verhngnisvollen Wahns’ îberhaupt nicht zu dem Bild passen will, das Tacitus in ann. 11,12,2 von Silius entworfen hat. Trotz aller Resignation hat der Geliebte der Messalina dort recht nîchtern und sachlich seine Lage analysiert.761 Am wichtigsten aber ist, daß sich die zweite Erklrungsmçglichkeit mit den nun in indirekter Rede vorgetragenen øußerungen des Silius selbst voll und ganz deckt, s. ann. 11,26,2: quippe non eo ventum, ut senecta principis opperiretur. insontibus innoxia consilia, flagitii manifestis subsidium ab audacia petendum. adesse conscios paria metuentes. se caelibem, orbum, nuptiis et adoptando Britannico paratum. mansuram eandem Messalinae potentiam, addita securitate, si 757 Vgl. Seif, 1973, 98 f. 758 Vgl. Mehl, 1974, 60. 759 Vgl. Whitehead, 1979, 484, der – sicherlich zu vorsichtig – lediglich eine Tendenz zur zweiten Alternative sehen mçchte, wie seine Einordnung der Stelle verrt (s. hierzu a.a.O. 477 Anm. 12). 760 S. Koestermann ad loc.; vgl. Kirchner, 2001, 119 f. 761 S. o. S. 205 f.; vgl. zustzlich Mehl, 1974, 52 f.

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praevenirent Claudium, ut insidiis incautum, ita irae properum. Silius mçchte die Flucht nach vorne antreten. Mit der Aussage, daß man ja nicht an einen Punkt gelangt sei, an dem man das natîrliche, altersbedingte Ableben des Princeps abwarten kçnne, gibt er klar zu verstehen, daß er den Kaiser gewaltsam stîrzen mçchte.762 Er ist sich im klaren darîber, daß sich seine anfngliche Hoffnung, unentdeckt zu bleiben, mittlerweile zerschlagen hat, und daß der einzige Ausweg nunmehr im wagemutigen Handeln liegt (flagitii manifestis subsidium ab audacia petendum). An dieser Stelle wird der enge Rîckbezug des Kapitels zu ann. 11,12,3 besonders deutlich.763 Denn gerade vor dem Hintergrund, daß die von Messalina bereits schamlos zur Schau gestellte Affre auch dem Kaiser nicht mehr lange verborgen bleiben kann, ergeben seine Gedanken einen guten Sinn.764 Um des eigenen ˜berlebens willen muß er Claudius mçglichst rasch beseitigen. Daß nicht persçnlicher Ehrgeiz, sondern die Angst vor der Entdeckung sein Motiv ist, verrt weiterhin die Erwhnung der angeblichen Mitwisser, die Gleiches zu befîrchten htten (adesse conscios paria metuentes). Indem er sagt, er sei unvermhlt, kinderlos und zur Eheschließung mit Messalina sowie zur Adoption des Britannicus bereit, prsentiert er sich ganz offen als geeigneten Nachfolger des Claudius. Da die Kaiserin in der §ffentlichkeit ohnehin den Anschein erweckt hat, daß die Herrschaft bereits auf ihn îbergegangen sei,765 ergibt sich auch diese Geste des Silius als logische Konsequenz aus dem vorangegangenen Bericht. Um die unabdingbare Unterstîtzung der Messalina zu erreichen, verspricht Silius fîr den Fall seiner Machtîbernahme, daß sie ihre potentia behalten und zustzlich an Sicherheit gewinnen wîrde, wenn sie Claudius nur zuvorkmen, der zwar gegenîber Anschlgen sorglos sei, aber rasch zum Zorn neige (ut insidiis incautum, ita irae properum).766 Whrend das Verb praevenire suggeriert, daß der Kaiser bereits um die Verschwçrung weiß und schon im Begriff zu handeln ist, lßt die antithetisch angeordnete Charakterisierung des 762 Zu der konsekutiven Auffassung des ut-Satzes s. Seif, 1973, 100 f. 763 Vgl. Seif, 1973, 101: „Mit manifestis flagitiis [sic! – Seif folgt einer geringfîgig anderen Lesart] wird das 11,12,3 angeschlagene Thema des in ganz Rom bekannten Ehebruches der Messalina mit Silius wieder aufgenommen und fortgefîhrt.“ 764 S. Mehl, 1974, 59 f. 765 Vgl. ann. 11,12,3: postremo, velut translata iam fortuna, servi liberti paratus principis apud adulterum visebantur. 766 Vgl. hierzu Seif, 1973, 102: „Das Komplott wird hingestellt als gewinntrchtiger Coup fîr Messalina.“

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Kaisers einen Anschlag auf dessen Leben noch einmal als die einzige Mçglichkeit des Silius erscheinen, seiner heiklen Lage lebend zu entkommen.767 Insgesamt gesehen sind die Worte des Silius von einer besonderen Dichte und Dramatik geprgt. Kurze einprgsame Stze, die konsequente Ellipse von esse sowie eine Hufung verbalnominaler Wendungen machen auf stilistischer Ebene den enormen Zeitdruck sinnfllig, der auf dem Geliebten der Messalina lastet.768 Trotz der Tatsache, daß eindeutig Silius die Initiative zum Kaisersturz ergreift, wirkt er mehr als Opfer denn als Tter.769 Sein Sinneswandel gegenîber ann. 11,12,2 erscheint als konsequente Reaktion (s. etiam) auf das zîgellose und indiskrete Treiben der Messalina. Er hat am Ende keine andere Wahl, als den Kaiser zu ermorden und selbst die Herrschaft zu îbernehmen.770 Nachdem Silius seinen Standpunkt klar gemacht hat, berichtet Tacitus von der Reaktion der Messalina, s. ann. 11,26,3: segniter eae voces acceptae, non amore in maritum, sed ne Silius summa adeptus sperneret adulteram scelusque inter ancipitia probatum veris mox pretiis aestimaret. Die Kaiserin nimmt die Worte des Silius mit deutlicher Zurîckhaltung auf. Nicht etwa, weil sie ihren Gatten liebt, wie Tacitus mit deutlichem Sarkasmus glossiert, sondern weil sie Sorge hat, daß Silius sie nach vollbrachter Tat als Ehebrecherin mçglicherweise verstoßen werde. Ihre Gedanken lassen erkennen, daß sich die Kaiserin der gefhrlichen Lage ihres Liebhabers (inter ancipitia) bewußt ist. Was die Aussage scelus …

767 S. Seif, 1973, 102 f. 768 Vgl. Keitel, 1977, 85 f., die freilich in manchen Einzelheiten ihrer stilistischen Analyse ein wenig zu îbertreiben scheint. Vollkommen richtig ist jedoch ihre abschließende Feststellung (a.a.O. 86): „The speech ends on a note of urgency and danger.“ 769 Vgl. hierzu die hnliche Darstellung Juvenals (10,329 – 345) und den diesbezîglichen Kommentar von J. E. B. Mayor (Thirteen Satires of Juvenal, Bd. II, Hildesheim 1966). 770 Vgl. Seif, 1973, 103: „Tacitus zeigt detailliert auf, wie die zunchst gnzlich unpolitisch motivierte Beziehung zwischen der Kaiserin und einem prominenten Vertreter der Senatsaristokratie sich ins Politische wendet.“ Der in ann. 11,26 zum Vorschein kommende politische Aspekt der Affre wird insbesondere auch von Mehl, 1974, 61 f. betont. Whrend Silius von nun an eindeutig politische Ziele verfolgt (s. Mehl, 1974, 63), steht bei Messalina – wie im folgenden noch deutlich werden wird – die Befriedigung ihrer Triebe an erster Stelle; vgl. Keitel, 1977, 84; 85; 86.

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veris … pretiis aestimare konkret bedeutet, wird nicht ganz klar.771 Fest steht jedoch, daß sie auf ein Wissen des Silius um die ‘wahren’ Hintergrînde des geplanten Verbrechens verweist, die fîr den Leser wiederum in der treibenden Rolle der Messalina bestehen. Damit besttigt sich der zuvor erzeugte Eindruck, daß Silius im Grunde nur ein Opfer der Kaiserin ist, auch aus Sicht der Messalina selbst. Fîr einen kurzen Moment scheint ihr zçgerliches Verhalten in einem gewissen Widerspruch zu dem zuvor erzeugten Eindruck zu stehen, daß auch sie – noch vor Silius – auf eine Beendigung der Heimlichkeit, womit eigentlich nur die Eheschließung gemeint sein kann, gedrngt habe. Doch nun fhrt Tacitus fort, s. ann. 11,26,3: nomen tamen matrimonii concupivit ob magnitudinem infamiae, cuius apud prodigos novissima voluptas est. nec ultra exspectato, quam dum sacrificii gratia Claudius Ostiam proficisceretur, cuncta nuptiarum sollemnia celebrat. In eindringlichem Ton schildert Tacitus, weshalb die Kaiserin trotz aller Bedenken auch ihrerseits die formelle Eheschließung (nomen matrimonii) gewînscht habe, und entwirft dabei das Bild einer moralisch vollkommen degenerierten Person: Wegen der Grçße der Schndlichkeit, an der Leute, die alle Scham von sich werfen (prodigos),772 ihr letztes Vergnîgen (novissima voluptas) fnden,773 willigt Messalina in die Hochzeitsplne des Silius ein. Die gewichtige Sentenz am Ende des Satzes verleiht der Argumentation des Tacitus die nçtige Durchschlagskraft, da sie das zunchst etwas schwer verstndliche Motiv der Messalina (ob magnitudinem infamiae) psychologisch einleuchtend erklrt.774 Zudem deckt sich ihr Inhalt exakt mit der zu Beginn des Kapitels erfolgten seelischen Zustandsbeschreibung der Kaiserin, die aus ˜berdruß nach noch nie dagewesenen Ausschweifungen sucht und damit das Bild einer prodiga voll und ganz erfîllt. Die incognitae libidines sind in ihrem Wunsch nach einer Eheschließung mit Silius nunmehr konkret geworden. Es scheint, als habe Tacitus die zuerst erwhnten, durchaus berechtigten Bedenken der Messalina allein deshalb in seine Darstellung aufgenommen, um vor deren Hintergrund deutlich machen zu kçnnen, 771 Vgl. Mehl, 1974, 63 f. Anm. 343: „Messalina fîrchtet wohl Silius’ Erkenntnis, daß die Belastung der neuen Herrschaft durch die vorangegangenen Verbrechen zu groß sei.“ 772 Zur ˜bersetzung von prodigus s. Nipperdey ad loc. 773 Keitel, 1977, 84 weist auf die an dieser Stelle gegebene Doppeldeutigkeit des Superlativs hin: „[…] novissima has an epigrammatic ambiguity: infamy is the last pleasure of the abandoned or their latest pleasure. In Messalina’s case, this ultimate pleasure will also be her final one.“ 774 S. Kirchner, 2001, 121; 165 f.

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wie sehr die Kaiserin inzwischen von ihren Trieben und Leidenschaften beherrscht wird.775 Hat sie im Prozeß gegen Valerius Asiaticus ihre Gefîhle noch ihrer Berechnung unterordnen kçnnen,776 wird ihr rationales Wesen nunmehr vçllig von ihren Begierden îberlagert. Dies muß nicht zwangslufig bedeuten, daß der Charakter der Messalina bei Tacitus nicht einheitlich gezeichnet ist.777 Vielleicht kam es dem Historiker darauf an, durch die Beschreibung unterschiedlicher Verhaltensweisen der Kaiserin in Situationen, wo Gefîhl und Verstand in gegenstzliche Richtungen streben, eine fortschreitende geistige und moralische Degeneration zum Ausdruck zu bringen, die in immer strkerem Maße zu einer vçlligen Hingabe an die Emotionen neigt.778 Diese Tendenz spiegelt sich zumindest auch in der Eile wider, in der Messalina nun darauf bedacht ist, ihre neuen Begierden in die Tat umzusetzen (nec ultra exspectato, quam …). Eine Reise des Claudius nach Ostia nutzt sie offenbar als die erste sich bietende Gelegenheit, in aller Festlichkeit (cuncta … sollemnia) – auch dies ein Zeichen ihrer schamlosen Zîgellosigkeit – die Hochzeit zu begehen. In diesem Zusammenhang entbehrt es nicht der Ironie, daß Claudius ausgerechnet einer Opferhandlung wegen (sacrificii causa) aus Rom fortgeht. Der dem Leser bereits wohlbekannte Kontrast zwischen der naiven Frçmmigkeit des Kaisers und der Lasterhaftigkeit der Messalina kommt hier erneut zur Geltung.779 Fîr die Darstellung des Tacitus ist es außerdem bezeichnend, daß am Ende des Kapitels die Person des Silius wieder vollstndig in den Hintergrund tritt. Im Singular des Prdikats (celebrat) erscheint allein Messalina als agierende Kraft.780 Die anschließende Schilderung der Hochzeitsfeier selbst verbindet Tacitus mit einer Wahrheitsbeteuerung, s. ann. 11,27: Haud sum ignarus fabulosum visum iri tantum ullis mortalium securitatis fuisse in civitate omnium gnara et nihil reticente, nedum consulem designatum cum uxore 775 776 777 778

Vgl. Seif, 1973, 104 f. S. o. S. 160. So Mehl, 1974, 64 f. Wenn Messalina wenige Kapitel spter in ann. 11,32,2 den Entschluß faßt, Claudius durch ihr Erscheinen zu umgarnen, bedeutet das meiner Ansicht nach nicht, daß sie wieder ‘zur Vernunft’ gekommen ist (vgl. die gegenteilige Meinung Mehls, 1974, 65). Zwar handelt sie dort wieder ußerst berechnend, doch befindet sie sich dabei nicht in einem Konflikt zu ihren leidenschaftlichen Gefîhlen, s. u. S. 286 f. 779 S. Keitel, 1977, 87: „The ironic collocation recalls 11,13,1 [At Claudius, matrimonii sui ignarus et munia censoria usurpans …]“; vgl. Mehl, 1974, 64 Anm. 347. 780 Vgl. Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 86.

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principis praedicta die, adhibitis qui obsignarent, velut suscipiendorum liberorum causa convenisse, atque illam audisse auspicum verba, subisse ,781 sacrificasse apud deos; discubitum inter convivas, oscula complexus, noctem denique actam licentia coniugali. sed nihil compositum miraculi causa, verum audita scriptaque senioribus trado. Direkt zu Beginn seiner weiteren Erzhlung rumt Tacitus „psychologisch geschickt“782 ein, daß er selbst sehr wohl wisse, wie unglaubhaft seine Darstellung erscheinen mçge.783 Nachdem er dann besonders erstaunlich wirkende Fakten der Hochzeit aufgezhlt hat, verweist Tacitus hierfîr ausdrîcklich auf seine Quellen und tritt auf diese Weise dem Vorwurf entgegen, daß er aus Sensationslust (miraculi causa) Einzelheiten der Geschichte mçglicherweise frei erfunden habe. Durch diesen rhetorischen Kunstgriff der Occupatio wirkt seine Darstellung glaubhaft und îberzeugend, zumal er durch den Plural senioribus zu verstehen gibt, daß sein Bericht auf gleich mehreren literarischen Vorlagen fußt. Deren Zuverlssigkeit wiederum wird durch die eindringliche Formulierung audita scriptaque verstrkt.784 Tacitus erscheint als unparteiischer Berichterstatter, dessen Aussagen auf dem Fundament grîndlich betriebener Nachforschungen erfolgen,785 ohne dabei selbst die Verantwortung fîr den Inhalt seiner Darstellung îbernehmen zu mîssen. Indem der Historiker ausdrîcklich fîr die Glaubwîrdigkeit seines Berichtes eintritt, gewinnen die von ihm geschilderten ungeheuerlichen Ereignisse zustzliche Eindringlichkeit.786 In einer langen Aneinanderreihung mehrer AcI-Konstruktionen,787 enthîllt Tacitus ebenso pikante wie groteske Details der Zeremonie. Durch die ausdrîcklichen Bezeichnungen des Silius als consul designatus und der Messalina als uxor principis wird die Ungeheuerlichkeit des Geschehens 781 Vota ist eine Ergnzung Draegers; fîr den textkritischen Hintergrund und die anderen Lesarten verweise ich auf den Kommentar Koestermanns ad loc. Aufgrund seiner unsicheren ˜berlieferung werde ich im folgenden kein besonderes Gewicht auf den Ausdruck vota subisse legen. 782 Seif, 1973, 106. 783 O’Gorman, 2000, 116 sieht in diesem Wissen des Tacitus einen gewissen Kontrast zur Unwissenheit des Claudius: „Tacitus’ claim […], that he is aware of this difficulty (haud ignarus) points up the contrast between his history and that of Claudius, who is unaware even of the existence of Messalina’s adultery.“ 784 Vgl. hierzu Mehl, 1974, 91; Syme, 1958, 407: „Tacitus affirms the fact, invoking an unimpeachable tradition, the oral and written.“ 785 Vgl. Keitel, 1977, 87 786 Vgl. Seif, 1973, 106: „Effektvoller htte er [Tacitus] die Ungeheuerlichkeit dieses Vorganges kaum hervorheben kçnnen als durch eine Wahrheitsbeteuerung.“ 787 S. hierzu insbesondere Seif, 1973, 107 f.; vgl. Keitel, 1977, 122 Anm. 22.

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vor allem in ihrer politischen Dimension hervorgekehrt.788 Auch die Betonung des formal-juristischen Charakters der Eheschließung tendiert in diese Richtung: adhibitis, qui obsignarent, velut suscipiendorum liberorum causa convenisse.789 Ob Tacitus hier zustzlich auf die geplante Adoption des Britannicus durch Silius anspielen mçchte, sei dahingestellt.790 In jedem Fall aber kehrt die Hervorhebung juristisch-ritueller Einzelheiten die Perversitt der hier geschilderten feierlichen Szenerie auf ironische Weise hervor.791 Dies gilt insbesondere fîr die von Messalina vorgenommenen, zuletzt sogar religiçs motivierten Handlungen: audisse auspicum verba, subisse , sacrificasse apud deos. Die Opferhandlung der Messalina steht an dieser Stelle nicht so sehr im Kontrast zu den Bemîhungen des Claudius als Zensor und Pontifex maximus.792 Vielmehr zeigt sie die moralische Verwahrlosung der Kaiserin selbst an, die es trotz ihrer schwerwiegenden Entgleisungen noch fertig bringt, sich mit dem Mantel der Piett zu umgeben.793 In dieser Handlungsweise spiegelt sich fîr den Leser nichts anderes wider als der im Kapitel zuvor herausgestellte Wunsch nach einer fçrmlichen (!) Eheschließung (s. ann. 11,26,3: nomen matrimonii), der dem krankhaften Drang nach immer weiteren Skandalen entspringt (vgl. ob magnitudinem infamiae … etc.).794 Daher scheint es kein Zufall zu sein, daß Tacitus im Anschluß an die erwhnte Opferhandlung den Blick immer strker auf den Bereich des Sinnlich-Sexuellen lenkt, und damit einen ironischen Kontrast bewirkt. In der Klimax discubitum inter convivas, oscula amplexus, noctem denique 788 Vgl. Mehl, 1974, 66; Koestermann ad loc. 789 Vgl. Mehl, 1974, 66; zu den juristischen Hintergrînden dieser Worte s. Furneaux und Koestermann ad loc.; zum Verstndnis des velut s. Nipperdey ad loc.: „velut bezeichnet bloß den Anschein, nicht daß dieser ein falscher war, da die Heirat keineswegs eine Scheinheirat sein sollte.“ 790 Dies vermutet Keitel, 1977, 123 Anm. 25 in großzîgiger Auslegung der von Mehl, 1974, 66 betonten politischen Elemente im Bericht des Tacitus. Doch stellt sich bei dieser Annahme die Frage, was Tacitus mit einer solchen Andeutung htte bezwecken wollen. Daß Silius zur Adoption des Britannicus bereit war, ist kurz zuvor in ann. 11,26,2 deutlich zum Ausdruck gekommen. 791 Vgl. Seif, 1973, 108; Keitel, 1977, 88. 792 So Keitel, 1977, 88. Diese Annahme ist nicht ganz von der Hand zu weisen, nachdem Claudius im Kapitel zuvor ausdrîcklich sacrificii causa nach Ostia aufgebrochen ist (s. o. zu ann. 11,26,3). 793 Mehl, 1974, 66 Anm. 355 spricht in diesem Zusammenhang von einem Tadel des Tacitus. 794 Vgl. Seif, 1973, 108: „Erst durch die Zeremonie geht Messalinas perverser Wunsch in Erfîllung.“

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actam licentia coniugali kommt die in der ‘Freiheit von Eheleuten’ verbrachte Hochzeitsnacht effektvoll als End- und Zielpunkt (s. zustzlich denique) der Zeremonie zur Geltung, und gibt dem Leser noch einmal zu verstehen, worin – zumindest im Hinblick auf Messalina, die hier im Mittelpunkt der Betrachtung steht – die wahren Motive der Hochzeit bestanden haben.795 Im Anschluß an die lebhafte Schilderung der Hochzeitsfeier berichtet Tacitus îber die diesbezîgliche Reaktion am Hof des Princeps, s. ann. 11,28,1: Igitur domus principis inhorruerat, maximeque quos penes potentia et, si res verterentur, formido, non iam secretis colloquiis, sed aperte fremere, dum histrio cubiculum principis insultaverit,796 dedecus quidem inlatum, sed excidium procul afuisse: nunc iuvenem nobilem dignitate forma, vi mentis ac propinquo consulatu maiorem ad spem accingi; nec enim occultum, quid post tale matrimonium superesset. Ein igitur am Satzanfang bewirkt eine enge konklusive Verknîpfung zum vorangegangenen Bericht, die vor allem eines zum Ausdruck bringt: Nicht der Ehebruch der Kaiserin an sich, sondern offenbar erst ihre Hochzeit lßt die hçfische Umgebung des Kaisers vor Entsetzen erstarren (inhorruerat).797 Dieser in drastischen Worten erzeugte Eindruck wird im weiteren Verlauf des Kapitels noch weiter verstrkt werden. Fîr die Darstellung des Tacitus ist es bezeichnend, daß es der kaiserliche Hof (domus) – und nicht etwa Claudius – ist, der von den neuen Entwicklungen im Messalinaskandal als erster alarmiert zu werden scheint. Nach der kurzen Notiz îber die Reaktion am Kaiserhof im allgemeinen konzentriert sich die Darstellung rasch und mit besonderer Intensitt (maximeque) auf den Kreis derjenigen, die im Besitz einer machtvollen Stellung sind. Gedacht ist hierbei an die Freigelassenen, deren berîchtigter Einfluß von nun an in den Mittelpunkt der Darstellung rîckt und auch an spteren Stellen immer wieder eine zentrale Rolle spielen wird.798 Die auffllige Anastrophe (quos penes potentia) bewirkt eine Alliteration, welche den Begriff 795 Vgl. Keitel, 1977, 88; Seif, 1973, 108 f.; Koestermann ad loc. 796 Zu der hier wiedergegebenen Lesart des dum-Satzes (nach der Editio Bipontina, der auch Heubner folgt) s. Mehl, 1974, 68 Anm. 378; vgl. Koestermann ad loc. 797 Vgl. Seif, 1973, 109: „Igitur domus principis inhorruerat (11,28,1) wirkt wie eine spontane Reaktion auf das vorher geschilderte Geschehen.“ 798 Vgl. Koestermann ad loc.; vgl. ann. 11,29,2; 11,38,4; 12,1,1. Da der taciteische Bericht îber den Anfang der Claudius-Regentschaft verlorengegangen ist, kann freilich nicht gesagt werden, ob und inwieweit der Historiker bereits zuvor auf diese Thematik eingegangen ist.

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der potentia stark akzentuiert.799 Dieser ‘Macht’ gegenîber steht – angehngt durch ein adversatives et800 – die ‘Furcht’ (formido), die im Falle eines Machtwechsels (si res verterentur) am engsten Hofe um sich greifen wîrde. Aus diesem Spannungsverhltnis zwischen potentia und formido erklrt sich die helle Aufregung, die Tacitus mit der Vokabel fremere unter zustzlicher Verwendung des historischen Infinitivs sehr eindringlich zum Ausdruck bringt. Der Inhalt dieses ‘Murrens’ wird unmittelbar in indirekter Rede angeschlossen, wobei der Hinweis, daß diese øußerungen nicht mehr in geheimen Unterredungen (secretis colloquiis), sondern ganz offen (aperte) gettigt worden seien, impliziert, daß es im engeren Kreis der hçfischen Umgebung immer schon einen gewissen Unmut gegen die bestehenden Verhltnisse gegeben hat, der nunmehr unter dem Druck der drohenden Ereignisse offen zum Ausbruch kommt. Zudem entsteht der Eindruck, als seien die hier in den Blick genommenen Personen stndig in irgendeiner Weise im Hintergrund aktiv. In ihren Aussagen wird die aktuelle Liebe der Messalina zu Silius ihrer frîheren Affre mit dem Schauspieler Mnester gegenîbergestellt: Solange ein histrio801 das Schlafgemach des Princeps verhçhnt habe, sei diesem zwar Schande zugefîgt worden, doch ein Untergang sehr weit entfernt gewesen. Nun aber werfe sich ein junger Mann von Adel und wîrdevoller Erscheinung aufgrund seiner geistigen Kraft und des bevorstehenden Konsulats zu hçherer Hoffnung auf. Vor dem Hintergrund der zwar schndlichen, doch politisch relativ harmlosen Beziehung zu einem Schauspieler wird die besondere Bedrohung, die seit der Skandalhochzeit von Silius ausgeht, in aller Deutlichkeit vor Augen gefîhrt. Wie bereits zu Beginn des Kapitels durch das igitur angedeutet worden ist, geht es den Freigelassenen weniger um die angegriffene Wîrde und Ehre des Princeps als vielmehr um die Sicherung ihrer eigenen politischen und sicher auch physischen Existenz, die nun nach der Eheschließung zwischen Messalina und ihrem Geliebten massiv bedroht wird (vgl. excidium). Besondere Beachtung verdient die Tatsache, daß der designierte Konsul an dieser Stelle nicht nur im Kontrast zur niedrigen Abkunft und politischen Bedeutungslosigkeit des Mnester steht.802 Durch die ihm nachgesagten Eigenschaften 799 Vgl. Keitel, 1977, 89. 800 S. Koestermann ad loc. 801 Daß Mnester hier nicht namentlich genannt wird, mag als Zeichen der Geringschtzung gegenîber dem frîheren Liebhaber der Messalina gedeutet werden. 802 S. hierzu Seif, 1973, 110.

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(iuvenis, dignitas formae, vis mentis) steht er fîr den Leser vielmehr noch in direktem Gegensatz zu der Person des Claudius, ja erscheint diesem gegenîber als die eindeutig bessere Alternative.803 Mit der anschließenden Aussage, daß es kein Geheimnis sei, was nach einer solchen Eheschließung (post tale matrimonium) îbrig bleibe, wird indirekt auf den Kaisersturz als die logische Konsequenz der zwischen Messalina und Silius geschlossenen Ehe verwiesen.804 Der bereits angedeutete Gegensatz zwischen Silius und Claudius tritt im folgenden dann noch deutlicher zutage, s. ann. 11,28,2: subibat sine dubio metus reputantes hebetem Claudium et uxori devinctum multasque mortes iussu Messalinae patratas. rursus ipsa facilitas imperatoris fiduciam dabat, si atrocitate criminis praevaluissent, posse opprimi, damnatam ante quam ream; sed in eo discrimen verti, si defensio audiretur, utque clausae aures etiam confitenti forent. In deutlichen Worten bringt Tacitus die wohl wesentlichen Charakterzîge des Claudius zur Sprache, die auch seiner bisherigen Darstellung immer wieder zu entnehmen waren, nmlich Stumpfsinn und vçllige Hçrigkeit (vgl. devinctus) gegenîber seiner Gattin, deren schrecklicher Einfluß an dieser Stelle durch die vielen Todesurteile veranschaulicht wird, die auf ihren Befehl hin vollstreckt worden seien. Der Ausdruck iussu Messalinae vermittelt ein kraftvolles Bild von den tatschlichen Machtverhltnissen am Hof des Claudius. Der Kaiser selbst erscheint im Hinblick auf seine geistigen Fhigkeiten durch das ihm zugeordnete Attribut hebes als das genaue Gegenteil zu Silius, dessen vis mentis wenige Zeilen zuvor Erwhnung gefunden hat. Bei dem Gedanken an den stumpfen und hçrigen Charakter des Princeps sowie die Skrupellosigkeit der Messalina beschleicht die Sprecher zunchst Furcht. Doch im nchsten Moment schçpfen sie aus eben dieser Lenkbarkeit des Kaisers wiederum Zuversicht. Die Ironie des Tacitus ist an dieser Stelle deutlich zu vernehmen.805 Offenbar wollen die Freigelassenen nun ihrerseits die genannte Schwche 803 Vgl. Mehl, 1974, 70 mit Anm. 387. Die vis mentis stimmt im îbrigen mit dem klaren und berechnenden Verstand des Silius îberein, wie wir ihn in den Kapiteln zuvor kennengelernt haben. 804 Vgl. Mehl, 1974, 69 mit Anm. 383, der in diesem Zusammenhang auf die bei Tacitus auch an anderer Stelle zu beobachtende Technik verweist, „eine steigernde Reihe vor der Spitze abzubrechen, so daß der Endpunkt insinuiert wird, ohne ausgesprochen zu sein“; Mehl verweist u. a. auf ann. 12,64,1. Dort deutet eine aufsteigende Reihung verschiedener innerhalb weniger Monate verstorbener Beamter (… quaestore, aedili, tribuno ac praetore et consule paucos intra menses defunctis) den baldigen Tod des Kaisers an, s. u. S. 415 zu ann. 12,64,1. 805 Vgl. Keitel, 1977, 90.

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des Kaisers ausnutzen, um ihn durch die Scheußlichkeit des von Silius beabsichtigten Verbrechens (atrocitate criminis) auf ihre Seite zu ziehen und Messalina zu verurteilen, noch bevor sie Gelegenheit haben wird, vor Gericht Rechenschaft abzulegen (damnatam ante quam ream). Denn genau darauf kommt es an. Wenn die Kaiserin erst einmal bei Claudius Gehçr finden wird, besteht die Gefahr, daß dieser sich sogar im Falle eines Gestndnisses erweichen lßt (utque clausae aures etiam confitenti forent). Beachtung verdient hierbei die ungewçhnliche Ausdrucksweise des Tacitus: Taube Ohren (clausae aures) in Bezug auf eine defensio zu haben, verbindet der Leser natîrlicherweise mit unnachgiebiger Hrte gegenîber einem Schuldigen. Hier jedoch bedeutet es in ironischer Verkehrung der Erwartungshaltung das genaue Gegenteil: Es besteht die Gefahr, daß Claudius von seiner Gattin derart umstrickt wird, daß er von ihren Verbrechen einfach nichts mehr wissen will! Das Verb praevalere (‘die Oberhand behalten’) zeigt in diesem Zusammenhang an, daß die Messalina-Clique freilich ebenso versuchen wird, die facilitas des Kaisers auszunutzen – genau wie sie es in der Vergangenheit ja schon getan hat.806 Claudius selbst erscheint als willenloses Instrument in den Hnden der jeweiligen Interessengruppen. Am Hof des Princeps werden nunmehr zwei gegenstzliche Pole der Macht deutlich: Mit ihrer in ann. 11,28,1 ausdrîcklich genannten potentia treten die Freigelassenen in Konkurrenz zu Messalina, deren potentia wiederum nur wenige Zeilen zuvor in den Ausfîhrungen des Silius Erwhnung gefunden hat.807 Im Spannungsverhltnis dieser beiden Pole wird Claudius zu einem vçllig passiven Spielball. Abschließend sei noch einmal auf den Umstand verwiesen, daß Tacitus den großen Teil der in diesem Kapitel geußerten Ansichten in 806 Man erinnere sich an eben diese Vorgehensweise in der Intrige gegen Valerius Asiaticus (s. insbes. ann. 11,1). Insofern versuchen die Freigelassenen, Messalina mit ihren eigenen Waffen zu schlagen; vgl. Keitel, 1977, 90. 807 S. ann. 11,26,2: … mansuram eandem Messalinae potentiam; vgl. Mehl, 1974, 67, der zustzlich auf ann. 11,5,3 hinweist, wo die potentia des Silius genannt wird. Insgesamt kommt Mehl a.a.O. zu dem Ergebnis, daß der Begriff der potentia „nunmehr auf die wesentlichen Handlungstrger des Buchschlusses von annales 11 angewendet [ist]: Silius, Messalina und jetzt auf die Freigelassenen, nur nicht auf Claudius – und darin zeigt sich beißender Spott auf den Kaiser –, der als Princeps das Zentrum der Macht darstellen mîßte.“ Wenn Tacitus in ann. 11,31,1 Claudius ngstlich fragen lßt, ob er der Herrschaft noch mchtig sei (an ipse imperii potens … esset), ist es die Absicht des Historikers, den Kaiser durch eine ihm in den Mund gelegte, vçllig falsche Selbsteinschtzung lcherlich zu machen, so als glaube dieser tatschlich, îberhaupt jemals imperii potens gewesen zu sein (s. u. S. 282).

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indirekter Rede vorgebracht hat, die ihm als Historiker eine gewisse Distanz erlaubt. Selbst seine streng genommen eigene Aussage vom stumpfen und hçrigen Claudius (hebetem Claudium et uxori devinctum) lßt er als Gedanken der Freigelassenen (reputantes) erscheinen. Der hier von Claudius vermittelte Eindruck ist vernichtend.808 Sind die Freigelassenen bisher nicht namentlich erwhnt und lediglich als Gruppe dargestellt worden, treten nun deren einzelne Persçnlichkeiten mit jeweils unterschiedlichen Charakterzîgen in den Vordergrund, s. ann. 11,29,1: Ac primo Callistus, iam mihi circa necem Caesaris narratus, et Appianae caedis molitor Narcissus flagrantissimaque eo in tempore gratia Pallas agitavere, num Messalinam secretis minis depellerent amore Silii, cuncta alia dissimulantes. Die drei Freigelassenen Callistus, Narcissus und Pallas beraten nun îber ihre weiteren Schritte im Vorgehen gegen Messalina. Jeder von ihnen wird dem Leser durch einen kurzen Zusatz nher vorgestellt. Callistus muß im Bericht des Tacitus bereits eine Rolle bei der Ermordung des Caligula gespielt haben, an die nun erinnert wird. Narcissus gilt als derjenige, der die Hinrichtung des Appius betrieben hat,809 und Pallas als besonders angesehener Gînstling des Kaisers. Damit stechen die beiden zuerst genannten liberti gleichermaßen durch ihre Erfahrung auf dem Gebiet politischer Morde hervor, whrend der dritte ganz allgemein durch seinen enormen Einfluß (flagrantissima … gratia) charakterisiert wird.810 Zusammengenommen erscheint das Trio nunmehr als durchaus ebenbîrtiger Gegner der Messalina, deren moralische Skrupellosigkeit und Einfluß auf Claudius noch kurz zuvor eindringlich beschrieben worden ist.811 Die Freigelassenen denken zunchst angestrengt (vgl. die Intensivform agitavere) darîber nach, die heikle Affre offenbar so unauffllig wie mçglich zu bereinigen und Messalina mittels geheimer Drohungen (secretis minis) von ihrer Liebe zu Silius abzubringen sowie alles îbrige zu vertuschen. Die hier von den 808 Vgl. Mehl, 1974, 70 mit Anm. 385; Koestermann ad loc. 809 ˜ber den skandalçsen Tod des Appius Iunius Silanus, des Stiefvaters der Messalina, wird Tacitus im verlorenen Teil seiner Annalen berichtet haben; vgl. Koestermann ad loc. 810 Vgl. Seif, 1973, 112; Mehl, 1974, 71: „Sie sind alle umgeben von einem Schein moralischer Bedenklichkeit.“ 811 S. ann. 11,28,2; die dort der Messalina zur Last gelegten multae mortes zeugen davon, daß auch sie – wie Callistus und Narcissus – nicht vor Mord zurîckschreckt, wenn es ihren Interessen dient. ˜ber ihren Einfluß auf Claudius, den sie nunmehr mit Pallas zu teilen scheint, muß kein weiteres Wort verloren werden.

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Freigelassenen zunchst ins Auge gefaßte Geheimhaltung (dissimulantes) der ganzen Angelegenheit ist fîr den Leser eine indirekte Besttigung fîr die vçllige Ahnungslosigkeit und Blindheit des Princeps, erscheint sie doch angesichts der mittlerweile stadtbekannten Ausschweifungen der Messalina nur unter der Voraussetzung, daß Claudius darîber immer noch nichts erfahren hat, îberhaupt sinnvoll zu sein. Aus Furcht, mit in das Verderben gerissen zu werden nehmen Pallas und Callistus jedoch wieder Abstand von dem ursprînglichen Plan. Ein Tempuswechsel hin zum historischen Prsens verleiht der Darstellung dabei zustzliche Lebhaftigkeit,812 s. ann. 11,29,2: dein metu, ne ad perniciem ultro traherentur, desistunt, Pallas per ignaviam, Callistus prioris quoque regiae peritus et potentiam cautis quam acribus consiliis tutius haberi: perstitit Narcissus, id solum immutans, ne quo sermone praesciam criminis et accusatoris faceret. Whrend Pallas, der Gînstling am Kaiserhof, aus Feigheit zurîckweicht, spielt bei Callistus seine unter Caligula gewonnene Erfahrung eine Rolle, wonach man seine Macht – erneut taucht wie ein Schlagwort der Begriff der potentia auf – eher mit vorsichtigen als tatkrftigen Plnen sichere.813 Sein Verhalten erscheint demnach weniger feige denn taktierend. Als rîcksichtslosem Opportunisten kommt es Callistus offenbar lediglich auf den Erhalt seiner persçnlichen Macht an.814 Vor diesem dunklen Hintergrund kann nun Narcissus als der einzig Mutige und zum Handeln Entschlossene um so deutlicher in Aktion treten.815 Er bleibt standhaft, ndert sein geplantes Vorgehen allein dahingehend ab, Messalina nicht durch irgendein Gesprch noch im Vorfeld der Anklage zu warnen. Diese ønderung erklrt sich fîr den Leser durch die in ann. 11,28,2 geußerte Furcht vor dem Einfluß der Messalina auf Claudius.816 Tacitus beendet das Kapitel mit dem Bericht îber die weiteren Schritte des Narcissus, s. ann. 11,29,3: ipse ad occasiones intentus, longa apud Ostiam Caesaris mora, duas paelices, quarum is corpori maxime insueverat, largitione ac promissis et uxore deiecta plus potentiae ostentando perpulit delationem subire. Da sich Claudius lnger in Ostia aufhlt, bringt Narcissus, auf eine gînstige 812 Vgl. Keitel, 1977, 91. 813 Zur weiteren stilistischen Ausgestaltung der Aussage als Sentenz s. Koestermann ad loc. 814 Vgl. Mehl, 1974, 71. 815 Vgl. Keitel, 1977, 91, die in diesem Zusammenhang zustzlich auf die Satzkonstruktion verweist: „desistunt, Pallas … Callistus is met by perstitit Narcissus“; vgl. Koestermann ad loc. 816 Vgl. Seif, 1973, 112: „Sein Plan nimmt nunmehr die Form an, deren Konturen bereits 11,28,2 sichtbar wurden.“

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Gelegenheit wartend,817 zwei Mtressen des Kaisers dazu, die Anzeige gegen Messalina vorzutragen. Wirkt bereits der Umstand, daß Claudius, der ja noch wenige Kapitel zuvor als sittenstrenger Zensor in Erscheinung getreten ist und gerade zu diesem Zeitpunkt ‘einer Opferhandlung wegen’ (s. ann. 11,26,3) aus Rom abgereist ist, sich îberhaupt mit paelices umgibt, besonders pikant, verstrkt Tacitus das hier gebotene Zerrbild durch einige kleine Zustze: In der Junktur maxime insueverat deutet das Adverb (‘am meisten’) darauf hin, daß es neben den beiden hier konkret genannten Konkubinen noch etliche weitere paelices gab, whrend das Verb (‘sich gewçhnen’) auf die lange Dauer der außerehelichen Verhltnisse des Kaisers verweist.818 Durch die im Grunde unnçtige Angabe corpori wird indessen deren kçrperlich-sexuelle Ebene besonders stark betont. Unter den Versprechungen, mit denen Narcissus die beiden paelices fîr seine Plne gewinnt, fllt vor allem wiederum die potentia ins Auge, zumal ihre Erwhnung neben dem knappen largitione ac promissis erheblich mehr Raum einnimmt (et uxore deiecta plus potentiae ostentando) und gewissermaßen als Klimax die Aufzhlung abschließt.819 Dabei ist es jedoch nicht etwa so, daß die Mtressen erst nach dem Sturz der Messalina îberhaupt zu Einfluß gelangen wîrden. Das plus gibt an dieser Stelle zu verstehen, daß es lediglich um eine Steigerung ihrer Macht geht. Auch sie gehçren demnach lngst zu dem Kreis der potentes in der nchsten Umgebung des Princeps. Claudius, der eigentliche Herrscher, scheint tatschlich der einzige zu sein, der am Kaiserhof keine Macht besitzt.820 In der hier erweckten Vorstellung, daß selbst Mtressen ihm gegenîber potentia besitzen, liegt beißender Spott.821 Im nchsten Kapitel gelangt der Plan des Narcissus dann zur Ausfîhrung, s. ann. 11,30,1 – 2: Exim Calpurnia (id paelici nomen), ubi 817 S. hierzu Mehl, 1974, 72 Anm. 401: „Narcissus’ sorgfltige Planung und Vorbereitung der Gegenintrige und das Warten auf den richtigen Zeitpunkt setzen ihn in Kontrast zu Messalina und Silius […] und parallelisieren ihn mit Agrippina, deren einziger ebenbîrtiger Gegenspieler er bei Tacitus ist.“ 818 Die von Keitel, 1977, 91 f. in Anlehnung an Syme, 1958, 725 vorgetragene Vermutung, daß durch insueverat mçglicherweise in ironischer Absicht auf das Ende des Asiaticus (ann. 11,3,2: et usurpatis quibus insueverat exercitationibus …) verwiesen werde („Claudius’ indulgence in base physical pleasures is set against the elegantly self-controlled mode of Asiaticus.“), erscheint mir angesichts der Zahl von 25 Kapiteln, die beide Stellen voneinander trennen, etwas zu weit hergeholt. 819 Vgl. Mehl, 1974, 72 mit Anm. 402.; Keitel, 1977, 91. 820 Vgl. o. S. 274 mit Anm. 807. 821 S. Seif, 1973, 113.

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datum secretum, genibus Caesaris provoluta nupsisse Messalinam Silio exclamat; simul Cleopatram, quae [idem] opperiens adstabat, an idem comperisset interrogat, atque illa adnuente cieri Narcissum postulat. is veniam in praeteritum petens, quod Titios, Vettios, Plautios dimulavisset, nec nunc adulteria obiecturum ait, ne domum servitia et ceteros fortunae paratus reposceret: frueretur immo his, ed redderet uxorem rumperetque tabulas nuptiales. ‘an discidium’ inquit ‘tuum nosti? nam matrimonium Silii vidit populus et senatus et miles; ac ni propere agis, tenet urbem maritus.’ Es ist bezeichnend, wie passiv Tacitus den Kaiser an dieser doch wichtigen Stelle seines Berichts in Erscheinung treten lßt. Die gesamte Szenerie wird zunchst von der Mtresse Calpurnia, dann von Narcissus beherrscht. Sie sind die beiden Handlungstrger, die mit ußerster Agilitt auf Claudius einwirken, ohne daß dieser selbst in irgendeiner Weise in Aktion tritt.822 Die Theatralik, die insbesondere den Auftritt der Calpurnia umgibt (genibus Caesaris provoluta … exclamat), ist fîr den Leser Ausdruck einer sorgfltigen Inszenierung.823 Auch die flîssige Abfolge der einzelnen Ttigkeiten (exclamat; … simul … interrogat, atque … postulat) sowie die zunchst abwartende, dann besttigende Haltung der zweiten Mtresse Cleopatra deuten auf einen genau geplanten Ablauf hin.824 Dabei mag die Tatsache, daß Narcissus eine zweite paelex mit in seine Berechnungen einbezogen hat, als ein weiteres, indirektes Zeichen fîr die vçllige Ahnungslosigkeit des Claudius in Bezug auf das Treiben der Messalina gewertet werden: Offenbar wußte der Kaiser so wenig davon, daß es gleich 822 Vgl. Seif, 1973, 113. Die Passivitt des Claudius ist an dieser Stelle derart auffllig, daß Fuchs in seiner Ausgabe Caesar als Subjekt zu interrogat und postulat ergnzt hat; s. hierzu die richtige Beurteilung durch H. Heubner: Umstrittene Tacitusstellen, WS 77, 1964, 138 – 143, hier 142 Anm. 6: „Vom Anfang bis zum Ende des ersten Paragraphen ist Calpurnia Subjekt – daß sie es auch in dessen zweitem Teil ist, soll der Leser an dem einleitenden simul, aber auch aus dem abschließenden postulat erkennen […]. Im zweiten Paragraphen ist Narcissus Subjekt, und zwar bis reposceret. Daß Claudius dem Verlangen der Calpurnia stattgibt und Narcissus holen lßt, ist bezeichnenderweise îbergangen: Das Zusammenspiel zwischen Calpurnia und Narcissus luft programmgemß ab, der Kaiser ist nur Objekt“; vgl. Koestermann ad ann. 11,30,1. 823 Dies gilt trotz der Tatsache, daß der ‘Kniefall’ innerhalb der rçmischen Geschichtsschreibung bei bewegten Szenen nahezu topisch ist, vgl. hierzu Mehl, 1974, 72 Anm. 404 unter Verweis auf Liv. 6,3,4; 34,11,5; 36,35,3; Curt. 3,12,11; Tac. ann. 12,18,2; Iust. 11,9,14. 824 Vgl. Keitel, 1977, 92: „The intensity of the scene conveyed by the details secretum, genibus Caesaris provoluta, the use of the present tense […] and the call for corroboration from Cleopatra, is laced with irony since the reader knows what calculation lay behind it […].“

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mehrerer Personen bedurfte, um ihn von der schockierenden Realitt îberzeugen zu kçnnen. Schließlich kommt der Freigelassene selbst zunchst in indirekter, schließlich auch in direkter Form zu Wort. Seine Ausfîhrungen geraten zu einer deutlichen Parodie auf den betrogenen Ehemann und Princeps.825 Seine Bitte um Vergebung, daß er in der Vergangenheit die heimlichen Liebschaften der Messalina mit Leuten wie Titius, Vettius oder Plautius verschwiegen habe, vermittelt durch den Plural der Eigennamen sowie deren asyndetische Reihung den Eindruck zahlloser zustzlicher Ehebrîche, von denen Claudius allesamt nichts erfahren hat.826 Nach diesem Rundumschlag gegen die sexuellen Ausschweifungen der Messalina geht Narcissus dann konkret auf deren Verhltnis zu Silius ein, nennt die vielen Geschenke aus dem kaiserlichen Haushalt (domum, servitia et ceteros fortunae paratus), die an das schamlos indiskrete Verhalten der Kaiserin in ann. 11,12,3 (postremo, velut translata iam fortuna, servi liberti paratus principis apud adulterum visebantur) erinnern827 und somit einerseits die bisherige Blindheit des Kaisers um so schrfer vor Augen fîhren, andererseits aber auch noch einmal deutlich die Gefahr anklingen lassen, die von dem neuen Gatten der Messalina fîr Claudius ausgeht, und auf die Narcissus im weiteren Verlauf seiner Ausfîhrungen zu sprechen kommt. Seine Forderung, daß Silius sich der îppigen Geschenke ruhig weiterhin erfreuen solle,828 sofern er nur die Gattin zurîckgebe und den Ehevertrag lçse, mîndet in eine ironische Scheinfrage, die wohl den Gipfelpunkt aller Bemîhungen darstellt, den Princeps in seiner Ahnungslosigkeit der vçlligen Lcherlichkeit preiszugeben: ‘Oder hast Du etwa von deiner eigenen Scheidung erfahren?’ Der Wechsel in die direkte Rede verleiht der Darstellung zustzliche Lebhaftigkeit.829 Abschließend verweist der Freigelassene auf die breite §ffentlichkeit, welche die Hochzeit des Silius mit angesehen habe, und nennt ausdrîcklich Volk, Senat und Militr als vermeintliche Augen825 Vgl. Seif, 1973, 114. 826 Zu dieser Technik vgl. ann. 1,10,4, wo die Augustusgegner behaupten: … interfectos Romae Varrones, Egnatios, Iullos (s. o. S. 28). 827 Vgl. Koestermann ad loc.; Mehl, 1974, 73 Anm. 409. Zum umstrittenen Verstndnis des ne-Satzes s. Heubner, 1964, 141 – 143; vgl. Koestermann ad loc. 828 Keitel, 1977, 92 sieht in frueretur einen ironischen Anklang auf ann. 11,12,2, wo îber Silius ausgesagt wurde: … praesentibus frui pro solacio habebat. Da das vorliegende Kapitel – wie soeben festgestellt – auch sonst in engem Bezug zu ann. 11,12 steht, ist diese Annahme nicht leicht von der Hand zu weisen. 829 Vgl. Seif, 1973, 114.

