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German Pages 407 Year 1975
KARL-OTTO APEL
DIE IDEE DER SPRACHE IN DER TRADITION DES HUMANISMUS VON DANTE BIS VICO
2., durchgesehene Auflage 1975
BOUVIER VERLAG HERBERT GRUNDMANN • BONN
( = Archiv für Begriffsgeschichte, Band 8)
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek APEL, KARL-OTTO Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico. (Archiv für Begriffsgeschichte; Bd. 8) ISBN 3 416 01089 2 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen. © Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn 1963. Printed in Germany. Herstellung: Franz Wolf, Heppenheim.
ERICH ROTHACKER † UND GERHARD FUNKE IN DANKBARKEIT UND VEREHRUNG ZUGEEIGNET
INHALT Vorwort ......................................................................................................................................... 5
Einleitung Kap. I Der Humanismus und das Problem einer Geschichte der Sprachphilosophie aus sprachphilosophischer Sicht...........................................................17 Der Sprachhumanismus — ein Weg in die neuere Sprachphilosophie. Andere Wege sind der Nominalismus, die „Zeichenkunst” der „mathesis universalis”, die Tradition der deutschen Logosmystik ........................................ 17 Der geschichtliche Zusammenhang dieser Wege muß aus sprachphilosophischer Fragestellung heraus freigelegt werden. . .............................18 Das Bedürfnis nach einer Geschichte der neueren Sprachphilosophie ergibt sich aus einer Diagnose der gegenwärtigen Situation der (Sprach)Philosophie ...................................................................................................... 21 Die Problematik der „Metasprache” in der logistischen Sprachanalyse als aporetische Freilegung der transzendentalen Funktion der Umgangssprache .................................................................................................................... 23 Sprachphilosophische Konsequenzen aus dieser Situation im Zeichen des Pragmatismus-Behaviorismus bei Ch. Morris und dem späten Wittgenstein .....28 Ist der sprachphilosophische Pragmatismus in der Lage, den Humanismus und die humanistischen Geisteswissenchaften zu begründen? ...................... 30 Kritische Würdigung der Bedeutungstheorie des PragmatismusBehaviorismus .................................................................................................. 31 Innere Nähe des Pragmatismus zur Rhetorik, prinzipielles Verfehlen der sprachlichen „Sinnereignisse”, d. h. der „dichterischen” als der geschichtegründenden Dimension der Sprache. ............................................................33 Deshalb verkürzt der Pragmatismus-Behaviorismus auch das Problem des Weltvorverständnisses der Umgangssprache als geschichtlicher Muttersprache ............................................................................................................. 39 Das Problem eines geschichtlichen Erkenntnisaprioris in der Sicht einer „inhaltbezogenen Sprachwissenschaft" .......................................... 39 Die Deutsche Transzendentalphilosophie auf dem Wege von der Bewußtseinskritik zur Sprachkritik: E. Cassirer, R. Hönigswald, Th. Litt, E. Heintel, J. Derbolav................................................................................................................42 M. Heideggers Philosophie als transzendentale Hermeneutik der Sprache....... 52 Die hermeneutische Selbstvermittlung der Philosophie in ihre geschichtlhe Situation mit Hilfe der Sprachwissenschaft (J. Lohmann) ..................................62 Inwiefern ergibt sich aus der skizzierten Gegenwartssituation der (Sprach)Philosophie die Notwendigkeit und der heuristische Horizont einer Geschichte der Sprachphilosophie? . . ..............................................................67
Der heuristische Horizont einer Vorgeschichte der „technischzientifischen” Sprachauffassung der Gegenwart....................................................................... 68 Der heuristische Horizont einer Vorgeschichte der „transzendentalhermeneutischen” Sprachauffassung ................................................................. 74 Das spezielle Problem einer Geschichte des „Sprach-Humanismus” methodologisch charakterisiert .................................................................................... 83 Der Humanismus und das „Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache” (7. Lohmann) .......................................................................................88 Kap. II Historische Eingrenzung des Themas................................................................. 95 Die drei Abschnitte der Untersuchung: Dante — Humanismus — Vico. Die Frage nach ihrem Zusammenhang ...................................................... 95 Der dreifache Ursprung der modernen Sprachauffassung im Ausgang des Mittelalters: Nominalismus — Logosmystik — Entdeckung der Muttersprache bei den abendländischen Nationen ....................................................... 95 Dante und der italienische Humanismus: die „questione della lingua” als ideelle Anleitung für die europäische Sprachprogrammatik ............................. 100 Der Humanismus als Vermittler zwischen antikem und spezifisch modernem Sprachverhältnis................................................................................................102 Giambattista Vico — der Testamentsvollstrecker des römisch-italienischen Sprachhumanismus im Medium des „natürlichen Systems” der Barockmetaphysik? ........................................................................................................... 102
1. A b s c h n i t t D A N T E UND DIE E N T D E C K U N G DER M U T T E R S P R A C H E IM ABENDLAND ........................................................................................................................................104 Kap. III Dantes Traktat „De vulgari eloquentia” von 1304 als theologisch fundierter Beginn historisch-genetischer Sprachwissenschaft und Programmschrift für die Ausbildung nationaler Schrift-sprachen im Abendland : .................................. 104 Der geschichtliche Hintergrund für Dantes Entdeckung der Muttersprache ..... 104 Der Mensch als Sprachwesen zwischen Tier und Engel...................................................106 Die biblisch-patristisch orientierte Spekulation über den Ursprung der Sprache als Ausgangspunkt historisch-genetischer Fragestellung bis Süssmilch und Herder .........................................................................................................................109 Die babylonische Sprachverwirrung und der Strafcharakter der Sprachverschiedenheit: Dante als Ausgangspunkt einer Ablösung der drei „heiligen Sprachen” Alteuropas durch die nationalen Heilssprachen Neueuropas ...............111 Dantes Entdeckung der lebendigen Entwicklung als Natur der Volkssprachen im Gegensatz zum Latein als der künstlichen "Grammatik" ..................... 115 Dantes programmatisches Anliegen: Aufweis einer einheitlichen ästhetischen Norm für die italienische Volkssprache als Literatursprache ........................... 116 Kap. IV Die europäische Auswirkung der Sprachidee Dantes im Zeichen des nationalen Humanismus. (ein Vorblick) ................................................................. 124
2. A b s c h n i t t D I E F R A G E N A C H DEM S P R A C H B E G R I F F DES HUMANISMUS ............................................................................................................................... 130 Kap. V Die Sprachideologie des römischen Orators als Fundament des europäischen Sprachhumanismus: ......................................................................................... 131 Der klassisch-römische und römisch-katholische Ursprung einer lateinischen Sprachideologie ........................................................................................ 131 Die römische Sprachidee vor dem Hintergrund des hellenistischen Sprachverständnisses .................................................................................................... 135 Der Redner als Schlüsselfigur ............................................................................... 137 Der innere Zusammenhang der hellenistischen Logos-Wissenschaften: Rhetorik, Grammatik und Logik im (stoischen) Begriff des ibhqãk. Die ibǘq| und die Funktion der rhetorischen Topik ........................................... 138 Ciceros Hinweis auf den natürlichen Vorrang der Topik als ars inveniendi vor der Dialektik als ars iudicandi, ein spekulatives Grundmotiv des europäischen Sprachhumanismus ............................................................................ 141 Die indirekte Bestätigung der in ihm enthaltenen sprachphilosophischen Einsicht durch die moderne logistische Sprachkonstruktion ........................... 141 Die pragmatische Dimension der Rede (njǝDŽǐǓ) und die geheime P hilosophie des rhetorischen Humanismus ........................................................... 142 Cicero als ihr repräsentativer Sammelpunkt und römischer Neugründer für die Folgezeit .......................................................................................145 Das hellenistische Verhältnis von Wahrheit und Rede (njǝDŽǐǓ) und die innere Grenze der Argumentationsfähigkeit des Sprachhumanismus im Kampf mit der formalen Logik. . ....................................................................................... 150 Ihre Durchbrechung durch G. B. Vico und die Wahrheitsproblematik der geschichtlichen Muttersprachen angesichts der sprachphilosophischen Ansprüche der Logistik (ein Vorblick) ................................................................... 157
Kap. VI Die Erneuerung der Latinität und der römischen Sprachideologie durch die italienischen Humanisten: ........................................................... 159 Humanismus des Mittelalters und Humanismus der italienischen Renaissance: erste Abgrenzung aus dem Blickpunkt unseres Themas ......................... 159 Das Spracherlebnis Petrarcas: Der Wille zum persönlichen Ausdrucksstil und seine humanistischen Grenzen ..........................................................................162 C. Salutati: seine Weltanschauung und seine Sprachhermeneutik als Keim der humanistischen Geisteswissenschaft ............................................. 171 Die Topoi vom Dichtertheologen bzw. von der göttlichen Inspiration des Dichters: die sprachphilosophischen Grenzen ihrer humanistischen Ausdeutung gegenüber ihrer Erneuerung aus dem Geist der Logosmystik .............. 174 Die ciceronische Sprachideologie bei Poggio Bracciolini, Sicco Polenton und L. Bruni....................................................................................................................................179 L. Bruni und die humanistische Theorie der Übersetzung................................... 181 L. Valla: sein formalistischer Sprachkult als Spiritualisierung des römischen Imperiums...........................................................................................................183
Zusammenfassung: die kulturgeschichtliche Funktion des lateinischen Sprachhumanismus der Renaissance im Vergleich mit der Kulturfunktion seiner antiken Vorbilder: Sprachidealismus als Kompensation institutioneller Selbstverständlichkeit der Sprachform und als Ursprung einer neueuropäischen Bildungs-institution ....................................................................... 185 Kap. VII Die humanistische Sprachidee als Deutungsmaßstab der neu-europäischen Sprachprogrammatik und ihre Einschränkung durch nichthumanistisches Sprachdenken (in Italien, Frankreich und Deutschland) : ........................... 192 a) Vorbemerkung: Der Humanismus und der Geist der modernen Sprachen : .................................................................................................... 192 Exkurs: Zum Humanismusverständnis E. Grassis .......................................... 197 b) Entfaltung und Grenzen der Sprachidee des „umanesimo volgare” in Italien: .............................................................................................................. 201 Die „questione della lingua” als „Wiederholung” der Sprachproblematik Dantes ........................................................................................................................ 201 Leon Battista Alberti: humanistische Würdigung und Programmatik der Volkssprache ................................................................................................. 202 Lorenzo de Medici: Verteidigung der Volkssprache und Sprachenwertung überhaupt......................................................................... 203 Piètro Bembo: Grundlegung des „umanesimo volgare” und des modernen Sprachklassizismus....................................................................................... 205 Die Schüler Bembos und die innere Dialektik des „umanesimo volgare”: Rehabilitierung der „lebendigen” Umgangssprache ....................................... 212 B. Varchi und die Topik des europäischen Sprachhumanismus. .................. 214 Sperone Speroni: Der Sprachhumanismus und seine Kritiker im „Dialogo delle lingue" ....................................................................................................... 215 c) Der Kompromiß des Cinquecento zwischen Sprachhumanismus und nominalistisch orientierter Wissenschaft. ...................................................... 224 1. In der Theorie der Rhetorik und Poetik ..................................................... 224 2. In der rhetorischen Logik und Erkenntnistheorie (M. Nizolius) .................. 227 3. Bei Pico della Mirandola.. ............................................................................... 233 4. In der Entwicklung der technischen Naturwissenschaft ........................... 235 d) Zur Sprachprogrammatik des Humanismus in Frankreich: Du Bellays „Deffense et illustration de la langue Françoise” als Nachahmung Speronis und Keim des französischen Sprachrationalismus........................................ 243 e) Die Ausprägung und Funktion der humanistischen Sprachidee in Deutschland: ................................................................................................ 251 Vorblick: Die Eigenart des deutschen Sprachhumanismus, verglichen mit dem der romanischen Nationen..................................................................... 251 Die Sprachauffassung des deutschen Frühhumanismus nach P. Hankamer........................................................................................................ 258 Der Sprachbegriff M. Luthers als Höhepunkt und Selbstbegrenzung des deutschen Sprachhumanismus im Medium der Logosmystik ....................... 264
Kap. VIII Zusammenfassung des Bisherigen als Antwort auf die Frage nach dem Sprachbegriff des Humanismus ............................................................................................269 Versuch einer systematischen (anthropologischen) Abgrenzung: humanistisches „Bildungswissen”, nominalistisches „Arbeitswissen”, logosmystisches „Erlösungswissen” von der Sprache. .........................................................269 Versuch einer historischen Abgrenzung: Der Sprachhumanismus als bildungsmäßige Bewahrung des spätantiken Sprachverhältnisses zwischen den siegreich vordringenden subjektivistischen Neuansätzen des Nominalismus und der Logosmystik ..................................................................................276 3. A b s c h n i t t DER S P R A C H H U M A N I S M U S I M „ N A T Ü R L I C H E N S Y S T E M DER G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N " : .....................................................280 Kap. IX Der Übergang der humanistischen Sprachideologie zur wissenschaftlichen Sprachenkunde ..................................................................................280 Kap. X Der Humanismus und die nominalistisch-empiristische Programmatik der Sprachwissenschaft bei Francis Bacon: ......................................286 Die Lehre von den Verständigungsmitteln überhaupt: humanistisches Bildungswissen in technisch-szientifischer Sicht ................................................287 Die „Grammatik” und das „regnum hominis” .......................................................290 Bacons Idee einer „philosophischen Grammatik”: Sprachenvergleich und Sprachenwertung in pragmatischer Hinsicht und Völkerpsychologie................292 Bacons methodische Isolierung einer naturwissenschaftlichen Phonetik bzw. Lautphysiologie, verglichen mit Böhmes psychosomatischer Inkarnationslehre .................................................................................................................294 Kap. XI Der Humanismus und die wissenschaftliche (mathematische und psychologische) Reduktion der „inneren Sprachform” bei Leibniz: ....................297 Vorblick: Die geschichtliche Neugründung des Verhältnisses von empircher Sprachenkunde und konstruktiver Sprachlogik durch Leibniz und das. transzendental-philologische (Rest)-Problem des eigentlichen Sprachhumanismus ................................................................................................298 Leibnizens sprachprogrammatische Anknüpfung an den HumanismusNominalismus des Marius Nizolius in der Abhandlung „Über die beste Vortragsweise des Philosophen"...................................................................................302 Die „Ermahnung an die Deutschen ...” als Begründung der Aufklärungsphase der deutschen humanistischen Sprachprogrammatik ............................304 Das Rechenzettel-Motiv als Kriterium der Sprachbeurteilung in den „Unvorgreiflichen Gedanken”........................................................................................305 Das humanistische Programm nationaler Wörterbücher und seine Szientifizierung durch Leibniz............................................................................................306 Die Rationalisierung der barocken Wurzelwort-Spekulation (Lehre von der „Natursprache”) in der Leibnizschen Etymologie ...................................................310 Die Frage nach dem Ursprung des Sinnallgemeinen in der Sprache und das transzendentalphilologische Restproblem einer Begründungsalternative nach Locke oder Leibniz....................................................................................311
Kap. XII Die transzendentalphilologische Entfaltung der geheimen Philosophie des (römisch-italienischen) Sprachhumanismus bei G. B. Vico : ..............................318
a) Die drei geschichtlichen Perspektiven des Vicoverständnisses: Die Philosophie der „deutschen Bewegung`, das „natürliche System” der Barockmetaphysik und die Tradition des italienischen Humanismus............................... 318 b) Vicos Theorie des Verstehens: „mathesis universalis” oder transzendentale Philologie:..................................................................................................... 321 Die erste Form der vicchianischen Erkenntnistheorie als Anknüpfung an das cusanische Grundmotiv der „mathesis universalis”; mathematicus homo creator alter deus. ............................................................................... 321 Die zweite Form der vicchianischen Erkenntnistheorie als transzendentalphilologische Nachkonstruktion der geschichtlichen Welt des Menschen gemäß dem Logos der göttlichen Vorsehung ...................................................... 327 c) Die Idee der „Topik” und der Sprachbegriff Vicos in der kulturkritischen Frühschrift „De nostri temporis studiorum ratione”: ........................................ 337 d) Die Sprachphilosophie der „Scienza Nuova”: .............................................. 344 Die „poetische Logik” der Urzeit als erste „Topik” der Menschheit..................... 344 Die Überwindung des humanistischen Bildungsbegriffs der Sprache: die mythische Weltkonstitution als notgeborene Phantasieschöpfung des endlichen Menschen vor aller begrifflichen Erkenntnis ..................................... 345 Numinose Natursprache — Symbol — Allegorie: Vicos Konstruktion des sympathetischen Weltbildes vor allem transzendentalen Vernunftbezug der Sprache ................................................................................ 352 Die Logik der „phantasiegeschaffenen Universalien” als Topik der „göttlichen” und „heroischen” Sprache ........................................................... 354 Die Entstehung der Lautsprache in drei Phasen: Nacheinander und Ineinander der stummen, hieroglyphischen und „human-epistolaren” (vulgär-konventionellen) Zeichensprache ........................................................... 358 Rhythmisch-musikalische Ritualisierung der archaischen Sprache als Institutionsform des archaischen Lebens. . ....................................................... 364 Entstehung der überlieferten „Redeteile” (partes orationis). 365 Vicos Philosophie der Lautsprache als entwicklungsgeschichtliche Synthese von ljƾǔdžNJ und ǗǞǔdžNJ-Theorie des Sprachursprungs ........................................... 366 Die Frage nach Grund und Bedeutung der menschlichen Sprachverschiedenheit: Locke — Leibniz — Humboldt — Vico. .................. 368 Vicos Konzeption eines „geistigen Wörterbuchs” aller Sprachen als transzendentalphilologische Grundlegung der historischen Geisteswissenschaften in der Etymologie. . . ................................................... 375 Zusammenfassung und Schluß: Vicos transzendentale Philologie als Durchdringung von Sprachhumanismus und christlich-platonischer Logosspekulation, ihre historische und sachliche Beziehung zur Tradition der deutschen Logosmystik............................................................. 377
Register a) Namen ...................................................................................................... 381 b) Sachen und Begriffe .................................................................................. 388
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE Das vorliegende Buch wurde 1953 als Teilprojekt einer historischen Rekonstruktion der „Idee der Sprache im Denken der Neuzeit” konzipiert und 1957 ff. als Habilitationsschrift ausgearbeitet. Seitdem hat sich nicht nur die philologischhistorische Dokumentationsbasis in vieler Hinsicht als unzureichend erwiesen: auch die philosophische Durchdringung des Materials erscheint mir heute als verbesserungsbedürftig — zumindest im Hinblick auf die Klarheit der Darstellung. Diese Umstände ließen eine verbesserte und erweiterte Neuauflage als wünschenswert erscheinen. Ich mußte jedoch einsehen, daß mir zu einer gründlichen Revision weder die Zeit noch die zur Überarbeitung einer Jugendschrift erforderliche Disposition zur Verfügung stehen. Da jedoch andererseits die Fragestellung und der historisch-hermeneutische Rekonstruktionsansatz der Arbeit sich durchaus als aktuell erwiesen haben, so dürfte es sich rechtfertigen lassen, daß im folgenden der bis auf wenige Korrekturen unveränderte Text neu herausgegeben wird. Ich möchte jedoch anstelle der unterlassenen Überarbeitung wenigstens einige Hinweise auf die hauptsächlichsten Mängel und auf die zumindest intendierte Pointe des Buches der Neuauflage voranstellen. Dies scheint mir besonders deshalb notwendig, weil das Buch im Hinblick auf seinen fach-spezifischen Anspruch sich offenbar Mißverständnissen ausgesetzt hat. Wie eingangs schon angedeutet (vgl. auch das Vorwort zur 1. Auflage), entstand die vorliegende Studie im Rahmen des umfassenderen Projekts einer Geschichte der neuzeitlichen Sprachauffassung. Innerhalb dieses Rahmens sollte die Rekonstruktion der humanistischen Sprachidee durch die Rekonstruktion der Sprachidee des Nominalismus (seit Ockham), der mathesis universalis (seit R. Lullus bzw. seit Leibniz) und der Logosmystik (seit Meister Eckhart bzw. seit Jakob Boehme) ergänzt werden. Auch dieses Gesamtprojekt sollte nicht ein historisch-antiquarisches Interesse befriedigen, sondern die vier wesentlichen und bei aller Wechselwirkung unterscheid-baren Traditionsvoraussetzungen des gegenwärtigen Sprachdenkens, insbesondere der Sprachauffassung der Philosophie und der Wissenschaftstheorie der Natur- und Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, freilegen. Die Aktualität einer solchen Fragestellung ergab sich aus dem Umstand, daß in der Gegenwart zwar — erstmals, wie es scheint — alle philosophischen Positionen in der Einschätzung der Sprache als Bedingung der Möglichkeit
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und Gültigkeit des Weltverständnisses und der gesellschaftlichen Vermittlung von Theorie und Praxis übereinkommen, andererseits aber die tiefgehenden Verständigungsschwierigkeiten zwischen den verschiedenen Denkrichtungen gerade auf paradigmatischen Unterschieden der Sprachauffassung zu beruhen scheinen: Das führende Paradigma der Sprachauffassung, das seit Jahrzehnten nicht nur die geistige Signatur der Zeit, sondern darüberhinaus die Infrastruktur der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation bestimmt, hat sich zweifellos zu Beginn des Jahrhunderts durch die von langer Hand vorbereitete Verknüpfung der nominalistisch-empiristischen Sprachauffassung mit der Zeichenkunst der mathesis universalis (bei B. Russell, dem frühen Wittgenstein und im logischen Empirismus, aber auch im linguistischen Strukturalismus und in der Informationstheorie) konstituiert: ich habe es als „technisch-szientifische” Sprachauffassung zu fixieren versucht. Andererseits läßt sich nicht übersehen, daß gerade die Grundlagenproblematik der „technisch-szientifischen” Sprachauffassung, z. B. die reflexionstheoretische Metasprachenproblematik der logischen Konstruktion von Formalsprachen und im Zusammenhang damit die sogenannte „pragmatische” Restproblematik der umgangssprachlichen Kommunikation, immer wieder die innere Grenze des Paradigmas der „technisch-szientifischen” Sprachkonzeption aufgezeigt und dazu geführt hat, daß diese Grenze in Richtung auf ein anderes Paradigma überschritten wurde:1 Ich habe es die „transzendentalhermeneutische” Sprachauffassung genannt und bin davon ausgegangen, daß man ihre — besonders in den sogenannten „Geisteswissenschaften” virulenten — Traditionsvoraussetzungen auf die, zuletzt in der philosophischen Bewegung zwischen Hamann, Humboldt und dem Deutschen Idealismus zur Synthese gebrachten Traditionen der Logosmystik und des SprachHumanismus zurückzuführen hat.
1 ) Seither bin ich diesem Phänomen der Grenzüberschreitung des technisch-szientifischen Sprachparadigmas in der Grundlagenproblematik der sogenannten „sprach-analytischen” Philosophie in methodisch-heuristischer Absicht nachgegangen und glaube darin so etwas wie den Schlüssel zu einer Rekonstruktion der Transzendentalphilosophie gefunden zu haben. Vgl. die in meinem Buch „Transformation der Philosophie”, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1973, gesammelten Arbeiten sowie die folgenden Aufsätze zur Idee einer transzendentalen Sprach-Pragmatik: „Programmatische Bemerkungen zur Idee einer transzendentalen Sprach-Pragmatik” (in: Festschrift f. Sven Krohn, Turku 1973; auch in: Semantics and Communication, ed. by C. H. Heidrich, North Holland Publishing Co, 1974); „The Transcendental Conception of Language-Communication and the Idea of First Philosophy” (in: Communication, I, No. 2, 1974; auch in: H. Parret (ed.): History of Thought and Contemporary Linguistics, Berlin 1974); „Ch. W. Morris und das Programm einer pragmatisch integrierten Semiotik” (Einführung zu Ch. Morris, Zeichen, Sprache und Verhalten, Düsseldorf 1973); „Zur Idee einer transzendentalen Sprachpragmatik” (in: J. Simon (ed.): Aspekte der Sprachphilosophie, Freiburg i. B. 1974).
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Die Beschäftigung mit der Logosmystik und dem Sprach-Humanismus als Traditionsvoraussetzungen der transzendentalhermeneutischen Sprachauffassung führt nun aber in Bereiche der Geistes- und Sozialgeschichte, die normalerweise von der zünftigen Philosophiegeschichte kaum, von den empirischen Geisteswissenschaftlern aber selten in philosophischer Absicht untersucht werden. Die Thematisierung der logosmystischen Tradition theologisch-philosophischen (zumeist nicht orthodoxen) Sprachdenkens, die im vorliegenden Buch nur andeutungsweise, in Gestalt von Hinweisen auf ein Hintergrundphänomen, vorgenommen wird, führt in die für alle Geistesgeschichte paradigmatische Problematik der Säkularisation mythischreligiöser Ideenkomplexe. Der Sprachhumanismus andererseits erschließt sich als ein komplexes Traditionsphänomen der abendländischen Bildungsgeschichte: einerseits hat er seine Keimzelle im sogenannten „Trivium” (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) des hellenistisch-mittelalterlichen Bildungssystem der „sieben freien Künste” und in der in der italienischen „Renaissance” erneuerten sapientiaIdeologie des römischen Rhetors (insbesondere Ciceros) das Zentrum seiner der scholastischen Sprachlogik entgegengesetzten geheimen Philosophie; andererseits bezeichnet er den historischen Rahmen und Reflexionsbereich der Entdeckung und Formierung der konkreten Volkssprachen im Abendland: einmal im Sinne der durch Dante erfolgten Entdeckung und Proklamierung der Muttersprache als Literatursprache, zum anderen im Sinne der humanistisch-philologischen Wiederentdeckung der alten (heiligen) Sprachen, schließlich im Sinne der grammatischen Regulierung der Volkssprachen nach dem Muster der alten Sprachen in „umanesimo volgare”. Diese Thematik führt den Philosophen, der die Traditionsvoraussetzung der gegenwärtig leitenden Sprachauffassung freizulegen wünscht, nach und nach in wenig vertraute Gebiete; in meinem Fall führte sie den Nichtromanisten in den italienischen Kernbereich der rhetorischen Tradition und der romanischen Philologie. Es war mir von vornherein bewußt und ist mir inzwischen noch deutlicher geworden, daß man über den „umanesimo volgare” und die „questione della lingua” bzw. ihre außeritalienischen Entsprechungen (z. B. in Spanien und Frankreich, aber auch in den übrigen europäischen Nationen) mehr wissen kann, als es die folgende Darstellung von sich behaupten kann. Andererseits bin ich auch heute noch fest davon überzeugt, daß die so reichhaltigen und mannigfaltigen Dokumente des europäischen Sprachhumanismus innerhalb des hier entworfenen Koordinatensystems, und das heißt: im Sinne einer Rekonstruktion der Vorgeschichte des Spannungsverhältnisses von technisch-szientifischer und transzendental hermeneutischer Sprach-Konzeption, interpretiert werden müssen. Es bedarf dazu freilich eines „philosophischen Philologen”, wie ihn Herder einst gefordert hat und wie er angesichts der heute erforderlichen sehr verschiedenartigen Kom-
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petenzen als immer schwieriger realisierbar erscheint.2 Angesichts dieser Schwierigkeit, die in Zukunft vielleicht nur noch durch Projekt-Kooperation aufgelöst werden kann, möchte ich mich hier darauf beschränken, die verdient-unverdiente Detail-Kritik der unphilosophischen Philologen dadurch zu beantworten, daß ich die heuristischen Grundgedanken, die für meinen Rekonstruktions-Versuch maßgebend waren, noch einmal besonders herausstelle. Grundlegend war der Gedanke, daß die Idee der Sprache als eines ZeichenInstruments im Dienste primär sprachfreien Denkens und Erkennens — eine Idee, welche die Entwicklung der Sprach-Logik vom aristotelischen „Organon” über den spätscholastischen Nominalismus bis zur Konzeption der logischen Syntax und Semantik formalisierter Wissenschaftssprachen begleitet — durch die implizite (sozusagen „geheime”) Sprachphilosophie des „Humanismus” infragegestellt bzw. in einem komplementären Sinne korrigiert werden kann. Um dies am historisch gegebenen Phänomen sichtbar zu machen, war es indessen erforderlich, über den manifesten Gehalt der rhetorischen Deklamationen der Renaissance-Humanisten einschließlich ihrer Polemik gegen die scholastische Sprachlogik hinauszugehen und die philosophische Pointe des Sprach-Humanismus aus einem größeren geistesgeschichtlichen und systematischen Zusammenhang zu rekonstruieren: Einen ersten heuristischen Gesichtspunkt lieferte hier der Umstand, daß der Sprach-Humanismus als Hausideologie der „Rhetorik” in den Zusammenhang eines Systems der „technai logikai” („artes sermonicales") gehört, in dem auch die Grammatik und die Logik seit ihrer Begründung ihren Platz hatten und aus dem die Sprach-Logik seit Platons Kampf gegen die Sophisten und Rhetoren und seit Aristoteles' Begründung der vom „Dialog” abstrahierenden „Apodeiktik” vergeblich sich zu emanzipieren versuchte. Sie versuchte es durch Trennung der Sprecher-HörerRelation der Kommunikation von der Logos-Sachverhalt-Relation der auf Erkenntnis bezogenen Argumentation, indem sie die erstere Relation der „Rhetorik” und „Poetik” überließ und dafür die letztere der Philosophie als Thema vorbehielt3 (woraus schließlich die Subjekt-Objekt-Relation der neuzeitlichen
2) Er müßte etwa die philosophische Kompetenz einer kritischen Reflexion der wissenschaftslogischen Grundlagenproblematik im Bereich der Konstruktion und Interpretation von Formalsprachen mit einem polyhistorisch-philologischen Wissen und Vermögen vereinigen, wie es Arno Borst in seinem sechsbändigen Werk „Der Turmbau zu Babel: Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker” (Stuttgart 1958—63) an den Tag gelegt hat. — Für die nicht unmittelbar philosophisch relevanten Teile des vorliegenden Buches hätte allein Borsts Werk, das mir bei der Abfassung noch nicht bekannt war, eine weitgehende Überarbeitung nahegelegt. 3) Vgl. den für die Folgezeit maßgeblichen Theophrast-Topos, der bei Ammonius überliefert ist (unten S. 150 ff.).
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Erkenntnistheorie hervorging, welche die Logos-Sachverhalt-Relation als diejenige des vorsprachlidien Verstandes-Urteils über Bewußtseins-Daten auch noch von der sprachlichen Vermittlung des Meinens von etwas als etwas glaubte befreien zu müssen). Das Scheitern dieser versuchten Emanzipation der Sprachlogik vom Dialog (und schließlich noch der Erkenntnis-logik von der Sprachlogik) bekundet sich m. E. in der semiotischen Grundlagenproblematik der modernen Wissenschaftslogik. Diese entdeckte die Logos-Sachverhalts-Relation erneut bzw. erstmals explizit als Sprach-Problem, versuchte sie aber als solche „semantisch” interpretierter SatzSysteme oder Formal-Sprachen erneut von der jetzt sogenannten „pragmatischen” Dimension der Sprecher-Hörer-Kommunikation zu trennen und letztere — diesmal nicht der Rhetorik und Poetik, sondern — der Psychologie bzw. den empirischen Verhaltenswissenschaften zu überlassen. Indem sie aber durch Entäußerung und Vergegenständlichung der Argumentation in der logischen Semantik von axiomatisierten Formalsprachen die aristotelische Trennung der „Apodeiktik” von der „Dialektik” des Dialogs zur Vollendung brachte, führte sie auf das letztlich nicht mehr in formalisierten Systemen zu objektivierende und auch nicht aus der Philosophie zu verdrängende Metaproblem des transzendental-pragmatischen bzw. transzendental-hermeneutischen Zusammenhangs der Logos-Sachverhalt-Relation und der Sprecher-Hörer-Relation (anders gesagt: der Subjekt-Objekt-Relation der Erkenntnis und der Subjekt-Subjekt-Relation der Sinn- und Geltungsverständigung bzw. Konsens-Bildung). Zwei zusammengehörige Problem-Figuren oder Topoi der semiotischen Grundlagenproblematik der modernen Sprachlogik markieren das soeben angedeutete Metaproblem und weisen zugleich auf den Zusammenhang mit dem antikmittelalterlichen System der „artes sermonicales” hin: 1. die Problematik der Umgangssprache als der aktuell zur metalogisch-philosophischen Verständigung benutzten Metasprache der Konstruktion von Formalsprachen und 2. die Problematik der Ergänzung bzw. Integration der zweidimensionalen Sprach-Objektivation in Gestalt der syntaktisch-semantischen Sprachanalyse und Wissenschaftslogik durch eine dritte, sogenannte pragmatische Dimension, die sich nicht mehr vollständig objektivieren läßt, da sie die Sprache mittels der objektiven Deixis der ReferenzAkte und der subjektiv-selbstreflexiven personalen Deixis der performativen Sprech-Akte an der Lebenswelt festmacht. Daß das Programm der dreidimensionalen Semiotik an die Tradition des „Triviums” der „artes sermonicales” anknüpft und damit auch die Tradition des rhetorischen Humanismus und die Grundlagenproblematik der „Humanities” zu thematisieren hatte, war seinem Begründer, Ch. W. Morris, bewußt — wenn er auch die pragmatische Integration der Semiotik ohne Infragestellung des Paradigmas des Logischen Empirismus, u. d. h. durch behavioristisch-empiristische Reduktion
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der pragmatischen Sprach-Dimension glaubte bewältigen zu können.4 Zuvor schon hatte Morris' Vorläufer, der eigentliche Inaugurator der Semiotik des Pragmatismus, Ch. S. Peirce, bewußt an die scholastische Trichotomie von spekulativer Grammatik, Logik und Rhetorik angeknüpft.5 Sofern man nun die ideologischen Spannungen im antik-mittelalterlichen Trivium als einen historischen Schlüssel für das Verständnis der Hausideologie des rhetorischen Humanismus ansehen darf, insofern läßt sich der „pragmatic turn” der modernen Semiotik und Sprachanalyse (z. B. der späte Wittgenstein und die „Ordinary Language Philosophy”) auch als ein systematischer Schlüssel für das tiefere Verständnis der geheimen Philosophie des Sprachhumanismus in Anspruch nehmen. Als eine historische Bestätigung dieser heuristischen Annahme diente dem Verfasser einerseits die schon erwähnte, dem Theophrast zugeschriebene Einteilung der Logosdimensionen bzw. der Logostechnai (unten S. 150 ff), welche die pragmatische Dimension der Rede in ähnlicher Weise, wie es später Carnap versucht hat, von dem Geschäft der logischen Semantik abzutrennen versucht und eben dadurch das im Sprachhumanismus illustrierte und gefeierte Thema der Rhetorik und Poetik als einen philosophisch irrelevanten Bereich ausgrenzt. Diesem Kerntopos der antihumanistischen Sprachlogik korrespondiert nämlich andererseits ein philosophiegeschichtlicher Kerntopos der Hausideologie der Rhetorik: der Hinweis Ciceros auf den Primat der — von der Rhetorik verwalteten — ars inveniendi (der Topik) vor der logischen ars iudicandi (unten S. 90, 141), — ein Topos, der bei Vico, zunächst im Sinne des Bildungsbegriffs der Rhetorik und schließlich im Sinne einer poetischen Welterschließung durch dichterische Sprache, spekulativ entfaltet wird. Bei Cicero kam in prägnanter Form der von Theophrast abgewiesene philosophische Anspruch des Rhetors, der mit der „Topik” die Fülle der Gesichtspunkte der in der Sprache aufbewahrten und in ihr artikulierbaren Weltweisheit (prudentia, sapientia) verwaltet, gegenüber der formalen Beurteilungskompetenz der stoischen Logiker zum Ausdruck. In seinem Geiste haben die italienischen Humanisten seit Salutati ihre Polemik gegen die „Spitzfindigkeiten” der scholastischen Logiker vorgetragen, ohne freilich die (sprach-)philosophische Pointe des Topos vom Primat der Topik in philosophisch relevanter Form entfalten zu können. Dies — so die historische Hauptthese meines Buches — blieb dem Nachzügler des italienischen Humanismus, dem neapolitanischen Rhetorikprofessor G. B. Vico, vorbehalten: gegen den im Cartesianismus erneuerten und radikalisierten Geist sprachlicher und historischer Voraussetzungslosigkeit des mathematisch-logischen Denkens brachte er 4) Vgl. hierzu jetzt meine kritische Einführung zu Ch. W. Morris: Zeichen, Sprache und Verhalten, Düsseldorf 1973. 5) Vgl. zu Peirce's Semiotik auch meine Einführung zu Ch. S. Peirce, Schriften II, Frankfurt a. M. 1970.
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nicht nur die pädagogische Pointe des ciceronischen Topos voll zur Geltung, sondern entdeckte darüberhinaus die innere Geschichtlichkeit der Sprach-Topik und ihrer Funktion im menschlichen Sozialisations-Prozeß, — eine Einsicht, deren geschichtsphilosophische Entfaltung ihn zur Relativierung der im rhetorischen Humanismus des bürgerlichen Zeitalters fixierten begriffssprachlichen Topik führte. Das „Trivium” als Bildungssystem des „human-epistolaren” Zeitalters enthüllte sich im ganzen als Spätprodukt, das seine gehaltliche Substanz größtenteils der älteren Sprach-Topik der „phantasiegeschaffenen Universalien” des mythisch-poetischen Zeitalters verdankt. So ergab sich aus der historisch-hermeneutischen Reflexion auf die Topik der artes sermonicales für unsere Arbeit selbst eine heuristische Topik, die es nahelegte, die geheime Philosophie des Sprachhumanismus durch Rückgriff auf Cicero und gleichzeitigen Vorgriff auf Vico zu rekonstruieren. Von der heuristischen Berechtigung dieses Programms hat sich der Verfasser seither immer erneut überzeugt, ebenso freilich auch davon, daß man es an Hand der historischen Dokumente noch weit genauer und umfassender verifizieren könnte. Der Vorgriff auf Vico als den verspäteten und zweifellos alles Vorherige transzendierenden philosophischen Testamentsvollstrecker des römisch-italienischen Sprachhumanismus impliziert freilich die Einsicht, daß der ungeschichtlich generalisierende, zum Behaviorismus tendierende moderne Sprachpragmatismus als Schlüssel für das Verständnis des Sprachhumanismus der Neuzeit, aus dem immerhin auch die historisch-hermeneutischen Geisteswissenschaften hervorgegangen sind, nicht zureicht. Die vorliegende Arbeit sucht dem Rechnung zu tragen, indem sie außer dem Sprachpragmatismus (Morris, Wittgenstein II) auch die transzendental-hermeneutische Sprachphilosophie der Gegenwart,6 die das Anliegen Hamanns, Herders und Wilhelm von Humboldts mit dem des deutschen Idealismus und Diltheys zu integrieren sucht,7 als Schlüssel für einen im Sinne Vicos verstandenen
6) Inzwischen ist der Verfasser dem Verhältnis der transzendentalhermeneutischen Sprachphilosophie zum Sprachpragmatismus in folgenden Arbeiten nachgegangen: „Die Entfaltung der ,sprachanalytischen' Philosophie und das Problem der ,Geisteswissenschaften' " (Philos. Jahrb., 72. Jg., 1965, S. 239—89; engl. Übersetzung: „Analytic Philosophy of Language and the Geisteswissenschaften”, in: Foundations of Language, suppl. series, Vol. 5, 1967); „Wittgenstein und das Problem des hermeneutischen Verstehens” (Zeitschr. f. Theologie u. Kirche, 63. Jg., 1966, S. 49—87) ; „Wittgenstein und Heidegger” (Philos. Jahrh. 75. Jg., 1967, S. 65—94) ; „Heideggers Radikalisierung der Hermeneutik und die Frage nach dem Sinnkriterium der Sprache” (in: „Die hermeneutische Frage in der Theologie”, Freiburg i. Br. 1968, S. 86—152); „Szientismus oder transzendentale Hermeneutik: Zur Frage nach dem Subjekt der Zeicheninterpretation im semiotischen Pragmatismus” (in: „Hermeneutik und Dialektik”, Festschrift für H. G. Gadamer, Tübingen 1970.) — Alle angeführten Arbeiten finden sich jetzt in „Transformation der Philosophie”, a. a. 0. 7) Außer den im Text berücksichtigten wären hier noch die folgenden Arbeiten zu nennen: H. G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophi-
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Sprachhumanismus heranzieht. In der Tat läßt sich die Sprachkonzeption des Humanismus nicht aus dem Horizont einer Sprach-Pragmatik rekonstruieren, welche lediglich das Funktionieren der Verständigung in synchronisch überschaubaren Kommunikations- und Interaktions-Spielen zwischen Sender und Empfänger studiert. So wichtig die Einsichten des modernen Sprachpragmatismus und der „Ordinary Language Philosophy” in die — Spracherlernung und Eindeutigkeit der Verständigung ermöglichende — „Verwobenheit” (Wittgenstein) von Sprachgebrauch, leibhaftem Ausdruck, Tätigkeiten und Bestätigungs- bzw. EnttäuschungsErfahrungen auch sind: der methodische Einstieg in die hermeneutische Dimension wird durch dieses Paradigma der Verständigung innerhalb eines quasi institutionalisierten Sprachspiels noch nicht ermöglicht. Sie eröffnet sich, wie Dilthey erkannte, erst dann, wenn eine „gemeinsame Sphäre” des pragmatisch hinreichenden Verstehens gerade nicht oder nicht mehr besteht, d. h.: wenn zwischen den Sprach- und Lebenshorizonten verschiedener Kulturen oder Zeitalter vermittelt werden muß. „Texte” im Sinne der Hermeneutik — z. B. „heilige Schriften” der Buchreligionen, aber auch literarische, philosophische und wissenschaftliche Werke, ja im gewissen Sinne sogar Rechts-Kodifikationen können Jahrtausende hindurch auf den rechten „Empfänger” oder „Interpreten” warten. Ein sprachphilosophisches Paradigma für das Verständnis dieser Situation ist im italienischen Sprachhumanismus durch Petrarcas und P. Bembos Verherrlichung der geschriebenen Texte als Grundlage für ein Gespräch zwischen den großen Geistern aller Zeiten bereitgestellt worden. Freilich entsprach dieser Topos noch eher dem elitären Ewigkeitspathos antiker Ruhmes-Topik als radikalem geschichtlichen Denken, wie es erst durch Vico eröffnet wurde. Eine Sprach-Hermeneutik, welche auch die „Szienza Nuova” des Neapolitaners als letztes Resultat des Sprach-Humanismus einholen soll, muß m. E. davon ausgehen, daß das Gelingen der nicht nur pragmatisch funktionierenden, sondern reflexiv überholenden Verständigung der Menschheit, die ihre Geschichte macht — oder machen sollte — mit dem Fortschritt der zugehörigen soziokulturellen Praxis „verwoben ist” — „seit ein Gespräch wir sind” (Hölderlin).
schen Hermeneutik, 2Tübingen 1965, B. Liebrucks: Sprache und Bewußtsein (5 Bde) Frankfurt 1964/70; J. Lohmann: Sprachwissenschaft und Philosophie, Berlin 1965 (in: Erfahrung und Denken, Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften, Bd. 15). VH3V/1
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VORWORT Im ersten Band des „Archivs für Begriffsgeschichte” hat der Verfasser eine Studie über die „Idee der Sprache bei Nik. v. Cues” veröffentlicht mit der vermessenen Ankündigung, diese stelle eine Vorarbeit für eine „umfassende begriffs- und problemgeschichtliche Darstellung” der „Idee der Sprache im Denken der Neuzeit” dar. Gedacht war damals noch an eine knappe, artikelartige Übersicht, wie sie im selben Band des Archivs für den Begriff des „Verstehens” versucht wurde. Die Abfassung dieser Begriffsgeschichte war in verhältnismäßig kurzer Zeit möglich gewesen, weil im Rahmen der traditionellen Philosophiegeschichte umfangreiche und zuverlässige Vorarbeiten (insbesondere die Geschichte des Erkenntnisproblems von Ernst Cassirer sowie, nach den historisch und systematisch problemaufschließenden „Einleitungen in die Geisteswissenschaft” von W. Dilthey und E. Rothacker, die dreibändige Geschichte der Hermeneutik [„Das Verstehen", 1926-33] von J. Wach) bereits zur Verfügung standen. Ganz anders — dies wurde dem Verfasser mehr und mehr deutlich — war die Situation hinsichtlich einer Geschichte der Sprachidee. Nicht nur gab es (und gibt es bis heute) keine Zusammenstellung des — allerdings in weitem Umfang von den empirischen Geisteswissenschaften erschlossenen — Materials für eine Geschichte der neuzeitlichen Sprachphilosophie: wichtiger noch war die unabweisbare ensicht, daß eine Geschichte der Sprachidee überhaupt nicht im Rahmen und nach Maßgabe der üblichen (etwa durch Cassirer oder Windelband repräsentierten) Philosophiegeschichte der Neuzeit geschrieben werden dürfe. Der Übergang von Erkenntniskritik in Sprachkritik, wie er sich in der Gegenwart abzeichnet (s. Einleitung) hat auch für die Geschichte der Philosophie einen ganz neuen Horizont eröffnet, den eine Geschichte der Sprachidee erst in Besitz zu nehmen hat: die Geschichte des Begriffs „Logos” als Geschichte des philosophischen Verständnisses der „Rede”. Als Vehikel einer kontinuierlichen abendländischen Tradition gewinnt hier z. B. das antik-mittelalterliche Trivium der artes sermonicales (griechisch q`k^f ildfh^¬) eine ganz neue Bedeutung für die Philosophiegeschichte. Für die Logik im engeren Sinne hat dies etwa die Neuerschliessung der Tradition durch J. M. Bochénski vor Augen gestellt. Dabei entspricht das neu hervortretende Relief der Philosophiegeschichte mit seinen fünf schöpferischen Haupteinsätzen (Aristoteles, Stoa, Scholastik, „mathesis
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universalis" (Leibniz], Logistik) ebensovielen Grundlegungen der metalogischen, d. h. den Logos selbst betreffenden Sprachphilosophie als Semiotik. — Mit der formalen Logik zugleich treten aber auch die mit ihr gleichaltrigen und gleichursprünglichen „Logos-technai”: „Grammatik” und „Rhetorik” (wenn man will, auch „Poetik"), neuartig in das Blickfeld der Philosophiegeschichte. Als Ansatzpunkte und Hüter der „humanistischen” Bildungstradition vertreten sie einen anderen Aspekt der Rede (ildls) und stehen damit — letztlich seit Platons Auseinandersetzung mit den sophistischen Rhetoren und den Dichtern, vollends aber seit der Ausbildung einer formalen Logik durch Aristoteles und die Stoa — in einem mehr oder weniger bewußten Spannungsverhältnis zur „voraussetzungslosen” Handhabung (Kritik und Konstruktion) der Rede in der Dialektik. Aus heutiger Sicht könnte man von dem Gegensatz des technisch-szientifischen Arbeitsbegriffs und des humanistischen Bildungsbegriffs der Sprache reden — ein Gegensatz, der sich bei genauerem Zusehen auch als Wurzelgrund der erkenntnistheoretischen Spannung zwischen exakter (mathematischer) Naturwissenschaft und hermeneutischer (an die geschichtliche Umgangssprache gebundener) Geisteswissenschaft erweist. Mit diesen beiden philosophiegeschichtlichen Konstanten (des „Sprachhumanismus” und der „Sprachlogik”) durchdringt sich aber in der christlichen Ära noch die — erstmals „weltgeschichtlich” denkende — biblische „Sprachtheologie”, deren mystische Aneignung durch die neueren Völker am Ausgang des Mittelalters den zumal für die deutsche Spekulation (bis zu Heidegger) charakteristischen Offenbarungsbegriff der Sprache (im Zeichen der deutschen „Logosmystik”) wirksam werden läßt. Unter den soeben angedeuteten drei Hauptgesichtspunkten erschloß sich dem Verfasser das Programm einer Geschichte der Sprachidee immer mehr als ein Neuland philosophiehistorischer und allgemein geistesgeschichtlicher Forschung, das zuerst ausgegraben sein wollte, bevor man eine knappe begriffsgeschichtliche Übersichtsskizze in Angriff nehmen konnte. Im Folgenden wird denn auch noch nicht eine solche Zusammenfassung, wie sie eigentlich vom „Archiv für Begriffsgeschichte” angestrebt wird, sondern wiederum (wie schon im Falle des Cusaners) nur eine mono-graphische „Vorarbeit” vorgelegt. Sie betrifft im wesentlichen die Entfaltung des „humanistischen Bildungsbegriffs” der Sprache1). Die ausführliche Darstellung der Problematik rechtfertigt sich bei dem Thema „Sprache” vielleicht noch besonders dadurch, daß hier zugleich die philosophischen Grundlagen von so etwas wie „Begriffsgeschichte”, ihrer nicht
1) Für den — in der Sicht des Verfassers — die Geschichte der Logik begleitenden „technischszientifischen Zeichenbegriff” der Sprache ist inzwischen bereits eine knappe Übersichtsskizze der neuzeitlichen Entwicklung von Rud. Haller im „Archiv” (Bd. 4. 1959) erschienen.
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nur historischen, sondern auch systematischen (daseinshermeneutischen) Bedeutung, in Frage stehen. Zum Schluß möchte der Verfasser allen denen seinen Dank aussprechen, die seine Arbeit förderten: an erster Stelle für reiche sachliche Anregung seinen Lehrern Herrn Prof. E. Rothacker und Herrn Prof. L. Weisgerber, sodann Herrn Prof. G. Funke, der den Verfasser immer wieder persönlich ermutigte und die vorliegende Arbeit als Habilitationsschrift vor der Philosophischen Fakultät der Universität Mainz vertrat, ferner der Deutschen Forschungsgemeinschaft, welche die langjährigen Studien großzügig unterstützt hat. Im besonderen zu Dank verpflichtet ist der Verfasser Herrn J. v. Stackelberg für wertvolle Ratschläge, Fräulein Lore Habighorst für ihre Hilfe bei der Übersetzung italienischer Texte, Fräulein Dorothea Otte für wiederholte Reinschrift des Textes, Herrn W. Speernagel und Herrn Dr. Saviane für das Mitlesen der Korrekturen und nicht zuletzt seiner Schwester und seiner Frau für technische und menschliche Hilfe im weitesten Sinne des Wortes.
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„Viel hat erfahren der Mensch, Der Himmlischen viele genannt, Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander.” (Hölderlin)
Kapitel I (Einleitung) Der Humanismus und das Problem einer Geschichte der neueren Sprachphilosophie aus sprachphilosophischer Sicht. Die vorliegende Untersuchung versteht sich als Beitrag zu einer noch nicht geschriebenen Geschichte der neuzeitlichen Sprachphilosophie1). Sie will eine „historische Einführung” bieten, d. h. sie möchte e i n e n der geistesgeschichtlichen Traditionsströme freilegen, die zur eigentlichen Sprachphilosophie der Neuzeit hinführten: das Sprachdenken des sogenannten Humanismus. Keineswegs soll damit „der” geschichtliche Weg in die neuere Sprachphilosophie bezeichnet sein. Der Verfasser ist vielmehr der Auffassung, daß mindestens noch drei andere relativ selbstän-
1 ) Für das Altertum besitzen wir die älteren Werke von L. Lersch (Sprachphilos. der Alten, 3 Bde., Bonn 1838-41) und Steinthal (Gesch. der Sprachwiss. bei den Griechen und Römern, Berlin 1863), ferner E. Hoffmann: Die Sprache und die archaische Logik, Tübingen 1925. Für Patristik und Mittelalter P. Rotta: La filosofia del linguaggio nella patristica e nella scolastica, Turin 1909, ein Werk, das freilich die sprachphilosophische Problematik viel zu eng auffaßt (es bietet nicht viel mehr als den Nachklang des antiken c¼pbf-npbf-Streits) und daher der Aufgabe einer Ge-schichte der Sprachphilosophie in unserem Sinne keineswegs gerecht wird. Wichtiger sind hier die monographischen Arbeiten von Fr. Manthey (Die Sprachphilos. des hl. Thomas v. Aquin, Paderborn 1937), V . Warnach (Erk. u. Sprechen bei Th. v. Aquin; in: Div. Thomas, 15, 1937, 189-218 und 263-290; 16, 1938, 161-196 und 393-419), M. Heidegger (Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, Tübingen 1916), I. Isaac (Le ,Peri Hermeneias' en occident de Boèce à Saint Thomas, Paris 1953) und vor allem die ausgezeichnete „Geschichte der Suppositions-Theorie” von E. Arnold (In: „Symposion”, III, Freibg./Mü. 1952, 1135). Für die Neuzeit gibt es wohl eine Fülle von verstreuten (meist philologischen und theologischen) monographischen Beiträgen zur Geschichte der Sprachphilosophie, aber noch keinen Versuch einer Gesamtdarstellung, der das von den Geisteswissenschaften gesammelte Material auszuwerten unternähme. Zu diesem Resultat kam schon E. Cassirer, der im 1. Bd. seiner „Philosophie der symbolischen Formen” (Hamburg 1923) auch eine kurze historische Problemübersicht entwarf. Vgl. hierzu neuerdings E. Heintel: Sprachphilosophie (In: Dtsche. Philologie im Aufriß, hrsg. v. W. Stammler, 2. A., 3. u. 4. Lief.), § 7-9. Wichtige Hinweise zur Geschichte der Sprachphilosophie bietet auch die Geschichte der „Sprachwissenschaft” in Dokumenten von H. Arens (Orbis - Bd. I, 6, Freibg. i. Br. 1955) sowie die Geschichte der „formalen Logik” von I. M. Bocheęski (Orbis - Bd. III, 2, Freibg./Mü. 1956).
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dige Traditionswege in die sprachphilosophische Problematik der Neuzeit hineinführen: die mit dem abendländischen Humanismus etwa gleichaltrige Sprachkritik des Ockhamschen Nominalismus, die ebenfalls im späten Mittelalter zur charakteristischen Ausbildung gelangte deutsche Logosmystik und schließlich die im Barockzeitalter, vor allem bei Leibniz entfaltete „Zeichenkunst” der „mathesis universalis”, welche die Sprachkonstruktion der modernen Logistik vorbereitet. Die zuletzt genannten drei Grundmotive bezeichnen zweifellos sogar die philosophisch originalen Ursprünge des neuzeitlichen Sprachdenkens, und wollte man sich auf die in wissenschaftlicher Ebene formulierten Ansätze einer allgemeinen „Theorie der Sprache” beschränken, so würde man — zumindest in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit — wohl lediglich die Traditionslinie der „mathesis universalis” und des „Nominalismus” (mit anderen Worten: des „Rationalismus” und des „Empirismus”) zu verfolgen haben. (Tatsächlich pflegt man ja die Werke von Francis Bacon, Hobbes, Locke und Leibniz als Beginn neuzeitlicher Sprachphilosophie anzuführen.) Eine solche Beschränkung der Fragestellung scheint mir aber dem Grundinteresse der Gegenwart an einer Geschichte der Sprachphilosophie nicht zu entsprechen. Eine Geschichte der Sprachphilosophie will heute aus sprachphilosophischer Fragestellung heraus geschrieben werden und nicht aus der Perspektive einer (empiristischen oder rationalistischen) Bewußtseins-Philosophie, wie sie im 19. Jahrhundert herrschend war, für das die Sprache ein „Gegenstand” wissenschaftlicher Untersuchung unter anderen möglichen Gegenständen war. Es ist deshalb keineswegs selbstverständlich, daß die vom methodischen Weltentwurf der Wissenschaft, genauer: der „science” (englisch oder französisch zu lesen und im Deutschen nur unzureichend mit „Wissenschaft” zu übersetzen) her ausgebildeten Ansätze zur Sprachphilosophie (als „Zeichenwissenschaft”) die wesentliche Ge-schichte des Denkens über die Sprache repräsentieren. Ja, es könnte sogar sein, daß auch die Denkmotive des „Nominalismus” und der „Zeichenkunst” der „mathesis universalis” als sprachphilosophische nicht ohne weiteres aus der erkenntnistheoretischen Perspektive des 19. Jahrhunderts zu verstehen sind, sondern eher aus der gemeinsamen geschichtlichen Herkunft und dem sprachphilosophischen Strukturzusammenhang mit der Logosmystik und dem Sprachhumanismus. Vielleicht kann eine Geschichte der Sprachphilosophie heute eher die Kontinuität der neuzeitlichen Philosophie mit dem Mittelalter und darüber hinaus darlegen und die neuzeitliche Erkenntnistheorie verständlich machen, als umgekehrt die übliche mit Descartes und Bacon einsetzende Geschichte der Erkenntnistheorie für die Geschichte der neueren Sprachphilosophie zureichende Horizonte bereitzustellen vermag. Für eine sprachphilosophische Sicht der Probleme ergibt sich z. B. von vornherein der Verdacht — eine These, auf die wir im weiteren noch oft
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zurückkommen werden —, daß die im 19. Jahrhundert in allen philosophischen Richtungen vorherrschende Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Erkenntnis ihre Wurzeln im spätmittelalterlichen Nominalismus hat. Es ist dies die selbstverständlich gewordene Auffassung der Sprache als eines Zeichensystems, das der primär vorsprachlich „gegebenen” (oder auch „konstituierten”) Welt nachträglich zugeordnet wird. Sie geht letztlich zurück auf das von Wilhelm von Ockham festgelegte Verhältnis von sprachfreier „Intuition” der individuellen Außenweltdinge und nachträglicher Bezeichnung der intuitiv gewonnenen Vorstellungen durch Namen, deren extensive Generalisierung schließlich allererst zum allgemeinen Begriff der Dinge und Qualitäten führen soll. Die hierbei übersprungene Problematik der Erschlossenheit der Welt (z. B. der von Ockham vorausgesetzten „Dinge” und „Qualitäten”) „als etwas”, d. h. in einem immer schon sprachlich artikulierten Medium des Sinnallgemeinen, wurde auch durch Kants kategoriale Synthesis a priori der Erscheinungswelt nicht „wiedergeholt”, da Kant in seiner Einschätzung der Sprache wie zuvor schon Descartes und Leibniz vom nominalistischen Zeichenbegriff der Sprache abhängig blieb und daher das Problem der apriorischen Synthesis der Erscheinungswelt nicht — wie von Hamann und Herder mehr oder weniger deutlich gefordert — als ein Problem der sprachlichen Weltkonstitution konkretisieren konnte. Sollte der hier vorweg geäußerte Verdacht der Abhängigkeit sowohl der rationalistischen wie der empiristischen Richtungen neuzeitlichen wissenschaftlichen Philosophierens von dem Sprachbegriff Ockhams auch nur im Kern berechtigt sein, so ergibt sich daraus für eine Geschichte der Sprachphilosophie bereits die methodische Anweisung, etwa das Zusammenspiel von nominalistischer Sprachkritik und „Zeichenkunst” der mathesis universalis, die sich im logischen Positivismus des 20. Jahrhunderts treffen, nicht vorschnell unter die traditionellen Kategorien der Philosophiegeschichte (z. B. „Rationalismus” und „Empirismus”) zu subsumieren, sondern eher umgekehrt nach den sprachphilosophischen Voraussetzungen des neuzeitlichen Empirismus und Rationalismus und damit auch des logischen Positivismus im spätmittelalterlichen Nominalismus zu fahnden. Sollte vielleicht die geschichtliche Mission des spätmittelalterlichen Nominalismus, das sprachbefangene (z. B. weitgehend begriffsrealistische) Weltgehäuse der Hochscholastik im Interesse empirischer Sachforschung aufzubrechen, für die gesamte wissenschaftlich (genauer: szientifisch) orientierte Philosophie der Neuzeit eine Verdeckung der transzendentalhermeneutischen (d. h. für das Weltverständnis a priori konstitutiven) Funktion der Sprache zur Folge gehabt haben? Was wir soeben für die aus dem Horizont einer Geschichte der Sprachphilosophie bestimmten Begriffe des „Nominalismus” und der „mathesis universalis” postulierten, gilt erst recht für die beiden anderen m. E. grundlegenden Ordnungsbegriffe einer Entstehungsgeschichte der neu-
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zeitlichen Sprachphilosophie: für den primär religiös orientierten Sprach-begriff der deutschen „Logosmystik” und den aesthetisch-literarisch geprägten Sprachbegriff des italienischen „Sprachhumanismus”. Es dürfte kaum möglich sein, ihre Bedeutung für die Geschichte unserer Sprachauffassung vom Gesichtspunkt der üblichen erkenntnistheoretisch orientierten Philosophiegeschichte her auch nur annähernd zu würdigen. (In der Tat ist in den beiden als „Logosmystik” und als „Sprachhumanismus” deklarierten Bereichen des Sprachdenkens die Sprache noch gar nicht zum „Gegenstand” der wissenschaftlichen Erkenntnis geworden, wie noch zu zeigen sein wird.) Dagegen könnte sehr wohl durch den Rückgang auf den sprachphilosophischen Strukturzusammenhang zwischen Logosmystik, Humanismus und Nominalismus am Ausgang des Mittelalters die Entstehung der spezifisch neuzeitlichen Philosophie in ein ganz neues Licht gerückt werden. Faßt man etwa die genannten drei Typen des Sprachdenkens als ebensoviele charakteristisch verschiedene Auflösungen eines einzigen Problems des „Verstehens” auf, das dem europäischen Mittelalter als einer am „autoritären Vorgut” (A. Weber) der Antike orientierten „Tochterkultur” aufgegeben war, so könnte von vornherein einleuchten, daß die allein aus dem Nominalismus und der später hinzutretenden „mathesis universalis” gespeiste technisch-szientifische Konzeption von Sprache und Erkenntnis nur einen sehr beschränkten Zugang zu dem Problem des Weltverstehens in seiner Totalität liefern kann. Sollte es vielleicht möglich sein, durch den Rückgang auf das volle Problem des Sprachlogos, wie es sich in der geistesgeschichtlich belegbaren Spracherfahrung des abendländischen Menschen darstellt, eine Grundlage zu gewinnen für die am Rande des traditionellen, rationalistisch-empirisch orientierten Erkenntnisbegriffs auf-tretenden Probleme des vorwissenschaftlichen — aber in den Grundfragestellungen der Wissenschaften implizierten — Weltsinnverstehens und wiederum des geisteswissenschaftlichen Verstehens? Sollte etwa auch für die großen „sprachhermeneutischen” Außenseiter der traditionellen Philosophiegeschichte: Vico, Hamann, Herder, Wilhelm von Humboldt, ein kontinuierlicher Überlieferungszusammenhang ihres Denkens aus dem Mittel-alter, ja aus der Antike her sich eröffnen, wenn man neben dem Rationalismus und Empirismus, d. h. also in unserer sprachphilosophischen Terminologie: neben „mathesis universalis” und „Nominalismus”, auch die „Logosmystik” (von Hamann zurück über Jakob Böhme und die Schwärmer, aber auch über Nikolaus Cusanus zu Eckehart) und die Tradition des „Sprachhumanismus” (von Vico zurück über die italienischen Humanisten bis zu Cicero, und d. h. zur antiken Rhetorik, einerseits, Dante als Entdecker der geschichtlichen Muttersprache andererseits) als philosophisch relevante Traditionskanäle ins Auge faßt? Philosophiehistorie als Eruierung des in der vollen Spracherfahrung des Menschen implizierten Begriffs des Weltverstehens steht hier m. E.
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vor einem großartig erweiterten Arbeitsfeld. Speziell für die Neuzeit entsteht die Aufgabe, die vier genannten typischen Ausprägungen des Sprachdenkens (Nominalismus, mathesis universalis, Logosmystik und Sprachhumanismus) als Wege zur Sprachauffassung der Gegenwart jeweils monographisch und zugleich in steter Berücksichtigung der Gesamtkonstellation herauszuarbeiten. In der vorliegenden Arbeit wird dies für den „Sprachhumanismus” — gemäß einem später noch genauer zu klärenden heuristischen (geschichtlichen und systematischen) Sinnhorizont dieses Terminus — versucht. Der Verfasser ist sich dabei der Schwierigkeit bewußt, daß ein volles Verständnis dieser Geistesbewegung als eines Weges in die moderne Sprachphilosophie eigentlich die stete Vergegenwärtigung der drei übrigen Wege als gedanklicher Folie voraussetzt. Wir werden im folgenden immer wieder versuchen, eine möglichst scharfe Profilierung der humanistischen Sprachauffassung durch ihre historische und systematische Begrenzung im Medium der drei übrigen Grundideen der neuzeitlichen Sprachauffassung zu erreichen. Freilich wird dieser Versuch unvermeidlicherweise von gewissen globalen und im einzelnen unbelegten Ergebnissen der von Anfang an parallel laufenden, hier noch nicht vorgelegten Studien des Verfassers über die drei außerhumanistischen Wege zum modernen Sprachdenken Gebrauch machen müssen. Ehe wir das Problem der Einordnung des Sprachhumanismus in das soeben skizzierte Koordinatensystem einer Geschichte der abendländischen Sprachauffassung näher verdeutlichen, wollen wir jedoch die aktuelle Notwendigkeit einer in unserem Sinne projektierten Geschichte der abendländischen Sprachauffassung überhaupt aus der gegenwärtigen Situation der Philosophie zu begründen versuchen. Zu dem Zwecke sei in aller Kürze eine Art Diagnose des Verhältnisses von Philosophie und Sprache in der Gegenwart angedeutet2). (Der vorliegenden „Einleitung” wird durch dieses Unterfangen eine gewisse Eigenbedeutung gegenüber der historischen „Durchführung” zuteil, die sich auch in ihrem ungewöhnlichen Umfang ausdrückt. Da jedoch das Programm einer geschichtlichen Durchleuchtung unseres neuzeitlichen Sprachverständnisses mir wichtiger erscheint als die von mir im folgenden erreichte exemplarische Ausführung, so möchte ich das weite Ausholen der Einleitung für gerechtfertigt halten. Darüberhinaus dient es der Klärung der „hermeneutischen Situation” der vorliegenden Untersuchung, d. h. es legt die gegenwartsbedingten Interes-
2) Vgl. hierzu auch die folgenden Studien des Verfassers: „Die beiden Phasen der Phänomenologie in ihrer Auswirkung auf das philosophische Vorverständnis von Sprache und Dichtung in der Gegenwart” (In: Jb. f. Aesthetik u. allg. Kunstw., I I I , 1955-57. S. 54-76. — „Der philosophische Wahrheitsbegriff einer inhaltlich orientierten Sprachwissenschaft” (In: „Sprache — Schlüssel zur Welt”, Festschr. f. L. Weisgerber, Düsseldf. 1959, S. 11-38) — „Sprache u. Wahrheit in der gegenwärtigen Situation der Philosophie” (Philos. Rdsch., 7. Jg., 1959, S. 161-184) — „Sprache u. Ordnung” (in den Akten des 6. Deutschen Kongresses für Philosophie, München 1960, S. 200-225).
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sen, Gesichtspunkte und entsprechenden „Vorgriffe” bloß, mit denen der Verfasser an seine historische Aufgabe herantritt). Der grundlegende Wandel im Verhältnis von Philosophie und Sprache, welcher das 20. Jahrhundert vom 19. Jahrhundert und darüberhinaus vielleicht von der gesamten philosophischen Schultradition unterscheidet, dürfte m. E. darin bestehen, daß die Sprache nicht mehr lediglich als „Gegenstand” der Philosophie behandelt, sondern erstmals allen Ernstes als „Bedingung der Möglichkeit” von Philosophie, ins Auge gefaßt wird. „Sprachphilosophie” meint insofern nicht mehr eine „Bindestrich-Philosophie” wie „Natur-Philosophie”, „Rechts-Philosophie”, „Gesellschafts-Philosophie” usw.; sie räumt nicht lediglich der empirischen Sprachwissenschaft ihren Gegenstandsbereich ein oder faßt reaktivdeutend die Ergebnisse der empirischen Wissenschaft zusammen (wie es etwa die „philosophische Anthropologie” A. Gehlens tut), sondern sie wird heute — mit welchem Recht, bleibe hier noch dahingestellt — weithin als „prima philosophia” behandelt, d. h. sie ist, wie nach K ants Auftreten die Erkenntniskritik, ja gewissermaßen als Radikalisierung derselben zur Sprachkritik, an die Stelle der „Ontologie” getreten. Bevor man in die Diskussion über das Seiende als solches eintritt, das ja auch schon nach Aristoteles mlii^`îs idbq^f 2a), fragt man nach den in der Sprache liegenden Bedingungen der Möglichkeit, sinnvolle Sätze zu bilden, und insofern behandelt man de facto die Sprache als eine transzendentale Größe im Sinne Kants. De facto ist dies z. B. der Fall in der von B. Russell, Wittgenstein und vom „Wiener Kreis” inspirierten sogenannten „analytischen Philosophie” des angelsächsischen Raumes3). Aus der Perspektive der deutschen Transzendentalphilosophie möchte es zwar zunächst so scheinen, als sei hier lediglich die innerweltliche Vergegenständlichung der Sprache als technisch manipulierbares Zeichensystem, wie sie im Nominalismus und mehr noch im mathematisch orientierten Rationalismus der Neuzeit angebahnt wurde, auf die Spitze getrieben und als fehle hier gerade jedes Bewußtsein von der transzendentalen Problematik der Sprache, d. h. von der Sprache, sofern sie nicht innerweltlich vorkommender Gegenstand, sondern Bedingung der Möglichkeit der Gegenstandskonstitution ist. Diese Auffassung hat als Kennzeichnung des ursprünglichen Denkansatzes des Aristoteles: Metaph. ƥ, 2. p. 1003, a, 33: ferner Met. E, 2, p. 1026, a, 33; Z, 1. p. 1028, a, 10 u. ö. Vgl. J. O. Urmson: Philosophical Analysis. Its development between the two world wars, London 1956. Ferner A. J. Ayer and others: The Revolution in Philosophy, London 1956. Ferner L. Linsky (ed.): Semantics and the Philosophy of Language, The university of Illinois Press: Urbana 1952. In deutscher Sprache bieten die beste Übersicht: A. Pap: Analytische Erkenntnistheorie, Wien 1955. Und: W. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Wien 1952. Ferrer ders.: Das Wahrheitsproblem u. die Idee der Semantik, Innsbruck 1957. Für die historischen Ursprünge des Logischen Positivismus vgl. auch V. Kraft: Der Wiener Kreis, Wien 1950. 2a) 3)
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logischen Positivismus nicht unrecht — und auch die vorliegende Arbeit wird den Sprachbegriff etwa des Wiener Kreises als den „technisch-szientifischen Zeichenbegriff der Sprache” fixieren und insofern als Endprodukt des rationalistischempiristischen Sprachdenkens der Neuzeit, m. a. W.: als Synthese der nominalistischen Sprachkritik und der „Zeichenkunst” der „mathesis universalis” betrachten. Man übersieht indessen bei dieser Charakteristik nur zu leicht, daß die innere Dialektik der Probleme selbst gerade in der Entfaltung der neopositivistischen Sprachkritik zu einer höchst interessanten und neuartigen Freilegung der transzendentalen Dimension der Sprachproblematik geführt hat. Gerade der für den frühen Wittgenstein und Carnap etwa charakteristische Widerspruch zwischen dem — sagen wir: unbefangenen — technologischen Ansatz der Sprache als eines konstruierbaren Zeichensystems und der unreflektierten spekulativen Voraussetzung, daß die Sprache schlechthin das Letzte, daß sie z. B. der Ursprung und Inbegriff alles Apriorischen in unserer Weltauffassung und insofern auch das eigentliche Element der Logik und Mathematik sei, führte zu einem indirekten (aporetischen) Auf-weis der transzendentalen Dimension der Sprache, wie ihn der reine Transzendentalphilosoph ohne das unbefangene Experiment der logistischen Sprachkonstruktion schwerlich zu antizipieren vermag. Dies sei durch einige kurze Hinweise näher verdeutlicht. Schon in Wittgensteins „Tractatus Logico-Philosophicus"4), der zum Ausgangspunkt der gesamten sprachanalytischen Philosophie wurde, ist die Sprache zwar einerseits als manipulierbare Zeichenkonfiguration („Zeichentatsache”) innerweltlich vorgestellt und den nichtsprachlichen Tatsachen der Welt logisch zugeordnet, zugleich wird aber von Wittgenstein als die Bedingung der Möglichkeit solcher exakten „Abbildung der Welt” in der Sprache die für Welt- und Sprachtatsachen identische Form der sprachlichen Abbildung namhaft gemacht, ein Faktor, von dem Wittgenstein sagt, daß er selbst niemals Tatsache, daher auch nicht sprachlich darstellbar, sondern vielmehr „mystisch” sei (sich beim Reden über Tatsachen „zeige"). Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß hier das transzendentale Problem der Sprache als Bedingung der Möglichkeit des Weltverstehens (auch nach Kant sind ja, analog formuliert, die Bedingungen der Möglichkeit des Weltverstehens identisch mit den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände des Verstehens!) in der Grundlagenproblematik des logischen Positivismus auftritt, und in der Tat ist der Neopositivismus dieses Problem auch in seiner weiteren Entwicklung nicht mehr los geworden: Während nämlich Wittgenstein selbst die logistisch orientierte Konzeption einer eindeutigen Weltabbildung durch die Sprache später über-
4) Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus (zuerst erschienen in: Ostwalds Annalen der Naturphilosophie, Berlin 1921; darauf in englisch-deutscher Ausgabe London 1922, 7. Aufl. 1958).
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haupt aufgab, hat sich der logische Positivismus durch Wittgensteins These von der mystischen Sprachform als Bedingung der Möglichkeit der Weltabbildung nicht davon abhalten lassen, auch und gerade die Form der weltabbildenden Sprache einer exakten Darstellung zu unterwerfen. Dies führte ihn in die sogenannte Metasprachenproblematik, die schon B. Russel in seiner Einleitung zur englischen Ausgabe des „Tractatus” als Alter-native zu Wittgensteins Mystizismus vorweg entworfen hatte5). Offensichtlich kann ja die Beschreibung der Form der weltabbildenden Sprache — hält man an dem logistischen Ideal exakter Abbildung durch Zeichenzuordnung fest — nur in einer ganz neuen Sprache geleistet werden, für die die erste Sprache als „Objekt-Sprache” gerade auch in ihrer Form als der Bedingung der Möglichkeit ihrer Funktion zur innerweltlichen Tatsache geworden ist. Diese „Metasprache” kann nun selbst wieder „formalisiert”, d. h. aber in unserem Zusammenhang: hinsichtlich ihrer (zunächst) transzendentalen Funktionsbedingungen unter logische Kontrolle gebracht werden. Dazu bedarf es aber einer Metametasprache und so fort ad infinitum. Im Sinne Wittgensteins könnte man sagen: die eigentliche (transzendental-apriorische) Form der sprachlichen Weltdarstellung bleibt auch in einer solchen unendlichen „Hierarchie von Metasprachen” (B. Russell a. a. 0.) immer die Göttin Athene im Rücken der Helden, sprich: der Sprachkonstrukteure, d. h. die aktuale Sprachform bleibt — vom Ideal der logistischen Darstellungsfunktion der Sprache her gesehen — unaussagbar, sie ist aller logisch klaren Aussage (d. h. Tatsachenabbildung durch Zeichenzuordnung) als „mystische” Bedingung ihrer Möglichkeit „vorweg” (ein Grenzfall des Verhältnisses, gemäß dem bei Heidegger das verstehende In-der-Welt-sein des Menschen „sich vorweg” ist). Diese ganze Aporetik ergibt sich aber, wie schon mehrfach angedeutet, nur, wenn man darauf besteht, die Funktion der Sprache im Sinne des regulativen Prinzips der technisch-szientifischen Präzisionssprache, d. h. als Tatsachenabbildung durch Zeichenzuordnung, zu definieren. In der „wildgewachsenen” Umgangssprache ist es ja de facto sehr wohl möglich, auch über die Form ihrer Weltdarstellung Aussagen zu machen, was z. B. Wittgenstein selbst durch die Aussagen seines „Tractatus” beweist. Und von dieser — gewissermaßen mit der konstitutionellen Selbstreflexivitat des Menschen5a) identischen — Fähigkeit der Umgangssprache, über die Form von Sprache überhaupt, und d. h. über die Bedingung der Möglichkeit ihrer Funktion, zu reden, macht ja auch die logistische Sprachkonstruktion notwendigerweise Gebrauch, sofern stets die Umgangssprache ihre letzte, selbst noch nicht formalisierte, aber bei der Formalisierung vorausgesetzte „Metasprache” ist.
5)
A. a. O. S. 22 f. Vgl. hierzu unten S. 43 ff. über Th. Litts Theorie der „Selbstaufstufung” des Geistes bzw. der Sprache. 5a)
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Inwiefern wird nun durch diese Aporetik der letzten Metasprache ein neues Licht auf die transzendentale Dimension der Sprache überhaupt geworfen? Man könnte die hier aufgeworfene Problematik leicht bagatellisieren—und hierzu scheint mir eine verständliche Neigung bei den Transzendentalphilosophen alter Schule zu bestehen —, indem man erklärt: Die ganze Aporetik zeigt nur, daß der künstlich konstruierte Sprachbegriff des logischen Positivismus im Ansatz verfehlt und daher ungeeignet ist, das Geheimnis der wirklichen Sprachfunktion verständlich zu machen. Ein solches Urteil scheint sogar durch die Entwicklung des späten Wittgenstein und der von ihm ausgehenden Schulen von Cambridge und Oxford, die sich nahezu ausschließlich der Analyse der Umgangssprache zugewandt haben, bestätigt zu werden. Dabei scheint mir aber der indirekte Ertrag der Metasprachenproblematik für eine Transzendentalphilosophie der Sprache unterschätzt zu werden. Tatsächlich ist ja die Konstruktion logisch eindeutiger Kunstsprachen keineswegs eine belanglose Spielerei außerhalb der kognitiven und kommunikativen Funktion der wirklichen Sprache, sondern sie wird in dem Augenblick, wo es gelingt, einen Kalkül als Präzisionssprache der Wissenschaft zu „deuten”, zu einer verschärften Fortsetzung der Weltaufschliessungsfunktion der natürlichen Sprache, gewissermaßen eine Potenzierung dessen, was auch bisher schon im Rahmen der Umgangssprache durch Begriffsdefinitionen und Einführung künstlicher Fachausdrücke in die Wege geleitet wurde. Wie aber innerhalb der Umgangssprache die Definition qua Präzisierung einzelner Begriffe nur mit Hilfe nicht definierter, aber irgendwie verständlicher Begriffe erfolgen kann, so kann die „Deutung”, d. h. aber die empirische Anwendung, einer a priori entworfenen Präzisionssprache nur durch Vermittlung der Umgangssprache erfolgen, in der die in der Präzisionssprache schärfer verfügbar zu machenden Welttatsachen immer schon irgendwie „als etwas” erschlossen sind. Bisweilen ist die hier vorausgesetzte umgangssprachliche Welterschließung selbst schon mit wissenschaftlicher Fachterminologie durchsetzt, so z. B. im Falle der Fachsprache der klassischen Physik, die bei der experimentellen Verifikation, u. d. h. bei der empirischen Deutung der mathematischen Präzisionssprache der Quantenphysik vorausgesetzt wird. Hier, d. h. bei der kognitiven und kommunikativen Anwendung der Kunstsprachen als kontrollierter Fortsetzung der umgangssprachlichen Welterschließung, zeigt sich nun schon deutlicher, was es für die Transzendentalphilosophie der Sprache bedeutet, daß die Umgangssprache bei jeder Konstruktion logisch eindeutiger Sprachen als letzte Metasprache fungiert. Einerseits ist es offenbar sehr wohl möglich, in der Richtung einzelner Forschungsvorstöße der Einzelwissenschaften eine progressive Verbesserung selbst der „apriorischen” Form der Sprache als Bedingung der Möglichkeit der Welterschließung zu erzielen — diese Konsequenz der logisti-
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schen Semantik pflegt die traditionelle Philosophie m. E. zu unterschätzen —; andererseits setzt doch jede Sinnklärung der Sprache überhaupt, die auf dem Wege der erfolgreichen Anwendung einer Präzisionssprache erreicht wird, schon die Bedeutungen der Umgangssprache voraus, wie im vorigen angedeutet wurde; im gewissen Sinn enthält also die Umgangssprache ein nie einholbares Sinnapriori unseres Weltverstehens. In dieser zweiten Richtung der Betrachtung zeigt sich, daß das Grundprinzip der neuzeitlichen, „technischen” Wissenschaft: „Wir verstehen nur, was wir selbst gemacht haben und jederzeit machen können”, demzufolge der Mensch von sich aus mit a priori konstruierten Modellen gegen die Welt vorgehen muß, um sie in restlos durchsichtiger Form zu „stellen”, in der modernen Sprachkonstruktion seine radikalste Verwirklichung6) und zugleich (in der Problematik der letzten Metasprache) seine philosophisch relevante, absolute Grenze erreicht hat. Die künstlichen Kalkülsprachen, als Präzisionssprachen der modernen Wissenschaft zur Tatsachenverfügbarmachung eingesetzt, erbringen einerseits den höchsten kognitiven Triumph der experimentellen Methode durch eine Verallgemeinerung und Potenzierung des Prinzips der sogenannten „operativen Definition”, andererseits funktionieren sie doch nur unter der Voraussetzung eines mit der Umgangssprache vorausgesetzten Weltsinnes, den wir nicht gemacht haben. Genauer gesagt: Das Sinnapriori des umgangssprachlichen Weltvorverständnisses haben wir nicht in dem Sinne gemacht, wie die mathematisch-technischen Wissenschaften das Sinnapriori ihrer Experimente eigens konstruieren, wohl dagegen mögen wir, d. h. die Menschheit, an ihm mitgewirkt haben in dem Sinne, in dem Vico alles historisch-philologisch Verstehbare vom Menschen gemacht nennt. Aus dem Bisherigen wird schon ersichtlich, daß das in und mit der Umgangssprache immer schon vorausgesetzte „transzendentale” Sinnapriori des Weltverstehens nicht ohne weiteres mit dem Apriori des Kantischen „Bewußtseins überhaupt” und seiner Kategorien in Analogie zu setzen ist. Es ist nicht ein für allemal für alle Menschen fixiert, sondern ist einfach der Inbegriff desjenigen Weltvorverständnisses, in dem wir uns als Angehörige einer geschichtlichen Sprachgemeinschaft (auch im übernationalen Sinne, wie später zu zeigen sein wird) bei allem aktuellen, z. B. auch wissenschaftlichen, Weltverständnis jeweils „vorweg” sind. Hier beginnt sichtbar zu werden, in welche neuen Richtungen die Transzendentalphilosophie durch die Orientierung an der Sprache geführt werden
6) H. Weyl („Philos. der Mathematik u. Naturwiss."; im Hdbch. d. Philos., Abt. II, Mü. 1948) nennt das von uns Gemeinte die „symbolische Konstruktion der Welt”. Logistische Sprachkonstruktion als Organon der exakten Naturwissenschaft ist so erst die volle Ausfaltung des Galileischen Aperçus, daß das Buch der Natur in mathematischer Sprache verfaßt und nur in mathematischer Chiffreschrift lesbar sei.
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könnte. Alles spricht z. B. dafür, daß ein Apriori im strengen Sinne des allgemeingültigen „Bewußtseins überhaupt” tatsächlich, wie der logische Positivismus vermutete, keinen synthetischen (und insofern Welt „als etwas” in einer wenn auch noch so allgemeinen Bedeutsamkeit erschliessenden) Charakter haben kann. Das ändert aber nichts daran, daß jedes Weltverständnis auch ein synthetisches Sinnapriori (nicht gerade in Form fertiger Sätze, wohl aber in Form von Satzbauplänen, Kategorien, Begriffen, ja von Wortbedeutungen aller Art) voraussetzt. Gerade das wechselseitige Voraussetzungsverhältnis des synthetischen und des analytischen Aprioris wird m. E. durch die semantische Deutung eines formalen Kalküls mit Hilfe der Umgangssprache demonstriert. Das Experiment der apriorischen Sprachkonstruktion und ihrer semantischen Deutung scheint uns darüber zu belehren, daß analytisches und synthetisches Apriori, anders ausgedrückt: schlechthin allgemeingültiger Denkansatz und menschlich-endlicher, perspektivisch einseitiger Bedeutsamkeitsentwurf, sich in der empirisch erfolgreichen Deutung der Welt immer schon durchdringen müssen. Ein reiner Verstand — dies zeigt die logische Semantik — vermag wohl die logische Eindeutigkeit einer Sprache sicherzustellen, nicht aber die Bedeutung selbst, die er präzisiert, der Welt selbst abzugewinnen. Dies ist in der Umgangssprache immer schon geschehen. Insofern umschließt das Sinnapriori der Umgangssprache, das in den grammatischen Fügungsweisen und in den Wortinhalten vorgeprägt ist, offen-sichtlich ebenso allgemeinlogische, konstruktiv präzisierbare Bedingungen des Weltverstehens wie insbesondere das gewissermaßen dogmatische Apriori ganz bestimmter Auffassungsweisen der Welt, in denen eine Jahrtausende währende Geschichte menschlicher Welterfahrung geronnen ist. Hatte der logische Positivismus gehofft, das zentrale Problem der traditionellen Philosophie, das der apriorischen Voraussetzungen des Seinsverständnisses, durch „logische Syntax” (später „logische Semantik”) der Sprache tautologisch-analytisch auflösen zu können, so erwies die Durchführung dieses Unternehmens, daß es zwar möglich ist, sogenannte synthetisch-apriorische Sätze der Ontologie als analytisch-tautologische Explikationen sprachimmanenter Definitionen aufzufassen (z. B. den Satz „An der Raumstelle, wo ein Körper ist, kann nicht zu gleicher Zeit ein anderer sein” als tautologische Explikation der Grammatik des Begriffs „Körper”, oder den Satz „Jedes Ereignis hat eine Ursache” als ebensolche Entfaltung des Begriffs „Ereignis"). Zugleich entsteht damit aber das neue Problem einer in den Denkformen und Wortinhalten der Umgangssprache implizierten Synthesis a priori von Welt; denn die entsprechenden „Konventionen” der willkürlich konstruierten Kunstsprache setzen ja zu ihrer „Deutung” und damit „Bewährung” an der Wirklichkeit die schon geleistete Welterschließung der Umgangssprache voraus. Das Anliegen der Ontologie kann also jedenfalls nicht als ein solches willkürlicher Sprach-
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konvention aufgelöst werden, wiewohl es durch eine „hermeneutische Wiederholung” und gegebenenfalls „Destruktion” des in der Umgangssprache konventionell gewordenen ontologischen Vorverständnisses der Welt erst sein heute erreichbares verschärftes Problembewußtsein gewinnen dürfte. Aus dem Bisherigen mag soviel deutlich geworden sein, daß die Sprachanalyse des logischen Positivismus gerade durch die Aporetik ihrer konstruktiven Versuche die Bedeutung der geschichtlichen Umgangssprache als Bedingung der Möglichkeit unseres Weltverstehens in einer neuen Form sichtbar gemacht hat. Sie hat gerade dadurch, daß sie das seit Aristoteles bestehende Programm einer logischen Aufklärung des Wesens der Sprache in reinster Form, d. h. auf dem Wege apriorischer Konstruktion formalisierter Kunstsprachen, durchgeführt hat, einem alten (im rhetorisch orientierten Humanismus seit Cicero, ja seit Isokrates bestehenden) Verdacht neue Nahrung gegeben: daß das Problem der wahren Rede gar nicht wesentlich ein solches der reinen Logik ist; d. h. aber, modern interpretiert, daß die Wahrheit der menschlichen Rede nicht primär auf einer logisch richtigen Zeichenrepräsentation vermeintlich vorgegebener Welt-Tatsachen beruht, sondern auf der eine Tatsachenordnung allererst offenbar machenden Deutung der Welt als bedeutsamer Situation des Menschen. Wir werden auf diesen Gesichtspunkt bei der Interpretation der humanistischen Sprachauffassung, insbesondere ihrer Polemik gegen die scholastische Sprachlogik aus den verschiedensten Perspektiven immer wieder zurückkommen müssen. Eine weitgehende Bestätigung unserer Deutung der Aporetik des logischen Positivismus läßt sich der jüngsten Entwicklung der sprachanalytischen Philosophie, insbesondere beim späten Wittgenstein und bei Charles Morris, entnehmen7). Sowohl der späte Wittgenstein wie auch Morris gehen davon aus, daß die seit Aristoteles die philosophische Sprachlogik leitende Modellvorstellung der Sprachfunktion als „Bezeichnung” (designatio) unzureichend ist. Wittgenstein argumentiert in seinen „Philosophischen Untersuchungen” (posthum veröffentlicht Oxford 1953) etwa so, daß die Worte nicht zunächst etwas bezeichnen und dann gebraucht werden, sondern zunächst einmal in der verschiedensten Form in der Alltagspraxis gebraucht werden. Unter der Voraussetzung dieses mannigfaltigen Sprachgebrauchs in unzähligen „Sprachspielen” erklärt sich dann auch das spezielle wissenschaftliche Sprachspiel der „Bezeichnung” (von Sachverhalten, Vorstellungen oder dergl.). Wesentlich für diese neue Sicht ist, daß die sogenannte „Bedeutung” der Worte im praktischen Sprachgebrauch sich konstituiert
7) Vgl. zum Folgenden meine unter Anmerkung 2 aufgeführten Arbeiten: „Sprache u. Wahrheit . . .” sowie „Sprache u. Ordnung”; ferner H. Lübbe: „Sprachspiele” und „Geschichten” (Kantstudien, Bd. 52, 1960/61, S. 220-42).
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(wenn nicht gar mit diesem identisch ist), während sie in dem sekundären Sprachspiel der bloßen „Bezeichnung” im wesentlichen schon vorausgesetzt ist, wie das am klarsten zu Tage tritt, wenn jemand die Wortbedeutungen einer Sprache nach dem Lexikon (d. h. lediglich durch Bezeichnungszuordnung) erlernt. Ganz ähnlich in der Tendenz sind die Korrekturen bzw. Ergänzungen, die Ch. Morris vom Pragmatismus her an dem Sprachmodell des logischen Positivismus vornimmt. Dieses Modell stellte sich, hauptsächlich dank den Forschungen R. Carnaps und A. Tarskis, in den dreißiger Jahren etwa so dar: Die (zu konstruierende ideale) Sprache konstituiert sich durch die Beziehung der Zeichen untereinander und durch die Beziehung der Zeichen zu den außersprachlichen Tatsachen, die sie bezeichnen. In der ersten Hinsicht ist sie Gegenstand der „logischen Syntax”, in der zweiten Hinsicht ist sie Gegenstand der „logischen Semantik”. Es ist im Hinblick auf Morris' Ergänzung nicht unwichtig zu erwähnen, daß in diesen beiden Forschungsrichtungen sich die Tendenz des logischen Positivismus widerspiegelt, alle sinnvollen Probleme der Erkenntnis gemäß der Alternative zu behandeln: entweder handelt es sich um apriorische Wahrheiten im Sinne einer tautologischen Explikation der Zeichenregeln eines Sprachsystems, oder es handelt sich um aposteriorische Wahrheiten; dann müssen sie in den außerhalb der Sprache liegenden, zu bezeichnenden Tatsachen begründet sein. Die Schwierigkeiten, welche bei der Durchführung dieses Programms einer Verifikation aller sinnvollen sprachlichen Sätze sich ergaben, sind bekannt. Vergeblich versuchte man, in sogenannten „Protokollsätzen” das empirische Fundament der Satzwahrheit zu isolieren. Sowenig man über die Sprache selbst hinausgehen konnte, sowenig konnte man die apriorischen Voraussetzungen übersehen, die mit jedem sprachlichen Ausdruck hinsichtlich der Auffassung der Tatsachen schon im Spiel waren. Sollte man sie alle als tautologische Explikation der Grammatik eines logisch eindeutigen Sprachsystems auffassen, um das Zugeständnis eines synthetischen Aprioris zu vermeiden? Dem steht entgegen, daß diese Voraussetzungen des Weltverstehens weder aus den Voraussetzungen der logischen Syntax noch aus denen der logischen Semantik allein abzuleiten sind; wohl dagegen sind sie bei der Konstruktion eines bestimmten Sprachsystems im vorhinein zu berücksichtigen, wenn dieses System einer empirischen Deutung mit Hilfe der Umgangssprache zugänglich sein soll. In dieser Problemsituation ergänzt Morris in seinen „Foundations of the Theory of Signs” (Chicago 1938) das Sprachmodell des logischen Positivismus durch die sogenannte „pragmatische Dimension” der „Semiose” (d. h. der Zeichenfunktion) bzw. der „Semiotik” (d. h. der Zeichenwissenschaft). Die Zeichen der Sprache funktionieren nicht allein kraft ihrer Beziehung untereinander (Syntax) und ihrer Beziehung zu den zu bezeichnenden Tatsachen (Semantik), sondern primär kraft ihrer Be-
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ziehung zum Menschen, der sie „gebraucht”, d. h. der sich „durch ihre Vermittlung” (indem er sie interpretiert oder mit ihrer Hilfe etwas zu verstehen gibt) zu seiner Umwelt und Mitwelt „verhält”. Wesentlich an dieser Morrisschen Ergänzung des logischen Positivismus ist nun (und darin zeigt sich wie beim späten Wittgenstein die spekulative Tendenz des Pragmatismus), daß bei einer funktionierenden Sprache die Zeichenpragmatik in der Zeichensemantik immer schon systematisch vorausgesetzt wird, so wie andererseits die Zeichensemantik von der Syntax vorausgesetzt wird. Die Zeichenpragmatik läßt sich also nicht etwa (wie z. B. Carnap es versucht hat) als philosophisch irrelevante Zusatzdisziplin auffassen, in der lediglich von dem emotionalen Ausdrucksgehalt der Zeichen im Situationskontext psychologisch Rechenschaft gegeben würde, während die wissenschaftlich relevante, intersubjektive „Bedeutung” der Zeichen davon unberührt bliebe. Gerade die intersubjektive Bedeutung der Zeichen eines Sprachsystems, mag immer sie in der Semantik unter Abstraktion von der konkreten Situation des Sprachgebrauchs behandelt werden, setzt zu ihrer Konstitution nicht nur zufällig (d. h. empirisch-genetisch), sondern wesensmäßig (sinngenetisch) die menschliche Erdeutung der Welt als Situation in der Verhaltenspraxis voraus. Insofern wird die Zeichenpragmatik nicht nur in der Alltagssprache oder etwa in der Ethik8), sondern auch in der exakten Wissenschaft, ja sogar in der Logik9) vorausgesetzt. Denn jede Wissenschaft impliziert schon in ihrer Grundfragestellung eine menschliche (einseitig-perspektivische und gerade insofern praktisch relevante) Erdeutung der Welt als Situation, und diese pragmatische Komponente kommt in jeder einzelnen Theoriebildung erneut zur Geltung; denn es ist auch in der Wissenschaft niemals so, daß wir zuerst die zu bezeichnenden Dinge kennen und dann in der speziellen Theorie nur durch Kombination von Bezeichnungen etwas über sie aussagen, sondern durch die Ausdrücke der speziellen Theorie (etwa „Elektron”, „Neutrino”, „Gravitationspotential”) werden die Dinge immer wieder neu „als etwas” in einem praktischen Situationskontext erschlossen. Daher kann auch die Wahrheit einer Theorie nicht allein durch Sinnesdaten bestätigt werden, wie der Positivismus meinte, sondern letztlich nur durch die Praxis des Umgangs mit den gedeuteten Dingen. Es dürfte nach dem Gesagten kaum überraschen, daß Ch. Morris in seinem zweiten Hauptwerk „Signs, Language and Behavior” (New York 1946) genau wie der späte Wittgenstein die designative Funktion der Sprache als sekundär vom Problem der Bedeutung überhaupt unterscheidet und das letztere durch eine umfassende Deskription der verschie-
8)
Vgl. hierzu bs. Ch. Stevenson: Ethics and Language, New Haven 1944. Am deutlichsten zeigt sich dies m. E. an der operativen „Protologik” von P. Lorenzen (vgl. Kantstudien, Bd. 47, 1955/56, S. 350-358). Sie kann m. E. als ein reduziertes „Sprachspiel” ohne semantische, aber mit pragmatischer „Bedeutung” verstanden werden. 9)
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denen Arten des zeichenvermittelten Verhaltens aufzulösen sucht. Besonders interessant in unserem Zusammenhang ist dabei der Umstand, daß Morris bei seiner pragmatistischen Relativierung des syntaktisch-semantischen Modells der Sprache ausdrücklich die Beziehung zum antik-mittelalterlichen „Trivium” der „septem artes liberales”, d. h. zu den einstmals sogenannten „q`k^fildfh^¬” (artes sermonicales): Grammatik, Rhetorik und Dialektik bzw. Logik, herstellt. „Semiotic”, erklärt er „is the framework in which to fit the modern equivalents of the ancient trivium of logic, grammar and rhetoric” (Foundations..., a. a. O. p. 56). Speziell die Rhetorik ist für ihn „an early and restricted form of pragmatics” (ib. p. 30).
Hierin liegt in der Tat ein äußerst wichtiger Hinweis für eine Ge-schichte der humanistischen Sprachidee, die, wie wir zeigen werden, weitgehend als eine Art Hausideologie der Rhetorik aufgefaßt werden kann. Viele der „humanistischen” Vorbehalte gegen die Dialektik lassen sich tatsächlich im Lichte des Morrisschen Pragmatismus als Infragestellung des syntaktisch-semantischen, d. h. aber eben: des seit Aristoteles maßgebenden Bezeichnungsmodells der Sprachfunktion, deuten. Hierbei muß indessen jetzt schon betont werden, daß die pragmatistische Deutung des Humanismus diesem allenfalls soweit gerecht wird, wie er als Hausideologie der Rhetorik betrachtet werden kann, nicht aber, sofern er — in durchschlagender Form freilich erst bei Vico — auf Grund eines historisch-hermeneutischen. Bedenkens der Sprachgeschichte auch noch die rhetorische Praxis der sprachlichen Situationsdeutung als fundiert erkennt in den — im weitesten Sinn des Wortes — dichterischen Sinnereignissen, in denen wirklich die Welt den Menschen in der Sprache neu aufging. Sofern die aus dem Humanismus hervorgegangenen historisch-hermeneutischen Geisteswissenschaften an solchen Sinnereignissen - und nicht an einem generalisierbaren, durchschnittlichen zeichenvermittelten Verhalten des Menschen — vordringlich interessiert sind, scheint mir auch der Anspruch Morris', durch seine behavioristische Semiotik die „scientific Humanistics” zu begründen10), prinzipiell angreifbar. Dies sei — im Interesse einer Klarlegung unserer eigenen Prämissen bei der Auffassung des Humanismus — in einer kurzen Kritik der pragmatistischbehavioristischen Sprachphilosophie verdeutlicht. Die mehr oder weniger konsequent durchgeführte Grundtendenz der pragmatistisch-behavioristischen Sprachphilosophie (die sich z. B. auch beim späten Wittgenstein findet) geht dahin, „Sinn” überhaupt auf praktisches „Verhalten” und dementsprechend „sprachliche Bedeutung” auf „Sprachverwendung” zu „reduzieren Um den Sinn eines Satzes zu verstehen, „we have simply to determine what habits it produces”, so lehrte zuerst Ch. S. Peirce in seinem nachmals berühmt
10)
Ch. Morris: Signs, Language and Behavior, New York 1946, Ch. VIII, 5. 31
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gewordenen Aufsatz „How to make our ideas clear” von 187811), der eigentlichen Gründungsurkunde des Pragmatismus. Der Peircesche Satz wurde von Morris aus drücklich seiner Semiotik zugrundegelegt12). Eine ähnlich prägnante Formulierung stammt von dem frühen Wittgenstein, der im „Tractatus” (Satz 3. 328) erklärt: „Wenn sich alles so verhält als hätte ein Zeichen Bedeutung, dann hat es auch Bedeutung.” Später heißt es dann ganz klar im Sinne einer behavioristischen Reduktion des Bedeutungsproblems: „The use of the word in practice is its meaning” und: „The meaning of the expression depends entirely on how we go on using it"13).
Der nächstliegende und zweifellos auch prinzipiell durchschlagende Einwand gegen diese „Reduktion” des Bedeutungsproblems liegt in der sozusagen routinemäßigen Aufforderung des Transzendentalphilosophen, wer eine Bedeutungstheorie aufstellt, müsse sie zunächst einmal auf die Bedeutung seiner eigenen Sätze, eben der vorgetragenen Theorie, anwenden. Will der Behaviorist nun im Ernst behaupten, die Bedeutung seiner Theorie sei schlechterdings identisch mit dem beobachtbaren Verhalten, das aus ihr entspringt? Dann brauchte er ja gar keinen Wert auf eine Lektüre seiner Bücher zu legen, sondern würde am besten dazu auffordern, erst das beobachtbare Verhalten, das aus ihnen entspringt, abzuwarten, um die Theorie zu verstehen. In diesem Fall würde aber gar kein beobachtbares Verhalten aus der Theorie entstehen usw. ad absurdum. Man bemerkt aber leicht, daß solche Widerlegungen irgendwie billig und vor allem unfruchtbar sind. Sie verfehlen offensichtlich den eigentlichen Sinn der behavioristisch-pragmatischen Bedeutungstheorie, den wir ja selbst bereits bei der Einführung der Morrisschen Zeichenpragmatik positiv herausstellten. Wir wollen daher einen anderen Weg einschlagen, um Sinn und Grenzen der behavioristischpragmatischen Bedeutungstheorie zu bestimmen. Gehen wir aus von einem Beispiel des späten Wittgenstein14): Ein Bauarbeiter ruft seinem Kollegen zu: „Einen Ziegel!”, oder: „Die Platte da!” — Um zu verstehen, was er meint, empfiehlt es sich tatsächlich, genau zuzusehen, „was passiert”, d. h. wie sich die Arbeiter im Vollzug ihres „Sprachspiels” verhalten. Der Situationskontext ihrer Arbeit scheint überhaupt erst den vollen Sinn ihrer Worte bzw. Sätze zu enthalten; denn aus ihm wird deutlich, daß der Arbeiter auch hätte sagen können: „Reich mir jetzt bitte einen Ziegel!” oder: „Die Platte da fehlt mir jetzt gerade!” Wollte man einwenden, die Arbeiter müßten aber doch erst die mutter-
11)
Ch. S. Peirce: Collected Papers, Cambridge, Mass., 1931 ff., Vol. V, § 475 ff. Ch. Morris a. a. O. p. V. — Inzwischen konnte sich der Verfasser freilich davon überzeugen, daß die pragmatische Semiotik von Peirce keineswegs im Sinne der von Morris vorgenommenen behavioristischen Reduktion verstanden werden darf. Vgl. hierzu die im Vorwort zur 2 . Auflage, Anmerkung 1, angeführten Arbeiten sowie meine Einführungen zu Ch. S. Peirce, Schriften I und II, Frankfurt a. M. 1967 und 1970. 13 ) L . Wittgenstein: The blue and brown books, Oxford 1958, p. 69. 14) L. Wittgenstein: Philos. Untersuchungen, Oxford 1958, § 2, vgl. auch § 19. 12 )
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sprachlich fixierte „Bedeutung” der Worte verstehen, um ihr Sprachspiel in Gang zu setzen, so würde Wittgenstein antworten, eben durch ein solches Sprachspiel, d. h. durch die Verschränkung von Zeichengebrauch und Verhaltenspraxis in der Situation, lernten ja auch die Kinder eine Sprache und nicht so, wie ein Lexikon oder eine Grammatik es vortäuscht: d. h. durch Zuordnung von Zeichen zu sogenannten Bewußtseinsinhalten; dies sei vielmehr ein sekundäres Sprachspiel, das nur bei grammatisch geschulten Leuten funktioniert, die bereits eine Sprache — ihre Muttersprache — auf ganz andere Weise, nämlich aus der alltäglichen Praxis heraus, gelernt haben. Aus all dem entsteht leicht der Eindruck, als sei sprachlicher Sinn jederzeit aus schon bestehender menschlicher Verhaltenspraxis zu erklären, als transzendiere gleichsam das behavioristisch erforschbare menschliche Umweltverhalten jede denkbare sprachliche Bedeutung. Doch wählen wir nun ein ganz anders geartetes Beispiel sprachlicher „Mitteilung” — ein solches, nebenbei gesagt, wie es die hermeneutischen Geisteswissenschaften zu interessieren pflegt: Da hat vor nahezu 2000 Jahren ein Mensch zu seinen Landsleuten (auf aramäisch!) etwa folgendes gesagt: „Das Reich Gottes ist unter euch."14a) — Wie steht es nun hier mit der Erklärung des Sinns durch Verhaltenspraxis? Es soll nicht etwa geleugnet werden, daß es nützlich, ja sogar notwendig ist, den aramäischen Sprachgebrauch zur Zeit Christi (wenn man will, sogar: das „Verhalten”, das die von Christus gebrauchten Wörter und Wendungen zu seiner Zeit hervorzurufen pflegten) historisch zu erforschen. Auch soll nicht verkannt werden, daß die Worte Christi ganz im Sinne des Pragmatismus auf eine Verifikation durch Verhaltenspraxis („An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen”) geradezu angelegt sind. Aber kann man sich Hoffnung machen, jemals die Bedeutung der Worte Christi durch „Reduktion” auf den „aramäischen Sprachgebrauch”, genauer: auf ein irgendeinmal vorgekommenes „Verhalten” zureichend verstehen zu können? Muß nicht vielmehr angenommen werden, daß solche Worte (man denke an die Evangelien insgesamt als sprachgeschichtliches Ereignis) nicht nur den „Sprachgebrauch” der Juden und aller Völker, in deren Sprache sie übersetzt wurden, sondern schlechterdings die menschliche Daseinspraxis überhaupt geändert haben, ohne doch bis heute durch irgendein praktisches Verhalten in einem Situationskontext in ihrem Sinn erschöpfend dargestellt zu sein? Worauf wollen wir mit der Gegenüberstellung der beiden Beispiele des „Sprachgebrauchs” hinaus? Sinn und Grenzen der pragmatistisch-behavioristischen Bedeutungstheorie lassen sich, wie mir scheint, erst dann klar erkennen, wenn man ihre am Denkstil einer generalisierenden Naturwissenschaft orientierten
14a)
Lukas, 17, 21.
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„Erklärungs”- bzw. „Reduktions"-Formeln durch dialektische Formulierungen ersetzt. Philosophisch unhaltbar sind z. B. folgende Formulierungen (die einander übrigens sogar widersprechen können!): „Die Bedeutung eines Wortes ist das praktische Verhalten, das aus seiner Verwendung entspringt”; oder: „Jeder sprachliche Sinn ,erklärt sich' aus der Verhaltenssituation, in der das zu ihm gehörige Zeichen gebraucht wird.” Treffend sind m. E. dagegen folgende Formulierungen: „Jede ,Wortbedeutung' ist in ihrem intersubjektiv gültigen Sinn durch vorangegangenen ,Wortgebrauch', d. h. durch Verwendung in einem praktischen Verhalten in der Umweltsituation, ,vermittelt'.” Und wiederum: „Jede ,Wortbedeutung', überhaupt jeder Sinn vermittelt sich im Augenblick des Verständnisses bereits durch die Verhaltenspraxis, die aus ihm entspringen soll.” Kurz: jeder Sinn ist im Augenblick seines Aufleuchtens im Bewußtsein durch gewesene und zukünftige Daseinspraxis vermittelt; aber bewußtseinsmäßig „aufleuchten” muß er, um seinerseits die gewesene und zukünftige Praxis vermitteln zu können.
Hiermit wird, wie mir scheint, die Pointe des pragmatistischen „Verifikationsprinzips” sinnvoller Sätze im vollen Umfang gerettet. Zugleich aber wird auch dies klar: Menschliches Dasein ist in seiner Geschichtlichkeit wechselseitige Vermittlung von „Sinn” (im „mentalistischen”, d. h. nicht „behavioristisch” reduzierbaren Wortverstand) und „Verhaltenspraxis”. Gerade in dieser wechselseitigen Vermittlung besteht das Wesen der Sprache. Eine generalisierende Wissenschaft vom Zeichenverhalten („Semiotic” als „Science"), wie sie z. B. Morris vertritt, wird demgegenüber stets die Neigung verraten, das Verhältnis von Sinn und Verhaltenspraxis nach dem Muster des ungeschichtlichen tierischen Instinktverhaltens aufzufassen. Beim Tier läßt sich ja tatsächlich von einer völligen Äquivalenz von Sinn und Verhalten (im Sinne des Wittgensteinschen Satzes „Wenn alles sich so verhält als hätte ein Zeichen Bedeutung, dann hat es auch Bedeutung”) reden; hier gibt es keine „Sinnereignisse”, die geschichtlich eine Situationswelt neu eröffnen und damit auch ein neues Verhalten begründen, wie sie der humanistische Geisteswissenschaftler als sein eigentliches Thema ins Auge fassen muß. Man muß vielleicht noch besonders betonen, daß auch die menschlichen Sprachen im engeren Sinne, und nicht etwa nur die Literatur, durch Sinnereignisse bestimmt sind. Es geht nicht an, die Bedeutungen der „Worte” („Wörter” sind eine nur für den empirischen Linguisten relevante Abstraktion!) schlechthin auf einen bestehenden Sprachusus zurückzuführen. Denn mag immer der durchschnittliche „Sprachgebrauch” (d. h. also behavioristisch interpretiert: das generalisierbare zeichenvermittelte Verhalten einer menschlichen Gruppe) für den Sprachwissenschaftler einen sehr wesentlichen Anhaltpunkt für die Bestimmung der „Bedeutung” liefern, so muß er doch — als Geisteswissenschaftler — davon Rechenschaft geben, daß z. B. durch bedeutende Werke der Literatur, die ja gleichsam nur Momente besonderer Intensität im Leben einer Sprache sind, auch der „Sprachgebrauch” verändert wird.
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Solche Änderung des Sprachgebrauchs durch bedeutende Sprachwerke kann nur darauf beruhen, daß schon die einzelnen Wortbedeutungen der energetisch betrachteten Einzelsprache niemals durch einen empirisch feststellbaren Gebrauch festgelegt sind, sondern jederzeit für das hermeneutisch eindringliche Sinnbewußtsein noch latente (z. B. metaphorische) Bedeutungsnuancen enthalten, die bislang noch nicht praktisch, d. h. durch Sprachgebrauch in einer Situation, verifiziert sind. Auch das Verhältnis von Wortgebrauch und Wortbedeutung innerhalb der Sprache muß daher, genau betrachtet, ein dialektisches Verhältnis wechselseitiger Vermittlung sein. Nur eine generalisierende Abstraktion von der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins kann die Dinge an besonders günstig gewählten Beispielen aus der Alltagspraxis so darstellen, als sei aller sprachlich ausdrückbare Sinn von vornherein durch den „Sprach-Gebrauch” einer sozialen Gruppe nicht nur „vermittelt”, sondern determiniert. Jedes Beispiel aus der sogenannten „Geistesgeschichte” (in diesem Sinne stellten wir das Christuswort gegen Wittgensteins „Sprachspiel” der Bauarbeiter) zeigt, daß in der Sprache Sinn aufleuchten kann, der alles bisherige Verhalten des Menschen einschließlich des „Sprachgebrauchs” und jeden bisher vorstellbaren Situationskontext transzendiert: Der Mensch kann als Sprachwesen die Situation seines In-der-Welt-seins ändern. Gerade deshalb ist aller „Sinn” durch zukünftige Praxis „vermittelt”; das heißt jedoch nicht, daß er identisch ist mit einem faktischen Verhalten, das nach einem generellen Gesetz aus früherem Verhalten ableitbar ist, sondern er ist als Sinn a priori „vermittelt” durch ein Verhalten, das aus ihm folgen „soll” und nur durch das mentalistische Verständnis eben dieses Sinnes seinerseits „vermittelt” werden „kann”. „Sinn” ist, streng genommen, niemals „innerweltlicher Gegenstand” einer Wissenschaft; auch der in Dokumenten „objektivierte Sinn”, den die historischen Geisteswissenschaften hermeneutisch zu rekonstruieren ver-suchen, erschließt sich letztlich nur dem wiederholenden Einsprung eines Verstehens, das zugleich in den stets offenen Zukunftshorizont menschlichen Seinkönnens und Zuseinhabens vorgelaufen ist. Im Anschluß an diese prinzipielle Distanzierung des ungeschichtlichen Denkens einer behavioristischen „science” seien noch einige Bemerkungen über das Verhältnis des Pragmatismus zur Rhetorik einerseits, zum Wesen des Dichterischen andererseits, angefügt. Sie mögen das Gesagte illustrieren und auf eine Zwiespältigkeit aufmerksam machen, die wir später im Wesen des Humanismus wiederfinden werden. Dem Pragmatismus kommt m. E. das Verdienst zu, das Wahrheitsproblem um eine neue (dritte) Dimension erweitert zu haben; sie verhält sich zu den klassischen Problemdimensionen der Wahrheit (Leibnizens vérités de raison und vérités de fait) so, wie Morris' Zeichenpragmatik sich zur logischen Syntax und zur logischen Semantik verhält. Es ist die — auch
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in der Lebens- und Existenzphilosophie akzentuierte — Wahrheit der praktisch relevanten Situationseröffnung, die insofern der wissenschaftskonstitutiven logischen und tatsachenmäßigen „Richtigkeit” gegenüber einen menschlichen Primat beansprucht, als sie allererst den Maßstab dafür gewinnen läßt, welches „Richtige” (und man kann bekanntlich sehr vieles erforschen, ausrechnen usw.) „wichtig” ist15''), welche Fragestellungen, Forschungsvorhaben usw. der Wissenschaft etwa den Vorrang in der Situation haben. Ch. Morris sowohl wie auch der späte Wittgenstein haben diese vorwissenschaftliche Wahrheit entsprechenden vordesignativen Funktionen der Sprache zugeordnet (die designative Zeichenfunktion entspricht ja eben, wie die logische Semantik klar gemacht hat, der abstraktiv isolierten Tatsachenwahrheit, welche freilich die Deutung der Tatsachen „als etwas” schon voraussetzt). Die Sprechweisen des Redners, des Politikers, des Dichters, auch die des Philosophen und des Priesters bzw. Theologen — sie alle sind nach Morris nicht wesentlich designativinformativ; und dennoch haben sie ihren je spezifischen Wahrheitsanspruch. Als gemeinsames Charakteristikum der Wahrheit dieser nichtinformativen Sprechweisen gibt Morris an, sie sei relativ auf die Bedürfnisse des Menschen, es gelte in diesen Sprechweisen, die Umwelt so zu „bewerten”, „einzuschätzen” bzw. die Menschen mit solchen „Vorschriften” oder „Appellen” anzuleiten, daß ihr daraus entspringendes Verhalten ihren Bedürfnissen entspricht. Unbeantwortet bleibt, wie stets im Pragmatismus, die Frage, welches denn die wahren und daher für die Einschätzung der Situation maßgebenden Bedürfnisse des Menschen sind — eine Frage, die sich ja auch im Rahmen einer Tatsachenwissenschaft nicht direkt stellen läßt. Doch wir wollen nicht hieran Kritik üben und etwa die quaestio crucis nach den wahren Bedürfnissen des Menschen unsererseits zu beantworten versuchen. Wir möchten nur die Frage aufwerfen, ob es nicht de facto Sprechweisen gibt, in denen nicht sosehr die Situation in Bezug auf schon vorausgesetzte, im Sinn des Behaviorismus durchschnittliche, menschliche Bedürfnisse eingeschätzt wird, sondern vielmehr diese Bedürfnisse selbst ineins mit der Daseinswelt allererst offenbar gemacht werden. Es handelt sich hier freilich nicht um eine klare Alternative, sondern um eine schwer faßbare dialektische Polarität, die innerhalb der vom Pragmatismus erschlossenen Wahrheitsdimension als Zweideutigkeit aller Bestimmungen sich bemerkbar macht. Am besten läßt sich das Problem vielleicht an dem Verhältnis von Dichtung und Rhetorik verdeutlichen. Morris vermag im Rahmen seiner pragmatistischen Charakteristik der „modes of signifying” (einer bewußten Neuauflage übrigens der mittelalterlichen „tractatus de modis significandi”) kaum ein wesentliches Kriterium zur Unterscheidung von dichterischer und rhetorischer Sprache,
15) Vgl.
E. Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 171 ff.
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insbesondere hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Wahrheit, anzugeben. Der Sprachzweck („use") ist in beiden Fällen wesentlich derselbe: Situationswertung („valuating"), bzw. „incitative” Beeinflussung des Publikums. Beim Dichter wird er nach Morris vorwiegend durch „appraisors” (d. h durch unmittelbar eine Wertschätzung ausdrückende Zeichen), beim Redner mehr durch den „formativen” (sonst für die Logik charakteristischen!) Zeichengebrauch erreicht16). Z. B. wird der analytische Satz „Männer sind Männer” im Zusammenhang einer Apologie männlichen Verhaltens zu einer typisch rhetorischen Redeweise. Man ist hier versucht, durch Einsatz von „appraisors” an Stelle der „formators” nach dem Rezept von Morris die rhetorische Apologie in eine poetische zu verwandeln. Es müßte dann etwa heißen: „Oh, diese grausam-unbekümmerten Männer!” Derartige Beispiele, die keineswegs den Wert der oft sehr feinsinnigen Analysen Morris' herabsetzen sollen, illustrieren, wie mir scheint, die innere Nähe des Pragmatismus zur Rhetorik, die Morris selbst bestätigt, wenn er die antike „ars rhetorica” eine Vorform der Zeichenpragmatik nennt (s. oben). Alle behavioristischen Kriterien, mit deren Hilfe Morris das Wesen der Dichtung fassen will, bleiben gewissermaßen im Rahmen der antiken Formel: „oratio docet, delectat et permovet”. Eben diese Formel bezeichnet aber, wie wir später zeigen werden, in der hellenistischen Antike den Beginn einer Art pragmatistischer Vorherrschaft der Rhetorik über die Poetik, eine Schranke des philosophischen Wesensverständnisses von Dichtung, die der Humanismus erst in Vicos „Scienza nuova” zu überwinden vermochte. Worauf beruht diese Schranke des Verständnisses im PragmatismusBehaviorismus? Zum Unterschied von der Rhetorik läßt sich — so möchten wir behaupten, und diese These wird sich vor allem bei der Interpretation Vicos bewähren müssen — das Wesen der Dichtung (wie auch das Wesen der philosophischen und religiösen Sprache) nicht unabhängig von der Geschichtlichkeit der Sprache und ihrer Wahrheit als Welteröffnung, d. h. schöpferischen Sinnkonstitution, begreifen: Rhetorische Sprache besitzt ihre Wahrheit in der richtigen (d. h. zweckgemäßen) Beschwörung einer praktisch relevanten Bedeutsamkeits- (Wert-) Situation im Rahmen einer allgemein anerkannten sprachlichen Welt-„Topik". In der „Topik” als dem zentralen Begriff der rhetorischen Sprachorientierung begrenzt sich der Sinnhorizont des Redners in der Rückbezogenheit auf eine feststehende Pragmatik menschlicher Bedürfnisse und Zwecke überhaupt. Dichtung (und ebenso Philosophie und Religion sowie der ihnen vorausgehende Mythos) eröffnet und begründet sprachlich allererst die öffentliche Ausgelegtheit von Mensch und Welt, an der die rhetorische Topik und die zugehörige politische Zweckpragmatik einer geschichtlichen Epoche ihre „Richtigkeit” bemißt.
16)
Vgl. Ch. Morris: Signs, Language and Behavior, a. a. O. p. 123 ff.
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Der Pragmatismus-Behaviorismus sucht das Wesen der Sprache ebenso wie das Wesen des Menschen als eine gesetzmäßig-generalisierbare „Funktion” zu begreifen. Er orientiert sich am sogenannten „Zeichen-Gebrauch” und fragt nach den verschiedenartigen Zwecken und Mitteln dieses Verhaltens. Es könnte aber sein, daß die Sprache gar nicht (primär) als „Instrument”, als „zuhandenes Zeug” (der späte Wittgenstein vergleicht sie mit einem Werkzeugkasten)17) im Dienste bestimmter Zwecke funktioniert, sondern ihr eigentliches Leben da entfaltet, wo die Worte gerade nicht im Rahmen eines Verhaltens-,,pattern" unauffällig zuhanden sind, sondern sich als „Werke” aufspreizen, in denen unvorhergesehener Sinn in das menschliche Dasein einbricht und das Worumwillen der Verhaltens-,,pattern" und ihrer Zweckbezüge selbst verändert. Offensichtlich besteh ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einem „Sprachgebrauch”, der die Phänomene der Erfahrung als Fälle bzw. als empirisches Material unter konventionelle Begriffe und Gesichtspunkte subsumiert (er kann freilich ein werkhaftes Eigenleben der Worte nicht dulden) und einem Verhalten, das die Sprache gleichsam als Sinninkarnationspotenz ins Spiel bringt, um mit ihrer Hilfe eine echte Neu-,,wahr"-nehmung des Seienden zu bewerkstelligen. Und es steht zu vermuten, daß der Sinn all der Worte (auch der wissenschaftlichen Begriffe), unter die wir beim nur zweckmäßigen „Zeichen-Gebrauch” die Erfahrungswelt subsumieren, seine ursprüngliche Konstitution jenem eigenartigen Verhältnis des Menschen zur Sprache verdankt, in dem sich die Absicht der menschlichen „Praxis” durch das Gelingen der offenbarmachenden „Po[i]esis” vermitteln muß. Ein solches Verhältnis scheint mir nicht nur in der Dichtung im engeren Sinn des Wortes, sondern auch z. B. im spekulativen Denken (auch dem des schöpferischen Einzelwissenschaftlers) zu bestehen. Sinn und Praxis des menschlichen Daseins könnten nicht in echter Weise durcheinander vermittelt sein, wenn die Sprache ohne Rest als zweckmäßige Verhaltensfunktion erklärt werden könnte. Damit eine nicht instinktmäßig festgestellte Verhaltenspraxis sich selbst über eine Sinneröffnung vermitteln kann, muß der wesentlichste Sprachgebrauch des Menschen gerade nicht „Sprach-Gebrauch”, d. h. nur zweckbezogene „Praxis”, sein, sondern den Charakter der „Po[i]esis” besitzen. Sprachliche Sinnkonstitution ist zweifellos immer durch gesellschaftliche Verhaltenspraxis (und insofern insbesondere durch konventionellen „Sprach-Gebrauch”) vermittelt, aber sie geschieht in Augenblicken dichterischer Po[i]esis und kann deshalb die gesellschaftliche Verhaltenspraxis geschichtlich begründen. In dem Unterschied von zweckbezogener „Praxis” und offenbarungsbezogener „Po[i]esis” bekundet sich die oben erwähnte Zweideutigkeit der pragmatistischen (und auch der existenzphilosophischen) Erweiterung der Sprachund Wahrheitsproblematik um eine dritte Dimension der eigent-
17)
L. Wittgenstein: Philos. Unters., a. a. O. § 11.
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lichen Sinnkonstitution, die von der logischen Semantik, anders gesagt: vom wissenschaftskonstitutiven „Tatsachen-Bewußtsein überhaupt”, im-mer schon vorausgesetzt wird. Die pragmatische Dimension der Bedeutung, wie sie von Morris und dem späten Wittgenstein in der deskriptiven Analyse des „Sprach-Gebrauchs” der „Umgangssprache” entfaltet wird, kennt die geistesgeschichtliche Vermittlung des menschlichen Verhaltens durch „Sinnereignisse” nicht und kann daher m. E. auch nicht die volle philosophische Tragweite des eingangs diskutierten Umstandes zur Geltung bringen, daß die Umgangssprache die letzte Metasprache aller künstlichen Sprachkonstruktion ist. Der Pragmatismus ergänzt das syntaktisch-semantische Sprachmodell der Logistik bzw. des logischen Positivismus (und das zugehörige Wahrheitsmodell der formallogischen und tatsachenmäßigen „Richtigkeit”) zwar „systematisch” richtig im Sinne einer „anthropologischen” Rückbezogenheit der sprachlichen Sinnkonstitution und ihrer Situationswahrheit. Was er aber gerade als systematischer Anthropologismus (und insofern „Humanismus”, vgl. F. C. S. Schillers Version des Pragmatismus und Sartres Version des Existenzialismus!) nicht berücksichtigen kann, ist die Geschichtlichkeit des sprachvermittelten In-derWelt-seins, dergemäß der Mensch, der in seinen vitalen und existenziellen Bedürfnissen zweifellos formaler Angelpunkt der sprachlichen Sinnkonstitution ist, gleichwohl in seinem Wesen hier und jetzt auch durch das Sinnapriori seiner Sprache geschichtlich bedingt ist. Radikal gesagt: Das Wesen der Sprache kann deshalb nicht anthropologisch erklärt werden, weil es als Vermittlung von Sinn und Praxis mit dem geschichtlichen Wesen des Menschen identisch ist. Bereits der Begriff der „Umgangssprache”, der gegenwärtig im Zentrum der Bemühungen der angelsächsischen Sprachanalyse steht, verrät etwas von der systematisch-anthropologischen Beschränktheit des ganzen Ansatzes. Er ist als Gegenbegriff zur „Kalkülsprache überhaupt” gebildet und bringt z. B. nicht zur Geltung, daß die Umgangssprache eine jeweils bestimmte Sprache ist. Die „Umgangssprache” gehorcht indessen dem Gesetz der Konkretisierung des Geistes nicht anders als die einzelnen konstruierten Kalkülsprachen, nur daß an ihrer Bestimmung nicht allein konventionelle Willkür und logische Gesetzlichkeit, sondern darüber hinaus das geschichtliche Schicksal (Taten und Wesenserfahrungen) einer menschlichen Gemeinschaft mitgewirkt haben. Die „Umgangssprache” ist die jeweilige „Muttersprache” eines Volkes. Hier muß jedoch von vornherein einem Mißverständnis vorgebeugt werden: Da es im gegenwärtigen Problemzusammenhang darum geht, die Bedeutung der Sprache als Sinnapriori unseres Weltverständnisses richtig einzuschätzen, könnte der Satz „Die Umgangssprache ist die jeweilige ,Muttersprache` eines Volkes” im Sinne einer völkisch-romantischen Meta-
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physik verstanden werden, die jeder Nation ihre eigene Philosophie oder sogar ihre eigene Physik (wie es ja tatsächlich geschehen ist) zuordnen möchte. Hierzu ist zweierlei zu bemerken: Zunächst bleibt immer das in der „logischen Semantik” grundlegende Gerüst des „Tatsachenbewußtseins überhaupt” ein eigenständiges transzendentales Regulativ, an dem alle Sprachen teilhaben und das in den modernen Kultursprachen auch als Grundprinzip theoretischer Wissenschaft zum Bewußtsein des Menschen gebracht ist. Die Tatsache, daß in den mannigfaltigen perspektivischen Bedeutungshorizonten der modernen Weltsprachen die Idee des wissenschaftlichen „Tatsachenbewußtseins überhaupt” als Verhaltensregulativ der Menschen zur geschichtlichen Geltung gelangt ist, führt aber nun auf einen zweiten Punkt: Wenn wir vom philosophisch relevanten Sinnapriori der Muttersprache reden, so orientieren wir unseren Begriff der Geschichtlichkeit der konkreten Sprache nicht mehr primär an dem genealogischen Stammbaumschema der lautgebundenen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, etwa eines Jakob Grimm. Wesentlich für das umgangssprachlich bedingte Weltvorverständnis etwa eines modernen Logistikers, der bei seinen Sprachkonstruktionen auf die Umgangssprache als letzte Metasprache, d. h. als Medium seines eigentlichen intuitiv-spekulativen Denkens, angewiesen ist, ist ja nicht sosehr der Umstand, daß er Deutscher oder Franzose, Germane oder Romane ist, sondern vielmehr die Tatsache, daß er in den Begriffen und Denkformen der abendländischen Metaphysik, speziell ihrer neuzeitlichen, technisch-szientifischen Ausprägung denken muß (wenigstens solange, als er diese Voraussetzungen nicht aus ihren Anfängen her hermeneutisch wiederholt und kritisch angeeignet hat, wie noch zu zeigen sein wird). Sogar ein Japaner, der Logistik betreibt, wird im wesentlichen durch diese Denkformen der abendländischen Metaphysik bestimmt werden. Insofern ist in diesem Fall, überspitzt und paradox gesagt, das Japanische nicht die letzte Metasprache seines Weltverständnisses. Trotzdem bleibt die These von der muttersprachlichen Bedingtheit unseres Weltvorverständnisses prinzipiell berechtigt. Der Japaner hat, sofern er Logistik betreibt, eben an der Muttersprache des abendländischen Geistes teilgenommen — etwa durch ein Philosophiestudium in England oder Deutschland oder durch die Lektüre entsprechender abendländischer Literatur. Das zuletzt angeführte Beispiel ist m. E. nicht etwa ein Beleg dafür, daß allein die Sachproblematik und die allgemeinmenschlichen Denkvoraussetzungen ins Gewicht fallen, sondern es zwingt zu einem Umdenken in der Auffassung des Wesens der Sprache, wie es in Deutschland z. B. von der sogenannten „inhaltbezogenen Sprachwissenschaft” L. Weis-
18 ) Vgl. L. W e i s g e r b e r : Innere Sprachform als Stil sprachlicher Anverwandlung von Welt (Stud. Gen., Jg. 7/1954, S. 571-579).
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und J. Lohmanns angebahnt wird. Es gilt die „innere Sprach-form” als „Stil sprachlicher Anverwandlung von Welt"18) in „Wort-Inhalten” und grammatischen „Denkformen” ins Auge zu fassen. Dann zeigt sich, daß z. B. für die Würdigung des Verhältnisses der europäischen Sprachen zur europäischen Wissenschaft nicht die verschiedene Lautform der europäischen Sprachen wesentlich ist, sondern ihr weitgehend gemeinsames Bedeutungs-Weltbild und ihre in der Auseinandersetzung mit der lateinischen Grammatik ausgebildeten Fügungsformen des Denkens (z. B. das Tempus-System der Verben, das nach Lohmann aus der lateinischen Vorprägung wesentliche Vorbedingungen unseres kausalen Denkens übernommen hat19)). Die Geschichtlichkeit des muttersprachlichen Sinnaprioris liegt für einen deutschen oder englischen Philosophen in der weitgehend gemeinsamen Bedingtheit ihres Weltvorverständnisses durch die „translatio” der zuerst von den Griechen (freilich nicht ohne Anknüpfung an gewisse notwendige Vorbedingungen ihrer Muttersprache bzw. des indogermanischen Sprachtyps20)) ausgeprägten Begriffe und Denkformen auf dem Wege über das römische Latein Ciceros, Augustinus' und Boethius' in das mittelalterliche Latein der Universitäten und weiter auf dem Wege, dessen ideologisches Selbstverständnis wir im folgenden zu beschreiben haben, in die neuzeitlichen Nationalsprachen Europas. Sofern neben die skizzierte „translatio studii”, d. h. der philosophisch-wissenschaftlichen Sprache des Abendlandes, noch die vom Hebräischen ausgehende über das hellenistische Griechisch und das Latein der Kirchenväter vermittelte „translatio” der religiösen Sprache tritt, erweist sich die christlich-humanistische Vorstellung von der Abfolge der „heiligen Sprachen”, d. h. der Sprachen, in denen die Spur des geistigen Aufbruchs unserer Kultur zuerst sich eingegraben hat, als ein wieder hochaktuelles geschichtsphilosophisches Denkmodell für das Verständnis der Geschichtlichkeit unseres Weltvorverständnisses. Tatsächlich kann die moderne Sprachwissenschaft nachweisen, daß die bedeutungsmäßige Ausprägung der Wortfelder und festen Redensarten, ja sogar der syntaktischen Baupläne unsere abendländischen Sprachen weitgehend nach dem Gesetz der „translatio” des jeweils geistig Vorbildlichen erfolgt ist, d. h. durch analogische Lehn-Anbildungen an die Begriffe, festen Redensarten und Denkformen der jeweils führenden europäischen Sprachen). Wenn heute die Intelligenz gerbers
19)
Vgl. J. Lohmann: Gemeinitalisch und Uritalisch (Lexis, Bd. III, 2, S. 169-217). Vgl. J. Lohmann: M. Heideggers ontologische Differenz und die Sprache (Lexis, I, 1948, S. 49106); ferner ders.: Ober den paradigmatischen Charakter der griechischen Kultur (Festschr. f. H. G. Gadamer, Tübingen 1960, S. 171-189). 21) Vgl. z. B. W. Betz: Lehnwörter und Lehnprägungen im Vor- und Früh-deutschen (in: MaurerStroh: Dtsch. Wortgeschichte, 2. Aufl., Bd. I, Berlin 1959, S. 127 ff. Dort auch weitere Literatur über andere Zeit- und Kulturräume sowie Lehnprägungen auf grammatisch-syntaktischem Gebiet. 20)
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der nichteuropäischen Kulturen die europäisch-amerikanische Wissenschaft und Technik rezipiert, so dürfte ihr wirkliches Verständnis der geistigen Voraussetzungen weitgehend von einer Fortsetzung der skizzierten „translatio” durch Lehnanbildungen ihrer Sprachen zumindest an die Begriffe der abendländischen Muttersprache der Wissenschaft abhängen. Mit diesen Andeutungen einer sprachgeschichtlichen Konkretisierung des Problems der umgangssprachlichen Voraussetzungen philosophischen Denkens haben wir bereits vorgegriffen auf philosophische und sprach-wissenschaftliche Denkansätze, wie sie vornehmlich im deutschen Sprach- und Denkbereich in den letzten Jahrzehnten ausgebildet worden sind. Wenn in der angelsächsischen Welt die Traditionen des sprachkritischen Nominalismus und der konstruktiven Zeichenkunst der „mathesis universalis” zunächst im logischen Positivismus sich trafen, dessen Aporetik schließlich zu einer pragmatistisch-behavioristischen Deskription der Umgangssprache hindrängte, so scheint die deutsche Philosophie und Sprachwissenschaft auf dem besten Wege, das metakritische Vermächtnis der sprachphilosophischen Außenseiter unserer klassischen Transzendentalphilosophie: Hamann, Herder und W. v. Humboldt, endlich einzulösen. Wir erwähnten bereits den Ansatz der „inhaltbezogenen” Sprachwissenschaft, die mit dem Satz W. v. Humboldts Ernst zu machen gedenkt, daß die Verschiedenheit der menschlichen Sprachen „nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst” ist22). Wir werden im einzelnen immer wieder auf die Arbeiten dieser Forschungsrichtung zurückkommen, insbesondere sofern sie, wie z. B. L. Weisgerbers Buch über die „Entdeckung der Muttersprache im europäischen Denken” (Lüneburg 1948) und Joh. Lohmanns Aufsatz über „Das Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache” (Lexis, III, 1, S. 5-49), auch neuartige Beiträge zu einer Geschichte der Sprachphilosophie aus sprachphilosophischer Sicht geliefert haben. Während die empirische Sprachwissenschaft durch die Erneuerung des - Humboldtschen Programms des vergleichenden Sprachstudiums ein erhebliches philosophisches Interesse gewonnen hat, scheint andererseits die Entwicklung der deutschen Transzendentalphilosophie mit dem Interesse der „inhaltbezogenen Sprachwissenschaft” immer mehr zu konvergieren durch eine Wiederholung des erkenntniskritischen Anliegens (d. h. der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstands- oder besser: Welt-Konstitution) im Medium der geschichtlichen Sprache, wie es Hamann und Herder gefordert hatten, ohne ihrerseits die Denkmittel der Transzendentalphilosophie würdigen zu können.
22) W. v. Humboldt: Über das vergleichende Sprachstudium, § 20.
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Wir wollen die letztere Tendenz im folgenden durch einige kurze Hinweise auf einzelne Denker zu belegen versuchen; dabei möchten wir natürlich nicht den Anspruch erheben, den charakterisierten Werken auch nur annähernd im ganzen gerecht zu werden. Vom Neukantianismus her hat zuerst E. C a s s i r e r eine Erweiterung der Erkenntniskritik zu einer „Philosophie der symbolischen Formen” (Hamburg 1923) in Angriff genommen, in der auch bereits die Konzeption einer universalen Geistesgeschichte als Geschichte der Sprachfunktion sich zur Geltung bringt, wenngleich diese Geschichte noch nicht als eigen-ständige Dimension des in allem Weltverstehen vorausgesetzten Sinn-aprioris neben der formalen Spontaneität des Geistes überhaupt anerkannt ist (in dieser Hinsicht bleibt E. Cassirers Phasentheorie der Sprachgeschichte hinter der tiefsinnigen, freilich auch verworrenen und oft widersprüchlichen Konzeption Vicos entschieden zurück, wie wir später zu zeigen versuchen). Als Konkretisierung der kantischen Problematik der Gegenstandskonstitution begreift auch R. Hönigswald („Philosophie und Sprache", Basel 1937) die Aufgabe der Sprachphilosophie. Dabei gelingt es ihm in subtiler Formalisierung, das transzendentale „Gegenstandsbewußtsein überhaupt” so zu fassen, daß darin die intermonadische Situation der „Verständigung` über die Welt in ihrer „Bestimmtheit” samt allen Bedingungen der individuellen Konkretheit und Geschichtlichkeit solcher sprachlichen Bestimmtheit gefordert, d. h. formal mitgedacht ist. Freilich bleibt solche formalisierende Transzendentalphilosophie der Sprache noch weit entfernt von einer Philosophie, welche ihre eigenen Bedingungen der Möglichkeit aus der sprachgeschichtlichen Situation des abendländischen Denkens sich vermitteln läßt. Das hier für die Transzendentalphilosophie entstehende Problem des Verhältnisses einer allgemeinen (formalen) Theorie des sprachvermittelten In-der-Weltseins des Menschen zur konkreten Sprachvermitteltheit selbst steht, wir mir scheint, im Mittelpunkt der „Philosophie des Geistes” von T h. L i t t 23). Litts charakteristische Lösung des Problems liegt in der Konzeption der „Selbstaufstufung des Geistes” bzw. „der Sprache”, womit er — aus unserer Perspektive gesehen — die Hegelsche Dialektik in die sprachphilosophische „Wiederholung` der Transzendentalphilosophie einbezieht. Litts Theorie der „Selbstaufstufung der Sprache” bietet ein interessantes Gegenstück zu der oben erwähnten, von B. Russell bis A. Tarski ausgebildeten logistischen Problematik der „Sprachenhierarchie”.
23)
Vgl. zum Folgenden Th. Litt: Mensch u. Welt, Grundlinien einer Philosophie des Geistes, München 1948, insbesondere Kap. XIII u. XIV.
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Die logistische Sprachanalyse erhoffte sich für die reflexive Aufklärung der Sprach- und Erkenntnisfunktion alles von der formalisierenden Konstruktion hierarchisch aufeinander bezogener eindeutig-allgemeingültiger Zeichensysteme, wobei die undurchsichtigen Voraussetzungen der lebendigen Umgangssprache ins Unendliche verschoben und dadurch unschädlich gemacht werden sollten24). Charakteristisch für diese Verschiebungsspekulation ist die logistische Behandlung der berühmten Paradoxie des Lügners, der, unter Rückbeziehung auf die eigene Rede, sagt: „Ich lüge jetzt.” Sie wird bei Tarski dadurch „aufgelöst”, daß ihr Auftreten durch das Postulat einer unendlich fortzusetzenden Spaltung der Sprache in „Objektsprache” und „Metasprache” unmöglich gemacht wird25). Demgegenüber traut Litt gerade der konkreten, lebendigen Umgangssprache — und nur ihr — die Leistung einer reflexiven Selbstdurchsichtigmachung zu: Jede geschichtlich-bestimmte Sprache ist nach Litt nicht nur befähigt, sondern sogar ihrem inneren Wesen nach genötigt, in der Umwendung auf sich selbst sich als Objektsprache und Metasprache zu unterscheiden, ohne dabei ihre Identität mit sich selbst einzubüßen (wie es bei der logistischen Sprachspaltung der Fall ist). In diesem notwendigen Prozeß der „Selbstaufstufung”, der keineswegs wie bei der Konstruktion von Zeichensystemen ein regressus in infinitum ist, sondern in der absoluten „Selbstergründung” der Sprache gemäß dem „Sichwissen des Wissens” (Hegel) endet, vermag die Selbstbesinnung der individuellen Sprache, vollzogen von einem individuellen Denker in dessen individuellem Sprachstil, zu philosophisch allgemeingültigen Aussagen über die Sprache überhaupt (und entsprechend über Erkenntnis, Sinn, Geist) zu gelangen, die aus aller Beschränktheit und Vieldeutigkeit der unmittelbaren (objektsprachlichen) Welterschließung herausgehoben sind. So bedeutet z. B. die Erkenntnis der „Geschichtlichkeit” jeder Sprache und entsprechend der „Einseitigkeit” bzw. „Perspektivität” ihrer bedeutungsmäßigen „Weltansicht” nach Litt eine prinzipielle Überwindung der durch sie selbst ausgesprochenen Einschränkungen: der Begriff „Individualität” ist nicht selbst „individuell”, der Begriff der „Geschichtlichkeit” nicht selber „geschichtlich”, der Begriff der „Vieldeutigkeit” nicht selber „vieldeutig”, der Begriff der „Perspektivität” nicht selber „perspektivisch” usw.. Man sieht, daß Litt die philosophische Überwindung all der Mängel, welche die Sprachkritik des logischen Positivismus der lebendigen Umgangssprache zuschreibt, von der dialektischen Selbstbesinnung eben
24) 25)
S. oben Anmerkg. 5. Vgl. W. Stegmüller: Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik, Innsbruck 1957.
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dieser Umgangssprache erwartet. Als Probe aufs Exempel sei die philosophische Lösung der Paradoxie des Lügners, wie sie sich aus Litts Sprach-philosophie ergibt, der Tarskischen Lösung gegenübergestellt: Tarski macht, wie schon erwähnt, das Auftreten der Paradoxie in der Sprache der exakten Wissenschaft technisch unmöglich, indem er die reflexive Rückbezüglichkeit der Umgangssprache auf sich selbst (vermöge deren einer sagen kann: „Ich lüge immer” oder: „ich lüge jetzt”) durch die künstliche Trennung von Objektsprache und Metasprache ein für allemal beseitigt. Litt dagegen benutzt gerade die Selbstrückbezüglichkeit der lebendigen Umgangssprache, um zu einer spekulativen Lösung des Problems zu gelangen: Eine solche liegt bei ihm in der Einsicht, daß niemals eine kritisch-reflexive Aussage der Sprache über die Sprache so formuliert werden darf, daß sie ihre eigene allgemeingültige Wahrheit verneint. Nicht mechanische Unterbindung der Selbstrückbezüglichkeit der Sprache, sondern einsichtsvoller Nachvollzug der in ihr angelegten Rangstufengesetzlichkeit der Wahrheit soll zur Vermeidung der Wahrheitsantinomie führen. Es ist die Nichtbeachtung der „Selbstaufstufung der Wahrheit” in der Selbstbesinnung der Spräche, welche zur „Paradoxie des Lügners” und ebenso zur Selbstwiderlegung des absoluten „Skeptizismus”, „Existenzialismus”, „Pragmatismus”, „Biologismus” sowie jeder philosophischen Theorie führt, die von ihrer eigenen Möglichkeit nicht jederzeit Rechenschaft abzulegen vermag, d. h. aber: die sich nicht selbst im Sinne Hegels die Wahrheit zutraut26). Vergleichen wir die Littsche und die logistische Behandlung des Problems der kritischen Selbstbesinnung der Sprache, so fällt m. E. zunächst auf, daß jede der beiden Positionen ihre Stärke da hat, wo die Schwäche der anderen liegt: Die logistische Sprachkonstruktion läßt die spekulativen Voraussetzungen ihres eigenen, aktualen Denkens zugleich mit der Umgangssprache als der letzten Metasprache ihrer sukzessiven Konstruktion prinzipiell im Dunkel liegen. Daraus ergibt sich die Schwäche der logistischen Sprachanalyse im eigentlich Philosophischen (z. B. die naive Unterstellung des technisch-szientifischen Zeichenbegriffs der Kunstsprache als zureichenden Begriff der lebendigen Sprache), die sich besonders dann zu zeigen pflegt, wenn die Logistiker — außerhalb und trotz ihres technischen Programms — sich über ihre spekulativen Hintergründe und letzten Hoffnungen in der Umgangssprache äußern. Dem steht aber, wie früher bereits betont wurde, die Stärke der logistischen Sprachkonstruktion in der Perfektionierung der Sprachorganons selbst gegenüber: d. h. ihre praktische Leistung der Zuschärfung der konkreten Sprache der Einzelwissenschaften. Diese praktische Leistung vollzieht sich freilich nur auf Grund zusätzlicher
26)
Vgl. Th. Litt
a. a. O., bs. Anm. 60.
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Voraussetzungen, die keineswegs mit den Denkmitteln logistischer Sprachkonstruktion gedeutet werden können. Sie beruht, wie schon mehrfach angedeutet, m. E. darauf, daß die konstruierte Kalkülsprache, falls ihre Deutung als Präzisionssprache der Wissenschaft gelingt, sich durch die traditionelle Wissenschaftssprache, d. h. aber letztlich: durch die gesamte Geschichte der umgangssprachlichen Welterschließung, vermittelt und dergestalt als verschärfte Fortsetzerin der geschichtlichen Umgangssprache legitimiert. Die praktische Zuschärfung der Sprache kraft einer Vermittlung und Legitimierung terminologischer Konstruktionen durch die vorausgehende sprachliche Erdeutung dessen, was sie eindeutiger meinen sollen, ist nun aber ein geschichtliches Grundphänomen sprachlicher Welterschließung, das auch für die philosophische Begriffsbildung selbst gilt und methodologischer Explizierung bedarf. Die logistische Sprachkonstruktion in ihrer einzelwissenschaftlichen Anwendung bedeutet nur eine sehr spezielle Aufgipfelung dieses Prinzips. Hier fehlt nun, wie mir scheint, das entsprechende Problemverständnis in dem sprachphilosophischen Grundansatz Litts. Die Stärke dieses Ansatzes liegt im Spekulativ-Prinzipiellen, wie wir sagen möchten. Insofern springt er genau da in die Bresche und ergänzt die Position der logistischen Sprachkonstruktion, wo diese philosophisch naiv ist, z. B. mit der Einsicht, daß sich „über Wesen, Ursprung, Leistung und Grenzen der Zeichensprache” nicht in einer Sprache reden läßt, die ihrerseits wieder Zeichensprache wäre27), weiter mit der Einsicht in die dialektische Selbstaufstufung der lebendigen Sprache und ihres Sinnes bzw. ihrer Wahrheit (vgl. unser Beispiel der Auflösung der Paradoxie des Lügners). So recht aber Litt hat mit der prinzipiellen Einsicht in die spekulative Überhöhung aller geschichtlich bedingten Einseitigkeit, Beschränktheit und Vieldeutigkeit der einzelsprachlichen Welterschließung durch die philosophische Reflexion auf eben diese Mängel, so scheint mir in seiner Theorie doch auch eine Überschätzung der nur formalen, jederzeit möglichen Reflexion des Geistes und der Sprache auf sich selbst zum Ausdruck zu kommen. Greifen wir noch einmal auf die oben angeführten Beispiele zurück: Der Begriff „Individualität” ist nicht selbst individuell, der Begriff der „Geschichtlichkeit” ist nicht selbst geschichtlich, der Begriff der „Vieldeutigkeit” ist nicht selbst vieldeutig, der Begriff der „Perspektivität” ist nicht selber perspektivisch usw.. — Alle diese Beispiele für die spekulative Überwindung der einzelsprachlichen Beschränktheiten durch den mit der Selbstaufstufung jeder Sprache einhergehenden Aufstieg ins Sinn-allgemeine, der in der Selbstergründung des Geistes zur Ruhe kommt, leuchten ein, solange man gleichsam nur dem formalen Grundzug der
27)
Ebda. S. 240.
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spekulativen Reflexionsdialektik folgt: Im Hinblick auf seine logische Leistung überhaupt kann der Begriff der Individualität nicht selbst individuell sein, kann der Begriff der Geschichtlichkeit nicht selber geschichtlich sein usw.. Hier muß prinzipiell ein neuer, höherer Boden der Wahrheit betreten sein. Dennoch weiß jeder Philosophiehistoriker, daß die Begriffe „Individualität”, „Geschichtlichkeit”, „Vieldeutigkeit”, „Perspektivität” bei verschiedenen Denkern einen sehr verschiedenen Gehalt haben können und insofern offenbar doch selbst individuell, geschichtlich, perspektivisch, vieldeutig sind. Hierin macht sich eben doch, und zwar selbst noch auf der letzten und höchsten Stufe spekulativer Selbstergründung des Geistes (etwa beim Hegelschen Begriff des sich selbst wissenden Wissens, vergleicht man ihn z. B. mit dem aristotelischen der kågpfsklÌpbts) die Tatsache bemerkbar, daß die im ganzen wie im einzelnen konkretgeschichtliche, perspektivische und vieldeutige Umgangssprache das Medium alles philosophischen Denkens ist und bleibt. Genauer gesagt: diese Tatsache bedingt, daß es ein Zuendekommen der reflexiven Selbstergründung der Sprache und damit des Geistes allenfalls in einer gewissen formal-spekulativen Vorwegnahme, keinesfalls aber im Hinblick auf den materialen Gehalt der Sprache und des Geistes geben kann. In materialer Hinsicht bleibt das menschliche Verstehen immer sich selbst „vorweg”, wie man — freilich wieder in „formaler Anzeige” das Ende vorwegnehmend — mit Heidegger sagen könnte. Diesem Umstand scheint nun Litt selbst gerade dadurch Rechnung zu tragen, daß er in seiner Theorie von der „Selbstaufstufung” des Denkens die Methode Hegels gewissermaßen nur in ihrem formaldialektischen Prinzip erneuert, nicht aber insofern, als sie als Konstruktion des weltgeschichtlichen Prozesses das geschichtlich Individuelle in dem Logos des Ganzen aufzuheben beansprucht. Dieser Anspruch ist nach Litt, der hierin den Einwänden Kierkegaards und der historischen Geisteswissenschaften folgt, als endgültig gescheitert zu betrachten28). Es fragt sich indessen, ob die Aufrechterhaltung des Anspruchs der formalen Selbstergründung des Geistes unter Preisgabe der substanziell-geschichtlichen Reflexion nicht eine Unterschätzung der von Hegel bereits erkannten inneren Wechselbezogenheit von Form und Inhalt des Geistes und demzufolge einen Rückfall in den ungeschichtlichen Formalismus der Kantischen Transzendentalphilosophie darstellt. Anders ausgedrückt: Wenn schon der allgemeine Begriff der Philosophie nicht imstande ist, das Besondere des Sinngehalts der geschichtlichen Welterfahrung, wie es sich z. B. in den konkreten Sprachen niederschlägt, so zu konstruieren, daß das Kontingente sich als notwendig im Allgemeinen aufhebt: muß er
28)
Ebda., Anm. 63.
47
nicht dennoch sich selbst immer erneut durch das Kontingente der Ge-schichte (d. h. aber in unserem Problemzusammenhang: durch die Ge-schichte der abendländischen Philosophensprache, ja darüber hinaus durch die Vorgeschichte dieser Philosophensprache in der kategorialen Welterschließung unseres Sprachbautyps, verglichen mit den für andere Kulturen grundlegenden Sprachbautypen) vermitteln, um das zu Bestimmende schärfer zu treffen und damit gerade die Selbstaufstufung des Geistes reiner zur Geltung zu bringen? Noch anders formuliert: Wennschon eine allgemeine philosophische Theorie der Hermeneutik als diese allgemeine Theorie nicht selbst Hermeneutik sein kann, wie Litt gegen Dilthey (und implizit auch gegen Heidegger) einwendet29): kann und muß die Philosophie nicht vielleicht in anderer Hinsicht Hermeneutik sein: nicht, sofern sie auf die Leistungen der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik formal reflektiert, sondern, sofern sie sich selbst in das seit den Griechen im Abendland bestehende Gespräch der Philosophen hineinzustellen hat und dieses abendländische Gespräch der Philosophie in die heutige Begegnung der großen Weltkulturen; noch allgemeiner gefaßt: sofern sie den Menschen der Gegenwart in die Situation seines sprachvermittelten In-der-Welt-seins einzurücken hat? (Eine solche philosophische Hermeneutik unterscheidet sich freilich wesentlich von der einzelwissenschaftlichen Hermeneutik der Geisteswissenschaften, wie später mit Bezug auf Heidegger gezeigt werden soll.) Könnte insofern nicht zwischen den formalen Begriffen der philosophischen Sprache (wie z. B. „individuell”, „geschichtlich”, „existentiell” usw.) und dem konkret-materialen Gehalt, auf den sie sich beziehen, unbeschadet des zu endgültiger Selbstergründung drängenden reflexiven Selbstaufstufungsverhältnisses, auch ein Verhältnis des hermeneutischen Zirkels wechselseitiger Voraussetzung und dynamischer Korrektur bestehen — entsprechend dem Umstand, daß der Mensch einerseits (im Sinne Hegels) prinzipiell fähig ist, sich selbst (auch noch in seinem Denken) zu denken, andererseits aber in der Endlichkeit seines „Zu-seinverstehens” aller möglichen Reflexion stets vorweg bleibt und insofern auch seine philosophischen Begriffe nur Möglichkeitsentwürfe darstellen, die a priori auf die immer erneute Vermittlung (im hermeneutischen Zirkel) ihres Sinnallgemeinen durch den besonderen Sinn der geschichtlich bedingten Situation angewiesen sind? Wir haben mit diesen Erwägungen prinzipiell die Position einer transzendentalen Hermeneutik des sprachvermittelten In-der-Welt-seins gekennzeichnet, die wir für den Konvergenzpunkt der jüngsten Bestrebungen der Sprachphilosophie und der empirischen Sprachwissenschaft in
29) Ebda.,
Anm. 60.
48
Deutschland halten möchten. Wir könnten zur Verdeutlichung dieser Position, die m. E. auch die entscheidenden Gesichtspunkte für eine Ge-schichte der Sprachphilosophie und innerhalb ihrer insbesondere für die kritische Würdigung des „Sprach-Humanismus” hergibt, unmittelbar von Litt z u Heidegger übergehen, möchten aber die Charakteristik der mit Cassirer einsetzenden Entwicklung der traditionellen deutschen Transzendentalphilosophie des Bewußtseins zur Transzendentalphilosophie der Sprache nicht abbrechen, ohne noch die beiden eng verbundenen österreichischen Philosophen E r i c h H e i n t e l und J o s e p h D e r b o l a v zu erwähnen, die ähnlich wie Litt vornehmlich von Hegel her die Wiederholung des Problems der Erkenntniskritik im Medium der Sprache gefördert haben. Sowohl bei H e i n te l wie auch bei Derbolav macht sich eine intimere Auseinandersetzung mit dem sprachkritischen Anliegen des „Wiener Kreises” bemerkbar30). Bei Heintel führt dies zu einem ausdrücklichen Bedenken der eigentümlichen „Tragik der deutschen Geistesgeschichte”, „daß es nämlich in der gemeinsamen großen Zeit deutscher Philosophie (von Kant bis Hegel) und deutscher Besinnung auf die Sprache (Hamann, Herder, Romantik, Humboldt), nicht eigentlich zur Ausbildung einer Sprach-philosophie gekommen ist, in der sich das tiefe Verständnis für das Wesen der Sprache auf der einen Seite mit dem Niveau und dem Ernst der erreichten Methode philosophischer Reflexion auf der anderen Seite vereinigt hätte"31). Die „grundsätzlichen Formulierungen Hamanns, Herders und Humboldts” zielen nach Heintel auf „gar nichts anderes ... als die sprachphilosophische Fassung der transzendentalphilosophischen Funda-mentalproblematik"32). Dies im einzelnen zu beweisen und dergestalt der neopositivistischen Sprachanalyse gegenüber das überlegene Problembewußtsein einer transzendentalen „Dialektik des Logosartigen” (Sprache, Erkenntnis, Meinen, Bedeutung, Sinn) wieder zur Geltung zu bringen, bemüht sich der Wiener Philosoph sowohl in einer eigenen äußerst konzisen „Sprachphilosophie"38) wie auch in Neuherausgaben und Interpretationen Herders34) und Hamanns35).
30) Vgl. hierzu bs. E . Heintel: Der „Wiener Kreis” und die Dialektik der Erfahrung (ReiningerFestschrift, 1949, S. 40 ff.) u. J. Derbolav: Das Metaphorische in der Sprache (a. a. O. S. 80-113). 31) E. Heintel: Einleitung zu einer Herausgabe sprachphilosophischer Schriften Joh. Gottfr. Herders, „Philos. Bibl.”, Hamburg 1960. S. XVII. 32) Ebda. S. XX. 33) E. Heintel: Sprachphilosophie (Dtsch. Philologie i. Aufr., hrsg. v. W. Stammler, Bd. I, 2. Aufl., Spalte 563 ff.). 34) s. Anm. 31. 35) Vgl. E. Heintel: Gegenstandskonstitution u. sprachl. Weltbild (Weisgerber-Festschrift a. a. O. S. 55), wo eine Analyse der Hamannschen Metakritik angedeutet bzw. in Aussicht gestellt wird.
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In unserem Zusammenhang ist Hein tels „Dialektik des Logosartigen” besonders dadurch interessant, daß sie im Vollzug eben der von uns im Anschluß an Th. Litt charakterisierten „Selbstaufstufung” der Sprache bzw. des Geistes, d. h. in Ergänzung der Kantischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der unmittelbaren Gegenständlichkeit der Welt durch die dialektische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Transzendentalphilosophie (der „Sprache zweiten Grades” in der Terminologie Litts), zu einer Art philosophischen Rehabilitierung des sogenannten „naiven, unmittelbaren Sinns” der primärsprachlichen Erschlossenheit unserer Daseinswelt gelangt, m. a. W.: zur Konstatierung einer gehaltlichen Dimension des sprachlichen Sinnaprioris, die dem formalen Apriori der Selbstvoraussetzung und Selbstergründung des Logos und seinem Pathos der Selbstgewißheit durchaus entgegengesetzt ist — sosehr, daß Heintel zu ihrer angemessenen Berücksichtigung ein „positives Denken” im Sinne des späten Schelling fordert36). Heintel selbst charakterisiert diese Dialektik des Logos folgendermaßen: „Das Paradoxe dieses ganzen Gefüges von Reflexionen liegt darin, daß sich in der transzendentalen Überhöhung (gemeint ist die Kantische Fragestellung!) die unmittelbare Gegenständlichkeit in ihrem „Ansich” als ein Moment von „Sinn” herausgestellt und das peripherlineare Denken (gemeint ist das all-tägliche, einzelwissenschaftliche und noch realontologische Denken in der „intentio recta”) sich als naiv erweist, — daß sich aber im dialektischen Denken auf die Voraussetzung jener höheren Reflexion der unmittelbare, naiv-gegenständliche Sinn als diese Voraussetzung herausstellt und sozusagen wiederum das Recht der Erstgeburt antritt."37)
Dieser „unmittelbare, naiv-gegenständliche Sinn” der immer schon sprachlich erschlossenen Situation ist nach Heintel der Punkt, auf den Hamanns Metakritik der Kantischen Erkenntniskritik sich bezieht: „Ersetzt er (Hamann) doch ohne viel Federlesens die Affektion der transzendentalen Ästhetik bei Kant durch den unmittelbaren Sprachsinn, womit ganz eindeutig ausgesprochen ist, daß die transzendentale Gegenstandskonstitution nicht als eine gegenständliche Relation von affizierender Außenwelt und affizierter Innenwelt („Subjekt”) gedacht werden kann, sondern daß sie eben immer schon actu (im unmittelbaren Sprachsinn) vollzogen ist, wenn sie sich in überhöhter Reflexion selber erfaßt und als Teilmoment des gegenständlichen Sinns bewußt wird."38)
Der „unmittelbare Sprachsinn” bezeichnet gleichsam die „Rezeptivität der Sprache”, in der der endliche menschliche Logos — sofern er sich nicht mit dem weltschöpferischen göttlichen Logos identifiziert, wie es Hegel in radikaler Übersteigerung der christlichen Logosmystik tut — sich im
36)
Heintel: Sprachphilos., a. a. O. Sp. 575. Ebda. 33 ) In der Weisgerber-Festschr., a. a .0. S. 54. 37)
50
göttlichen Logos zugleich begrenzt (im Sinn eines „grenzbegrifflich” verstandenen K a n t i a n i s m u s des Dings-an-sich) und — dieses Moment würden wir über Heintel hinaus besonders unterstreichen — seinem „positiven” Gehalt nach im Sinne ursprünglicher Weltoffenbarung konstituiert. In diesem schellingschen Moment der positiven Weltoffenbarung im unmittelbaren Sprachsinn möchten wir bei Heintel den Punkt der Selbsttranszendierung der traditionellen, selbstgenügsamen Transzendentalphilosophie des Bewußtseins und auch noch der formaldialektischen „Selbstaufstufung der Sprache” erblicken. Dieses Moment der positiven Weltoffenbarung in der Sprache entspricht m. E. genau dem von uns im vorigen aus der Aporetik der logistischen Metasprachenproblematik heraus postulierten dogmatischen Moment des umgangssprachlichen Sinnaprioris, das im Gegensatz zu der allgemeingültigen Voraussetzung des „Bewußt-seins überhaupt” auf die Bedeutsamkeitserhellung einmaliger Situationen menschlichen Inder-Welt-seins zurückweist. E. R o t h a c k e r hat die unumgängliche Voraussetzung eines solchen dogmatischen Gehaltsaprioris der positiven Weltoffenbarung durch das formal allgemeingültige „Bewußtsein überhaupt” der streng theoretischen Wissenschaften noch vor kurzem überzeugend nachgewiesen39). Nimmt die Transzendentalphilosophie der Sprache das „Erstgeburtsrecht” des „unmittelbaren Sprachsinns” ernst als den der formalen Selbstvoraussetzung des Logos (Litt) entgegengesetzten Pol des Sinnaprioris unseres Weltverstehens, so wird sie m. E. gezwungen, sich auch in ihrer eigenen Begrifflichkeit, die ja immer noch der lebendigen Umgangssprache angehört, immer erneut durch die in der Sprache aufbewahrte Geschichte des unmittelbaren Sprachsinns kritisch-hermeneutisch zu vermitteln. Eine gewisse Bestätigung unserer Schlußfolgerungen aus Heintels Sprachphilosophie ergibt sich, wie mir scheint, aus der erklärtermaßen von ihr ausgehenden Platoninterpretation Jos. Derbolavs, die zugleich eine „Philosophie der geistigen Aneignung” überhaupt sein will40). Derbolav betrachtet seine Platoninterpretation „als eine Art ,historischer Verifikation' der von ihm vertretenen „universalen philosophischen Sprachkritik"41). „Aneignung der philosophischen Tradition (ist), richtig verstanden, eben Philosophie selber."42) Man bemerkt schon an der Terminologie dieser Programmatik die gewollte Entsprechung einerseits zur Fragestellung der neopositivistischen Sprachkritik, andererseits zu Hegels Identifikation der Philosophie mit
39) Vgl. E. Rothacker: Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus (Abhdlgen. der Mainzer Akad. d. Wiss. u. d. Lit., Wiesbaden 1954). 49) Vgl. J o s . Derbolav: Erkenntnis u. Entscheidung. Eine Platon-Interpretation. Wien 1954, S . 14. 41) Ebda. S. 370 u. ö. 42) Ebda. S. 371.
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ihrer Geschichte. Derbolav geht davon aus, daß die „sprachkritische ... die eigentlich zeitgemäße, d. h. dem gegenwärtigen Methodenbewußtsein entsprechende Gestalt der Philosophie” ist43), andererseits jedoch der Motivgehalt der vorkritischen Metaphysik, ja des Mythos, auch für uns noch die substanziellen Voraussetzungen des Weltverständnisses enthält, die nicht preisgegeben werden dürfen. Die dialektische Synthese dieser antithetischen Situation sucht er nun gewissermaßen in der Integration des Anfangs und des Endes einer weltgeschichtlichen Stufenfolge des sprach-kritischen Problembewußtseins der Philosophie (von der mythisch-poetischen Aneignung der Welt in Gleichnissen über die selbst noch metaphorische Kritik der Mythen in der griechischen Philosophie bis zur Sprachkritik des Neopositivismus, dem alle Substanz der sprachlichen Weltdeutung verlorenzugehen droht). Im Grunde besteht nach Derbolav alle Philosophiegeschichte, wie überhaupt alle Erkenntnisgeschichte, im „Fortschritt von einer naiveren zu einer kritischeren Sprechweise"44). Mit Lichtenberg sieht er einerseits schon in der muttersprachlichen „Urinterpretation der Wirklichkeit” eine „Philosophie”, den „ersten und für alle Zukunft bestimmenden Ertrag geistiger Aneignung” von Welt45). Andererseits erweist sich auch die ausdrücklich so genannte Philosophie „in jeder konkreten sprachlichen Gestalt als kritisch überholbar” und besitzt insofern „kein ,Ende'"46). Es gilt nun in der heutigen Situation, die mythisch-metaphysische Substanz der philosophischen Tradition (z. B. Platon) in die wissenschaftliche Sprachstufe der Gegenwart zu überführen; methodisch läuft dies nach Derbolav darauf hinaus, das spekulative Niveau der Hegelschen Dialektik auf der sprach-kritischen Reflexionsstufe der modernen verifizierenden Satzanalyse zu erneuern, d. h. die Hegelsche Dialektik sprachkritisch und die moderne Sprachkritik dialektisch zu fassen47). Diese Konzeption der Philosophie als „universaler Interpretation” bzw. „Neuaneignung” der sprachlichen Überlieferung insbesondere der abendländischen Metaphysik könnte nun aber auch für die Intention und mehr noch für die methodische Praxis M. Heideggers und seiner Schüler in Anspruch genommen werden. Dies ist umso charakteristischer für die „sprach-philosophische Signatur” unserer Zeit, als gerade die Phänomenologie, aus
43)
Ebda. S. 364, vgl. auch S. 38. Ebda. S. 6. 45) Ebda. S. 54. Die von Derbolav (Anmerkg. 24) zitierte, auch für unser Problem sehr wesentliche Lichtenbergstelle lautet: „Man bedenkt nicht, daß Sprechen, ohne Rücksicht von was, eine Philosophie ist. Jeder der Deutsch spricht, ist ein Volksphilosoph, und unsere Universitätsphilosophie besteht in Einschränkungen von jener. Unsere ganze Philosophie ist eine Berichtigung des Sprachgebrauchs, also die Berichtigung einer Philosophie, und zwar der allgemeinsten.” (Vermischte Schriften, N. Orig. Ausg., Göttingen 1867, I, S. 79). 46) Ebda. S. 7. 47) Ebda. S. 363 ff. 44)
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deren Schule Heidegger hervorging, zunächst als Methode unmittelbarer Sachintuition u. d. h. als äußerster Gegensatz zu aller sprachanalytischen Philosophie hingestellt zu werden pflegte48). In der Tat hat der Begründer der Phänomenologie E. Husserl — ungeachtet der entscheidenden Anregungen, welche sein „Intentionalitäts"- und „Bedeutungs"Begriff für die moderne Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft darstellten — die lebendige Sprache niemals als Bedingung der Möglichkeit der Bewußtseinsanalyse und damit als transzendentale Größe (d. h. im Sinne Husserls: als nicht der „Reduktion” verfallende Größe!) anerkannt. Sprache wird von ihm prinzipiell platonisch als „Ausdruck” schwankender Bedeutungsintentionen von der übersprachlichen „idealen Einheit” der Bedeutung her gedacht, nicht aber diese als Eigentum der geschichtlichen Sprache als transzendentaler Sinnlichtung unseres In-der-Weltseins49). Eine solche Einführung der Sprache als transzendentaler Größe hätte freilich auch seine theoretisch-selbstgenügsame Grundkonzeption der Philosophie als der letztbegründenden Wissenschaft des „reinen Bewußtseins” in Frage gestellt. Transzendentale Phänomenologie -selbst hätte, statt von einem absoluten Standpunkt, dem reinen Bewußtsein, ausgehen zu können, sich selbst erst mit Hilfe der Sprache in ihren geschichtlichen Standpunkt vermitteln müssen. Ein Abgrund sehr unplatonischer Probleme eröffnet sich hier, dem der Überwinder des Psychologismus sich freilich implizit bedenklich nähert, wenn er zuletzt selbst in historisch vermittelter Analyse die vorausgesetzte „Lebenswelt” der europäischen Wissenschaft und Philosophie freizulegen suchte, um aus ihren vorgegebenen Sinnkonstitutionen die Idealisierungen der Wissenschaft einschließlich der Logik zu verstehen50). Tatsächlich liegt in dieser letzten Tendenz Husserls, die sich bei Heidegger radikalisiert, die kontinentale Entsprechung zu der Transzendierung des Bedeutungsproblems der logischen Semantik durch die Bedeutungstheorie des Pragmatismus. Vom späten Platon über Aristoteles, Stoa, Scholastik und Leibniz bis zum frühen Wittgenstein und zum Husserl der „Logischen Untersuchungen” hatte die große Philosophie das Bedeutungsproblem der Sprache von der Logik her, anders ausgedrückt: von der in der Sprache wirksamen institutionellen Fiktion der zeitüberhobenen Idealität der Bedeutung her begriffen. Im Pragmatismus, beim späten
48) So z. B. bei J. M. Bocheęski in seiner Übersicht über „Die zeitgenössischen Denkmethoden” (Bern 1954). 49) Vgl. E. Husserl: Log. Untersuch., 2. Teil, 1. Abschn., Halle 1901, insbes. S. 91 ff.; vgl. auch: Formale und transzendentale Logik, §§ 2 u. 3. 50) Vgl. Husserliana, Bd. VI (ed. W. Biemel, Haag 1954): „Die Krisis der Europ. Wissensch. u. die transzendentale Phänomenologie.” Der eigentliche Umschlag der Tendenz Husserls kündigt sich wohl am deutlichsten im 2. Abschnitt der „Formalen und transzendentalen Logik” an.
53
Wittgenstein und in der Spätphase der Phänomenologie, die sich damit das Motiv der Lebens- und Existenzphilosophie aneignet, wird nun erstmals von Logikern (Peirce, Wittgenstein, Husserl, auch der frühe Heidegger sind Sprachlogiker!) das Problem der Bedeutung (nicht etwa das der psychologischen Vorstellung) einschließlich ihrer wissenschaftlichen Idealisierungen, ja einschließlich der Bedeutung von „Idee” und „Idealisierung”, von der Sinnkonstitution im Rahmen der ursprünglichen „Lebenswelt” bzw. der Lebenspraxis und ihrer „Sprachspiele” her aufgeworfen. Wir haben bereits früher — bei der Besprechung der Morrisschen Ergänzung des Sprachmodells der logischen Semantik und ihrer Affinität zur antiken Rhetorik — darauf hingewiesen, daß in dieser Selbsttranszendierung der traditionellen Sprachlogik eine Bestätigung der ideologischen Aversionen des (rhetorisch bestimmten) Sprach-Humanismus von Cicero bis Vico gegen die Sprach-Logik (bzw. „mathesis universalis”) zum Ausdruck kommen könnte. Wir werden diesen Gesichtspunkt bei der Durchführung unserer historischen Untersuchungen zu verifizieren versuchen. Auch bei Heidegger könnte man im Hinblick auf sein phänomenologisches Hauptwerk „Sein und Zeit” zunächst zweifeln, ob hier die Sprache als transzendentale Größe gewürdigt sei. Daraus z. B., daß nach Heidegger „die Artikulation des Verstandenen in der auslegenden Näherung des Seienden am Leitfaden des ,Etwas als etwas ...` vor der thematischen Aussage darüber” liegt, m. a. W. aus der existenzial-hermeneutischen Fundierung des theoretischen Urteils, durch die Heidegger die Fragestellung Husserls nach der Genealogie des „prädikativen Urteils” radikalisiert, hat man entnommen, daß auch die Sprache selbst bei Heidegger ein „abkünftiger Modus”, ein „extremes Derivat” sei gemäß der Rangordnung: Befindlichkeit, Verstehen, Auslegung, Rede, Sprache51). Demgegenüber scheint dann der späte Heidegger unvermittelt zu einer „Vergötzung” der Sprache52) überzugehen in Erklärungen wie den folgenden: „Die Sprache ist nicht ein verfügbares Werkzeug, sondern dasjenige Ereignis, das über die höchste Möglichkeit des Menschseins verfügt” (Hölderlin und das Wesen der Dichtung, § 2 am Ende); oder: „Sprache ist lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst” (Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949, S. 16); oder: Die Sprache ist „das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört” (ebda. S. 22).
Dieser Wandel in der Bewertung der Sprache scheint dem übergang von einer Phänomenologie der menschlichen Existenz zu einer Mythologie des geschichtlichgeschicklichen Seins zu entsprechen.
51)
So Th. Litt in „Mensch und Welt”, a. a. 0 . S. 316. So nach H. Schweppenhäuser: Studien über die Heideggersche Sprachtheorie, III. Teil (Arch. f. Philos., Bd. 8, S. 116-144). 52)
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Wir können uns hier nicht auf eine ausführliche Kritik dieser Heideggerinterpretationen einlassen; zur Explizierung der Voraussetzungen der vorliegenden Arbeit sei aber soviel angedeutet, daß wir — not-falls mit Heidegger gegen Heidegger denkend — sowohl die sogenannte „Kehre” von der Daseinsanalyse zur Seinsgeschichte wie insbesondere die mehr implizite als explizite53) Sprachphilosophie Heideggers aus dem Grundansatz einer „transzendentalen Hermeneutik” zu verstehen und für unsere Absichten fruchtbar zu machen suchen. Unter dem Grundansatz einer transzendentalen Hermeneutik verstehen wir den „Zirkel im Verstehen"54), der sich aus dem „Sich-vorweg-sein” des „In-der-Welt-seins” als „geworfener Entwurf” als Grundstruktur aller menschlichen Erkenntnis hin-sichtlich des dynamischen Ineinandergreifens ihrer konstitutiven Momente ergibt. Zur Verdeutlichung dieses Ansatzes sei eine kurze Interpretation der Heideggerschen Sprachphilosophie, wie sie schon in „Sein und Zeit” angelegt ist, versucht. Zunächst kann m. E. keine Rede davon sein, daß die Rückfundierung der theoretisch-thematischen „Aussage” in der immer schon vorausgesetzten „Verständlichkeit” der existenziellen Situation einer typisch existenzialistischphänomenologischen Unterschätzung der Sprachvermitteltheit alles Verstehens von Welt gleichkommt. Im Gegenteil liegt in dieser Fundierungsordnung für Heidegger der Grund dafür, daß auch die Phänomenologie mit ihren theoretisch-thematischen Aussagen nicht voraussetzungslos-deskriptiv schlechthin gegebene Sachstrukturen aufweisen kann, sondern als „Hermeneutik” des Daseins in eine je schon sprachlich ausgelegte Situation unter Voraussetzung eines eigenen sprachlichen "Vorgriffs" einzuspringen hat. Der Rückgang hinter die theoretische „Aussage bedeutet nicht Rückgang hinter die Sprache, sondern existenziale Fundierung der theoretischen Sprache in einer vortheoretischen, in der sich die Verständlichkeit der Situation konstituiert. Die von Heidegger immer betonte „Artikulation” auch der vorprädikativen „Verständlichkeit” der Situation weist gerade auf diese vortheoretische Sprache hin. Dafür einige Belege: Ausdrücklich stellt Heidegger fest: „Die Rede ist mit Befindlichkeit und Verstehen existenzial gleichursprünglich. Verständlichkeit ist auch vor der zu-eignenden Auslegung immer schon gegliedert. Rede ist die Artikulation der Verständlichkeit. Sie liegt daher der Auslegung und Aussage schon zugrunde. Das in der Auslegung, ursprünglicher mithin schon in der Rede Artikulier-bare nannten wir den Sinn. Das in der redenden Artikulation Gegliederte als solches nennen wir das Bedeutungsganze. Dieses kann in Bedeutungen auf-gelöst werden. Bedeutungen sind als das Artikulierte des Artikulierbaren immer sinnhaft ... die befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-seins spricht sich
53) Daran ändert m. E. auch das Erscheinen der unter dem Titel „Unterwegs zur Sprache” (Pfullingen 1959) zusammengefaßten Aufsätze Heideggers nichts. 54) Über den „Zirkel im Verstehen” vgl. „Sein u. Zeit”, §§ 32 u. 63.
55
als Rede aus. Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen." (Sein und Zeit, § 34).
In der hier ausgesprochenen Fundierung der „Bedeutungen” im „Sinn” und wiederum der „Worte” (d. h. der Verlautbarung) in den Bedeutungen dokumentiert sich nicht etwa ein Rückgang hinter die Sprache überhaupt, sondern der Primat der Sprache als „Rede” (d. h. etwa, um mit W. v. Humboldt zu reden, als „Energeia”) gegenüber der Sprache als innerweltlich Zuhandenem oder gar lediglich Vorhandenem (d. h. als „Ergon” im Sinne Humboldts). Dies wird durch die folgenden Sätze bestätigt: „Die Hinausgesprochenheit der Rede ist die Sprache. Diese Wortganzheit, als in welcher die Rede ein eigenes ,weltliches` Sein hat, wird so als innerweltlich Seiendes wie ein Zuhandenes vorfindlich. Die Sprache kann [dann weiterhin] zerschlagen werden in vorhandene Wörterdinge [womit die Ausgangsbasis der in gewissen Grenzen unumgänglichen methodischen Vergegenständlichung der Sprache in der empirischen Sprachwissenschaft, etwa in der Lexikographie, erreicht ist].” (Ebda.)
Heidegger unterscheidet also in „Sein und Zeit” zwischen „Rede” und „Sprache” — eine Unterscheidung, die später in der vom Sein her geschichtlich gedachten „Sprache” aufgehoben ist. Wesentlich im Sinne des hermeneutischen Ansatzes ist aber nun, daß auch in „Sein und Zeit” nicht nur die Fundierung der Sprache in der Rede akzentuiert ist. Dies trifft vielmehr nur insofern zu, als vom reinen „Entwurf” der „Welt” als Sinnhorizont her gedacht wird. Das Dasein ist aber niemals reiner Weltentwurf, sondern als In-der-Welt-sein auch immer schon — befindlich inmitten des Seienden im Mitsein mit den Anderen — in eine bestimmte Auslegung „geworfen”, ja selbst an die Zuhandenheit bestimmter Auslegungsmittel gleichsam ausgeliefert: „Die Rede ist existenzial Sprache, weil das Seiende, dessen Erschlossenheit sie bedeutungsmäßig artikuliert, die Seinsart des geworfenen, auf die ,Welt` angewiesenen In-der-Welt-seins hat.” (ebda.) Hier dreht sich der hermeneutische Ansatz gemäß dem Zirkel der wechselseitigen Voraussetzung von „Entwurf” („Seinkönnen" „Zu-sein-verstehen” aus der Zukunft her) und „Geworfenheit” („Befindlichkeit", ja immer schon „Verfallenheit” gemäß der bestimmten geschichtlichen „Gewesenheit”) unseres In-der-Welt-seins. Für jeden — auch noch den philosophischen — Versuch einer Auslegung des menschlichen Daseins und seiner Welt bedeutet das die Notwendigkeit, sich mit der immer schon bestehenden „öffentlichen Ausgelegtheit” der Situation und ihrer von weither bestimmten Sprache ineins — und zugleich auseinander — zu setzen, d. h. sich mit ihrer Hilfe und doch zugleich den eigenen „Entwurf” eines möglichen Inder-Welt-seins immer erneut zur Geltung bringend in das Verständnis der Situation hineinzuzirkeln:
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„Dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst [man bedenke: schon das Kind zirkelt sich mit Hilfe der Muttersprache in das ihm mögliche Weltverständnis hinein], vermag es sich nie zu entziehen. In ihr und aus ihr und gegen sie vollzieht sich alles echte Verstehen, Auslegen und Mitteilen, Wiederentdecken und neu Zueignen. Es ist nicht so, daß je ein Dasein unberührt und unverführt durch diese Ausgelegtheit vor das freie Land einer ,Welt` an sich gestellt würde, um nur zu schauen, was ihm begegnet.” (§ 35)
Hier vollzieht sich bei Heidegger die entscheidende Einordnung der phänomenologischen „Wesensschau” in die „Hermeneutik” der Sprache, hier begründet sich seine methodische Praxis des mit der Sprache und gegen die Sprache Denkens. Denn das „in der Ausgesprochenheit [d. h. in der geschichtlich konkretisierten, jedermann verfügbar gewordenen Sprache] schon hinterlegte Verständnis betrifft sowohl die jeweils erreichte und überkommene Entdecktheit des Seienden als auch das jeweilige Verständnis von Sein und die verfügbaren Möglichkeiten und Horizonte für neuansetzende Auslegung und begriffliche Artikulation.” (ebda.)
Hier wurzelt die in allem späteren Denken Heideggers nur immer konsequenter (im Etymologisieren bisweilen mit kaum noch erträglicher Pedanterie, bisweilen mit überzeugendem Tiefblick) ausgeübte Methode einer Phänomenologie, welche einerseits das in alltäglichen Redensarten und im Dichterwort implizierte „vorontologische Seinsverstehen” radikalisiert und dadurch ontologisch-begrifflich zur Geltung bringt, andererseits das in der Begrifflichkeit der traditionellen Ontologie erstarrte und manchmal kaum noch hq>kodbf^k gedachte Seinsverständnis (z. B. das in dem „res” von Descartes' „res cogitans” sich auswirkende „real-ontologische” Vor- und Mißverständnis des „Ich-denke-etwas”) destruiert. Gemäß dieser sprachhermeneutischen Methode zirkelt sich Heidegger in die geschichtliche Situation der gegenwärtigen Philosophie, in die Geworfenheit ihres Selbstverständnisses hinein. Es entspricht dabei nur der Konsequenz des hermeneutischen Ansatzes, wenn er zunächst mit Hilfe (d. h. am Maßstab der „formalen Anzeige”) seines Entwurfs eines möglichen Seinsverständnisses die Begriffstradition der abendländischen Metaphysik aufschließt, d. h. sie destruiert im Hinblick auf die uranfänglichen Möglichkeiten ihres noch nicht fachterminologisch fixierten Seinsverständnisses (etwa bei den Vorsokratikern); daß er dann aber rückwirkend aus dem konstruktiven Verständnis der Geschichte der abendländischen Metaphysik von Anaximander bis Nietzsche auch noch die Begrifflichkeit seines eigenen Einstieges in die hermeneutische Situation, d. h. die Existenzialontologie von „Sein und Zeit”, in ihrer geschichtlichen Bedingtheit durchschaut und entsprechend der „Kehre” eines seinsgeschichtlichen Denkens modifiziert. Dergestalt vollzieht Heidegger — so gut das ein Einzelner kann — den uns Heutigen zugemessenen Zirkel der sprachhermeneutischen Situation der Philosophie. Die Texte der philosophischen
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Klassiker, aber auch die der Dichter, ja alle „Ausgesprochenheit” der Rede überhaupt wird ihm dabei zum „Andenken” der Seinsgeschichte, gewisser-maßen zu einem großen Sprachtext, den es im Hinblick auf die uns zugedachte Wahrheit des Seins auszulegen gilt. Das bedeutet aber, ihn nicht etwa nur in Anmessung an die Intentionen der jeweiligen menschlichen Verfasser „richtig” zu interpretieren, sondern ihn „spekulativ” auszulegen im Rückblick auf die „anfänglichen” Möglichkeiten des philosophischen Denkens, die durch die zunehmende sprachliche Verfestigung der Denkgeleise der Metaphysik möglicherweise verstellt wurden, und das heißt zugleich: im Vorblick auf das in den Texten mitgängig ausgedrückte Ungedachte, das uns immer noch bevorstehende zu Denkende, das auch schon für die Klassiker, insbesondere aber für die ersten griechischen Philosophen das zu Denkende war. In der „Ek-sistenz” des menschlichen Seinkönnens bzw. in der Herkunft allen Denkens aus dem immer auch noch bevorstehenden Ereignis des Seins55) selbst trifft sich das „anfängliche” und das „zukünftige” Denken, hängen die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit des griechischen und des heutigen Denkens zusammen. Es versteht sich, daß in diesem seinsgeschichtlich „spekulativen” Ansatz der Hermeneutik von vornherein der Spielraum für eine gewisse subjektive Gewaltsamkeit und ihre eventuellen Fehlgriffe eröffnet ist. (Heidegger hat dieses Problem selbst erörtert56).) Gleichwohl ergibt sich der Ansatz mit innerer Notwendigkeit, soll die Philosophie der im Begriff des „Historismus” unwiderruflich fixierten Problemsituation gerecht werden. Dieser Problemsituation zufolge muß sich die Philosophie heute durch die Geschichte des ihr vorausgehenden Weltverständnisses vermitteln, ohne dabei den stets offenen Horizont der Zukunft, des Sein-könnens und Zu-seinhabens (und insofern auch des Sollens!) preiszugeben. Dies bedingt m. E. den Unterschied einer seinsgeschichtlich-transzendentalen Hermeneutik einmal im Vergleich zu den historisch-hermeneutischen Geisteswissenschaften, zum anderen im Vergleich zu Hegels spekulativer Geschichtsmetaphysik. Die empirischen Geisteswissenschaften besitzen — gemäß der ihnen eigenen methodischen Abstraktion — ihren Maßstab der Wahrheit ausschließlich in der idealen Intention des jeweiligen Werkes, d. h. aber (da das Selbstverständnis des Autors unabhängig von der Formulierung seines Werkes gerade nicht maßgebend sein kann) in dem Ausdruck einer solchen
55)
Vgl. hierzu 0. Pöggeler: Sein als Ereignis (Ztschr. f. philos. Forschg., XIII, 4, S. 597-632 — die wohl beste harmonisierende Gesamtdarstellung des Heid eggerschen Denkweges. 56) Vgl. z. B. das Vorwort zur 2. Auflage von „Kant und das Problem der Metaphysik”, Frankf. a. M. 1951.
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Intention in der Sinneinheit und Ganzheit des jeweiligen ontischen Dokuments gewissermaßen als einer Objektivation des Geistes57). Der „hermeneutische Zirkel”, der sein Fundament in dem Sich-vorweg-sein des Menschen hat, der immer schon sich in seinen Möglichkeiten des Selbstseins aus der öffentlichen Ausgelegtheit der Welt und doch zugleich auch die Welt aus seinem Sein-können und Zu-sein-haben her versteht, — dieser fundamentale Zirkel im Verstehen begrenzt sich zufolge der den empirischen Geisteswissenschaften zugrundeliegenden Idealisierung auf die Erschliessung eines in wechselseitiger Voraussetzung des Einzelnen und des Ganzen „gegebenen” objektiven Zusammenhangs, sei es eines Textes oder Kunstwerkes, sei es einer tunlichst objektivierbaren Situation bzw. Situationenfolge. Zwar muß der Geisteswissenschaftler, um überhaupt „Bedeutendes” zu bemerken und so die „objektiven Sinngebilde” der Geschichte aufzuschließen, letztlich das Zu-seinverstehen, den Weltentwurf seiner Ek-sistenz gleichsam als Schlüssel verwenden; gleichwohl kann er in einer gewissen methodischen Abstraktion davon absehen, die Frage nach der in den objektiven Dokumenten enthaltenen Wahrheit überhaupt, d. h. nach dem für die Ek-sistenz des Menschen hier und jetzt gültigen Sinn zu stellen. Ihm genügt der jeweils vermeinte bzw. objektivierte Sinn. Hierin — und d. h. schon in der zugrundeliegenden Ontologie des „objektiven Idealismus” (im Sinne Diltheys) — vollzieht sich freilich eine abstraktive Verstellung der konkreten Gesamtsituation des stets zukunftsoffenen geschichtlichen In-derWelt-seins, einer Situation, in der alles Schaffen und Deuten von „Werken” ja letztlich nur eine Potenzierung der Vermittlung von Sinn und Praxis bzw., anders gesehen: der Sinnvermittlung von Ek-sistenz zu Ek-sistenz, darstellt, die in allen Worten der Sprache im Verhältnis von Sprechen und Vernehmen sich vollzieht. Und es ist zweifellos die Folge eben der methodischen Abstraktion, durch die die empirischen Geisteswissenschaften ihren „Gegenstand” gewinnen, die als Kulturproblem des Historismus qua Relativismus sich ausdrückt, etwa in R. Musils „Mann ohne Eigenschaften"58), d. h. in dem Menschen, der, selbst traditionsentwurzelt, angesichts des bloßen Nebeneinanders der objektiven Resultate der Geisteswissenschaften dem Dasein keinen verbindlichen Sinn abgewinnen, d. h. sein eigenes Seinkönnen und Zu-sein-haben nicht zu konkretisieren vermag. Eben diese methodische Vergegenständlichung der hermeneutischen Geisteswissenschaften rückgängig zu
57) In diesem Sinne hat Emilio Betti erst unlängst in seiner monumentalen „Teoria generale della Interpretatione” (2 Bde., Milano 1955) gerade auch im Anschluß an die Tradition der deutschen Geisteswissenschaften die Aufgabe der Hermeneutik unter ausdrücklicher Distanzierung von der Existenzialhermeneutik Heideggers abgegrenzt. Vgl. hierzu besonders G. Funke in der Ztschr. f. philos. Forschg., Bd. XIV, S. 162-181. 58) Vgl. hierzu jetzt E. Heintel: Der Mann ohne Eigenschaften und die Tradition (Wissensch. u. Weltbild, Wien 1960, S. 179-194).
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machen, wäre die Aufgabe einer transzendentalen Hermeneutik, die freilich hinsichtlich der Faktensicherung auf die Arbeit der empirischen Geisteswissenschaften angewiesen bleibt, d. h. ihre „Wahrheit” der seins-geschichtlichen Situation durch deren „Tatsachenrichtigkeit” vermitteln muß. Indem die transzendentale Hermeneutik der sprachlich dokumentierten Seinsgeschichte den Menschen letztlich in die zukunftsoffene Situation seines Seinkönnens und Zu-sein-habens einweisen will, unterscheidet sich ihr Ansatz, wie schon angedeutet, auch mit Notwendigkeit von Hegels spekulativer Geschichtsmetaphysik. Während diese sub specie aeternitatis den notwendigen Gang des Geistes als Geschichte seiner dialektischen Selbstreflexion begreift und d. h. im SelbstBewußtsein der Subjektivität gleichsam zur Ruhe bringt, muß die transzendentale Hermeneutik die Seinsgeschichte in ihrem Zugleich von positiver Sinnoffenbarung und Verbergung möglichen Sinns prinzipiell aus der stets noch erst zu ergreifenden Möglichkeit der Zukunft her deuten. Dies kann natürlich nicht in reiner Kontemplation durch reflexiv-dialektisches Zuendedenken der Positionen der abendländischen Philosophie als „der” Entfaltung „des” Geistes geschehen, sondern nur vermittelt durch einen Entwurf des Seinkönnens, d. h. möglicher Zukunft, der sich selbst wiederum durch die Geschichte des bisherigen Seinsverständnisses vermittelt und durch den strengen Vollzug dieses hermeneutischen Zirkels die Gewißheit erlangen mag, dem Anspruch des sich schickenden und sich dem Menschen überantworteten Seins zu „ent-sprechen”. Aus dem Bisherigen dürfte nun auch verständlicher werden, inwiefern eine transzendentale Hermeneutik der Sprache sich von der von Kant und Hegel herkommenden Transzendentalphilosophie der Sprache, wie wir sie etwa bei Litt und Heintel trafen, trotz aller Verwandtschaft in der Überhöhung des positivistischen Zeichenbegriffs der Sprache, unterscheiden muß. Vergegenwärtigen wir als Prüfstein der modernen Sprachphilosophie noch einmal das bei Wittgenstein aufgeworfene Problem eines Redens in der Sprache über die Sprache: Wenn wir von Wittgensteins paradoxer Auskunft über die Unaussagbarkeit der inneren Sprachform im „Tractatus” absehen, so standen sich sozusagen als klassische Lösungen des Problems B. Russells bzw. Tarskis unendliche Hierarchie formalisierter Kunstsprachen und Litts dialektische „Selbstaufstufung” der lebendigen Umgangssprache entgegen. Ihnen tritt jetzt die transzendentalhermeneutische Auffassung zur Seite. Sie erinnert insofern an den frühen Wittgenstein, als es ihrzufolge zunächst darauf ankommt, die in der Sprache wirksame apriorische Form des Erkennens (nach Heidegger: das „vorontologische Seinsverständnis”) als „vorgängig-mitgängiges” Phänomen zum Sich-zeigen zu bringen. Nach Wittgenstein „zeigt sich” die apriorische
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Form des sprachlichen Welterkennens im Sprachgebrauch, kann aber selbst nicht ausgesagt werden59). Heidegger geht in „Sein und Zeit” so vor, daß er das in Worten wie „vorhanden”, „zuhanden”, „Zeug”, „Bewandtnis` usw. vorgängig-mitgängig liegende Seinsverständnis zunächst durch der radikalisierenden Entwurf entsprechender alltäglicher Redensarten lediglich implizit zum Vorschein kommen läßt, dann allerdings bringt er es — unter Ausnutzung der von Litt so genannten reflexiv-dialektischen Selbstaufstufung der Sprache60) — auf die Form des allgemeinen Begriffs in Gestalt von „Existenzialien”. Diese Allgemeinbegriffe werden aber in dei Folge — und dies entspricht dem hermeneutischen Grundansatz — nicht einer endgültigen dialektisch-reflexiven Selbstergründung des Sprachlogos eingegliedert, sondern ihrerseits nur als Entwürfe des sprachlichen Seinsverständnisses in „formaler Anzeige” aufgefaßt, die sich nun erst durch die mit ihrer Hilfe aufzuschließenden Begriffssprache der traditionellen Ontologie zu vermitteln haben. Dergestalt — und hierauf kommt nun alles an — werden die philosophischen Allgemeinbegriffe wie z. B. der Begriff „der” Sprache nicht aus der konkreten Sprachgeschichte ein für allemal als deren reflexive „Überhöhung” herausgenommen, sondern sie werden ihr als hermeneutischer „Vorgriff” wieder eingegliedert. Auch die Philosophie bleibt in ihrem Sprachlogos der konkreten geschichtlichen Situation zugehörig. Es wird bei Heidegger nicht wie bei allen idealistisch orientierten Transzendentalphilosophen der Sprache von Hönigswald bis Heintel zwischen „der” Sprache — die allerdings in den Grenzen formaler Selbstaufstufung des Denkens zu einer endgültigen Selbstergründung gelangt — und den bestimmten Sprachen ein für allemal unterschieden und die letzteren der empirischen Sprachwissenschaft als „Gegenstände” überwiesen, sondern Heidegger denkt „die” Sprache als die für uns Europäer aus dem bisherigen Schicksal der abendländischen Sprachen als Vehikel der Metaphysik ermöglichte konkrete Ent-sprechung zu dem Anspruch des Seins in dieser Situation61). Wichtig in unserem Zusammenhang ist besonders das hieraus zu postulierende Verhältnis hermeneutischer Vermittlung zwischen einer „inhaltsbezogenen Sprachwissenschaft”, welche die konkrete Entstehung der grammatischen Denkformen und Wortinhalte der abendländischen Sprachen bis zurück in die sprachlichen Vorbedingungen
59)
Vgl. L. Wittgenstein: Tractatus, Sätze: 4. 12 bis 4. 1212; vgl. auch 5. 62, 6. 12 u. 6. 36. Dies ist Litt durchaus zuzugeben. Vgl. „Mensch u. Welt”, a. a. 0. S. 328 ff. 61) Vgl. hierzu noch zuletzt M. Heidegger: Der Weg zur Sprache (in: „Unterwegs zur Sprache”, Pfullingen 1959), insbesondere S. 261 ff. In diesem Vortrag ist auch das Wittgensteinsche Problem eigens gestellt in Gestalt der „Wegformel: die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen”; der „hermeneutische Zirkel” erscheint — leider — unter dem Namen „Geflecht”. 60)
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der griechisch-römischen Kultur und ihr Verhältnis zu denen der außereuropäischen Kulturen erforscht, und einer spekulativ-hermeneutischen SprachPhilosophie, welche alle unumgänglichen methodischen Vergegenständlichungen und Abstraktionen dieser empirischen Sprachwissenschaft im Hinblick auf das zu erreichende sprachkritische Selbstverständnis der gegenwärtigen Situation des Denkens rückgängig zu machen sucht. Grundsätzlich auf der Linie der hier entwickelten Konsequenzen der Heideggerschen Philosophie61a) scheint mir Joh annes Lohm ann die Aufgabe einer Zusammenarbeit von Sprachwissenschaft und Philosophie in den programmatischen Aufsätzen der Zeitschrift „Lexis” (I bis IV, 1948 ff.) in Angriff genommen zu haben. Für ihn62) ist das philosophische Denken der Seinsverfassung des Seienden, die Onto-logie, die nach Heidegger im Wesen des Menschen als dem existenten Seinsverständnis begründet ist, die bewußte Fortsetzung eines Verfahrens der Weltgründung, das zunächst gleichsam instinktiv in den Sprachen (vgl. Humboldts Bestimmung der Sprache als intellektuellen Instinkt der Vernunft) geschieht63). Die in den Typen des Sprachbaues sich differenzierende Form der Weltkonstitution erstellt und sichert dem Menschen für Jahrhunderttausende gewissermaßen ein Analogon der tierischen „Umwelt” (im Sinne von Uexkülls), bis dann im Bereich des indogermanischen Sprachtyps, der die „ontologische Differenz” in der inneren Sprachform besonders deutlich zum Ausdruck bringt (genauer gesagt: „vordenkt"), das philosophische Problem eines aller Wahrnehmung des Seienden vorausgehenden Seinsverständnisses (der Ideen des Wasseins, der Kategorien, des Seienden als solchen) aufbricht.
61a) Nach Abschluß der vorliegenden Arbeit erschien H: G. Gadamers Buch „Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik”, Tübingen 1960. In diesem grundlegenden Werk ist die von uns postulierte und skizzierte Entfaltung des sprachhermeneutischen Motivs der Heideggerschen Philosophie erstmals durchgeführt, wobei wir insbesondere den III. Teil („Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache”) weitgehend als Bekräftigung unserer Skizze ansehen dürfen. 62) Allerdings scheint mir Gadamers Durchführung der Idee einer „philosophischen Hermeneutik” doch zu zeigen, daß diese — allein auf der Basis Heideggers — dem Sinn der methodischen Abstraktion der Geistes-Wissen-schaft und wiederum der formal-abstraktiven Selbstvermittlung der Philosophie selbst (d. h. also auch der Sätze Heideggers und Gadamers) über ein all-gemeingültiges „Bewußtsein überhaupt” (oder, wenn man will, über den „methodischen Zweifel” Descartes) letztlich nicht gerecht wird. Vgl. hierzu meine Besprechung in den Hegelstudien, Bd. 2. 62) Der Verfasser verdankt die im folgenden skizzierte Auffassung der Grundgedanken 1. Lohmanns außer den zitierten Schriften insbesondere auch brieflichen Mitteilungen ihres Urhebers. Für die notwendigerweise perspektivische Zusammenfassung trägt natürlich der Verfasser die Verantwortung. 63) Vgl. hierzu u. zum folgenden Lexis I, S. 49 ff., bs. S. 106; ferner in der Gadamer-Festschrift a. a. O. (vgl. Anm. 20).
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Damit wandelt sich nach Lohmann das Wesen der Sprache selbst, in-dem die Menschen ein neues Seinsverhältnis zu ihr gewinnen. Dieser Wandel des Seinsverhältnisses des Menschen zur Sprache spricht sich im Griechischen als der Übergang vom „Mythos” zum „Logos” aus. „Mythos” ist nach Lohmann der erste für uns gültige Begriff für das Wesen der Sprache, sofern in ihm die Jahrhunderttausende währende Identifizierung der Weltdeutung aus der „inneren Form” der Sprache (d. h. des heute von Weisgerber so genannten „inhaltlichen Weltbildes” der Sprache) mit der Sache selbst sich ausspricht64). Für die Menschen des mythischen Zeitalters fehlte entsprechend der „ursprünglichen Einheit von Wort und Sein"65) die Dimension des „etwas Als etwas”, d. h. die Ausdrücklichkeit eines hermeneutischen Verhältnisses zur Welt; dieses vollzog sich ja noch „ihnen vorweg” in der anonymen Auslegungsfunktion der Sprache. Den Menschen begegnete infolgedessen die Sprache nicht in der heute sogenannten „Bedeutungsfunktion”, sondern — wie die Zeugnisse aller uns bekannten Sprachen beweisen — als „Name” (genauer als heiliger, mit magischer Kraft erfüllter Name) für „die” Sache. „Die Macht des Namens ist die Antwort des Menschen auf die ihn bedrängenden Mächte und Kräfte, response auf eine challenge, wie Toynbee sagt."66) (Letzter Reflex dieses Zeitalters ist in Griechenland die noch in Platons Kratylos verhandelte Frage nach der èonãogsèklj|qtk bzw. Platons Rede von der a¼k^hfsql¾èkãj^qls, wo wir von der „Bedeutung des Wortes” reden würden). Bei den Griechen wurde nun mit dem Bewußtsein der „ontologischen Differenz” und damit zugleich der hermeneutischen Funktion die Sprache selbst zum Logos, d. h. sie verlor ihre magische inhaltliche Identität mit dem Weltgeschehen selbst und wurde zum formalen, intersubjektiven Ordnungsmedium des bewußten philosophischen Denkens (Begriff, Definition, Urteil, Grund, Gesetz, Zahlenverhältnis), das im Namen des Logos zum ersten Mal der Welt als solcher (der c¼pfs) gegenübertritt und sie als allen wachen Vernunftwesen gemeinsamen (Heraklit) geordneten Kosmos zu begreifen sucht. Als Ãmlhb¬jbklk wird das Seiende selbst, die c¼pbf jetzt bewußt im Logos qua Satz bzw. Urteil vom Menschen „als etwas” bestimmt und dabei in der „Copula” pqf, der „,Quintessenz` der menschlichen SprachEntwicldung"67), das Wesen der Weltkonstitution als Ereignis der Einheit von Existenz (Wirklichkeit) und Evidenz (Wahrheit qua Offenbarkeit) in den Blick gebracht. Das institutionelle Apriori des sprachlichen Weltvorverständnisses (der „Prolřpsis”) kann jetzt als prinzipielles
64)Vgl.
hierzu auch in der Weisgerber-Festschrift a. a. O. S. 129 ff. 7. Lohmann in der Gadamer-Festschr. a. a. O. S. 177 (vgl. auch S. 175) mit Berufung auf W. F. Otto: Gesetz, Urbild und Mythos, Stuttgart 1951, S. 59. 66) Gadamer-Festschr. a. a. O. S. 183. 67) Ebda. S. 186. 65)So
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Apriori (griechisch o`Ì) die Grundlagen einer Wissenschaft bestimmen, z. B. der indogermanische Seinsbegriff bei Parmenides und endgültig bei Aristoteles die Grundlagen der „Ontologie” als der Wissenschaft vom „ékÖék”. Weitere Beispiele für „Urworte” der griechischen Sprache, die zu Prinzipien von Wissenschaften werden, sind der Winkel (gr. dtk¬^) als Grundbegriff der Geometrie, jils und qãkls als Grundbegriffe der „Musik” (die bei den Griechen wesentlich theoretisch ist)68), selbstverständlich auch „Logos” und „Physis”: sie bilden in ihrer Grundkonstellation, wie sie in der Problematik des Urteils als Prädikation fortan diskutiert wird, das „Wortfeld” der Philosophie, das sich — nach einem schon im Hellenismus eingeleiteten Subjektivierungsprozeß — in der Neuzeit (bei Descartes) zur Subjekt-ObjektRelation umdisponiert. Indem nun aber die griechische Sprache als Logos zum Medium der Philosophie wird, sich sozusagen dem menschlichen Denken überantwortet und ihre Funktion der Weltdeutung und formalen Ordnung im bewußten Denken fortsetzt (jetzt entstehen Logik, Grammatik, Rhetorik, im gewissen Sinne auch die Poetik als q`k^f ildfh^¬, d. h. Kunstlehren von der menschlichen Rede), wird zugleich die Möglichkeit eröffnet für einen neuen Begriff der Sprache, sofern nämlich das philosophische Denken (und entsprechend Logik, Grammatik, Rhetorik, Poetik) in der Folge auf das aktuelle Verhältnis jeder beliebigen „Sprache” zu der einen Welt (c¼pfs, hãpjls) angewendet wird. Wie beim übergang vom Mythos zum Logos der Weltinhalt sich als Physis vom Logos als der formalen Ordnung der Welt absonderte, so löst sich jetzt der Logos als menschliches Denken, als Vernunft überhaupt, von der Rede qua „Sprache” im engeren Sinne, wie sie bis dahin nur als Verhaltensweise einer Menschengruppe von außen, implizit in den Blick gekommen war: z. B. sagten die Griechen für „griechisch reden” njnjLjǎíLJdžNJǎ, d. h. „sich wie ein Grieche benehmen"69). Die neue geschichtliche Möglichkeit der Sicht und — nach Lohmann — auch des Seins der Sprache aktualisierte sich zuerst in hellenistisch-römischer Zeit in der „lingua latina”, weil hier zum ersten Mal — verkörpert etwa in dem jüngeren Scipio oder in Cicero — „die Umgangs- und Ausdrucksformen einer Kultur sich als solche von einer bestimmten Sprachform gelöst haben"70). In der „lingua latina” haben wir nach Lohmann zum ersten Mal eine Sprache im heutigen Sinne vor uns71). (Eine These die freilich cum grano salis zu verstehen ist, d. h. vorbehaltlich weiterer historischer Differenzierungen des Sprachbegriffs. Dies zeigt z. B. der Aufsatz „Das Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache”, Lexis III, 1, S. 5-49, in dem gerade der Begriff der „lingua latina” als
68)
Vgl. hierzu Lexis IV, 2 und Arch. f. Musikwiss. Bd. 16. Gadamer-Festschr. S. 172. 70) Ebda. 71) Vgl. z. B. in der Weisgerber-Festschrift S. 131. 64 69)
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Ausgangspunkt des humanistischen Sprachverhältnisses wiederum von dem nominalistisch bestimmten Sprachbegriff der Neuzeit abgehoben wird. Wir werden auf diese weitere Differenzierung noch im einzelnen zurückkommen.) In Lohmanns Konzeption der Sprachwissenschaft sind, wie mir scheint, die letzten sprachphilosophischen Konsequenzen aus Heideggers seins-geschichtlichem bzw. seinshermeneutischem Denken gezogen. Seine typologisch vergleichenden und historischen Arbeiten sind eine bewußte Verifikation des Heideggerschen Begriffs der Sprache, demzufolge diese das „Haus des Seins” ist, „darin wohnend der Mensch ek-sistiert” und die „lichtend-verbergende Ankunft des Seins” in mehr oder weniger bewußter „Ent-sprechung” erfährt. Insbesondere Heideggers Gesichtspunkt des in der alltäglichen Rede implizierten „vorontologischen Seinsverständnisses” ist bei Lohmann als „Prolřpsis” (Vorverständnis) der Welt in der „inneren Sprachform” sprachphilosophisch zu Ende gedacht. Die philosophische Tragweite dieses sprachhermeneutischen Ansatzes wird m. E. besonders deutlich, wenn man erwägt, daß nur er imstande ist, die inneren Widersprüche des Sprachbegriffs des logischen Positivismus aufzulösen und das transzendentale Motiv insbesondere der Wittgensteinschen Sprachphilosophie in seiner Wahrheit sichtbar zu machen. Wittgenstein hatte im „Tractatus” ganz richtig erkannt (und hält diesen Gesichtspunkt auch im Spätwerk fest), daß die in der „Grammatik” der Sprache implizierte Weltauslegung aller spekulativen Philosophie voraus- und weitgehend zugrundeliegt. Er und vor allem Carnap und Ayer folgerten daraus, daß das vermeintliche synthetische Apriori der ontologischen Weltkonstitution und damit der Gehalt der spekulativen Philosophie (z. B. das Kausalprinzip) nichts weiter sei als eine tautologische Explikation der „logischen Syntax” (später: der „logischen Semantik”) der Sprache in Gestalt „pseudoobjektiver” („quasisyntaktischer" bzw. „quasisemantischer”) Sätze. Damit glaubten sie das philosophische Problem des Sinnaprioris der Weltkonstitution (und damit die Metaphysik) aus der Welt geschafft zu haben, indem sie nämlich — widersprüchlicherweise — zunächst das ganze Problem auf die immer schon fertige Sprache abwälzten (der damit eigentlich eine transzendentale Würde zuerkannt wurde, was bei Wittgenstein auch sehr deutlich wird) und gewissermaßen im gleichen Atemzug diese Sprache als innerweltlich manipulierbares beliebig konstruierbares Zeichensystem auffaßten. Im Lichte der Lohmannschen Sprachphilosophie, die an die Stelle des nominalistischen Zeichenbegriffs der Sprache den seinshermeneutischen Begriff des Sprachlogos setzt, enthüllt sich nun das eigentliche Wahrheitsmoment des sprachkritischen Ansatzes des logischen Positivismus: Die These von den pseudoobjektiven, in Wirklichkeit sprachexplikativen Sätzen der Ontologie ist ein Hinweis auf das „institutionelle Apriori” der
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sprachimmanenten Weltauslegung. Diese liegt allerdings der philosophischen Spekulation zeitlich und sinngenetisch voraus; daraus folgt aber nicht, daß sie die Philosophie als sinnlose Rede ausschließt, sondern viel-mehr, daß sie sich selbst seit Entstehung der Philosophie in ihr und damit in den Grundbegriffen und Axiomen der Wissenschaften fortsetzt, weshalb gegenwärtig ihre kritisch-hermeneutische „Wiederholung” durch die Philosophie zur Aufgabe einer sprachkritischen Selbstvermittlung der Philosophie wird. Es versteht sich, daß diese geschichtlichhermeneutische Interpretation der Aufgabe der Sprachkritik allein auch der von uns im vorigen skizzierten Anwendungsproblematik der künstlichen Kalkülsprachen gerecht wird, d. h. dem Umstand, daß diese schärfsten Instrumente moderner technischer Wissenschaft nicht etwa an die nackten Tatsachen herangetragen werden können, sondern nur kraft einer „experimentellen” Vermittlung durch die Umgangssprache und ihre geschichtlich integrierte Weltauslegung als erfolgreiche Fortsetzung der sprachlichen Welterschliessung überhaupt legitimiert werden können. Indem das Prinzip einer sprachhermeneutischen Vermittlung der Grundbegriffe der Philosophie und Wissenschaft von Lohmann vor allem auf den Begriff der Sprache selbst als den Grundbegriff seiner eigenen Wissenschaft angewandt wird, werden wir durch ihn auch mitten hineingeführt in unser Problem einer Geschichte der Sprachphilosophie aus sprachphilosophischer Sicht. Seine provozierende These eines geschichtlichen Wandels des menschlichen Seinsverhältnisses zur Sprache und damit der Sprache selbst werden wir im folgenden noch genauer zu diskutieren haben. Vorerst sei hier nur vorausgewiesen auf die in vielem parallelgehende Lehre Vicos von den drei Phasen der Sprache, die den drei Zeitaltern der menschlichen Kulturgeschichte entsprechen. Insbesondere Vicos Beschreibung der mythischpoetischen Welterschließung durch die „phantasiegeschaffenen Universalien” bzw. die ihnen entsprechenden heiligen Namen und seine Kennzeichnung des grundlegenden Wandels im Dasein des Menschen und der Kultur, der durch die Erfindung des philosophischen Begriffs, d. h. durch den Übergang vom mythisch-heroischen ins „epistolarhumane” Zeitalter, eintritt, kann in vieler Hinsicht als Vorwegnahme einer zugleich seins- und sprachhermeneutischen Philosophie bezeichnet werden. Beenden wir hier unsere Kurz-Diagnose der gegenwärtigen Situation der Sprachphilosophie und fragen wir uns, inwiefern durch diese Situation die Notwendigkeit und der heuristische Horizont einer Geschichte der Sprachphilosophie aus sprachphilosophischer Sicht bestimmt sind. Einzelne wichtige Perspektiven — insbesondere mit Rücksicht auf unser spezielles Problem des Sprachhumanismus — wurden bereits bei
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der Besprechung der charakteristischen Richtungen des modernen Sprachdenkens angedeutet. Vergegenwärtigen wir jedoch zunächst den Gesamthorizont, der durch die Akzentuierung des Sprachproblems in der Philosophie des 20. Jahrhunderts aufgerissen ist und eine Geschichte der abendländischen Sprachauffassung geradezu fordert: Hier ist zunächst die Konvergenz aller philosophischen Richtungen und der empirischen Sprachwissenschaft hinsichtlich der Einschätzung der Sprache als Bedingung der Möglichkeit des Denkens und Erkennens hervorzuheben. Allein dieser Gesichtspunkt reicht aus, um einer Geschichte der Sprachphilosophie den Rang und die Bedeutung einer „Geschichte des Erkenntnisproblems” zu sichern, wie sie E. Cassirer für die Neuzeit verfaßte, der dann später selbst eine ähnliche Geschichte des Sprachproblems forderte72). Wir deuteten indessen bereits an, daß der im Sprachlogos enthaltene Begriff des Weltverstehens weit umfassender ist als der kantische, vornehmlich naturwissenschaftlich orientierte Erkenntnisbegriff, den auch Cassirer noch voraussetzt. Eine Geschichte der Sprachauffassung unter dem Gesichtspunkt der im Sprachlogos enthaltenen Bedingungen der Möglichkeit alles Weltverstehens wird sich von vornherein nicht auf die Sprachreflexionen der wissenschaftlich orientierten Erkenntnistheorie beschränken dürfen, sondern die gesamte literarisch bezeugte Spracherfahrung der abendländischen Geistesgeschichte zu berücksichtigen haben, das Sprachverständnis der Dichter und Mystiker ebenso wie das der Theologen, Philologen, Mathematiker und Naturwissenschaftler, vor allem auch das programmatische Selbstverständnis der kulturpolitischen Formierung der europäischen Nationalsprachen. Bei dieser Zerstreuung ins Mannigfaltige wird sie indessen die maßgebenden „Topoi” des Sprachverständnisses aufzusuchen haben, die auf wenige geschichtliche Ursprünge zurückführen dürften, letztlich vielleicht auf einen epochalen Wandel im Seinsverhältnis des Menschen zur Sprache im Sinne Lohmanns. Neben der Konvergenz aller Richtungen der Philosophie und Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Bedeutung des Sprachproblems ist aber ihre außerordentlich tiefgehende Divergenz im prinzipiellen Ansatz des Sprachbegriffs und demzufolge im methodologischen Selbstverständnis zu berücksichtigen. Man denke nur an die (von Kongressen und Fachzeitschriften kaum noch kommunikativ zu überbrückende) Kluft zwischen den beiden polar entgegengesetzten Bereichen des Philosophierens, die etwa durch die Namen Carnap und Heidegger repräsentiert sind; kaum minder groß erscheint dem Philosophen die Kluft zwischen den repräsentativen Richtungen der empirischen Sprachwissenschaft, etwa zwischen dem deutschen sogenannten „romantischen Neohumboldtismus” (gemeint ist die „inhaltbezogene Sprachwissenschaft” in positivistischer Sicht) und dem amerikanischen bzw.
72 )
S. oben Anm. 1.
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dänischen „Strukturalismus” einerseits, dem „Behaviorismus” andererseits. Diese Kluft der prinzipiellen Sprachauffassungen, die besonders bei den Philosophen auch die Sprachpraxis bestimmt, scheint mir mindestens ebenso sehr wie die Übereinstimmung hinsichtlich der Wichtigkeit des Sprachthemas die Notwendigkeit einer geschichtlichen Besinnung auf die Entstehung unserer modernen Sprachauffassung zu begründen. Die in der Gegenwart bestehenden Divergenzen in der Sprachauffassung ergeben auch unmittelbar einen heuristischen Horizont für die historische Forschung: So weist m. E. die grundlegende Spaltung alles modernen Denkens gemäß den Polen der technisch-szientifischen Exaktheit und der transzendentalhermeneutischen Tiefe der Besinnung letztlich auf eine im Ausgang des Mittelalters eingetretene Differenzierung im Verhältnis des abendländischen Menschen zum Sprachlogos zurück. Wir werden jetzt aus der gegenwärtigen Problematik des Sprachdenkens heraus auf die zu Beginn dieser Einleitung exponierten vier Einführungswege in die Sprachphilosophie der Neuzeit zurückgeführt. Und zwar ergibt sich, wie eingangs bereits angedeutet wurde, die Herkunft des technischszientifischen Sprachdenkens aus der Synthese der nominalistischen Sprachkritik und der konstruktiven Zeichenkunst der mathesis universalis; das transzendentalhermeneutische Sprachdenken andererseits entsteht — selbstverständlich in ständiger Auseinandersetzung mit dem technisch-szientifischen Zeichenbegriff der Sprache — aus der wechselseitigen Durchdringung des transzendentalen Motivs der vornehmlich deutschen Logosmystik und des historisch-philologischen Sinns des ursprünglich römisch-italienischen Sprachhumanismus. — Versuchen wir diesen historischen Rückgang der Besinnung näher zu verdeutlichen und zu belegen. Am leichtesten fällt dies bei der von uns sogenannten technisch-szientifischen Sprachauffassung, wie sie heute im Bereich des Logischen Positivismus, darüber hinaus aber auch in den methodologischen Erörterungen der exakten Naturwissenschaften und in der Technologie, z. B. in der kybernetischen „Informationstheorie”, herrschend ist. Hier eröffnet sich dem Historiker der Sprachphilosophie ein kontinuierlicher Traditionszusammenhang wissenschaftlicher Theoriebildung bis zurück ins Mittelalter. Am deutlichsten wird dies bei der Tradition der nominalistischen (empiristischpositivistischen) Sprachkritik im angelsächsischen Bereich; sie führt etwa von B. Russell zurück über J. St. Mill, Berkeley, Locke, Hobbes und Bacons Kritik der „idola fori” unmittelbar zu „Occams razor”, d. h. zu seinem Verbot aller unnötigen Hypostasierungen sprachlicher Bedeutungen und — im Zusammenhang damit — zu seiner Reduktion des seinshermeneutischen Bedeutungsproblems der Sprache (anders ausgedrückt: des Problems sprachlicher Welt-Konstitution bzw. sprachlichen Weltvorverständnisses „als etwas”) auf das Problem der „Bezeichnung” intuitiv erfaßter Außenwelteindrücke.
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Bei Ockham heißt es von den (vormals den formalen Horizont möglicher Sachbezeichnung a priori bestimmenden) allgemeinen Bedeutungen der Termini: „ .. universalia et intentiones secundae causantur naturaliter sine omni activitate intellectus et voluntatis a notitiis incomplexis terminorum... " (sent. II. a. 25.0). Und wiederum: „Quoddam est universale naturale quod est signum naturale praedicabile de pluribus, ad modum fumus naturaliter significat ignem et gemitus infirmi dolorem et risus interiorem laetitiam” (Summa totius logicae, pars I, cap. 14). Die tragenden Begriffe der scholastischen Sprachlogik werden bei Ockham (ähnlich wie bei Descartes die Seelen.- und Geistbegriffe) alle in neuer, nivellierter Bedeutung konvertibel. So heißt es von seinem neuen, psychologisierten und naturalisierten Bedeutungsbegriff: „ ... aliquando vocatur intentio animae, aliquando conceptus animae, aliquando passio animae, aliquando similitudo rei” (ebda. cap. 12). In Wahrheit, d. h. für Ockham selbst, gilt aber: „intentio animae vocatur quoddam ens in anima natum significare aliquid ...” (ebda.).
Es versteht sich, daß hier zusammen mit der genuinen Bedeutungsproblematik auch die Intentionalitätsproblematik verloren geht, die im 19. Jahrhundert von Brentano wieder entdeckt wird und erst von dem späten Husserl wieder als wesenhaft intersubjektiv begründet werden kann. Inzwischen wurde sie bis zu Kant hin durch die Vorstellung einer „Affizierung” des Bewußtseins durch die Dinge der Außenwelt ersetzt, der freilich Leibniz die Fensterlosigkeit der Monade entgegensetzte. Das Bedeutungsproblem aber, das Ockham einerseits auf die natürliche Zeichenfunktion unserer innerseelischen Vorstellungen, andererseits auf die konventionelle Bezeichnung eben dieser Vorstellungen durch die Sprache reduziert hat, wird von Locke in konsequenter Fortführung des Ockhamschen Ansatzes folgendermaßen charakterisiert: „Words in their primary or immediate signification stand for nothing but the ideas in the mind of him that uses them, how imperfectly or carelessly those ideas are collected from the things which they are supposed to represent. A man cannot make his words the signs either of qualities in things, or of conceptions in the mind of another, whereof he has none in his own ... " (Essay on Human Understanding, III, c. 2, § 2).
Der kontinuierliche Zusammenhang der skizzierten Tradition wird noch unterstrichen durch die im Vergleich etwa zur deutschen Entwicklung viel konservativere lateinische Terminologie der englischen Philosophie, in der gleichsam die mittelalterliche, terministische Sprachlogik, wenn schon zeitweilig in psychologistischer Reduktion, nie aufgehört hat zu bestehen. Weniger altbekannt, aber seit den historischen Forschungen von L. Couturat 73), H. Scholz74), J. M. Bocheęski 75) nicht weniger gut belegt
Vgl. L. Couturat: La logique de Leibniz, Paris 1901. Ders.: Opuscules et Fragments inedits de L., Paris 1903. Ders. und L. Leau: Histoire de la langue Universelle, Paris 1903. 74) H. Scholz: Gesch. d. Logik, Berlin 1903. 75) J. M. Bocheęski: Formale Logik, Freibg./München 1956. 73)
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ist der — seinen Trägern freilich zunächst kaum bewußte — Traditionszusammenhang der logistischen Idee formalisierter Kalkülsprachen mit der barocken, vor allem von Leibniz ausgebildeten Idee einer zur „mathesis universalis” als „calculus ratiocinator” gehörigen „characteristica universalis”. Auch hier bleibt der Historiker im Bereich wissenschaftlicher Theoriebildung (freilich zu ihrer Zeit meist wenig bekannter mathematischer Außenseiter der Philosophie), wenn er von B. Russells „Principia Mathematica” über G. Frege, G. Peano, Ch. S. Peirce, G. Boole, De Morgan und weiter über Condillacs „La langue des calculs”, J. D. Gergonne, J. H. Lambert, G. Plouquet, die Brüder Bernoulli den Gedanken der Kalkülsprache zurückverfolgt bis auf Leibnizens zahlreiche Entwürfe einer philosophischen Universalsprache, in deren Mittelpunkt die Entfaltung des Topos vom Sprachenzeichen als „Rechenzettel” durch die Unterscheidung von „blindem” oder „symbolischem” und andererseits „intuitivem” Denken steht. Leibniz selbst repräsentiert freilich zum ersten Mal die zur „mathesis universalis” gehörige Sprachidee auf wissenschaftlichem Niveau. (Nach einer gelegentlichen Erwägung Descartes' in einem Brief an Mersenne76), die aber gerade die Leibniz faszinierende Einsicht in den Eigenwert des symbolischen Formalismus als eines konstruktiven Erkenntnis-Mittels der Philosophie vermissen läßt und deshalb das Problem der mathematischen Universalsprache von dem inhaltlichen Besitz der „wahren Philosophie”, d. h. der Kenntnis der natürlichen Ordnung der „einfachen Ideen”, abhängig macht). Weiter zurück verfolgt, verlieren sich die Motive dieses Gedankenkreises, wie es zunächst scheint, in den mehr empirisch-praktisch abgezweckten Entwürfen zu einer Universalsprache etwa der Engländer Wilkins (1668) und Dalgarno (1668), ferner in den auf R. Lullus zurück-gehenden Konzeptionen einer mechanischen Ideenkombinatorik als „ars magna (sc. inveniendi)” und in ähnlichen Versuchen einer Mathematisierung des Denkens (so bei Hobbes, der auch das Rechenzettelmotiv kennt und auswertet, und in einer sehr interessanten Antizipation der modernen Idee einer „Präzisions"-Sprache bei Nik. von Kues77)). Wesentlicher als solche historische Herleitung einzelner Motive der Leibnizschen Sprachidee dürfte indessen der Gesichtspunkt sein, daß sich bei ihm die fortgeschrittenste methodologische Reflexion und dementsprechend die radikalste Generalisierung der technischen Notationsprobleme und Errungenschaften der schöpferischen Mathematik des Barockzeitalters (z. B. der Algebra Vietas) vollzieht: dies führte ihn zum Projekt einer mathematischen Logik und der ihr entsprechenden „Semiotik”, d. h. einer technologisch orientierten Sprachphilosophie als „Zeichen-Kunstlehre”. —
76)
77)
Vgl. Descartes: Briefe, ed. M. Bense, Köln/Krefeld 1949, S. 25 ff. Vgl. K. O. Apel: Die Idee der Sprache bei Nik. v. Kues (Arch. f. Begriffsgesch. Bd. I, 1955, S.
220 f.).
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Dies führt uns zu der Frage, ob sich die Sprachidee der „mathesis universalis” nicht doch noch weiter zurückverfolgen läßt, wenn man sie — als Idee der zur mathematischen Logik gehörigen Semiotik — in den Traditionszusammenhang der europäischen Sprachlogik und ihrer zugehörigen Semiotik hineinstellt. Erfüllt nicht die mathematische Logik, die aus der „mathesis universalis” des Barock entstand, der neuzeitlichen Empirie gegenüber eben die Funktion, die seit Beginn der Philosophiegeschichte der Logik zugedacht war? Müßte daher nicht in der sprachphilosophischen Grundlagenproblematik der Logik immer schon ein Hinweis auf die leibnizische Idee der Kalkülsprache enthalten gewesen sein? Diese Fragestellung ist umso naheliegender, als ja der neuzeitliche Empirismus-Nominalismus, mit dem zusammen die „mathesis universalis” die philosophische Grundlegung der modernen Wissenschaft zu leisten hatte, sprachphilosophisch betrachtet, sich als Filiation des spätmittelalterlichen Ockhamismus, d. h. aber als Auflösungsprodukt der mittelalterlichen Sprachlogik erweist. Aus unserer Perspektive einer Geschichte der Sprachproblematik gesehen, ist der sprachkritische Empirismus der Neuzeit ein Auflösungsbestandteil der immer schon zum Nominalismus tendierenden Suppositionstheorie78). Er gleicht einer Suppositionstheorie ohne spekulativ führende Bedeutungslehre; er will nur „bezeichnen”, weiß aber nicht eigentlich, „was”. Denn die zu bezeichnenden Dinge der Außenwelt wollen sprachlich „als etwas” erschlossen sein, auch und gerade in einer exakten Wissenschaft. Gerade sie will in ihrem Gegenstand ihre eigene Bedeutungskonstruktion verstehen. So wird klar, daß aus dem Empirismus und seiner Kritik der scholastischen Logik allein nicht die neuzeitliche Wissenschaft entstehen konnte. Es fehlte die positive, konstruktive Fortsetzung der scholastischen Sprachlogik. Diese aber erwuchs der Neuzeit aus dem Geiste der Mathematik. Die „mathesis universalis” des Barock ist der Keim der mathematischen Logik der Neuzeit; diese bringt dem sprachkritischen Nominalismus in Gestalt konstruktiver, experimentell zu verifizierender Sprachentwürfe das von ihm seit Ockham abgestreifte Element einer spekulativen Bedeutungslehre zurück. (Dabei ergibt sich freilich, wie im vorigen gezeigt wurde, das Restproblem der „Zeichenpragmatik” bzw. der Umgangssprache als letzter Metasprache bei der Einführung und Verifizierung der konstruktiven semantischen Systeme, worauf wir gleich zurückkommen werden.) Die soeben angedeutete Problemkontinuität, welche nicht nur die nominalistische Sprachkritik, sondern gerade auch die konstruktive logistische Syntax und Semantik mit der mittelalterlichen Sprachlogik und, über diese, Boethius und die Neuplatoniker vermittelt, mit der stoischen und
78) Vgl. E. Arnold: Zur Gesch. d. Suppositionstheorie (Symposion, Bd. III, 1952, bs. Teil V: Die Umgestaltung der Lehre von der suppositio durch Wilh. v. Ockham .
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schließlich der aristotelischen Logik und der ihr zugehörigen Semiotik verbindet, wird gegenwärtig durch eine Fülle historischer Untersuchungen besonders in den angelsächsischen Ländern bestätigt79). Welch völlig neues Relief dadurch die Philosophiegeschichte gewinnt (verglichen etwa mit der Zeit der erkenntnistheoretisch orientierten Philosophiehistorie kantischer oder positivistischer Observanz, verglichen insbesondere auch mit Karl Prantls völlig reliefloser Kompilation der auf Aristoteles folgenden, vermeintlich nichts Neues bringenden Logiktradition) zeigt etwa Bocheęskis Standardwerk einer Geschichte der Logik (und der ihr zugehörigen Semiotik!) aus der Sicht der Logistik"). In der Tat läßt sich nicht nur die dem „Nominalismus” wie der „mathesis universalis” zugrundeliegende konventionalistische Zeichen-Idee der Sprache überhaupt, sondern auch die Auffassung der Sprachzeichen als „Rechensteinchen” — d. h. aber der Kerntopos der zur „mathesis universalis” bzw. zur Logistik gehörigen Sprachauffassung — bis zu Aristoteles zurückverfolgen: Im Zusammenhang seiner Schrift „Ober die sophistischen Trugschlüsse” (Nboplcfpqfhîkid`tk) stellt Aristoteles fest: „Von diesen (sc. den Ursachen der. scheinbaren Schlüssigkeit) ist ein Topos der eleganteste und am meisten verbreitetste: der mit Hilfe der Namen. Denn da es nun einmal nicht möglich ist, die Dinge selbst mitzubringen, wenn wir über sie miteinander reden, sondern wir an Stelle der (konkreten) Dinge die Namen als Zeichen gebrauchen (ql®sèkãj^pfkqqîk mo^dj|qtk`oìjbn^prj_ãi^fs), glauben wir, daß das, was mit den Namen vor sich geht, auch mit den Einzeldingen selbst vor sich gehe, wie es denen, die rechnen, mit den Rechensteinchen ergeht. Das ist aber nicht das gleiche. Denn die Namen und die Zahl der Aussagen sind begrenzt, aber die Einzeldinge sind unbegrenzt an Zahl. Es ist also nötig, daß ein und dieselbe Rede und ein und derselbe Name mehreres bezeichnet. Wie nun dort diejenigen, die nicht imstande sind, sich der Rechensteinchen (vÌclrs) zu bedienen, von denen, die das verstehen, überlistet werden, auf die gleiche Weise werden auch bei den Reden diejenigen überlistet, die unerfahren sind in der Macht der Namen (l¯qîkèklj|qtsqÎsark|jtsmbfolf), sowohl wenn sie selber reden, als auch wenn sie anderen zuhören."81)
Zu dieser für die europäische Logik und die ihr zugehörige Sprachphilosophie (Semiotik) wahrhaft klassischen Stelle bemerkt Bocheęski82): Aristoteles verwirft hier den Formalismus, und zwar für die Alltagssprache ganz mit Recht: ohne eine vorherige Unterscheidung der verschiedenen Funktionen der Zeichen kann man in einer solchen Sprache richtige Gesetze nicht formulieren. Der zitierte Text liegt der gewaltigen Entwicklung der Suppositions-, Appellations- und Analogielehre im Mittelalter ... zugrunde. Was Aristoteles und
Vgl. hierzu die Bibliographie in Bocheęskis Gesch. d. form. Logik, a. a. O. S. 531 ff. S. Anm. 75. 82) Aristoteles: Nboplcfpqfhîkid`tks, 165 a 2-13. 82) Bocheęski a. a. O. S. 65.
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die anderen antiken Logiker betrifft, so sieht es so aus, als ob sie die hier vorliegende Schwierigkeit umgangen hätten, nämlich durch Hinzufügung von Regeln, durch welche die Alltagssprache zu einer künstlichen Sprache mit einer einzigen Funktion für jede Wortgestalt wurde." —
Von demselben Aristoteles-Text geht E. Arnold in seiner ausgezeichneten Arbeit zur „Geschichte der Suppositionstheorie"83) aus, die m. E. zum ersten Mal die mittelalterliche Sprachlogik geschichtlich verständlich macht. In der Tat: Die großen Ansätze einer Sprachlogik nach Aristoteles: die Stoa, die Scholastik, Leibniz und die Logistik (z. B. Wittgensteins „Tractatus"), lassen sich als ebensoviele Versuche verstehen, das in dem angeführten Text gestellte Problem zu lösen; sie versuchen immer wieder, die Sprache so zu handhaben (bzw. zu konstruieren), daß die unbegrenzte Fülle der Dinge in der Rechnung zur Abbildung gelangt, so zwar, „daß etwas anderes (Neues) ausgesagt werden kann aus dem Zwang der zugrunde liegenden Dinge” ðpqbiqfkqboãkqfuk|dhgsqîdhbfjktkpf}qîk hbfjktk), wie im Vortext zu der zitierten Aristotelesstelle heißt. Die Neuzeit seit Hobbes und vor allem seit Leibniz hat dabei erstmalig bewußt ihren Ausgang von dem Modell des Rechensteins genommen: Während die Antike und das Mittelalter den Formalismus durch Abstraktion der logischen Struktur aus der lebendigen Sprache zu gewinnen suchten, geht die auf Leibniz zurückgehende Sprachlogik so vor, daß sie zuerst einen formalen Zeichenkalkül entwirft und diesen hernach als Sprache zu deuten versucht. Hierin vollzieht sich offenbar nur eine Verallgemeinerung und Potenzierung des von Kant zuerst reflektierten Galileischen Verfahrens der auf Modellkonstruktion fußenden exakten Wissenschaft: Der Mensch geht von sich aus mit Entwürfen gegen die Welt vor, weil er nur das „präcise” (so zuerst Cusanus) zu verstehen glaubt, was er gewissermaßen selbst gemacht hat. Nun haben wir aber im vorigen (s. oben S. 25 f.) in einer Kritik der modernen Semantik gezeigt, daß die Anwendung des konstruktiven Erkenntnisprinzips auf das Problem der sprachlichen Bedeutung das ganze Prinzip an seine philosophisch relevante Grenze bringt, sofern jedes konstruierte semantische System, soll es sich als kognitiv funktionierende Sprache legitimieren, sich durch die vorausgehende umgangssprachliche Welterschließung qua Situationsdeutung vermitteln muß. Damit haben wir die Grenze der technisch-szientifischen Sprachidee und damit zugleich der Idee der Sprachlogik erreicht — eine Grenze, die der antiken und der mittelalterlichen Sprachlogik deshalb verborgen bleiben konnte, weil sie die logische Struktur der Sprache nicht konstruktiv, sondern abstraktiv aus
83)
S. Anm. 78.
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der Umgangssprache gewannen. Infolgedessen nämlich lernten diese Zei-alter niemals radikal, die mit der Umgangssprache immer schon vorausgesetzte Weltdeutung überhaupt einzuklammern; anders ausgedrückt: sie bemerkten nicht, daß jede logische Abbildung „der Dinge” durch ein Zeichensystem schon eine sprachliche Erdeutung eben der Dinge „als etwas” voraussetzt, von der die Logik der Bezeichnung niemals Rechenschaft geben kann — auch wenn sie (wie z. B. die klassische Suppositionstheorie vor Ockham) neben den Einzeldingen bzw. Vorstellungen noch zu bezeichnende universalia in rebus bzw. in intellectu divino gelten läßt. — Schon die platonischen „Ideen” als die Vorläufer und Vorbilder der „Universalien” hätten zu diesem Zweck „Gegenstand” nicht nur einer Dialektik des theoretischen Denkens, sondern einer Hermeneutik ihrer lebensweltlichen Konstitution in den „Sprachspielen” der alltäglichen Daseinspraxis werden müssen. Eine solche Transzendierung der theoretisch-gegenständlich eingestellten Logik ergab sich, wie im vorigen gezeigt wurde, erst im 20. Jahr-hundert. Und selbst sie wird, wie in der Kritik des sprachphilosophischen Pragmatismus (Ch. Morris' und des späten Wittgenstein) angedeutet wurde, als generalisierende Wissenschaft der geschichtlichen Dimension der sprachlichen Weltkonstitution, als „Sinnereignis” nicht gerecht. Immerhin ist der Blickpunkt des aus der Aporetik der logischen Semantik erwachsenen Sprach-Pragmatismus geeignet, einen weiteren Traditionszusammenhang der Geschichte des Sprachproblems ins Licht zu rücken. Führt die Vorgeschichte der logischen Semantik über die Tradition der nominalistischen Sprachkritik und der „mathesis universalis” auf die Kontinuität einer abendländischen Geschichte der Sprachlogik, so versteht sich, wie schon erwähnt, die Zeichen„Pragmatik" eines Charles Morris in mancher Hinsicht als wissenschaftliche Legitimation der antiken Rhetorik und ihrer Fortsetzung im trivium der septem artes liberales des Mittelalters. Das besagt aber, wie wir auch bereits andeuteten, daß der moderne sprachphilosophische Pragmatismus die hermeneutische Perspektive liefern könnte für eine schon seit der Zeit der Sophisten in Spannung mit der logisch orientierten Philosophie sich tradierende geheime Philosophie der Rhetorik, die eine wesentliche Komponente in der Sprachauffassung des Humanismus ausmachen dürfte. Hiermit ist indessen der heuristische Horizont einer historischen Herleitung der technisch-szientifischen Sprachauffassung bereits überschritten. Mit der Selbsttranszendierung der logischen Semantik im Pragmatismus der Umgangssprache ist der Konvergenzpunkt der angelsächsischen sprach-analytischen Philosophie zu jenen kontinentalen Tendenzen bezeichnet, die wir im vorigen als transzendental-hermeneutisch charakterisierten. Dem entspricht es, daß nach unserer im vorigen aufgestellten These auch der transzendental-hermeneutische Ansatz der gegenwärtigen Sprachphilosophie auf den Humanismus zurückweist, sofern nämlich dieser als
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Quellpunkt historisch-philologischen Sprachdenkens mit der christlichen Logosspekulation, insbesondere mit der Tradition der deutschen Logosmystik, sich durchdringt. Versuchen wir, auch diese Herkunftsthese andeutungsweise zu belegen und damit das programmatische Bild einer Geschichte der neueren Sprachphilosophie aus sprachphilosophischer Sicht zu vervollständigen. Während die Entstehung des technisch-szientifischen Zeichenbegriffs der Sprache auf eine fast lückenlose Tradition im Bereich wissenschaftlicher Theoriebildung gegründet werden kann, erweist sich das Problem einer Vorgeschichte im Falle des transzendental-hermeneutischen Sprachdenkens als bedeutend komplizierter. Zunächst können wir hier zweifellos einen entscheidenden Schritt zurück tun, wenn wir der sowohl von seiten der „inhaltbezogenen” Sprachwissenschaft wie auch von seiten der Transzendentalphilosophie der Sprache wiederholt ausgesprochenen Berufung auf W. v . Humboldt, Herder und Hamann folgen. Von philosophischer Seite (z. B. von E. Heintel) wird dabei mit Recht die sachliche und geistesgeschichtliche Zusammengehörigkeit dieses Sprachdenkens der „Deutschen Bewegung” (wozu auch das von Eva Fiesel monographisch gewürdigte Sprachdenken der Romantik84) gehört) mit der großen Philosophie des deutschen Idealismus betont. Beide Seiten haben freilich zu ihrer Zeit nicht zusammengefunden, und hierin dürfte doch mehr als nur ein zufälliges, äußerlich bedingtes Aneinandervorbeigehen zum Ausdruck kommen. Nicht nur die Sprachdenker (insbesondere Hamann und Herder) haben „versäumt”, sich das transzendentalphilosophische Problem der Logosvoraussetzung überhaupt auf den seit Kant eingeleiteten Wegen methodischer Reflexion ausreichend klarzumachen; auch die Transzendentalphilosophen haben ihrerseits — von Kants Affektionsproblematik der „transzendentalen Aesthetik” bis zu Hegels Ansatz bei der „sinnlichen Gewißheit” im Eingangskapitel der „Phänomenologie des Geistes” — das von Hamann umkreiste Urphänomen des immer schon in bestimmter Sprache erschlossenen „unmittelbaren Sinns” übersprungen bzw. „unterschlagen"85); und es ist — wie im vorigen näher begründet wurde — noch sehr die Frage, ob eine selbstgenügsame, d. h. prinzipiell situationsüberhobene theoretische Transzendentalphilosophie des Geistes, wie sie in Hegels dialektischem Denken ihre äußersten Möglichkeiten entfaltet, dem Urphänomen der Geworfenheit selbst noch des philosophischen Denkens in die sprachliche Sinnerschlossenheit der
84)
Vgl. Eva Fiesel: Die Sprachphilosophie der Romantik, Tübingen 1927. Vgl. hierzu die Aufsätze von E. Heintel und 7. Derbolav in der Weisgerber- Festschrift (a. a. 0. S. 47 ff. bzw. S. 56 ff.),wo hinsichtlich des in der klassischen Transzendentalphilosophie unterschlagenen „unmittelbaren Sinns” sachlich und terminologisch auf eine noch ungedruckte Dissertation von F. Fischer („Systematische Untersuchung zum Affinitätsproblem”, Wien 1956) Bezug genommen wird. 85)
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Welt als Situation gerecht werden kann. Insofern muß in unserer Perspektive gerade das in vielem ungeklärte, ja widersprüchliche und synkretistische Denken W. v. Humboldts, Herders und Hamanns für eine Vorgeschichte des transzendentalhermeneutischen Sprachdenkens den ersten repräsentativen Anhaltspunkt abgeben. Doch damit haben wir gleichzeitig auch schon die Grenzen einer wissenschaftlich-philosophischen Vorgeschichte dieses Sprachdenkens erreicht — wenn wir hier zunächst noch absehen von dem Fall der „Neuen Wissenschaft” Giambattista Vicos. Schon bei Hamanns Aphorismen wie etwa diesem: „Sprache die Mutter der Vernunft und Offenbarung, ihr A und Q” oder: „Ohne Wort keine Vernunft, — keine Welt. Hier ist die Quelle von Schöpfung und Regierung!” — schon hier wird man kaum noch von wissenschaftlicher Theoriebildung reden wollen. Und doch kommt gerade in diesen und ähnlichen Aussprüchen Hamanns das transzendentale Motiv der Sprachphilosophie am stärksten zum Ausdruck — stärker und reiner als vielfach bei Herder. Herders Stärke gegenüber Hamann liegt in seiner breit angelegten Aufarbeitung und anthropologischen Synthese der für die Aufklärungszeit charakteristischen empirisch-genetischen Literatur über die Sprache. (Tatsächlich versäumte ja keiner der führenden englischen und französischen Autoren des 18. Jahrhunderts, den Ursprung der Sprache zu „erklären"86). Insofern war Herder der bei weitem wissenschaftlichere Philosoph; seine tiefsten und gegenwärtig aktuellsten Gedanken über die Sprache, z. B. alle die Gesichtspunkte, welche das Problem einer „Metakritik” der Kantschen Vernunftkritik ernsthaft fördern, stammen aber gerade von Hamann oder verweisen zumindest in dieselbe Richtung einer möglichen Herkunft87). Wie läßt sich hier geistesgeschichtlich weiter zurückfragen? Tatsächlich können wir für die Herkunft der bei Hamann und Herder (und bei Vico!) zuerst charakteristisch hervortretenden Philosophie der Sprache und damit zugleich der geschichtlichen Welt des Geistes nicht mehr die spezifisch wissenschaftliche Tradition der neuzeitlichen Philosophie in Anspruch nehmen. Die Ursprünge dieses Denkens lassen sich gleichsam nur unter der Oberfläche der teils von der Schulmetaphysik, teils von cartesianischen und naturrechtlichen Konzeptionen beherschten Barockwissenschaft hinter die Schwelle der Aufklärungszeit zurückverfolgen. Hier stehen nun der geistesgeschichtlichen Forschung gewissermaßen zwei Wege offen: Der eine Weg besteht darin, gemäß dem Gesetz der abendländischen Geistessäkularisation die Herkunft neu auftretender philosophischer Gedanken in der Theologie, und zwar ebenso in ihrer orthodoxen wie mehr noch in ihrer häretischen Tradition, aufzusuchen. Ein Musterbeispiel für
86) 87)
Vgl. R. Unger: Hamanns Sprachtheorie, München 1905, S. 155 ff. Über das ungeklärte Verhältnis Herders zu Vico vgl. Anm. 634.
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dieses Verfahren hat in der jüngsten Zeit K. Löwith gerade für die Geschichte des geschichtlichen Denkens geliefert88). Für eine mystisch-theologische Vorgeschichte der Hamannschen Sprachauffassung wären vor allem die Studien von Ernst Benz über Jak. Böhme heranzuziehen89). Den anderen Weg hat gerade für unser Thema aufs glücklichste L. Weisgerber beschritten, indem er nach der „Entdeckung der Muttersprache” bei den europäischen Völkern fragte90). Dies gab ihm die Möglichkeit, die in der „Deutschen Bewegung” zu einer Philosophie der geschichtlichen Muttersprachen zusammenschießenden Denkmotive durch alle Schichten vorphilosophischer Reflexion (in den Programmen der Sprachgesellschaften, den nationalen Grammatiken, den Zeugnissen der Bibelübersetzer, endlich in der Wortgeschichte) bis zu den großen realgeschichtlichen Konstellationen zurückzuverfolgen, in welchen den abendländischen Nationen ihre Sprache zum Erlebnis wurde. Mit einem Schlag wird dadurch der Problemzusammenhang einer vorphilosophischen Kontinuität der Spracherfahrung der europäischen Völker ins Blickfeld gerückt. Sie kristallisiert sich im neuzeitlichen Europa um Ereignisse wie: nationale Befreiung oder auch politische Eroberung, Formierung einer nationalen Literatur im Kampf mit älteren berühmteren Kultursprachen, schließlich: Ringen um die Vermittlung (Übersetzung oder sogar ursprüngliche Offenbarung) des religiösen Heils in der Muttersprache. Für unsere Fragestellung kommt nun alles darauf an, zu beobachten, welche neuen Sprachdeutungen an den Reflexionspunkten des geschichtlichen Geschehens selbst erwachsen, oder aber: welche Ideenkomplexe der Überlieferung im weitesten Sinne dem Selbstverständnis zu Hilfe kommen. Die geschichtliche Wirklichkeit ist freilich dadurch charakterisiert, daß einerseits kaum ein neuer Gedanke ganz ohne nachweisbare Anknüpfung an bestehende geistige Traditionen entsteht, daß aber umgekehrt diese
88) K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953. Von Löwiths Säkularisationsbegriff, der gewissermaßen eine theologisch-historische „Entlarvung” der neuzeitlichen Geschichtsmetaphysik erlaubt, möchte sich der Verfasser allerdings distanzieren. 89) Vgl. bs. E. Benz: Zur metaphysischen Begründung der Sprache bei 1. Boehme (Euphorion, 37. Bd. 1936, S. 340 ff.) Tatsächlich verweisen alle jene zentralen Vorstellungen des Magus, die R. Unger als in seiner mystisch religiösen Weltanschauung begründet und mit der wissenschaftlichen Gesinnung des 18. Jahrhunderts unvereinbar deklariert, auf die Tradition der deutschen Logosmystik: z. B. die prinzipielle Entsprechung der menschlichen Rede und der göttlichen „Rede an die Kreatur durch die Kreatur”, im Zusammenhang damit der einerseits sensualistisch, andererseits platonisch orientierte Begriff des Symbolischen als der uns angemessenen Selbstoffenbarung Gottes, der wohl zuerst von Nik. v. Kues ausgebildet wurde, überhaupt die Topoi vom „Buch” bzw. der „Sprache” der Natur. 90) Vgl. L. Weisgerber: Die Entdeckung der Muttersprache im europäischen Denken, Lüneburg
1948.