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zeugen. Vordergrîndig zielt diese øußerung darauf ab, die gefhrliche Situation fîr Claudius deutlich werden zu lassen: populus et senatus nimmt die beiden zentralen Verfassungsorgane des rçmischen Staates in den Blick, miles verweist auf die rçmische Armee, deren Loyalitt fîr jeden rçmischen Kaiser unabdingbar war.830 Wenn diese drei Gruppen nun mit angesehen haben, wie Silius durch die Eheschließung mit Messalina gewissermaßen als neuer Princeps legitimiert worden ist, so befindet sich Claudius nun in einer sehr brisanten Lage. Er muß schnellstens handeln, bevor sein Konkurrent die Macht vollstndig îbernommen hat. Entsprechend lautet die dringende Forderung des Narcissus am Ende des Kapitels, das durch das entscheidende Wort maritus seinen wirkungsvollen Abschluß findet.831 Das Drngen des Freigelassenen nach einer raschen Entscheidung, verbunden mit der Demîtigung des Princeps, entspricht dem ursprînglichen Plan, Claudius auf die eigene Seite zu ziehen und Messalina zur Strecke zu bringen, noch bevor sie Gelegenheit zu ihrer Verteidigung erhalte (s. ann. 11,28,2).832 Auf einer mehr hintergrîndigen Ebene lßt der Hinweis auf die çffentliche Anteilnahme an der Hochzeit der Messalina aber auch die Person des Kaisers erneut in sehr ungînstigem Licht erscheinen: Mit Senat, Volk und Armee weiß offenbar die gesamte res publica bereits îber das Ereignis Bescheid; Claudius, deren hçchster Reprsentant, scheint nunmehr der letzte zu sein, der davon erfhrt.833 Im Anschluß berichtet Tacitus von der Reaktion des Kaisers auf die soeben îberbrachte Kunde, s. ann. 11,31,1: Tum potissimos amicorum vocat, primumque rei frumentariae praefectum Turranium, post Lusium Getam praetorianis impositum percunctatur. quis fatentibus certim ceteri circumstrepunt, iret in castra, firmaret praetorias cohortes, securitati ante quam vindictae consuleret. satis constat eo pavore offusum Claudium, ut 830 Vgl. Seif, 1973, 114. Mehl, 1974, 73 mit Anm. 410; Keitel, 1977, 93. Tacitus treibt an dieser Stelle offensichtlich sein Spiel mit der traditionellen Formel senatus populusque; s. Syme, 1958, 412; man beachte zustzlich die hierfîr typische Verwendung des Singulars (vidit). Die enorme politische Bedeutung, die den drei hier genannten Gruppen gerade bei der Inthronisierung eines neuen Kaisers zukam, geht auch aus ann. 1,7,2 mit Bezug auf den Regierungsantritt des Tiberius hervor: Sex. Pompeius et Sex. Ap

uleius consules primi in verba Tiberii Caesaris iuravere …; mox senatus milesque et populus. 831 S. Seif, 1973, 114; vgl. Keitel, 1977, 93; Mehl, 1974, 73 mit Anm. 412. 832 Vgl. Keitel, 1977, 93: „In propere agis, we see Narcissus playing on Claudius’ well-known quick temper (see also 11,26,4: ita irae properum).“ 833 Vgl. Seif, 1973, 114.

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identidem interrogaret, an ipse imperii potens, an Silius privatus esset. Da zunchst nichts auf einen Subjektswechsel hindeutet (vocat; percunctatur), scheint nach ann. 11,30,2 weiterhin Narcissus als Hauptakteur im Mittelpunkt der Erzhlung zu stehen. Erst allmhlich wird dem Leser bewußt, daß nunmehr offenbar Claudius in den Blick genommen wird. Denn die Forderung, vor die Prtorianerkohorten zu treten und sich ihrer Unterstîtzung zu versichern, kann im Grunde nur an den Kaiser selbst gerichtet sein. Daher wird er es wohl auch gewesen sein, der seine besten Freunde zu sich gerufen und befragt hat. Durch diese Art der Darstellung tritt Claudius nur sehr indirekt als aktiver Handlungstrger in den Vordergrund.834 Doch erscheint er auch hierbei in einem nicht sehr gînstigen Licht: Offenbar ist er so begriffsstutzig, daß er immer noch nicht glauben kann, was ihm mit Calpurnia, Cleopatra und Narcissus im Kapitel zuvor gleich drei Leute erçffnet haben, und nach weiterer Besttigung sucht (percunctatur). Und natîrlich wissen auch die Freunde des Kaisers, allen voran die Prfekten Turranius und Lusius Geta, îber die Skandalgeschichte der Messalina Bescheid, wie Tacitus in dem kurzen Ablativus absolutus quis fatentibus ebenso lapidar wie eindrucksvoll zum Ausdruck bringt.835 Daneben besttigt der Umstand, daß der frumentariae praefectus und insbesondere auch der Befehlshaber der Prtorianer îber dieses Wissen verfîgen, in gewisser Weise die von Narcissus in ann. 11,30,2 aufgestellte Behauptung, daß die politisch zentralen Gruppen des rçmischen Volkes die Eheschließung zwischen Silius und Messalina mit angesehen htten: nam matrimonium Silii vidit populus et senatus et miles. Eindringlich und wetteifernd stîrmt die Umgebung auf Claudius ein, der anscheinend vçllig îberfordert ist und nicht selber weiß, was er in seiner gefhrlichen Lage zu tun hat.836 Zu Taten muß er regelrecht gedrngt werden. Dieser Eindruck wird durch das krftige Verb circumstrepere erzeugt, das sich mit certatim ceteri zu einer effektvollen Alliteration verbindet.837 Die dem Kaiser erteilten Anweisungen sind in asyndetischer 834 Vgl. Keitel, 1977, 93: „Although Claudius seeks advice (vocat; percunctatur), his ministers dominate the first sentence through the imposing chiasmus of their names and titles and the solemn opening phrase tum potissimos quemque [sic! – Keitel folgt an dieser Stelle einer anderen Lesart].“ 835 Vgl. Mehl, 1974, 73 f.: „Der Getreideprfekt C. Turranius und Lusius Geta sind Mitwisser der Verschwçrung, die damit bis in die unmittelbare Umgebung des Kaisers reicht.“ 836 Vgl. Seif, 1973, 115, der in diesem Zusammenhang sogar von einem „Tumult“ spricht. 837 Vgl. Seif, 1973, 115; Keitel, 1977, 93.

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Reihung knapp und przise formuliert (iret…, firmaret,… consuleret). In ihrer Klarheit stehen sie in erheblichem Kontrast zu der panischen Kopflosigkeit des Claudius, von der direkt im Anschluß die Rede ist und die Tacitus als allgemein bekannte Tatsache (satis constat) glaubwîrdig darzustellen weiß.838 Erst an dieser Stelle, wo der Kaiser vor Angst vçllig aufgelçst (pavore offusum) und verwirrt (identidem interrogaret) erscheint, tritt Claudius als namentlich genanntes Subjekt in Erscheinung.839 Vor dem hier entfalteten Hintergrund seiner absoluten Hilflosigkeit spricht aus seiner bangen Frage, ob er denn noch der Herrschaft mchtig (imperii potens) bzw. Silius noch Privatmann sei,840 fîr den Leser nichts als Ironie: Hatte der Kaiser dem Bericht des Tacitus zufolge ohnehin nie wirkliche Macht besessen, so hlt er sie gerade in diesem Augenblick doch am allerwenigsten in den Hnden.841 Andere entscheiden fîr ihn, was von nun an zu tun ist. Der Bestîrzung und Panik des Princeps wird sodann das ausgelassene Verhalten der Messalina kontrastierend entgegengehalten,842 s. ann. 11,31,2: At Messalina non alias solutior luxu, adulto autumno simulacrum vindemiae per domum celebrabat. Urgeri prela, fluere lacus; et feminae pellibus accinctae adsultabant ut sacrificantes vel insanientes Bacchae; ipsa crine fluxo thyrsum quatiens, iuxtaque Silius hedera vinctus, gerere cothurnos, iacere caput, strepente circum procaci choro. In leuchtenden Farben malt Tacitus hier das Bild ungezîgelter Ausschweifungen im Rahmen eines Weinlesefestes, auf dessen genaue Einzelheiten hier nicht nher eingegangen werden muß.843 Fest steht, daß der Leser auch diese ungeheuerlich klingende Erzhlung nach der Wahrheitsbeteuerung des Tacitus in ann. 11,27 fîr glaubhaft hlt. Die Beschreibung der Messalina selbst als non alias solutior luxu paßt zudem vorzîglich zu dem Psychogramm, das der Historiker von der Kaiserin vor allem in den Kapiteln ann. 11,26 ff. entworfen hat: Sie ist sîchtig nach immer weitergehenden Vergnîgungen, findet einfach kein Maß und scheint sich tatschlich nunmehr ganz ihren libidines hinzugeben. Zustzlich mag der Hinweis 838 Vgl. Keitel, 1977, 94. 839 Vgl. Keitel, 1977, 93 f. 840 Seif, 1973, 115 weist auf die anaphorische Ausgestaltung (an … an) des Satzes hin, wodurch das „ngstliche Fragen des Kaisers“ nachdrîcklich herausgestellt werde; vgl. Keitel, 1977, 94. 841 Vgl. o. S. 274 mit Anm. 807; Keitel, 1977, 94. 842 Vgl. Seif, 1973, 116; Mehl, 1974, 74; Keitel, 1977, 94. 843 Zur stilistischen Ausgestaltung der Szene s. bes. Keitel, 1977, 96 f.

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auf das Haus des Silius (per domum)844 das Verhalten der Messalina in Erinnerung rufen, mit dem sie ihr Verhltnis zu Silius ungeniert in die §ffentlichkeit getragen hat.845 Hierzu stellt das hemmungslose Feiern der Kaiserin – allein sie ist Subjekt zu celebrabat – nun eine deutliche Fortentwicklung und Steigerung dar. Auch dies besttigt das in ann. 11,26 gezeichnete Charakterportrt einer nach immer weiteren, noch nie dagewesenen Ausschweifungen suchenden Frau. Wenn zustzlich auch Silius als rasender Dionysos-Bacchus auftritt (hedera vinctus, gerere cothurnos, iacere caput)846 und damit den Rahmen seines bisherigen, von berechnendem Kalkîl geprgten Charakterportrts verlßt, so mag das mit der Absicht des Historikers verbunden sein, das frisch vermhlte Paar durch die Einbindung in ein Bacchanal auf politischer Ebene zu diskreditieren.847 Die Formulierung strepente circum procaci choro lehnt sich sprachlich und stilistisch (c-Alliteration!) eng an die zuvor beschriebene Szene in der Umgebung des Claudius (ann. 11,31,1: certatim ceteri circumstrepunt) an und verschrft auf diese Weise den bereits erwhnten 844 S. Koestermann und Furneaux ad loc.; die gelegentlich vetretene Auffassung, es sei hier an das Haus der Messalina gedacht, ist zurîckzuweisen. Zum rçmischen Hochzeitsritus gehçrte die deductio der Braut in das Haus des Brutigams, s. hierzu neuerdings I. Kçnig: Vita Romana. Vom tglichen Leben im alten Rom, Darmstadt 2004, 38 – 40; vgl. C. Paulus: Deductio, DNP 3, 1997, Sp. 361. Seit der Eheschließung (ann. 11,27) befindet sich Messalina also bei Silius; vgl. zudem ann. 11,30,2: … ne domum servitia et ceteros fortunae paratus reposceret: frueretur immo his, sed redderet uxorem (sc. Silius): ‘Alles andere mag der Ehebrecher behalten, nur die Frau soll er zurîckgeben.’ 845 S. Keitel, 1977, 96; ann. 11,12,3: illa (sc. Messalina) non furtim, sed multo comitatu ventitare domum, egressibus adhaerescere, largiri opes honores. Die domus des Ehebrechers steht zudem im Kontrast zur domus principis in ann. 11,28,1. 846 S. Koestermann ad loc. 847 So Mehl, 1974, 74 – 76: „Seit dem Bacchanalienskandal des Jahres 186 vor Christi Geburt stellt der Vorwurf des bacchari eine eindeutig moralisch-politische Kritik von grçßter Schrfe dar“ (a.a.O. 75). øhnlich und mit zustzlichem Bezug auf Claudius urteilt Keitel, 1977, 94 („Neither of the major political figures, the princeps or his wife, is in control of himself or the government“), gibt a.a.O. 97 jedoch zu bedenken, daß im Falle der Messalina an dieser Stelle keine eindeutige Trennung zwischen politischer und erotischer Sphre mçglich ist: „Political enemies were commonly charged with furor, insania and luxus. All these qualities are ascribed to Messalina in Book 11, yet how can one confidently separate the political from the erotic here or in 11.12?“ Fîgt sich das ausschweifende Verhalten der Kaiserin tatschlich in das bisherige (erotische) Schema, so steht jedoch der Auftritt des Silius in so deutlichem Gegensatz zu dessen bisherigem Portrt, daß die von Mehl vertretene politische Interpretation mehr als gerechtfertigt erscheint; vgl. insgesamt Seif, 1973, 116 f.; 308 – 310.

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Kontrast zwischen kopfloser Panik auf der einen und orgiastischer Ausgelassenheit auf der anderen Seite.848 Die Schilderung der Festlichkeit wird abgeschlossen durch eine Anekdote, die Tacitus in Form eines Gerîchtes (s. im folgenden ferunt) wiedergibt und zu einem Ausblick auf die kommenden Ereignisse nutzt. Dabei lßt er es an schwarzem Humor nicht fehlen, s. ann. 11,31,3: ferunt Vettium Valentem, lascivia in praealtam arborem conisum, interrogantibus quid adspiceret, respondisse tempestatem ab Ostia atrocem, sive coeperat ea species, seu forte lapsa vox in praesagium vertit.849 Da der Leser weiß, daß Claudius sich gerade in Ostia aufhlt (s. ann. 11,26,3; 11,29,3), bezieht er das von dort heranziehende schwere Unwetter gerne auf dessen Rîckkehr nach Rom und gibt der geistreichen Interpretation, die in der Aussage des Vettius Valens eine unbeabsichtigte Weissagung zum Vorschein kommen lßt, den Vorzug vor der ersten angebotenen Erklrung (sive coeperat ea species).850 Durch die hier nacherzhlte Episode wird das baldige Ende der Messalina ahnungsvoll vorweggenommen.851 Die durch das vermeintliche praesagium des Valens angedeutete Wiederkehr des Claudius aus Ostia bildet auf kunstvolle Weise die in848 S. Seif, 1973, 116; vgl. Keitel, 1977, 95: „We are meant to infer a moral equivalence between the two scenes of abandon“; 98 f. 849 Die Szene scheint den Bacchae des Euripides (1080 ff.) verpflichtet zu sein, s. hierzu A. La Penna: I Baccanali di Messaline e le Baccanti di Euripide, Maia 27, 1975, 121 – 123; vgl. Keitel, 1977, 97 f., die zu dem Ergebnis kommt: „Whatever the source of this incident or its original purpose, we can conclude that Tacitus has inserted it to underline his picture of Messalina’s moral abandonment.“ 850 Vgl. Keitel, 1977, 97; Whitehead, 1979, 484. Der hier erzeugte Eindruck der Absichtslosigkeit (forte lapsa vox) eines praesagium spricht im îbrigen gegen die von E. Aumîller, 1948, 92 f. vorgelegte Deutung, welche auf der vermeintlichen Mutwilligkeit der Anwesenden basiert: „Der Vorfall stellt als Detail den Hçhepunkt der Ausgelassenheit dar, indem die Beteiligten mit dem Einzigen, was ihnen noch Anlaß zur Besonnenheit geben mîßte, nmlich ihrer Zukunft, noch ein mutwilliges Spiel treiben. Die Ironie liegt darin, daß, was als Spiel und im Scherz gesagt und gedacht war, Ernst und Wirklichkeit wird [Hervorhebungen von mir].“ 851 Keitel, 1977, 98 geht in ihrer Vermutung, daß durch den Ausdruck in praesagium vertit mçglicherweise an ann. 11,11,2: … favor plebis acrior in Domitium loco praesagii acceptus est erinnert und auf diese Weise nicht nur das Ende der Messalina, sondern auch der Aufstieg der Agrippina und des Nero antizipiert werden soll, sicherlich zu weit. Gleiches gilt fîr eine weitere von Keitel a.a.O. 95 gezogene Parallele zum Traum einer der Petra-Brîder (ann. 11,4,2), die hier nicht weiter ausgefîhrt werden soll.

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haltliche Brîcke zum nchsten Kapitel,852 s. ann. 11,32,1: non rumor interea, sed undique nuntii incedunt, qui gnara Claudio cuncta et venire promptum ultioni adferrent. igitur Messalina Lucullanos in hortos, Silius dissimulando metum ad munia fori digrediuntur. ceteris passim dilabentibus adfuere centuriones, inditaque sunt vincla, ut quis reperiebatur in publico aut per latebras. Auf die Schilderung der ausgelassenen Feierlichkeiten im vorangegangenen Kapitel folgt nun ein scharfer Kontrast: Die Rîckkehr des Kaisers ist kein Gerîcht mehr, sondern Realitt. Die eben noch so frçhlich gestimmte Gesellschaft lçst sich fluchtartig auf, Furcht und Bestrafung beherrschen die Szene. Indessen wirkt die von Boten gemeldete Nachricht, daß Claudius alles wisse und nun zur Rache entschlossen sei (gnara Claudio cuncta et venire promptum ultioni), in ihrer Aussage allenfalls ironisch, hat der Leser doch noch bestens im Gedchtnis, wie unwissend, ngstlich und hilflos der Princeps nur ein Kapitel zuvor (ann. 11,31,1) in Erscheinung getreten ist.853 Ironisch gefrbt ist auch der Umstand, daß Messalina sich ausgerechnet in die Grten des Lukull zurîckzieht, die sie von Asiaticus, einem Opfer ihrer Intrigen, nach dessen erzwungenen Selbstmord erhalten hatte.854 Nun ist sie selbst zum Opfer hçfischer Machtinteressen gewor852 Vgl. Seif, 1973, 118. 853 Vgl. Seif, 1973, 118: „Die angefîhrte Meldung, Claudius komme promptus ultioni, steht in einem geradezu grotesken Kontrast zu dem wirklichen Verhalten, das der Kaiser whrend des gesamten Verlaufs der Aktion gegen Messalina an den Tag legt. Nicht Claudius, sondern der libertus Narcissus ist der eigentliche Rcher dieser Schmach.“ Keitel, 1977, 99 fîhlt sich durch die hier gebotene Kombination von „knowledge with angry punishment“ hingegen an die Charakterisierung des Claudius in ann. 11,25,5 (isque illi finis inscitiae erga domum suam fuit: haud multo post flagitia uxoris noscere ac punire adactus …) sowie an die Einschtzung des Kaisers durch Silius in ann. 11,26,2 (ut insidiis incautum, ita irae properum; vgl. Mehl, 1974, 77 mit Anm. 444) bzw. durch die Freigelassenen in ann. 11,28,2 (wobei mir der konkrete Bezug zu unserer Stelle nicht recht klar werden will) erinnert. Gnara Claudio cuncta ist in ihren Augen vor allem eine ironische Reminiszenz zu ann. 11,27,1 (in civitate omnium gnara …), welche die lange Dauer der Unwissenheit auf Seiten des Claudius hervorkehren solle; vgl. Mehl, 1974, 77 Anm. 443: „Dieser Ausdruck kontrastiert mit 11,13,1 Claudius matrimonii sui ignarus […].“ 854 Mehl, 1974, 77 Anm. 446 weist darauf hin, daß Cassius Dio (Exc. Val., Xiph., Zon.) 60,31,5 durch die Erwhnung der horti Luculliani einen direkten Bezug zwischen dem Ende des Asiaticus und dem der Messalina herstellt: „Ein hnlicher Gedanke mag auch hinter Tacitus’ øußerung stehen“; vgl. Keitel, 1977, 100; 101, die unter Einbeziehung weiterer Beobachtungen (s. weiter unten ann. 11,32,3: purgamenta hortorum) in den Grten geradezu ein Symbol fîr den

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den. Das Verhalten des Silius hingegen trgt fatalistische Zîge: Inmitten der bedrohlichen Situation geht er seinen normalen Tagesgeschften auf dem Forum nach, um seine Furcht zu verbergen.855 Erneut wird ihm von Tacitus metus attestiert (vgl. ann. 11,26,2). Der Eindruck, daß Silius nicht aus Machtgier, sondern aus Furcht die Initiative zum Kaisersturz ergriffen hat, mag sich hierdurch verfestigen. Bezeichnenderweise bleibt das frisch vermhlte Paar im Augenblick der Gefahr nicht beisammen, was Tacitus durch das Verb digrediuntur besonders hervorhebt. Die îbrigen Teilnehmer des Bacchus-Festes werden auf der Flucht von Zenturionen bereits verhaftet. Durch diese Information erfahren die dargestellten Ereignisse eine dramatische Beschleunigung. Die ersten Gegenmaßnahmen des Kaisers (bzw. des Narcissus) sind bereits in vollem Gang. Es scheint jetzt nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis auch Messalina und Silius ihre Strafe erhalten werden. Die Darstellung konzentriert sich anschließend ganz auf Messalina, s. ann. 11,32,2: Messalina tamen, quamquam res adversae consilium eximerent, ire obviam et aspici a marito, quod saepe subsidium habuerat, haud segniter intendit, misitque ut Britannicus et Octavia in complexum patris pergerent. et Vibidiam, virginum Vestalium vetustissimam, oravit pontifici maximi aures adire, clementiam expetere. Messalina verhlt sich genau so, wie es die Freigelassenen in ann. 11,28,2 befîrchtet haben: Sie versucht, den leicht beeinflußbaren Princeps durch eine persçnliche Begegnung zu erweichen. Die eingeschobene Bemerkung quod saepe subsidium habuerat ist fîr das Charakterbild des Claudius bezeichnend: Seine Lenkbarkeit scheint derart typisch fîr ihn zu sein, daß sich seine Gattin bisher immer darauf verlassen konnte. Unter Berufung auf den vorangestellten quamquam-Satz, der gefhrliche Situationen als hinderlich fîr kluge ˜berlegung erklrt, ist verschiedentlich die Ansicht geußert worden, Messalina handle an dieser Stelle instinktiv.856 Wie berechnend und kalkuliert ihr Verhalten jedoch ist, zeigt die unmittelbar Aufstieg und Fall der Messalina im elften Annalenbuch erblickt. Keitel meint a.a.O. 100 zudem, daß bereits der Ausdruck inditaque sunt vincla den Fall des Asiaticus ins Gedchtnis zurîckrufe (vgl. ann. 11,1,3: vinclis inditis) und schreibt vor diesem Hintergrund: „The whole paragraph [ann. 11,32,1] suggests the reversal of Messalina’s position at the opening of the extant Book 11“; vgl. Wille, 1983, 492. 855 Vgl. Mehl, 1974, 78 Anm. 447 gegen den Kommentar Koestermanns ad loc., der unpassend von „noch ungebrochener Entschlußkraft“ spricht, die Silius „bis zum Schluß nicht verließ.“ 856 So urteilen Seif, 1973, 120 und Koestermann ad loc.

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folgende Darstellung. Um ihr Vorhaben erfolgreich umzusetzen, agiert die erfahrene Intrigantin psychologisch ußerst geschickt auf drei unterschiedlichen Ebenen: Der Kaiser soll zunchst als Ehemann (maritus),857 dann als Vater (pater) und schließlich als ranghçchster Priester (pontifex maximus) emotional unter Druck gesetzt werden. Es zeigt sich, daß das Verhalten der Messalina gerade von dem, was durch den konzessiven Einschub quamquam … eximerent als allgemeine Regel formuliert wird, abgehoben werden soll: Trotz ihrer kritischen Lage verliert sie nicht den Kopf, sondern handelt unverdrossen (vgl. die Litotes haud segniter) und absichtsvoll (vgl. intendit).858 Doch ihr Vorgehen zeugt nicht nur von kîhler Berechnung und besonderer Raffinesse,859 sondern auch von vçlliger Skrupellosigkeit, da sie offenbar keinerlei Scheu besitzt, selbst die eigenen Kinder sowie den Bereich des Sakralen fîr ihre Zwecke zu instrumentalisieren.860 Die gesamte Aussage wird durch Assonanzen (complexum patris pergerent) und die sehr feierlich wirkende v-Alliteration Vibidiam, virginum Vestalium vetustissimam besonders eindringlich hervorgehoben.861 Daß sich die fîr ihre sexuellen Ausschweifungen bekannte

857 Keitel, 1977, 100 glaubt, daß maritus hier an ann. 11,30,2 erinnern soll, wo es in Bezug auf Silius geheißen hat: tenet urbem maritus. Auf dieser Grundlage argumentiert sie dann etwas unklar: „By the implications of this parallel, Messalina, not Silius is the threat to the throne […].“ Mçglich ist immerhin, daß Tacitus hier sein Spiel mit der Doppelehe der Messalina treibt. 858 Vgl. Mehl, 1974, 78: „Es ist glaubhaft, daß Messalina aus Instinkt ihren Charme (oder, wenn man so will, ihren ‘Sex-Appeal’) gegenîber Claudius ausspielen will. Aber fîr den Auftrag an die Kinder oder gar an die Vestalin reicht das nicht als Erklrung. Vor allem die Ausdrîcke complexus patris und pontifex maximus sprechen so genau spezifische Verhaltensweisen des Claudius an, daß sie nur von berechnendem Verstand diktiert sein kçnnen.“ 859 Vgl. Keitel, 1977, 100 f. 860 Seif, 1973, 119 ist der Ansicht, Messalinas „Verhalten und all das, was sie ins Werk setzt“, sei „typisch fîr einen Rçmer, der in Ungnade gefallen ist und sich bedroht weiß“ und verweist insbesondere auf den Fall des Serv. Sulpicius Galba, der 149 v. Chr. als Angeklagter vor Gericht seine noch nicht erwachsenen Kinder vor das Volk fîhren ließ, um Mitleid zu erregen (a.a.O. Anm. 26 mit Belegstellen u. a. bei Cicero, Livius und Quintilian). Doch bleibt der bloße Eindruck, den Messalina hier erweckt, von dieser Feststellung weitgehend unberîhrt, zumal die Kaiserin bereits zuvor als moralisch vçllig verkommene Person sowie als rîcksichtslose und gerissene Intrigantin (etwa im Asiaticus-Prozeß) eindrucksvoll in Erscheinung getreten ist. 861 Vgl. Koestermann ad loc.

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Kaiserin ausgerechnet der Hilfe der ltesten Vestalin (einer virgo!) bedient, ist in den Augen des Lesers blanke Ironie.862 Nachdem Tacitus die Verschlagenheit der Messalina eindrucksvoll hat deutlich werden lassen, wendet er sich ebenso anschaulich ihrem tiefen Fall zu,863 der sich plçtzlich ereignet hat und wiederum in scharfem Kontrast zu der Schilderung des ausgelassenen Bacchus-Festes (ann. 11,31,2 – 3) steht, s. ann. 11,32,3: atque interim tribus omnino comitantibus – id repente solitudinis erat – spatium urbis pedibus emensa, vehiculo, quo purgamenta hortorum ecipiuntur,864 Ostiensem viam intrat, nulla cuiusquam misericordia, quia flagitiorum deformitas praevalebat. Nur noch drei Begleiter sind der Kaiserin geblieben. Zunchst zu Fuß, dann auf einem Wagen, mit dem sonst Unrat aus den Grten geschafft wird, macht sich Messalina auf, um Claudius entgegenzugehen.865 Bildhafter htte Tacitus den sozialen Absturz der Kaisergattin wohl kaum darstellen kçnnen.866 Doch das Mitleid ihrer Umgebung erregt sie nicht, wie Tacitus in einem nachgetragenen Ablativus absolutus (nulla cuiusquam misericordia) einprgsam zum Ausdruck bringt: Zu schwerwiegend sei die Hßlichkeit ihrer Schandtaten gewesen. Durch diese abschließende Erinnerung an die Untaten der Kaiserin kommt auch beim Leser kein Mitgefîhl auf. Das Verb praevalere erinnert indessen an die Worte der Freigelassenen in ann. 11,28,2, als sie die Hoffnung 862 Vgl. Keitel, 1977, 101 unter Verweis auf Vessey, 1971, 399. 863 Vgl. Mehl, 1974, 79; Keitel, 1977, 101. 864 So die Korrektur des Heinsius fîr das îberlieferte eripiuntur, an dem Furneaux und Fisher festhalten mçchten; s. Koestermann ad loc. 865 Mehl, 1974, 79 und Keitel, 1977, 101 weisen darauf hin, daß Messalina nach Cassius Dio 60,22,2 und Suet. Claud. 17,3 das Recht besaß, auf einem carpentum zu fahren. Sollte auch Tacitus dies zuvor in den verlorenen Teilen der Annalen erwhnt haben, so ergbe sich fîr den Leser an dieser Stelle zweifellos ein weiterer Kontrast zum bisherigen sozialen Status der Kaiserin. 866 Seif, 1973, 120 ist offenbar der Ansicht, daß der „jmmerliche Aufzug“ der Kaiserin ein Teil ihres Planes ist, der auf das Mitleid des Claudius abzielt. Doch spricht vor allem der parenthetische, pointierte (s. Koestermann ad loc.) Kommentar des Tacitus id repente solitudinis erat gegen eine entsprechende Aussageabsicht des Historikers. Einsamkeit und Elend sind keineswegs von Messalina in berechnender Weise frei gewhlt, sondern plçtzlich und unwillkîrlich îber sie hereingebrochen. Seif vergleicht a.a.O. darîber hinaus die gesamte Szene mit dem von Tacitus geschilderten Ende des Vitellius (hist. 3,84 f.) und kommt zu dem Ergebnis: „Das Schmutzige hat in beiden Schilderungen Symbolcharakter. Es deutet auf die moralische Verkommenheit Messalinas und des Vitellius hin. Mitleid regt sich fîr keinen von beiden“; vgl. Keitel, 1977, 101 f.

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ußerten, den lenkbaren Claudius durch die Scheußlichkeit des geplanten Verbrechens auf ihre Seite ziehen zu kçnnen: si atrocitate criminis praevaluissent. Zumindest die einfachen Leute auf den Straßen Roms scheinen diesem Gedanken entsprechend gestimmt und daher immun gegen die Machenschaften der Messalina zu sein.867 Claudius hingegen muß wenig spter in ann. 11,34,2 offenbar erneut an die flagitia seiner Gattin erinnert werden, um nicht in Mitleid zu verfallen. Im folgenden Kapitel wird der Blick wieder zurîck auf das Umfeld des Claudius gelenkt, s. ann. 11,33: Trepidabatur nihilo minus a Caesare: quippe Getae praetorii praefecto haud satis fidebant, ad honesta seu prava iuxta levi. ergo Narcissus adsumptis quibus idem metus, non aliam spem incolumitatis Caesari adfirmat, quam si ius militum uno illo die in aliquem libertorum transferret, seque offert suscepturum. ac ne, dum in urbem vehitur, ad paenitentiam a L. Vitellio et Largo Caecina mutaretur, in eodem gestamine sedem poscit adsumitque. Die einleitende Aussage trepidabatur nihilo minus a Caesare ist konzessiv zu verstehen: Unmittelbar nach dem Bericht îber das erbrmliche Erscheinungsbild der Messalina bringt sie zum Ausdruck, daß die Umgebung des Princeps868 vom tiefen Fall der Kaiserin erfahren hat und trotz der Tatsache, daß diese in der §ffentlichkeit wegen der flagitiorum deformitas kein Mitleid erregt, ‘glei chwohl’ in unruhige Angst verfllt.869 Dieses Verstndnis paßt gut zu dem weiteren Bericht des Tacitus. Denn das nun geschilderte tiefe Mißtrauen gegenîber dem Prtorianerprfekten Geta, der bereits durch die wenig schmeichelhafte Charakterisierung ad honesta seu prava iuxta levis ausdrîcklich als unberechenbarer Faktor in Erscheinung treten soll,870 wird durch eine konzessive Auflçsung des nihilo minus als Grund fîr die ngstliche Unruhe besonders stark betont. Dieses Mißtrauen wiederum ist der Anlaß fîr die Initiative des Narcissus, sich das Kom867 Vgl. Koestermann ad loc.: „Natîrlich gab es îberall in der Stadt einen Auflauf von Neugierigen, die den seltsamen Aufzug der bisherigen first lady mit kritischen Augen musterten. Tacitus deutet das nur mit kargen Worten an und beflîgelt eben dadurch die Phantasie der Leser.“ 868 Zu dieser ˜bersetzung des Prpositionalausdrucks a Caesare s. Koestermann und Furneaux ad loc.; ausfîhrlich Mehl, 1974, 79 Anm. 456. 869 Die Auffassung, daß durch nihilo minus eine „Gleichstimmigkeit der Gefîhle“ ausgedrîckt werde, welche als verbindendes Element zwischen den beiden Handlungsstrngen um Claudius auf der einen und Messalina auf der anderen Seite fungiere (so Seif, 1973, 121; vgl. Keitel, 1977, 102) scheint dem Zusammenhang nicht angemessen. 870 Man beachte, daß prava hierbei an zweiter Position steht und daher besser im Gedchtnis des Lesers haften bleibt.

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mando îber die Prtorianer îbertragen zu lassen. Zweck dieser Darstellungsweise ist eine dramatische Zuspitzung des Geschehens, welche die konsequente Entschlossenheit des Freigelassenen – man beachte insbesondere das folgernde ergo – selbst in ußerst kritischen Situationen anschaulich vor Augen fîhrt. Die ihm in den Mund gelegten øußerungen tragen weiterhin die Zîge von großer Umsicht und berechnendem Kalkîl: Whrend Narcissus einerseits die vorgeschlagene ˜bertragung des ius militum an einen der Freigelassenen als einzig noch verbliebene Rettung (non aliam spem incolumitatis) darstellt, versteht er es andererseits, seine eigene Person dabei so weit wie mçglich zurîckzunehmen, um seinerseits kein Mißtrauen zu erregen. Ausdrîcklich bezieht er Gleichgesinnte in seine Planungen ein (adsumptis quibus idem metus) und spricht zunchst von irgendeinem der Freigelassenen (aliquem libertorum), dem das Kommando îber die Prtorianer zukommen sollte, bevor er sich schließlich in einem Nachsatz (seque offert suscepturum) eilig selbst ins Spiel bringt und bei aller ußerer Zurîckhaltung die Entscheidung des Kaisers damit erheblich beeinflußt.871 Indem die Gesinnungsgenossen an dieser Stelle unerwhnt bleiben, kann Narcissus als Handlungstrger um so strker in den Vordergrund treten. Aus seiner Sorge um das Wohlergehen des Claudius spricht derweil ein weiteres Mal die feine Ironie des Tacitus. Wie der Leser seit ann. 11,28 weiß, bangen die Freigelassenen in erster Linie nicht um das Leben des Kaisers, sondern um ihren eigenen Machterhalt und ihre bloße Existenz, sollten sich die Dinge zugunsten der Messalina wenden.872 Claudius erscheint wiederum als Marionette und Werkzeug seiner hçfischen Umgebung. Wie sehr Narcissus seinen Einfluß auf den Kaiser geltend macht, zeigen auch die weiteren Zeilen des Kapitels: Aus Angst, Claudius kçnne beim Einzug in Rom durch Vitellius und Caecina doch noch zur ‘Reue’ bewegt werden, nimmt er wie ein Aufpasser Platz auf dem Wagen des Kaisers, der somit als geistig unmîndige Person erscheint, die man offenbar vor sich selber schîtzen 871 Vgl. Keitel, 1977, 103: „The enclitic –que hardly gives Claudius a chance to catch his breath before he is enmeshed in another of the freedman’s intrigues“; Seif, 1973, 121; Koestermann ad loc. Die Entscheidung des Kaisers zugunsten des Narcissus wird in diesem Kapitel bezeichnenderweise nicht erwhnt. Hierzu Mehl, 1974, 80: „Und so geschieht das noch nie Dagewesene mit einer solchen Selbstverstndlichkeit, daß Tacitus die Gewhrung des Vorschlags nicht mehr erwhnt.“ Daß der Freigelassene tatschlich den Oberbefehl îber die cohortes pratoriae erhalten hat, geht dann aus ann. 11,35,2 hervor, wo dieser zu den Prtorianern spricht; s. Seif, 1973, 120. 872 Vgl. Keitel, 1977, 102.

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muß.873 Daß der Freigelassene in der Kutsche des Princeps fhrt, steht in grellem Kontrast zu der kurz zuvor in ann. 11,32,3 geschilderten Szene, die Messalina zunchst zu Fuß, dann auf einem Mistkarren unterwegs zeigte, und bringt auf diese Weise zum Ausdruck, wie sehr sich die Machtverhltnisse in der Umgebung des Princeps nunmehr gendert haben.874 Das lapidare poscit adsumitque schließt das Kapitel wirkungsvoll ab, indem es die Forderung des Narcissus direkt mit der Einwilligung des Kaisers verbindet. Es hat ganz den Anschein, als habe Narcissus das Heft des Handelns fest in die Hand genommen und kçnne ohne weiteren Widerstand schalten und walten.875 Claudius selbst erscheint vom ersten Satz des Kapitels an als vçllig teilnahmslose Figur (vgl. 873 Whrend der große Einfluß des Vitellius am Kaiserhof dem Leser bereits aus dem Prozeß gegen Valerius Asiaticus zu Beginn des 11. Annalenbuches bekannt ist, bleibt der Grund fîr das Mißtrauen gegen Caecina, der im Jahr 42 zusammen mit Claudius das Konsulat bekleidete, im Dunkeln; s. Koestermann ad loc. 874 Vgl. Mehl, 1974, 79; 80; Devillers, 1994, 174, Keitel, 1977, 103. 875 Die ˜berlieferung des Textes ist an dieser Stelle umstritten. Das im Mediceus îberlieferte, unverstndliche poscitussum itque ist von spterer Hand zu poscit assumitque (assumere = arrogat) korrigiert worden; assumitque hat dann wiederum Walther unter Hinweis auf Plin. epist. 3,1,5 (vehiculum ascendit, adsumit uxorem) in das passivische assumiturque gendert (s. Koestermann ad loc.). In den Handschriften zeichnet sich die passivische Personalendung -tur gegenîber der aktivischen Form –t lediglich durch ein Kîrzel aus, das von spteren Kopisten leicht îbersehen werden konnte. Gegen diese Konjektur wenden sich Seif, 1973, 122 f. und Mehl, 1974, 80 Anm. 461; Seif schreibt a.a.O. 123: „Die aktive Form gibt viel anschaulicher die Entschlossenheit und das Selbstbewußtsein des Freigelassenen wieder […].“ Mehl formuliert a.a.O. schrfer: „Das Passiv [assumiturque] verdirbt die Pointe: In allen diesen Kapiteln von 11,29 an ist Narcissus der einzig wirklich Handelnde auf der Seite des Claudius. Ihn hier zum Gegenstand der Handlung anderer zu machen ist unpassend.“ Jedoch scheint das vorangehende poscit darauf hinzuweisen, daß der Kaiser auf jeden Fall sein Einverstndnis geben mußte, was durch das passivische adsumiturque ausgedrîckt werden kann, ohne Claudius dabei ausdrîcklich als handelnde Person anfîhren zu mîssen. Setzt man die Zustimmung des Kaisers als notwendig voraus, ergibt sich bei der aktivischen Variante folgender Sinn: ‘Narcissus verlangt nach einem Sitz und nimmt ihn – nachdem dieser gewhrt worden ist – ein. Besser ist dagegen der Sinngehalt beim Passiv: ‘Narcissus fordert einen Sitz und wird – wunschgemß – aufgenommen.’ Die besondere Stellung des Freigelassenen wird hierbei durch das sofortige Gewhren seiner Bitte zum Ausdruck gebracht. Zudem bietet die passivische Lesart die bessere Klausel (poscit adsumiturque: Creticus mit Ditrochus; hufig bei Tacitus). Das von Koestermann favorisierte poscit sumitque des Leidensis hat keinen eigenen ˜berlieferungswert (vgl. L. D. Reynolds: Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics, Oxford 1983, 408 f. mit Anm. 12).

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die Formulierung a Caesare). Weder wird er namentlich erwhnt noch tritt er ausdrîcklich als Subjekt in Erscheinung. In aufflliger Weise muß seine Person zu den Prdikaten transferret, vehitur und mutaretur immer erst ergnzt werden.876 Im Anschluß schildert Tacitus Begebenheiten, die sich auf der Reise des Kaisers nach Rom ereignet haben sollen, s. ann. 11,34,1: Crebra posthac fama fuit, inter diversas principis voces, cum modo incusaret flagitia uxoris, aliquando ad memoriam coniugii et infantiam liberorum revolveretur, non aliud prolocutum Vitellium quam ‘o facinus! o scelus!’. instabat quidem Narcissus aperire ambages et veri copiam facere; sed non ideo pervicit, quin suspensa et quo ducerentur inclinatura responderet exemploque eius Largus Caecina uteretur. In der bezeichnenden Form eines Gerîchtes877 nimmt Tacitus zunchst die zwielichtige Person des Vitellius schrfer in den Blick. Dieser erscheint hier in der Rolle des typischen Opportunisten, der sich abwartend in keine Richtung festlegen mçchte. Seine zweideutige Bemerkung ‘o facinus! o scelus!’, die sowohl gegen Messalina als auch gegen ihre Anklger gerichtet sein kann, steht sicherlich beispielhaft fîr eine von Tacitus verachtete geistige Haltung der frîhen Kaiserzeit, gegen die selbst der nun so einflußreich gewordene Narcissus nichts ausrichten kann.878 Die Szene gert mit ihrem sarkastischem Unterton879 somit vordergrîndig zu einer allgemeinen Kritik des Historikers an den symptomatischen Zustnden des frîhen Prinzipats.880 Daß Vitellius kein Einzelfall gewesen ist, wird dadurch deutlich, daß 876 Dies ist insofern auffllig, als in allen drei Fllen immer ein Subjektswechsel gegenîber dem Hauptsatz (mit Narcissus als Subjekt) vorliegt. 877 S. hierzu Keitel, 1977, 104: „In crebra post haec fama fuit the strong initial position of crebra and the alliteration of fama fuit lend the story credence without committing Tacitus to his validity.“ 878 Man beachte hierbei den Wechsel zurîck in die direkte Rede: instabat quidem Narcissus. Die Reaktion des Freigelassenen auf die ausweichende Haltung des Vitellius ist damit aus dem bloßen Gerîcht ausgeklammert. Tacitus lßt die nacherzhlte crebra fama somit fast unmerklich als wahr erscheinen. 879 Vgl. Koestermann ad loc.; Seif, 1973, 123: „Die Szenen, die sich whrend der Fahrt nach Rom abspielen, entbehren nicht der Komik […]“; Keitel, 1977, 104. 880 Vgl. Keitel, 1977, 104: „Vitellius proves himself a shrewd student of imperial power. Like Tiberius […], he has learned the knack of suspensa verba.“ Ob jedoch – wie Keitel a.a.O. gewissermaßen suggeriert – eine direkte Reminiszenz an ann. 1,11,2 (Tiberioque etiam in rebus, quas non occuleret, seu natura sive adsuetudine, suspensa semper et obscura verba) beabsichtigt ist, wage ich aufgrund der großen Distanz zum ersten Annalenbuch zu bezweifeln.