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geistigen Traditionen bei der Beantwortung neuer realgeschichtlicher Situationen plötzlich gleichsam ein neues Gesicht zeigen und unter neuem Namen in die Geistesgeschichte eingehen. So auch im Falle der „Entdeckung der Muttersprache” bei den neueuropäischen Nationen im Ausgang des lateinisch bestimmten Mittelalters. Die geistige Überlieferung, auf welche die Sprachreflexion zurückgreifen konnte, war einmal das Rüstzeug der aus der römischen Antike stammenden rhetorischgrammatischen Schulbildung, wie sie insbesondere in der Artistenfakultät der mittelalterlichen Universität gepflegt wurde, andererseits der biblische Motivkreis der christlichen Sprachtheologie: die Erschaffung der Welt durch Gottes Wort, Adams Akt der Namengebung als Begründung der paradiesischen „Ursprache”, der Turmbau zu Babel als Ursprung der Sprachverschiedenheit im Lichte einer göttlichen Strafaktion, die Fleischwerdung des göttlichen Wortes in Jesus Christus und schließlich das Sprachenwunder der Pfingstgeistausgießung an die Apostel, durch das nach ostkirchlicher Überlieferung der Strafakt der babylonischen Sprachverwirrung rückgängig gemacht wurde, indem alle Sprachen als Gefäße des einen, wahren Evangeliums neu geheiligt und verbunden wurden. Hier eröffnete sich dem mittelalterlichen — und damit allem abendländischen — Sprachdenken ein geschichtlicher Problemhorizont, der durch die schon in den Genesis-Kommentaren der Kirchenväter hergestellte Verbindung zur griechischen Philosophie (z. B. zum Logosgedanken und zum Problem des c¼pbf+ oder npbf+ Ursprungs der Namen) auch bereits wesentliche Ansätze einer Sprachphilosophie in sich barg. Dieser ganze vielfältige Überlieferungskomplex antiker und biblisch-christlicher Herkunft gewinnt nun aber erst im Ausgang des Mittelalters, im Zusammenhang ganz bestimmter Schlüsselsituationen der Selbstfindung der europäischen Nationen seine profilierte Ausgestaltung in zwei für die Geistesgeschichte der Neuzeit maßgebenden Richtungen des Sprachdenkens: Die eine hat ihren Ursprung in der gewissermaßen zwiefachen oder doppelpoligen Selbstfindung Italiens, sofern diese zuerst in Dantes Entdeckung der Volkssprache als Literatursprache und gleich darauf in der Erneuerung des klassischen Lateins und seiner ciceronischen Ideologie durch die sogenannten Humanisten erfolgte. Wie später genauer zu zeigen sein wird, erwuchs hieraus für alle übrigen europäischen Nationen die grammatischphilologische und kulturpolitische „Instauratio” der Muttersprache im Zeichen eines erweiterten Sprach-Humanismus („umanesimo volgare"). — Die andere geistesgeschichtlich maßgebende Neugründung des Sprachdenkens erfolgte in einer Neuaneignung und teilweise säkularisierenden Umbildung der christlichen Sprachtheologie anläßlich der religiösen Selbstfindung der deutschen Nation in der Mystik und Reformation (d. h. in der „ersten” und „zweiten” deutschen Bewegung, wie Friedrich Heer in seiner „Europäischen Geistesgeschichte” sagt). Ihren
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für die Entstehung der neuzeitlichen Sprachphilosophie wesentlichen Kern bildet die sogenannte „Logosmystik”. In ihr erfährt zunächst der Mystiker auf den Spuren des Pseudo-Dionysius Areopagita das Unaussprechliche, d. h. Gott selbst, auf dem Grunde seiner Seele. Indem aber Gott selbst nach dem Prolog des Johannesevangeliums zugleich das Wort, der Logos, ist, muß sich seine „Geburt in der Seele” doch auch im Akt des „(Ge)wortens"91) aus der Seele bzw. des Herzens Abgrund (so Eckhart und später Böhme im Gefolge von Augustinus „ex corde dicimus”) bezeugen, mag er auch selbst als das „unwortliche ewig wort"92) für das geäußerte Wort unerreichbar sein. In dieser scheinbar paradoxen Konstellation (die schon in dem Begriff „Logos-Mystik” sich ausspricht, sofern das in ihr thematisch gemeinte Unaussprechliche doch eben der Logos als Wesensursprung alles Sprechens ist) verbirgt sich der christlichabendländische Ursprung einer Transzendentalphilosophie der Sprache (wie übrigens auch der Transzendentalphilosophie des Geistes im Deutschen Idealismus). Diese These mag zunächst rein aus der Struktur des aktuellen Sprachlogos, der in der Tat sich selbst als Bedingung seiner Möglichkeit vorweg und insofern unaussprechlich ist (vgl. noch Wittgenstein!), einleuchten. Sie läßt sich aber erst dann in ihrer konkreten Bedeutung geistesgeschichtlich verifizieren, wenn man die Neuaneignung des in vielen Einzelzügen auf
91) Vgl. die folgende Stelle aus der 4. Predigt Meister Eckeharts: „ich sprach einest: swaz eigentlich gewortet mac werden, daz muoz von innen her ûz komen und sich bewegen von innerer forme und niht von ûzen her in komen, mêr: von inwendic sol ez her ûz komen. Daz lebet eigentliche in dem innersten der sêle” (Predigten, hrsg. v. 7. Quint, 1. Bd., 1936, S. 66 mit Anm. 3). Vgl. hierzu auch L. Weisgerber: Der Begriff des Wortens (Festschr. f. F. Sommer, Wiesbaden 1955, S. 248 ff.), wo der mittelhochdeutsche Begriff im Sinne der „inhaltbezogenen Sprachwissenschaft” neu aufgenommen wird. — Übrigens findet sich der logosmystische Begriff des „Worten” auch bei Nikolaus von Kues (vgl. Anm. 96) und, wie es scheint, sogar noch bei Herder (vgl. Heintels Einleitung, a. a. O. S. XXVI unter Verweis auf S. W., hrsg. v. Suphan, XXI, 124). 92) In dem dynamischen Verbal-Begriff des „(Ge-)wortens” vermittelt die Logosmystik der Sprachphilosophie gewissermaßen das der griechischen Sprach-Logik in ihrer statischen Kosmosbezogenheit entgegengesetzte Inkarnationsprinzip der christlichen Weltschöpfungslehre. So wie im genuin christlichen Denken die Welt im Wort (Logos qua Verbum) nicht nur ihre ewige Ordnung enthüllt, sondern durch es als personalen Akt Gottes ins Sein tritt, so liegt auch in dem „(Ge-)worten” der Mystiker ein Moment der WeltZeitigung und damit der Keim einer Sprachphilosophie, welche nicht im Schema der statischen „ZuOrdnung” von Kosmos und Zeichensystem, sondern eher aus dem Gesichtspunkt der Identität von Sprachakt und Weltkonstitution im Sinn-Ereignis denkt. — Insofern läßt sich — was hier nicht näher gezeigt werden kann — über die deutsche Logosmystik sehr wohl der Weg von der noch platonisch-dualistisch konzipierten „illuminatio verbi (interni)” Augustins zu Heideggers „Lichtung” des Seins in der Sprache verständlich machen. 93) Meister Eckehart, hrsg. v . F. Pfeiffer (1857), S. 319, 17; 77, 11.
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die christliche Antike zurückgehenden Motivs von der „Logosgeburt in der Seele des Menschen” durch Eckhart und seine Nachfolger im Zusammenhang mit der sprachlichen Großtat dieser Bewegung sieht, die eben aus der Anstrengung der „Wortgeburt” dem deutschen Volk die Ausdruck-mittel des philosophisch-theologischen Denkens schenkte93). Von Eckharts deutschsprachigen Beginenpredigten über die Schwarmgeister der Reformationszeit bis zu Jakob Boehme, ja bis zu den pietistischen Strömungen, aus denen noch die dritte „Deutsche Bewegung” des „Sturm und Drang” und der idealistischen Philosophie sich speist, läßt sich belegen, wie ein religiöses Laiendenken gegen die starre Form der kirchlichen Dogmatik (später auch der rationalistischen Sprachregelung der Literatur) einmal das keiner Sprache angehörige „innere Wort” (Augustinus' „verbum quod intus lucet"94), auch den „Geist” gegen den „Buchstaben”) ausspielt, zu-gleich damit aber auch das als subjektiv-ursprünglich erlebte Denken und schließlich auch Reden in der Muttersprache95). Darüberhinaus erwuchsen aus der kontinuierlichen Geistesströmung der deutschen Logosmystik zwei wahrhafte Klassiker transzendentaler Sprachspekulation vor der bewußten Thematisierung dieses Gedankens: Nikolaus von Kues und Jakob Boehme. Die Bedeutung des ersteren für unser Thema liegt besonders darin, daß in seinem Sprachdenken sowohl der „symbolische Perspektivismus” einer hermeneutischen Sprach- und Kulturphilosophie im Sinne Vicos, Hamanns und noch W. v. Humboldts wie auch die Rationalisierung der Logosspekulation zur „mathesis universalis” vorgeprägt ist. Was später als aufschließendes „Symbol” im Sinne Goethes und der Romantik einerseits, als Element „blinder”, aber in sich
93) Vgl. J. Quint: Meister Eckehart (Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, Bd. III, 1941) S. 36: „Es genüge die Feststellung, daß wir Heutigen kaum einen Satz über Geistiges äußern können, der nicht die Spuren der Prägung oder Wandlung durch den Meister verrät, ob wir nun von „Einfluß”, „Eindruck”, „Ausdruck”, „Begriff”, „Eigenschaft”, „Eigenheit”, „Gelassenheit”, „Grund”, „Gründlichkeit”, „ergründen”, „erledigen”, „Erhabenheit”, „Einstehen”, von „Einheit”, „Vielheit”, „Mannigfaltigkeit”, „Ursprünglichkeit” sprechen, um nur weniges im Vorbeigehen zu erwähnen.” 94) Augustinus: De trinitate, XV, 11, 20. 95) Vgl. hierzu die folgende Literatur: P. Hankamer: Die Sprache, ihr Begriff und ihre Deutung im XVI. und XVII. Jhdt., Bonn 1927. W. Kayser: Böhmes Natursprache und ihre Grundlagen (Euphorion, 31. Bd., 1930, S. 521-62). E. Benz: Zur metaphysischen Begründung der Sprache bei J. Böhme (Euphorion, 37. Bd., 1936, S. 340 ff.). Ders.: Zur Sprachalchemie der deutschen Barockmystik (a. a. 0. S. 482 ff.). A. Schlei f f : Sprachphilos. und Inspirationstheorie im Denken des 17. Jhdts. (Ztschr. f. Kirchengesch., 3. Folge VIII, LVII. Bd. 1938, S. 133 ff.). Eine zusammenfassende Darstellung der sprachphilosophischen Ansätze der deutschen Logosmystik von Eckehart über Cusanus, Paracelsus, die Schwärmer und Jakob Böhme bis zu Hamann, ja bis zum späten Schelling fehlt bis jetzt. Hier eröffnet sich, wie schon mehrfach erwähnt, einer der wesentlichsten Einführungswege in die neuere Sprachphilosophie.
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präziser Symbolkonstruktion im Sinne Leibnizens andererseits einen komplementären Gegensatz bildet, das entspricht bei Cusanus zwei Seiten der menschlichen Sprachkunst, je nachdem, ob diese auf die Welt als explicatio dei oder auf sich selbst als explicatio mentis bezogen wird. Dazu sei an dieser Stelle nur ein kurzer Hinweis durch einige charakteristische Belegstellen gegeben: Bei dem Cusaner schlägt die paradoxe Grundkonstellation der Logosmystik unmittelbar in eine Symbollehre um: „So wird dich deine Erwägung notwendig dahin führen, daß jenes Eine, aller Dinge Ursprung, unaussprechlich sei, indes es selbst doch alles Aussprechbaren Urgrund ist. Alles, was daher nur immer jemand aussprechen kann, bringt nicht das Unaussprechliche zum Ausdruck; und doch tut jedes Reden (als solches) das Unaussprechliche kund. Es ist nämlich jenes Eine, Vater oder Zeuger des Wortes, alles das, was in jedem Wort, wenn ich so sagen darf, gewortet, was in jedem Zeichen überhaupt bezeichnet wird"96).
Entsprechend wird ihm die ganze sichtbare Welt zur symbolischen Selbstoffenbarung Gottes, zur Rede Gottes durch die Geschöpfe an den Menschen als das gottebenbildliche, verstehend am Logos teilhabende Geschöpf: „Das Stoffliche der Welt ist gleichsam stimmhafter Laut, in dem er das geistige Wort verschiedenartig widerstrahlen läßt, so daß alles sinnlich Erfahrbare gleichsam Reden sind, verschiedenartig ausgesprochen, ausgefaltet von Gott-Vater durch das Sohn-Wort im Geist von allem. Und dies geschieht dazu, daß mittels der sinnlich erfahrbaren Zeichen die Lehre höchsten Meistertums sich in die Menschenseele ergieße und sie zu ähnlichem Meistertum umgestalte und vervollkommne."97)
Diese zentrale Konzeption der explicatio dei als symbolischer Selbstoffenbarung des Logos hat der Cusaner besonders in den Dialogen des „Laien über den Geist” in einer höchst originellen Verbindung der platonischen Methexis-Lehre (und darüber hinaus einer Theorie des „nomen naturale” im Sinne des „Kratylos”) mit der empiristischen Abstraktionstheorie des Ockhamismus auch explizit als Sprachphilosophie entwickelt98).
96) „Omnia igitur, quae effari quicunque possunt, ineffabile non exprimunt, sed omnis elocutio ineffabile fatur. Est enim ipsum unum pater seu genitor verbi id omne, quod in omni verbo — ut sic dicam — verbatur, sic in omni signo signatur.” (De filiatione Dei, Paris 1514, fol. 67 v., dtsch. Ausg. Phil. Bibl. Bd. 218, 1942, S. 77 ff.). 97) Ebda. Vgl. hierzu etwa folgende Stelle bei Hamann: „Rede, daß ich Dich sehe! — Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagt's dem andern, und eine Nacht tut's kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende, und in jeder Mundart hört man ihre Stimme.” (Schriften, hrsg. v. Fr. Roth und G. A. Wiener, Berlin 1821-43, Bd. II. S. 261). 98) Vgl. zur Sprachphilosophie des Cusaners im ganzen meine unter Anm. 77 zitierte Arbeit.
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Charakteristisch und äußerst zukunftsreich ist dabei seine doppelte Verwendung des Präzisionsbegriffs innerhalb der Bedeutungslehre: Ist die Welt als explicatio dei ihrem wahren Sein nach niemals „praecise”, sondern nur „symbolice”, d. h. im aspektivischen Widerscheinen gemäß den in den Wörtern der Sprache fixierten menschlichen Wahrnehmungsperspektiven zu verstehen, so gilt das nicht von den Begriffen, sofern sie — wie z. B. in der Mathematik — rein a priori als explicatio mentis, d. h. des Logos selbst als Bedingung der Möglichkeit des menschlichen Denkens und Bedeutens verstanden werden. Seine schärfste Ausprägung hat dieser Gedanke in der Spätschrift „De possest” (fol. 179 = „Vom Können-Sein”, Phil. Bibl. Bd. 229, Lpz. 1947, S. 31 f.) erhalten, wo es heißt: „In mathematicis, quae ex nostra ratione procedunt et nobis experimur inesse sicut in suo principio, per nos ut nostra seu rationis entia sciuntur praecise, scilicet praecisione tali rationali, a qua prodeunt; sicut realia sciuntur praecise praecisione divina, a qua in esse procedunt. Et non sunt lila mathematicalia neque quid neque quale, sed notionalia a ratione nostra elicita, sine quibus non possit in suum opus procedere, scilicet aedificare, mensurare et id genus talia. Sed Opera Divina, quae ex divino intellectu procedunt, manent nobis, uti sunt, praecise incognita ... Unde omnium operum dei nulla est praecisa cognitio, nisi apud eum, qui ipsa operatur”.
Hier ist der Weg der neuzeitlichen Rationalisierung der Logosspekulation gewiesen; in den Sätzen des Cusaners ist bereits das methodologische Prinzip niedergelegt, aus dem heraus Leibniz die Grundlagen der „mathesis universalis” gewinnen und aus dem heraus die gesamte exakte Wissenschaft der Neuzeit bis zur „symbolischen Naturkonstruktion” der gegenwärtigen Physik ihr Erkenntnisverfahren zuinnerst bestimmen wird. Tatsächlich findet sich bei Nik. v. Kues auch bereits der Grundgedanke einer Präzisionssprache im Stile der Leibnizschen „characteristica universalis” angedeutet99). Die oben zitierten Sätze bezeichnen aber auch, wie später genauer zu zeigen ist, das Prinzip, aus dem heraus Giambattista Vico die erkenntnistheoretische Grundlegung seiner Philosophie vornimmt, wobei er die in der Konzeption der „mathesis universalis” vollzogene Rationalisierung des Logos gewissermaßen wieder rückgängig macht, um die Bedingungen der Möglichkeit des hermeneutischen Verstehens der vom Menschen geschaffenen und deshalb auch wiederzuerkennenden geschichtlichen Welt der Kultur und der lebendigen Sprachen zu gewinnen. Vicos Begründung einer „transzendentalen Philologie” (darum handelt es sich in der „Scienza nuova"), die freilich ohne Folgen bleibt, ist der klassische Beleg für die Entstehung des transzendentalhermeneutischen Denkens aus der Durchdringung von christlicher Logosspekulation und humanistischer Philologie. In Deutschland begegnen sich die Traditionen des grammatisch-rhetorischen Sprachhumanismus einerseits, der Logosmystik andererseits 99) Vgl.
Anm. 77.
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lange Zeit hindurch ohne tieferes Verständnis füreinander. Zu einer gewissen faktischen Verschmelzung kommt es zwar schon in der Sprachgenialität Martin Luthers. Aber die theoretische Sanktionierung dieses Bündnisses weist Luther gerade von sich100). Reuchlins „De verbo mirifico” und ähnliche mystisch-kabbalistische Exkurse humanistischer Sprachgelehrter bis zu den barocken Wurzelwortspekulationen verbreiten allenfalls die Aura eines tieferen Sprachgeheimnisses, vermögen aber nicht, den transzendentalphilosophischen Kern des Logosgedankens für die Sprachdeutung fruchtbar zu machen. Dies gilt selbst noch von Justus Georg Schottel, durch dessen „Ausführliche Arbeit von der teutschen Hauptsprache” (1663) immerhin die Lehren J. Böhmes von der in der Muttersprache lebendigen adamitischen Natursprache bis in Leibnizens „Unvorgreifliche Gedanken” sich auswirken konnten. Im ganzen läßt sich in Deutschland von einer wirklichen philosophischen Durchdringung humanistischen Sprachwissens und transzendentaler Grundlegung im Sinne Vicos erst in der Zeit des Neuhumanismus, d. h. seit Herder und Hamann reden. Letzterer scheint dabei der eigentliche Vermittler der Tradition der deutschen Logosmystik zu sein. Wir haben damit den heuristischen Horizont einer Geschichte der Sprachphilosophie, wie er sich aus der gegenwärtigen Situation des zwischen technischszientifischen und transzendental-hermeneutischem Ansatz gespaltenen Sprachdenkens ergibt, im Sinne der eingangs bezeichneten vier Einführungswege verdeutlicht. Es bleibt uns nun die Aufgabe, das spezielle Problem einer Geschichte der Sprachidee in der Tradition des abendländischen Humanismus, an dem wir in der vorliegenden Arbeit das umfassendere Problem einer Geschichte der neueren Sprachphilosophie exemplifizieren wollen, methodologisch zu charakterisieren. Was verstehen wir zunächst unter dem vieldeutigen Begriff des Humanismus? Auch wenn wir den systematischen Begriff des Humanismus, wie er etwa von Philosophen im Rahmen einer Weltanschauungslehre oder als Name für ihre eigene Lehre verwendet wird, von vornherein ausklammern, bleibt „der” Humanismus ein außerordentlich komplexes und doch irgendwie einheitliches Phänomen der abendländischen Geistesgeschichte. In gewissem Sinne läßt sich bereits die Rezeption der griechischen „Paideia” durch die Römer im Sinne der „studia humanitatis” (Cicero) als erster Humanismus auffassen. Des weiteren sind die verschiedenen Wiederbelebungen der klassischen Studien im Mittelalter als humanistische Bewegungen charakterisiert worden. Vor allem aber gilt die in Italien von Petrarca und seinen Nachfolgern ausgelöste „Wiedergeburt” (rinascimento) der „romanitas” als „der” Humanismus. Aber auch dieser klassische Humanismus der Renaissance ist wiederum aus den verschiedensten Per-
100)
Vgl. im folgenden Kap. VII, d.
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spektiven interpretiert worden: so als „Gelehrtenbewegung”, „literarische Strömung”, als „Lebensstil” und wiederum als „Weltanschauung” oder sogar „Philosophie”, z. B. zuletzt von Friedrich Heer als „dritte Kraft” zwischen den europäischen Konfessionen des Reformationszeitalters. Um hier sofort den für eine Geschichte der Sprachphilosophie wesentlichen physiognomischen Kernbestand ins Blickfeld zu rücken, gebrauchten wir im vorigen den Terminus „Sprach-humanismus” und deuteten verschiedentlich an, daß darunter eine Art Sprach-Ideologie zu verstehen sei, die von Cicero bis zu Giambattista Vico sich belegen ließe. Zwar fällt es auf den ersten Blick nicht leicht, das zentrale Motiv oder so etwas wie den Sprach-Begriff dieses „Sprach-Humanismus” anzugeben. Tatsächlich befindet sich unter allen sogenannten „Humanisten"100a) kaum ein originaler Sprachphilosoph (überhaupt kein großer Einzeldenker; es sei denn, daß man in Giambattista Vico den Testamentsvollstrecker des römisch-italienischen Sprachhumanismus erblicken dürfte, wofür wir im folgenden eine Lanze brechen wollen). Nichtsdestoweniger umfaßt der Sprach-Humanismus alle jene „Topoi” des abendländischen Sprachdenkens überhaupt, die dem Sprachgelehrten der beginnenden Neuzeit als Rüstzeug dienten, und darüber hinaus auch so etwas wie eine „geheime Philosophie” der Sprache und der Kultur, welche auch die nicht von ihm selbst geschaffenen Denk-mittel (eben die überlieferten „Topoi”) aus einer einheitlichen Haltung und Grundtendenz heraus verbindet. Der Verfasser ist sich klar darüber, daß er mit dieser Behauptung die lange Reihe derer verlängert, die den undankbaren Versuch unternahmen, eine Philosophie des Humanismus aufzufinden und gegen die übrige Tradition des abendländischen Denkens abzugrenzen. Kein Geringerer als E. R. Curtius hat hierüber gespottet und dem Versuch jede Berechtigung abgesprochen mit dem Hinweis, daß es sich bei der sogenannten Philosophie des Humanismus um „rhetorische Stilübungen” handele, wie überhaupt der Schlüssel zu diesem „Denken” in der Schultradition der abendländischen Rhetorik und Grammatik zu suchen sei101). Wir werden diesem Hinweis weitgehend folgen und etwa den Florentiner Neuplatonismus um Ficino und Pico oder das Staatsdenken Machiavellis nicht als humanistische Philosophie reklamieren (obwohl hier sehr wohl ein humanistisches Fluidum als verbindendes Element aufweisbar wäre). Wir werden
100a) Der Ausdruck „Humanist” (ital. [h]umanista) ist „nach den Mustern ,legista`, ,iurista` usw. in Anlehnung an Ciceros und Aulus Gellius' ... Termini ,studia humanitatis' und verwandte Ausdrücke gebildet worden” und „zum ersten Mal in einem Schreiben des Rektors der Universität Pisa an die Florentiner akademischen Behörden im Jahre 1490” belegt (H. Rüdiger in: Gesch. d. Textüberlieferung, Bd. I, Zürich 1961, S. 525 mit Bezug auf Paul 0 . Kristeller: Studies in Renaissance Thought and Letters, Roma 1956, 572 ff.). 101) Vgl. E. R. Curtius: Neuere Arbeiten über den italienischen Humanismus (In: „Bibliotheque d' Humanisme et Renaissance”, Bd. X/9, 1947/48).
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uns durchaus an die rhetorisch-grammatische Tradition halten. Aber vielleicht ist gerade hier jenes philosophische Element zu finden, das — in den großen Zusammenhang der Geschichte der Sprachidee hineingestellt und insbesondere immer erneut gegen die semiotische Tradition der abendländischen Logik abgehoben — so etwas wie den Ursprung des für die Geisteswissenschaften und für die Seinsphilosophie unserer Tage grundlegenden „hermeneutischen” Denkens darstellt. Wir werden freilich, in Anwendung eben dieses hermeneutischen Denkens auf die Dokumente seines Ursprungs, sehr weit hinter die literarische Stufe dessen, was man üblicherweise unter einer philosophischen „Theorie” versteht, zurückgehen müssen. Die Philosophie des Sprach-Humanismus verbirgt sich in enthusiastischen Vorworten und polemischen Bemerkungen, in der Art, wie altbekannte Topoi mit einer bestimmten Tendenz immer wieder als Bekenntnis vorgetragen werden, sie läßt sich oft nur indirekt aus dem Gegensatz der klarer strukturierten Theorie, gegen die die Humanisten polemisieren, entnehmen, u. d. h. dialektisch konstruieren. Trotzdem scheint mir der heuristische Gesichtspunkt, nach einer latenten Sprachphilosophie des europäischen Humanismus zu fahnden, berechtigt zu sein. Dies sei durch folgende erkenntnistheoretische bzw. erkenntnissoziologische Überlegung näher begründet: Auch wenn die Sprachauffassung der sogenannten Humanisten nur den Charakter einer „Ideologie” hat (ursprünglich vielleicht den einer Hausideologie der antiken Rhetoren, die durch die logisch-philosophische Behandlung des Sprachproblems niemals recht zufriedengestellt wurden), so liegt darin kein Grund, den philosophischen Erkenntniswert ihrer Überzeugungen zu unterschätzen. Ideologien mögen als kaum noch gedachte, aus unbewußten Motiven heraus festgehaltene Überzeugungen die Erstarrungsprodukte echten philosophischen Denkens sein — im gewissen Sinne ist dies auch bei der obligaten Sprach-Topik des Humanismus im Verhältnis zum Denken der griechischen Philosophen (einschließlich der Sophisten!) der Fall— : sie können nichtsdestoweniger als Reservate berechtigter Gesichtspunkte, die durch den übermächtigen Einfluß der herrschenden Denkweise nicht zur Entfaltung gelangten, in späteren Zeiten wieder zum Kristallisationspunkt echter Welterfahrung werden. (Dies geschah z. B. in der italienischen Renaissance mit der Hausideologie der Rhetoriker und Grammatiker, die bis dahin in den Schulstreitigkeiten innerhalb des mittelalterlichen Triviums der „artes sermonicales” [der alten ǕƾǘǎǂNJ njǐDŽNJǘǂí] gleichsam weitergeschwelt hatte). In diesem Fall wandelt sich der erkenntnistheoretische Charakter der Ideologie in den einer Dogmatik102); d. h. es braucht noch keineswegs zu einer wissenschaftlich-philosophischen
102) Wir gebrauchen den Terminus „Dogmatik” hier und im folgenden im Sinne E. Rothackers (vgl. Anm. 39).
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Theoriebildung zu kommen, aber die in der Ideologie erstarrten Perspektiven der Welt-Anschauung werden wieder zum lebendigen Bekenntnis mit subjektivem Evidenzerlebnis. Eine solche dogmatische Evidenz kennzeichnet nun aber jede ursprüngliche Sinnkonstitution von „Welt”, und d. h. jede gehaltliche Bereicherung unserer Welterkenntnis. Wir erörterten diesen gerade für die sprachliche Welterschließung grundlegenden Umstand schon früher unter dem von E. Heintel gelieferten Stichwort vom „Erstgeburtsrecht des unmittelbaren Sinns”. Dabei erwähnten wir auch den von E. Rothacker erbrachten Nachweis der erkenntnistheoretischen Voraussetzung der dogmatischen Wahrheit (d. h. der praereflexiv aus einseitigen, situationsmäßigen Perspektiven erschlossenen Bedeutsamkeitsgehalte der Welt) für jede wissenschaftliche Theoriebildung, die nicht nur logisch und tatsachenmäßig richtig sein, sondern auch einen Gehalt haben soll (u. d. h. jede Theorie, die nicht nur — wie die logische Semantik — auf Gegenstände überhaupt, sondern auf konkrete, „als etwas” ausgelegte Gegenstände bezogen sein soll). Rothacker weist darauf hin, daß zwischen der unmittelbar zur Lebenspraxis gehörigen Welterschließung einerseits (z. B. in der Sprache oder auch im Kunstwerk oder z. B. im Stil einer Landbesiedlung) und der streng theoretischen Wissenschaft andererseits eine Fülle von Zwischenstufen der Erkenntnisrealisierung nicht nur faktisch anzutreffen, sondern vor allem erkenntnistheoretisch vorausgesetzt sind: So gründet alle Geisteswissenschaft — nicht ihrem theoretischen (Tatsachen logisch beziehenden) „Bewußtsein überhaupt” nach, wohl aber ihrem materialen Sinngehalt nach — in „Dogmatiken” (z. B. alle Religionswissenschaft in dogmatischen Theologien, alle Kunstwissenschaft in dogmatischen Aesthetiken, alle Rechtswissenschaft in dogmatischer „JurisPrudenz” usw.). Diese Dogmatiken können selbst schon den Charakter einer Doktrin haben (die freilich nicht den Anspruch streng theoretischer Allgemeingültigkeit erheben kann); sie können aber auch — und damit verfolgen wir die Sinngenese der dogmatischen Wahrheit gleichsam stufenweise auf ihren eigentlichen Ursprung zurück — implizit in Gestalt von Manifesten, Programmschriften, Streitschriften, Apologien, Gesetzesvorschriften (z. B. auch einer Sprachakademie!), Briefen (z. B. Ciceros oder Petrarcas), Gedichten, schließlich in Gestalt eines muttersprachlichen Weltbildes und seiner Denkformen ausgedrückt sein. Aus dieser differenzierten Vorstellung „vortheoretischer” oder — wenn man will — „vorwissenschaftlicher” Erkenntnisbildung, wie sie Rothacker vermittelt, kann unsere Frage nach der geheimen Philosophie des Sprach-Humanismus ihren methodischen Leitfaden gewinnen. Gemessen an dem in geschichtlicher Konstellation benachbarten Sprachdenken des Nominalismus, ja selbst im Vergleich zur Logosmystik (etwa zum Reflexionsniveau eines Nikolaus von Kues) ist die „Sprachphilosophie” der Humanisten
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vortheoretisch; sie will aus den mannigfachsten Dokumenten der oben charakterisierten Art teils als historisch-soziologisch erklärbare Ideologie, teils als nachverstehbares dogmatisches Evidenzerlebnis und Bekenntnis entnommen und als Philosophie allererst konstruiert werden. Dabei muß die Interpretation selbst da, wo sie auf tradierte Philosophie stößt (der Sprachhumanismus ist ja auch philosophisch sehr „gebildet”, weit gebildeter als durchweg die deutsche Logosmystik, die dafür ursprünglicher ist), diese oft gleichsam zurückversetzen auf die vortheoretische, ideologisch-dogmatische Stufe ihres literarischen Kontextes, um die humanistische Gesamttendenz eben dieses Textes nicht zu verfehlen. Häufiger noch kann sie nachweisen, daß die Denkvoraussetzungen der griechischen Philosophie, die besonders in dem hellenistischen System der „Logostechnai” („artes sermonicales") verankert sind, die eigenwüchsige Tendenz des Sprach-humanismus umbiegen oder jedenfalls ihre genuine Entfaltung verhindern. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist hier noch anzumerken, daß die eigentliche, explizit wissenschaftliche Sprachphilosophie, wie sie z. B. Leibniz bietet, nicht etwa völlig jenseits der von uns soeben entwickelten Kategorie der dogmatischen Wahrheit liegt; dies könnte allenfalls bei einer einzelwissenschaftlichen Tatsachenkonstatierung der Fall sein, die dafür aber der impliziten Dogmatik der ihr vorausliegenden und sie leitenden Fragestellung ausgeliefert ist. Sofern also unsere Untersuchung den Weg des Sprach-Humanismus vor dem geschichtlichen Hintergrund der drei übrigen für die Neuzeit grundlegenden Ansätze des Sprachdenkens herauszuarbeiten hat, muß sie auch deren Sprachauffassung nicht nur in der Selbstgenügsamkeit ihrer (richtigen oder falschen) theoretischen Ausarbeitung, sondern vor allem in ihrem dogmatischen Gehalt als noch in der Gegenwart fortwirkende Grundeinstellungen des abendländischen Menschen zur Sprache im Auge behalten: So den Nominalismus im weiteren Sinne als sprachkritische Grundeinstellung fast aller empirischen Wissenschaftler der Neuzeit, als Opposition gegen jeden formalistischen Sprachkult, sei er logisch-scholastischer oder rhetorischhumanistischer Provenienz, der den unmittelbaren Zugang zu den Tatsachen zu verstellen scheint. So das Sprachprogramm der „mathesis universalis” als prophetische Zuversicht, einst alle Probleme der Erkenntnis und der menschlichen Kommunikation durch den logistischen Zeichenkalkül, d. h. durch die formalistische Konstruktion unserer Denkvoraussetzungen, auflösen zu können. So schließlich das innerste Bekenntnis der Logosmystik als Mißtrauen gegen die äußere Sprachform (den starren „Buchstaben” der Tradition), gepaart mit religiös-genialischem Vertrauen in die Möglichkeit (und Notwendigkeit), den weltschöpferischen göttlichen Logos immer erneut in der Sprache des erleuchteten Herzens zu wiederholen und dergestalt den Sinn der Welt im Wort offenbar zu machen.
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Die Rede von verschiedenen Grundeinstellungen des abendländischen Menschen zur Sprache läßt uns noch einmal zurückkommen auf die These J. Lohmanns, daß in den geistesgeschichtlich wesentlichen Entdeckungen der Sprache nicht nur verschiedene Seiten, verschiedene „Grundleistungen” der Sprache ins Bewußtsein getreten sind (so etwa sieht L. Weisgerber den Vorgang), sondern ein geschichtlicher Wandel im Seinsverhältnis des Menschen zur Sprache und somit ein Wesenswandel der Sprache selbst sich bekunde: Zuerst „war” die Sprache „Mythos”, dann „Logos”, dann „lingua”. Es fällt schwer, angesichts solcher Orientierung des Wesensbegriffs — in diesem Fall: der Sprache — an dem, was „als Wesen” in der Sprache geschichtlich offenbar wird, nicht den Verdacht eines gewissen Linguizismus oder linguistischen Historismus aufkommen zu lassen. Ist sprachliche Weltkonstitution als Offenbarmachung des Wesens der Dinge nicht stets auch Verdeckung des Wesens der Dinge? — Und muß nicht eine so selbstverständliche Daseinsbedingung wie die Sprache das allerletzte sein, was der Mensch sich zum Bewußtsein bringt? Muß nicht die Erkenntnis- und Ordnungsfunktion der Sprache ebenso wie ihre gemeinschaftsbildende Kommunikations- und Traditionsleistung Jahrhunderttausende hindurch faktisch bestanden haben, bevor sie selbst thematisch zum Bewußtsein kam? Man wird in der Tat schwerlich zugeben können, daß das Wesen der Dinge schlechterdings zusammenfalle mit dem, was in der Sprache entdeckt und insofern für unser Bewußtsein da ist. Schon W. v. Humboldt geht zu weit, wenn er in dem bekannten Leitsatz „Mehrere Sprachen sind nicht ebensoviele Bezeichnungen einer Sache, es sind verschiedene Ansichten derselben” fortfährt: „und we nn die Sac he ke i n Ge ge ns tand de r äu ße re n Si nne is t, si nd e s e b e nso v iele vo n je de m a nd e rs ge b ilde te S ac he n” (vom Verf. gesperrt).
Doch aus der Ablehnung eines solchen Sprachidealismus, der das Wesen der Dinge mit dem sprachlich offenbaren Wesen gleichsetzt, folgt nicht — und damit berühren wir ein ganz anderes Problem —, daß durch das Bewußtwerden von Welt in der Sprache nicht auch ontologisch etwas im Sein der Welt sich ändere, besonders dann, wenn nicht irgendeine allem Anschein nach fertige Struktur des innerweltlichen Vorhandenen ins Bewußtsein tritt, sondern das an dem Geschehen der Bewußtmachung so zentral beteiligte Wesen der Sprache. Muß nicht der — im Behaviorismus selbstverständlich gewordenen — Gewohnheit ungeschichtlich generalisierender Funktionsanalyse menschlichen Seins die Würdigung der Geistesgeschichte als Seinsgeschichte entgegengestellt werden? In diesem Sinne, scheint mir, muß Lohmanns provozierende These vom Wesenswandel der Sprache verstanden werden, d. h. aber: sie bedarf sofort der Verdeutlichung durch die andere spekulative These, daß in
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diesem Wesenswandel der Sprache letztlich die Überantwortung des (ontologischen) Denkens aus der Anonymität der inneren Sprachform in die bewußte „Form” philosophisch-wissenschaftlicher Methode sich vollziehe. Diesen Vorgang glaubt Lohmann als konkrete Geistesgeschichte insbesondere des Abendlandes an der Sprache selbst, d. h. an der ganzen Breite ihres in Wortschatz und Grammatik sich vollziehenden Strukturwandels ablesen zu können. Von hier aus stellt sich nun auch für uns noch einmal das Problem einer Geschichte der abendländischen Sprachauffassung: Müssen wir nicht die von uns im vorigen skizzierten Grundeinstellungen des abendländischen Menschen zur Sprache aus dem seinsgeschichtlichen Wandel des menschlichen Sprachverhältnisses im Abendland, d. h. als Stadium innerhalb der Überantwortung des Denkens aus der quasi instinktiv funktionierenden Weltauslegung der inneren Sprachform in die bewußte Methode des philosophischen Seinsdenkens verstehen? (Ein solches Unternehmen würde nichts anderes bedeuten als die Realisierung der von uns früher postulierten hermeneutischen Selbstvermittlung der Philosophie in ihre Situation, wodurch wieder — im Sinne Lohmanns — der seinsgeschichtliche Prozeß der Bewußtwerdung des zunächst sprachimmanenten philosophischen Denkens sich fortsetzt. Freilich würde die ideale Realisierung dieser hermeneutischen Selbstvermittlung der Philosophie in Gestalt einer universellen Sprachhermeneutik einen „philosophischen Philologen” im Sinne Herders erfordern. Die vorliegende Untersuchung muß sich demgegenüber auf die von Rothacker angegebenen literarischen Zwischenstufen dogmatischer Weltdeutung zwischen der theoretischen Philosophie und der sprachlichen Primärinterpretation von Welt beschränken). Müssen wir also nicht gerade die Geschichte des ideologisch-dogmatischen Sprachhumanismus, die schon in römischer Zeit sich vorbereitet und wiederum die Neuzeit mitbegründet, als Geschichte eines menschlichen Sprach-Verhältnisses verstehen? Lohmann selbst hat in seinem Aufsatz über „Das Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache” (Lexis, III, 1) den Versuch unternommen, den geistesgeschichtlichen Wandel, der zwischen der Zeit des klassischen Griechentums und der Neuzeit sich vollzieht, als Wandel des menschlichen Verhältnisses zur Sprache zu charakterisieren. Dabei figuriert das rhetorische Sprachverhältnis als Mittelstück bzw. als Vermittlung: „Zwischen dem radikalen Subjektivismus der Neuzeit, der eingesetzt hat mit einer Vernichtung der im Sprachlaut verkörperten gedanklichen Formen als solcher und einer Usurpation der intersubjektiv wirkenden Kraft dieser Formen durch das ,Subjekt` selbst, und der ursprünglich-griechischen Denkform, in der der njǝDŽǐǓ als objektive Norm mit der Sache (dem was ist) als der objektiven Wahrheit zusammenfällt, steht eine Existenzform, in der die Form der Sprache
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zu einer Weise des menschlichen Verhaltens wird, einer ,Umgangsform` — de] Weise, in der die Menschen vorzüglich miteinander, als Menschen, verkehren Dies geschieht faktisch in der ,Rhetorik`, die ja die eigentlich praktische Gestalt ist, in der die Sprache in der ganzen antiken Kultur und dann von da aus, als ,formale Bildung', bis in die Neuzeit hinein, in dem von der griechisch-römischen Antike beeinflußten Kulturkreise zunächst wirksam geworden ist.' (A. a. O. S. 30) Genauer betrachtet, nimmt das durch C i c e r o klassisch verkörperte rhetorische Sprachverhältnis seinen ideologischen Ausgang im Sprachverhältnis der stoischen Logik. Indem diese „das Gedachte als njdžǘqãk (,dicibile`) in seiner ,Objektivität beläßt und von dem ,subjektiven` Vorgang des Denkens scharf und klar trennt” ist in ihr „zwar die ursprüngliche griechische Einheit von Denken, Sein unc Rede nicht mehr aufrecht erhalten”, wohl aber „die Bindung des Gedanken: an das Medium der sprachlichen Form” (Ebda. S. 10). Eben diese Konstellation von Sprache und Denken spiegelt sich in Cicero( Unterscheidung (Topik, § 6) zwischen der ratio iudicandi, d. h. der Funktion de: Urteils als Gegenstand der „Dialektik”, und der ratio inveniendi, d. h. dem „Finden” der Argumente als Gegenstand der „Topik”.
Die entscheidende Ablösung dieses rhetorischen Sprachverhältnisses durch das subjektivistische der Neuzeit erblickt Lohmann in dem von Ockham seiner Logik zugrunde gelegten Verhältnis von „actus apprehensivus” und „actus iudicativus, quo intellectus non tantum apprehendit obiectum, sed etiam illi assensit vel dissensit (Sent. prol. qu. 1,0).” Hier bezieht sich die assensio (die stoische prdu^q|nbpfs) nicht mehr wie in der Stoa auf ein an die Sprachform gebundenes fertig vorliegendes Argument („ein igns* das als u¬tj^ein ibhqãk, ein dicibile ist“), sondern auf den sprachfreien Vorstellungsinhalt des Bewußtseins, der als natürliches Zeichen im Zusammenhang der intuitiven Auffassung der individuellen Außenweltdinge zustande kommt. Sprache wird so „zum Zeichen eines Zeichens . . .” — Zeichen für die propositio in mente, die als von der Sprache unabhängig gedacht wird (sunt nullius linguae, Prantl, XIX, Anm. 809), und deren termini ihrerseits „für die Sache stehen” (supponunt pro re). Und Lohmann stellt abschließend fest: „Dieses ,innere, von speciellen Sprachidiomen unabhängige Urteil` (Prantl, III, S. 357 f.) wird nun die Form, in der die maßgebenden und in die Zukunft weisenden Geister des Abendlandes hinfort gedacht haben. . .” (A. a. O. S. 10).
Wir werden im folgenden der Lohmannschen Grundauffassung, die durch die ausgezeichnete Studie von E. Arnold „Zur Geschichte der Suppositionstheorie"103) in vielen Punkten bestätigt wird, im wesentlichen folgen. Wir müssen jedoch hier schon auf einen eigentümlichen Grundzug des von uns zu behandelnden eigentlichen Sprach-Humanismus als der sich in Italien erneuernden rhetorischen Sprachideologie aufmerksam
103)
S. Anm. 78.
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machen. Als ein Idealismus der Sprachform wird dieser neuzeitliche Humanismus, der zunächst vielfach im Bunde mit dem Nominalismus die scholastische Sprachlogik etwa der „Modisten” (d. h. der Verfasser der „tractatus de modis significandi”) bekämpft, sehr bald zur konservativen Opposition gegen die nominalistischempiristische Tendenz des sprachunabhängigen Denkens der Sachen. Als solche sucht er gerade das zu Beginn der Neuzeit so heftig diskutierte Problem der wissenschaftlichen (Findungs-)Methode durch den Rückgriff auf Ciceros rhetorische „ratio inveniendi” zu lösen. So wirkungslos und überholt nun auch dieser Versuch der humanistischen Logiker vom Standpunkt der Begründer der neuen Wissenschaft sich ausnimmt (z. B. Galileis oder Descartes, die ihre „ars inveniendi” der Mathematik entlehnen), so hat er doch durch Vico, der ausdrücklich den „sensus communis” als Bildungswissen im Sinne der ciceronischen Topik gegen die kartesische „Kritik” verteidigt, noch den Ausgangspunkt eines sprachhermeneutischen, geschichtlichen Denkens mitbestimmt, das in der Gegenwart berufen ist, gerade jene Unterschätzung der Sprache bzw. jenes Überspringen der Welterschließungsfunktion der Sprache, wie es durch den Nominalismus aller neuzeitlichen Erkenntnistheorie imprägniert wurde, aufzudecken und methodisch zu korrigieren. Hätte nur der Nominalismus das philosophische Verhältnis der Neuzeit zur Sprache bestimmt, so wäre wohl der heutige Gegenzug gegen die innerweltliche Vergegenständlichung der Sprache kaum zu verstehen. Dies führt uns zu einer weiteren Folgerung hinsichtlich des in Italien mit Petrarca entstehenden eigentlichen Sprachhumanismus. Dieser steht offenbar einerseits in gleicher Reihe mit den Ursprüngen des spezifisch neuzeitlichen Sprachverhältnisses, d. h. mit dem Nominalismus und der Logosmystik des ausgehenden Mittelalters; andererseits setzt er gerade das von Lohmann herausgestellte rhetorische Sprachverhältnis des römischen Hellenismus, das auch im traditionalistischen Mittelalter herrschte, fort — freilich in der Weise einer bewußt auf den römischen Ursprung dieses Verhältnisses zurückkommenden sprachidealistischen Renaissance. Es wird daher für uns erforderlich, den neuzeitlichen Sprachhumanismus doch eigens gegen das Sprachverhältnis des Mittelalters abzusetzen, wobei man weitgehend dem Selbstverständnis des Humanismus folgen kann: Das mittelalterliche Sprachverhältnis, gegen das der Sprach-Humanismus sich selbst absetzt, spricht sich am deutlichsten aus in der Auffassung des Lateinischen als „lingua grammatica (sive logica)” in der Scholastik und noch bei Dante. E. R. Curtius sagt über dieses Sprachverhältnis: „Durch die Assimilation der Germanen an die Sprache und Kirche Roms wurde für das Mittelalter die Antike ,autoritäres Vorgut, an dem man sich orientierte' (A. Weber). In der Enzyklopädie des Isidor von Sevilla (g 636) wird gelehrt (Et. II, 16, 2), das Latein allein biete die ,wahren und natürlichen Bezeichnungen der Dinge' — es besitzt also den metaphysischen Primat vor allen anderen Sprachen.
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es ist die absolute Sprache"109). Er ergänzt dies an anderer Stelle dahin: „Latein war die Sprache der Kirche, der Schule, der Gesetze. Sie war nach Dante von weisen Männern erfunden worden als ,inalterabilis locutionis identitas` (de vulgari eloquentia I, 9, 11). Das Latein war also eine zeitlose, eine absolute Sprache. Grammatik war die erste der freien Künste. Weil er ihre Regeln festgelegt hatte, wurde Donat von Dante in das Paradies versetzt. Die Latinität war für das Mittelalter kein historisches Ideal, sondern die selbstverständliche Grundlage der weltlichen und geistlichen Ordnung... Das Lateinstudium bezweckt nicht Kenntnis des Altertums, sondern praktische Beherrschung der Sprache .. . Mit Humanismus hat das nichts zu tun."105)
Die philosophische Tragweite des Umstandes, daß das Lateinische für das Mittelalter seinem Inhalt nach, d. h. als Gefäß der antiken. Überlieferung „autoritäres Vorgut”, seiner Form nach die zeitlose, absolute Sprache, d. h. mit den Regeln „der” Logik, „der” Grammatik und „der” Rhetorik identisch war, zeigt sich m. E. am eindrucksvollsten in der methodologischen Fundierung der mittelalterlichen Ontologie durch die terministische Sprachlogik, insbesondere durch die Suppositionstheorie. Man hat oft gesagt, Aristoteles habe die Kategorien des Seins der Sprache entnommen, und in dem von uns früher erläuterten Sinn einer faktischen Bewußtmachung des vorontologischen Seinsverständnisses der griechischen Sprache dürfte dies gewiß zutreffen. In einem ganz anderen geradezu wörtlichen Sinne gilt dieser Satz aber für die Scholastik des Mittelalters. Wie aus der Arbeit von E. Arnold hervorgeht, besteht die eigentliche originale Leistung der mittelalterlichen Philosophie in der schon im 12. Jahrhundert (z. B. bei Peter Abälard, d. h. also vor der Auseinandersetzung mit dem arabischen Aristotelismus) in Anfängen entstehenden Lehre von den „proprietates terminorum”, insbesondere von der „suppositio”, d. h. in einer Art logischer Semantik der lateinischen Sprachform. Diese subtil ausgebaute Semantik bildet nicht nur den Hauptbestandteil der späteren logischen Summen, so etwa der des Petrus Hispanus, sondern bestimmt recht eigentlich den formalen Aufbau der mittelalterlichen Ontologie, die also gewissermaßen durch eine Verifikation der lateinischen Sprachform zustande kommt. Am deutlichsten verrät sich das in dem berühmten Universalienstreit, der seinen Ausgangspunkt ja nicht bei einem Begriff des Wesens oder der Idee im altgriechischen Sinne, sondern beim „terminus” der Sprache, bei der „vox significans universale” nimmt. Dieser sprachreflexive Ausgangspunkt des Universalienstreites ist freilich dem Mittelalter bereits explizit durch Boethius' Aristoteles-Kommentare vermittelt und geht letztlich auf die Sprachlogik der Stoa zurück, die zuerst die ibhq| (res orationis) von dem qrd`|klk bzw. dem hqãs¿mlhb¬jbklk(d. h. dem für die Reflexionssicht draußen zugrundeliegenden konkret
104)
E. R. Curtius: Europ. Lit. u. lat. Mittelalter, a. a. O. S. 33. R. Curtius: Neuere Arbeiten über d. italien. Humanismus, a. a. O. S. 193.
105)E.
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Wirklichen) unterscheidet und damit die Ausgangsbasis für eine Universalienproblematik schuf106). Aber während die Stoa die letzte Etappe der griechischen Entdeckung der Muttersprache als Logos darstellt, d. h. eines Vorgangs, der zuerst das Wesen der Dinge als im Logos ausgelegtes begreift und zuletzt diese Auslegung durch die formal abstrahierende Reflexion auf den iãdls (bei der auch der Bereich der iufs als Gegenstand der Grammatik vom ibhqãk als Gegenstand der Logik geschieden wird) in Frage stellt, liegen die Verhältnisse im Mittelalter eher umgekehrt: Hier bahnt sich gleichsam das philosophische Denken von dem Augenblick an, wo es zur Selbständigkeit (gegenüber der Tradition der „auctores”) erwachen will, einen Weg von den „termini” der lateinischen Universalsprache, wie sie in der Logik des Boethius vorgefunden werden, zur Wirklichkeit. Mit der Entdeckung der Muttersprache dagegen (mit welcher die Entstehung der Philosophie bei den Griechen zusammenfiel) hat dieser Ausbau der mittelalterlichen Ontologie nichts zu tun. Die Entdeckung der Muttersprache geschieht bei den Nationen des christlichen Abendlandes in einer völlig anderen Dimension und kommt erst dann voll zum Durchbruch, als die (Suppositions-)Logik als Weg der ontologischen Verifikation der lateinischen Sprachform entweder aufgegeben wird, wie in der LogosMystik, oder aber, wie bei Ockham und seinen Nachfolgern, einen völlig neuen Sinn erhält, nämlich in empiristische Sprachkritik umschlägt. — Dabei steht zu vermuten, daß die für das Sprachverhältnis der mittelalterlichen Scholastik grundlegende Tatsache, daß die Philosophen nicht in ihrer Muttersprache redeten bzw. schrieben, wohl aber weitgehend — ohne sich dies bewußt zu machen — in ihr dachten, mitverantwortlich dafür ist, daß im Nominalismus — und d. h. in dem maßgebenden Sprachverhältnis der Neuzeit — das eigentliche Denken und Erkennen als wesenhaft vorsprachlich aufgefaßt wird. Die Eigenart der in Italien gleichsam als Alternative zu Dantes Entdeckung der Muttersprache erfolgenden Wiederentdeckung der Latinität im Zeichen des ciceronischen Humanismus besteht nun offenbar darin, daß hier die überall sonst in der Neuzeit zugunsten der Wahrnehmungstatsachen einerseits, der Innerlichkeit andererseits diskreditierte große Sprachform der Latinität gerade im Gegensatz zum zeitlosen logischen Formalismus der Scholastik als Form der lebendigen Sprache erneuert werden soll. Die Ironie der Weltgeschichte zeigt sich zwar darin, daß diese Erneuerung der Latinität als geschichtlicher Sprache gerade zur aesthetischformelhaften Erstarrung der im Mittelalter trotz aller Sprachlogik immer noch lebendigen Entwicklung des Lateins führte; desungeachtet liegt jedoch die wirkliche Mission des Sprachhumanismus in der Bewußtmachung der individuellen Form lebendiger Sprachen überhaupt — dies zumal in dem Jahrhunderte währenden Engagement der humanistischen
106)
Vgl. E. A r n o l d , a. a. O. S. 40. Joh. Lohmann, Lexis III, 1, S. 29 ff.
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Gelehrten bei der programmatischen Formierung der neuzeitlichen National- und Literatursprachen. Wir haben damit, wie mir scheint, das Problem einer Geschichte des SprachHumanismus im Zusammenhang einer Geschichte der abendländischen Sprachphilosophie aus dem heuristischen Horizont der gegenwärtigen Forschungssituation soweit bestimmt, daß wir nun die historische Darstellung in Angriff nehmen können.
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Kapitel I I
H i s t o r i s c h e E i n g r e n z u n g des Themas: Der Humanismus als V e r m i t t l e r zwischen antikem und s p e z i f i s c h modernem S p r a c h v e r h ä l t n i s . Die folgende Untersuchung faßt drei zunächst scheinbar recht verschiedenartige, ja teilweise entgegengesetzte Tatbestände der europäischen Geistesgeschichte zusammen: 1. die mit Dantes Programmschrift „De vulgari eloquentia” einsetzende Instauratio der europäischen Nationalsprachen im Kampf mit dem religiösen und bildungsmäßigen Primat des Lateinischen (bzw. der „drei heiligen Sprachen”) (s. bs. 1. Abschnitt); 2. die mit Petrarca beginnende Erneuerung eben der Sprachideologie der Latinität als Ausgangspunkt der europäischen Gelehrtenbewegung des Humanismus (s. bs. 2. Abschnitt); 3. die Umgestaltung der Grundmotive des Sprachhumanismus im Medium des „natürlichen Systems” (Dilthey) der Barockwissenschaft und ihre spekulative Entfaltung bei Giambattista Vico (s. 3. Abschnitt). Diese Zusammenschau rechtfertigt sich, wie im folgenden gezeigt werden soll, aus der Frage nach der geschichtlichen Funktion der humanistischen Sprachidee im Rahmen der Gesamtkonstitution der neuzeitlichen Sprachphilosophie. Die „Entdeckung der Muttersprache”, in der wir, wie L. Weisgerber gezeigt hat107), ein wesentliches Motiv in der Geschichte der Sprachphilosophie zu erblicken haben, erfolgte, wie in der Einleitung bereits angedeutet wurde, im Abendland nicht wie einst bei den Griechen zugleich mit der Ausbildung philosophischer Wissenschaft als Entdeckung des menschlichen „Logos” schlechthin, sondern aus der Jahrhunderte währenden Spannung einer ethnisch und sprachlich vielgestaltigen „Tochterkultur” zu der bereits fertig vorliegenden, inhaltlich und formal als „autoritäres Vorgut” (A. Weber) übernommenen lateinischen Universalsprache der römischen Antike und der katholischen Kirche. Vor jeder theoretischen Entdeckung der eigenen Muttersprache hatten die Völker des Abendlandes zugleich mit
107)
L. Weisgerber: Die Entdeckung der Muttersprache im europäischen Denken, Lüneburg 1948. 95
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der lateinischen Universalsprache auch bereits eine philosophisch-theologische Deutung von Sprache überhaupt übernommen. Wir erwähnten die Tradition der „artes sermonicales” (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und andererseits die Theologie der Genesiskommentare als Quellen der mittelalterlichen Sprachdeutung. Die eigentliche Entdeckung der Muttersprache im Abendland fällt nun, wie auch bereits angedeutet, mit einem merkwürdigen dialektischen Umschlag in der Geschichte der offiziellen scholastischen Sprachphilosophie zusammen. Ja, man wird kaum fehlgehen in der Vermutung, daß die Spannung des muttersprachlichen Denkens zur autoritären Denkform der lateinischen Überlieferung in dem erwähnten dialektischen Umschlag zum Ausdruck kommt. Der Einschnitt, den wir im Auge haben — gewissermaßen die „Achsen-zeit” unserer Untersuchung — ist durch die Wende des 13. zum 14. Jahr-hundert bezeichnet. Seine repräsentativen Denker sind der Engländer Wilhelm von Ockham, der Deutsche Meister Eckehart und der Italiener Dante Alighieri. Bei Ockham und seinen Schülern vollzieht sich der prinzipielle Durchbruch des sich selbst als sprachfreie „Intuition” erfahrenden modernen Erkennens der Außenwelt durch das formenhierarchische Weltbild der lateinischen „Universalien”. Die ontologische Sprachverifikation der scholastischen Sprachlogik (Lehre von den „proprietates terminorum”, insbesondere von der „suppositio”) und spekulativen Grammatik („De modis significandi") schlägt um in nominalistische Sprachkritik, deren Tradition durch den englischen Empirismus, über Francis Bacon, Hobbes, Locke, Berkeley bis zu B. Russell und Wittgenstein, in die Sprachkritik des modernen Neopositivismus mündet. (Darüber hinaus ist aber auch die mit Descartes einsetzende Philosophie des kontinentalen Rationalismus bis zum deutschen Idealismus, ja bis zu Husserl einschließlich, von der ockhamistischen Grundvoraussetzung einer sprachfreien Intuition der Außenwelt abhängig.) Für die Auffassung der Sprache selbst bedeutet dieser Vorgang zu-gleich äußerste Reduzierung ihrer transzendentalen Bezüge und Funktionen und eben dadurch innerweltliche Vergegenständlichung und szientifische Präparierung der Sprache als Gegenstand einer empirischen Zeichenwissenschaft. Seit Ockham fällt die seinshermeneutische Bedeutungsfunktion der Worte für die neuzeitliche Wissenschaft praktisch mit der ontischen „Bezeichnungsfunktion” zusammen. Nachdem in seiner Sprachlogik die „suppositio personalis” der individuellen Dinge nicht mehr wie bei den Begründern der Suppositionstheorie, bei Petrus Hispanus, Wilhelm von Shireswood, Lambert v. Auxerre in der begrifflichen „significatio” der Worte fundiert ist, sondern umgekehrt als „natürliche” Zeichenrelation (vgl. noch Kants „Affizierung”) die Begriffe selbst kausal begründet, ist die seinshermeneutische Problematik der Wortbedeutungen
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(als weltaufschließender „Sprachinhalte”) faktisch auf die extensionale Problematik der termini als psychischer Repräsentation empirischer Tatsachen reduziert108). Und nicht einmal diese psychischen Repräsentationen der Außenwelttatsachen (die „natürlichen Zeichen” Ockhams; vgl. die „Ideen” Descartes und Lockes) haben für den nominalistisch geprägten neuzeitlichen Philosophen etwas mit der Sprache zu tun, es sei denn insofern, als sie wiederum mehr oder weniger eindeutig durch die konventionell zugeordneten Lautzeichen repräsentiert werden. Sprache ist also für die nominalistisch bestimmte Wissenschaft der Neuzeit „Zeichen von Zeichen” und damit etwas durchaus Sekundäres, technisch Manipulierbares. — Auch die in Leibniz kulminierende „Zeichenkunst” des mathematischen Rationalismus geht prinzipiell von dieser Sprachidee des Nominalismus aus, sucht aber in dem relationalen Gefüge der Zeichenrepräsentation das allgemeingültige Apriori des platonischen Ideenrealismus erneut zur Geltung zu bringen: als konstruktive Explikation des gottebenbildlichen „intellectus ipse” (von Cusanus zu Galilei, Kepler und Leibniz)109). So gewinnt die Sprache, die vom Nominalismus eher als Hindernis der intuitiven Erkenntnis verdächtigt wird (vgl. aber die ambivalente Einschätzung bei Hobbes, Berkeley, Condillac), wieder höchste erkenntnistheoretische Bedeutung, aber nicht als geschichtlich überkommenes Sinnapriori, sondern als künstlich zu schaffendes universales Werkzeug („Rechenzettel") der technisch-szientifischen Verfügbarmachung von Welt. Als Gegenpol zu der soeben skizzierten technisch-szientifischen Sprachidee der neuzeitlichen Wissenschaft, die von Ockham ausgeht und durch die Zeichenkunst der „mathesis universalis” ergänzt und verstärkt wird, kann die etwa gleichzeitig in Deutschland beginnende sprachphilosophische Entfaltung der christlichen Logosmystik aufgefaßt werden. Ist die Sprache im Nominalismus in äußerst reduzierter, aber scharf umrissener Vergegenständlichung innerweltlich verfügbar gemacht, so ist in der Grundkonzeption der Logosmystik prinzipiell die tiefste und umfassendste metaphysisch-transzendentale Würdigung der Sprache angelegt: die Logosgeburt in der Seele des Menschen als weltoffenbarende „Wortung” in mystischer Einheit mit der schöpferischen Selbstdarstellung Gottes im „Buch der Natur”, das sich dem Erleuchteten in der „Natursprache” aufschließt. Diese gedankliche Konfiguration, die ihre klassische Ausprägung
108) Eine genauere Belegung dieser Gesamtcharakteristik muß sich der Verfasser für eine besondere Monographie über die Sprachidee des Nominalismus vorbehalten. Vorerst sei hier auf die bereits zitierten Arbeiten von E. Arnold (s. Anm. 1) und loh. Lohmann (s. S. 62) verwiesen. 109) Vgl. hierzu K. O. Apel: Das ,Verstehen`, eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte. (In: Arch. f. Begriffsgesch., Bd. I, 1955, S. 1 4 2 - 2 0 0 ) .
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bei Jakob Böhme erfährt, begleitet als spekulativer Hintergrund die Selbstfindung und Formierung der deutschen Sprache und des deutschen Denkens von Eckeharts volkssprachlicher Predigt in den Beginenklöstern des späten Mittelalters über die Schwärmer der Reformationszeit bis zu Hamann und den Begründern des deutschen Idealismus, die, wie zuletzt E. Benz gezeigt hat110), über die „schwäbischen Kirchenväter” (Oetinger, Bengel) mit Böhme und der deutschen Mystik verbunden sind. Aber freilich wird sie kaum jemals mit Konsequenz als Transzendentalphilosophie der konkreten geschichtlichen Sprache zur Entfaltung gebracht. Die klassische deutsche Philosophentradition von Leibniz und Kant zum deutschen Idealismus ist zwar zutiefst von der Logosmystik bestimmt, zugleich aber auch durch die nominalistische Grundvoraussetzung einer sprachfreien Intuition. Sie bleibt daher in ihrer Rationalisierung der Logosmystik gleichsam vor der Schwelle des Inkarnationsproblems und damit der leibhaftigen Konkretisierung des Geistes in den geschichtlichen Sprachen stehen. Nur Jakob Böhme und später Hamann überschreiten teilweise diese spekulative Schwelle, ihre Gedanken bleiben jedoch zumeist vor der Schwelle der Wissenschaft im mystisch-esoterischen Bezirk einer geistigen Unterströmung, ohne die freilich die Sprach- und Dichtungslehre Herders, der Romantik und Wilhelm von Humboldts nicht zu denken ist. Damit aber die Sprachphilosophie der Deutschen Bewegung, insbesondere Humboldts, als sprachwissenschaftliches Programm hervortreten konnte, bedurfte es der Durchdringung der Logosspekulation und des Gedankens der adamitischen Natursprache mit der rhetorisch-grammatischen Tradition des Abendlandes in der Bearbeitung konkreter Sprachen. Dies führt uns zurück zu dem dritten repräsentativen Denker jener Achsenzeit der Entstehung neuzeitlichen Sprachdenkens um 1300: zu dem Italiener Dante, der in seiner Schrift „De vulgari eloquentia” zum ersten Mal im Abendlande Idee und Primat der Muttersprache mit den Denkmitteln der gesamten antiken Bildungstradition zu bestimmen sucht. Er definiert in der Einleitung seiner Abhandlung wie folgt: „Volkssprache (vulgaris locutio) nennen wir jene, die die Kinder, sobald sie zur Unterscheidung des Sprachlichen gelangen, ihrer Umwelt ablernen, ... die wir alle, ohne jede planmäßige Belehrung die Amme nachahmend, überkommen. Daneben haben wir eine zusätzliche Sprache, die die Römer grammatica benannt haben ...; zu ihrem Gebrauch gelangen nur wenige, denn lange Zeit und eifriges Studium sind die Voraussetzungen zu ihrer Beherrschung. Von diesen hat die Volkssprache (vulgaris locutio) den Vorrang: sie ist als erste unter den Menschen gebraucht worden; aus ihr, mag sie auch in eine Mannigfaltigkeit der Aussprache und Wörter geschieden sein, schöpft der ganze Erdkreis; und sie
110)
Vgl. E. Benz: Schellings theologische Geistesahnen (Abhdlg. d. Ak. d. Wiss. u. Lit. Mainz 1955,
3).
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ist uns von Natur, während die andere vielmehr als künstlich zu gelten hat."111) Mit dieser Stelle ist zu vergleichen die genau entsprechende Entgegensetzung von Latein und Volgare im „Convivio” (I, V, 7), wo indessen dem künstlichen Latein als „perpetuo e non corruttibile” noch der Vorrang gegenüber dem „volgare ... non stabile e corruttibile” zugesprochen wird. Hier ist von Dante gewissermaßen die Position des lateinischen Humanismus der folgenden Jahrhunderte vorfixiert. Auch sie ist für das Verständnis der konkreten Sprache von größter Bedeutung, wie sich zeigen wird. Erst der Ausgleich beider Positionen im Cinquecento führt in Italien zu der modernen Idee der natürlichen, organisch wachsenden Volkssprache, die doch zugleich die Möglichkeit (und Notwendigkeit) ihrer grammatischen Regulierung in sich trägt.
Bei Dante findet sich zum ersten Mal im Abendland die philosophische Konzeption der geschichtlich-lebendigen Sprache, die — in origineller Wendung der antiken Antithese von c¼pbf und npbf — der grammatisch geregelten Bildungssprache als natürliche Sprache entgegengestellt wird. Wir glauben, hier neben Ockhams Zeichenbegriff und Eckeharts Begriff des Logos bzw. der „Wortung” den dritten typischen Ausgangspunkt neuzeitlicher Sprachauffassung vor uns zu haben. Er allein führt unmittelbar in die konkrete Problematik der Sprache (qua „langue"), indem er in einer Jahrhunderte währenden „questione della lingua"112) zum Ausgangspunkt
111) Die Übersetzung in Anlehnung an L. Weisgerber: Die Entdeckung der Muttersprache..., a. a. 0. S. 71. Der lateinische Text lautet: „... vulgarem locutionem appellamus eam qua infantes assuefiunt ab assistentibus, cum primitus distinguere voces incipiunt ... quam sine omni regula nutricem imitantes accipimus. Est et inde alia locutio secundaria nobis, quam Romani gramaticam vocaverunt ... ; ad habitum vero huius pauci perveniunt, quia non nisi per spatium temporis et studii assiduitatem regulamur et doctrinamur in illa. Harum quoque duarum nobilior est vulgaris: tum quia prima fuit humano generi usitata; tum quia totus orbis ipsa perfruitur licet in diversas prolationes et vocabula sit divisa; tum quia naturalis est nobis, cum illa potius artificialis existat. (I, I, 1—4; zitiert nach der Ausgabe von A. Marigo, Firenze 1948, p. 6—16). 112) Wir möchten mit dieser italienischen Formel auf den bekannten Sprachenstreit anspielen, der im Cinquecento im Anschluß an Trissinos Neuinterpretation von Dantes „De vulgari eloquentia” entstand (vgl. unten Kap. IV u. VII, b). Bedenkt man, daß mit der heißumstrittenen Frage nach dem angemessenen Namen der von den großen Florentinern: Dante, Petrarca und Boccaccio benutzten und zu Ehren gebrachten Literatursprache faktisch die weit bedeutsamere Frage nach dem normativen Ideal einer nationalen Literatursprache Italiens zur Diskussion gestellt wurde, so erweist sich die „questione della lingua” in einem weiteren Sinne, wie sie von Trissino bis Manzoni ausgetragen wurde, als eine Art verspäteter Fortsetzung der von Dante inaugurierten „Jagd” nach der „angemessensten und erlauchtesten Literatursprache Italiens”. Bedenkt man weiter, daß diese nationalistische Sprachprogrammatik im Zeichen eines „umanesimo volgare” im Cinquecento sich anschließt an zwei Jahrhunderte lateinischer Sprachprogrammatik der Humanisten, welche die Entscheidung Dantes für die Volkssprache überhaupt in Frage stellte, so läßt sich die Problematik einer „questione della lingua” im weitesten Sinne als ein Charakteristikum der
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nationalitalienischer Sprachprogrammatik wird. Der Gegenspieler und zugleich Partner in dieser programmatischen Erörterung der „Volkssprache” als Literatursprache ist aber nun der Sache nach schon bei Dante, erklärtermaßen aber in den folgenden Jahrhunderten italienischer Geistesgeschichte der lateinische Sprachhumanismus, die Erneuerung der grammatisch-rhetorischen Tradition der Antike. Beide Positionen beziehen sich auf die konkrete geschichtliche Sprache, und im „umanesimo volgare” (Bembo), der aus ihrer Auseinandersetzung schließlich entspringt, hat Italien für ganz Europa in der Epoche nationalsprachlicher Differenzierung die Denkmittel der Sprachprogrammatik herausgearbeitet und darüber hinaus so etwas wie ein neues geschichtlich beispielhaftes Verhältnis zur Sprache überhaupt vorexerziert. Dieses geschichtliche Sprachverhältnis und seine implizite Sprachphilosophie ist das eigentliche Thema unserer Untersuchung. Indem wir es durchgehend vor dem Hintergrund der beiden anderen grundlegend neuen Sprachverhältnisse der sich konstituierenden Neuzeit: Nominalismus und Logosmystik, zu verstehen suchen, bemerken wir bald, daß in ihm die geschichtliche Vermittlung zwischen dem antiken und dem spezifisch modernen Sprachverhältnis des abendländischen Menschen beschlossen liegt. Zwar kann man wohl ganz allgemein davon ausgehen, daß die theoretische Entdeckung der Muttersprache im Abendland in einer Situation der Spannung zwischen volkssprachlichem „Denken” und lateinischer „Formulierung” der Gedanken erfolgt. Es sind Menschen, die geistig zwischen zwei Sprachen — ja man darf ex post sagen: zwischen zwei Sprachtypen — stehen, die am Ende des Mittelalters, in der Verfallszeit der lateinischen Sprachlogik und vielfach unterirdisch verbunden mit volkhaft
italienischen Geistesgeschichte betrachten, durch das sie gewissermaßen sprach-philosophisch relevant wird. Wir folgen mit dieser großzügigen Auffassung des Topos „questione della lingua” weitgehend der Arbeit von H. W. Klein (Latein und Volgare in Italien, München 1957), die unserer Fragestellung nach der impliziten Philosophie, nach dem kategorialen Ertrag dieser ganzen Literatur am meisten entgegenkommt. — Wer sich auf das beschränken wollte, was als „questione della lingua” im engeren Sinne zwischen den streitenden Parteien des Cinquecento zur Debatte stand, der könnte in der Tat mit H. Gmelin (Das Prinzip der Imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance, Erlangen 1932, S. 203) und R. A. Hall (The Italian Questione della lingua, Brown University, Chapel Hill, p. 53) zu dem Ergebnis kommen, daß es sich hier größtenteils um einen Streit um Worte gehandelt habe, oder sogar von Thérèse Labande-Jeanroy (La question de la langue en Italie, Strasbourg 1925, p. 6) sich überzeugen lassen, „que l'etude de la question de la langue ne peut rien apprendre, si ce n'est, peut-être, le pouvoir des mots et la force des raisonnements faux, lorsqu'ils sont au service de la vanité, qu'elle ne mérite, par conséquent, ni une goutte de son encre, ni une minute de son temps.”
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häretischen Aufbrüchen mystischer Religiosität, das Wesen ihrer Muttersprache erfahren113). (Ganz allgemein verbindet sich mit dieser Erfahrung der kleinbürgerlich-handwerklich inspirierte Versuch, durch technische
113) Friedrich Heer beschreibt in seiner „Europäischen Geistesgeschichte” (Stuttgart 1953) den von uns gemeinten Vorgang folgendermaßen [im 11. Kapitel seines Werkes, das überschrieben ist: „Das Heil aus dem Volke, aus der Stadt, aus dem Geiste (1380-1464)..."]: „Nah verwandt der Mailändischen Pataria des 11. Jahrhunderts, wächst an der Volkspredigt die Volksbewegung, und diese prägt wieder das Werk des nationalen Erziehers und religiösen Reformators Hus, der seit 1405 auch tschechisch schreibt. Seine Meßlieder, seine geniale Reform der tschechischen Rechtschreibung (1406?), seine Briefe und Traktate (so besonders seine Exilschrift über die sittliche Erhebung des niederen Klerus und des Volkes), die dem verkündeten Wort der Predigt folgen, formen die tschechische Sprache — die damit, wie alle „Volks-” und „Muttersprachen” Europas, aus der religiösen Résistance gegen die Herrschaftsordnung des römischen Papst-Vaters und seine lateinische Autorität gerichtet ist. Die italienische Sprache des Dante ist durch Franziskus, Spirituale und das häretische Bildungsideal des „dolce stil nuovo” geprägt. Seit Wiclif (und Chaucer) gibt es eine national-englische Schriftsprache. Das Deutsch Luthers ist das Deutsch der ersten deutschen Bewegung (gemeint ist die deutsche Mystik. Der Verf.). Jeanne d' Arc (im Sendschreiben etwa an den englischen König) spricht die Sprache der französischen Revolutionsgenerale von 1792 — knapp, direkt und ohne Um-schweife, das heißt, in Absage an die „Große Form” lateinischer Rhetorik und hierarchisch gestufter Autorität. Die „weltliche” Literatur Europas ist also von ihrem Ursprung her, bis zur Gegenwart, in ihrer Essenz antirömisch, antilateinisch; sie entsteht in bitterem Konkurrenzkampf mit dem „lateinischen” Klerus und der lateinischen Gelehrtenbildung, ist eine Weltpredigt vom guten Sinn des Laienlebens, und gerade in ihrer Welthaltigkeit religiös verwurzelt: im Nonkonformismus der Reformer des 13. und 14. Jahrhunderts. Nach Hus werden die Sprachschöpfer der anderen slawischen Völker und Stämme Europas sich in Wittenberg die Zunge lösen lassen aus der Banngewalt des klerikalen Lateins. Konsequent werden die spanischen Inquisitoren ihre Vernichtungsfeldzüge gegen Alumbrados, Erasmianer, „Lutheraner” beginnen und krönen mit dem Verbot aller religiösen Literatur in der Volkssprache, auch der des „rechten” Flügels der Reformbewegung.” (a. a. 0. S. 202) Im weiteren heißt es von den Häretikern: „ ... eine ungeheure Kraft der Lösung, der Enthemmung tiefster innerer Kräfte, die hier zum erstenmal geweckt und angesprochen werden (und deshalb zur Aussprache im Wort der Volkssprache drängen), wird in der Heiterkeit, Sicherheit, Gewißheit dieser ,nationalen Märtyrer' sichtbar. Ihr blutfrisches Zeugentum verhilft in Lied, Gebet, „Volksliteratur”, zu allerletzt im hohen Denken der Theologie und Philosophie, jener individuellen Weltanschauung zum Durchbruch, für die Denken Selbstaussage, Sprache Selbstbekundung ist, (während sie im Kosmos der großen Form ein-gebunden sind in „Tradition”, „Kirche”, „Rhetorik” und „System"). Das „existentialistische” Denken der Pietistensöhne Kierkegaard und Nietzsche (Geist als Zeugnis) basiert auf der fünfhundertjährigen Vorbereitung ihrer Sprache durch dieses Volksschrifttum. Das entsteht, wie der Tau, als Niederschlag und Nach-beben des tiefen Eindrucks der ersten Märtyrer des Heils aus dem Volke.” (a. a. 0. S. 203)
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Experimente und empirische Beobachtungen ein volkssprachliches Laien-denken auf die Bahn zu bringen, das am Ende wahrer und nützlicher sein mochte als die Lehren der lateinischen Schulwissenschaft. Diese Tendenz spiegelt sich etwa in Nikolaus von Kues' „Versuchen mit der Waage” und seinen „Dialogen des Laien”, mehr noch in den polemischen Schriften der italienischen Künstler-Ingenieure wie Leonardo da Vinci, schließlich in dem literarischen Werk und Lebensschicksal Galileis, wie noch zu zeigen sein wird.) Dennoch ist die Kluft zwischen volkssprachlichem „Denken” und maßgeblicher, lateinischer „Formulierung” für den romanischen, zumal den italienischen Gelehrten nicht entfernt so groß wie für einen Engländer oder Deutschen. Man darf hier vielleicht so weit gehen zu vermuten, daß sie für den Italiener gerade groß genug war, damit die Spannung zwischen Latein und Volgare zu einer echten Alternative des Denkens und damit zu einer nationalen Lebensfrage werden konnte, während sie für die Denker germanischer Sprachzugehörigkeit so gewaltig war, daß das muttersprachliche Denken entweder überhaupt nicht als sprachbedingt oder aber als ein ganz unmittelbar subjektives „Worten aus des Herzens Abgrund” erlebt wurde. Wir hätten damit eine geschichtliche Begründung gewonnen für den Unterschied zwischen dem romanischen (ursprünglich römisch-italienischen) Sprachhumanismus und dem Sprachverhältnis, das sich im Nominalismus und in der Logosmystik ausdrückt. Gerade deshalb, weil die Spannung des Italienischen zur traditionellen „Form” des Lateinischen nicht so groß war wie die der germanischen Sprachen, konnte in Italien die Entdeckung der Muttersprache im Zeichen des Humanismus zuerst theoretisch ausgearbeitet werden. Dies dürfte aber auch der Grund dafür sein, daß aus dem mehr germanisch bestimmten Sprachverhältnis des Nominalismus und der Logosmystik die radikalere und zukunftsträchtigere Grundlegung der neuzeitlichen Sprachphilosophie hervorgeht. Spätestens um 1700 — und damit gewinnt unsere Untersuchung ihre zweite historische Begrenzung — wird der Sprachhumanismus in der schöpferischen Aufschließung und theoretischwissenschaftlichen Verarbeitung der Sprachproblematik von den beiden anderen Grundkonzeptionen neuzeitlichen Sprachdenkens endgültig überholt. John Locke, Leibniz und bald darauf Herder und Wilhelm von Humboldt heißen die anerkannten Gründerheroen einer die Gegenwart bestimmenden Sprachphilosophie. Aber gehört nicht auch Giambattista Vico zu ihnen? — Sein Name erinnert daran, daß die Sprachphilosophie der Deutschen Bewegung, die auf der einen Seite als Säkularisation der Logosmystik zur denkerisch-dichterischen Selbstaussprache des Genies (von Jakob Böhme über den Pietismus zum Sturm und Drang, zu Fichte und zur Romantik) angesprochen werden kann, sich andererseits mit der humanistischen Philologie der konkreten geschichtlichen Sprachen durchdringen mußte, um schließlich — zu Beginn
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des 19. Jahrhunderts — die idealistisch-romantische Grundlegung der philologisch-historischen Geisteswissenschaften hervorbringen zu können. Vico hat diese Grundlegung der hermeneutischen Geisteswissenschaften vorweggenommen. Es entsteht hier für uns die Aufgabe, auch für die Zeit nach der europäischen Auswirkung des italienischen Renaissance-Humanismus, in der Epoche der „instauratio magna” der Wissenschaft im „natürlichen System” der Barockmetaphysik, für die bereits die Rationalisierung der christlichen Logosidee mit Hilfe der nominalistisch-mathematischen Zeichenrepräsentation die sprachphilosophische Signatur bestimmt, die Spur des Sprach-humanismus weiterzuverfolgen. Vielleicht gelingt es unserer Untersuchung, in Giambattista Vico, der in der Verteidigung der humanistisch-rhetorischen Bildung gegen den Cartesianismus die deutsche Grundlegung der hermeneutischen Geisteswissenschaften vorwegnimmt, den letzten Denker, ja den eigentlichen philosophischen Vollstrecker der Tradition des römischitalienischen Sprachhumanismus aufzuweisen, — den philosophischen, freilich nicht empirisch-einzelwissenschaftlichen Vollender der bei Dante zuerst angebahnten historisch-genetischen Sicht der Sprache und gleichzeitig den legitimen Interpreten der von Cicero ausgehenden Ideologie des Primats rhetorisch-sprachlicher Bildung vor der formalen Logik. Darüber hinaus könnte es sein, daß Vico, der zuerst in einer „transzendentalen Philologie” den historisch-hermeneutischen Logos der muttersprachlich aus Urzeiten her integrierten geistigen Form der Menschheit gegen den voraussetzungslosen Logos der „mathesis universalis” ausspielt, auch in der gegenwärtigen Situation einer logistisch-positivistischen Kritik der Sprache und überlieferten Metaphysik eine (sprach-)philosophische Schlüsselposition einnimmt.
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1. ABSCHNITT DANT E UND DIE E N T D E C K U N G DER M U T T E R S P R A C H E IM ABENDLAND Kapitel I I I
Dantes T r a k t a t „De v u l g a r i e l o q u e n t i a ” von 1304 als theol o g i s c h f u n d i e r t e r Beginn historisch-genetischer Sprachw i s s e n s c h a f t und P r o g r a m m s c h r i f t für die Ausbildung n a t i o n a l e r S c h r i f t s p r a c h e n im A b e n d l a n d . Es ist, wie schon angedeutet, bemerkenswert, daß die erste philosophische Würdigung der Muttersprache in Europa nicht von den Völkern ausging, für die der Artgegensatz von lebendiger Volkssprache und überherrschender lateinischer Sakral- und Staatssprache der Christenheit von Anfang an selbstverständlich war, von den germanischen „Barbaren” also, für die doch der Unterschied ihres angestammten Idioms zur Sprache des römischen Imperiums und der es fortsetzenden Kirche sich sogleich einschneidend bemerkbar machte. Wohl gab es hier und in den nichtitalienischen Teilen der Romania wie in der Provence und in Frankreich zuerst eine nichtlateinische höfische Dichtung, und auch an Ansätzen zu einer nationalsprachlichen Grammatik fehlte es weder in Deutschland noch in Island noch in der Provence und in Frankreich. Und zweifellos war es die aus Frankreich und vor allem aus der Provence sowie vom arabisch beeinflußten Hof des Hohenstaufenkaisers Friedrich II. ausgehende Anregung, die in Italien den „dolce stil nuovo” entstehen ließ, mit dem sich die italienische Volkssprache — als Letzte von allen — am europäischen Wettstreit der höfischen Minnedichtung beteiligte. Aber von allen volkssprachlichen Literaturbewegungen Alt-Europas führte erst diese letzte, die von Dante aufgegriffen und zum Siege geführt wurde, zu einer philosophischen Würdigung der Muttersprache. Sie allein führte auch praktisch unmittelbar zur europäischen Schriftsprache. (Nur der Italiener vermag noch heute ohne philologische Kenntnisse seine mittelalterlichen Schriftsteller zu lesen.) Zur Erklärung dieser Tatsachen kann man zunächst darauf hinweisen, daß der italienischen höfischen Dichtung des Mittelalters in der Person Dantes ein Vollender erstand, der neben der theoretisch-programmatischen Proklamation einer nichtlateinischen Literatursprache zugleich ihre größte Dichtung schuf. Eben diese Sonderstellung Dantes beruht jedoch nicht
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allein auf seiner genialen Persönlichkeit, sondern zugleich auch auf der ganz besonderen sprachlich-kulturellen Situation Italiens: Nirgendwo sonst in Europa war der Zusammenhang mit der antiken Hochkultur stärker bewahrt geblieben. Die Volkssprache hatte hier nicht die archaischen und feudal-heroischen Stufen typisch ausgeprägt, die das germanisch bestimmte mittelalterliche Europa — um hier schon die abschließende Beurteilung Vicos, des letzten großen italienischen Humanisten, anzuwenden — als „Wiederkehr” der poetisch-barbarischen Frühzeit der Mittelmeerkultur (Homer!) erscheinen ließen. Im Gegensatz zu dem übrigen Europa war die italienische Sprache bis zu ihrem neueuropäischen Hervortreten bei Dante nicht in einer Früh- und Mittelstufe (vgl. Alt- und Mittelhochdeutsch) manifest geworden, hatte nicht den vergleichsweise organischen Aufstieg von einer alten und selbständigen Bauern- und Kriegersprache zur Stufe neueuropäischer, bürgerlicher Stadtkultur durchgemacht, sondern war, wie noch Dante ausdrücklich bezeugt, nur als Dialektvariation im Verhältnis zur lateinischen Grammatica empfunden worden. Als solche war das „Volgare” stets zum Lateinischen hin offen gewesen und war daher in dem Augenblick, wo es, vor allem durch die Leistung Dantes, bewußt als Ausdrucksform der Dichtung ergriffen und dem Lateinischen entgegengesetzt wurde, von diesem doch sogleich auf die im damaligen Europa höchste und fortschrittlichste Stufe geistiger Formkraft gehoben. Dem entsprach es, daß Italien um diese Zeit auch gesellschaftlich die allgemeine europäische Entwicklung zur bürgerlichen Stadtkultur bereits vorweggenommen hatte. So kommt es, daß die italienischen Vertreter der höfischen Minnedichtung als städtische Intellektuelle in einer gesellschaftlichen Umgebung von Magistern, Ärzten, Advokaten, Bankiers dem Typus des humanistischen Gelehrten von vorneherein näherstanden als ihren mehr ritterlich-feudalen Anregern in Frankreich und in der Provence. Diese gesellschaftliche und sprachliche Situation muß zumindest berücksichtigt werden, wenn wir in Dante, dem italienischen Höhepunkt der mittelalterlichen europäischen Dichtung in der Volkssprache, zugleich den Ausgangspunkt der neueuropäischen Literatur- und Schriftsprache begreifen wollen. Der Florentiner Dante, Sohn der reichsten und kulturell fortschrittlichsten Stadt Europas um 1300, ist Minnedichter, humanistischer Gelehrter und scholastischer Philosoph zugleich; als solcher gestaltet er in seiner „Commedia” erstmalig in der Volkssprache eine universale, bisher der scholastischen Philosophie und Theologie überlassene Thematik und schafft in mittelalterlichem Geist die erste große Dichtung Europas in neueuropäischer Schriftsprache. Kraft seiner Eigenschaft als humanistischer Gelehrter und Philosoph stellt er in der unvollendeten, zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Schrift „De vulgari eloquentia” seiner dichterischen Großtat auch die erste philosophisch-programmatische Würdigung
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der Volkssprache zur Seite und leitet damit die theoretische Entdeckung der Muttersprache im Abendland ein. Als ein Dokument, dessen Bedeutung für die Geschichte der Sprachidee nicht allein in seinen referierbaren Lehrmeinungen, sondern vor allem in einem „dogmatischen” Bekenntnis, einem praktisch Geschichte gründenden, neuen Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache liegt, muß die sprachphilosophische Schrift Dantes stets auf dem skizzierten Hintergrund der wirklichen Sprach- und Kulturgeschichte Europas gesehen werden. Als Ausgangspunkt der nationalsprachlichen Kultur Neueuropas gewürdigt, ist sie zugleich der repräsentative Traditionsvermittler christlich-mittelalterlicher Sprachtheologie und der weit in die Zukunft vorweisende Beginn humanistischer, empirisch-genetischer Sprachwissenschaft. Dies soll im folgenden anhand des Textes114) aufgewiesen werden. Die grundlegende Unterscheidung Dantes zwischen lingua vulgaris und gra(m)matica als lingua artificialis und seine Entscheidung für die Volkssprache als natürliche Sprache (I, I, 2—4) wurden bereits in ihrer europäischen Tragweite herausgestellt (vgl. oben Kap. II). Wir folgen nun zunächst der Sprachphilosophie Dantes im einzelnen. Bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesen der natürlichen Sprache, d. h. der Volkssprache (vulgaris locutio), geht Dante aus von der Stellung des Menschen zwischen Tier und Engel, womit der Horizont der patristisch-scholastischen Anthropologie sichtbar wird. Teleologisch wird die Zusammengehörigkeit von Mensch und Sprache begründet: „Denn unter allem Lebenden wurde es allein dem Menschen gegeben, zu sprechen, da nur er es nötig hatte. Weder den Engeln noch den niederen Tieren war es nötig zu sprechen” (I, II, 1-2).
Sprechen ist für Dante „nichts anderes, als für andere die conceptus unseres Geistes offenbar zu machen” (I, II, 3: . . . nostre mentis enucleare aliis conceptum)115). Dante folgt hier der Definition des Thomas von Aquin116): Nihil est enim aliud loqui ad alterum, quam conceptum mentis alteri manifestare (Summa Theol. I, quaest. 107, Art. I et III), welche wiederum auf die stoische Definition zurückgeht: idbfkd}opqfk . . . qäqÍkql¾kllrjklrmo|dj^qlspgj^kqfhÍkmolcobpn^fctkÌk (Stoic. vet. fragm. II 167 Arnim). Zuletzt weist diese Definition auf die folgende Bestimmung des iãdls bei Platon zurück: qÍk^Ãql¾pf|klf^kjc^kÎmlfb®kpf}ctkÎsjbq}»gj|qtkqbh^èklj|qtk (Theaitetos, p. 206 d).
114) Wir zitieren nach der deutschen Übersetzung von Fr. Dornseiff und J. Balogh, Darmstadt 1925. Bei wichtigen Begriffen und Wendungen wird daneben der lateinische Text herangezogen (Ausg. v. A. Marigo, Firenze 1938). 115) Im „Convivio” (I, 10, 9) lautet die entsprechende italienische Formulierung: „manifestare conceputa sentenza” (Ausg. v. G. Busnelli und G. Vandelli, Firenze 1953, vol. I, p. 63). 116) Vgl. Dornseiff-Balogh, a. a. 0. 1. Buch, II, Anmerkung 2.
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Hierzu bedürfen nun die körperlosen Engel keiner sinnlichen Zeichen (a. a. O. Kap. II). Dies war von der ältesten patristischen Überlieferung bis zu Thomas von Aquin die maßgebende christliche Auffassung; daneben besteht die neuplatonisch-gnostische Version: Hiernach bedürfen die Engel — wie auch der Urmensch vor dem Sündenfall — zwar keiner Wortsprache; dies jedoch nicht infolge ihrer reinen Geistigkeit, sondern deshalb, weil ihr Leib, besonders das Antlitz, von keiner Ich-Besinnung und Willkür gebrochener reiner „Ausdruck” und damit „Entsprechung” ihrer Gedanken und Gefühlsregungen ist. Auch die Welt ist hier nicht nur als Schöpfung, sondern auch als leibhafter Wesensausdruck Gottes verstanden, als „Natursprache”; welche Adam gleich den Engeln dank seiner Gottebenbildlichkeit unmittelbar intuitiv verstand und seinerseits ohne alle Willkür und Verstellung zum Ausdruck brachte. E. Benz hat diese „Metaphysik der Entsprechungen” (von Leib und Seele, Gott und Welt, Sein und Erkennen) insbesondere bei Swedenborg und Lavater belegt und ihre Herkunft von Böhme, Paracelsus, letztlich aus der neuplatonischen Bildmetaphysik nachgewiesen117). Wir stellen diese Ausdrucks- und Inkarnationsspekulation schon jetzt als Folie hinter Dantes Philosophie der Muttersprache, weil sie uns später im Zusammenhang mit der Logosmystik beschäftigen wird, wo sie als Idee der „Natursprache” ihrerseits auf die Theorie der menschlichen Muttersprache einwirkt und ihr eine neue spekulative Tiefendimension eröffnet.
Dante sieht mit Thomas von Aquin in der vernunftbezogenen und als Medium individuell und frei verwendbaren Leiblichkeit das Unterscheidungsmerkmal des Menschen sowohl vom Engel wie andererseits vom Tier; denn während die Engel einander unmittelbar oder durch den Gottspiegel in geistiger Schau erkennen (I, II, 3), haben die Tiere deshalb keine Rede nötig, weil sie „ihr natürlicher Instinkt leitet. Denn alle innerhalb derselben Gattung haben dieselben Tätigkeiten und Zustände (actus et passiones) und sind daher fähig, mittels der eigenen die fremden zu erkennen” (I, II, 5, a. a. O. S. 20). Während die Tiere also, um mit Goethe zu reden, „durch ihre Organe belehrt” werden, oder, modern ausgedrückt, in festen Verhaltenskorrelationen zur Mitwelt und Umwelt leben, wird der Mensch, wie Dante sagt, „durch seine Vernunft bewegt” und zwar derart, daß „die Vernunft selbst entweder im Unterscheidungsvermögen oder im Urteil oder beim Wählen in den einzelnen Menschen abweicht, so sehr, daß es scheint, als freue sich jeder seiner eigenen Sondergattung: so denken wir, daß durch eigene Handlungen und Zustände, nach Art des unvernünftigen Tieres, niemand den andern versteht. Auch durch geistige Schauung, nach Art eines Engels, gelingt es niemandem, in den andern einzudringen: da durch Dicke und Undurchsichtigkeit des sterblichen Körpers der menschliche Geist bedeckt wird. Es mußte demnach das menschliche Geschlecht zur gegenseitigen Mitteilung seiner Gedanken irgendein sowohl vernünftiges wie sinnliches Zeichen haben (Oportuit ergo genus humanum ad comunicandas inter se conceptiones suas aliquod rationale
117) Vgl. E. Benz: Emanuel Swedenborg, Mü. 1948; und ders.: Swedenborg und Lavater (über die religiösen Grundlagen der Physiognomik). In: Ztschr. f. Kirchengesch., 3. Folge VIII, LVII Bd. 1938.
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signum et sensuale habere). Denn da es von der Vernunft etwas zu empfangen hatte und in die Vernunft zu bringen, so mußte es vernünftig sein. Und da von einer Vernunft in die andere etwas übertragen werden kann nur im Wege der sinnlichen Mitteilung, so mußte es sinnlich sein. Denn wenn es allein vernünftig wäre, könnte es nicht hinübergehen. Wenn bloß sinnlich, hätte es weder etwas von der Vernunft empfangen noch in die Vernunft niederlegen können. Dieses Zeichen also ist eben der edle Gegenstand, von dem wir sprechen. Denn von Natur sinnlich ist er, insofern er Laut ist; vernünftig dagegen, insofern er nach Wunsch etwas bezeichnet (nam sensuale quid est, in quantum sonus est; rationale vero, in quantum aliquid significare videtur ad placitum)" (I, III, 1—3, a. a. 0. S. 21 f).
Mit dieser theologisch-anthropologischen Ortung des Menschen als Sprachwesen erscheint am Beginn der neuzeitlichen Sprachbesinnung die christlichplatonische Doppelbestimmung des Menschen und der Sprache „von oben und unten” neben der aristotelischen Bestimmung von der „Physis” her als wúèkiãdlk`lk. Herder, der — am Ende des von uns untersuchten Zeitraumes — noch einmal von der philosophischen Anthropologie her die Sprachphilosophie begründen wird, setzt nur bei Aristoteles an, dessen Logos-Definition des Menschen er im dynamisch-genetischen Sinn, d. h. als Kompensation des Instinktmangels, neu versteht (die „ganze Disposition seiner [sc. des Menschen] Natur wollen wir .. . ,Besonnenheit` nennen”. „Vernunft keine abgeteilte, einzeln wirkende Kraft, sondern eine seiner Gattung eigene Richtung aller Kräfte,” und „ ... der sinnlichste Zustand des Menschen war noch menschlich"118), womit er den Ansatz der modernen Anthropo-Biologie (Gehlen, Portmann) vorwegnimmt. Die Sprache ist für Herder, rein „von unten” gedacht, „dem Menschen so wesentlich, als er ein Mensch ist"119). In diesem Sinn ist auch für W. v. Humboldt die Sprache der „intellektuelle Instinkt” der Vernunft des Menschen120). Die andere Bestimmung „von oben her”, die bei Dante wie bei den Kirchenvätern und den Scholastikern zu der aristotelischen hinzukommt, finden wir indessen bei Vico wieder, der die schöpferische (poetische) Sprachkraft und Weltaneignung als notgeborene Kompensationsleistung des Menschen („homo non intelligendo fit omnia”) nicht vom tierischen Instinkt, sondern von der durchschauenden Schöpfertätigkeit Gottes abhebt (s. unten Kap. XII, d); und in ähnlicher Form verleiht bei Kant die fiktive Folie eines göttlichen „intuitus originarius” oder „intellectus archetypus”, der die Welt zugleich schafft und durchschaut, der „Kritik” der endlichen, menschlichen Vernunft und ihrer „Spontaneität” erst die letzte, metaphysische Schärfe, worin natürlich auch eine Definition des Menschen und, potentiell, der Sprache enthalten ist. Den systematischen Gegensatz zu dieser kritischen Begrenzung des Menschenwesens und insbesondere seiner Sprachfunktion bildet wieder die Traditionslinie der Logosmystik, in der die Sprache aus der schöpferischen Kraft und Erleuchtung des göttlichen „Wortes” selbst hergeleitet wird (Cusanus, vor allem Böhme) und schließlich Gott selbst in den geschichtlichen Sprachen der Menschen „durch die Kreatur zur Kreatur” symbolisch redet (Hamann und — bei sprachphilosophischer Interpretation — Hegel und Schelling: Die Herleitung
118) J. G. Herder: Über den Ursprung der Sprache, 1. Teil, 2. Abschnitt (S. W. hrsg. v. B. Suphan, Bd. V, S. 28 ff.). 119) Ebda. S. 27, vgl. S. 34. 120) W. v. Humboldt: Über das vergleichende Sprachstudium, § 13.
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der menschlichen Sprachfähigkeit aus dem göttlichen Logos geschieht bei den einzelnen Denkern stets mit mehr oder weniger großem Vorbehalt rücksichtlich der Endlichkeit des Menschen, ja oft so, daß, wie zum Beispiel bei Vico, das „cognoscere in deo” die kompensative Phantasieleistung der unwissenden Endlichkeit nicht ausschließt. Auch bei Hamann bedeutet die Identifikation der menschlichen Sprache mit der göttlichen Logosinkarnation eher ein Sich-offenbaren des ganz anderen Gottes im Medium der menschlichen Endlichkeit als etwa — wie bei Böhme und im deutschen Idealismus — eine Ineinssetzung mit dem innergöttlichen Prozeß, in dem Gott sich selbst offenbar wird).
Aus der anthropologisch-ontologischen Bestimmung der Sprache geht Dante zur historisch-genetischen Fragestellung über: „Nun müssen wir, . . . untersuchen, welchem unter den Menschen zuerst die Rede gegeben wurde, was er zuerst sagte und wem, wo und wann, des weiteren in welcher Sprache das erste Sprechen entsprang.” (a. a. 0. S. 21 = I, IV, 1: „... cui hominum primo locutio data sit, et quid primitus locutus fuerit et ad quem, et ubi, et quando et sub quo ydiomate primiloquium emanavit).
Wir führen Dantes Fragestellung hier wörtlich vor, weil sie einerseits deutlich ihren Ursprung aus der biblischen Schöpfungsgeschichte verrät — des näheren stammt sie von Augustinus und seinen patristischen Vorläufern —, andererseits aber bis in die Zeit der Aufklärung die maßgebende Orientierung für alles historisch-genetische Denken bleibt. Noch Herders berühmte Abhandlung über den „Ursprung der Sprache” von 1772 setzt sich als Beantwortung einer Preisaufgabe der Berliner Akademie mit eben der christlichen Umprägung einer antiken Streitfrage auseinander, die schon die griechischen Kirchenväter Eunomios und Gregor von Nyssa entzweite: ob nämlich die Sprache dem ersten Menschen von Gott gegeben und insofern ds^bf oder aber das Produkt menschlicher Vernunft und daher npbf sei. Dante vertritt in „De vulgari eloquentia” die Ansicht des Eunomios, wonach nicht nur Hebräisch die Ursprache ist — darüber waren sich alle Kirchenväter, die Scholastiker und auch die meisten Barockgelehrten einig —, sondern in ihr auch die von Gott gegebene Urgestalt der Sprache vorliegt: Dem Gefühl nach, meint Dante, wird jedermann seine Muttersprache für die Sprache Adams halten (I, VI, 2, a. a. 0., S. 25) — ein Motiv, das im weiteren Verlauf der europäischen Entdeckung und nationalistischen Würdigung der Muttersprache sehr ernst genommen und teils positiv-historisch, teils mystisch-philosophisch begründet wird —, der Vernunft nach aber „sagen wir, daß eine bestimmte Gestalt der Sprache von Gott mit der ersten Seele erschaffen ward ( . . . certam formam locutionis a Deo cum anima prima concreatam fuisse)” (I, VI, 4, a. a. 0. S. 25). Und weiter heißt es: „Ich spreche aber von Gestalt sowohl betreffend die Wörter für die Dinge (rerum vocabula), betreffend die Sätze aus den Wörtern (vocabulorum constructionem) und betreffend die Aussprache der Sätze (constructionis prolationem). Und diese Gestalt würde jede Sprache der Redenden gebrauchen, wenn nicht die Schuld der menschlichen Vermessenheit die Sprachen zerstreut hätte . . . " (ebda.). Nach der babylonischen Sprachverwirrung „erbten die Söhne des Heber, die nach ihm Hebräer genannt worden sind”, die Urgestalt der
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Rede. „Ihnen allein blieb sie auch nach der Verwirrung, damit unser Erlöser, der von ihnen abstammen sollte, soweit er Mensch war, nicht die Sprache der Verwirrung, sondern der Gnade genösse.” (I, VI, 5—6; a. a. O. S. 25) Die hier von Dante vorgetragene Theorie der von Gott gegebenen hebräischen Ursprache, die zugleich fÀsei und damit wesensadäquate Bezeichnung der Dinge ist, was besonders für den Namen Gottes „El” in Anspruch genommen wird (I, IV, 4), zieht sich von Philon und Eunomios her durch die abendländische Überlieferung bis zu Süßmilch, der sie noch 1766 in einer Abhandlung vertrat und damit die Preisfrage der Berliner Akademie und Herders Beantwortung veranlaßte. Das etymologisch-spekulative Interesse an der hebräischen Sprache wurde besonders nach der Vertreibung der Juden aus Spanien durch Isabella von Kastilien durch das Bekanntwerden europäischer Gelehrter mit der jüdischen Geheimwissenschaft der Kabbala (vgl. besonders Reuchlin, De verbo mirifico, 1494) neu belebt und bildet einen wichtigen Quellpunkt etymologischer Sprachspekulation auch bei solchen Denkern, die neben dem Hebräischen auch die Muttersprache als Ursprache gewertet wissen wollten, wie etwa in Deutschland Agrippa von Nettesheim, Ickelsamer, J. Boehme. Noch G. B. Vico läßt, ähnlich wie Dante, in seiner „Scienza nuova” neben und außerhalb der natürlichen Entwicklung der menschlichen Kultur einschließlich der Sprachen die hebräische Überlieferung als Zeugnis der anfänglichen göttlichen Offenbarungswahrheit stehen.
Während einerseits diese Befangenheit in der biblischen Tradition bis tief in die Neuzeit reicht, wobei die Idee der adamitischen Natursprache zumal im Bannkreis der Logosmystik sich bedeutend vertieft und dadurch auch sprachphilosophisch fruchtbar wird, läßt sich andererseits schon bei Dante — wie im Bereich der christlichen Antike bei Gregor von Nyssa — eine entgegengesetzte, verstandesmäßig nüchterne Auffassung nachweisen, die, wie alle „Aufklärung” im Mittelalter, von Aristoteles bestimmt ist: In der „Divina Commedia” (Parad. 26, 124 ff) läßt Dante sich von Adam selbst die Frage nach dem Ursprung der Sprache beantworten; dabei „erfährt” er, daß die Sprachfähigkeit zwar Naturgabe, die Sprachen selbst aber ein Produkt der Vernunft und als solche vergänglich sind. Auch Adams Sprache war vergänglich und erlosch schon vor dem Turmbau zu Babel. Das Hebräische ist demnach nicht Ursprache, sondern nur die älteste Sprache, von der wir wissen. Selbst der Name für Gott „El” unterliegt dem Wandel der lebendig-vergänglichen Sprachen: „Die Sprache, die ich brauchte, war schon ganz und gar erloschen, ehe Nimrods Volk zum Bau, der nie vollendet wird, sich schickte; denn niemals hat noch ein erdachtes Werk unwandelbar gedauert, weil des Menschen Geschmack sich ändert nach des Himmels Drehung. Natur bewirkt wohl, daß die Menschen sprechen, ob so, ob anders, aber dieses läßt sie euch selbst nach eurem Wohlgefallen machen — Bevor ich in die Not der Hölle sank,
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war i der Laut, mit dem man rief auf Erden das höchste Gut, die Quelle meiner Freuden. El hieß es dann. Und so gehört es sich; denn Menschenbrauch ist wie das Blatt am Zweige, das welkt und fällt, und andere kommen nach."121)
Neben dem Fragenkomplex der Ursprache bzw. des Sprachursprungs bildet die Frage nach der Entstehung und Bedeutung der Sprachverschiedenheit das zweite große Problem einer Philosophie der konkreten, geschichtlichen Muttersprachen, wie sie im Abendland auf Grund der biblischen Überlieferung entstand und, wie alles geschichtliche Denken, auch später, in säkularisierter Form noch immer auf den Frageanstoß der Bibel zurückbezogen blieb. Ausgangspunkt der abendländischen Spekulation über die Sprachverschiedenheit ist die biblische Erzählung von der Verwirrung der Sprachen durch Gott anläßlich des Turmbaus zu Babel, und das will sagen: der Strafcharakter, der in theologischer Sicht an aller Sprachverschiedenheit haftet. Auch hier kann uns Dante als repräsentativer Vermittler der Problematik aus der theologischen Fassung des Mittelalters hin zur philosophisch-wissenschaftlichen Fragestellung der Neuzeit gelten, ja darüber hinaus, wie sich erst im weiteren Gang unserer Untersuchung zeigen wird: als erster Anstoß zu einer praktischen, kultur-politischen Programmatik der nationalen Heilssprachen Neu-Europas, Beginn ihres Jahrhunderte währenden Kampfes mit den drei heiligen Sprachen Alteuropas, dem Hebräischen, Griechischen und Lateinischen, die zunächst als Gefäße der göttlichen Offenbarung das einzige heilsgeschichtliche Gegengewicht gegen die Divergenz aller Wahrheit in den profanen Volkssprachen als Produkten der babylonischen Verwirrung darstellten. Am Ende der von Dante eingeleiteten wissenschaftlichen und später auch religiösen Würdigung der Volkssprachen wird die philosophische Bewertung der
121 ) Dante: Divina Commedia, Parad. 26, 124 ff. (übersetzung von K. Vossler, Berlin 1942). Der italienische Text lautet (Testo critico della Società Dantesca, Firenze 1951):
„La lingua ch'io parlai fu tutta spenta innanzi che all' ovra inconsummabile fosse la gente di Nembròt attenta; ché nullo effetto mai razionabile, per lo piacere uman che rinnovella seguendo il cielo, sempre fu durabile. Opera naturale ch' uom favella; ma così o così, natura lascia poi fare a voi, secondo che v'abbella; Pria ch'io scendessi a l'infernale ambascia, I s'appellava in terra il sommo bene, onde vien la letizia che mi fascia, e El si chiamò poi: e ciò convene, ehe l'uso de' mortali è come fronda in ramo, che sen va ed altra vene.”
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Sprachverschiedenheit eine völlige Umkehrung erfahren: W. v. Humboldt und E. M. Arndt werden hierin, wie in der Kulturmannigfaltigkeit überhaupt, einen heilsamen Zwang zur Selbstkritik und Ergänzung auf dem Wege zur einen Wahrheit erblicken. Vorbereitet wird diese Wandlung durch die in der Reformation wieder zur Geltung kommende alte Lehre der Ostkirche, daß die Pfingstgeistausgießung und das damit verbundene Sprachwunder die babylonische Verwirrung in ein Gnadengeschenk Gottes umwandelt, indem nun alle Muttersprachen als Gefäße der einen Wahrheit des Evangeliums geheiligt sind. Dieser Gesichtspunkt fehlt in Dantes Sprachtheologie, wie überhaupt im Bereich der römisch-katholischen Sprachtheologie des Mittelalters die Kontrapunktik von babylonischem Strafakt und pfingstlichem Gnadenakt Gottes keine Rolle zu spielen scheint. Wir werden darauf bei der Charakteristik des abendländischen Sprachhumanismus römischer und römisch-katholischer Provenienz und andererseits bei der Darstellung des Zusammenwirkens von Entdeckung der Muttersprache und Logosmystik im deutschslavischen Bereich noch besonders zurückkommen (vgl. unten S. 132 f. und Kap. VII, d).
Dante beklagt die babylonische Sprachverwirrung als die dritte große Schmach des menschlichen Geschlechtes (nach dem Sündenfall und der Sintflut), aber er scheint sie nicht völlig negativ zu bewerten, denn Gott „strafte”, wie er sich ausdrückt, „mit väterlicher Rute”, „mit milder und doch einprägsamer Züchtigung” den aufrührerischen Sohn (I, VII, 5, a. a. 0. S. 27). Wie in der Frage des Sprachursprungs, so bezeichnet Dante auch in der Deutung der babylonischen Sprachentrennung einen Übergang von rein theologischer zu historisch-aufgeklärter Betrachtung, läßt er doch aus der göttlichen Strafaktion die Entwicklung der Vulgärsprachen hervorgehen, deren kontinuierliche Differenzierung er, wie wir noch sehen werden, im weiteren als Naturnotwendigkeit entdeckt und durchaus untheologisch erklärt. (Seine Beschreibung des natürlichen Wandels der Volkssprache läßt, wie schon die Definition der locutio vulgaris in der Einleitung, eigentlich gar keinen Raum für die Auffassung, daß es vor der babylonischen Sprachverwirrung bei den Menschen anders zugegangen sei. Als die eigentliche theoretische Betrachtungsweise Dantes läßt sie die zuvor vorgetragene Theorie von der unwandelbaren, von Gott fertig gegebenen hebräischen Ursprache gänzlich verblassen und stellt offenbar denjenigen Denkansatz dar, den Dante später in der „Commedia” nur zu Ende gedacht hat.) In der Entgegensetzung von natürlicher, wandelbarer Volkssprache und sekundärer, von Gelehrten erfundener lingua gra(m)matica, die schon in der Einleitung der Schrift (Buch I, Kap. I) vorgetragen wird, liegt ganz offensichtlich das originale Kernmotiv der Sprachphilosophie Dantes122). Diese Konzeption wird nach einer vorausgeschickten empirischen Übersicht über die Sprachentwicklung bzw. Sprachverbreitung nach der babylonischen Verwirrung — in der eine unklare Ahnung der europäischen Sprachengliederung in germanische, slavische und romanische Sprachen
122)
Vgl. auch „Convivio”, I, V, 7—8 u. 14.
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sich ausspricht — im Kapitel IX wiederaufgenommen. Unüberhörbar leitet Dante dieses Kapitel mit dem Satz ein: „Nun aber müssen wir unseren eigenen Verstand auf die Probe stellen, da wir etwas untersuchen wollen, wo wir von keiner Autorität unterstützt werden, nämlich die Veränderung, die in der zu Beginn einheitlichen Sprache vor sich gegangen ist” (a. a. 0. S. 30 = I, IX, 1: „Nos autem oportet quam nunc habemus rationem periclitari, cum inquirere intendamus de hiis in quibus nullius auctoritate fulcimur, hoc est de unius eiusdemque a principio ydiomatis variatione secuta").
Im Folgenden stellt Dante nun die Problematik des Sprachlebens in den Zusammenhang menschlicher Kulturentwicklung überhaupt und zeigt sich dabei im Besitz einer Gesamtkonzeption, die weit über seine Zeit hinaus auf die Anfänge des historischen Denkens in der Aufklärungszeit vorweist: „Da nun all unser Sprechen — mit Ausnahme des einen, das Gott dem ersten Menschen anerschaffen hat — durch unser Gutdünken von neuem gebildet wurde nach jener Verwirrung, die ja nur das Vergessen der früheren Sprache war, und da der Mensch ein überaus unbeständiges und hochveränderliches Wesen ist, kann sie weder dauerhaft noch beständig sein, sondern muß wie das übrige in uns, nämlich Sitten und Gehaben, nach Verschiedenheit von Raum und Zeit sich ändern” (a. a. 0. S. 31 = I, IX, 6: „Cum igitur omnis nostra loquela (preter illam homini primo concreatam a Deo) sit a nostro beneplacito reparata post confusionem illam que nil fuit aliud quam prioris oblivio, et homo sit instabilissimum atque variabillissimum animal, nec durabilis nec continua esse potest, sed sicut alia que nostra sunt, puta mores et habitus, per locorum temporumque distantias variari oportet").
Dante stellt in diesem Zusammenhang die, wie er selbst meint, kühne These auf, daß die Italiener seiner Zeit den entferntesten Zeitgenossen kulturell näherstünden als ihren Landsleuten, „die in ganz früheren Zeiten gelebt haben.” Um seinen Zeitgenossen die Tatsache einer so durchgreifenden Änderung von Sprache und Sitte glaubhaft zu machen, bemerkt er schon fast im Geiste der Leibnizschen Kontinuitätsidee: „... was wir hier sagen ist nicht wunderlicher, als wenn wir einen erwachsenen Jüngling erblickten, den wir nicht aufwachsen sahen. Denn was sich langsam bewegt, können wir am wenigsten beobachten. Und je längere Zeit das Beobachten der Veränderung eines Dinges beansprucht, für um so feststehender halten wir es” (I, IX, 8, a. a. 0. S. 31). Und weiter heißt es: „Wenn also in ein und demselben Volk die Sprache sich wie gesagt verändert im Lauf der Zeiten und auf keine Weise feststehen kann, so muß sie bei getrennt und entfernt Lebenden sich mannigfach verändern” (I, IX, 10, a. a. 0. S. 31).
Dante erschaut also eine allmähliche, stetige Differenzierung der Sprache sowohl zeitlich wie räumlich bis in die Dialekte, ja bis in die „tausendfältige Verästelung” (ad millenam loquele variationem: I, X, 9) der Lokal- und Familiensprache inein; dabei werden seine Erkenntnisse,
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indem er die europäischen, romanischen und schließlich die italienischen Mundarten vergleicht, immer genauer und gültiger. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß Dante mit seiner Idee einer kontinuierlichen Dialektvariation genau den Zustand beschreibt, dem die menschliche Sprache verfällt, wenn sie nicht einer verbindlichen kulturellen Norm in Gestalt einer Landes- oder Reichssprache unterworfen ist. Dies eben war ja der sprachliche Tatbestand wenn nicht der gesamten vulgärlateinischen Romania, so doch mindestens Italiens im Mittelalter: die „lingua latina”, als deren Dialektvariation die Volkssprache aufgefaßt wurde, war in Wahrheit längst nicht mehr die verbindliche Sprachnorm in Gestalt einer einheitlichen Hochsprache, und die moderne Hochsprache im Sinne einer Nationalsprache hatte sich noch nicht ausgebildet. Dieser Zwischenzustand, für Italien gewisser-maßen ein Rückfall in die Zeiten vor der Entstehung der Hochkulturen und ihrer Reichssprachen, vermittelte dem Sprachphilosophen Dante in der Tat ein anschauliches Modell für seine Grundkonzeption des Gegensatzes von natürlicher Primärsprache als „lingua corruptibilis” und künstlicher Sekundärsprache als „lingua gram[m]atica”.
Im Gegenzug gleichsam zu der unmerklichen aber unablässigen Wandlung der natürlichen Sprache denkt Dante sich die „Grammatik”, d. h. im Abendland: die geregelte lateinische Sprache, von Gelehrten erfunden: „Von hier (d. h. von dem Übelstand der natürlichen Veränderung) gingen die Erfinder der Lateinkunst (inventores gramatice facultatis) aus. Denn besagtes Latein (gramatica) ist nichts anderes als unveränderliche Einheitlichkeit der Sprache in verschiedenen Zeiten und Orten (inalterabilis locutionis idemptitas diversis temporibus atque locis). Da dieses durch die gemeinsame Übereinkunft vieler Völker geregelt (de comuni consensu multarum gentium ... regulata) worden ist, so ist es keines einzelnen Willen unterworfen und kann folglich nicht veränderlich sein. Man hat es hinzuerfunden, damit nicht durch die Verschiedenheiten einer Sprache, die nach dem Willen einzelner hin und her wogt (propter variationem sermonis arbitrio singularium fluitantis), wir auf keine Weise oder vielleicht nur unvollkommen gelangten zu den Autoritäten und Taten der Alten oder derer, die der räumliche Abstand von uns fernrückt (I, IX, 11, a. a. O. S. 32).” Im „Convivio” heißt es entsprechend: „Lo latino è perpetuo e non corruttibile, e lo volgare è non stabile e corruttibile. Onde vedemo ne le scritture antiche de le comedie e tragedie latine, che non si possono transmutare, quello medesimo che oggi avemo; che non avviene del volgare, lo quale a piacimento artificiato si transmuta (I, V, 7--8).” Kurz: „Lo volgare seguita uso e lo latino arte (I, V, 14).” Hier zieht Dante aus dem durch menschliche Kunst garantierten Stabilitätscharakter des Lateinischen sogar die Folgerung, daß ihm der Vorrang vor dem Volgare zukomme, denn die Fortsetzung der zuletzt zitierten Stelle lautet: „onde concedesi essere più bello, più virtuoso e più nobile.” Der hierin zu Tage tretende Widerspruch zwischen „Convivio” und „De v. e.” läßt sich nach A. Marigo (a. a. O. S. 9) beheben, wenn man die verschiedenen Gesichtspunkte der aristotelisch-scholastischen Denkformen „Akt” und „Potenz” zur Anwendung bringt: Im „Convivio” handelt es sich danach um die aktuelle Überlegenheit des durch menschliche Kunst geregelten Lateins über das noch ungeregelte Volgare, in „De v. e.” andererseits um die potenzielle Überlegenheit der von Gott geschaffenen „locutio naturalis”, die einer menschlichen Regelung durchaus fähig und allerdings
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auch bedürftig ist. Um eben diese Erhebung des Volgare zu einer geregelten Literatursprache durch eine hohe Dichtkunst, die sich den Vorbildern der antiken Autoren und den Vorschriften der lateinischen Rhetorik anpaßt, geht es aber Dante auch und gerade in „De v. e.”. Somit besteht in der Tat zumindest in der Grundauffassung vom Wesen der Sprache und vom Verhältnis des Menschen zur Sprache kein Unterschied zwischen beiden Werken Dantes.)
Man muß bei der Beurteilung von Dantes Konzeption der „lingua artificialis” oder „secundaria”, „quam Romani gramaticam vocaverunt” (I, I, 3,) berücksichtigen, daß hiermit einmal die lateinische Sprache im Unterschied zu den romanischen Volkssprachen, zum andern aber doch auch die „Grammatik” als Institution der Sprachregelung gemeint ist, denn nur durch sie ist es ja begründet, daß außer den westlichen Völkern noch die Griechen eine künstliche, geregelte Sprache haben: „Hanc quidem secundariam Greci habent et alii, sed non omnes” (I, I, 3). Daß Dante die konkrete lateinische Sprache „grammatica” nennt, obwohl sie doch, wie die Humanisten später feststellten, seit den Tagen Ciceros eine erhebliche Korruption, d. h. also Lebendigkeit, gezeigt hatte, verrät einmal seine Befangenheit in jenem scholastisch-mittelalterlichen Weltgefühl, für das die lateinische Sprache, wie wir früher im Anschluß an A. Weber sagten, „autoritäres Vorgut” (der christlichen Kirche und zugleich der antiken Mutterkultur) darstellte, eine unverrückbare Ordnung, die Form (Logik) und Inhalt (Ontologie) des Denkens überhaupt zu bestimmen geeignet war. Darüber hinaus zeigt aber Dantes allgemeine Entgegensetzung von weltweiter natürlicher Sprachentwicklung der Primärsprache und „gra(m)matica facultas” als menschlicher Gegenmaßnahme gegen die natürliche Korruptibilität bei einigen hochstehenden Kulturnationen eine durchaus gültige, ja tiefdringende Einsicht in das Wesen der menschlichen Geschichte und Kultur. In der Tat hatte ja die von den Griechen ausgearbeitete, von den Römern und hernach vom abendländischen Mittelalter übernommene Grammatik — genau entsprechend der Situation in der indischen Hochkultur, die in der Grammatik Paninis dokumentiert ist, — eine Überlieferung und dauernde Kommunikation im Rahmen einer religiös, philosophisch und literarisch eröffneten Sinnwelt in der menschlichen Gesellschaft erst möglich gemacht. Eben hiervon hatten die römischen „Humanisten”, für die, wie wir noch zeigen werden, die Sprache die Institution der Institutionen war, ein lebendiges Gefühl. Grammatik, Rhetorik und Logik, die „artes sermonicales”, die später im „trivium” der „septem artes liberales” zusammengefaßt wurden, waren für sie die maßgebenden Hüter der Sprache als der tragenden Institution der Weltdeutung und Daseinsordnung (s. unten S. 134 ff.). Vom Gesichtspunkt der modernen Kulturanthropologie betrachtet, wäre die regulierende und stabilisierende Funktion der Grammatik (bzw. — ganz im Sinne Dantes — der ihr „entsprechenden” Sekundärsprache der Hochkultur) als gesteigerte Form jener allgemeinen Gesetzlichkeit zu betrachten, nach welcher der Mensch als „von Natur auf Kultur angewiesenes Wesen” (A. Gehlen) ständig durch institutionelle Regelung der
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entropischen Korruptibilität seiner „schrecklichen Natürlichkeit” entgegenarbeiten und seinem Dasein die Form der Kultur geben muß123). Auch in der primären Volkssprache ist freilich dieses Grundgesetz der Kultur bereits in fundamentaler Weise ausgeprägt — ist doch die Sprache schlechthin die Grundlage aller stabilisierenden, durch Form die Zeit überwindenden menschlichen Kulturleistung —; aber in der grammatisch geregelten Sprache der Hochkultur wird das Grundgesetz der Kultur doch auf völlig neuer Stufe bewußt erfüllt. Dantes Unterscheidung von Primär- und Sekundärsprache steht, so betrachtet, durchaus in Parallele zu F. Tönnies' soziologischer Unterscheidung zwischen archaischer, organischer „Gemeinschaft” und ihrer hochkulturellen Überformung in der „Gesellschaft"124). Die von Dante und dem Humanismus miteingeleitete abendländische Neuzeit hat dann freilich auch auf dem Felde der Sprache noch weit bewußtere und im höheren Maße willensgesteuerte Systeme entworfen und besonders im Zusammenhang mit dem ebenfalls völlig neu-artigen Kultursystem der exakten Wissenschaft auch geschichtlich realisiert. Ihnen gegenüber erscheint die von Dante erstmals historisch verstandene und von ihm und dem Humanismus bewußt fortgesetzte Stabilisierung und Regelung der Sprache durch Grammatik, Rhetorik und Stilistik heute schon fast wie ein Hereinragen der Antike in das moderne Spannungsfeld von technischszientifischer Sprach-Konstruktion und mystisch-individualistischer (auf Schöpfung hinspekulierender) Hingabe an den geschichtlich-integralen Sprachgeist (vgl. hierzu Kap. II und VIII der vorliegenden Untersuchung).
Die Unterscheidung von lingua naturalis, die sich stetig wandelt, und lingua artificialis sive gra[m]matica, welche die Kommunikation einer höheren Kulturmenschheit erst möglich macht, bildet auch den geheimen Angelpunkt in Dantes Schrift, in dem sich die Wendung von der bloßen Theorie zur Programmatik einer neuen italienischen Hochsprache vollzieht, Dantes Entdeckung der Muttersprache als der natürlichen Sprache schlägt nämlich in ihrer kulturpolitischen Konsequenz sogleich um in die Forderung einer neuen „lingua regulata”, die das Lateinische nicht geradezu ersetzen, aber doch in einem begrenzten Rahmen durch die gleichen Eigenschaften wie das Latein: Universalität und Stabilität, zum Ausdruck der höchsten Dichtung fähig sein soll. Mit dieser Forderung, die zuerst das Ideal einer neueuropäischen Volkssprache kulturpädagogisch am Latein der Grammatik und Rhetorik mißt, verbindet sich Dante prinzipiell der Sprachidee des auf ihn folgenden (lateinischen) Humanismus, ja er nimmt dessen nationalsprachlich orientierte Endphase im 16. Jahrhundert vorweg. Die soeben angedeutete Interpretation ist freilich umstritten, und in der Tat bildet der Übergang von der Sprachtheorie zur Sprachprogrammatik den eigentlich problematischen Gehalt von Dantes unvollendeter Schrift. Denn die „Jagd” auf die „angemessenste und erlauchteste Sprache Italiens”, die in den Kapiteln XI bis XIX des ersten Buches sich darstellt, vollzieht zugleich den Übergang von der Thematik des ersten zu der des zweiten Buches, d. h. aber von einer mehr linguistischen Betrachtungs-
123)
Vgl. A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, 8. Aufl. 1935.