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Caecina seinem Beispiel folgt.881 Doch dient die kurze Episode îber das feige und abwartende Gebaren der beiden Mnner mehr noch der dramatischen Zuspitzung des Geschehens. Ausgangspunkt dieser Beobachtung ist die enge Verknîpfung dieser Szenerie mit den Gemîtsschwankungen des Claudius, der sich genau so verhlt, wie es von den Freigelassenen befîrchtet und von Messalina berechnet worden ist, und damit deren Einschtzungen als zutreffend erweist.882 Tatschlich kann sich der Princeps offenbar nicht zu einer festen Haltung seiner Gattin gegenîber durchringen. Insbesondere das Verb revolveretur entfaltet hier eine hohe suggestive Kraft, indem es gleichsam ein unwillkîrliches ‘Hinund Herrollen’ des Princeps zwischen gegenstzlichen Gefîhlen (vgl. zustzlich: inter diversas principis voces) sehr bildhaft zum Ausdruck bringt.883 Da der Leser bereits um die von Messalina verfolgte Taktik weiß (s. ann. 11,32,2: … ire obviam et aspici a marito, quod saepe subsidium habuerat, haud segniter intendit misitque ut Britannicus et Octavia in complexum patris pergerent), unterstreichen die dem Kaiser weiterhin unterstellten Motive der Liebe zu seiner Gemahlin und den gemeinsamen, kleinen Kindern (vgl. memoriam coniugii et infantiam liberorum) die besondere Gefahr, die von den geplanten Aktionen der Kaiserin ausgeht, und belegen, wie gut Messalina ihren Gatten einzuschtzen und entsprechend zu manipulieren versteht.884 In diesem Zusammenhang verdeutlicht der Blick auf das abwartende Verhalten des Vitellius und des 881 Man beachte zustzlich, daß auch die Freigelassenen Pallas und Callistus in ann. 11,29,2 eine ganz hnliche Haltung an den Tag gelegt haben, worauf Keitel, 1977, 104 hinweist und zu Recht vermerkt: „As in 11,29, there is a contrast between two cowards and the bold Narcissus.“ In beiden Fllen sticht Narcissus unmittelbar nach der Schilderung îber das feige Verhalten der jeweiligen Personen durch sein energisches und entschlossenes Vorgehen hervor; vgl. ann. 11,29,2: perstitit Narcissus …; ann. 11,34,1: instabat quidem Narcissus ... 882 S. Mehl, 1974, 80 f.; vgl. ann. 11,28,2 bzw. 11,32,2. 883 Koestermann ad loc. deutet die Form medial (revolvi ad = ‘zurîckkommen auf ’). Das Passiv scheint mir an dieser Stelle jedoch ein echtes zu sein, impliziert es doch einen Kontrollverlust des Claudius îber seine Empfindungen, der gut in den hier gegebenen Kontext paßt. Der Kaiser ist ein Spielball seiner widerstreitenden Emotionen. Seif, 1973, 123 weist zudem auf die chiastische Anordnung des cum-Satzes hin, wodurch die inhaltlichen Gegenstze auch auf sprachlicher Ebene zur Geltung kommen: „[…] incusaret (a1) flagitia … (b1), … ad memoriam (b2) … revolveretur (a2).“ 884 Vgl. Keitel, 1977, 103 f.; Seif, 1973, 123, der in diesem Zusammnenhang zustzlich darauf aufmerksam macht, daß auf dem zweiten Kolon des cum-Satzes (aliquando … revolveretur) – aufgrund seiner Lnge und der strkeren zweiten Position – ein im Verhltnis zum ersten Kolon ungleich grçßeres Gewicht liegt.

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Caecina eindringlich, wie kritisch und ungewiß der Ausgang des Machtkampfes zwischen Narcissus und Messalina um die Gefîhle des Kaisers ist.885 Mit um so grçßerer Spannung erwartet der Leser deshalb das direkte Aufeinandertreffen zwischen Claudius und seiner Gattin, das im Anschluß an diese Szene geschildert wird, s. ann. 11,34,2 – 3: et iam erat in adspectu Messalina clamitabatque audiret Octaviae et Britannici matrem, cum obstrepere accusator, Silium et nuptias referens; simul codicillos libidinum indices tradidit, quis visus averteret. nec multo post urbem ingredienti offerebantur communes liberi, nisi Narcissus amoveri eos iussisset. Vibidiam depellere nequivit, quin multa cum invidia flagitaret, ne indefensa coniux exitio daretur. Igitur auditurum principem et fore diluendi criminis facultatem respondit: iret interim virgo et sacra capesseret. Mit Mîhe und Not kann Narcissus den theatralischen Auftritt der Messalina und ihre weiteren Maßnahmen abwehren. Aktion und Reaktion wechseln dabei jeweils in so dichter Folge, daß der Eindruck eines regelrechten Abwehrkampfes des Freigelassenen entsteht. Das Krfteverhltnis zwischen den beiden Kontrahenten erscheint an dieser Stelle nahezu ausgeglichen, wodurch die Spannung weiter erhçht wird.886 Dem emphatischen clamitabat, welches das Verhalten der Kaiserin umschreibt, steht das energische obstrepere des Freigelassenen entgegen, der durch ein inversives cum nunmehr als Anklger (accusator) pointiert in den Mittelpunkt des Geschehens rîckt.887 Der historische Infinitiv macht zustzlich die hektische Eile deutlich, in der er auf Messalinas ersten Ansturm reagiert. Den Appell der Messalina an die Gefîhle des Claudius als Ehemann und Vater (audiret Octaviae et Britannici matrem)888 pariert der Freigelassene, indem er an Silius und die Skandalhochzeit erinnert sowie mit einem Verzeichnis îber die Schandtaten der Messalina die Blicke des Kaisers ablenkt. Dabei wird ein ironischer Kontrast erzeugt, der Claudius als unverbesserlichen emotionalen Schwchling zeigt und ihn in seiner Funktion als Herrscher in Verruf bringt: Whrend das einfache Volk auf den Straßen Roms ausdrîcklich durch die deformitas flagitiorum am Mitleid mit der Kaiserin gehindert wird (ann. 11,32,3), muß das Staatsoberhaupt offenbar immer 885 Vgl. Seif, 1973, 123. 886 Vgl. Keitel, 1977, 104: „Here Tacitus dwells at length on the ploys and counteroffensives of his two adversaries to show that the match at this point is nearly even.“ 887 Zur sprachlich-stilistischen Ausgestaltung der Szene s. insbesondere Seif, 1973, 124; vgl. Keitel, 1977, 104 f. 888 Keitel, 1977, 105 sieht dabei matrem als „highly ironic“ an. Eine solche Ironie kann ich hier nicht feststellen.

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wieder an diese hßlichen Vergehen seiner Gattin erinnert werden, um nicht weich zu werden.889 Narcissus verhindert auch das von Messalina in die Wege geleitete Treffen mit den Kindern Octavia und Britannicus. Das zu liberi gehçrende Attribut communes unterstreicht das gemeinsame Element, das Messalina und Claudius bei allen sonstigen Gegenstzen doch noch verbindet, und hebt somit deutlich die Gefahr hervor, welche von dem raffinierten Vorgehen der Kaiserin fîr die Plne des Narcissus ausgeht.890 Der verneinte Konditionalsatz betont wiederum die Person des Freigelassenen besonders stark (nisi Narcissus amoveri eos iussisset) und lßt ihn als Retter im letzten Augenblick erscheinen. Seine machtvolle Position wird durch das ausdrucksstarke Verb iubere zustzlich unterstrichen.891 Weniger Erfolg hat Narcissus bei dem Versuch, Vibidia abzuwehren. Nach den nunmehr gescheiterten Versuchen der Messalina, Claudius emotional unter Druck zu setzen, stellt der Einsatz der Vestalin die dritte und letzte Anstrengung der Kaiserin dar, ihren Gatten doch noch zur Gnade umzustimmen.892 Daß gerade dieser letzte Versuch am fruchtbarsten ausfllt, ist eine Weiterfîhrung der in ann. 11,32,2 zum Vorschein gekommenen Ironie: Ausgerechnet eine sittenreine Vestalin tritt hartnckig (multa cum invidia) und mit einigem Erfolg fîr die moralisch verkommene Kaiserin ein.893 Freilich weiß der Leser, wie es um das vermeintliche Zugestndnis des Narcissus (auditurum principem et fore diluendi criminis facultatem) bestellt ist. Die Angst, Messalina kçnne noch vor ihrer Verurteilung die Mçglichkeit erhalten, sich vor Claudius zu rechtfertigen, war die Hauptsorge der Freigelassenen in ann. 11,28,2. Das Versprechen des Narcissus, daß der Kaiser seine Frau noch einmal zu den Vorwîrfen hçren werde, ist somit von vorneherein als notgedrungene Beschwichtigung entlarvt.894 Seine Aufforderung, die Vestalin solle gehen und sich ihren heiligen Diensten zuwenden, ist Ausdruck seines gestiegenen Selbstbewußtseins: Der Freigelassene scheut sich nicht, der 889 Vgl. o. S. 289. 890 S. Mehl, 1974, 81 Anm. 468. Der Kommentar Koestermanns ad loc.: „communes liberi dient zur Unterscheidung der Octavia und des Britannicus von ihrer Halbschwester Antonia […]“ geht an der Aussageabsicht des Tacitus vorbei. 891 Vgl. Seif, 1973, 124 : „Der libertus teilt nunmehr sogar Befehle aus.“ 892 Vgl. o. S. 287. 893 Vgl. o. S. 287 f.; Mehl, 1974, 81. Hingegen sieht Keitel, 1977, 105 eine Ironie vielmehr in der konkreten Forderung der Vibidia (ne indefensa coniux exitio daretur): „The Vestal’s remarks […] are highly ironic, since Messalina is twice coniunx and hardly indefensa.“ 894 Vgl. Seif, 1973, 125.

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obersten Vestalin Anweisungen zu erteilen. Es scheint, als habe er die Kompetenzen des Claudius, dessen Funktion als Pontifex maximus in ann. 11,32,2 ausdrîcklich hervorgehoben worden ist, nun auch im sakralen Bereich vollstndig an sich gezogen.895 Die Worte virgo und sacra erinnern hingegen erneut an die wîrdevolle sanctitas der Vibidia und stehen an dieser Stelle in Kontrast zur gemeinen Herkunft des Freigelassenen. Narcissus ist auf dem Hçhepunkt seiner Macht angelangt, agiert eigenmchtig und durchaus einfallsreich. Dessen îberragende Stellung aufzuzeigen, ist eine wesentliche Intention des Kapitels ann. 11,34. Vor dieser leuchtenden und kraftvoll gezeichneten Figur bleibt Claudius als der eigentliche Herrscher vçllig im Hintergrund zurîck. Was bisher durch die Darstellung des Tacitus bereits implizit deutlich zum Ausdruck gekommen ist, wird im folgenden auch explizit ausgesprochen, s. ann. 11,35,1 –2: Mirum inter haec silentium Claudi, tellius ignaro propior: omnia liberto oboediebant. patefieri domum adulteri atque illuc deduci imperatorem iubet. ac primum in vestibulo effigiem patris Silii consulto senatus abolitam demonstrat, tum quicquid avitum Neronibus et Drusis in pretium probri cessisse. incensumque et ad minas erumpentem castris infert, parata contione militum; apud quos praemonente Narcisso pauca verba fecit: nam etsi iustum dolorem pudor impediebat. continuus dehinc cohortium clamor nomina reorum et poenas flagitantium; admotusque Silius tribunali non defensionem, non moras temptavit, precatus ut mors adceleraretur. Die in ann. 11,34 beschriebene Situation in der Umgebung des Kaisers ist im wesentlichen weiterhin unverndert: Claudius ist vçllig passiv und schweigt, whrend Vitellius seiner abwartenden Haltung treu bleibt und nunmehr sogar den Unwissenden mimt. Allein Narcissus nimmt das Heft des Handelns in die Hand. Seine herausragende Machtstellung kommt in der lapidaren Zusammenfassung omnia liberto oboediebant wirkungsvoll zur Geltung: Durch die elliptische Ausdrucksweise zu Beginn des Kapitels fllt oboediebant als erstes Prdikat besonders stark ins Auge des Lesers.896 Zustzlich verleiht das verallge895 Vgl. Keitel, 1977, 105. Koestermann ad loc. verkennt die Aussageabsicht des Tacitus wenn er schreibt: „Der Kaiser war offenbar so konsterniert, daß er noch immer sein Schweigen nicht brach und es dem Narcissus îberließ, der Vestalin eine halbwegs beruhigende (und zugleich herausfordernde) Antwort zu erteilen.“ Von einem ‘˜berlassen’ irgendwelcher Aufgaben an den Freigelassenen ist in dem Bericht des Tacitus nirgendwo die Rede; stattdessen scheint Narcissus die kaiserliche Entscheidungsbefugnis eigenmchtig an sich zu reißen! 896 Vgl. Keitel, 1977, 106. Mehl, 1974, 82 weist darauf hin, daß wenige Kapitel spter in ann. 12,7,3 eine ganz hnliche Formulierung in Bezug auf Agrippina

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meinernde omnia der Aussage den Eindruck uneingeschrnkter Gîltigkeit, whrend die geschickt plazierte Standesbezeichnung libertus die Ungeheuerlichkeit umgekehrter Machtverhltnisse am Kaiserhof in drastischer Weise deutlich werden lßt: An der Spitze des rçmischen Imperiums steht ein gewçhnlicher Freigelassener! Dieser agiert offenbar nach Belieben, erteilt wiederum Befehle (iubet; in ironischer Weise hier direkt hinter dem Objekt imperatorem positioniert)897 und ist Subjekt zu fast allen weiteren Prdikaten (demonstrat, infert), so daß der Subjektswechsel zu Claudius (pauca verba fecit) lediglich durch den wirkungsmchtigen Ablativus absolutus praemonente Narcisso zu erkennen ist.898 Zusammen mit dem zweiten absoluten Ablativ parata contione militum bringt er die sorgfltige Vorbereitung der einzelnen Schritte durch den Freigelassenen zum Ausdruck.899 Ohne ihn scheint der Kaiser zu keiner eigenstndigen Handlung mehr fhig zu sein, ist vielmehr ein willenloses Instrument in dessen Hand. Narcissus versteht es vorzîglich die Gefîhle des Kaisers fîr seine Zwecke zu manipulieren.900 War Claudius in ann. 11,34,1 noch zwischen widerstreitenden Gefîhlen hin- und hergerissen, bricht er nach der von Narcissus geschickt inszenierten Besichtigung der domus adulteri901 zornentbrannt in Drohungen aus. In diese wîtende Stimmung versetzt, wird er von dem Freigelassenen dann vor die Soldaten gebracht, wo er jedoch erst nach dem libertus sprechen darf. Implizit wird hierbei deutlich, daß Claudius der Bitte des Narcissus nachgekommen ist und diesem tatschlich den Oberbefehl îber die Prtorianer îbertragen hat (vgl. ann. 11,33). Die pauca verba des Kaisers kçnnen symbolisch fîr den immer weiter schwindenden Einfluß des Princeps angesehen werden, auch wenn Tacitus die wenigen Worte auf

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verwendet wird: … cuncta feminae oboediebant. „Mit dieser Parallele charakterisiert Tacitus Narcissus und Agrippina als gleichwertig. Das ußere Bild der verkehrten Machtverteilung bleibt gleich, lediglich die Personen werden ausgetauscht wie Figuren oder Darsteller in Theaterrollen“; vgl. Keitel, 1977, 106; Devillers, 1994, 156. S. Seif, 1973, 125; Keitel, 1977, 106. Vgl. Keitel, 1977, 107: „Claudius’ name only appears once in this paragraph, ironically enough in connection with his silence. Any forcefulness he may have shown is undercut by the omission of his name in the command of 11,35,6 [=11,35,2].“ S. Keitel, 1977, 107. S. Keitel, 1977, 106: „Narcissus manipulates Claudius’ anger to secure the loyalty of the praetorians.“ S. hierzu Seif, 1973, 126 f.; Mehl, 1974, 82 mit Anm. 479.

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dessen Scham zurîckfîhrt.902 Narcissus hat sein Ziel erreicht: Lauthals fordern die Kohorten die Namen der Verschwçrer und deren Bestrafung. Ihre andauernde, hektisch-lrmende Aufregung, die durch die Assonanzen continuus dehinc cohortium clamor effektvoll zur Darstellung gebracht wird, steht ganz im Gegensatz zu dem zurîckhaltenden Gebaren des Claudius, der whrend der letzten Entwicklungen – von vereinzelten Wutausbrîchen abgesehen – entweder ganz geschwiegen oder nur wenige Worte von sich gegeben hat.903 Wenn nun Silius als erster der Angeklagten vor das Tribunal gefîhrt wird, so hat es ganz den Anschein, als sei dies in erster Linie nicht auf den festen Willen des Princeps, sondern auf die dringlichen Forderungen der Prtorianer hin geschehen. Dieser Eindruck wird auch dadurch gefestigt, daß Tacitus den Bericht îber die Verurteilung der Schuldigen unmittelbar an die lebhafte Schilderung der zornigen Soldaten folgen lßt (admotusque Silius): Offenbar findet in aller Eile ein Standgericht statt.904 Silius weiß, daß es fîr ihn keinen Ausweg gibt und fîgt sich in sein Schicksal. Ohne sich zu verteidigen, bittet er lediglich um eine schnelle Hinrichtung. Sein Verhalten kommt einem indirekten Schuldeinge-

902 Im Gegensatz zu Suet. Claud. 26,2 – 3 gibt Tacitus den Inhalt der Rede nicht wieder und lßt sich damit die Gelegenheit entgehen, den Kaiser an spterer Stelle lcherlich zu machen. Denn laut Sueton soll Claudius vor den Prtorianern geußert haben, daß er nach den bitteren Erfahrungen mit Messalina fîr den Rest seines Lebens Junggeselle bleiben wolle; anderenfalls sollte es den Prtorianern erlaubt sein, ihn zu tçten. Die Wiedergabe dieser Worte htte dem Historiker die einzigartige Mçglichkeit zu einem Angriff auf den ungeliebten Kaiser geboten, der bereits wenige Kapitel spter seine Nichte Agrippina heiratet; s. Mehl, 1974, 83 Anm. 481. Mçglicherweise war es Tacitus an dieser Stelle wichtiger, den alles beherrschenden Kontrast zwischen der Aktivitt des Narcissus und der Passivitt des Claudius durch eine breitere Darstellung nicht zu gefhrden; vgl. auch Keitel, 1977, 107 f. mit weiteren Erklrungsversuchen. Erstaunlich ist auch, daß Tacitus durch seinen Verweis auf den pudor den Gefîhlen des Kaisers offenbar ehrlich Rechnung trgt und Verstndnis fîr die nur kurze Ansprache aufbringt; s. Mehl, 1974, 83 Anm. 482; vgl. Keitel, 1977, 107 deren vorgebrachte Deutung jedoch unsinnig ist: „One hears the emperor stumbling over his own words in the alliteration of ‘p’ and ‘d’ in nam etsi iustum dolorem pudor impediebat.“ Keitel scheint fîr einen Moment vergessen zu haben, daß hier nicht Claudius, sondern Tacitus spricht. 903 Vgl. Keitel, 1977, 108. 904 Vgl. Mehl, 1974, 83.

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stndnis gleich,905 paßt jedoch auch zu dem bisherigen Charakterportrt, das Tacitus von Silius gezeichnet hat: Sein nîchterner Realittssinn906 weiß die Situation richtig einzuschtzen und verbietet ihm jegliche Hoffnung auf Rettung. Tacitus sieht darin nicht ohne Bewunderung ein Zeichen der Standhaftigkeit. Entsprechend leitet er die folgende Schilderung, die eine ausfîhrliche Liste mit Namen weiterer zum Tode Verurteilter bietet, mit diesem Gedanken ein, s. ann. 11,35,3: eadem constantia et inlustres equites Romani, 907 cupido maturae necis fuit. et Titium Proculum, custodem a Silio Messalinae datum et indicium offerentem, Vettium Valentem confessum et Pompeium Urbicum ac Saufeium Trogum ex consciis tradi ad supplicium iubet. Decrius quoque Calpurnianus vigilum praefectus, Sulpicius Rufus ludi procurator, Iuncus Vergilianus senator eadem poena adfecti. In nur wenigen Zeilen werden sieben weitere Todesurteile genannt. Durch die lange Aufzhlung der einzelnen Hinrichtungen entsteht der Eindruck einer rigorosen Bestrafung der Schuldigen.908 Aus der ausdrîcklichen Angabe inlustres equites schimmert mçglicherweise die Kritik des Tacitus an der harten Verfolgung gerade dieses Personenkreises hervor.909 Bemerkenswert ist, daß sich der Leser das Subjekt zu iubet in Gedanken selbst ergnzen muß. Freilich kommt hierfîr nur Claudius in Frage, da allein dem Kaiser das ius vitae et necis vorbehalten war.910 Doch bleibt seine Person weiterhin sehr im Hintergrund.911 905 So Mehl, 1974, 83 Anm. 483 unter Verweis auf E. Meise: Untersuchungen zur Geschichte der Julisch-Claudischen Dynastie (Vestigia, Beitrge zur Alten Geschichte, Bd. 10), Mînchen 1969, 132; vgl. Keitel 1977, 108. 906 Vgl. hierzu obige Analyse zu ann. 11,26,1 – 2 (ab S. 263). 907 Cupido maturae necis fuit wurde von Nipperdey als Glosse getilgt (dem folgt Heubner). Doch erscheint es sehr unwahrscheinlich, daß ein Interpolator einen solche Bemerkung in den Text eingefîgt hat. Wellesley setzt ea vor cupido ein, da er von einer Haplographie ea/cu ausgeht (s. die Appendix critica seiner Ausgabe; dort auch andere, weniger îberzeugende Lçsungsversuche). Stattdessen schlgt Zwierlein mit Rîcksicht auf eine parallele Satzstruktur ein zweites eadem vor; vgl. hierzu Tac. Germ. 20,2: inter eadem pecora, in eadem humo degunt; hist. 2,38,2: eadem illos deum ira, eadem hominum rabies, eaedem scelerum causae in discordiam egere; 4,57,2: eadem rursus numina, eadem fata ruptores foederum exspectarent. 908 Vgl. Seif, 1973, 132: „Mit ihnen [den Angeklagten] wird kurzer Prozeß gemacht, dem entspricht die knappe Katalogform.“ 909 Vgl. ann. 11,4,1 (der Prozeß gegen die Petra-Brîder). 910 Vgl. die im folgenden Kapitel dargestellte Verurteilung des Mnester, wo es allein Claudius in der Hand zu haben scheint, ob der Schauspieler ebenfalls getçtet wird oder verschont bleibt (ann. 11,36,1 – 2). Entsprechend dringen die Freige-

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Das nachfolgende Kapitel wartet mit weiteren Verurteilungen im Rahmen der vereitelten Verschwçrung auf. Nach den zweifelhaften Prozessen gegen offenbar unschuldige Opfer intriganter Machenschaften am Kaiserhof, die den Beginn des îberlieferten Teils des elften Annalenbuches markieren (Asiaticus; Petra-Brîder), rîckt es erneut das Rechtssystem unter der Regentschaft des Claudius in ein ußerst fragwîrdiges Licht. Zielpunkt der Kritik sind diesmal die Maßstbe, an denen geltendes Recht gemessen wird. Zunchst geht es um die Frage, was mit dem Pantomimen Mnester zu geschehen habe, der einst der Geliebte der Messalina gewesen ist, s. ann. 11,36,1: Solus Mnester cunctationem attulit, dilaniata veste clamitans, adspiceret verberum notas, reminisceretur vocis, qua se obnoxium iussis Messalinae dedisset: aliis largitione aut spei magnitudine, sibi ex necessitate culpam; nec cuiquam ante pereundum fuisse, si Silius rerum poteretur.912 Nach der langen Reihung der rasch ergangenen Todesurteile gegen ranghohe Persçnlichkeiten (ann. 11,35,3) erscheint die Aussage, daß nun Mnester als einziger eine Verzçgerung im Prozeßgeschehen verursacht habe, îberraschend und bildet einen scharfen Gegensatz zum vorangegangenen Bericht. Vor diesem Hintergrund fllt sein ohnehin sehr theatralischer Auftritt (dilaniata veste clamitans) noch mehr ins Gewicht.913 Mit Interesse verfolgt der Leser die verzweifelte Verteidigung des Schauspielers, die sich direkt an die Adresse des Kaisers wendet (adspiceret; reminisceretur). Dieser wird wiederum nicht eigens erwhnt. Allein der Inhalt des Gesagten, insbesondere der Verweis auf einen Ausspruch des Princeps, mit dem er den Pantomimen den Befehlen der Messalina ausgeliefert habe,914 gibt dem Leser

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lassenen auf den Kaiser ein; in ann. 11,37,2 beruft sich Narcissus auf einen kaiserlichen Befehl, um die Hinrichtung der Messalina zu beschleunigen: ita imperatorem iubere. Daher glaube ich nicht, daß Tacitus hier vornehmlich die Hinrichtungswut des Claudius geißeln will, wie Keitel, 1977, 108 unter Verweis auf den langen Namenskatalog der Verurteilten meint (hnlich Devillers, 1994, 149). Eine recht eigenwillige und fîr meine Begriffe viel zu îberspitzte Interpretation dieses Textabschnitts bietet O’Gorman, 2000, 120 f., auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Vgl. Seif, 1973, 133; Keitel, 1977, 109. Die Theatralik kontrastiert vor allem mit der gefaßten Haltung, die Silius und die anderen equites illustres zuvor an den Tag gelegt haben. Laut Cassius Dio 60,22,5 soll Claudius angeordnet haben, daß Mnester der Kaiserin in allen Dingen zu gehorchen habe. Dies sei geschehen, nachdem Messalina bei dem Schauspieler zunchst keinen Erfolg gehabt habe; vgl.

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Aufschluß darîber, wer an dieser Stelle angesprochen wird. Die Argumente des Mnester haben durchaus Gewicht. Tatschlich scheint er mehr Opfer als Tter zu sein (vgl. iussis; ex necessitate culpam). Nicht nur, daß Claudius offenbar eine erhebliche Mitschuld an der unheilvollen Beziehung des Schauspielers zu Messalina trifft. Mnester hatte auch îberhaupt kein Interesse an einem Sturz des Claudius, wie er îberzeugend ausfîhrt, wre er doch einer der ersten gewesen, die nach der Machtergreifung des Silius htten sterben mîssen. Es gibt fîr den Leser keinen ersichtlichen Grund, warum nun auch der Schauspieler hingerichtet werden sollte. Auch der Kaiser lßt sich von den Worten Mnesters beeindrucken, was den Leser freilich nicht allzu sehr îberraschen mag. Allein die Freigelassenen zeigen sich unbarmherzig, s. ann. 11,36,2: commotum his et pronum ad misericordiam Caesarem perpulere liberti, ne tot inlustribus viris interfectis histrioni consuleretur: sponte an coactus tam magna peccavisset, nihil referre. Bezeichnenderweise sind die liberti das Subjekt des Satzes, whrend der Kaiser von vorneherein lediglich als Objekt in Erscheinung tritt.915 Die Freigelassenen îbernehmen erneut die vçllige Kontrolle îber die Handlungen des Princeps und drngen ihn, den Schauspieler nicht zu verschonen. Ihre Argumentation entbehrt jeglicher Rechtsnorm: Nachdem man soviele erlauchte Mnner getçtet habe, kçnne man doch nicht einem einfachen histrio das Leben schenken.916 Hinzu kommt, daß solch herablassende Worte im Munde von Freigelassenen, die selbst nicht zu den viri illustres zhlen, ungemein arrogant erscheinen.917 Gegen das natîrliche Rechtsempfinden des Lesers verstçßt auch ihre Ansicht, daß es keinen Unterschied mache, ob Mnester freiwillig oder gezwungenermaßen solch ‘schlimme Vergehen’ verîbt habe. Gemessen an der tatschlich gegebenen Schuld des Mnester klingen diese Ausfîhrungen unverhltnismßig hart (vgl. tam magna; peccavisset). Das scharfe Urteil der liberti steht in vollem Kontrast zu der gut begrîndeten Verteidigung des Schauspielers, dessen Schicksal nun endgîltig besiegelt scheint. Tacitus Koestermann und Nipperdey ad loc. Tacitus wird hierîber in dem verlorenen Teil der Annalen berichtet haben. 915 Vgl. Keitel, 1977, 109: „Claudius, in the accusative case, the object of others’ manipulations […].“ Insgesamt erinnert die Ausdrucksweise an den AsiaticusProzeß in ann. 11,2,1: … commoto maiorem in modum Claudio …; vgl. Koestermann ad loc. 916 Vgl. Mehl, 1974, 84. Seif, 1973, 133: „Nicht nach moralischer Schuld oder Unschuld wird gefragt, sondern der soziale Stand als entscheidende Grçße in die Waagschale geworfen.“ 917 S. Seif, 1973, 133.

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geht nicht weiter darauf ein. Indem er kein abschließendes Urteil von Seiten des Kaisers nennt, gibt er indirekt zu verstehen, wie einflußreich die Freigelassenen am Hof des Claudius auch im Bereich der Rechtsprechung waren: Ihr Wort war offenbar Gesetz. øhnlich ungerecht wie die Behandlung Mnesters erscheint eine weitere Verurteilung, von der im Anschluß berichtet wird, s. ann. 11,36,3: ne Trauli quidem Montani equitis Romani defensio recepta est. is modesta iuventa, sed corpore insigni, accitus ultro noctemque intra unam a Messalina proturbatus erat, paribus lasciviis ad cupidinem et fastidia. Auch Traulus Montanus scheint wie Mnester ein harmloses Opfer der Messalina zu sein. Daß er im Grunde noch weniger Schuld auf sich geladen hatte als der Pantomime drîckt Tacitus durch das einleitende ne … quidem aus.918 Die kurze Kennzeichnung des Ritters durch modesta iuventa, sed corpore insigni verrt, was den Ritter îberhaupt in die Nhe der triebgeleiteten Kaiserin gebracht hat. Ohne sein eigenes Zutun (ultro)919 war er von der launischen Kaiserin innerhalb einer einzigen Nacht gerufen und dann wieder fortgejagt worden. Dafîr soll er jetzt hingerichtet werden! Der Zweck dieser Darstellung liegt weniger darin, ein negatives Licht auf das Triebleben der Kaiserin zu werfen.920 Dieses ist bereits deutlich genug behandelt worden. Vielmehr geht es darum, zusammen mit dem Bericht îber die Verurteilung des Mnester eine mçglichst breite Kontrastfolie fîr die folgende Darstellung zu gewinnen. Denn nach den beiden vçllig ungerecht wirkenden Todesurteilen folgen nun zwei Freisprîche, die in ihrer Begrîndung jetzt vçllig bizarr wirken mîssen, s. ann. 11,36,4: Suillio Caesonino et Plautio Laterano mors remittitur, huic ob patrui egregium meritum; Caesoninus vitiis protectus est, tamquam in illo foedissimo coetu passus muliebria. Nachdem Mnester und Traulus Montanus trotz erheblicher Zweifel an ihrer tatschlichen Schuld zum Tode verurteilt worden sind, werden zwei ußerst zwielichtige Personen begnadigt. Tacitus nennt die konkreten Vergehen des Suillius Caesoninus und des Plautius Lateranus nicht. Doch indem er anders als bei dem Schauspieler und dem Ritter keine Einwnde gegen deren Schuld erkennbar werden lßt und lediglich von ihrer Begnadigung berichtet, erscheinen sie fast automatisch als Mittter der aufgedeckten Verschwçrung. Trotzdem bleiben sie verschont. 918 Vgl. Seif, 1973, 133 f. 919 S. hierzu Koestermann ad loc. 920 S. Koestermann ad loc.: „Tacitus hlt es fîr nicht unter seiner Wîrde, die Klatschgeschichte zu erzhlen, weil sie zur Charakterisierung der perversen Sinnlichkeit der Messalina dient.“

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Die Begrîndung hierfîr ist jeweils ußerst zweifelhaft. Im Fall des Plautius Lateranus gaben nicht etwa eigene Verdienste des Angeklagten den Ausschlag fîr den Erlaß der Todesstrafe, sondern die seines Onkels A. Plautius, der sich bei der Eroberung Britanniens ausgezeichnet hatte.921 Viel schndlicher und geradezu paradox mutet der Freispruch des Suillius Caesoninus an: Der Sohn des berîchtigten Delators P. Suillius sei ausgerechnet durch seine Laster geschîtzt worden, da er sich in jener verruchten Clique (illo foedissimo coetu) nur als Weib habe mißbrauchen lassen. Deutlich ist hier der Spott des Tacitus îber eine derartige Urteilsbegrîndung zu vernehmen.922 Htte man da nicht auch Mnester und Traulus Montanus verschonen kçnnen, die offenbar um vieles schuldloser gewesen sind? Der Leser kann sich am Ende des Kapitels des Eindrucks nicht erwehren, daß man Unschuldige in blinder Rachsucht verurteilt, Schuldige jedoch nicht zuletzt auch aus Rîcksicht gegenîber ihren mchtigen und einflußreichen Familienangehçrigen verschont hat. Im îbrigen besttigt Tacitus an dieser Stelle nachtrglich den bissigen Seitenhieb gegen Suillius im Munde des angeklagten Asiaticus (ann. 11,2,1): …‘interroga’, inquit, ‘Suilli, filios tuos: virum me esse fatebuntur’.923 Nach dem Bericht îber die Urteile gegen Silius und weitere Angeklagte wendet sich Tacitus schließlich dem weiteren Schicksal der Messalina zu.924 Am Ende des elften Annalenbuches erhlt ihr Tod ein besonderes Gewicht, s. ann. 11,37,1: Interim Messalina Lucullanis in hortis prolatare vitam, componere preces, nonnulla spe et aliquando ira: tantum inter extrema superbiae gebat. ac ni caedem eius Narcissus properavisset, verterat pernicies in accusatorem. Der in ann. 11,32,3 erzeugte Eindruck von der jmmerlichen Situation der Kaiserin setzt sich an dieser Stelle fort: Sie fristet nur noch ihr Leben (prolatare), verfaßt Bittschreiben und schwankt zwischen Hoffnung und gelegentlichem Zorn: Die historischen Infinitive (prolatare, componere) unterstreichen die Rastlosigkeit ihres Daseins.925 Daß sie ausgerechnet in den Grten des Lukull, die sie 921 S. Koestermann und Nipperdey ad loc. 922 Vgl. Seif, 1973, 134; Mehl, 1974, 84 f.; Keitel, 1977, 110. 923 Der Leser wird sich an diesen dramatischen ‘Gefîhlsausbruch’ des Asiaticus aufgrund seiner besonderen Lebhaftigkeit sicherlich noch gut erinnern. 924 Zum ˜bergang s. Keitel, 1977, 110 f.: „[…] Tacitus provides an ironic transition to the death of Messalina: passus muliebria to Interim Messalina […]. Tacitus proceeds from the ruin of Messalina’s lovers to the ruin of Messalina herself.“ 925 Vgl. Seif, 1973, 135, der eine umfassende stilistische Analyse des Textabschnitts bietet; Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 111.

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auf dem Hçhepunkt ihrer Macht von Asiaticus, einem ihrer vielen Opfer, erhalten hatte (vgl. ann. 11,1,1), ein derart erbrmliches Bild abgibt und nunmehr ihr Ende erwartet, ist voller Ironie.926 Ihre bald hoffnungsvolle, bald zornige Haltung zeigt trotz der schwierigen Lage weder Einsicht noch Reue, ist vielmehr ein Zeichen von besonderem Hochmut, wie Tacitus deutlich kommentiert. Damit sticht Messalinas Verhalten in negativer Weise von der Standhaftigkeit des Silius ab, der sich kurz zuvor ohne ein Wort der Verteidigung oder Rechtfertigung in sein Schicksal gefîgt hat (ann. 11,35,2).927 Whrend die Kaiserin offenbar immer noch um Schonung ihres Lebens bittet (componere preces), hat jener als einzige Bitte vorgebracht, daß seine Hinrichtung schnell vonstatten ginge (…precatus ut mors adceleraretur). Der Hinweis auf die superbia verhindert, daß der Leser Mitgefîhl empfindet. Tatschlich scheint die Kaiserin noch nicht ganz verloren, ihr raffiniertes Taktieren immer noch nicht gnzlich gescheitert. Wieder ist es Narcissus, der eine entscheidende Rolle îbernimmt: Htte er Messalinas Tçtung nicht beschleunigt, htte sich das Verderben doch noch gegen den Anklger selbst gekehrt.928 Den Hintergrund fîr diese Aussage lßt Tacitus unmittelbar folgen, s. ann. 11,37,2: nam Claudius domum regressus et tempestivis epulis delenitus, ubi vino incaluit, iri iubet nuntiarique miserae (hoc enim verbo usum ferunt) dicendam ad causam postera die adesset. quod ubi auditum et languescere ira, redire amor ac, si cunctarentur, propinqua nox et uxorii cubiculi memoria timebantur, prorumpit Narcissus denuntiatque centurionibus et tribuno, qui aderat, exsequi caedem: ita imperatorem iubere. custos et exactor e libertis Euodus datur. Ein nam zu Beginn des Satzes stellt eine enge kausale Verknîpfung der vorangegangenen Aussage zu dem Verhalten des Claudius her. Dieser erscheint in einem ußerst ungînstigen Licht: Von einem frîhen Mal besnftigt und trunken von Wein befiehlt er, man solle zu Messalina gehen und der ‘Unglîcklichen’ verkînden, daß sie am nchsten Tag zu ihrer Rechtfertigung erscheinen mçge. Spçttisch 926 Vgl. Keitel, 1977, 111, deren Versuch, diesen Gedanken weiter zu treiben und einen Kontrast auch zur Sterbesszene des Asiaticus herzustellen, mçglicherweise etwas zu weit geht. 927 S. Seif, 1973, 135; vgl. Mehl, 1974, 83 Anm. 483. 928 Vgl. die ganz hnliche Aussage in ann. 11,34,3: … offerebantur communes liberi, nisi Narcissus amoveri eos iussisset. Man beachte in beiden Fllen zustzlich den Indikativ im Hauptsatz der irrealen Periode (offerebantur bzw. verterat); s. hierzu Koestermann ad ann. 11,37,1,: „Der Indikativ besagt, daß ihn das Verderben mit Sicherheit erwartet htte […]“; vgl. Seif, 1973, 135; Keitel, 1977, 111; s. insgesamt KSt II 404.

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macht Tacitus in Form eines Gerîchtes (ferunt) auf den angeblichen Wortlaut der kaiserlichen øußerung aufmerksam.929 Claudius scheint in seiner Haltung gegenîber seiner gefhrlichen Gattin tatschlich wieder umzukippen und wird dadurch zum unverbesserlichen, weinseligen Gefîhlstrottel gestempelt, der blind in sein Verderben rennt. Es ist fîr die Darstellung des Tacitus bezeichnend, daß mit iubet die einzige vçllig eindeutige eigenstndige Aktion des Claudius in den Kapiteln ann. 11,26 ff. ausgerechnet in diesen Rahmen fllt.930 Vor dem Hintergrund der zu Beginn des Kapitels beschriebenen Gefîhlslage der Messalina, die geprgt ist von Hoffnung und gelegentlichem Zorn (nonnulla spe et aliquando ira), wirken gerade das Schwinden seiner Wut und das Erstarken seiner Liebe (languescere ira, redire amor …) um so dîmmlicher.931 Die Berechnungen der Messalina sowie die Befîrchtungen der Freigelassenen erweisen sich abermals als zutreffend. Das von ihnen ausgemalte Schreckensszenario, Messalina kçnne im Falle einer ihr zugestandenen Rechtfertigung sowie unter Einsatz ihrer weiblichen Reize (vgl. propinqua nox et uxorii cubiculi memoria) den Kaiser doch noch auf ihre Seite ziehen (s. ann. 11,28,2), droht jetzt doch noch Realitt zu werden. In dieser ußerst kritischen Lage schreitet Narcissus ein weiteres Mal entschlossen und eigenmchtig zur Tat. Durch die Satzstruktur, in welcher der Hauptsatz mit dem Freigelassenen als Subjekt erst am Ende zu stehen kommt, sticht sein Handeln als sofortige Reaktion (s. prorumpit)932 auf die bedrohlichen Entwicklungen in besonderer Weise hervor. Zudem fîhrt der plçtzliche Umschlag in das historische Prsens (prorumpit, denuntiatque) die Dramatik der Situation eindringlich vor 929 Vgl. Keitel, 1977, 111; O’Gorman, 2000, 118. 930 S. Mehl, 1974, 85, der zustzlich den tendenziçsen Charakter des taciteischen Berichtes hervorhebt: „Daß Claudius Messalina vor Gericht ldt, entspricht dem Recht und obendrein Narcissus’ Versprechen gegenîber der Vestalin [s. ann. 11,34,3]. Tacitus’ Begrîndung lßt aber Claudius’ Absicht als Folge seiner wechselnden Gefîhle erscheinen, die hier sogar durch Sachen wie Essen und Trinken beeinflußt werden […]. Der Beschluß des Kaisers wird psychologisch motiviert und von der Ebene des Verstandes auf die der Gefîhle abgeschoben“; vgl. Keitel, 1977, 112. 931 S. Keitel, 1977, 112, die darîber hinaus noch weitere ironische Querbezîge zum vorangegangenen Bericht des Tacitus herstellt, ohne jedoch îberzeugen zu kçnnen. 932 Vgl. Koestermann ad loc.: „prorumpit in eigentlicher Bedeutung: Der Freigelassene stîrzt mit leidenschaftlichem Ungestîm, von der Angst beflîgelt, aus dem Raum.“

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Augen.933 Das anschauliche Verb denuntiare lßt den Freigelassenen erneut in seiner Eigenschaft als Befehlshaber îber die kaiserlichen Truppen auftreten (vgl. ann. 11,33; 11,35,2). Er gibt die Anweisung, die Tçtung der Messalina zu vollziehen. Von besonderer Ironie ist dabei die von Tacitus in indirekter Rede wiedergegebene Behauptung des Freigelassenen, daß dies der Kaiser selbst befehle: ita imperatorem iubere.934 Unter Verwendung desselben Verbs hat Tacitus nur wenige Zeilen zuvor den tatschlichen Befehl des Claudius beschrieben, mit dem er seiner Gattin eine letzte Chance geben wollte (iri iubet nuntiarique …). Unmißverstndlich wird klar, wer die eigentliche Befehlsgewalt am Kaiserhof innehat. Die Anweisungen des Claudius werden einfach îbergangen und in ihr genaues Gegenteil gekehrt. Ein Freigelassener ist es auch, der dem Todeskommando als Aufseher und Vollstrecker (custos et exactor) mitgegeben wird. Tacitus schildert nun die letzten Augenblicke im Leben der Messalina, s. ann. 11,37,3 – 4: isque (sc. Euodus) raptim in hortos praegressus repperit fusam humi, adsidente matre Lepida, quae florenti filiae haud concors, supremis eius necessitatibus ad miserationem evicta erat suadebatque, ne percussorem opperiretur: transisse vitam neque aliud quam morti decus quaerendum. sed animo per libidines corrupto nihil honestum inerat; lacrimaeque et questus inriti ducebantur, cum impetu venientium pulsae fores adstititque tribunus per silentium, at libertus increpans multis et servilibus probris. Auch Euodus handelt ohne Verzug. Durch raptim wird die Dramatik weiter erhçht: In großer Beschleunigung wird das Ende der Messalina vorangetrieben. Offenbar muß man dem gefhrlichen Mitleid des Claudius zuvorkommen und vollendete Tatsachen schaffen. Euodus findet die Kaiserin, die nun sinnfllig fîr den Verlust ihres Einflusses als Objekt (fusam) dargestellt wird,935 auf dem Boden kauernd, einzig begleitet von ihrer Mutter Lepida. Obwohl Lepida zu der Zeit, als Messalinas Macht noch ungebrochen gewesen ist, nicht in Eintracht mit ihrer Tochter gelebt hat,936 lßt sie sich nun in der schweren Stunde ihres 933 Vgl. Mehl, 1974, 86; Keitel, 1977, 112. 934 Unhaltbar ist die hierzu von Keitel, 1977, 112 aufgestellte These: „The freedman’s decisive energy recalls Messalina’s exit from Asiaticus’ trial in 11,2 when she orders Vitellius to take care of Asiaticus.“ Worauf sich eine solche Parallele stîtzen soll, bleibt mir vçllig rtselhaft. 935 S. Mehl, 1974, 86. 936 Zu den Hintergrînden s. Koestermann ad loc. bzw. ad ann. 11,29,1; Messalina hatte im Jahr 42 Appius Iunius Silanus, ihren Stiefvater und zweiten Gemahl der Lepida, ausgerechnet unter tatkrftiger Mitwirkung des Narcissus (s.

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Kindes zum Mitleid erweichen. Der hierbei verwendete Ausdruck ad miserationem evinci gibt unverhohlen zu verstehen, daß selbst die Mutter nicht ohne innere Widerstnde Mitgefîhl mit Messalina empfinden kann. Wie steht nun Claudius da, der sich ohne besonderen Anlaß bereits durch ein frîhes Essen und Weingenuß zur misericordia stimmen lßt! Was erst wre geschehen, wenn er entsprechend seiner Anordnung Messalina ein letztes Mal leibhaftig zu Gesicht bekommen htte? Die gespaltenen Gefîhle der Lepida geraten somit zu einer unausgesprochenen Anklage gegen den stumpfsinnigen Kaiser sowie zu einer versteckten Rechtfertigung des von Narcissus eingeschlagenen Weges. Jedenfalls findet die Aussage, wonach nur dessen Eingreifen das eigene Verderben noch verhindert habe (ann. 11,37,1), hier ihre indirekte Besttigung. Der bereits festgestellte Gegensatz zwischen der festen Haltung des todgeweihten Silius und dem Verhalten der Messalina setzt sich weiter fort: Die Kaiserin ist alles andere als standhaft, weint und klagt vergebens (lacrimae et questus inriti ducebantur). Dem Rat ihrer Mutter, angesichts des unvermeidlichen Endes der Hand des Mçrders zuvorzukommen und auf diese Weise einen wîrdevollen Tod zu finden, kommt sie nicht nach.937 Bissig fîhrt Tacitus die Erklrung an, daß in Messalinas verdorbenem Wesen kein Ehrgefîhl mehr vorhanden gewesen sei. Seit dem eindrucksvollen Einblick in ihre Psyche einige Kapitel zuvor (ann. 11,26) fllt eine solche Betrachtungsweise in der Wahrnehmung des Lesers auf fruchtbaren Boden.938 Mit einiger Genugtuung nimmt er hier zur Kenntnis, daß Messalinas Laster jetzt – und vielleicht zum ersten Mal – in negativer Weise auf sie zurîckfallen.939 Ein inversives cum bringt schließlich den Umschlag vom vergeblichen Klagen hin zum Eintreffen des Hinrichtungskommandos effektvoll zur Geltung. In dîsteren Farben malt Tacitus aus, wie die Tîr aufgestoßen wird und schweigend der ann. 11,29,1) in den Tod getrieben. Daß Tacitus sich hier lediglich mit einer dunklen Andeutung dieser skandaltrchtigen Vorgnge begnîgt, ist ein weiteres Indiz dafîr, daß er darîber in den verlorenen Annalenbîchern berichtet hat. 937 Durch ihre wîrdevolle Haltung fungiert neben Silius nun auch Lepida als Kontrastperson zu Messalina; vgl. Keitel, 1977, 113; Mehl, 1974, 86 Anm. 504. 938 Vgl. ann. 11,26,1: Iam Messalina … in fastidium versa ad incognitas libidines profluebat; 11,26,3: nomen matrimonii tamen concupivit (sc. Messalina) ob magnitudinem infamiae, cuius apud prodigos novissima voluptas est. 939 S. Seif, 1973, 136: „Mit der diagnostizierenden Feststellung sed animo per libidines corrupto nihil honestum inerat […] deutet Tacitus darauf hin, daß sich Messalinas Lebenswandel in dem Augenblick, als sie mit der Notwendigkeit des Todes konfrontiert wird, an ihr rcht.“

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Tribun erscheint, whrend der Freigelassene derbe Beschimpfungen von sich gibt, deren bloße Erwhnung den Leser an die vielen Schandtaten der Messalina erinnern mag und der Todesszene der Kaiserin endgîltig jeden Anflug von Wîrde nimmt.940 Erst als die Henker vor ihr stehen, begreift Messalina, daß ihr Ende gekommen ist. Doch ist sie immer noch nicht imstande, sich in Wîrde selbst zu tçten.941 Die Bemerkung des Tacitus hinsichtlich der vçlligen Verdorbenheit der Kaiserin (ann. 11,37,4: sed animo per libidines corrupto nihil honestum inerat) scheint sich weiterhin zu besttigen. Schließlich bereitet der Tribun dem zaghaften Treiben ein Ende, s. ann. 11,38,1: Tunc primum fortunam suam introspexit ferrumque accepit, quod frustra iugulo aut pectori per trepidationem admovens ictu tribuni transigitur. corpus matri concessum. Es ist bezeichnend, daß Messalinas Leichnam der Mutter îberlassen und nicht zu Claudius gebracht wird. Durch die lapidare Bemerkung corpus matri concessum942 bringt Tacitus zum Ausdruck, daß Messalina nicht als Kaiserin, sondern als gewçhnliche Frau gestorben ist. Diesem Eindruck entspricht es, daß der Historiker mit seinen Gedanken nicht lnger bei Messalina verweilt, sondern sich unmittelbar wieder dem Kaiser zuwendet,943 s. ann. 11,38,2: nuntiatumque Claudio epulanti perisse Messalinam, non distincto sua an aliena manu; nec ille quaesivit, poposcitque poculum et solita convivio celebravit. Die Nachricht vom Tode seiner Frau wird Claudius ausgerechnet whrend des Essens îberbracht. Die Sterbeszene der Messalina wird somit von zwei Tafelszenen des Kaisers umrahmt, die beide auf jeweils unterschiedliche Weise ein sehr negatives Bild des Princeps vermitteln. Ist er kurz vor dem Tod der Messalina durch ein frîhzeitiges Mahl und Weingenuß milde gestimmt und von seinen Gefîhlen zu Messalina îberwltigt worden (ann. 11,37,2), zeigt er sich nun erstaunlich teilnahmslos, fragt nicht einmal nach den nheren Umstnden, unter denen seine Gattin zu Tode gekommen ist. Stattdessen verlangt er nach dem Becher und hlt die îblichen Bruche des Trinkgelages ein – als wre nichts Besonderes ge940 Vgl. Seif, 1973, 136; Koestermann ad loc. bzw. ad ann. 11,37,2: „Das impertinente Verhalten des Euodus lßt auch die Todesszene ins Ordinre absinken.“ 941 Vgl. Keitel, 1977, 114. 942 S. hierzu Koestermann ad loc.: „Die drei Worte mit schwerem Rhythmus […] ziehen in abrupter Kîrze den Schlußstrich unter die Tragçdie im Kaiserhaus.“; vgl. Keitel, 1977, 114. 943 Vgl. Keitel, 1977, 114 f.: „Power has passed from Messalina, and her life, like Claudius’, has rendered her unworthy of an obituary.“

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schehen.944 Die Aussage nec ille quaesivit poposcitque poculum et solita convivio celebravit ist in ihrer knappen Nîchternheit von schneidender Schrfe und sticht zustzlich durch ihre Assonanzen in besonderer Weise hervor.945 Ferner ist die durch celebrare umschriebene Ttigkeit des Kaisers der Situation vçllig unangemessen. Claudius scheint mehr Interesse an seinem festlichen Gelage zu haben als am Schicksal seiner Frau. Auch an den folgenden Tagen zeigt der Kaiser keine einzige menschliche Gefîhlsregung, s. ann. 11,38,3: ne secutis quidem diebus odii gaudii, irae tristitiae, ullius denique humani adfectus signa dedit, non cum laetantes accusatores adspiceret, non cum filios maerentes. iuvitque oblivionem eius senatus censendo nomen et effigies privatis ac publicis locis demovendas. Es hat ganz den Anschein, als sei Claudius emotional derart von Messalina abhngig gewesen, daß mit ihrem Tode gleichzeitig auch sein Gefîhlsleben gnzlich erloschen ist.946 Er zeigt weder Haß noch Freude, weder Trauer noch Zorn – alles Gefîhle, die man bei Claudius durchaus htte erwarten kçnnen. Doch selbst der Anblick seiner trauernden Kinder lßt ihn offenbar kalt.947 Whrend der Kaiser in vçllige Lethargie verfllt, beschließt der Senat gegen Messalina die damnatio memoriae.948 Bereits hier wird ihr Name von Tacitus nicht mehr genannt (vgl. eius). Wenn er den Senatsbeschluß insbesondere hinsichtlich seiner psychologischen Wirkung auf Claudius darstellt (iuvitque oblivionem), macht der Histo944 Zur Glaubwîrdigkeit und Historizitt des hier von Tacitus vermittelten Eindrucks s. Mehl, 1974, 87 f. 945 Vgl. Koestermann ad loc. 946 Entsprechend kann Tacitus wenige Kapitel spter in ann. 12,3,2 îber Claudius sagen: sed nihil arduum videbatur in animo principis, cui non iudicium, non odium erat nisi indita et iussa; vgl. Mehl, 1974, 88 mit Anm. 517. 947 Vgl. hierzu Seif, 1973, 137, der auf die kunstvolle sprachliche Ausgestaltung des Textabschnittes hinweist: „Die vier asyndetisch aneinandergereihten Genitive odii, gaudii, irae, tristitiae mînden in die sie zusammenfassende allgemeine Formulierung ullius denique humani adfectus. Die darauffolgenden beiden Nebenstze sind durch die Anapher non cum … non cum und durch die chiastische Entsprechung der inhaltlich gegenlufigen Wortfîgungen laetantis (a1) accusatores (b1), filios (b2) maerentis (a2) kunstvoll stilisiert und verdeutlichen mit Nachdruck, was die Gefîhle des Claudius eigentlich htte wecken mîssen“; vgl. Keitel, 1977, 115. Ob jedoch Seifs weitere Beobachtung zutrifft, wonach der Umstand, daß Claudius nicht einmal durch seine Kinder gerîhrt wird, auf konkrete Entwicklungen im 12. Annalenbuch vorausweise (z. B. die Adoption des Domitius und Zurîckstellung des Britannicus), scheint mir fraglich zu sein. 948 Keitel, 1977, 116 mçchte hier eine (weitere) Parallele zum Schicksal des Asiaticus sehen. Dort kam der Senat ebenfalls erst nach dem Tod des Angeklagten zusammen (ann. 11,4,1: Vocantur post haec patres).

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5. Ann. 11,22 – 38: Die weiteren Ereignisse in Rom

riker deutlich, daß der Kaiser aus der Skandalgeschichte der Messalina keine Lehren fîr die Zukunft gezogen hat: Schnell hat er seine Gattin vergessen und mit der Vergangenheit abgeschlossen.949 Schließlich steht Narcissus noch einmal im Mittelpunkt der Betrachtung. Ihm werden die Insignien eines Qustors zuerkannt, s. ann. 11,38,4: decreta Narcisso quaestoria insignia, levissimum fastidio eius, cum super Pallantem et Callistum ageret. ð honesta quidem, sed ex quis deterrima orerentur tristitiae multis.950 Die Auszeichnung wird von Tacitus hçhnisch kommentiert, wodurch er deutlich zu verstehen gibt, was er von Narcissus hlt: Eine allzu leichte Ehrung sei sie gewesen fîr seinen Hochmut, da er sich îber Pallas und Callistus gestellt habe. Die Ironie der Aussage liegt vor allem in dem cum-Satz begrîndet. Freilich hat sich Narcissus auch îber die beiden anderen Freigelassenen erhoben, doch ist gerade in den letzten Kapiteln die eigentliche ˜berschreitung seiner Kompetenzen viel mehr noch in seinem eigenmchtigen Verhalten gegenîber den Anweisungen des Claudius greifbar geworden. Durch die von ihm in die Wege geleitete schnelle Tçtung der Messalina hat er sich eindeutig îber den ausdrîcklichen Befehl des Kaisers hinweggesetzt, der seiner Frau eine letzte Chance geben wollte (ann. 11,37,2). Doch davon liest man hier kein Wort. Indem Tacitus den Kaiser unerwhnt lßt und nur die ˜berheblichkeit des Narcissus gegenîber seinen gleichrangigen Kollegen hervorhebt, erscheint Claudius im Bewußtsein des Lesers erneut als vçllig unwichtige Randfigur. Es sind die Freigelassenen, die am Hof die Macht besitzen.951 Das elfte Annalenbuch endet offenbar mit einer Sentenz, die 949 S. Seif, 1973, 137 f.; O’Gorman, 2000, 119 stellt in diesem Zusammenhang eine recht kînstliche Verbindung zu der Zensur des Claudius her: „The senate’s decree recalls the censorship which, as we have seen, distracted Claudius for so long from awareness of his wife’s activities. The removal of her name and statues is the equivalent of the censorial ignominia, loss of (good) name, but also of damnatio memoriae, a condemnation, but also a loss (damnum) of memory“; vgl. zustzlich ihre ebenso zweifelhaften Bemerkungen a.a.O. 121 mit Anm. 19. 950 An dieser Stelle weiche ich von der Textfassung Heubners ab, der das îberlieferte tristitiis multis athetiert. Stattdessen greife ich einen Vorschlag Zwierleins auf, der einen prdikativen Dativ tristitiae konjiziert. Zur Bedeutung s. die folgende Analyse. 951 Vgl. Koestermann ad loc.: „Das Ende des 11. Buches zeigt Narcissus auf dem Hçhepunkt seiner Karriere, im 12. Buch folgt sein allmhlicher Niedergang, und das 13. wird mit seinem erzwungenen Tod erçffnet (13,1,3). Es ist bezeichnend, daß Tacitus seine Erzhlung der Epoche des Claudius in dieser Weise durch das Auf und Ab im Schicksal der Freigelassenen akzentuieren konnte [Hervorhebungen von mir].“

5.3 Ann. 11,26 – 38: Der Fortgang des Messalinaskandals

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auf die unheilvollen kînftigen Entwicklungen vorausweist. Der Text ist an dieser Stelle stark verderbt. Vor allem der Bezug von honesta bereitet Schwierigkeiten,952 weshalb mit einem vorangehenden Textausfall gerechnet werden muß. Doch das folgende Kolon erhlt einen treffenden Sinn, wenn man den ungebruchlichen Plural tristitiis in tristitiae ndert und als einen prdikativen Dativ zu (absolut gesetztem) multis auffaßt: Schlimme Folgen werden angekîndigt als Grund ‘zur Trauer fîr viele’.953 In jedem Fall kann festgehalten werden, daß Tacitus hier die Sinne des Lesers fîr die folgende Darstellung schrfen und dessen Wahrnehmung der folgenden Ereignisse bereits im Vorfeld entscheidend prgen mçchte.954

952 Ein Bezug zu den quaestoria insigna scheint aus inhaltlichen Grînden nicht recht angemessen zu sein; s. jedoch Mehl, 1974, 88 f.; vgl. die Bemerkungen Wellesleys in der Appendix critica seiner Ausgabe. 953 Ein frîher Abschreiber kçnnte den Dativ in seiner Funktion nicht erkannt und an multis angeglichen haben. Zu prdikativem Dativ s. LHSz II 99. 954 Vgl. Mehl, 1974, 89; Keitel, 1977, 116; generell Devillers, 1994, 110.

6. Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius, die Hochzeit des Kaisers mit Agrippina sowie das erste Wirken der neuen Kaiserin Das zwçlfte Buch beginnt Tacitus mit dem Bericht îber die „kaiserliche Brautschau“955 (ann. 12,1 – 3) und lßt es dabei an beißender Ironie und Humor nicht fehlen, um Claudius entsprechend seiner bisherigen Darstellung wie ein unmîndiges Kind in der Obhut seiner Freigelassenen erscheinen zu lassen.956 Nach dem Tod der Messalina ist der Kaiser offenbar nicht in der der Lage, in eigener Verantwortung eine neue Gemahlin zu erwhlen. Die Wahl fllt schließlich auf Agrippina minor, die Tochter des Germanicus und Nichte des Princeps. In ann. 12,4 werden die unheilvollen Auswirkungen dieser Wahl ein erstes Mal spîrbar: Um sich die Gunst der Agrippina zu verschaffen, schaltet Vitellius angesichts der sich abzeichnenden kînftigen Machtverhltnisse eine Intrige gegen L. Iunius Silanus, dem Verlobten der Claudiustochter Octavia. Die Hochzeit des Claudius und der Agrippina ist das Thema der nchsten drei Kapitel (ann. 12,5 – 7). Der Selbstmord des Silanus, die Rîckkehr Senecas aus dem Exil und die Verlobung des Domitius, des Sohnes der Agrippina, mit Octavia (ann. 12,8 f.) lassen sich als erste Ereignisse, die auf das Wirken der neuen Kaiserin zurîckgehen, zusammenfassen.957

955 Koestermann ad ann. 12,1,1. 956 Vgl. Koestermann ad ann. 12,1,1; Syme, 1958, 539; Borzsk, 1978, Sp. 475 f. 957 Zur Gliederung der Kapitelreihe ann. 12,1 – 9 vgl. Seif, 1973, 146 – 148; ausfîhrlicher sowie mit tiefgehenden, jedoch oft zu îberspitzten Interpretationen verbunden ist der ˜berblick bei Keitel, 1977, 135 – 140; vgl. Wille, 1983, 498 – 503. Eine grobe ˜bersicht îber die Struktur und die Aussageabsicht des 12. Annalenbuches insgesamt findet sich mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung bei Seif, 1973, 140 – 145 und Keitel, 1977, 133 f.

6.1 Ann. 12,1 – 3: Die kaiserliche Brautschau

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6.1 Ann. 12,1 – 3: Die kaiserliche Brautschau Im ersten Satz des neuen Buches berichtet Tacitus von einer Erschîtterung, der das kaiserliche Haus nach dem Tod der Messalina befallen habe, s. ann. 12,1,1: Caede Messalinae convulsa principis domus orto apud libertos certamine, quis deligeret uxorem Claudio, caelibis vitae intoranti958 et coniugum imperiis obnoxio. nec minore ambitu feminae exarserant: suam quaeque nobilitatem formam opes contendere ac digna tanto matrimonio ostentare. Seit ann. 11,28 f. weiß der Leser, wer mit dem Begriff der domus principis konkret gemeint ist: Es sind die Mchtigen am Hof des Kaisers, allen voran die drei Freigelassenen Narcissus, Pallas und Callistus.959 An dieser Stelle verhlt es sich nicht anders. Ein nachgetragener Ablativus absolutus, auf dem das volle Gewicht des ganzen Satzes ruht,960 nennt den Grund fîr die genannte Erschîtterung, die zunchst etwas paradox anmutet, da man nach der Beseitigung der intriganten und gefhrlichen Kaiserin doch eher eine Beruhigung der Verhltnisse erwartet htte.961 Doch es ist eben nicht der Tod der Messalina, der fîr neue Aufregung sorgt, sondern ein Wettkampf unter den liberti um den Vorrang bei der Wahl einer neuen Kaiserin. Fîr die Regentschaft des Claudius ist es symptomatisch, daß ein Streit allein zwischen den Freigelassenen unweigerlich eine derart schwere Krise am Kaiserhof auslçst, wie sie durch convulsa zum Ausdruck gebracht wird.962 Denn der eigentliche Grund fîr die nun eingetretene Situation ist in der Persçnlichkeit des Kaisers selbst zu suchen. Dies kommt in der nachgetragenen Apposition zum Ausdruck, wonach Claudius ein eheloses Leben nicht ertragen kçnne und abhngig von den Befehlen seiner Gattinnen (man beachte zustzlich den Plural coniugum) sei.963 Es geht den liberti 958 Zur Emendation s. Goodyear, 1965, 311. 959 Vgl. ann. 11,28,1: Igitur domus principis inhorruerat, maximeque quos penes potentia …; Keitel, 1977, 140. 960 Zur Satzstruktur s. Seif, 1973, 149 f. 961 S. Seif, 1973, 150; vgl. Mehl, 1974, 97. 962 Vgl. Koestermann ad loc.: „convulsa = ‘wurde in ihren Grundpfeilern erschîttert’ […].“ ˜brigens berichtet im Zusammenhang mit der Suche nach einer neuen Ehefrau fîr Claudius allein Tacitus von einem Streit zwischen den Freigelassenen; s. hierzu den ausfîhrlichen Vergleich der taciteischen Darstellung mit der Parallelîberlieferung bei Seif, 1973, 151 – 153. 963 Vgl Seif, 1973, 150, der zustzlich auf die „stilistischen Feinheiten“ der Apposition aufmerksam macht, die durch zwei Isokola mit annhernd gleicher Silbenzahl sowie durch die parallele Zuordnung der einzelnen Wçrter unterein-

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6. Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius

um nichts anderes als um die Sicherung der eigenen Machtstellung. Die Ehefrau des lenkbaren Claudius ist gleichsam der Schlîssel zur Ausîbung der Macht: Wer die neue Gattin auswhlt, bestimmt die zukînftigen Machtverhltnisse und damit das eigene Schicksal entscheidend mit.964 Man beachte zudem, daß die Freigelassenen die Wahl der neuen Ehefrau des Claudius offenbar ganz selbstverstndlich als ihre Angelegenheit betrachten (orto apud libertos certamine, quis deligeret uxorem). Der Kaiser selbst scheint in dieser fîr ihn so wichtigen Frage nur am Rande eine Rolle zu spielen. Die kurze Charakterisierung des Claudius als caelibis vitae intolerans et coniugum imperiis obnoxius paßt ferner genau auf die im letzten Kapitel des elften Annalenbuches beschriebene Apathie des Kaisers nach dem Tod der Messalina (ann. 11,38,2 – 3). Ohne eine Frau an seiner Seite, die ihm sagt, was er tun oder lassen soll, scheint er tatschlich hilflos zu sein. Die bissige Bemerkung des Historikers klingt daher nicht parteiisch, sondern beschreibt im Bewußtsein des Lesers einen objektiv gegebenen Sachverhalt. Neben den Freigelassenen sind nun auch die Frauen in nicht minderem Eifer entbrannt.965 In diesem Zusammenhang ist die Formulierung digna tanto matrimonio ironisch gefrbt „durch die Diskrepanz zwischen dem politischen Gewinn, den diese Heirat mit sich brachte, und der menschlichen Bindung an einen Mann wie Claudius.“966 Tacitus stellt schließlich den engeren Kreis der Kandidatinnen vor, s. ann. 12,1,2: sed maxime ambigebatur inter Lolliam Paulinam M. Lollii consularis et Iuliam Agrippinam Germanico genitam: huic Pallas, illi Callistus fautores aderant; at Aelia Paetina e familia Tuberonum Narcisso fovebatur. ipse huc modo, modo illuc, ut quemque suadentium audierat, promptus, discordantes in consilium vocat ac promere sententiam et adicere rationes iubet. Jeder der drei mchtigen Freigelassen favorisiert jeweils eine eigene Dame vornehmer Herkunft als neue Gattin des Kaisers. Mit der Aussage, daß man innerhalb dieser drei Kandidatinnen am meisten zwischen der von Callistus bevorzugten Lollia Paulina und der von Pallas unterstîtzten Iulia Agrippina geschwankt habe, wird bereits deutlich, daß der Vorschlag des Narcissus, Aelia Paetina, die zustzlich durch ein at von den beiden Rivalinnen abgesetzt wird,967 keine Aussicht auf Erfolg hat.

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ander geprgt ist. Zusammen mit ihrer betonten Position am Satzende gewinne sie hierdurch an „Ausstrahlung und Eindringlichkeit“; vgl. Keitel, 1977, 141. Vgl. Mehl, 1974, 97. Zu exardescere an dieser Stelle s. Keitel, 1977, 141, wo der Begriff in seiner Aussagekraft jedoch îberbewertet wird. Seif, 1973, 153. S. Seif, 1973, 154.

6.1 Ann. 12,1 – 3: Die kaiserliche Brautschau

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Der Einfluß des Narcissus, der in den letzten Kapiteln des elften Annalenbuches noch îbermchtig gewesen ist, scheint hier ein erstes Mal im Schwinden begriffen zu sein. Claudius selbst – an dieser Stelle lediglich durch ipse eingefîhrt – ist in gewohnter Manier vçllig unentschlossen und ohne eigene Meinung. In seiner Lenkbarkeit neigt er je nachdem, wer gerade das Wort fîhrt, bald zu der einen, bald zu der anderen Kandidatin. Die chiastische Wortfîgung huc modo, modo illuc fîhrt diese Unentschlossenheit und Wankelmîtigkeit des Princeps auf stilistischer Ebene wirkungsvoll vor Augen.968 Anstatt nun dem unwîrdigen Treiben durch eine eigene Entscheidung ein Ende zu bereiten, lßt sich Claudius vielmehr darauf ein, indem er die widerstreitenden Parteien zu einer Beratung zusammenruft und ‘befiehlt’, die einzelnen Vorschlge zu erçrtern. Vor dem eindrucksvoll ausgemalten Hintergrund mangelnder Selbststndigkeit und Entscheidungskraft erhlt insbesondere das Prdikat iubet, das ja gerade einen festen Willen und autokratischen Fîhrungsstil impliziert, einen hçhnischen Unterton.969 Schließlich ist der hier verwendete Begriff des consilium, bei dem gewçhnliche Freigelassene die entscheidende Rolle spielen, als Parodie auf den sogenannten Kronrat (consilium principis) zu verstehen, in dem enge Freunde sowie hochrangige Ritter und Senatoren den Princeps berieten.970 Auf der von Claudius einberufenen Beratung tragen nun die drei Freigelassenen Narcissus, Callistus und Pallas ihre Argumente fîr die jeweils favorisierte Kandidatin der Reihe nach vor. Tacitus lßt sie in 968 S. Seif, 1973, 154; Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 141. 969 Vgl. Seif, 1973, 154 f.: „Die Entschlußschwche des Claudius ist der großartigen Herrschergebrde, der durch die Formulierng promere sententiam et adicere rationes i u b e t salbungsvoll Ausdruck gegeben wird, entgegengesetzt. Durch diese Kontrastierung wirkt die ganze Situation lcherlich […]“; vgl. Koestermann ad loc.; anderer Ansicht ist Mehl, 1974, 98 f. mit Anm. 17. Sein Argument, „daß Claudius’ Unschlîssigkeit bei der Wahl (huc modo, modo illuc, ut quemque suadentium audierat promptus) als prdikatives Attribut dem zitierten Befehl untergeordnet ist und daher nur im beschrnktem Maße dazu dienen kann Claudius lcherlich zu machen […]“, hat jedoch wenig ˜berzeugungskraft. Zu Recht – doch mit falscher Zielsetzung – weist Mehl a.a.O. 99 darauf hin, daß Tacitus den Befehl des Claudius hervorhebe, „indem er mit iubere eine Vokabel gebraucht, die kurz zuvor [ann. 11,35,1] die ‘verkehrte Welt’, in der Narcissus den Kaiser kommandiert, gekennzeichnet hat […].“ Gerade hierdurch kann die von Mehl abgelehnte Ironie der Stelle um so schrfer wirken. 970 S. Koestermann ad ann. 12,1,1; Syme, 1958, 539; Devillers, 1994, 68; Mehl, 1974, 99; J. A.Crook: Consilium Principis. Imperial Councils and Counsellors from Augustus to Diocletian, Cambridge 1955, 42.

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6. Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius

indirekter Rede zu Wort kommen. Fîr die folgende Analyse ist es von Vorteil, wenn die einzelnen Ausfîhrungen zunchst kurz ihrem Inhalt nach wiedergegeben werden. Zuerst stellt Narcissus die Vorzîge der Aelia Paetina vor. Diese sei bereits einmal die Gattin des Claudius (in dessen zweiter Ehe) gewesen und habe mit ihm in Antonia ein gemeinsames Kind. Mit dem Hinweis auf diese alte Eheverbindung argumentiert der Freigelassene nun, daß fîr das Kaiserhaus im Falle einer erneuten Eheschließung mit der sueta coniux keine wesentliche ønderung eintrete (Koestermann ad loc. spricht von einer „Rîckkehr des alten Zustandes“). Auch werde Paetina nicht mit stiefmîtterlichen Haßgefîhlen auf Britannicus und Octavia sehen, stînden diese beiden Kinder als Verwandte ihren eigenen doch am nchsten, s. ann. 12,2,1: Narcissus vetus matrimonium, filiam communem (nam Antonia ex Paetina erat), nihil in penatibus eius novum disserebat, si sueta coniux rediret, haudquaquam novercalibus odiis visura Britannicum Octaviam, proxima suis pignora. Anschließend ist Callistus an der Reihe. Bevor er jedoch auf seine eigene Favoritin zu sprechen kommt, macht er zunchst Einwnde gegen Paetina geltend: Durch die lange Zeit der Trennung sei sie nicht mehr als Ehefrau fîr Claudius geeignet, und wîrde gerade durch eine erneute Ehe mit dem Kaiser hochmîtig werden. Weitaus richtiger sei es, wenn Lollia Paulina die neue Gemahlin werde. Diese habe keine eigenen Kinder, sei frei von Eifersucht und werde den Stiefkindern so die Mutter ersetzen, s. ann. 12,2,2: Callistus improbatam longo discidio, ac si rursum adsumeretur, eo ipso superbam; longeque rectius Lolliam induci, quando nullos liberos genuisset, vacuam aemulatione et privignis parentis loco futuram. Schließlich schlgt Pallas Agrippina vor und lobt besonders die Tatsache, daß sie einen Enkel des Germanicus – gemeint ist Domitius, der sptere Kaiser Nero – mit in die Ehe brchte, der des kaiserlichen Hauses wîrdig sei. Durch seine Aufnahme in das Kaiserhaus solle Claudius die Nachkommen des julischen und claudischen Geschlechtes vereinen und verhindern, daß Agrippina als Frau von erwiesener Fruchtbarkeit und uneingeschrnkter Jugendkraft den Glanz der Caesaren in ein anderes Haus trage, s. ann. 12,2,3: at Pallas id maxime in Agrippina laudare, quod Germanici nepotem secum traheret, dignum prorsus imperatoria fortuna: stirpem nobilem et familiae Iuliae Claudiaeque posteros coniungeret, ne femina expertae fecunditatis, integra iuventa, claritudinem Caesarum aliam in domum ferret.971 971 An dieser Stelle weiche ich von der bei Heubner (und Koestermann) gegebe-

6.1 Ann. 12,1 – 3: Die kaiserliche Brautschau

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Soweit die jeweiligen Ausfîhrungen der einzelnen Freigelassenen. Die Reihenfolge ihrer Auftritte ist von Tacitus geschickt gewhlt.972 Narcissus erhlt die schwchste Position. Sein Vorschlag hatte ohnehin wenig Aussicht auf Erfolg: Bereits in ann. 12,1,2 hatte Tacitus erwhnt, daß man bei den Freigelassenen in der Wahl der neuen Kaiserin am meisten zwischen Lollia und Agrippina geschwankt habe. Entsprechend tritt seine Argumentation gegenîber den nachfolgenden Ausfîhrungen der beiden anderen Freigelassenen weitgehend in den Hintergrund zurîck, zumal ihr von Callistus teilweise widersprochen wird. Doch hat Tacitus den Vortrag des Narcissus genutzt, um einen Hinweis einzustreuen, der kurze Zeit spter in der Wahrnehmung des Lesers noch eine wichtige Rolle spielen wird. Gemeint ist das Argument, daß bei Paetina das Aufkommen stiefmîtterlicher Haßgefîhle (novercalia odia) gegenîber Britannicus und Octavia nicht zu befîrchten sei. Betrachten wir nun auch die Worte des Callistus etwas eingehender, so fllt auf, daß sich dessen Einwand gegen Paetina lediglich auf das von Narcissus ins Feld gefîhrte vetus matrimonium, nicht aber auf die filia communis und die damit verbundene Unwahrscheinlichkeit der erwhnten novercalia odia bezieht. Dieses Argument lßt Callistus offenbar gelten, ja zielt mit seinen Ausfîhrungen zu Paulina sogar in eine ganz hnliche Richtung: Aufgrund ihrer Kinderlosigkeit werde sie keine Eifersuchtsgefîhle (aemulatio) hegen und somit am besten die Mutterrolle fîr die Kinder des Kaisers îbernehmen kçnnen. Nach diesen Ausfîhrungen vernimmt der Leser nun die Worte des Pallas, der sich fîr Agrippina stark macht. Durch ein kontrastierendes at werden sie deutlich von den beiden vorangegangenen Pldoyers abge-

nen Textfassung (at Pallas id maxime in Agrippina laudare, quod Germanici nepotem secum traheret: dignum prorsus imperatoria stirpem nobilem et familiae Iuliae Claudiaeque posteros coniungere; et ne …; vgl. hierzu Mîller, 1875, 7 – 9) ab und folge dem zuletzt von Wellesley edierten Wortlaut, fîr den insbesondere Seif, 1973, 157 – 160 îberzeugende Argumente vorgetragen hat; zum textkritischen Problem vgl. Furneaux und Koestermann ad loc. 972 Koestermann ad ann. 12,2,2 verweist auf die ˜bereinstimmung in der Abfolge der Rivalinnen bei Suet. Claud. 26,3. Diese ˜bereinstimmung bezieht sich aber lediglich auf die Reihenfolge der Erwhnung der einzelnen Kandidatinnen, nmlich zuerst Paetina, dann Lollia und schließlich Agrippina. Bei Sueton treten aber weder die Freigelassenen als Fîrsprecher der einzelnen Damen auf, noch werden diese mit ihren Vor- und Nachteilen gegenîbergestellt wie bei Tacitus.

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hoben.973 Fîr sich genommen ist seine Argumentation îberaus schlîssig und îberzeugend.974 Sieht man sie jedoch vor dem Hintergrund der eben wiedergegebenen Ausfîhrungen der beiden Rivalen, ergibt sich eine Doppelbçdigkeit, die dem Leser einen unheilvollen Ausblick in die Zukunft gewhrt. Denn die von Pallas am meisten (maxime) angepriesenen Vorzîge der Agrippina sind genau jene Umstnde, die durch die beiden Vorredner als entscheidende Nachteile einer neuen Kaiserin entlarvt worden sind: Agrippina ist nicht wie Lollia Paulina kinderlos, sondern hat einen Sohn. Anders als Paetinas Tochter Antonia ist dieser Sohn kein leibliches Kind des Claudius, gleichwohl aber von so vornehmer Abstammung – man beachte die besondere Betonung dieses Sachverhalts durch Germanici nepotem, stirpem nobilem, claritudinem Caesarum –, daß er durchaus Ansprîche auf die Kaiserwîrde geltend machen kann.975 Den Aussagen des Narcissus und des Callistus zufolge sind durch diese Gegebenheiten gerade bei Agrippina stiefmîtterliche Haß- und Eifersuchtsgefîhle gegenîber Britannicus und Octavia zu befîrchten.976 Angesichts der schwachen und lenkbaren Persçnlichkeit des Claudius, der gerade von seinen Frauen maßgeblich bestimmt wird (vgl. ann. 12,1,1), mag der Leser erahnen, wie sich die Verhltnisse am Kaiserhof nun weiter entwickeln werden.977 Bereits die folgenden Kapitel geben in dieser Hinsicht eine eindeutige Richtung vor. 973 Vgl. Seif, 1973, 156; Mehl, 1974, 100; Keitel, 1977, 142 und Koestermann ad loc. sind der Ansicht, daß durch die scharfe Abgrenzung der Erfolg des Pallas bereits angedeutet werde. 974 S. hierzu Seif, 1973, 161 f; Mehl, 1974, 100 f., der insbesondere die politische Dimension der Argumentation hervorhebt. 975 Vgl. Koestermann ad loc.: „Mit claritudinem Caesarum (poinierte Assonanz) wird auf die direkte Deszendenz von Augustus angespielt“; Seif, 1973, 161 hebt vor allem auf die Formulierung Germanici nepotem ab und betont die „magische Wirkung“, die der Name des Germanicus auf das Volk gehabt habe; vgl. Mehl, 1974, 100. 976 Vgl. Keitel, 1977, 142: „Pallas avoids the main issue raised by Narcissus and Callistus, whether the new wife would be a hostile stepmother to Britannicus, the heir-apparent. Instead Pallas’ negative formulation, that Claudius cannot afford to allow Agrippina to marry outside the family, glides over the obvious danger of her bringing her own son, the last male heir of Germanicus […], into competition with Britannicus. The arguments advanced in this chapter take on an ironic coloring in view of later developments in Book 12. Agrippina will prove to be guilty of all the faults ascribed to her rivals.“ Zum Motiv der novercalia odia s. o. S. 68 (Darstellung der Livia). 977 Vgl. hierzu Seif, 1973, 159 f., der in dem Ausdruck imperatoria fortuna eine Doppeldeutigkeit sieht, die den Leser auf die kommenden Geschehnisse gewis-

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Die Argumente des Pallas in Bezug auf Agrippina gewinnen schließlich die Oberhand.978 Doch auch andere Grînde haben zu diesem Ergebnis gefîhrt, wie Tacitus im Anschluß berichtet, s. ann. 12,3,1: Praevaluere haec adiuta Agrippinae inlecebris, etenim per speciem necessitudinis crebro ventitando pellicit patruum, ut praelata ceteris et nondum uxor potentia uxoria iam uteretur. Der Blick verengt sich nunmehr auf Agrippina, die Siegerin der Brautschau.979 Tacitus hat ihr erfolgreiches Abschneiden bei der Wahl der neuen Gemahlin mit dunklen Schatten versehen. Die sachlichen Argumente, die Pallas fîr seine Kandidatin ins Feld gefîhrt hat, treten in den Hintergrund. Stattdessen scheinen nun vor allem auch unzîchtige Verfîhrungskînste der Agrippina den Ausschlag fîr ihre Wahl gegeben zu haben.980 Die erotisch-sexuelle Bezugsebene ihrer Handlungen wird zwar nicht explizit zur Sprache gebracht, doch durch die Worte inlecebra und pellicere suggeriert, die in Kombination mit der Formulierung per speciem necessitudinis crebro ventitando, welche die Verwandtschaft zwischen ihr und dem Kaiser lediglich als vorgeschobenen Scheingrund (per speciem) fîr zahlreiche Besuche der Agrippina bei Claudius zu erkennen gibt, der nun angeregten Phantasie des Lesers freien Lauf lassen. In diesem Zusammenhang wird durch necessitudo und ganz besonders durch patruus – in wirkungsvoller Alliteration zu pellicit – zudem auf das inzestuçse Element des angedeuteten Sachverhalts verwiesen. Ironischerweise verschafft gerade die Verwandtschaft zu Claudius, die sich bereits hier als gewaltiges Hindernis fîr eine Eheschließung abzuzeichnen beginnt, Agrippina gegenîber ihren Rivalinnen den offenbar entscheidenden Vorteil: Problemlos kann sie beim Kaiser als sermaßen vorbereitet: „Pallas […] meint mit imperatoria fortuna natîrlich: Nero ist wîrdig ins Kaiserhaus aufgenommen zu werden. Gleichzeitig muß diese Formulierung vom Leser, der die sptere Entwicklung bereits kennt, als eine Anspielung auf Neros spteres Kaisertum verstanden werden“; hnlich urteilt Keitel, 1977, 142. 978 Im Zusammenhang mit seiner Analyse der Stelle ann. 11,29,2 ußert Seif, 1973, 112: „Pallas wird Feigheit unterstellt, Callistus ist aus Erfahrung vorsichtig. Um so grotesker muß es wirken, daß gerade der ignavus spter den grçßten Einfluß hat und nach Messalinas Tod die entscheidende Rolle spielt.“ Ob dem Leser bei der Lektîre der einleitenden Kapitel des 12. Annalenbuches dies tatschlich zu Bewußtsein kommt, bleibt jedoch fraglich. 979 Vgl. Koestermann mit zustzlichem Bezug auf den stilistischen Gehalt des Satzes: „praevaluere (5 signifikante Assonanzen von mit p beginnenden Worten!) leitet wie mit einem Trompetenstoß den Bericht îber den Triumph der Agrippina ein.“ 980 Vgl. Seif, 1973, 163; Mehl, 1974, 101.

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dessen Nichte ein- und ausgehen. Erst hierdurch erhlt sie die Gelegenheit, ihre weiblichen Reize immer wieder auszuspielen.981 Schamloser Ehrgeiz spricht hingegen aus dem Paradoxon nondum uxor potentia uxoria iam uteretur.982 Agrippina scheint den unbedingten Willen zu besitzen, an die Spitze des Staates zu gelangen. Auf dem Weg dorthin ist ihr offenbar jedes Mittel recht. Dieser Eindruck wird im folgenden weiter gefestigt, wenn Tacitus die soeben gettigte Aussage exemplifiziert, s. ann. 12,3,2: nam ubi sui matrimonii certa fuit, struere maiora nuptiasque Domitii, quem ex Cn. Ahenobarbo genuerat, et Octaviae Caesaris filiae moliri; quod sine scelere perpetrari non poterat, quia L. Silano desponderat Octaviam Caesar iuvenemque et alia clarum insigni triumphalium et gladiatorii muneris magnificentia protulerat ad studia vulgi. sed nihil arduum videbatur in animo principis, cui non iudicium, non odium erat nisi indita et iussa. Um ihre Machtstellung weiter auszubauen, setzt Agrippina alles daran, ihren Sohn Domitius mit Octavia zu verheiraten. An dieser Stelle wird das Leitmotiv des 12. Annalenbuches, der von Agrippina forcierte, stetige Aufstieg ihres Sohnes ein erstes Mal berîhrt. Die langfristigen Ziele der zukînftigen Kaiserin treten nun hervor und stimmen den Leser auf die weiteren Entwicklungen ein.983 Tacitus hebt deutlich die Schwierigkeiten der von Agrippina verfolgten Absicht hervor, indem er auf Silanus verweist, der bereits mit der Tochter des Kaisers verlobt und zudem durch diverse Auszeichnungen beim Volk ein hohes Maß an Ansehen und Beliebtheit erreicht hat.984 Ausdrîcklich wird das Vorhaben der Agrippina sogar in den Bereich des Verbrechens gestellt. All dies besttigt den zuvor erzeugten Eindruck von der skrupellosen Entschlossenheit der designierten Kaiserin, deren fieberhaftes Treiben an dieser Stelle vor allem in 981 Vgl. Seif, 1973, 163; O’Gorman, 2000, 139. 982 Wiederum taucht das Stichwort der potentia auf, das am Ende des elften Annalenbuches entweder auf die Freigelassenen oder auf Messalina bezogen worden ist und den prgenden Einfluß der hçfischen Umgebung auf Claudius umschrieben hat; vgl. Cogitore, 1991,160; 165 f.; jetzt mag der Leser ahnen, wer in Zukunft diesen Einfluß ausîben wird; vgl. Mehl, 1974, 102: „Das Wort potentia fîhrt den Leser in die harte Wirklichkeit: War schon die Vernichtung Messalinas ein Kampf um die Macht, so erleben wir dessen Fortsetzung im Streit der Freigelassenen und ihrer Damen, den Agrippina mit der Erringung der uxoria potentia fîr sich entschieden hat.“ 983 Vgl. Keitel, 1977, 143 f.: „The whole paragraph [ann. 12,3] foreshadows the events of Book 12 by suggesting Agrippina’s true goal – installing her son as emperor – and the means she must employ to achieve it.“ 984 S. Seif, 1973, 166 f.

6.1 Ann. 12,1 – 3: Die kaiserliche Brautschau

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den Verben struere und moliri eindringlichen Ausdruck findet.985 Mehl weist darauf hin, daß „die Steigerung ihrer Macht […] mit einer Vermehrung des Bçsen verknîpft“ ist.986 Doch etwas Entscheidendes kommt hinzu: Hauptverantwortlich fîr die verbrecherischen Plne der Agrippina ist wiederum die schwache Persçnlichkeit des Kaisers. Wre dieser zu einem eigenstndigen Urteil fhig, kme die Intrigantin womçglich gar nicht erst auf die Idee, ihr Vorhaben tatschlich in die Tat umzusetzen. Doch bei einem solchen Princeps scheint nichts zu gewagt oder zu schwierig (nihil arduum videbatur)! Durch den nachfolgenden, auf Claudius bezogenen Relativsatz cui non iudicium, non odium erat nisi indita et iussa, der wie die kurz zuvor in ann. 12,1,1 erfolgte Charakterisierung des Princeps als caelibis vitae intolerans et coniugum imperiis obnoxius konform geht mit der im Schlußkapitel des elften Annalenbuches beschriebenen Gefîhllosigkeit des Kaisers nach dem Tod der Messalina,987 klingt auch diese Aussage trotz aller offenen Polemik glaubwîrdig. Nicht zuletzt darf sie sich auch auf zahlreiche Begebenheiten stîtzen, welche die mangelnde Urteilskraft und Lenkbarkeit des Kaisers bereits einprgsam vor Augen gefîhrt haben.988 Es bleibt zu betonen, daß nach ann. 12,1,1 an dieser Stelle erneut pointiert zur Darstellung gebracht wird, worin das eigentliche Problem besteht, das dem Prinzipat des Claudius durchgngig anzuhaften scheint: Es ist die Person des Kaisers selbst.989

985 Vgl. Koestermann ad loc.: „Die Verben struere und moliri sowie ihre Aktionsform (verbunden mit Chiasmus) unterstreichen energisch das geschftige und entschlossene Treiben der machthungrigen Frau.“ Zu struere, das bei Tacitus hufig in Bezug auf intrigante Machenschaften verwendet wird, s. Walker, 1952, 159; Seif, 1973, 166: „Struere maiora deutet auf den von ihr [Agrippina] geplanten Aufstieg Neros hin.“ 986 Mehl, 1974, 102. 987 Vgl. ann. 11,38,3: ne secutis quidem diebus odii gaudii, irae tristitiae, ullius denique humani adfectus signa dedit … (sc. Claudius). 988 Vgl. Keitel, 1977, 143: „The final sententia [nihil arduum videbatur …] combines, not particulary convincingly, the oblivio described in 11,38,3 with the malleability of 11,1 – 4 and 11,26 – 38.“ Warum Keitel die Kombination dieser beiden Motive nicht sonderlich îberzeugend findet, bleibt mir unklar. Der sarkastische Schlußsatz des Kapitels deckt sich jedenfalls mit den bisherigen Erfahrungen des Lesers und klingt daher weniger tendenziçs. 989 S. o. S. 313 zu ann. 12,1,1.

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6. Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius

6.2 Ann. 12,4: Die Intrige gegen Lucius Silanus Das von Agrippina geplante Vorgehen gegen Silanus wird im Bericht des Tacitus unverzîglich in die Tat umgesetzt. Unterstîtzt wird die Intrigantin dabei bezeichnenderweise von Vitellius, der sich bereits als Komplize der Messalina im Unrechtsprozeß gegen Valerius Asiaticus unrîhmlich hervorgetan hat.990 In kîhler Voraussicht der kînftigen Machtverhltnisse biedert er sich nun der Agrippina an, s. ann. 12,4,1: Igitur Vitellius, nomine censoris serviles fallacias obtegens ingruentiumque dominationum provisor, quo gratiam Agrippinae pararet, consiliis eius implicari, ferre crimina in Silanum, cui sane decora ac procax soror, Iunia Calvina, haud multum ante Vitellii nurus fuerat. Durch igitur wird das im Kapitel zuvor ausgebreitete Vorhaben der Agrippina eng mit dessen Ausfîhrung verknîpft, wodurch der bisher gewonnene Eindruck von der zielstrebigen Entschlossenheit der zukînftigen Kaiserin und ihrer Gehilfen weiter gefestigt wird.991 Fîr das widerwrtige Verhalten des Vitellius hat Tacitus deutliche Worte gefunden, denen es an Sarkasmus nicht fehlt. Ausgerechnet als Zensor (nomine censoris), dem die Oberaufsicht îber die Sitten obliegt, lßt sich dieser aus servilem Opportunismus (vgl. serviles fallaciae) dazu hinreißen, Agrippinas verbrecherischen Absichten zu dienen und falsche Beschuldigungen gegen Silanus auszustreuen.992 Er will sich damit die Gunst der zukînftigen Machthaberin verschaffen. Dieses Motiv wird durch den Satzbau besonders betont: Durch seine auffllige Prolepse kommt der Finalsatz quo gratiam Agrippinae pararet direkt neben die Bezeichnung ingruentiumque dominationum provisor zu stehen. Die moralische Bedenkenlosigkeit des Vitellius schwingt hingegen in den historischen Infinitiven implicari und ferre mit. Man mag es wie Koestermann einfach nur „erstaunlich“ fin990 S. bes. ann. 11,2 – 3; vgl. Mehl, 1974, 103: „So, wie Messalina die endgîltige Vernichtung des Asiaticus ihrem Freund Vitellius îbertragen hat, lßt Agrippina jetzt den gleichen Hçfling, der sofort den ˜bergang zur neuen Herrin gefunden hat, fîr sich arbeiten. Ein Verhltnis gegenseitiger Hilfe in Intrigen entsteht, das erst mit Vitellius’ Tod enden wird.“ Weitere Parallelen zwischen Agrippina und Messalina im Bericht des Tacitus insgesamt bietet Devillers, 1994, 157 f. 991 Vgl. Mehl, 1974, 102 mit Anm. 46. 992 Vgl. Seif, 1973, 167; Mehl, 1974, 103 mit zustzlichem Hinweis auf die Wortstellung: „[…] die Worte censor und serviles fallaciae prallen hart aufeinander“; Keitel, 1977, 144, die außerdem meint, daß der hier geschilderte Mißbrauch des Zensorenamtes negativ auf Claudius zurîckfallen mîsse, der dieses Amt besonders in Ehren gehalten habe (vgl. ann. 11,25,2 – 4).