124)
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weise zu der einer Rhetorik bzw. Poetik. Hier erhebt sich die Frage, ob Dante bei der Proklamation des „vulgare illustre” überhaupt eine grammatisch und phonetisch einheitliche, gemeinitalienische Schriftsprache oder — im Sinne des 2. Buches — lediglich ein „genus dicendi”, d. h. eine Stilart der hohen Dichtung (Canzone und Tragödie) neben „vulgare mediocre” und „vulgare humile” (für Komödie, Sonett, Elegie) vor Augen hatte. Die „Questione della lingua” des Cinquecento entsteht, wie noch zu zeigen ist, aus der linguistischen Interpretation Dantes (durch Trissino), und sie trägt zugleich die ungeklärte Zweideutigkeit von Dantes Sprachbegriff als eine wesentliche Ursache ihrer auf bloßem Wortstreit beruhenden Aporetik in sich125). Demgegenüber interpretiert Manzoni 1868 Dantes Traktat erstmals bewußt eindeutig im Sinne einer Poetik. Er beendet damit gewissermaßen den italienischen Sprachenstreit, indem er die Autorität der von Dante entliehenen Argumente gegen das Florentinische beseitigt126). Läßt sich nun. diese Auslegung Dantes, die als Antwort auf die spezifische Situation der italienischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts ihre befreiende Pointe hat, zur schlechthin gültigen historischen Deutung von Dantes Traktat „De vulgari eloquentia” erheben? Wir müssen auf diese Frage etwas ausführlicher reflektieren, denn sie betrifft unmittelbar die Sprachidee Dantes, die wir im vorigen (vgl. Kap. II) als einen der drei wesentlichen Ausgangspunkte neuzeitlichen Sprachdenkens herausstellten. Ohne hier auf die Bedeutung der Problematik für die „Questione della lingua” einzugehen, müssen wir von vorn-herein feststellen, daß wir für ein historisches Verständnis von Dantes Programmatik des „vulgare illustre” weder die eine noch die andere Seite der skizzierten Alternative als maßgeblich anerkennen können: Eine einseitige linguistische Interpretation würde darauf hinauslaufen, der Idee des „vulgare illustre” den modernen Begriff einer empirisch eruierbaren „Gemein- und Schriftsprache” („langue" im Sinne der Unterscheidungen De Saussures) zu unterlegen. Dem steht vor allem Dantes Definition des empirisch belegbaren vulgare als einer zeitlich und räumlich kontinuierlichen Dialektvariation entgegen. Andererseits läßt sich m. E. auch nicht jeder linguistisch relevante Gehalt aus der Idee des „vulgare illustre” eliminieren, dergestalt, daß etwa Dantes Traktat überhaupt nicht als legitimer Ausgangspunkt der italienischen (oder gar der europäischen) Entdeckung und Formierung nationaler Schriftsprachen betrachtet werden dürfte127).
Wir werden angesichts dieser Alternative davon ausgehen, daß eine philosophische Interpretation sowohl den Sprachbegriff einer Poetik wie insbesondere
125) Dies hat besonders Thérèse Labande-Jeanroy (La question de la langue en Italie, Strasbourg 1925) überzeugend nachgewiesen. 126) Vgl. H. W. Klein, a. a. O. S. 106 ff. 127) So weit geht H. W. Klein, indem er z. B. Weisgerbers (und damit implizit auch Dornseiffs und K. Burdachs) Deutung schlechthin als falsch bezeichnet (a. a. O. S. 111).
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den der modernen Linguistik als mehr oder weniger scharf ausgeprägte einzelwissenschaftliche Abstraktion auffassen muß. Eine Interpretation Dantes im Rahmen einer Geschichte der Sprachidee kann nicht von einer dieser Abstraktionen bzw. von ihrer Unterscheidung sich leiten lassen; sie wird gerade darauf zu achten haben, welchen Beitrag Dante zur Entstehung der heute maßgeblichen Distinktionen im Sprachbegriff (etwa derjenigen F. De Saussures zwischen langage, langue und parole) geleistet hat; und ineins damit wird sie zusehen, ob seine faktische Problemstellung überhaupt durch die heute gängigen Begriffe „aufgehoben” werden kann. Prüfen wir daraufhin die Begriffsbildung und den Sprachgebrauch von „De vulgari eloquentia”:
Dante verwendet in seinem Traktat die folgenden Termini für Sprache: l o c u t i o , s e r m o , l o q u e l a , l i n g u a , y d i o m a , und einfach v o l g a r e . Dabei entspricht im großen und ganzen die soeben angegebene Reihenfolge der Termini dem methodischen Aufbau des Gedankens: Zu-nächst wird von der „locutio vulgaris” als der natürlichen Rede des Menschen überhaupt in ontologisch-anthropologischer Bedeutung (so als „signum rationale et sensuale”) gehandelt (I, I—V). Dabei leitet der Gesichtspunkt, daß es sich um die „prima locutio” im Gegensatz zur „gra[m]matica” als der „locutio secundaria” handelt, zur historisch-genetischen Frage nach der „prima locutio” Adams über (I, IV u. V). Von da ergibt sich die Frage nach dem „primum ydioma” als der „certa forma locutionis”, welche von Adam gebraucht wurde und welche „omnis lingua loquentium uteretur, nisi culpa presumptionis humane dissipata fuisset” (I, VI). Diese erste gemeinsame Form der Rede ist das Hebräische (sacratum ydioma). Hier hätten wir also, modern gesprochen, den Ü b e r g a n g v o m B e - g r i f f d e r S p r a c h e a l s „ l a n g a g e ” z u d e m d e r S p r a c h e a l s „ l a n g u e ” vor uns; er vollzieht sich bei Dante unter Zuhilfenahme des aristotelischen Denkschemas einer bestimmenden Form des menschlichen Verhaltens, hier des Sprechens überhaupt. Dieser aristotelische Gesichtspunkt wird auch bei der Beurteilung der umstrittenen linguistischen Komponente in Dantes Sprachprogrammatik im Auge zu behalten sein. In Vorbereitung dieser programmatischen Wendung entfaltet der Dichter aus dem biblischen Topos der „confusio linguarum” (I, VIII, 1) heraus den von uns bereits erörterten theoretischen Teil seiner Linguistik unter dem Leitgesichtspunkt einer kontinuierlichen „variatio ydiomatis” (I, VIII—XV); dies führt ihn über eine erste Dreiteilung128) zum „ydioma nostrum tripharium”, d. h. zum Romanischen (I, IX) und weiter über dessen Ausgliederung in „lingua oc”, „lingua oll” und „lingua si” (I, IX, 2 bzw. X, 2-4) zum „vulgare latium” (I, X, 5), dem wegen seiner größeren Nähe zum Lateinischen und wegen der poetischen Errungenschaften des „dolce stil nuovo” auch schon ein wertmäßiger Vorrang vor den übrigen Vulgärsprachen der Romania zugesprochen wird (I, X, 4).
128)
Im Anschluß an Isidor von Sevilla (Etym., IX, II, 2 ff.), vgl. A. Marigo, a. a. 0. S. 47.
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Nachdem er die „tausendfältige Variation” des „vulgare latium” skizziert hat, stellt Dante sich schließlich zu Beginn des XI. Kapitels ausdrücklich die neue Aufgabe: „quam multis varietatibus latio dissonante vulgari, d e c e n t i o r e m atque illustrem Ytalie venemur loquelam” (Sperrung vom Verfasser).
Hier setzt die p r o g r a m m a t i s c h e Wendung des T r a k t a t s ein. Sie vollzieht sich zunächst in der scheinbar empirischen Form einer Musterung sämtlicher Munizipaldialekte Italiens, bei der die programmatische Idee des „vulgare illustre” als Maßstab im Hintergrund bleibt; indessen spätestens bei der positiven Würdigung des Dialektes von Bologna wird klar, daß das von Dante gesuchte „vulgare illustre” überhaupt nicht durch ein empirisch-komparatives Verfahren erjagt werden kann; denn der Dichter erklärt ausdrücklich: „Wenn diejenigen, welche den Bolognesern den Vorzug hinsichtlich des Gebrauchs der Volkssprache (in volgari sermone) geben, lediglich von einer vergleichenden Betrachtung der bestehenden Munizipalsprachen Italiens ausgehen (sola municipalia Latinorum vulgaria comparando considerant), so wären wir geneigt ihnen zuzustimmen; wenn sie aber die Sprache von Bologna für schlecht-hin vorzüglich (simpliciter ... preferendum) halten, so möchten wir ihnen nicht zustimmen” (I. XV, 6).
Gewissermaßen als empirisches Anzeichen dafür, daß eine rein empirisch vergleichende Betrachtung nicht zum Ziel führt, dient Dante immer wieder (so auch im Falle Bolognas) der Aufweis, daß die führenden Dichter sich in ihrem Sprachgebrauch von ihrem heimischen Dialekt mehr oder weniger entfernt haben. So vorbereitet, werden wir im XVI. Kapitel auf ein mehr rational-spekulatives Verfahren verwiesen, das imstande sein soll, das gesuchte Edelwild, „das sich durch seinen Duft überall ankündigt und doch nirgendwo in Erscheinung tritt (redolentem ubique et necubi apparentem)”, in die Netze des Jägers zu bringen (I, XVI, 1-2). Damit b e g i n n t der e i g e n t l i c h s p r a c h p r o g r a m m a t i s c h e G e d a n k e n g a n g Dantes; er bedient sich, wie wir im vorigen bereits andeuteten, der Denkmittel der aristotelischen (und zugleich der platonisch-augustinischen) Philosophie: ...in omni genere rerum unum esse oportet quo generis illius omnia comparentur et ponderentur, et a quo omnium aliorum mensuram accipiamus; sicut in numero cuncta mensurantur uno, et plura vel pauciora dicuntur, secundum quod distant ab uno vel ei propinquant; et sicut in coloribus omnes albo mensurantur; nam visibiles magis dicuntur et minus, secundum quod accedunt vel recedunt ab albo. Et quemadmodum de hiis dicimus que quantitatem et qualitatem ostendunt, de predicamentorum quolibet, etiam de substantia, posse dici putamus: scilicet ut unumquodque mensurabile sit, secundum quod in genere est, illo quod simplicissimum est in ipso genere. Quapropter in actionibus nostris, quantumcunque dividantur in species, hoc signum inveniri oportet quo et ipse
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mensurentur. Nam, in quantum simpliciter ut homines agimus, virtutem habemus (ut generaliter illam intelligamus); nam secundum ipsam bonum et malum hominem iudicamus; in quantum ut homines cives agimus, habemus legem, secundum quam dicitur civis bonus et malus; in quantum ut homines latini agimus, quedam habemus simplicissima signa et morum et habituum et locutionis, quibus latine actiones ponderantur et mensurantur. Que quidem nobilissima sunt earum que Latinorum sunt actiones, hec nullius civitatis Ytalie propria sunt, et in omnibus comunia sunt: inter que nunc potest illud discerni vulgare quod superius venabamur, quod in qualibet redolet civitate, nec cubat in ulla. Potest tarnen magis in una quam in alia redolere, sicut simplicissima substantiarum, que Deus est, in homine magis redolet quam in bruto animali: [in bruto animali] quam in planta; in hac quam in minera; in hac quam in elemento, in igne quam in terra: et simplicissima quantitas, quod est unum, in impari numero redolet magis quam in pari; et simplissimus color, qui albus est, magis in citrino quam in viride redolet."
Dante deduziert hier gewissermaßen aus den Voraussetzungen der scholastischen Ontologie die platonische Idee einer italienischen Hochsprache, die einerseits als Norm und Maßstab über den realen Dialekten schwebt (Kant würde sagen: als regulatives Prinzip, dem nichts Empirisches korrespondieren kann) und die andererseits doch in allem empirischen Sprachverhalten der Italiener mehr oder weniger ihren Wider-schein hat (redolet, eigentlich: zurückduftet) und zwar — wie man mit Aristoteles sagen kann — je nachdem sie als entelechiale Form in der Materie der munizipalen Dialekte gemäß deren Potenz aktualisiert werden kann. Diese Aktualisierung wiederum ist das Werk der hervorragenden Dichter, die damit zugleich die Wirklichkeit des „vulgare illustre” als gemeinsamer Hochform aller italienischen Dialekte bezeugen129). Die Hochsprache, die Dante auf diesem spekulativen Wege gefunden hat, nennt er: „illustre, cardinale, aulicum et curiale vulgare in Latio, quod omnis latie civitatis est et nullius esse videtur, et quo municipalia vulgaria omnia Latinorum mensurantur et ponderantur et comparantur” (I, XVI, 6.)
Die Epitheta „cardinale, aulicum et curiale” könnten wiederum den Anschein erwecken, als habe Dante doch eine empirische Hofsprache vor Augen gehabt, und so ist das „vulgare illustre” in der Tat von den Vertretern einer gemein italienischen „lingua cortigiana” innerhalb der „Questione della lingua” verstanden worden130). Aber der „Angelpunkt” (cardo) eines gesetzgebenden Königshofes (aula bzw. curia), um den alles kulturelle Leben Italiens sich drehen könnte, besteht, wie Dante wohl weiß und beklagt, in Wirklichkeit gerade nicht, und daher weist das „vulgare cardinale, aulicum et curiale”, um das „die gesamte Schar der Munizipalsprachen (universus municipalium grex vulgarium) sich dreht”, nur auf die
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Wir folgen hier der Deutung von A. Marigo, a. a. 0. S. LXX f. u. S. 140 ff. So z. B. von Trissino, der die Theorie Dantes mit der B. Castigliones im „Cortegiano” identifiziert. Vgl. Th. Labande-Jeanroy, a. a. O. S. 126 ff. 130)
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M ö g l i c h k e i t einer Hofsprache hin: „ ... si aulam nos Ytali haberemus, palatinum foret” (I, XVIII, 2—3). Freilich versichert Dante, daß die vorhandenen „membra” eines italienischen Königshofes „gratioso lumine rationis unita sunt” (I, XVIII, 5); die Träger dieser spirituellen Einheit sind eben die Dichter, wie Cino de Pistoia und Dante selbst, in deren Kunst das „vulgare illustre” in angenäherter Form sich bereits verwirklicht hat. So kann Dante die spekulativ konzipierte Hochsprache „vulgare latium” bzw. „istud quod totius Ytalie est” nennen und von ihr sagen: „Hoc enim usi sunt doctores illustres (gemeint sind die Dichter) qui lingua vulgari poetati sunt in Ytalia . . .” (I, XIX, 1—2). Man wird — so scheint mir — der soeben referierten Theoriebildung Dantes den Charakter einer linguistisch relevanten „Sprach-Programmatik” nicht völlig absprechen können; dies auch dann nicht, wenn man berücksichtigt, daß der Dichter im zweiten Buch seines Traktates den Gebrauch des „vulgare illustre” auf die höchste Stilart innerhalb der volkssprachlichen Dichtung einschränkt. Die Auffassung des „ydioma” als „forma locutionis”, dieser wiederum als „signum actionis” erleichtert Dante den Übergang zur Begriffsbildung einer Poetik gemäß der aus der antiken Rhetorik überlieferten Lehre von den drei Stilarten131). Dennoch läßt sich m. E. ein Wechsel in der Fragestellung nicht übersehen. Im ersten Buch ist nicht nur von einer Stilart die Rede, die in jedem Munizipaldialekt Italiens zu verwirklichen wäre, sondern von einer allen italienischen Dialekten gemeinsamen idealen Form (die in der etymologischen Latinität der „lingua si” überhaupt auch ein gewisses linguistisches Kriterium hat, das z. B. bei der Verurteilung der Dialekte von Turin, Alexandria und Trient (I, XV, 8) zur Geltung gebracht wird). Zuletzt geht Dante so weit, von der im Sprachgebrauch der lyrischen Dichtung bereits aktualisierten italienischen Gemeinsprache zu reden — damit hat er sich m. E. zweifellos zum Inaugurator der italienischen und darüberhinaus der europäischen Instauratio nationaler Schriftsprachen gemacht. Mag immer die Nichtbeachtung des Unterschieds von empirisch-linguistischer und rhetorischstiltheoretischer Begriffsbildung bei Trissino und den übrigen Vertretern der antitoskanischen These der „Questione della lingua” später aus Dantes Sprachprogrammatik eine irreführende Konzeption der italienischen Gemeinsprache abgeleitet haben: wesentlicher als die (notwendige) Klärung der Voraussetzungen des italienischen Sprachenstreites scheint mir für eine Geschichte der abendländischen Sprachidee der Gesichtspunkt zu sein, daß bei Dante m . W. zum ersten Mal in der uns bekannten Geistesgeschichte — im Zusammenhang mit den Problemen einer Poetik — die Idee einer noch nicht bestehenden sondern durch menschliche Kunst erst zu schaffenden Sprache entworfen wird. Verständlich wird diese Konzeption nur aus der geschichtlichen Situation eines Denkers, der in der
131)
Vgl. H. W. Klein, a. a. 0. S. 29.
121
Spannung zwischen den Sprachen zweier „Kulturgenerationen” (Toynbee) steht: dem Lateinischen als der geregelten, aber nicht mehr im Volke lebendigen Sprache der „artes sermonicales” (insbesondere der „Grammatik” und „Rhetorik”) und dem „Volgare” als der lebendigen, aber nicht geregelten Sprache, welche nur durch die im Sinne der „artes” kunstgemäße Dichtung zur „lingua regulata” emporgeläutert werden konnte. So betrachtet ist der besondere Charakter der spekulativen Sprachprogrammatik Dantes, ihre Parallelisierung mit einem Thema der Poetik, gewissermaßen von der Sache gefordert; denn die Sprache gehört zu jenen Grundcharakteren der wesenhaft zukunftoffenen menschlichen Existenz, die prinzipiell nicht wie ein innerweltlich vorfindliches Ding durch eine empirische Wissenschaft zureichend erfaßt werden können. Diese ontologische Struktur exemplifiziert sich in der abendländischen Geistesgeschichte in dem Umstand, daß die Aufgabe der SprachProgrammatik niemals durch eine empirische Linguistik gelöst wurde. Auch bei vollkommenster Ausbildung dieser Wissenschaft wäre das nicht möglich: Die „Theoriebildung” muß im Falle des noch unfertigen Seins der Sprache mit Notwendigkeit einen dogmatischen Charakter annehmen, d. h. sie muß sich über einen programmatischen Entwurf des Ideals vermitteln. Eben diese Aufgabe einer im strengen Sinne nicht theoretisch-wissenschaftlichen, dafür aber die Zukunft mitbegründenden Denkens, leistet für Dante der Umweg über die Kunstlehre der hohen Dichtung, genauer: über die Propagierung eines bestimmten Stilideals. Auf einem ähnlichen Wege dogmatisch-aesthetischer Idealbildung hat die auf Dante folgende Zeit der sich formierenden europäischen Nationalkulturen das praktisch aufgegebene Problem der Sprache in „Akademien” und „Sprachgesellschaften”, in normativen „Grammatiken”, „Poetiken” und „Denkschriften” (Vgl. etwa Leibnizens „Unvorgreifliche Gedanken . . .” von 1697) in Angriff genommen. Die Verifikation eines solchen Denkens vollzieht sich nicht in dem von jedem beliebigen Beobachter zu leistenden Nachweis bestimmter innerweltlich vorfindlicher Tatsachen, sondern darin, daß das propagierte Stilideal praktisch geschichtsmächtig wird und damit neue Tatsachen schafft. Eine solche Verifikation durch die sprachschöpferische Tat ist in Dantes programmatischer „Theoriebildung” ausdrücklich vorgesehen132), und sie ist von ihm selbst in wahrhaft Geschichte gründender Form geleistet worden durch die „Commedia Divina”, die ihre Abfassung in der Volkssprache wesentlich der sprachphilosophischen Besinnung in „De vulgari eloquentia” verdankt. — Freilich fügt sich die Sprache der „Commedia” weder in linguistischer noch in stiltheoretischer Hinsicht ohne Schwierigkeiten in das von Dante entworfene theoretisch-programmatische
132)
Vgl. besonders „De v. e.”, II, IV, 2 (dazu A. Marigo, a. a. 0. S. LXXII).
122
Schema. Denn einerseits beruht diese Sprache, weit mehr als Dante „theoretisch” zugestand, auf florentinischer Grundlage, zum anderen läßt sie sich auch nicht — was nach seiner Theorie den florentinischen Sprach-gebrauch einigermaßen entschuldigen könnte — auf die einer „Commedia” zustehende Stilart des „vulgare humile” zurückführen. Hierin bezeigt sich abermals der prinzipielle Hiatus zwischen wissenschaftlich-allgemeingültiger Theorie und Geschichte gründender Praxis. Wenn die m. E. nicht restlos aufhebbaren, sondern „in der Sache” gegründeten Widersprüche in Dantes Sprachdenken — zwischen seiner Latinität und seiner Apologie des Volgare, zwischen seiner „Linguistik” und seiner „Poetik”, endlich zwischen seiner theoretischen Programmatik insgesamt und seiner dichterischen Praxis — in der Folgezeit besonders in Italien zu endlosen, von Mißverständnissen nicht freien Diskussionen über die Problematik der Sprache geführt haben, so liegt gerade hierin kein Anlaß zu einer nachträglichen Diskreditierung von Dantes sprachphilosophischem Traktat133), sondern es bezeugt sich darin seine großartige Zeitgemäßheit. Die unausgeglichenen Spannungen innerhalb der Schrift selbst und in ihrem Verhältnis zu den anderen Werken des Dichters erhellen letztlich die Schwierigkeiten einer theoretischen Bewältigung der zugleich praktisch aufgegebenen Sprachsituation. Daß eine nationale Schriftsprache über die Sprachtat des sprachmächtigen Individuums Wirklichkeit wird — dies bezeichnet, geschichtsontologisch analysiert, ganz allgemein die Struktur der schöpferischen Kulturstiftung als Synthese und Neugründung. Man denkt etwa an Luthers Bibelübersetzung, die in Verbindung mit der höfischen Kanzleisprache in Deutschland eine ähnliche Wirkung hatte wie Dantes Dichtung in Italien. Die besondere Bedeutung von Dantes Traktat „De vulgari eloquentia” liegt aber darin, daß der so unendlich komplizierte Vorgang der dichterischen Begründung einer Nationalsprache gleichzeitig in das Licht bewußter Programmatik gerückt wird. Mit dieser bewußten Idealbildung in Anknüpfung an die antiken Kunstlehren von der Rede hat Dante das charakteristische Kulturproblem der auf ihn folgenden Epoche gestellt: die Umbildung der lateinischen Einheitskultur des mittelalterlichen Abendlandes zum nationalsprachlichen Literatursystem Neueuropas.
133) In der Tat ging man ja vielfach so weit, diesen für eine Fälschung zu erklären (vgl. A. Marigo, a. a. 0. S. LXIV, n. 1).
123
Kapitel IV. Die europäische A u s w i r k u n g der S p r a c h i d e e Dantes und der i t a l i e n i s c h e n L i t e r a t u r b e w e g u n g im Zeichen des Humanismus (ein Vorblick). Im Ausgang des Mittelalters mit seinem wachsenden Handel, seinem Aufblühen einer stadtbürgerlichen Kultur, der Herausbildung des europäischen Staatensystems (Ranke), der ersten, noch religiös verbrämten Festlegung des nationalen Patriotismus (in Italien von der Guelfenbewegung über Cola di Rienzo bis Machiavelli, in Frankreich und England durch den Hundertjährigen Krieg, gipfelnd im Ketzerprozeß der Jeanne d'Arc, in Böhmen durch die Hussiten, in Deutschland durch die lutherische Reformation, in Spanien durch die Reconquista und die Begründung des überseeischen Kolonialreiches im Wettbewerb mit Portugal, in den Nieder-landen schließlich durch den achtzigjährigen Freiheitskrieg gegen Spanien, um nur die für unser Sprachproblem wichtigsten nationalen Bewegungen zu erwähnen) — in diesem sich differenzierenden Europa, in dem zugleich mit den religiösen Aufbrüchen aus dem archaischen Untergrund und Eigengrund der Völker die Buchdruckerkunst erfunden wurde, mußte die Schaffung nationaler Schrift- und Literatursprachen für Jahrhunderte zum zentralen Kulturproblem werden. Dantes Traktat „De vulgari eloquentia” ist nach Dornseiff 134) „Programmschrift für jenen Vorgang, der ungefähr gleichzeitig gegen Ende des Mittelalters in England, Deutschland, Italien stattgefunden hat und dem die heute gesprochenen einheitlichen Sprachen dieser Länder ihr Dasein verdanken”. Ähnlich urteilt K. Burdach 135): „In dem Buch über die Vulgärsprache ist der Begriff der nationalen kunstgemäßen Schriftsprache entdeckt worden. Das ist die epochemachende Bedeutung des Werkes für das moderne Europa. Die gesamte europäische Bewegung der nationalen Renaissanceliteraturen zehrt von ihm.” Burdach glaubt auch, unmittelbare Auswirkungen von Dantes Schrift feststellen zu können, die selbstverständlich nicht losgelöst von ihrer dichterischen Bekräftigung in der „Commedia Divina” sowie von der führenden Rolle Italiens in Literatur und Gelehrsamkeit der humanistischen
134) 135)
Dornseiff, a. a. 0 . S. 7. K. Burdach: Vorspiel, I. Bd., 2. Teil, Halle 1925, S. 52.
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Bewegung gesehen werden dürfen. Noch zu Lebzeiten Dantes vermutet er eine Einwirkung seiner politischen und literarisch-grammatischen Ideen auf Deutschland: „Es ist noch niemals ausgesprochen worden, obwohl der längst anerkannte Zusammenhang zwischen der antipäpstlichen Publizistik unter Ludwig dem Bayern mit italienischen Politikern und Theologen, insbesondere auch mit Dantes Traktat über die Monarchie, es nahe genug legte, daß die Anerkennung der nationalen Sprache als offiziellen Ausdrucksmittels der königlichen Kanzlei durch den Anstoß bewirkt oder befördert ist, welchen Dantes Abhandlung über die vulgäre Beredsamkeit gegeben hat."136)
Als nächste Station der Einflußnahme Dantes und seiner frühhumanistischen Nachfolger auf die Ausbildung speziell der deutschen Schriftsprache sieht Burdach die Hofkanzlei Karls IV. in Prag, wo Johann von Neumarkt, der Kenner Dantes, „Bewunderer und Nachahmer Petrarcas und Rienzos” zum „Mitbegründer des neuhochdeutschen Sprachtypus in der böhmischen Kanzleisprache" 137) wird. Für Italien selbst begann die unmittelbare Auswirkung der in Dantes Schrift vorgetragenen Sprachprogrammatik erst nach ihrer Wiederentdeckung im 16. Jahrhundert138). In der Zwischenzeit entstand dort die scheinbar zur Entdeckung der Muttersprache gegenläufige Bewegung des lateinischen Humanismus. Wir werden auf die komplizierte Dialektik der italienischen „questione della lingua” (in dem oben S. 99 angedeuteten erweiterten Sinn dieses Topos) noch zurückkommen (s. unten S. 201 ff.). Im Hinblick auf ihre europäische Bedeutung muß hier schon gesagt werden, daß sie gleichsam als eine ausführliche Wiederholung und für alle übrigen Nationen paradigmatische Diskussion der von Dante aufgeworfenen Fra-gen in zwei Phasen betrachtet werden kann: In der ersten Phase, in der Dantes Traktat, wie es scheint, vergessen war, seine Commedia aber zusammen mit Petrarcas Canzoniere und Boccaccios Decamerone bereits als maßgebendes Muster einer modernen Nationalliteratur wirkte, ging der Streit um die von Dante gleich in der Einleitung des Traktats aufgeworfene und positiv entschiedene Frage nach der Würde und Brauchbarkeit des Volgare als Medium der hohen Dichtung. Der Kampf währte volle zwei Jahrhunderte und schien vorübergehend (so besonders im 15. Jahrhundert) zugunsten des erneuerten Lateins ausgehen zu wollen. Die zweite Phase, die durch die Interpretation von Dantes Traktat „De vulgari eloquentia” durch Trissino (um 1515) und den endgültigen Sieg der Volkssprache durch Bembos „Prose della volgar lingua” (1515) eingeleitet wird, wiederholt, teilweise von Dantes Traktat unmittelbar ausgehend, noch einmal die
136)
Ebda. S. 52. Ebda. S. 53. 138) Vgl. H. W. Klein: Latein und Volgare in Italien, München 1957, S. 67 ff. 137)
125
„Jagd” nach der „angemessensten und erlauchtesten Sprache Italiens”. Sie endet in Italien erst mit Manzonis praktischer und theoretischer Entscheidung für das Florentinische bei gleichzeitiger Neuinterpretation von Dantes Traktat im Sinne einer Poetik, wodurch die seit Trissino aus Dante geschöpften Argumente für eine synthetische, gemeinitalienische Sprache entkräftet wurden139). Für uns liegt die Bedeutung dieser gesamten spezifisch italienischen Kulturproblematik in der für Europa maßgebenden Durchdringung der Entdeckung der Muttersprache mit dem Sprachideal des zunächst nur lateinisch orientierten Humanismus. Auch diese Durchdringung, die am Ende der lateinischen Phase des Sprachhumanismus mit Bembos „umanesimo volgare” und der Sprachregulierung der „Accademia della Crusca” stattfindet, ist, wie früher schon betont (s. oben S. 116), bereits bei Dante in der Vorbildlichkeit des Lateins als „lingua gra[m]matica” für alle künstliche Sprachregulierung im Grundzug vorweggenommen. Da wir über Ursprung und Eigenart des humanistischen Sprachbegriffs noch ein-gehend handeln wollen, sei hier zunächst ein Vorblick auf die europäische Entdeckung und programmatisch-theoretische Deutung der Muttersprache in den auf Dante folgenden Jahrhunderten gegeben: Seit etwa 1310 wird nach L. Weisgerber140) in den Urkunden Heinrichs VII. und vor allem Ludwigs des Bayern immer häufiger auf die „ m a t e r n a lingua " hingewiesen; seit 1275 gibt es deutsch abgefaßte Kaiserurkunden, um 1330 ist der Sieg des Deutschen in der kaiserlichen Kanzlei entschieden. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts erscheinen in allen germanischen Ländern Belege der Prägung „ m o d u r m a l ". In England verläuft in demselben Jahrhundert nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Latein, gipfelnd in Wiclifs Bibelübersetzung, sondern es setzt sich auch das einheimische Englisch wieder gegen das Französisch der anglonormannischen Herren durch. (Noch Gower schreibt französische und lateinische neben englischen Werken, Chaucer schafft, angeregt durch Dante, Petrarca und Boccaccio, die entsprechenden großen Muster englischer Literatur, der Begründer der Buchdruckerkunst in England, W. Caxton, fixiert im 15. Jahrhundert die neuentstandene englische Schriftsprache.) In Böhmen formiert sich neben der deutschen Kanzleisprache auch die tschechische Volkssprache: Thomas von Stitney (1401) behandelt in ihr theologische Fragen, seit 1405 schreibt Hus auch tschechisch und reformiert die tschechische Rechtschreibung141). War schon bei Dante die Erweckung des Nationalgefühls für „das ganze Italien” (De vulgari eloquentia, I, XVIII-XIX) mit der Entdeckung der Muttersprache verbunden gewesen,
139)
Ebda. S. 96 ff. L. Weisgerber: Die Entdeckung der Muttersprache ..., a. a. 0. S. 73. 141 ) Fr. Heer: Europäische Geistesgeschichte, Stuttgart 1953, S. 201 f. 140 )
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so steigert sich dieses Motiv bei den ersten neuzeitlichen Eroberernationen, Spanien und Portugal, zur ersten neueuropäischen Proklamation eines Sprachimperialismus142). In der Vorrede zur ersten spanischen Grammatik des Elio Antonio Martinez de Calo aus Nebrija (Gramática de la Lengua Castellana, Salamanca 1492 (!)) wird neben dem Danteschen Ziel der Fixierung des natürlichen Sprachwandels und der Verewigung der kastilischen Heldenchronik und Dichtung die Sprache als „ c o m p a ñ er a d e l im p e r i o ", die von allen der spanischen Krone unterworfenen Barbarenvölkern anzunehmen sei, feierlich herausgestellt. Ähnlich verfahren die ersten in Portugal erscheinenden Grammatiken von 1536 und 1540. Auch in Frankreich143) findet sich seit dem Appell des Staatsmannes Claude de Seyssel von 1509 (wie die alten römischen Kaiser, so solle auch Frankreichs König Ludwig XII. dem Ausbau der französischen Sprache aus innen- und außen-politischen Gründen — womit auf die Eroberung Norditaliens angespielt wird — seine Aufmerksamkeit schenken) der Gesichtspunkt der Sprache als Befestigerin der nationalen Einheit und Größe geradezu als Leitmotiv in den Werken der Grammatiker (Rob. Estienne, Meigret, Du Bellay, de la Ramée, Henri Estienne u. a.). In Deutschland und in den Niederlanden verbindet sich der Sprachpatriotismus von vorneherein mit religiös-spekulativen Impulsen aus dem Bereich der Logosmystik (so bei den Schwarmgeistern der Reformation) und der Suche nach der adamitischen Ursprache. Wir werden diese Ansätze im Rahmen unserer Geschichte des Sprach-Humanismus nur am Rande berühren (vgl. besonders Kap. VII d). Hier seien nur die grammatischen Bestrebungen insoweit erwähnt, als sich auch in ihnen die mit Dante in Italien angebahnte nationalsprachliche Entwicklung überhaupt fortsetzt. Dies geschieht in den Niederlanden (insbesondere in dem flämischen Süden!) im Zusammenhang mit dem Freiheitskrieg gegen Spanien, der zugleich die Loslösung der nördlichen „Generalstaaten” vom deutschen Reich zur Folge hat. Weisgerber sieht in diesem politischen Zusammenhang den Hauptgrund dafür, daß „die Niederlande um 1600 eine Hochburg sprachlicher Bemühungen” sind144). Von ihr angeregt sind wiederum die zahlreichen deutschen „Sprachgesellschaften”, die auf den sprachlichen und allgemein kulturellen Notstand des Dreißigjährigen Krieges antworten, indem sie für die „uralte, teutsche Haupt- und Heldensprache” und ihre Reinerhaltung eintreten.
142)
L. Weisgerber, a. a. 0. S. 76 ff. Vgl. auch Harri Meier: Spanische Sprachbetrachtung u. Geschichtsschreibung am Ende des 15. Jahrhunderts. In: Roman. Forschungen, XLIX. Bd., 1935, S. 1-20. 143) Ebda. S. 80 f. 144) Ebda. S. 95.
127
Diese nationalsprachliche Selbstfindung der europäischen Völker fällt nun, wie schon betont wurde, während der ganzen Dauer ihrer grammatisch-schulmäßigen Grundlegung zusammen mit der universalen Gelehrten-Bewegung der Wiederentdeckung des klassischen Lateins, die wiederum von Italien ausgeht. Die Bedeutung dieser Synchronisierung, die charakteristisch ist für das Abendland als Tochterkultur, in der alle Selbstfindung mit erneuter Zuwendung zur Antike verzahnt ist, liegt im Rahmen unserer Untersuchung weniger in den faktischen Kämpfen zwischen Latein und Muttersprache als in den sprachtheoretischen Begriffen, die sich daraus ergaben, daß das noch unreflektierte Verhältnis der modernen Europäer zu ihrer Muttersprache nur vermittels der vorgeprägten Sprachauffassung des lateinischen Humanismus zu seinem Selbstverständnis gelangen konnte: Mit der Rezeption der italienischen Renaissance durch das übrige Europa wurde das Latein ein zweites Mal maßgebend für die Ausbildung einer „Idee der Sprache” im Abendland. Dantes „Entdeckung der Muttersprache” entfaltet ihre europäische Wirksamkeit im Rahmen des Humanismus. Es muß in diesem Zusammenhang nochmals auf die Entwicklung der stadtbürgerlichen Kultur und die ihr zutiefst zugehörige Erfindung des Buchdrucks hingewiesen werden. Allenthalben im Europa des späten Mittelalters war die lange geübte (am spätesten und wenigsten in Italien zur Blüte gelangte) primär mündliche Sprachkunst der höfisch-feudalen Dichtung in der Muttersprache im Schwinden. War noch für Dante selbst der Zusammenhang mit dem „dolce stil nuovo” der italienischen Minnesänger und damit der Beitrag Italiens in dem von provenzalischen „Troubadours” und französischen „Trouvères” eröffneten Wettbewerb der höfischritterlichen Dichtung von großer Bedeutung, so richtete sich das Bedürfnis der Folgezeit immer mehr auf eine Sprache des schriftlichen Prosaverkehrs in Gelehrsamkeit, Recht, Staat, Geschäftsleben, wie sie als Vehikel einer städtisch-bürgerlichen Kultur benötigt wurde. Hier wurde Dantes Anerkennung der Volkssprache eigentlich erst epochemachend (es ist daher bezeichnend, daß sein Traktat in den Streitigkeiten der Questione della lingua nicht als Poetik, sondern als Forderung einer nationalen Verkehrssprache verstanden wurde), entsprach sie doch einem echten Vorsprung Italiens, insbesonderes der Toskana, in der gesellschaftlichen Entwicklung Europas. Hier aber wurde nun auch die lateinische Grammatik und Rhetorik der Humanisten wichtig, sofern sie, wie K. Burdach betont, für die Schulmeisterfunktion in der Auffassung und Formierung einer jungen Schriftsprache ganz besonders geeignet war. (Wir werden später noch zu zeigen haben, wie diese Konstellation in der Ebene einer konventionellen „Bildung” den dichterischen Ursprung der Sprache besonders in Deutschland zunächst verdecken mußte.)
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In Italien wurde zuerst, wie Burdach es ausdrückt, „die Landessprache .. . innerhalb der lateinischen Grammatik verwendet”. „Hier übertrug man Laurentius Vallas Bemühungen um die lateinische Grammatik und Stilistik auf das vaterländische Idiom und suchte den mustergültigen Ausdruck, die normale Sprachform und die korrekte Orthographie festzustellen"145). Die italienischen Bestrebungen um eine „lingua regolata” von Fortunio (1516) bis zu Salviati und der Accademia della Crusca (1582) finden Nachahmung in Frankreich: „Buchdrucker und Gelehrte, wie Tory und Dolet, Beza, J. J. Scaliger, Du Bellay, Robertus und Henricus Stephanus, untersuchen die Aussprache des Französischen, trachten ihrem Schwanken durch Regeln abzuhelfen, die Schreibung zu fixieren"146).
Von den Romanen insgesamt geht wieder die stärkste Wirkung auf die Regulierung und Disziplinierung der Schriftsprache in England, den Niederlanden und in Deutschland aus, wo sie durch die Entstehung der neu-hochdeutschen Grammatik147), durch das für den Schulbetrieb maßgebende Bündnis des Humanismus mit der Reformation (Melanchthon) und, gleichsam in zweiter Welle vorwiegend französischen Ursprungs, durch die Bestrebungen zur Reform der Poetik von Opitz bis Gottsched belegt ist. Für uns kommt es nun im Hinblick auf das Ziel unserer Untersuchung darauf an, den Sprachbegriff zu bestimmen, von dem aus der Humanismus die Deutung und damit zugleich die Formierung der europäischen Sprachen in Angriff nahm. Weiter haben wir dann zu fragen, in welchem Verhältnis der humanistische Begriff der geschichtlich konkreten Volkssprache zu den beiden anderen Keimpunkten der Sprachauffassung im Ausgang des Mittelalters steht: zu dem nominalistischen Zeichenbegriff und zur Erfahrung des persönlichen und allgemeinmenschlichen Sprachursprungs im Denkbereich der Logosmystik.
145)
K. Burdach, a. a. O. S. 53. Ebda. 147) Vgl. M. H. Jellinek: Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik, Heidelberg 1913, S. 34 ff. 146)
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2. ABSCHNITT
DI E FRAGE NACH DEM S P R A C H B E G R I F F DES H U M A N I S M U S . Die Tatsache, daß die schulmäßige, grammatische Behandlung der Volkssprache in ganz Europa zunächst in der Hand humanistischer Gelehrter lag, bringt, wie schon betont wurde, für eine Geschichte der abendländischen Sprachidee die Notwendigkeit mit sich, ein zweites Mal das Verhältnis zum universalen Latein als maßgebend für die Sprachidee überhaupt ins Auge zu fassen. Führte die Autorität des Lateins und der in ihm aufbewahrten Kulturtradition im Bereich der Scholastik zunächst zu dem großangelegten Verifikationsversuch der Sprachlogik und der spekulativen Grammatik, um dann im Ockhamismus in prinzipielle, programmatische Abkehr von der Sprachbefangenheit des Denkens umzuschlagen, so handelt es sich beim Humanismus einmal um die Wiederaufnahme der rein grammatischrhetorischen Bemühung um die literarische Tradition der Antike (insbesondere der Kirchenväter) ohne, ja gegen die Ansprüche voraussetzungsloser dialektischer Diskussion und wissenschaftlicher Verarbeitung, wie sie seit dem 12. Jahrhundert zur europäischen Schulwissenschaft geführt hatten, zum anderen um die Neuentdeckung des Lateins selber und damit zugleich der gesamten literarischen Tradition im Lichte einer zunächst nationalitalienischen Rückbesinnung auf die römische Vergangenheit. Hier — d. h. bei der Idee der Latinität im Kreise der italienischen Humanisten — müssen wir demzufolge auch die erste Auskunft über die Sprachauffassung des Humanismus überhaupt suchen. Es erhebt sich die Frage, ob und wieweit im Humanismus der sogenannten „Renaissance” überhaupt ein neues Verhältnis des Abendlandes zur Sprache sich darstellt. Maßgebend für das sprachliche Wollen der ersten Humanisten waren einmal die Kirchenväter (insbesondere Hieronymus, der Übersetzer!) und andererseits Cicero, Quintilian und Boethius. Sie alle, die Christen und die Heiden, waren Repräsentanten römischer, rhetorischer Kultur und vor allem Vorbilder der in Italien neu ergriffenen Mission der Latinität, das universale und endgültige, schlechthin menschliche Gefäß der religiösen und profanen Weltliteratur zu sein148). Wir wollen daher zunächst die römische Vorgeschichte des Sprachhumanismus betrachten.
148)
Vgl. G. Toffanin: Geschichte des Humanismus, Wormerveer 1941, S. 201-216.
130
Kapitel V
Die S p r a c h i d e o l o g i e des römischen O r a t o r s als Fundament des e u r o p ä i s c h e n Sprachhumanismus.*) Cicero hat das große Programm des römischen Humanismus begründet, die philosophische Weisheit der Griechen. „latinis litteris” zu „illustrieren"149); er glaubte, auf diesem Gebiet bereits so viel erreicht zu haben, daß die Römer „ne verborum quidem c o p i a ” von den Griechen übertroffen würden150). — Hiermit sind bereits zwei charakteristische Topoi des abendländischen Sprachhumanismus zitiert: die „Illustration” (d. h. „Erklärung” und zugleich „Verherrlichung” und „Berühmtmachung”) eines ererbten weltgültigen Bildungsgutes in einer bestimmten geschichtlichen Sprache und, dieser Aufgabe entsprechend, die Frage nach der „copia verborum”, die allein eine Sprache zum Gefäß der überlieferten Weisheit tauglich macht. Beide Topoi begleiten den Sprachhumanismus bis in die nationale Programmatik der neueuropäischen Volkssprachen (vgl. Dantes Proklamation des „volgare illustre” und die „Deffence et illustration de la langue françoyse” Du Bellays); noch in Leibnizens „Unvorgreiflichen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache” spielt der Gesichtspunkt der „copia verborum” neben dem anderen Topos der „elegantia” (,,Zierlichkeit”) eine wichtige Rolle. Schon bei Cicero ging es — um in Du Bellays Version des Topos zu denken — um „Verteidigung und Illustration” einer neuen Sprache im Wettbewerb mit einer älteren, berühmteren Kultursprache. Denn „viele, die in griechischer Bildung unterwiesen waren, konnten das, was sie gelernt hatten, ihren Mitbürgern nicht mitteilen, weil sie kein Zutrauen hatten, daß das, was sie von den Griechen empfangen hatten, auf lateinisch gesagt werden könne"151).
An anderer Stelle beklagt sich Cicero darüber, wie schwer es sei, denen Genüge zu leisten, „die von sich sagen, daß sie das in lateinischer Sprache Geschriebene verachten ...”, die „bei schwierigen Problemen (in gravissimis rebus) die angestammte Sprache (patrius sermo!) nicht erfreut."152)
*) Sperrungen im Text stammen vom Verfasser; sie dienen zur Hervorhebung der für den Sprachhumanismus charakteristischen „Topoi”. 149) Cicero: Tusc. I, 1; vgl. Petrarca: Herum memorand. 1, S. 396, (Toffanin, a. a. 0. S. 449). 150) Cicero: De natura Deorum I, 4, 8. 151)Ebda. 152) Cicero: De finibus, I, 2, 4.
131
Immer wieder verteidigt Cicero in diesem Zusammenhang die „copia verborum” des Lateinischen: „Saepe diximus... nos non modo non vinci a Graecis v er b o rum c o p i a , sed esse in ea etiam superiores".153) An anderer Stelle heißt es: „ ... ita sentio et saepe disserui, L a t i n a m l i n g u a m non modo non in o p e m, ut vulgo putarent, sed l o c u p l e t i o r e m etiam esse quam G r a e c a m ."154) Diese Behauptung muß neu und kühn gewesen sein; denn noch Seneca und Lukrez klagen über die „ e g e s t a s ” bzw. „ p a u p e r t a s " der lateinischen Sprache155). Aber Cicero glaubt, durch seine sprachschöpferische Tätigkeit die Ebenbürtigkeit des Lateinischen mit dem Griechischen erwiesen zu haben. Dies läßt er sich durch Caesar und Brutus bestätigen: „Amice, hercule, inquit, et magnifice te (seil. Ciceronem) laudatum, quem non solum p r i n c i p e m atque in v e nt o r e m c o p i a e dixerit (sc. Caesar), quae erat magna laus, sed etiam bene meritum de populi Romani nomine et dignitate. Quo enim uno vincebamur a victa Graecia, id aut ereptum illis est aut certe nobis cum illis communicatum."156)
Auch Quintilian bescheinigt Cicero, daß er „ vim Demosthenis, c o p i a m Platonis, i u c u n d i t a t e m Isocratis” bewiesen habe157). Der größte Kirchenvater des Abendlandes, Augustinus, schloß sich dieser Hochschätzung Ciceros an und bekräftigte zugleich die Idee der lateinischen Kulturmission: „Ergone Cicero sapiens non fuit, a quo in latina lingua philosophia et inchoata est et perfecta."158)
Durch ihn, Ambrosius und Hieronymus wurde nun das Latein, das bereits durch Cicero zum Gefäß der heidnischen Weisheit geworden war, zur Sprache der römisch-katholischen Kirche159) und damit zur dritten „heiligen Sprache” des abendländischen Christentums, die als Gefäß der göttlichen Offenbarung berufen war, durch die Überlieferung der Wahrheit
153)
Ebda. III, 1. Ebda. I, 3. 155) Lukrez bezeugt in seinem philosophischen Gedicht „De rerum natura”: „Nec me animi fallit Graiorum obscura reperta / difficile inlustrare Latinis versibus esse, / multa novis verbis praesertim cum sit agendum / propter e g e - s t a t e m linguae et rerum novitatem” (I, 139 ff.), und ferner „Nunc et Anaxagorae scrutemur, ,homoiomerian`, / quam Graeci memorant nec nostra dicere lingua / concedit nobis patrii sermonis e g e s t a s ” (I, 832 ff.). Seneca schreibt: „Quanta verborum nobis p a u p e r t a s , immo egestas sit, numquam magis quam hodierno die intellexi. Mille res inciderunt, cum forte de Platone loqueremur, quae nomina desiderarent nec haberent, quaedam vero, quae cum habuissent, fastidio nostro perdidissent. Quis autem ferat in e g e s t a t e fastidium? (Ep. 58).” 156) Cicero: Brutus 73. 157) Quintilianus: Inst. orat. X, I, par. 108—9 (Toffanin, a. a. 0. S. 450). 158) Augustinus: Contra Academicos, Lipsiae 1922, S. 9 (Toffanin S. 108). 159 ) Wie Th. Klauser nachgewiesen hat, wurde erst zwischen 360 und 382 die griechische Liturgiesprache in Rom offiziell aufgehoben und die lateinische verbindlich eingeführt (E. R. Curtius, a. a. 0. S. 77). 153)
132
inhaltlich und formal den Folgen der babylonischen Sprachverwirrung unter den Menschen entgegenzuwirken. Es ist hier daran zu erinnern, daß das Bündnis der Kirche mit dem römischen Sprachhumanismus Ciceros den charakteristischen Gegensatz der abendländischen Christianisierung zur Mission der Ostkirche ausmacht160). Während die Reformation mit ihrer Tendenz zur Volkspredigt und zur Bibelübersetzung in die Volkssprachen sich teilweise [so besonders bei dem Slovenen
160 ) E. Benz schreibt in seinem Buch „Geist und Leben der Ostkirche” (Hamburg 1957), S. 67: „Besonders auffällig und von der Kirche selbst gefördert war die sprachliche Differenzierung. Wurde doch von Anfang an das pfingstliche Sprachwunder bei der Ausgießung des Heiligen Geistes als eine göttliche Sanktionierung der verschiedenen Volks- und Nationalsprachen und ihre Erhebung zum Instrument der Reich-Gottes-Verkündigung verstanden.” (a. a. O. S. 67) „Diese Anschauungen werden noch heute dem orthodoxen Gläubigen in der Liturgie vorgehalten: „Mit Zungen fremdartiger Völker hast deine Jünger du, Christus, erneut, damit sie durch sie Herolde seien Gottes, des unsterblichen Wortes, das unsern Seelen darreicht das große Erbarmen ... Einst wurden die Zungen verwirrt ob des Turmbaus Frevels. Doch jetzt wurden Zungen mit Weisheit erfüllt ob der Herrlichkeit der Gotteserkenntnis. Dort hat Gott die Frevler durch die Sünde verdammt. Hier hat Christus durch den Geist die Fischer erleuchtet. Dort wurde das Verklingen der Sprache zur Strafe verhängt. Jetzt wird das Zusammenklingen der Sprachen zum Heil unserer Seelen erneut .. . Die erscheinende Kraft des göttlichen Geistes hat die einst zerteilte Stimme derer, die schlecht übereinstimmen wollten in ihren Gedanken, heilig vereint zu einer Gesinnung der Eintracht, indem sie die Einsicht der Gläubigen gab zur Erkenntnis der Dreiheit, in der wir wurden befestigt ... Als er herniederfahrend die Sprachen verwirrte, hat zerteilt die Völker der Höchste. Als er die Feuerzungen austeilte, rief er alle zur Einheit. Und im Einklang besingen in Hymnen wir den allheiligen Geist.” Diese theologische Grundhaltung ist der Anlaß dafür geworden, daß die orthodoxen Missionare aller Länder und Epochen sich bemüht haben, den von ihnen missionierten Völkern das Evangelium und die Liturgie in ihrer Volkssprache zu bringen. Dadurch ist gerade von der orthodoxen Mission im Westen und Osten, auf germanischem, slawischem, kleinasiatischem und zentralasiatischem Boden der stärkste Impuls zur Sprachschöpfung ausgegangen.” (A. a. O. S. 91) Die markantesten Zeugnisse dieser sprachschöpferischen Leistung der Ostkirche in Europa sind bekanntlich die gotische Bibel des Wulfila (311—383) und die kirchenslawische Literatur, die aus der Missionstätigkeit der beiden Griechen Kyrill (g 869) und Method (g 885) hervorging. Hier war sprachtheologisch und geschichtlich schon vor der lateinischen Mission des karolingischen Abendlandes die religiöse Erweckung und Entdeckung der Muttersprachen vorweggenommen, die, aus Logosmystik und Reformation (insbesondere aus den Schwärmerbewegungen des Untergrundes) gespeist, zu Beginn der Neuzeit in Europa sich gegen die lateinische Sprachideologie kirchlicher und humanistischer Provenienz durchsetzt. In der Tat führte die Reformation unter den Slawen zur Konstitution von Nationalsprachen in Gebieten, die beinahe schon 600 Jahre früher von Byzanz aus eine eigene Kirchensprache erhalten hätten; so z. B. in Böhmen und Mähren, wo die Mission der byzantinischen Slawenapostel ursprünglich eingesetzt hatte und auch bereits eine slawische Kirchenprovinz mit slawischer Kirchensprache eingerichtet war (vgl.
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Primus Trubar] mit der ostkirchlichen Auffassung der Pfingstgeistausgießung als Heiligung aller Sprachen berühren kann, wird der Humanismus zunächst — selbst bei Luther — die mittelalterliche Auffassung von den drei heiligen Sprachen bestärken, wie später noch zu zeigen sein wird (s. unten S. 267 f.).
Indem sich schon im Denken der Kirchenväter weitgehend die spirituelle Weisheit der antiken Dichter und Philosophen, besonders Platons und seines lateinischen Erneuerers Cicero, mit der heiligen Überlieferung der Bibel versöhnte und durchdrang, wurde die lateinische Sprache zum Gefäß sowohl der religiösen wie auch der profanen Weltliteratur. Dieser christlich-humanistischen Sendung der Latinität ist sich dann der letzte antike Philosoph im Abendland, B o e t h i u s , ausdrücklich bewußt, wenn er das Übersetzungsprogramm Ciceros wieder aufnimmt und damit genau den Ansatzpunkt der italienischen Humanisten nach der Zeit der „Barbarei” bezeichnet161): „Indem ich, soweit ich kann, das Werk des Aristoteles in r ö m i s c h e F o r m übertrage, will ich allmählich in l a t e i n i s c h e r S p r a c h e einen Kommentar dazu schaffen, so daß ich alles, was von Aristoteles mit logischer Schärfe, mit dem Licht natürlicher Wahrheit geschrieben worden ist, geordnet übersetze, es erläutere und mit einer gewissen Ordnung durch den Kommentar versehe. So habe ich auch vor, Platos Dialoge zu übersetzen und gar zu kommentieren, und sie damit in l a t e i n i s c h e F o r m zu bringen."162)
Schon aus dem Bisherigen können wir für die innere Konstitution der humanistischen Sprachidee überhaupt gewisse Hinweise entnehmen: Bei den römischen Inauguratoren, die wir soeben zitierten, treffen wir bereits alle wesentlichen Elemente einer Sprach-Ideologie — ein Grundzug, der etwa bei der griechischen Konzeption der Sprache als Logos, auch wenn man die gewiss vorbildhaft wirkende Unterscheidung von „Hellenen” und
Benz, S. 95 f.), die aber durch die lateinisch-deutsche Mission unterdrückt und durch die Ungarn vollends vernichtet wurde. Ferner im Gebiet der Slowenen, die ebenfalls beinahe schon zur Zeit Kyrills und Methods in die kirchenslawische Sprachsanktionierung einbezogen worden wären. An diesen Punkten scheint es denn auch zur Berührung der ostkirchlichen Sprachauffassung mit den Ideen der häretisch-mystisch-reformatorischen instauratio der Muttersprache im Abendland gekommen zu sein. Vgl. hierzu E. Benz: Hans von Ungnad u. die Reformation unter den Südslawen (Ztschr. f. Kirchengesch. Bd. 58, 1939, S. 387 ff.). 161) F. Patrizi (Discussiones peripateticae, Basilae 1581, I, IV, 144) sagt: „Post Boethium philosophiae studia omnino interierunt in Italia” (Toffanin, a. a. O. S. 210 und 203). 162) Boethius: In librum Aristotelis de interpretatione, ed. sec. (Patrolog. lat. ed. Migne, tom. LXIV, 1891, Sp. 433, C—D). Der lateinische Text lautet: „Ego omne Aristotelis opus quodcumque in manus venerit, in Romanum stylum vertens, eorum omnium commenta Latina oratione perscribam, ut si quid ex logicae artis subtilitate, et ex moralis gravitate peritiae, et ex naturalis acumine veritatis ab Aristotele conscriptum est, id omne ordinatum transferam, atque id quodam lumine commentationis illustrem omnesque Platonis dialogos vertendo, vel etiam commentando in latinam redigam formam.”
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Barbaren"163) berücksichtigt, nicht in Erscheinung tritt. Was wir be Cicero belegen können, ist das eifersüchtig vergleichende historisch-nationale Sprachbewußtsein des Kulturerben und Übersetzers, nicht das rein philosophische Staunen der Griechen, des Volkes, das sich selbst im Besitz und in der Macht des Logos fand. Die Sprache ist nicht als „Sammlung de Seins in die Anwesenheit” (wie nach Heidegger etwa die Urbedeutung von iãdls zu verstehen wäre)164), sondern als tradierte „Form” begriffen in welcher der schon ererbte Gehalt der Kultur aufbewahrt wird. Cicero sagt, er sei „magni existimans interesse ad decus et ad laudem civitatis res tam grave, tamque praeclaras (gemeint ist die griechische Philosophie) Latinis etiam litteris c o n t i n e r i . . . "165)
Nimmt man hinzu, was L. Weisgerber über die spezifisch römische Entdeckung der Muttersprache als „ p a t r i u s sermo” aufgezeigt hat166) sowie die seit Hegel und erneut seit Dilthey erkannte praktisch-politische auf gesellschaftliche Institution der Humanität (z. B. Rechtsordnung!) ausgehende „Willensstellung” des römischen Geistes, so ergibt sich als antik-römisches Fundament des humanistischen Sprachbegriffs eine Auffassung; welche in der Sprache die ererbte „Form der Kultur schlechthin”, gleichsam die „Institution der Institutionen” erblickt: „Latinus sermo cum ipso homine civitatis suae natus” heißt eine auf Varro zurückgehende charakteristische römische Urformel über die eigene Sprache167). Man könnte hier von einer im Vergleich zum griechischen Logosbegriff eminent „soziologischen” und „historischen” Sicht und Wertung der Sprache reden, wenn nicht die zu diesen modernen Begriffen gehörige nominalistisch-wissenschaftliche Distanz zu allen Institutionen der Gesellschaft und insbesondere zur Sprache den Römern noch fehlte. Es wird hier erforderlich, die römische Sprachidee vor dem Hintergrund der früher von uns bereits angedeuteten Etappen der Vergegenständlichung der Sprache seit dem klassischen Griechentum zu stellen. (Vgl. hierzu oben Kap. I bis II): Eine entscheidende Wandlung im Verhältnis des Menschen zur Sprache war im Hellenismus eingetreten. Die altgriechische hermeneutische Einheit von kl¾s*iãdls und lÃp¬^, kraft welcher der Denker im weltsammelnden Medium der Sprache das Seiende „als etwas”, d. h. in einem „Anblick” (´a^) erblickt und aussagt, ist durch die Stoa endgültig aufgelöst. Ihre sprachontologische Reflexionsarbeit hat den menschlichen Akt des im Miteinander sinnhaft aussagenden „Meinens” der Wirklichkeit, den schon
163)
Vgl. L. Weisgerber: Die Entdeckung der Muttersprache ..., a. a. 0. S. 35 ff. Vgl. M. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, S. 88 ff. und ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 207 ff. 165) Cicero: De natura deorum, I, 4. 166) L. Weisgerber, a. a. 0. S. 47 ff. 167) Ebda. S. 48. 164)
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die vorplatonische und platonische Sprachphilosophie etymologisch, d. h. in der Reflexion auf die lautliche Ebene der Sprache, zum Problem gemacht hatte (vgl. die Frage nach der èonãqgsèklj|qtk in Platons Kratylos), durch den auch sprachphilosophisch weit wichtigeren und folgenreicheren Ansatz der Reflexion in der Ebene der möglichen inhaltlichen Aussagen, der lect (lat. dicibilia bzw. significata bzw. res orationis) gleichsam aufgetrennt. Die „Substanz” der Welt (Ãmlhb¬jbklk), die bei Aristoteles noch in den „Kategorien” unmittelbar „ausgesagt” wurde, hat sich für die stoische Reflexion auf den Logos einerseits in das „Subjekt” der Rede (des Satzes) verwandelt, „von dem” eine Aussage (h^qgdãogj^, praedicatum) prädiziert ist; andererseits liegt sie als empirisch Wirkliches (qrd`|klk) draußen in der „Außenwelt” der Rede zugrunde (als hqãsÃmlh¬jbklk)168). Der bis hierher skizzierten zweimaligen Auftrennung des hermeneutischen Sprachaktes (in der Ebene des Lautes und in der Ebene der ibhq|) entsprach die Entstehung der „Grammatik” und der stoischen „Aussagen"-Logik. Beide q`k^f (später „artes sermonicales” zusammen mit der „Rhetorik”) handeln von der „Rede”, während zugleich das urteilende Denken selbst, das diese „Wissenschaften” in reflexiver Einstellung begründet, genötigt ist, die eigentliche Wirklichkeit und ihr wahres Sein unabhängig vom Sprachlogos, d. h. sowohl von den Formen der Grammatik wie auch von dem „falsch” und „richtig” der nunmehr „formalen” Logik der ibhq|als ein Problem für sich zu denken. Auf dieser Basis entsteht bei Porphyrios und Boethius und wiederum im Mittelalter das Universalienproblem. Es stellt, sprachphilosophisch betrachtet, eine Analogie zum platonischen Kratylosproblem dar, nur mit dem Unterschied, daß, entsprechend dem verlegten Einschnitt der Reflexion in den integralen Akt des „Meinens”, nicht die Verifikation der „Namen” an. den „Ideen” des Seienden (wie bei Platon), sondern eher die Verifikation der Ideen selbst — als der sprachgebundenen „Termini” der Logik — an der Wirklichkeit der „Außenwelt” zum Problem wird. Am Ende des Universalienstreites (bei W. von Ockham) steht dann die (wenigstens in der Idee) völlige Emanzipierung des philosophischen Erkennens der Außenweltdinge von dem Medium der Sprache. Dies ermöglicht die innerweltliche Vergegenständlichung der Sprache als Lautzeichengebilde, das der Mensch den rein intuitiven „Ideen” ( = „Vorstellungen”) als den natürlichen Zeichen der individuellen Dinge künstlich zugeordnet hat. Erst auf dieser Grundlage konnte die neuzeitliche, empirische (historische, soziologische und psychologische) Sprachwissenschaft entstehen. Sie mußte analog den übrigen Kulturwissenschaften durch eine Phase der völligen Mediatisierung ihres „Gegenstands” hindurch, wenn auch nur, um
168)
Vgl. hierzu u. zum Folgenden E. Arnold: Zur Gesch. d. Suppositionstheorie, a. a. O. S. 39 ff.
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am Ende in der Aporetik ihrer Erklärungsversuche zu erfahren, daß „Sprache” — wie „Kultur” überhaupt — gleich dem auf sie gerichteten Erkennen selbst in einem wesentlichen Kern ihrer Funktion „unmittelbar” zum Menschsein gehört und insofern nicht als innerweltlicher (erklärbarer oder konstruierbarer) Gegenstand behandelt werden kann169). Diese erst im Anschluß an den mittelalterlichen Nominalismus in der Neuzeit mögliche wissenschaftliche Distanzierung darf, wie wir sagten, nicht unterstellt werden, wenn die quasi „soziologische” und „historische” Sprachwürdigung des römischen Humanismus charakterisiert werden soll. Hier war trotz aller vorausgegangenen hellenistischen Sprachreflexion, die bei den Humanisten wie T. Varro, Cicero usw. mit der altrömischen Erfahrung des „patrius sermo” zusammenfließt, eine gewisse Unmittelbarkeit des Menschen zur Sprache erhalten. Es ist gewiß nicht die Sprachunmittelbarkeit der Griechen, die in den Dichtern und Denkern der klassischen Epoche die Welt-Gehalte und auch die Gattungsformen der Literatur geschaffen hatte, auf die der gebildete Römer mit dem Hellenismus als bereits kanonisches Kulturerbe zurückblickt (und noch weniger die erst aus christlicher Logosmystik und Abwehr aller Sprachschablone erwachsene subjektive Unmittelbarkeit, welche sich als „sprachschöpferisch” auf das klassische Griechentum „vor der Erstarrung der Form” später einmal berufen wird). Es ist — um gleich auf die soziale Ausgangsstellung der Begründer der erwähnten römischen Sprachideologie zu verweisen — die Unmittelbarkeit des „Redners” zur Sprache, der über sie zwar in einer großenteils erlernbaren, in fertigen Formen überlieferten Kunst verfügt, dennoch aber weit entfernt ist von der Sprachvergegenständlichung des neuzeitlichen Wissenschaftlers, die, wie wir sehen werden, selbst der humanistische Gelehrte in seinem nicht ohne den Nominalismus denkbaren Übergang zum Philologen kaum erreicht. Nicht der Wissenschaftler erkennt hier die kultursoziologische Funktion der Sprache als „Institution der Institutionen” (eine Erkenntnis, die in der Neuzeit durch Vico aus der Tradition des Humanismus heraus philosophisch begründet wird, wie noch zu zeigen ist), sondern der philosophisch gebildete Orator erlebt sie und bekennt sie gleichsam in dem Hochgefühl eines Menschen, der durch die Bemächtigung der Sprache eine Schlüsselstellung in der antiken Kultur und Gesellschaft einnimmt. Das „theoretische” Rüstzeug seiner Kunst entnahm der gebildete römische Redner, wie wir aus Ciceros einschlägigen Schriften wissen, der hellenistischen, teilweise bis auf Aristoteles und darüber hinaus auf Isokrates und die Sophisten zurückgehenden „Rhetorik"170). Diese Rhetorik
169) Vgl. hierzu K. 0 . Apel: Die beiden Phasen der Phänomenologie in ihrer Auswirkung auf das philosophische Verständnis von Sprache und Dichtung in der Gegenwart (in: Jb. f. Aesthetik ..., Bd. 3, 1955-57, S. 54-76). 176) Zur Entstehung der Rhetorik vgl. E. R. Curtius, a. a. O. S. 72 ff.
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ist die dritte q`kg(ars), die neben der Sprachreflexion der Sophisten und der spätgriechischen Philosophie als bleibendes und bald erstarrtes Resultat hervorgegangen war. Wie innig das in ihr ausgedrückte Grundverhältnis zur Sprache mit dem der stoischen Sprachlogik und Grammatik zusammenhängt, hat neuerdings J. Lohmann gezeigt171). Besonders charakteristisch sind die von ihm hervorgehobenen Definitionen der elementaren „ibhq|” in der stoischen Logik (Diog. Laert. VII 66 ff.)172): uµtj^,,, pqfkaidlkqbsmlc^fkãjbn^;„ein ,Urteil’ ist etwas, mit dem wir, wenn wir es aussprechen, eine Aussage machen” — molpq^hqfäkapqfmo~dj^aidlkqbsmolppljbk; „eine Befehlsform ist eine so beschaffene Sache, daß wir ,befehlen`, wenn wir sie aussprechen” — molpdlobrqfhäkapqfÊ*b´idlfqfs*molp^dlob¼lfk = „der ,Anruf` (der Vokativ als ,innere Form`) ist eine so beschaffene Sache, daß jemand, für den Fall, daß er ihn ausspricht, ,anredet"`.
Was uns moderne Menschen an diesen Definitionen überrascht, wenn wir sie nicht für gänzlich nichtssagend bzw. selbstverständlich und daher philosophisch uninteressant halten (wie noch Carl Prantl in seiner „Geschichte der Logik im Abendlande173), ist der Umstand, daß hier die Sprachformen anscheinend nicht als bloß äußerer Ausdruck einer auch ohne sie möglichen Verhaltensdifferenzierung, sondern unmittelbar als bereitliegende und ermöglichende „Formen des Verhaltens” selbst verstanden sind. Man kann die stoischen Definitionen für die res orationis: „uµtj^”, „molpq^häk” „molp^dlobrqhäk” gleichsam als Anweisung auffassen, wie man sich der öffentlichen Institution der „Rede” zu bedienen hat, um dadurch bestimmte allgemeingültige Gedanken zu haben und bestimmte Wirkungen in der Gesellschaft zu erzielen. Insofern liegen sie ganz auf der Linie einer Welt- und Lebens-,,Topik”, die dem Menschen von der Sprachform her die überhaupt bestehenden Möglichkeiten des Welt-Habens und In-der-Welt-seins aufschließt. Die „Topik” des Redners, die „ars inveniendi” der „Argumente”, wäre, von hier aus verstanden, nur die, allerdings für die antike Kultur repräsentative, Anwendung eines viel weitergreifenden und tieferliegenden Sprachverhältnisses, in dem, wenn schon nicht mehr das „Urteilen” selbst (die ratio iudicandi), so doch das „Auffinden” von (im öffentlichen Verhalten gültiger) gehaltvoller „Wahrheit” weitgehend der „inneren Form” der Sprache anheimgegeben ist. Lohmann interpretiert von hier aus die Topik Ciceros und ihre für die abendländische Tradition epochemachende Unterscheidung zwischen der Funktion des Urteils (ratio iudicandi) als Gegenstand der Dialektik und dem Grund des „Findens” der Argumente (ratio inveniendi): Nicht nur
171)
Vgl. die schon früher zitierten Abhandlungen (Lexis II, 2; III, 1 u. 2). Vgl. J. Lohmann, Lexis III, 1, S. 30. 173) Vgl. C. Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande, Bd. I, S. 408 ff. 172)
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die einzelnen „Topoi” der rhetorischen Topik sind, jeder für sich, jeweils eine sprachliche Anweisung auf ein Verhalten des Redners in der Öffentlichkeit, sondern vor allem ist das „Argument” selbst, das die Sprache dem Redner in allen Topoi verfügbar macht, eine solche institutionelle Anleitung. Während die dialektische „ratio iudicandi” den Punkt der Emanzipation des hellenistisch-römischen Denkens von der Sprache bezeichnet, bleibt das „argumentum”, das nach Cicero von Natur früher ist als die Beurteilung, der sprachverhaftete Teil des Denkens. Es ist, wie Lohmann im Anschluß an die Interpretation der von uns zitierten Definitionen der stoischen Logik formuliert, „nichts weiter als ein solches, ,pragmat(ist)isch` verstandenes stoisches ibhqãk, das man in der Sprache der stoischen Logik definieren könnte als ein mo~dj^Êidlkqbsmb¬nljbk." 174) Das Argument ist also gleichsam im Rahmen einer Welt- und Lebenstopik der ibhq| (dicibilia, res orationis) dasjenige elementare ibhqãk, das die Topik des Redners begründet, während etwa — um die sprachphilosophische Pointe in einer Fiktion sichtbar zu machen — das „uµtj^” der Topik eines Denkers und das „molpq^hqfhãk” der Topik eines Befehlshabers als sprachliches Regulativ der „ratio inveniendi” dienen könnte. Daß eine solche Rekonstruktion des hellenistisch-römischen Sprachverhältnisses im ganzen berechtigt ist, scheint mir vor allem durch die Fruchtbarkeit dieser Deutung für das Verständnis gewisser durchgehender und kaum jemals philosophisch durchschlagend formulierter Grundtendenzen der römischen und wiederum der italienischen humanistischen Sprachideologie erhärtet zu werden. Darüber hinaus wäre hier die grundlegende Erkenntnis von E. R. Curtius beizuziehen, daß von der rhetorischen Topik her, gerade insofern sie im Medium der Sprache Welt verfügbar macht, die Kernstruktur der abendländischen Literatur im Mittelalter und weit darüber hinaus aufgeschlüsselt werden kann175). Hält man das Werk von Curtius und die Untersuchungen von J. Lohmann über das „Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache” zusammen, so gewinnt man aus dem Begriff der Topik geradezu die sprachgeschichtliche Charakteristik für eine Epoche der „Welt"-Geschichte, sofern man unter „Welt” den Inbegriff der Sinngehalte versteht, in denen das Sein den Menschen erschlossen ist: Die Sinngehalte der menschlichen „Welt” waren zunächst im „Mythos” entdeckt, der dann im Zeitalter des philosophischen „Logos” zur „Fabel” der Literatur wurde176). Mit Hilfe der reflexiven „Logoswissenschaften” (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, in gewissem Sinne auch Poetik), in welche die auf das mythische Zeitalter folgende schöpferische Eruption des Denkens und Dichtens (die „Achsenzeit”
174)
J. Lohmann, a. a. 0 . , S. 31. E. R. Curtius: Europäische Literatur und Ist. Mittelalter, a. a. 0. passim. 176) Vgl. hierzu E. Grassi: Kunst und Mythos, Hamburg 1957, S. 77 ff. 175)
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im Sinne von K. Jaspers177)) ausmündet, wurden die mythisch-poetischen Gehalte dann in einem neuen traditionalistischen Sprachverhältnis verfestigt178) und, gleich den Gattungsformen der Literatur, durch zwei Jahr-tausende hindurch verfügbar gehalten — so lange, bis das nominalistisch-wissenschaftliche Denken und das unmittelbar die Welt „wortende” Dichten der neuzeitlichen Sprachschöpfer den Bildungskosmos der Topik auflöste und die Topoi als „Gemeinplätze"179) (in der Nähe der „idola fori” Bacons!) wissenschaftlich und künstlerisch entwertet wurden. Am Ende hat dann das wissenschaftliche Denken, soweit es die Fühlung mit dem Sprachhumanismus nicht verloren hatte (gemeint ist z. B. die philologische Geisteswissenschaft eines Curtius), die Topik als sprachlich-literarisches Vehikel des Weltgehalts eigens (d. h. aus der im Nominalismus ermöglichten Distanz zur sprachlichen Tradition) entdeckt und die Ursprünge der Topoi bis in den Mythos zurückverfolgt. (Hier trifft sie zusammen mit den von der Romantik inspirierten Ärzten und Psychologen, die inzwischen die Welt der „Charaktere” [L. Klages] und der „Archetypen” [C. G. Jung] entdeckt haben. Die Beziehung der „historischen Topik” als Erforschung der „Kellerräume” und „Fundamente” der Literaturwissenschaft zur Mythenforschung und Tiefenpsychologie wird bei Curtius durchgehend hergestellt.) Welche Hinweise können wir aus alledem für die Sprachidee des europäischen Humanismus entnehmen? In der Tat läßt sich die heute so aktuelle und fruchtbare Konvergenz von Literaturwissenschaft, Mythenforschung, inhaltlich orientierter
177)
Vgl. K. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt und Hamburg 1955. E. R. Curtius beschreibt den Vorgang der Entstehung der literarischen aus der rhetorischen Topik genauer: Nach dem Untergang der griechischen Freiheit durch die makedonische und römische Fremdherrschaft — und analog noch einmal nach dem Untergang der römischen Republik in der Kaiserzeit — verlor die Rhetorik ihren ursprünglichen Sinn und Daseinszweck. „Dafür drang sie in alle Literaturgattungen ein. Ihr kunstvoll ausgebautes System wurde Generalnenner, Formenlehre und Formenschatz der Literatur überhaupt. Das ist die folgenreichste Entwicklung innerhalb der Geschichte der antiken Rhetorik. Damit gewinnen auch die Topoi eine neue Funktion. Sie werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind, sie breiten sich über alle Gebiete des literarisch erfaßten und geformten Lebens aus.” (a. a. 0. S. 79 f.) Auch diejenigen Topoi, die nicht unmittelbar aus rhetorischen Gattungen abzuleiten sind — und dies sind gerade die auf den Mythos (bzw. auf menschliche Archetypen) zurückgehenden Weltgehalte — werden in jener Zeit der Rhetorisierung der Dichtung zu festen Topoi, die als solche erlernbar und im Gedächtnis verfügbar sind. Dante z. B. ist ein Großmeister solchen „Wissens”. 179) E. R. Curtius gibt folgende Wortgeschichte der „Topoi”: „Griechisch hießen sie hlfklqãmlf; lateinisch ,loci communes', im älteren Deutsch ,Gemeinörter`, So sagen noch Lessing und Kant. Nach dem englischen commonplace wurde dann um 1770 ,Gemeinplatz` gebildet” (a. a. 0. S. 79). 178)
140
Sprachwissenschaft und Tiefenpsychologie in der Freilegung der Entstehung und Geschichte der menschlichen Sinn-Welt in Form einer spekulativen Antizipation schon bei einem Denker antreffen, der noch unmittelbar der Traditionslinie des römischen Sprachhumanismus angehört: bei dem letzten italienischen Humanisten G. B. Vico (s. unten, S. 344 ff.). Dieser gewinnt seine methodische Grundlegung der „Neuen Wissenschaft”, der „philologischen Philosophie” der „menschlichen Welt” nicht nur aus dem bekannten Prinzip: verum et factum convertuntur, sondern, wie wir noch zeigen werden, auch aus dem ciceronischen Motiv des Vorranges der rhetorischen Topik vor der formallogischen Beurteilung der Rede. Dieser Umstand soll uns als ein weiterer Hinweis dienen, die ciceronische Idee der Topik, auf die auch J. Lohmann (s. oben) aufmerksam macht, als ein grundlegendes Motiv der Sprachauffassung des Humanismus ins Auge zu fassen. Betrachten wir deshalb den „locus classicus” bei Cicero genauer: Der römische Neubegründer der Rhetorik und ihres Verhältnisses zur Dialektik unterscheidet in seiner Topik180), wie schon angedeutet, zwei Teile jeder systematischen Darlegung der „ratio disserendi”: „unam inveniendi, alteram iudicandi”. Beide führt er auf Aristoteles zurück, fährt dann aber fort: „Die Stoiker haben nur den einen Zweig ausgearbeitet. Die Wege des Urteilens nämlich haben sie sorgfältig verfolgt in jener Wissenschaft, die sie ,Dialektik` nennen, die Kunst des Findens aber (artem inveniendi), welche ,Topik' genannt wird und welche sowohl nützlicher als auch ganz gewiß in der Ordnung der Natur früher (ordine naturae certe prior) ist, haben sie völlig vernachlässigt.”
Hier haben wir einen Topos des rhetorischen Humanismus vor uns, der, wie sich zeigen wird, den Keimpunkt einer ebensowohl sprachphilosophisch wie erkenntnistheoretisch hochbedeutsamen Problematik darstellt. Um die jahrtausendelange Geschichte seiner Wirkung, die freilich lange Zeit nicht über den weltanschaulich-pädagogischen Protest der Vertreter humanistischer Bildung gegen die abstrakten Spitzfindigkeiten der „Dialektik” (so schon innerhalb des „Triviums” der mittelalterlichen Artistenfakultät) hinausgelangt, im Rahmen unserer Geschichte der Sprachidee sogleich ins rechte Licht zu rücken, wollen wir hier vorgreifend die implizite spekulative Pointe der Cicero-Stelle aus der gegenwärtigen Situation der Sprachphilosophie, wie sie für uns aus dem Ganzen unserer historischen Grundlegung (vgl. oben Kap. I) hervorwächst, beleuchten: Die logistische Sprachkonstruktion der Gegenwart, welche in ihrer „Semiotik” das Anliegen der stoischen Sprachlogik (und Grammatik) und der scholastischen „tractatus de modis significandi” bzw. „de proprietatibus terminorum” auf der spekulativen Basis des Leibniz'schen „calculus
180 )
Cicero: Topica (ed. H. M. Hubbell, London 1949), II, 6.
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ratiocinator" fortsetzt, konstruiert gemäß dem reflexiven Ausgangspunkt einer Meta-Logik die Problematik der Sprache in der Reihenfolge: 1. logische Syntax (Theorie der Beziehungen zwischen den Zeichen), 2. Semantik (Theorie der Beziehungen zwischen den Zeichen und dem, was sie meinen) und 3. Pragmatik (Theorie der Beziehungen zwischen den Zeichen und den Menschen, die sie gebrauchen). Bei diesem Unternehmen (das, in radikaler Zuendeführung der von Cicero kritisierten Vorrangstellung der „Beurteilung” der Rede, diese nunmehr von der — fiktiv sprachfreien — Beurteilung her konstruiert!) zeigte sich nun, daß, sofern wirklich eine funktionierende Sprache geschaffen und nicht nur die Funktion von „Sprache überhaupt” logisch „beurteilt” werden soll, die Syntax bereits die Semantik und diese bereits die Pragmatik voraussetzt181). Das heißt: Soll eine Kunstsprache semantisch deutbar sein, d. h. als praktisch funktionierendes „Sprachspiel” (Wittgenstein) angewendet werden (etwa als Präzisionssprache einer Wissenschaft), so ist es nicht möglich, diese Kunstsprache gewissermaßen an die nackten Tatsachen der Welt heranzutragen; sie muß vielmehr mit Hilfe einer Metasprache (d. h. letztlich der Umgangssprache), in der die Tatsachen schon „als etwas” entdeckt sind, in ihre Funktion eingesetzt werden. Damit ist aber die „Zeichenpragmatik”, d. h. „die Interpretation der Zeichen durch den Menschen” (Morris), die für die logische Konstruktion der Sprache das Letzte ist, als eigentliche Legitimation der erfolgreichen Sprachkonstruktion erwiesen. Es zeigt sich, daß die formallogische Konstruktion der Rede, mag immer erst ihr methodisches Absehen von den Inhalten der Symbole (Leibnizens „blindes” oder „symbolisches” Denken) der wissenschaftlichen Erkenntnis die „apodiktische” Stringenz garantieren, hinsichtlich ihrer Anwendung doch abhängig bleibt von den Gesichtspunkten der Situationsdeutung, welche der Mensch in der Umgangssprache immer schon der Welt abgewonnen hat. Der Entwurf der Gesichtspunkte (Kategorien — Topoi!) möglicher Bedeutsamkeit von Welt für den Menschen, wie er in den grammatischen Fügungsweisen („Denkformen") und dem Wortgut der Umgangssprache mitenthalten ist (und noch in den spekulativen Grundbegriffen der Wissenschaft sich auswirkt), sichert den logisch beurteilten „Zeichen” der Rede erst eine konkrete Gegenstandsbeziehung (Sachintentionalität); und die pragmatisch bezogene (anders gesagt: in einem geschichtlichen Weltentwurf fundierte) Sachintentionalität der Zeichen sichert dann zuletzt auch der „logischen Syntax” der Wissenschaftssprache eine ontologisch relevante „Struktur”, kraft welcher sie als situationsbezogene „Weltabbreviatur” (d. h. bezogen auf die für eine Wissenschaft konstitutive Fragestellung) jene formale Abbildungs- oder Repräsentationsfunktion (Wörter als Rechensteinchen"!) wirklich ausüben kann, die ihr seit je von den Logikern (von Aristoteles
181)
Vgl. C. W. Morris: Foundations of the Theory of signs, a. a. 0. (Vgl. oben Kap. I, S. 29 ff.).
142
über Leibniz zu Russell, dem frühen Wittgenstein und M. Schlick) zugemutet wurde. Hier ist nun — am Ende der aporetischen Entfaltung der von Cicero kritisierten formallogischen Beurteilung der Rede — genau das bestätigt worden, was Cicero und mit ihm alle an der Rhetorik orientierten Humanisten mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck brachten, wenn sie vom natürlichen Vorrang der „Topik” vor der reflexiv-formalistischen „Logik” oder „Dialektik” sprachen: Nur als bewußte „Wiederholung” der praereflexiven Aufschließung einer Weltsituation aus menschlichen Gesichtspunkten, wie die Sprache sie immer schon für den Menschen geleistet hat, kann angesichts jeder rhetorisch-dialektisch zu bewältigenden Problemlage eine Besinnung auf die möglichen Weisen und Richtungen ihrer Artikulation in der Rede stattfinden. Genau dies, zum Gegenstand genereller Reflexion erhoben, läßt sich als das Anliegen einer „Topik” aus heutiger Sicht begreifen. Die Topik gliedert sich damit einer transzendentalen (existenzialen) „Hermeneutik” als der Lehre von dem in der Sprache sich auslegenden überhaupt möglichen Seinsverständnis ein. In der Eruierung dieses Zusammenhangs befand sich im Grunde schon Aristoteles, als er in seiner „Topik” (die, wie wir heute annehmen dürfen182), zusammen mit den „Kategorien” und gefolgt von der „Hermeneia”, vor der späteren formalen „Analytik” als erste Fassung seiner Logik ausgebildet wurde) der rhetorischen Disputierkunst („Dialektik" im Gegensatz zur apodiktischen „Analytik”) gewissermaßen ein philosophisches Fundament zu geben suchte. Die Erläuterung des Terminus „qãmlf” findet sich in der „Rhetorik” des Aristoteles: „Wir reden von Topoi mit Beziehung auf die dialektischen und rhetorischen Schlüsse. Die Topoi sind es, die sich gleichmäßig auf rechtliche, physikalische, politische und viele andere der Art nach verschiedene Gegenstände beziehen, wie es z. B. von dem Topos aus dem Mehr und Minder gilt ..."183)
Auf der Suche nach solchen letzten allgemeinen Gesichtspunkten der menschlichen Rede (Aussage, Argumentation, Disputation) über jedes aufgestellte Problem (mbom^kqäsql¾molqbnkqlsmol_iÌj^qls)184) hat Aristoteles die „Prädikabilien” (Gattung, Eigentümlichkeit, Akzidenz und Definition) und die „Kategorien” (Was, Wie groß, Wie beschaffen, in Beziehung auf, Wo, Wann, Liegen, Haben, Wirken, Leiden) gefunden und im engsten Zusammenhang damit in der „Hermeneia” die Grundbegriffe der Grammatik (Nomen und Verbum bzw. Subjekt und Prädikat). Indem Aristoteles im weiteren Ausbau seiner Logik über die inhaltlich orientierte Topik als „Kunst der Auffindung” meinungsgemäßer oder
182)
Vgl. 1. M. Bocheęski: Formale Logik, a. a. 0. S. 48 ff. Aristoteles: Rhetorik, A, 2, 1358a, 10-14. 184) Aristoteles: Topik, I, 1, 100a 18. 183)
143
wahrscheinlicher Prämissen zur formalen Analytik des apodiktischen Beweisverfahrens aus letzten Prämissen (Axiomen) fortschritt und die Stoiker diese formalistische Tendenz verstärkten, wurde damit — zugunsten der exakteren Form der Wissenschaft — der großartige und tiefsinnige transzendental-philosophische Aspekt der „Topik” als „Weg zu den Prinzipien aller Wissenschaften“185) verschüttet. Etwas von der Tragweite dieses Vorganges scheint Cicero im Blick zu haben, als er die oben angeführte Bemerkung über den Vorrang der Topik vor der formalen Logik macht. Im übrigen aber wurde bei ihm die Topik zu einer vorwiegend juristisch interessierten, praktischen „ars inveniendi” der Rhetorik und hat als solche ihre Wirkung auf die römische Antike und das Mittelalter ausgeübt, bis die Renaissance der Idee einer (Er)-findungskunst wieder eine spekulative Pointe abgewann (s. unten S. 227 f.). Bei Cicero sind die Topoi (loci) einfach „sedes, e quibus argumenta promuntur” (Topik, 2. 7). Man muß sie kennen, wenn man irgendeinen Stoff durchforschen will; denn es „ist leicht, diejenigen Gegenstände aufzufinden, die verborgen sind, wenn man ihren Ort nachweist und bezeichnet” (Top. 2. 6).
Welches erkenntnistheoretisch-sprachphilosophische Problem in solcher Kunst der „Entbergung” (vgl. Heideggers Wahrheitsbegriff!) liegt, davon wird, am Ende der Ciceronischen Tradition des römischen Humanismus, erst Vico eine Ahnung vermitteln. Das Zurückfallen der philosophischen „Topik” in die pragmatische Rhetorik, deren Praxis sie der Sache nach ja entstammt, bedeutet indessen nicht, daß die ihr zugehörige Spracherfahrung nicht in Form einer tradierbaren Ideologie ihren Ausdruck finden konnte. Wenn sich heute der natürliche Vorrang einer aus dem praereflexiven Sprachgebrauch schöpfenden Topik vor der logischen Beurteilung der Rede selbst noch in der Wissenschaft nachweisen läßt186), so mußte dieser natürliche Vorrang
185)
Ebda. I, 2, 101 b 3. Für die exakte Naturwissenschaft bekundet sich gegenwärtig der „natürliche Vorrang der Topik” in dem erkenntnisanthropologischen Rahmenapriori der vagen, aber experimentell verifizierbaren Begriffe der Umgangssprache gegenüber der präzisen, aber unanschaulichen mathematischen Theoriebildung. Diese wird z. B. in der Mikrophysik erst durch das Bohrsche Korrespondenzprinzip legitimiert, denn „der Mensch ist früher als die Naturwissenschaft” (v. Weizsäcker). Für die Geisteswissenschaften ist der Primat der Topik im Sinne Ciceros bzw. Vicos in jüngster Zeit in zwei bedeutsamen Arbeiten herausgestellt worden, die dem Verfasser leider erst nach Fertigstellung der vorliegenden Arbeit bekannt wurden. So hat für die Jurisprudenz Th. Viehweg (Topik u. Jurisprudenz, München 1953) die Stellen systematisch aufgezeigt, an denen die Topik als Denkform in ihr Recht tritt: 1. Bei der Auffindung der Axiome und Grundbegriffe. (Diese Funktion hat die Topik schon nach Aristoteles selbst.) 2. Solange keine Formalisierung der Sprache durchgeführt wird — und dies 186)
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der Topik umso schwerer ins Gewicht fallen, wenn es nicht um sprachliche Ausarbeitung eines bestimmten, umgrenzbaren Sachgebietes, sondern um die Auffindung und Verfügbarhaltung möglicher aussagbarer Lebensbedeutsamkeit überhaupt ging, d. h. um die Auffindung aller ibhq|, die als „Argumente” in der menschlichen Totalsituation wichtig sind. Dies war nun offenbar die Aufgabe der Topik als „ars” bzw. „ratio inveniendi” des Redners, besonders wenn er, wie Cicero (vgl. sein Idealbild des Redners in „De oratore”) über den engen Rahmen eines Spezialberufs (z. B. der politischen und Gerichtsrede) hinaus gleichsam als Anwalt der „praktischen Vernunft” und zugleich als Repräsentant der überlieferten „Allgemeinbildung” auftrat. Jene in der modernen Sprachkonstruktion zum Vorschein gekommene Aporie, dergemäß Syntax und Semantik der menschlichen Rede nicht ohne die Voraussetzung einer Pragmatik (der Wort-„Bedeutungen" bzw. auch des „Sinnes” der Sätze und Satzgefüge) behandelt werden können, zeigte sich eben praktisch auch schon in der hellenistischen Antike: In dem Maße, wie die philosophische Betreuung des Logos sich in der Zeit nach Aristoteles gemäß den Verifikationsrichtungen der Semantik und Syntax, d. h. in einzelwissenschaftliche Empirie und formalistische Logik (Dialektik) spezialisierte, in eben dem Maße mußte eine Sprachideologie des philosophischen Orators entstehen, der von der Pragmatik der Rede her, d. h. aus der souveränen sprachlichen Verfügung über die allgemein menschlichen Bedeutsamkeitsperspektiven und Gesichtspunkte in der
ist für die Jurisprudenz wie für alle Geisteswissenschaften nur in sehr geringem Maße möglich — ist in der umgangssprachlichen Form der Ableitung von Rechtssätzen immer schon Interpretation, u. d. h. eine geheime Topik am Werk. 3. Selbst wenn eine Formalisierung des juristischen Ableitungsverfahrens und damit eine Erledigung durch Denkmaschinen möglich wäre, so müßte trotzdem der konkrete Rechtsfall weiterhin durch ein topisches Denken an das deduktive System herangebracht werden. (Hier handelt es sich um einen Spezialfall des von uns oben dargelegten sprachphilosophischen Sachverhalts, daß jedes künstliche Symbolsystem zu seiner Legitimation als Sprache einer semantisch-pragmatischen Deutung mit Hilfe der Umgangssprache als letzter Metasprache bedarf.) 4. Im engsten Zusammenhang mit der Anwendung eines Rechtssystems auf den einzelnen Fall ergibt sich das Problem eines Ausgleichs verschiedener, d. h. auf verschiedenen Axiomen beruhender dogmatischer Rechtssysteme (oder auch Systemfragmente in einem geltenden Rechtskomplex) als Aufgabe der Topik. Der zuletzt aufgeführte Gesichtspunkt eines Ausgleichs der dogmatischen Systeme und Systemfragmente auf dem Boden der umfassenden Sprachüberlieferung der Geistesgeschichte, d. h. im Rahmen des Gesprächs, das wir Menschen ,,sind" (Hölderlin), wird programmatisch exponiert in der von Heidegger, E. R. Curtius und E. Auerbach inspirierten Arbeit von Otto Pöggeler über „Dichtungstheorie und Toposforschung” (Jbch. f. Aesthetik, Bd. V, 1960 S. 89-201). Die grundlegende Abhandlung, deren Einzelergebnisse von uns leider nicht mehr berücksichtigt werden konnten, enthält zahlreiche Konvergenzen mit der vorliegenden Arbeit.
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Situationswelt, den Anspruch erhob, auch die wahre Weltweisheit und Bildung überhaupt zu verwalten. Dieses ist nun die geheime Philosophie des rhetorischen Humanismus, die in Cicero — zumindest für das Urteil seiner humanistischen Jünger — ihren römischen Begründer hat 186a). So überliefert Quintilian in seinem grundlegenden Buch „De Institutione oratoria” der Nachwelt die folgende Gleichsetzung von Redekunst und Kultur überhaupt als Überzeugung der großen römischen Redner: „ R h e t o r i c e m autem quidam e a n d e m c i v i l i t a t e m esse iudicaverunt. Cicero scientiae civilis partem vocat. C i v i l i s autem s c i e n t i a idem quod s a p i e n t i a est."187)
Aus dieser römischen Gleichsetzung von Rhetorik bzw. eloquentia = humanitas = sapientia = civilitas bzw. scientia civilis erwächst das gesamte Denken des italienischen Humanismus seit Petrarca und C. Salutati, erwachsen Vallas und Polizianos umfassende Konzeptionen der Grammatik bzw. Philologie, und noch Vicos, des Rhetorikprofessors, Grundlegung der Geisteswissenschaften als „nuova scienza del mondo civile” (s. unten Kap. XII, d) ist eine geniale Realisierung der Ciceronischen „scientia civilis”. Der enge Zusammenhang etwa, der in Vicos Kulturphilosophie zwischen der Bannkraft der Sprache, Gesetzgebung und Jurisprudenz besonders für die barbarischen Frühzeiten der Kultur postuliert wird, verweist bei aller Neuartigkeit der Einsichten, die, wie wir später zeigen werden, den Rahmen des Humanismus sprengt, noch immer deutlich zurück auf die klassischen Topoi der Ideologie des hellenistischen Rhetors, wie sie bei Cicero ausgeprägt sind.
186a) Während die Philosophen in der Nachfolge Platons die Rhetorik als eine nicht ernstzunehmende q`kg oder gar nur als eine jmbfo¬^ (Platon: Gorg. 17 p. 462 c) abqualifizierten, weisen die Rhetoriker ihrerseits in der Nachfolge des Isokrates der Philosophie nur eine propädeutische Rolle in der Bildung des vollkommenen Rhetors zu (vgl. Cicero: De Oratore, I, 12, 53 ss.; I, 15, 68 — 69;3,20, 76 ss.; Quintilianus: De inst. or., I, pr. 9 ss.). 187) Quintilianus: De Inst. or., II, 15. Quintilian selbst bezeichnet, wie Curtius zeigt (a. a. O. 75 f.), bereits in vielen Zügen den Übergang der Rhetoren-Philosophie in eine literarisch-humanistische Bildungsideologie, in deren Zentrum die „Beredsamkeit” steht: Der Idealmensch ist der Redner, die Beredsamkeit steht hoch über Astronomie, Mathematik und anderen Wissenschaften (Inst. or. XII, 11, 10). So ist der ideale Mensch qua Redner mit Cato zu bestimmen als vir bonus dicendi peritus ( XI I 1, 1), er ist „vere sapiens; nec moribus modo perfectus, sed etiam scientia et omni facultate dicendi” (I pr. 18). Die Beredsamkeit entspringt „ex intimis sapientiae fontibus” (XII, 2, 6). Diese Wendungen bilden den Kern der Sprachideologie des italienischen Humanismus. Indem Quintilian seinen Traktat über die Rhetorik zu einer Anleitung zum Literaturstudium erweitert (Buch X) wird er besonders für die späteren Humanisten wie Poggio (seinen Wiederentdecker) und Poliziano vorbildlich. — Vgl. zu Quintilian neuerdings G. Funkes Monographie „Gewohnheit” (Arch. f. Begriffsgesch. Bd. III, Bonn 1958), S. 99 ff. Dort auch wichtige Belege für die von uns herausgestellte, spezifisch römische Erfahrung der Sprache als (im Sinne Funkes „habitus bildende”) „Institution der Institutionen”.
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So findet sich bereits in Ciceros Jugendschrift „De inventione” der Niederschlag jahrhundertealter Selbstverteidigung der Rhetorik als „ars” oder sogar „scientia” gegen diejenigen, die bloß eine fragwürdige Geschicklichkeit in ihr sehen wollten. Wir zitieren aus diesem Zusammenhang die für die Sprachideologie des Humanismus wichtigen Stellen: Um die Entstehung der Eloquenz verständlich zu machen, entwirft Cicero zunächst ein offenbar für ihn selbst schon in einer überlieferten Topik verfügbares Bild der barbarischen Frühzeit, als die Menschen „weit verstreut in den Feldern wie Tiere umherschweiften und von wilder Nahrung lebten, als sie nichts nach Vernunftgründen regelten, sondern sich hauptsächlich auf ihre Körperkräfte verließen. Es gab noch kein geordnetes System religiöser Verehrung oder gesellschaftlicher Pflichten; niemand kannte eine legitime Ehe oder Kinder, von denen er wußte, daß sie seine eigenen waren; niemand hatte gelernt, den Nutzen von Recht und Billigkeit zu würdigen. So herrschte aus Irrtum und Unwissenheit blind und zufällig die Begierde über ihre Seelen und befriedigte sich selbst durch den Mißbrauch der rohen Körperkräfte, der gefährlichsten Knechte."188)
In dieser Situation soll nach Cicero ein großer und weiser Mann erkannt haben, welche Fähigkeiten zu großen Dingen in der menschlichen Seele bereitlägen, „wenn sie nur jemand hervorlocken und durch Belehrung kultivieren könnte. Er brachte es fertig, die in den Feldern verstreuten und in Wäldern versteckten Menschen unter irgendeinem Vorwand an einem Platz zu versammeln, sie zu einer Gemeinschaft zusammenzufassen und sie zu allen nützlichen und ehrenvollen Tätigkeiten anzuleiten. Dabei mögen sie zuerst wegen der Unerhörtheit seines Tuns empört gewesen sein, später aber werden sie ihm wegen seiner Vernunft- und Redekraft eifriger zugehört haben, und so formte er aus wilden und schrecklichen Barbaren ein sanftes und friedfertiges Volk."189)
Cicero faßt nun das für seinen Gesichtspunkt Entscheidende an dieser Begründung aller Kultur zusammen in der Erklärung: „Mir wenigstens scheint es nicht möglich, daß eine schweigende Weisheit, ohne die Kraft der Rede (tacita nec inops dicendi sapientia), die Menschen plötzlich aus ihrer Gewohnheit bekehrt und zu den verschiedensten vernünftigen Lebenszwecken tauglich gemacht haben könnte."190)
Für die Zeit nach der Gründung der Städte bekräftigt er dies noch einmal: „Profecto nemo nisi g r a v i ac suavi commotus o r a t i o n e , cum viribus plurimum posset, ad ius voluisset sine vi descendere, ut inter quos posset ex-
188)
Cicero: De inventione (ed. H. M. Hubbell, London 1949), I, II, 2. Ebda. 190) Ebda. I, II, 3. — In „De Oratore” macht Cicero dem Rhetorikgegner Sokrates den Vorwurf, die alte Einheit der Rhetorik mit der Philosophie mutwillig zerrissen zu haben: „Sokrates ... sapienter... sentiendi et ornate dicendi scientiam, re cohaerentes, disputationibus suis separavit ..., hinc discidium illud exstitit quasi linguae atque cordis, absurdum sane et reprehendum, ut alii nos sapere, alii dicere docerent.” (a.a.O., 3, 16, 60 s.). Vgl. Quint., a.a.O. I, pr. 13. 189 )
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cellere, cum eis se pateretur aequari et sua voluntate a jucundissima consuetudine recederet quae praesertim iam naturae vim obtineret propter vetustatem. Ac primo quidem sic et nata et progressa longius eloquentia videtur et item postea maximis in rebus pacis et belli cum summis hominum utilitatibus esse versata."191)
Cicero beschließt den kulturphilosophischen überblick, der auch die Folgen von Verfall und Mißbrauch der Redekunst vor Augen stellt, mit einem Lobpreis der Eloquenz, den fast alle Vertreter des Sprachhumanismus mehr oder weniger wörtlich von ihm übernehmen werden, zumal er in dem reifen Alterswerk „De oratore” in ähnlicher Form noch einmal durch den Mund des idealen Redners „Crassus” vorgetragen wird: „Von der Redekunst empfängt der Staat die größten Wohltaten, wenn der Maßstab aller menschlichen Angelegenheiten, die Weisheit, darin gegenwärtig ist; von ihr fließt Ruhm, Ehre und Würde auf diejenigen, die sie zu meistern gelernt haben. Durch sie wird auch den Freunden dieser Männer der gewisseste und sicherste Schutz bereitet. Ja, mir scheint, daß die Menschen, wenn sie auch in vieler Hinsicht den Tieren unterlegen und schwächer als jene sind, doch in dem Punkt die Tiere gewaltig überragen, daß sie reden können (hac re maxime bestiis praestare quod loqui possunt). Deshalb scheint mir derjenige Mensch die vornehmste Stellung errungen zu haben, der unter den Menschen durch eben die Fähigkeit hervorragt, durch welche die Menschen sich vor den Tieren auszeichnen."192)
Dieser Topos über die Sprachauszeichnung des Menschen, der sich in den hellenistischen Rhetorikhandbüchern bis auf Isokrates zurückverfolgen läßt, wird in der Folge unendlich oft wiederholt. Er bildet den ebenso trivialen wie bedeutsamen Kern des Sprachhumanismus und seiner Bildungsidee. Die Sprachphilosophie der hellenistischen Rhetorik, die Cicero vorträgt, begreift, wie nicht weiter verwunderlich, die Funktion der Sprache vor allem im Hinblick auf ihre Bedeutung für die menschliche Gemeinschaft, sie feiert die Sprache als politische und moralische Großmacht, durch welche der Weise die Menschen zum Guten hinbewegen kann; von hier aus sind auch die einzelnen Strukturzüge der Rede bei Cicero beleuchtet, woraus sich die spezielle Topik der humanistischen Sprachauffassung im wesentlichen entwickeln wird: Die Rede soll nach Cicero „dicendo tenere hominum coetus, mentes adlicere, voluntates impellere quo velit (sc. orator), unde autem velit deducere"193). Deshalb darf die Redekunst nicht, wie vielfach andere Künste, aus verborgenen und abgelegenen Quellen geschöpft sein, sondern „dicendi omnis ratio in medio posita communi quodam in usu atque in hominum more et sermone versatur, ut in ceteris id maxime excellat quod longissime sit ab imperitorum intelligentia
191)
Ebda. Ebda. I, IV, 5; vgl. De oratore, I, 32 f. 193) Cicero: De oratore (ed. E. Courband, Paris 1950), I, VIII, 30. 192)
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sensuque disiunctum, in dicendo autem vitium vel maximum sit a vulgari genere orationis atque a consuetudine communis sensus abhorrere" 194 ).
Der Redner ist eben nur der Mann, der die in allen bereitliegende Sprache als maßgebende Institution des gesellschaftlichen Lebens, als Gefäß aller Kulturüberlieferung und Bildung am besten zu handhaben weiß: „Was ist so bewunderswert,” ruft Cicero aus, „als wenn aus der unendlichen Menge der Menschen einer heraustritt, der diejenige Fähigkeit, die allen von Natur gegeben ist, gleichsam allein oder mit nur sehr wenigen auszuüben vermag, was ist dem Verstand und Gehör so angenehm als eine mit weisen Sentenzen und gewichtigen Worten geschmückte und kunstvoll gebildete Rede (sapientibus sententiis gravibusque verbis ornata oratio et polita)"195 Der beste Redner ist nach Cicero, wer „dicendo animos audientium et d o c e t et d e l e c t a t et p e r m o v et”. Und er expliziert dies genauer: „Da nämlich die Beredsamkeit auf Wörter und sinnvolle Sätze sich gründet (eloquentia constat ex verbis et ex sententiis), so müssen wir es dahin bringen, daß wir einmal rein und fehlerfrei, d. h. lateinisch reden (pure et emendate loquentes, quod est latine), darüberhinaus aber eine Eleganz der Worte, sowohl hinsichtlich ihrer sachlichen Angemessenheit als auch ihrer Bildhaftigkeit (verborum . . . et propriorum et translatorum elegantiam), erreichen: bei den sachlich angemessenen müssen wir die feinsten auswählen (in propriis ... lautissima), bei den bildhaften müssen wir die ungewöhnlichen so verwenden, daß wir dabei die innere Wahrheit des Bildes sorgsam im Auge behalten (similitudinem secuti verecunde utamur alienis). Unter den Sentenzen unterscheidet Cicero drei Klassen: „Sunt enim docendi acutae, delectandi quasi argutae, commovendi graves”. Außerdem lassen sich durch die „structura verborum” zwei Wirkungen erzielen: „Rhythmus und Glätte” (numerum et levitatem).196)
Alle die bei Cicero hervorgehobenen Charaktere der formvollendeten Rede, insbesondere das „ c o m p o s i t e , o r n a t e , c o p i o s e l o q u i " 197), die „ d i c e n d i v a r i e t a s e t e l e g a n t i a " 198) werden im italienischen Humanismus zu kanonischen Maßstäben der Sprachreform; als solche werden sie den europäischen Sprachhumanismus bis hinein in seine national-humanistische Erziehungsfunktion an den neueuropäischen Muttersprachen begleiten, wobei die „integritas” des Lateinischen ein ihr genau entsprechendes Reinheitsideal der Volkssprachen induzieren wird. Wir stellten schon fest, daß Ciceros Sprachwürdigung die eines Redners ist; sie erwächst aus der Topik der hellenistischen Rhetorik und aus der Praxis des römischen Orators „in iure aut in iudiciis . . . apud populum aut in senatu" 199). Ihr Ideal ist die „oratio gravis et ornata et hominum sensibus ac mentibus accomodata" 200). Auch der Weltgehalt der
194)
Ebda. I, III, 12. Ebda. I, VIII, 31. 196) Cicero: De optimo genere oratorum (ed. H. M. Hubbell, London 1949), I, 3-5. 197) Cicero: De oratore, I, XI, 47. 198) Ebda., I, XII, 50. 199 ) Ebda., I, XI, 47. 200) Ebda., I, XII, 54. 195)
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Sprache, z. B. die „scientia comprendenda rerum plurimarum, sine qua verborum volubilitas inanis atque inridenda est"201), die eines freien Mannes würdige Allgemeinbildung (eruditio libero digna202)) und der gelebte Inbegriff dieses Gehalts, die sapientia, — all dies ist schon im Hin-blick auf die Auswirkung der Rede in der von ihr letztlich zu formenden und zu regierenden menschlichen Gemeinschaft konzipiert und gewertet. Diese im modernen Sinn „pragmatische” Orientierung, eine im besten Fall pädagogische (oratio docet, vgl. oben), im schlimmsten Fall nur auf das „delectare” et „permovere” abzielende Einschätzung der Rede, scheint nun doch die Tragweite der oben hervorgehobenen geheimen Philosophie des rhetorischen Humanismus erheblich einzuschränken. In der Tat macht sich hier gleichsam als Gegengewicht gegen das philosophische Weisheitspathos der Rhetoren die gedankliche Grundlegung der Logosdimensionen und ihrer Verwaltung durch die q`k^fildfh^¬ (Logik, Rhetorik, Poetik) geltend, wie sie von den großen Klassikern der griechischen Philosophie als Abgrenzung gegen die Ansprüche der sophistischen Rhetoren und darüber hinaus (vgl. Platon) auch gegen die überlieferte Auffassung von der „Weisheit der Dichter” niedergelegt worden war. Im Folgenden wird ein für die gedanklichen Möglichkeiten des Hellenismus und damit auch des römischen Humanismus grundlegender Text vorgeführt, in dem eine dem Theophrast zugeschriebene Einteilung der Logos-Dimensionen niedergelegt ist203). Es heißt dort: „Da die Rede (iãdls) eine zweifache Beziehung hat — wie der Philosoph Theophrast gezeigt hat — eine zu den Hörern, für welche sie etwas bedeutet (moäsql½sholtjklrs* l¶sh^ag^¬kbfqf), die andere zu den Dingen, von welchen der Sprechende den Hörern eine Überzeugung beibringen will ( moäsq}mo|dj^q^*Ãmoökåidtkmb®a^fmolq¬nbq^fql½s holtjklrs', entstehen im Hinblick auf die Beziehung zu den Hörern die Poetik und die Rhetorik . . . im Hinblick aber auf die Beziehung der Rede zu den Dingen wird der Philosoph vorzüglich dafür Sorge tragen, das Falsche zu widerlegen und das Wahre zu beweisen (moäsq}mo|dj^q^ql¾iädlra`pbtsåcfiãplclsmoldlrjktsmqfjbiabq^fqãqbvb¾alsafbid`tk h^qäignsmlabfhk½^) . . . .
Hier treffen wir zunächst einmal eine ähnliche Einteilung der LogosDimensionen, wie sie auch in der modernen logistischen „Semiotik” die „Semantik” von der Zeichen-,,Pragmatik” scheidet. Und die Übereinstimmung der philosophischen Grundlegung geht noch weiter, wenn wir die bis jetzt ausgelassenen Textstellen übersetzen und auf die entsprechenden modernen Theoreme beziehen. Über die Funktion (oder Mission) der Poetik und Rhetorik (die bezeichnender Weise zusammen abgefertigt werden!) sagt der obige Text nämlich folgendes:
201)
Ebda., I, V, 17. Ebda. 203) Ammonius: In Aristotelis De Interpretatione Commentarius (ed. Ad. Busse, Berlin 1887, S. 65, 31-66, 19). 202)
150
„... weshalb (sc. wegen ihrer Beziehung zu den zu überredenden Hörern) diesen Künsten die Aufgabe zufällt, die prächtigeren Wörter (q}pbjkãqbo^qîkèklj%qtk), aber nicht die allgemein üblichen (q}hlfk}h^ababrjgjk^), auszuwählen und sie harmonisch untereinander zu verknüpfen (ojlk¬tsprjmi`bfk), so daß sie hierdurch und durch das daraus Folgende wie z. B. Süßigkeit der Klarheit (p^cgkb¬^sdirh¼qgqls) und — unter anderen Redeformen — die der Ausführlichkeit und der Knappheit (j^holild¬^sh^_o^`rild¬^s), alles zur rechten Zeit angewandt, den Hörer erfreuen Òp^f), begeistern (hmiÎu^fs) und im Sinne der Überredung überwältigen (moäsqÍkmbfní`bfotnkq^`bfk)."
Hinsichtlich der Aufgabe der Philosophen dagegen wird folgendes ergänzt: „Über jede hinsichtlich des Wahren und Falschen strittige Aussage trachtet er durch klare Aussagen eine Entscheidung herbeizuführen". Diese Klärung, heißt es dann im folgenden, ist die Aufgabe des ,mlc^kqfhäsiãdls', der außer der Funktion der Bezeichnung (pgj^kqfhäsb¶k^f), die er mit anderen Redeformen gemeinsam hat, noch die spezifische Funktion der Verifikation und der Falsifikation besitzt (kqäignb¼bfkÕvb¼abpn^f). Diese wiederum hat nichts mit der Bestimmung der Gattungen hinsichtlich der Arten zu tun, sondern bringt lediglich die Bedeutung der homonymen Zeichen hinsichtlich des Bezeichneten durch Bejahung und Verneinung zur Entscheidung (qäkåjtk¼ctkîkb´sq}pgj^fkãjbk^qoãmlkaf^fob®q^fÏmãc^kpfsbµsqbqÍkh^q|c^pfkh^qÍk mãc^pfk*ii]lÃ`qäkqîkdbkîkb´sq}bµag).
Die hier dargelegte philosophische Aufgabe des mlc^kqfhäsiédls entspricht offenbar der Aufgabe der modernen Semantik, während von der Zeichen-Pragmatik, auf deren Notwendigkeit die logistische Sprachkonstruktion zuletzt stieß, alle jene Eigentümlichkeiten der Sprache psychologisch-anthropologisch begründet werden sollen, die in dem soeben zitierten antiken Text aus der für Poetik und Rhetorik konstitutiven Beziehung zu den Hörern entstehen. In einem Punkt allerdings geht die moderne Semiotik (wenigstens in ihrer logisch-positivistischen Haupttendenz, die für uns hier charakteristisch ist) über die des Theophrast hinaus: sie rechnet zu den nur aus der pragmatischen Dimension der Zeichen begründbaren Eigentümlichkeiten der Rede auch den Sinn der metaphysischen Sätze bzw. das an diesem Sinn, was sich allenfalls begründen läßt. Und eben an diesem Punkt erfolgte dann aus der Problematik der Semiotik heraus der Umschlag, der zu der Einsicht führte, daß in jeder Semantik (auch z. B. der zur exakten Physik gehörigen) eine Pragmatik und damit in gewissem Sinne eine Metaphysik sprachphilosophisch und erkenntnistheoretisch vorausgesetzt sei. Warum führen wir dieses Verhältnis der Theophrastschen zur modernen logistischen Sprachanalyse so ausführlich vor? Weil durch diese imponierende Kontinuität der logischen Sprachproblematik von Aristoteles bis R. Carnap das Anliegen und die gedanklich-kategoriale Ausgangsbasis des Sprachhumanismus von Anfang an und bis heute indirekt bestimmt ist. Erst durch die moderne Logistik, deren Sprachanalyse nicht wie AristotelesTheophrast und noch die scholastische Sprachlogik von der umgangs-
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sprachlich ausgelegten Welt, sondern von der künstlich konstruierten Sprache ausging, kam zum Vorschein, daß in den „Dingen”, an denen nach Theophrast der Philosoph die Wahrheit der Rede zu verifizieren hat, immer schon die ganze muttersprachliche Weltauslegung und deren Vieldeutigkeit vorausgesetzt ist, sofern man sie nicht im Sinne rein logischer „Tatsachen überhaupt” formalisiert denkt. Hier wurde endlich im Rahmen der logischen Problematik durch die Aporetik der Eindeutigkeitsforderung indirekt bestätigt, was der Humanismus noch aus den Tagen der Sophistik als Ideologie der Rhetorik mit sich führte: d a ß a u c h i n d e r B e ziehung der Rede zu den Hörern, die gemäß Theophr ast von Poetik und Rhetorik verwaltet wird, eine wahrheitskonstitutive Funktion liegen muß. Eine positive Ausfüllung dieser Aporetik der logischen Sprachanalyse kann zweifellos als das eigentliche Anliegen des Sprachhumanismus von Beginn an bezeichnet werden. Heute könnte man es so formulieren: in der Topik des Redners wird in erstarrter Form jene Wahrheit verfügbar gehalten, welche aus menschlichen Lebensbezügen her in der Geschichte einer lebenden Sprache als das Sein der Dinge in der Welt (einschließlich des Menschen selbst) sich erschlossen hat. Einen Schritt weiter würde dann die Einsicht führen (die in der Geschichte des Humanismus erst Vico gewinnt), daß diese sprachliche Welterschließung selbst allerdings weniger den Charakter einer rhetorischen Topik als vielmehr der Dichtung im weitesten Sinne des Wortes haben mußte. In seiner konkreten geschichtlichen Ausgangssituation ist aber nun der Sprachhumanismus in seiner Argumentationsfähigkeit von vornherein eingeschränkt durch die Grundlegung der griechischen Philosophie, wie sie durch die eben zitierte Einteilung der Logos-Dimensionen gekennzeichnet ist. Wir konnten bereits an Cicero belegen, wie sehr seine Auffassung der Redekunst eine Bekräftigung der dem Theophrast zugeschriebenen Einteilung ist. Von der Rede gilt das „docet, delectat et permovet”, und im docet wird die einzige Beziehung zu den Sachen als das Wissen der Philosophie schon vorausgesetzt. Höchst charakteristisch im Sinne einer weiteren Begrenzung der Sprachwürdigung des Humanismus ist es nun, daß in der zitierten Grundlegung die „Poetik "zusammen mit der „Rhetorik” von der philosophischen Wahrheitsproblematik weggerückt und aus der pragmatischen Beziehung der Rede „zu den Hörern, für welche sie etwas bedeutet”, verstanden wird. Dabei fällt ihre Charakteristik offensichtlich mit derjenigen der Rhetorik zusammen. Dieses Verständnis der Dichtkunst aus dem pragmatischen Horizont der Rhetorik bleibt in dem ganzen vom Hellenismus ausgehenden Zeitraum, einschließlich des abendländischen Mittelalters und, wie sich zeigen wird, auch der Zeit des eigentlichen Sprachhumanismus der Neuzeit, maßgebend. Freilich wird im Bereich des Renaissance-
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Humanismus die rhetorische Vorstellung von den lehrbaren Regeln und Topoi durch das Wiederaufgreifen der platonischen Überlieferung von der göttlichen Inspiration des Dichters gleichsam aufgelockert und einer Vertiefung der Problematik von Sprache und Wahrheit der Weg bereitet. Im ganzen gesehen, scheint der Sprachhumanismus durch den Widerspruch zwischen seinem eigentlichen Anliegen als einer quasiphilosophischen Welt- und Lebensanschauung und der gedanklichen Grundlegung, aus der die hellenistischen „artes sermonicales” (Logik, Rhetorik, Grammatik und Poetik) konzipiert und begrenzt sind, von vornherein zu einer gewissen Zweideutigkeit verurteilt zu sein: In auffallender Weise zeigt sich diese philosophische Zweideutigkeit (oder jedenfalls: Grenze der Argumentationsfähigkeit) später bei der langen Reihe der italienischen Humanisten, die, von der Ciceronischen Idee der Rhetorik und insbesondere der Topik geleitet, den Sinn der abstrakten, formalen Logik in Frage stellen und die Forderung nach einer auf Kenntnis der lebendigen Sprache beruhenden, rhetorischen oder grammatisch-philologischen Dialektik des wirklichen Lebens erheben. Immer wieder werden die C. Salutati, L. Bruni, L. Valla, A. Poliziano, M. Nizolius, St. Guazzo usw. in verschiedener Weise die historische Konservierung des Sachverständnisses im rechten Wortverständnis, die pädagogischen Vorzüge der rhetorisch-grammatischen Bildung, die Gedächtnis und Einbildungskraft und nicht nur den abstrakten Scharfsinn des Verstandes schult, kurz: jene Cicero-Stelle vom natürlichen Vorrang der Topik als der ratio inveniendi vor der formalen Logik als ratio iudicandi umkreisen. Die Anfänge der philologisch-hermeneutischen Geisteswissenschaften einschließlich der empirischen Sprachwissenschaft werden auf diese Weise faktisch entstehen, aber die implizite Sprachphilosophie des Humanismus kommt damit nicht ins Ziel, sie tendiert darüber hinaus, sie will mehr als nur Empirie oder Pädagogik, wie besonders in der Auseinandersetzung mit der formalen Logik und der averroistischen Naturwissenschaft der Scholastik seit C. Salutati deutlich zu spüren ist. Der Leser dieser polemischen und programmatischen Literatur erwartet immer noch ein entscheidendes, durchschlagendes erkenntnistheoretisch-philosophisches Argument, das er, wie der Humanist selbst, in jenem Cicero-Topos zu erfühlen glaubt. Aber er wartet vergebens. Von Cicero bis zum frühen Vico vermögen die Sprachhumanisten die Wahrheitsproblematik, die jenseits der Tatsachenrichtigkeit der Urteile in der Frage nach der „(Er)-Findung der Argumente” steckt, nur ahnungsweise anzurühren, zu entfalten vermögen sie sie nicht, auch wenn sie die Poesie gegen die Scholastik zu Hilfe rufen, wie es seit Petrarca und Boccaccio immer wieder geschieht. Hier macht sich bemerkbar, daß, wie M. Heidegger gezeigt hat204), seit Platon und Aristoteles die „Wahrheit” (+iÌnbf^) mehr und mehr zu
204) Vgl. M. Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947; ferner: Vom Wesen der Wahrheit, 2. Auflage, Frankfurt 1949.
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einem Problem der „Urteilsrichtigkeit” (èonãqgs*åjlftpfs, adaequatio intellectus ad rem) geworden ist, was sich in der Theophrastschen Einteilung der Dimensionen des Logos bereits bezeugt. Eine philosophische Problematik der „Offenbarkeit” dessen, wonach die Urteilsrichtigkeit sich richten soll, besteht jedenfalls in der philosophischen Tradition des Abendlandes kaum205), und in der Tat ist es ja auch in der Gegenwart noch ein Ärgernis, zu behaupten, daß es soviel Urteilsrichtigkeit gebe, wie es ursprüngliche Offenbarkeit von Welt gibt, nach der unsere Urteile sich richten können, und daß diese — nicht theologisch gedachte, wohl aber vielleicht auch theologisch relevante — „Offenbarungswahrheit” nur in der lebendigen geschichtlichen Sprache sich eröffnen kann, während die logistische Konstruktion der Zeichenfunktionen einer ebensolchen Konstruktion der Welt als bezeichenbarer purer rationaler „Gegenständlichkeit” entspricht, die als Grenzfall-Entwurf einer geschichtslosen „Pragmatik” der Verfügbarmachung im Ganzen der menschlichen Daseinswelt entspringt. Wohlgemerkt: Die anschaulich-bedeutsame „Offenbarungswahrheit” (+iÌnbf^) begründet „Richtigkeit” (adaequatio intellectus ad rem) nur für die geschichtliche Existenz (Ek-sistenz), für das wissenschaftliche „Bewußtsein überhaupt” ist jede Offenbarung relativ, sie wird hier sogleich gezwungen, sich dem immer richtig sein wollenden, d. h. ungeschichtlichallgemeingültigen „Tatsachen"-Bewußtsein als richtig einzufügen, und dies kann nur durch „Formalisierung` erreicht werden (wenn man den Hegelschen Versuch einer spekulativen, d. h. die Wahrheit des konkreten Ganzen der Weltgeschichte aufhebenden Richtigkeit als endgültig gescheitert ansieht). Indessen um die geschichtliche Existenz gerade handelt es sich ja, wenn der Redner, der dem Volk die Situation auslegt, auf dem Vorrang der im Wort erhellenden Topik vor der auf Allgemeingültigkeit hin reflektierenden formalen Logik besteht. Zur „sapientia” des Ciceronischen Orators gehört also eigentlich ein spezifischer Wahrheitsbegriff
205) Es gibt allerdings eine Motivlinie, die vom Neuplatonismus und der augustinischen „illuminatio verbi” über die Logosmystik, Böhme und Schelling zu Heidegger führt. Im ganzen erhält man den Eindruck, daß eben der Platonismus, der auf der einen Seite zweifellos durch den ungeschichtlich systematisierenden Bezug der „Ideen” auf das „klb®k” der Logik das Problem der ursprünglichen „Offenbarkeit” von „Welt” verdeckt, durch den überontischen Glanz der „plötzlich” aufleuchtenden „Idee” auch immer wieder auf es hinweist. Um freilich der von Platon konzipierten „Dialektik” der Ideen das geschichtliche Inkarnations-Medium der Sprache als „lichtend-verbergende Ankunft des Seins” entgegen- oder besser fundierend vorauszusetzen, — zu dieser Konzeption Heideggers bedurfte es m. E. des geschichtlichen Offenbarungsund Inkarnationsbegriffes des Christentums, wie er philosophisch in der Traditionslinie der deutschen Logosmystik von Eckehart bis Hegel und Schelling mit dem griechischen Denken sich durchdringt und auseinandersetzt. Insbesondere bahnt sich hier auch (von der christlichen Inkarnationsidee her?) die für die tiefste Problematik der Sprache fundamentale Würdigung der apriorischen Leiblichkeit des Menschen an, die Platon zugleich mit der Raum-ZeitProblematik dualistisch von der Konstitution der Ideenwelt ferngehalten hatte. Vgl. hierzu auch vom Verf.: Technognomie ..., a. a. O. S. 71 f.
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der Topik als geschichtlicher, situationshöriger „ars inveniendi"206). Freilich darf man eine solche Problemstellung nicht im Rahmen des klassischen Humanismus erwarten. Zu tiefgehend ist die ihn tragende Rhetorik und Topik durch die ungeschichtliche Weltvorstellung der Griechen geprägt. Die Wahrheitsproblematik der Rede ist seitdem durch die Voraussetzung der einen, ewigen Wesensordnung der Dinge präjudiziert.