6.2 Ann. 12,4: Die Intrige gegen Lucius Silanus

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den, „wie derselbe Mann, der noch vor kurzem beim Vorgehen gegen Messalina eine so zweideutige Haltung eingenommen“ hat (ann. 11,34,1), „mit großer Behendigkeit den ˜bergang zu dem neu aufgehenden Gestirn“ vollzieht „und sich von nun an als ein treuer Gehilfe der Agrippina“ erweist.993 Oder aber man vermutet, daß Tacitus den von Koestermann konstatierten Bruch im Verhalten des Vitellius ganz bewußt zur Darstellung gebracht hat, um deutlich zu machen, wie sehr die zukînftigen Machtverhltnisse noch vor der eigentlichen Hochzeit der Agrippina mit Claudius bereits erkennbar waren. War das ausweichende und feige Taktieren des Vitellius wenige Kapitel zuvor gerade auf die Unsicherheit îber den Ausgang des Machtkampfes zwischen Narcissus und Messalina zurîckzufîhren,994 scheint jetzt die kînftige Herrschaft der Agrippina derart sicher zu sein, daß selbst der sonst so vorsichtig abwartende Opportunist ohne weiteres Zçgern auf ihre Seite tritt. Agrippina lßt offenbar keinen Zweifel daran, daß sie in Kîrze das Zentrum der Macht darstellen wird. Das Verhalten des Vitellius wird somit zu einem indirekten Beweis fîr das entschlossene und selbstbewußte Vorgehen der machtbesessenen Intrigantin.995 Das im Kapitel zuvor auf sie bezogene Paradoxon nondum uxor potentia uxoria iam uteretur (ann. 12,3,1) findet dadurch seine nachdrîckliche Besttigung. Das abstoßende Bild des rîcksichtslosen Denunzianten gewinnt indessen immer mehr an Kontur. Indem Tacitus darauf verweist, daß Iunia Calvina, die Schwester des Silanus, vor nicht allzu langer Zeit noch die Schwiegertochter des Vitellius gewesen ist, erscheint dessen Vorgehen gegen den Verlobten der Octavia um so gewissenloser. Doch damit nicht genug! Vitellius schreckt auch nicht davor zurîck, seine ehemalige Schwiegertochter mit in die Intrige gegen Silanus zu verstricken und ihre etwas naive Ausgelassenheit (vgl. procax)996 sogar zum Ausgangspunkt seiner falschen Anklage zu machen, s. ann. 12,4,2: hinc initium accusationis; fratrumque non incestum, sed incustoditum amorem ad infamiam traxit. et praebebat Caesar aures, accipiendis adversus generum suspicionibus caritate filiae promptior. Die von Vitellius vorgebrachte Anschuldigung 993 Koestermann ad loc. 994 S. o. S. 292 zu ann. 11,34,1. 995 Daß Vitellius der erste gewesen ist, der Agrippinas Herrschaft vorausgesehen hat, wie Mehl, 1974, 104 vermutet, geht aus dem Text des Tacitus nicht hervor. Die von Mehl a.a.O. Anm. 60 in diesem Zusammenhang festgestellte Betonung der gesamten Aussage durch die seltene Vokabel provisor (s. dazu Walker, 1952, 60) stellt vielmehr den Opportunismus des Vitellius besonders heraus. 996 S. hierzu Koestermann ad loc.: „[…] procax nicht im negativen Sinn […].“

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6. Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius

gegen Silanus ist in der hier prsentierten Form ein Musterbeispiel unterschwelliger Leserlenkung. Ausgerechnet Inzest lautet der Vorwurf, den Tacitus als solchen ausdrîcklich zurîckweist (non incestum).997 Er selbst spricht lediglich von einer unvorsichtigen Zuneigung (amor incustoditus) zwischen Silanus und seiner Schwester, die von Vitellius dann in Verruf gebracht worden sei. Nachdem nur ein Kapitel zuvor das tatschlich inzestuçse Verhltnis zwischen Agrippina und Claudius angedeutet worden ist, steckt der von Vitellius zu Unrecht erhobene Vorwurf der Inzucht fîr den Leser voller doppelbçdiger Ironie, die dem intriganten Treiben der Agrippina und ihres servilen Gehilfen den Spiegel vorhlt. Dem non incestus amor des Silanus und seiner Schwester stehen die incestae nuptiae (s. ann. 11,25,5) gegenîber, die bald im Kaiserhaus stattfinden werden.998 Trotz dieser offensichtlichen Doppelmoral schenkt Claudius der Anklage gegen Silanus anscheinend ohne weiteres Zçgern Gehçr (et praebebat aures Caesar).999 Offenbar merkt er nicht, daß der Vorwurf gegen den Verlobten seiner Tochter im Begriff ist, auf ihn selbst zurîckzufallen. Auch der von Tacitus eigens angefîhrte Grund fîr die bereitwillige Hinnahme der Anklage ist ironisch aufgeladen. Aus sorgender Liebe zu seiner Tochter (caritate filiae) sei Claudius fîr die Vorhaltungen gegen seinen (zukînftigen) Schwiegersohn besonders empfnglich gewesen. Im Bewußtsein des Lesers gefhrdet jedoch gerade diese Art der Vaterliebe die Kinder des Kaisers am meisten, da sie ganz im Sinne der Agrippina den Weg bereitet fîr den Aufstieg des Domitius.1000 Claudius beweist keinerlei Gespîr fîr die zukînftigen Entwicklungen. Er wirkt erneut wie eine stumpfsinnige Marionette seiner Umgebung. Im Anschluß wendet sich Tacitus dem Angeklagten zu, s. ann. 12,4,3: at Silanus, insidiarum nescius ac forte eo anno praetor, repente per edictum Vitellii ordine senatorio movetur, quamquam lecto pridem senatu lustroque 997 Vgl. Seif, 1973, 168 mit Anm. 31. Seif verweist auf Sen. apocol. 8,2, wonach der Inzest des Silanus offenbar erwiesen war. 998 S. Seif, 1973, 168: „In der Anklage gegen Silanus zeichnet sich der wirkliche Inzest des Claudius wie auf einer Kontrastfolie ab“; vgl. Keitel, 1977, 144; Devillers, 1994, 177. 999 Die leichtfertige Hinnahme der Anklage durch Claudius wird durch das einleitende et suggeriert. Inhaltlich zu vergleichen ist die Reaktion des Kaisers auf die Anklage gegen Asiaticus in ann. 11,1,3: at Claudius nihil ultra scrutatus est ( …); vgl. Mehl, 1974, 104 mit Anm. 67; Keitel, 1977, 144. 1000 Aus diesem Grund vermag ich die von Mehl, 1974, 104 vorgetragene Ansicht, daß die caritas filiae den Kaiser an dieser Stelle positiv von Messalina abhebe (vgl. Keitel, 1977, 144; 145; Koestermann ad loc.), nicht zu teilen.

6.2 Ann. 12,4: Die Intrige gegen Lucius Silanus

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condito. simul adfinitatem Claudius diremit, adactusque Silanus eiurare magistratum, et reliquus praeturae dies in Eprium Marcellum conlatus est. Ein adversatives at zu Beginn des neuen Satzes grenzt die Person des Silanus scharf von dem ihm entgegengebrachten Mißtrauen des Kaisers ab und macht auf diese Weise deutlich, wie unbegrîndet die gegen ihn erhobenen Vorwîrfe sind.1001 Fîr seine Unschuld spricht auch seine vçllige Ahnungslosigkeit: Die Intrige trifft Silanus offenbar vçllig unvermutet (insidiarum nescius).1002 Urplçtzlich (repente) wird er durch ein Edikt des Vitellius aus dem Senat entfernt.1003 In diesem Zusammenhang entfaltet die zustzliche Information, daß Silanus zu diesem Zeitpunkt zufllig Prtor gewesen ist, eine ironische Wirkung, welche die pervertierten Rechtszustnde unter dem Prinzipat des Claudius an den Pranger stellt. Ein Prtor, der zustndig ist fîr die Wahrung des Rechts, wird unschuldig von einem Mann aus dem Senatorenstand gestoßen, der als Zensor Recht und Gesetz mit Fîßen tritt. Die nachgetragenen absoluten Ablative quamquam lecto pridem senatu lustroque condito bringen die Rechtlosigkeit und Falschheit der Anklage eindringlich auf den Punkt, indem sie die außerordentliche Verfahrensweise des Senatsausschlusses betonen.1004 Claudius selbst verhlt sich genau so, wie von Agrippina und Vitellius gewînscht und vorausberechnet: Er lçst die Verlobung zwischen Silanus und seiner Tochter auf und macht damit den Weg frei fîr Domitius (vgl. ann. 12,3,2). Erneut hat sich der Kaiser manipulieren lassen. Daß fîr den einzig noch verbleibenden Tag der Prtur des Silanus noch ein Nachfolger eingesetzt wird, rundet das empçrende Bild einer willkîrlichen und falschen Anklage gegen ein unschuldiges Opfer auf zy1001 Vgl. hierzu Mehl, 1974, 104 mit Anm. 66. 1002 Ob der Leser sich hierbei tatschlich an die Ahnungslosigkeit des Claudius in ann. 11,13,1 (At Claudius, matrimonii sui ignarus et munia censoris usurpans …) oder gar an die Situation des Silius in ann. 11,12,2 (neque Silius flagitii aut periculi nescius erat) erinnert fîhlt (so Keitel, 1977, 145; vgl. Mehl, 1974, 104), scheint mir angesichts der gegebenen Distanz der jeweiligen Stellen sehr fraglich. ˜berhaupt muß gefragt werden, was derlei Reminiszenzen an dieser Stelle konkret bewirken sollten. 1003 Vgl. Keitel, 1977, 145: „Tacitus focusses on the shocking suddenness (repente … quamquam … simul … adactus) with which Silanus is stripped of his fianc¤e and his praetorship.“ 1004 Vgl. Keitel, 1977, 144; zur Bedeutung der Aussage lustroque condito s. Koestermann ad loc.: „Mit der Zeremomie des lustrum war das Amt des Zensors eigentlich erloschen.“ Somit hatte Vitellius keine Befugnis mehr, Silanus aus dem Senat zu stoßen.

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6. Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius

nisch-lcherliche Weise ab.1005 Zudem steht diese kleinlich anmutende Beachtung verfassungsrechtlicher Normen in ironischem Kontrast zu dem leichtfertig verhngten Senatsausschluß, der bei ebenso genauer Beachtung geltender Vorschriften nach Abschluß des lustrum nicht mehr htte erfolgen dîrfen.

6.3 Ann. 12,5 – 7: Die Vermhlung des Claudius mit Agrippina Nach dem Bericht îber den Sturz des Silanus, der eindrucksvoll die faktische Macht der Agrippina bereits vor ihrer Vermhlung mit dem Kaiser belegt hat, kommt Tacitus nun auf die nheren Umstnde der Hochzeit selbst zu sprechen, s. ann. 12,5,1: C. Pompeio Q. Veranio consulibus pactum inter Claudium et Agrippinam matrimonium iam fama, iam amore inlicito firmabatur; necdum celebrare sollemnia nuptiarum audebant, nullo exemplo deductae in domum patrui fratris filiae: quin et incestum, ac si sperneretur, ne in malum publicum erumperet, metuebatur. Von Beginn an hebt Tacitus das Verwerfliche der ehelichen Verbindung in mehrfacher Hinsicht deutlich hervor. Bereits im Vorfeld der Vermhlung ist die Liebe zwischen Claudius und seiner Nichte Stadtgesprch (iam fama). Die Formulierung amor inlicitus, die nicht nur auf den unsittlichen vorehelichen Verkehr des Paares, sondern insbesondere auch auf die inzestuçse Verbindung abhebt,1006 beflîgelt in Kombination mit dem Verweis auf die klatschsîchtige Masse die Phantasie des Lesers, da sie ansatzweise erahnen lßt, was der genaue Inhalt des Geredes gewesen ist. Die nachfolgende Aussage necdum … audebant kehrt sodann die Zweifel und Bedenken hervor, welche offenbar selbst die sonst skrupellos gezeichnete Agrippina befallen haben: Sie und ihr kînftiger Gatte wagen es

1005 S. Seif, 1973, 169 mit Anm. 33; dort Verweis auf Cic. epist. [ad fam.] 7,30; Suet. Iul. 76,2 und Nero 15,2; vgl. Mehl, 1974, 105; Keitel, 1977, 145; Koestermann ad loc. verweist auf Tac. hist. 3,37,2, „wo ein Kandidat magno cum inrisu tribuentis sich fîr den letzten Tag des Jahres das Konsulat erschmeichelte […].“ 1006 S. Seif, 1973, 169 f.; vgl. Mehl, 1974, 108, der mit Koestermann ad loc. auf den Kontrast zu dem unschuldig wegen Inzest verurteilten Geschwisterpaar Silanus-Calvina hinweist, der in der Formulierung amor inlicitus „in grotesker Schrfe“ zum Audruck kommt.

6.3 Ann. 12,5 – 7: Die Vermhlung des Claudius mit Agrippina

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noch nicht, die Hochzeitsfeierlichkeiten zu begehen.1007 Der feierliche Ton in den Worten celebrare sollemnia nuptiarum steht dabei im krassen Mißverhltnis zu ihrem sittenwidrigen Vorhaben.1008 Zudem erinnert die hier gewhlte Ausdrucksweise frappant an eine andere illegitime Eheschließung im Kaiserhaus, nmlich diejenige, die seinerzeit zwischen Messalina und Silius stattgefunden hat (vgl. ann. 11,26,3: … cuncta nuptiarum sollemnia celebrat [sc. Messalina]).1009 Ein nachgetragener Ablativus absolutus benennt den Grund fîr das Hinauszçgern der Zeremonie: Die geplante Ehe zwischen Onkel und Nichte ist in der rçmischen Geschichte ohne Beispiel (nullo exemplo).1010 Durch diesen Hinweis wird dem Leser in aller Schrfe vor Augen gefîhrt, welch großes Tabu gebrochen werden soll. Gleichzeitig bringt die Nennung gleich dreier Verwandtschaftsbezeichnungen (patrui fratris filiae) die besondere Schwere der hier gegebenen Problematik eindringlich auf den Punkt.1011 Der ironische Kontrast zu dem Bericht îber den unschuldig wegen Inzests verurteilten Silanus im Kapitel zuvor hat damit seinen Hçhepunkt erreicht. In indirekter Rede wird der Vorwurf der Blutschande nunmehr direkt benannt (quin et incestum) und obendrein mit der Befîrchtung verknîpft, daß die ganze Angelegenheit allgemeines Unheil bringen kçnnte. Die an dieser Stelle formulierte Angst vor einer Strafe der Gçtter1012 impliziert, daß die geplante Hochzeit zwischen Claudius und Agrippina nicht nur gegen menschliches Recht verstçßt, sondern auch gçttliche Gebote in grober Weise verletzt. Unter diesem Eindruck nimmt 1007 Da Claudius und Agrippina unmittelbar zuvor die beiden zuletzt genannten Personen sind, wird man den Plural audebant wohl auf sie beziehen und nicht etwa verallgemeinernd verstehen wollen. 1008 Vgl. Koestermann ad loc.; Keitel, 1977, 145 weist zudem auf die ironische Note hin, welche diese Phrase durch das Verb audebant erhlt. 1009 S. Seif, 1973, 170; Mehl, 1974, 108. 1010 Zu der formal-juristischen Bedeutung von Przedenzfllen fîr das rçmische Denken s. Mehl, 1974, 109. 1011 Vgl. Koestermann ad loc.: „Die drei Genitive patrui etc. stehen zur drastischen Verdeutlichung (verstrkt durch Assonanz) nebeneinander.“ 1012 S. Koestermann, Nipperdey und Furneaux ad loc.; vgl. Mehl, 1974, 108 mit Anm. 100. Allein Seif, 1973, 170 scheint die Wendung in malum publicum erumpere anders zu deuten: „Man fîrchtet also eine negative Reaktion der §ffentlichkeit. Daß nur dies gemeint sein kann und nicht […] die Furcht vor einem gçttlichen Strafgericht, zeigt die ganze folgende Szene: Nicht die Gçtter werden den Absichten des Kaisers gndig gestimmt, sondern die Zustimmung der §ffentlichkeit wird gewonnen.“ Mçglicherweise treibt Tacitus hier sein Spiel mit einer nicht eindeutig zu verstehenden Formulierung.

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6. Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius

der Leser nun im folgenden die trickreichen Bemîhungen des Vitellius, die geplante Eheverbindung trotz aller Bedenken durchzusetzen und zu legitimieren, von vorneherein als bloße Farce wahr, s. ann. 12,5,2: nec ante omissa cunctatio, quam Vitellius suis artibus id perpetrandum sumpsit. percunctatusque Caesarem, an iussis populi, an auctoritati senatus cederet, ubi ille unum se civium et consensui imparem respondit, opperiri intra Palatium iubet. Vitellius ist zunchst darum bemîht, die Vorbehalte des Claudius zu zerstreuen. In seiner gewohnt listigen Manier (suis artibus) stellt er dem Kaiser eine Fangfrage, die wohlberechnet an dessen Respekt vor den traditionellen Verfassungsorganen des Staates appelliert.1013 Prompt tappt Claudius mit seiner Antwort dem eifrigen Helfer der Agrippina in die Falle, wie aus dem folgenden Bericht des Tacitus noch hervorgehen wird.1014 Die Verben sumpsit und iubet vermitteln einen guten Eindruck von dem selbstherrlichen und eigenmchtigen Vorgehen des Vitellius, wobei letzteres dessen scheinhafte Argumentationsweise in ironischer Weise entlarvt: Claudius fîgt sich eben nicht den iussa populi, sondern den Befehlen des Vitellius.1015 Offenbar ist es erneut sein serviler Opportunismus (s. o. zu ann. 12,4,1), der ihn dazu treibt, sich fîr die Sache der Agrippina einzusetzen. Der Fortgang der von ihm ins Werk gesetzten Machenschaften schließt sich unmittelbar an. Vitellius tritt mit der Angelegenheit vor den Senat, s. ann. 12,5,3: ipse curiam ingreditur, summamque rem publicam agi obtestans veniam dicendi ante alios exposcit orditurque: gravissimos principis labores, quis orbem terrae capessat, egere adminiculis, ut domestica cura vacuus in commune consulat. quod porro honestius censoriae mentis levamenum quam adsumere coniugem, prosperis dubiisque sociam, cui cogitationes intimas, cui parvos liberos tradat, non luxui aut voluptatibus adsuefactus, sed qui prima ab iuventa legibus obtemperavisset. Da der Leser um die genauen Hintergrînde sowie um den Kontext des hier geschilderten Auftrittes weiß und die vorangegangenen Kapitel îber das Treiben der Agrippina noch frisch im Gedchtnis hat, versprîhen die Worte, die Vitellius hier und im weiteren Verlauf der 1013 Vgl. Nipperdey ad loc.: „iussa populi und auctoritas senatus sind bezeichnende und staatsrechtlich gebruchliche Ausdrîcke fîr die Beschlîsse beider, insofern in der Republik eigentlich nur das Volk unbedingt bindende Beschlîsse faßte (populus iubet), der Senat nur einen Rat oder Gutachten gab (consultum, auctoritas).“; vgl. Koestermann ad loc. 1014 Die von Keitel, 1977, 146 geußerte Annahme, daß an dieser Stelle eine Reminiszenz an die Antwort des Tiberius in ann. 1,12,1 (… dixit forte Tiberius se ut non toti rei publicae parem …) vorliegt, halte ich fîr abwegig. 1015 S. Mehl, 1974, 109 mit Anm. 109.

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Darstellung an die Senatoren richtet, eine doppelbçdige Ironie, welche die gesamte Szenerie zu einem theatralisch-lcherlichen Zerrbild werden lßt.1016 Bereits die beschwçrende Ankîndigung, es handle sich um eine Angelegenheit von grçßter Bedeutung fîr den Staat (summam rem publicam agi), die vordergrîndig allein auf die bevorstehende Heirat des Kaisers verweisen soll, entfaltet fîr den Leser einen sehr viel tieferen Sinn, wenn er nur an die hochfahrenden Plne der Agrippina denkt, die ihm kurz zuvor im Zusammenhang mit der Silanusaffre deutlich vor Augen getreten sind.1017 Nebenbei wird das nach außen hin demîtige Auftreten des Vitellius (s. veniam dicendi) durch das nachfolgende Verb exposcit als reine Heuchelei entlarvt. Wie energisch und selbstbewußt er in Wahrheit ist, verrt außerdem die enge Verknîpfung mit dem zweiten Prdikat: orditurque. Vitellius scheint die Erlaubnis des Senates gar nicht erst abzuwarten, sondern gleich mit seiner Rede anzufangen.1018 Die Aussage, daß die schwierigen Aufgaben des Princeps eine Unterstîtzung erforderten (egere adminiculis), wirkt angesichts der tatschlichen Machtverhltnisse am Kaiserhof, in denen Claudius lediglich als unselbstndige Marionette in Erscheinung tritt und bereits in seinen Freigelassenen eher zu viele als zu wenige ‘Helfer’ besitzt, geradezu lcherlich. Bezogen auf die kînftig zu erwartenden Entwicklungen, die dem Leser sptestens seit ann. 12,3 dîster vor Augen schweben, klingen die sich anschließenden øußerungen hçchst sarkastisch. Denkt man an das bisher geschilderte Verhalten der Agrippina zurîck, erscheint nicht nur die Formulierung domestica cura vacuus vçllig unangemessen, sondern insbesondere auch die rîhrseligen Worte, die fîr die kînftige Kaiserin gefunden werden. Der Leser weiß bereits jetzt, daß Agrippina fîr Claudius alles andere sein wird als eine prosperis dubiisque socia, daß es fîr den Kaiser desweiteren hçchst riskant sein wird, gerade eine derart machtbesessene Intrigantin in seine cogitationes intimae einzuweihen, und daß dessen Kinder gerade in der ‘Obhut’ der ehrgeizigen Stiefmutter wohl am meisten gefhrdet sind.1019 Die an diese Worte gebundene rhetorische Frage, welche ehren1016 Vgl. Mehl, 1974, 110 – 117; Seif, 1973, 177 – 179; Devillers, 1994, 246 – 248. 1017 S. Seif, 1973, 172; vgl. Mehl, 1974, 110 f.; hnlich Keitel, 1977, 146. 1018 Vgl. Mehl, 1974, 111: „Vitellius bittet nicht, er fordert das Recht der Rede und nimmt es als selbstversndlich in Anspruch […]“ – unter Verweis auf die hnliche Stelle ann. 11,33, wo es in Bezug auf Narcissus heißt: … in eodem gestamine sedem poscit adsumitque (Mehl liest allerdings assumitque). 1019 Vgl. Mehl, 1974, 112 f.; Seif, 1973, 178, der in diesem Zusammenhang jedoch lediglich auf die weitere Darstellung des Tacitus verweist: „Das Idealbild der Gattin als prosperis dubiisque socia, cui cogitationes intimas, cui parvos liberos tradat

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haftere Erleichterung es fîr die Gesinnung eines ehemaligen Zensors gebe (quod honestius censoriae mentis levamentum), als eine solche Frau zur Gemahlin zu nehmen, treibt die ironische Ambivalenz dieses Abschnittes auf die Spitze, indem sie subtil an die verkehrte Welt erinnert, in der ein Censorius, der vor nicht allzu langer Zeit noch als oberster Sittenrichter aufgetreten ist, sich nicht scheuen wird, eine sittenwidrige Verbindung mit seiner Nichte einzugehen.1020 Die abschließende Bemerkung, Claudius sei non luxui et voluptatibus adsuefactus und habe von Kindesbeinen an den Gesetzen gehorcht, steht ebenfalls in einem drastischen Gegensatz zu der bisherigen Darstellung des Tacitus, die den Kaiser als genußsîchtiges Wesen gezeigt hat,1021 das vor allem demgegenîber Gehorsam îbt, was seine nchste Umgebung ihm eingibt. Die vermeintliche Gesetzestreue des Claudius steht wiederum in Kontrast zu den zahlreichen Unrechtsprozessen, îber die Tacitus insbesondere im 11. Annalenbuch berichtet hat, und wird insbesondere vor dem aktuellen Hintergrund der beabsichtigten illegalen Heirat zur Farce.1022 Tacitus unterbricht die Rede, um in einem Nebensatz auf die lebhafte Zustimmung der Senatoren hinzuweisen, auf die Vitellius mit seinen bisherigen Ausfîhrungen gestoßen sei. Dann lßt er den Parteignger der Agrippina fortfahren, s. ann. 12,6,1: Postquam haec favorabili oratione (sc. Claudius) erweist sich im weiteren Verlauf des geschilderten Geschehens als bittere Ironie: Agrippina lßt Claudius vergiften (12,66 – 67), Britannicus, der leibliche Sohn des Kaisers, wird durch ihre Machenschaften Nero hintangesetzt“; hnlich ußert sich Keitel, 1977, 146 f. Wie unsere Analyse der Eingangskapitel des zwçlften Annalenbuches (insbes. ann. 12,2) ergeben hat, werden bereits dort die kînftigen Entwicklungen in ihren Grundzîgen subtil vorweggenommen (s. o. S. 315 ff. zu ann. 12,2); Mehl, 1974, 112 mit Anm. 131 verweist auf ann 11,4,1, wo die kînftige dominatio der Agrippina ausdrîcklich angekîndigt wird (Vitellius ist ingruentium dominationum provisor). 1020 S. Keitel, 1977, 146. 1021 Vgl. die ann. 11,29,3 suggerierte Vielzahl an Mtressen des Claudius sowie dessen îppige Eß- und Trinkgelage in ann. 11,37,2 bzw. 11,38,2. Von der Genußsucht des Claudius berichtet auch Sueton Claud. 32 f.; s. Mehl, 1974, 113; Devillers, 1994, 247; Seif, 1973, 178; Keitel, 1977, 147 macht außerdem auch auf sprachliche Anklnge aufmerksam: „The diction of non luxui aut voluptatibus adsuefactus evokes Messalina (11.26.2 [= 11,26,3]: novissima voluptas) and 11.31.5 [=11,31,2] for luxus) and Claudius with his concubines (11.29.3: quarum is corpori maxime insueverat).“ 1022 Vgl. Keitel, 1977, 147; Seif, 1973, 178; Mehl, 1974, 113, der unter Hinweis auf Koestermanns Kommentar den Begriff leges wohl zu eng faßt, wenn er ihn mit ‘Sittengesetze’ wiedergibt. Koestermann ad loc. spricht sehr viel treffender von „Sitte und Gesetz“, um den Gegensatz zu luxus besser herauslesen zu kçnnen.

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praemisit multaque patrum adsentatio sequebatur, capto rursus initio, quando maritandum principem cuncti suaderent, deligi oportere feminam nobilitate puerperiis sanctimonia insignem. nec diu anquirendum quin Agrippina claritudine generis anteiret; datum ab ea fecunditatis experimentum et congruere artes honestas. Durch den postquam-Satz, der wie eine Art Zwischenbilanz den bisherigen Erfolg des Vitellius konstatiert, wird dessen listiges Taktieren einprgsam vor Augen gefîhrt. Schritt fîr Schritt setzt er sein Vorhaben in die Tat um: Erst als der Senat seinen allgemein gehaltenen Worten eindringlich zugestimmt hat (multaque patrum adsentatio sequebatur), bringt er nun speziell Agrippina ins Spiel,1023 die dem Leser freilich schon bei seinen bisherigen øußerungen die ganze Zeit vor Augen geschwebt hat. Dieser Umschlag in der Betrachtungsweise wird durch den Ablativus absolutus capto rursus initio wie durch ein Scharnier unmittelbar angefîgt.1024 Auch auf diese Weise wird das sorgfltig geplante Vorgehen des Vitellius sinnfllig gemacht. øhnlich wie Claudius in ann. 12,5,2 lßt sich nun auch der Senat manipulieren, was insbesondere durch den zweiten Nebensatz der Periode quando maritandum principem cuncti suaderent deutlich wird, mit der Vitellius die Senatoren nunmehr in die Pflicht nimmt. Agrippina wird wegen ihrer edlen Abkunft und erwiesenen Fruchtbarkeit als die einzig wîrdige Gemahlin fîr Claudius prsentiert (nec diu anquirendum).1025 Auch hierbei tragen die øußerungen des Vitellius fîr den Leser den Beigeschmack ironischer Doppelbçdigkeit, ist doch gerade die Abstammung der Germanicustochter das entscheidende Problem an der geplanten Hochzeit. Das hier verwendete Verb maritare ist offenbar ganz bewußt der Gesetzessprache entnommen und ruft nicht zuletzt auch durch die Gerundivform dem Leser die lex Iulia de maritandis ordinibus ins Gedchtnis, mit der Au-

1023 Vgl. Koestermann ad loc.: „Erst jetzt beginnt Vitellius geschickt seine Karten aufzudecken.“ 1024 Vgl. Seif, 1973, 173. 1025 Zur Bedeutung der von Vitelllius hier auf Agrippina projizierten einzelnen Eigenschaften, s. Seif, 1973, 175 f. øhnliche Argumente hatte schon Pallas fîr die Germanicustochter in die Waagschale geworfen (s. ann. 12,2,3: femina expertae fecunditatis; claritudinem Caesarum); vgl. Mehl, 1974, 113; Keitel, 1977, 147 ; hierzu bemerkt Devillers, 1994, 247: „La similitude du discours de Vitellius avec l’argumentation de Pallas indique que les s¤nateurs sont mis devant le fait accompli: ils n’ont d’autre choix que d’ent¤riner une d¤cision qui s’est impos¤e au terme d’un certamen (XII, 1, 1) entre hommes d’origine servile.“

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gustus bereits ‘standeswidrige’ Ehen verbieten ließ.1026 Da sptestens seit ann. 12,5,1 bekannt ist, daß die sexuelle Vereinigung zwischen Claudius und Agrippina schon lngst vollzogen worden ist (pactum inter Claudium et Agrippina iam fama, iam amore inlicito firmabatur), wirkt insbesondere auch der feierliche Begriff der sanctimonia, der einen besonders hohen Grad der Keuschheit zum Ausdruck bringt, vçllig deplaziert.1027 Wenn darîber hinaus noch die Fruchtbarkeit der Agrippina gepriesen wird (puerperiis; fecunditatis experimentum), fîhlt sich der Leser in noch drastischerer Weise an die blutschnderische Verbindung erinnert. Die von Vitellius ins Feld gefîhrten artes honestae erscheinen nach den bereits geschilderten Machenschaften der Agrippina in ann. 12,3 als blanker Hohn. Wie man den Begriff artes auffassen kann, hat Tacitus erst wenige Zeilen zuvor am Beispiel des Vitellius selbst deutlich werden lassen (ann. 12,5,2: suis artibus).1028 Auch die Fortfîhrung der indirekt wiedergegebenen Rede strotzt vor salbungsvollen Worten, die in ironischer Diskrepanz zur bisherigen Darstellung stehen, s. ann. 12,6,2: id vero egregium, quod provisu deum vidua iungeretur principi sua tantum matrimonia experto. audivisse a parentibus, vidisse ipsos abripi coniuges ad libita Caesarum: procul id a praesenti modestia. statueretur immo documentum, quo uxorem imperator 1029 acciperet. Die Vorstellung, daß die Vorsehung der Gçtter (provisu deum) die neue Verbindung in die Wege geleitet habe, mutet geradezu grotesk an, zumal wenige Stze zuvor befîrchtet worden ist, daß die Hochzeit zwischen Claudius und Agrippina allgemeines Unheil nach sich ziehen kçnnte (s. o. zu ann. 12,5,1: … ne in malum publicum erumperet, metuebatur).1030 Zu 1026 Vgl. Syme, 1958, 331 Anm. 3; Koestermann ad loc. Beide weisen zustzlich darauf hin, daß maritare bei Tacitus nur an dieser Stelle belegt ist. Zur lex Iulia s. U. Manthe: Lex Iulia et Papia, DNP 7, 1999, Sp. 121. 1027 S. Seif, 1973, 176; 178; Keitel, 1977, 147. Tacitus verwendet sanctimonia ansonsten nur in Bezug auf Vestalinnen (ann. 2,86,1; 3,69,6); vgl. Syme, 1958, 331 Anm. 3; Koestermann ad loc. 1028 Vgl. hierzu insbesondere Mehl, 1974, 109 mit Anm. 107; 114. 1029 So die Konjektur, die Ritter und andere fîr eine etwa sechs Buchstaben umfassende Lîcke in M in den Text gesetzt haben; Baiter konjiziert a re publica. Furneaux ad loc. meint dagegen, daß der Gegensatz zwischen abripi und acciperet zum Verstndnis ausreiche, und zweifelt deshalb den vermuteten Textausfall an; vgl. Koestermann ad loc. 1030 Ob an dieser Stelle durch vidua in ironischer Weise auch auf den angeblichen Giftmord der Agrippina an ihrem letzten Ehemann Crispus Passienus angespielt werden soll (s. Keitel, 1977, 148: „In fact, Agrippina may have aided in her providential widowhood by poisoning her previous husband […]“; vgl. Mehl,

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der von Vitellius erneut vorgegebenen sittenreinen Lebensweise des Claudius, der nur seine eigenen Ehefrauen kennengelernt habe (sua tantum matrimonia experto),1031 ist bereits im Zusammenhang mit der Analyse des vorangegangenen Kapitels das Passende gesagt worden (s. o. zu ann. 12,5,3: non luxui aut voluptatibus adsuefactus). Der sich anschließende Verweis auf Frauen, die in der Vergangenheit nach Belieben der Caesaren entfîhrt worden seien, ist eine Anspielung auf Livia, die von ihrem Ehemann Tiberius Nero dem Augustus îberlassen worden war, sowie auf das schamlose Treiben des Caligula.1032 Beide Flle waren den Senatoren vom Hçrensagen (audivisse a parentibus) oder aus eigener Erfahrung (vidisse ipsos) bekannt. Vor diesem dunklen Hintergrund soll das leuchtende Beispiel der nun geplanten Heirat positiv abgehoben werden.1033 Doch auch hier klingen die Worte des Vitellius maßlos îberzogen, insbesondere wenn er von der ‘Ehrbarkeit’ (modestia) des gegenwrtigen Princeps spricht,1034 die weit entfernt von der vage angedeuteten Praxis frîherer Zeiten sei. Jeder Leser dîrfte die blutschnderische Ehe doch als weitaus grçßeren Skandal empfinden als die ‘Entfîhrung’ von Ehefrauen. Schließlich kommt Vitellius zum Abschluß seiner Ausfîhrungen auf das eigentliche Problem zu sprechen, s. ann. 12,6,3: at enim nova nobis in fratrum filias coniugia: sed aliis gentibus sollemnia neque lege ulla prohibita; et sobrinarum diu ignorata tempore addito percrebuisse. morem accomodari, prout conducat, et fore hoc quoque in iis quae mox usurpentur. Mit einem einleitenden at enim greift Vitellius den zu erwartenden Einwand auf.1035 Nach seinem Loblied auf Agrippina und Claudius klingen seine Worte nun fast so, als sei das gravierende Problem der Verwandtenehe lediglich ein bedauerlicher ‘Schçnheitsfehler’.1036 Ausgerechnet Vitellius, der kurz zuvor Silanus wegen angeblicher 1974, 114), kann nicht mit letzter Sicherheit behauptet werden; vgl. Syme, 1958, 331 Anm. 3; Koestermann ad loc.; Nipperdey ad ann. 6,20. Mehl, 1974, 114 ist darîber hinaus der Ansicht, daß der Anklang der erlesenen Wendung provisu deum an die Bezeichnung des Vitellius als ingruentium dominationum provisor bedeute, daß „fîr Tacitus […] Vitellius selbst der ‘Gott’ [ist], der die Ehe Claudius–Agrippina zustande bringt.“ 1031 Matrimonia ist hier offenbar im Sinne von ‘Ehefrauen’ gebraucht; vgl. Koestermann ad loc. Nipperdey lçst den gesamten Ausdruck folgendermaßen auf: „[…] der nie die Frauen anderer begehrt habe.“ 1032 S. Koestermann ad loc. 1033 Vgl. Seif, 1973, 176. 1034 Zur Bedeutung des Ausdrucks praesenti modestia s. Koestermann ad loc. 1035 S. Koestermann ad loc. 1036 Vgl. Mehl, 1974, 111.

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Blutschande vor Gericht gebracht hat, unternimmt nun den Versuch, einen tatschlichen Inzest zu bagatellisieren:1037 Beschçnigend spricht er von in fratrum filias coniugia, eine Umschreibung, die den skandalçsen Sachverhalt nur vage zum Ausdruck bringt. Fîr den Leser sind seine Bemîhungen freilich nicht mehr als ein hilfloser Versuch. Dem Verweis auf die Sitten und Gebruche anderer Vçlker haftet die indirekt ausgesprochene Besttigung an, daß die ‘Ehe mit Tçchtern von Brîdern’ in Rom vollkommen verpçnt und gesetzeswidrig gewesen ist. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Tacitus mit sollemnia dem Vitellius ein Wort in den Mund legt, das zu Beginn des vorangegangenen Kapitels – wenn auch in anderer Bedeutung gebraucht – eng mit der Scheu des Claudius und der Agrippina verbunden war, ihre Hochzeit çffentlich zu vollziehen (ann. 12,5,1: necdum celebrare sollemnia nuptiarum audebant). Am Beispiel der Ehe zwischen Geschwisterkindern (sobrinarum [sc. coniugia]), die in Rom zunchst ebenfalls unîblich gewesen sei, sich mit der Zeit aber zu etwas Normalem entwickelt habe, versucht Vitellius die Neuartigkeit einer Heirat von Onkel und Nichte herunterzuspielen. Die sich daran anschließende Sentenz, wonach sich die Sitte je nach Zweckmßigkeit anpasse und auch der hier verhandelte Gegenstand einst allgemeiner Brauch sein werde (morem accomodari, prout conducat, et fore hoc quoque in iis quae mox usurpentur) ist eine Parodie auf die ganz hnlichen Worte des Claudius, mit denen er seine berîhmte Rede zur Aufnahme von Galliern in den Senat beendet hatte (s. ann. 11,24,7: inveterascet hoc quoque, et quod hodie exemplis tuemur, inter exempla erit).1038 Hierdurch wird der Leser zu einem Vergleich der jeweils befîrworteten Neuerungen angeregt, der nur die Dîrftigkeit der von Vitellius vorgebrachten Argumente offenbaren kann: Konnte sich Claudius bei seinen Worten auf eine îber mehrere Jahrhunderte gewachsene rçmische Tradition berufen, vor deren Hintergrund die Vergabe des ius honorum an die Gallier als konsequente Weiterentwicklung angesehen werden durfte, ist das nun von Vitellius unterstîtzte Vorhaben in der rçmischen Geschichte ohne jegliches Beispiel (vgl. ann. 12,5,1: nullo exemplo).1039 Um so lcherlicher und geradezu hilflos mutet nun die Rechtfertigung der Ehe zwischen Onkel und Nichte an. Die in dem Schlußsatz ebenfalls zutage tretende Relativierung fester Wert- und Moralvorstellungen (morem accomodari, prout 1037 Vgl. Seif, 1973, 170; 179. 1038 S. Syme, 1958, 331; Mehl, 1974, 116; Keitel, 1977, 148; Seif, 1973, 177; Devillers, 1994, 247. 1039 S. hierzu ausfîhrlich Mehl, 1974, 116 f.

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conducat) paßt indessen glnzend zu dem bisher von Tacitus gezeichneten Charakterbild des schamlosen Opportunisten und rundet auf diese Weise den negativen Eindruck der gesamten Szenerie wirkungsvoll ab.1040 Durch die deutliche Diskrepanz zwischen dem von Vitellius vorgegebenen Anspruch und der durch den Kontext dargestellten Wirklichkeit lßt Tacitus den Auftritt des Hçflings als freche Verdrehung der Tatsachen erscheinen.1041 Der Historiker mçchte zu erkennen geben, auf welch dreiste Weise der Senat manipuliert und als gesetzgebende Instanz dazu mißbraucht wird, einer ganz bestimmten Clique am Kaiserhof den Weg zur Macht zu ebnen.1042 Das perfide Treiben des Vitellius ist am Ende von Erfolg gekrçnt. In einer Schilderung, die nun vollends die Zîge einer possenhaften Komçdie trgt, berichtet Tacitus îber die Reaktion des Senats,1043 s. ann. 12,7,1: Haud defuere qui certatim, si cunctaretur Caesar, vi acturos testificantes erumperent curia. conglobatur promisca multitudo populumque Romanum eadem orare clamitat. Die Kurie gleicht einem Tollhaus: Zahlreiche c- und t-Assonanzen untermauern den Eindruck tumultartiger Zustnde. Nach den fadenscheinigen und verlogenen Argumenten des Vitellius kann der Leser îber die îberschwengliche und bis ins Groteske gesteigerte Zustimmung der Senatoren nur lachen. Die hier geschilderte Szene gestaltet sich als Parodie auf die zuvor in ann. 12,5,2 beschworenen iussa populi und die auctoritas senatus.1044 Zu den hochtrabenden Worten, mit denen dort die alte republikanische Verfassungstradition emporgehalten worden ist, tut sich nun ein greller Kontrast auf: Hysterischkriecherische Senatoren und eine bunt gemischte, zusammengerottete Menschenmenge (s. conglobatur promisca multitudo), die sich als ‘Volk von Rom’ ausgibt und lauthals dessen angeblichen Willen verkîndet (orare eadem clamitat),1045 vertreten hier die beiden Gewalten, deren 1040 Vgl. Mehl, 1974, 117. 1041 Vgl. die hnliche Technik des Tacitus im Zusammenhang mit der Debatte um die Erneuerung der lex Cincia im elften Annalenbuch. Die Argumente der advocati in ann. 11,7 gewinnen ebenfalls durch den rahmenden Kontext der Erzhlung eine deutlich ironische Frbung (s. o. S. 184 ff.) 1042 Vgl. Seif, 1973, 172; 179; Devillers, 1994, 246 f. 1043 Vgl. Koestermann ad loc.: „Tacitus lßt der an sich schon grotesken Szene ein Satyrspiel folgen.“ 1044 Vgl. Seif, 1973, 172; 179 f.; Mehl, 1974, 117 mit Anm. 178; 118 mit Anm. 179. 1045 Vgl Mehl, 1974, 117 f.: „Das unmittelbare Nebeneinander der Begriffe promisca multitudo und populus Romanus zeigt, wie Tacitus îber dieses „Volk“ denkt“; Keitel, 1977, 149; Seif, 1973, 180.

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consensus sich der Kaiser nach eigener Aussage fîgen mçchte (s. ann. 12,5,2). Die offizielle Legitimation der geplanten inzestuçsen Ehe hat somit jeglichen Anflug von Ernsthaftigkeit und Wîrde verloren. Das nun im Anschluß geschilderte Verhalten des Claudius ist in den Augen des Lesers typisch, s. ann. 12,7,2: nec Claudius ultra exspectato obvius apud forum praebet se gratantibus, senatumque ingressus decretum postulat, quo iustae inter patruos fratrumque filias nuptiae etiam in posterum statuerentur. nec tamen repertus est nisi unus talis matrimonii cupitor, Alledius Severus eques Romanus, quem plerique Agrippinae gratia impulsum ferebant. Die anfnglichen Bedenken des Kaisers (s. ann. 12,5,1) scheinen nun schlagartig zerstreut zu sein. Nachdem Senat und Volk die Ehe mit Agrippina auf so lcherliche Weise eingefordert haben, geht er ohne weiteres Zçgern1046 in die §ffentlichkeit und fordert in der Kurie ein Dekret, das die Ehe zwischen Onkeln und Brîdertçchtern (man beachte auch hier die Abfolge dreier Verwandtschaftsbezeichnungen; s. o. zu ann. 12,5,1) auch fîr die Zukunft gesetzlich erlauben soll. Da der Senat seine Zustimmung zur geplanten Hochzeit bereits gegeben und damit das nun beantragte Gesetz im Grunde schon gebilligt hat, wirkt der Auftritt des Kaisers wie der krampfhaft-lcherliche Versuch, die republikanische Fassade weiterhin aufrecht zu erhalten.1047 Indessen macht der betonte Hinweis auf den Ritter Alledius Severus deutlich, wie es mit der von Vitellius vorhergesagten ‘Einbîrgerung’ der Verwandtenehe (ann. 12,6,3: et fore hoc quoque in iis quae mox usurpentur) in Wahrheit bestellt ist: Nur einen einzigen Nachahmer hat Claudius gefunden. Außerdem sei dies nur der Agrippina wegen geschehen, wie Tacitus unter Berufung auf eine weit verbreitete Ansicht (plerique … ferebant) verlauten lßt. Damit ist klar, daß inzestuçse Eheverbindungen in Rom nach wie vor nicht gesellschaftsfhig gewesen sind.1048 Im Anschluß wendet sich Tacitus den politischen Folgen der neuen Entwicklungen zu und findet dafîr eindringliche Worte, s. ann. 12,7,3: Versa ex eo civitas, et cuncta feminae oboediebant, non per lasciviam, ut Messalina, rebus Romanis inludenti. adductum et quasi virile servitium: 1046 Keitel, 1977, 149 sieht an dieser Stelle einen Bezug zu ann. 11,26,3 (îber Messalina: nec ultra exspectato, quam dum sacrificii causa Claudius Ostiam proficisceretur, cuncta nuptiarum sollemnia celebrat): „The reminiscence of nec ultra exspectato reveals Tacitus’ point of view: Claudius even though manipulated, is morally responsible for his choice of Agrippina just as Messalina was for her choice of Silius“; vgl. Devillers, 1994, 157 f. 1047 Vgl. Mehl, 1974, 118. 1048 Vgl. Seif, 1973, 179; Mehl, 1974, 118.

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palam severitas ac saepius superbia; nihil domi impudicum, nisi dominationi expediret. cupido auri immensa obtentum habebat, quasi subsidium regno pararetur. Die neue Eheverbindung des Claudius stellt Tacitus als drastische Zsur fîr das politische Gemeinwesen dar. Die neue Kaiserin ist verantwortlich fîr eine radikale (vgl. versa) Umgestaltung des Staates.1049 Ihr hier skizzierter Charakter steht in grellem Widerspruch zu dem idealisierten Bild einer zîchtigen und mustergîltigen Ehefrau, das im Kapitel zuvor von Vitellius beschworen worden ist: Unumschrnkte Machtfîlle (cuncta … oboediebant) und ein straffes Regiment (quasi virile servitium) charakterisieren das allgemeine Walten der Agrippina.1050 Hinzu kommen Strenge (severitas) und Hochmut (superbia). Ihre vermeintliche sanctimonia (s. ann. 12,6,1) wird durch eine maliziçse Einschrnkung wiederum ins ‘rechte’ Licht gerîckt: In ihrem Haus habe es keine Sittenlosigkeit gegeben – es sei denn, sie habe der eigenen Machtstellung genîtzt.1051 Außerdem erfîllt die Aussage nihil domi impudicum, nisi dominationi expediret die von Vitellius geußerte Sentenz, wonach sich die Sitte dem Nutzen anpasse (ann. 11,6,3: morem accomodari, prout conducat), auf ironische Weise mit neuem Sinn und entlarvt die eigentlichen Absichten der Agrippina. Die Begriffe servitium, dominatio und regnum sprechen in diesem Zusammenhang eine deutliche Sprache.1052 Der kurze Vergleich mit Messalina bringt implizit zum 1049 Vgl. ann. 1,4,1 (îber die Herrschaft des Augustus): Igitur verso civitatis statu …; Seif, 1973, 180; ob man jedoch soweit gehen darf wie Keitel, 1977, 149, die aufgrund dieser und anderer sprachlicher Entsprechungen offenbar von einer beabsichtigten Gleichsetzung der Agrippina mit Augustus ausgeht, scheint mir aufgrund des großen Abstandes zum ersten Annalenbuch ußerst zweifelhaft. 1050 Vgl. ann. 11,35,1 (îber Narcissus): omnia liberto oboediebant; hierzu Mehl, 1974, 82: „Mit dieser Parallele charakterisiert Tacitus Narcissus und Agrippina als gleichwertig. Das ußere Bild der verkehrten Machtverteilung bleibt gleich, lediglich die Personen werden ausgetauscht wie Figuren oder Darsteller in Theaterrollen“; ebda. 122; Devillers, 1994, 156; Keitel, 1977, 149 konstatiert „a change from bad to worse, from the rule of a freedman to the rule of a woman.“ 1051 Vgl. hierzu Seif, 1973, 181 f., der die hier gegebene kurze Charakterisierung der Agrippina minor mit dem taciteischen Charakterportrt ihrer Mutter vergleicht; hnlich Mehl, 1974, 125; vgl. Koestermann ad loc. Zur Parallelitt der Charakterbilder der jîngeren und der lteren Agrippina in der Darstellung des Tacitus s. ausfîhrlich Devillers, 1994, 150. 1052 Vgl. Mehl, 1974, 124 f. der auf das „Leitmotiv“ der dominatio aufmerksam macht, das von nun an die Handlungen der Agrippina begleitet (vgl. weiter unten ann. 12,8,2; 13,2,2; 14,11,2); vgl. außerdem Koestermann ad loc.: „Der Begriff regnum, der bereits 4,1,3. 3,3 in Beziehung auf Sejan aufgetaucht war, als ungeschminkte Bezeichnung der wahren Machtverhltnisse irrlichtert durch das

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Ausdruck, daß die Regentschaft des Claudius maßgeblich von dessen Ehefrauen geprgt worden ist. Doch Agrippina scheint sehr viel gefhrlicher zu sein als ihre Vorgngerin: Ist diese hauptschlich durch ihre ausschweifende Lebensweise (lascivia) zu einer Gefahr fîr die res Romanae geworden, macht sich die neue Kaiserin ganz zielstrebig und berechnend daran, den Staat unter ihre Kontrolle zu bringen.1053 Die Sicht des Lesers auf die kommenden Ereignisse wird damit entscheidend vorbestimmt. Der Hinweis auf die unermeßliche Goldgier der Agrippina rundet das negative Charakterportrt ab.1054

6.4 Ann. 12,8 f.: Der Selbstmord des Silanus, die Rîckkehr Senecas aus dem Exil und die Verlobung des Domitius mit Octavia Tacitus beendet seinen Bericht îber die Hochzeit des Claudius mit dem Selbstmord des Iunius Silanus und schlgt damit den Bogen zurîck zu Kapitel ann. 12,4, welches von der infamen Intrige gegen den einstigen Verlobten der Octavia gehandelt hat. Durch diese Kompositionsstruktur umrahmt der Bericht îber das Schicksal des vçllig zu Unrecht wegen Blutschande verurteilten Mannes wirkungsvoll die Darstellung des legalisierten Inzests am Kaiserhof,1055 s. ann. 12,8,1: Die nuptiarum Silanus mortem sibi conscivit, sive eo usque spem vitae produxerat, seu delecto die augendam ad invidiam. Calvina soror eius Italia pulsa est. addidit Claudius sacra ex legibus Tulli regis piaculaque apud lucum Dianae per pontifices danda, inridentibus cunctis, quod poenae procurationesque incesti id temporis exquirerentur. Mit der betont an den Anfang des neuen Kapitels gerîckten Datumsangabe die nuptiarum verweist der Historiker ausdrîcklich auf die zeitliche Koinzidenz von Hochzeit und Freitod, die den Gegensatz zwischen dem tatschlich begangenen, aber straflos gebliebeganze 12. Buch […]“; Devillers, 1994, 131: „On observe l’emploi de trois mots antith¤tiques ” la notion de libert¤ (servitium, dominatio, regnum) dans les lignes dans lequelles est d¤crit le pouvoir d’Agrippine II aprºs son mariage avec Claude (XII,7,3).“ 1053 Vgl. Seif, 1973, 182: „Messalina nutzte politische Macht zu immer grçßerer sexueller Freizîgigkeit, Agrippina bediente sich der Sexualitt, um politische Macht zu gewinnen“; Mehl, 1974, 122; Keitel, 1977, 139; Koestermann ad loc. 1054 Vgl. Seif, 1973, 182. 1055 Vgl. Seif, 1973, 183.

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nen Inzest auf der einen und der nur vorgegebenen, doch geahndeten Blutschande auf der anderen Seite weiter verschrft. Daß Silanus den Tag fîr seinen Selbstmord ganz bewußt gewhlt hat, wird innerhalb der alternativen Motivangabe (sive … seu) durch die zuletzt genannte Deutungsmçglichkeit suggeriert: delecto die augendam ad invidiam. Denn im Bewußtsein des Lesers paßt das darin enthaltene Motiv der Rache deutlich besser in den von Unrecht und Doppelmoral geprgten Kontext als die etwas blasse Erklrung, Silanus habe bis zu diesem Tag noch Hoffnung fîr sein Leben gehabt.1056 Außerdem birgt die Aussage augendam ad invidiam einen zustzlichen Reiz in sich, indem sie implizit zum Ausdruck bringt, daß die Hochzeit des Claudius mit Agrippina auch ohne den Selbstmord bereits eine Art von invidia hervorgerufen habe, die durch die symboltrchtige Tat nur noch gesteig ert werden konnte. Dieses wiederum fîgt sich gut ein in den zuvor erzeugten Eindruck, daß die neue Ehe des Claudius auf allgemeine Ablehnung gestoßen ist (vgl. ann. 12,7,2: Alledius als einziger Nachahmer des Kaisers). Nach einem kurzen Hinweis auf das ungerechte Schicksal des zweiten Opfers der Silanus-Affre, Calvina, stellt Tacitus den Kaiser nun auch ganz unverhohlen bloß: Ausgerechnet Claudius, der soeben eine blutschnderische Verbindung mit seiner Nichte eingegangen ist, verrichtet altehrwîrdige Opfer und Sîhnehandlungen fîr den vermeintlichen Inzest des Silanus. Daß die heiligen Handlungen sich konkret darauf beziehen, geht inhaltlich aus dem Prdikat addidit hervor. In einem nachgetragenen Ablativus absolutus (inridentibus cunctis) mit angehngtem quod-Satz macht der Historiker kein Hehl daraus, was der Leser von dem Gehabe des Kaisers halten soll: Alle Welt habe îber den Umstand gespottet, daß gerade zu dieser Zeit nach Strafen und Sîhnemitteln fîr ein incestum gesucht worden sei. Die Zustze ex legibus Tulli regis 1057 und ad lucum 1056 Vgl. Whitehead, 1979, 491 (C 36). Keitel, 1977, 150: „Tacitus gives two possible reasons, and as usual, the second, more sinister one, is made more persuasive. Alliteration and heavy liquids give the clause gravity […].“ Bezeichnenderweise berichten Sueton, Claud. 29,2 und Cassius Dio (Exc. Val. 227) 60,31,7, daß der Selbstmord des Silanus ein erzwungener war (s. Koestermann ad loc.). Tacitus hingegen erweckt den Eindruck, Silanus habe sich absichtlich selbst getçtet, und schafft damit erst die Grundlage fîr seine alternativ angebotenen Grînde. ˜berhaupt ist die Reflektion îber die Motive des Silanus eine Eigenheit des taciteischen Berichtes; vgl. Mehl, 1974, 126; Seif, 1973, 184. 1057 Ob hierbei auf Servius Tullius (so Seif, 1973, 183 mit Anm. 53; Koestermann ad loc.) oder auf Tullus Hostilius (so Mehl, 1974, 126 mit Anm. 254; Keitel, 1977, 151; Furneaux ad loc.) Bezug genommen wird, ist in der Literatur umstritten.

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6. Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius

Dianae zielen in diesem Zusammenhang auf die bekannte antiquarische Gelehrsamkeit des Claudius ab und lassen den Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Selbstbild des Pontifex maximus noch drastischer erscheinen.1058 Im Anschluß kommt Tacitus wiederum auf Agrippina zu sprechen. Ihr zielgerichtetes Handeln wird durch ein einleitendes at scharf abgehoben von dem „sinnentleerten religiçsen Formalismus“ des Kaisers,1059 s. ann. 12,8,2: at Agrippina, ne malis tantum facinoribus notesceret, veniam exilii pro Annaeo Seneca, simul praeturam impetrat, laetum in publicum rata ob claritudinem studiorum eius, utque Domitii pueritia tali magistro adolesceret et consiliis eiusdem ad spem dominationis uterentur, quia Seneca fidus in Agrippinam memoria beneficii et infensus Claudio dolore iniuriae credebatur. Die von der neuen Kaiserin durchgesetzte Rîckberufung Senecas aus dem Exil wird von Tacitus offensichtlich begrîßt. Doch stellt er diese positiv zu bewertende Leistung als seltene Ausnahme von der Regel hin, wonach Agrippina vor allem durch mala facinora bekannt geworden sei, und verhindert durch diese Relativierung einen strkeren Bruch mit seinem bisherigen Charakterbild der machtbesessenen und skrupellosen Herrscherin. Daß diese nicht nur die Aufhebung der Verbannung, sondern zugleich auch die Prtur fîr Seneca erwirken kann, ist ein deutliches Zeichen fîr ihren mchtigen Einfluß am Kaiserhof.1060 Durch die Prolepse des einschrnkenden ne-Satzes wird die Sicht des Lesers auf die folgende Darstellung entscheidend beeinflußt: Offenbar ging es der Kaiserin bei ihrem Eintreten fîr Seneca nicht so sehr um dessen Person als vielmehr um ihr çffentliches Prestige (vgl. im folgenden laetum in publicum).1061 Von solch berechnendem Kalkîl (vgl. rata) zeugen denn auch die anderen Motive, die Tacitus im folgenden zustzlich hervortreten lßt: Agrippina mçchte Seneca die Erziehung ihres Sohnes îbertragen. Doch entspringt dieser Wunsch im wesentlichen ihren hochfahrenden Plnen. Der berîhmte Philosoph soll lediglich dazu dienen, Domitius mit seinen Ratschlgen den Weg zur Macht zu ebnen (ad spem dominationis). Daß Agrippina die ‘gute Tat’ aus reinem Eigennutz und in kîhler Berechnung begangen hat, geht am deutlichsten aus 1058 Vgl. Mehl, 1974, 126; Keitel, 1977, 151; Syme, 1958, 315. 1059 S. Mehl, 1974, 126; vgl. Keitel, 1977, 151. 1060 Vgl. Mehl, 1974, 126: „Zwischen Senecas Rîckkehr und dem Beginn seines Amtes dîrfte in Wirklichkeit einige Zeit gelegen haben, etwa ein Jahr. Tacitus rafft beides zusammen: In dem îberschnellen Aufstieg ihres Schîtzlings manifestiert sich Agrippinas Macht“; Keitel, 1977, 150. 1061 Vgl. Seif, 1973, 184 f.

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der abschließend geußerten Spekulation hervor, Seneca werde aus Dankbarkeit (memoria beneficii) der Kaiserin gegenîber treu, Claudius gegenîber jedoch feindlich gesinnt sein aufgrund des erlittenen Unrechts (des Exils). Fast unmerklich wird der Leser dabei gewahr, daß Agrippina kurz nach ihrer Hochzeit mit Claudius bereits eine eindeutige Frontstellung gegen den Kaiser bezogen hat. Erneut wird klar, welche Ziele sie von Beginn ihrer neuen Ehe an verfolgt hat (vgl. ann. 12,3,2).1062 Der Kaiserhof ist durch das Ehebîndnis nicht etwa vereint, sondern in zwei gegenstzliche Lager gespalten worden. Denn daß Agrippina keineswegs allein agiert, sondern sich bereits auf eine breitere Anhngerschaft am Kaiserhof stîtzen kann, verraten die allgemein formulierten Prdikate uterentur und credebatur.1063 Wie der Leser aus den vorangegangenen Kapiteln ahnt, stellt die Rîckberufung Senecas nicht die einzige oder hauptschliche Maßnahme dar, welche die neue Kaiserin zur langfristigen Verwirklichung ihrer herrschsîchtigen Absichten trifft, s. ann. 12,9,1 – 2: Placitum dehinc non ultra cunctari, sed designatum consulem Mammium Pollionem ingentibus promissis inducunt sententiam expromere, qua oraretur Claudius despondere Octaviam Domitio, quod aetati utriusque non absurdum et maiora patefacturum erat. Pollio haud disparibus verbis ac nuper Vitellius censet; despondeturque Octavia, ac super priorem necessitudinem sponsus iam et gener Domitius aequari Britannico studiis matris, arte eorum, quis ob accusatam Messalinam ultio ex filio timebatur. Nahtlos (dehinc) reiht sich der nchste Schachzug der Agrippina-Clique an: Nach der Vernichtung des Silanus ist der Weg nunmehr frei fîr die Verlobung der Octavia mit Domitius. Die in ann. 12,3,2 genannten verbrecherischen Plne der Kaiserin, an die sprachlich durch den Ausdruck maiora patefacturum (vgl. ann. 12,3,2: struere maiora) erinnert wird, gelangen nun zu ihrer unverzîglichen Ausfîhrung.1064 Beharrliche Zielstrebigkeit und Konsequenz kennzeich1062 Vgl. Seif, 1973, 185 f., der zustzlich auf die Reihenfolge in der Angabe der einzelnen Motive hinweist. Schrittweise kommen die politischen Ambitionen als der hauptschliche Beweggrund fîr Agrippinas Eintreten fîr Seneca zum Vorschein; Mehl, 1974, 127; O’Gorman, 2000, 147. 1063 Vgl. zustzlich zu Beginn des folgenden Kapitels placitum; inducunt; s. hierzu insbesondere Mehl, 1974, 127 f; vgl. Nipperdey und Koestermann ad loc. 1064 S. hierzu Seif, 1973, 187: „Mit dieser Formlierung [maiora patefacere] wird die frîhere Wendung maiora struere (12,3,1[=2]) aufgenommen und weitergefîhrt.[…]. Durch die Verkettung mit einem scelus ist dem Aufstieg Neros von Anfang an ein negatives Signum aufgedrîckt worden“; vgl. Mehl, 1974, 128; Keitel, 1977, 151.

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6. Ann. 12,1 – 9: Die Wahl einer neuen Gemahlin fîr Claudius

nen somit das Wirken der Kaiserin und bringen deren offenbar unstillbaren Machthunger ußerst sinnfllig zum Ausdruck. Daß Agrippina und ihre Helfer zudem andere Personen wie den designierten Konsul Mammius Pollio korrumpieren (ingentibus promissis inducunt) und zur Durchsetzung der eigenen Ziele in den Vordergrund schieben, weist sie als gerissene Intriganten aus, die unauffllig und im Hintergrund agieren und gerade deshalb um so erfolgreicher sind. Es genîgt ein kurzer Verweis auf den Inhalt der von Pollio gehaltenen Rede, um dem Leser zu bedeuten, auf welch schamlose und unwîrdige Weise nun offenbar auch die Verlobung der Octavia mit Domitius in die Wege geleitet worden ist: Der designierte Konsul habe ganz hnliche (haud disparibus) Worte gebraucht wie neulich Vitellius. Mit dieser kurzen Bemerkung rîckt Tacitus das geschilderte Ereignis in ein ebenso moralisch fragwîrdiges Licht wie die zuvor dargestellte Hochzeit des Kaisers mit Agrippina, ohne auf weitere Einzelheiten eingehen zu mîssen. Die Ereignisse scheinen sich tatschlich in gewisser Weise zu wiederholen;1065 erneut lassen sich die Senatoren bedenkenlos manipulieren und mißbrauchen. Auf den geschilderten Antrag des Pollio, wonach Claudius gebeten werden solle, seine leibliche Tochter mit dem Sohn der Agrippina zu verloben (qua oraretur Claudius despondere), folgt wenige Zeilen spter dessen direkter Vollzug (despondeturque Octavia). Die Annahme der von Pollio eingebrachten sententia wird somit zwischen den Zeilen als selbstverstndlich vorausgesetzt. Und erneut widersetzt sich Claudius nicht. Ahnungslos geht er den Intrigen seiner hçfischen Umgebung weiterhin ins Netz. Wie blind der Kaiser gegenîber dem Treiben seiner neuen Gemahlin ist, verrt nicht zuletzt auch die zustzlich erwirkte Gleichstellung des Domitius mit Britannicus. Deutlich hebt Tacitus hervor, welch gefhrlicher Rivale dem leiblichen Sohn des Kaisers in Domitius nunmehr erwachsen ist, und gewhrt damit einen unheilvollen Ausblick auf die kînftigen Entwicklungen: Der Enkel des Germanicus ist nicht mehr nur eng mit dem Kaiserhaus verwandt, sondern darîber hinaus (super priorem necessitudinem) nunmehr auch Verlobter und Schwiegersohn (sponsus iam et 1065 S. hierzu Devillers, 1994, 156 f., der auf weitere Parallelen hinweist: „[…] dans les deux cas, la d¤cision ne s’impose qu’aprºs une cunctatio (XII,5,2 nec ante omissa cunctatio quam Vitellius suis artibus; 7,1 : Haud defuere qui certatim, si cunctaretur Caesar, vi acturos testificantes; 9,1: Placitum dehinc non ultra cunctari) et qu’aprºs que s’est manifest¤e l’ars de conseillers de l’empereur, de Vitellius d’une part (XII,5,2), des affranchis de l’autre (XII,9,2). ÷ travers cette narration gemin¤e, Tacite souligne ” quel point, au moment de prendre des d¤cisions importantes, Claude est accessible aux arguments des membres de sa cour.“

6.4 Ann. 12,8 f.: Der Selbstmord des Silanus

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gener).1066 Agrippina wird bei ihren Machenschaften (vgl. studiis matris) unterstîtzt von denjenigen, die maßgeblich an der Beseitigung der Messalina beteiligt gewesen sind und daher kein Interesse daran haben kçnnen, daß Britannicus einst die Nachfolge seines Vaters antreten und dann mçglicherweise Rache fîr den Tod seiner Mutter nehmen wird.1067 Dieser Auskunft kann entnommen werden, daß die Helfer der Kaiserin erkannt haben, was hinter der Gleichstellung des Domitius mit dem Sohn des Claudius steckt. Im Gegensatz zum Princeps selbst, scheinen sie Agrippinas Plne und die sich daraus ergebenden Implikationen voll und ganz durchschaut zu haben und tragen um des eigenen Vorteils willen aktiv (arte) zu deren Verwirklichung bei. Die Aussichten fîr das Schicksal des Britannicus werden damit immer dîsterer, zumal auf seiner Seite keinerlei Anhnger zu erkennen sind.

1066 Vgl. Seif, 1973, 187. 1067 Hierbei ist offenkundig an die Freigelassenen gedacht; s. hierzu Seif, 1973, 188: „Durch die Hinwendung aller liberti zu Agrippina ist ihre Herrschaft nahezu perfekt.“

7. Ann. 12,22 – 27,1: Weitere Schritte der Agrippina zur Absicherung ihrer Herrschaft und zur Vorbereitung der Herrschaft ihres Sohnes 7.1 Ann. 12,22: Agrippina schaltet vermeintliche Rivalinnen aus Nachdem Tacitus in einem Exkurs ausfîhrlich îber Kmpfe bei den Parthern berichtet hat,1068 kommt er in Kapitel ann. 12,22 auf die inneren Verhltnisse Roms zurîck und schildert zunchst das Vorgehen der Agrippina gegen die ihr verhaßte Lollia Paulina. Aus Wut darîber, daß diese ihr die Hochzeit mit dem Princeps streitig gemacht habe (Lollia ist eine der drei Hauptfavoritinnen der Brautschau gewesen, s. ann. 12,1 – 2), verstrickt Agrippina sie in eine falsche Anklage, s. ann. 12,22,1: Isdem consulibus atrox odii Agrippina ac Lolliae infensa, quod secum de matrimonio principis certavisset, molitur crimina et accusatorem, qui obiceret Chaldaeos, magos interrogatumque Apollinis Clarii oraculum super nuptiis imperatoris. Die Art und Weise, in der Agrippina gegen ihre ehemalige Rivalin vorgeht, entspricht dem îblichen Schema einer hinterlistigen Intrige und ist dem Leser bereits aus anderen Zusammenhngen bestens bekannt:1069 Die Kaiserin bedient sich der Hilfe eines vorgeschobenen Anklgers, der falsche Beschuldigungen gegen das Opfer vorbringt. Zusammen mit der Charakterisierung der Agrippina als atrox odii ac … infensa, die zweifellos auch eine echte emotionale Triebfeder im Handeln der Kaiserin zu erkennen gibt,1070 lßt dieses 1068 Zu den Kapiteln ann. 12,10 – 21 s. Pfordt, 1998, 96 – 102; Seif, 1973, 237 – 244. 1069 S. Mehl, 1974, 128; vgl. die Intrigen gegen Valerius Asiaticus (ann. 11,1), die Petra-Brîder (ann. 11,4) und gegen Iunius Silanus (ann. 12,4); Seif, 1973, 190 mit Anm. 2. 1070 S. hierzu Mehl, 1974, 129 f. und Keitel, 1977, 160, die beide eine Parallelisierung der Agrippina mit Messalina sehen (vgl. ann. 11,12,1 et matri Agrippinae miseratio augebatur ob saevitiam Messalinae, quae semper infesta et tunc commotior, quo minus strueret crimina et accusatores); zu weiteren Parallelen zwischen den Charakterbildern der beiden Kaiserinnen in den Annalen des Tacitus s. ausfîhrlich Devillers, 1994, 157 f.

7.1 Ann. 12,22: Agrippina schaltet vermeintliche Rivalinnen aus

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gewohnte Verhaltensmuster keinen Zweifel daran aufkommen, daß es sich bei den gegen Lollia erhobenen Vorwîrfen lediglich um eine Scheinanklage handelt.1071 Das hauptschliche Motiv der Agrippina liegt jedoch nicht in ihrem persçnlichen Haß, sondern in der weiteren Absicherung ihrer erworbenen Machtstellung begrîndet. Lollia Paulina ist die einzige Kandidatin gewesen, die ihr bei der Brautwahl des Claudius ernsthaft gefhrlich geworden ist.1072 Offenbar fîrchtet sie selbst nach ihrer Hochzeit mit dem Kaiser noch potenzielle Konkurrentinnen.1073 Ebenso typisch wie der Ablauf der Intrige ist fîr den Leser erneut die Reaktion des Claudius, s. ann. 12,22,2: exim Claudius inaudita rea multa de claritudine eius apud senatum praefatus, sorore L. Volusii genitam, maiorem ei patruum Cottam Messalinum esse, Memmio quondam Regulo nuptam (nam de C. Caesaris nuptiis consulto reticebat), addidit perniciosa in rem publicam consilia, et materiem sceleri detrahendam: proin publicatis bonis cederet Italia. ita quinquagies sestertium ex opibus immensis exuli relictum. Voreingenommen nimmt der Kaiser die Vorwîrfe gegen Lollia ohne weitere ˜berprîfung (inaudita rea) als gerechtfertigt hin1074 und tritt mit der Angelegenheit vor den Senat.1075 Seine breiten Ausfîhrungen (vgl. multa) îber die edle Abkunft der Angeklagten haben rein gar nichts mit der verhandelten Angelegenheit zu tun und sind fîr den Leser lediglich Ausdruck eines verschrobenen weltfremden Wesens.1076 Doch zeugt sein absichtliches Verschweigen (consulto reticebat) der Ehe, die Lollia Paulina seinerzeit mit Caligula eingegangen ist, von einer erstaunlichen Geistesgegenwart.1077 Offenbar ist er sich der îbertriebenen Eifersuchtsgefîhle seiner Gattin bewußt und mçchte die Situation nicht zustzlich verschrfen. Man muß daher feststellen, daß das taciteische Charakterbild des Claudius bei aller negativer Tendenz nicht immer 1071 Die von Keitel, 1977, 160 aufgezeigte Ironie, daß Agrippina an spteren Stellen selbst die Astrologen (Chaldaei) zu zentralen Angelegenheiten im Kaiserhaus befragt (s. ann. 12,68,3; 14,9,3) kann dem Leser an dieser Stelle freilich noch nicht aufgehen. 1072 S. ann. 12,1,2: sed maxime ambigebatur inter Lolliam Paulinam M. Lollii consularis et Iuliam Agrippinam Germanico genitam. 1073 Vgl. Seif, 1973, 190. 1074 Vgl. ann. 11,1,3: at Claudius nihil ultra scrutatus; 12,4,2: et praebebat Caesar aures ; Seif, 1973, 190. 1075 Mçglicherweise hat Tacitus auch an dieser Stelle die acta senatus fîr seine Darstellung herangezogen, vgl. Koestermann ad ann. 12,22,2; Syme, 1958, 295; 461. 1076 Vgl. Mehl, 1974, 128, Keitel, 1977, 161. 1077 Vgl. Mehl, 1974, 130 mit Anm. 288.

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7. Ann. 12,22 – 27,1: Weitere Schritte der Agrippina

einheitlich gezeichnet ist. Das Urteil gegen Lollia Paulina beweist wiederum die geistige Unselbstndigkeit des Kaisers. Gegenîber den weitschweifigen Bemerkungen îber die claritudo der Angeklagten erscheint der entscheidende Teil seiner Rede als bloßes Anhngsel (addidit). In aller Kîrze und Allgemeinheit nimmt er leichtglubig die falsche Anklage auf und unterstellt der unschuldigen Frau perniciosa consilia, spricht sogar von einem mçglichen scelus, das verhindert werden mîsse, und verbannt die Angeklagte aus Italien. Dieses Verhalten steht in ironischem Kontrast zu dem Umstand, daß er die tatschlich gegebenen Verbrechen (vgl. ann. 12,3,2) und gefhrlichen Absichten seiner eigenen Ehefrau offensichtlich nicht erkennt. Neben Lollia Paulina wird sodann eine weitere Frau von Agrippina ins Verderben gestîrzt, angeblich weil der Kaiser beilufig ihre Schçnheit gerîhmt hatte, s. ann. 12,22,3: et Calpurnia inlustris femina pervertitur, quia formam eius laudaverat princeps, nulla libidine, sed fortuito sermone, unde ira Agrippinae citra ultima stetit. in Lolliam mittitur tribunus, a quo ad mortem adigeretur. damnatus et lege repetundarum Cadius Rufus accusantibus Bithynis. Die Kaiserin duldet offenbar keine Konkurrentin und geht selbst aus vçllig nichtigem Anlaß gegen vermeintliche Nebenbuhlerinnen vor. Die Bezeichnung inlustris femina gibt dem Leser an dieser Stelle die entscheidende Interpretationshilfe an die Hand: Agrippina fîrchtet sich vor allem um angesehene und gesellschaftlich hochgestellte Rivalinnen.1078 Ihre îbertriebene Eifersucht beruht auch in diesem Fall nicht auf ihrer Liebe zu Claudius, sondern auf ihrer Sorge um den eigenen Machterhalt.1079 Angesichts der Bedeutungslosigkeit des geschilderten Ereignisses klingt es geradezu hçhnisch, daß sie gerade deshalb in ihrem Zorn gegen Calpurnia nicht bis zum øußersten gegangen sei. Um so schockierender ist dann die Nachricht, daß die nicht minder unschuldige Lollia Paulina von einem Tribun zum Selbstmord gezwungen 1078 Der Kommentar Koestermanns ad loc., wonach die Bezeichnung illustris femina hier der Unterscheidung von der meretrix Calpurnia (ann. 11,30,1) diene, wird der Aussageabsicht des Tacitus nicht hinreichend gerecht. 1079 Daher ist die von Mehl, 1974, 129 vorgetragenen Ansicht, wonach der Kaiserin hier kein politisches Motiv unterstellt werde (vgl. Keitel, 1977, 160 f.), unzutreffend. Hinter dem Zorn (ira) der Agrippina steckt zwar die Furcht, daß Claudius sich wegen seiner berîchtigten libidines zu einer anderen Frau hingezogen fîhlen kçnnte, doch fîrchtet sie dies hauptschlich deshalb, weil sie ihre Macht nicht teilen mçchte. Dies geht m. E. aus dem Kontext und der bisherigen Charakterzeichnung der Agrippina hervor und muß von Tacitus nicht eigens erwhnt werden.

7.2 Ann. 12,23 – 24: Weitere Senatsverhandlungen

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werden sollte. Eine kurze Notiz îber die Verurteilung des Cadius Rufus schließt das Kapitel ab, doch kommt das politisch bedeutende Ereignis in Bezug auf den Prokonsul von Bithynien vor dem Hintergrund der von Agrippina betriebenen Machenschaften kaum zur Geltung.1080 Es entsteht der Eindruck, als wîrden die Geschicke Roms fast ausschließlich von der neuen Kaiserin und ihren Intrigen bestimmt. Das rigorose Vorgehen gegen die zwei vermeintlichen Rivalinnen verdeutlicht im Bericht des Tacitus das maß- und skrupellose Machtstreben der Agrippina, die es glnzend versteht, Claudius fîr ihre Zwecke zu instrumentalisieren.1081 Im Hinblick auf die bereits zum Vorschein gekommene Problematik der kînftigen Thronfolge verheißt dies dem Leser nichts Gutes.

7.2 Ann. 12,23 – 24: Weitere Senatsverhandlungen und die Erweiterung des pomerium Tacitus unterbricht die Darstellung îber die weiteren Schritte der Agrippina zur Sicherung ihrer Macht, um in aller Kîrze auf einige Senatsbeschlîsse hinzuweisen, die keinen Zusammenhang mit dem Geschehen am Kaiserhof aufweisen (ann. 12,23). Der zuletzt genannte Senatsbeschluß betrifft die Erweiterung des pomerium durch Claudius. Tacitus nimmt dies zum Anlaß, um in einem Exkurs die schrittweise erfolgte Ausdehnung der rçmischen Stadtgrenze von der Kçnigszeit an zu beleuchten (ann. 12,24). Die beiden eingeschobenen Kapitel wirken hauptschlich als retardierendes Moment, weshalb auf deren detaillierte Analyse verzichtet werden kann.1082 Es sei lediglich darauf hingewiesen, daß es Tacitus auch hierbei nicht versumt, Claudius durch einen ironischen Kontrast der Lcherlichkeit preiszugeben, s. ann. 12,23,2: et pomerium urbis auxit Caesar, more prisco, quo iis, qui protulere imperium, etiam terminos urbis propagare datur. nec tamen duces Romani, quamquam magnis nationibus subactis, usurpaverunt nisi L. Sulla et divus Augustus. Nachdem sich Claudius im Kapitel zuvor bei der Verurteilung der Lollia Paulina als ahnungsloses Werkzeug der Agrippina hat mißbrauchen lassen und sich damit als unfhig erwiesen hat, auch nur seinen engsten per1080 Vgl. Devillers, 1994, 70; Keitel, 1977, 161: „The only authentic charge in the chapter is tacked on to the end of the false, but more significant ones.“ 1081 Vgl. Seif, 1973, 191; 262. 1082 S. hierfîr Keitel, 1977, 161 – 163.

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7. Ann. 12,22 – 27,1: Weitere Schritte der Agrippina

sçnlichen Bereich zu kontrollieren, wird er nun in eine Reihe gestellt mit großen Persçnlichkeiten und Eroberern wie Sulla und Augustus.1083 Diese hatten als einzige der duces Romani von dem Privileg Gebrauch gemacht, nach großen Feldzîgen die rçmische Stadtgrenze erweitern zu dîrfen. Whrend es heißt, daß andere Feldherren trotz hervorragender Siege gegen auswrtige Vçlker darauf verzichtet htten, werden die Erfolge des Claudius in Britannien, die den Hintergrund fîr seine Erweiterung des pomerium abgeben, an dieser Stelle verschwiegen. Um so anmaßender und îberheblicher erscheint daher seine Maßnahme.1084

7.3 Ann. 12,25 f.: Die Adoption des Domitius In den Kapiteln 25 und 26 des 12. Annalenbuches berichtet Tacitus von der Adoption des Domitius durch Claudius. In der Darstellung des Historikers ist sie der nchste und wohl entscheidende Schritt der Agrippina hin zu dem skrupellos verfolgten Ziel, ihren Sohn auf den Kaiserthron zu setzen. Wirkungsvoll hat Tacitus dieses folgenschwere Ereignis an den Anfang des neuen Jahresberichtes gesetzt,1085 s. ann. 12,25,1: C. Antistio M. Suillio 1086 consulibus adoptio in Domitium auctoritate Pallantis festinatur, qui obstrictus Agrippinae ut conciliator nuptiarum et mox stupro eius inligatus stimulabat Claudium, consuleret rei publicae, Britannici pueritiam robore circumdaret. sic apud divum Augustum, quamquam nepotibus subnixum, viguisse privignos; a Tiberio super propriam stirpem Germanicum adsumptum: se quoque accingeret iuvene partem curarum capessituro. Wiederum tritt Agrippina nicht selbst in Aktion, sondern nutzt die Dienste ihrer Anhnger: Es ist Pallas, der die Adoption des Domitius durch Claudius in die Wege leitet. Dem Leser 1083 S. Seif, 1973, 192; vgl. Devillers, 1994, 70; 292 1084 Vgl. Vessey, 1971, 404. 1085 Mehl, 1974, 108 Anm. 94 weist darauf hin, daß im 12. Annalenbuch die Jahresanfnge mit Ausnahme des Jahres 52 jeweils mit einem weiteren Aufstieg der Agrippina und ihres Sohnes verknîpft sind: Das Jahr 49 mit ihrer Hochzeit (ann. 12,5); das Jahr 50 mit der Adoption Neros (ann. 12,25); das Jahr 51 mit der Verleihung der toga virilis an Nero (ann. 12,41); das Jahr 53 mit der Hochzeit zwischen Nero und Octavia (ann. 12,58); das Jahr 54 mit den Prodigien, die den Tod des Claudius ankîndigen (ann. 12,64); vgl. Keitel, 1977, 164. 1086 Hierbei handelt es sich um den Sohn des berîchtigten Anklgers P. Suillius Rufus (s. ann. 11,1 f.; 4 – 6) und den Bruder des Suillius Caesoninus (s. ann. 11,36,4); s. Koestermann ad loc.

7.3 Ann. 12,25 f.: Die Adoption des Domitius

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ebenfalls vertraut ist die Eile, in der verfahren wird (festinatur). Weiterhin zielstrebig und konsequent verfolgt die Kaiserin ihre Absichten mithilfe einer Intrige nach bewhrtem Muster,1087 und Claudius bleibt vçllig ahnungslos. Daß dem Freigelassenen Pallas an dieser Stelle auctoritas zugeschrieben wird, zeigt deutlich dessen hohen Einfluß und bringt die umgekehrten Machtverhltnisse am Kaiserhof sinnfllig zum Ausdruck.1088 Mit der Aussage, der Freigelassene sei der Agrippina als Vermittler ihrer Ehe eng verbunden und mit der Kaiserin bald auch in ein ehebrecherisches Verhltnis verstrickt gewesen, weiß Tacitus sein vernichtendes Urteil îber die Kaiserin in ann. 12,7,3, wonach es in ihrem Haus keine Sittenlosigkeit gegeben habe, außer wenn es ihrer Herrschaft von Nutzen gewesen sei (nihil domi impudicum, nisi dominationi expediret), nachtrglich zu besttigen.1089 Pallas treibt Claudius nun dazu an (stimulabat), er solle fîr das Wohlergehen des Staates sorgen und dem Knaben Britannicus eine starke Stîtze beigeben. Mîssen bereits diese Worte in Anbetracht der unheilvollen Absichten der Agrippina ußerst ironisch klingen, nutzt Tacitus – wie so oft – auch im folgenden die indirekte Rede zu einer doppelbçdigen Darstellung, welche die gegebenen Zustnde entlarvt und bedrohlich in die Zukunft weist.1090 Um sein Anliegen mit schlagkrftigen Beispielen aus der Vergangenheit zu untermauern, fîhrt Pallas die jeweilige Nachfolgepolitik des Augustus und des Tiberius an. Obwohl sich Augustus auf Enkel hatte stîtzen kçnnen, htten bei ihm die Stiefsçhne in hohem Ansehen gestanden. Und von Tiberius sei neben seinem leiblichen Sohn noch Germanicus adoptiert worden. Beide Exempla sind jedoch fîr den wissenden Leser vçllig fehl am Platz. Betrachten wir zunchst das von Pallas angefîhrte Beispiel des Augustus. Nur zu gut ist aus den Anfangskapiteln der Annalen bekannt, wie es um die schwierige Nachfolgeregelung des ersten Princeps wirklich bestellt gewesen ist: Die Stiefsçhne Tiberius und Drusus wurden zwar mit Ehren îberhuft und von Augustus als potentielle Nachfolger in Betracht gezogen (s. ann. 1,3,1). Doch zumindest im Falle des Tiberius ist in aller Deutlichkeit her1087 Vgl. Keitel, 1977, 164. 1088 Vgl. Koestermann ad loc.: „Tacitus macht in den Annalen nur sparsamen Gebrauch von auctoritas. Wenn er den Begriff hier auf die Person des Freigelassenen îbertrgt, steckt natîrlich bittere Ironie dahinter“; Syme, 1958, 413; Seif, 1973, 194; Mehl, 1974, 131. 1089 Vgl. Mehl, 1974, 131. 1090 Vgl. Seif, 1973, 194 – 196 (bes. 195); Mehl, 1974, 133 f.; Keitel, 1977, 165; Devillers, 1994, 248; O’Gorman, 2000, 109.

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7. Ann. 12,22 – 27,1: Weitere Schritte der Agrippina

vorgetreten, daß dieser keineswegs der ‘Wunschkandidat’ des Augustus fîr seine Nachfolge gewesen ist. Erst in Ermangelung weiterer Alternativen und aus durchaus zwiespltigen Motiven heraus hat er ihn notgedrungen zu seinem Nachfolger erkoren (vgl. ann. 1,3,3; 1,10,7; 6,51,1).1091 Doch nicht nur, daß dieser Vergleich insgesamt vçllig trîgerisch ist.1092 Mit dem Hinweis auf die nepotes Augusti beschwçrt Tacitus im Gedchtnis des Lesers zudem das zu Beginn der Annalen eindrucksvoll gemalte Schreckensbild der ‘bçsen Stiefmutter’ Livia herauf, die ihrem Sohn durch Ausschaltung der anderen Thronprtendenten den Weg zur Macht geebnet haben soll (s. bes. ann. 1,3,3).1093 Die Parallele zur ‘Stiefmutter’ Agrippina ist nicht zu îbersehen: Das Schicksal der in jungen Jahren verstorbenen Caesaren Gaius und Lucius droht im Falle einer Adoption des Domitius seitens des Kaisers auch dem Britannicus. Mag dessen sptere Ermordung auch ohne Agrippinas Wissen oder Zutun erfolgen (s. bes. ann. 13,16,4), so ist sie dennoch mittelbar auf das Wirken der noverca zurîckzufîhren. øhnlich unpassend ist das Beispiel des Tiberius, hat dieser seinen Neffen Germanicus doch keineswegs freiwillig, sondern nur auf ausdrîcklichen Befehl des Augustus hin adoptiert – und dies, obwohl er wie Claudius einen eigenen Sohn gehabt hat (s. ann. 1,3,5). Die von Pallas geforderte Adoption des Domitius wird durch die Beispiele des Augustus und des Tiberius somit keineswegs legitimiert, sondern erscheint im Gegenteil vor ihrem Hintergrund um so ungeheuerlicher: Ohne jeglichen ußeren Zwang soll Claudius durch die Adoption des Domitius seinem eigenen Sohn einen gefhrlichen Konkurrenten zur Seite stellen.1094 Der abschließende Rat des Pallas, Claudius solle sich mit einem jungen Mann umgeben, der einen Teil seiner Sorgen îbernehmen werde (accingeret iuvene partem curarum capessituro), impliziert die von der Agrippina-Partei beabsichtigte Teilhabe des Domitius an der Ausîbung der Macht und lßt somit die politischen Konsequenzen der Adoption hervorschimmern.1095 Doch Claudius ahnt von all dem nichts und willigt bedenkenlos ein, s. ann. 12,25,2: his evictus triennio maiorem natu Domitium filio anteponit, habita apud senatum oratione eundem quem a liberto acce1091 Vgl. Seif, 1973, 195. 1092 S. Koestermann ad loc. 1093 Vgl. Keitel, 1977, 165 f.; zum Motiv der noverca s. o. S. 68. 1094 Vgl. Seif, 1973, 195 f. 1095 Vgl. Seif, 1973, 196.