Indem der Humanismus eine Wahrheitsproblematik außerhalb der Urteilsrichtigkeit „über die Dinge” (vgl. Theophrast) genau so wenig zu denken vermag wie seine Widersacher — hier zeigt sich seine Abhängigkeit von den Denkgeleisen der großen griechischen Philosophen — erreicht seine Polemik gegen die scholastische Dialektik meist überhaupt kein philosophisches Niveau, sie verliert sich in Hinweisen auf die barbarische Sprachvergewaltigung der Dialektiker, in Beteuerungen der Eleganz, Fülle und menschlich-gesellschaftlichen Wichtigkeit der „Eloquenz”, darüberhinaus in programmatischen Ansätzen einer rhetorischen Logik, über die insgesamt der Verfasser des jüngsten Standardwerkes zur Geschichte der Logik das Urteil fällt: „er (sc. der Humanismus einschließlich der in Bezug auf die Logik an ihn anknüpfenden späteren Denker des 17. Jahrhunderts) ist rein negativ, bloße Verwerfung der Scholastik"207).
(Ein Urteil, das freilich vom Maßstab des „Formalismus” ausgeht, für den die Humanisten keinen Sinn hatten, aber die humanistischen Logiker verstanden eben selbst nicht, ihre Argumentation dem Maßstab der aristotelischen Apodeiktik zu entziehen, ja zuletzt operierte der berühmteste und einflußreichste unter ihnen, Petrus Ramus, ausdrücklich nicht mehr im Namen der ars inveniendi.gegen die ars iudicandi, sondern als Reformator der letzteren208), womit der philosophische Anspruch der Rhetorik im Sinne Ciceros sich selbst aufgab.) Selbst in der „ars grammatica” als der eigentlichen Keimzelle und Domäne des Sprachhumanismus (neben der Rhetorik) hat seine Polemik gegen die spekulativen Bestrebungen der Scholastik (Suppositionstheorie und „tractatus de modis significandi”) eigentlich bis heute noch nicht ihre Berechtigung e r w i e s e n : Noch immer ist der Ausgangspunkt der scholastischen „grammatica speculativa”, die stoische Grammatik in ihrer lateinischen Ausprägung, in unserer Schulbildung unerschüttert, weil im Grunde nicht philosophisch nachvollzogen. Die Einsichten des neuzeitlichen
206) Derselbe Wahrheitsbegriff bildet m. E. auch die Voraussetzung einer inhaltlich orientierten Sprachwissenschaft, die mit Humboldt die verschiedenen Sprachen als ebensoviele Wege der Erschließung der einen Wahrheit betrachtet. Vgl. hierzu K. 0. Apel: Der philos. Wahrheitsbegriff einer inhaltlich orientierten Sprachwiss., a. a. 0. 207) 7. M. Bocheęski: Formale Logik, a. a. 0. S. 297., 208) Vgl. hierzu Neal W. Gilbert: Renaissance Concepts of Method, New York 1960, S. 127 ff.
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Humanismus in die individuelle Natur der Sprachen, gewonnen in der Auseinandersetzung mit den neueuropäischen Muttersprachen, haben nicht zu einer vergleichenden Wissenschaft von den Sinnfügungsformen der Sprachen geführt. Selbst die im deutschen (romantischen) Neuhumanismus entstandene empirische Sprachwissenschaft hat sich, trotz Humboldts großartigem Programm, wie heute vielfach bezeugt wird209), im
209) Vgl. L. Weisgerber: Die Wiedergeburt des vergleichenden Sprachstudiums (Lexis, Bd. II, 2) sowie die früher zitierten Abhandlungen von J. Lohmann (Lexis, 1-III). H. Arens, der Verfasser der neuesten Geschichte der Sprachwissenschaft (a. a. O. S. 338) charakterisiert das Resultat der vergleichenden Sprachwissenschaft am Ende des 19. Jhdts. folgendermaßen: „Die glanzvolle Entwicklung der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert, und zwar fast ausschließlich auf deutschem Boden, konnte leicht vergessen machen, daß sie in so kurzem Zeitraum — seit Schlegel und Bopp — nur möglich war, weil sie eine ganz bestimmte Methode, die historisch-vergleichende, entwickelt und sich seit Bopp zunehmend auf die stoffliche Seite der Sprache, d. h. aber wiederum: des Indogermanischen, beschränkt hatte... Die Indogermanistik ... beschränkte sich fast gänzlich auf die Laut- und Formenlehre der indogermanischen Sprachen ... Gegenüber der traditionellen Grammatik, ja ihrem Prototyp, der Techne des Dionysios Thrax, hatte sich im wesentlichen nur dies verändert: die Formenlehre und ganz besonders die. Lautlehre waren außerordentlich umfangreicher geworden. Die geläufigen Grammatiken der junggrammatischen Schule wiesen zumeist nur diese beiden Teile auf, als wäre damit die Darstellung einer Sprache erschöpft. Keine Rede von einer Bedeutungslehre, wie sie schon in den zwanziger Jahren Reisig in seinen Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft geschaffen hatte, kein Platz mehr für Syntax, die doch schon seit Apollonios Dyskolos existierte. Weder Bopps noch Schleichers noch Brugmanns vergleichende Grammatik enthält auch nur einen Ansatz zu einer Syntax (zu Brugmanns Werk hat sie erst Delbrück hinzugefügt, der auch 1871/88 mit Windisch zusammen 5 Bände „Syntaktische Forschungen” veröffentlichte), auch die geläufigen Grammatiken des Altnordischen, Angelsächsischen, Gotischen, Althochdeutschen weisen keine auf. Ein erstaunliches Faktum, das deutlich zeigt, wie entschieden man alles nicht Materielle vom Beobachtungsobjekt ausschied. Andererseits zeigt dies aber auch, daß man den Begriff der Grammatik überhaupt nicht zu einem Gegenstand der Reflexion machte, ebensowenig wie die fast 2 Jahrtausende lang von ihr überlieferten Termini.” Seit der Wende zum 20. Jahrhundert setzte hier eine Grundlagenbesinnung der Sprachwissenschaft ein, die, nach ersten Ansätzen bei F. N. Finck, 1. Ries u. a., methodisch angeregt besonders durch Husserls Phänomenologie der „Bedeutung” und F. de Saussures „Cours de linguistique générale” (dtsche. Übersetzung v. H. Lommel 1931) bei Ernst Lewy, W. Porzig, L. Weisgerber und J. Loh-mann, um nur einige der bekanntesten deutschen Forscher zu nennen, das alte Humboldtsche Programm einer vergleichenden Wissenschaft von den sprachlichen „Weltansichten” und „Denkformen” erneut in Angriff nahm. In diesem Programm, als Organon einer hermeneutischen Philosophie und Geistesgeschichte aufgefaßt, möchten wir die gegenwärtige Position eines SprachHumanismus im Sinne Vicos repräsentiert sehen angesichts der Herausforderung der von der Logistik — und damit von der „mathesis universalis” wie überhaupt der logisch-mathematischen Orientierung des Denkens — inspirierten, konstruktiven Sprachanalyse (Semiotik).
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19. Jhdt. weitgehend in der bloßen Lautvergleichung und Lautgeschichte festgefahren. Demgegenüber ist die philosophische Herausforderung einer an der lebendigen Sprache und ihren Gehalten selbst orientierten Sprachphilosophie durch die an der formal-logischen Beurteilung orientierte Konstruktion, eine Herausforderung, die der Sprachhumanismus der Renaissance bereits empfand, heute in Gestalt einer umfangreichen und detaillierten logistischen Semiotik erneuert worden. Sie besteht nicht mehr wie im Mittelalter (und noch in der Grammaire raisonnée von Port Royal) in der Tendenz, eine bestimmte Sprache rational zu erklären, sondern in dem Anspruch, vom Standpunkt des sprachfreien Denkens her das Problem der Sprache überhaupt lösen zu können, dem Menschen zumindest für das wissenschaftliche und philosophische Erkennen bessere technische Instrumente konstruieren zu können, als es die lebendigen Sprachen sind. Zum stärksten Gegenargument gegen die schrankenlose Zuständigkeit eines solchen „voraussetzungslosen” technisch-szientifischen Denkens scheint sich, wie wir im vorigen bereits darlegten (vgl. Kap. I), heute das Bedenken der existenzialen Geschichtlichkeit des Menschen zu entwickeln. Als Hermeneutik des Weltgehaltes der menschlichen Situation sucht es sich ein neues Organon zu schaffen in einer Art transzendentaler Philologie bzw. philosophischer Sprachgeschichte der geistesgeschichtlich repräsentativen Muttersprachen der großen Weltkulturen, ihres durch keine voraussetzungslose Konstruktion zu erfindenden anschaulich-dogmatischen Weltgehalts, der — im Falle des Abendlands — noch den technisch-szientifischen Eros der Gegenwart als spekulativen Daseinsgrund nährt und leitet. — In eben dieser transzendentalphilologischen Hinsicht hat indessen das Denk-Motiv, das in Ciceros Hinweis auf den natürlichen Vorrang der rhetorischen Topik vor der formalen Urteilslogik steckt, tatsächlich noch eine späte spekulative Entfaltung innerhalb des von uns zu behandelnden Zeitraums gefunden: Am Ende des italienischen Humanismus, als dieser bereits nicht mehr gegen die scholastische Dialektik kämpft, sondern gegen den Cartesianismus und damit bereits gegen den Geist der mathesis universalis, der im 19. Jahrhundert die Logistik hervorbringen wird, gewinnt G. B. Vico, wie wir bereits andeuteten und noch im einzelnen zeigen werden, aus der Ciceronischen Idee der Topik im Rahmen
In jüngster Zeit scheint die deutsche Tradition einer Erforschung der „Typen des Sprachbaus” (vgl. 7. Lohmann: Die Entwicklung der allgemeinen Sprachwissenschaft an der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin bis 1933. In: Studium Berolinense, 1960, S. 449-58) einen modernen Bundesgenossen zu gewinnen in den amerikanischen „Metalinguistics”, wie sie im Anschluß an die bahnbrechenden Arbeiten des Außenseiters B. L. Whorf (der freilich unter dem Einfluß des aus Oesterreich eingewanderten Edward Sapir stand) sich entwickelt haben. Vgl. hierzu besonders „Language in culture. Conference on the interrelations of language and other aspects of culture”, ed. by H. Hoyer, Chicago 1954.
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einer transzendentalphilologischen Geschichtsphilosophie erstmals das Verständnis einer für die menschliche Frühzeit charakteristischen „dichterischen” Wahrheitsfindung, die nicht allegorische Verkleidung philosophischer Dialektik, sondern als mythische Logik der „phantasiegeschaffenen Universalien” notwendige und, wie sich in der Metaphorik zeigt, nicht ersetzbare Voraussetzung aller abstraktiven Geistestätigkeit ist. Hiermit haben wir, zuletzt vorgreifend, das antik-römische Fundament der humanistischen Sprachideologie und keimhaften Sprachphilosophie so weit umrissen, daß wir nun die italienische Erneuerung der Latinität und im Zusammenhang damit einer humanistischen Sprachideologie im einzelnen betrachten können; insbesondere interessiert uns dabei die Frage, ob und inwiefern der neueuropäische Humanismus ein neues Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache zum Ausdruck bringt.
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Kapitel VI Die Erneuerung der L a t i n i t ä t und der römischen Sprachi d e o l o g i e durch die i t a l i e n i s c h e n H u m a n i s t e n . Die bisher dargelegte Auffassung der Sprache, wie sie im römischen Humanismus ausgeprägt wurde, ist zweifellos in allen Einzelzügen auch für das abendländische Mittelalter ein maßgebendes Lehrgut gewesen: In dem von Martianus Capella dem Mittelalter überlieferten Schulsystem der „septem artes liberales"210) waren im „Trivium” die „scientiae sermonicales” zusammengefaßt. Hier war neben der stoisch-aristotelischen „Dialektik” des Boethius vor allem die „Grammatik” und die „Rhetorik” der Ort, an dem auch die von T. Varro bis Quintilian entwickelte römische Ideologie der Rede in Gestalt fester Topoi überliefert wurde. Hierzu gehörte auch die rhetorische Orientierung aller Sprachkunst: das Ciceronische „docet, delectat et movet” (bzw. nach Horaz: prodesse et delectare), das von der Dichtung wie von der Rede gilt; die allegorische Einkleidung und Ausschmückung eines philosophischen, besonders ethischen Wissens, das vom Dichter wie vom Redner im Gegensatz zur trockenen Feststellung der Wahrheit durch den Dialektiker gefordert wird. Diese von der römischen Rhetorik hinterlassene Topik der überhaupt möglichen Auffassung alles Sprachlichen herrscht von Alkuin bis Dante. In einzelnen Epochen scheint sogar die von uns bei Cicero angedeutete „geheime Philosophie” des römischen Orators als Bildungsideologie der Grammatiker in der Abwehr der Ansprüche der Dialektik wiederaufzustehen, so besonders in der Zeit des sogenannten englisch-französischen „Humanismus” des 12. Jahrhunderts zwischen Bernhard von Chartres, Johannes von Salisbury und Peter von Blois. Insofern ließe sich der Sprachhumanismus der italienischen Renaissance als eine kontinuierliche Fortsetzung mittelalterlicher Sondertendenzen, als ein besonders kräftiges Wiederaufleben sozusagen der Hausideologie der literarisch interessierten Grammatikund Rhetoriklehrer auffassen. Wir möchten aber trotzdem das mittelalterliche Sprachverhältnis im ganzen von dem des Humanismus unterscheiden, sofern seine charakteristischen Züge doch wesentlich in der Scholastik zum Ausdruck kommen. Man kann freilich in einem weiteren Sinne das Sprachverhältnis des Humanismus, von seiner hellenistischrömischen Entstehung bis einschließlich der neueuropäischen Auswirkung des Renaissancehumanismus, mit
210) E.
R. Curtius, a. a. 0. S. 46 ff.
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der Epoche der sprachgebundenen „Schulwissenschaft” (auf der Grundlage einer „Buchreligion” und einer kanonisierten weltlichen „Bildungsliteratur”) synchron zusammensehen — und zwar nicht nur im christlichen Abendland, sondern ebenfalls im byzantinischen, islamischen, hinduistischen, buddhistischen und konfutianistischen Bereich211). Diese ganze traditionalistische Menschheitsepoche, die auf den „schöpferischen” Aufbruch der „Achsenzeit” folgt, wäre, wie schon dargetan wurde (s. oben S. 139 über das Weltalter der „Topik"), dem Sprachverhältnis der technisch-szientifischen und andererseits bewußt „schöpferischen” Neuzeit entgegenzusetzen212). Wir werden im folgenden von dieser Möglichkeit der Abgrenzung selbst Gebrauch machen, um die für die Zeit nach 1700 charakteristische Zurückdrängung oder sogar Ablösung des humanistischen Sprachbegriffs durch den nominalistisch bzw. mathematisch begründeten „Arbeitsbegriff” der Sprache und den aus der Logosmystik gespeisten schöpferischen „Offenbarungsbegriff” der Sprache verständlich zu machen. Im Rahmen unserer Untersuchung, welche die Zeitepoche von 1300 bis 1700, d. h. aber die Vorbereitung und Entstehung der seit 1700 hervortretenden Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft der Neuzeit aus der Konstellation des späten Mittelalters, darstellen will, gilt es jedoch in erster Linie zu zeigen, wie der Sprachhumanismus seit 1300 zusammen mit dem Ockhamismus und der Logosmystik eine Wandlung des im engeren Sinne mittelalterlichen Sprachverhältnisses im Abendland herbeiführen und zur geistigen Grundlegung der Neuzeit von der Sprachidee her beitragen kann. Hinzukommt, daß mit dem Auftreten des italienischen Renaissancehumanismus und seiner europäischen Wirkung in eigenartiger Weise der Vorgang der theoretischen Entdeckung und ersten normativen Ausbildung der neueuropäischen Muttersprachen gekoppelt ist. Hier, d. h. in der spannungsreichen Zusammengehörigkeit mit der „Instauratio” der Muttersprache durch Dante und der mit ihm anhebenden großen italienischen Nationalliteratur, scheint mir von Anfang an das Neue des italienischen Renaissancehumanismus gegenüber dem Sprachverhältnis des Mittelalters begründet zu sein. Mag auch in allen Einzelzügen der Sprachauffassung des italienischen Humanismus eine — allerdings erheblich gesteigerte und entfaltete — Fortführung der auch im Mittelalter bekannten Topoi der römischen Grammatik und Rhetorik festzustellen sein, so läßt sich doch erst seit Petrarca von einer nationalen Wiederbelebung und Neugestaltung der römischen Sprachideologie reden. Zwar war auch diese insofern im Mittelalter anzutreffen, als die schon bei Cicero belegte Auffassung der lateinischen Sprache als Formgefäß der
211) Vgl.
Fr. Altheim: Buchreligionen. In: Die Neue Rundschau 63, 1952, 536-553. In etwa geschieht dies in der bereits früher zitierten Abhandlung von J. Lohmann über das „Verhältnis des abendländischen Menschen zur Sprache” (Lexis, III, 1.) 212)
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menschlichen Kultur und insbesondere einer kanonisierten Bildungsliteratur durch die Kirchenväter in dem größeren Rahmen der drei heiligen Sprachen der christlichen Buchreligion erneuert und kirchlich sanktioniert wurde. Aber diese „römischkatholische” Sprachideologie war für die nichtrömischen Barbarenvölker der mittelalterlichen Welt ein „autoritäres Vorgut” wie die fremden Inhalte der antiken Kulturen selbst; sie war durch die Situation einer lernenden Tochterkultur mitgesetzt und entsprach nicht einer Entdeckung der eigenen Muttersprache, wie das bei den Begründern des römischen Humanismus im Umkreis des jüngeren Scipio und noch bei Cicero der Fall war. Insofern stellt die kirchliche Formgefäßideologie der Latinität überhaupt keine eigene Spracherfahrung des mittelalterlichen Menschen dar, auch nicht im Sinne einer einfühlenden Wiederentdeckung der klassischen Ursprünge des eigenen Lebensgefühls, wie das bei den Italienern seit Petrarca der Fall sein wird213). Für das Mittelalter war die lateinische Sprache (grammatica!) mit ihrem Inhalt zusammen in einer Weise fertig vorgegeben, daß sie, weit entfernt von einem individuellgeschichtlichen, volkhaften Spracherlebnis, vielmehr zur allgemeingültigen, logischen Struktur der Welt den Schlüssel zu bieten schien, so wie ja auch ihr Gehalt das allgemeinverbindliche Weltbild für alle Völker darstellte. Aus diesen Gründen scheint mir — trotz aller Maßgeblichkeit der Topik des römischen Sprachhumanismus auch im Mittelalter — die Eigenart des mittelalterlichen Sprachverhältnisses in der spekulativen Großleistung der scholastischen Sprachlogik repräsentiert zu sein, d. h. in dem großangelegten Versuch, durch eine „metalogische Semiotik” (Bocheęski) in Gestalt von Analogie- und Suppositionstheorie oder in einer „spekulativen Grammatik” von der lateinischen Sprachstruktur aus einen Weg zur ontologischen Struktur der Wirklichkeit zu bahnen. (vgl. oben Kap. II). Eben in der Zeit nun, als der scholastische Versuch einer in der lateinischen Sprachlogik begründeten Ontologie im Zeichen des Nominalismus zur Kritik seines eigenen sprachlichen Ausgangspunktes überging und so einer traditionell sprachkritischen, im vermeintlich sprachfreien Erkennen begründeten Erfahrungswissenschaft den Weg bahnte (von Ockham zu Bacon!), knüpfte der italienische Humanismus erneut bei demselben Boethius an, dessen sprachreflexive Umbildung der aristotelischen Logik auch den Ausgangspunkt der scholastischen Lehre von den „proprietates terminorum” gebildet hatte. Aber er meint nicht den Boethius, der den Ausgangspunkt der scholastischen Logik bildet, sondern den letzten Römer vor dem Einbruch der Barbarei, der (s. oben S. 134) noch einmal das Programm Ciceros erneuert hatte, den Inhalt der griechischen Literatur in lateinische Form zu überführen. Diese lateinische Form wiederum meint der italienische Humanismus nicht als im logischen Sinn
213)
Vgl. hierzu Kap. I (S. 91 f.).
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allgemeingültige Struktur der außermenschlichen Natur, sondern er entdeckt sie wieder als eigenstes nationales Erbe, als römisch-italienische Lebensform, mit der allerdings der Anspruch einer menschlich-universalen Form der Kultur schlechthin, eben der humanitas, verbunden ist. Insofern steht die Sprachauffassung des italienischen Humanismus im Gegensatz zur Scholastik, welche die Sprachform auf die außermenschliche, ungeschichtliche, im Sinne des arabischen Aristoteles äternistische Ontologie der Natur bezogen hatte. D e r l o g i s c h u n i v e r s a l e n , n a turontologisch verifizierbaren Latinität tritt die kulturprogrammatisch-universale, menschlich-heilsgeschichtlich verifizierbare Latinität entgegen. In dieser — modern gesprochen — „kulturanthropologischen” Gegenposition zur naturwissenschaftlich interessierten Scholastik (insbesondere zum Averroismus von Padua, aber auch zum Ockhamismus von Paris) zeigt sich die eine Seite der geschichtlichen Konstellation des Renaissancehumanismus; aus ihr sind wichtige Ansätze zu einer philologischen Kulturphilosophie und Grundlegung der Geisteswissenschaften bei C. Salutati, G. Manetti, L. Valla, Poliziano 214) und schließlich noch bei G. B. Vico zu verstehen (s. unten, Kap. XII, bs. S. 328). Wichtiger noch im Sinne eines sprachlichen Neubeginns im Unterschied von allem mittelalterlichen Sprachhumanismus ist jedoch die nationalistische Konstellation der Renaissance. Sie läßt die Wiederbelebung der römischen Sprachideologie von vornherein mit der Entdeckung der Muttersprache und der Entstehung einer großen volkssprachlichen Nationalliteratur in Italien zusammensehen, wie groß auch die Spannung zu diesem anderen italienischen Ursprung der neuzeitlichen Sprachidee lange Zeit war. Die Sprachideologie des italienischen Humanismus ist — überspitzt gesagt — eine zweite Entdeckung der Muttersprache215), eine Alternative der Kulturbegründung, die nur in Italien möglich war, wo die Latinität zumindest von den Gebildeten auch zugleich als nationale Sprachform neu erlebt werden konnte. So muß der italienische Sprachhumanismus der Renaissance, bei aller Fortsetzung einer antikabendländischen Bildungsprogrammatik, doch die Anstöße einer neuen realgeschichtlichen Situation in sich aufgenommen haben. Darauf haben wir im folgenden besonders zu achten. Verfolgen wir zunächst die Anknüpfung der Italiener an die römisch-antike Sprachideologie: Fr. Petrarca, der, wie Toffanin es ausdrückt, „in der Erinnerung Boccaccios” zum „Begründer der Kaste” der Humanisten wurde216), hatte
214 )
Vgl. E. Garin: Der italienische Humanismus, Bern 1947, Kap. I u. II. Petrarca sagt einmal von sich selbst: „Ego velut in confinio duorum populorum constitutus simul ante retroque prospicio” (De reb. mem. I, 2). 216) G. Toff anin, a. a. O. S. 98. 215)
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schon in seiner Jugend das Erlebnis, das zur Stiftung der neuen Sprachideologie führte: Er berichtet darüber selbst: „In jenem Alter konnte ich noch nichts verstehen; allein eine gewisse Süße und Harmonie der Wortfolge (v e r b o r u m d u l c e d o q u a e d a m e t s o n o r i t a s ) fesselte mich derart, daß alles, was ich sonst las oder hörte, mir heiser, rauh und unharmonisch vorkam"217). An anderer Stelle sagt er: „Wo es sich um irdische Dinge, namentlich um die Beredsamkeit handelt, gestehe ich, daß ich den Cicero bewundere vor allen anderen Philosophen, die je geschrieben haben; und daß ich ihn nicht bloß bewundere, sondern nachahme, während ich mir sonst im Gegenteil Mühe gebe, einen anderen nicht allzu sehr nachzuahmen ...“218). „Ach daß ich doch den Cicero ... einen Katholiken nennen könnte und dürfte!” lautet einer seiner bezeichnendsten Wünsche. Dann würden die Christen „zwar keine wahreren und heiligeren ... aber wohl süßere und wohlklingendere Predigten vernehmen"219).
Walter Rüegg urteilt über das Cicero-Erlebnis Petrarcas: „Petrarca ist der erste (natürlich immer der nachantiken Zeit), welcher in der sprachlichen Form, im Wort, das entscheidende menschliche Erlebnis nacherlebt, der erste, für den Stil und Mensch identisch sind, der das rhetorisch-antike, speziell Ciceronische Bildungsund Menschlichkeitsideal, wonach sich der Mensch durch das Wort vom Tier unterscheidet und durch die Pflege des Wortes überhaupt erst zum Menschen wird, zunächst unbewußt in Ciceros Sprache erlebt und dann zum propagierten Bildungsideal Europas gestaltet"220) Die römische Ideologie des Redner-Philosophen (s. oben) erwacht bei Petrarca zu neuem Leben: „Nihil est aliud eloquentia quam copiose loquens s a p i e n t i a " 221).
In ihrem Sinne hat Petrarca mehrfach das enge Wechselverhältnis von „sermo” und „animus” dargelegt, wobei freilich weit stärker als bei seinen altrömischen Vorbildern die Notwendigkeit der Rechtfertigung gegenüber einer radikalen redefeindlichen Innerlichkeit in Erscheinung tritt. Hier
217) Fr. Petrarca: Seniles II (Opp. Basel 1581, S. 946); vgl. Toffanin, a. a. O. S. 455 und W. Rüegg: Cicero und der Humanismus, Zürich 1946, S. 7 ff. 218) Petrarca: Opp. a. a. O. S. 1054; vgl. W. Rüegg, a. a. O. S. 35. 219) Fr. Petrarca: Von seiner und vieler Leute Unwissenheit, dtsch. v. H. Hefele, Jena 1925, S. 159. 220) W. Rüegg, a. a. O. S. 29. Als Beleg antiker (und mediterraner) Geistesverwandtschaft zu dem Spracherlebnis Petrarcas ist folgende Stelle aus der Schrift des Dionysios von Halikarnassus „Nbo prknpbtsèklj|qtk” zu vergleichen: „mqãgq^fd}om^p^klrvr`Ímboqäk»Îso^·sjäkiãdlrsqf}sh^f ðpmboknlrpfìabfsmql¾qli^j_|klrp^q}såoj|s.“(I, 4 f.). E. Grassi (Verteidigung des individuellen Lebens, Bern 1946, S. 140) übersetzt: „Jede Seele eines jungen Menschen ist ergriffen von dem Prunk der Sprache, und sie empfindet dazu einen irrationalen Drang, der wie eine Inspiration ist.” 221) Fr. Petrarca: De remediis, I, Dial. IX (Toffanin, a. a. O. S. 457).
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zeigt sich der Begründer des neuzeitlichen Sprachhumanismus von vorne-herein durch die christliche Position der Kirchenväter, insbesondere des Augustinus, hintergründig mitbestimmt. Wir wollen dies und damit zugleich die sprachphilosophischen Horizonte des italienischen Humanismus an einem Brief des Dichters „Über das Studium der Eloquenz"222) im einzelnen belegen: Petrarca will zeigen, daß wir nicht nur unmittelbar unser Leben und unsere Sitten, sondern auch „sermonis ... nostri consuetudinem” verbessern sollen, „ein Ziel, zu dessen Erreichung uns die Pflege der kunstvollen Rede (artificiose ... eloquentie cura) verhilft.” Und nun heißt es zur Rechtfertigung solcher hohen Einschätzung der Rede: „Kein geringes Zeichen der Seele (index animi) ist nämlich die Rede, wie andererseits die Seele eine Lenkerin der Rede (sermonis moderator) ist. Eins hängt vom anderen ab. Im übrigen aber bleibt die Seele verborgen, die Rede aber tritt vor die Öffentlichkeit; jene prägt im vorhinein die hervortretende Rede und entwirft sie nach ihrem Willen, diese kündet davon, wie der Entwurf der Seele beschaffen war. Jene vollzieht die Willensentscheidung, der wir gehorchen; diese legt das Zeugnis ab, dem wir glauben. Beiden Vermögen müssen wir also unsere Sorgfalt zuwenden, damit die Seele im Hinblick auf die Rede eine verständige und strenge Lenkerin, die Rede aber im Hinblick auf die Seele eine wahrhaft glanzvolle Künderin zu sein versteht. Dabei verhält es sich eigentlich so, daß, wo man der Seele seine Sorgfalt zugewandt hat, die Rede nicht vernachlässigt sein kann, so wie auf der anderen Seite die Rede keine Würde aufweisen kann, wenn ihre Majestät der Seele gefehlt hat.”
Indem P e tr ar c a die Notwendigkeit dieser wechselseitigen Bedingung und Steigerung der Seele und ihrer Ausdruckssprache genauer zu exemplifizieren versucht, muß er freilich doch die größere Wichtigkeit der Seelenbildung gegenüber der Sprachschulung zugestehen: „Welche Folge hat es, wenn du dich in die Ciceronischen Quellen versenkt hast, wenn sowohl die Schriften der Griechen als auch die der Unsrigen deiner Bildung zugute gekommen sind? — Du wirst glanzvoll, zierlich, angenehm und großartig reden können; würdig, ernsthaft, weise und, was über alles geht, in Haltung und Stil einheitlich wirst du gewiß nicht zu reden vermögen. (ornate quidem, lepide, dulciter, altisone loqui poteris; graviter, severe sapienterque et, quod super omnia est, uniformiter certe non poteris). Wenn nämlich nicht zuerst unsere Neigungen harmonisch zusammenstimmen, was ganz gewiß nur dem Weisen gelingt, so muß der Zwiespalt der Interessen zur Folge haben, daß auch die äußeren Sitten und Worte zwiespältig sind. Eine wohl geordnete Seele hingegen, im Gleichgewicht einer unbewegten Heiterkeit, ist stets gelassen und ruhig: sie weiß, was sie will, und was sie einmal gewollt hat, davon läßt sie nicht ab; deshalb wird sie, auch wenn ihr die Ziermittel der Redekunst (oratorie artis ornamenta) nicht zur Verfügung stehen, aus sich selbst die herrlichste, würdigste und gewiß mit ihr selbst übereinstimmende Sprache (voces) hervorbringen.”
222) F r . P e tr ar c a: Ep. Fam. I, 9 (zitiert nach: Edizione Nazionale delle opere, Le Familiari ed. critica per cura di V. Rossi, Bd. X, S. 45-48).
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Hier hat die stoisch-christliche Konzentration auf die Seelenverfassung Petrarca zweifellos weit über den Bereich der rhetorischen Ideologie hinausgeführt. Indem er aber auch hier die Rede als Anliegen im Auge behält, gelangt er zu der für die Neuzeit charakteristischen Konzeption der individuellen Ausdruckssprache. Sein Spracherlebnis reicht hier vielleicht über seine nur gelehrten humanistischen Nachfolger hinaus; es scheint an der zitierten Stelle den Sprachhumanismus überhaupt zu transzendieren und sich dem spezifisch modernen Sprachverhältnis, das in extremer Form aus dem sprachkritischen Nominalismus der Engländer und andererseits aus dem „Geworten” der „abgeschiedenen” und „gelassenen” Seele in der deutschen Logosmystik erwächst, zu verbinden. (Augustinus und die Stoa stehen hier hinter Eckehart wie hinter Petrarca!) Seine Rechtfertigung der kunstlosen Rede einer wohlgeordneten Seele scheint bei oberflächlicher Betrachtung sogar auf Goethes Antirhetorikum im Faust zu verweisen, das die sprachkritische Haltung jener Gottsucher und Forscher repräsentiert, die zu Beginn der Neuzeit den Bannkreis sowohl der scholastischen wie der humanistischen Buchweisheit und formalen Bildung sprengen, um im Buch der Natur und des eigenen Herzens zu lesen: „Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor; und wenn`s euch ernst ist, was zu sagen, ist's nötig, Worten nachzujagen? Ja, eure Reden, die so blinkend sind, in denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt, sind unerquicklich wie der Nebelwind, der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!”
Hierauf läuft indessen Petrarcas Zugeständnis an die christliche Innerlichkeit und den Vorrang der individuellen Seele nicht hinaus, denn er fährt fort, indem er zu seinem humanistischen Anliegen zurückkommt: „Es kann jedoch nicht geleugnet werden, daß etwas Einzigartiges zustande kommt, sooft — vorausgesetzt die Wohlordnung der Seele, ohne die kein glücklicher Ausgang zu erhoffen ist — auch noch auf das Studium der Eloquenz Zeit verwandt wird. Und selbst wenn dies für uns (sc. als Einzelwesen) nicht nötig wäre und der Geist, allein auf seine Kräfte gestützt, seine Gehalte (bona) in der Stille entfalten könnte und des Beifalls der Worte (verborum suffragiis) nicht bedürfte, so bleibt doch noch die Pflicht, zum Nutzen der übrigen Menschen, die mit uns leben, zu wirken; und es kann doch nicht bezweifelt werden, daß deren Seelen durch unsere Gespräche (nostris collocutionibus) außer-ordentlich gefördert werden.”
Petrarca macht sich auch in diesem Punkt noch selbst den Einwand, daß Taten und Beispiele die Menschen mehr fördern als Worte, erklärt aber doch abschließend: „Wieviel aber dennoch die Eloquenz dazu beiträgt, dem Menschen die rechte Lebenshaltung zu vermitteln (ad informationem humane vite), kann sowohl bei vielen Autoren nachgelesen wie auch in der täglichen Lebenserfahrung bezeugt
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werden. Wieviele kennen wir in unserer Zeit, denen die Beispiele der Mitmenschen überhaupt keinen Eindruck machten, die jedoch plötzlich durch fremde Worte (alienis vocibus) gleichsam wachgerüttelt und von einem höchst verbrecherischen Lebenslauf zur höchsten Tugend (ad summam modestiam) bekehrt wurden."
Mit dem Übergang zur zwischenmenschlichen Funktion der Rede hat Petrarca den Boden der rhetorischen Ideologie wieder betreten, und er erinnert auch sogleich an das, was „Marcus Cicero in libris Inventionum copiosus disputat — est enim locus ille notissimus” (s. oben unser Referat). Er erwähnt wie alle Rhetoren die Fabel von der Tiere und selbst Bäume und Steine bewegenden Macht der mythischen Sänger Orpheus und Amphion, die er allegorisch im Sinne der Erweckung und Zähmung der tierhaft wilden sowie der stumpfen und gleichsam leblosen Menschheit auslegt. Für Petrarca weitet sich der gesellschaftliche Aspekt der menschlichen Rede zum raum- und zeitüberbrückenden geschichtlichen Gespräch der Menschheit: „Nimm hinzu, daß wir durch dieses Studium (sc. der Eloquenz) instand gesetzt werden, vielen in entferntesten Erdstrichen lebenden Menschen zu nützen. Denn die Rede dringt vor bis zu den Menschen, die unsere materiellen Hilfsmittel und unser unmittelbarer Umgang niemals erreichen werden. Ja, was wir sogar den späteren Geschlechtern übermitteln können, das können wir am besten ermessen, wenn wir uns erinnern, wieviel uns die Erfindungen unserer Vorfahren gefördert haben.”
Man muß bei diesen Worten daran denken, daß Petrarca mit den Großen der Vorwelt, mit Cicero, Seneca und Livius eine fingierte Korrespondenz führte, hier wird das Pathos des geschichtlichen Gesprächs offenbar, das ihn erfüllt und das an Hölderlin denken läßt, der freilich der rhetorischen Topik entfremdeter und ontologisch ursprünglicher die Verse dichtet: „Viel hat erfahren der Mensch, Der Himmlischen viele genannt, Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander."223)
223) Fr. Hölderlin: Werke, ed. Norb. von Hellingrath, Bd. IV, S. 343. Leider erst nach Abschluß der vorliegenden Arbeit wurde mir die Untersuchung von K. O. Brogsitter „Das hohe Geistergespräch” (Bonn 1958) zugänglich. Dieser literarisch-philosophische Topos, dessen Entstehung und Auswirkung der Verfasser von der Totenbeschwörung des Odysseus bei Homer bis zu Nietzsches Konzeption der „monumentalen Historie” verfolgt, führt in der Tat in den innersten Bereich des abendländischen Humanismus. Dessen klassische Ausprägung findet auch Brogsitter mit W. Rüegg bei Petrarca, wo die Realisierung der überzeitlichen Gemeinschaft aller erlauchten Geister zum ersten Mal bewußt und ausschließlich von der Sprache her, in dialogischer Aneignung der großen Autoren der Weltliteratur, erlebt und wiederum als literarische Haltung sprachlich (im fingierten Brief) hochstilisiert ist. Vielleicht kann man über W. Rüegg
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Vielleicht noch charakteristischer als die von Isokrates bis Cicero vorgeprägte rhetorische Feier der Rede als gesellschaftlich-geschichtlicher Macht ist für Petrarcas persönliches Sprachverhältnis die Rückwendung von der öffentlichverantwortlichen Sicht zur privaten des homo litteratus, mit der er seinen Brief beschließt: „Zuletzt würde ich — selbst wenn nicht die Liebe (caritas) zu den übrigen Menschen uns dazu zwingen würde — die Überzeugung vertreten, daß es das beste und für uns selbst fruchtbarste ist, das Studium der Eloquenz nicht an letzter Stelle zu würdigen. Mögen andere für sich selbst aufkommen; (was mich betrifft, so kann ich nur ausrufen:) welche Wohltat bedeuten für mich in der Einsamkeit gewisse vertraute Stimmen (voces familiares), gewisse Mitteilungen, die nicht nur von menschlichen Herzen mir zugedacht, sondern auch in menschlicher Rede vorgebracht sind (note, non modo corde concepte, sed etiam ore prolate): mit ihnen pflege ich den schlafenden Geist wieder aufzuwecken. Welche Freude bringt es überdies, die Schriften — sei es die fremder Autoren, sei es manchmal auch die eigenen — aufzuschlagen. Ich vermöchte nicht leicht mit Worten zu sagen, wie ich mich durch solche Lektüre von den schwersten und schmerzlichsten Beschwerden befreit fühle. . . . Dies würde mir niemals gelingen, wenn nicht die Worte selbst (verba ipsa) wie Heilmittel die Ohren streicheln und, indem sie mich zu öfterem Wiederlesen gleichsam durch die Gewalt einer inneren Süße reizen, allmählich (in Leib und Seele) eindringen, die Stachel beseitigen und das Innere verwandeln würden.”
Diese letzten Sätze verraten etwas von dem sinnlich-geistigen, man möchte im Sinne der modernen Medizin sagen: psychosomatischen Spracherlebnis Petrarcas, das den Ausgangspunkt seines ideologischen Sprach-humanismus wie auch seiner lyrischen Dichtung bildet und in seiner spezifischen Farbe und Kraft vom Nichtitaliener wohl nur sehr unzulänglich nachgefühlt werden kann. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch Petrarcas Kritik an der Ethik des Aristoteles: „Aristoteles lehrt uns, ich leugne es nicht, was Tugend ist; aber jene überzeugenden und begeisternden Worte, die uns zur Liebe der Tugend und zum Haß des Lasters bewegen, durch die der Geist entzündet und angefeuert wird, kennt er nicht oder doch nur sehr selten. Wie häufig können wir sie dagegen bei den Unsrigen finden ... bei Cicero und Annaeus ..."224)
Hier begründet sich der Sprachhumanismus der Neuzeit — im Unterschied zu dem späteren deutschen Neuhumanismus Winckelmanns und
und Brogsitter hinaus noch einen weiteren Schritt in Richtung auf das geistige Zentrum speziell des rhetorischen italienischen Humanismus tun, wenn man eben mit der petrarkistischen Ausprägung des Topos vom „hohen Geistergespräch” geradezu die humanistische Entdeckung der Sprachfunktion zusamrnensieht. So gesehen, wäre freilich die letzte sprach- und geschichtsontologische Vertiefung des Topos erst in jenem, auch von Brogsitter zitierten Hölderlinvers Gestalt geworden, der eine Epoche der Seinsgeschichte mit den Worten nennt: „seit ein Gespräch wir sind.” 224 ) Fr. Petrarca: Von seiner und vieler Leute Unwissenheit, a. a. 0. S. 171-77.
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Goethes — als rhetorisch-römischer Humanismus. Auch die Platonbegeisterung Petrarcas muß von Cicero — und von Augustinus — her verstanden werden. Aufs schärfste betont dies W. Rüegg225): „Durch die Form, die Kraft der Worte gelangt Petrarca zur Tugendliebe, nicht durch Einsicht, durch Wissen, die durchaus unabhängig von der Form der Übermittlung sind, da hier das Gute als Idee absolut wirkt. Gerade diese dialektischideelle Methode Platos lehnt Petrarca als ,aristotelisch` ab und preist als ,platonisch` die ,glühenden, begeisternden Worte', die Macht der Rhetorik also, deren Bekämpfung Platons größtes Anliegen ist. So rechnet Petrarca Sokrates unter die Lehrer, die ,mit glühenden Worten die Seele treffen und anfeuern' — Sokrates, der die Psychagogie bekämpft und verhöhnt, wo er kann —, ,mit Worten, die die Trägen aufstachelten, die Kalten erwärmten, die Schlafenden aufrüttelten, die Kranken zur Genesung brachten' — wenn Petrarca den ,Gorgias` gekannt hätte, würde er jedenfalls gerade das Beispiel der Krankenheilung durch die Macht des Wortes kaum gebracht haben. Denn dieses kennzeichnet ja gerade den von Platon leidenschaftlich bekämpften Standpunkt der Sophisten.” Einen wichtigen Beleg für Petrarcas Konzeption der Sprache als Ausdruck seelischer Individualität liefert auch seine Auffassung des für das Selbstverständnis aller Humanisten so überaus wichtigen Prinzips der „imitatio"226). So heißt es in einem Brief an Boccaccio aus dem Jahre 1359: „Zu unterscheiden, was fremd, was eigen, kostet mich oft große Anstrengung. Aber ich rufe unsern Apoll, den einzigen Sohn des hehren Jupiter, und wahren Gott, Christus, zum Zeugen dafür an, daß ich nicht auf fremde Beute aus bin.... Mir steht der Sinn danach, mein Leben mit fremden Worten und Ermahnungen zu zieren — nicht meine Schreibweise (stilum), es sei denn unter ausdrücklicher Nennung des Autors oder nach deutlicher Umänderung, so wie die Bienen aus vielem und verschiedenem Eines formen. Sonst will ich lieber einen eigenen Stil schreiben, sei er auch ungepflegt und rauh, doch passend in der Weise einer Toga, nach dem Maße meines eigenen Geistes gemacht (ad mensuram ingenii mei factus); ein solcher Stil ist mir lieber als ein fremder, durch anspruchsvolleren Schmuck gebildeter (cultior ambitioso ornatu), aber aus einem größeren Geist hervorgegangen und (daher) überall von der Statur des niederen Geistes, zu der er nicht paßt, herabfließend . . . Gewiß gehört jedem Menschen natürlicherweise, wie in Miene und Gebärde, so auch in Stimme und Rede etwas Eigenes nur ihm gemäßes (suum ac proprium), das zu pflegen und in Zucht zu nehmen sowohl leichter wie auch besser und glücklicher ist, als es zu verändern."227)
225)
W. Rüegg, a. a. 0. S. 21. Vgl. hierzu die lateinische Textauswahl „Humanistische Prosatexte aus Mittelalter und Renaissance”, herausgegeben von 1. von Stackelberg, Tübingen 1957, sowie von demselben Herausgeber: „Humanistische Geisteswelt”, Baden-Baden 1956. 227) Fr. Petrarca: Fam. XII, 2 (a. a. 0. Bd. XIII, S. 105-108). 226)
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„Solch einen Willen zur Originalität hat kein Humanist lateinischer Sprache vor ihm besessen” urteilt J. v. Stackelberg, der in seinen Textausgaben zur Geschichte des Humanismus dem Prinzip der imitatio besonders nachgegangen ist228). In dem ausdrücklichen Willen zum persönlichen Sprachstil sowie in der zugehörigen Unterscheidung zwischen Zitat und Plagiat scheint sich bei Petrarca ein dem Traditionalismus des Mittelalters gegenüber neuartiges Verhältnis zur Sprache auszudrücken, das wir jedoch in seiner Tragweite nicht überschätzen möchten. Sein Anspruch geht nicht eingentlich dahin, neue Wahrheit in der Sprache seines Herzens auszusprechen (wie etwa J. Böhme es will und wie es für den modernen „Dichter” fast selbstverständlicher Anspruch ist), sondern — und dies klingt wieder sehr humanistisch (im engeren Sinn) — „das von anderen schon Gesagte schöner noch einmal zu sagen"229). Dieses literarische Programm sowie das zugehörige antike Gleichnis von den Bienen, die das aus allen Blumen Gesaugte in Honig verwandeln, das Petrarca wie früher schon die „Humanisten” des 12. Jahrhunderts, z. B. Peter von Blois, häufig verwendet230), zeigen, daß der italienische Neubegründer des Humanismus bei aller Betonung der Originalität letztlich doch der Idee der profanen Bibel der lateinischen Bildungsliteratur verpflichtet ist, die der heiligen Schrift und den Kirchenvätern zur Seite tritt231). Petrarca sagt selbst: „Testatus sum me n i h i l n o v u m , n i h i l f e r e m e u m d i c e r e , imo vero nihil alienum. Omnia enim undecumque ducimus nostra sunt, nisi forte obtulerit ea nobis oblivio."232)
Im Formgefäß der lateinischen Sprache ist seit der geistigen Aneignung Ciceros durch die Väter die Weisheit der Griechen mit der geoffenbarten Weisheit vereint. Diese Wahrheit wird der Humanist als Dichter
228) J. von Stackelberg: Humanistische Geisteswelt, S. 116. Auf der Linie des von Petrarca bezeugten Willens zum Ausdruck der individuellen Persönlichkeit entspringt später der Protest der bedeutenderen Humanisten gegen den sklavischen Ciceronianismus. So bei Poliziano, der dem Ciceronianer Paolo Cortesi vorhält: „Nam exprimis (inquit aliquis) Ciceronem. Quid tum? Non enim sum Cicero, me tarnen (ut opinor) exprimo.” (Angeli Politiani Epistolarum libri XII, Lugduni 1536, VIII, 15. Zitat nach Aug. Buck: Ital. Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952, S. 64) Weit radikaler und in seinem Neuplatonismus fast schon auf der Linie der deutschen Logosmystik fordert schließlich der Neffe Giovanni Pico della Mirandolas, Gian Francesco Pico, in einer Kontroverse mit Bembo: „Imitari itaque eam debemus quam animo scilicet gerimus dicendi perfectam facultatem.” (In: Bembi Epistolae et opuscula, ed. Argentori, 1611, S. 717. Zitat nach A. Buck, a. a. O. S. 66) 229) Petrarca: Dichtung, Briefe, Schriften (ausgewählt und eingeleitet von H. W. Eppelsheimer, Frankfurt am Main 1956, S. 17 und 22). 230) Vgl. . v. Stackelberg, a. a. O. S. 84, 111; u. ders.: Hum. Prosatexte, S. 44, 46, 48, 54. 231) Vgl. G. Toffanin a. a. O. Kap. I: „Das klassische Erbe von den Vätern bis zu Thomas von Aquin”. 232 ) Fr. Petrarca: Fam. VI, 2 (Zitat nach Toffanin, a. a. O. S. 169).
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(poeta) mit neuen Worten oder, vielleicht genauer gesagt: in neuer Zusammenstellung der alten Wörter und Redefiguren in schöner Form zur Sprache bringen, aber es liegt ihm fern, etwa gegen die „Buchstaben” der Literatur das „Buch der Natur” und die zu ihm unmittelbare Sprache des Herzens auszuspielen. Diese Konstellation entspricht einem anderen Sprachverhältnis, in dem ein neues religiöses Ringen um die Wahrheit den metaphysischen Kern bildet. Für Petrarca bleibt der Wille zum originellen Sprachstil durch die Voraussetzung einer im katholischen Sinn dogmatisch fixierten Wahrheit auf die aesthetische Ebene der Form beschränkt, und gerade durch diese aesthetische Beschränkung wird sein Spracherlebnis für den humanistischen Bildungsbegriff der Sprache epochemachend: „Wie nämlich das Wahre bei der Wahrheit zu suchen ist, wo anders, ich bitte dich, als bei der Beredsamkeit kann die kunstvolle und schmuckreiche Redeweise erworben werden?"233)
In diesem Satz, der zur religiösen Rechtfertigung der humanistischen Studien mit Berufung auf Hieronymus gesagt ist, liegt auch das Kriterium für die Begrenzung des humanistischen Begriffs einer individuellen Ausdruckssprache234). Sprachform und Sprachinhalt stehen sich insofern äußerlich gegenüber, als das Verhältnis von Wahrheit und Sprache metaphysisch bestimmt bleibt durch den hellenistischen Wahrheitsbegriff, den wir an Hand der Einteilung der LogosDimensionen bei Theophrast aufzuweisen versuchten. (s. oben S. 150 ff.) Bei voller Berücksichtigung dieser Grenzen mag freilich bei Petrarca über den gelehrten Sprachhumanismus hinaus noch ein Sprachbekenntnis des echten Dichters und ein Nachklang augustinischer Inbrunst hörbar werden, wenn er sagt: „M a g n a s r e s a e q u a r e s e r m o n i b u s e t v e r b i s a r t e c o n t e x t i s a n i m i f a c e m l a t e n t i s o s t e n d e r e , is demum puto, supremus eloquentiae finis est."235)
(Man vergleiche hiermit die traditionellen Definitionen des Sprechens von Platon bis Dante, die wir oben S. 106 aufgeführt haben; ihr philosophisches Strukturgerüst ist bei Petrarca gleichsam im Ornat der Rhetorik
233) Fr. Petrarca: Brief an Boccaccio v. 28. 5. 1362, Seniles I, 4 bzw. 5 (deutsch von H. Nachod und P. Stern, Berlin 1931, S. 253). 234) Durch die Beschränkung der Bedeutung des individuellen Sprachstils, den Petrarca zweifellos proklamiert, auf die ästhetisch-formale Bildungsebene wird, wie mir scheint, die Unterscheidung des mittelalterlichen „Klassizismus” vom „Humanismus” im Sinne Petrarcas und Erasmus', die W. Rüegg durchführt, zugleich bestätigt und in ihrer Tragweite eingeschränkt: Mittelalterlicher Klassizismus und klassischer Humanismus bleiben im Rahmen des Weltalters der rhetorischen Topik dem kanonischen Inhalt der antiken Literatur verhaftet, hierin sind sie eng verbunden. 235) Fr. Petrarca: Fam. XII, 5 (Toffanin, a. a. 0. S. 455).
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stilisiert, so wie ja auch die „eloquentia”, von der er spricht, die rhetorische Hochstilisierung des bloßen „loqui” ist.) Daß der Sprachhumanismus Petrarcas neben dem römischen auch einen christlichen Ursprung hat, bezeugt auch seine Würdigung der Rede als der eschatologisch maßgebenden Selbstdarstellung des Menschen: „Qualis enim sermo fuerit, talis vita censebitur, quando rerum sublatis iudiciis sola verborum supererunt argumenta."236)
Diese Worte stehen, unter dem Gesichtspunkt abendländischer Geistessäkularisation betrachtet, genau in der Mitte zwischen den Worten Christi (Matth. 12. 37): „Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden” und dem auf die römische Rhetorik (letztlich auf die griechische Sophistik) zurückgehenden Satz Buffons: „Le style c'est l'homme même” (Discours sur le style, 1753)237). — Noch später; im Zeitalter des Nihilismus, in dem die Dichtersprache ihre Transzendenz mit Nietzsche in sich selbst zu begreifen sucht, wird es dann heißen: „Stil ist der Wahrheit überlegen, er trägt in sich den Beweis der Existenz” (G. Benn: Probleme der Lyrik, Wiesbaden 1951). Von Petrarca aus läßt sich bei den italienischen Humanisten die Ausbildung der neulateinischen Sprachideologie zugleich mit der Ausformung der „CiceroLegende” (G. Toffanin) verfolgen238). Wir belegen die charakteristischen Topoi dieser geistigen Bewegung: C. S a l u t a t i spricht von Cicero als dem „fons eloquentiae”. Wie alle Humanisten übernimmt er von ihm den Kerngedanken der antiken Rhetorenideologie von der Sprachauszeichnung des Menschen: „Die Menschen unterscheiden sich von den übrigen Geschöpfen durch die Sprache. Es muß also der Höchste unter ihnen sein, wer sie in diesem Punkte übertrifft."239)
Wie bei Cicero und Quintilian hängen auch für den Florentiner Staatskanzler „Weisheit” (sapientia) und „Beredsamkeit” (eloquentia) untrennbar zusammen: „Am besten verwachsen Wissen und Wortkunst miteinander, wenn man all das in Worte faßt, was man (wissentlich) begriffen hat... wer sich dem Studium der Weisheit ergeben hat, hat sich damit zugleich auch dem Studium der kunstvollen Rede verschrieben. Wenn man überhaupt grundsätzlich die beiden im Geist voneinander unterscheiden kann, so läßt sich sagen, daß die Redekunst seltener anzutreffen ist als großes Wissen."240)
236)
Fr. Petrarca: Opp. Basel 1581, S. 687 (Zitat nach W. Rüegg, S. 133). Vgl. W. Rüegg, a. a. O. S. 29, wo aber nur die weltlich-humanistische Auslegung berücksichtigt ist. 238) Vgl. zum folgenden G. Toffanin, a. a. O. S. 120 ff. 239) Coluccio Salutati: Epistolario, ed. Fr. Novati, Roma 1891, I. Bd. p. 79; vgl. auch Bd. III, p. 598 ff. 240) Ebda., Bd. III, p. 598 ff. 237)
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(Die letztere Wendung rekapituliert eines der Hauptargumente der Selbstrechtfertigung und breit ausgeführten Selbstverherrlichung des Redners in Ciceros „De oratore".) „Die Weisheit — davon die Beredsamkeit ein gewichtiger Teil ist — ist nichts anderes als das Wissen von den göttlichen und menschlichen Dingen.”
(Aus dieser Definition, die sich ebenso sehr auf den rhetorischen Platonismus Ciceros wie auf den christlichen des Augustinus berufen kann [vgl. des letzteren Bekenntnis: „Deum ei animam cognoscere appeto, nihil aliud ...” ], entfaltet sich bei den italienischen Humanisten — zuletzt noch am eindrucksvollsten bei G. B. Vico — die transzendentalphilologische Grundlegung der Geisteswissenschaft.) Zum Wissen des Redners von den göttlichen und menschlichen Dingen gehört nicht das Bemühen um die „peinlichen und geschwätzigen Disputationen, mit denen man sich heutzutage so angestrengt abgibt” (Absage an die Scholastik!), nicht dazu gehört überhaupt der Inhalt der Physik und Logik, und hier kann Salutati Cicero unmittelbar zitieren: „,Wenn er (sc. der Redner) aber auf mich hört, wird er von den drei Teilen der Philosophie die (Gegenstände der ersten zwei:) Dunkelheit der Natur und Scharfsinnigkeit der Darlegung (betreffend) außer acht und getrost auf sich beruhen lassen; wenn er nur den dritten Teil, der Leben und Charakter der Menschen anbetrifft, beherrscht! Denn ohne diesen hat er keine Aussicht, es je zu einem großen Redner zu bringen. Ober das Leben und den Charakter der Menschen muß er unbedingt Bescheid wissen! So weit Cicero."241)
So wie Salutati gegen die Thomisten den franziskanischen Primat des Willens verficht, so ist für ihn als Weisheitslehre nur die Moralphilosophie (Ethik, Politik und Ökonomie) relevant242). Man muß diese — modern gesprochen — pragmatische oder existenzielle Orientierung der für den Redner wichtigen inhaltlichen Sprach-topik im Blick haben, wenn man seine Betonung der Zusammengehörigkeit von Wort und Sache von der oft ganz ähnlich lautenden Lehre der „spekulativen Grammatik” der „Modisten” unterscheiden will. Wenn Salutati in einer Polemik mit dem Thomisten Dominici sagt: „. . . ipsa grammatica sine noticia rerum et quibus modis rerum essentia varietur ... sciri non potest" 243 ),
so klingt diese philosophische Rechtfertigung des Sprachhumanismus und seines Erziehungsprogramms wie ein Satz aus einem Tractat „De modis significandi”. Aber der Akzent ist insofern verschoben, als die variatio rerum essentiae nicht mehr aus dem spekulativen Horizont einer „äternistischen” Naturontologie und ihrer „voraussetzungslosen” Logik, sondern
241)
Ebda. Ebda. 243) Ebda., Bd. IV, S. 216. 242)
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aus dem geschichtlich-pragmatischen Horizont der politisch-moralischen und allenfalls christlich-soteriologischen Welttopik geschöpft ist. Auch die Terminologie der Abhandlungen „De proprietatibus terminorum”, etwa der Suppositionstheorie, begegnet bei Salutati, aber auch sie steht nicht mehr im Dienst logisch-ontologischer Spekulation, sondern liefert das sprachphilosophische Rüstzeug, um mit Berufung auf Aristoteles, Quintilian und Augustinus eine Lehre von der historisch-philologischen Interpretation poetischer, d. h. allegorischdoppelsinniger Texte zu formulieren. Diese Sprachhermeneutik soll der antiken Literatur ebenso wie der heiligen Schrift zugute kommen: „Denn da seit Aristoteles deutlich geworden ist, daß die Poesie fast immer einen tieferen Sinn verbirgt (intrinsecum occultat intellectum): worin verfährt dann die Poetik anders als die heilige Schrift?”
Das Kernstück von Salutatis Sprachhermeneutik lautet: „in figura quippe loquitur utraque verbis novatis atque translatis supponentibus prorsus alius quam significent: supponentibus quidem non appropriatione, que de consuetudine provenit, sed intentione, non illa que sumitur ex origine proprietate ... sed mente: ut non immerito primi theologicantes, sicut testatur Aurelius, dicti fuerint Museus, Orpheus et Linus, imo theologi, quoniam deos suos carminibus celebrarent."244)
Dies ist die alte Lehre der Kirchenväter vom tieferen Schriftsinn, wie schon bei Augustinus verbunden mit der hellenistischen Voraussetzung der theologischen Weisheit der ältesten Dichter, aus der ja die patristische Allegorese seit Philon tatsächlich hervorgegangen war. Salutati präzisiert diese Sprachhermeneutik als Lehre vom Zweitsinn bzw. von der Doppeldeutigkeit der Dichtersprache, nicht ohne dabei von den Begriffsdistinktionen der scholastischen Semiotik Gebrauch zu machen. So expliziert er „zur Einführung” in die Poetik, die er als Teil der „Logik, d. h. der sermonicalis scientia” (im Sinne der stoischen Logoswissenschaften definiert!) im Anschluß an die 7 freien Künste diskutiert, die „Grundlagen aller Sprachverwendung”: „omnis latine locutionis ratio versatur in terminis, in quibus quidem duo et duo consideranda sunt: significatio quidem et modi significandi, quibus perfecta sententia congruaque locutio perficitur et creatur; altera sunt syllaborum quantitas et dictionum accentus, quibus pronunciatio variatur”.
Hinsichtlich der Bedeutung unterscheidet er nun zwei Modi: „una est secundum communis et attribute significationis simplicitatem; altera secundum singularem intellectus assumptam in vi similitudinis commutationem. Die erstere ergibt die reine, gewöhnliche und gebräuchliche, schnell und einfach
244)
Ebda., S. 239.
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zum Verständnis gelangende Rede; sie ist die grammatische, von allen angewandte Sprechweise (ab omnibus usurpata locutio). Die zweite ergibt die übertragene Redeweise (sermo figurativus), sie meint etwas anderes als sie unmittelbar vorbringt, sie setzt durch Ähnlichkeitsbeziehung die Phantasie in Bewegung (movens ex similitudine phantasiam) und berührt und bildet zuletzt unseren Verstand durch zweifachen Sinn (tandemque duplici sensu tangens et erudiens intellectum). Diese Rede ist Sache der Dichter."245)
Diese auf Allegorese gegründete Sprachhermeneutik, die zunächst eine Wiederbelebung der hellenistischen und patristischen Philologie ist, enthält den Keim der humanistischen Geisteswissenschaft. Noch Vicos etymologisierende Kultur- und Geschichtsphilosophie entspringt aus den gleichen Grundtopoi wie etwa: „ S a p i e n t i a v e t e r u m ” , „ D i c h t e r a l s T h e o l o g e n ” und aus dem methodischen Ansatz, den vom Menschen geschaffenen und in der Sprache erschlossenen „mondo civile”, z. B. die schon von Petrarca und Salutati gegen die Naturwissenschaft (d. h. die Medizin) ausgespielte Welt der menschlichen Institutionen und Gesetze246), durch philologische Interpretation hermeneutisch zu rekonstruieren. Freilich wird Vico den Sinn der Lehre von der Weisheit der Dichter sozusagen auf den Kopf stellen. Nicht weil sie „totum trivium, quadrivium, philosophiam omnem, humana divinaque et omnes prorsus scientias” als gewußten Inhalt voraussetzt, wie Salutati meint247), ist die Poesie die älteste Weisheit, sondern weil sie als älteste Sprache der Menschheit aus der Kraft der Phantasie alle jene Weltgehalte, von denen noch kein begriffliches Wisssen existiert, zum ersten Mal konstituiert — gemäß dem Satz: „homo non intelligendo fit omnia” (s. unten S. 345 ff.). Wir führen diese geniale Umdeutung der humanistischen Topoi schon hier an, um dadurch die Grenzen der bei Salutati (und im gleichen Sinn auch bei allen anderen Humanisten der Renaissance bis Patrizzi und Scaliger) zu belegenden Sprachhermeneutik ins Licht zu stellen. Ihre sprachphilosophischen
245) Ebda., S. 230. Zum allegorischen Verständnis der Dichtung bei Dante, Petrarca und Boccaccio vgl. auch A. Buck, a. a. 0. S. 48 ff., S. 81 ff. 246) Vgl. F. Petrarca: Invective contra medicum ..., ed. critica a cura di P. G. Ricci, Roma 1950; ferner vor allem Salutatis Streitschrift: „De nobilitate legum et medicinae”, a cura di E. Garin, Firenze 1947. Zu der ganzen Kontroverse und ihren Folgen vgl. Aug. Buck: Zum Methodenstreit zwischen Humanismus und Naturwissenschaft in der Renaissance. In: Sitzungsberichte der Gesellsch. z. Beförd. d. ges. Naturwiss., Marburg 1959, S. 3 ff. 247) Salutati: Epist., IV, a. a. 0. S. 230. Auch Boccaccio hält dafür, daß der Dichter — wie der philosophisch gebildete Redner im Sinne Ciceros — ein gelehrtes Wissen besitzen muß: „ ..liberalium aliarum artium (sc. außer der Grammatik und Rhetorik) et moralium atque naturalium saltem novisse principia necesse est; nec non et vocabulorum valere copia, vidisse monimenta maiorum, ac etiam meminisse et hystorias nationum, et regionum orbis, marium, fluviorum et montium dispositiones.” (Genealog XIV, 7; Zitat nach A. Buck, a. a. 0. S. 83)
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Voraussetzungen sind die seit dem Hellenismus im Abendland maßgebenden: Die Sprache ist zwar (noch!) Form des Verhaltens und insofern dem Denken noch nicht so äußerlich wie in der nominalistisch bestimmten Neuzeit. Gleichwohl ist aber gemäß dem Wahrheitsbegriff der philosophischen Dialektik (s. oben S. 150 ff.) der Inhalt der Sprache bereits aus der Sicht des postlingualen „urteilenden” Denkens aufgefaßt. Damit ist der zum Primat der praejudikativen Topik gehörige Wahrheitsund Weltbegriff schon verdeckt. Der Inhalt der Sprache gilt als selbstverständlich vorhanden und objektiv wißbar auch für den Dichter, der ihn durch seine Bildersprache nur nachträglich verhüllt, einkleidet und schmückt: „Auf daß sie mühevoll verdient und desto sicherer verwahrt werde, v e r b i r g t d e r D i c h t e r d i e W a h r h e i t unter vielen, scheinbar entgegengesetzten Erscheinungsformen ...”, sagt Boccaccio248). Bei Petrarca heißt es genau entsprechend: „ve r i t a t e m r e r u m p u l c h r i s i m a g i n i b u s a d o r n a r e , ut vulgis insulsum lateat, ingeniosis autem studiosisque lectoribus et quaesitu difficilior et dulcior sit intentu."249)
Dabei ist seit Petrarca und Boccaccio zugleich mit dem Topos der Dichtertheologen auch die platonische, von Horaz und Cicero überlieferte L e h r e v o m D i c h t e r w a h n s i n n b z w . v o n d e r g ö t t l i c h e n I n s p i r a t i o n d e r D i c h t e r bei den Humanisten wieder zu Ehren gekommen. Sie bildet bald ein bedeutsames Gegengewicht gegen die im Mittelalter herrschende rhetorische Auffassung von der Lehrbarkeit des Dichtens. So schreibt Petrarca — in wörtlicher Wiederholung einer Stelle aus Ciceros „Pro Archia Poeta” (8, 18) — „. . . sic accepimus, caeterarum rerum studia et doctrina et praeceptis et arte constare, Poëtam ipsa natura valere, et mentis viribus excitari, et quasi divino quodam spiritu afflari"250.
Aber die Grundlagen des humanistischen Sprachbegriffs werden davon kaum oder doch nur oberflächlich berührt. Bezeichnend ist folgende
248) G. Boccaccio: Vita di Dante, Kap. 21 (Übersetzung nach . von Stackelberg: Hum. Geisteswelt, a. a. O. S. 137). 249) Vgl. auch Sen. XII, 2: „Officium eius (poetae) est fingere, id est componere atque ornare, et veritatem rerum, vel mortalium, vel naturalium, vel quarum libet aliarum artificiosis adumbrare coloribus, et velo amoenae fictionis obnubere, quo dimoto veritas eluscescat, eo gratior, quo difficilior sit quaesitu.” (Zitat nach A. Buck, a. a. O. S. 73). In den „Göttergenealogien” (XIV, 7) bestimmt Boccaccio ausführlicher, aber genau dem Schema Petrarcas entsprechend die Aufgabe des Dichters. Er soll „peregrinas et inauditas inventiones excogitare, meditatas ordine certo componere, ornare compositum inusitato quodam verborum atque sententiarum contextu, velamento fabuloso atque decenti veritatem contegere.” (vgl. A. Buck, a. a. O. S. 83). 250) Petrarca: Invectivarum contra medicum quendam libri quatuor, I; in: Opera, Basileae 1581, 1091 (Zitat nach Buck, a. a. 0. S. 76).
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Zusammenstellung der entscheidenden Motive der „theologischen Poetik” des Frühhumanismus bei Boccaccio: Und so haben die Propheten und Moses außer einem Teil des Pentateuch „noch viele andere bedeutsamste Dinge in Versen u n t e r d e m S c h l e i e r , d e n w i r D i c h t u n g n e n n e n , ersonnen, deren Spuren, wie ich vielleicht nicht ganz töricht meine, die heidnischen Dichter, wenn sie dichteten, gefolgt sind. Wie aber die Gottesmänner voll des heiligen Geistes und von diesem getrieben ihre Bücher schreiben, so haben auch die anderen (sc. die Dichter) u n t e r d e r G e w a l t d e s G e i s t e s , weshalb sie „vates” genannt wurden, v o n d e s s e n F e u e r g e t r i e b e n ihre Dichtungen verfaßt.” 251)
Dise humanistische Zusammenschau von biblischer Sprache und Dichtung überhaupt gehört gewiß zu den fruchtbarsten Motiven der abendländischen Geisteswissenschaft und insbesondere der Sprachphilosophie. Noch Hamann schöpft aus dieser Zusammenschau sein entscheidendes Spracherlebnis, seine Konzeption der dichterischen Symbolsprache, durch die Gott sich uns allein offenbaren kann. Seine Konzeption bestimmt den deutschen „Begriff” der „Dichtung”. Bis dann Hölderlin zuerst im Abendland als Dichter wieder Ernst macht mit dem in den humanistischen Topoi (vom Dichterwahnsinn und seiner theologischen Weisheit) aufbewahrten Anspruch: „Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen."252) „... und Winke sind Von Alters her die Sprache der Götter” Und gleich den Propheten „. . . fliegt, der kühne Geist, wie Adler den Gewittern, weissagend seinen kommenden Göttern voraus."253) Bis zu Vico bleibt aber das eigentlich humanistische Verständnis der Dichtersprache im Bereich der Allegorese, d. h. der hermeneutischen Voraussetzung des poetisch verkleideten, durch den metaphorischen Zweitsinn gemeinten philosophisch richtigen Begriffs bzw. Verstandesurteils über die
251) G. Boccaccio: De Genealogiis Deorum, XIV, 8. Dasselbe im Brief an Pizzinga, Opere Latine, Bari 1928, S. 194 (Toffanin a. a. O. S. 183 f.). Der lateinische Text lautet: „Et sie alios non nullos equo modo magnalia dei sub metrico velamine licterali, quod poetico nuncupamus, finxisse. Quorum ego, nec forsan insipide, reor poetas gentiles in componendis poematibus secutos vestigia; verum ubi divini homines Sancto pleni Spiritu, eo impellente, scripsere, sic et alii vi mentis, unde vates dicti, hoc urgente fervore, sua poemata condidere.” 252) Fr. Hölderlin: „Wie wenn am Feiertage...” (Werke a. a. O. Bd. IV, S. 151 ff.); vgl. M. Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt am Main, 1944. 253) Fr. Hölderlin, a. a. O. S. 135.
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Dinge. Diese Schranke für ein Verständnis der spezifisch dichterischen Wahrheitskonzeption wird gerade da besonders deutlich, wo die Wahrheitsdarstellung des Dichters von der des Philosophen und sogar von der rhetorischen Methode unterschieden wird, wie dies ausdrücklich bei Boccaccio geschieht: „Phylosophus, ut satis patet, silogicando reprobat, quod minus verum existimat, et eodem modo approbat, quod intendit, et hoc apertissime, prout potest; poeta, q u o d m e d i t a n d o c o n c e p i t , s u b v e l a m e n t o f i c t i o n i s , silogismis omnino amotis, quanto artificiosius potest, a b s c o n d i t ."254)
Daß die Wahrheitskonzeption hier im Sinne der Philosophie (die eben den Wahrheitsbegriff geprägt hatte) vorausgesetzt und das Spezifikum der Dichtung gerade in der Verhüllung der schon im Besitz befindlichen Wahrheit gesehen wird, bestätigt Boccaccios Unterscheidung von Dichtung und Rhetorik: „... habet enim suas inventiones rhetorica. Verum apud t e g u m e n t a f i c t i o n u m nullae sunt rhetoricae partes. Mera p o ë s i s e s t q u i c q u i d s u b v e l a m e n t o c o m p o n i m u s : et exquiritur exquirite."255) „Habt auf die Lehre acht, die sich verbirgt unter dem Schleier dieser fremden Verse”, (mirate la dottrina che s'asconde sotto il velame degli versi strani.)
so hatte Dante (Inf. IX, 62/63) das Wesen seiner Dichtung gedeutet; und auf diese Deutung können auch die Humanisten in der Apologie der Dichtung gegenüber der Theologie nur zurückgreifen. Boccaccio erkennt bereits klar: „ ... wenn man ihren (sc. der Dichter) Stil genau betrachtet, dann unterscheiden sie sich in der Art zu reden nicht von den Propheten.” Aber dann fährt er fort: „bei denen wir u n t e r d e r H ü l l e v o n W o r t e n , die auf den ersten Blick erdichtet zu sein scheinen, von den Wundertaten der göttlichen Macht lesen."256)
Zunächst scheint nur die Rücksicht auf die Theologie diese Formulierung zu bestimmen. Selbst Vico wird später seine phantasie- und sprachbezogene Konstitutionstheorie der für uns Menschen primären und wiedererkennbaren Wahrheit nicht radikal, etwa als eine allgemeingültige „Philosophie der Offenbarung”, durchführen. Daran hindert auch ihn die Sonderstellung der biblischen Offenbarung. Andererseits ist aber bereits bei G. Bruno die platonische Inspirationstheorie ohne Rücksicht auf eine Sonderstellung der heiligen Schrift für den genialen Dichterphilosophen in
254)
Boccaccio: Geneal. XIV, 17 (vgl. A. Buck, a. a. O. S. 84). Ebda. XIV, 7. 256) G. Boccaccio: Commento alla Divina Commedia, ed. D. Guerri, vol. I, Bari 1918, S. 142 (Toffanin, S. 185): „E, se bene si riguarderá alli loro stili, essi non sono dal modo del parlare differenti da' profeti, ne' quali leggiamo, sotto velamento di parole nella prima apparenza fabulose, 1'opere ammirabili della divina potenza.” 255)
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Anspruch genommen257). Aber auch bei ihm, zweifellos einem repräsentativen Ursprungspunkt des modernen säkularisierten Geniebegriffs, wird der Offenbarungsbegriff der Sprache nicht gewonnen (vgl. unten S. 197-200). Zu stark ist im Humanismus bereits die Verselbständigung der Sprachform, wie sie im Rahmen der reflexiven „Logoswissenschaften” (der artes bzw. scientiae sermonicales), ihrer Topoi, Regeln, Figuren und Formeln von der lateinischen Bildungsschicht des Abendlandes seit dem Hellenismus gleichsam eingeübt worden war. Jener Quellpunkt der Dichtersprache, an dem die Form als Gestalt zugleich mit dem Wahrheitsgehalt der Welt entspringt, ist dem Humanismus unerreichbar geworden. Erst das Zusammentreffen von christlicher Logosmystik, die das platonische Inspirationsmotiv sozusagen aus dem für das christliche Abendland gültigen religiösen Ursprung neu erfährt, mit dem Erwachen einer nicht-lateinischen Muttersprache schafft die Bedingungen für den freilich auch heute noch nicht zuendegedachten Offenbarungsbegriff der Sprache, wie von uns früher schon angedeutet wurde (vgl. Kap. I u. Kap. II sowie unten Kap. VII, e und VIII). Wie aus der philosophischen Grundlegung des humanistischen Sprachbegriffs nicht anders zu erwarten, zeigt sich schon bei Salutati — obwohl er wie Cicero die Zusammengehörigkeit von Wort und Sache, Eloquenz und Weisheit ideologisch verficht, — daß die eigentlich sprachwissenschaftlichen Ansätze des Humanismus nur in die Richtung einer isolierten Betrachtung der Lautform und ihres genealogischetymologischen Beziehungsgewebes sich entfalten können. Erst recht ist dies bei seinen philosophischen Schülern, L. Bruni und Poggio, der Fall. Bis zu L. Valla entfaltet sich diese Wissenschaft der lateinischen Form im Zusammenhang der Kritik der verdorbenen Latinität des Mittelalters. Aus dem kulturreformatorischen Blickpunkt dieser Arbeit schärft sich — wie schon bei Dante — das historische Denken. Schon hier ist vorentschieden, daß die neueuropäische Sprachwissenschaft (trotz Herder und W. von Humboldt bis heute) eine historische Erforschung der Lautform ohne philosophische Berücksichtigung der ursprünglich hermeneutischen, weltkonstitutiven Leistung der Sprache sein wird. Dabei bleibt die Lautwissenschaft der italienischen Humanisten vorerst noch dogmatisch-programmatisch gebunden an die rhetorische Ideologie der schönen (lateinischen) Sprache als Verhaltensform des Menschen, und insofern will sie auch für das klare und richtige Denken neue Maßstäbe gewinnen. Erst das Scheitern der von den Humanisten propagierten rhetorischen Logik gibt einer ideologisch ungebundenen, vom nominalistischen Zeichenbegriff der Sprache geleiteten Erforschung der historisch vorliegenden sprachlichen Lautsysteme die Bahn frei. (s. unten S. 286 ff. u. S. 297 f. über Leibniz).
257) Vgl. etwa die Textauswahl (mit Interpretationen) von E. Grassi: G. Bruno (Heroische Leidenschaften und individuelles Leben), Bern 1947, besonders S. 72 ff.
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P o g g i o B r a c c i o l i n i , der Schüler S a l u t a t i s und berühmte Handschriftensucher (in unserem Zusammenhang ist besonders wichtig seine Entdeckung eines vollständigen Quintilian in Sankt Gallen258)), verfolgt unter anderem auch die etymologisch-philologischen Gesichtspunkte seines Lehrers weiter und beschäftigt sich mit der Entstehung des Italienischen und Spanischen aus dem Lateinischen. „Indem Poggio aus vulgärsprachlichen Wörtern auf lateinische Etyma zurückschließt, treibt er recht eigentlich romanische Philologie”, schreibt E. Walser in seiner Biographie259). Auch Poggio variiert den Ciceronischen Kerntopos der humanistischen Sprachideologie, indem er daraus die Bedeutung des von ihm wiederentdeckten Quintilian für die menschliche Bildung ableitet: „Aber mir scheint doch, ihre (sc. der Natur) höchste Gabe ist die der menschlichen Sprache (quod ea nobis elargita est usum atque rationem dicendi), ohne die Verstand und Geist nahezu ohnmächtig wären. Denn allein die Sprache (sermo) setzt uns instand, die Fähigkeiten unseres Geistes auszudrücken (ad exprimendam animi virtutem) und uns von den übrigen Lebewesen zu unterscheiden. Größten Dank schulden wir daher einmal insgesamt den Urhebern der freien Künste, ganz besonders aber denen, die durch ihre Untersuchungen und Bemühungen uns die Regeln der Sprache und eine gewisse Norm der vollkommenen Rede (dicendi praecepta et normam quandam perfecte loquendi) überliefert haben. Sie bewirkten nämlich, daß wir (die humanistisch Gebildeten!) eben in dem Punkt, wodurch die Menschen die andern Lebewesen am meisten überragen, uns sogar vor den Menschen auszeichnen."260)
Wenn bei den Humanisten von der Sprachauszeichnung des Menschen die Rede ist, so darf auch dies niemals nur im Sinne einer abstrakten, äternistischen Ontologie verstanden werden. Gemeint ist — im Zusammenhang der auf Cicero und die Kirchenväter zurückgehenden „Ideologie” — immer die konkrete, lateinische Sprache als weltgeschichtlich maßgebende Form der Kultur, in der die Weisheit der Griechen und der christlichen Offenbarung zur Form der „humanitas” schlechthin verschmolzen ist. In diesem Sinn spricht S i c c o P o l e n t o n (1375/6—1447), der Verfasser der ersten Geschichte der lateinischen Literatur, von dieser „als der einzigen nicht toten, nicht sterblichen Literatur der Weisheit”, der „Bibel für
258) Nachdem freilich bereits 1397 ein vollständiger Quintilian von Nikolaus von Clemanges in einem französischen Kloster entdeckt worden war, wie R. Sabbadini in seinem Werk „Le scoperte dei codici . . .” nachgewiesen hat. (Vgl. hierzu H. Rüdiger in: Gesch. der Textüberlieferung der antiken u. mittelalterl. Lit., Bd. I, Zürich 1961, S. 540.). 259) E. Walser: Poggius Florentinus, Leben und Werke, Leipzig und Berlin 1914, S. 261. 260) Poggio Bracciolini: Brief an Guarino von Verona über die Entdeckung einer Quintilianhandschrift, Text nach: Humanist. Prosatexte..., ed. 7. von Stackelberg, Tübingen 1957, S. 74.
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den Laien"261). Er feiert Cicero, dem er weit mehr als die Hälfte seines Werkes widmet, als „magister summus et lumen"262), dessen Name „summam ob eloquentiam” so hoch gestiegen sei, daß er „haudquaquam pro homine sed ipsa pro eloquentia capiatur.” Die Eloquenz — ihre Definition steht wie immer im Bereich des Sprachhumanismus stellvertretend für das Ideal der Sprachauffassung — ist, ganz wie bei Cicero, von den höchsten Künsten jene „quae dicenda omnia e x o r n e t v e r b i s efficiatque a r t i f i c i o s u o u t r e g - n a r e a c d o m i n a r i a u d i e n t i u m m e n t i b u s v i d e a t u r " 263).
Zur gleichen Zeit gibt Leonardo B r u n i A r e t i n o in seinem „Leben Ciceros” eine klassische Zusammenfassung der Cicerolegende und der mit ihr verbundenen Sprachideologie: „Als Konsul im römischen Staat hat er das Vaterland bewahrt und mit s e i n e n R e d e n u n z ä h l i g e M e n s c h e n b e f r e i t und in Lehre und Schriften nicht nur seinen Mitbürgern, sondern allen, die sich der lateinischen Sprache bedienen, das Licht der Disziplin und der Weisheit gebracht. Denn er hat zuerst in l a t e i n i s c h e r S p r a c h e d i e P h i l o s o p h i e e r k l ä r t , die vorher in unserer Sprache nicht zugänglich und in all unserem Sprechen nicht gebräuchlich war, und von der viele Leute glaubten, daß man über sie nicht lateinisch schreiben und disputieren könne. Er b e r e i c h e r t e den S p r a c h s c h a t z des V a t e r l a n d e s um v i e l e W o r t e , d a m i t die E i n f ä l l e und
261)
G. Toffanin, a. a. O. S. 122. Sicconis Polentoni Scriptorum illustrium latinae linguae libri XVIII, herausgegeben von B. L. Ullmann, American Academy in Rome 1928, S. 66 (Toffanin, a. a. O. S. 124). 263) Ebda. S. 269-70. Vgl. hierzu die Zusammenfassung der Ideologie der Rhetorik bei Poliziano (Opera II, 384-5): „Nam, ut quod caput est, ipsam tantum-modo, qua de hic in primis agitur, Rhetoricen inspiciamus. Quid est, quaeso, praestabilius quam in eo te unum vel maxime praestare hominibus in quo homines ipsi caeteris animalibus antecellant? Quid admirabilius, quem te in maxima hominum multitudine dicentem, ita i n h o m i n u m p e c t o r a m e n t e s q e i r r u m p e r e , ut et voluntates impellas quo velis atque unde velis retrahas et affectus omnes, vel hos mitiores vel concitaciores illos emodereris, et in hominum denique a n i m i s volentibus cupientibusque domineris? Quid vero praeclarius quam praestantes virtute eorumque egregie res gestas e x o r n a r e a t q u e e x t o l l e r e d i c e n d o ? Contraque improbe pernitiososque homines o r a n d i v i r i b u s f u n d e r e a c p r o f l i g a r e , ipsorumque turpia facta v i t u p e r a n d o p r o s t e r n e r e a t q u e p r o c u l c a r e ? Quid autem tam utile tamque fructuosum est quam quae tuae Reipublicae carissimisque tibi hominibus utilia conducibiliaque inveneris posse illa di c e n d o per sua d e r e, eosque ipsos a malis inutilibusque rationibus absterere? . . . Haec igitur una res et dispersos primum homines in una moenia c o n g r e g a v i t , et dissidentes inter se c o n c i l i a v i t , et legibus moribusque omnique denique h u m a n u c u l t u c i v i l i q u e c o n v i n x i t ...Quid autem tam munificum, tamque bene institutis animis consentaneum, quam calamitatosos co n s u l a r i , s u p p l e v a r e a f f l i c t o s , auxiliari supplicibus, amicitias clientelasque beneficio sibi adiungere atque retinere ... Nulla umquam profecto vitae pars, nullum tempus est, nulla fortuna, nullae aetates, nullae denique nationes, in quibus non m a x i m a s d i g n i t a t e s . . . f a c u l t a s o r a t o r i a c o n s e c u t a s i t . . . ”. 262)
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D i s p u t a t i o n e n d e r P h i l o s o p h e n k l a r e r und l e i c h t e r e r k l ä r t werden könnten. Er erschloß und übte die Regeln und die Kunst der Rede vor jedem anderen Lateiner und besser als die Griechen. Er fügte zur Macht des römischen Reiches d i e B e r e d s a m k e i t , d i e H e r r i n d e r m e n s c h l i c h e n D i n g e , hinzu. Deshalb ist es nicht überzeugender, ihn Vater des Vaterlandes zu nennen, als Vater unserer Sprache."264)
Bruni fordert seine Zeitgenossen auf, von Aristoteles, den er übersetzt, die Grundlagen der wissenschaftlichen Disziplinen, „ o r n a t u m v e r o o r a t i o n i s e t c o p i a m et omnes v e r b o r u m d i v i t i a s s e r m o n i s q u e , ut ita loquar d e x t e r i t a t e m in iis ipsis rebus” von Cicero zu entlehnen265).
Mit L. Bruni (und den zahlreichen weiteren Schülern des Griechen Chrysoloras, wie Guarino, Leonardo Giustinian, Filelfo) beginnt die Reihe der großen humanistischen Übersetzer aus dem Griechischen ins Lateinische, die auch hierin die Tradition Ciceros und Boethius' wiederaufnehmen (s. oben S. 130-134). Für die humanistische Auffassung von Sprache überhaupt bedeutet dieses Unternehmen, „ganz Griechenland für die Latinität” zu erobern266), zugleich eine Bewährungsprobe und eine hermeneutische Vertiefung. Die Programmatik dieses Übersetzens ist in der kleinen Schrift L. Brunis „De interpretatione recta” niedergelegt; ihren Höhepunkt bilden folgende Sätze: „Der Übersetzer wird von der Gewalt der Sprache in den Stilbereich (genus dicendi) dessen, aus dem er übersetzt, hineingerissen; er vermag den Sinn nur dann angemessen zu liefern, wenn er sich in die Bedeutungsintentionen und Perioden des Autors mit treffenden Worten und der Gestaltung der Rede hin-einversetzt und geradezu einschmiegt (nec aliter servare sensum commode poterit, nisi sese insinuet ac inflectat per illius comprehensiones et ambitus cum verborum proprietate orationisque effigie). Dies nämlich ist die beste übersetzung, welche die Gestalt des Originals am besten wahrt, sodaß weder dem Sinn die treffenden Worte, noch den Worten Glanz und Schönheit mangelt (Haec est enim optima interpretandi ratio, si figura primae orationis quam optime conservetur, ut neque sensibus verba neque verbis ipsis nitor ornatusque deficiat) 267).
Aus diesen Worten spricht — ähnlich wie aus den Bekenntnissen Petrarcas — ein Spracherlebnis, dem man seine Neuartigkeit in der Sicht des IndividuellAesthetischen nicht absprechen kann. Bruni vergleicht das übersetzen ausdrücklich mit dem Kopieren des Malers und unterstreicht damit seinen künstlerischen Charakter. Dieser
264)
L. Bruni: Vita di Cicerone, Parma 1804, S. 76-81 (Toffanin, a. a. O. S. 456). L. Bruni: Epistolarum libri VIII, Hamburgi 1924, S. 205 (vgl. Toff anin S. 213). 266) Vgl. Toffanin a. a. O. S. 208 über den Übersetzungsfeldzug Papst Nikolaus V., der eine „humanistische” Antwort der Kirche auf die Eroberung des byzantinischen Reiches durch die Türken darstellt. 267) L. Bruni Aretino: De recta interpretatione (In: Schriften, ed. H. Baron, Leipzig u. Berlin 1928), p. 83-87. (Hum. Prosatexte, ed. J. v. Stackelberg, Tübingen 1957, S. 70). 265)
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soll sich indessen hier mit einer gewissen asketischen Selbstverleugnung verbinden, so daß nicht eigenmächtige Produktion, sondern Reproduktion des fremden Werkes aus totalem Sichhineinversetzen in den Autor desselben angestrebt wird: „Ut enim ii, qui ad exemplum picturae picturam aliam pingunt, figuram et statum et ingressum et totius corporis formam inde assumunt nec, quid ipsi facerent, sed, quid alter ille fecerit, meditantur: sie in traductionibus interpres quidem optimus sese in primum scribendi autorem tota mente et animo et voluntate convertet et quodammodo transformabit eiusque orationis figuram, statum, ingressum coloremque et lineamenta cuncta exprimere meditabitur."268)
Hier wird ein hermeneutisches Ideal aufgerichtet, das bis zu Schleiermacher, Ranke und Dilthey maßgebend bleiben wird. Erst die existenzialanalytische Herausarbeitung der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des verstehenden „Subjekts” wird es ernsthaft in Frage stellen269). Charakteristisch im Sinne der von den Humanisten gegenüber den scholastischen Aristotelesinterpretationen neu aufgestellten Forderungen sind die beiden folgenden Topoi in Brunis Tractat: 1. Den besten Autoren (z. B. Platon und Aristoteles) eignet sowohl „doctrina rerum” als auch „scribendi ornatus”. Beides muß der gute Übersetzer wiedergeben270). 2. Um die „vim significataque verborum” zu verstehen, muß der Übersetzer alle Stilgattungen der Rede genau kennen, insbesondere aber die „Tropen” und „Figuren”, „die einmal eine wörtliche Bedeutung, daneben aber auch eine formelhafte, konventionell festgelegte Bedeutung besitzen können” (tropi figuraeque loquendi, quae aliud ex verbis, aliud ex consuetudine praeiudicata significent)271). So bedeutend, ja epochemachend diese Einsichten für die Begründung der humanistischen Philologie sind, so darf man m. E. ihre philosophische Tragweite nicht überschätzen. Die Grundvoraussetzungen des humanistischen Denkens (das dem hellenistischen Wahrheitsbegriff verhaftet bleibt!) verhindern eine radikale Ausschöpfung der von Bruni im einzelnen suggerierten Sprachhermeneutik. Das Individuell-Aesthetische und damit die Sprachform bleibt schließlich doch dem wissbaren Inhalt gegenüber äußerlich, bleibt „scribendi ornatus”, der zur „doctrina rerum” hinzutritt (s. oben), der vom Humanisten im Gegensatz zum mittelalterlichen Übersetzer auch berücksichtigt werden soll.
268 )
Ebda. (S. 69) Vgl. hierzu jetzt besonders H.-G. Gadamer: Wahrheit u. Methode, a. a. 0. (vgl. Anmerkg. 61a). 270) Ebda. (S. 68 f.). 271) Ebda. (S. 67 f.). 269)
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„Humanistisch heißen (unsere) Studien, weil sie den Menschen vollenden und zieren sollen” (humanitatis studia nuncupantur, quod hominem perficiant et exornent)272).
Diese doppelte Bestimmung ist charakteristisch und entspricht doch wohl der folgenden: „Ich möchte, daß der vollkommene Mensch außer der reichen Fülle des Wissens auch die Gabe besitzt, sein Wissen in der Sprache zu verherrlichen und zu schmücken” (Volo namque praestanti viro hoc assit, ut et scientiam rerum habeat abundantem et ea quae seit illustrare dicendo et ornare possit)273).
Seinen Höhepunkt erreicht der lateinische Sprachformalismus wie auch die damit verbundene Polemik gegen die scholastische Dialektik in den Werken L o r e n z o V a l l a s : In den 1444 vollendeten sechs Büchern „ E l e g a n t i a r u m l i n g u a e l a t i n a e ", die schon im Titel das Sprachideal des europäischen Humanismus der folgenden Jahrhunderte programmatisch festlegen, wurde die schon von Petrarca gestellte Aufgabe, die Regeln der Grammatik aus den Texten der Autoren zu abstrahieren274) und so die aus dem Mittelalter stammenden Lehrbücher zu ersetzen, in Angriff genommen. Ergänzt wird diese Reform des „Triviums” durch die drei Bücher „Dialecticarum disputationum” (1439), die das philosophische Problem, wie Toffanin sagt, „fast auf ein philologisches reduzierten"275), indem sie am liebsten gleichsam die gesamte, selbständige mittelalterliche Sprachlogik auslöschen und zu deren Ausgangspunkt, zu Boethius, dem Übersetzer und Eklektiker, zurückkehren möchten: „Quotus enim quisque post Boethium fuit qui Latinus dici mereatur et non barbarus?"278) Die arabischen Lehrmeister der Dialektik vollends, Avicenna und Averroes, waren für Valla „plane barbari ... nostrae linguae prorsus ignari et graecae vix tincti”. „Wie groß”, ruft er aus, „kann ihre Autorität sein”, auch wenn sie große Männer waren, „u b i d e v i v e r b o r u m a g i t u r q u a e p l u r i m a e s u n t i n p h i l o s o p h i a q u a e s t i o n e s ? "277)
Der Sprachkult, zu dem sich hier die humanistische Ideologie gesteigert hat, verrät sich auch in Vallas Gleichsetzung von theologischer Form und klassischer Sprachform in der Einleitung der Schrift über die „Elegantiae”: „Wenn einer sich daran begibt, über Theologie zu schreiben, so macht es nach meiner Ansicht wenig aus, ob er dazu irgendeine andere Kompetenz mitbringt oder nicht, weil alle andern wenig zählen. Aber wer von der Beredsamkeit nichts versteht, der ist ganz unwürdig, über Theologie zu schreiben. Und gewiß sind nur die Beredten ... Säulen der Kirche, angefangen mit den Aposteln, unter
272) 273) 274) 275) 276) 277)
L. Bruni: Epistol. Buch VI, Nr. 5 (zitiert nach J. von Stackelberg: Hum. Geisteswelt, a. a. 0. S. 164). Ebda. Petrarca: Sen. XII, 2 (Vgl. A. Buck: Ital. Dichtungslehren, a. a. 0. S. 61). Toffanin a. a. 0. S. 223. L. Valla: Dialect. disputat., Coloniae 1541, Einleitung. (Toffanin S. 223). Ebda. (Toffanin S. 480 f.).
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denen mir S. Paulus durch keine andere Tugend als durch seine Beredsamkeit hervorzustechen scheint."278) Die Sprache ist ein großes „Sakrament” und „Heilszeichen” („magnum ergo Latini sermonis sacramentum est, magnum profecto numen")279). „Welches sind die größten Philosophen, die größten Redner, die größten Rechtslehrer, mit einem Wort: die größten Schriftsteller gewesen?” fragt Valla anschließend und gibt sich selbst die Antwort: „Eben die, die sich am meisten um eine s c h ö n e S p r a c h e bemüht haben (bene loquendi studiosissimi)."280)
L. Valla vergleicht die lateinische Sprache mit dem römischen Imperium: „Die Unseren scheinen mir nicht nur ihre Macht weiter ausgedehnt, sondern auch ihre Sprache weiter verbreitet zu haben als alle anderen.” Und er stellt sogleich fest: „Es war dies eine ungleich ruhmreichere, eine weit herrlichere Tat als die Ausdehnung des Imperiums ... Im Kriegführen und in anderen löblichen Dingen ragten unsere Vorfahren über andere hinaus, in der Verbreitung ihrer Sprache (linguae propagatione) übertrafen sie sich selbst und sind, nachdem ihr irdisches Reich zu Ende gegangen, in die Gemeinschaft der Götter aufgerückt.” Die Lateinische Sprache ist es, „die die Völker und Stämme alle die Künste, welche die freien genannt werden, gelehrt hat; sie brachte ihnen die besten Gesetze bei; sie bahnte ihnen den Weg zum Wissen: ihr verdanken sie es, nicht länger Barbaren heißen zu müssen.” Und während die politisch-militärische Herrschaft immerhin die Freiheit der Völker bedrohte, begriffen diese, „daß die lateinische Sprache nicht zu einer Bedrohung, sondern gewissermaßen zu einer Veredelung der eigenen führte, so wie die spätere Erfindung des Weins den frühen Gebrauch des Wassers nicht ausschließt ...” „Doch um mit dem Vergleich von römischer Herrschaft und römischer Sprache zum Schluß zu kommen, nur noch soviel: jene warfen Völker und Stämme als eine unwillkommene Last von den Schultern, diese aber dünkte sie köstlicher als Nektar, glanzvoller als Seide und köstlicher als Gold und edles Gestein, und sie behielten sie bei sich als eine Gottheit, vom Himmel herabgekommen. In der lateinischen Sprache liegt also gleichsam ein Sakrament, ein Zeichen des göttlichen Willens vor (magnum ergo latini sermonis sacramentum est, magnum profecto numen), das bei den Fremden, den Barbaren, ja den Feinden so viele Jahrhunderte hindurch heilig und fromm gehütet wurde. So dürfen wir Römer nicht klagen, sondern uns freuen und rühmen vor eben der Völkerwelt, die uns zuhört. Rom ging verloren, seine Herrschaft und sein Reich; es war nicht unsere Schuld — es war die Schuld der Zeiten: diese unsere ruhmreichere Herrschaft aber währt noch in weiten Teilen der Welt. Unser ist Italien, unser sind Gallien, Spanien, Germanien, Pannonien, Dalmatien, Illyrien und andere Länder mehr. Denn wo
278) Übersetzung nach Toffanin (dtsch. von Lili Sertorius), a. a. 0. S. 480. Der lateinische Text lautet: „Ac mea quidem sententia, si quis ad scribendum in theologia accedat, parvi refert an aliquam aliam facultatem afferat an non; nihil enim fere cetera conferunt. At qui ignarus eloquentiae est, hunc indignum prorsus qui de theologia loquatur existimo. Et certe soll eloquentes ... columnae ecclesiae sunt, etiam ut ab Apostolis usque repetas, inter quos mihi Paulus nulla alia re eminere quam eloquentia videtur.” (L. Valla: In quartum librum elegantiarum praefatio. In: Prosatori Latini del quattrocento, a cura di E. Garin, Milano-Napoli 1952, p. 620). 279) L. Valla, a. a. O. S. 596. 280) Ebda. S. 598
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die römische Sprache herrscht, da ist das römische Reich (Ibi namque romanum imperium est ubicumque romana lingua dominatur)."281)
An dieser Stelle möchten wir unser Referat über den italienischen Sprachhumanismus abbrechen und zunächst die Frage stellen: Inwiefern hat die im bisherigen belegte Sprachidee die geschichtliche Situation des späten Mittelalters in sich aufgenommen? Worin gewinnt sie, bei aller Fortsetzung einer bereits antiken römischen Ideologie, ihre besondere Farbe und Wirkungspotenz innerhalb der Entstehungsepoche der neueuropäischen Sprachidee? Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß die italienischen Verhältnisse des 14. und 15. Jahrhunderts sozusagen als Wiederholung der klassischen antiken Poliskultur betrachtet werden können. Von hier aus läßt sich zweifellos die „Weltanschauung” des italienischen Humanismus, insbesondere die von dem Florentiner Staatskanzler C. Salutati ausgehende Früh-form des „bodenständigen Bürgerhumanismus”, in vielen Zügen verstehen. Italienische Autoren legen oft großen Wert auf diese Tatsache, um das Odium des bloß Rhetorisch-Literarischen von jenem geistigen Aufbruch Italiens fernzuhalten282). Im Zusammenhang unseres sprachgeschichtlichen und sprachphilosophischen Themas dürfen wir jedoch dieser bestrickenden Analogie nicht folgen. Oder genauer: wenn wir ihr folgen, so führt uns dies mitten hinein in den für die Kultur Italiens und darüberhinaus für das Sprachverhältnis Neu-Europas so aufschlußreichen Sprach- und Kulturstreit zwischen neuitalienischer Volkssprache und dem Latein der Humanisten. In dieser Jahrhunderte währenden fruchtbaren Spannung ist nun aber der „bodenständige Bürgerhumanismus” doch eigentlich in der von Dante ausgehenden volkssprachlichen Bewegung repräsentiert. Petrarca, Boccaccio, Lorenzo Medici und Poliziano als Dichter in der Volkssprache, schließlich nicht zuletzt N. Machiavelli und Guicciardini sowie die von L. Olschki beschriebene „neusprachliche wissenschaftliche Literatur” von L. B. Alberti bis Galilei bezeichnen den Weg der bürgerlichen Kultur der italienischen Stadtstaaten, die vor allem in Florenz und seiner Sprache weltgeschichtliche Bedeutung erlangt. Dieser Weg führt aber — mag er auch bis zuletzt vom rhetorischen Humanismus mitgeprägt sein, dem kein Italiener so leicht entrinnt — mehr und mehr in eine Antithese zur speziellen Ideologie des Sprachhumanismus, die wir als typische Gestalt der abendländischen Sprachauffassung ins Auge zu fassen haben. Schon ein Dichter wie Ariost und Philosophen wie Pico della Mirandola
281) Ebda. S. 595 f. (Übersetzung größtenteils nach 1. von Stackelberg: Ital. Geisteswelt, Darmstadt 1954, S. 87 ff.). 282) So sieht etwa E. Garin (Der ital. Humanismus, 1947) im Humanismus primär eine Philosophie des tätigen Lebens in der Bürgergemeinschaft. Der literarisch-rhetorische Humanismus der Späteren, z. B. von E. Barbaro, ist für ihn schon Entartung. Ähnlich ist die Auffassung des Humanismus in den Schriften E. Grassis.
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und G. Bruno bekämpfen gelegentlich die grammatisch-rhetorische Ideologie und Wissenschaftsgesinnung283). Vollends aber können wir Machiavelli, Guicciardini, Leonardo und Galilei nicht für den Sprachhumanismus in Anspruch nehmen: sie stellen vielmehr, soweit das im Medium der rhetorischen Kultur Italiens möglich ist, die mit dem sprachkritischen Nominalismus der westeuropäischen Naturwissenschaft konvergierende Tendenz dar, wie noch genauer zu zeigen sein wird. Sie zerreißen das Klischeegewebe der rhetorisch-traditionalistischen Welttopik ebenso, wie sie das Wesensgefüge der scholastischen Sprachlogik und Ontologie ignorieren, und begründen eine neue „ars inveniendi” — des technischen Sachdenkens, der situationsunmittelbaren, in der Volkssprache formulierten politischen Erfahrung und der künstlerisch-geometrischen Interpretation des „Buches der Natur”; gerade hiermit sind sie die echte Wiederholung bzw. Entsprechung der griechischen Sophistik und Naturphilosophie im Werdegang des Abendlandes284). Demgegenüber müssen wir bei der humanistischen Sprachideologie von vornherein, d. h. seit Petrarca, das literarisch-idealistische Moment hervorheben. Die italienischen Humanisten der lateinischen Sprachform waren keine römischen Redner und auch keine Kirchenväter der römisch-katholischen Kirche, um noch einmal die beiden antiken Kultur-„Institutionen" zu bezeichnen, auf die sie gerne in mythischer Wiederholung zurückgegangen wären.
283)
Vgl. unten S. 233 f. sowie G. Toffanin, a. a. O. pp. 308 ff., 391 ff. Man vergleiche etwa Br. Snells „Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen” ( = Die Entstehung des Geistes, Hamburg 1948), insbesondere Kap. VIII (Gleichnis, Vergleich, Metapher, Analogie. Die Entwicklung vom mythischen zum logischen Denken) und Kap. IX (Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung im Griechischen) mit L. Olschkis „Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur” (a. a. 0.), insbesondere mit der Darstellung Leonardo da Vincis und G. Brunos. Der Eindruck einer „Wiederholung” oder „Gleichzeitigkeit” (im Sinne Spenglers) wird nur dadurch gestört daß die abendländische „instauratio” der Wissenschaft immer zugleich selbständiger Neuanfang auf künstlerisch-intuitiven Bahnen u n d mehr oder weniger eklektische Rezeption der überkommenen Inhalte und Formen des antiken Denkens darstellt. So kann z. B., worauf wir noch besonders eingehen werden, alles Suchen nach einer wissenschaftlichen Methode am Beginn der Neuzeit (von der Lullischen Kunst, die auf Nik. v. Cues, G. Bruno, Leibniz, und andererseits auf die englische Assoziationspsychologie wirkt, bis Bacons „novum organon” und Galileis Begründung der mathematischen Naturwissenschaft) im Zeichen einer Reform der aristotelischen Logik in Richtung auf eine „ars inveniendi”, d. h. als Erfüllung des humanistischen Postulats vom Vorrang der Topik vor der Syllogistik sich legitimieren. Auch die Rede vom „Buch der Natur” (Cusanus, Galilei und viele andere) bzw. von der „interpretatio naturae” (Bacon) zeigt die humanistisch-traditionalistische Überschattung des Selbstverständnisses gerade da, wo man unabhängig von der „Buchtradition” die Wirklichkeit erforschen will. 284)
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Die Kluft, die sie geschichtlich von den ersteren trennte, wurde schon Petrarca an dem theatralischen Abenteuer Cola di Rienzos vor Augen geführt; die Romidee wandte sich schon bei ihm — zumal seit seiner politischen Enttäuschung durch Kaiser Karl IV. — ins Spirituelle; aus der mythischen Wiederholung der römischen Vergangenheit wurde eine literarische „imitatio”. (Die politische Wirklichkeit wurde dann von dem neuitalienischen Patrioten Machiavelli in der Volkssprache, unter Beiseitelassung rhetorisch-humanistischer Klischees, umso nüchterner analysiert). Die Wendung des Sprachhumanismus ins Literarische und Kulturpädagogische ist somit notwendig. Sie war sogar, in kleinem Maßstab, bereits in der römischen Antike nach dem Tode Ciceros, d. h. nach dem Verlust der republikanischen Freiheit, eingetreten285). Quintilian, der literarisch orientierte Rhetoriklehrer, wird daher nicht zufällig gerade von den späteren Humanisten (Poggio, Poliziano, Pontano, auch Erasmus und Luis Vives) als besonders verwandt empfunden286). Handelte es sich bei der Literarisierung der Rhetorik im kaiserlichen Rom um einen Spiritualisierungsvorgang innerhalb einer auch weiterhin von Rom politisch und sprachlich beherrschten Epoche, so war inzwischen durch den Einbruch der „Barbaren” und die von ihnen heraufgeführte neue politische und, im Untergrund der Völker, auch sprachliche Menschheitsepoche, die Situation des lateinischen Sprachhumanismus vollends ins Geistig-Pädagogische verschoben. Gerade die italienischen Humanisten, die zuerst den Begriff des
285)
s. oben Anmerkung 178. E. R. Curtius (Europ. Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 438) sagt von Quintilian: „Man sieht, welch großen Raum die rein literarischen Studien in Quintilians Lehrbuch einnehmen. Es gibt Stellen darin, wo durch das oratorische Lebensideal ein ganz anderes durchscheint: das eines nur seinen Studien lebenden Humanisten, eines musischen Liebhabers der Literatur. Wie ist die Rhetorik in dem aristotelischen Schema der Wissenschaften — theoretische, praktische, poetische — unterzubringen? Sie wird meist dem Bereich der Praxis zugewiesen. Aber sie ist ja auch in dem Redner gegenwärtig, der sie nicht ausübt, wie die Heilkunde in einem Arzt, der seine „Praxis” aufgegeben hat. ,Ja, vielleicht ist der größte Gewinn der, den uns das private Studium gewährt; und der Genuß der Literatur ist erst dann ganz rein, wenn sie von jeder Tätigkeit gelöst ist und sich der Kontemplation ihrer selbst freuen darf` ... (II, 18, 4) Spätantike Lebensstimmung ... die aber in jedem der seither verflossenen Jahr-hunderte nachgefühlt werden konnte und nachgelebt worden ist. In einem solchen Wort hat sich die Substanz der antiken Rhetorik in etwas völlig anderes verwandelt; in das, was französisch la religion des Lettres heißt; was im 16. Jahrhundert Erasmus verkörpert.” Bezeichnend im Sinne einer Vorbereitung des Sprachidealismus der italienischen Humanisten dürfte auch folgende Unterscheidung Quintilians zwischen einer Vulgärsprache und der Hochsprache des Redners bzw. des gebildeten Menschen sein: „Quidam nullam esse naturalem putant eloquentiam, nisi quae sit cotidiano sermoni simillima, quo cum amicis, coniugibus, liberis, loquamus ... Mihi aliam quamdam videtur habere naturam sermo vulgaris, aliam viri eloquentis oratio (Quint. 12, 10, 40) (Zitat nach H. W. Klein: Lat. und Volgare in Italien, München 1957, S. 13). 286)
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Mittelalters konzipierten und damit die Vorstellung einer antik-abendländischen Kontinuität endgültig entlarvten, mußten sich dessen bewußt werden. Hinzu kommt die spiritualisierende Wirkung des Christentums, das auch dem begeisterten Neurömer (man denke an Petrarca) im Grunde seiner Seele jene transzendierende Distanz zu dem Rom Ciceros verlieh, die zuerst Augustinus in seinem „Gottesstaat” demonstriert hatte und die seitdem „Römer” und „Barbaren” zur abendländischen Christenheit verband. Am Maßstab dieser christlichen Transzendenz mußte zuletzt auch die neue Mission des Humanismus für die Völker sich rechtfertigen und begründen. Im Hinweis auf die theologische Inspiration der antiken Dichter und Philosophen, in der ständigen Berufung auf die Kirchenväter, besonders auf Hieronymus und später auch auf den neuentdeckten Basilius den Großen, nicht zuletzt in der durchgehenden Polemik gegen die averroistische Scholastik und die ihr entspringende „heidnische” Naturwissenschaft hat auch der italienische Humanismus von vorneherein seine ideologische Gebundenheit an den neuen christlichabendländischen Maßstab bezeugt. Aber die italienischen Sprachhumanisten waren andererseits auch keine lateinischen Kirchenväter. War noch der sogenannte „englisch-französische Humanismus des 12. Jahrhunderts” von Klerikern getragen, so waren die Humanisten der Renaissance bewußte Laien: Juristen, Beamte, Lehrer, zunächst vor allem Stadtbürger, zuletzt freie Literaten, Verfechter einer Laienfrömmigkeit und teilweise heftige Bekämpfer der asketisch-heuchlerischen und barbarisch-,,unwissenden" Mönche. Wichtiger noch für die von uns zu analysierende neue Sprachideologie ist auch hier die geschichtliche Kluft, die den lateinischen Humanismus des 15. Jahrhunderts, auch sofern er — als Übersetzungsfeldzug und als Handschriftensuche — im Dienste der Kirche stand, von der Situation der Kirchenväter schied: Mochte auch der Kampf gegen die „arabischen Spitzfindigkeiten” der Scholastik und ihres barbarischen Lateins sich in gewisser Hinsicht als Parallele zur Apologetik der lateinischen Kirchenväter gegen die heidnische Philosophie der Antike (insbesondere den griechischen Neuplatonismus) konstruieren lassen287) — im Ernst konnte hier von einer „Wiederholung” noch viel weniger die Rede sein als auf dem politischen Felde. Die lateinischen Kirchenväter hatten die „römische Form” der Sprache als „institutionelle” Form der christlichen Kirche den „Barbaren” vermittelt. Die von den Humanisten zu erneuernde Sprachform aber mußte sich gerade gegen die „wirkliche” abendländische Sprachform der Kirche durchsetzen, welche von den Barbarenvölkern als unreflektiert-lebendige „Institution” weitergebildet worden war. Zudem hatten in der wirklichen Geschichtssituation, auf die der Humanismus der Renaissance zu antworten hatte, die Barbarenvölker selbst damit begonnen, teilweise unter dem
287)
Vgl. G. Toffanin, a. a. 0. Kap. III und IV.
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Eindruck des italienischen Vorbilds, ihre Volkssprachen als Schrift- und Literatursprachen auszubilden — ein Vorgang, der fast überall mit einer Neugründung der Religiosität aus der Eigentiefe der Volkcharaktere verbunden war. (So in Italien durch die Joachiten und Franziskanerspiritualen, in Deutschland durch volkssprachige Mystik, „Theologia Deutsch” und schließlich durch die Reformation, in England durch W i c l if , in Böhmen durch Johannes Hus.) Von Petrarca bis Erasmus hat sich der Kastengeist der Humanisten von diesem aufrührerischen nationalen Untergrund abgesetzt. Die Latinität, die der Sprachhumanismus propagierte, konnte also weder als institutionelle Form der kirchlichen Tradition noch als mögliche Form der national-religiösen Erneuerung Europas verstanden werden. Die „wahrhaft römische Form”, welche die italienischen Humanisten erneuern wollten, hatte im Abendland des ausgehenden Mittelalters jede institutionelle Selbstverständlichkeit verloren. Gerade dieser Umstand aber bedingt die Eigenart des neueuropäischen Humanismus: seinen Sprachidealismus. In der geistigen Auseinandersetzung mit der scholastischen Wissenschaft einerseits, der Formlosigkeit des nationalen Untergrunds der Völker andererseits, blieb den Italienern nur der Weg in die spirituelle Kompensation des Verlusts an wirklichem Römertum. Diese Konsequenz aus der realen Situation sahen wir im „Formalismus” L. Vallas in aller Deutlichkeit gezogen: „... darf es ... etwa weniger bedeuten (sc. als reale Machtausbreitung), den Völkern die lateinische Sprache gegeben zu haben? Diese auserlesene und wahrhaft göttliche Frucht, Speise des Geistes und nicht des Körpers?"288)
Den Verlust aller institutionellen Macht der römischen Volkskultur ersetzt Valla durch deren kosmopolitische Sublimation in der lateinischen Sprachform. Deren römische Ideologie, der gemäß die Sprache institutionelle Form menschlichen Verhaltens ist (s. oben S. 135 ff.), wird durch
288) L. Valla: Eleg., Einleitung, a. a. O. S. 594. Diesem kompensativen Spiritualismus entspricht genau Vallas Entlarvung der „Konstantinischen Schenkung”, durch die er die römische Kirche auf die Herrschaft allein durch das Wort und nicht durch politische Macht verweist. (Vgl. Toffanin, a. a. O. S. 220) Als Beleg für den kompensativen Charakter des Sprachidealismus der italienischen Humanisten ist auch folgender Passus aus Albertis Traktat „Della Famiglia” (Opere volgari, Florenz 1844, Bd. II, S. 218 f.) zu vergleichen: „Und unser Vater zweifelte nicht daran, daß für uns, die italienischen Völker, die Tatsache, daß wir uns der Ehrfurcht und des Gehorsams aller Völker, die sie uns doch wegen unserer Tugenden fast schuldeten, beraubt sahen, ein weit geringeres Unglück sei, als uns beraubt zu sehen jener reinsten Sprache, in der so viele hervorragende Schriftsteller alle Regeln eines rechten seligen Lebens niedergelegt haben. Sicher besaß unser altes Reich wunderbare Würde und Majestät, da es über alle Völker mit voller Gerechtigkeit und höchster Billigkeit herrschte, aber er war der Meinung, für einen Fürsten sei die Kenntnis der lateinischen Sprache und Literatur keine geringere Zierde und verleihe ihm keine mindere Autorität, als jeder noch so hohe Rang, den ihm das Schicksal verliehen habe ... Und mir scheint, der Glanz unseres Reiches sei nicht eher erloschen als bis fast alles
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den Sprachidealismus der italienischen Humanisten zum europäischen Bildungsdogma. Im Rahmen einer Bildungsreligion, die der kirchlichen Religion zur Seite tritt, wird der lateinische Sprachhumanismus der Italiener von dem übrigen Europa aufgenommen, so von Budé in Frankreich, Th. Morus in England, L. Vives in Spanien, Erasmus in den Niederlanden. Die Proklamation der schönen Sprache als „Form der menschlichen Bildung” (humanitas), wie jeder Idealismus, historisch-soziologisch analysiert, eine Bewußtseinsantwort auf die entschwundene Selbstverständlichkeit dieser Form289), ist zunächst das europäische Endergebnis der gesamten bis auf die römische Entdeckung des „patrius sermo” und dessen Rezeption der hellenistischen Kulturinhalte einschließlich der Rhetorik und Grammatik zurückgehenden Sprachideologie. Sie enthält als ideelle Bewußtmachung einer anthropologischen Funktion der Sprache auch bereits einen allgemeingültigen sprach- und kulturphilosophischen Erkenntnisertrag, den wir später noch in der Abhebung vom Sprachbegriff des Nominalismus bzw. der „mathesis universalis” und von der in der deutschen Reformation mit dem Humanismus zusammentreffenden Logos-mystik näher verdeutlichen müssen. — Für die neuzeitliche Entdeckung und theoretische Auffassung der lebendigen Muttersprachen, wie sie seit Dante in Europa vor sich geht, wird der humanistische Sprachidealismus
Licht und alle Kenntnis der lateinischen Sprache und Literatur verdunkelt war." Alberti beschließt diese Stelle mit einem charakteristischen Staunen des Humanisten über den geschichtlichen Wandel der Sprache: „Merkwürdig, gewiß, daß auch das verderben und vergehen kann, was sich durch den Brauch erhält und was sicher jene ganze Zeit hindurch im Brauch war; vielleicht könnte man urteilen, das hätte unser ganzes Unglück herbeigeführt.” (Vgl. Toffanin a. a. 0. S. 254) An dieser Stelle der Betrachtung setzen bei Valla und Biondo die Hinweise auf die Barbareninvasion ein. — Als später durch den Franzoseneinfall von 1494 auch die Freiheit der italienischen Staatenwelt ein Ende findet, dient der Sprachidealismus den italienischen Humanisten noch einmal dazu, die demütigende Situation der Machtlosigkeit in der Ebene der schönen Form spirituell zu beantworten, diesmal auch bewußt in der formalen Hochstilisierung der italienischen Sprache und Literatur, die dem politisch zerrissenen Land für Jahrhunderte die nationale Einheit ersetzen mußte. Um den Kult der lateinischen Sprachform nicht nur bei den Italienern, sondern auch bei anderen europäischen Humanisten ganz zu verstehen, wird man mit Hegel und Fr. de Sanctis noch hinzunehmen müssen, daß er auch weitgehend als Ersatzreligion der Gebildeten der romanischen Welt an der Stelle einer durchgreifenden religiösen Erneuerung der kulturellen Substanz, als Alternative zur protestantischen Reformation zu fungieren hatte. 289) Vgl. die scharfsinnigen Untersuchungen A. Gehlens in „Urmensch und Spätkultur”, der freilich nicht zeigt, daß auch aus einer spätzeitlichen „Subjektivierung” und Spiritualisierung institutioneller Formen indirekt (darin allerdings wieder schöpferisch unbewußt!) neue selbstverständliche Institutionen hervorgehen können. Der abendländische Humanismus ist ein Beispiel für diesen Vorgang: er ist ein (Sprach-) Idealismus, aus dem europäische Institutionen (z. B. das Gymnasium) hervorgegangen sind.
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indessen selbst wieder zu einer selbstverständlichen Kulturinstitution, indem er als gesamteuropäische Form der grammatisch-literarischen Schulbildung die jungen Volkssprachen (einschließlich der aus der humanistischen Topik, z. B. der Mythologie, gespeisten Literatur und bildenden Kunst) in Zucht nimmt und sie in ihrer Selbstauffassung für die nächsten Jahrhunderte bestimmt. Wir haben die nationalhumanistische Umprägung der römischen Ideologie des „Sprachimperiums” bzw. der Sprache als „Kulturinstitution schlechthin” bis hin zum Sprachimperialismus und Sprachnationalismus der neueuropäischen Staaten im vorigen bereits belegt (s. oben Kap. IV). Bei ihrer Verschmelzung mit der mystisch-religiösen Selbstbegründung der „nationalen Heilssprachen” in der Auseinandersetzung mit der kirchlichen Lehre von den drei heiligen Sprachen erhält L. Vallas mehr rhetorische Feier der Sprache als „magnum sacramentum” und „magnum numen” eine ganz neue Aktualität und Trag-weite, die im „Nationalismus” des 19. und 20. Jahrhunderts fast als Ersatzreligion fungieren kann. Wir müssen nun versuchen, vom Standpunkt der in der Schule des Sprachhumanismus gedeuteten Sprachen Neu-Europas aus die philosophische Eigenart und die Grenzen des humanistischen Sprachbegriffs näher zu bestimmen: Inwieweit konnte er sich als Maßstab des neu-europäischen Sprachverhältnisses bewähren und mit seiner Ideologie durchsetzen? Oder anders gefragt: Wo stieß er auf den Widerstand eines andersgearteten Sprachdenkens, wo konnte er den Bedürfnissen des neuzeitlichen In-der-Welt-seins nicht genügen?
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Kapitel V I I Die humanistische S p r a c h i d e e als Deutungsmaßstab der neueuropäischen S p r a c h p r o g r a m m a t i k und ihre Einschränkung durch n i c h t h u m a n i s t i s c h e s Sprachdenken (in I t a l i e n , F r a n k r e i c h und D e u t s c h l a n d )
a) Vorbemerkung: Der Humanismus und der Geist der modernen Sprachen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Sprachidee des Humanismus, die wir im vorigen in ihren Ursprüngen und maßgeblichen Ausprägungen zu belegen suchten, in Italien am innigsten mit der abendländischen Entdeckung der Muttersprache verschmolz. Beide Bewegungen ermöglichen sich hier gegenseitig. Der potentielle Humanismus und die Offenheit zur lateinischen Bildungssprache gaben schon Dantes „instauratio” der Volkssprache ihren für Europa maßgebenden Charakter (s. oben S. 104 f.). Und auch die endgültige ideologische Durchsetzung und theoretische Ausdeutung der Muttersprache ist — trotz aller Spannung zwischen Volkssprache und humanistischer Gelehrtenideologie im engeren Sinn — dem Humanismus vorbehalten. Es ist der Weg von Bembos „Prose” und Fortunios Grammatik zur Accademia della Crusca. Umgekehrt verleiht erst die untergründige Verbindung des Anliegens der italienischen Humanisten mit dem Erwachen der italienischen Nationalsprache und Kultur (gleichsam der liebende Streit der beiden Konzeptionen des italienischen Ursprungs) dem Sprachhumanismus der Renaissance eine neue geistige Prägekraft im Vergleich zum „Humanismus des Mittelalters”, die uns das Recht gibt, im italienischen Sprachdenken von Dantes Traktat über die Vulgärsprache bis einschließlich L. Vallas „Elegantien” einen der drei Ursprünge der neuzeitlichen Sprachauffassung zu erblicken (vgl. oben Kap. II). Es ist eben schon der neuzeitlich italienische Mensch, der in Petrarca seinen Ursprung im lateinischen Sprachmedium gründen will und so dem Sprachhumanismus das Erlebnis der individuellen Ausdruckssprache, des persönlichen Stils, als Denkmotiv imprägniert. Und es ist umgekehrt dieses neue, erlebte Denkmotiv der (italienischen) Humanisten, das über alles Haften am lateinischen Formalismus und an der starren Bildungstopik hinausdrängt und als historisch-hermeneutischer
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Sinn für das Individuelle schließlich auch die Eigenart und Notwendigkeit der Volkssprache als einzig gemäßen Ausdrucksstil der neueren Völker begreifen und rechtfertigen läßt. So konnte in Italien zuerst das Latein der Humanisten zum Vorbild und zur unentbehrlichen Erzieherin einer neuzeitlichen Literatursprache werden290), und es gibt nach der Seite der ästhetisch-philosophischen Würdigung des Wesens der geschichtlich-lebendigen (Mutter-)Sprache im Italien der Renaissance kaum eine ernsthafte ideologische Konkurrenz für den humanistischen Sprachbegriff (sehr im Unterschied zu Deutschland und dem slavischen Osten, wie wir sehen werden). Dies bedeutet aber nicht, daß die epochale Spannung zwischen dem antiken und dem neuzeitlichen Sprachtyp, zwischen dem formenreichen, die Weltsynthese konventionell vorwegnehmenden Latein und dem modernen Sprachbau, der durch Analyse der Flexion und Auflösung der Subordination den Geist gewissermaßen wieder auf die unmittelbare Erfahrung freiläßt, sich nicht bemerkbar gemacht hätte. Die stilistisch-programmatischen Gegensätze und noch mehr die faktische Variationsbreite des literarischen Stils, etwa zwischen der quasilateinischen Periode Bembos und den knappen, schmucklosen Formeln des „Principe” Machiavellis oder dem lebensunmittelbaren Ausdrucksstil P. Aretinos oder B. Cellinis lassen die geschichtliche Problematik des Sprachhumanismus als der zwischen Antike und Neuzeit vermittelnden Sprach- und Kultur-Konzeption (s. oben Kap. II) deutlich erkennen291). Auch im Italienischen steht doch
299) H. W . Eppelsheimer urteilt (in der Einleitung zu seiner Petrarca-Ausgabe, Frkft. 1956, S. 16), „daß das Lateinische von Petrarca bis Ariost das unentbehrliche Vorbild und die führende Erzieherin des Italienischen auf seinem langen Wege aus den mittelalterlichen Dialekten zur durchgebildeten italienischen Hochsprache der Renaissance gewesen ist.” 291) Diese Spannung stellt sich auch den Nichtromanisten bei der Lektüre italienischer Literaturgeschichten sogleich als ein Hauptproblem der italienischen Sprache und Kultur dar, eben als die sprachund geschichtsphilosophische Quintessenz einer „questione della lingua” im weiteren Sinne. Wie weit sie unter einem größeren philosophisch-kulturanthropologischen Gesichtspunkt erforscht und ausgewertet ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist immerhin interessant, daß unter den Kennern der Materie offenbar größte Gegensätze in der Beurteilung dieses Problems zu bestehen scheinen: A. Buck z. B. (Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance. Beihefte zu ZRPh, No 94, Tübingen 1952) faßt sein Urteil über das Verhältnis der italienischen Dichtung zum Humanismus wie folgt zusammen: „Das Wiederaufleben der italienischen Dichtung (sc. nach dem Eindringen des Humanismus in die volkssprachliche Tradition) vollzieht sich also nicht im Gegensatz zum Humanismus, sondern entfaltet sich aus ihm heraus. Die Oppositionsstellung, in der sich die humanistische und volkssprachliche Tradition anfangs befinden, wird in einer Synthese beider Traditionen überwunden,” (a. a. 0. p. 100). K. Wais, der Bucks Buch rezensiert (im Archiv StNSpL 190, 1953, p. 181 f), wirft ihm vor, daß er „den Abgrund zwischen lateinischer und italienischer Sprache” weginterpretiert habe. Auch E. R. Curtius spricht im Hinblick
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wohl der Charakter der modernen Sprache insofern in einem natürlichen Gegensatz zum Sprachbegriff des Humanismus, als dieser von Hause aus gewissermaßen die Ideologie einer formenreichen Sprache nach Abschluß der organisch-produktiven Phase der Flexionsbildung darstellt. Er ist eine Anweisung zur Hingabe des Denkens und Fühlens an die sprachlich vor-geprägte Welt- und Verhaltenssynthese einer solchen Sprache, wie wir das im vorigen schon am Beispiel der rhetorischen Topik und der stoischen ibhq| andeuteten (s. oben S. 138 f.). Ein Gutteil der menschlichen Denkkraft wird im humanistischen Latein auf die Einübung und Handhabung der im Sprachleib ausgeprägten Beziehungen der Form konzentriert, während die so gehandhabte Sprache dem Menschen das Denken. der Sachbeziehungen entsprechend weitgehend abnimmt bzw. vorwegreguliert. Jedenfalls ist ein Denken, das nach den Regeln der Rhetorik gelernt hat, sich auf den formalen Bahnen und im Umkreis der inhaltlichen Topoi eines solchen ausgebildeten Organs der Welt- und Verhaltenssynthese zu bewegen, offenbar nur noch schwer auf neue Wege unmittelbaren Sachund Daseinsausdrucks zu bringen. Diesen Eindruck erhält man unweigerlich bei einer vergleichenden Lektüre der Briefe, Dialoge und Traktate, welche die humanistischen Jahrhunderte Europas, insbesondere Italiens hervorgebracht haben. Die „Entlastung vom unmittelbaren Verhalten” zur Welt292), wie sie durch die synthetische Phase der Sprachentwicklung ermöglicht wird, hat offenbar im humanistischen Kult der Sprachform einen Höhepunkt erreicht, der auf eine Gefährdung des menschlichen Wirklichkeitskontaktes hinauslaufen würde, wenn der Sprachidealismus nicht lediglich eine literarisch-spirituelle Gegenbewegung zu einer abendländischen Entwicklung
auf Dante von der unausgeglichenen „Spannung zwischen Romania und Rom”, d. h. zwischen seiner Dichtung in der Muttersprache und den theoretischen Einschränkungen durch die lateinische Rhetorik, denen er die Dichtung in seiner Poetik unterwirft (vgl. „Dante und die Latinität”, Europ. Lit. . ., a. a. O. S. 355 ff.). Mir scheint hier immerhin ein Problem vorzuliegen, das sich unter gesamt-europäischem Gesichtspunkt der Sprachbetrachtung und angesichts der außerhalb Italiens ausgebildeten nichthumanistischen Sprachauffassung in verschärfter Form stellen muß: die Frage nämlich, wie weit der Sprachhumanismus den Erfordernissen der modernen europäischen Sprachen, genauer: dem Verhältnis, das der Mensch in ihnen zur Welt und zu sich selbst gewonnen hat, gerecht werden kann. Die späten (zum Naturalismus tendierenden) Romantiker, in Italien z. B. Fr. de Sanctis, hatten diese Frage bereits einmal in extremer Einseitigkeit negativ beantwortet. Die Gegenwart, geführt von T. S. Eliot und E. R. Curtius, steht im Zeichen erneuter Würdigung der humanistischen Bildungstradition und der großen gekonnten Form. Wir werden nicht umhin können, diese Frage — als Ausdruck bzw. Hintergrund jener auch der Sprachphilosophie zugrundeliegenden letzten Sprachauffassung — im Auge zu behalten. 292) Vgl. A. Gehlen: der Mensch, Berlin 1940, § 40 („höhere Sprachentwicklung").