7.3 Ann. 12,25 f.: Die Adoption des Domitius

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perat modum. adnotabant periti nullam antehac adoptionem inter patricios Claudios reperiri, eosque ab Atto Clauso continuos duravisse. Unter dem Deckmantel der Fîrsorge um das allgemeine Wohlergehen des Staates hat sich der Kaiser erneut fîr die rein persçnlichen Interessen seiner Gattin instrumentalisieren lassen (vgl. evictus).1096 Entsprechend dieser Darstellung hat Tacitus die schwache Persçnlichkeit des Claudius auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er dessen Namen nicht erwhnt: Der Princeps muß als Subjekt zu anteponit in Gedanken ergnzt werden. Schrittweise vollzieht sich vor den Augen des Lesers der von Agrippina eifrig betriebene Aufstieg des Domitius: Ist in ann. 12,9 noch ausdrîcklich von dessen Gleichstellung mit Britannicus die Rede gewesen (s. dort aequari), wird er nun dem leiblichen Sohn des Kaisers sogar vorangestellt.1097 Es entsteht der Eindruck, als seien die einmal eingeleiteten Entwicklungen kaum noch aufzuhalten, zumal sich Claudius offenbar nach Belieben formen, lenken und mißbrauchen lßt. Nicht einmal vterliche Zuneigung vermag der Hçrigkeit und Naivitt des Princeps Einhalt zu gebieten. Vor dem Senat redet er dann genau so, wie es ihm von seinem Freigelassenen eingegeben worden ist. Ein eigenstndiges Urteil scheint ihm erneut gnzlich abzugehen.1098 Die in 1096 Vgl. die hnliche Argumentation des Vitellius in ann. 12,5,3; s. Koestermann ad ann. 12,25,1; Seif, 1973, 194; Mehl, 1974, 132 f.; Keitel, 1977, 166; Devillers, 1994, 248. Ob Tacitus mit evictus eine zustzliche Parallele zum greisen Augustus herstellen mçchte (s. ann. 4,57,3 … precibus uxoris evictus Tiberio Germanicum, sibi Tiberium adscivit [sc. Augustus]; vgl. Mehl, 1974, 131 mit Anm. 297; Keitel, 1977, 166; Devillers, 1994, 151; O’Gorman, 2000, 135) scheint mir zweifelhaft. Whrend die anderen Reminiszenzen an den ersten Princeps inhaltlicher Art leicht in das Bewußtsein des Lesers dringen kçnnen, scheint mir die Wiederholung eines einzigen Wortes nach mehreren Bîchern fîr einen Rîckbezug nicht auszureichen. 1097 Vgl. Seif, 1973, 196; Mehl, 1974, 132: „Durch die Adoption wird Domitius ‘Kronprinz’, weil er lter ist – und mçgen es nur wenige Jahre sein.“ Die Altersangabe triennio maior natu erklrt, warum Domitius den Vorrang vor Britannicus erhalten hat (vgl. anteponit). Mehl (a.a.O.) und Devillers, 1994, 248 meinen, daß Tacitus damit zustzlich auch das Argument des Pallas, wonach der Kaiser durch die Adoption seinem Sohn eine Stîtze geben solle (ann. 12,25,1: … Britannici pueritiam robore circumdaret), als absurd erscheinen lassen mçchte. Diese Ansicht teile ich nicht. Der Altersunterschied von drei Jahren ist gemessen an dem noch jungen Alter der beiden Prinzen nicht so unerheblich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag: Domitius ist zum Zeitpunkt der Adoption 12, Britannicus 9 Jahre alt (s. Koestermann ad ann. 12,25,2). 1098 Vgl. Seif, 1973, 199; Mehl, 1974, 131 f.; Koestermann ad loc.: „Die Absicht, Domitius enger an die Dynastie zu binden, mag bei Claudius von Anfang an

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indirekter Rede prsentierte Bemerkung der nicht nher bekannten periti hebt zum Abschluß des Kapitels die Ungeheuerlichkeit der von Claudius vorgenommenen Adoption des Domitius hervor, indem sie diese als einzigartigen Vorfall innerhalb der langen Geschichte der patrizischen gens Claudia markiert: Von Beginn ihres Urahnen Attus Clausus an habe es in der Familie bislang keinen einzigen Fall einer Adoption gegeben. An dieser Stelle erçffnet sich erneut ein ironischer Kontrast: Whrend Claudius durch die Aufnahme des Domitius in seine Familie also ohne Not mit einer uralten Tradition bricht und damit ehrwîrdige exempla grundlos mißachtet, beruft er sich bei seinem Schritt – die Worte des Pallas nachsprechend – auf die zwiespltigen ‘Vorbilder’ des Augustus und des Tiberius. Dieses absurde Verhalten fllt um so mehr ins Gewicht, als Claudius in antiquarischen Angelegenheiten und insbesondere der eigenen Familiengeschichte als ein ausgewiesener Experte gilt. In seiner berîhmten Rede zum ius honorum der Gallier, hat er sich selbst auf seine ltesten Vorfahren, unter ihnen auch Attus Clausus, berufen (s. ann. 11,24,1).1099 vorhanden gewesen sein (s. zu 12,2,3). Tacitus freilich stellt es so hin, als ob erst die tçnenden Argumente des Freigelassenen, die jener sich dann unbesehen zu eigen machte, den Ausschlag gegeben htten […].“ Syme, 1958, 707 ußert die Vermutung, Tacitus habe in ann. 12,25,1 Material aus der Originalrede des Claudius dem Pallas in den Mund gelegt: „It can be suspected that the historian quietly transferred material from the orations, several times. The freedman Pallas urges Claudius to adopt Nero, for the sake of the ‘res publica’, and for the protection of the young Britannicus; and he cites precedents from the history of the dynasty (XII. 25. 1). Claudius complies, and reproduces the arguments of his mentor […]. Tacitus could easily have invented the arguments and precedents he attributes to Pallas, had it been necessary. But they were presumably ready to hand, in the oration of Claudius [Hervorhebungen von mir].“ Wenn Syme mit seiner Vermutung richtig liegt, darf angenommen werden, daß Tacitus die Worte des Claudius absichtlich dem Pallas zugeschoben hat, um den Kaiser anschließend als willfhrige Marionette des Freigelassenen erscheinen zu lassen (vgl. Mehl, 1974, 132 mit Anm. 298). 1099 Angesichts einer entscheidenden Abweichung im Parallelbericht Suetons (Claud. 39,2: … identidem divulgavit [sc. Claudius] neminem umquam per adoptionem familiae Claudium insertum) vermutet Syme, 1958, 707 erneut eine absichtliche Verschiebung des Tacitus: „This episode reveals another type of transference. According to Suetonius it was Claudius himself who affirmed (repeatedly) that nobody had hitherto entered the Claudian House by adoption. In Tacitus, however, this is the comment of the audience – ‘adnotabant periti […]’ (XII. 25.2)“; vgl. a.a.O. 316 (ebenfalls unter Bezug auf die Sueton-Stelle): „Claudius, when about to adopt Nero although he already had a son, proclaimed more than once that nobody hitherto had secured admission to the house of the

7.3 Ann. 12,25 f.: Die Adoption des Domitius

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Das nchste Kapitel berichtet zunchst von der Reaktion des Senates auf die Rede des Claudius, s. ann. 12,26,1: Ceterum actae principi grates, quaesitiore in Domitium adulatione; rogataque lex, qua in familiam Claudiam et nomen Neronis transiret. augetur et Agrippina cognomento Augustae. Die Worte des Kaisers stoßen in der Kurie auf die gewohnte servile Ergebenheit.1100 Fîr den ahnenden Leser stecken diese Zeilen wiederum voller Ironie: Ausgerechnet fîr eine Maßnahme, die ihn und seinen Sohn ins Verderben stîrzen wird, erntet der Kaiser den Dank der Senatoren. Daß diese – ganz im Gegensatz zum Princeps – die sich abzeichnenden Machtverhltnisse der Zukunft in vollem Umfang erfaßt haben, verrt ihre erlesene adulatio gegenîber Domitius, die Tacitus durch einen nachgetragenen Ablativus absolutus in besonderer Weise hervorhebt.1101 Offenbar mçchte man sich bei dem kînftigen Herrscher ein erstes Mal beliebt machen. Indem das Satzgefîge den Princeps und Domitius eng nebeneinander stehen lßt, hat es ganz den Anschein, als werde in der Sympathiebekundung des Senats der Sohn der Agrippina bereits mit dem Kaiser auf eine Stufe gestellt.1102 Sogleich (vgl. die enge Verknîpfung durch das angehngte -que) wird ein Gesetz auf den Weg gebracht, wonach jener unter dem Namen Nero in die Familie der Claudier aufgenommen werden solle. Damit ist der entscheidende Schritt auf dem Weg zum Kaiserthron getan. Doch auch der Aufstieg (vgl. augetur) der Kaiserin selbst wird betont: Sie erhlt den ehrenden Beinamen patrician Claudii in this manner. On the lips of Claudius the remark was damaging and inept. Tacitus takes it from the Emperor and serves the dignity of history by assigning it to well-informed contemporaries […].“ Es lge demnach dasselbe Phnomen vor wie kurz zuvor in der von Syme vermuteten ˜bertragung des Inhalts der Claudiusrede in den Mund des Pallas (s. o. Anm. 1098). Koestermann ad loc. steht dieser These Symes jedoch ußerst kritisch gegenîber: „Von seinem [=Tacitus] Bedîrfnis, um der Wîrde der Geschichtswerkes willen dem Princeps keine tçrichten und entlarvenden Aussprîche in den Mund zu legen, ist bei ihm sonst nicht viel zu spîren“; vgl. Seif, 1973, 199 f., der Koestermann beipflichtet; Keitel, 1977, 167 versteht die Anmerkung der periti vor allem als „ominous of coming ruin for Claudius and his son […]“ und bietet folgende Lçsung an: „The use of a generalized spectator (adnotabant periti) intensifies the foreshadowing while ridiculing Claudius’ own pretentions to learning and reverence for tradition.“ 1100 Vgl. Mehl, 1974, 134 f. 1101 Koestermann ad loc. sieht in der quaesitior adulatio vielmehr ein Zeichen der „Anhnglichkeit von Senat und Volk an die Familie des Germanicus [mit Verweis auf ann. 11,12,1; 14,7,4].“ 1102 Vgl. Seif, 1973, 196.

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7. Ann. 12,22 – 27,1: Weitere Schritte der Agrippina

Augusta, der sie insbesondere mit Livia gleichsetzt und in gewisser Weise sogar îber diese stellt.1103 Der steile Aufstieg des Domitius und der Agrippina wird nun wirkungsvoll mit der nunmehr hoffnungslos erscheinenden Situation des Britannicus kontrastiert,1104 s. ann. 12,26,2: quibus patratis nemo adeo expers misericordiae fuit, quem non Britannici fortuna maeror adficeret. desolatus paulatim etiam servilibus ministeriis per1105 intempestiva novercae officia in ludibria vertebat, intellegens falsi. neque enim segnem ei fuisse indolem ferunt, sive verum, seu periculis commendatus retinuit famam sine experimento. Die Kombination von relativischem Satzanschluß und Ablativus absolutus (quibus patratis) macht in ihrer prgnanten Kîrze die Mîhelosigkeit deutlich, mit der die Antrge vom Senat angenommen worden sind. Die blitzartig geschaffenen Fakten sind fîr den leiblichen Sohn des Kaisers ein schwerer Schlag. Daß diese Auffassung der consensus omnium gewesen ist, suggeriert Tacitus durch seinen Hinweis auf die gemeinhin empfundene misericordia: Niemanden habe es gegeben, den das Schicksal des Britannicus nicht mit Mitgefîhl und Trauer erfîllt habe. Demnach scheint es eine weithin anerkannte Tatsache gewesen zu sein, daß durch die Adoption des Domitius großes Unrecht begangen worden ist. Darîber hinaus ist die einmîtige misericordia Ausdruck des allgemeinen Wissens um die kînftigen Machtverhltnisse, die allein Claudius nicht wahrhaben mçchte: Obwohl Domitius den Thron noch nicht bestiegen hat, ist Britannicus bereits jetzt um seine Herrschaftsansprîche betrogen. Das erkennt allmhlich auch seine Dienerschaft und wendet sich von ihm ab, um – dem Beispiel des Senats folgend (s. o.) – bei der Machtîbernahme des kaiserlichen Adoptivsohnes auf der 1103 Im Unterschied zu Livia erhlt Agrippina den Titel noch zu Lebzeiten ihres Gatten; vgl. Mehl, 1974, 135; O’Gorman, 2000, 132; Seif, 1973, 198. Ob Tacitus vor diesem Hintergrund zustzlich zum Ausdruck bringen mçchte, daß Claudius mit dem Aufstieg der Agrippina zumindest in politischem Sinne bereits ‘tot’ ist, kann nicht sicher behauptet werden; vgl. Vessey, 1971, 404; Keitel, 1977, 167. 1104 S. Mehl, 1974, 137 f. 1105 So der Vorschlag Sirkers und Nipperdeys fîr das îberlieferte per intempestiva, was von Fisher zu perintempestiva zusammengezogen worden ist (s. hierzu Walker, 1952, 61; vgl. Furneaux ad loc.). Die von Koestermann ad loc. vertretene Ansicht, daß puer gegenîber der Verstrkung des Adjektivs durch per eine Abschwchung des Sinngehaltes“ bedeute, muß jedoch zurîckgewiesen werden: puer erhlt als Gegenbegriff zu noverca einen guten Sinn und lßt dem Kontext der Stelle entsprechend die Schutzlosigkeit des Britannicus noch strker hervortreten.

7.3 Ann. 12,25 f.: Die Adoption des Domitius

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‘richtigen’ Seite zu stehen.1106 In der Darstellung des Tacitus drîcken neben der Lenkbarkeit des Kaisers somit auch Opportunismus und Feigheit dem raschen Aufstieg des Nero ihren Stempel auf: Trotz der weithin herrschenden Betroffenheit wagt es niemand, sich den ungerechten Entwicklungen in den Weg zu stellen. Schutzlos (vgl. desolatus) ist der junge Prinz den Umtrieben der Agrippina ausgesetzt. Bedrohlich taucht auch hier das Schlagwort der noverca auf, welches die intempestiva officia1107 in ironisch-dîsterem Licht erscheinen lßt.1108 Zu diesem Eindruck paßt es, daß auch Britannicus die Bemîhungen seiner Stiefmutter ausdrîcklich als Hohn empfindet (in ludibria vertebat). Vor diesem Hintergrund entfaltet die nachgeschobene Partizipialkonstruktion intellegens falsi eine kausale Semantik, welche den vermittelten Anschein von Trug und Heuchelei indirekt als zutreffend charakterisiert: Weil der Prinz generell ein Gespîr fîr Falschheit besitzt,1109 faßt er die officia als Spott auf. Mit dieser Fhigkeit steht der neunjhrige Knabe in einem aufflligen Gegensatz zu dem Stumpfsinn seines erwachsenen Vaters.1110 Als Erklrung fîr seine Aussage (vgl. neque enim) fîgt Tacitus im Anschluß die weit verbreitete Ansicht (vgl. ferunt) an, wonach Britannicus von seiner geistigen Veranlagung her nicht stumpf gewesen sei. Durch die 1106 Vgl. Nipperdey ad loc.; Koestermann ad loc.: „Die Isolierung des Britannicus machte naturgemß stndig weitere Fortschritte im gleichen Ausmaß, wie die neuen Machttendenzen am Hof erkennbar wurden […].“ Seif, 1973, 197 weist zustzlich auf den hier zum Vorschein kommenden Kontrast zwischen Domitius und Britannicus hin: „In dem Bericht îber die Adoption ist deutlich geworden, daß der einflußreiche Freigelassene Pallas auf seiten der Agrippina und ihres Sohnes stand und fîr sie agierte. Als eine gegenlufige thematische Entsprechung hierzu wirkt nun die Nachricht, daß selbst die untersten Chargen des Palastes, die ‘servi’, sich von Britannicus abwandten. Gerade durch diesen Wechselbezug wird die sich auftuende Kluft zwischen den beiden Prinzen wirkungsvoll herausgearbeitet.“ 1107 Zur Bedeutung dieses Ausdrucks s. Nipperdey ad loc.: „die mit ihrem sonstigem Verhalten nicht im Einklang stehenden Liebesbeweise der Stiefmutter.“ 1108 Vgl. Koestermann ad loc.: „Die officia der Agrippina kçnnen zunchst ernst gemeint gewesen sein (bei Tacitus liegt freilich der Nachdruck auf novercae). Da sie ihres Erfolges sicher war, hatte sie vielleicht das menschliche Bedîrfnis, ihrem Stiefsohn die Lage zu erleichtern.“ Eine solche menschliche Rîhrung bei Agrippina lßt sich dem Bericht des Tacitus m. E. jedoch nicht entnehmen. 1109 Das Partizip Prsens mit Genitiv drîckt eine dauernde Eigenschaft aus, s. KSt I 450 f. Die Wendung intellegens falsi beschreibt somit einen allgemeinen Wesenszug des Britannicus und darf daher nicht bloß auf die konkrete Situation bezogen werden. 1110 Vgl. Seif, 1973, 197; Vessey, 1971, 405; Keitel, 1977, 168.

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7. Ann. 12,22 – 27,1: Weitere Schritte der Agrippina

alternative Deutungsmçglichkeit am Ende des Kapitels wird der Wahrheitsgehalt dieser Meinung jedoch erheblich in Zweifel gezogen. Denn dem kurzen sive verum folgt an strkerer zweiter Position eine lange und inhaltlich reizvolle Alternative, die sich auf eine allgemeine Erfahrung stîtzt:1111 Nachdem Gefahren den Sohn des Kaisers beliebt gemacht htten, habe dieser den guten Ruf behalten, ohne ihn je unter Beweis gestellt zu haben (sine experimento). Somit endet das Kapitel mit einer unpersçnlichen Note, was unmittelbar nach der mitleiderregenden Schilderung etwas îberrascht. Syme sieht die Auflçsung des Sachverhalts im Charakter des Tacitus begrîndet: „Tacitus wears a grim impersonal mask. He will not relent even for the innocent Britannicus […]. A proud reserve was congenial to his nature – or had become so.“1112 Eine plausiblere Erklrung bietet Seif. Seiner Ansicht nach zeigt die Schlußbemerkung, daß Tacitus sich bemîhe, „sachlich zu bleiben und nicht in eine klischeehafte Darstellung abzugleiten, mit der er vielleicht das Mitleid des Lesers fîr Britannicus noch htte steigern kçnnen.“1113 Zum Abschluß der Analyse dieses Kapitels sei noch hervorgehoben, daß Tacitus hier ausdrîcklich von pericula spricht, denen der Prinz ausgesetzt gewesen sei. Diese Information deckt sich mit dem bisherigen Eindruck des Lesers und verfestigt ihn: Der Aufstieg des Domitius bringt Britannicus in eine gefahrvolle Lage. In der Aussage sine experimento steckt zudem ein Vorverweis auf dessen frîhen Tod.1114

7.4 Ann. 12,27,1: Die Grîndung einer Veteranenkolonie (Kçln) als Symbol fîr Agrippinas Macht Als kunstvolle ˜berleitung zu einer Kapitelreihe îber die Ereignisse in Obergermanien berichtet Tacitus îber die von Agrippina durchgesetzte Grîndung einer Kolonie im heutigen Kçln, s. ann. 12,27,1: Sed Agrippina, quo vim suam sociis quoque nationibus ostentaret, in oppidum 1111 Vgl. Whitehead, 1979, 491 f.; 492: „This second idea amounts to a general theory (of sympathetic reputations which are never put to the test).“ 1112 Syme, 1958, 540 mit Bezug auf unsere Stelle. 1113 Seif, 1973, 196; hnlich Keitel, 1977, 168: „Tacitus avoids judging Britannicus or, should we say, he gives the appearance of impartiality (with the generalizing ferunt) and the apparent alternatives (seu …sive) since we have just seen his judgment.“ 1114 Vgl. Vessey, 1971, 405: „Britannicus did not survive long enough to put the claim to the test.“

7.4 Ann. 12,27,1: Die Grîndung einer Veteranenkolonie

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Ubiorum, in quo genita erat, veteranos coloniamque deduci impetrat, cui nomen inditum e vocabulo ipsius. ac forte acciderat, ut eam gentem Rhenum transgressam avus Agrippa in fidem acciperet. Die Anlage der Veteranenkolonie wird allein mit dem Ehrgeiz der Kaiserin motiviert, die ihre Macht (vim suam) auch den verbîndeten Vçlkern demonstrieren will. Damit scheint sich ihr Machtanspruch weit îber Rom hinaus bis zu den ußeren Grenzen des Reiches zu erstrecken. Sie ist die eigentliche Herrscherin (vgl. impetrat) îber das Imperium. Claudius wird bei diesem Ereignis gar nicht erst erwhnt. Der bisherige Bericht îber den steilen Aufstieg der Agrippina wird somit wirkungsvoll abgerundet,1115 bevor fîr etliche Kapitel nunmehr außenpolitische Ereignisse in den Mittelpunkt der Darstellung treten.1116

1115 Vgl. Koestermann ad loc. 1116 Zu den Kapiteln ann. 12,27,2 – 40 (Germanien und Britannien) s. Pfordt, 1998, 103 – 114; Seif, 1973, 245 – 250. Es sei darauf hingewiesen, daß in ann. 12,37,4 im Zusammenhang mit der Begnadigung des Britannierfîrsten Caratacus eine weitere Machtdemonstration der Agrippina dargestellt wird; s. hierzu Mehl, 1974, 136 f.

8. Ann. 12,41 – 43: Die Ereignisse am Kaiserhof des Jahres 51 n. Chr. Die Kapitelreihe ann. 12,41 – 43 dient innerhalb der breit ausgefîhrten Thematik der rçmischen Außenpolitik als eine Art Zwischenbericht îber die Ereignisse am Kaiserhof im Jahr 51 n. Chr. Jedes der drei Kapitel ist jeweils einem der Hauptakteure des 12. Annalenbuches gewidmet und bringt eine weitere Zuspitzung und Beschleunigung der bisher geschilderten Entwicklungen:1117 Zunchst wird der weitere Aufstieg Neros und seine Rivalitt zu Britannicus behandelt (ann. 12,41), dann weitere Maßnahmen der Agrippina zur Vorbereitung der Machtîbernahme ihres Sohnes sowie die erneute Steigerung ihres Einflusses (ann. 12,42), bevor nach einem dîsteren Prodigienkatalog Claudius im Mittelpunkt des Geschehens steht (ann. 12,43). Insgesamt gesehen scheinen dessen Ende und der Triumph der Agrippina immer deutlicher absehbar.1118

8.1 Ann. 12,41: Der weitere Aufstieg Neros und seine Rivalitt zu Britannicus Wie bereits erwhnt, setzt der Bericht îber die weiteren Ereignisse in Rom mit dem Jahr 51 n. Chr. ein. Der Anfang des neuen Jahresberichtes ist erneut mit einem weiteren wichtigen Schritt im politischen Aufstieg des Nero verknîpft, s. ann. 12,41,1: Ti. Claudio quintum Servio Cornelio [Orfito] consulibus virilis toga Neroni maturata, quo capessendae rei publicae habilis videretur. et Caesar adulationibus senatus libens cessit, ut vicesimo aetatis anno consulatum Nero iniret atque interim designatus proconsulare imperium extra urbem haberet ac princeps iuventutis appellaretur. additum nomine eius donativum militi, congiarium plebei. Die Verleihung der toga virilis wird durch das passivische maturata als ungewçhnlich

1117 Vgl. Keitel, 1977, 180; Wille, 1983, 513 f. 1118 Vgl. Devillers, 1994, 72.

8.1 Ann. 12,41: Der weitere Aufstieg Neros

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frîhe Maßnahme besonders betont.1119 Der Leser sieht darin ein weiteres Zeichen fîr die energisch drngenden Krfte hinter dem Aufstieg Neros (vgl. ann. 12,9,1), zumal der nachfolgende quo-Satz keinen Zweifel an dem Zweck dieses Schrittes lßt:1120 Durch die Mnnertoga soll Nero als kînftiger Regent (vgl. capessendae rei publicae) in Erscheinung treten. Vor dem Hintergrund der Britannicus-Problematik erscheint dem Leser das Ereignis nur als weitere Ungeheuerlichkeit, die im folgenden weiter verschrft wird: Mit 20 Jahren soll der Sproß der Agrippina in Zukunft das Konsulat bekleiden, inzwischen als designatus die prokonsularische Gewalt außerhalb der Stadt besitzen und den Titel princeps iuventutis erhalten. Deutlicher kann der dreizehnjhrige Nero wohl kaum zum Nachfolger des Claudius erklrt werden.1121 Durch den Verweis in die Zukunft (vicesimo aetatis anno) scheint seine Laufbahn von nun an programmiert zu sein. Zu diesem Eindruck passen auch die in Neros Namen verteilten Geschenke an Militr und Volk, mit denen offensichtlich die fîr eine reibungslose Thronnachfolge entscheidenden Gruppen auf Neros Seite gezogen werden sollen.1122 Und wiederum ist es der Kaiser selbst, der in vçlliger Verblendung die Verantwortung fîr die ungerechte Zurîckstellung seines eigenen Sohnes trgt (vgl. ann. 12,25,2). Sogar bereitwillig (libens) lßt er sich auf die kriecherischen Forderungen des Senates ein, die sich nahtlos einreihen in die wîrdelosen Szenen vorangegangener Senatssitzungen (vgl. ann. 12,6 f.; 12,9,1 – 2; 12,26,1). Im Zeichen der kînftigen Machtîbernahme Neros stehen auch die folgenden Zeilen, die außerdem den damit verbundenen Gegensatz zu Britannicus eindringlich zur Sprache bringen. Der bisher in diesem Zusammenhang gewonnene Eindruck der skandalçsen Unrechtmßigkeit wird dadurch erheblich gefestigt und verstrkt, s. ann. 12,41,2 – 3: et 1119 Vgl. Koestermann ad loc.: „Es existiert kein Beispiel vor Commodus und Caracalla, daß die toga virilis vor Erreichung des 14. Lebensjahres vergeben wurde“; vgl. Mehl, 1974, 140. 1120 Vgl. Keitel, 1977, 180. 1121 Vgl. Koestermann ad ann. 12,41,1: „Eine solche Kumulation in Hinsicht auf den prsumptiven Thronfolger hatte es bislang noch nicht gegeben“; Seif, 1973, 202 mit Verweis auf ann. 1,3,5: „Die Tatsache, daß fast die gleichen Vorrechte den designierten Nachfolgern des Augustus, Gaius und Lucius Caesar, gewhrt worden waren, deutet auf den tieferen Sinn hin: Die Verleihung all dieser Privilegien, von denen Tacitus nur die wichtigsten nennt, kommt praktisch der Designation Neros zum Nachfolger des Claudius gleich.“ Zustzlich hebt Seif a.a.O. darauf ab, daß auch die Bezeichnung der entsprechenden Antrge als adulationes Nero als den kînftigen Princeps ausweisen. 1122 Vgl. Seif, 1973, 202.

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8. Ann. 12,41 – 43: Die Ereignisse am Kaiserhof des Jahres 51 n. Chr.

ludicro circensium, quod adquirendis vulgi studiis edebatur, Britannicus in praetexta, Nero triumphali veste travecti sunt: spectaret populus hunc decore imperatorio, illum puerili habitu, ac perinde fortunam utriusque praesumeret. simul qui centurionum tribunorumque sortem Britannici miserabantur, remoti fictis causis et alii per speciem honoris; etiam libertorum si quis incorrupta fide, depellitur tali occasione. obvii inter se Nero Britannicum nomine, ille Domitium salutavere. quod ut discordiae initium Agrippina multo questu ad maritum defert: sperni quippe adoptionem, quaeque censuerint patres, iusserit populus, intra penates abrogari; ac nisi pravitas tam infensa docentium arceatur, eruptura in publicam perniciem. commotus his quasi criminibus optimum quemque educatorem filii exilio aut morte adficit datosque a noverca custodiae eius imponit. Die Beschreibung des Auftritts der beiden Prinzen bei einem Zirkusspiel spricht fîr sich selbst: Whrend Britannicus in der Toga praetexta eines Knaben (puerili habitu) bekleidet erscheint, wird Nero im Triumphgewand eines Imperators (decore imperatorio) gleichsam als strahlender Sieger in der Frage der Thronfolge prsentiert. Die Machtverhltnisse der Zukunft, die auf staatsrechtlicher Ebene bereits in feste Bahnen gelenkt worden sind, sollen nun dem Volk in aller Deutlichkeit vor Augen gefîhrt werden (spectaret populus … ac perinde fortunam utriusque cognosceret). Nachdem der Senat seine Zustimmung gegeben hat, ist nun also das Volk (populus!) als zweite tragende Sule des rçmischen Staates aufgefordert, Nero als kînftigen Herrscher anzuerkennen. Nicht ohne tieferen Sinn verfolgen die veranstalteten Spiele daher den ausdrîcklich genannten Zweck, die Gunst der §ffentlichkeit zu gewinnen (adquirendis vulgi studiis). Der gesamte Textabschnitt des ersten Paragraphen ist sprachlich und stilistisch ußerst kunstvoll ausgestaltet, wie insbesondere Seif herausgearbeitet hat: „Die vier Glieder Britannicus (a1) in praetexta (b1), Nero (a2) triumphali veste (b2), hunc (a2) decore imperatorio (b2), illum (a1) puerili habitu (b1), sind ihrem Inhalt nach chiastisch aufeinander bezogen. Zugleich herrscht aber auch ein strenger Parallelismus, insofern jeweils auf die Erwhnung der Prinzen eine nhere Angabe îber ihre Bekleidung folgt. Doch wird diese Parallelitt aufgelockert durch die sprachliche Inkonzinnitt im ersten Paar – dem Prpositionalausdruck in praetexta entspricht der Ablativ triumphali veste – und im zweiten durch den chiastischen Bezug der ablativischen Wortfîgungen decore (a) imperatorio (b) und puerili (b) habitu (a).“1123 Durch diesen Wechselbezug zwischen paralleler und chiastischer Satzstruktur werden in stilistisch 1123 Seif, 1973, 203.

8.1 Ann. 12,41: Der weitere Aufstieg Neros

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brillanter Art und Weise beide Prinzen einerseits als prinzipiell gleichberechtigt, andererseits aber als schon lngst nicht mehr gleichrangig gegenîbergestellt. Fîr den Leser wird wiederum deutlich: Britannicus ist bereits vor dem eigentlichen Regierungsantritt Neros um seinen rechtmßigen Anspruch auf den Thron betrogen. Nero triumphiert in dazu passender Kleidung als zukînftiger Kaiser. Sein immer weiter vorangetriebener Aufstieg geht zudem einher (simul) mit einer zunehmenden Isolation und Zurîckdrngung seines Stiefbruders. Tribunen und Zenturionen, die Mitleid mit dem Schicksal des Britannicus haben, werden kurzerhand aus frei erfundenen Grînden (fictis causis) oder unter dem Vorwand der Befçrderung (per speciem honoris) willkîrlich entfernt. Ebenso vertrieben werden Freigelassene, deren Treue zu dem leiblichen Sohn des Claudius weiterhin ungebrochen ist (incorrupta fide).1124 Die Ausdrucksweise des Tacitus macht deutlich, wie diese Vorgnge moralisch zu bewerten sind. Durch eine passivische Diktion (remoti / depellitur) vermeidet er eine direkte Beschuldigung der Agrippina und ihrer Clique. Doch aus der im Anschluß vorgetragenen Anekdote, welche die allgemeine Aussage an einem konkreten Beispiel (tali occasione) anschaulich macht, geht eindeutig hervor, daß die Frau des Claudius die Urheberin dieser fadenscheinigen und perfiden Maßnahmen ist. Sie enthîllt weiterhin, wie es die Kaiserin versteht, selbst nichtige Ereignisse fîr ihre Absichten fruchtbar zu machen (ut discordiae initium). Die geschilderte Lappalie, daß der junge Britannicus Nero mit dessen frîheren Namen Domitius begrîßt hat, wird von ihr auf theatralische Weise (multo questu) zur gefhrlichen Staatsaffre (vgl. in publicam perniciem) erhoben, indem sie den bei aller Provokation1125 doch immer noch recht harmlosen Vorfall als schwerwiegende Mißachtung der Adoption und der durch Senat und Volk getroffenen Entscheidungen hinstellt (quaeque censuerint 1124 Keitel, 1977, 181 weist in diesem Zusammenhang auf die Gleichartigkeit der Motive in der Beschreibung des Britannicus in ann. 12,26 und 12,41 hin: „The same motifs surround the portrayal of Britannicus in 12.41 and 12.26. Again his situation and destiny are only too clear and pitiable […]. Again he is separated from attendants […]. Again there is a reference to his stepmother’s intrigues […]“; vgl. Devillers, 1994, 154. 1125 Seif, 1973, 204 f. meint aufgrund des Berichtes îber die „oppositionelle Haltung des Britannicus Agrippina gegenîber“ (ann. 12,26,2), daß Tacitus „die Szene so verstanden wissen wollte, daß Britannicus Nero und dessen wachsame Mutter absichtlich brîskierte, um damit seinen Unwillen îber die Adoption kundzutun“; vgl. Mehl, 1974, 138 f.; Keitel, 1977, 181.

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patres, iusserit populus).1126 Ihre Klagen werden von Tacitus in indirekter Rede vorgebracht. Im Munde der dreisten Intrigantin entfaltet der Vorwurf der pravitas tam infensa eine Ironie, welche die Scheinheiligkeit und Heuchelei der Agrippina nach außen kehrt.1127 Um so lcherlicher muß es wirken, daß Claudius sich von solchen ‘Verbrechen’ (man beachte das einschrnkende quasi) tatschlich beeindrucken lßt (commotus). Bezeichnenderweise wird der Kaiser auch an dieser Stelle namentlich nicht erwhnt, sondern muß inhaltlich ergnzt werden. Gemessen an dem nichtigen Anlaß und der betont hervorragenden Eignung der beschuldigten Erzieher (optimum quemque educatorem) sind seine harten Strafen vçllig îberzogen (exilio aut morte adficit) und kurzsichtig. In vçlliger Abhngigkeit von Agrippina setzt er ausgerechnet von ihr, der Stiefmutter, bestellte Mnner zur ˜berwachung seines Sohnes ein. Die bedrohlich wirkende Zusammenstellung der Begriffe noverca und custodia lßt die gefhrliche Situation des Britannicus deutlich anklingen: Der junge Prinz wird zunehmend der Kontrolle seiner Gegner unterworfen.

8.2 Ann. 12,42: Weitere Maßnahmen der Agrippina zur Vorbereitung der Machtîbernahme ihres Sohnes sowie die Steigerung ihres Einflusses Wie in den vorangegangenen Passagen des taciteischen Berichtes deutlich geworden ist, baut Agrippina ihre Machtstellung immer weiter aus. Sie steht nun vçllig im Mittelpunkt der Darstellung.1128 Nachdem sie am Kaiserhof die Weichen fîr die politische Zukunft ihres Sohnes weitgehend gestellt und auch die Kontrolle îber die Erziehung des Britannicus erlangt hat, geht sie nun daran, den vielleicht wichtigsten Schritt zur endgîltigen Sicherung ihrer Machtposition zu unternehmen: Durch die Einbindung der Prtorianergarde in ihre machtpolitischen Ambitionen mçchte sie die Rahmenbedingungen fîr einen reibungslosen Macht1126 Vgl. Seif, 1973, 204 f.; Mehl, 1974, 139: „Agrippina mißbraucht hier die alte geheiligte Formel genauso wie Vitellius, als er fîr die Ehe Claudius–Agrippina intrigierte [ann. 12,5,2].“; Koestermann ad loc. 1127 Vgl. Devillers, 1994, 249; Mehl, 1974, 139, der zustzlich darauf hinweist, daß auch der Verweis auf das drohende Unheil fîr den Staat (eruptura in publicam perniciem) ironisch auf Agrippina zurîckfllt: In ann. 12,5,1 wurde eine ganz hnliche Befîrchtung in Bezug auf ihre Inzest-Ehe mit Claudius geußert (ne in malum publicum erumperet, metuebatur); Keitel, 1977, 182. 1128 Vgl. Seif, 1973, 206; Devillers, 1994, 72.

8.2 Ann. 12,42: Weitere Maßnahmen der Agrippina

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wechsel zugunsten Neros bereiten.1129 Weil sie jedoch fîrchten muß, daß die bisherigen Befehlshaber îber die prtorischen Kohorten, Lusius Geta und Rufrius Crispinus, im Gedenken an Messalina zu deren Kindern Britannicus und Octavia halten, muß sie zur Erlangung ihrer Ziele fîr deren Abberufung sorgen, s. ann. 12,42,1: Nondum tamen summa moliri Agrippina audebat, ni praetoriarum cohortium cura exsolverentur Lusius Geta et Rufrius Crispinus, quos Messalinae memores et liberis eius devinctos credebat. Der Ausdruck summa moliri lßt keinen Zweifel mehr an den tatschlichen Absichten der Agrippina aufkommen: Sie mçchte Claudius stîrzen, um zusammen mit ihrem Sohn die Herrschaft îbernehmen zu kçnnen.1130 Agrippina handelt in gewohnter Manier berechnend und wohlîberlegt. Sie îberstîrzt nichts, sondern plant langfristig und nimmt ihre Ziele behutsam in Angriff. Dies wird an dieser Stelle nicht zuletzt auch durch den adversativen Anschluß des Kapitels (nondum tamen …), der dem 1129 Vgl. Syme, 1958, 591 (mit inhaltlichem Bezug auf die hier behandelte Stelle): „The control of dominant positions safeguarded the transmission of the power when Claudius died.“ 1130 Vgl. Keitel, 1977, 182: „In 12,42 Tacitus states frankly what he has been building toward for some time: Agrippina is seeking the throne itself.“ Keitel (a.a.O.) verweist zudem in Hinblick auf den Ausdruck summa auf den gleichen Sprachgebrauch des Tacitus in ann. 11,26,5 (=11,26,3); s. auch Seif, 1973, 206 mit Verweis auf ann. 12,8,2, wo die hier zum Vorschein kommenden Absichten der Kaisergattin ein erstes Mal angedeutet werden, als Seneca aus dem Exil zurîckgerufen und zum Erzieher des Nero ernannt wird: utque … consiliis eiusdem (sc. Senecae) ad spem dominationis uterentur, quia Seneca … infensus Claudio dolore iniuriae credebatur. Zum Ausdruck summa moliri vgl. die ersten Maßnahmen der Agrippina zur Vorbereitung der Machtîbernahme ihres Sohnes in ann. 12,3,2: struere maiora nuptiasque Domitii … et Octaviae … moliri (sc. Agrippina). Die sprachliche Parallelitt der beiden Stellen verdeutlicht nicht nur das schrittweise erfolgende und planmßige Vorgehen der Kaiserin, sondern bringt auch eine Steigerung bezîglich ihrer Ambitionen sinnfllig zum Ausdruck: Aus den angestrebten maiora (so auch ann. 12,9,1) ist nun ein summa geworden, wie Keitel, 1977, 182 treffend bemerkt; zu den Verben moliri und struere im Hinblick auf Agrippina s. Mehl, 1974, 142 und insbesondere 102, Anm. 44 (im Zusammenhang mit ann. 12,3): „Die Verben struere und moliri kennzeichnen Agrippinas skrupellosen Weg zur Macht […], parallelisieren aber auch Agrippina mit Messalina (vgl. ann. 12,22,1 mit 11,12,1 […]) und mit ihrem kînftigen Gegenspieler Narcissus, der 11,29,1 als Appianae caedis molitor vorgestellt worden ist, wie Agrippina 13,1,1 als L. Silano necem molita bezeichnet wird (zu struere und moliri bei Agrippina vgl. noch 12,42,1; 14,7,6; [14],11,1; hnlich 12,64,1 [flschlich fîr 12,64,2]: agere et celerare). Tacitus hat mit diesen Verben ein Leitmotiv fîr Agrippina geschaffen […].“

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Leser nach den vorangegangenen Schilderungen zunchst wie ein retardierendes Moment erscheinen mçchte,1131 deutlich. Daß aber diese scheinbare Verzçgerung bei weitem keinen Stillstand im Machtstreben der Kaisergattin darstellt, sondern lediglich Ausdruck ihres taktierenden Vorgehens ist, zeigen die nun folgenden Stze, in denen geschildert wird, wie sie die Prtorianer unter ihren Einfluß bringt: s. ann. 12,42,1: igitur distrahi cohortes ambitu duorum et, si ab uno regerentur, intentiorem fore disciplinam adseverante uxore, transfertur regimen cohortium ad Burrum Afranium, egregiae militaris famae, gnarum tamen cuius sponte praeficeretur. Mit der Behauptung, daß die Prtorianerkohorten durch die Rivalitt zweier Befehlshaber auseinandergerissen wîrden und die Disziplin unter dem Kommando eines einzigen Mannes strenger sein werde, verschafft sich Agrippina bei ihrem Gatten Gehçr. Keitel hat auf den ironischen Charakter dieser Begrîndung verwiesen: „Of course the royal house, not the praetorian guard, is torn apart by the rivalry of Nero and Britannicus, or more accurately, of Claudius and Agrippina.“1132 Hierdurch wird dem Leser auch an dieser Stelle das Scheinhafte der Argumentation bewußt.1133 Indem sich Agrippina durch ihre vorgegebene Sorge um die Disziplin der Soldaten als Vertreterin des vetus mos prsentiert, wird in ihrem Verhalten ein deutlicher Kontrast zwischen Schein und Wirklichkeit offenkundig, hatte Tacitus doch wenige Kapitel zuvor ihre Stellung – immerhin bezîglich ihres Auftretens vor dem Heer – als novum sane et moribus veterum insolitum (ann. 12,37,4) beurteilt.1134 Agrippina erreicht die gewînschte Ablçsung der beiden bisherigen Prtorianerprfekten durch Afranius Burrus, der zwar nach der Aussage des Tacitus ein ausgezeichneter Militr war, aber genau wußte, wem er diese neue Machtstellung zu verdanken hatte, und deshalb – so die sich hinter dieser Formulierung verbergende Hoffnung der Agrippina – in Zukunft ein treuer Gefolgsmann der Kaiserin sein werde.1135 Agrippina hat ihr Ziel 1131 Vgl. Seif, 1973, 206: „Die Aussage des Hauptsatzes scheint zunchst auf eine Fermate oder zumindest auf ein Ritardando in der von Agrippina gefçrderten Entwicklung hinzudeuten […].“ 1132 Keitel, 1977, 183. 1133 Im Kapitel zuvor waren ja bereits die der Agrippina unliebsamen Tribunen und Zenturionen fictis causis bzw. per speciem honoris entfernt worden (ann. 12,41,2); vgl. Mehl, 1974, 141. 1134 S. Mehl, 1974, 142. 1135 „Tacitus entlarvt hier Agrippina wieder durch eine der handelnden Personen wie schon ann. 12,26,2 durch Britannicus […]“ (Mehl, 1974, 143 Anm. 408). Zu der etwas aufflligen Zurîckhaltung der taciteischen Formulierung gnarum tamen

8.2 Ann. 12,42: Weitere Maßnahmen der Agrippina

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erreicht, indem sie erneut die leichte Lenkbarkeit und Hçrigkeit des Claudius fîr ihre Interessen ausgenutzt hat. Das Wissen des Prfekten um die ‘wahren’ Hintergrînde seiner Befçrderung steht indessen im Kontrast zur Unwissenheit des Princeps. Am Kaiserhof scheint er der einzige zu sein, der die Machenschaften seiner Gattin nicht durchschaut. Man beachte zustzlich, daß Tacitus den Kaiser in diesem Textabschnitt zum wiederholten Mal namentlich nicht erwhnt. Daß letzten Endes er es war, der auf Betreiben der Agrippina die Einsetzung des Afranius Burrus zum neuen praefectus praetorii vornahm, wird lediglich aus dem absoluten Ablativ adseverante uxore deutlich, der auf indirekte Weise die Diskrepanz zwischen den tatschlichen und vorgeschîtzten Grînden der Kaiserin erneut zum Ausdruck bringt,1136 und auf dem daher wohl nicht zufllig zusammen mit dem Verb transfertur syntaktisch und inhaltlich das volle Gewicht des Satzes zu ruhen scheint. Durch diese Darstellungsweise scheint die Person des Kaisers îberhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Er lßt sich nach dem Willen seiner Gattin beliebig formen. Seine Aufgabe besteht anscheinend nur noch darin, die Befehle zu geben, die ihm Agrippina zuvor eingegeben hat.1137 Die Hçrigkeit des Claudius gegenîber seinen Frauen war îberdies in diesem Kapitel bereits durch die Reminiszenz an Messalina zwischen den Zeilen spîrbar angeklungen: Die beiden bisherigen Prtorianerprfekten sollten nicht etwa aus Loyalitt zu ihrem Kaiser auf der Seite seiner Kinder stehen.1138 In der Darstellung des Tacitus htte sie allein die Erinnerung an deren Mutter Messalina zu einer solchen Parteinahme bewogen, was dem Leser wiederum signalisiert, wie cuius sponte praeficeretur, die Burrus eben nicht als willfhrigen Parteignger der Agrippina charakterisiert, s. Seif, 1973, 207. Burrus unterstîtzt zwar spter zusammen mit Seneca die Herrschaft des Nero, versucht gleichzeitig aber auch, den Einfluß seiner Mutter immer strker zu beschneiden. Den Prtorianerprfekten an dieser Stelle als einen ergebenen Anhnger der Kaiserin zu schildern, wre daher der Darstellung in den spteren Annalenbîchern zuwidergelaufen. 1136 Vgl. Mehl, 1974, 142 Anm. 403: „Diese Worte beziehen sich auf den vorgeschîtzten Grund Agrippinas, der mit dem tatschlichen (credebat) nicht îbereinstimmt.“ Uxore scheint zudem mit besonderer Bitterkeit gesagt zu sein, „da der Gegenstand außerhalb ihrer [sc. Agrippinas] Sphre sich befand“ (Koestermann ad loc.). 1137 Vgl. Koestermann ad loc.: „Erstaunlich ist, daß der Name des Claudius im Zusammenhang mit der einschneidenden Neuerung nicht einmal fllt: Drastischer htte Tacitus die Allgewalt der Agrippina nicht verdeutlichen kçnnen“; vgl. Seif, 1973, 207: „Sie [sc. Agrippina] erweist sich […] als wirkliche ‘socia imperii’, die in wichtigen Angelegenheiten das entscheidende Wort spricht.“ 1138 Vgl. hierzu auch O’Gorman, 2000, 121.

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wenig wirkliche Macht der Kaiser bereits zu Lebzeiten der Messalina gehabt hatte. Betrachten wir die Aussagen der Agrippina an dieser Stelle noch etwas genauer, wird schlagartig eine inhaltliche Parallele klar, die von Tacitus sicherlich nicht ohne Bedacht gezogen worden ist: Mit ganz hnlichen Argumenten und vergleichbaren Motiven hatte zu Beginn des vierten Annalenbuches der Prtorianerprfekt Seian bei Tiberius die Zusammenlegung der îber die Stadt verteilten Prtorianerkohorten in eine Kaserne unter seinem Oberbefehl durchgesetzt.1139 Daß Seian seine dadurch gewonnene Macht dazu benutzen wollte, den Kaiser zu stîrzen, ist dem Leser bekannt. Nach dem eingangs erwhnten Ausdruck summa moliri gibt auch dieser inhaltliche Rîckbezug auf die Umsturzplne des Seian dem Leser klar zu verstehen, welche Absichten Agrippina mit ihrem Treiben verfolgt. Die Situation fîr Claudius bzw. fîr Britannicus erfhrt hierdurch eine dramatische Zuspitzung, die zu einer baldigen Entscheidung in der Thronfrage drngt. Wenn Tacitus nun im Anschluß zu berichten weiß, daß Agrippina ihren eigenen Rang um ein Weiteres erhçhte, indem sie mit einem carpentum das Kapitol hinauffuhr, so tut der Historiker dies nicht, ohne ausdrîcklich auf das (vermeintlich) vollkommen Neuartige dieser Tat hinzuweisen, s. ann. 12,42,2: suum quoque fastigium Agrippina extollere altius: carpento Capitolium ingredi, qui nos sacerdotibus et sacris antiquitus concessus venerationem augebat feminae, quam imperatore genitam, sororem eius, qui rerum potitus sit, et coniugem et matrem fuisse unicum ad hunc diem exemplum est. Agrippina nimmt fîr sich eine Ehrung in Anspruch, die von altersher nur Priestern und heiligen Kultgegenstnden vorbehalten war, und bricht so erneut mit althergebrachten Traditionen. Die historischen Infinitive extollere / ingredi bringen dabei die frevelhafte Leichtfertigkeit zum Ausdruck, mit der sich die Kaiserin îber uralte Sitten und Gebruche, ja sogar îber religiçse Schranken hinwegsetzt.1140 Den neuerlichen Traditionsbruch scheint sie indessen nur deshalb zu begehen, um ihre ohnehin bereits einzigartige Stellung als Tochter eines Feldherrn, als Schwester, Gattin und Mutter eines Herr1139 Vgl. Koestermann ad loc; Mehl, 1974, 142 mit Anm. 404; s. ann. 4,2,1: Vim praefecturae modicam antea intendit [sc. Seianus], dispersas per urbem cohortes una in castra conducendo, ut simul imperia acciperent numeroque et robore et visu inter se fiducia ipsis, in ceteros metus oreretur. praetendebat lascivire militem diductum […]. 1140 Vgl. Keitel, 1977, 183.