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darstellte, die ein ganz anderes Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit realisiert. Inzwischen hat aber, wie wir früher darlegten, mit dem Sieg des Nominalismus in der Scholastik, dessen sprachkritische und empirische Tendenz sich in der folgenden, alle Scholastik bekämpfenden Natur-Wissenschaft nur fortsetzt, bereits in der höchsten Ebene wissenschaftlicher Reflexion eine Bewegung eingesetzt, die zunächst einmal das Aufsprengen aller formalen Denkgehäuse des Mittelalters, den Durchbruch zur konkreten Individualität der gottunmittelbaren Wirklichkeit zum Ziel hat. Sie kann zwar vorübergehend — im Kampf gegen die „spekulative Grammatik” bzw. den ihr vorausgesetzten „ordo” der weltaufbauenden „Wesenheiten”, später in der summarischen Ablehnung der „dialektischen Spitzfindigkeiten” und der „unfruchtbaren Syllogistik” — Bündnisse mit dem Sprachhumanismus eingehen, stellt aber im Kern ihrer Intention eine vom Humanismus scharf zu unterscheidende, viel radikalere Tendenz des modernen Geistes dar. Dies zeigt gerade eine sprachphilosophische Betrachtung der Renaissance als Übergangszeit. Die im spätmittelalterlichen Nominalismus zuerst hervortretende Wissenschaftsgesinnung will nicht den Formalismus der Sprachlogik durch den Formalismus der historischen Sprachen ersetzen, sondern läuft zunächst auf die Kritik jeder sprachlichen Form als Hindernis bzw. Fälschung der unmittelbaren Erfahrung hinaus (bis sie dann mit der mathematischen Form das weltgeschichtliche Bündnis eingeht, das zur exakten Wissenschaft führt). Diese Bewegung in der höchsten Ebene wissenschaftlicher Reflexion verläuft nun offenbar in genauer Entsprechung (als eine „Antwort” des Geistes „ent-spricht” sie tatsächlich!) nicht nur zu den realen Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft in den aufstrebenden europäischen Nationen, zu den Erfordernissen der handwerklichen und künstlerischen Technik und dem Wissensdurst der Laienwelt, sondern darüberhinaus zu der faktischen Entwicklung der neueuropäischen Sprachen: Die Eigenart dieser Sprachen im Gegensatz zum antiken Sprachtyp hat man seit A. W. v . Schlegel als „analytisch” bezeichnet, weil sie die in der Flexion der Verba und Nomina ausgedrückten Bedeutungsbeziehungen in ihre Bestandteile auflösen, die mit Hilfe von Artikel, Personalpronomen und Hilfsverben, teilweise auch durch die Wortstellung neu ausgedrückt werden. Diese Vernachlässigung bzw. Zersetzung der ersten großen schöpferischen Welt- und Daseinssynthese in der Sprachform — die von einer lautgebundenen Sprachwissenschaft leicht als Verfall der Sprache überhaupt gewertet wird — läßt sich geistesgeschichtlich und erkenntnisanthropologisch sehr leicht als Ausdruck der gleichen Tendenz zur Wirklichkeit erkennen, die im Nominalismus-Empirismus sich Bahn bricht (nicht zufällig bei den Völkern am entschiedensten, bei denen auch der analytische Charakter der Sprachstruktur sich am deutlichsten ausgeprägt hat, bei den Franzosen
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und vor allem bei den Engländern). In Anknüpfung an die Entlastungshypothese A. Gehlens könnte man etwa sagen: So wie das synthetische Formensystem der klassischen Sprachen eine Entlastung von der Unmittelbarkeit der Situation bewerkstelligt, so kann sich der Mensch von einem bestimmten Zeitpunkt an auch wieder von dem Formalismus der Lautsprache entlasten zugunsten einer erneuten Zuwendung zur Unmittelbarkeit der Situation einerseits, einem relativ lautdistanzierten Neuaufbau der Beziehungen im Verstand andererseits. (Diese Dialektik innerhalb des menschlichen Sprachbezugs bedeutet freilich noch nicht eine Entlassung des Denkens aus der Sprachgebundenheit. Selbst der Zeichen-Kalkül der sogenannten „analytischen Philosophie” der Gegenwart bezeugt vielmehr die prinzipielle Sprachgebundenheit des Denkens.) Sehr klar hat schon A. W. v. Schlegel diese Gesetzlichkeit gesehen, wenn er 1818 schreibt: „Die synthetischen Sprachen gehören einer anderen Phase der menschlichen Intelligenz an: in ihnen manifestiert sich eine simultanere Aktion, ein unmittelbarer Antrieb aller Seelenkräfte als in unseren analytischen Sprachen. Diese stehen mehr unter der Vorherrschaft des Verstandes, getrennt von den übrigen Kräften und infolgedessen seiner eigenen Operationen bewußter.” Und er fügt hinzu: „Wenn man den Geist der Antike mit dem Geist der Neuzeit vergleicht, wird man vielleicht einen ähnlichen Gegensatz bemerken, wie er zwischen den Sprachen besteht. Die großen schöpferischen Synthesen brachte das höchste Altertum hervor; die Vollendung der Analyse war unserer Zeit vorbehalten ..."293)
Diese sprachgeschichtliche Entwicklung findet nun im Rahmen der abendländischen Geistesgeschichte ihre Entsprechung — fast möchte man sagen: ihren „Überbau” — in der völlig neuartigen gedanklichen Herausarbeitung der „Tatsachen” der „Außenwelt” und „Innenwelt” einerseits, der „Relationen” dieser Tatsachen andererseits, d. h. im (vornehmlich englischen) Nominalismus-Empirismus und seiner obligatorischen Sprachkritik sowie im (vornehmlich französischen) RationalismusMathematizismus und der ihm zugehörigen Sprachkonstruktion: eine Konstellation, die ihre sprachphilosophisch relevante Synthese zuerst bei Leibniz und gegenwärtig in der Wissenschaftsgesinnung des logischen Positivismus findet. Was aber in dieser ganzen, mit der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft verbundenen Sprachkritik und Sprachkonstruktion so gut wie gänzlich fehlt — dies zeigt sich am klarsten im Denkansatz des modernen logischen Positivismus, der heute das angelsächsische Sprachgebiet nahezu beherrscht — ist die Berücksichtigung der weder in einer „Faktenaußenwelt” (der Physik) noch in einer „Fakteninnenwelt” (der Psychologie) objektivierbaren, wesenhaft transzendierenden geschichtlichen Ek-sistanz
293)
A. W. v. Schlegel: Bemerkungen über die provenzalische Sprache und Literatur, Paris 1818,
S. 27 f.
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des Menschen und ihrer im Entwurf der Zukunft geschichtlich entspringenden Bedeutsamkeitswelt, die alle Faktenordnung „für uns” erst offenbar macht (vgl. oben S. 152 ff. den von uns postulierten Wahrheitsbegriff einer transzendentalen Sprachtopik294)). Diese menschlich gehaltvolle Bedeutsamkeit — dies zeigt wiederum am schärfsten die Aporetik der Metasprachen in der logisch-positivistischen Sprachkonstruktion — ist nur in der geschichtlich-lebendigen Umgangssprache aufgehoben und kann nur in ihrem Medium, d. h. in schöpferischer Vermittlung mit der Überlieferung, erneuert oder erweitert werden. Von dieser sprachlichen „Vermittlung` allen Denkens mit der Überlieferung kann auch die vermeintlich „unmittelbare” Sachzuwendung der neuzeitlichen Naturwissenschaft nicht dispensieren, sie setzt sie vielmehr in ihren spekulativen Grundbegriffen und Fragestellungen immer schon voraus. Hiermit nun ist gleichsam die Stellung gekennzeichnet, die der Sprachhumanismus zu Beginn der abendländischen Neuzeit zu halten hatte (und die er, wie die Topoi-Forschung eines E. R. Curtius zeigen will, auch heute noch zum Teil hält): Er hat zwar allein aus sich heraus das Problem der schöpferischen Bedeutsamkeitskonstitution in der Sprache nicht gelöst, ja es kaum in Angriff genommen. (Daran hinderte ihn das abgeschlossene Formengefüge des Lateinischen ebenso wie der ihm zugeordnete, dem Hellenismus entnommene philosophisch-rhetorische Wahrheitsbegriff, wie wir zu zeigen versuchten.) Aber der Humanismus war mit seiner Sprachauffassung der Hüter der abendländischen Bildungssubstanz und darüberhinaus der Wegbereiter eines historisch-hermeneutischen Denkens der Geisteswissenschaft. Beides zeigt sich in klassischer Modellkristallisation der Geistesgeschichte in Vicos Auflehnung gegen die ungeschichtliche Wissenschaftskonzeption Descartes (s. unten Kap. XII). Soweit können wir den Humanismusinterpretationen E. Grassis295) und E. Garins296) folgen, müssen aber zugleich im Interesse einer schärferen Begrenzung der Sprachauffassung des historischen Humanismus Bedenken dagegen vorbringen, den erst von Heidegger ausgearbeiteten sprachhermeneutischen Wahrheitsbegriff sowie die zugehörige Interpretation des menschlichen Daseins bereits in den italienischen Humanismus hineinzulegen. Nicht als ob eine existentialphilosophische Interpretation Guicciardinis, Machiavellis, G. Brunos und vollends G. B. Vicos nicht fruchtbar wäre. E. Grassis Arbeiten erweisen m. E. durchaus die Fruchtbarkeit, ja Notwendigkeit, das aufgegebene Anliegen dieser Denker im Lichte der Heideggerschen Philosophie neu zu denken. So das „particolare” und die ihm zugeordnete „discretione” bei Guicciardini als nicht generalisierbare Situationsbegriffe des jeweiligen In-der-Welt-seins, ebenso Machiavellis Begriffskonstellation: „fortuna”, „occasione” und „virtù” als Konstitution
294)
Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz: Der Philosophische Wahrheitsbegriff als Voraussetzung einer inhaltlich orientierten Sprachwissenschaft. („Sprache — Schlüssel zur Welt”, Festschr. f. L. Weisgerber, Düsseldorf 1959). 295) Vgl. besonders E. Grassi: Verteidigung des individuellen Lebens (Studia humanitatis als philosophische Überlieferung), Bern 1946. 296) E. Garin: Der italienische Humanismus, Bern 1947.
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der „Lage” im Wechselspiel der subjektiven und objektiven Transzendenz, G. Brunos „heroische Leidenschaften” als Erleiden der göttlichen Eingebung als eigenstes Schicksal, das zugleich die Unableitbarkeit der dichterischen Weltgründung „aus dem Vorhandenen” und seinen Gattungen und Regeln bezeugt, schließlich Vicos „prudentia”, die auf das „verisimile” bezogen ist, seine transzendentale Konzeption der „Phantasie” und des politisch-religiösen „divinari”, die der göttlichen „providentia” ent-sprechen, worin man mit Heidegger das Zusammenwirken von „Entwurf” und „Schickung” in der geschichtlichen Weltgründung in Politik, Kunst und Religion sehen kann: ein Geschehen der Transzendenz, das vor allem „Wissen”, d. h. unterhalb der Reflexionsstufe der cartesischen Bewußtseins-,,certitudo", eine eigene „Weise des Offenbaren” begründet297). Diese Interpretation denkt jedoch selbst die vier genannten italienischen Denker mit Hilfe einer philosophischen Konzeption zu Ende, die weit über deren eigene Ansätze hinausgeht (und allenfalls bei Vico in einem engeren philosophiehistorischen Sinn der gedanklichen Leistung des Textes entspricht), erst recht aber würde sie die geistige Haltung und Reichweite der großen Masse der spezifisch humanistischen Texte verfehlen, denen wir den Begriff des Sprachhumanismus entnehmen müssen. Wenngleich es gewiß überspitzt wäre, mit Toffanin den „Humanismus” nur im Sinne einer spätmittelalterlichen Reaktion des Katholizismus gegen den Averroismus zu verstehen und ihn auf die ciceronische Ideologie der Latinität zu beschränken (selbst Erasmus steht für Toffanin schon außerhalb des eigentlichen Humanismus298), so scheint mir doch diese Übertreibung für die Geschichte der Sprachidee einen wichtigen Hinweis zu enthalten. In der Tat stellt sich nämlich — im Rahmen der Sprachproblematik der Renaissance betrachtet — das selbständige Sach-Denken der Machiavelli, Guicciardini, Bruno nicht anders wie das der Alberti, Leonardo, Galilei bereits als eine antihumanistische T e n e n d e n z dar. Genauer: Die genannten Denker, selbst Galilei, bleiben zwar ihrer geistigen S u b s t a n z nach mehr oder weniger Humanisten. Aber ihren Durchbruch zum Denken der Wirklichkeit — auch zur Wirklichkeit des geschichtlichen Menschen, die zweifellos ein humanistisches Thema ist — können sie alle in der Situation ihrer Zeit nur durch eine mehr oder weniger scharfe Wendung gegen die Rhetorik und damit gegen den Sprach-humanismus bewerkstelligen. Die innere Angewiesenheit der Entstehung des modernen wissenschaftlichen Denkens in Italien auf den Gebrauch der Volkssprache, die L. Olschki nachgewiesen hat299), läßt sich nicht nur als innere Dialektik des Humanismus verstehen, dergemäß die volkssprachlichen Denker (noch Vico konnte seinen Durchbruch vom Rhetoriklehrer zum Philosophen nur in der Volkssprache vollziehen!) die eigentlichen Humanisten wären, weil sie die Einheit von Wort und Sache, Mensch und Ausdrucksstil besser verstanden als die gelehrten Latinisten. Wohl mag dies richtig sein im Sinne eines von Vico und von heute aus konzipierten, vertieften Humanismusbegriffs. Unter den Bedingungen der Renaissance-Situation konnten aber, wie sich zeigen läßt, alle jene Bestrebungen, die auf unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit ausgingen, nur durch Abwendung vom Sprach- und Bildungsideal des Humanismus und durch mehr oder weniger ausdrückliche Inanspruchnahme der Argumente des Nominalismus (d. h. einer vermeintlich sprachfreien Intuition des Konkreten bei nachträglicher Bezeichnung ad libitum) sich aus den sprachlichen Bahnen der lateinischen Überlieferung losreißen.
297)
Vgl. E. Grassi, a. a. O. Vgl. Toffanin, a. a. 0., Kap. VI u. VII. 299) L. Olschki: Gesch. d. neusprachl. wissensch. Literatur, Bd. I, Heidelberg 1918, Bd. II, Leipzig 1922, Bd. I I I Halle 1927. 298)
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Erst Vico, der lange nach der eigentlichen Blütezeit des Sprachhumanismus, angesichts der radikalen Diskreditierung der humanistischen Bildungstradition durch den Cartesianismus das humanistische Erziehungsprogramm verteidigt (in: „De nostri temporis studiorum ratione"), kann eine neue Richtung des Denkens einschlagen, die das schöpferische Erfahren der Wirklichkeit und die hohe Einschätzung und Würdigung der Bildungstradition und der Sprache als ihres unerläßlichen Vehikels philosophisch in Einklang bringt (durch eine Konzeption, die den klassischen Humanismus, auch die kulturanthropologischen Ansätze eines C. Salutati, G. Manetti, Pico della Mirandola, weit hinter sich läßt!); und eben hierin liegt seine einzigartige sprachphilosophische Bedeutung noch für die Gegenwart, wie wir später zu zeigen haben. Aber selbst Vicos Philosophie wäre in ihrer ganzen Tragweite schwerlich zur Geltung gekommen, wenn ihr nicht die „Deutsche Bewegung” (von Hamann und Herder bis Hegel) zu Hilfe gekommen wäre. Dies gilt m. E. auch dann, wenn man E. Grassi zugesteht, daß die Vicoauffassung B. Croces mit dem deutschen Idealismus gewisse Denkvoraussetzungen teilt, die noch im cartesischen Primat des „Wissens” bzw. des „Bewußtseins” begründet sind, und daher eine Neuinterpretation Vicos — etwa aus dem Horizont der Heideggerschen Philosophie ermöglicht — für notwendig hält300). Denn auch das Denken Heideggers, insbesondere seine Sprachkonzeption, ist m. E. nicht ohne die Tradition der deutschen Logosmystik denkbar, die von Eckhart, Cusanus und Böhme her in den deutschen Idealismus und die Romantik mündet und gleichsam das anticartesianische Element der deutschen Philosophie (schon bei Leibniz) liefert. Dabei ist zuzugeben, daß auch diese Denktradition aus ihrer antiken Begrifflichkeit her auf das Problem des Wissens (z. B. das „Zu-sich-kommen” Gottes im Menschen) festgelegt ist und insofern einer Korrektur durch eine eigenständige Problematik der existenziellen Verantwortung des handelnden und schaffenden Menschen (und vielleicht des sich überantwortenden bzw. schenkenden Absoluten) bedarf, die Hegel noch in die Problematik des „Wissens” (d. h. des Sich-wissens des Absoluten) „aufheben” will. Immerhin ist aber zu bedenken, daß selbst bei Hegel (geschweige bei Böhme, Hamann, Herder und Schelling) das metaphysische Gewicht der nichtbegrifflichen, aber gleichwohl sprachlichen Offenbarungsweisen des Absoluten in Religion, Mythos, Dichtung, Kunst ein so gewaltiges und vor allem in der konkreten Herausarbeitung dieser geistigen Welten so sehr berücksichtigt ist, daß dem, außer Vico, in der ganzen übrigen Philosophie des Abendlandes nichts an die Seite zu stellen sein dürfte. Im besonderen auf dem Feld der Sprachphilosophie läßt sich ein ursprüngliches und aus letzten religiösen Tiefen gespeistes Denken in dieser Traditionslinie, der deutschen Philosophie über Böhme und den Cusaner bis in den christlichen Neuplatonismus des Mittelalters zurückverfolgen, in einen Quellbereich, der im übrigen in engster Verbindung zu dem Neuplatonismus der Florentiner Akademie, G. Brunos und (bereits im Rahmen des natürlichen Systems der Geisteswissenschaften) G. B. Vicos steht. Außer bei diesem letzteren zeitigt aber der christliche Neuplatonismus der Logosidee bei den italienischen Denkern durchaus keine spekulative Vertiefung der Sprachidee. Aller Wahrscheinlichkeit nach geschieht dies deshalb nicht, weil die Italiener literarisch gebildeter und daher in der reich differenzierten Sprachtopik des Humanismus zu tief befangen sind; weil das Selbstbewußtwerden ihrer Muttersprache ebenfalls ganz in den
300) Vgl. zu Grassis Auffassung des Deutschen Idealismus und zur Forderung einer nichtidealistischen Interpretation der italienischen Tradition vor allem sein Buch: Vom Vorrang des Logos, München 1939.
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Bahnen des Sprachhumanismus sich vollzogen hatte, während im deutschen Bereich (von der mittelalterlichen Mystik über die Reformation und die pansophischen Unterströmungen des Barock bis in die Zeit des Aufbruchs der deutschen Dichtung und Philosophie) die Verteidigung der Muttersprache als Heilssprache immer wieder auf die Bibel und die christliche Logosmystik zurückgreift, wie sich zeigen läßt. Dies führt uns dazu, gerade für den bei V ic o erstmals im Humanismus durchdringenden „Offenbarungsbegriff” der Sprache (übrigens durchaus ohne Anwendung auf das religiöse Problem der christlichen Offenbarung) die wesentliche Linie der abendländischen Konstitution in der Tradition der deutschen Logosmystik zu erblicken, während der italienische Humanismus den „Bildungs-begriff” der Sprache repräsentiert. Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht ein Vergleich zwischen den gleichzeitigen und in mancher Hinsicht so verwandten Denkern G. Bruno und J . Böhme. Der humanistisch gebildete Italiener repräsentiert fast schon die säkularisierte Inspirationserfahrung und schmerzhafte Dämonie des modernen Genies, während Böhme dieselben Erfahrungen — mystisch vielleicht noch kühner und geschichtlich noch folgenreicher — in die Selbstwerdung Gottes hineindenkt301). Bruno kennt genau die platonischen Traditionen des „Enthusiasmus”, welche die Humanisten seit Petrarca und Boccaccio erneuert hatten, und wie er auch sonst die rhetorische Topik und die Bildwelt der Mythologie in seine Begriffssprache (nicht ohne Stilbrüche) verwebt, so bringt er auch seine ureigenste Erfahrung von der göttlichen Besessenheit und sozialen Vereinsamung des genialen Wahrheitssuchers in Gestalt eines humanistischen Mythologems (in dem großartigen Bild von Aktäons Jagd und Verwandlung beim Anblick der nackten Diana, welcher Anblick den Jäger schließlich zum Gejagten macht) zum Ausdruck302). Zu einer spekulativen Neukonzeption des Ursprungs der Sprache kommt es indessen in diesem ganz auf die optische Schau konzentrierten Enthusiasmuserlebnis nicht. J. Böhme dagegen erfährt die Erleuchtung des Dichterphilosophen unter dem christlich-mystischen Leitgedanken der Logosgeburt in der Seele des Menschen, und indem er dieses Motiv mit dem Begriff der „Natursprache” („Signaturenschrift", „Buch der Natur”) verbindet, gestaltet er, sprachschöpferisch und theoretisierend zugleich, eine Konzeption der eigenen Muttersprache als Herzensausdruck und ursprüngliche Weltdichtung, die, ebenso unbehilflich wie echt und ursprünglich formuliert, ihre säkularisierte Auswirkung erst in dem Dichter- bzw. Genieverständnis des deutschen „Sturm und Drang” entfalten wird. Bruno entnimmt die Fassung seiner Genieerfahrung der Bildungswelt der schon im Geiste des Humanismus formierten Sprache; Böhme erfährt die eigene und die Schöpferkraft der Muttersprache ineins, indem er sich und zugleich sein deutsches Sprachmedium erst zum Ausdruck des philosophischen Gedankens hinbilden muß.
Mit den bisherigen Überlegungen scheint mir im groben Aufriß das abendländische Koordinatensystem bereitgestellt zu sein, auf das hin wir die Bedeutung des Sprachhumanismus für die programmatische Formierung der neueuropäischen Muttersprachen, speziell für die darin implizierte philosophische Deutung der Sprache überhaupt, zu bemessen haben.
301)
Vgl. die hier ausgezeichneten Interpretationen P. Hankamers (Jakob Böhme, 1924). Vgl. G. Bruno: Heroische Leidenschaften und individuelles Leben (eine Auswahl und Interpretation von E. Grassi, Bern 1947), S. 86 ff. 302)
200
b) Entfaltung und Grenzen der Sprachidee des „umanesimo volgare” in Italien. In Italien läßt sich, wie früher schon angedeutet wurde, die positive Auseinandersetzung des Humanismus mit der Volkssprache im gedanklichen Umgangskreis der Questione della lingua bis hin zu Manzoni als ausführliche Wiederholung und Diskussion der Problematik von Dantes Traktat „De vulgari eloquentia” begreifen (vgl. oben S. 125). Die von Dante nur erst angeschlagenen Themen: natürliche Sprache und künstliche Sprache, Veränderung alles Irdischen in Zeit und Raum und demgegenüber Sprachfixierung durch grammatisch-lexikalische Regulation und rhetorisch-poetische Stilkritik, die Suche nach der würdigsten Literatursprache Italiens und im Zusammenhang damit die Problematik der Sprachwertung und Normierung überhaupt — all dies wird in den Dialogen und Traktaten, die im Zusammenhang mit der Questione della lingua entstehen, als Ideengehalt einer ganzen Epoche entfaltet. Die Realitäten der geschichtlichen Situation, festgelegt durch das Miteinander einer aufstrebenden nationalen Kulturbewegung, die in den großen Dichtern des Trecento bereits ihre Klassiker erkennt, und einer gleichzeitigen Wiederentdeckung der klassischen Antike, liefern die unausweichlichen Problemstellungen, während außer der schon Dante zur Verfügung stehenden Sprachtheologie jetzt vor allem die Topoi der ciceronisch-quintilianischen Sprachideologie als begriffliche Mittel und Ausgangspunkte der theoretisch-programmatischen Bewältigung dienen müssen. Dabei kommt es in der Durchdringung von modernen Bedürfnissen und überlieferter Sprachauffassung einmal zu jenen für die europäische Geisteswissenschaft grundlegenden Ansätzen des historischen und hermeneutischen Denkens überhaupt, die in Vico ihre späte philosophisch-spekulative Zusammenfassung finden; andererseits kündigen sich in der Spannung der laizistischen Sprachbedürfnisse zur Gelehrtenideologie die Grenzen der humanistischen Sprachdeutung überhaupt an, die freilich im italienischen Bereich fast nur indirekt zum Ausdruck kommen: einmal negativ als Kryptonominalismus der entstehenden Erfahrungswissenschaften, zum anderen positiv in der künstlerisch-technischen Umprägung der humanistischen Idee einer rhetorischen „ars inveniendi” (Logik als Topik) zur geometrischen ars inveniendi der Naturinterpretation durch konstruierte Modelle, die nach langer Vorbereitung durch die experimentierenden Künstler und empirischen Mathematiker in Galileis Methode zum Durchbruch kommt. Wir wollen nun den sprachphilosophischen Ertrag der skizzierten italienischen Entwicklung im einzelnen zu belegen versuchen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es sich in fast allen humanistischen Texten, sofern sie überhaupt mehr darstellen als rhetorische Stilübungen, weniger um theoretische Philosophie als um programmatisch-kulturpädagogische Er-
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örterungen handelt. (Erst Vico, der auch noch zur Questione della lingua Stellung nimmt303), und in „De nostri temporis studiorum ratione” eine typische rhetorischprogrammatische Humanistenrede hält, transformiert später erstmals die auf die menschliche Kultur bezügliche Thematik ausdrücklich in das Programm einer „Scienza nuova”, die er im Rahmen des „natürlichen Systems” der Barockwissenschaft der cartesischen Mathesis und den verschiedenen Systemen des Naturrechts entgegenstellt.) Dies macht es erforderlich, die implizite Problematik der Erörterungen in ihrer philosophischen Tragweite sichtbar zu machen, ohne dabei die gedanklichen Konzeption der Texte in geistesgeschichtlicher Überinterpretation aus ihrem Ort und Denkbereich zu verrücken. Schon lange vor dem endgültigen Sieg des „umanesimo volgare” durch Bembo bereitet sich die Würdigung der Volkssprache mit Hilfe humanistischer Argumente vor: Anläßlich der Verteidigung von Dantes volkssprachlicher Dichtung hatte ein so überzeugter Humanist wie L. Bruni bereits die Parole für eine wahrhaft sprachphilosophische Verallgemeinerung der Einsichten Petrarcas in die Individualität des sprachlichen Ausdrucks ausgegeben: „Ciascuna lingua ha sua perfezione e suo suono, e suo parlare limato e scientifico."304)
Bei dem Humanisten und Architekten L e o n B a t t i s t a A l b e r t i , der freilich — wie jetzt schon betont sei — auch in der Ahnenreihe der Techniker und KünstlerEmpiriker steht, die über Leonardo und Tartaglia zu Galilei führt, findet sich einerseits die gleiche spirituelle Hochschätzung der lateinischen Sprache wie bei L. Valla: Wie bei diesem wird der Untergang des römischen Reiches geringer geachtet als der Verfall der römischen Sprache305). Aber die Folgerung, die Alberti aus dieser geschichtlichen Tatsache zieht, zeigt eine neue Richtung der Argumentation: Nicht allein die philologisch-literarische Pflege des klassischen Lateins kommt für ihn gleichsam als Kompensation des römischen Niedergangs in Betracht, sondern näher liegt ihm die analoge Anwendung des humanistischen Wissens um die Bedeutung der Sprache auf die Gegenwart und die jetzt lebendige Sprache: „Wenn die Schriftsteller und Redner Roms in der Sprache des Volkes schrieben und von ihm verstanden wurden, warum”, so folgert er, „soll ich nicht in der modernen Sprache ein Gleiches tun? ...wer gelehrter ist als ich oder ebenso gelehrt, wofür viele gehalten werden wollen, der würde in der heute gebräuchlichen Sprache ebenso viel Schönheit finden wie in jener... und mag es auch
303)
G. B. Vico im „Giudizio sopra a Dante” von 1732; vgl. H. W. Klein, a. a. 0. S. 100. L. Bruni Aretino, Humanistisch-philosophische Schriften, hrsg. u. erl. von H. Baron, Leipzig u. Berlin, 1928, S. 59. 305) Vgl. oben Anmerkung 288. 304)
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sein, wie sie sagen, daß jene alte Sprache bei allen Völkern in höchstem Ansehen steht, nur weil in ihr viele Gelehrte geschrieben haben; ähnlich wird es gewiß mit der unseren gehen, wenn die Gelehrten sie mit großem Eifer und Wachsamkeit gesäubert und gereinigt haben werden."306)
Hiermit hat Alberti bereits das Programm des „umanesimo volgare” bis in die Zeit der europäischen Sprachakademien und Sprachgesellschaften vorgezeichnet. Kühner und origineller noch ist L o r e n z o d e ' M e d i c i s Verteidigung der Volkssprache im „Comento sopra alcuni de' suoi sonetti"307). Auch er nimmt wie Alberti eine Mittelstellung ein zwischen dem literarischen Humanismus und den bildenden Künstlern, die ja recht eigentlich die schöpferische Leistung der italienischen Renaissance repräsentieren. Der Mediceer gibt ein Beispiel dafür, wie die Sprachtopik des Humanismus bei der Bewertung einer modernen Sprache angewandt und zu-gleich kritisch modifiziert wird: Um die Ebenbürtigkeit des „volgare” mit dem Lateinischen zu beweisen, unterscheidet er vier Eigenschaften, die einer Sprache Würde (dignità) und Vollkommenheit (perfezione) geben: 1 . „ c o p i a ", 2. „a r m o n i a ” (bzw. „ d o l c e z z a " ) , 3. B e r ü h m t h e i t („quando in una lingua sono scritte cose sottili e gravi e ecessarie alla vita umana”) und 4. „f e l i c i t à p r o s p e r i t à e d i f o r t u n a "308) . Es bezeichnet nun vielleicht schon eine spezifisch neuzeitliche Einstellung zur Sprache überhaupt, wenn Lorenzo die unter 3. und 4. genannten Vorzüge nicht mehr als solche der Sprache selbst gewertet wissen will, da Berühmtheit und Verbreitung einer Sprache vielmehr von den Menschen, die sie benutzen, sowie von äußeren Umständen abhingen. Bei Speroni und vor allem bei dem Franzosen Du Bellay wird dieser Gesichtspunkt, die geschichtliche Würde einer Sprache als Gefäß der inhaltlichen Kultur und ihre faktische Verbreitung abstraktiv auf die jederzeit mögliche Leistung der Menschen zu verrechnen, noch weit schärfer in den Vordergrund treten. Auch die „dolcezza ed armonia” (die den lateinischen Begriffen der „iucunditas” und „suavitas” entsprechen309)) läßt Lorenzo nur bedingt als Vorzug einer Sprache gelten, da die Frage des Gefallens oder Nichtgefallens keine objektive Beantwortung zuläßt. So bleibt als Maßstab der Sprachbewertung die von Cicero und Quintilian bereits in den Vordergrund gerückte „copia verborum” (s. oben S. 130 ff.):
3 0 6 ) L. B. Alberti: Della Famiglia, In: Opere volgari, Florenz 1844, Bd. II, S. 221 ff. (Zitat nach G. Toffanin, a. a. O. S. 489). 307) Vgl. zum Folgenden H. W. Klein, a. a. O. S. 64 ff. 308) Lorenzo de' Medici: Comento sopra alcuni de' suoi sonetti, ed. Attilio Simioni, Bari 1939, S. 18 f. (Zitat nach H. W. Klein, a. a. 0.) 309) so nach H. W. Klein, a. a. O. S. 65.
203
„Quella che è vera laude della lingua è l'essere c o p i o s a e a b o n d a n t e e d a t t a a d e s p r i m e r e b e n e i l s e n s o e i l c o n c e t t o d e l l a m e n t e ."310)
Dieser wahre Vorzug—hiermit schließt Lorenzo seine Beweisführung—kommt dem Florentinischen in eben dem Maße zu wie dem Lateinischen, wie die großen Dichter des Trecento, Dante, Petrarca und Boccaccio beweisen. Das Florentinische ist die natürliche Muttersprache der Gegenwart, wie es früher die alten Sprachen waren (t u t t e l i n g u e m a t e r n e e n a t u r a l i ). Hiermit kommt Dantes Begriff der natürlichen Muttersprache wieder zur Geltung. In dem Wertmaßstab des mehr oder weniger reichen Ausdrucksmittels, der für Lorenzo bestehen bleibt, kommt ein ebenso trivialer wie charakteristischer Gehalt des humanistischen Sprachbegriffs der Folgezeit zur Geltung. Die „copia verborum” als vorgegebene Eigenschaft einer „lingua”, die noch dieser selbst und nicht der Art menschlicher Sprachverwendung zuzurechnen ist, — dieser Topos bezeichnet den vom modernen Subjektivismus und Relativismus eingeschränkten minimalen Restbestand des römischen Begriffs der geschichtlichen Sprache als Formgefäß und Institution schlechthin der menschlichen Kultur (vgl. oben S. 135)311). Auch dieser Restbestand — dies sei schon hier angedeutet — kann und wird durch den kryptonominalistischen, ungeschichtlichen Zeichenbegriff der Sprache, der gleichsam vom Rande her den Bereich des italienischen Sprachdenkens der Renaissance beeinflußt, noch in Frage gestellt werden (s. unten S. 214 ff.). Im allgemeinen bleibt aber für den italienischen Humanismus charakteristisch, daß die radikale Subjektivierung und Psychologisierung der Sprachfunktionen nicht durchdringt. Im Gegensatz zur modernen Auffassung wird vielmehr noch manche individualaesthetische Verhaltensmöglichkeit des Menschen als sprachliche Institution behandelt. Ein Beleg hierfür ist zum Beispiel die durchgehende Verquickung der Begriffe „Sprache” (im Sinne von lingua) und „Stil”, wie sie schon bei Dante auffällt, für den das „vulgare illustre” zugleich (oder sogar vornehmlich) eine Stilart im Sinne der Poetik darstellt. Wenn „Sprache” und literarischer Stil” „bis zu Sperone Speroni ständig verwechselt werden”, wie H. W. Klein312) schreibt, so scheint mir hierin gerade ein charakteristischer Zug des altrömischen Sprachverhältnisses sich durchzuhalten, für das nach J. Lohmann (s. oben S. 138 f.) die Sprache als vorgegebene „Form des Ver-
310)
L. de' Medici, a. a. 0. (Zitat nach H. W. Klein, S. 65). H. W. Klein (a. a. 0. S. 84) gibt einen überblick über die Geschichte des Topos der „copia” von Cicero über die ersten Verteidiger der italienischen Volkssprache (im „Paradiso degli Alberti"), Poliziano, Lorenzo de' Medici, Machiavelli bis zu Varchi, für den die „bontà d' una lingua” in der „abbondanza delle parole e de' modi del favellare” (Ercolano, Ques. IX) besteht. Im Französischen, z. B. bei H. Estienne, entspricht dem die „richesse”. 312) Ebda. S. 50. Vgl. auch Th. Labande-Jeanroy., a. a. 0., S. 11 ff. u. ö. 311)
204
haltens" sich darstellen mußte313). Der Franzose Du Bellay (dem freilich Speroni vorangeht) wird in diesem Punkt sofort das moderne subjektivistische Sprachverhältnis, das im Nominalismus philosophisch formuliert ist, seiner „Deffence et illustration de la langue françoise” zugrunde legen (s. unten S. 243 ff.). Die klassische Programmschrift des „u m a n e s i m o v o l g a r e " ist B e m b o s „Prose della volgar lingua” von 1525314). Dieser Dialog (der auf ein im Jahre 1502 wirklich stattgefundenes Gespräch zurückgeht) spiegelt in seinem Aufbau noch einmal die Themenfolge von Dantes Traktat: Zu Beginn wird in einer Art sprachphilosophischer Einleitung aus der zeitlichen und räumlichen Variabilität des Sprechens unter den Menschen die Notwendigkeit einer regulierten Sprache abgeleitet. Insbesondere fehle es in Italien immer noch an einer ausreichenden Bestimmung der Gesetze und Regeln des Schreibens; eine solche Fixierung wäre ganz besonders geeignet, der menschlichen Kommunikation die Überbrückung der zeitlichen und räumlichen Sprachverschiedenheit zu ermöglichen: „Denn nichts anderes ist das Schreiben, als bedacht sprechen (parlare pensatamente), welches Sprechen... darüberhinaus noch die Eigenschaft hat, daß es zu einer unbegrenzten Menschenmenge hinausgeht und lange bestehen kann."315
Das ist Petrarcas Pathos der sprachlichen Menschheitskommunikation, zugespitzt auf das Problem einer nationalen Schriftsprache. (In der Tat
313) Bezeichnend ist übrigens in diesem Zusammenhang, daß der moderne Italiener B. Croce in seiner „Aesthetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik” (dtsch. 1905) die Identifizierung von „Sprache” und künstlerischem „Stil” ausdrücklich bestätigt und philosophisch zu begründen sucht. Hierin verrät sich einmal die — insbesondere über Vico vermittelte — Kontinuität im Denkstil des italienischen Humanismus, zum anderen aber doch auch die moderne Subjektivierung des Sprachverhältnisses. Denn, wenn Dante die stilistisch-poetische Kategorie des „vulgare illustre” als in bestimmten Fällen vom Dichter zu wählende objektive Möglichkeit der Sprache versteht — und hierin liegt m. E. das Quasiantike —, so denkt Croce umgekehrt die objektiven Strukturen der Sprache — z. B. die Kategorien der Grammatik — als Erstarrungsprodukte vom freischöpferischen aesthetischen Akt des Individuums her. Daß die Sprache keineswegs „im Moment des Stillstandes und Festwerdens etwas Passives” ist, wie der Croceschüler K. Voßler meint (Positivismus u. Idealismus in der Sprachw., Heidelberg 1904, S. 91), sondern gerade in ihren festen, objektiv-geistigen Strukturen als richtende (und gängelnde), führende (und verführende) „Energeia” auf das spontane Weltverhalten des Einzelnen sich auswirkt, mußte von der modernen Sprachwissenschaft (L. Weisgerber) erst eigens wieder entdeckt werden. Inwiefern man — in dialektischer Bezugnahme zum Verhaltensstil des Einzelnen — auch die „innere Form” der Sprache (= langue) als „Stil” (z. B. der „Anverwandlung von Welt”, wie Weisgerber sagt) auffassen kann, ergibt dann ein neues Problem jenseits der klassischhumanistischen Verquickung von aesthetischem Verhaltensstil und Sprache. 314) Wir zitieren Bembo nach der Ausgabe von M. Marti, Padova 1955. 315) Ebda. S. 4.
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kommt ja der schriftlichen Fixierung einer Sprache eine ganz besondere Bedeutung in der Stabilisierung der menschlichen Kommunikation zu, wie in extremer Form das Beispiel der „Schrift-Sprache”, d. h. der in der Schrift gegründeten, lediglich inhaltlichen Spracheinheit der chinesischen Kulturgemeinschaft zeigt.) Anschließend wird im Dialog selbst zunächst noch einmal generell die Frage diskutiert, ob dem Latein oder der Volkssprache der Vorrang gebühre. Es handelt sich indessen bei Bembo nicht mehr um eine bloße Verteidigung der Ebenbürtigkeit des Volgare, sondern die Unterredner des Dialogs beweisen dem einzigen unter ihnen, der noch am Vorrang des Lateins festhält, da er die dolcezza der Volkssprache nicht kennt, daß es die Pflicht der Lebenden ist, die „natürliche” und „eigene” Sprache, mit der sie geboren sind, der lateinischen als der „fremden” vorzuziehen. Erhält man hier zunächst den Eindruck einer breit ausgeführten Argumentation auf der Grundlage des Danteschen Begriffs der „lingua naturalis”, so zeigt sich der fortgeschrittene Standpunkt Bembos darin, daß er mit Flavio Biondo und L. Valla auch das Lateinische als eine natürliche (freilich geregelte) Sprache ansieht, die zu i h r e r Zeit dem Griechischen gegenüber die lebendige Volkssprache war. (An die Stelle der Danteschen Theorie von den zwei römischen Sprachen ist inzwischen die Barbaren-These B io n d o s und Vallas getreten, welche die Entstehung des Volgare aus dem Latein durch die Vermischung mit der Sprache der Goten und Langobarden erklärt.) Diese Einsicht erlaubt es, die Argumente Ciceros und seiner römischen Bewunderer im Kampf um das Latein als Kultursprache geschichtlich zu verstehen und in analoger Form (vgl. schon Alberti) auf das Volgare der Gegenwart anzuwenden: „Man muß also zugeben, daß nicht die würdigsten und mit dem größten Ruhm bedeckten Sprachen bei den Menschen zum Schreiben gebraucht werden sollen, sondern ihre eigenen, und zwar dann, wenn sie fähig sind, auch selbst Würde (dignità) und Größe (grandezza) auszubilden, wann immer dieser Zeitpunkt auch eintreten mag. So war es in den guten alten Zeiten beim Latein, dessen Autorität Cicero in vielen seiner Schriften zu vermehren sich bemühte, indem er es lobte und mit seinen Ratschlägen die Römer einlud, römisch zu schreiben und die eigene Sprache reich und ausdrucksvoll (abbondevole e ricca) vor allen fremden zu gestalten — denn damals besaß das Latein ja noch nicht alle jene Wertschätzung (riputazione), die seiner Meinung nach ihm zukommen mußte; aber er spürte schon, daß es fähig war, so viel Achtung zu erringen, wie es sie auch später durch seine und anderer Werke gewonnen hat. — Genau das sahen bei unserer Volkssprache Cino, Dante, Petrarca, Boccaccio und andere bereits von ferne voraus ..."316)
Mit dieser Analogie verbindet sich bei Bembo der Gedanke der not-wendigen geschichtlichen Ablösung der Kultursprachen: Die große Literatur ging von den Ägyptern über die Phönizier, die Assyrer, die Chaldäer zu den Griechen, von diesen zu den Römern,
316)
Ebda. S. 11.
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„und nun ... ist in diesen letzten Jahrhunderten auf die lateinische die Volkssprache gefolgt, und zwar in so glücklicher Weise, daß man in ihr schon nicht nur viele, sondern auch hervorragende Dichter lesen kann, die sowohl in Versen als auch in Prosa geschrieben haben."317)
Das geschichtliche Denken des Humanismus zeigt sich hier gegenüber Dante und der Lehre von den drei heiligen Sprachen wesentlich erweitert. Die Ablösung der Kultursprachen entspricht allerdings, worauf H. W. Klein hinweist318), dem geschichtsphilosophischen Schema der translatio imperii bzw. studii oder litterarum, das im ganzen Mittelalter herrschend war und über Augustinus auf die Weissagungen des Buches Daniel über die vier Reiche sowie auf die biblische Begründung ihrer „Übertragung” im Ecclesiasticus ( = Jesus Sirach 10, 8) zurückgeht, wo es heißt: „regnum a gente in gentem transfertur propter injustitias et injurias et contumelias et diversos dolos” (Luther: „Um Gewalt, Unrechtes und Geizes willen kommt ein Königreich von einem Volk aufs andere”) —
eine Konzeption, die noch Hegels Vorstellung der weltgeschichtlichen Ablösung der Volksgeister trägt. Das sprachgeschichtliche Denken der Humanisten entwickelt sich also wie das Dantes im Säkularisationshorizont des geschichtlichen Weltbildes, das dem christlichen Abendlande eigentümlich ist. Der größte Teil von Bembos Dialog beschäftigt sich mit der idealen Gestalt der Volkssprache als Literatursprache, d. h. — um mit Dante zu reden — er gilt der „Jagd nach der angemessensten und erlauchtesten Sprache Italiens”. Dante wird dabei nicht genannt, obwohl Bembo seinen Traktat über die Dichtung in der Volkssprache kennt319). Bembos Entscheidung der Frage läuft aber der Dantes, wie sie Trissino und andere Zeitgenossen interpretierten, entgegen: nicht ein vages „Volgare illustre” das keiner der bestehenden Dialekte wäre und doch in allen lebte, sondern das Toskanische — und zwar das Toskanische des Trecento — ist die ideale Schriftsprache Italiens, denn das Toskanische kann seine Eigenart durch klassische Dichtungen ausweisen. Hier formuliert Bembo zum ersten Mal den charakteristischen Gehalt der Sprachidee des „umanesimo volgare”: Der Konzeption einer „lingua cortigiana”, wie sie angeblich am römischen Hofe gesprochen wird, hält er entgegen: „Aber dieses Unterhalten und Reden ist vielleicht doch keine Sprache, da man eine Sprache, die kein Dichter benutzt, nicht wirklich als Sprache bezeichnen kann. ...Auch die lateinische Sprache nennen wir doch nur ,Sprache` auf Grund der Plautus, Terenz, Virgil, Varro, Cicero und anderer, die durch ihre Schriften sie erst zur Sprache gemacht haben ... Außerdem hat jede Sprache in sich ihre besondere Eigenart (ogni lingua alcuna qualità ha in sè), die sie
317)
Ebda. S. 48. H. W. Klein, a. a. 0. S. 74. Vgl. auch E. R. Curtius, a. a. 0. S. 38 f. und 388. 319) Vgl. H. W. Klein, a. a. 0. S. 69. 318)
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zu einer armen (povera) oder reichen (abbondevole), weichen (tersa) oder rohen (rozza), wohlklingenden (piacevole) oder harten (severa) Sprache macht, oder sie besitzt ähnliche wie die von mir aufgezählten Charakteristika. Und dies alles kann man mit keinem anderen Zeugnis beweisen als mit dem derjenigen, die jene Sprache in literarischen Äußerungen benutzt haben."320)
Die hier bezeugte humanistische Auffassung der modernen Volkssprache wird noch einmal schärfer bestimmt in der folgenden Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der toskanischen Idealsprache, zwischen Giuliano de' Medici aus Florenz und dem Venezianer Carlo Bembo, dem Bruder und Vertreter des Verfassers. Hier erweist sich paradoxerweise der Venezianer als Verfechter des besseren Toskanisch, weil er nicht „durch die geheime Kraft der langen Gewöhnung an die Volkssprache” seinen Maßstab gewinnt, sondern „allein an ... guten Dichtungen"321).
Der Florentiner beruft sich darauf, daß die Sprachen sich wandeln; daher müsse die Literatur „ebenso wie auch die Kleidung und Bewaffnung sich dem Stil der entsprechenden Zeit anlehnen und angleichen, da sie doch von den lebenden Menschen gelesen und verstanden werden muß und nicht von den Vorfahren.” Die Natur habe „den Menschen den Mund zum Sprechen geschaffen, damit dies ihnen Zeichen und Beweis (segno e dimostramento) ihres Geistes sei, der sich vollkommen in anderem Spiegel nicht erblicken läßt"322).
(Hier klingt noch einmal die traditionelle Definition des Sprechens als Offenbarung des Geistes an, die wir bei Dante als Abhebung der Menschensprache von der Verständigung der Engel „im Gottspiegel” antrafen!) Diesen Argumenten (die er doch selbst gegen das Lateinische vertritt!) hält Bembo entgegen: „Die Sprache der Literatur ... darf sich nicht an die des Volkes anlehnen, wenn sie damit nicht Würde (gravità) und Größe (grandezza) verlieren will. Ganz im Gegenteil, sie muß sich von ihr so weit lösen und fernhalten, als nötig ist, um sich in lieblichem und edlem Zustand zu erhalten. Und eben deshalb dürfen die Schriftsteller sich nicht nur darum bemühen, allein den lebenden Menschen ihrer eigenen Epoche zu gefallen ... , sondern vielleicht viel mehr denen, die nach ihnen kommen werden. Denn für seine Mühen liebt doch ein jeder mehr die Ewigkeit als nur einen kurzen Zeitraum."323)
In dieser Herausstellung des Willens zur Ewigkeit, der schon in der Einleitung mit dem Wesen der Schriftsprache ineinsgesetzt war (s. oben
320)
Bembo, a. a. O. S. 31 f. Ebda. S. 35. 322) Ebda. S. 36 f. 323) Ebda. S. 38. 321)
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S. 206), kommt bei Bembo das, geschichtsontologisch bzw. kulturanthropologisch betrachtet, höchst gewichtige Anliegen der humanistischen Sprachregulierung und Sprachstilisierung zum Ausdruck. Es ist der spezifisch menschliche Gegenzug gegen die Korruptibilität alles Natürlichen, den wir schon in Dantes Gegenüberstellung von „lingua regulata” (Grammatik und „lingua corruptibilis” (volgare) erkannt sahen, er äußert sich bei dem Petrarkisten Bembo als aristokratisches Bekenntnis zur vorbildlichen Form einer Bildungselite: „Es ist nicht die Menge, Giuliano, die den Werken eines jeden Jahrhunderts Ruf und Ansehen verschafft, sondern es sind die ganz wenigen eines jeden Jahrhunderts, deren Urteil, da sie für gelehrter als die übrigen gehalten werden, dann die Menschen und die Menge Glauben schenken."324)
Der Vertreter des Sprachusus als Maßstab der Sprachnorm könnte nun, wie Bembo selbst einräumt, in der bisherigen Bestimmung des Sprachideals noch das allgemeine Kriterium der Vorbildlichkeit vermissen; er könnte fragen: „Diese Deine Art, gut zu schreiben, wo hat sie ihre Quellen und bei wem ist sie zu finden? Muß man sie immer noch bei den antiken Autoren lernen?”
Bembo spürt hier offenbar die Antinomie zwischen dem Ewigkeitsideal der Form und der Einsicht in das geschichtliche Werden und Vergehen auch der großen, vorbildlichen Gestaltungsprägungen der Sprache und Literatur. Seine Antwort läßt einen neuen, höchst zukunftsreichen Begriff des Klassischen erkennen, der sich mit Konsequenz aus dem Analogiedenken des „umanesimo volgare” und dem Gedanken der „translatio” ergibt: „Nicht immer”, erklärt Bembo, muß man den Alten folgen, „aber jedesmal dann, wenn die Sprache in den Schriften der Alten besser und ruhmvoller ist als die, welche man im Munde oder in den Schriften der Lebenden findet."325) Er erläutert dies an geschichtlichen Beispielen: „Cicero oder Virgil durften nicht die Sprache ihrer Zeit aufgeben und in derjenigen Ennius' oder jener anderen reden, die noch älter als sie waren ...” Auch Petrarca und Boccaccio durften nicht „in der Sprache Dantes und noch viel weniger in der Guido Guinizellis, Farinatas und der damals Lebenden reden.” Aber Seneca, Tranquillus (= Sueton), Lukan, Claudian hätten nach Bembos Meinung besser „in der Art ihrer Vorgänger, und zwar Virgils und Ciceros, gedichtet” und nicht in ihrer eigenen. Und genauso, meint er, täten die Italiener seiner Zeit besser daran, in ihren Büchern „im Stile Boccaccios und Petrarcas zu reden” als in ihrem eigenen. „Denn ohne allen Zweifel sprachen sie besser, als wir es heute tun."326)
Es wird also — nicht ohne die Gründerleistung der großen Schriftsteller — in der Entwicklung jeder Kultursprache ein klassischer Höhe-
324)
Ebda. S. 40. Ebda. S. 41. 326) Ebda. 325)
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punkt erreicht, der vom Kritiker zum Maßstab der Richtigkeit und Schönheit eingesetzt werden kann — so etwa könnte man Bembos Sprachtheorie zusammenfassend interpretieren, und in dieser allgemeinen Quintessenz ist sie tatsächlich in der europäischen Sprachregulierung und Literaturkritik bis in die Goethezeit hinein wirksam geworden, ja der (freilich noch weit stärker) relativierte Begriff des Klassischen ist auch für die Kulturmorphologie im Zeitalter des Historismus noch unentbehrlich. (Sogar dies wird man der bei Bembo angezielten humanistischen Idee der Klassizität selbst heute noch als bedenkenswerte Überzeugung entnehmen, daß die im Nacheinander und Nebeneinander der geschichtlichen Kulturen geglückten klassischen Ausprägungen von Sprache und Kultur überhaupt irgendwie „nahe wohnen auf getrenntesten Bergen”, um mit Hölderlin zu reden.) Freilich bedeutet Bembos Idee der klassischen Sprachform, die wir bis jetzt philosophisch zu würdigen versuchten, in ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit eine dogmatische Entscheidung: die Kanonisierung der Sprache und — damit verquickt — weitgehend auch des Stils der Trecentisten. Doch anders läßt sich ein Problem der prinzipiell zukunftsoffenen menschlichen Kultur ja auch philosophisch nicht auflösen. Es scheint mir aus diesem Grunde nicht möglich, mit Thérèse Labande-Jeanroy die sprachtheoretische Position Bembos in ihrer Differenz von derjenigen der Vertreter der lebenden Sprache von Florenz einfach aus der Verwechslung von Sprache (im linguistischen Sinne) und Sprachstil (im Sinne einer Literaturästhetik) zu erklären227). Obgleich diese Verquickung in den Argumentationen Bembos zweifellos eine entscheidende Rolle spielt, vermag eine radikal abstrahierende Unterscheidung beider Sinntendenzen m. E. das für Bembo und seine Zeitgenossen „aufgegebene” Problem keineswegs aufzulösen; ganz einfach deshalb nicht, weil — wie wir schon im Falle Dantes betonten — eine empirische Linguistik als Wissenschaft vom tatsächlichen Sprachgebrauch dem normativen Problem einer Sprach p r o g r a m m a t i k von Hause aus nicht gewachsen ist. Die Questione della lingua birgt m. E. in sich nicht nur eine Verquickung von linguistischer und literarästhetischer Betrachtungsweise, sondern auch eine solche von empirischer und normativer Problematik; und die letztere Unterscheidung bedingt ihrerseits eine Relativierung der ersteren, die mir Th. LabandeJeanroy nicht zu berücksichtigen scheint. Es ist gewiß richtig, daß Bembos Kanonisierung des Sprachgebrauchs der Trecentisten ohne theoretisch-allgemeingültiges Kriterium bleibt; sie stellt, wie wir sagten, eine dogmatische Entscheidung dar. Aber diese Kanonisierung bleibt nicht allein deshalb dogmatisch, weil sie — in der Tat — einer stilistisch-ästhetischen Idealbildung entspricht, sondern auch deshalb, weil sie sprach-p r o g r a m m a t i s c h ist. Sprachprogrammatik aber dürfte immer auch über eine ästhetische Idealbildung „vermittelt” sein. Im Falle Bembos (und des gesamten „umanesimo volgare” der Italiener) spielt die ästhetische Vermittlung eine besonders große Rolle; aber auch hier waren noch andere Vermittlungen der Sprachprogrammatik im Spiel, deren wichtigste Th. Labande-Jeanroy selbst scharfsinnig herausgearbeitet hat. Sie
327)
Vgl. Th. Labande-Jeanroy a. a. O. S. 94 ff.
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nennt Bembos „purisme archaïsant” „une réaction contre le pédantisme linguistique des Florentins, un effort pour rendre également aisé aux Toscans et aux non-toscans l'usage de la langue littéraire"328) und betont, daß ein solches Sprachideal der großen Masse der gebildeten Nichttoskaner aus zwei Gründen sympathisch sein mußte: einmal deshalb, weil sie als Humanisten gewohnt waren, die Sprachnorm aus der „Nachahmung` schriftlicher Modelle und nicht aus dem mündlichen Sprachgebrauch zu gewinnen, und zum anderen deshalb, weil sie nicht gezwungen waren, den lebenden Florentinern ein besonderes Prestige unter allen Italienern einzuräumen329). — Nun, beide Gesichtspunkte stellen, wie mir scheint, durchaus legitime „Vermittlungen” einer Sprach-P r o g r a m m a t i k dar, die im übrigen nicht auf die literarästhetische Vermittlung reduziert werden können. Insofern kann m. E. die These Bembos niemals schlechthin als falsch der richtigen These der „Florentiner” (wie sie im Dialog von Giuliano de' Medici vertreten wird) gegenübergestellt werden; denn auch die letztere stellt — als programmatische Tendenz — eine dogmatische Entscheidung dar. Welche These angesichts der geschichtlichen Situation Italiens die angemessenere bzw. die fruchtbarere Antwort darstellte, wagt der Verfasser hier nicht zu entscheiden330). Wesentlich ist in unserem Zusammenhang die Herausstellung der unverkürzten philosophischen Sinndimensionen der Sprachidee, die in der „Questione della lingua” im dialektischen Widerspiel der Positionen entfaltet wurde.
Im Rahmen des italienischen Sprachdenkens seiner Zeit stellt Bembo den klassizistisch-humanistischen Pol schlechthin dar. In diesem Denken waren seit Dante zwei entgegengesetzte Tendenzen wirksam: auf der einen Seite erschien das natürliche Werden als Verderbnis, die ungeregelte Volkssprache infolgedessen als „lingua corruptibilis” (Dante) bzw. vom Latein her gesehen, als „lingua corrotta” (Humanistentopos)331), auf der anderen Seite war die natürliche Sprache schon bei Dante gerade als solche edler als die nachträglich hinzuerfundene Kunstsprache (grammatica). Aus dem letzteren Denkkeim, der einem spontanen menschlichen Grundgefühl ebenso entspricht wie der Wille zur festen Kunstform einem
328)
Ebda. S. 99. Ebda. S. 99 f. 330) Immerhin gibt Th. Labande-Jeanroy zu, „que la réforme de Bembo marque un retour ä la morphologie du Trecento et en particulier à celle du Decameron”, fährt aber dann folgendermaßen fort: „Mais le succès même de cette reforme, qui réussit à réintroduire, comme seules correctes, dans les écrits et jusque dans la langue courante, des formes presque entièrement abandonnées, prouve que Bembo avait su choisir, parmis les formes du Trecento, celles qui étaient encore assez vivantes pour ne point paraître ridicules ou pédantesques: il n'avait donc entièrement perdu de vue le goût de son temps” (a. a. 0. S. 108 f.). In diesen Sätzen wird die faktische Untrennbarkeit der linguistischen und der aesthetischen Komponente innerhalb der Sprach-Programmatik bestätigt und zugleich angedeutet, wie eine programmatische Tendenz im Medium der geschichtlichen Situation bis zu einem Punkt des endgültigen Widerstandes sich durchsetzt und damit „bewährt”. 331) Vgl. H. W. Klein, a. a. 0., Register (S. 123). 329)
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immer wiederkehrenden menschlichen Auftrag, erwächst alle Würdigung der „Lebendigkeit”, des echten, individuellen „Ausdrucks”, die Verteidigung der „eigenen”, „angemessenen”, „zeitgemäßen”, schließlich der „modernen” Sprache im Gegensatz zu dem „fremden”, „gekünstelten”, „veralteten”, ja schließlich „toten” Latein. Nahezu alle diese Charakteristika verwendet auch Bembo im Kampf gegen die Verfechter der Latinität. Aber in der Programmatik der Volkssprache selbst wird er zum Verfechter eines quasilateinischen Volgare, einer bereits fertigen Sprache, deren Gesetze nicht dem lebendigen Sprachgebrauch, sondern einer begrenzten kanonischen Literatur zu entnehmen sind. An diesem Punkt mußte die innere Dialektik des „umanesimo volgare” über Bembo hinausgehen. Sie führt uns im folgenden bis an die Grenzen des humanistischen Sprachbegriffs selbst, soweit diese in Italien sichtbar werden. Hatte Bembo in seinem archaistisch-puristischen Prinzip nur die Literatursprache als „lingua” anerkannt, während die Umgangssprache „favella” genannt wird, so folgen ihm hier seine Schüler und Nachfolger (Speroni, Tolomei, Varchi) nicht332). In seinem Dialog „Cesano” (geschrieben etwa 1535, erschienen 1554) bringt C l a u d i o T o l o m e i nach H. W. Klein „als erster die durchaus modern anmutende Erkenntnis von der immanenten Gesetzmäßigkeit auch der Volkssprache”: „Ch'ella (la lingua toscana) sia vagabonda, e senza regole discorrere, chi crederà mai, quando che ogni lingua abbia la grammatica sua, senza la quale nè parlare nè lingua dir si potrebbe, nè già credo io che in questa dicesse alcun „io amo, tu ami”. Benchè può esser die le regole die vi sono ,non siano ancora o trovate o scritte, come in tutte sempre è avvenuto; conciossiacosachè la grammatica nasce dalla lingua, e non la lingua dalla grammatica (Cesano c. 65)."333)
Diese gegenüber Bembo und vollends gegenüber Dante erheblich geschmeidigere und sozusagen weniger dualistische Einschätzung des Verhältnisses von „Form” und „Lebendigkeit” konvergiert mit dem Resultat der gleichzeitigen repräsentativen Analyse des höfischen Lebensstils im „Cortegiano” des B a l d a s s a r e C a s t i g l i o n e (1526). Auch dieser kommt zu dem Ergebnis: „La forza e vera regula del parlar bene consiste più nell'uso che in altro, e sempre vizio usar parole die non siano in consuetudine (Lettera dedicatoria)."334)
Das tiefere Verständnis der Lebendigkeit der Sprache und die Einsicht, daß diese nicht schlechthin den Gegensatz zur Regelmäßigkeit dar-
332)
Ebda. S. 75. Vgl. auch Th. Labande-Jeanroy, a. a. 0. S. 99. Ebda. S. 77. 334) Ebda. S. 72. 333)
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stellt (womit die stets neu aufbrechende ontologische Spannung zwischen Natur und Kultur in der menschlichen Sprache freilich keineswegs endgültig aufgehoben ist!) erwuchs den Verfechtern des „umanesimo volgare” in der systematischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der „c o r r u z i o n e d e l l a l i n g u a ", von dem aus die Vertreter der Latinität die Entstehung der italienischen Volkssprache verständlich gemacht hatten. Ein abschließendes sprachphilosophisches Ergebnis erreichte diese Auseinandersetzung in V a r c h i s Buch „L'Ercolano” (1570), der ausführlichen Zusammenfassung der Topoi zur Verteidigung der Volkssprache: Varchi kommt zu der heraklitisch anmutenden These: „La corruzione d'una cosa e la generazione d'un' a l t r a ; ... di che segue che la Volgare, la quale e vi v a, non sia una medesima colla Latina, la qual è spenta, ma una da sè (Erc. Ques. VI)335).”
In engstem Zusammenhang mit dieser Erkenntnis steht die epochemachende Unterscheidung „t o t e r ” und " l e b e n d e r " Sprachen, die ebenfalls bei Varchi zuerst als Einteilungsprinzip durchgeführt ist. Sie erwuchs den italienischen Sprachtheoretikern im Rahmen des Vergleichs der Sprachentwicklung mit den Lebensaltern des Menschen oder auch einer Pflanze und war im Zusammenhang dieser „Lebenstopik” schon vorher mehr oder weniger deutlich ausgesprochen worden (so bei Lorenzo de' Medici, Bembo und vor allem bei Sperone Speroni) 336). Die Herausarbeitung dieser Kategorien der Entwicklung und Lebendigkeit der konkreten Sprachen kann insofern bereits als eine dialektische Reaktion gegen den klassischen Sprachhumanismus gedeutet werden, als es ja der Humanismus war, der nach heutigem Urteil durch seine Wiederherstellung des ciceronischen Lateins gegen seinen Willen dazu beitrug, das Leben der lateinischen Sprache, wie es im Mittelalter noch angedauert hatte, endgültig zu beenden337). Eben dieser Vorwurf ist sogar bezüglich des Italienischen gegen die Accademia della Crusca erhoben worden,
335) Ebda. S. 83. Daß mit Varchis Anerkennung der „generatione” einer neuen Sprache keineswegs schlechthin der natürlichen Lebendigkeit der Sprache das Wort geredet und das humanistische Anliegen der grammatisch-rhetorischen Sprachregulierung und Stilisierung aufgegeben ist, erhellt daraus, daß Varchi den antiken Begriff der „barbarischen Sprachen” auf alle Dialekte anwendet, die keine grammatisch geregelten Schriftsprachen sind (lingue non articolate) oder die nicht edel sind (non nobili), d. h. keine großen Schriftsteller gehabt haben (ebda. S. 88). 336) Ebda. S. 91 ff. 337) Vgl. Ebda. S. 90 und die dort zitierten Urteile von Fr. Strauss (Vulgärlatein und Vulgärsprache im Zusammenhang der Sprachenfrage im 16. Jahr-hundert, Marburg 1938, S. 40) u. E. Bickel (Röm. Literaturgeschichte, p. 300). Vgl. demgegenüber L. Olschkis Betonung der Lebendigkeit des Lateins als Wissenschaftssprache Europas auch nach der humanistischen „Reform” (Olschki, a. a. 0., Bd. II, S. 64 ff.).
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deren Arbeit freilich nicht einflußreich genug war, um das Italienische wirklich in eine tote Sprache zu verwandeln338). Höchst bedeutsam für die europäische Sprachphilosophie ist neben der Unterscheidung von „toten” und „lebenden” Sprachen auch diejenige von „ l i n g u e o r i g i n a l i ” und „non o r i g i n a l i ” , die sich ebenfalls bei Varchi findet (im III. Kapitel seines Ercolano, der von der „Divisione e dichiarazione delle lingue” handelt). Im Rahmen der deutschen und niederländischen Spekulation um die „adamitische Ursprache” und später noch in Fichtes Unterscheidung von „ursprünglichen” und „angenommenen” Sprachen ohne Kontinuität der sinnbildlichen Weltanschauung wird sie eine zentrale Stelle einnehmen. B. Varchi faßt auch in repräsentativer Form alle jene Topoi zusammen, welche der Sprachhumanismus seit Cicero für die Charakteristik und Wertung der Sprache verwandt hat. Wir stellen sie, H. W. Kleins Angaben folgend, mit ihren französischen Entsprechungen zusammen339): An erster Stelle steht die schon häufig erwähnte „ c o p i a v e r b o r u m ”. Die „bontà d'una lingua” besteht nach Varchi in der „a b b o n d a n z a d e l l e p a r o l e e d e ' m o d i d e l f a v e l l a r e (erc. ques. IX)” Im Französischen lebt dieser Topos weiter als „richesse” (so bei H. Estienne). Der lateinischen „ i u c u n d i t a s ” und „ gratia” entspricht bei Varchi die „b e l l e z z a " und „d o l c e z z a ". (Vgl. oben Lorenzo de' Medicis „ d o l c e z z a ed a r m o n i a " . ) Im Französischen steht dafür „ d o u c e u r ” u n d „ g r â c e ” . Während der Italiener die These aufstellt: La Volgare è più bella della Greca e della Latina (Erc. Ques. IX), heißt es entsprechend bei dem Franzosen H. Estienne: Ainsi, ayant tenu pour confessé que la langue Grecque est la plus gentile et de meilleure g r a c e qu'aucune autre, e puis ayant monstré que le langage François ensuit les jolies, gentiles et gaillardes façons Grecques de plus pres qu'aucun autre: il me sembloit que je pouvois faire seurement ma conclusion, qu'il meritoit de tenir ... le premier (lieu) entre ceux qui sont aujourd'huy (La precellence du langage François p. 34).
Die römischen Topoi „g r a v i t a s ” und „n o b i l i t a s ” kehren bei Varchi wieder als „g r a v i t à ” und „n o b i l t à ” (Im Französischen spricht H. Estienne von „gravité"). Erwähnt sei schließlich hier noch die humanistische Tradition der römischen „p e r s p i c u i t a s ” (der „prima virtus” der Rede nach Quintilian)340). Sie kehrt bei Varchi als „c h i a r e z z a ” wieder, wird aber nicht als Eigenschaft einer Sprache, sondern als Vorzug des persönlichen Stils angesehen. Seine eigentliche Glanzzeit erlebt dieser Topos erst im französischen 17. Jahrhundert. Die berühmte französische „ c l arté " ist aber
338)
Vgl. Jak. Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin 1928, S. 378 f. H. W. Klein, a. a. 0. S. 84 ff. 340) Quintilian: Instauratio oratoria, I, 6, 41 und VIII, 2. 339)
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nicht mehr allein aus dem humanistischen Sprachverhältnis heraus zu verstehen. Sie erhält eine eigene philosophische Begründung in der Synthese von Nominalismus und mathematischem Denkideal bei Descartes und wird damit zum populären Ausdruck für das Sprachideal der „mathesis universalis” (vgl. unten S. 302 ff. über die humanistische Sprachidee bei Leibniz). Die gleiche Charakteristik wäre übrigens für den anderen spezifisch französischen Topos der „universalité de la langue Française zu geben: auch er geht einerseits auf einen humanistischen Topos zurück341), erhält aber seine eigentliche Prägung erst durch das Wissenschaftsideal des „Natürlichen Systems” der Barockmetaphysik bzw. durch dessen Popularisierung in der Aufklärung. Noch vor Varchis „Ercolano” (1570) fällt das Erscheinen des „Dialogo delle lingue” (1542) von S p e r o n e S p e r o n i 342). Wir haben uns die Interpretation dieses „in seiner Kürze . . . vielleicht repräsentativsten Werkes des Jahrhunderts"343) bis jetzt aufgespart, weil es unserer Betrachtung der Rolle des humanistischen Sprachbegriffs in der geistigen Konstitution der Neuzeit den weitesten philosophischen Horizont eröffnet: Speroni ist einmal Schüler des P. Bembo; als solcher läßt er in seinem Dialog von Bembo selbst und von einem Vertreter des ausschließlichen Lateingebrauchs (Lazzaro) noch einmal den innerhumanistischen Streit um den „umanesimo volgare” und durch Hinzuziehung eines römischen „cortigiano” auch die freiere (antitoskanische) Position der questione della lingua im engeren Sinne durchdiskutieren (1. Teil des Dialogs). Außerdem ist Speroni aber auch Schüler des bekannten aristotelischen Philosophen Pomponazzi aus Padua. Als solcher nun (vertreten im Dialog durch den Scolaro) läßt er im Dialog von einem früheren Gespräch mit Perettò (=Pomponazzi) berichten, worin eine scheinbar völlig neuartige, jedenfalls nicht mehr humanistische Sprachauffassung zur Geltung kommt (2. Teil des Dialogs). Speroni bietet uns so eine objektive Übersicht aller im 16. Jahrhundert in Italien vertretenen Sprachauffassungen, wobei der soziale Hintergrund dieser Sprachideologien oder, anders gewendet: ihre Beziehung zu den großen Kulturzweigen wie schöne Literatur, Politik und Wissenschaft scharf hervortritt. Wir brauchen aus dem ersten Teil des Dialogs hier nur dasjenige hervorzuheben, worin eine originelle, offenbar auf Speroni selbst zurückgehende Ansicht zu Tage tritt: Zu Beginn sei noch einmal eine Definition der Muttersprache (la lingua nostra materna) im Sinne des „umanesimo volgare” angeführt: diese ist (nach Speronis Bembo)
341) H. W. Klein (a. a. 0. S. 17) leitet die „universalité” aus dem frühhumanistischen Topos „magis communis et intelligibilis” ab. 342) Wir zitieren Speroni nach „Tesoro di prose italiane...,” Firenze 1841, S. 519 ff. 343) So G. Toffanin: Il cinquecento, Mailand 19404, p. 105 (Zitat nach H. W. Klein, a. a. 0. S. 78).
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„una certa adunanza non confusa ma regolata di moite e diverse voci, nomi, verbi ed altre parti d'orazione” (a. a. O. S. 523). Eine solche Ordnung hat die „fromme und kunstreiche Mühe unserer Vorväter” aus dem anfänglichen Vielerlei der Völkerwanderungszeit geschaffen, indem sie „unsere Mutter Natur” nachahmte, „die uns aus vier Elementen, die untereinander sehr nach Beschaffenheit und Lage verschieden sind, zu etwas Vollkommenerem und Edlerem als die Elemente selbst gebildet hat”.
Hier zeigt sich wieder der humanistische Wille zur großen Form der Kultur, zur Hochstilisierung des anfänglichen Chaos des bloß Tatsächlichen; bezeichnender Weise allerdings mit Berufung auf die Natur selbst als formende Macht. Charakteristisch ist im Sinne dieser Betrachtungsweise auch noch der freilich nicht mehr ganz neue Vergleich der Sprache mit einer zu pflegenden Pflanze, den wir auch deshalb anführen wollen, weil er von Du Bellay fast wörtlich übernommen wird und über die französische Sprachprogrammatik zum Leitbild aller europäischen Sprachregulierung wird: „Diese unsere moderne Sprache”, sagt Bembo, „mag sie auch noch so bejahrt sein”, ist „doch noch ein ziemlich kleines und zartes Bäumchen ... , das noch gar nicht richtig erblüht ist und noch gar keine Früchte hervorgebracht hat, wie es in seinem Vermögen stände. Gewiß liegt dieser Mangel nicht in seiner Natur, denn es ist ebenso wie die übrigen dazu geeignet, Früchte zu tragen. Es ist vielmehr die Schuld derjenigen, die es in ihrer Hut hielten, da sie es nicht genügend pflegten, ... " (S. 527).
Es folgt eine breite Ausspinnung des Gleichnisses bis zu dem bemerkenswerten Hinweis, daß die Römer dem Lateinischen seinerzeit mit Erfolg einige „meisterhaft von der griechischen Sprache abgenommene Zweiglein” aufgepfropft hätten. Schließlich gelangt Bembo — und hier scheint bereits Speroni selbst aus ihm zu sprechen — zu der für den französischen Sprachhumanismus der Pléiade wichtigen Feststellung: „Und solche Früchte pflegt eine jede Sprache hervorzubringen, weniger aus ihrer eigenen Natur heraus als vielmehr durch die Hilfe und Kunstfertigkeit irgendeines Menschen” (S. 527).
Als Beispiel erwähnt Speroni-Bembo, daß der Rhythmus (numerus) in der griechischen Sprache, „entstanden durch die Meisterschaft von Thrasymachos, Gorgias und Theodoros”, erst durch Isokrates vollkommen geworden sei. Kaum noch in den Rahmen des „umanesimo volgare” fügt sich die folgende sehr radikale Kritik des lateinischen Humanismus, die Speroni zwar zuerst Bembo in den Mund legt, dann aber — wohl in plötzlicher Einsicht, daß sie zu dessen Position nicht mehr paßt — von Bembo als bloß fiktive Argumentation wieder zurücknehmen läßt: „Die griechische wie die lateinische Sprache sind bereits beim Untergang angelangt”, hält Bembo dem Lazzaro entgegen. „Sie sind eigentlich gar keine Sprachen mehr, sondern nur noch Papier und Tinte.”
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Und hieran schließt sich eine so tiefdringende und entlarvende Kritik der humanistischen Sprachpraxis, daß man fast schon die von Speroni später ins Gespräch eingeführten außer- und antihumanistischen Stimmen zu hören glaubt: „Wie schwierig es ist, sie (sc. die lateinische und griechische Sprache) zu erlernen und zu sprechen, zeigt, daß Ihr einzig mit Ciceros Worten Latein zu sprechen wagt. Wieviel Ihr auch lateinisch redet und schreibt, es ist nichts anderes als ein von Blatt zu Blatt und nicht von Materie zu Materie transponierter Cicero. Dies ist zwar nicht Euer Fehler, wie es auch meiner und vieler anderer Kleinerer und Größerer nicht ist; es ist ein Fehler, den man wohl entschuldigen darf, da man einfach nicht anders handeln kann.” ( S . 5 2 7 )
Hier tritt zum erstenmal ein Motiv hervor, das in S p e r o n i s ganzem Dialog trotz aller objektiven Wiedergabe fremder Ansichten den neuartigen Ton und den einheitlichen Hintergrund ausmacht. Es wird von dem Cortigiano (nach der beschwichtigenden Selbstkorrektur Bembos) wiederaufgenommen: „Wenigstens will ich sagen, was ich auf dem Herzen habe”, meint dieser: „Die Mühe, die ich darauf wende, Wörtchen von diesem und jenem aneinanderzureihen, ich mache sie mir doch, um die Ideen meines Geistes zu finden und zu ordnen (in trovare et disporre i concetti dell'animo meo), woraus das Leben der Schrift entsteht. Und da finde ich, daß wir zur Kundgabe unserer Ideen (da noi altri a significare i nostri concetti) schlecht eine solche Sprache gebrauchen können, sei sie nun toskanisch oder lateinisch, die wir lernen und üben müssen, indem wir nicht mit uns selbst über unsere Erlebnisse uns unterhalten, sondern indem wir die eines anderen lesen.” (S. 5 2 9 )
Hier hat die innere Dialektik des Sprachhumanismus, die schon bei Petrarca als Gegensatz von Ausdruckswille und Wille zur ehrwürdigen, großen Kulturform im Sinne der lateinischen Rhetorik angelegt war, entschieden über den Sprachhumanismus hinausgeführt. Die Sprache soll als Medium des Ausdrucks gleichsam unauffällig zuhanden sein, soll aber nicht mehr mühsam erlernt und bewußt mit überzeitlichem Anspruch stilisiert werden. Der Cortigiano lobt im Sinne dieser Auffassung die Komödien eines Paduaners, welche diesem „in seiner heimatlichen Sprache ganz natürlich und ohne Hilfe irgendeiner Kunst so aus dem Munde fließen” (S. 529). Daß hier der Bereich des Sprachhumanismus prinzipiell überschritten ist, erhellt besonders aus der früheren Entgegnung desselben Unterredners auf die petrarkistische Begeisterung des Lazzaro (und auch Bembos) über die stimmungstherapeutische Wirkung der Eloquenz: „Ich möchte nicht behaupten”, versetzt der Cortigiano trocken, „aus all diesem (sc. aus der literarischen Erhebung) müsse man die Vorzüglichkeit einer Sprache ableiten. Vielmehr glaube ich, daß die Natur der beschriebenen Gegenstände die Fähigkeit besitzt, Körper und Geist des Lesers zu verwandeln.” (S. 521)
Mit diesem Hinweis auf die „Sachen” als Gegensatz zur Sprache ist eine neue Richtung der Argumentation angezeigt, die im Rahmen unserer
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Untersuchung zu jenen Positionen der italienischen Erfahrungswissenschaft der Renaissance überleitet, die wir als kryptonominalistische bezeichnen möchten. Für den sozialen Hintergrund dieser Bestrebungen gibt der Cortigiano noch einen wichtigen Hinweis; er ruft gleichsam allen Humanisten zu: „Aber sprecht nur unter Euch Gelehrten Eure toten lateinischen Worte, laßt jedoch uns Dummköpfe (idioti) in Frieden unsere lebendigen volkssprachlichen Worte mit der Zunge, die Gott uns gab, reden.” (S. 528)
In Gegenposition zu den Gelehrten erscheinen hier die „idioti”, d. h. die ungebildeten, nur mit der Volkssprache vertrauten „Laien”, für die es in jener Zeit naheliegt, sich mit sokratischer Ironie auf das Nichtwissen, das in dem Begriff „idioti” mitausgedrückt ist, bei Gelegenheit zurückzuziehen. Diese Konstellation finden wir schon in den Idiota-Dialogen des Nikolaus von Cues, der nicht wie die frühen Humanisten in der „docta pietas”, sondern in der „docta ignorantia” seine philosophische Haltung begründet. Schon bei Cusanus unternimmt der Laie auch „Versuche mit der Waage"344). Dies gibt uns einen Hinweis auf das von L. Olschki herausgearbeitete Jahrhunderte währende Bündnis von Volkssprache, Laienwelt (insbesondere der akademisch nicht anerkannten bildenden Künstler, die zugleich die Mechaniker und Ingenieure der Zeit waren) und entstehender Erfahrungswissenschaft der Neuzeit. Wir werden uns mit dem Sprachbewußtsein dieser Laienbildung von Leonardo bis Galilei, deren geisteswissenschaftlicher Ausdruck die großen politischen und historischen Diagnosen der Zeitsituation von Machiavelli und Guicciardini sind, noch zu beschäftigen haben. Zuvor begegnen wir in Speronis Dialog der Sprachauffassung jener Kreise der spätscholastischen Philosophie, die in ihrem Gegensatz zum philologisch-rhetorischen Humanismus geradezu die progressive, zukunftweisende Tendenz des Jahrhunderts verkörperten, die in Galilei mit der Praxis der Techniker zu einer neuen Wissenschaft verschmilzt. Der Cortigiano sucht für seine Ansicht Unterstützung bei dem mitanwesenden, bisher schweigenden Scolaro. Dieser läßt sich nach einigen charakteristischen Entschuldigungen wegen seiner Unkenntnis auf dem Gebiet der Sprachen (vom Latein lernte er „gerade soviel, als zum Verständnis der philosophischen Werke des Aristoteles ausreichte”, darüber hinaus weiß er nur etwas von seinem Padovanisch, das ihn „nach der Ammenmilch das Volk selbst lehrte”) wenigstens dazu herbei, von einem Gespräch zu berichten, das sein Lehrer Perettò (=Pomponazzi) mit einem Bekannten (Lascari) über die Sprachen geführt habe: Die Ausführungen des padovanischen Aristotelikers, in denen wir den nüchternen Rationalismus des berühmten Leugners der Unsterblichkeit
344)
Vgl. N. von Cues: Der Laie über Versuche mit der Waage, übers. v. H. Menzel-Rogner, 2. Aufl.
1944.
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der Seele repräsentiert sehen dürfen, zeigen eine Einstellung (des Naturwissenschaftlers) zur Sprache, die dem historisch-hermeneutischen Sprachhumanismus jede innere Berechtigung abspricht außer der einen, vorübergehenden: die griechischen und lateinischen Texte, in denen nun einmal — leider — die Künste und Wissenschaften noch gefangen sind, möglichst bald in die Volkssprachen zu übertragen, damit „auf der ganzen Welt in jeder Sprache über jedes Thema gehandelt werden kann” (S. 531). Im Gegensatz zu den Humanisten sieht Perettò nicht in mangelnder Beschäftigung mit den alten Sprachen die Gefahr für Künste und Wissenschaften, sondern umgekehrt ist er der festen Überzeugung, daß das Studium des Griechischen und Lateinischen der Grund dafür ist, daß die Menschen seiner Zeit „allgemein auf allen Wissensgebieten weniger gelehrt und weniger tüchtig sind als einst die Alten” (S. 531): „Wenn wir die Zeit, die wir an sie (sc. die alten Sprachen) vergeuden, zum Studium der Philosophie verwendeten, dann würde vielleicht auch das moderne Zeitalter jene Platon und Aristoteles der Antike hervorbringen. Aber wir ... als ob wir bedauerten, die Wiege verlassen zu haben und Männer geworden zu sein, werden ein zweites Mal zu Kindern, indem wir zehn und zwanzig Jahre unseres Lebens einzig damit verbringen, dieser Latein, jener Griechisch und mancher auch Toskanisch — wolle es Gott — zu erlernen. Wenn wir diese Jahre abgeschlossen haben und mit ihnen jene geistige Kraft und Bereitschaft, die natürlicherweise die Jugend mit sich bringt, zu Ende geht, dann wollen wir Philosophen werden, wenn wir schon gar nicht mehr zur Spekulation geeignet sind. So wird auch unsere Philosophie nichts anderes als Abbild der antiken.” (S. 531)
Hier hat man in erster, allgemeinster Fassung, d. h. noch vor seiner Aufspaltung in Cartesianismus und Empirismus, jenes realistisch-antihumanistische pädagogische Argument, das seitdem als Gegenspieler der historisch-philologischen Bildung im Abendland figuriert und in der Tat die Wandlung des RenaissanceEklektizismus der Philosophie zur „instauratio magna” der modernen Wissenschaft um 1600 herbeiführen half, nicht ohne daß freilich die Humanisten durch ihre Übersetzungen aus dem Griechischen ins Lateinische und dann vermehrt — ganz wie Perettò-Pomponazzi es wünschte — aus dem Lateinischen in die Volkssprache die Voraussetzungen einer schöpferischen Wiederbelebung der Wissenschaften mitgeschaffen hätten. Im Maße sie freilich nicht nur schöngeistige, sondern empirischwissenschaftliche Werke, etwa aus der Botanik, Geographie, Medizin usw. zu übersetzen hatten, für deren Wortschatz es noch keine „Thesauri” gab, in eben dem Maße mußten sie selbst ein gelehrtes Sachwissen an die antiken Texte herantragen, um sie überhaupt aufschließen zu können. Aus dem formalistischrhetorischen Sprachhumanisten wurde so allmählich der barocke Polyhistor. In einigen Fällen, wie bei der epochemachenden Euklidübersetzung des Tartaglia von 1545 oder der Rezeption des Archimedes von Tartaglia bis Galilei (ohne daß eine Übersetzung in dieser Zeit versucht wurde), versagte die Vermittlungstätigkeit der Sprachhumanisten sogar gänzlich und die „Restitution der
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Antike" war nur der schöpferischen Neuerarbeitung der Probleme durch die empirisch interessierten Mathematiker-Techniker zu verdanken345).
Angesichts des ideologischen Sprachhumanismus, wie er im Italien des Cinquecento allgemein seine karikaturhaft verzerrte und unfruchtbare Endphase erreichte, bezeichnet der Ausbruch Perettòs in Speronis Dialog für uns so etwas wie eine negative Definition der Reichweite eines Sprachbegriffs. Was am meisten bei den Sprachhumanisten ciceronischer Provenienz abstieß, war offenbar ihre selbstgenügsame Verwechslung eines formalen Wortwissens mit dem gar nicht als Problem empfundenen Sachwissen: So lautet der Vorwurf Perettòs gegen die Gräzisten und Latinisten seiner Zeit: „Wir verwenden in Wahrheit Jahre und Jahre elendig darauf, diese beiden Sprachen zu erlernen, nicht wegen der Größe des Gegenstandes, sondern allein deshalb, weil wir uns gegen die natürliche Neigung unseres menschlichen Geistes dem Studium der Wörter widmen. Unser Intellekt ist begierig, bei der Erkenntnis der Dinge zu verweilen, und darin sucht er seine Vollkommenheit; er ist aber nicht damit zufrieden, in andere Richtung gebogen zu werden, wo die Sprache mit Wörtchen und Schwätzereien ausgeschmückt wird, er selbst aber leer bleiben muß. So hängt von dem Zwiespalt, der zwischen der Natur unseres Geistes und der Gewohnheit unseres Studiums dauernd besteht, die Schwierigkeit bei der Kenntnis der Sprachen ab. . . .” (S. 533)
Dieser Hinweis darauf, daß die Sprache von Natur ein „medium quo” und kein „Gegenstand” der Erkenntnis ist, blieb in der Sprachpädagogik der auf den Humanismus folgenden Zeit (Comenius!) nicht ohne Echo, er war freilich noch innerhalb des Humanismus selbst von Luis Vives auch schon beachtet worden. Der Einwand des humanistischen Gesprächspartners Lascari, die Gegenstände der Philosophie seien „Gewicht für andere Schultern als die der Volkssprache” (S. 531), gibt Perettò Gelegenheit, der humanistischen Sprachphilosophie — und, wie man sogleich erkennt, auch der des „umanesimo volgare”, einschließlich der Unterscheidung „lebender” und „toter” Sprachen — die Sprachphilosophie eines aristotelischen Rationalismus (hintergründig verstärkt durch biblizistisch-augustinischockhamistischen Voluntarismus) entgegenzustellen. (Es ist dabei interessant zu beobachten, wie die Radikalisierung des npbf-Standpunktes zum geschichtsunabhängigen Machenkönnen mit dem Sprachnaturalismus des Cortigiano praktisch zusammengeht)346).
345) Vgl. über die Tätigkeit der humanistischen Übersetzer in die Volkssprachen L. Olschki, a. a. O., Bd. II, S. 200 ff. 346) Wie es zu diesem Zusammenfallen der Gegensätze kommt, geht aus folgender Stelle hervor, in der Peretto vorträgt, was seiner Überzeugung nach die Philosophie in persona sagen würde: „Die Schriften und Sprachen seien nicht zum Heil der Natur erfunden worden, die in ihrer Göttlichkeit [sic! hier spricht
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„Ich bin davon überzeugt”, sagt Perettò, „daß die Sprachen eines jeden Landes, die arabische und indische wie die römische und athenische, den gleichen Wert besitzen und von den Menschen bewußt zu einem bestimmten Zweck gebildet worden sind (che le lingue d'ogni paese ... siano d'un medesimo valore et dai mortali ad un fine con un giudicio formate ). Deshalb möchte ich nicht, daß Ihr sie mit Naturerzeugnissen vergleicht, denn sie sind vom Kunstverstand der Menschen nach ihrem Belieben geschaffen und geordnet, nicht aber gepflanzt oder gesät worden (fatte e regolate dallo artificio delle persone a beneplacito lor), non piantate nè seminate). Wir gebrauchen sie wie Zeugnisse unseres Geistes, indem wir durch sie die Begriffe unseres Intellekts einander bezeichnen (le quali usiamo siccome testimoni del nostro animo significando tra noi i concetti dell'intelletto)” (S. 531). —
Das ist die alte aristotelisch-scholastische Lehre, wie wir sie auch schon bei Dante antrafen, aber freilich gleichsam gereinigt von allen entgegen-stehenden organologischen Vorstellungen, ja diesen mit einer bewußten kulturprogrammatischen und pädagogischen Antithetik entgegengestellt. Hierin liegt die neue Tendenz, die im folgenden auch die biblischen Überlieferungen in scharf voluntaristischnominalistischer Beleuchtung in die Begründung einbezieht: „Wenn auch die Schöpfungen der Natur und die Wissenschaften über sie in allen vier Teilen der Welt ein und dieselbe Sache sind, so schreibt und spricht man doch auf verschiedene Weise, weil verschiedenartige Menschen auch verschiedenen Willen haben. Diese Verschiedenheit und Verwirrung der menschlichen Wünsche wird mit Recht als Turmbau zu Babel bezeichnet. Die Sprachen entstehen also nicht aus sich selbst heraus wie Bäume oder Pflanzen, die eine schwach und hinfällig in ihrer Art und die andere gesund und stark und deshalb besser geeignet, die Bürde unserer menschlichen Begriffe zu tragen. Alle
der medizinisch orientierte Aristotelismus von Padua] unserer Hilfe nicht bedürfe, sondern allein zu unserem eigenen Nutzen und zu unserer eigenen Bequemlichkeit, damit wir abwesend und gegenwärtig, lebendig und tot einander die Geheimnisse unseres Herzens offenbaren (manifestando l'un l'altro i secreti del core) [hier wird Petrarcas Ausdrucksbegriff der Sprache aufgenommen ohne seinen humanistischen Hintergrund, wie das folgende zeigt] und so leichter unsere eigene Glückseligkeit erreichen, die im Verständnis der Wissenschaften besteht und nicht im Klang der Worte (felicità, la quale è posta nell' intelletto delle dottrine, non nel suono delle parole).” Und nun die Wendung zum volkssprachlichen Naturalismus: „Folglich müßten die Menschen die Sprache und die Schreibweise benutzen, die sie am bequemsten erlernten. Wie es besser gewesen wäre, nach Möglichkeit nur eine einzige Sprache zu haben, die ganz natürlich von allen Menschen benutzt werde, so sei es jetzt besser, daß der Mensch in der Weise schreibe und spreche, die sich am wenigsten von der Natur entferne. Und diese Art zu sprechen lernen wir schon fast mit unserer Geburt, zu einer Zeit, wo wir noch nicht fähig sind, sonst irgendetwas zu lernen.” (a. a. O. S. 533) Sprache als „willkürliche Erfindung von Zeichen” und Sprache als dauernd schwankender und individuell variabler „Ausdruck der Natur des Menschen” fallen hier in jener charakteristischen Weise zusammen, in der Natur und Vernunft im (naivoptimistischen) Glauben aller revolutionären Bewegungen vor dem Beginn des geschichtlichen Denkens identifiziert werden. Man vergleiche etwa Rousseau und die französische Revolution auf dem Gebiet von Recht und Staat.
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ihre Fähigkeit wird vielmehr aus dem Willen der Menschen hervorgebracht (ogni loro virtù nasce al mondo dal voler dei mortali). Und wie, ohne Sitten und Herkunft zu verwandeln, der Franzose und der Engländer sich ans Philosophieren geben kann, und nicht allein der Grieche und Römer, ebenso kann er, wie ich glaube, in seiner heimatlichen Sprache andern seine Wissenschaft vollkommen mitteilen." (S. 531/32)
Der Humanist Lascari macht hier den bedeutsamen Einwand: „Verschiedene Sprachen sind auch dazu geeignet, verschiedene Ideen zu verdeutlichen; die einen Ideen der Gebildeten, andere solche der Ungebildeten. (Diverse lingue sono atte a significare diversi concetti, alcune i concetti di dotti, alcune altre de gl'indotti). Dem Griechischen mit all seiner Gelehrsamkeit kommt es in Wahrheit zu, jene kundzutun, so daß offenbar die Natur selbst und nicht menschliche Maßnahmen es gestaltet haben.” (S. 532)
In diesen zwei Sätzen zeigt sich zugleich die vertiefte Einsicht des Humanisten in die Bedeutung der Sprachen für das menschliche Denken wie auch die Unfähigkeit, sie im Sinne eines wahrhaft geschichtlichen Denkens zur Geltung zu bringen. Statt sich im Felde geschichtlichen Denkens mit dem Aristoteliker zu messen, überläßt Lascari gerade dem Rationalisten den Vorzug weltgeschichtlicher Voraussicht, indem er das geschichtliche Kulturgewicht der griechischen Sprache im Sinne eines natürlichen Privilegs dogmatisiert. Damit wird er zum Reaktionär und überläßt seinem Gegner eindeutig die kulturell progressive Rolle in der gegebenen Situation — eine Konstellation, die für die abendländische Neuzeit lange Zeit charakteristisch ist. Der Humanist hilft sich damit, dem Aristoteliker die traditionelle „platonische” c¼pbf-Theorie des Verhältnisses von Wort und Idee entgegenzuhalten und bemerkt nicht ohne Tiefblick: „So kann man von einer solchen (sc. wie der griechischen) Sprache sagen, sie sei für die Wissenschaften das, was für die Farben das Licht bedeutet; ohne ihr Licht sähe unser menschlicher Intellekt nichts, sondern müßte in dauernder Nacht der Unwissenheit schlafen.” (S. 532)
Dieser Rekurs auf den neuplatonisch interpretierten „Kratylos” ist für die tiefere Würdigung des Verhältnisses von Sprache und Welterkenntnis bis hin zu Vico und zur deutschen Romantik charakteristisch. Er ermöglicht offenbar allein ein Gegendenken gegen den ungeschichtlichen Rationalismus der Zeichentheorie der Sprache und verhindert andererseits (bis heute) das Bedenken der Geschichtlichkeit dessen, was in der platonisch-stoischen Überlieferung „Natur” (im normativen Sinne des Wortes) heißt. Lascaris Rekurs auf Platon ist Perettò-Pomponazzi (bzw. dem Autor des Dialogs: Speroni) nur eine willkommene Gelegenheit, die aristotelische Position zu präzisieren; er entgegnet: „Ich will lieber Aristoteles und der Wahrheit glauben, daß keine Sprache der Welt, sei es welche es auch sei, von sich aus das Privileg haben kann, die Ideen unseres Geistes zu bezeichnen, sondern daß alle vom freien Willen der
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Personen abhängig ist. Wenn also einer über Philosophie in mantovanischen oder mailändischen Worten reden will, dann kann ihm das vernünftiger Weise ebensowenig verweigert werden, wie überhaupt zu philosophieren und die Ursache der Dinge zu begreifen zu suchen." (S. 532)
— Eine Auffassung, die offenbar als Befreiung des volkssprachlichen Denkens angesichts willkürlicher Beschränkungen durch Bildungsprivilegien ebenso berechtigt und an der Zeit war, als sie andererseits das Problem der geistesgeschichtlichen Traditionsverflechtung der großen Kultursprachen in der naiven Zuversicht aller rationalistischen Volksaufklärung übersah bzw. übersprang. Perettò-Pomponazzi beschließt seine Argumentation zugunsten einer Philosophie in der Volkssprache mit einem prophetischen Ausblick, den Olschki in seiner „Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur” als Vorausahnung der Geistestaten und Schicksale G. Brunos und Galileis registrierte347): „Aber vielleicht wird schon nach wenigen Jahren der Zeitpunkt kommen”, läßt Speroni seinen philosophischen Lehrer sagen, „da irgendein tüchtiger Mann, der ebenso kühn wie klug ist, ... zum Nutzen der Menschen, ohne sich um Haß und Neid der Gelehrten zu bekümmern, die Kostbarkeiten und Früchte der Wissenschaften aus den fremden Sprachen in die unsrige überführt.” (S. 532)
Diesen Denkern in der Volkssprache — denn hieran ist mehr noch gedacht als an bloße Übersetzer — wird in Speronis Dialog bereits Verfolgung und Märtyrertod vorausgesagt, und in der Tat hat später bei der kirchlichen Inquisition der Schriften G. Brunos und Galileis der Umstand, daß sie in der Volkssprache geschrieben waren, einen Hauptanlaß der Beanstandung gebildet348): sie waren dadurch in jene große Verführerliteratur eingegliedert, welche die lateinische Kleruskirche etwa seit Eckeharts deutschen Predigten über subtile Fragen der Theologie und Metaphysik zu beunruhigen begann. Speroni selbst, der Verfasser des Dialogs, kann zwar keineswegs mit der Sprachauffassung des Perettò identifiziert werden, doch dürfte er deren progressive Tendenz, die auf Laienbildung, ja auf die Begründung philosophischer und wissenschaftlicher Studien in der Volkssprache drängte, weitgehend vertreten haben. Einen Hinweis darauf, wie er selbst zwischen dem rationalen Radikalismus Pomponazzis und dem „umanesimo volgare” zu entscheiden gedachte, enthält vielleicht das Schlußwort, das er Bembo erteilt und in dem angedeutet wird, daß PerettòPompornazzis Ansicht für das Verhältnis der Philosophie und ähnlicher Wissenschaften
347)
Vgl. L. Olschki, a. a. O., Bd. II, S. 170. Vgl. ebda. Bd. II, S. 66 f. Vgl. auch L. Kukenheim: Contributions à 1' histoire de la grammaire Italienne, Espagnole et Française à l'époque de la Renaissance, Amsterdam 1932, p. 199 über Marot, Volet, Henri Estienne, Théodore de Bèze. 348)
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zur Sprache allenfalls zutreffen möchte, daß es aber keinesfalls zutrifft, „daß man in jeder Sprache gleich gut dichten und reden kann, da die eine mehr oder weniger Ziermittel (ornamenti) in Prosa und Vers besitzt als die andere” (S. 535).
c) Der Kompromiß des Cinquecento zwischen Sprachhumanismus und nominalistisch orientierter Wissenschaft. Die bei Speroni angedeutete Vermittlung zwischen wissenschaftlichem Nominalismus und rhetorisch-literarischem Humanismus ist für die italienische Kultur und darüber hinaus auch für das Sprachverhältnis der europäischen Neuzeit symptomatisch. Sie wird von G. Galilei in repräsentativer Form wiederholt und durch seine Unterscheidung von „Dichtung” und „Wahrheit” (s. unten S. 240 ff.) theoretisch vertieft. Sie findet sich bei Bacon und Hobbes und als Programmatik einer Synthese humanistischer „Elegantia” und mathematisch orientierter „Klarheit” auch bei Leibniz (s. unten S. 302 ff.). Für das französische Sprachverhältnis dürfte es charakteristisch sein, daß die grundlegende humanistisch-literarische Sprachprogrammatik Du Bellays in der „Deffence et illustration de la langue françoise” die These Bembos von der unterschiedlichen Eignung der einzelnen Sprachen zur Rede und Poesie nicht akzeptiert, sondern gerade auch für das literarische Sprachverhältnis weitgehend die Auffassung Perettòs, wonach alles bei einer Sprache vom menschlichen Willen abhängt, aus Speronis Dialog übernimmt (s. unten S. 245 ff.). Hier zeigt sich die größere Nähe zum Pariser Ockhamismus und im Ansatz bereits jener spezifische Rationalismus auch der schönen Literatur und vor allem der Literaturtheorie, der nicht erst seit Descartes und Boileau Frankreich von Italien unterscheidet. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß weder der aristotelischnominalistische Begriff der Sprache als willkürliche Bezeichnung überall und jederzeit möglicher Vorstellungen noch die ihm recht und schlecht angepaßte humanistische Ergänzung einer unterschiedlichen Eigenart der geschichtlich gewachsenen Sprachen als Ziermittel der schönen Literatur dem sprachlichen Wesen der Dichtung gerecht wird. Die Sprachen sind für die echte Dichtung weder gleichgültigunerläßliche Bezeichnung von Vorstellungen noch (immerhin) Schatzhäuser der Auszierung, sondern wesenhafte Mitermöglichung dessen, was bezeichnet und ausgeziert werden kann. Ja mehr noch: selbst die Grundlagenproblematik der exakten Wissenschaft enthält, wie wir heute bemerken, eine transzendental-anthropologische Bedingung der Möglichkeit, die nicht aus dem logischen „Bewußtsein überhaupt” und seinen „Tatsachen überhaupt”, sondern nur aus dem vorwissenschaftlichen Sinnhorizont der weltgeschichtlichen Sprachen
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verstanden werden kann. Wer aber ein Wissen um diese tiefere Bedeutung der Sprachen Und ihrer philologisch-philosophischen Erkenntnis bei den italienischen Erneuerern des Sprachhumanismus bemerkt zu haben glaubt, der wird von den Erörterungen des Vulgärhumanismus im 16. Jahrhundert enttäuscht: Speron i kommt — und darin besteht der Kompromiß des Cinquecento zwischen Humanismus und nominalistisch gestimmter Wissenschaft — auf die alte Unterscheidung und Verteilung der Aufgaben von Rhetorik und Dialektik zurück, die im Grunde schon durch Aristoteles festgelegt war (vgl. oben S. 150 ff. unsere Interpretation der Theophrastschen Einteilung der Logosdimensionen). Sein Zeitgenosse T o m i t a n o trug diese Lösung in der Akademie der Infiammati von Padua vor, deren Präsident Speroni war. Er stellt fest, daß „die Philosophie für den vollkommenen Dichter und Rhetor nötig” sei, da sie — wir zitieren die Zusammenfassung bei E. Garin349) — „die Wahrheit suchen solle, damit der Rhetor sie ,mit Eleganz' in überzeugender Weise vorlege, indem er den Rand des mit heilbringenden Arzneien gefüllten Gefäßes mit angenehmen Säften versüßt.”
Hier findet sich, wie man sieht, gegenüber Theophrast und Cicero nichts Neues außer allenfalls (vielleicht!) jenem medizinisch-rhetorischen Vergleich. — Auch für Speroni selbst ist die Rhetorik „ein feiner Kunstgriff, um jene Worte, wodurch wir einander die Begriffe unseres Herzens verständlich machen, gut und hübsch auszuschmücken.” „Die Worte sprießen aus dem Munde des Volks, wie die Farben aus den Kräutern; aber der Grammatikus, der Gehilfe des Redners, schmückt und glättet sie, wie der Geselle des Malers, damit der Meister der Rhetorik, wenn er die Wahr - h e i t ausmalt, nach seiner Art und Weise spreche und seine Reden halte."350)
Immerhin muß der Rhetor bei Speroni ein „ich weiß nicht was für ein Element der jeweils vor uns befindlichen Wahrheit” bereits von innen kennen351). Hier kündigt sich noch einmal jene humanistische Ahnung von einem tieferen Verhältnis von Rede und Wahrheit an. Den Philosophen, meint Speroni, können Rhetorik und Dichtung wie Obst vorkommen, das man am Ende des Mahls aufträgt, „denjenigen aber, die keine Philosophen sind, doch im Begriff sind, Philosophen zu werden, sind die zwei erwähnten Künste die Blüten, welche ihre Seelen, die wie Frühlingspflanzen Früchte zu tragen wünschen, vor den Früchten der Wissenschaften hervorzubringen sich erfreuen.”
Durch die unscharfe Gleichnisrede scheint hier wieder das philosophische Anliegen des Sprachhumanismus durch, der aber gleich darauf wieder
349)
E. Garin, a. a. O. S. 194. Sp. Speroni: Dialoghi, Venezia 1552 (Zitat nach E. Garin, a. a. O. S. 194). 351) Ebda. 350)
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seine pädagogisch-pragmatische Selbstbegrenzung vornimmt; denn Speroni fährt im Sinne Ciceros und der hellenistischen Überlieferung fort: „Vergebens würden wir uns bemühen zu lehren, ohne zu ergötzen ... und durch das Ergötzen haben wir durch die Kraft der Gefälligkeit die Macht zu überzeugen."352
An dem hier angedeuteten pädagogischen Primat der Rhetorik vor der Dialektik wird Vicos Kritik des Cartesianismus sich entzünden. Bei ihm endlich wird dann das ciceronische Thema vom Vorrang der Topik vor der Kritik zu Ende gedacht und aus einem bloß pädagogisch-psychologischen Gesichtspunkt ein erkenntnistheoretisches und geschichtsphilosophisches Fundierungsverhältnis hinsichtlich der für den Menschen möglichen Wahrheit im Medium der Sprache gewonnen (s. unten S. 337 ff.). Ähnlich wie bei der Rhetorik begrenzt sich die „Philosophie des Humanismus” auch auf dem Felde der Poetik, die an die um 1500 neuentdeckte und seitdem eifrig studierte Poetik des Aristoteles anknüpft, im Pädagogischen: J u l i u s Caesar S c a l i g e r , von dem 1561 nach zahlreichen vorangegangenen Untersuchungen die für die europäischen Literaturen der Barockzeit maßgebende Poetik erscheint, gibt die folgende Definition: „Hanc autem Poesim appellarunt, propterea quod, non solum redderet vocibus res ipsas quae essent, verum etiam quae non essent, quasi essent, et quo modo esse vel possent, vel deberent, repraesentaret. Quamobrem tota in imitatione sita fuit. Hic enim finis est medium ad ilium ultimum qui est docendi cum delectatione."353)
Scaliger unterscheidet ausdrücklich drei verschiedene Funktionen der Sprache: „ad necessitatem” (in der Mitteilung), „ad utilitatem” (in der politischen Rede und im bürgerlichen Leben), „ad delectationem” (in der Dichtung)354). Vergeblich sucht man hier nach einer Charakteristik der Sprache selbst, welche ihre Funktion bei der Darstellung des Möglichseins der Dinge als Bedingung der „Poesis” herausstellte; eine solche Funktion würde freilich den Leitbegriff der „imitatio” selbst in Frage stellen, wie es später bei Vico tatsächlich geschieht. Auch die Platoniker, wenngleich sie die Lehre von der göttlichen Inspiration, dem Enthusiasmus des Dichters, tradieren, sind doch, eben durch die platonische Ideendialektik selbst, von einer ursprünglichen Wahrheitsproblematik der Dichtung, die etwa schon in der Eigenart der dichterischen Sprache bestände, abgeschnitten: Sogar der bedeutende Humanist G i r o l am o F r ac a s t o r o , der gegen Platon selbst die These vertritt, daß der Dichter nicht die Dinge, sondern die reinen Ideen selbst
352)
Ebda. J. C. Scaliger: Poetices libri septem (Apud Petrum Santandreanum, 1594) S. 2. 354) Vgl. Aug. Buck: Italienische Dichtungslehren ..., Tübingen 1952, S. 152. 353)
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nachahmt, kann doch das antike Denkschema von der sprachlichen Ausschmückung des bereits im Sinne der philosophischen „Idee” vorausgesetzten Wahren nicht selbst noch überwinden: Der Dichter, erklärt er, „vult quidem, et ipse, et docere et persuadere et de aliis loqui, sed non quantum expedit, et satis est ad explicandam rem, tamquam adstrictus eo fine, verum ideam sibi aliam faciens liberam et in universum pulchrum, dicendi omnes ornatus, omnes pulchritudines quaeret, quae illi rei attribui possunt.” Die Nachahmung des Dichters betrifft nicht „rem nudam; uti est, ... sed simplicem ideam, pulchritudinibus suis vestitam, quod universale Aristoteles vocat..."355)
Auch hier führt die Problematik bis zu dem Punkt, wo G. B. Vico mit seinem Begriff des „phantasiegeschaffenen Universale” ansetzen wird, um erstmalig seit Platons Kampf mit dem Mythos (und mit dem Dichter in ihm selbst) die Notwendigkeit und Eigenart der mythisch-dichterischen Wahrheit unabhängig von der weltgeschichtlich späteren philosophischen Wahrheit zu denken. Unter den zahlreichen Versuchen der Humanisten des 16. Jahrhunderts, die aristotelische Logik selbst von der konkreten Sprache her zu reformieren, soll im folgenden der des M. N i z o l i u s genauer betrachtet werden. Sein Buch „De veris principiis et vera ratione philosophandi contra pseudophilosophos ... " (Parma, 1553), das später von dem jungen Leibniz neu ediert wurde356), ist charakteristisch für das Zusammengehen von Nominalismus und Humanismus am Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft. Nizolius, der Verfasser des großen und berühmten „Thesaurus Ciceronianus” (zuerst Venedig 1538) ist als Kritiker der Scholastik der eigentliche Fortsetzer der „Dialektischen Disputationen” des L. Valla. Als solcher scheint er in seiner Polemik zunächst noch weit radikaler und ausschließlicher einem spezifisch sprachhumanistischen Motiv zu folgen als etwa die Nichtitaliener Luis Vives und Rudolf Agricola, die mit ihm gleichzeitig eine Reform der Logik von der Rhetorik her anstrebten. Ausgehend von Cicero und insbesondere von Quintilians Bekenntnis, „daß gewisse Dinge, die in den Büchern der Philosophen enthalten sind, von Rechts wegen das Werk des Redners sind und daher eigentlich zur Rhetorik gehören” (a. a. O. S. 232), will Nizolius zeigen, „daß unter den Künsten und Wissenschaften weder für die Dialektik noch für die Metaphysik überhaupt ein Platz sein könne . . .” (S. 209). Die alte Einheit von Weisheit und Beredsamkeit (,,doctrina eadem .. . et recte faciendi et bene dicendi magistra"), von der Cicero im 3. Buch „De Oratore” spricht, soll einseitig auf Kosten so gut wie sämtlicher
355)
H. Fracastoro: Naugerius sive de poetica dialogus (Opera omnia, Venetiis, 1584), cap. 115-
116. 356 ) Unter dem Titel „Marii Nizolii Anti-Barbarus Philosophicus sive Philosophia Scholasticorum impugnata . . .”, Frankfurt 1674.
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Errungenschaften der Dialektik wiederhergestellt werden. Denn — so betont Nizolius mit Cicero: seit Sokrates und seiner dialektischen Scheidung der beiden sachlich zusammenhängenden Künste („prudenterque sentiendi et ornate dicendi") bestehe jenes „d i s s i d i u m . . . q u a s i l i n g u a e a t q u e c o r d i s absurdum sane et inutile ... " (a. a. O. S. 210). Er möchte daher der „facultas oratoria” zurückgeben, was ihr Aristoteles und die auf ihn folgenden Dialektiker gewissermaßen geraubt und durch ihre Spitzfindigkeiten und ihre barbarische Terminologie dem normalen Sprachgebrauch und dem allgemeinen Menschenverstand (communis omnium intelligentia) entfremdet haben; dazu rechnet er: „usum et tractationem omnium tam argumentationum quam argumentorum quaecumque pertinent ad confirmandum, ad confutandum, ad disserendum, ad disputandum, et denique ad bene dicendum de quaecunque re non solum civili sed etiam naturali et mathematica, et cuiusque alterius generis sit in utramque partem.” (S. 232) Helfen sollen ihm bei diesem Unternehmen die folgenden „Prinzipien des richtigen Philosophierens”: 1. Die Kenntnis der alten Sprachen (,,cognitio atque notitia linguarum graecae et latinae, in quibus tradita et scripta sunt: cum omnia alia fere, quae sunt scitu cognituque dignissima: tum maxime ea, quae ad Philosophiae disciplinam pertinent .. ; a. a. O. S. 6), 2. „Die Wissenschaft von den Vorschriften und beispielhaften Zeugnissen (praeceptorum et documentorum), die in der Grammatik und Rhetorik überliefert sind” (S. 7), 3. „unablässige Lektüre der bewährtesten griechischen und lateinischen Autoren und das Verständnis des allgemeinen Sprachgebrauchs (intelligentia communis usus loquendi) sowohl der Autoren als auch des Volkes ... " (S. 10), 4. schließlich die „libertas et vera licentia sentiendi ac iudicandi de omnibus rebus, ut veritas ipsa rerumque natura postulat ... " (S. 11).
Dieses Prinzip richtet sich, wie aus dem folgenden hervorgeht, vor allem gegen die Vorurteile, die aus dem knabenhaften Vertrauen zu den Autoritäten entspringen, wobei freilich nur die der Scholastik von Nizolius selbst kritisch apostrophiert werden. Welches sind aber nun die hauptsächlichsten Mängel der traditionellen dialektischen Metaphysik, die Nizolius auf Grund seiner Prinzipien des Sprachgebrauchs und grammatisch-rhetorischen Vorschriften abstellen möchte? Während L. Valla und einige andere durch ihre Kritik nur die obersten Zweige des Baumes der Dialektik ein wenig gerupft hätten, möchte er den Stamm samt Wurzeln, den sie unversehrt übrig gelassen, ausrotten, nämlich: „secundas substantias, secundas intentiones, monstrosa illa genera, prodigiosas illas species, praeterea univoca, aequivoca, analoga, et denique ipsa universalia, praedicabilia, praedicamenta... " (S. 17).
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Damit kommt Nizolius zu seinem Hauptanliegen, und nun sehen wir den überzeugten Humanisten, der die Dialektik mit dem natürlichen Sprachgebrauch und den diesbezüglichen Erkenntnissen der Grammatik und Rhetorik bekämpfen will, faktisch die Voraussetzungen des Ockhamismus übernehmen. Am deutlichsten wird dies im Problem des Verhältnisses von Wort und Sache: Scheinbar kann Nizolius sich auf Cicero berufen, der in „De Oratore” gesagt habe: „cum omnis ex rebus atque verbis constet oratio, neque verba sedem habere possunt si rem subtraxeris, neque res lumen si verba summoveris” (S. 61).
Daraus aber glaubt Nizolius ableiten zu können, daß man nach dem Zeugnis aller richtig redenden Schriftsteller357) bei dem Wort „homo” die folgende Alternative anzuerkennen habe: „intelligamus necesse est, aut vocem hominis aut rem, quae est homo (gemeint ist ein individueller Mensch): nihil enim est medium, aut tertium...” (S. 61)
Man könnte einwenden: Wo bleibt denn bei dieser Interpretation das Licht (,,lumen"), das die Dinge nach Ciceros Worten durch die Worte empfangen und das doch — wie ein Humanist immerhin anzunehmen versucht sein könnte — die Bedeutung der Sprache für die Kenntnis der Sachen wesentlich ausmacht? Hier eben hat das Denken des rhetorischen Humanisten Nizolius in Wahrheit das für die Neuzeit maßgebende (freilich seit langem vorbereitete und im Universalien-,,Realismus" geradezu provozierte) nominalistische Grundverhältnis von Sprache, Welt und Erkenntnis adoptiert, demzufolge die Dinge in ihrer individuellen Bestimmtheit intuitiv erkannt werden und die Sprache lediglich als nachträgliche Zeichenzuordnung zu fungieren hat. So kann es nicht mehr überraschen, daß Nizolius zur Erklärung des Sinnallgemeinen — entgegen seiner Versicherung, nur den Vorschriften und Einsichten der Grammatik und Rhetorik zu folgen — offensichtlich eine Theorie heranzieht, wie sie im Gefolge Ockhams in der zum Empirismus tendierenden Spätscholastik entwickelt worden war: „ ... una cum Nominalibus” bekennt er, daß allgemeine und universale Bedeutung gewinnt, multoties enuntietur): „Nam ... nomina appellativa pronuntiata, nonnisi unum significant: sed eadem suppositis accom-
eine „vox” nur unter der Bedingung eine daß sie oftmals ausgesprochen wird (si simplicia singularia proprie posita et semel quoque si multoties repetantur, et diversis
357) Nizolius' Ableitung nominalistischer Konsequenzen aus dem richtigen Verständnis des Sprachgebrauchs erinnert den modernen Leser manchmal an die Kritik der „Hypostasierungen” — gemäß „Occams razor” — in der „linguistischen Philosophie” der britischen Schüler Russells und Wittgensteins, z. B. G. Ryles
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modentur, continuo acquirunt quandam, ut ita dicam, universalitatem et habitudinem, ut de multis dicantur." (S. 62)
Trotz dieser offenkundigen Anlehnung an die nominalistische Spätphase der vielgeschmähten Dialektik (sogar die „Suppositionstheorie” hat in dem zitierten Passus ihre Spuren hinterlassen) läßt sich nicht übersehen, daß N iz o l iu s in seinem anscheinend neugebildeten Begriff der „comprehensio”, die im Gegensatz zur formalistischen Abstraktion des Verstandes nicht auf ein „universale”, sondern auf ein „universum” bezogen sein soll, eine originale erkenntnistheoretische Intention humanistisch-hermeneutischer Provenienz zur Geltung bringt. Er charakterisiert seine Konzeption in Abhebung von der scholastischen Abstraktionslehre folgendermaßen: „Unser Allgemeines (universum) wird erreicht durch zusammenfassende Wahrnehmung aller Einzeldinge jedweder Gattung zugleich und auf einmal (per comprehensionem et acceptionem omnium cuiusque generis singularium simul et semel), ohne Abstraktionsarbeit des Verstandes an den Einzeldingen (sine ulla intellectus a singularibus abstrahentis ope), allein vermöge einer verstehenden Einsicht, welche die Einzelheiten selbst zusammenschaut (sed solo intelligentiae singularia ipsa comprehendentis auxilio) ... Euer Allgemeines (universale) dagegen ist, wenn es auch seiner Natur nach in den Einzeldingen existieren soll, gleichwohl durch den Verstand aus den Einzeldingen herausabstrahiert und von ihnen getrennt, gleichsam wie eine Wolke, die in der Luft schwebt, wo die Ideen Platons sind.... Unser Allgemeines (universum) ist sowohl seiner Natur nach in den Einzeldingen als es andererseits auch durch den Verstand nicht von den Einzeldingen geschieden wird, nicht mehr als ein Volk (populus) oder ein Heer (exercitus), wenn es von uns erkannt wird, und überhaupt ist unser Allgemeines nichts anderes als die Einzeldinge selbst zugleich und auf einmal durch den Verstand aufgefaßt und gleichsam gesellt (ipsa singularia simul et semel per intellectum comprehensa quasi congregata) . . Euer Allgemeines wollt ihr nicht allein aus dem Verstand allein entstehen lassen, sondern auch mit dem Verstand allein erkennen und durchschauen.... Unser Allgemeines wird auch von den äußeren und inneren Sinnen aufgefaßt und angeeignet (percipitur et usurpatur etiam a sensibus tam exterioribus quam interioribus), wenn nicht überhaupt, so doch gewiß großenteils, wenngleich es auch als es selbst in gewisser Weise aus dem Intellekt entsteht, der wie ich schon sagte, es zugleich und auf einmal auffaßt, und wenn es auch von diesem erkannt und verstanden wird, sofern es zusammengefaßt ist.” (lib. I, 7; a. a. O. S. 50 ff.) An anderer Stelle (lib. III, 7) definiert Nizolius seinen Hauptbegriff der „comprehensio” als „actio quaedam sive operatio intellectus nostri, qua mens hominis singularia omnia sui cuiusque generis, simul et semel comprehendit, et de eis ita comprehensis artes omnes et scientias tradit, ratiocinationes et ceteras argumentationes generales facit” (a. a. O. S. 256).