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schers1141 noch weiter erhçhen zu kçnnen. Dieses Motiv der Kaiserin drîckt Tacitus freilich nicht aus. Doch durch seine Darstellung, welche das geschilderte Einzelereignis einem îbergeordneten Zusammenhang zuweist, vermittelt er den Eindruck einer von unstillbarer Geltungssucht getriebenen Agrippina, die nach immer weiter reichenden Ehrungen auch fîr ihre eigene Person giert.1142 Denn im Bewußtsein des Lesers ergibt sich aus dem vorgegebenen Rahmen fast automatisch die Triebfeder im Handeln der Kaiserin, zumal sich keine anderen plausiblen Grînde fîr deren Verhalten anzubieten scheinen. Außerdem scheint der hier von Tacitus erweckte Eindruck sehr gut in das bisherige Gesamtbild der Agrippina zu passen, hatte sie doch bereits mehrfach aus hnlichen Motiven heraus nach Ehrungen fîr ihre Person verlangt.1143 Dieser Eindruck hat nun weitreichende Konsequenzen fîr die Interpretation des gesamten Textabschnitts. Denn zu dem Zeitpunkt, als Agrippina das Kapitol hinauffuhr, war ihr Sohn noch nicht der neue Kaiser. Demnach konnte sie sich auch noch nicht damit brîsten, die Mutter eines Herrschers zu sein. Auch wenn Tacitus seine diesbezîgliche Aussage aus der Rîckschau spterer Jahre trifft, ‘beweist’ ihre Fahrt im carpentum an dieser Stelle gewissermaßen ihr Vorhaben, den eigenen Sohn mit aller Gewalt auf den Kaiserthron zu heben. Denn nur unter diesen Voraussetzungen erhlt ihr momentanes Tun fîr den Leser îberhaupt einen tieferen Sinn: Schritt fîr Schritt erfîllt sie sich ihre ehrgeizigen Wînsche, von denen der Kaisersturz zugunsten ihres Sohnes der wohl grçßte ist. Die hier zum Vorschein gebrachte Gier der Agrippina nach immer weiteren Ehrungen lßt nach ihrer denkwîrdigen Fahrt auf das Kapitol den Sturz des Claudius in immer greifbarere Nhe rîcken, erscheint doch dieses Ziel als letzter ihrer Wînsche noch unerfîllt zu sein. Die von Tacitus hier gebotene Zusammenstellung der verschiedenen von Agrippina erlangten Ehrungen ist somit m. E. mehr als bloß eine respektvolle Wîrdigung der „îberragen1141 Sie war die Tochter des Germanicus, Schwester des Caligula, Gattin des Claudius und Mutter des Nero. 1142 Man beachte die direkt am Satzanfang besonders betonende Stellung des Possessivpronomens suum, vgl. Seif, 1973, 207. 1143 So der von Tacitus erweckte Eindruck bei der Verleihung des Augustatitels (ann. 12,26,1), bei der von Agrippina veranlaßten Grîndung der Colonia Agrippinensis (ann. 12,27,1) und bei ihrem Auftreten bei der Begnadigung des Caratacus (ann. 12,37,4), vgl. Seif, 1973, 207 f.; Keitel, 1977, 183 weist darauf hin, daß dieses ehrgeizige Streben der Agrippina nach eigenem Ruhm die Grundvoraussetzung fîr das sptere Zerwîrfnis mit Nero in Buch 13 abgibt.

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den Position dieser Frau“, die Seif darin erblicken mçchte.1144 Sollte Tacitus eine solche Wîrdigung tatschlich beabsichtigt haben – und dies ist doch sehr fraglich –,1145 so htte er sie jedenfalls gleichzeitig mit einer hintergrîndigen Botschaft an den Leser versehen. Bezeichnenderweise hat es Tacitus unterlassen, darauf hinzuweisen, daß bereits der Messalina whrend des kaiserlichen Triumphes îber Britannien gleiche Ehrungen zuteil geworden waren, wie Sueton und Cassius Dio berichten.1146 Letzterer weiß zudem mitzuteilen, daß der Agrippina das Sonderrecht, zumindest bei Feierlichkeiten das carpentum zu benutzen, vom Senat eingerumt worden war.1147 Auch davon finden wir nichts im Bericht des Tacitus, dem es sichtlich darauf ankam, die Einzigartigkeit der Ruhmund Herrschsucht der Agrippina zu betonen (unicum ad hunc diem exemplum), die hier und im folgenden auf dem Hçhepunkt ihrer Machtfîlle unter Claudius dargestellt werden soll.1148 Wie groß der Einfluß der Agrippina mittlerweile ist, beweist eindrucksvoll das Ende des Kapitels. Vitellius, der treue Gefolgsmann der Kaiserin, wird vom Senator Iunius Lupus des Majesttsverbrechens beschuldigt und angeklagt. Doch Agrippina greift ein, s. ann. 12,42,3: inter quae praecipuus propugnator eius (sc. Agrippinae) Vitellius, validissima gratia, aetate extrema (adeo incertae sunt potentium res)1149 accusatione corripitur, deferente Iunio Lupo senatore. is crimina maiestatis et cupidinem imperii obiectabat; praebuissetque aures Caesar, nisi Agrippinae minis magis quam precibus mutatus esset, ut accusatori aqua et igni interdiceret. hactenus Vitellius voluerat. Agrippina stellt sich schîtzend vor ihren praecipuus propugnator. Ihre Position ist dabei inzwischen offenbar so stark geworden, daß sie dem 1144 S. Seif, 1973, 208. 1145 Vgl. Keitel, 1977, 184. 1146 S. Suet. Claud. 17,3: currum eius (sc. Claudii) Messalina uxor carpento secuta est; Cassius Dio 60,22,2 (man beachte hierbei, daß der Triumphzug traditionsgemß auf dem Kapitol endete); freilich ist es mçglich, daß Tacitus hierîber im nicht mehr erhaltenen Teil der Annalen ebenfalls berichtet hat. Doch auch in diesem Falle wre es sehr auffllig, daß ein entsprechender Hinweis auf diese Parallele in ann. 12,42 gnzlich fehlt und stattdessen so getan wird, als sei Agrippinas Wagenfahrt eine absolute Ausnahme gewesen; vgl. insgesamt auch Mehl, 1974, 143 f. 1147 S. Cassius Dio (Xiph.) 61,33,21, der gerade dieses Vorrecht zum Anlaß nimmt, Agrippina als ‘zweite Messalina’ zu bezeichnen! 1148 Vgl. Mehl, 1974, 144. 1149 Zur Verwendung dieser und hnlicher Sentenzen s. Kirchner, 2001, 154.

8.2 Ann. 12,42: Weitere Maßnahmen der Agrippina

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Kaiser jetzt sogar drohen kann.1150 Sie ist nicht mehr auf Bitten angewiesen. Sie hat Claudius nun vçllig unter Kontrolle und macht daraus kein Hehl. Anstatt nun den Angeklagten weiter zu behelligen – was er nach der Aussage des Tacitus auch getan htte, wenn seine Gattin nicht gewesen wre –, bestraft der Kaiser auf Betreiben der Agrippina den Anklger und lßt ihn chten. Durch diesen ironischen Kontrast1151 sind die Verhltnisse fîr den Leser vollkommen auf den Kopf gestellt. Recht und Ordnung sind als Begriffe wertlos geworden und der Willkîr der Agrippina untergeordnet. Nach all den widerwrtigen Schandtaten des dreisten Denunzianten im bisherigen Bericht des Tacitus htte der Leser dessen Verurteilung als große Genugtuung empfunden. Doch er kommt davon und darf sogar noch bei der Bestrafung seines Anklgers entscheidend mitwirken. Denn daß Iunius Lupus nicht noch hrter bestraft wurde, lag angeblich einzig an Vitellius, dessen Wille nicht weiter gegangen war.1152 Deutlicher als in diesen Schlußstzen dieses Kapitels htte Tacitus die nun absolut beherrschende Stellung der Agrippina und ihrer Anhnger am Kaiserhof wohl nicht mehr zum Ausdruck bringen kçnnen. Claudius ist praktisch bereits entmachtet, sein Sturz besiegelt und in Blde zu erwarten. Zu Recht hat Seif in der Anklage gegen Vitellius ein Zeichen der Senatsopposition gegen die zunehmende Macht der Agrippina erblickt und îberzeugend dargelegt, wie im taciteischen Bericht vor diesem Hintergrund die inzwischen fast unumschrnkte Macht der Kaiserin um so deutlicher zutage tritt.1153 Alle Angriffe auf ihre Position kann sie erfolgreich und souvern abwehren und scheint aus derlei Auseinandersetzungen eher gestrkt als geschwcht hervorzugehen. Da der Leser nach der Lektîre des bisherigen Berichts von der Schuld des 1150 „Der Ton zwischen den Ehegatten verschrft sich, Agrippina konnte nur durch Drohungen ihr Ziel erreichen“ (Koestermann ad loc.); vgl. Keitel, 1977, 185. Derlei Drohungen gehçren von nun an mit zu den Mitteln der Agrippina, ihren Willen beim Kaiser durchzusetzen – auch spter bei ihrem Sohn Nero, vgl. ann. 12,64,3; 13,14,2; 13,15,3; vgl. Mehl, 1974, 143 mit Anm. 413; O’Gorman, 2000, 136 Anm. 27, die im Rahmen einer vergleichenden Gegenîberstellung von Livia und Agrippina in den Drohungen letzterer ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal im Verhalten beider Frauen sieht. Zuvor hatte Agrippina beim Kaiser ihren Willen mit Hilfe des Pallas (ann. 12,25,1), durch Klagen (ann. 12,41,3) oder – wie noch vor kurzem – durch Argumentieren (ann. 12,42,1) durchgesetzt, wie Seif, 1973, 208 dokumentiert. Die Drohungen stellen somit eine eindeutige Steigerung in den Mitteln ihrer Einflußnahme dar. 1151 Vgl. Nipperdey und Koestermann ad loc. 1152 S. Nipperdey ad loc. 1153 S. Seif, 1973, 208 f.

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8. Ann. 12,41 – 43: Die Ereignisse am Kaiserhof des Jahres 51 n. Chr.

Vitellius îberzeugt ist, macht sich Agrippina durch ihr Verhalten sozusagen der Mittterschaft schuldig. Das gegen Vitellius gerichtete crimen maiestatis paßt somit ebenso gut zu Agrippina,1154 deren herrschsîchtige Ambitionen hierdurch eine weitere Besttigung erfahren.

8.3 Ann. 12,43: Der Prodigienkatalog und Claudius Nachdem Tacitus auf anschauliche und eindrucksvolle Weise dem Leser die faktische Macht der Agrippina vor Augen gefîhrt hat, deutet er durch einen Prodigienkatalog auf ein kommendes Unheil hin.1155 Zwar wird dieses Unheil nicht konkret genannt. Doch durch den unmittelbaren Anschluß dieses Berichtes an die Darstellung der beiden vorangegangenen Kapitel wird ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den Zeichen und dem dîsteren Treiben der Agrippina nahegelegt, deren Macht immer weiter um sich greift. Das durch die prodigia angekîndigte Verhngnis besteht fîr den Leser damit in dem Ende der Regierungszeit des Claudius, zumal die Vorzeichen auch darauf hindeuten, daß die Situation fîr den Kaiser immer finsterer wird.1156 Wie wir im folgenden noch sehen werden, lassen sich die Prodigien zudem in einzigartiger Weise mit den kommenden Ereignissen am Kaiserhof in Verbindung bringen. Seif hat in seiner Analyse des Vorzeichenkatalogs auf die von Tacitus wohlîber1154 Vgl. Keitel, 1977, 185: „The charges against Vitellius apply equally well to his patron Agrippina.“ 1155 Es handelt sich dabei um den ersten Prodigienkatalog im erhaltenen Teil der Annalen; s. Seif, 1973, 209; Keitel, 1977, 185; Syme, 1958, 312; vgl. Koestermann ad loc. Whrend in der ersten Annalenhexade prodigia oder ostenta eine nur untergeordnete Rolle spielen, scheinen sie von nun an eine wichtige Funktion innerhalb der Erzhlstruktur des Werkes zu îbernehmen, indem sie zukînftige Ereignisse andeuten (s. ann. 12,64,1); vgl. Seif, 1973, 211 mit Anm. 28; Devillers, 1994, 306 f., 309 f.; Keitel, 1977, 186; zur generellen Haltung des Tacitus gegenîber der Bedeutung von prodigia und portenta vgl. Syme, 1958, 522 f.; Walker, 1952, 246 f. 1156 Vgl. Seif, 1973, 209: „[Der Prodigienkatalog] korrespondiert in einer Hinsicht den voraufgehenden Ausfîhrungen: Whrend in den Kapiteln 41 – 42 von letztlich gegen Claudius gerichteten Aktivitten berichtet wurde, deuten die hier aufgereihten Prodigien darauf hin, daß selbst außermenschliche Krfte auf kommendes Unheil hinwirken. Die gesamte Stimmung verfinstert sich fîr den Kaiser“; vgl. Koestermann ad loc., der sicherlich zu Recht die von Furneaux geußerte Ansicht, die Prodigien bezçgen sich mçglicherweise auf die im folgenden dargestellten Verwicklungen im Osten des Reiches (ann. 12,44 ff.) verwirft.

8.3 Ann. 12,43: Der Prodigienkatalog und Claudius

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legte Reihenfolge der insgesamt drei Prodigien hingewiesen und dabei eine Steigerung herausgearbeitet.1157 Als erstes Zeichen lassen sich Unheilvçgel auf dem Kapitol nieder, s. ann. 12,43,1: insessum diris avibus Capitolium, … Wenn dieses Zeichen innerhalb des Kataloges auch ohne direkte Folgen bleibt, so ist dennoch die Tatsache, daß die dirae aves gerade das kultische Zentrum der Stadt befallen, von großer symbolischer Bedeutung und weist zweifellos auf dîstere Entwicklungen in der Zukunft voraus.1158 Nach der Lektîre des vorangegangenen Kapitels erahnt der Leser nun sehr rasch, welche Entwicklungen hier konkret gemeint sind. Denn nicht zufllig lassen sich die Unglîcksboten genau an der Stelle nieder, welche Agrippina kurz zuvor in religiçs frevelhafter Weise durch ihre anmaßende Fahrt im carpentum entweiht zu haben scheint: auf dem Kapitol, dem sakralen Brennpunkt Roms. Im Bewußtsein des Lesers vermag sich so der Eindruck, daß die Kaiserin in engem Zusammenhang mit dem durch die Prodigien angekîndigten ˜bel steht, ein erstes Mal festzusetzen.1159 Im Katalog folgen dann eine Hufung von Erdbeben und eine Hungersnot als weitere unheilvolle Vorzeichen. Im Unterschied zu den Unglîcksvçgeln haben diese beiden Naturkatastrophen nun jedoch unmittelbar schwerwiegende Auswirkungen auf die Bevçlkerung Roms und stiften große Verwirrung, s. ann. 12,43,1: … crebris terrae motibus prorutae domus, ac, dum latius metuitur, trepidatione vulgi invalidus quisque obtriti; frugum quoque egestas et orta ex eo fames in prodigium 1157 S. Seif, 1973, 209 f.; vgl. Devillers, 1994, 309. 1158 Vgl. Koestermann ad loc., der die einschlgigen Parallelstellen zum Erscheinen solcher Vçgel in der lateinischen Literatur gibt; s. u. a. Lucan. 1,558: dirasque diem foedasse volucres; Verg. georg. 1,470 f.: obscenaeque canes importunaeque volucres / signa dabant; Hor. carm. 3,27,1 – 16 (passim); Ov. met. 15,791: tristia mille locis Stygius dedit omina bubo und bei Tacitus selbst hist. 3,56,1: Contionanti – prodigiosum dictu – tantum foedarum volucrum supervolitavit, ut nube atra diem obtenderent; vgl. Mehl, 1974, 144 f., der zudem darauf aufmerksam macht, daß besonders das Erscheinen solcher Vçgel an heiligen Sttten als Staatsprodigium aufgefaßt wurde (mit Verweis auf L. Wîlker: Die geschichtliche Entwicklung des Prodigienwesens bei den Rçmern, Diss. Leipzig 1903, 16 f.). 1159 Vgl. Keitel, 1977, 186: „The agent of ruin is Agrippina, who in the chapter before ascended to the Capitol in the carpentum“; Mehl, 1974, 145; Aumîller, 1948, 95. Im Rîckblick scheint es nun um so verstndlicher zu sein, warum Tacitus in ann. 12,42,2 einen mçglichen Vergleich der Agrippina mit Messalina oder Livia unerwhnt gelassen hat. Das ehrgeizige Streben der Agrippina soll als einzigartiger Frevel in Erscheinung treten, der mit schlimmen Konsequenzen fîr die Zukunft verbunden ist. Das Aufzeigen von parallelen Geschehnissen der Vergangenheit htte diesen Eindruck nahezu zerstçrt.

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accipiebatur. Das Erdbeben, welches Huser zum Einsturz bringt, kann wiederum symbolisch fîr die kînftigen politischen Erschîtterungen gedeutet werden, welche das bereits jetzt schwankende Kaiserhaus – der sprachliche Anklang von prorutae domus an die domus Caesaris lßt diese Assoziation durchaus zu – bald zusammenstîrzen lassen.1160 Die Opfer der Erdbebenkatastrophe sind nach der Aussage des Tacitus nun gerade die Schwchsten (invalidus quisque obtriti) – oder îbertragen auf die Verhltnisse am Hof: Der altersschwache und leicht zu beeinflussende Claudius und der inzwischen so gut wie entmachtete Britannicus.1161 Die Getreideknappheit îbertrifft nun als drittes prodigium die Erdbeben insofern, als dadurch der Kaiser selbst in arge Bedrngnis gert, s. ann. 12,43,1: nec occulti tantum questus; sed iura reddentem Claudium circumvasere clamoribus turbidis, pulsumque in extremam fori partem vi urguebant, donec militum globo infensos perrupit. „In diesem unheilvollen Zeichen, das den Eintritt des kommenden Verhngnisses fîr Claudius scharf markiert, gipfelt der Katalog.“1162 Die Wut und Verzweiflung der stadtrçmischen Bevçlkerung entldt sich gegen den Kaiser, der offenbar in vçlliger Unkenntnis der dramatischen Versorgungslage nichts Besseres zu tun hat, als einer seiner Leidenschaften, nmlich dem ius reddere, nachzugehen.1163 Das adversative sed markiert den Umschwung von heimlichen Klagen der Bevçlkerung hin zu handgreiflichen Maßnahmen und lßt so das erneut verschroben wirkende Verhalten des Kaisers deutlich als den Stein des Anstoßes erscheinen, der den Volkszorn end1160 Vgl. Keitel, 1977, 186; Aumîller, 1948, 95 f.; man beachte dabei auch die von Tacitus gewhlte Ausdrucksweise in ann. 12,1,1, wo nach dem Tod der Messalina ebenfalls eine Vernderung der Machtverhltnisse am Hof stattfand: caede Messalinae convulsa principis domus. In ann. 12,65,2 wird das Kaiserhaus nach Aussage des Narcissus durch die Intrigen der Agrippina schwer erschîttert: … novercae (sc. Agrippinae) insidiis domum omnem convelli. Der Ausdruck prorutae domus gibt demnach „Hinweise nach vorn und nach hinten“ (Mehl, 1974, 145); vgl. Devillers, 1994, 310. 1161 Vgl. Keitel, 1977, 186 mit Verweis auf ann. 13,6,3: invalidus senecta et ignavia Claudius; Mehl, 1974, 145; Devillers, 1994, 310. 1162 Seif, 1973, 210. 1163 Vgl. Mehl, 1974, 145 f.: „øhnlich wie Claudius gegenîber Messalinas Treiben unwissend gewesen und, whrend Messalina und Silius seine Vernichtung planten, seiner Lieblingsbeschftigung als Censor nachgegangen ist, widmet er sich hier weltfremd seiner Passion der Rechtsprechung und erkennt nicht die Situation des Volkes“; vgl. Keitel, 1977, 186. Zur Vorliebe des Claudius fîr die Rechtsprechung s. insbesondere Suet. Claud. 14: ius et consul et extra honorem laboriosissime dixit (sc. Claudius), etiam suis suorumque diebus sollemnibus, nonnumquam festis quoque antiquitus et religiosis.

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gîltig zum ˜berkochen brachte. Die drastisch und eindringlich geschilderte Reaktion der Bevçlkerung lßt den Kaiser in den Augen des Lesers als indirekt verantwortlich fîr die gesamte Misere erscheinen, ohne daß Tacitus eine solche Schuldzuweisung offen zum Ausdruck brchte. Er selbst hat ja ausdrîcklich eine egestas frugum als Ursache des Getreidemangels angegeben.1164 Doch deuten bereits die occulti questus der Menschen in die Richtung einer wie auch immer gearteten Schuld des Princeps. Daß trotz der geringen Getreidevorrte eine regelrechte Katastrophe ausblieb, lag nun nach dem weiteren Bericht des Tacitus allein an der Gîte der Gçtter und der Milde des Winters, s. ann. 12,43,2: quindecim dierum alimenta urbi, non amplius, superfuisse constitit, magnaque deum benignitate et modestia hiemis rebus extremis subventum. Kein Wort lßt der Historiker von den z. T. recht einschneidenden Gegenmaßnahmen des Kaisers verlauten, îber die Sueton im Zusammenhang mit wohl derselben Hungersnot berichtet.1165 Somit bleibt der Eindruck haften, als sei Claudius nicht nur auf irgendeine Weise verantwortlich fîr 1164 Nach Sueton, Claud. 18,2 waren assiduae sterilitates die Ursache fîr die Getreideknappheit. Den Kaiser traf somit wohl kaum eine Schuld, wenngleich die Situation auch durch den Umstand verschrft worden sein mag, daß die von ihm aufgrund einer frîheren Hungersnot in Auftrag gegebenen Hafenanlagen in Ostia (s. hierzu Cassius Dio 60,11,1 ff.) noch nicht fertiggestellt waren, wie Koestermann ad loc. vermerkt. 1165 S. Suet. Claud. 18,2, wo zunchst auch von der hungerleidenden Menschenmenge berichtet wird, die Claudius auf dem Forum massiv bedrngt haben soll, dann jedoch in direktem Anschluß von den Maßnahmen des Kaisers die Rede ist: … nihil non ex[eo]cogitavit [sc. Claudius] ad invehendos etiam tempore hiberno commeatus. nam et negotiatoribus certa lucra proposuit suscepto in se damno, si cui quid per tempestates accidisset, et naves mercaturae causa fabricantibus magna commoda constituit pro condicione cuiusque: civi[s] vacationem legis Papiae Poppaeae, Latino ius Quiritium, feminis ius IIII liberorum; quae constituta hodieque servantur; vgl. Keitel, 1977, 186 und Koestermann ad loc. (bezogen auf die noch folgende Textpassage at hercule …): „Tacitus htte hier eine gute Gelegenheit gehabt, die Verdienste des Claudius hervorzuheben (vgl. dessen grundlegenden Bemîhungen, fîr Abhilfe zu sorgen, von denen Dio 60,11 ausfîhrlich berichtet). Aber seine Abneigung gegen den Kaiser lßt ihn davon absehen.“ Mehls Einwand (1974, 147 Anm. 453), daß Tacitus „der gçttlichen Sphre eines Prodigiums gemß“ die Gçtter und nicht einen Menschen die Getreideknappheit beenden lasse, weshalb man nicht die Abneigung des Historikers gegen Claudius als Grund fîr das Verschweigen der Leistungen des Kaisers annehmen mîsse, reicht in meinen Augen nicht aus, um die Darstellung des Tacitus zu rechtfertigen. In Anbetracht der Grçße der von Claudius unternommenen Anstrengungen wre ein diesbezîglicher Hinweis des Historikers sicherlich mehr als angemessen gewesen.

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die Getreideknappheit gewesen, sondern auch noch unttig oder mit deren Behebung vçllig îberfordert. Und um die Empçrung des Lesers noch zu steigern, lßt Tacitus dann in Form eines scharfen Kontrastes den Blick in die einst ‘ruhmvolle Vergangenheit’ schweifen, als Rom seinen Legionen bis in die entferntesten Provinzen Nachschub an Getreide habe liefern kçnnen, und endet – wiederum kontrastierend – mit einer bissigen øußerung seines Unmuts îber die gegenwrtigen Zustnde, s. ann. 12,43,2: at hercule olim Italia legionibus longinquas in provincias commeatus portabat, nec nunc infecunditate laboratur, sed Africam potius et Aegyptum exercemus, navibusque et casibus vita populi Romani permissa est. Zum Abschluß der Analyse des Kapitels sei noch auf die Feststellung Seifs verwiesen, daß die hierin beschriebenen Wunderzeichen aufgrund der noch relativ milden Konsequenzen der Hungersnot noch einen „Ausweg“ îbrig ließen, wohingegen der sptere Prodigienkatalog in ann. 12,64 dies nicht mehr tue. Dieser wirke dann „wie ein Fanfarenstoß, der das unentrinnbare Verhngnis mit letzter Bestimmtheit ankîndigt.“1166 Mit Bedacht hat Tacitus in seiner Darstellung die prodigia seinem Bericht îber den Machtzuwachs der Agrippina unmittelbar folgen lassen. Der Leser verbindet so das angekîndigte Unheil mit der Person der Kaiserin und wird auf den kînftigen Machtwechsel im Kaiserhaus vorbereitet. Von nun an wartet er gespannt auf den Eintritt des verhngnisvollen Ereignisses.1167 Doch zunchst wendet sich Tacitus in einem lngeren Einschub außenpolitischen Begebenheiten zu.1168

1166 Seif, 1973, 210. 1167 Vgl. Seif, 1973, 211. 1168 Zu ann. 12,44 – 51 (Armenien und Parthien) s. Pfordt, 1998, 108 – 114; Seif, 1973, 251 – 258.

9. Ann. 12,52 – 69 9.0 Vorbemerkungen Die letzten 18 Kapitel des zwçlften Annalenbuches (ann. 12,52 – 69 îber die Jahre 52 – 54) zerfallen in drei Abschnitte mit jeweils 6 Kapiteln pro Jahr, von denen der erste insbesondere den weiteren Werdegang einiger Freigelassenen (v. a. des Pallas und des Narcissus) unter die Lupe nimmt1169 und ebenfalls in drei etwa gleichgroße Segmente unterteilt werden kann: Zunchst werden diverse Vorgnge im rçmischen Senat (ann. 12,52 – 53), dann Unruhen in Iudaea und Kilikien (ann. 12,54 – 55) und schließlich die Feierlichkeiten zur Trockenlegung des Fuciner Sees (ann. 12,56 – 57) behandelt.1170

9.1 Ann. 12,52 – 53: Vorgnge im rçmischen Senat Auch nach dem außenpolitischen Exkurs der Kapitel ann. 12,44 – 51 reißen die Hinweise auf den baldigen Tod des Claudius nicht ab. Tacitus wendet sich wieder den Ereignissen in Rom zu und beginnt seinen Bericht îber das Jahr 52 mit der Verbannung des Furius Scribonianus, dessen Vater Camillus zehn Jahre zuvor einen Putschversuch gegen Claudius unternommen hatte.1171 Gegen den Angeklagten wird ausgerechnet der Vorwurf erhoben, er habe sich bei den fîr ihre astrologischen Kenntnisse berîhmten Chaldern nach dem Ende des Princeps erkundigt, s. ann. 12,52,1: Fausto Sulla Salvio Othone consulibus Furius Scribonianus in exilium agitur, quasi finem principis per Chaldeos scrutaretur. 1169 Vgl. Keitel, 1977, 194. 1170 Vgl. Seif, 1973, 212; Wille, 1983, 517. 1171 Im Jahr 42 wurde der Legat und Statthalter der Provinz Dalmatien L. Arruntius Camillus Scribonianus von seinen Truppen zum Imperator ausgerufen. Nach bereits fînf Tagen von diesen wieder verlassen, wurde der Gegenkaiser auf der Flucht ermordet (Suet. Claud. 13,2), vgl. D. Kienast: Rçmische Kaisertabelle. Grundzîge einer rçmischen Kaiserchronologie (Studienausgabe), Darmstadt 2 1996, 95. Der Bericht des Tacitus îber die Verschwçrung des Scribonianus muß in dem verlorenen Teil seiner Annalen enthalten gewesen sein; vgl. Syme, 1958, 385.

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9. Ann. 12,52 – 69

Die Anklage erweckt den Anschein, als sei das Ende des Kaisers nur noch eine Frage der Zeit, und Scribonianus habe nun mit Hilfe der Astrologie den genauen Zeitpunkt hierfîr erfahren wollen.1172 Der baldige Tod des Claudius bleibt als Thema weiterhin im Bewußtsein des Lesers prsent. Wenn Tacitus nun auch Vibia, die Mutter des Scribonianus, erwhnt, die ebenfalls in die Anklage verstrickt wurde, weil sie mit ihrem bisherigen Schicksal der Verbannung unzufrieden war, tut er dies offenbar auch deshalb, um durch den Grund fîr ihre Relegation gleichzeitig an den einstigen Hochverrat des Camillus Scribonianus erinnern zu kçnnen.1173 Denn das Verbrechen des Vaters dient dem Historiker nun als Hintergrund fîr die Bemerkung, der Kaiser habe es sich als Milde angerechnet, den Sohn eines Staatsfeindes ein zweites Mal am Leben zu lassen,1174 s. ann. 12,52,1 – 2: adnectebatur crimini Vibia mater eius, ut casus prioris (nam relegata erat) impatiens. pater Scriboniani Camillus arma per Dalmatiam moverat; idque ad clementiam trahebat Caesar, quod stirpem hostilem iterum conservaret. Die vermeintliche clementia des Claudius erfhrt direkt im Anschluß eine nachtrgliche Relativierung, welche mit der fîr Tacitus typischen Form einer alternativen Deutungsmçglichkeit gekoppelt ist: Furius Scribonianus stirbt kurze Zeit nach seiner Verbannung – ob er eines natîrlichen Todes gestorben oder einem Giftanschlag zum Opfer gefallen sei, darîber habe man je nach Ansicht unterschiedlich befunden, s. ann. 12,52,2: neque tamen exuli longa posthac vita fuit: morte fortuita an per venenum extinctus esset, ut quisque credidit, vulgavere. Wie so oft ist der Leser geneigt, an die zweite Deutungsmçglichkeit zu glauben und den Giftmord als Todesursache des Scribonianus anzunehmen. Zwar mçchte Whitehead an unserer Stelle keiner der beiden Alternativen einen erkennbaren Vorzug einrumen.1175 Und auch Seif ußert sich in dieser Hinsicht vorsichtig, wenn er bemerkt, daß Tacitus sich „auf keine der ihm vorliegenden Versionen îber das Ende des Scribonianus“ festlege, und auch sprachlich und strukturell „keine eindeutige Akzentuierung“ auszumachen sei. Doch er kommt vçllig zu Recht zu dem 1172 Vgl. Keitel, 1977, 195: „This charge, as the first event of the year, functions as an omen no less than did the prodigia at 12,43 and 12,64“; Seif, 1973, 212; Wille, 1983, 517. 1173 Vgl. Seif, 1973, 212. 1174 Claudius htte Furius Scribonianus als Sohn des Verschwçrers bereits damals hinrichten lassen kçnnen (vgl. Nipperdey ad loc.). Und auch jetzt drohte dem Angeklagten die Todesstrafe; Tacitus scheint hier auf eine Senatsrede des Princeps Bezug zu nehmen; vgl. Koestermann ad ann. 12,52,2. 1175 S. Whitehead, 1979, 484 (B68 = ‘no discernible emphasis’).

9.1 Ann. 12,52 – 53: Vorgnge im rçmischen Senat

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Ergebnis, daß schon durch das Offenbleiben der Alternative die clementia principis „ins Zwielicht“ gerate, und daß mçglicherweise „durch die von Claudius so nachdrîcklich herausgestellte clementia die bereis beschlossene Beseitigung des Scribonianus kaschiert werden“ sollte.1176 Ich denke, daß Seif damit genau den Eindruck ausgesprochen hat, den Tacitus an dieser Stelle seinen Lesern tatschlich vermitteln wollte. Immerhin steht die fîr Claudius mißgînstige Alternative an der strkeren zweiten Position. Daß es dem Historiker darauf ankam, den Kaiser und seine angebliche Milde mit dem Hinweis auf den baldigen Tod des Angeklagten zu demaskieren, scheint mir vçllig unzweifelhaft.1177 Der Giftmord an Scribonianus rîckt damit zumindest in die Nhe des von Tacitus wahrscheinlich beabsichtigten Geschichtsbildes. ˜ber den konkreten Sachverhalt der Anklage gegen Scribonianus hinaus hat Keitel die scharfe Beobachtung gemacht, daß in der von Claudius angefîhrten Begrîndung fîr seine angebliche Milde (quod stirpem hostilem iterum conservaret) noch eine andere, sehr tiefgrîndige Ironie und Doppelbçdigkeit zum Vorschein kommt, wenn man bedenkt, daß der Kaiser in seinem engsten Umfeld Nero als den ‘feindlichen Sprçßling’ seiner Gegnerin Agrippina ebenfalls schont und dadurch sich und seinen eigenen Sohn in große Gefahr bringt.1178 Seine vermeintliche Milde kehrt sich gegen ihn selbst. Nicht ohne ein gehçriges Maß an Sarkasmus berichtet Tacitus dann kurz und knapp îber die vom Senat beschlossene Ausweisung der Astrologen aus Italien, eine Maßnahme, die ebenso hart wie wirkungslos gewesen sei (ann. 12,52,3: de mathematicis Italia pellendis factum senatus consultum atrox et inritum), und zieht somit die Autoritt des rçmischen Senats in Lcherliche. ˜ber diese Feststellung hinaus hat die lapidare Bemerkung des Tacitus in der Forschung bislang wenig Beachtung gefunden. Wenn man sich jedoch vor Augen fîhrt, daß das senatus consultum îber die Ausweisung der Astrologen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verbannung des Scribonianus steht, dessen Vergehen ja 1176 Seif, 1973, 213; vgl. Keitel, 1977, 195. 1177 Vgl. Seif, 1973, 213: „Tacitus hebt also die Kardinaltugend des Prinzipats deshalb hervor, um ihre Pervertierung zu entlarven“; Koestermann ad loc. (S. 197): „clementia im Munde des Kaisers ist fîr Tacitus natîrlich reiner Hohn (wie hnlich 11,3,1)“; S. 198 zur alternativen Deutungsmçglichkeit: „Daß der Historiker dem Kaiser wenig wohlgesinnt ist, kann man auch aus diesem innuendo ersehen“ (mit Verweis auf J. S. Reid: Tacitus as a historian, JRS 11, 1921, 191 – 199, hier 194); vgl. Keitel, 1977, 195; Vessey, 1971, 406 Anm. 65. 1178 S. Keitel, 1977, 195.

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darin bestand, bei solchen mathematici nach dem Ende des Kaisers gefragt zu haben,1179 kann der deutliche Hinweis des Historikers auf die vçllige Erfolglosigkeit dieses Senatsbeschlusses als Fingerzeig auf das nunmehr unabwendbare Ende des Claudius gedeutet werden. Fîr den Princeps gibt es kein Entrinnen mehr aus seiner vorgezeichneten Bahn. Sein Schicksal steht fest, alle Maßnahmen, die zu seiner Rettung getroffen werden, erweisen sich als wirkungslos. Wenn das Kapitel dann mit einem Bericht îber zensorische Maßnahmen des Kaisers endet,1180 so kommt darin gerade auch vor diesem Hintergrund erneut der weltfremde Charakter des Princeps, der in vçlliger Verkennung seiner zunehmend gefhrlichen Situation seinen altvterlichen Neigungen nachgeht,1181 deutlich zum Vorschein, s. ann. 12,52,3: laudati dehinc oratione principis, qui ob angustias familiares ordine senatorio sponte cederent, motique, qui remanendo impudentiam paupertati adicerent. Im Rahmen seines Berichtes îber das Geschehen im Senat fîgt Tacitus in Kapitel ann. 12,53 zunchst einen Antrag des Kaisers an, wonach freie Frauen bestraft werden sollten, die eine Verbindung mit einem Sklaven eingingen, s. ann. 12,53,1: Inter quae refert (sc. Claudius) ad patres de poena feminarum, quae servis coniungerentur; statuiturque, ut ignaro domino ad id prolapsa in servitute, sin consensisset, pro libertis haberentur. Vor dem Hintergrund des in ann. 12,25,1 erwhnten ehebrecherischen Verhltnisses zwischen Agrippina und dem Freigelassenen Pallas haben bisherige Analysen diesen Worten eine ironische Doppelbçdigkeit zugesprochen.1182 Jedoch ist die dabei beanspruchte Parallelitt nur sehr indirekt und nicht ohne Schwierigkeiten herzustellen. Denn Pallas besaß als libertus und aufgrund seiner machtvollen Stellung am Kaiserhof doch einen weitaus hçheren sozialen Status als ein gewçhnlicher servus, auf den das von Claudius beantragte Gesetz abzielt.1183 Auch das vermeintliche Stichwort des ‘ignarus dominus’, das nach Keitel iro1179 Vgl. Seif, 1973, 213. 1180 Zwar hatte Claudius nicht mehr wie im Jahr 47/48 das Amt des Zensors tatschlich inne, doch war es ihm als Kaiser natîrlich weiterhin erlaubt, als Zensor in Erscheinung zu treten; vgl. Koestermann ad ann. 12,52,3; vgl. ann. 2,48,3 (zu hnlichen zensorischen Maßnahmen des Tiberius). 1181 Vgl. Koestermann ad loc., der hier von einer spîrbaren prisca severitas spricht. 1182 Vgl. Seif, 1973, 214; Mehl, 1974, 148; Keitel, 1977, 196; Devillers, 1994, 177. 1183 Wenn der jîngere Plinius den Freigelassenen in einem seiner Briefe servus oder mancipium nennt (epist. 8,6,4 bzw. 8,6,14), ist dies als deutliches Zeichen der Geringschtzung und Abwertung zu verstehen.

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nisch auf den gehçrnten Claudius zurîckfallen soll,1184 ist im gegebenen Kontext nicht ungewçhnlich genug, um die Annahme einer doppelbçdigen Darstellung zu stîtzen. Wenn der Kaiser somit an dieser Stelle nicht als Zielpunkt taciteischer Kritik in Frage kommt, fllt gleichwohl auf Pallas ein negatives Licht, der im weiteren Bericht als vermeintlicher Urheber des Antrags mit Ehren îberhuft wird, s. ann. 12,53,2: Pallanti, quem repertorem eius relationis ediderat Caesar, praetoria insignia et centies quinquagies sestertium censuit consul designatus Barea Soranus. additum a Scipione Cornelio grates publice agendas, quod regibus Arcadiae ortus veterrimam nobilitatem usui publico postponeret seque inter ministros principis haberi sineret. Der dem Kaiser in den Mund gelegten Bezeichnung ‘repertor relationis’ ist die negative Grundhaltung des Historikers gegenîber Pallas zu entnehmen.1185 Die von Barea Soranus beantragten Belohnungen wirken angesichts der tatschlichen Leistung des Freigelassenen auf den Leser maßlos îberzogen. Merkwîrdig mutet auch die Forderung des Scipio Cornelius nach einem çffentlichen Dank fîr Pallas an: Derselbe Scipio, der in ann. 11,4,3 klug und elegant ausweichend geantwortet hatte, lßt sich hier zu einer kriecherischen Bemerkung hinreißen.1186 Sein begrîndender Hinweis auf die vermeintliche Abstammung des Pallas vom arkadischen Kçnigsgeschlecht ist sehr bedenkenswert, kommt in ihr doch der indirekt ausgesprochene Gedanke zum Ausdruck, Pallas habe es eigentlich gar nicht nçtig gehabt, als ein Diener des Princeps aufzutreten. Ihm gebîhre çffentlicher Dank, daß er sich diese offenkundige Erniedrigung trotzdem gefallen lasse. Man merkt an dieser Ausdeutung der von Tacitus gemalten Szenerie, wie îberspitzt die Worte des Scipio sind. Sie kçnnen nicht wirklich ernst gemeint sein und ergeben im Munde des Sprechers nur dann einen rechten Sinn, wenn man sie als ironische Spitze gegen die Verhltnisse am Kaiserhof auffaßt, an dem der Kaiser gegenîber seinen Freigelassenen als der faktisch 1184 S. Keitel, 1977, 196; zu ignarus als Attribut des Claudius s. ann. 11,2,2 und 11,13,1. 1185 Vgl. Mehl, 1974, 148 mit Anm. 459; der Ausdruck repertor wird in dem erhaltenen Teil der Annalen von Tacitus nur im negativen Sinne benutzt, s. ann. 2,30,3 (îber Tiberius): callidus et novi iuris repertor; 4,11,2 (îber Seian): facinorum omnium repertor; 4,71,1 (îber verschiedene Delatoren): ceterique flagitii eius repertores. 1186 Vgl. Koestermann ad loc.; Seif, 1973, 214, der hier von einem „Musterbeispiel der adulatio“ spricht; Keitel, 1977, 197. Auch in ann. 11,2,2 hatte sich Scipio als kluger Antwortgeber erwiesen.

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Untergebene erscheint.1187 Bereits die Tatsache, daß Tacitus den Princeps deutlich darauf hinweisen lßt, daß Pallas fîr seinen Antrag verantwortlich war, deutet in diese Richtung. Claudius ist damit erneut als unselbstndige Marionette seiner hçfischen Umgebung entlarvt. Darîber hinaus ist die hier demonstrierte Abhngigkeit des Kaisers gerade von Pallas fîr den Leser besonders pikant, weil sich der Freigelassene immer wieder als Parteignger der Agrippina erwiesen hat.1188 Daß der Kaiser sich bei seinen Entscheidungen vertrauensvoll auf Pallas verlßt, ist ein weiteres Zeichen fîr seine gutglubige Naivitt und Ignoranz. Claudius scheint in dem weiteren Bericht des Historikers die Antrge der beiden Senatoren trotz ihrer offensichtlichen Schmeichelei tatschlich ernst zu nehmen – man beachte im folgenden das Verb adseveravit! – und lehnt die von Soranus beantragte Geldsumme mit dem Hinweis ab, Pallas sei mit einer Ehrung zufrieden und wolle in seiner ‘bisherigen Armut’ verbleiben, s. ann. 12,53,3: adseveravit Claudius contentum honore Pallantem intra priorem paupertatem subsistere. Durch den nun unmittelbar folgenden Hinweis des Tacitus auf den immensen Reichtum des Pallas wird diese Reaktion des Kaisers zusammen mit der Entscheidung, in einer Verçffentlichung des Senatsbeschlusses den Freigelassenen wegen seiner ‘Sparsamkeit’ mit Lob zu îberschîtten, in vçllige Absurditt gezogen und ins Lcherliche verzerrt:1189 s. ann. 12,53,3: et fixum est publico senatus consultum, quo libertinus sestertii ter miliens possessor antiquae parsimoniae laudibus cumulabatur. Daß Claudius ein Vermçgen von 300 Millionen Sesterzen als ‘paupertas’ bezeichnet, ist fîr den Leser ein deutlicher Beleg fîr den realittsfernen Charakter des Princeps,1190 und auch der Senat lßt durch seine groteske Ehrung fîr Pallas jegliches Gespîr fîr eine angemessene Einschtzung der tatschlichen Vermçgensverhltnisse des Freigelassenen vermissen. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das mit kaiserlicher Zustimmung erfolgte Vorgehen gegen verarmte Senatoren im Kapitel zuvor im Rîckblick als unsachgerecht und unbegrîndet. Nicht zufllig hat daher Tacitus seinen Bericht îber die 1187 Vgl. Koestermann ad loc.; Mehl, 1974, 149 mit Verweis auf S. J. Oost: The career of M. Antonius Pallas, AJPh 79, 1958, 113 – 139, hier 131; Keitel, 1977, 197. 1188 Vgl. Seif, 1973, 215; Mehl, 1974, 149; Keitel, 1977, 197. 1189 Vgl. Seif, 1973, 215; Keitel, 1977, 197 f., die zustzlich auf die Wortwahl des Tacitus aufmerksam macht (a.a.O. 198): „The verb [= cumulabatur] completes the irony when Pallas is heaped with praise as easily as he has heaped up all that money.“ 1190 Vgl. Seif, 1973, 215.

9.1 Ann. 12,52 – 53: Vorgnge im rçmischen Senat

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Ehrungen fîr Pallas seiner kurzen Darstellung îber die zensorischen Entscheidungen des Claudius und des Senates unmittelbar folgen lassen. Seif hat festgestellt, daß „im Gesamtgefîge des Referates îber die Senatsverhandlungen die wirkliche Armut dieser Mnner [= der aus dem Senat entfernten Senatoren] von der kurz darauf erwhnten angeblichen paupertas des Pallas“ absteche.1191 Daß es dem Historiker an dieser Stelle ein besonderes Anliegen ist, den mchtigen Freigelassenen in Verruf zu bringen, zeigen auch die einleitenden Stze des nchsten Kapitels, das von dessen Bruder mit dem Beinamen Felix handelt, der offenbar als Prokurator îber Iudaea nicht die ‘gleiche Bescheidenheit’ gezeigt und aufgrund der starken Position des Pallas gemeint habe, smtliche Schandtaten ungestraft begehen zu kçnnen, s. ann. 12,54,1: At non frater eius, cognomento Felix, pari moderatione agebat, iam pridem Iudaeae impositus et cuncta malefacta sibi impune ratus tanta potentia subnixo. Der ironischsarkastische Unterton der Worte pari moderatione ist nicht zu îberhçren. Zudem unterstreichen diese Zeilen aus der Sicht des Bruders mit allem Nachdruck die einflußreiche Position des Pallas (tanta potentia!) am Hof des rçmischen Kaisers: Wer ihn auf seiner Seite whnt, darf sich als besonders geschîtzt ansehen. Bevor wir jedoch zu einer genaueren Betrachtung des Kapitels ann. 12,54 îbergehen, mîssen wir noch einmal auf die Antrge des Barea Soranus und des Cornelius Scipio zu sprechen kommen, deren eigentliche Aussageabsicht in der bisherigen Forschung sehr umstritten zu sein scheint. Auf den vermeintlichen Bruch in der taciteischen Personendarstellung des Cornelius Scipio haben wir bereits hingewiesen.1192 Im Gegensatz zu Koestermann erklrt Seif dieses Phnomen nicht durch das Vorliegen von Ironie und Sarkasmus, sondern meint, daß sich an d