Man wird aus dieser polemischen Programmatik einer neuen Erkenntnismethode, wie sie für die humanistische Übergangszeit zwischen Scholastik und neuzeitlicher Wissenschaft charakteristisch ist, kein tiefes Verständnis der formalen Logik entnehmen können. (Der Sinn für den Formalismus der logischen Abstraktion und damit für die eigentlichen Errungenschaften der Logik seit Aristoteles fehlte allen Humanisten ebenso
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wie den Begründern der neuzeitlichen Philosophie, etwa Descartes358). Er erwachte erst wieder bei Leibniz zugleich mit der am Kalkül abgelesenen Idee des „blinden” oder „symbolischen Denkens”, die zur Entwicklung der modernen Logistik führen sollte.) Statt dessen scheint in dem Begriff der „comprehensio” der „universa”, die der „traditio” der „artes” dienen soll, so etwas wie die anschauliche Begriffsbildung des Historikers (was man später „optische Abstraktion”, „ideographische Deskription”, „charakterisierende Ausdrucksbegriffe” usw. genannt hat) angezielt zu sein. Aus dem Horizont einer hermeneutischen Philosophie der geschichtlichen Lebenswelt der Menschen verstehen wir Heutigen wohl auch am angemessensten die breit angelegte Polemik gegen die Nutzlosigkeit der Dialektik und Metaphysik. Wenn Nizolius seinen Gegnern vorwirft, sie kümmerten sich nicht um die „utilitas” und „pertinentia” der Dinge, gleichsam als ob nicht daran gelegen wäre, daß die Dinge, die überliefert werden, nicht nur nicht falsch, sondern auch nicht unnütz, nicht über-flüssig, nicht ohne (Lebens)Bezug sind („esse non solum non falsas, sed etiam non inutiles, non supervacuas, nec impertinentes"), so haben wir hier zunächst die alte „pragmatische” Philosophie der Rhetorik (s. oben S. 144) vor uns. Aber in dieser bei keinem Humanisten fehlenden Nützlichkeitstopik deutet sich eine erkenntnistheoretische Problematik der hermeneutischen Geisteswissenschaften an, die später durch Diltheys und Rothackers Unterscheidung der „Lebensbedeutsamkeit” von der bloßen „Richtigkeit” der Erkenntnis prinzipiell herausgearbeitet wurde. Im ganzen scheint die Philosophie des Marius Nizolius eher auf eine Theorie der hermeneutischen Aneignung der Überlieferung als auf eine Reform der formalen Logik hinauszulaufen. Wenn aber später die erkenntnistheoretische Reflexion auf das „Verstehen” der Geisteswissenschaften sich mehr und mehr an dem Gegensatz zum naturwissenschaftlichen ,.Erklären" orientieren konnte, so war dieses zur Zeit des Nizolius selbst noch dabei, sich als Methode der Wirklichkeitserkenntnis auszubilden; und zwar geschah dies im vorgalileischen Italien weitgehend in derselben humanistisch-nominalischen Auseinandersetzung mit der aristotelischen Logik, in der auch Nizolius allein sein Anliegen begrifflich auszudrücken vermag. Und wie die Theoretiker des naturwissenschaftlichen Erkennens (Teleso, Zarabella, Francesco Piccolomini u. a.) in mehr oder weniger deutlicher Anknüpfung an den humanistischen Topos vom Vorrang der „ars inveniendi” vor der „ars iudicandi” (Cicero) — wie freilich auch an Aristoteles selbst und seine griechischen Kommentatoren — das Postulat einer resolutiven Methode der Erklärung des Unbekannten aus dem Bekannten der deduktiven Beweismethode entgegen- bzw. voranstellten359), so orientiert andererseits Nizolius sein humanistisches Anliegen
358) 359)
Vgl. Bocheęski: Formale Logik, a. a. O. S. 298. E. Garin, a. a. O. S. 183 ff.
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einer Theorie des Verstehens an dem spätscholastischen Kampf der via moderna für das konkrete Individuelle gegen die Universalien. (Noch Hamann und Herder werden später ihre erkenntnistheoretischen Waffen gegen Kant oft in Verkennung ihres eigenen neuartigen Anliegens bei Francis Bacon und J . Locke suchen, und der Unterschied zwischen einer empirischen „Tatsache” im naturwissenschaftlichen Sinn, einem potentiellen „Fall” allgemeiner Gesetzmäßigkeit, und dem sinnintensiven „individuum ineffabile” der hermeneutischen Geisteswissenschaften ist wohl erst durch die methodologischen Untersuchungen Windelbands und Rickerts ins allgemeine Bewußtsein gehoben worden, und erst der „hermeneutische Zirkel” im Sinne Diltheys bzw. Heideggers beschreibt m. E. das sprachphilosophisch relevante Verhältnis zwischen dem sprachlich je schon eröffneten Sinnallgemeinen des Seinsverständnisses und dem unerschöpflichen Erkenntnisanstoß des individuellen Seienden.)
Das bedeutsamste Ergebnis unserer kurzen Würdigung der Philosophie des M . N i z o l i u s für die vorliegende Untersuchung scheint mir darin zu liegen, daß bei diesem leidenschaftlichen Vertreter der rhetorischen Ideologie die Zusammengehörigkeit von Wort und Sache im entscheidenden Punkt schließlich auf dieselbe nominalistische Vorstellung der bloßen Bezeichnung eines vorsprachlich (darauf läuft das „sine medio” hinaus) erkannten Individuellen zurückgeführt wird wie bei den Gegnern der rhetorischen Ideologie, wie sie in Speronis „Dialogo delle lingue” als Befürworter einer empirischen Sachwissenschaft in der Volkssprache zu Worte kommen. Bedenkt man, daß der ciceronische Topos von der Zusammengehörigkeit von Wort und Sache zweifellos das Kernstück einer latenten Philosophie des „Sprachhumanismus” darstellt, so darf man in Nizolius' Versuch einer rhetorischgrammatisch fundierten „wahren Philosophie” ein Dokument für die innere Kapitulation des humanistischen Sprachdenkens vor dem des spätscholastischen Nominalismus erblicken, einem Sprachdenken, das zugleich für die entstehenden empirischen Wissenschaften maßgebend wurde. Das ontologische Denkschema, das bei N i z o l i u s trotz seines emphatischen Sprachhumanismus sich durchsetzt, bildete, wie wir bei S p e r o n i sahen, erst recht die selbstverständliche Denkvoraussetzung bei all' denen, die überhaupt nicht an sprachlich-literarischer Bildung, sondern an empirischer Realwissenschaft interessiert waren. Als begriffliche Auffassung vom Wesen der Sprache und ihrer Beziehung zum Denken und Erkennen bot sich dem realistisch gesinnten Wissenschaftler, ganz unabhängig davon, ob er die Scholastik bekämpfte oder an sie anknüpfte (was im Hinblick auf die begrifflich-sprachliche Abhängigkeit weitgehend zusammenfällt), der von Aristoteles hergeleitete Zeichenbegriff der Sprache, wie er im Nominalismus im Sinne einer beliebigen Bezeichnung prinzipiell sprachunabhängig von jedermann und zu jeder Zeit wahrnehmbarer Tatsachen ausgebildet war. Das Anliegen des Sprachhumanismus und seine philologisch-linguistischen Erkenntnisse
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mußten demgegenüber entweder ins Formalaesthetische abgedrängt werden, wo sie als Bildungserbe weiterhin den rhetorisch-poetischen Glanz der Kultur repräsentierten, oder aber sie wurden als Kenntnisbestände über den Realgegenstand Sprache bzw. über die Sprachen, deren man inzwischen immer mehr kennengelernt hatte (nicht nur klassische und heilige wie das Lateinische, Griechische, Hebräische, sondern auch moderne und vor allem exotische Sprachen durch die Entdeckungsreisen), aus der dogmatisierenden Pflege des Humanisten entlassen und dem im Grunde schon nominalistisch eingestellten Polyhistor überstellt, der, wie es in großem Stil bei Leibniz sichtbar wird, den Übergang zum modernen Linguisten bildet. (s. unten S. 280 ff.) In der Situation des Cinquecento konnten die echten und zukunftsträchtigen Tendenzen der Kultur offenbar nur durch eine ungeschichtliche Scheidung von Sprachinhalt und Sprachform, von philosophischer und schöngeistiger Problematik gefördert und zur Entfaltung gebracht werden. Nachdem die Bewegung des Sprachhumanismus, aufs ganze gesehen, ihr philosophisches Anliegen zugunsten des von vornherein überwiegenden Rhetorisch-Formalen und des LinguistischFormalen aufgegeben hatte, konnte der „Fortschritt” des Geistes (dies Wort nicht in einem metaphysisch-absoluten, sondern in einem situationsrelativen dialektischen Sinn verstanden) nur in der Befreiung der empirischen Naturforschung, des inhaltlichen Denkens von den Einschränkungen und Prätentionen der philologischrhetorischen Pseudobildung jener Humanistenkaste liegen, gegen die bei Speroni Perettòs Vorwurf gerichtet ist, „daß viele sich einbilden, um Philosoph zu werden, genüge es, daß sie griechisch schreiben und lesen könnten und nichts weiter. Als ob der Geist des Aristoteles ähnlich einem Kobold in der Flasche im griechischen Alphabet eingeschlossen wäre und zugleich mit diesem ihnen in den Kopf eingehen müßte, um sie zu Propheten zu erwecken!” (a. a. O. S. 534).
Auf dieser Linie hatte schon die Polemik P i c o d e l l a M i r a n d o l a s gegen den rhetorischen Humanismus gelegen. In seinem Brief an den Humanisten Ermolao Barbaro „De genere dicendi philosophorum” von 1485 hatte er die, wie er zum Schluß vorsichtig erklärt, möglichen Argumente der scholastischen Denker gegen die humanistische Verurteilung ihres barbarischen Sprachgebrauchs zusammengefaßt. Es sind fast die gleichen, die auch Speronis Pomponazzi vorbringt: Gegen die Rhetorik das ,,philosophiam rebus constare, verborum pompa nihil indigere"360); und gegen die philosophische Relevanz der lateinischen Philologie das ,,Dicet Arabs eandem rem, dicet aegyptius, non dicent latine, sed tarnen recte"361).
300) 301)
G. Toffanin: Gesch. d. Humanismus, S. 312. Ebda.
233
Wie wenig der italienische Humanismus es vermocht hatte, das Grundgerüst des sprachphilosophischen Denkens, das seit Platon und Aristoteles auf jene ungeschichtlich konzipierten Alternativen wie: c¼pbf- oder npbf+Bestimmtheit der Namen, Stoff (Inhalt) oder Form der Rede, endlich: Wahrheit der Dinge oder schöne Verhüllung bzw. Auszierung dieser Wahrheit im Wort festgelegt war, in der Wurzel neu zu denken, bezeugt gerade Pico (della Mirandola), der ja durchaus von den humanistischen Stilidealen ergriffen war. Angesichts der rhetorischen Prätentionen und der Infragestellung seiner peripatetischen Lehrjahre (in Padua und bei dem gelehrten Juden Elia del Mendigo) durch die Polemik der Humanisten kann er nur auf die alten, ungeschichtlich gedachten Antithesen zurückgreifen: ,,Aut enim nomina rerum arbitrio constant, aut natura. Wenn die Menschen durch willkürliche Übereinkunft, z. B. durch Übereinstimmung in einem gedanklichen Sinn, festgelegt haben, durch welche Namen jedes Ding zu be-zeichnen ist, so dürften die Namen bei diesen Menschen zu Recht [ihren Gegen-stand) bezeichnen. Was also steht im Wege, daß diese Philosophen, die ihr [gemeint sind die Humanisten) Barbaren nennt, in einer Norm des Redens übereingekommen sind, die bei ihnen nicht weniger heilig gilt als bei euch die römische Sprachnorm, und es besteht kein Grund, warum ihr eure Norm richtig, die Norm jener Philosophen aber nicht richtig nennt. Wenn diese Namengebung völlig willkürlich ist, so mögt ihr sie, wenn ihr sie des römischen Namens nicht für würdig erachten wollt, (getrost) britannisch, spanisch oder, wie die Leute im Volk gewöhnlich sagen, „pariserisch” nennen ... Wenn (aber) die Richtigkeit der Namen von der Natur der Dinge abhängt, müssen wir da nicht statt der Rhetoren die Philosophen, die allein aller Dinge Natur durchschaut und erforscht haben, wegen dieser Richtigkeit um Rat fragen?"382)
In keinem der beiden sprachphilosophischen Alternativfälle bleibt hiernach dem humanistischen Sprachgelehrten eine Aufgabe von philosophischer Bedeutung. Die „Natur der Dinge” erschließt sich dem Philosophen ohne eine sprachhermeneutische Zwischenfunktion des Philologen; Sprache als willkürliche Bezeichnung und Sprache als Wesensabbildung sind von Pico gleich sekundär und prinzipiell überspringbar angesetzt gegenüber der philosophischen Erkenntnis der „Natur der Dinge”. Obwohl Pico wie zuvor schon Gianozzo Manetti den Menschen als Schöpfer einer
362) Ebda. S. 313: „Aut enim nomina rerum arbitrio constant, aut natura. Si fortuito positu, ut scilicet communione hominum in eandem sententiam, conveniente quo sanxerint unumquodque nomine appellari, ita apud eos recte appellent. Quid prohibet hosce philosophos quos nuncupatis barbaros, conspirasse in unam dicendi normam, apud eos non secus sanctam ac habeantur apud vos Romana illam cur rectam non appelletis, appelletis vestram, nulla est ratio. Si haec impositio nominum tota est arbitraria, quod si dignari illam romani nominis appellatione non vultis, gallicam vocetis, Britannicam, Hispanicam, vel quod vulgares dicere solent Parisiensem.... Si nominum rectitudo pendet ex natura rerum, debemus ne rhetores an philosophos qui rerum omnium naturam soli perspectam habent et exploratam de hac rectitudine consulere?”
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Kulturwelt neu entdeckt hat363), liegt ihm der Gedanke noch völlig fern, daß die Natur der Dinge dem Menschen und somit auch dem Philosophen am Ende prinzipiell nur im Medium dieser von ihm selbst geschaffenen Kulturwelt, d. h. aber zuletzt im Medium der Weltentdeckung der geschichtlichen Sprachen begegnen kann. Diese innerste Tendenz und radikalste Konsequenz der humanistischen Kulturanthropologie seit C. Salutati tritt wiederum erst bei Vico ans Licht und ist vielleicht erst heute wirklich aktuell. Bei der „instauratio magna” der europäischen Wissenschaft, die auf die Renaissance folgte, mußte zunächst die „intentio recta” auf die Außenwelt und ihre Sachverhalte freigekämpft werden. Und hier läßt sich zweifellos — unbeschadet aller Gegensätze zwischen Scholastik und aufstrebender Erfahrungswissenschaft — eine innere Verwandtschaft des ockhamistischen Sprachbegriffs, der ein sprachfreies intuitives Erfassen der Erfahrungswirklichkeit voraussetzt, mit dem bewußten Sprachverhältnis der empirisch-technisch interessierten Laienwelt der jungen Volkssprachen Europas konstatieren. Indem diese ständig gegen die Einschränkung und Unterschätzung der Sachforschung durch die Vorurteile der gelehrten humanistischen und scholastisch-autoritären Wortbildung zu kämpfen hatte, mußte ihr das eigene Weltverstehen in der geschmeidigeren Volkssprache schlechthin als vorsprachliche Intuition „der” Wirklichkeit erscheinen, der gegenüber die (Gelehrten-)Sprache etwas Starres, prinzipiell Sekundäres, dem Gedächtnis und nicht der Erkenntnis selbst Zugehöriges zu sein schien. Dieses Bewußtsein von der sekundären Rolle der Sprache im Weltverständnis dürfte bis heute geradezu das Vermächtnis der nominalistisch-empirisch-volkssprachlichen Befreiung der Neuzeit aus der sprachbefangenen Situation des Mittelalters sein. Auf dieser Linie liegen denn auch in Europa die äußeren Grenzen des humanistischen Sprachbegriffs, die Grenzen seiner Anerkennung und praktischen Auswirkung, selbst in der rhetorischen Kultur Italiens. Wir brauchen hier nur auf die Forschungsergebnisse L. Olschkis zu verweisen, die zugleich unter europäischen Aspekten den Beginn jener großen technisch-szientifischen Bewegung zusammenfassen, deren klassische sprachphilosophische Position erst im westeuropäischen Empirismus bzw. im Bereich der „mathesis universalis” ausgebildet werden. In Italien ist freilich auch diese Seite der Kultur, aus der das eigentlich Neue und schlechthin Unvergleichliche der europäischen Neuzeit hervorgehen sollte, in charakteristischer Verzahnung mit dem humanistischen Sprachverhältnis zur Entfaltung gelangt, und sei diese Beziehung auch nur durch die Notwendigkeit einer polemischen Selbstbehauptung gegen
363) Vgl. Pico della Mirandola: über die Würde des Menschen (dtsch. von H. Rüssel, Frkft. a. M., Fribourg u. Wien 1949).
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die sprachlich-literarische Bildung bezeugt wie etwa bei L e o n a r d o d a V i n c i . Leonardo, der Repräsentant schlechthin der Laiengenialität der italienischen Renaissance und darin des europäischen Durchbruchs durch alle wortverhafteten Traditionen zur schrankenlosen Erforschung aller Weltbereiche im künstlerischtechnischen „Experiment”, ist der Zeitgenosse der Florentiner Hochblüte des Sprachhumanismus, der Olschki zufolge in der Zeit der platonischen Akademie die Anfänge einer volkssprachlichen Literatur und Laienbildung auf dem Gebiet der Künste und angewandten mathematischen Wissenschaften seit Brunelleschi, Ghiberti, Alberti geradezu unterdrückt hatte364). Leonardo soll aus diesem Florenz ' des Humanismus nach Mailand geflohen sein, um seinen empirisch-technischen Interessen leben zu können365) Diese Grundsituation drückt sich aus in seinen scharfen Entgegensetzungen von Autorität und Erfahrung, von literarischer Bildung und „gutem Naturell” sowie — im „trattato della pittura” — in seiner für den heutigen Leser oft ungereimten Anpreisung des wissenschaftlichen Charakters der Malerei und ihres Vorranges gegenüber der im System der „artes liberales” allein anerkannten und von den Humanisten vollends monopolisierten Sprachkunst. Gleichwohl hat Leonardo sich zeitweilig sehr um eine literarische Ausbildung bemüht366), und seine theoretisch-programmatischen Äußerungen spiegeln auch in der Betonung der empirisch-außerliterarischen Bildungsinstanzen das Bewußtsein eines Mangels im Sinne der zeitgenössischen humanistischen Bildung. So heißt es in einem „Proemio”: „Ich weiß wohl, daß, da ich kein Gelehrter (litterato) bin, manch dünkelhafter Mensch wähnen wird, mich mit Recht tadeln zu dürfen, indem er anführt, ich sei ein Mann ohne Gelehrsamkeit... Sie werden behaupten, ich sei nicht fähig, das, wovon ich handeln will, gut auszudrücken (ben dire), weil mir die literarische Bildung mangelt (per non avere io lettere). Nun, wissen sie denn nicht, daß meine Behauptungen nicht so sehr aus den Worten anderer als aus der Erfahrung gezogen werden müssen (ehe le mie cose son più da esser tratte dalla sperienza, che d'altrui parola)."367)
Während für Leonardo der Sinn der Sprache geradezu in der Veranschaulichung der Außenwelt sich erschöpft, weshalb er ihr auch als wissenschaftliches Informationsmittel die Malerei und — darin bahnbrechend — die technische Zeichnung vorzieht368), eine Auffassung, die ihn sogar dazu verführt, eine sprachliche Formulierung der in den anschaulichen Experimenten steckenden „ratiocinatio” für überflüssig zu halten369) betonen
364)
Vgl. L. Olschki, a. a. O. Bd. I, S. 261. Ebda. S. 260. 366) Vgl. Leonardo da Vinci: Philos. Tagebücher, hrsg. v. Giuseppe Zamboni, Hamburg 1958, Anhang S. 163. 367) Ebda. S. 15. 368) Vgl. Olschki, a. a. O. Bd. I, S. 359 ff. 369) Ebda. S. 387. 365)
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die schöpferischen Mathematiker der Renaissance teilweise den sprachlichen Charakter der mathematischen Darstellung selbst; so z. B. N . T a r t a g l i a , wenn er in seinem Streit mit Cardanus den humanistisch gebildeten Anwälten der Gegenpartei klar zu machen sucht, „daß in den Disputen über Mathematik und ihre Zweige es auf die lateinische Sprache ebenso wenig ankomme, wie auf die arabische und chaldäische, sondern auf ihre eigene, die kein Gegenstand der Rhetorik und der Grammatik sei."370)
Auf dieser Linie liegt auch die berühmte Erklärung G . G a l i l e i s : „Die Philosophie steht in diesem großen Buche geschrieben, das uns stets aufgeschlagen vor Augen liegt (ich meine das Universum), das man aber nicht begreifen kann, wenn man nicht vorher seine Sprache zu verstehen und die Buchstaben zu erkennen lernt, mit denen es geschrieben ist. Es ist geschrieben in mathematischer Sprache und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne welche es menschlich unmöglich ist, auch nur ein einziges Wort zu verstehen; ohne sie dreht man sich ohne Nutzen in einem finsteren Labyrinth herum."371)
Während Leonardo da Vincis Malersensualismus mehr dem westlichen Nominalismus-Empirismus von Bacon bis Berkeley zuzuordnen wäre, der das „Buch der Natur” von dem Schleier jeder nicht sinnlichen Sprache befreien will, nimmt die geometrische Welt-Heuristik der italienischen Techniker-Mathematiker der Renaissance in anschaulicher Form jene rationale Komponente des technischwissenschaftlichen Sprachbegriffs der Neuzeit vorweg, die sich im „calculus ratiocinator” der „mathesis universalis” erstmals auf die Sprachspekulation selbst auswirkt. (Einen Übergang sozusagen bildet die cusanische Konzeption einer „präcisen” Natursprache nach dem Muster von Bezeichnungen wie „Drei-eck”, „Viereck” usw., welche Operationen unseres Verstandes selbst abbilden würde372).) Beide Tendenzen einer universalen Sprache der Natur zusammen bilden das kategoriale Grundmodell der naturwissenschaftlich orientierten Sprachverwendung und Sprachkonstruktion überhaupt: das postulierte ungeschichtlich-natürliche Verifikationsschema der Sprache, das noch in der Konstitutionstheorie R. Carnaps der spekulativen Vorstellung zugrundeliegt. In der Anschaulichkeit der geometrischen Heuristik und ihrer mechanischtechnischen Verkörperung, wie sie in der Architektur und bildenden Kunst, im Festungsbau und Artilleriewesen der italienischen Renaissance sich zuerst erprobte, lag allerdings gegenüber der späteren Ana-
370)
Ebda. Bd. III, S. 97. G. Galilei: Il Saggiatore, ed. naz. VI, S. 232: „la filosofia è scritta in questo grandissimo libro che continuamente ci sta aperto innanzi a gli occhi (io dico l'universo), ma non si può intendere se prima non s'impara a intender la lingua, e conoscer i caratteri, ne'quali è scritto. Egli è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche, senza i quali mezzi è impossibile a intendere umanamente parola; senza questi è un aggirarsi vanamente per un oscuro laberinto.” 372) Vgl. K. O. Apel: Die Idee der Sprache bei Nik. v. Cues, a. a. O. S. 220 f. 371)
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lysis Descartes und ihrer abstrakten Zeichensprache auch wieder eine erkenntnistheoretisch-methodologische Verwandschaft mit der Ideologie des Sprachhumanismus: Denn die umständliche, in umgangssprachliche Deskriptionen von Beispielen eingelagerte, geometrische Denk- und Ausdrucksweise der Galileischen Mechanik, die Descartes so schwerfällig erschien, daß er nicht die Geduld hatte, sie nachzuvollziehen373), verhält sich in vieler Hinsicht zur cartesianischen Analysis (und z. B. zur analytischen Mechanik von Lagrange) etwa so wie die rhetorische „ars inveniendi” der Topik, deren Primat die Humanisten verfochten, zur „ars iudicandi” der formalen Logik. Im Sinne dieses ciceronischen Gegensatzes hat jedenfalls später Vico den Unterschied zwischen der älteren Physik, die an Anschauung und Einbildungskraft appellierte, und dem Denkstil der cartesischen Wissenschaft gedeutet und ihn zuerst pädagogisch, dann kulturgeschichtlich zu bewerten versucht. Dabei hat er als Humanist und Italiener die abstrakte Naturwissenschaft des Barock zweifellos unterschätzt374). Immerhin weist aber L. Olschki ganz im Sinne Vicos darauf hin, daß der Weg der naturwissenschaftlichen Entdeckung durch die moderne Sprache der Analysis verdeckt wird375), und ein moderner Naturforscher wie Eddington betont die Notwendigkeit, den Geist aus der Verstrickung in
373) R. Descartes: Brief an Mersenne v. 11. Okt. 1638, (Briefe, hrsg. v. M. Bense, Köln u. Krefeld 1949, S. 137). 374) Vgl. G. B. Vico: De nostri temporis studiorum ratione, dtsch.-lat. Ausg., Godesberg 1947. 375) L. Olschki (a. a. O., Bd. III, S. 433 f.) schreibt über Galileis Denk- und wissenschaftlichen Sprachstil: „Was uns fremd geworden ist, liegt in der Ausdrucksweise, in der Form der Beweise und der Ableitungen, also in der Denkart unseres Forschers, die nicht mehr die unsere ist. Was im Zeitalter des „esprit géometrique” Staunen und Begeisterung wecken konnte, erscheint uns schwer-fällig, umständlich und mühsam. In die Sprache der Analysis übersetzt, in Gleichungen gekleidet und von euklidischen Fesseln befreit, ergeben Galileis Probleme und Theoreme auf einfacherem Wege die gleichen Resultate und sogar eine brauchbarere Form ihrer Anwendung in Praxis und Theorie. Was aber an Einfachheit gewonnen wird, geht an Anschaulichkeit verloren. Will man die Grundprinzipien der Dynamik erfassen und sie nicht anwenden, ohne sie in ihrem Wesen zu verstehen, dann gibt es keine andere Möglichkeit, als sie in der Weise durchzudenken, wie sie Galilei entwickelt hat. Das Übergewicht der Analysis in der neueren Physik, und in der zeitgenössischen im besonderen, läßt die historische Bedeutung und Gebundenheit der galileischen Methoden noch stärker hervortreten. Sie ist der wissenschaftliche und reinste Ausdruck des geometrischen Geistes, der alles nach Proportionen mißt, erklärt und wiedergibt, was den Sinnen und dem Geiste zugänglich ist. Die Anschauungswelt Galileis gliedert sich in solchen Proportionen und löst sich nicht in Gleichungen auf. Daß eine solche Verwandlung möglich und nützlich war, bestätigt die Geltung seiner Methoden und seiner Hervorbringungen, aber ihre Grundlagen sind noch diejenigen, auf welchen die gesamte Kultur der Renaissance beruhte".
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mathematische Formeln zu befreien, um die Methodenprobleme der Naturwissenschaft philosophisch zu verstehen376). Sprachphilosophisch kommt der hier berührte Gegensatz vor allem in Leibnizens Unterscheidung von „intuitivem” und „symbolischem” oder „blindem” Denken377) zum Ausdruck, aus der Leibniz freilich nicht die Konsequenzen im Sinne Vicos zog, da seine ganze spekulative Energie davon in Anspruch genommen war, gerade den inhaltlich blinden „calculus ratiocinator” und die zugehörige Zeichenkunst der „characteristica universalis” als ars inveniendi auszubauen. Mit der empirisch orientierten Anschaulichkeit des Denk- und Sprachstils Galileis und seiner italienischen Vorläufer in den Reihen der Künstler-Ingenieure hängt aber nun gerade ihre Angewiesenheit auf das jugendfrische und geschmeidige Medium der Volkssprache zusammen, die von Olschki in seiner „Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur” besonders herausgearbeitet wurde378). Sprachphilosophisch zwar kam diese bedenkenswürdige Beziehung von Sprache und schöpferischem Denken, wie wir im Anschluß an Speronis „Dialogo delle lingue” zu zeigen versuchten, den Trägern dieser technisch-empirischen Bewegung vorwiegend rein negativ, d. h. als Abneigung gegen das scholastische und humanistische Latein und seine Wortschablonen zum Bewußtsein, aber de facto drückt sie sich doch auch in der Ausbildung einer wissenschaftlichen Prosa aus, die nicht ohne den „umanesimo volgare” zu denken ist. Bei Galilei erreicht diese faktische Zusammenarbeit von technisch-geometrischem Sachdenken und humanistisch geschulter Sprachbeherrschung ihren repräsentativen Höhepunkt, nachdem sie schon zu Beginn der ganzen Bewegung bei dem Humanisten und Architekten Leone Battista Alberti vorgezeichnet war. In den „Dialogen” des Begründers der exakten Physik, in denen sich „alle Formen der großen Rhetorik mit schwerwiegenden Gedanken füllen"379), hat sich nach Olschki „zum ersten Male seit Machiavelli” die
376)
A. Eddington: Philosophie der Naturwiss., Wien o. J. (Slg. „Universität”, Bd. 6), S. 6. Vgl. besonders Leibnizens Betrachtungen „De cognitione, veritate et ideis” (Philos. Sehr. ed. Gerhardt, IV, S. 422-26). 378) L. Olschki kommt zu dem Ergebnis, „daß der Gegensatz zwischen beiden Denkrichtungen (sc. Galileis und der Schulphilosophie bzw. auch der Naturphilosophen der Renaissance wie Telesio und Campanella, die in ihrer Begriffssprache völlig der Scholastik verhaftet blieben) zugleich oder unter gewissen Umständen eigentlich ein sprachlicher war. Denn während diese Gegner in einer toten Sprache sich auszudrücken gewohnt waren, in welcher jedes Wort durch irgendein festgelegtes Vorbild endgültig feststand, schöpfte Galilei aus dem stets sich erneuernden Strom der eigenen, die sich wie sein Geist an die Erscheinungswelt anpaßte und sich mit den Gedanken wissenschaftlich läuterte. Zwei Formen der sprachlichen Erstarrung stehen sich also gegenüber: die gelehrte und die zweckhafte.” (A. a. O., Bd. III, S. 255) 379) Ebda. S. 292. 377)
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sprachliche Kunstfertigkeit des italienischen Humanismus „den positiven und logischen Inhalten gefügt und zu einer Dienerin des Gedankens herab-würdigen lassen"380). Galilei hat sich — auch darin der Tradition des italienischen Humanismus zugehörig — zeitlebens auch theoretisch reflektierend mit den Problemen des Sprachstils und der Sprachhermeneutik auseinandergesetzt, ja er hat auch hier mit seiner Unterscheidung von Dichtung und Wahrheit und seiner Ablehnung aller Allegorese in der Sprachkunst und ihrer Interpretation eine klassische Lösung für die neuzeitliche Geisteswissenschaft vorgezeichnet. Diese Lösung freilich gehört nicht mehr dem klassischen Sprachhumanismus an. In seinen „Betrachtungen zu Tassos ,Gerusalemme liberata’” bemerkt Galilei: „Die poetischen Fabeln und Fiktionen sollen dem allegorischen Sinne nur dann dienen, wenn in ihnen auch nicht der geringste Schatten irgendeines Zwanges zu bemerken ist; sonst wirken sie kümmerlich, erzwungen, bei den Haaren herbeigezogen und ungereimt; geradeso wie perspektivische Kunststücke, die von einem falschen Betrachtungsort gesehen, lächerlich verzerrt und konfus erscheinen."381) —
Ein höchst charakteristisches Zeugnis für den Einbruch des esprit géometrique, der sich soeben erst in der Aufschließung der materiellen Natur bewährt hatte, in den Bereich der Sprachkunst. Eine große abendländische Periodisierung der Weltauffassung zeichnet sich hier ab: Während im Mittelalter die hierarchische Ordnung des sprachlich fixierten Weltsinnes auch den natürlichen Bau des Universums erst aufschloß und der im Grunde durchaus aperspektivische „Sinnraum” der Bibel oder der antiken Dichter auch die Anhaltspunkte für die Festlegung des geographischen und kosmographischen Raumes, etwa für die Topographie von Himmel und Hölle, liefern mußte (man denke an Dantes „Divina Commedia” und ihre populärwissenschaftliche Auslegung, zu der noch Galilei selbst in der Florentiner Akademie einen Beitrag leisten mußte382), greift in dem zitierten Beitrag Galileis zur Poetik das von den bildenden Künstlern und Technikern entwickelte naturalistischperspektivische Raumdenken normativ in den Kernbereich der sprachlichen Welterschließung ein. Eine mehrschichtige Sinnfülle, die sich nicht zwanglos einer quasianschaulichen Einheitsperspektive einfügt, wird als unschön empfunden. Zweifellos hat Galileis Maßstab — der Maßstab eines physikalisch entworfenen, von jedem Standpunkt perspektivisch realisierbaren anschaulichen Weltbildes —
380) 381)
Ebda. S. 294. G. Galilei: Considerazioni al Tasso, ed. naz. IX, S. 129 f. (Zitat nach L. Olschki, a. a. O. S.
382)
Vgl. Olschki, a. a. O. S. 175 f.
171)
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die moderne Sprachaesthetik beherrscht, ja mehr noch: er hat eine „SprachAesthetik” überhaupt erst begründet; denn eben darin gipfelt die Galileische Position, daß eine Dichtung nur aesthetisch zu würdigen sei, und nicht etwa als allegorische Verkleidung der (philosophischen) Wahrheit, wie das für die Weltepoche von der griechischen Sophistik bis zum Sprach-humanismus der italienischen Renaissance einschließlich die maßgebende Auffassung war. In seinem Kampf gegen das sprachbefangene und eben darin mittelalterliche Weltbild der zeitgenössischen Gelehrten, die ihre Argumente gegen die neue Mechanik nicht nur aus dem durchaus literarisch interpretierten Aristoteles, sondern auch aus der Bibel und den antiken und neueren Dichtern schöpften, wird Galilei dazu geführt, das humanistische Problem der Sprachkunst und das philosophische Problem der Wahrheit der Dinge scharf voneinander zu scheiden: Unmittelbar vor der berühmten Erklärung, daß das Buch der Natur in mathematischer Sprache abgefaßt sei, findet sich die zugehörige Begrenzung des Sinnes der schönen Literatur: „Die Philosophie ist nicht wie die Ilias oder der Rasende Roland ein Buch oder ein Einfall der menschlichen Phantasie, bei denen es am unwichtigsten ist, daß der Inhalt wahr sei.“383)
Diese Erklärung wird bei Galilei selbst zwar noch in ihrer Tragweite eingeschränkt durch die Anerkennung einer nichtphysikalischen Wahrheit, wie sie in den Gleichnissen der Heiligen Schrift ausgesprochen sei384); in ihrer ontologischen Grundstruktur aber bezeichnet sie klar die Festlegung des Wahrheitsbegriffs auf das naturwissenschaftlich Verifizierbare: die Tatsachen der Außenwelt und ihre mathematischen Strukturen. Es ist dasselbe Denkmodell, das in äußerster Radikalisierung die moderne Sprachkritik des logischen Positivismus beherrscht, nur daß inzwischen auch noch die Metaphysik von der Wissenschaft geschieden und als „schlechte Dichtung” (d. h. gemäß den Galileischen Kriterien: als aesthetisch unbefriedigende, weil mit Wahrheitsansprüchen belastete Phantasiekunst) identifiziert wurde. Andererseits ist Galileis Scheidung von philosophischer Wahrheit und nur ästhetisch zu bewertender Sprachkunst freilich vorbereitet, wie wir zu zeigen suchten, durch die Auseinandersetzung der spätscholastischen
383)
G. Galilei: I l Saggiatore, ed. naz. V I , S. 232 (Zitat nach Olschki, a. a. O. S. 195). In seinen Briefen an Dini und an die Großherzogin Christine über das Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und offenbarter Wahrheit greift Galilei selbst auf die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn zurück, vgl. L. Olschki, a. a. O. S. 265. 384)
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Wissenschaft mit dem Humanismus, wie sie Speroni und vorher Pico della Mirandola repräsentieren, und zuletzt ist sie, unerachtet des völlig neuen Galileischen Wissenschaftsbegriffs, bereits vorgezeichnet durch die Abgrenzung der Dialektik von der Rhetorik und Poetik, wie wir sie als Grundlegung der hellenistischen Logoswissenschaften (artes sermonicales) auf Aristoteles und Platon zurückführen müssen. Gerade darin liegt ja der Ansatzpunkt Galileis im Humanismus selbst und vielleicht auch sein weltgeschichtliches Recht begründet, daß die Sprachkunst im Weltalter der humanistisch-rhetorischen Topik selbst schon auf das Welt-Begreifen der Philosophie hin entworfen war, daß sie sich als kunstvolle Verkleidung des philosophisch Wahren selbst verstand. Eben deshalb wird ihr allegorischer Wahrheitsanspruch — und das gilt selbst für Dante — vom Standpunkt Galileis und der modernen Sprachaesthetik weitgehend als „erzwungen, bei den Haaren herbeigezogen und ungereimt”, kurz: als gewaltsamer, ästhetisch störender Übergriff auf das Hoheitsgebiet der Philosophie bzw. der Wissenschaft empfunden. Die geheime Philosophie des italienischen Sprachhumanismus ist indessen mit der Galileischen, bei Descartes und Leibniz variierten Einteilung, die dem Sprachhumanismus das Reich der schönen Form als Bildungsdomäne überläßt, nicht völlig erschöpft. Galilei selbst läßt ja implizit die Möglichkeit offen, daß die Sprachkunst ohne Zwang, d. h. also ohne alles bewußte Abzielen auf philosophische Ansprüche, „allegorische”, und daß meint hier soviel wie: nur im Dichterwort liegende Wahrheitsaufschlüsse geben kann. Hier wird Vico ansetzen und die humanistischen Topoi von der „sapientia veterum poetarum” und der Wahrheitssubstanz der sprachlich überlieferten Bildung, die Galilei und weit schärfer noch Descartes bekämpfen, noch einmal erneuern. Er wird zum ersten Mal mit der historischhermeneutischen Phantasie hinter das Weltalter der rhetorischen Topik und der sprachgebundenen Schulwissenschaft, aus dessen Bann Galilei und die neuzeitliche Wissenschaft sich losreißen, zurückgehen in die nicht mehr allegorischen, sondern mythischen Ursprünge der dichterischen Weltkonstitution, nicht ohne dabei zu bemerken, daß im abendländischen Mittelalter — wir müßten heute sagen: unter der rationalen Oberfläche und im Gewand der antiken Rhetorik, Allegorese und Schulwissenschaft — echte mythische Weltkonstitution als theologische Weltdichtung noch einmal wiederkehrte. Ja, seine Vertiefung der humanistischen Problematik von Sprache und Wahrheit legt es nahe, selbst den Weltentwurf der auf das Mittelalter folgenden „Neuen Wissenschaft”, die Heuristik der geometrischmechanistischen Natursprache Galileis, als ein Ereignis geschichtlicher und dichterischer Weltgründung im weitesten Sinn des Wortes in den Blick zu nehmen. D. h. wohlgemerkt: nicht die Tatsachenwahrheit der neuzeitlichen Physik und auch nicht die beweisbare logische Richtigkeit ihrer Theorien, sondern die ars inveniendi, welche aus
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der neuartigen menschlichen Fragestellung an die Natur die vorverstandene Weltbedeutsamkeit der Neuzeit freigibt385). Um diesen späten Beitrag des Humanismus zum „natürlichen System” der Barockwissenschaft in seinen geschichtlichen Voraussetzungen zu verstehen, müssen wir aber zunächst noch die Auswirkung und Begrenzung des humanistischen Sprachbegriffs außerhalb Italiens näher betrachten.
d) Zur Sprachprogrammatik des Humanismus in Frankreich.
Wir haben im vorigen (s. oben Kap. IV) bereits von Dante her einen Vorblick auf die europäische Auswirkung der italienischen Sprachprogrammatik im Zeichen des nationalen Humanismus gegeben. Er galt vor allem der Entfaltung der patriotischen Konzeption der Muttersprache bis hinein in den politischen Sprachimperialismus einerseits, die religiös-schwärmerische Idee der nationalen Heilssprache andererseits. Wir sahen inzwischen, wie nicht allein aus Dantes Proklamation einer Sprache des ganzen Italiens, sondern auch noch einmal aus Ciceros Konzeption der Latinität, insbesondere in ihrer Verwandlung zum spirituellen Sprachimperialismus und sakramentalen Sprachkult Lorenzo Vallas, ein Anstoß für das Analogiedenken des nationalen Humanismus der neueuropäischen Völker wirksam werden konnte; sei es, daß diesen mehr die Erinnerung an die reale politische Zusammengehörigkeit von römischem Reich und römischer Sprache als Vorbild gelegen kam (so in Spanien, Portugal, England und Frankreich), sei es, daß die Spiritualisierung der Sprachidee bis ins Religiöse ihrer geschichtlichen Situation angemessener war (so in den Niederlanden, in Deutschland und bei den Slawen, wo freilich noch ältere religiöse Motive der nationalen Wendung des Sprachhumanismus entgegenkamen). Im folgenden soll nun für den französischen Bereich der spezifisch nationalhumanistische Sprachbegriff, wie er im Wettbewerb der Programmatiker mit dem italienischen „umanesimo volgare” sich ausprägte, etwas näher beleuchtet werden. Wir beschränken uns dabei im wesentlichen auf D u B e l l a y s „ D e f f e n c e et I l l u s t r a t i o n d e l a L a n g u e f r a n ç o i s e ” von 1549386), in welcher der neuzeitliche Begriff einer französischen Literatursprache im Sinne der frühklassizistischen Dichterschule der „Pléiade” formuliert ist. Der Annahme einer repräsentativen Bedeutung gerade der „Deffence” für unser Thema scheint allerdings zunächst ein schwerwiegendes Bedenken entgegenzustehen. Die Beziehungen dieses sprachlich-literarischen
385) Es handelt sich hier um das Wahrheitsmoment in der These O. Spenglers, daß auch die exakte Physik und Infinitesimalmathematik der Neuzeit relativ auf die Kulturseele des Abendlandes seien. 386) Wir zitieren Du Bellays „Deffense” nach der Ausgabe von E. Lommatzsch, Berlin 1920.
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Manifests zu dem Ideenkreis der italienischen „questione della lingua” sind nicht lediglich solche einer allgemeinen Anregung, wie sie schon aus der geistigen Konstellation der europäischen Renaissance erwartet werden kann und sozusagen unserer bisherigen Konstruktion der „translatio” des Sprachhumanismus idealtypisch entsprechen würde. Seit P. Villeys Untersuchung über die „italienischen Quellen der ,Deffence’“387) wissen wir, daß Du Bellay die sprachphilosophischen Argumente seiner Schrift großenteils wörtlich aus Speronis „Dialogo delle lingue” entnommen hat. Gleichwohl lassen sich aus der Auswahl und Disposition der Argumente bei dem Franzosen einige für uns wichtige Hinweise gewinnen. Zunächst ist zu bedenken, daß Du Bellays Schrift ein einheitliches Glaubensbekenntnis darstellt, während Speroni in einem Dialog mit sehr weitgehender Objektivität die typischen Sprachauffassungen seiner Zeit vorführt (vgl. oben S. 215). Welche dieser Auffassungen — diese Frage läßt uns trotz P. Villeys Aufdeckung der Plagiate immerhin mit einiger Neugier an den Text der „Deffence” herantreten — legt der französische Dichter der Verteidigung seiner Muttersprache zugrunde? Die Argumente des Latinisten (Lazzaro) scheiden von vorneherein aus; denn gerade gegen die nur lateinisch schreibenden Ciceronianer und Virgilianer des französischen Humanismus richtet sich ja die „Deffence”. Wie steht es dagegen mit den Ideen P. Bembos, der ja als Klassiker des „umanesimo volgare” für die französische Instauration der Vulgärsprache vorbildlich sein konnte und literarisch (z. B. in seinem Petrarkismus) gerade für die Dichter der Pléiade auch tatsächlich Vorbild war? Von Speronis Bembo bezieht Du Bellay in der Tat alle jene Argumente, welche an die Pflanzenmetaphorik anknüpfen und aus der geduldigen „Pflege” der noch jungen Vulgärsprache alles Heil für die Zukunft erwarten; insbesondere übernimmt er den Gedanken, daß schon die Römer ihre Sprache dadurch kultivierten, daß sie „ringsherum die nutzlosen Zweige” entfernten und an deren Stelle „de rameaux francz et domestiques, magistralement tirez de la langue grecques” aufpfropften388). Dieses Gleichnis, das der Franzose, auch hier Speroni folgend, mit dem Hinweis begleitet, daß die Sprachen eben „nicht so sehr aus ihrer eigentümlichen Natur als vielmehr durch künstliche Maßnahmen (par artifice)” dazu gebracht würden, die Früchte der „Eloquenz”, insbesondere rhythmische Einteilung (,,nombres") und künstliche Satzordnung (,,lyaison artificielle; bei Speroni steht „ordine”) hervorzubringen, — dieses Gleichnis führt sogleich ins Zentrum des kulturprogrammatischen Anliegens der Pléiade und
387) P. Villey: Les Sources italiennes de la „Deffense et Illustration de la Langue Françoise” de Joachim du Bellay, Paris 1908. 388) Du Bellay: Deffense ... , I, III, a. a. O. S. 15; vgl. oben S. 156 sowie die Gegenüberstellung der Texte Speronis und du Bellays bei P. Villey, a. a. O. S. 43 ff.
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darüberhinaus auf den Weg, den die offizielle französische Sprachauffassung und Sprachpraxis nicht mehr verlassen sollte: Das Aufpfropfen edler und domestizierter Zweige alter Kultursprachen auf den Baum der französischen Sprache und Literatur stellte geradezu das Kernstück der von Du Bellay, Ronsard und den übrigen „Sternen” der Pléiade389) beabsichtigten und auch durchgeführten „illustration de la langue françoise” dar: das Programm der „Imitation” der griechischen, römischen und auch der italienischen Klassiker durch Übernahme ihrer poetischen Gattungen (Ode, Elegie, Hymne, Satire, Sonett usw.), ihrer Bildungstopik, ja sogar ihrer Sprachmittel als „Neologismen” an Stelle der mittelalterlichen französischen Dichtungsformen und Inhalte. Darüber hinaus ist bekanntlich die Idee einer künstlichen Regulierung der Sprache, insbesondere der Beseitigung aller wildwuchernden, verstandesmäßig nicht zu rechtfertigenden Tendenzen in Frankreich mit einer Konsequenz und Radikalität wie nirgends sonst von Staats wegen realisiert worden, von Malherbes Sprachreinigung im Auftrag Heinrichs IV. über Richelieus „Académie Française” bis zur Uniformierung der Umgangssprache im ganzen Land durch die französische Revolution. Trotz oder gerade wegen dieser durchschlagenden Erfolge von Bembos Idee der „lingua regolata” und der Sprachreinigung und Sprachpflege toskanischer Provenienz in Frankreich kann man jedoch nicht eigentlich sagen, daß die humanistische Sprachidee der Italiener hier weiterlebe, zumindest wird man eine charakteristische Umprägung ihrer philosophischen Eigenart ins Rationale zugestehen. Hierfür kann nun m. E. bereits in Du Bellays Rezeption und Neuverwendung der Argumente der „questione della lingua” ein charakteristisches Zeugnis, ja geradezu die „philosophische Grundlegung” der neuen Geistesrichtung erkannt werden — und dies, obwohl die Sprachphilosophie der „Deffence” sicherlich bar jeder Originalität ist. Originell und geistesgeschichtlich bedeutend ist jedoch das Manifest der Pléiade als nationale Kulturprogrammatik, als dogmatische Konfession der Sprachund Literaturauffassung einer produktiven jungen Dichtergeneration, und in einem solchen Dokument ist von größter Wichtigkeit nicht nur der Inhalt der übernommenen Ideen, sondern vor allem, in welcher Auswahl und hierarchischen Anordnung diese Ideen aufgefaßt werden. Schon die Tatsache, daß es Speroni ist, der von Du Bellay ausgeschrieben wird, der einzige unter den zahlreichen Autoren der „questione della lingua”, der gerade die nichtliterarischen, ja eigentlich außerhumanistischen Perspektiven der spätscholastischen Wissenschaft nachdrücklich in die Diskussion einbezieht, — schon dies ist nicht ohne konstitutive
389)
Vgl. H. Chamard: Histoire de la Pléiade, Paris 1939.
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Bedeutung für das neu sich formierende Dogma. Die hierin liegende Tendenz wird aber vollends bestätigt durch die Anordnung und Synthese der verschiedenen in Speronis Dialog vertretenen Auffassungen durch den Franzosen. Trotz der erwähnten Übernahme der Bemboschen Idee der „lingua regolata” durch Du Bellay ist nämlich keineswegs Bembos „umanesimo volgare” für die Sprachauffassung der „Deffence” maßgebend. Alle jene rational schwer faßbaren, vor allem nicht simplifizierbaren eigentlich humanistischen Überzeugungen, jene einsichtsvollen Vorurteile von der geschichtlichen Formkraft der faktisch überkommenen Sprache gegenüber dem Einzelmenschen, das Wissen des Philologen über den schwer zu bemessenden und noch schwerer auszugleichenden Vorrang der großen Kultursprachen im Vergleich zu den noch barbarischen Volkssprachen, Züge, die Bembo noch mit den lateinischen Humanisten verbinden, treten bei Du Bellay völlig in den Hintergrund. Hier macht sich die andersartige Kultursituation der Pléiade geltend, die eine andere Antwort erfordert als diejenige Bembos in Italien. Hatte nämlich Bembo in den großen Dichtern des italienischen Trecento bereits nachahmenswerte Muster und Maßstäbe der Sprache vor Augen, deren geschichtliche Formkraft im Grunde für Italien längst klassischen Rang neben den Alten erlangt hatte, so konnte gerade in diesem Punkt kein Analogiedenken den französischen Literaturprogrammatikern des Frühklassizismus weiterhelfen. Sie konnten und wollten in ihrer Apologie der Muttersprache auf keine nationale Sprach- und Literaturtradition zurückgreifen: Die Rhétoriqueurs der burgundischen Herzöge und die Hofdichter Franz’ 1. und Clement Marot wurden von ihnen ebenso abgelehnt wie der „Rosenroman” und das, was sie von der altfranzösischen Literatur des Mittelalters kannten. In der Form einer Besinnung auf ein klassisches Französisch konnte es demnach bei ihnen keinen „umanesimo volgare” geben. Sie wollten ganz von vorne beginnen und erhofften alles von der Zukunft. Diese Konstellation bestimmt nun offensichtlich auch die Sprachkonzeption der „Deffence”. Diese gründet sich, überspitzt ausgedrückt, gar nicht auf eine schon bestehende geschichtliche Muttersprache, sondern auf die Möglichkeit, eine solche zu schaffen: „Nostre langue n'ha point eu à sa naissance les dieux et les astres si ennemis, qu'elle ne puisse un jour parvenir un poinct d'excellence et de perfection, aussi bien que les autres"390).
Du Bellay liegt vor allem daran, das Problem der Sprache als nicht präjudiziert durch das geschichtlich Gewordene, sondern gänzlich vom vernünftigen Willen der menschlichen Subjekte abhängig vorzustellen. Dieser Gesichtspunkt bestimmt schon seine selektive Auffassung der Bemboschen Argumente (bewußte Sprachpflege, Beschneiden und Auf-
300)
Du Bellay, I, I V , a. a. O. S. 17.
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pfropfen!), er führt aber unmittelbar darüber hinaus zu der Sprachauffassung des Scholastikers Perettò ( = Pomponazzi), die Speroni in seinem Dialog referieren läßt. Diese stellt der Franzose in der Tat als Grundaxiom über den „Ursprung der Sprachen” ( = Kapitel I) an die Spitze seiner Programmschrift. Alles übrige wird gleichsam aus ihren Prämissen deduziert: „Wenn die Natur (hinsichtlich welcher eine gewisse Person von großem Ruf nicht ohne Grund gezweifelt hat, ob man sie Mutter oder Stiefmutter nennen müsse) den Menschen einen gemeinsamen Willen und übereinstimmendes Urteil (un commun vouloir et consentement) gegeben hätte, so hätte sich außer unzähligen sonstigen Vorteilen auch dieser daraus ergeben, daß die menschliche Unbeständigkeit es nicht nötig gehabt hätte, sich soviel Arten des Sprechens auszudenken. Diese Verschiedenheit und Verwirrung kann mit Recht Turm(bau) von Babel genannt werden. Es sind also die Sprachen nicht aus sich selbst heraus entstanden nach Art der Gräser, Wurzeln und Bäume: die einen schwach und hinfällig in ihrer Art: die anderen gesund und kraftvoll und deshalb besser geeignet, die Last der menschlichen Begriffe zu tragen, sondern all ihre Fähigkeit wird aus dem Willen und der freien Entscheidung der Menschen hervorgebracht (toute leur vertu est née au monde du vouloir et arbitre des mortelz). Dies ist, wie mir scheint, ein schwerwiegender Grund, weshalb man nicht die eine Sprache loben und die andere tadeln darf, eingedenk dessen, daß sie alle aus der gleichen Quelle, aus demselben Ursprung her stammen: der Phantasie der Menschen; eingedenk ferner dessen, daß sie von dem gleichen Verstand (jugement) zu dem gleichen Endzweck geformt sind: dazu nämlich, im Verkehr zwischen uns die Begriffe und Gedanken des Geistes zu bezeichnen (pour signifier entre nous les conceptions et intelligences de l'esprit). Es ist wahr, daß im Laufe der Zeit die einen, weil sie sorgfältiger geregelt wurden (plus curieusement reiglées), reicher als die anderen geworden sind, aber dies darf man nicht der glücklichen Anlage dieser Sprachen, sondern allein der Kunstfertigkeit und dem Fleiß (artifice et industrie) der Menschen zuschreiben. Und ebenso sind alle Dinge, welche die Natur geschaffen hat, alle Künste und Wissenschaften, in allen vier Teilen der Welt, an und für sich einunddasselbe; aber die Menschen sprechen und schreiben in verschiedener Weise darüber, weil sie von verschiedenem Willen beseelt sind (sont de divers vouloir)."391)
Die hier zitierte Sprachphilosophie, die wir aus Speroni bereits kennen392), diente bei dem Italiener dazu, das Anliegen einer voraussetzungslosen empirischen Wissenschaft als Sachforschung gegen den Sprachkult der humanistischen Literaten zu verteidigen, bei dem Franzosen hat sie bereits die Funktion einer Prämisse für die Begründung einer literarischen Revolution. Nicht der eigentlich humanistischen Sprachideologie entnimmt also der französische Literaturhumanismus oder Klassizismus seine sprachphilosophischen Prinzipien, sondern — überspitzt gesagt — der averroistischen Spätscholastik von Padua; er stützt sich auf eine Sprachauffassung, welche die aristotelische npbf-Zeichen-
391) 392)
Ebda. I, I. Vgl. oben S. 162 ff. sowie die Gegenüberstellung der Texte bei P. Villey, a. a. O.
247
theorie der Wörter, radikalisiert durch den augustinisch-ockhamistischen Begriff des freien Willens und das averroistische Pathos der immer gleichen Natur (im Sinne der aeternitas mundi), zur Grundlage hat. Chamard, in seiner „Histoire de la Pléiade”, urteilt, daß der Verfasser der „Deffence” diese Theorie, „qu'on a jugée d'un excessif rationalisme”, sich zu eigen gemacht hat ,,séduit par une thèse qui posait en principe l'action des écrivains sur la langue, et leur reconnaissait le droit de la travailler et de la polir, en vue d'en faire une oeuvre d'art."393) Dieses subjektzentrierte, aktionsbewußte Sprachverhältnis fügt sich bei Du Bellay einem Geschichtsbewußtsein und Lebensgefühl ein, das nicht mehr das der klassischen Renaissancehumanisten Italiens ist, wiewohl es im unmittelbaren Zusammenhang mit den Ergebnissen der humanistischen Wiederentdeckung der Antike entstand: „Man darf hier (im Hinblick auf die Möglichkeit einer ,illustration de la langue françoise') nicht auf den Vorrang der Antike (l'excellence de l'antiquité) verweisen und gleich Homer, der sich beklagte, daß zu seiner Zeit die Körper der Menschen schon zu klein seien, behaupten, daß die modernen Geister mit den Alten keinen Vergleich aushalten. ... Ich werde zum Beleg dessen, was ich sage, nicht vorführen die Buchdruckerkunst, Schwester der Musen und zehnte in ihrem Kreis, oder jenes nicht weniger bewundernswerte als verderbliche Feuerwerk der Artillerie samt soviel anderen nicht antiken Erfindungen, die wahrhaftig zeigen, daß im Laufe langer Jahrhunderte die Geister der Menschen nicht so entartet sind, als man wohl gerne sagt. Ich behaupte lediglich, daß es nicht unmöglich ist, daß unsere Sprache eines Tages jenen Glanz (ornement) und ein ebenso hohes Maß an Kunstfertigkeit (artifice aussi curieux) erhält, wie man sie bei den Griechen und Römern antrifft."399)
Chamard kommentiert diese Stelle mit den Worten: „ ... Du Bellay se trouve exprimer, plus d'un siècle avant la q u e r e l l e d e s a n c i e n s e t d e s m o d e r n e s , les idées de Fontenelle et de Perrault, déjà semble-t-il, il soupçonne ce que valent, appliqués aux questions littéraires, ces deux principes célèbres, l a p e r m a n e n c e d e s f o r c e s d e l a n a t u r e e t l e p r o g r è s d e s s c i e n c e s h u m a i n e s . Ce fervent des anciens, ce fondateur du classicisme, nous apparaît ici l'un des premiers modernes."395) Es versteht sich, daß Du Bellay für die Darstellung der außerpoetischen Sprachprobleme der Philosophie und Wissenschaft, denen er in seiner „Deffence” ein eigenes Kapitel widmet396), erst recht die radikalen rationalistischen Argumentationen Perettò-Pomponazzis aus Speronis Dialog übernimmt. Wir brauchen auf den Inhalt dieses Kapitels nicht
393)
H. Chamard, a. a. O. Bd. I, S. 179. Du Bellay, I, IX, a. a. O. S. 25/26. 395) H. Chamard, a. a. O. S. 181. 396) Du Bellay, I, X („Que la langue francoyse n'est incapable de la philosophie, et pourquoy les anciens estoint plus scavans que les hommes de notre age"). 394)
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einzugehen, da er fast durchweg aus Speroni übernommen ist. Nur auf einige Motive sei nochmals hingewiesen, da sie im französischen Kontext und in französischer Übersetzung gleichsam ein neues Gesicht erhalten und schlagartig die besondere Richtung des in Frankreich für die folgenden Jahrhunderte maßgebenden Sprachdenkens erkennen lassen: Wenn Du Bellay etwa, von Lukrez inspiriert, davon spricht, daß die Vögel, die Fische und die Erdentiere aller Art „ores avecques un son, ores avecques l'autre, sans distinction de paroles signifient leurs affections”, daß deshalb die Menschen erst recht das gleiche tun müßten „chacun avecques sa langue, sans avoir recours aux autres"397), so läßt der ungeschichtliche Naturalismus, der hier wie stets den technischen Rationalismus unterstützen soll, bereits von ferne an die Sprachphilosophie der französischen Aufklärung, eines Des Brosses oder Condillac, denken. Die von Speroni fast wörtlich übernommene Argumentation, daß die Menschen der modernen Zeiten den besten Teil ihres Lebens an das Studium der alten Sprachen (ce vain exercise) vergeudeten, statt ihn für das Studium der Wissenschaft zu verwenden398), klingt bei Du Bellay schon fast wie Descartes Absage an die humanistische Bildung zugunsten des methodischen Selbstdenkens der Sachen ab ovo. Sehr bezeichnend ist auch die folgende Aneignung eines Motivs, das bei Speroni ebenfalls anklingt, bei dem Franzosen aber schon die Form eines charakteristischen Schlagwortes des „Natürlichen Systems” annimmt: „Las et combien seroit meilleur qu'il y eust au monde un seul l a n g a i g e n a t u r e l , que d'employer tant d'années pour apprendre des motz!"399)
Der Wunsch nach einer „lingua universalis naturalis” wird hier laut, der im 17. Jahrhundert in der Tat die Geister um Descartes nachhaltig beschäftigen wird. Hiermit haben wir aber die äußerste Grenze des Sprachhumanismus erreicht und einen Bereich betreten, der in viel schärferer und wahrhaft repräsentativer Form im philosophischen Denken des „natürlichen Systems der Wissenschaft” innerhalb der Barockmetaphysik ausgearbeitet wurde, insbesondere bei Descartes und Leibniz als den Hauptträgern der Sprachidee der „mathesis universalis”. Immerhin ist es bezeichnend für die schon im 16. Jahrhundert hervortretende spezifisch französische Geistesart, wenn der in enger Beziehung zur Pléiade stehende Humanist und Dichter J a c q u e s P e l e t i e r in seinem Dialogue de l'Orthographie (1555) den Gedanken vertritt, „daß die Wahrheiten der Mathematik und der Physik mit ihrer Klarheit, Unfehlbarkeit und Ewigkeit zur Reinigung, Hebung und Verherrlichung des
397)
Ebda. a. a. O. S. 29. Ebda. S. 29 f. 399) Ebda. vgl. oben Anmerkung 258. 398)
249
Französischen ganz besonders geeignet wären. ,Pansez, quelle imortalité eles pourroet aporter a une langue, i etans redigees en bonne et vreyes metode’“400).
Die soeben durchgeführte Interpretation der „Deffence” im Hinblick auf die Umprägung der humanistischen Sprachidee im Medium eines spezifisch französischen Rationalismus, der an den Nominalismus und Averroismus der scholastischen Naturwissenschaft anknüpft, soll keineswegs die starke Spur des Humanismus in diesem Medium, ihre bleibende Wirkung zumal auf literarisch-aesthetischem Gebiet verdecken. Bezeichnend ist hier, wie Du Bellay seine These, daß Übersetzung aus den alten Sprachen zwar notwendig, aber nicht hinreichend für die „illustration” der Muttersprache sei, an die traditionelle Einteilung der Rhetorik anknüpft. Von den fünf Teilen der „ a r t de b i e n d i r e ” : „ i n v e n t i o n ” , „ e l o q u u t i o n ” , „ d i s p o s i t i o n ” , „ m e m o i r e ” und „ p r o n u n t i a t i o n ” greift er nur die ersten beiden heraus. Von der „invention" heißt es dann: „Die Aufgabe des Redners ist es also, über jedes Thema elegant und aus der Fülle des Wissens heraus zu sprechen (elegamment et copieusement parler)”. Diese Fähigkeit läßt sich nur erreichen „par l'intelligence parfaite des sciences, les queles ont eté premieremente traitées par les Grecz, et puis par les Romains imitateurs d'iceux”. Deshalb muß man notwendigweise die alten Sprachen verstehen, um „cete c o p i e e t r i c h e s s e d ' i n v e n t i o n , premiere et principale piece du harnoys de l'orateur” zu erwerben. „Hier nun können die sinngetreuen Übersetzer in hohem Maße all denen dienen und weiterhelfen, die nicht über das einzige Mittel verfügen, (selbst) Sprachstudien zu betreiben."401)
Hier haben wir in aller Kürze das ganze humanistische Programm Ciceros samt dem zugehörigen Ideal des in der Topik gebildeten Redner-Philosophen vor uns. Es ist freilich längst zum Inhalt einer starren Bildungstopik geworden, und Du Bellay ist weit davon entfernt, die darin enthaltenen sprachphilosophischen und kulturphilosophischen Denkmotive in Richtung auf eine tiefere Zusammengehörigkeit von Sprache und Sachwissen noch einmal zum Leben zu erwecken. Im Gegenteil ist für ihn — wie für allen durch den Nominalismus hindurchgegangenen Humanismus — kennzeichnend, daß er den Bereich der „inventio”, also der Bildungstopik, vom Problem der Sprache zu trennen und als denkunmittelbaren Weltinhalt zu fassen bestrebt ist: Es handelt sich hier im wesentlichen um die Ergebnisse der antiken Wissenschaft, die baldmöglichst durch Übersetzung einer modernen, vulgärsprachlichen Wissenschaft zugänglich gemacht werden sollen. Anders verhält es sich mit dem zweiten Teil der Rhetorik, der „e l o c u t i o “, als der stilistischen Formung der Sprache. Hier genügt keine Übersetzung antiker Muster, vielmehr muß der französische Schriftsteller — und hier darf man den tiefsten Impuls
400) 401)
K. Voßler: Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung, Heidelberg 1913, S. 243. Du Bellay, a. a. O. S. 18 f.
250
und Ertrag der humanistischen Sprachidee bei Du Bellay in moderne Worte fassen — aus dem Geist der eigenen Sprache heraus gestalten: „Was indessen die elocutio angeht, gewiß den schwierigsten Teil (sc. der Redekunst), und ohne den alles andere gleichsam nutzlos und wie ein Schwert in der Scheide ist, die elocutio (sage ich), im Blick auf welche hauptsächlich ein Redner für glänzender und eine Ausdrucksweise (genre de dire) für besser als die andere gehalten wird, die elocutio als das, wonach die eloquentia selbst benannt ist, deren Kraft in den angemessenen und nicht (etwa) dem allgemeinen Sprachgebrauch fremden Worten, in den Metaphern, Allegorien, Vergleichen, Bildern und nachdrücklichen Wendungen (energies) und in sovielen anderen Figuren und Ziermitteln (ornemens) liegt, ohne die jede Rede und jedes Gedicht nackt, mangelhaft und kraftlos ist: niemals werde ich glauben, daß man dies alles wohl von den Übersetzern lernen kann, und zwar deshalb nicht, weil es unmöglich ist, dies alles mit derselben Anmut (grace) wiederzugeben, deren der Autor sich bedient hat: denn jede Sprache besitzt etwas Unbeschreibliches, das nur ihr eigen ist (chacune langue a je ne scay quoy propre seulement a eile); wenn ihr den ursprünglichen Kern dieses gewissen Etwas (dont le n a i f ) mit aller Anstrengung in einer anderen Sprache zum Ausdruck bringen wollt, unter Beachtung des Gesetzes der Übersetzung, welches vorschreibt, nicht über die Grenzen des Autors hinauszugehen, so wird eure Diktion gezwungen, kalt und ohne Anmut sein."402)
Hier kommt jenes ursprüngliche Anliegen des neuzeitlichen Humanismus, das wir zuerst und wohl in maßgeblicher Prägung bei Petrarca antrafen: das Erlebnis des individuellen Sprachstils, noch einmal zum Durchbruch als die Entdeckung der irrationalen Eigenart der Muttersprache. Zweifellos war der Gestaltungsanreiz dieses Mediums der tiefste und eigentlichste Faszinationspunkt, auf den, bei allem Willen zur imitatio antiker Muster, der dichterische Aufbruch der Pléiade und der Enthusiasmus ihrer Programmatik sich bezog. e) Die Ausprägung und Funktion der humanistischen Sprachidee in Deutschland. Verglichen mit Frankreich oder Italien, zeigt der deutsche Sprach-humanismus ein wesentlich anderes Gepräge. Seine Stellung im Ganzen der deutschen Geistesgeschichte, so bedeutungsvoll sie nach manchen irrationalistisch-romantischen Verkennungen einer gerechteren Würdigung erscheinen muß, kann doch nicht mit der konstitutiven Rolle des Sprachhumanismus für die französische oder gar die italienische Literatur in einer Linie gesehen werden. In Italien ist der Sprachhumanismus — trotz aller Spannung zwischen Latein und Volgare und zwischen Literaten und spätscholastischer Wissenschaft — die programmatisch-theoretische Grundlage, ja sogar der
402)
Ebda. S. 19.
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irrationale Ausdruck des geistigen Aufbruchs der Nation, die literarische Ideologie der Renaissance als der italienischen „Revolution”. Sprache wird hier erlebt und begriffen als hochstilisierte Form der säkularisierten Gesellschaft, des Lebens in der urbanen Öffentlichkeit. In Frankreich er-füllt der Sprachhumanismus eine ähnliche Funktion bei der Formierung der klassischen Epoche der Hof- und Salonkultur, nachdem er sich im Geiste des „natürlichen Systems” der Barockmetaphysik nominalistisch-rationalistischer, d. h. westeuropäischer Provenienz umgestaltet hat; er wird durch diese Umformung freilich aus einem Sprachtraditionalismus mit potentieller Geschichtsmetaphysik zu einem Klassizismus des Natürlich-Richtigen in der Nähe der voraussetzungslosen „scientia generalis” und „mathesis universalis” des Descartes, dergestalt, daß der italienische Humanismus gerade in der Antithese zu diesem französischen Geist seine implizite Geschichts- und Sprachmetaphysik in Vicos Grundlegung der Geisteswissenschaften endlich ausfalten kann. — In Deutschland dagegen hat der Sprachhumanismus, von dem frühen Petrarcismus der Prager Kanzlei über den Übersetzer- und Grammatikerhumanismus der Reformationszeit, Opitz, Schottel und Leibniz bis zu Gottsched, zwar eine stimulierende, vor allem eine notwendige disziplinierende und regulierende Vorbereitungsarbeit geleistet, nicht aber den eigentlichen, schöpferischen Durchbruch des Geistes herbeigeführt. Dieser lag mit seinem Zentrum auch in sprachlich-literarischer Hinsicht immer außerhalb des formalen Humanismus, so in der Reformation, in Mystik, Naturphilosophie und Pietismus, so auch noch in der „Deutschen Bewegung” von 1750-1832, durch welche überhaupt erst eine der italienischen Renaissance und dem französischen 17. Jahrhundert vergleichbare deutsche Epoche der literarischen Sprachgestaltung und gesellschaftlichen Sprachkultur zustande kam. Dem entspricht es, daß die deutsche humanistische Sprachprogrammatik niemals so ausschließlich wie in den romanischen Ländern die theoretische Auseinandersetzung des deutschen Geistes mit dem Phänomen der Sprache bestimmt hat. Von Beginn der Neuzeit an zeigt sich eine eigenständige Sprachspekulation religiösmystischer und bald auch naturphilosophischer Prägung sozusagen am Rande und im Hintergrund der offiziellen Sprachlehre der humanistischen Gelehrten, so etwa bei Reuchlin, Peter Schade (Mosellanus), Ickelsamer und Agrippa von Nettesheim403). Und nachdem Opitz in seinem „Aristarch” (1617) und dem „Buch von der deutschen Poeterey” (1624) unter dem Einfluß von Du Bellays „Deffence” und Ronsards „Abrégé de l'art poétique français” die der
403) vgl. hierzu P. Hankamer: Die Sprache, ihr Begriff und ihre Deutung im XVI. und XVII. Jhdt., Bonn 1927, sowie A. Daube: Der Aufstieg der Muttersprache im deutschen Denken des 15. und 16. Jahrhunderts, Frkft. a. M. 1940, S. 30 ff.
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Pléiade entsprechende Phase des „umanesimo volgare” für Deutschland proklamiert hatte, kommt in den deutschen Sprachgesellschaften und vor allem in der grammatischen Enzyklopädie Justus Georg Schottels („Teutsehe Sprachkunst" von 1614 und „Ausführliche Arbeit von der teutschen Haubtsprache” von 1663) bereits wieder ein Sprachbegriff zum Ausdruck, der nicht nur (oder sogar nicht wesentlich) humanistisch bestimmt ist. Was bei den Grammatikern der Reformationszeit nur am Rande, in Gestalt laut- oder schriftsymbolischer Kuriositäten auftrat, der alte jüdisch-patristische Motivkreis der adamitischen Ursprache, schon einmal bei Nikolaus von Cues im transzendentalen Begriff des „nomen naturale” aus dem Geiste der christlichen Logosmystik erneuert und unter kritischer Abwägung des empirischen Rechtes der aristotelisch-nominalistischen „impositio nominum ad placitum” mit der platonisch-neuplatonischen c¼pbf-Theorie der Sprache sowie der Metapher vom „Buch der Natur” zusammengedacht404), — dieser ganze Ideenkreis hat, verstärkt durch Einflüsse der Kabbala und durch Paracelsus' „Signaturenlehre”, zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch einmal eine repräsentative philosophische Synthese bei Jakob Böhme gefunden. Sie steht hinter der Konzeption der „uralten teutschen Haupt- und Heldensprache”, die Schottels Werke mit einem neuartigen Geist erfüllt. Im engen Zusammenhang hiermit muß die Auseinandersetzung mit dem inoffiziellen kirchlichen Dogma der „drei heiligen Sprachen” gesehen werden, ein Thema, das zwar auch humanistisch vorbelastet ist, seine charakteristische Entfaltung aber im Bereich der Sprachtheologie, etwa in den Fragen der Liturgie und Bibelübersetzung in die Volkssprachen, speziell in der Exegese der aufeinander verweisenden Geschichten von der babylonischen Sprachverwirrung und der Pfingstgeistausgießung gefunden hat. Es ergibt sich so aus der Eigenart der deutschen Geistesgeschichte von vorneherein eine völlig andersartige Begrenzung der humanistischen Sprachidee als im italienischen und zumal im französischen Bereich. Während wir bei Pico della Mirandola, bei Speroni und schließlich bei Du Bellay den Sprachhumanismus als mehr oder weniger irrationale Ideologie eines historisch-kulturanthropologischen Sprachkults von dem simplifikatorischen Rationalismus des nominalistisch fundierten Zeichenbegriffs der Sprache abzuheben hatten, erscheint in Deutschland umgekehrt der Sprachhumanismus der Grammatiker und gelehrten Reformatoren der Literatur, zumal seitdem er sein Vorbild im französischen Klassizismus sieht (Opitz, Gottsched), geradezu als rationalistische, dem geheimnisvollen geschichtlichen Eigenleben der deutschen Sprache gegenüber nur von außen regulierende und simplifizierende Tendenz, gegen die bis zu Klopstock und Hamann hin immer wieder eine religiös-mystische Unterströmung sich zur Wehr setzt.
404)
Vgl. vom Verf.: Die Idee der Sprache bei Nik. v. Cues, a. a. O.
253
Es ist dieser relativ äußerliche, schulmäßig pedantische und philosophisch unlebendige, nichtsdestoweniger aber zum historischen Gesamtbild gehörige Aspekt des europäischen Sprachhumanismus, den wir im folgenden zunächst zu belegen versuchen. Wir stützen uns dabei in erster Linie auf die Untersuchung Paul Hankamers („Die Sprache, ihr Begriff und ihre Deutung im XVI. und XVII. Jahrhundert", Bonn 1927), in der die zweipolige Situation des deutschen Sprachdenkens zu Beginn der Neuzeit — humanistische Gelehrsamkeit im Vordergrund, mystischtheologische Ergriffenheit im Hintergrund — zuerst analysiert und bei der Gelegenheit die für die Barockspekulation zentrale Idee der „Natursprache” entdeckt wurde. Gleichsam zwischen der Sprachmystik des Hintergrundes und der Gelehrsamkeit des Vordergrundes zeigt sich aber für eine Analyse der Reformationszeit noch ein weiterer Aspekt des Sprachhumanismus. P. Hankamer hat das Sprachverhältnis des deutschen Humanismus als ein solches von „Grammatikern” und „Übersetzern” charakterisiert und von dem ursprünglich-schöpferischen des „Dichters” scharf abgehoben. Wir hätten also im deutschen Humanismus gerade mit jenem mittelbaren, dem eigenen Sprachgeist noch fremd gegenüberstehenden Sprachwissen der Gelehrten zu tun, das Du Bellay in seiner „Deffence” als unzureichend kritisiert und das die Dichter der Pléiade — wenn nicht schon vor ihnen Marot und andere — für Frankreich bereits zugunsten eines literarischen Klassizismus aus dem Geist der Muttersprache überwinden. In der Tat ist die neuhochdeutsche Sprach- und Geistesgeschichte im Vergleich zur Romania dadurch gekennzeichnet, daß auf Jahrhunderte hinaus — radikal gesprochen: bis zum Aufbruch der deutschen Dichtung im „Sturm und Drang” — das Sprachprotektorat einer aus fremder Sprachwelt übersetzenden und an ihrem Maßstab regelnden Gelehrtenschicht in der offiziellen Literatur vorherrscht. Das Stichwort „übersetzen”, das sowohl historisch wie auch systematischphilosophisch den Schlüssel zu dem Sprachbegriff des deutschen Humanismus zu enthalten scheint, verweist jedoch auf ein Sonderphänomen der deutschen Geistesgeschichte und des deutschen Sprachhumanismus, in welchem dieser seine großartige und sprachphilosophisch tief bedeutsame Seite hat und dem französischen, ja sogar dem ursprünglicheren italienischen Sprachhumanismus sozusagen das Gegengewicht hält. Gemeint ist die Sprachproblematik der Reformation, das Sprachverhältnis Martin Luthers, der ja dem Humanismus das „Wortprinzip” und damit in gewisser Hinsicht das Kriterium seiner Glaubensbegründung entnahm. In M. Luther gipfelt das „Übersetzertum” des deutschen Humanismus. Er wandte die humanistische Philologie auf die Grundlagen der christlichen Glaubensüberlieferung an und leistete durch seine Bibelübersetzung für die instauratio der deutschen Sprache ähnliches wie in Italien
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und Frankreich die humanistischen Dichter. Was bedeutet dies aber für unsere sprachphilosophische Fragestellung? Das „Wort” Gottes, das Luther als alleinigen Vermittler zwischen Gott und Mensch, als irdischen Leib der Offenbarung anerkennt, auf dessen Auslegung er das Amt des Priesters und der Kirche nahezu beschränkt — nachdem alle außersprachlichen kultisch-sakramentalen Vermittlungen des Glaubens so gut wie beseitigt sind405) —, dieses Wort ist nach dem Johannesevangelium identisch mit dem zeitlosen Logos als dem Sohn Gottes, und dieser Logos wieder muß nach mystischer Lehre als „verbum internum” (Augustinus) in der Seele des Gläubigen wiedergeboren werden, soll der Mensch der Belehrung durch das inspirierte „äußere Wort” der Schrift zugänglich sein (vgl. Augustinus: „De magistro” und Nie. Cusanus: „De filiatione Dei"). Eben diese Problematik der Logosgeburt in der Seele des Gläubigen, die Frage nach dem Verhältnis von „außen” und „innen”, „Geist” und „Buchstaben”, „Buch des Herzens” und „Buch des geschriebenen Wortes” (wozu bald noch das „Buch der Natur” als dritte Instanz hinzutritt) stellt aber den Ausgangspunkt und Kerngehalt jener eigenständigen Sprachspekulation dar, die wir als spezifisch deutsche Tradition der Logosmystik von Eckehart über die Schwarmgeister der Reformation bis zu Jakob Böhme im Hintergrund der humanistischen Sprachtheorie antreffen. Indem Luther als Theologe die Interpretation des göttlichen Wortes in den Mittelpunkt der religiösen Zeitinteressen rückt, kommt es — in Deutschland — zur Begegnung und Auseinandersetzung zwischen Humanismus und Logosmystik und damit zu einer zwar einseitigen, aber durch die brennende Not der Glaubensfrage um so tieferen Versenkung in gewisse letzte Fragen der Sprache und des auf Sprache bezogenen hermeneutischen Verstehens: Wir kennen seit W. Dilthey und K. Holl die Bedeutung der Lutherschen Reformation für die Entstehung einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik406) Man kann wohl sagen, daß erst durch Luthers Bibelauslegung, die — darin humanistischer als die Humanisten — jede philosophisch freie allegorische Interpretation (wie sie noch Erasmus übte) zugunsten des historisch gemeinten, aus dem Gesamtzusammenhang des Textes philologisch zu ergänzenden Wortsinnes verbannte, eine strenge
405 ) Richard Alewyn spricht in seiner Rezension des Hankamerschen Buches von der „ungeheuren Bedeutung” der Lutherischen Konzentration aller Vermittlungen des Absoluten im Wort; er nennt sie „eine Tat, die den Kulturcharakter der protestantischen und der katholischen Landschaften so schied, daß man mit weitgehendem Recht von einer protestantischen Wortkultur und einer katholischen Bildkultur sprechen konnte” (Dtsche. Lit. Ztg., 6. H. 1928, Sp. 269). 406 ) Vgl. W. Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik (Ges. Schriften Bd. V, S. 317 ff.) sowie K. Holl: Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst (Ges. Aufs. zur Kirchengesch. I, 6. Aufl. 1932).
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philologische Hermeneutik möglich wurde. Die Rhetorik, welche, als Kunst der eleganten Variation der Klassiker nach Form und Inhalt, die Königin des italienischen Sprachhumanismus darstellte, wurde durch Melanchthon und Flacius zur ancilla der Hermeneutik gemacht, ein Vorgang, der für den deutschen Humanismus und noch für die von protestantischen Pastoren und Pastorensöhnen grundgelegten historischen Geisteswissenschaften Deutschlands maßgebende Bedeutung gewann. (Man denke nur an Schleiermachers umfassende Hermeneutik, die den Durchgang der humanistischen Philologie durch die protestantische Theologie sozusagen wieder säkularisiert und für die aufblühenden Geisteswissenschaften: für Boeckh, Droysen, Dilthey zur Verfügung stellt.) Dieser protestantischen Konzentration auf das „Verstehen” des Bibelwortes entsprach nun, wenn auch mehr unausdrücklich, bei Luther selbst eine ähnliche Durcharbeitung auch des aktiven Sprachverhältnisses, das sich in der Interpretation bewähren muß. Wenn in Deutschland die Reformation an die Stelle der literarischen Entfaltung des Sprachhumanismus in den romanischen Ländern tritt, ja vielleicht eine ähnliche Blüte der Renaissanceliteratur sogar verhindert hat, wie gesagt worden ist, so vertieft sie andererseits — im Zusammenwirken mit der schon älteren Logosmystik — so sehr das religiöse Verhältnis zur Muttersprache, daß eben damit auch der Keim für eine ursprünglichere Auffassung von Sprache überhaupt gelegt wurde, die sich später in einem besonderen Begriff des Dichterischen und in einer großartigen Sprachphilosophie als ein Vorsprung zumindest des Denkens erweisen sollte. Uns hat im gegenwärtigen Zusammenhang nur die Bedeutung Luthers für den deutschen Sprachhumanismus zu beschäftigen; indessen gilt, was oben schon angedeutet wurde: Luthers Sprachproblematik hat ihren Ort zwischen der humanistischen Gelehrsamkeit im Vordergrunde und der Mystik im Hintergrund, vielfältig ist sein Thema mit beiden Seiten verzahnt. Im Kampf mit der Entwertung des historischen Buchstabens der Schrift durch die Schwärmer, die sich dabei auf das „innere Wort” der geistigen Erleuchtung berufen, stützt sich Luther durchaus im Sinne des Humanismus auf das in kanonischen Dokumenten vorliegende „äußere Wort”. Dieses historisch in den „heiligen Sprachen”, die Luther gegen die radikalen Neuerer des Gottesdienstes in Schutz nimmt, ausgeformte und in der Schrift überlieferte Wort trägt die religiöse Weihe — so wie bei Lorenzo Valla die lateinische Sprache als Gefäß der klassischen antiken Literatur „magnum numen” und „magnum sacramentum” war (s. oben S. 183 ff.). Die deutsche Sprache kann zwar an dieser religiösen Weihe teilnehmen, aber nur sofern sie in strenger, wortgetreuer philologischer Übersetzungsarbeit ebenfalls zum konkreten Gefäß der biblischen Offenbarung wird. Und nicht nur das Sprachverstehen, auch der eigene Sprachakt, so unvergleichlich ursprünglich er ist, wird von Luther durchaus nur
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im humanistischen Sinne als ehrfürchtige Entsprechung zum feststehenden Schriftwort, also im höchsten Sinne als „Übersetzung” gewertet und keineswegs als schöpferische Leistung, Ausdruck eines noch Ungesagten aus eigener göttlicher Inspiration, wie sie wiederum die Schwärmer für sich in Anspruch nahmen. Und trotzdem überschreitet Luthers Sprachverhältnis de facto den humanistischen Sprachbegriff schon dadurch, daß er die Kategorien des Humanismus aus der gesellschaftlichen und ästhetisch-literarischen Sphäre ins Religiöse umwendet, daß er der bloß rhetorischen Feier der Sprache als „magnum sacramentum” wieder einen existenziellen Glaubensgehalt gibt. Erschließung eines religiösen Gehalts durch den selbst Gläubigen ist auch sprachlich etwas anderes als die artistische Variation eines kanonischen Bildungsgutes. Wenn nicht im Formalen, so doch im Inhaltlichen hat Luther auch theoretisch den humanistischen Bildungsbegriff der Sprachkultur überschritten, wenn er die Sprache — wie es ausdrücklich geschieht — als „Mittel” und „Leib” der Offenbarung versteht. Inhalt und Form der Sprache aber sind ursprünglich als Gehalt und Gestalt miteinander wesenseinig, eins konstituiert sich im anderen, und selbst die hermeneutische Heteronomie der Hingabe an das feststehende Schriftwort kann der Autonomie der schöpferischen Sprachgestaltung nicht entraten, soll der Inhalt der überlieferten Botschaft als Glaubensgehalt neu aufgehen. Dies letzte zwar hat Luther wohl für die Propheten und Apostel, nicht aber für sich selbst als Interpreten der Schrift anerkannt, aber hierin gerade liegt der erregende und schon die Zeitgenossen beirrende Widerspruch im Werk des Reformators, dessen sprachliche Seite R. Alewyn treffend formuliert hat: ...theoretisch erkennt er eine neue inspirative Offenbarung nicht an, das Wort ist einmalige und unverrückbare Satzung, die nicht gemehrt oder gemindert, sondern nur aus sich interpretiert oder übersetzt werden kann. Praktisch aber entspringt diesem selbstlosen Dienst am Wort sozusagen wider Willen eine der größten Sprachschöpfungen. Das wird noch klarer, wenn man das genau umgekehrte Verhältnis bei den Schwärmern vergleicht: Hatte Luther der Sprache praktisch neue Weihe verliehen, ohne ihr theoretisch neues Leben zu verstatten, so wird für die Schwärmer aus dem Bewußtsein ihrer Inspiriertheit heraus theoretisch die Sprache Organ ihrer subjektiven Erregung, ohne daß es praktisch zu einer neuen Sprachschöpfung über Luther hinaus käme."407)
In unserer Untersuchung der europäischen Entfaltung des Sprachhumanismus erscheint mit Luther erneut eine äußerste Wirkungszone seines Sprachbegriffs und zugleich dessen Begrenzung in fremdem Medium, so wie sie in anderer Form bei den Italienern und dem Franzosen Joachim Du Bellay sich gezeigt hatte.
407)
R. Alewyn, a. a. O.
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War bei Speronis Pomponazzi wie auch im Brief Pico della Mirandolas an Ermolao Barbaro und wiederum in den Grenzziehungen Galileis die Auseinandersetzung der humanistischen Sprachideologie mit dem nominalistischen Zeichenbegriff der Sprache, wie er von der scholastischen und nachscholastischen (Natur-) Wissenschaft vertreten wurde, zur Sprache gekommen, so tritt uns bei Luther das Eigengewicht der religiösen Offenbarungsproblematik als geschichtliche und systematische Grenze des Sprachhumanismus vor Augen. Hatten wir andererseits bei Du Bellay wie zuvor bei Petrarca, Boccaccio und Bembo die muttersprachliche Einverwandlung und Anpassung des neulateinischen Klassizismus an die Bedürfnisse einer nationalen Poesie zu beobachten, so werden wir bei Luther auf jenen höchsten Punkt humanistischer Philologie und insbesondere Übersetzungskunst geführt, wo deren sprachphilosophischer Begriff zugunsten einer Sprachmystik gesprengt wird, aus der geistesgeschichtlich einmal ein tieferer Begriff des Dichterischen entspringen wird. Versuchen wir nun, den Weg des deutschen Übersetzungs-Humanismus von seinen Anfängen bis zu M. Luther näher zu verdeutlichen und in seinen wichtigsten sprachtheoretischen Äußerungen zu belegen. P. Hankamer geht in seiner Darstellung des Sprachbegriffs der frühhumanistischen Grammatiker und Übersetzer von Burdachs Charakteristik der gesamten frühneuhochdeutschen Sprachstufe aus. Deren wichtigste Bestimmungen möchten wir hier zitieren, da sie weit über den deutschen Bereich hinaus gültig sein dürften und in prägnanter Form zusammenfassen, was wir bereits früher als realgeschichtlichen Hintergrund der humanistischen Sprachprogrammatik andeuteten. „Die deutsche Sprache des Mittelalters”, schreibt Burdach, „war eine Sprache des gesprochenen Wortes: der Predigt, der Rezitation oder des Vorlesens. Die mittelhochdeutsche Sprache ist eine Sprache, die dem Ohr verständlich sein will, ihre Syntax ist eine Syntax, deren Gliederung nur gehört klar erscheint. Die Bildung des deutschen Mittelalters ruht vorwiegend auf dem mündlichen Austausch. Die moderne Sprache Deutschlands, die im 14. Jahrhundert entsteht, ist eine Sprache der Schrift, sie ist in und mit dem riesigen Anwachsen der Kulturmacht des schriftlichen Verkehrs in Gelehrsamkeit, Recht, Staat, Geschäftsleben geboren. Ihre Syntax ist eine Syntax des Auges. Und ihr Muster liegt in der Fremde, in romanischen Kulturkreisen von überlegener geistiger und materieller Verfeinerung, dort, wo die gelehrte Behandlung des Rechts, das humanistische Studium der alten Poeten, die neue Eloquenz der literarischschriftlich-fixierten Rede und Epistel, des Prosadialogs, der Prosanovelle und des Prosaromans, der komplizierte Handel und Wirtschaftsverkehr sich durchgesetzt hatte."408) Diese historische Charakteristik gibt den Fingerzeig auch für das Verständnis der Sprachauffassung der deutschen Humanisten. Hankamer macht klar, daß in ihrem theoretischen Bewußtsein die „Sprache” genauso
408)
K. Burdach, a. a. O., S. 201 (vgl. P. Hankamer, a. a. O., S. 4).
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mittelbar, außerlich verfügbar und lehrbar, Gedächtnisbesitz und Objekt formaleleganter Zusammensetzung ist, wie es die Schrift und ihre „Syntax fürs Auge” (zumal im „Satz” des Buchdruckers) im Gegensatz zum unbewußten Sprachdenken und dessen mündlichem „Ausdruck” ist. Dieser Bewußtseinseinstellung entspricht das neue Ideal des wiederentdeckten klassischen Lateins. Es darf nicht mehr wie das mittelalterliche, relativ lebendiges Zeugnis des Ringens einer neuen Volksseele mit der fremden Sprache sein (so etwa wollte noch das eigenartige, mit unverkennbar deutschem Sprachgeist geprägte Latein des Nicolaus von Cues verstanden sein409), sondern ist von einem kritisch-grammatischen Sprachbewußtsein außerhalb des lebendigen Sprachgebrauchs und gegen ihn festgesetzt. „Ein ausgeprägter Formelkreis, dessen Herkunft belegt und durch große Schriftstellernamen gesichert werden kann, schließt sich von aller Willkür, aber auch von aller sprachbildenden Kraft ab. Er allein ist richtig, und Sprache ist ein Wissen, das in der antiken Literatur erlernt werden muß."410)
So beschreibt Hankamer das neue Verhältnis des Gelehrten zum Lateinischen, und es gilt zu berücksichtigen, daß diese und die folgenden scharfen Charakterisierungen auf den deutschen Typus des humanistischen Gelehrten gemünzt sind, dessen sprachlicher Ausgangspunkt natürlich sehr weit von dem Ciceroerlebnis Pe tr ar c as entfernt liegt. Hierdurch erfahren alle Kategorien des humanistischen Sprachbegriffs eine nicht unerhebliche Umdeutung in Richtung auf das moderne, im Nominalismus formulierte Sprachverhältnis des germanisch bestimmten Abendländers zum fremden Latein. Was im Italienischen weder „Mittelbarkeit” noch „Unmittelbarkeit” im Sinne des deutschen aus der Logosmystik säkularisierten Ausdrucksbegriffs der Sprache bedeutete, sondern vielleicht eher Getragensein von der intersubjektiven Gemeinschaftsinstitution der
409) Über das „deutsche” Latein des Cusaners sagt E. Cassirer (Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Lpz. u. Berlin 1927, S. 20), es sei „auf der einen Seite dunkel, rätselhaft und schwerfällig ... , während es auf der anderen Seite einen Reichtum von eigentümlich neuartigen Wendungen in sich schließt, während er oft mit einem Wort, mit einem einzigen Terminus (man denke an ,de non aliud' oder ,de possest') die ganze spekulative Tiefe der großen Grundprobleme, die ihn bewegten, blitzartig erhellt.” N. von Cues hat in der Vorrede zu „de concordantia catholica” (Op. fol. 683 ff.) selbst das Verhältnis der Deutschen zum humanistischen Latein folgendermaßen beleuchtet: „Verum et eloquio et stilo ac forma litterarum antiqua videmus omnes delectari, maxime quidem Italos, qui non satiatuntur disertissimo (ut natura Latini sunt) huius generis latiali eloquio, sed primorum vestigia repetentes Graecis impendunt. Nos vero Alemanni, etsi non longe aliis ingenio minores ex discrepanti stellarum situ essemus effecti: tarnen in ipso suavissimo eloquii usu, aliis plerumque non nostro cedimus vitio, cum non nisi labore maximo, tamquam resistenti naturae vim facientes Latinum recte fari valeamus.” 410) P. Hankamer, a. a. O. S. 7.
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rhetorisch geprägten Rede, das wird bei dem deutschen Humanisten zur Aufspaltung des gelehrten Sprachbewußtseins in ein unbewußtes Denken in der Muttersprache und ein durchaus „mittelbares” Handhaben der fertigen Sprachteile des Lateinischen in der schriftsprachlichen Ebene der grammatischen Richtigkeit. Es dürfte dem ganz anderen Spannungsgrad der germanischen Sprachen zum antiken Latein, aber auch nur ihm, ent-sprechen, wenn Hankamer schroff für den humanistischen Sprachbegriff feststellt: „Als lebendig ist (allein) das Denken angesetzt, das sich der klassischen Sprache als vorbestimmter Formeln bedient."411)
Und es bezeichnet von vorneherein einen ideologischen Dualismus, wie er nur in Deutschland aus dem Unterschied zwischen dem schul-mäßigen Sprach„Wissen” und dem in der Logosmystik zu Wort kommenden unmittelbaren Spracherlebnis entstehen konnte, wenn Hankamer, unverkennbar selbst durch die mystisch-romantische Tradition bestimmt, von dem humanistischen Sprachverhalten sagt: „Dies reproduzierende Sprechen wird zu einer reinen Angelegenheit des wissenschaftlich gebildeten Geschmacks, ist nicht ein unmittelbares Denken, geschweige ein Lautwerden tieferer, dumpferer Gründe menschlicher Seele, kein Gestalten noch ungeformter Lebenswallungen."412)
Ein rhetorisches Ideal, das in den romanischen Ländern kein dauerndes Hindernis für das Aufblühen einer nationalen Poesie war, prägt sich im deutschen Humanismus auf lange Zeit hinaus als hausbackener, bürgerlich moralischer Prosaismus aus. Und so ist die Feststellung für Deutschland wichtig, daß „der Begriff der Gemeinsprache, wie er in den deutschen Grammatiken zu Beginn des 16. Jahrhunderts erörtert wird, nicht auf einer großen lebendignahen Dichtung fußt und erst indirekt über das Lehrbuch grammatisch-orthographischen oder rhetorischen Inhalts dahin geleitet wird"413). Hierfür seien einige Belege angeführt. K. Burdach schreibt: „Für Niclas v. Wyle war die ,latinische rethorick ain zaigerin alles rechten und lobsamen gedichts (Schriftstücks) aller sprachen und gezüngen'. . . Er war mit anderen Zeitgenossen der Ansicht, ,daz ain yetklich tütsch, daz usz gutem zierlichen und wol gesatztem latine gezogen und recht und wol getransferyeret wer, ouch gut zierlich tütsche und lobes wirdig haissen und sin müste, und nit wol verbessert werden möcht' ... Er ist ängstlich bestrebt, ,die lateinische Subtilität nicht durch grobe Teutschung' zu verlöschen, und schließt sich in seiner Syntax sklavisch ans Lateinische an. Das Nämliche haben Heinrich Geßler und Friedrich Biedrer in ihren Rhetoriken und Formularbüchern getan und dabei ein wahrhaft haarsträubendes Deutsch zustande gebracht."414)
411)
Ebda. S. 6. Ebda. S. 7. 413) Ebda. S. 4. 414) K. Burdach: Vorspiel, a. a. O. S. 13. 412)
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P. Hankamer charakterisiert die hier vorwaltende Vorstellung von. Sprache wie folgt: Man „nimmt ... an, daß Sprechen darin besteht, allgültige, d. h. lateinische grammatische Beziehungen zwischen Wörtern als Begriffs-Zeichen zu schaffen Das Wort und der Sinn sind wesentlich der Inbegriff aller toten Sprachen, und ihre grammatisch-mechanische Stillehre gipfelt in Wörtern und Wendungen aus denen man durch Zusammenstückung die ,Oratz` oder den ,Sinn` zu bilden glaubt und tatsächlich bildet. Sprechen ist .hier nicht Satzen, sondern logische und elegante Verknüpfung von Wörtern und Formeln ... " 415).
Bemerkenswert an dieser Charakteristik ist, daß sie den humanistischen Sprachbegriff wieder stark an den der mittelalterlichen Sprachlogik angenähert zeigt. Was hier überwiegt, ist nicht die geschichtlich-kulturanthropologisch verstandene Entdeckung der Eigenart und Maßgeblichkeit des Lateins durch die Italiener des Trecento (vgl. oben S. 161 ff.), die sehr bald analogisch auf das Volgare übertragen werden konnte, sondern immer noch der scholastische Begriff der im äternistischlogischen Sinn „allgültigen” grammatischen Regeln der Zeichenverknüpfung. Die Erkenntnis der Geschichtlichkeit und Individualität einer konkreten Sprache, die im italienischen Humanismus schon seit Dante so weitgehend ausgebildet war, liegt hier noch in weiter Ferne. Bezeichnet Niclas von Wyle, der „scriptor et interpres latinae linguae elegantissimus”, wie ihn Jakob Wimpfeling nennt, im deutschen Übersetzerhumanismus die extreme Form der Lateinnachahmung als „Wort-für-Wort-Übersetzung”, so bleibt nach Hankamer auch deren zeitgenössische Antithese, die „Sinn-für-SinnÜbertragung”, ihrem Selbstverständnis zufolge prinzipiell im Rahmen des bisher skizzierten Sprachbegriffs. Auch hier kommt es nicht zur Erkenntnis des einer Sprache gemäßen Sprechaktes in dem Sinne, daß ein mehr oder weniger unbewußtes Sinnganzes gemäß bestimmten Bauplänen sich artikuliert, sondern es wird jetzt eine dem lateinischen Satzsinn, der „Sentenz”, entsprechende fertige „Redensart” im Deutschen gesucht. Es ist die von allen Sprachen durchzumachende volksmäßige Frühstufe des Redens in „Sprichwörtern” und „Redensarten”, die bei den Sinnübersetzern des deutschen Humansimus wie A l b r e c h t v o n E y b und S t e i n h ö v e l das innere Vorstellungsmodell der Sprache abgibt. Noch bei T u r m a i r (Aventin) , der schon der zweiten Generation der humanistischen Übersetzer angehört und weiß, daß „ein jetliche sprach hat ihr aigen brauch und besundern aigenschaft"416), sieht Hankamer diese Leitvorstellung einer Sprache als eines Schatzes von fertigen Redensarten bezeugt, wenn der Autor der „Bayrischen Chronik” (begonnen 1526) schreibt, seine Übersetzung bediene sich „des alten, natürlichen, jedermann verständigen teutsches, so
415) 415)
Hankamer, a. a. O. S. 16. J. Turmair: S. W. IV, München 1883, S. 11 (Hankamer, S. 18).
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im gemainen brauch ist, in den alten sprüchen, wolgesetzten reimen und sprichwörtern gefunden wird"417). Was der humanistische Sprachbegriff hier für das Selbstverständnis der deutschen Sprache leistet, ist eine bildungsmäßige Bewußtmachung der „copia verborum”, d. h. hier: der fertigen Redensarten der Volkssprache im Sinne von wißbaren und verfügbaren Vokabeln. Ihre Verwendung galt es durch gelehrte Sammlung und virtuose Kombination derart hochzustilisieren, daß den Figuren und Topoi der lateinischen Rhetorik ein Analogon zur Seite gestellt werden konnte gemäß dem lateinischen Stilideal des Erasmus, der in der Einleitung seiner „Collectanea adagiorum” ausdrücklich lehrt: „Jam vero quis nescit praecipuas o r a t i o n i s tum opes tum delicias in se n t e n t i i s m e taphoris parabolis paradigmatis exemplis similitudinibus imaginibus atque id genus s c h e m a t i s sitas esse, quae quum semper vehementer honestant dictionem tum incredibilem adferunt o r n a t u m et g r a t i a m quoties j am communi consensu recepta in vulgi sermonem abierunt."418)
Die Schwierigkeit eines deutschen „umanesimo volgare” lag wohl hauptsächlich darin, daß infolge des weit größeren Abstandes der „inneren Form” der deutschen zur lateinischen Sprache jener Übergang zum eigenen Sprachgeist mit Hilfe humanistischer Kategorien, wie er den romanischen Völkern so verhältnismäßig leicht gelang, hier zunächst kaum als Problem begriffen wurde. (Als dies Problem später, um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert und noch radikaler in der inhaltlichen Sprachbetrachtung der Gegenwart, in seiner Tiefe erfaßt wurde, da geschah dies nicht ohne eine weitgehende Infragestellung aller bis in den Hellenismus zurückreichenden Kategorien und Schematismen des abendländischen Sprachhumanismus, woraus eben — hauptsächlich in Deutschland — die moderne Sprachwissenschaft erwachsen ist.) Im deutschen Humanismus des 16. Jahrhunderts und noch weit darüber hinaus blieb das theoretische Verhältnis zur Muttersprache weitgehend bestimmt durch die mittelalterliche Kluft zwischen dem universalen Latein als dem inhaltlich und formal maßgebenden Modell alles sprachtheoretischen Denkens und dem hinsichtlich seiner sprachlichen Form fast unbewußt bleibenden Denken in der Muttersprache. Freilich trat diese Kluft jetzt in eben dem Maße stärker ins Bewußtsein, als das Latein nicht mehr lebendig und gewissermaßen für germanisches Sprachdenken offen, sondern durch die kritische Philologie der Humanisten als künstliche imitatio des überlieferten Formelschatzes der klassischen Autoren fixiert wurde. Damit kommt es aber noch keines-
417) 418)
Ebda. S. 6. Erasmus v. Rotterdam: Collectanea adagiorum, 1509, Einleitung (Hankamer, S. 16).
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wegs automatisch zur Bewußtmachung des muttersprachlichen Denkverfahrens. Viel näher lag dem modernen Europäer, zumal dem Gelehrten, jene Einteilung, die das weitgehend unbewußte und vor allem niemals in seiner Eigenart gedeutete lebendige Denksprechen in der Muttersprache schlechthin als das sprachfreie Denken ansetzt und die Sprachauffassung weiterhin am Lateinischen orientiert. Eben diese naheliegende Einteilung war ja, wie wir früher bereits vermuteten (vgl. oben Kap. II), der geschichtliche Ausgangspunkt in der Seele des Abendländers für den philosophischen Durchbruch des Nominalismus, der die Sprache als sekundäres Mittel im Dienste des intuitiven Erkennens und relational verknüpfenden Denkens der Dinge verstehen will. Sogar in den romanischen Ländern hat diese Einteilung, wie wir sahen, die sprachkritischen Tendenzen der empirisch-technisch interessierten Kreise beherrscht, wenn sie sich auch auf dem literarischen Gebiet niemals rein durchsetzen konnte. Wieviel mehr mußte sie dem deutschen Sprachbewußtsein zu Beginn der Neuzeit sich aufdrängen! In der Tat findet sich diese allgemein neuzeitliche, am stärksten wohl im englischen Sprachbereich wirksame, reflexive Abspaltung des ursprünglichen Welterlebens von dem Akt der sprachlichen Zeichengebung auch in der Frühgeschichte des neuhochdeutschen Sprachbewußtseins, etwa in der charakteristischen religiösen Form eines Rückzuges von der öffentlich anerkannten lateinischen Büchersprache (vom „Buchstaben”) auf die sprachentrückte Innerlichkeit des eigensten Bezugs zu Gott. Dennoch kann das im Nominalismus formulierte Grundverhältnis des modernen In-der-Welt-seins zur Sprache für den deutschen Bereich keine uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchen. Gerade aus der religiösen Innerlichkeit des Subjektiven, die von den Schwärmern fast bis zum Sprachnihilismus öder ekstatisch zur Glossolalie gesteigert wurde, erwächst dem Nominalismus schon früh der moderne Gegenspieler in der mystischen Würdigung der Muttersprache: In der deutschen Mystik und den sie fortsetzenden Unterströmungen der Reformation spielt von vorneherein neben und mit der reinen Innerlichkeit auch ein Widerspruch des muttersprachlichen „Wortens” gegen die dogmatisch fixierte lateinische Weltauslegung eine bedeutsame Rolle, ein Sich-ausdrücken-wollen „aus des Herzens Abgrund” (Thomas Münzer, Sebastian Franck), das von der Logosinkarnation her die eigene Rede in der Muttersprache zu verstehen sucht. Dieser spezifisch deutsche Ansatz des neuzeitlichen Sprachdenkens, der freilich lange Zeit auf den engsten religiösen Bereich konzentriert bleibt, kommt nun, wie oben schon angedeutet, durch die Übersetzungs- und Verstehensproblematik der Reformation in Berührung mit dem humanistischen Sprachbegriff der Gelehrten. Wir können uns den Übergang von der Sprachproblematik der Humanisten zu derjenigen Luthers vielleicht am besten an einer von Hankamer
263
hervorgehobenen Äußerung des vorreformatorischen Humanisten Rudolf A g r i c o l a klarmachen. Dieser schreibt in seinem Brief „De formando studio” (1484): „Si quid scribere voles, optimum erit id ipsum quam plenissime rectissimeque patrio sermone intra animum tuum formare, deinde Latinis pure proprieque id significantibus (verbis) explicare; sic fiet, ut omnia aperte et quam maxime plene dicantur; omnes enim si quid in dicendo est vitii, facillime in eo perspicimus sermone, ad quem sumus nati."419)
In dieser pädagogischen Überlegung findet die Spannungssituation des deutschen Humanisten und seiner deutschen Schüler zwischen dem Lateinischen und der Muttersprache klarsten Ausdruck: Die Tatsache eines muttersprachlichen Denk-sprechens ist mit bemerkenswertem Scharfsinn erkannt und ihr auch schon der Primat der entscheidenden Weltorientierung zugebilligt. Aber daraus wird noch keine positive Schlußfolgerung zugunsten einer „vulgaris eloquentia” gezogen, erst die „Über-setzung” des bereits richtig und gehaltvoll Gedachten in das Medium des Lateinischen gewährleistet hier die „explicatio” in „rein und angemessen bezeichnenden Worten”. (Rudolf Agricola fordert freilich auch schon die Verdeutschung der römischen Geschichtsschreiber, „damit das Volk sie kennenlerne und damit man sich in der Muttersprache übe und diese Sprache vervollkommene"420). Bei M . Luther nun stellt sich mit einem Schlag das humanistische Übersetzungsproblem in seiner denkbar kritischsten Zuspitzung. Die sprachpädagogischen Bemühungen eines nationalen Humanismus, der die deutsche Sprache am Vorbild des Lateinischen in Form bringen will, sind in der Bibelübersetzung und in den deutschsprachigen religiösen Schriften Luthers gewissermaßen schon als erfolgreich vorausgesetzt oder aber — unter Zuhilfenahme von sprachlichen Kräften, die kaum noch im Verständnisbereich des Humanismus lagen — übersprungen. Wie die Ermöglichung von Luthers Sprachtat sprachtheologisch etwa gedeutet werden konnte, zeigt die 1578 erschienene „Grammatica Germanicae linguae (ex bibliis Lutheri Germanicis et aliis eius libris collecta)”. Ihr Verfasser J o h a n n C l a y erklärt darin: „In (Luthers) Büchern erkenne ich nicht sosehr Werke eines Menschen als vielmehr des heiligen Geistes, der durch einen Menschen gesprochen hat (non tam hominis, quam Spiritus Sancti per hominem locuti), und ich bekenne mich frei zu der Überzeugung, daß der heilige Geist, der durch Moses und die übrigen Propheten rein hebräisch, durch die Aposteln griechisch geredet hat, ebensogut deutsch geredet hat durch sein erwähltes Werkzeug (organon) Luther. Denn, wenn dies nicht so wäre, hätte es nicht geschehen können, daß ein Mensch so rein (pure), so richtig (proprie) und so elegant (eleganter) deutsch sprach ohne jede (äußere) Anleitung (ductu) und Stütze (adminiculo), zumal ja
419) 420)
Hankamer, a . a. O. S. 8. Ebda. S. 19.
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unsere deutsche Sprache stets für äußerst schwierig und durch keinerlei grammatische Regeln verständlich gehalten wurde."421)
In dieser Deutung von Luthers Sprachtat haben wir das deutsche, mystischtheologische Gegenstück zu der platonischen Lehre von der göttlichen Inspiration des Dichters, wie sie von den italienischen Humanisten in ausdrücklicher, wenn auch zaghafter Gegenüberstellung zur Inspiration der Propheten erneuert worden war (vgl. oben S. 175 ff.). Und diesmal ist nicht mehr die Rede von einem bewußten Verbergen der Wahrheit des Gehalts im „Schleier” rhetorisch wohlgesetzter Worte wie in der traditionellen humanistischen Topik, sondern gerade die Gestaltung einer grammatisch und rhetorisch noch nicht formierten Sprache wird durch die spontane Sicherheit des inspirierten Sprechers erklärt. Unausdrücklich zwar, doch unverkennbar, bereitet sich hier die Einsicht in die Gleichursprünglichkeit von Gehalt und Gestalt im dichterischen Sprachakt vor, eine Einsicht, die freilich erst ausdrücklich anerkannt und philosophisch formuliert werden kann, als aus dem inspirierten Propheten und Apostel der dichterische Sprach-,,Schöpfer" geworden ist. Diese Säkularisationsstufe ist wiederum in der italienischen Renaissance, so bei Ficino, Pico, Leonardo und G. Bruno, für das Menschenbild überhaupt früher erreicht als in Deutschland, wenn man davon absieht, daß schon N. v. Cues durch eine dynamische Interpretation der christlichen „imago dei"-Theologie den „homo creator” bzw. „homo alter deus” proklamiert422) und vor diesem Eckehart mit der Kühnheit des Mystikers erklärt hatte: „Alles, was der göttlichen Natur eigen ist, das ist auch ganz dem gerechten und göttlichen Menschen eigen. Darum wirkt solch ein Mensch auch alles, was Gott wirkt: Er hat zusammen mit Gott Himmel und Erde geschaffen; er ist Z e u g e r d e s e w i g e n W o r t e s (sic!) und Gott wüßte ohne einen solchen Menschen nichts zu tun."423)
Wie, steht nun Luther selbst zu der bei Clay formulierten Deutung seiner Sprachpraxis bzw. wie soll nach seinen eigenen sprachtheoretischen Äußerungen das Verhältnis der (deutschen) Sprache zur göttlichen Offenbarung verstanden werden? Die spekulative theologische Pointe der bei Clay belegten Auffassung besteht offenbar darin, daß die Bibelübersetzung Luthers aus unmittelbarer göttlicher Inspiration parallel zur Inspiration der Propheten und Apostel geschaffen wurde und entsprechend die deutsche Sprache, parallel zu den sogenannten „heiligen Sprachen”, ihre Weihe als Leib der Offenbarung unmittelbar durch eine solche Offenbarung empfangen habe, wobei der besondere sprachphilosophische Ertrag dieser Deutung noch unberücksichtigt ist, die These nämlich, daß durch die religiöse Weihe
421)
Vgl. zum Quellennachweis Hankamer, a. a. O. S. 70. Vgl. vom Verf.: Das „Verstehen” ... , a. a. O. S. 149 f. 423) Meister Eckehart: Satz 13 der 1329 verurteilten Thesen (Zitat nach M. Eckehart, deutsche Predigten u. Traktate, hrsg. u. übers. v. Jos. Quint, München 1955, S. 451 f.). 422)
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auch die Formierung der richtigen Sprache -- das Anliegen der Humanisten — wie durch ein Wunder sich ergeben hat. — Diese Deutung, die unverkennbar auf der Linie der Logosmystik, d. h. ihres Zentralgedankens einer göttlichen Wortinkarnation in der Seele des Menschen, liegt, hat Lu ther explizit niemals für sich in Anspruch genommen, und wo er sie als Anspruch eines Redens aus innerer Erleuchtung antraf, wie bei den Schwärmern, da hat er sie mit zunehmendem Alter immer schärfer bekämpft. Wohl kennt er, ja er vertritt mit Nachdruck eine von Gottes Vorsehung her gedachte Inkarnationstheorie als theologische Begründung der Existenz der Sprachen: So heißt es in der Schrift „An die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes” von 1524: ...Wie wol das Evangelion alleyn durch den heyligen geist ist komen und teglich kompt, so ists doch d u r c h M i t t e l d e r s p r a c h e n komen und hat auch dadurch zugenomen, mus auch da durch behalten werden. Denn gleich als da Gott durch die Apostell wollt ynn alle weit das Evangelion lassen komen, gab er die Zungen dazu, und hatt auch zuvor durch der Römer regiment die kriechische und lateynische sprach so weyt ynn alle land ausgebreyttet, auff das seyn Evangelion ym bald fern und weyt frucht brechte. Also hat er itzt auch gethan. Niemant hat gewußt, warumo Gott die sprachen erfür lies komen, bis das man nu allererst sihet, daß es umb des Evangelio willen geschehen ist, wilchs er hernach hat woellen offinbarn ... " Am Schluß dieser Erklärung heißt es dann: „Die Sprachen sind die scheyden; da ynn dis messer des geysts stickt. Sie sind der schreyn, darrinnen dise speyse ligt... Und wie das Evangelion selbst zeygt: Sie sind die Körbe, darynnen man dise brot und fische und brocken behellt"424).
Was aber ist in diesen grundlegenden Ausführungen gesagt und was nicht? Es handelt sich zunächst um eine geschichtstheologische und teleologische Rechtfertigung der „Existenz” (wörtlich: des Hervorkommens, wie Luther sagt) der Sprachen, weniger um ein philosophisches Begreifen des „Wesens” von Sprache schlechthin, obwohl die letzten Sätze dem philosophisch denkenden Leser leicht mehr suggerieren, als tatsächlich gesagt ist. Sicherlich kann und muß im Sinne Luthers von einer notwendigen Inkarnation der göttlichen Offenbarung in menschlichen Sprachen gesprochen werden, wenn damit einem sprachfeindlichen, abstrakten Spriritualismus begegnet werden soll. Luther bekämpft in diesem Sinn die Schwärmer, die sich auf das augustinische „verbum internum” zurückziehen und jede Konkretisierung des Geistes in „Wortlaut” und „Buchstabe” der historischen Sprachen und Schriften perhorreszieren. Ihnen hält er an anderer Stelle entgegen: „Denn er (= Gott) will nieman t den geyst noch glauben geben an das eußerliche wort und zeychen, so er dazu eyngesetzet hat."425)
424) 425)
M . Lu ther: Ges.. Schriften, Weimarer Ausg. Bd. XV, S. 37. Ebda. Bd. XVIII, S. 136.
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Aber in Luthers Sätzen ist nicht gesagt, daß alles ursprüngliche Sprechen als „Worten der Welt” in sich göttliche Offenbarung sei und in diesem Sinne die menschlichen Sprachen die Inkarnation des göttlichen Logos seien. (Dies sagen in etwa Jakob Böhme und — in anderer theologischer Nuancierung — Hamann). Gott läßt nach Luther nicht die Sprachen „hervürkommen”, indem er sich offenbart, sondern damit er sich zu gegebener Zeit in ihrem Medium offenbaren kann. Hier schon bleibt Luther trotz aller theologischen Bedeutsamkeitssteigerung im Rahmen des humanistischen, sozusagen historisch-philologischen Gefäßbegriffs der Sprachen und denkt nicht radikal philosophisch den Inkarnations- und Offenbarungsbegriff der Sprache. Dies wird noch deutlicher, wenn wir an Luther die konkrete Frage nach der Bedeutung des Deutschen im Verhältnis zu den sogenannten „heiligen Sprachen” stellen. Der Reformator geht auf diese Frage ebenfalls in dem oben angeführten Text ein mit den folgenden Sätzen, die als konkrete Erfüllung der abschließenden Worte über die Sprachen als „Scheiden” des Evangeliums zu bedenken sind: „Gott hat seyne schrifft nicht umb sonst allein ynn die zwo sprachen schreiben lassen, das allte testament ynn die Ebreische, das new ynn die Kriechische. Welche nu Gott nicht veracht, sondern zu seynem Wort erwelet hat für alle andern, sollen auch wyr die selben für allen andern ehren ... Daher auch die Ebreische sprache heylig heißet. Und sanct Paulus Röm. 1 nennet sie die heylige schrifft an zweyffel umb des heyligen Wortes Gottis willen, das drynnen verfasset ist. Also mag auch die Kriechische sprache wol heylig heyßen, das die selbe fur andern dazu erwelet ist, das das newe testament drinnen geschriben würde. Und aus derselben alls aus eym brunnen ynn andere sprach durchs dolmetschen geflossen und sie auch geheiligt hat.“426)
Hier haben wir die Luthersche Deutung des durch ihn selbst vollzogenen geschichtlichen und sprachlichen Geschehens, die der Clayschen Deutung (s. oben) gegenüberzustellen ist. Von einer Heiligung der deutschen Sprache — und ebenso aller anderen „Volkssprachen” —, von der im Reformationszeitalter häufig die Rede ist (so besonders bei der Slawenreformation des Primus Trubar und des Georg von Dalmatien427), kann nach Luther nur in dem Sinne gesprochen werden, daß die einmalige, konkret-historische, durch die Propheten und Apostel geschehene Sprachheiligung und Offenbarungsinkarnation durch den Übersetzer gleichsam verlängert oder übertragen wird. Die Ermächtigung und Erleuchtung des Dolmetschers erfolgt allein aus dem feststehenden Wortsinn der inspirierten „heiligen Schrift” auf dem Wege philologischer Textinterpretation und keineswegs vermöge einer unmittelbaren Offenbarung der Wahrheit
426)
Ebda. Bd. XV, S. 37 f. Vgl. hierzu E. Benz: Han s von Un gn ad und die Reformation unter den Südslawen, a. a. O. (vgl. Anm. 85); ferner E . Ben z : Wittenberg und Byzanz, Marburg 1949. 427)
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im Wort der Muttersprache. Luther mußte sowohl der katholischen Kirche wie den Schwärmern gegenüber Wert darauf legen, „das bestendig bleib die schrifft in einem gewissen, einfeltigen, untzurteiligen vorstand, darauff sich unßer glaub ohn alles wancken muge bawen"428).
Und hierbei wiederum half ihm der humanistische Sprachbegriff auch gegen den Mystiker in ihm selbst, der immerhin einmal bekennt: „Denn es mag niemant got noch gottes wort recht vorstehen, er habs denn an mittel von dem heyligen geyst"429), und ein anderes Mal: Das Evangelium „ist eygentlich nicht das, das ynn büchern stehet und ynn buchstaben verfasset wirtt, sondern mehr eyn mundliche predig und lebendig wortt, und eyn stym, die da ynn die gantz wellt erschallet und offentlich wirt außgeschryen das mans uberall höret"430).
Der bleibende sprachphilosophische Ertrag dieser Auseinandersetzung des mystischen und des humanistischen Sprachbegriffs in der Lutherzeit und in Luther selbst ist auf der einen Seite eine außerordentliche Belebung und mystisch-religiöse Vertiefung des gelehrten Sprachhumanismus, auf der anderen Seite aber auch umgekehrt eine äußerst bedeutsame Imprägnierung der mystischen Tradition mit dem humanistischen Sinn für das historisch Positive: für die Notwendigkeit der Verleiblichung des Sinnes im „äußeren Wort” — so als Korrektur des sprachfeindlichen Spiritualismus — und wiederum — entgegen einem ungeschichtlichen Äternismus und Solipsismus der mystisch-philosophischen Inkarnationsvorstellung — für die Bedeutung der Sprachen als Kettenglieder einer einzig-artigen geschichtlichen Tradition, deren konkrete Gehalte „aus einem (bestimmten) Brunnen ... geflossen” sind. Schon bei Böhme wird sich diese, durch Luther vermittelte, humanistischhistorische Imprägnierung der Logosmystik auswirken, vollends wird sie bei Hamann und Herder Früchte tragen.
428)Luther
a. a. O. Bd. VI, S. 307. Bd. VII, S. 546, Z. 24 f. (Vgl. K. Holl: Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, a. a. O. S. 544.) 430)Ebda. Bd. XII, S. 259. 429)Ebda.
268
Kapitel V I I I
Zusammenfassung des b i s h e r i g e n als A n t w o r t auf die Frage nach dem S p r a c h b e g r i f f des Humanismus. Wir haben im vorigen den europäischen Sprachhumanismus von seinen antiken Ursprüngen über seine italienische Erneuerung bis in seine verschiedenartige Entfaltung und ideelle Begrenzung als Maßstab der neueuropäischen, von Dante eingeleiteten „Entdeckung der Muttersprache” verfolgt. Versuchen wir nun, die philosophische Eigenart der humanistischen Sprachidee als einer Hauptdeterminante der neueuropäischen Sprachprogrammatik aus dem zuletzt angedeuteten Begrenzungsverhältnis zu den beiden anderen Hauptansätzen des neuzeitlichen Sprachdenkens zu bestimmen. Wir wollen dabei, getreu dem methodischen Grundprinzip unserer Untersuchung, sowohl die einmalige geschichtliche Dynamik der Konstitution der modernen abendländischen Sprachauffassung wie auch die Möglichkeit einer systematischen kulturanthropologischen Ortung der sich abzeichnenden philosophischen Sprachverhältnisse ins Auge fassen. (Beides ist ja insofern gefordert, als alles historische Denken allgemeine systematische „Vorgriffe” und umgekehrt alle systematischen Begriffe historisch-hermeneutische Erfüllung voraussetzen, eine wechselseitige Beziehung, die sich dynamisch gemäß dem „circulus fructuosus” unseres endlichen Weltverstehens entfalten muß431)) Eine systematische kulturanthropologische Gehaltsbestimmung des humanistischen Sprachbegriffs ergibt sich für uns aus der bisher aufgewiesenen Begrenzung des humanistischen Sprachdenkens am nominalistischen Zeichenbegriff der entstehenden Naturwissenschaft einerseits, am mystisch-theologischen Offenbarungsbegriff der Sprache andererseits. Wenden wir auf die hier zum Bewußtsein gelangten Grundverhältnisse des Menschen zur Sprache die Einteilung der Wissensformen nach der Wissenssoziologie Max Schelers432) an, so entspricht offensichtlich das von den empirischen Wissenschaften postulierte, aus dem logischontologischen Grundansatz des Ockhamismus her neubegründete (später durch das mathematische Modell des „blinden” Symbol-Kalküls ergänzte und präzisierte)
431) 432)
Vgl. oben Kap. I (Einleitung). M. Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Lpz. 1926, bs. S. 250 ff.
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Sprachverhältnis dem „A r b e i t s w i s s e n “ 433); der Offenbarungsbegriff der Sprache, der aus der Logosmystik heraus sich entwickelt, repräsentiert — was durch den Klassiker dieses Sprachdenkens, Jakob Böhme, ausdrücklich bestätigt wird434) — das „E r l ö s u n g s w i s s e n "; der humanistische Sprachbegriff endlich, so wie er schon bei Cicero vorgeprägt, von Petrarca erneuert, von L. Valla und Erasmus in den „elegantiis linguae” und der „copia verborum et rerum” (so der Titel des sprachtheoretischen Hauptwerks des Erasmus435)) illustriert wird, gehört zum „B i l d u n g s w i s s e n ” des Menschen. — Ja, wenn wir der soziologisch-anthropologischen Ideologie des Humanismus selbst folgen, dann begründet das humanistische Wissen von der Sprache, sowie es sich in einem Menschen funktionalisiert, überhaupt erst alles Bildungswissen und darüber hinaus alle Lebensart des gebildeten Menschen in der Gesellschaft (von Petrarca zu B. Castiglione und dem französischen literarischen Salon des 17. Jahrhunderts). Ähnlich hat aber auch Jakob Böhme alles höhere und eigentliche (philosophisch-theosophische) Wissen auf das „Verständnis” der „Natursprache” (in der Muttersprache) gegründet, und auf der anderen Seite hat sein jüngerer Zeitgenosse Hobbes, der eigentliche Vorläufer des nominalistisch-mathematischen Denkens des logischen Positivismus, die Wahrheitsfrage der Wissenschaft mit dem Problem der Zeichenverwendung, d. h. also — im technisch-szientifischen Verstand — mit der Sprachanalyse identifiziert. Die drei am Beginn der Neuzeit konzipierten Grundauffassungen von Sprache scheinen also nicht nur den genannten Wissensformen des Menschen schlechtweg subsumierbar, sondern geradezu — wenigstens im Abendland bei ihrer Aktualisierung maßgeblich beteiligt zu sein. In der Ebene der sprachlichen Realität selbst entspricht dem in etwa das soziologische Faktum einer — im Ansatz — dreifachen Ausprägung von Sprache im neuzeitlichen Europa: Der Humanismus gestaltet das universale Latein des Mittelalters (das allen drei Wissensformen des Menschen gedient hatte, wenn auch in einer traditionalistischen Gesamtverfassung der Kultur, die dem Bildungswissen nahe verwandt ist) ausdrücklich zur ,,B i l d u n g s s p r a c h e " einer europäischen Elite; als solche wird das Latein im 17. Jahrhundert vom Französischen abgelöst. Die technisch-szientifische Sprachauffassung — die in der Semiotik und Terminologiebildung der Scholastik eine gebundene Vorstufe hat — beginnt seit eben dieser Zeit mit der Ausbildung mathematischer „Symbole” (von Vieta bis Leibniz), wissenschaftlicher „Terminologien” und empirischer
433)
Vgl. Kap. I und II über den technisch-szientifischen Sprachbegriff. Vgl. E. Benz: Zur metaphys. Begründung der Sprache bei 1. Böhme, a. a. O. (vgl. Anm. 89). 435) Erasmus v. Rotterdam: Utraque copia verborum et rerum, zuerst 1547, zuletzt 1662 (in Amsterdam) erschienen. 434)
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oder philosophischer „Universalsprachen” (A. Kircher, Wilkins, Dalgarno, Leibniz), die freilich erst im 19. Jahrhundert praktische Bedeutung erhalten. Die sprachmystische Einstellung schließlich kann wie alles Erlösungswissen nur in der unmittelbarsten Beziehung des Menschen zur Sprache sich entfalten, d. h. schon nicht mehr in einer relativ distanzierten Bildungssprache geschweige denn in einer künstlichen Terminologie. Sie mußte bei dem Erlebnis der Muttersprache ansetzen, so in theologischer Form als „Erlösung” der seit der babylonischen Verwirrung heillosen Volkssprachen (bei Primus Trubar und Georg von Dalmatien wie auch bei vielen deutschen Schwärmern), so als „Erlösung” der gefallenen Natur, des Menschen und der Muttersprache bei J. Böhme und den von ihm beeinflußten Kreisen der deutschen Sprachgesellschaften. Kurz: Eine soziologisch-historische Auswirkung des — philosophisch um die Logos-mystik als Zentrum kristallisierten — Erlösungsbegriffs der Sprache liegt in der Formierung europäischer Muttersprachen als nationaler Heilssprachen und wiederum eines Pathos der „Dichter” und „Denker”, das aus dieser Konstellation gespeist ist (so bei Böhme, Fichte und auch bei Hegel, der „auf deutsche Art denken” will). Welches sind nun, aus solcher anthropologisch-soziologischer Gesamtkonstellation her begriffen, die kategorialen Grundbestimmungen des humanistischen Bildungsbegriffs der Sprache? Zunächst ist zu wiederholen, daß Sprache im Humanismus nicht in dem Grade innerweltlich vergegenständlicht wird, wie das seit Ockham im Nominalismus geschieht. (Vgl. oben S. 135 ff. über das römische Sprachverhältnis). Damit hängt zusammen, daß der eigentliche Sprachhumanismus im Bereich des Programmatischen bleibt, daß sein Sprachbegriff selbst nicht eigentlich theoretischphilosophisch, sondern bekenntnishaft-dogmatisch ist. Entstanden aus der nationalen Ideologie des römischen Rhetors, erneuert als Kernbestand der Ideologie der römischpatriotischen Begründer der italienischen Renaissance, lebt er genuin fort einmal in der gemeineuropäischen Standesideologie der lateinischen Schulgelehrsamkeit (so etwa im humanistischen Gymnasium und seiner Idee einer „formalen Bildung"), andererseits in den nationalen Sprachideologien der einzelnen Völker und Literaturen Europas, insbesondere der Romania. Die Entstehung einer wissenschaftlichen Philologie und Sprachbetrachtung — etwa bei den beiden Scaliger — überschreitet, wie G. Toffanin durchaus richtig gesehen hat436), bereits den Rahmen des humanistischen Sprachverhältnisses und setzt in wesentlichen Punkten die nominalistische Grundeinstellung voraus, wie noch genauer zu zeigen sein wird (s. unten S. 280 ff.). Indem der humanistische Sprachbegriff mehr Bekenntnis als philosophische Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Bildungspotenz
438)
Vgl. oben Anm. 298.
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und aktuellen Bildungsfunktion der Sprache ist, fällt er angesichts der wissenschaftlichen Schärfe des technisch-szientifischen Zeichenbegriffs der Sprache in der allgemeinen Geistesentwicklung der Neuzeit bald zurück, bleibt aber gegenüber der philosophisch voreiligen und einseitigen Mediatisierung alles Sprachlichen in der empiristisch-rationalistischen Philosophie der Neuzeit ein Zeugnis für die vom Menschen nicht objektivierbaren und beherrschbaren, vielmehr ihn gesellschaftlich und geschichtlich umgreifenden und tragenden Wesensmomente der Sprache. M. a. W.: das philosophische Interesse am humanistischen Sprachbegriff beruht weniger auf dem, was er von der Sprache erkannt und objektiviert hat, als auf dem, was sich in seiner Sprachemphase mitgängig über das Verhältnis des Subjekts zur Sprache ausspricht. — Hier muß aber nun wiederum die Grenze des humanistischen Bildungsbegriffs der Sprache zum logosmystischen Offenbarungsbegriff derselben beachtet werden: Der letztere hat den subjektiven Ursprung der Sprache (d. h. ihre transzendentale Gleichursprünglichkeit mit der nicht-objektivierbaren Tiefe des subjektiven Geistes) eigens entdeckt; darin liegt seine Antithetik und zugleich seine geschichtliche Parallelität zum sprachdistanzierenden Nominalismus; beide entspringen gleichaltrig dem modernen europäischen Subjektivismus (der Einzelnen und der Völker), der sich von der großen autoritären Form des lateinischen Mittelalters befreit, einmal zur äußersten Mediatisierung der Sprache hin, das andere Mal zur tiefsten Unmittelbarkeit des Selbstausdrucks im Denksprechen. Dieser modernen, subjektiven Unmittelbarkeit des Denksprechens gegenüber verkörpert der Humanismus ein relativ mittelbares Verhältnis zur Sprache. Bildungswissen ist zwar nicht gegenständlich verfügbar wie Herrschaftswissen, aber doch wesenhaft tradierbar und schulmäßig erlernbar; es „entspricht” nicht — wenigstens liegt das nicht im Wesensbereich des humanistischen Bildungsbegriffs, den wir hier voraussetzen437) — einer gottunmittelbaren religiösen, später dichterisch-denkerischen Seinsoffenbarung, sondern ist
437) M. Scheler faßt den Bildungsbegriff in seiner Wissenssoziologie meistens „ursprünglicher”, als uns für eine Charakteristik des Sprachhumanismus gerechtfertigt erscheint. Ausgehend von dem metaphysisch vertieften Bildungsbegriff der „deutschen Bewegung” (Goethe, W. v. Humboldt) betrachtet er die Mikrokosmosidee in ihrer ganzen metaphysisch-anthropologischen Tragweite als konstitutiv für das Bildungswissen; hierin wie überhaupt in der Identifizierung von Bildungswissen und metaphysischem Wissen können wir Scheler nicht folgen; es scheint uns vielmehr, daß das humanistische Bildungswissen des Abendlandes der metaphysischen Vertiefung nur über das Erlösungsproblem teilhaftig wurde. Im Falle der Sprachidee zu Beginn der Neuzeit läßt sich jedenfalls die entscheidende Ausbildung der Mikrokosmos-Metaphysik (bei Cusanus, Paracelsus, Böhme) gerade nicht dem humanistischen Bildungswissen — das sie nur als überlieferten Topos kennt —, sondern allein der Logosmystik als lebendigem Ursprungsquell zuschreiben.
272
als mehr oder weniger kanonisches „Bildungsgut”, als „Topik” des Redners, später des Schriftstellers und Weltmannes, eben der „Bildungssprache” zu entnehmen, deren „Form” auch die öffentliche Lebensform des gebildeten Menschen bestimmt. Im humanistischen Sprachbegriff, der aus einer breiten Bildungsliteratur herauspräpariert sein will, kommt eben dieses wissenssoziologische Verhältnis zum Ausdruck, d. h. nicht die Spracherfahrung des einsamen Einzelnen, sei er mit der Sprache ringender mystischer „Denker” oder „Dichter” oder sei er die Sprache als Hindernis und technisches Mittel beurteilender Naturforscher, sondern die Situation des Bürgers, der im öffentlichen Leben, im Briefverkehr, in der Rede, in dem, was man später Publizistik nennt, im Bereich auch einer gelehrten oder höfischeleganten literarischen Tätigkeit, eine formale Richtschnur und eine inhaltliche „Topik” in der gut eingeübten Bildungssprache selbst sucht und findet. Die Sprache als „Norm” und „Außenhalt” des bürgerlichen Lebens, als institutionelle „Form” aller Formen, durch welche die „humanitas” des „civis” in der „res publica” sichergestellt, die „schreckliche Natürlichkeit” (A. Gehlen 438)) des Menschen gebannt und stilisiert ist — dies ist der bereits vom antiken römischen Rhetor und Politiker vorgeprägte Kern des Sprach-humanismus, der auch in allen neuzeitlichen Rezeptionen und Abwandlungen identisch bleibt. Die wesentliche Abwandlung des Sprachhumanismus, die aber auch schon in der römischen Kaiserzeit sich vorbereitet, liegt, wie früher gezeigt wurde, in der Spiritualisierung des Institutionellen ins Literarische. Aber auch hieraus erwuchs dem Sprachhumanismus eine neue institutionelle Prägekraft in der Ebene der Schulbildung und darüber hinaus in vielen modernen Ländern, besonders in der Romania, auch in der „Öffentlichkeit” literarischer Provenienz. (Am besten kann man sich noch heute die institutionelle Formkraft des Humanismus an der trotz aller Reformversuche kaum geschwächten Funktion der lateinischen Grammatik klar machen, deren philosophische Wurzeln in der hellenistischen Philosophie auch heute noch nicht eigentlich ausgegraben sind.) Gegenüber den beiden anderen Sprachauffassungen der beginnenden abendländischen Neuzeit, die im modernen Subjektivismus verwurzelt sind, scheint nach allem bisher Gesagten der wesentliche Vorzug des humanistischen Sprachbegriffs in seiner mehr impliziten als expliziten Würdigung der gemeinschaftstiftenden Funktion der Sprache zu liegen. Diese
438)
Vgl. A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, a. a. O. Was hier über die gesellschaftlichen „Institutionen” als Bann- und Stilisierungsformen der „schrecklichen Natürlichkeit” des Menschen gesagt ist, beleuchtet sehr hell die Funktion der Sprache als Form des Verhaltens, wie sie im rhetorischen Humanismus aufgefaßt ist. Wir werden dies später an Vicos Geschichtsphilosophie, welche die Funktion der archaischen Institutionen in vieler Hinsicht ähnlich wie Gehlen sieht, noch deutlicher zeigen können. Vgl. unten S. 364 f.
273
ist im Humanismus als a priori i n t e r s u b j e k t i v e und g e s c h i c h t l i c h k o n s t a n t e Form des Menschseins verstanden. Diese beiden kategorialen Bestimmungen sind für die modernen Ansätze des Sprachdenkens keineswegs selbstverständlich. Sowohl der Nominalismus als auch die Logosmystik sind, mit dem Sprachhumanismus verglichen, geradezu solipsistisch motiviert. Luther und Calvin als „Männer weniger Wahrheiten”, wie man gesagt hat, haben die Tiefe der religiösen Problematik des Abendlandes gleichsam aus ein e m Punkt her erneuert, dem des gottunmittelbaren Glaubens des Individuums, indem sie zugleich ein umfassendes Ganzes traditionsgewachsener Dogmatik und Liturgie gleichsam abdeckten. Ebenso haben — für eine rein sprachphilosophische Analyse — die von Ockham und andererseits von Eckehart ausgehenden europäischen Denkansätze schon vor der Reformation zunächst alle intersubjektive, eine geschichtliche Gemeinschaft und ihr Weltbild begründenden formalen und inhaltlichen Funktionen des Sprachlogos abgedeckt, um rein vom gott- bzw. sachunmittelbaren Einzelsubjekt her die Sprachfunktionen zu denken: einmal als nachträgliche „Bezeichnung” der sprachfreien „Intuition” (Ockham), zum anderen als expressivintuitive „Wortung” der Welt „aus des Herzens Abgrund” (von Eckehart zu Böhme). Der Nominalismus hat dann von einem immer radikaler reflexiv und solipsistisch, d. h. auch zugleich: geschichtslos angesetzten „Bewußtsein” und seinen „Vorstellungen” (Descartes, Hobbes, Locke) her das primäre Welt-,,Verstehen" und seine zweckmäßige „Bezeichnung” zu konstruieren begonnen. Und erst durch das Bündnis mit der „mathesis universalis” als der Neugründung der Logik im Barockzeitalter hat er die intersubjektive Logos-Funktion der Sprache und damit des Begriffs wiedergewonnen. (Freilich nur die ungeschichtliche, gehaltlich unschöpferische Dimension der Allgemeingültigkeit eines konventionellen Zeichens für ein „Bewußtsein überhaupt”. Erst F. de Saussure hat von der Basis des technischszientifischen Sprachdenkens aus in scharfer Form — d. h. als Grundlegung einer Sprachsoziologie — die im Humanismus erlebte kollektive Normierung des Denkens durch die intersubjektive „langue” konstruiert, indem er z. B. den von einer individuellpsychologischen „Vorstellung” ebenso wie von einem logischen „Begriffsgehalt” scharf unterschiedenen kollektiv gültigen „Wert” eines Sprachmittels — z. B. eines „Wortinhalts” in einem sprachlichen „Feld”, wie Weisgerber später sagt — herausarbeitete.) — Entsprechend hat auf der anderen Seite erst in Böhme und Hamann der zu-nächst rein religiöse Solipsismus der Logosmystik die intersubjektive Funktion des „Wortes” wenigstens implizit berücksichtigt durch eine Erweiterung der Logosspekulation auf die geschichtlichen Muttersprachen, in der Erkenntnis, daß nur in diesem konkreten Inkarnationsmedium symbolische Erkenntnis und Heilskommunikation der endlichen Menschen „in verbo divino” stattfinden kann. (Eine explizite erkenntnistheoretische
274
Frage nach der allgemeingültigen Wahrheit in und zwischen den geschichtlichen Muttersprachen, d. h. ihren gehaltlichen Weltbildern hat dann erst Humboldt gestellt, und sie wartet bis heute auf ihre Beantwortung439).) Angesichts dieser ursprünglichen Einseitigkeit, ja — kulturphilosophisch betrachtet — Abseitigkeit der beiden subjektiven Neuansätze der eigentlich modernen abendländischen Sprachspekulation zeigt sich die noch immer bestehende oder sogar „bevorstehende” philosophische Bedeutung des humanistischen Sprachbegriffs: seine ganzheitliche „kulturanthropologische” Grundauffassung der Sprache, sein implizites Wissen um ihre „geschichtliche” und „soziale” Funktion, sein „moralisch-aesthetisches” Sprachform-Erlebnis und seine „philologisch-hermeneutische” Programmatik (die bereits im Hellenismus entsteht und zu Beginn der Neuzeit erneut einsetzt). Aber selbst diese Kernanliegen des Sprachhumanismus lassen sich, wie es scheint, seit dem Barock, d. h. seit der „instauratio magna” der neu-europäischen Wissenschaft, philosophisch nur noch im Wechselspiel der technisch-szientifischen „Isolierung” bzw. gegenständlichen „Distanzierung” einzelner Sprachfunktionen und andererseits der denkerisch-dichterischen „Ergründung” der mystischen Tiefe der lebendigen Muttersprache begrifflich ausfalten und zur Geltung bringen. — Dies zeigt sich insbesondere in jenem Punkt, wo wir von einer geheimen Philosophie des rhetorischen Sprachhumanismus sprachen: im Problem des Verhältnisses von Sprache und gehaltvoll-bedeutsamer Wahrheit, wie es durch die humanistische These vom Vorrang der Topik vor der Kritik, der Rhetorik bzw. Philologie vor der formalen Logik, letztlich der literarisch überkommenen „Weisheit” (sapientia) vor der voraussetzungslosen (Natur-)Wissenschaft exponiert ist. Wir stellen fest, daß der Humanismus die impliziten Einsichten seiner ideologischen Einstellung in diesem Punkt nicht sprach-philosophisch grundlegend zu formulieren wußte; vielmehr blieb er von seinen römischen Initiatoren an durch die Einteilungen des Aristoteles und der in seinem Gefolge sich ausbildenden hellenistischen „artes sermoni-cales” (Logik, Grammatik, Rhetorik) gebunden. Dies verrät sich am deutlichsten in dem schließlichen Kompromiß der Humanisten des 16. Jahrhunderts mit der nominalistischen Sprachauffassung der entstehenden Naturwissenschaft: man stellt sich auf die Basis der aristotelisch-ockhamistischen Zeichentheorie der Sprache, gesteht der (Natur-)Wissenschaft die Verwaltung der „Wahrheit der Dinge” (vgl. Theophrast) zu und behält sich selber die elegante „Auszierung” und allenfalls den pädagogischen Primat der Lehre vor gemäß dem Satz: „oratio docet, delectat et permovet”.
439) Vgl. K. O. Apel: Der philosophische Wahrheitsbegriff als Voraussetzung einer inhaltlich orientierten Sprachwissenschaft, a. a. O.
Eine durchdringende, gemeinabendländische Wiederaufnahme der Wahrheitsproblematik der geschichtlichen Sprache, insbesondere der Dichtung, war angesichts der neuen Schärfe des technisch-szientifischen Sprach- und Wissensbegriffs
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vom rhetorischen Humanismus allein nicht mehr zu erwarten. Sie konnte nur durch radikale religiös-spekulative Vertiefung des subjektiven Sprachursprungs angebahnt werden. Wir können hier nicht länger bei der quasi-systematischen Abgrenzung des humanistischen Sprachbegriffs stehen bleiben, sondern müssen die gewonnene anthropologische Ortung sogleich wieder in den Rahmen der abendländischen Geschichte zurückstellen. Schon bei der Durchführung des systematischen Vergleichs der drei Sprachbegriffe konnten wir nicht umhin, die Gleichaltrigkeit der beiden extremen Ansätze des späten Mittelalters (Nominalismus und Logosmystik) gegen das größere Alter des humanistischen Sprachbegriffs mit ins Spiel zu bringen. Diesen geschichtlichen Gesichtspunkt gilt es vollends durchzuführen, will man die Bedeutung des humanistischen Sprachbegriffs für die spätere Sprachphilosophie der Neuzeit genauer bestimmen. An sich wäre es denkbar, daß eine Kultur mit dem humanistischen Bildungsbegriff der Sprache abschließt, so daß in demselben alle Erfahrungen mit der Sprache, auch relativ extreme, ihren schulmäßigen Wissensbegriff fänden, der dann bloß noch tradiert zu werden brauchte. In etwa war dies der Fall in der „hellenischen Kultur” (im weiten Sinne Toynbees), deren Spracherfahrungen in den „artes sermonicales” erstarrten, die dann — mit Ausnahme der Logik, die im 12. und wiederum im 14. Jahrhundert einen eigenen Sprachbegriff in der Semiotik des Terminismus zeitigte — den ideologischen Grundstock des neueuropäischen Sprachhumanismus bildeten. Noch ausgeprägter könnte eine solche Entwicklung in der chinesischen Kultur stattgefunden haben, deren konfuzianisches Verwaltungssystem ja bis zum Einbruch der Europäer mit einem literarischsprachlichen, streng kanonischen Bildungssystem gekoppelt war. — Das Besondere der abendländischen Kultur besteht nun darin, daß diese als Tochterkultur der Antike von wesentlich fremdvölkischer, barbarisch-jugendfrischer Substanz gerade zu Beginn ihrer Entwicklung eine überlegene „Bildungssprache” und eine autoritäre Überlieferungsmasse vorfand, die alles Wissen, ja sogar die Dichtung für lange Zeit zum „Bildungswissen” prägte — dies Wort aufgefaßt in einem sehr starren und schulmäßigen Verstand von Aneignung und harmonisierendem Ausgleich fertiger Glaubens- und Wissensinhalte. Indem sie zu einer eigenständigen, nationalsprachlichdifferenzierten Wissenskultur sich befreite, erneuerte sie — durch mythische Identifikation der nationalen Geburt Italiens als Wiedergeburt der römischen Antike — zwar auch noch einmal Gehalt und Form des antiken Bildungswissens, darüber hinaus aber begründete sie ein technisches Arbeits- und ein religiöses Heilswissen in mehr oder we-
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niger scharfem Gegensatz zu aller äußeren Autorität der überlieferten „Bildung” und ihrer sprachlichen Form. Und diese beiden Neuansätze des Geisteslebens, die — als Distanzierung zur allgemeingültigen Bildungssprache und zum dogmatischen Bildungswissen des jetzt so genannten „Mittelalters” — extrem subjektivistisch verwurzelt waren (in einem Begriffssinn, der eben durch diese Neuansätze erst definiert wurde), bestimmten allen weiteren sogenannten „Fortschritt” der abendländischen Kultur: dieser gründete sich fortan immer konsequenter in der religiösen Selbst-„Rechtfertigung" und in der erkenntnistheoretischen Selbst-„Vergewisserung" des Subjekts. Bestärkt wurde diese Entwicklung dadurch, daß bereits in der imperialen Endphase der antiken Kultur nach der Loslösung des privaten Individuums aus den Bindungen der Polis die Entstehung eines religiös-philosophischen Subjektivismus sich vorbereitet hatte. Ins-besondere die christliche Innerlichkeit eines Augustinus ist sowohl für die moderne Erkenntnistheorie (Descartes) wie für die Reformatoren und in sprachphilosophischer Hinsicht sowohl für Ockham wie für die Logos-mystik maßgeblich geworden. So kommt es, daß im Abendland der humanistische Bildungsbegriff der Sprache wie überhaupt der Kultur nicht am Ende steht, sondern nur eine, freilich immer wieder erneuerte Schulinstitution der Mutterkultur zur „informatio” der Tochterkultur darstellt, eine Protektion, von der das selbständige, im weitesten Sinn „protestantische” Denken der Europäer um so unbekümmerter sich losmacht, als es in vielen, ihm selbst kaum bewußten Hinsichten noch lange durch das humanistische Bildungserbe betreut bleibt. Immerhin sieht E. R. Curtius mit Beginn des Industriezeit-alters auch das Bildungserbe des rhetorischen Humanismus verloren gehen440). Das Weltzeitalter der „Topik”, in dem die großen Hochkulturen der Erde wesentlich durch die Tradition des Bildungserbes der „Achsenzeit” (s. oben S. 139) bestimmt sind, geht in der Tat in Europa um diese Zeit zu Ende. Dies zeigt sich auch und nicht zuletzt in den europäischen Sprachen, die etwa seit der französischen Revolution in ihrer inneren geistigen Formprägung fast kaum noch durch den rhetorisch-humanistischen Bildungsbegriff, sondern fast ausschließlich durch die radikaleren subjektivistischen Denkmaßstäbe des technisch-szientifischen Denkens einerseits, des individuellen (und nationalen) Selbstausdrucks andererseits geleitet sind. Fr. Heer hat diesen Vorgang in seiner „Europäischen Geistesgeschichte” folgendermaßen skizziert: „Der innereuropäische Sprachkampf hat seinen ersten Wendepunkt im 15. und 16. Jhdt. erreicht, als die nationalen Heilssprachen an die Stelle des Latein und damit der antiken und katholischen Metaphysik und großen Form traten. Dieser römisch-katholische Sprachkosmos wurde aber bis zum Ausgang des 19.
440)
E. R. Curtius: Europ. Lit. und lat. Mittelalter, a. a. O. S. 30, 33, 248.
277
Jhdts. noch gehütet durch das Französische, als der Sprache der ,guten Europäer', das in seiner Weltgeltung und innersten Struktur gerade auch in seiner durch Aufklärung und Klassizismus geprägten Form das Katholisch-Römische weiter vertrat. Im hohen 19. Jhdt. versuchten zunächst die Ich's der Dichter und Denker jeweils ihre eigene Sprache, als eigenständiges Gottesreich, zu schmieden oder zu ,schöpfen` ..." Auf der anderen Seite hat das 19. Jhdt. „den Traum spiritualistischer Reformer des 16. bis 18. Jhdts. nach einer Universalsprache zu realisieren versucht durch verschiedene Kunstsprachen (Esperanto, Volapük usw.). In noch praktischerer Form versucht das ,BasicEnglish' den englischen Sprachschatz chinesischer Kulis, die fremde Herren bedienen, zu einer Weltsprache zu erheben. Diese Bemühungen kommen der Tatsache entgegen, daß der Sprachschatz der Masse auch in Europa heute praktisch nur einige 1000 Worte, einige hundert feste Sätze und zwei Dutzend Lieblingsphrasen enthält, technische Formeln, die alle verfügbaren Gefühle, Aktionen und Reaktionen im Sexualen, Politischen, Gesellschaftlichen und Wirtschaftlichen ausdrücken können."441) Und an anderer Stelle: „Scharf treten nun [im 19. Jhdt.] die beiden Sprachen auseinander: die Sprache des inneren Lebens, des „Geistes” und Gefühls, und die Sprache der Wissenschaft, die sich immer mehr der Mathematik nähert ... Die Sprache des inneren Lebens verfeinert sich in der Hand der Dichter zur Sonde, den seelischen Untergrund zu e r l ö s e n , ihm, dem durch ein Jahrtausend der großen Form Überherrschten, Überschwiegenen und sehr oft Unterdrückten, zum Wort zu verhelfen ...“442)
Diese Entwicklung der Dinge ist nun in der abendländischen Sprachphilosophie mindestens seit dem Ende des 16. Jahrhunderts vorweggenommen. Seit dieser Zeit schon haben die beiden subjektivistischen, einander polar entgegengesetzten Sprachauffassungen des Nominalismus (verstärkt durch die „mathesis universalis”) und der Logosmystik die Führung in der Sprachreflexion der großen Denker. Sie bilden, erkenntnistheoretisch gewendet, als Empirismus, Rationalismus und Transzendentalismus die philosophischen Hauptansätze des von Dilthey sogenannten „natürlichen Systems der Geisteswissenschaften”. Hier, wie in der gleichzeitigen Grundlegung der exakten Naturwissenschaft, kommt es zum ersten Mal seit der Antike zu einer autonomen Vernunftkonzeption des wissenschaftlichen Begriffs der Welt: als Naturrecht, natürliche Aesthetik, natürliche Wirtschaftstheorie (Physiokratismus), natürliche Pädagogik (Ratke, Comenius), natürliche Religion und — nicht zu vergessen — in den großen Systemen einer „natürlichen Sprache”: bei Böhme (aus dem Geiste der transzendentalistischen Logosmystik), bei Leibniz (aus dem Geiste der rationalistischen „mathesis universalis”) und zuletzt bei Berkeley (aus dem Geiste der nominalistisch-empiristischen Kritik der konventionellen Wortsprache443)). Daneben entfalten sich vor allem aus dem
441)
Fr. Heer: Europ. Geistesgeschichte, a. a. O. S. 658. Ebda. S. 607. 443) Die Idee der „Natursprache” in ihren verschiedenen typischen Ausprägungen könnte Diltheys „Natürliches System der Geisteswissenschaften” in einem wesentlichen Punkt bestätigen und ergänzen. 442)
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sprachkritischen Motiv des Nominalismus heraus in dieser Zeit die ersten großen Entwürfe einer Sprachphilosophie überhaupt: so bei Bacon, Hobbes und vor allem bei J. Locke, auf dessen „Essay concerning Human Understanding” wiederum die Leibnizsche Sprachphilosophie der „Nouveaux essais sur l'entendement humain” antwortet. Welche Rolle spielt in diesem ersten schöpferischen Zeitalter abendländischer Sprachphilosophie der humanistische Sprachbegriff? Ist er voll-ständig bedeutungslos für die sprachphilosophische „Front” oder vermag er sich, wenn schon mit Hilfe der modernen, anthropologisch extremen Sprachverhältnisse doch noch philosophisch zur Geltung zu bringen?
279
3. ABSCHNITT
DER S P R A C H H U M A N I S M U S IM „ N A T Ü R L I C H E N SYSTEM DER G E I S T E S W I S S E N S C H A F T E N ” .
Kapitel IX
Der Übergang der humanistischen S p r a c h i d e o l o g i e zur w i s s e n s c h a f t l i c h e n S p r a c h e n k u n d e . Der Spanier Franciscus Sanctius (Sanchez) schreibt in seiner 1587 erschienenen „Minerva seu de causis linguae latinae: „Creavit Deus hominem rationis participem; cui, quia S o c i a b i l e m esse voluit, magno pro munere dedit S e r m o n e m . Sermoni autem perficiendo tres opifices adhibuit. Prima est G r a m m a t i c a , quae ab oratione solaecismos et barbarismos expellit. Secunda D i a l e c t i c a , quae in Sermonis veritate versatur. Tertia R h e t o r i c a , quae ornatum Sermonis tantum exquirit.” (a. a. O. I, I, cap. 2)
Hier ist noch einmal in einfacher und klarer Form der philosophische Grundgehalt des Sprachhumanismus samt dem zugehörigen, der hellenistischen Philosophie entnommenen Einteilungsschema der Logostechnai (artes sermonicales) zusammengefaßt. In dieser auf die antiken Grundlagen reduzierten Form gehört er noch auf Jahrhunderte hinaus zu den selbstverständlichen Ingredienzien alles offiziellen abendländischen Sprachdenkens. Hinsichtlich der ideologischen Emphase jedoch, die sich besonders bei den italienischen Humanisten mit der Mission der Grammatik und Rhetorik verbunden hatte und zu den Anfängen der Philologie — um von der geheimen rhetorisch-philologischen Philosophie nicht zu reden — geführt hatte, vollzog sich im 16. Jahrhundert außerhalb Italiens eine charakteristische Wandlung: Den neuen Geist des „natürlichen Systems” verraten schon die Titel der seit Mitte des 16. Jahrhunderts veröffentlichten Hauptwerke einer entstehenden allgemeinen Sprachwissenschaft: 1548 erscheint in Zürich T h e o d o r B i b l i a n d e r s „De r a t i o n e c o m m u n i o m n i u m l i n g u a r u m et literarum commentarius”; 1555
280
ebenfalls in Zürich C o n r a d G e s n e r s „Mithridates, de differentiis linguarum tum veterum tum quae hodie apud diversas nationes in toto orbe terrarum in usu sunt.” (Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1806-17) erschien ein zweiter „Mithridates oder A l l g e m e i n e S p r a c h e n k u n d e mit dem „Vater Unser” als Sprachprobe in beinahe 500 Sprachen und Mundarten” von J o h . C h r i s t o p h A d e l u n g bzw. J. S. Vater, in dem die allgemeine Zielsetzung und Methode der vergleichenden „Sprachenkunde” des Barock ihre höchste Steigerung und zugleich ihren Abschluß findet. Zwischen diesen beiden mythologischen Titeln, die den sprachen-kundigen König Mithridates von Pontus beschwören, liegt gleichsam die erste Periode der abendländischen Sprachwissenschaft, die das allgemeinwissenschaftliche Ziel einer historischen und lautvergleichenden Sprachbetrachtung erfaßt hatte, in der Methode aber nicht wesentlich über das polyhistorische Sammeln von — allerdings ungeheuren — Stoffmassen und eine intuitivrhapsodische Behauptung etymologischer Verwandtschaften hinausgelangte444). 1610 erscheint in Paris posthum von dem berühmten Philologen J o s e p h u s J u s t u s S c a l i g e r eine „Diatriba de Europaeorum linguis" (in: Opuscula varia antehac non edita); 1602 veröffentlicht der deutsche Orientalist E l i a s H u t t e r in Nürnberg in einem „Öffentlich Außschreiben an allgemeine christliche Obrigkeit” eine „H a r m o n i a l i n g u a r u m ”, worunter er einen vier- (oder mehr-) sprachigen Druck der Bibel, synoptisch in Spalten nebeneinander angeordnet, versteht445). 1616 erscheint in Frankfurt Georg Gurcigers „Harmonia linguarum quatuor cardinalium”, wobei diesmal unter „Harmonie” eine Herleitung der Hauptsprachen aus dem Hebräischen verstanden ist. Ein solches Programm vertrat in noch größerem Umfang E t i e n n e G u i c h a r d s „ E t y m o l o g i s c h e H a r m o n i e des Hebräischen, Chaldäischen, Syrischen, Griechischen, Lateinischen, Französischen, Italienischen, Spanischen, Deutschen, Flämischen, Englischen etc.” (Paris 1606)446). Aus den angeführten Werktiteln spricht offenkundig eine andere Grundeinstellung zur Sprache als aus L. Vallas Buch „D e e l e g a n t i i s l i n g u a e l a t i n a e ”; dieser Unterschied zeigt sich sogar auf dem engeren Gebiet der lateinischen Philologie und zwar ganz ungeachtet der bahnbrechenden philologischen Einsichten, die schon in dem Werke des Ita-
444) Vgl. H. Arens: Sprachwissenschaft (Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart), Freiburg/München 1955, S. 55 u. 132. Die von Arens S. 47 ff. als „Sprachenkunde im Zeitalter des Humanismus” zusammengestellten Dokumente gehören durchweg in unserem Sinne bereits dem „natürlichen System der Geisteswissenschaften” an, in dem sich der Übergang der dogmatischenthusiastischen Sprachideologie des (italienischen) Humanismus in eine universalistisch gerichtete Sprachwissenschaft vollzieht. 445) H. Arens, a. a. O. S. 62. 446) Ebda. S. 61.
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lieners enthalten waren; denn die Nachfolger des L. Valla im 16. Jahr-hundert, J u l i u s C a e s a r S c a l i g e r und F r a n c i s c u s S a n c t i u s schreiben nicht mehr „De elegantiis . . .”, sondern „De causis linguae latinae"447). Aus der enthusiastischen Verkündigung des Ruhmes der Latinität als „der” umgreifenden menschlichen Sprachkultur schlechthin ist eine relativ distanzierte Erforschung der Sprachen als innerweltlicher „Gegenstände” geworden, aus dem dogmatischen Bekenntnis zur formalen Schönheit und gehaltlichen Weisheit der einen als Traditionsautorität universalen Bildungssprache der philosophische Wille zur Erkenntnis der für den Vergleich universalen, weil gemeinsamen Natur bzw. ratio aller Sprachen oder wenigstens ihres historisch universalen Verwandtschafts- und Abstammungszusammenhangs. Kein Zweifel: hier ist gegenüber dem ersten, im dogmatischen Sinne kulturanthropologischen Einsatz des italienischen Humanismus, der in dem naturphilosophischen Äternismus der Scholastik, insbesondere der Averroisten von Padua, einen Hauptgegner erblickte, ein Gutteil der „voraussetzungslosen” Wissenschaftsgesinnung der aristotelischen „Aufklärung” des Hochmittelalters wiedererstanden, eben jener Gesinnung, die auch in Speronis „Dialogo delle lingue” hervortrat und die — in heutiger Sicht — neben und vor der von Dilthey allein betonten Rezeption der römischen Stoa die eigentliche Wegbereiterin des „natürlichen Systems” darstellt. Hinzukommt die Reaktion des Geistes auf die sprachpolitische Situation der Reformationszeit, die in mehr als einer Hinsicht der religiösen Differenzierung vergleichbar war: Die Konzeption einer „h a r m o n i a l i n g u a r u m ” — die für die Mentalität der Barockgelehrten (vgl. Kepler und Leibniz) so repräsentativ ist wie etwa in der italienischen Renaissance der Buchtitel „De Divina Proportione” des Mathematikers Luca Pacioli oder im 18. Jahrhundert die Wendung „Vom Ursprung . . .” — läßt sogleich an die Versuche einer Harmonisierung der Religionen denken, wie sie in eben jener Zeit z. B. von Coornhert, Bodin (Dialog „Heptaplomeres”) und endlich in der „natürlichen Religion” des Herbert von Cherbury unternommen wurden448). (Die spekulative Entsprechung zu der letzteren auf dem Gebiet der Sprache liefert die religiös-philosophische Heilsidee der allen Menschen gemeinsamen und ursprünglichen „Natursprache”, die Jakob Böhme allem Buchstabenglauben der religiösen Sekten entgegensetzt und die Leibniz ausdrücklich als ultima ratio der philosophischen Meinungsstreitigkeiten im Programm einer mathematischen Universalsprache erneuert.)
446) J.C.Scaliger: De causis linguae latinae libri XIII, 1540; und Fr. Sanctius: Minerva seu de causis linguae latinae commentarius, 1587 (vgl. H. Arens, a . a . O . S. 51 ff.). 446) Vgl. W. Dilthey: Ges. Sehr. Bd. I I (3. Aufl. 1921).
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Die hiermit umschriebene Wandlung in der Grundeinstellung der Gelehrten zur Sprache bedeutet natürlich keineswegs ein Aufgeben der einzelnen Kategorien und Topoi, die der Sprachhumanismus durch seine grundlegende Erneuerung der klassischen „artes sermonicales” (der Grammatik und Rhetorik, zuletzt beinahe zusätzlich der Poetik des Aristoteles und — wenigstens der eigenen Überzeugung nach — auch der Dialektik) der Philologie und Sprachwissenschaft in die Hand gab. Aber die ungegenständlich-mitgängigen Züge der humanistischen Sprachideologie, die als geheime Philosophie der Rhetoren und Literaten fast nie explizit begrifflich formuliert wurden, traten doch außerhalb Italiens in der Atmosphäre des natürlichen Systems und seiner autoritätsfeindlichen Grundtendenz fast völlig zurück zugunsten der nominalistischen Sprachauffassung der Spätscholastik, die sowohl mit dem radikalen Erfahrungsprinzip wie auch mit dem voraussetzungslosen Denkprinzip der „instauratio magna seientiarum” allein zu vereinbaren war. Sehr deutlich wird dies etwa bei dem Arzt und Humanisten J u l i u s C a e s a r S c a l i g e r (auch Fr. Sanctius und Conrad Gesner sind Ärzte und Naturforscher, während Petrarca und Salutati und ihre Schüler gegen die Ärzte und ihre aristotelisch-arabische Naturphilosophie im Namen der „studia humanitatis” bzw. der Rechtswissenschaft polemisieren!), der als passionierter Aristoteliker auch die ausschließliche Richtigkeit der npbf-Theorie zu erweisen sucht449). Als echter Humanist zeigt er sich allerdings in der Forderung, bei der etymologischen Herleitung der Wörter, historisch von Sprache zu Sprache zurückgehend, „den Weg (zu) suchen zu dem Einen, bei dem man sich beruhigen kann, weil es die Quelle aller anderen ist, aber selbst keine Quelle mehr hat"450). In dieser historisch-etymologischen Realisierung der „Sprachenharmonie” durch Herleitung aller Sprachen aus dem Hebräischen — und hierbei blieb es im wesentlichen bis zu Leibniz hin — erhält sich zweifellos ein humanistisches Anliegen im „natürlichen System”, aber selbst dieses historische Motiv eines weltgeschichtlichen Rückgangs auf die Quellen ist jetzt nicht mehr nur humanistisch im engeren Sinne; denn als Leitbild fungiert hier ja nicht mehr die Ideologie der Herkunft aller Bildung aus der klassischen Antike, sondern die ältere und geschichtsund sprach-philosophisch universalere Vision der biblischen Geschichte. Es zeigt sich wie schon bei Dante das jüdisch-christliche, heilsgeschichtliche Weltbild als horizontbildender Ausgangspunkt und zugleich als dogmatischer Hemmschuh alles sprachgeschichtlichen Denkens. Als Fortsetzung der aus theologischen Fundamenten von Dante inaugurierten genetischen Sprachbetrachtung nach dem Zwischenspiel der
449) 450)
Vgl. H. Arens, a . a. O. S. 53. J. C. Scaliger: De causis linguae latinae ... , a. a. O. S. 148. (Zitat nach Arens, a . a. O. S. 53).
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engeren römischhumanistischen Dogmatik regiert bei den Polyhistoren des 16. Jahrhunderts wieder die weitere Dogmatik des Christentums. Und eben an dem Punkt, wo schon Dante von Aristoteles her die biblische Sicht zugunsten allgemeiner Hypothesen über Werden, Wandel und Vergehen von Sprachen und Sitten distanziert hatte (vgl. oben S. 110 f.), nehmen die humanistischen Linguisten des 16. Jahrhunderts die Arbeit wieder auf: So schreibt z. B. T h e o d o r B i b l i a n d e r über die Differenzierung der menschlichen Sprachen nach der Babylonischen Verwirrung: „Es gibt noch manche andere Gründe, warum sich die Sprachen, die sich in Babylon von der ersten getrennt haben, von ihrem Ursprung wegzuentwickeln pflegen. Der erste ist die Vermischung der verschiedenen Menschen und Sprachen. ... Der zweite Grund ist der Wechsel der Oberherrschaft und der Verhältnisse, indem die Notwendigkeit zu Neuerungen zwingt. Von der Herrschaft sagt Augustinus im 19. Buche von ,De civitate Dei': Die Bemühungen des herrschenden Staates gehen dahin, den bezwungenen Völkern nicht nur sein Joch, sondern auch um des Friedens innerhalb der Gemeinschaft willen seine Sprache aufzuerlegen.”
Von der Goten- bzw. Langobarden-Theorie Biondos und Vallas zur Entstehung des italienischen Volgare vermittelt diese theoretische Verallgemeinerung gewissermaßen zur modernen Substrattheorie der Sprachentstehung, wie sie der Sache nach im 19. Jahrhundert von dem Italiener Graziadio Isaia A s c o l i sozusagen im humanistischen Gegenzug gegen die von den Junggrammatikern aufgestellte naturgesetzliche Entwicklungstheorie der Sprachlaute begründet wurde. Auch Ascoli geht dabei immer noch von der Danteschen Fragestellung aus: „Wie ist die Entstehung unter sich so verschiedener Sprachen auf dem Kulturboden des Römischen Reiches zu erklären?”, die er der theoretisch-psychologischen bzw. physiologischen Frage: „Worauf sind die Veränderungen im Sprachkörper zurückzuführen?” voranstellt451). Bibliander fährt fort: „Als dritten Grund kann man ansehen: U n te r ri c h t, S tu d i u m und N a c h a h m u n g eines Lehrers.... Es ist gleichermaßen, glaube ich, auf Notwendigkeit und Gewohnheit zurückzuführen, daß die Berufe ihre besondere Art Sprache haben.... (Dieser soziologische Gesichtspunkt findet sich auch schon bei Dante). Auch die geistigen und sittlichen Anlagen der Menschen bringen viel Wandel hervor; so werden die meisten Veränderungen in der Umgangssprache durch Trägheit, N a c h l ä s s i g k e i t, F l ü c h ti g k e i t , A f fe k ti e r t h e i t und Ü b e r t re ib u n g hervorgerufen... Es gibt auch eine Art Geheimsprache, um Geheimnisse zu verbergen, z. B. unter Zauberkünstlern und Liebenden, auch bei den Landstreichern, deren Sprache unser Volk Rotwelsch nennt, das einige sogar in gedruckten Büchern gelehrt haben"452).
451) 452)
H. Arens, a. a. O. S. 333. Ebda. S. 56.
284
Wir können mit diesem Beispiel die Charakteristik der neuzeitlichen Sprachenkunde, wie sie im 16. Jahrhundert entsteht, beschließen und für die weitere Entwicklung auf Arens' Geschichte der Sprachwissenschaft in Dokumenten verweisen. Bei Männern wie Bibliander und später besonders Joseph Justus Scaliger453) mündet die humanistische Sprachauffassung mit ihren grammatisch-philologischen Errungenschaften in die empirisch-genetische allgemeine Sprachwissenschaft des „natürlichen Systems”, die im Keim schon in Dantes „De vulgari eloquentia” angelegt war. Wenden wir uns nun der eigentlich neuen Sprachphilosophie des „natürlichen Systems” zu und versuchen wir, die Bedeutung des Sprach-humanismus für ihre Grundkonzeption aufzuzeigen. Wir könnten uns dabei auf ein einziges System beschränken, das erst nach 1700 entworfene des Italieners Giambattista Vico, der aus dem Geiste des Sprachhumanismus das natürliche System selbst bis zu einer bestimmten Grenze umprägt und das „historische System der Geisteswissenschaften” vorbereitet. Um aber eine Folie für diese späte philosophische Entfaltung des genuinen italienischen Sprachhumanismus zu gewinnen, wollen wir zuerst die Akkomodation desselben an die im Kern nichthumanistische Bewußtseinsstellung des Empirismus und des Rationalismus kurz darstellen.
453)
Für die erstaunlich vorurteilsfreie und klarsehende Einteilung der europäischen Sprachen bei dem jüngeren Scaliger, die gewissermaßen zwischen Dante und der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts die Brücke bildet, vgl. Arens a. a. O. S. 59 f.
285
Kapitel X
Der Humanismus und die nominalistisch-empiristische P r o g r a m m a t i k der Sprachwissenschaft bei F r a n c i s B a c o n . Von großer Bedeutung ist der Sprachhumanismus zweifellos für die Programmatik des englischen Lordkanzlers F r anc is B ac on of Verulam (1561-1626). Gleichzeitig läßt sich hier jedoch besonders deutlich die technisch-szientifische Umdeutung des genuin humanistischen Sprachdenkens von einer im Kern nominalistischen Position aus zeigen454). Wir sehen im folgenden von der impliziten Sprachphilosophie oder genauer Sprachkritik der Baconschen Erkenntnistheorie (z. B. seiner Lehre von den „idola fori”) ab; sie gehört in den Zusammenhang der Geschichte der nominalistischen Sprachidee. Nur dies sei im Hinblick auf die Bedeutung der Topik für die geheime Philosophie des Sprachhumanismus (von Cicero zu Vico!) hier erwähnt: die „instauratio magna” B ac o n s will eben jenen Primat der Topik als ars inveniendi, den auch die Humanisten der scholastischen Logik gegenüber verfochten, unter Beweis stellen. Aber der Engländer erwartet sein Heil nicht mehr von einer rhetorischphilologischen Reform der Logik. Er geht nicht auf Cicero, sondern unmittelbar auf Aristoteles zurück und stellt dessen Topik ein „novum organon” entgegen; in diesem Versuch einer Grundlegung aller Wissenschaft durch Sinneserfahrung und Induktion bildet dann die „Idolenlehre” das empiristisch-nominalistische Gegenstück zu dem letzten Buch der aristotelischen Topik: der Lehre von den „sophistischen Trugschlüssen”, für die ja auch nach Aristoteles schon „die natürlichste und am meisten verbreitete Ursache"455) in den Worten der Sprache zu suchen war. Mit B ac o n s empiristischer, sprachkritischer Neuauflage einer allgemeinen Topik der Wissenschaft ist Leibnizens Versuch einer mathematischen Topik (von der „ars combinatoria” zum „calculus ratiocinator” und zur „characteristica universalis"), die zur Sprachproblematik der modernen Logistik führt456), und andererseits Vicos geschichtsphilosophisch-erkennt-
454)
Vgl. zum Folgenden die gründliche Darstellung von O . Funke: Sprachphilos. Probleme bei Ba-
con (in: Ztschr. f. Engl. Studien, Bd. 61, H. 1, S. 24 ff.). 455) J. M. Bocheęski, a. a. O. S. 64. 456)
Vgl. unten S. 338.
286
nistheoretische Ehrenrettung der humanistischen Idee der Topik457) zu vergleichen. Unmittelbar aus den Voraussetzungen des Sprachhumanismus gewinnt Bacon dagegen seine Einordnung der Sprachwissenschaft in die Enzyklopädie der teils schon gepflegten, teils erst in Angriff zu nehmenden Wissenschaften, wie er sie zuerst in „The Advancement of Learning” (1605) und später noch einmal (in erweiterter Fassung) in „De Augmentis Seientiarum” (1622-23) entwirft: Bacon teilt die Philosophie ein in „doctrina de numine” (englisch: „divine philosophy” oder „natural theology"), „doctrina de natura” („natural philosophy") und „doctrina de homine” („human philosophy" oder „humanity"). In der letzteren Rubrik, die bei Hobbes („De homine”) und als Titel für die „Geisteswissenschaften” („humanities" neben dem aristotelisch orientierten „moral science”) in der angelsächsischen Welt weiterlebt, behandelt er auch die Sprache. Ist schon diese Einordnung unverkennbar humanistisch, so gilt dies erst recht von der Konzeption einer „ars tradendi sive proferendi et enuntiandi” oder kurz „ars traditiva"458), welche „omnes artes circa verba et sermones” umfaßt. Es handelt sich hier offenbar um eine Zusammenfassung der „Logostechnai” bzw. „artes sermonicales”, die im Mittelalter das Trivium der „septem artes liberales” bildeten, dies geht aus der weiteren Einteilung der „ars traditiva” klar hervor. Diese zerfällt nämlich in: 1. doctrina circa organum sermonis, 2. doctrina circa methodum sermonis, 3. doctrina circa sermonis illustrationem sive ornatum, d. h. in älterer Terminologie: in Grammatik, Dialektik und Rhetorik. Bevor Bacon aber nun gemäß der Tradition unter dem Titel Grammatik von Sprache und Schrift als organa sermonis handelt, entwirft er als Desiderat der Wissenschaft eine über Sprache und Buchstaben- (d. h. Laut-)Schrift hinausgehende allgemeine Lehre von den Verständigungsmitteln (organa Traditivae [sc. artis])459). Denn es ist, wie er meint, wichtig zu wissen, daß, wenn schon die Worte und die Schrift die bequemsten Verständigungsmittel sind, ebenso wie Münzen nicht bloß aus Gold oder Silber, so auch diese „numismata rerum intellectualium” auch aus anderem Material als aus Worten und Buchstaben bestehen könnten. (quod sicut nummi possint confici ex alia materia, praeter aurum et argentum, ita et notae rerum alise possint cudi, praeter verba et literas.) (In der englischen Ausarbeitung heißt es: „ .. it is not of necessity that cogitations be expressed by the medium of words").
457)
S. unten S. 338 ff. Bacons Werke, Ausgabe von Ellis, Spedding und Heath, London 1857/9, vol. I, p. 651 ff.; vgl. auch vol. III, p. 399 ff. ( = engl. Ausarbeitung). 459) Ebda., vol. I, p. 651 u. vol. I II , p. 399. 458)
287
Hier verspüren wir zum ersten Mal den Geist des „natürlichen Systems” und insbesondere die nominalistische Distanzierung des Denkens von der geschichtlichen Sprache. Man muß dabei in Rechnung stellen, daß Bacon alle von ihm projektierten „artes” als technische Hilfsmittel — hier erhält der Begriff „ars” (griechisch q`kg) zuerst diesen Sinn! — zur Errichtung des „regnum hominis” über die Natur versteht und infolgedessen auch Begriffe wie „medium” und „organon” (instrumentum) eine schärfere technisch-pragmatische Deutung erhalten. Bacons allgemeine Lehre von den Verständigungsmitteln (,,organa Traditivae" als „notae rerum”) verweist auf die moderne „Kommunikationsforschung” und „Zeichenwissenschaft” im Sinne etwa von Ch. W. Morris 460). Für die Ausführung dieser fehlenden Wissenschaft gibt Bacon folgende Hinweise (a. a. O.): „ ... alles, was Differenzierungen erlaubt, die zahlreich genug sind, um die Mannigfaltigkeit der Begriffe auszudrücken (wenn nur diese Unterscheidungen für die Sinne wahrnehmbar sind), kann zum Vehikel der Vorstellungen (cogitationum) von Mensch zu Mensch gemacht werden. Denn wir sehen, daß Völker mit ganz verschiedenen Sprachen sich nicht schlecht durch Gesten (per gestus) verständigen. Außerdem sehen wir, daß in der täglichen Praxis einiger, die von Geburt an taubstumm (surdi et muti), sonst aber erfinderisch (ingeniosi) waren, erstaunliche Gespräche mit Freunden, die ihre Gesten genau gelernt haben, zustande kommen.” Außer den Gesten erwähnt Bacon als Verständigungsmittel „gewisse reale, nicht nominelle Schriftzeichen (characteres reales, non nominales)” in China und den Ländern des äußersten Ostens, „die nämlich nicht Buchstaben oder Worte (nec literas nec verba), sondern Dinge und Vorstellungen (res et notiones) bezeichnen. Daher können eine ganze Reihe von Völkern mit ganz verschiedenen Sprachen, aber mit diesen gemeinsamen Schriftzeichen (die bei ihnen weite Verbreitung gefunden haben), sich schließlich verständigen; so daß jedes Volk ein beliebiges Buch, das mit diesen Zeichen geschrieben ist, in seiner Sprache lesen und wiedergeben kann.”
Die hier erwähnte chinesische Begriffsschrift sollte in der Folgezeit immer wieder als Anregung zur Ausarbeitung von „code" artigen Unterlagen für eine Universalsprache fungieren461). Bacon teilt die außerhalb der Lautsprache bestehenden Verständigungsmittel nach ihrer Bezeichnungsweise in zwei Gruppen ein: 1. kongruente (ex congruo), 2. willkürliche (ad placitum). „Zur ersten Art gehören Bilderschrift (hieroglyphics) und Gesten (gestus), zur zweiten Art diejenigen, die wir reale Schriftzeichen (characteres reales) genannt haben. Der Gebrauch der Bilderschrift ist sehr alt und stand in hohem
460) Vgl. Ch. W. Morris: Foundations of the theory of signs, Chicago 1938; u. ders.: Signs, Language and Behavior, New York 1946. 461) So etwa bei G. Dalgarno („Ars Signorum” 1661), dem Marquis de Worcester (1663) und dem Bischof J. Wilkins („An Essay towards a Real Character and a Philosophical Language” 1668), in Deutschland u. a. bei J. Becher („Character pro notitia linguarum universali" 1661). Vgl. hierzu: L. Conturat et L. Leau: Histoire de la langue Universelle, Paris 1903.
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Ansehen, besonders bei den Ägyptern, einem sehr alten Volk. So scheinen die Bildzeichen die zuerst bestehende Schriftart (scriptio quaedam antenata) gewesen zu sein, älter als die Buchstabenzeichen, außer vielleicht bei den Juden. Die Gesten aber sind gleichsam momentane Bildzeichen (hieroglyphica transitoria). Wie nämlich die gesprochenen Worte vergehen, die geschriebenen dagegen bleiben, ebenso vergehen die durch Gesten ausgedrückten Bildzeichen, während die gemalten dauern. Als nämlich Periander, den man fragte, wie die Herrschaft des Tyrannen am besten zu erhalten sei, den fragenden Legaten stehen ließ, selbst in den Garten hinabstieg und die Köpfe der hervorragenden Blumen pflückte, wobei er nach oben emporwinkte, da hat er ebenso ein Bildzeichen verwendet, als wenn er es auf eine Karte gemalt hätte. Dies ist jedenfalls offenkundig, daß Bilderschrift und Gesten stets eine gewisse Ähnlichkeit mit der bezeichneten Sache besitzen, gewissermaßen Embleme sind, weswegen wir diese Zeichen für die Dinge kongruent (ex congruo) genannt haben. Die realen Schriftzeichen dagegen haben nichts vom Emblem, sondern sind einfach taub (plane surdi); nicht weniger als die Buchstaben der Schrift selbst; sie sind bloß nach Willkür (ad placitum) gebildet und durch die Gewohnheit wie durch stillschweigende Übereinkunft (pacto tacito) in Aufnahme gekommen. Dies übrigens ist klar, daß man eine ungeheure Menge dieser Bildzeichen zum Schreiben benötigt: soviele nämlich als es Wurzelwörter (vocabula radicalia) gibt ... "462).
Die hier von Bacon gemachte Unterscheidung zwischen c¼pbf- und npbf- Verständigungsmitteln, die schon anklingen läßt, daß die ersteren sozusagen ein älteres System der Sprache ausmachen, ist für die barocke Spekulation charakteristisch. Sie findet sich, vollends ins Humanistische, d. h. ins Sprachgeschichtliche gewandt, mit zahlreichen „emblematischen” Beispielen in der Art der PerianderAnekdote bei Vico wieder; dort bezeichnet sie Epochen der Sprachentwicklung, deren frühere in den späteren als Zeugnis einer älteren Weltkonzeption für den Scharfblick des philologischen Philosophen erhalten sind (s. unten S. 358 ff.). Bacon selbst liegt eine solche geistesgeschichtliche Auswertung fern; ihm geht es um den Vergleich der überhaupt verfügbaren technischen Mittel (s. oben), unter denen er der willkürlich bezeichnenden Lautsprache samt Buchstabenschrift den Preis der Bequemlichkeit gibt (cum verba et scriptio per literas sint organa Traditivae longe commodissima). Im Hintergrund steht auch hier die (nominalistische) Distanzierung des Denkens von allen (zufälligen) Bezeichnungsmitteln. O. Funke vermißt bei Bacon den „Unterschied zwischen deskriptiver und genetischer Betrachtung ... und weiterhin (im Zusammenhang damit) die Tatsache, daß etwas, was einstmals sinnvolles Zeichen war, es später nicht mehr zu sein braucht"463). Solche Perspektiven wie auch der Gesichtspunkt, daß „auf dem Gebiete der Bilderschrift und der Gebärden genaue Analogs zu den Erscheinungen der figürlichen inneren Sprachform (im Sinne Martys)” anzutreffen sind, stehen später bei Vico der Sache nach im Mittelpunkt der Betrachtung und finden eine erste geschichtsphilosophische Gesamtdeutung, die allerdings,
462) 463)
Bacon, a. a. O. vol. I, p. 653; vol. III, p. 400. O. Funke, a. a. O. S. 31.
289
was die erkenntnistheoretische und geistesgeschichtliche Bedeutung der „figürlichen inneren Sprachform” angeht, den genauen Gegensatz zu Martys und Funkes negativer Einschätzung bildet und die etymologische Geistesgeschichte E. Cassirers und Bruno Snells vorwegnimmt.
Nach dem Entwurf einer allgemeinen Zeichenlehre kommt Bacon auf die traditionelle Grammatik, d. h. also auf die Wissenschaft von der Lautsprache und Buchstabenschrift, zurück und gibt, ganz in der Art des Sprachhumanismus, eine Sinndeutung dieser Disziplin: „Diese nimmt im Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften gleichsam die Stelle des Boten (viatoris locum) ein, eine Funktion, die gewissermaßen nicht selbst adlig, aber dennoch vor allen anderen notwendig ist; zumal in unseren Jahrhunderten die Wissenschaften in erster Linie aus den Bildungssprachen und nicht aus den einheimischen (ex linguis eruditis, non vernaculis) geschöpft werden.”
Hier ist noch einmal blitzartig die ganze Auseinandersetzung zwischen Sprachhumanismus und entstehender Erfahrungswissenschaft, die wir schon von Speroni und Du Bellay her kennen, gegenwärtig; Bacon löst sie gewissermaßen im vorhinein auf einer mittleren Linie: die Notwendigkeit der Grammatik als „viator” wird anerkannt, obwohl sie nicht selbst „edel” ist. Gleich im nächsten Satz scheint er sogar über diese zweisinnige Feststellung hinaus die Grammatik im Sinne des extremen Sprachhumanismus feiern zu wollen, denn er fährt fort: „Dennoch ist die Würde derselben nicht gering zu achten, da sie doch gewissermaßen als Gegengift (antidoti cujusdam vicibus) gegen jenes Strafgericht der Sprachverwirrung fungiert.”
Ein Gesichtspunkt, der schon Dantes Konzeption der Grammatik als einer von Gelehrten erfundenen Kunstsprache (s. oben S. 114 ff.) bestimmt, wird hier ausdrücklich formuliert. Aber er fügt sich bei Bacon in den Rahmen einer Geschichtsmetaphysik, die den Übergang von dem klassischen (italienischen) Sprachhumanismus zum modernen (angelsächsischen) technischen Humanismus des „regnum hominis” bezeichnet. Der Text sagt nämlich weiter: „Gewiß bringt es der menschliche Kunstfleiß (industria) dahin, daß er sich wieder in den Stand jener Segnungen einsetzt und befestigt, aus dem er durch seine Schuld herausfiel. Gegen den ersten allgemeinen Fluch (contra maledictionem primam generalem), der die Unfruchtbarkeit der Erde und das Brotessen im Schweiße des Angesichtes betrifft, wappnet und rüstet sich der Mensch in allen übrigen Wissenschaften. Gegen jenen zweiten der Sprachverwirrung ruft er die Grammatik zu Hilfe. Ihre Anwendung in den einheimischen Sprachen ist sicher nur von geringer Bedeutung; wichtiger ist sie schon für das Erlernen fremder Sprachen; am weitreichendsten aber ist ihre Verwendung in jenen Sprachen, die aufgehört haben, Volkssprachen zu sein (quae vulgares esse desierunt), und nur noch in Büchern fortdauern."464)
464)
Bacon, a. a. O. p. 653.
290
Bacons zweifache geschichtstheologische Anknüpfung (der „instauratio magna scientiarum” überhaupt und der allvermittelnden Grammatik als Sprachwissenschaft im besonderen) an den verlorenen Urstand des Menschen ist unter dem Gesichtspunkt einer Abgrenzung des Sprachhumanismus im Medium des „natürlichen Systems” von doppeltem Interesse: Einmal historisch als Übergang des humanistischen Gedankens der Erneuerung der Künste und Wissenschaften durch Erneuerung der Sprachen in die epochale Metaphysik des „natürlichen Systems”, die unter Erneuerung nicht mehr dogmatische „reformatio”, sondern autonome wissenschaftliche Neuerstellung, Erfindung und Entdeckung als Weg zu dem natürlichen Status des Menschen (im genetischen und normativen Sinne) begreift. Zum anderen aber auch systematisch als repräsentative Konstitution des technischen „Herrschaftswissens” und seiner Sprachidee im universalen weltanschaulichen Rahmen der abendländischen Überlieferung, d. h. der christlichen Theologie. Der letztere Aspekt wird noch besonders verdeutlicht durch den Umstand, daß gleichzeitig mit Bacons geschichtstheologischer Begründung des technischen Humanismus Jakob Böhme ein genaues Gegenstück dazu in der Begründung des Erlösungswissens und seiner Sprachidee liefert. Auch er knüpft an Adams Sündenfall und an die babylonische Sprachverwirrung an und verheißt eine Restitution der Natursprache und des zugehörigen Wissens: der Pansophie. Freilich nicht durch rationelle Bemächtigung aller künstlichen Hilfsmittel und Kräfte, die dem Menschen zur Verfügung stehen, sondern durch Absage an „Vernunft” (bei Böhme gleich „Verstand”, während „Verstand” gleich „Vernunft”, etwa im Sinne des deutschen Idealismus, gebraucht wird465)) und „Eigenwille” (wie er in der Schaffung der Sprachvielheit sich bekundet) zugunsten der intuitiv-expressiv in der Natursprache bekundeten inneren Wiedervereinigung mit dem göttlichen Quellgrund des Lebens; „denn Gott ist selber das Wesen aller Wesen, und wir sind als Götter in ihm, durch welche er sich offenbaret."466)
Während aus Böhmes logosmystischer Sprach- und Wissenserneuerung der quasigöttliche moderne Sprachschöpfer und Seinsstifter, der „Dichter” im deutschen Sinne, herzuleiten ist, sagt sein englischer Zeitgenosse Bacon bereits von den technischen Errungenschaften des menschlichen Verstandes: ... Die Erfindungen gleichen neuen Schöpfungen und sind Nachahmungen der göttlichen Werke ... "467)
465)
Vgl. vom Verf.: Das „Verstehen”, a. a. O. S. 160. Jak. Böhme, S. W. hrsg. v. K. W. Schiebler, Lpz. 1841, Bd. IV, S. 85. Vgl. zu Böhmes Geschichts- und Sprachtheologie E. Benz: Zur metaphysischen Begründung der Sprache bei J. Böhme (Euphorion, 37. Bd. 1936), S. 340. 467) Bacon: Novum Organon, Aphorismus 129. 466)
291
— womit er einen Renaissancetopos (homo creator — alter deus) erneuert, der einen seiner wichtigsten Quellpunkte bei Nikolaus von Cues hat, bei dem er mit dem mystischen Aspekt der Logoslehre noch innig zusam-menhängt468). Neben der traditionellen humanistischen „Grammatik”, die er „literarisch” nennt, unterscheidet Bacon noch das Aufgabengebiet einer „philosophischen Grammatik”. Sie hätte nicht die Beziehung der Wörter untereinander (analogiam verborum ad invicem), sondern die der Wörter zu den Sachen bzw. zum Verstand (analogiam inter verba et res, sive rationem) zu erforschen. Aber er distanziert sich sofort — wie es der Humanismus seit C. Salutati tat — von dem bei diesen Worten offenbar gleich assoziierten Verfahren der scholastischen Sprachlogik: „citra tarnen eam, quae logicae subservit, hermeniam" 469) Auch von der spekulativen Etymologie im Stile des platonischen „Kratylos” hält er wenig; obgleich er seinem eigenen Programm den Satz voranstellt: „Vestigia certe rationis verba sunt; itaque vestigia etiam aliquid de corpore indicant.” (In der früheren englischen Ausarbeitung heißt es: „ …the other philosophical [sc. grammar], examining the power and nature of words as they are the footsteps and prints of reason:..."474). Von Platons Sprachphilosophie meint Bacon: „Sie beschäftigt sich allzusehr mit der Namengebung und ihrer ursprünglichen Etymologie (de impositione et originali etymologia nominum), indem sie unterstellt, daß die Namen schon von Beginn an keineswegs willkürlich gegeben worden seien, sondern mit einer gewissen Begründung und sinnvoll hergeleitet und deduziert.” Dies sei ,,sicher eine hübsche und gleichsam nach allen Seiten knetbare Angelegenheit (,,materiam certe elegantem, et quasi ceream, quae apte fingi et flecti possit"), ja sogar im gewissen Sinn eine bewunderungswürdige, da sie ins Innere der alten Zeiten einzudringen scheine, aber nichtsdestoweniger von spärlichem Wahrheitsgehalt (parce veram) und wenig fruchtbar (fructu cassam)."471) Worauf will nun Bacon selbst mit seinem Programm einer philosophischen Grammatik hinaus? „Dies endlich”, meint er, „wäre die nobilissima grammaticae species, wenn jemand, der in sehr vielen Bildungs- wie auch Volkssprachen vorzüglich bewandert wäre, über die mannigfachen Eigenschaften der Sprachen handelte und dabei zeigte, in welchen Eigenschaften eine Sprache jeweils sich auszeichnet und in welchen sie mangelhaft sei. So nämlich könnten die Sprachen auch durch die wechselseitige Ergänzung (mutuo commercio) bereichert werden. Und aus dem, was in den einzelnen Sprachen jeweils schön ist, könnte (gleichsam die Venus des Apelles) eine gewissermaßen vollendetste Gestalt der Rede überhaupt (orationis ipsius quaedam formosissima imago) entstehen, ein ausgezeichnetes
460)
Vgl. vom Verf.: Die Idee der Sprache bei Nik. v. Cues, a. a. O. 464) Bacon, a. a. O. vol. I, p. 654. Ebda. vol. III, p. 401. 462) Ebda. vol. I, p. 654. 461)
292
Muster sozusagen für den passenden Ausdruck der geistigen Gehalte (exemplar quoddam insigne, ad sensus animi rite exprimendos)."472)
Als philosophische Grammatik entwirft Bacon hier also eine empirisch vergleichende Sprachwissenschaft, welche die verschiedenen Methoden des Gedankenausdrucks bewertet im Hinblick auf das Ziel der überhaupt besten oder schönsten menschlichen Rede. Heußler meint, hier tauche der Gedanke an eine Art Volapük auf473), O. Funke dagegen glaubt, daß Bacon als meisterlicher Stilist, der für rhetorische Fragen stets besonderes Interesse zeigt, nicht eine Verkehrssprache, sondern eine aesthetisch hervorragende Kunstsprache im Auge habe474). Beides ist wohl nicht ganz von der Hand zu weisen. Jedenfalls handelt es sich um eine wissenschaftliche Systematisierung und auch wohl praktisch gedachte Nutzanwendung jener Art von Sprachenvergleich und Sprachenbewertung, die wir bereits häufiger bei den Humanisten (insbesondere im Zusammenhang der italienischen „questione della lingua”) antrafen. Auch das Beispiel von Apelles ist typisch humanistisch und verrät zugleich, wie wenig Gedanken sich Bacon noch um die Kriterien einer Sprachenwertung gemacht hat, weniger jedenfalls als etwa Lorenzo de' Medici (s. oben S. 203). Aber Bacons Projekt einer „philosophischen Grammatik” entspringt noch aus einer zweiten Fragestellung, die freilich, wie sich zeigen wird, von dem Gesichtspunkt unmittelbarer, dogmatischer Bewertung keineswegs methodisch unterschieden wird: „Ineins mit dem skizzierten Sprachenvergleich”, meint er, „werden sich nicht unwichtige, sondern (was vielleicht mancher nicht glaubt) der Betrachtung würdige Hinweise aus den Sprachen der Völker und Nationen auf ihre Geistesart und Sitten gewinnen lassen.” Als Beispiel erwähnt Bacon zunächst mit besonderem Vergnügen „Ciceros Bemerkung, daß die Griechen kein Wort hätten, welches das lateinische ,ineptus` [Pedant] wiedergibt, weil den Griechen, wie er sagt, dieser Fehler so geläufig war, daß sie ihn an sich selbst nicht einmal erkannten ...”. Weiter fragt er: „Was hat es zu bedeuten, daß die Griechen die Wortzusammensetzung mit soviel Freiheit gebrauchen, die Römer sich hingegen hierin so enthaltsam zeigen?” Er gibt sich selbst die Antwort: „Offenbar kann man daraus entnehmen, daß die Griechen mehr für die Künste und Wissenschaften (artibus), die Römer dagegen mehr für praktisches Handeln befähigt waren. Denn die Unterscheidungen der Künste und Wissenschaften machen die Wortzusammensetzungen fast notwendig, die praktischen Angelegenheiten und Geschäfte aber verlangen einfachere Worte.”
Unter den weiteren Beobachtungen Bacons ist besonders die über den strukturellen Unterschied der klassischen von den modernen Sprachen interessant:
472)
Ebda. H. Heussler: Fr. Bacon u. seine geschichtl. Stellung, S. 161. 474) O. Funke, a. a. O. S. 35. 473)
293
„Und ist nicht auch dies beachtenswert..., daß die alten Sprachen eine Fülle von Deklinationen, Kasus, Konjugationen, Zeiten und dergleichen hatten, die modernen dagegen, die all dies fast gänzlich entbehren, das meiste umständlich (segniter) durch Praepositionen und Hilfsverben ausdrücken. Sehr leicht kann man daraus — unerachtet unserer Selbstgefälligkeit — zu der Vermutung kommen, daß die Geistesfähigkeiten in den früheren Jahrhunderten sehr viel schärfer und feiner waren als zu unserer Zeit."475)
Hier ist dem genialen Aperçu-Denker Bacon eine sprachwissenschaftlich grundlegende Unterscheidung gelungen. Erst Friedrich von Schlegel wird sie erneut auffinden476), und erst sein Bruder August Wilhelm von Schlegel gibt ihr einen Namen: den des Unterschiedes von synthetischen und analytischen Sprachen477). Die eilfertige Wertung Bacons liegt ganz auf der Linie humanistischer Hochschätzung des Altertums. Auch noch im deutschen Neuhumanismus der Humboldtzeit wird dieses Vorurteil eine große Rolle spielen. August Wilhelm von Schlegel unterscheidet hier mit dem geschichtsphilosophischen Tiefblick, den zuerst Vico besaß, den archaischen Vorrang der schöpferischen Gestaltungskraft aus „unmittelbarem Antrieb aller Seelenkräfte” und den spätzeitlichen der analytischen Verstandesschärfe478). In jüngster Zeit hat dann A. Gehlen die anthropologische Gesetzlichkeit der Entwicklung von der synthetischen zur analytischen Sprachstruktur durch seine Entlastungshypothese noch schärfer beleuchtet479). Neben dem skizzierten Vergleich der Sprachen als verschiedenartiger Ausdrucksleistungen in Bezug auf Dinge und Gedanken fordert Bacon noch eine vergleichende Lautlehre der einzelnen Sprachen, die das jeweils Eigentümliche scharf herausarbeitet480). Auch hier ist der englische Philosoph der wissenschaftliche Organisator für verstreute Kenntnisse, die sich in den Jahrhunderten des Sprachhumanismus angesammelt hatten. Seine Bemerkungen über die metrische Formgebung spiegeln noch deutlich die jüngsten Diskussionserrungenschaften des nationalen Humanismus. So, wenn er sagt: „Es muß getadelt werden, daß gewisse allzu eifrige Verfechter der antiken Literatur die modernen Sprachen nach den antiken Maßen (heroisch, elegisch, sapphisch) umzuformen versucht haben; nach Maßen, welche die Bauart (fabrica) jener Sprachen von sich weist und welche auch die Ohren abschrecken .. . dies ist wahrlich nicht Kunst, sondern Mißbrauch der Kunst (artis abusus), da es die Natur nicht vollendet, sondern verdirbt."481)
475)
Bacon, a. a. O. vol. I, p. 655. Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier... 1808, 1. Bch., 3. Kap. 477) Aug. Wilh. v. Schlegel: Observations sur la langue et la litterature provençales, Paris 1818, S. 16 ff. 478) Ebda. S. 27 f. 479) S. oben S. 131 ff. 480) Bacon, a. a. O. vol. I, p. 655/6. 481) Ebda. p. 656/7. 476) Fr.
294
Auch den Satzakzent bzw. die Satzmelodie hat Bacon als Problem erkannt und einer gesonderten Erforschung (neben dem Wortakzent) empfohlen482). All dies rückt er aus der dogmatisch engagierten Betrachtungsweise der Humanisten, die an Problemen der Nationalsprache, der metrischen oder Orthographiereform interessiert waren483), in die Richtung seiner generellen „instauratio scientiarum” im Dienste des menschlichen Herrschaftswissens. Sehr charakteristisch hierfür ist z. B. seine Abzweigung einer all-gemeinen Lautphysiologie von der Betrachtung des lautlichen Wohl- oder Mißklanges. Nur die letztere gehört in den Bereich der Grammatik, d. h. also der „humanity”, während die erstere eine Naturwissenschaft ist, welche die „Form” der Laute, d. h. ihre natürlichen Artikulationsbedingungen untersucht: „quali scilicet collisione, quali instrumentarum vocis applicatione [sc. sonus] constituatur."484)
Im Gefolge dieses Baconschen Programms erschien 1653 der „Tractatus grammatico-physicus de loquela sive sonorum formatione” des John W a llis, den dieser seiner „Grammatica linguae Anglicana” vorausschickte, eines der frühesten Dokumente einer kritischen vergleichenden Phonetik485). Unter dem für uns maßgebenden Gesichtspunkt der Geschichte der Sprachauffassung im ganzen Umkreis menschlichen Wissens ist es nicht unwesentlich, auch die lautphysiologischen Interessen Bacons und ihre szientifische Thematisierung als naturwissenschaftlicher Forschungssektor mit der gleichzeitigen Sprachmetaphysik Jakob Böhmes zu vergleichen: Auch bei dem deutschen Theosophen steht der leibhafte Prozeß der Lautbildung im Mittelpunkt des Interesses. Während aber Bacon daran liegt, im Blick auf den regulativen Leitsatz „natura nonnisi parendo vincitur” möglichst unabhängig vom menschlichen Willen bestehende autonome Gesetzlichkeiten aufzufinden (z. B. „that the letters B, P, F, M, are not expressed but with the contracting or shutting of the mouth; that the letters N and B, cannot be pronounced but that the N will turn into M; as hecatonba will be hecatomba. That M and T cannot be pronounced together but P will come between; as emtus is pronounced emptus; and a number the like")486),
während sein szientifische Genius so überall isolierbare Forschungsgegenstände gewinnt, sieht Böhme abseits aller wissenschaftlichen Zer-
482)
Ebda. p. 657. O. Funke (a. a. O. S. 40) hält einen Einfluß von P. Ramus auf Bacon für wahrscheinlich mit Berufung auf Sidney Lee: French Renaissance, p. 323 if. 484) Bacon, a. a. O. S. 655 f.; über die von der Grammatik abgetrennte Lautphysiologie s. „Silva silvarum”, a. a. O. vol. II, p. 385 ff. (vgl. auch O. Funke a. a. O. S. 37 f.). 485) Vgl. H. Arens, a. a. O. S. 68 ff. 486) Bacon: Silva silvarum, § 198. 483)
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gliederung und Begriffsbildung nur das totale und metaphysisch elementare Ereignis des menschlichen Wortens, das er als Abbild, ja mehr noch, als Fortsetzung der göttlichen „incarnatio verbi”, d. h. des Fiat der Schöpfung begreift. Statt das Körperliche der Lautbildung naturwissenschaftlich zu isolieren, legt er alle nur denkbaren anthropologisch-metaphysischen Implikationen der Mikrokosmosidee in seine „psychosomatische” Deutung der Lautwerdung und Artikulation des geistigen Wortes in der „Schiedlichkeit” des Leibes. Es handelt sich hier nicht nur um „the motions of the tongue, lips, throat, palate etc. which go to the making of the several alphabetical letters"487), sondern kognitive und religiös-moralische Funktionen, wahre Weltentdeckung und rechte ethische Entscheidung sind im Akt der leibhaften Wortung einbeschlossen: „Wie sich nun ein jedes Wort im Munde zur Substanz fasset, als zum Aussprechen, wie es der Werkmeister bildet, der in den Sensibus ist, als das Fiat, und wie die Zunge mittut, wenn sie das fasset, und durch welchen Weg sie das ausführet, entweder durch die Zähne, oder über sich, oder mit offenem Munde, item, wie sich die Zunge schmeuget im Fügen des Worts, welchen Sensum sie wieder zurückzeucht und nicht will ganz ausstoßen, wie denn mancher Sensus kaum halb ausgestoßen wird, mancher aber gar, mancher aber wieder halb gegen dem Herzen gezogen; und wie nun das Wort gebildet ward: also ist auch das Ding in seiner Form und Eigenschaft, das das Wort damit nennet (sofern ihm der freie Wille auch einen rechten Namen giebet, daß er ihm nicht aus Bosheit oder Unverstand einen fremden Namen anhänget): also ist es äußerlich bezeichnet und innerlich in der Compaction der Sensuum: einer solchen Tugend oder Untugend ist es."488)
Diese Gegenüberstellung mag die ganze Spannweite menschlichen Wissens von der Sprache, wie es im 17. Jahrhundert im „natürlichen System” der Barockmetaphysik sich entfaltet, veranschaulichen. Verfolgen wir in diesem Medium weiter die Spur der originären philosophischen Motive der humanistischen Sprachidee.
487) 488)
Ebda. Jak. Böhme, a. a. O. Bd. V, S. 260.
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Kapitel XI
Der Humanismus und die wissenschaftliche (mathematische und psychologische) Reduktion der inneren Sprachform bei L e i b n i z .
Sowenig wie Bacon gehört Leibniz, was den Kern seiner Sprachphilosophie angeht, in den Bereich des Humanismus. Aber ebenso wie der Engländer ist auch er ein umfassender Organisator und Programmatiker der Wissenschaften, der auch — sehr im Gegensatz zu Descartes — die Fülle des historischen Bildungswissens aufnimmt und geradezu durchdrungen ist von dem Wunsch, allem irgendwie Wertvollen einen Platz im universalen System der Wissenschaften anzuweisen. Wie bei Bacon so müssen wir auch bei Leibniz den eigentlichen Kern seiner Sprachphilosophie hier beiseitelassen oder vielmehr voraussetzen: die durchaus neue und radikal künstliche Sprachkonzeption der „mathesis universalis”, die Leibniz im Zusammenhang seiner logischen und mathematischen Schriften entwickelt und in der er die empirisch-psychologisch orientierte Sprachkritik des Nominalismus (Bacon, Hobbes, Locke) konstruktiv-rationalistisch ergänzt und den vollen technisch-szientifischen Sprachbegriff der Neuzeit (den der Logistik) vorbereitet. Wir wollen im folgenden lediglich andeuten, wie in den zahlreichen Äußerungen des Philosophen über die lebendige Umgangssprache das ideologische und linguistisch-philosophische Erbe des Sprachhumanismus gleichsam vor dem Hintergrund der technisch-mathematischen Zeichenidee der Sprache wissenschaftlich organisiert und ausgewertet wird. Dadurch soll eine letzte und, wie sich zeigen wird, den Blickpunkt unserer Untersuchung maßgeblich bestimmende Kontrastfolie für die Philosophie Giambattista Vicos gewonnen werden. Während nämlich Vico als einziger großer Denker des „natürlichen Systems” bewußt von dem Gegensatz des Sprachhumanismus zum Geist der modernen, rational-analytischen Wissenschaft ausgehen und damit den alten Gegensatz des rhetorisch-philologischen Humanismus seiner Heimat gegen die Schulwissenschaft auf anderer Ebene neu aufreißen wird, ist Leibniz geradezu der klassische Repräsentant eines Denkens, das alle Motive des Sprachhumanismus mit dem Sprachinteresse des Logikers (das bei ihm erstmals identisch ist mit dem des Mathematikers) zum Einklang zu bringen sucht:
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„. . . Ich glaube wirklich, daß die Sprachen der beste Spiegel des menschlichen Geistes sind und daß eine genaue Analyse der Bedeutung der Wörter besser als alles andre zeigen würde, wie der Verstand funktioniert."489)
Dieser für Leibniz fundamentale und zugleich programmatische Satz enthält einmal, wenn man will, das ganze philosophische Anliegen des Sprachhumanismus der Renaissance, der seit C. Salutati und L. Valla der abstrakten, formalen Logik das Studium der Sprachen entgegensetzte; aber die sprachliche Bildung ist bei Leibniz nicht Selbstzweck, dient auch nicht nur der Historie oder Völkerkunde, wie bei den barocken Polyhistoren, deren größter Leibniz selbst ist, sondern liefert letztlich doch nur Beispiele für eine radikale, logisch-formalistische Abstraktion auf die Funktion der Zeichen im Dienste des Verstandes. Die Erforschung der konkreten Sprachen und ihrer Leistung für die Erkenntnis dient bei Leibniz in letzter Hinsicht dem Aufbau einer ideal funktionierenden Zeichenkunst im Rahmen der neu zu schaffenden mathematischen Logik und damit — für seinen optimistischen Aspekt — der „scientia generalis”, die auch inhaltlich den Anspruch einer religiösphilosophischen „Pansophie” (Böhme, Comenius, Leibniz) erfüllen sollte. Leibniz braucht indessen durch sein logisches Interesse an der Sprache nicht mehr in einen Gegensatz zu der philologisch-historischen Blickrichtung des Humanismus zu geraten wie die scholastischen Sprachlogiker und zuletzt noch die Verfasser der „grammaire raisonnée” von Port Royal490); denn er ist ja der erste, der klar erkannt hat, daß die Logik — und damit exakte Wissenschaft überhaupt — nicht im Gewande der natürlichen Sprache aufzutreten braucht, sondern, sofern sie allgemeingültig schließen soll, weit besser als Kalkül, d. h. mit Hilfe einer künstlich konstruierten „characteristica universalis” nach dem Muster der mathematischen Symbolik aufzubauen ist. Indem er die seit der Entstehung der Logik postulierte analogische Zeichenrepräsentation der „natürlichen Weltordnung” nicht mehr allein durch logische Analyse einer gewachsenen Sprache (Aristoteles, Stoa, Scholastik), sondern durch die Konstruktion einer Kalkülsprache verwirklichen will, ist sein Blick völlig frei für die Vielfalt der historischen Sprachen. Auch bei ihnen interessiert ihn die Spiegelung des Verstandes, und vor allem seine Sprachpädagogik gewinnt darin ihr normatives Prinzip; aber der Historiker und Psychologe Leibniz weiß genau, daß die wirklichen Sprachen weniger aus der Analogie eines Zeichensystems zur Verstandesordnung der Dinge, als vielmehr „je nach Gelegenheit aus der Analogie des Lautgebildes mit dem Affekt entstanden, der die Empfindung von der Sache begleitet"491), daß in ihnen „die Natur den
489)
Leibniz: Nouveaux Essais ... , Bch. III, Kap. VII, § 6. Vgl. H. Arens, a. a. O. S. 72 ff. 490) Leibniz: Brevis designatio meditationum de originibus gentium ductis potissimum ex indicio linguarum (Miscellania Berolensia ... ex scriptis soc. reg. scientiarium, Berlin 1710), S. 2 (Zitat nach Arens, a. a. O. S. 79). 490)
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Menschen den Ursprung und Anfang aller ihrer Erkenntnisse durch die Worte selbst unbewußterweise darbot"492), daß sie daher nicht „den Ursprung der Begriffe, sondern sozusagen die Geschichte ihrer Entdeckungen"493) aufzeigen. Der „Ursprung der Begriffe” und damit die Verstandesnorm selbst liegt für Leibniz nach christlich platonischer Tradition und zugleich im Sinne des „natürlichen Systems” in der a priori feststehenden „natürlichen Ordnung der Dinge ... (die) Engeln und Menschen, ja allen Geistern überhaupt gemeinsam” ist494). An diesem Punkt entspringt nun freilich für die Erkenntnistheorie und — bis heute noch kaum erkannt — vor allem für die Sprachphilosophie ein neues Problem, das hier schon angedeutet werden muß, um die Bedeutung Vicos als des eigentlichen Testamentsvollstreckers des Sprach-humanismus auch nach Leibnizens Neugründung des Verhältnisses von Logik und historischer Sprache von vorneherein in einen Verständnishorizont zu bringen: Die platonische Tradition des „Ideenreiches” bzw. des „mundus intelligibilis” war — und ist auch heute noch — geeignet, ein Problem zu verdecken, das gerade durch Leibnizens Neufassung des Apriorischen als „Form” des Geistes in neuer Schärfe sich stellt: Wenn, als Endergebnis der erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit Locke, die ja wesentlich am Problem der Sprache ausgetragen wurde, von Leibniz der Satz festgehalten wurde: „Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu ... nisi ipse intellectus"495), so entsteht hieraus ja systematisch die Aufgabe, aus dem jederzeit wirksamen Zusammenspiel von „Sinnlichkeit” und „Verstand” den Ursprung unserer Begriffe ihrem ganzen materialen Bedeutungsgehalt nach entstanden zu denken; eine Aufgabe, die Kant später — ohne einen Seitenblick auf die Sprache durch den „Schematismus” der „Einbildungskraft” transzendentalphilosophisch aufzulösen sich bemüht. Hamann aber hält ihm entgegen, daß im „Sakrament der Sprache” die Einheit der beiden Erkenntnisstämme liege und in ihr das Problem der Konstitution der Erscheinungswelt sozusagen immer schon gelöst sei496). Die hier keimhaft und geheimnisvoll in dem Programm einer „Metakritik der Kritik der reinen Vernunft” bezeichnete Aufgabe einer Transzendentalphilosophie der sprachlichen Weltkonstitution erhält nun ihre eigentliche Schärfe durch die Überlegung, daß es immer schon eine bestimmte Sprache mit ihrer geschicht-
492)
Nouveaux Essais ... , Bch. III, Kap. I, § 5 (Phil. Bibl. Bd. 69, Leipz. 1904, S. 274). Ebda. S. 273. 494) Ebda. S. 273. 495) Ebda., Bch. II, Kap. I, § 2 (a. a. O. S. 78). 496) Hamann: Ges. Schriften, hrsg. von Fr. Roth und G. A. Wiener, Berlin 1821-43, Bd. VII, S. 12 f. 493)
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lichen Bedeutungswelt ist, durch die der Mensch a priori in einen gegliederten
Sinnhorizont von Welt überhaupt eingerückt ist. Hier liegt also ein Sinnkonstituens vor, das weder auf den für die logische Weltordnung konstitutiven „intellectus ipse” (alias „Bewußtsein überhaupt”) noch auf die sensualen (empfindungsmäßigen) Entstehungsanlässe der aktuellen Erkenntnis reduziert werden kann. Denn: primär für unser Welt- und Selbstverständnis ist immer die sprachlich artikulierte Situation: aus ihr her ist selbst das Problem einer transzendentalen Erkenntniskritik allererst zu stellen. Wenn aber schon auf die „Bedingungen der Möglichkeit” dieser sinnhaften Situation reflektiert werden soll, so zeigt sich: Jede Situationserhellung gemäß einem Satzsinn, z. B. dem der Rede: „Wir sind alle Menschen”, setzt außer einem individuellen Erlebnisanlaß und der schlechthin allgemeingültigen logischen Synthesis des ,Bewußtseins überhaupt` auch immer schon die ganze Geschichte der Welterdeutung voraus, die in jedem einzelnen Wort und in dem verwendeten Satzgefüge selbst vorliegt. M. a. W.: Der Mensch kann nichts „meinen” — auch nicht sich selbst — ohne es im Lichte einer seit unvordenklichen Zeiten ihm zuvorgekommenen sprachlichen Weltdeutung vorverstanden zu haben. Die in einem Wort wirksame Geschichtlichkeit der Weltdeutung muß nicht mit der Bedeutungsgeschichte dieses laut- und volkssprachlichen Wortes identisch sein. Sie ist z. B. bei dem Wort „Mensch” für den Abendländer in vielen Volkssprachen etwa gleichbedeutend vorgeprägt durch einen „Begriff”, der, durch zwei übergreifende „Bildungssprachen” vermittelt, schließlich auf die philosophische Konzeption des knotmls als wîlkiãdlk`lk bei Aristoteles zurückweist, eine Konzeption, die natürlich ihrerseits vielfältig bedingt ist durch das griechische Vorverständnis der Wörter knotmls*wîlkund iãdlk. An diesem Punkt, den wir hier als ein transzendental-philosophisches und nicht etwa lediglich empirischphilologisches Problem herauszustellen suchten, liegt die prinzipielle Grenze der Leibnizschen Würdigung der geschichtlichen Sprachen. Es ist die Grenze des „natürlichen Systems” überhaupt. Und an eben diesem Punkt wird sich bei Vico — wennschon ohne die explizit sprachphilosophische Formulierung — noch einmal die ursprünglichste philosophische Tendenz des römischitalienischen Sprachhumanismus zur Geltung bringen. Als indirektes, aber zuverlässiges Kriterium der transzendentalphilosophischen Würdigung der Sprache kann dabei vor allem das Verständnis der Dichtung betrachtet werden. Wenn die „natürliche Ordnung der Ideen” nach platonischem Vorbild zum Thema der Logik wird — wobei unter der Hand der materiale Gehalt mit in die ewige Ordnung hineinprojiziert wird —, ist die eigentliche Funktion der Dichtung schon übersprungen. Die Sprache muß dann zum nachträglichen Bezeichnungsmittel im Dienste des reinen Denkens werden.
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Die bisherige Charakteristik trifft freilich bei Leibniz nur die rationale Struktur seines Denkens. Im einzelnen wird man immer wieder feststellen, daß eine der Herkünfte seiner Sprachauffassung (wie auch seiner „Monadologie”) in der deutschen Naturphilosophie und Logosmystik (Paracelsus — Böhme — Schottel bzw. Mercurius van Helmont) liegt. Von dort ist hauptsächlich sein tiefes Verständnis für die etymologischen Weltaufschlüsse der sogenannten „Stamm- oder Wurzelwörter” geprägt: ein Erbe der neuplatonisch-barocken Konzeption der „Natursprache”, das Leibniz mit Vico teilt und das oft den technischen Zeichenbegriff der Sprache bei ihm fast vergessen läßt. Aber auch hier handelt es sich um eine rationalisierende „Rettung” der etymologischen Mystik, die bei allem historischen Interesse letzten Endes nicht so sehr geschichtliches „Verstehen” der Bedeutungswelt (wie bei Vico) als psychologisch-anthropologisches „Erklären” der unbewußten Vorstufen logischrationaler Zeichenverwendung ist. Die Anknüpfung Leibnizens an das Erbe des Sprachhumanismus vollzieht sich vornehmlich in zwei Klassen von Schriften (wobei freilich die Überschneidungen charakteristisch sind): Zeitlich am Anfang stehen die Bekenntnis- und kulturpolitischen Programmschriften wie „De optima philosophi dictione” (Einleitung zur Neuausgabe des „Antibarbarus” von Marius Nizolius, 1670), die „Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben samt beigefügtem Vorschlag einer deutschgesinnten Gesellschaft” (etwa 1683)497) und vor allem die Fortsetzung dieser Schrift: „Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache” (etwa 1697 bei Zugrundelegung eines älteren Kerns498)). Diese Schriften stehen inhaltlich und formal noch in der Tradition der mit dem italienischen „umanesimo volgare” beginnenden nationalhumanistischen Sprachprogrammatik der europäischen Völker, der Sprachakademien und Gesellschaften von der „Accademia della Crusca” bis zu den zahlreichen zur Abwehr der Französierung nach dem Dreißigjährigen Krieg entstandenen deutschen „Sprachgesellschaften”. Eine zweite Gruppe von Schriften wird nach Inhalt und Fragestellung repräsentativ charakterisiert durch die „Brevis designatio meditationum de originibus gentium ductis potissimum ex indicio linguarum” (Miscellania Berolinensia ... ex scriptis soc. regiae scientiarum Berlin 1710). Ihr Thema, das freilich schon in den „Unvorgreiflichen Gedanken” und noch in den „Neuen Abhandlungen” eine große Rolle spielt, entspricht dem Interesse des barocken Polyhistors, der zwar der Nachfolger des humanistischen Gelehrten ist, die Sprachen aber wesentlich als Denkmal und Zeugnis für seine historisch-völkerkundlichen Forschungen würdigt.
497) 498)
Vgl. die Erläuterungen in: Philos. Bibl., Bd. 161, S. 89. Ebda. S. 92 f.
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Ein dritter Typus von Sprachbetrachtungen, der wiederum in den bisher genannten Schriften stets mitgegenwärtig ist, gelangt zur spezifischen Ausprägung in der Gegenschrift zu J. Lockes „Essay Concerning Human Understanding”, in den „Nouveaux essais sur l'entendement humain” (1704). Hier handelt es sich um die erkenntnistheoretische Würdigung der Sprache, in der sich bei Leibniz sozusagen in letzter Instanz die Auswertung empirischer Sprachkenntnis im Dienste der logischmathematischen Sprachkonstruktion vollzieht. Leibnizens Auseinandersetzung mit Locke in den „Neuen Abhandlungen . . .” ist, von heute aus betrachtet, ein noch verhältnismäßig harmloses und unscharfes Abbild dessen, was der Sprachbegriff der „mathesis universalis” (angedeutet z. B. im „Dialogos de connexione inter res et verba” von 1677499)) im Verhältnis zur nominalistischen Sprachkritik und Zeichenidee überhaupt bedeutet: die Ergänzung des solipsistisch-psychologischen Ansatzes der willkürlichen V o r s t e l l u n g s b e z e i c h n u n g durch die Idee der a priori allgemeingültigen und (nach Leibniz!) sachrepräsentativen R e l a t i o n s - oder S t r u k t u r b e zeichnung und ihrer Funktion im vorstellungsblinden Kalkül. Wir haben die erkenntnistheoretische Ausarbeitung der Leibnizschen Sprachauffassung hier nur soweit heranzuziehen, daß die praereflexive geschichtlich-soziologische Dimension der Sprache als Restproblem angesichts der psychologischen und andererseits logisch-mathematischen Reduktion der Sprachform sichtbar wird. Denn erst in der Abhebung von diesen beiden bis zu Leibniz verwirklichten Richtungen wissenschaftlich-philosophischer Reflexion auf die gelebte Sprachform wird der Sprachhumanismus selbst als eine dritte mögliche Richtung der Sprachreflexion verständlich: die der hermeneutischen Geisteswissenschaft. Am weitesten weg von Leibnizens originaler mathematisch-szientifischer Sprachidee steht zweifellos die Einleitung des Vierundzwanzigjährigen zu dem „Antibarbarus” des italienischen Humanisten Marius Nizolius, betitelt „Über die beste Vortragsweise des Philosophen"500). Hier geht Leibniz scheinbar ganz einig mit dem — inzwischen auf die elegante Verwendung der Muttersprache anstelle des klassischen Lateins abzielenden — Sprachideal der humanistischen Popularphilosophen und ihrer Polemik gegen die scholastische Terminologie: „Drei Eigenschaften muß nach meiner Meinung die Rede haben, wenn sie Lob verdienen will: claritas, veritas et elegantia."501) Und im Zusammenhang einer Erklärung, worauf die „claritas” beruht: „Den Gebrauch der herkömmlichen Fachausdrücke muß man mehr als Hund und Schlange fliehen und sich
499)
Leibniz: Philos. Sehr. hrsg. v. Gerhard, Bd. VII, S. 190-93.
500)
Leibniz: Deutsche Schriften, I. Bd. (Philos. Bibl. Bd. 161, Lpz. 1916). Vgl. Anmerkung 356. 501) Ebda. S. 77.
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besonders jener Benennung der Kategorien (praedicamentorum vocabulis) enthalten, die sich zudem meist vom lateinischen Sprachgebrauch weit entfernen."502)
Doch wenig später bemerkt Leibniz schon in seiner charakteristischen vermittelnden Ar t : „Man soll sich also der Fachausdrücke enthalten und vor ihnen hüten, so weit es möglich ist — immer möglich aber ist es nicht der Weitschweifigkeit wegen, die sich einstellen würde ... wenn man stets nur Worte der Volkssprache brauchen sollte ...”.
Und gleich darauf deutet sich schon die psychologische Seite von Leibnizens zentralem Rechenzettelmotiv der Sprache an: „Wenn nun auch durch ... Auflösung des Begriffs der Fachausdrücke in rein volkstümliche Ausdrücke das Urteil an Festigkeit gewänne ..., so würde doch das Gedächtnis durch sie erdrückt werden. Daher war es nötig, Fachausdrücke zur Bezeichnung der Dinge zu schaffen, denen das Volk, sei es weil es nicht auf sie achtet, sei es weil es ihrer selten bedarf, besondere Namen nicht beigelegt hat ... Denn die Philosophen sind dem gemeinen Mann nicht immer darin voraus, daß sie andere Dinge bemerken als er, sondern dadurch, daß sie auf die Dinge in anderer Weise achten, nämlich mit dem Auge des Geistes und mit Überlegung und geistiger Anspannung und indem sie die Dinge miteinander vergleichen. Die Aufmerksamkeit der Menschen aber kann nicht besser auf eine Sache hingelenkt werden als dadurch, daß man ihr einen bestimmten Namen beilegt, welcher einem selbst als Merkzeichen für das Gedächtnis dienen kann und gegenüber anderen als Ausdruck einer bestimmten Auffassung."503)
Immerhin schließt Leibniz sich hier noch in der Frage der „Wesenheiten” der „humanistisch-nominalistischen” communis opinio gegen die Scholastik an: „Alles was sich nicht mit den Mitteln der Volkssprache auseinandersetzen läßt, ohne doch (wie viele Arten der Farben, der Gerüche, des Geschmacks) durch unmittelbare Sinneswahrnehmungen festzustehen, — damit ist es nichts, und alles derartige muß von der Philosophie wie mit einem entsündigenden Bannspruch ferngehalten werden."504)
Als bestes Gegenmittel gegen dialektische und terminologische Hirngespinste empfiehlt Leibniz ganz im Sinne des neueren europäischen Vulgärhumanismus den heilsamen Zwang, sich in der Muttersprache auszudrücken, und hier gelangt er, angesichts des Vorsprungs der Engländer und Franzosen, zum ersten Mal zu einem Lieblingsgedanken seiner deutschen Sprachprogrammatik: „ ... daß zu dieser sichtenden Prüfung und Untersuchung philosophischer Sätze durch eine lebende Sprache keine europäische Sprache geeigneter ist als die
502)
Ebda. S. 78. Ebda. S. 79. 504) Ebda. S. 80. 503)
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deutsche. Denn das Deutsche ist überhaupt reich und allseitig ausgestattet mit Ausdrücken für das Wirkliche zum Neid aller anderen Völker ...'505)
Er sieht auch später noch in der Übersetzung der Philosophie ins Deutsche einen Prüfstein für die innere Wahrheit der Begriffe selbst, der in dieser Form für die romanischen Völker nicht besteht, da ihnen die Sprachverwandtschaft die Übernahme der scholastischen Terminologie zu leicht mache, während im Deutschen gewissermaßen alles gründlich neu gedacht werden muß506). In seiner „Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben samt beigefügtem Vorschlag zu einer deutschgesinnten Gesellschaft” von 1683 wendet Leibniz den Gedanken „die Philosophie in der Muttersprache reden zu lehren"507) pädagogisch auf die deutsche Sprache an, indem er an den mehr schöngeistigen Sprachhumanismus der deutschen Sprachgesellschaften mit folgender an Speronis Pomponazzi-Referat erinnernder Kritik anknüpft: „Daher weil die meisten derer, so sich die Ehre der deutschen Sprache angelegen sein lassen, der Poeterei vornehmlich nachgehängt, und also gar selten etwas in Deutsch geschrieben worden ist, so einen Kern in sich hat, und auch alles gemeiniglich in anderen Sprachen besser zu finden: so ist kein Wunder, daß es bei der eingerissenen Verachtung der Unsrigen verblieben ...".
Hier wird Leibniz zum Begründer der wissenschaftlichen Aufklärungsphase der deutschen Sprachprogrammatik, die in Italien (Florenz) zur Zeit Galileis schon einmal der schöngeistigen den Rang abgelaufen hatte, dann aber von der Inquisition unterdrückt worden war508), während sie in Frankreich und England an der nationalen Neubegründung der Kultur von vornherein kräftigen Anteil hatte. Sprachphilosophisch gehört zu dieser wissenschaftlichen- Wendung des vulgären Sprachhumanismus der Satz: Es „ist die Sprache ein rechter Spiegel des Verstandes und daher für gewiß zu halten, daß wo man insgemein wohl zu schreiben anfängt, daß allda auch der Verstand gleichsam wohlfeil und zu einer kurrenten Ware geworden,”
— ein Satz, mit dem Leibniz bereits im Sinne seiner logisch-mathematischen Repräsentationstheorie der Sprache eine traditionelle, durchaus humanistische Betrachtung zuschärft und beschließt, in der es heißt: „Einmal findet sich in allen Geschichten, daß gemeiniglich die Nation und die Sprache zugleich geblüht, daß der Griechen und Römer Macht aufs höchste gestiegen gewesen, als bei jenen Demosthenes, bei diesen Cicero gelebt, daß die jetzige Schreibart, so in Frankreich gilt, fast Ciceronisch, da eben auch di
505)
Ebda. S. 81. Ebda. S. 81 u. 28 (= Unvorgr. Ged., § 11). 507) Ebda. S. 81. 508) L. Olschki, a. a. O. Bd. III (Galilei), S. 405. 506)
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Nation in Krieg- und Friedenssachen sich so unverhofft und fast unglaublich hervortut."509)
Mit dem gleichen Motiv setzen dann die „Unvorgreiflichen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache” ein, deren erster Paragraph lautet: „Es ist bekannt, daß die Sprache ein Spiegel des Verstandes ist, und daß die Völker, wenn sie den Verstand hoch schwingen, auch zugleich die Sprache wohl ausüben, welches der Griechen, Römer und Araber Beispiele zeigen.”510)
Hier wird nun die in der Spiegel-Metapher liegende Sprachphilosophie bereits ausführlich entfaltet in den Paragraphen 5, 6 und 7 (wobei Lockes Essay von 1690 bereits vorausgesetzt ist, wie aus dem ersten, die Sachrepräsentation der Sprachzeichen betonenden Satz von § 5 hervorgeht!): „5. Es ist aber bei dem Gebrauch der Sprache auch dieses sonderlich zu betrachten, daß die Worte nicht nur der Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen sind, und daß wir Zeichen nötig haben, nicht nur unsere Meinung anderen anzudeuten, sondern auch unseren Gedanken selbst zu helfen. Denn gleichwie man in großen Handelsstädten auch im Spiel und sonst nicht allezeit Geld zahlt, sondern sich an dessen Statt der Zettel oder Marken bis zur letzten Abrechnung oder Zahlung bedient, also tut auch der Verstand, zumal wenn er viel zu denken hat, mit den Bildnissen der Dinge, daß er nämlich Zeichen dafür braucht, damit er nicht nötig habe, die Sache jedesmal, so oft sie vorkommt, von neuem zu bedenken. Daher begnügt er sich, wenn er sie einmal wohlgefaßt, hernach oft, nicht nur in äußerlichen Reden, sondern auch in den Gedanken und im innerlichen Selbstgespräch das Wort an die Stelle der Sache zu setzen.”
Dies war gewiß die eindringlichste und folgenreichste Analyse der Sprachgebundenheit des menschlichen Denkens, welche seit dessen autonomer Selbstbegründung in der Neuzeit aus der Reflexion auf die vom Humanismus propagierte Bedeutung der Sprache gelungen war. Nicht nur, wie üblich, die Mitteilung der Gedanken (das „äußerliche Reden"), sondern auch deren innere Operation ist als sprachgebunden erkannt. Freilich geschieht diese Analyse der Sprachgebundenheit am Leitfaden des Zeichenbegriffs (in seiner schon von Aristoteles der Semiotik des Logikers an die Hand gegebenen Zuspitzung durch das Bild vom „Rechenstein"), wie er der praedikativen Synthesis des logischen Urteils aus der Reflexion her zugeordnet wird. Die praereflexive Konstitution der bezeichneten Inhalte selbst ist von Leibniz wie von allen maßgebenden Denkern seit W. v. Ockham dem „intuitiven Denken” zugeschrieben. Dieses ist bei ihm sogar schöpferisch im Sinne einer mehr oder weniger verworrenen Repräsentation der weltschaffenden Gottmonade, nicht aber auf Grund einer weltschöpferischen Inkarnation des Wortes (Logos) bzw. auf Grund
509) 510)
Leibniz: Dtsch. Schr., a. a. 0. S. 19. Ebda. S. 25 (= Unvorgr. Ged.; § 1).
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einer das weltschöpferische Wort je spezifisch explizierenden geschichtlichen Welt,,Wortung" der überlieferten Sprachen. Dies scheidet seine Sprachanalyse, je mehr sie die ihr eigene Schärfe ausprägt, von dem ursprünglichen Ansatz der Logosmystik und der Möglichkeit einer von dort her gedachten geschichtlichtranszendentalhermeneutischen Sprachphilosophie. Der von Leibniz ausgearbeitete technisch-szientifische Zeichenbegriff der Sprache erreicht seine volle Schärfe gerade da, wo das „intuitive Denken” durch das „symbolische” oder „blinde” Kalküldenken abgelöst wird, wie aus dem nächsten Paragraphen hervorgeht511): „6. Und gleichwie ein Rechenmeister, der keine Zahl schreiben wollte, deren Halt er nicht zugleich bedächte und gleichsam an den Fingern abzählte, wie man die Uhr zählt, nimmer mit der Rechnung fertig werden würde, also würde man, wenn man im Reden und auch im Denken kein Wort sprechen wollte, ohne sich ein eigentliches Bildnis von dessen Bedeutung zu machen, überaus langsam sprechen oder vielmehr verstummen müssen, auch den Lauf der Gedanken notwendig hemmen und also im Reden und Denken nicht weit kommen.”
Von diesem Gedanken her, der, extrem gedacht, die innere Form der Sprache auf die logisch-mathematische Form reduziert und die „Semantik” als äußerliches Anhängsel ohne apriorischen Einfluß auf die „logische Syntax” begreift, beurteilt Leibniz die technische Brauchbarkeit einer Sprache, sozusagen ihre „unauffällige Zuhandenheit” im Sinne eines „Zeuges” (Heidegger): „7. Daher braucht man oft die Worte als Ziffern oder als Rechenpfennige anstatt der Bildnisse und Sachen, bis man stufenweise zum Fazit schreitet und beim Vernunftschluß zur Sache selbst gelangt. Hieraus erscheint, ein wie Großes daran gelegen ist, daß die Worte als Vorbilder und gleichsam als Wechselzettel des Verstandes wohl gefaßt, wohl unterschieden, zulänglich, häufig, leichtfließend und angenehm sind."512)
Um die geniale Einseitigkeit dieser radikalsten Sprachprogrammatik der abendländischen Verstandes-"Aufklärung” in den Blick zu bekommen, muß man erwägen, daß die deutsche Sprache, die freilich zur Zeit Leibnizens noch sehr der technisch-szientifischen Handlichkeit ermangelte, diese heute in einem Maße besitzt (die freilich vom Englischen und Französischen wohl noch übertroffen wird), daß vor lauter Gewöhnung an das glatte Einrasten des mit Tatsachen rechnenden Verstandes in den Geleisen der „speech-patterns” (in der Tageszeitung so gut wie in einer wissenschaftlichen Abhandlung) der moderne Mensch kaum noch zu bewegen ist,
511)
Eine genauere Analyse der Tragweite des von Leibniz gemachten Unterschiedes zwischen „intuitivem” und „symbolischem” Denken kann hier nicht durchgeführt werden; sie führt in den Kernbereich der technisch-szientifischen Sprachidee, wie sie von Leibniz bis zu Peano, Frege, Russell der Konzeption einer symbolischen Logik zugrundeliegt. 512) Leibniz, a. a. 0. S. 26.
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der Sprache auch da zu folgen, wo die Worte weniger „Zeug"-Charakter als „Werk"Charakter haben und die Sätze nicht der kritischen Beurteilung der Welt vermöge einer relativ blinden Zeichenverknüpfung, sondern unmittelbar der „Intuition” von anschaulich-bedeutsamer Welt dienen. Wir müssen auf diesen Unterschied bei der Interpretation G. B. Vicos zurückkommen. Von Schottelius hat Leibniz das humanistische Anliegen der „Unvorgreiflichen Gedanken” übernommen513): Die Schaffung eines nationalen Wörterbuchs, wie es in Italien, Frankreich und England jeweils Ziel und Endergebnis des gelehrten „umanesimo volgare” gewesen war. Die nähere Bestimmung und Gliederung des Programms zeigt allerdings wiederum die charakteristische universallinguistische Verwissenschaftlichung, die seit den italienischen Anfängen stattgefunden hatte: Leibniz möchte außer einem „Lexikon”, das den Bereich der gebräuchlichen Worte der Umgangs-sprache, feststellt, noch ein zweites Wörterbuch für Kunst- und Fachwörter aus allen Handwerken, Künsten und Wissenschaften („Sprachschatz” oder „cornu copiae”) und drittens ein „Glossarium Etymologicum” (oder „Sprachquell”) ausarbeiten lassen514). Was den ersten Punkt, die Schaffung eines Lexikons der Umgangs-sprache, angeht, so geschieht die Ausarbeitung ganz in den Bahnen des europäischen Sprachhumanismus: „Der Grund und Boden einer Sprache sind die Worte, worauf die Redensarten gleichsam als Früchte hervorwachsen."515)
Dieser Ansatz weist über Schottelius auf die Zeit der ersten deutschen Humanisten zurück, die wir im vorigen charakterisierten (s. oben S. 261). Ebendaher stammt auch die Disposition nach den Kategorien „Reichtum, Reinigkeit und Glanz” der Sprache516). Charakteristisch für Leibniz ist bei der Anwendung dieser alten Topoi außer der Behandlung der Sprachreinigkeit, die ganz im Zeichen der spezifischen historischen Kultur- und Sprachkrise Deutschlands nach dem Dreißigjährigen Krieg steht, vor allem die kurze Abfertigung der bei den deutschen Sprachgesellschaften im Vordergrund aller Bemühungen stehenden Frage nach dem „Glanz” (seit Opitz übersetzt „Glanz” und „Zierlichkeit” den lateinischen Topos „elegantia”) der Sprache: „Nun wäre noch übrig vom Glanz und Zierde der deutschen Sprache zu reden, ich will mich aber damit jetzt nicht aufhalten, denn wenn es weder an bequemen Worten noch tüchtigen Redensarten fehlt, kommt es auf den Geist und
513)
Vgl. Aug. Schmarsow: Leibniz und Schottelius (Quellen u. Forschungen XXIII, Straßburg
1887). 514)
Leibniz: Unvorgr. Ged. § 33, a. a. O. S. 34. Ebda. § 32, a. a. 0 . S. 33. 516) Ebda. § 56, a. a. O. S. 40. 515)
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Verstand des Verfassers an, um die Worte wohl zu wählen und füglich zu setzen."517)
Hier wiederholt sich als Einleitung der deutschen Aufklärung noch einmal jene Unterscheidung von schöngeistigen und wissenschaftlichen Interessen an der Sprache, die schon bei Speroni auf Grund des nominalistischen Sprachbegriffs alle weitergehenden Ansprüche des literarischen Humanismus in ihre Schranken verwiesen hatte. Bei Leibniz heißt es im Anschluß an die eben zitierte Unterscheidung der verfügbaren „bequemen” Worte und „tüchtigen Redensarten” und einer darauf basierenden Auszierung der Rede ausdrücklich: „Die Deutsche Poesie gehört hauptsächlich zum Glanz der Sprache; ich will mich aber jetzt damit nicht aufhalten, sondern nur erinnern, daß gestalt meines Bedünkens einige vornehme Poeten zuzeiten etwas hart schreiben und von des Opitzens angenehmer Leichtflüssigkeit allzuviel abweichen, dem auch vorzubauen wäre, damit die deutschen Verse nicht fallen, sondern steigen mögen."518)
Gegenüber Schottel und anderen barocken Vertretern der Lehre von der Natursprache — um von Jakob Böhme nicht zu reden — stellte diese Auffassung eine eindeutige Rückkehr zu dem Schriftstellerideal des Erasmus dar (s. oben S. 262 ff): Die Dichtung — oder vielmehr „Poesie”, wie die deutsche Sprache heute unterscheidet — hat nichts mit den formalen oder inhaltlichen Grundlagen der Sprache zu tun, sie setzt diese als gegeben voraus (sogar die „Redensarten”) und besteht in ihrer eleganten Verwendung („Opitzens angenehmer Leichtflüssigkeit”) — ein Ideal, das in der Tat die Epoche der deutschen Rokoko-Poesie bis einschließlich Wieland bestimmt hat519). In der zweiten Forderung der „Unvorgreiflichen Gedanken” (nach dem „Sprachschatz”) hat sich das in der Einleitung zum „Antibarbarus” des M. Nizolius (s. oben S. 302) nur erst zaghaft angemeldete Interesse des Philosophen an wissenschaftlicher Terminologie zu einem spezifisch Leibnizschen Gesichtspunkt der Sprachbetrachtung entwickelt. Er be-
517)
Ebda. § 110, a. a. O. S. 52. Ebda. § 113, a. a. O. S. 53. 519) Eine Zusammenfassung von Leibnizens Anschauung über Sprachkunst findet sich auch in den „Nouveaux Essais ... " , Bch. III, Kap. X, § 34. Er verteidigt dort die Rhetorik gegen Lockes Verdammung in seiner charakteristischen Vermittlerhaltung, welche das Erbe des Humanismus mit dem Zeitalter der exakten Wissenschaft in Einklang bringen möchte: Manche „rhetorischen Zieraten” möchte er „jenen ägyptischen Gefäßen” vergleichen, „deren man sich zum Dienste des wahren Gottes bedienen könnte. Es ist damit wie in der Malerei und in der Musik, wenn man sie mißbraucht; denn dann stellt die eine oft groteske, ja selbst schädliche Phantasien dar, während die andere das Gemüt verweichlicht, und beide bereiten nur ein eitles Vergnügen: aber sie können nichtdestoweniger nützlich angewandt werden, die eine, um die Wahrheit klar, die andere, um sie ergreifend zu machen — welch letztere Wirkung auch die Poesie haben muß, die zwischen Rhetorik und Musik die Mitte hält.” 518)
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richtet, daß er bei Franzosen und Engländern mit Erfolg dazu angehalten habe, die Fachwörter bei der Ausarbeitung des nationalen Wörterbuchs zu berücksichtigen, „in maßen durch Erklärung der Kunstwörter die Wissenschaften selbst erläutert und befördert würden, welches auch einige wohl begriffen"520).
Das Interesse an technischen Fachausdrücken steht bei Leibniz genau in der Mitte zwischen seiner historisch-etymologischen Forschung und seinen konstruktiven Entwürfen zur Universalsprache, die ja nicht nur das formalistische Anliegen der heutigen Logistik, sondern auch das von Descartes schon formulierte Programm der Auffindung der „einfachen Ideen” oder eines „Alphabets der menschlichen Gedanken” umfaßten. — In den Fachterminologien war — im Unterschied zu den Sachaufschlüssen der vergleichenden Etymologie, die erst W . v . H u m b o l d t ihrer ganzen Tragweite nach, d. h. im Rahmen der von ihm unterstellten sprachlichen Weltbilder, würdigen sollte — die Sachrepräsentation der Sprache dem Ideal der künstlichen „characteristica universalis” gewissermaßen auf halbem Wege angenähert; so kommt Leibniz hier in der Tat zu einer begrenzten Vorwegnahme des Humboldtschen Programms einer inhaltlich orientierten, vergleichenden Sprachwissenschaft: „ .. wenn man dergestalt die Technica oder Kunstworte vieler Nationen beisammen hätte, ist kein Zweifel, daß durch deren Gegeneinanderhaltung den Künsten selbst ein großes Licht angezündet werden dürfte, weil in einem Lande diese, in dem anderen die anderen Künste besser getrieben werden und jede Kunst an ihrem Ort und Sitz mehr mit besondern Namen und Redensarten versehen ... Denn weil ... die Worte den Sachen antworten, kann es nicht fehlen: es muß die Erläuterung ungemeiner Worte auch die Erkenntnis unbekannter Sachen mit sich bringen."521)
Von hier aus läßt sich aber auch das erkenntnistheoretische Interesse Leibnizens an der etymologischen Forschung am besten verstehen: Hier konnte man zwar nicht mehr im selben Maße wie in den Fachterminologien (oder gar in einer künstlichen Sprache) damit rechnen, daß „moralische Gründe” einer Wahl die Sachrepräsentation der sprachlichen Zeichen sicherstellten. Dennoch ist Leibniz überzeugt, „daß die Worte nicht eben so willkürlich oder von ungefähr hervorkommen, als einige vermeinen; wie denn nichts ungefähr in der Welt als nach unserer Unwissenheit, wenn uns die Ursachen verborgen"522).
An dieser Stelle, wo das „principium rationis sufficientis” einen zureichenden Grund auch für die geschichtlich-gewachsenen Wortprägungen erheischte, greift Leibniz auf die mystisch inspirierte barocke Lehre von
520)
Unvorgr. Ged. § 36, a. a. O. S. 35. Ebda. §§ 39 und 40, a. a. O. S. 35 f. 522) Ebda. § 50, a. a. O. S. 39. 521)
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der „Natursprache” zurück, der er besonders in den „Nouveaux Essais” eine rationale Neufassung gibt: Zunächst stellt er gegenüber der (aristotelischnominalistischen) Lehre der Schulen von der „impositio nominum ex instituto” fest, daß die Bedeutungen der Worte zwar „nicht durch eine natürliche Notwendigkeit bestimmt sind; nichtsdestoweniger sind sie es bald durch natürliche Gründe, bei denen der Zufall mitwirkt, bald durch moralische Gründe, bei denen eine Wahl stattfindet."523)
Was er unter natürlichen Gründen der Wortbedeutung versteht, erhellt aus dem folgenden Passus, der auf die These folgt, daß alle bekannten Sprachen, auch das Hebräische, der (durchaus anzunehmenden) gemeinschaftlichen Ursprache gegenüber bereits verändert und somit historisch abgeleitet sind: „Aber gesetzt auch, daß unsere Sprachen abgeleitete sind, so haben sie doch im Grunde etwas Ursprüngliches in sich, was sie vermöge der neuen Wurzelworte erlangt haben, die sie seither zwar durch Zufall, aber doch auf physische Gründe hin, gebildet haben."524)
Leibniz gibt dann Beispiele einer Lautsymbolik der Wortwurzeln (radices), deren linguistische Zusammenhänge zwar noch nicht durch Gesetze des Lautwandels im modernen Sinn gesichert sind, deren allgemeine philosophische Deutung aber auch heute noch die Problemfront der spekulativen Etymologie bezeichnet (wenigstens solange, als nicht etwa aus einer inhaltlich gerichteten vergleichenden und historischen Sprachwissenschaft Kriterien für das mögliche symbolische Weltverständnis der verschiedenen Sprachen und Kulturepochen gewonnen werden): So schreibt er z. B. über den symbolischen Lautcharakter des r und l: ... die alten Deutschen, Kelten und andere mit ihnen verwandten Völker scheinen aus einem Naturinstinkt den Buchstaben r angewandt zu haben, um eine heftige Bewegung und ein Geräusch, gleich dem dieses Buchstabens zu bezeichnen. Dies sieht man in »t (fließen), rinnen, rüren (fluere), rutir, Rhein, Rhone, Ruhr (Rhenus, Rhodanus, Eridanus, Rura), rauben (rapere, ravir), Rad (rota), radere, raser, rauschen... recken (gewaltsam ausdehnen). Mit diesem letzteren Wort hängt das Wort ,reichen`, ferner das Wort ,der Rick' zusammen (das in jener Art von Plattdeutsch oder Niedersächsisch, das man bei Braunschweig spricht, einen langen Stock oder eine Stange bedeutet, an der man etwas aufhängt); auch steht es in Zusammenhang hiermit, daß Riege, Reihe, regula, regere sich auf eine gerade Linie oder Bahn beziehen, daß Reck früher eine sehr große, lange Sache oder Person, besonders einen Riesen bezeichnete, dann aber auch einen mächtigen und begüterten Mann, wie dies in dem deutschen Wort reich oder in dem riche oder ricco der romanischen Völker zutage tritt. Im Spanischen bezeichnet ricos hombres die Adligen oder Vornehmen, woraus man zugleich erkennt, wie durch Metaphern, Synekdochen und Metonymien die Worte von einer Bedeutung in die andere übergehen, ohne daß man immer ihre Spur verfolgen kann.
523) 524)
Nouveaux Essais ... , Bch. III, Kap. II, § 1 (a. a. 0. S. 301). Ebda., a. a. 0. S. 307.
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Dies Geräusch und diese gewaltsame Bewegung bemerkt man auch in ,Riß`, womit das lat. rumpo, das griech. »Ìdkrjf, das französische arracher, das italienische straccio in Verbindung stehen. Wie nun der Buchstabe R von Natur eine heftige Bewegung bezeichnet, so der Buchstabe L eine sanftere." L e ib n iz erwähnt hier „leben, laben, lind, lenis, lentus, lieben, laufen (d. h. schnell dahingleiten, wie fließendes Wasser), labi (gleiten ...), legen (leicht hinsetzen), woher liegen, lage oder laye kommt ... lego: ich lese zusammen (d. h. ich sammle auf, was man niedergelegt hat, das Gegenteil von legen, dann ich lese, bei den Griechen endlich: ich spreche), Laub (etwas leicht sich Bewegendes)..."525)
Diese und zahlreiche andere Etymologica Leibnizens526) sind — innerhalb des Programms einer „Sprachenharmonie” (s. oben S. 280 ff.) — recht eigentlich die reife Frucht jener Wurzellaut-Spekulationen des barocken Deutschlands (Schottelius, Clauberg u. a.), die philosophisch vor allem durch Jakob Böhme angeregt wurden. Leibniz erwähnt seinen Namen verschiedentlich in diesem Zusammenhang, und manche seiner Sätze lesen sich in der Tat wie eine kritische Zusammenfassung Böhmescher Lehren, so etwa die abschließende Feststellung, „daß in dem Ursprung der Worte etwas Natürliches waltet, was den Zusammenhang zwischen Dingen und Lauten und Bewegungen der Sprachorgane zeigt"527).
Während aber bei Böhme die ursprüngliche Nennkraft der Worte ein metaphysisches Organon war und noch bei Schottel (in humanistischer Umstilisierung und Abschwächung der Ausdruckssprache zur Lautmaltechnik) das Geheimnis der Wortwurzeln vor allem mit dem dichterischen Wesen der Sprache zusammengebracht worden war, fehlt bei Le ibniz eine solche Beziehung oder gar ein schöpferischer Rekurs auf die etymologischen Tiefen der Muttersprache nahezu völlig. Der „Sprachquell” interessiert ihn nur als historisch und psychologisch distanzierten Forscher, der in letzter Hinsicht die Geschichte der faktischen Entdeckung der Begriffe auf die nur logisch-mathematisch zu entdeckende „natürliche Ordnung” der Begriffe zu beziehen sucht. Ehe wir im folgenden zu zeigen suchen, wie mit Vico noch einmal der Humanismus sich der etymologischen Tiefblicke des barocken Neuplatonismus bemächtigt und ihnen eine geschichtsphilosophische Deutung des Wesens und der weltkonstitutiven Funktion der Dichtung abgewinnt, möchten wir noch an dem Problem des Sinnallgemeinen, wie es in der Auseinandersetzung Leibnizens mit Locke exponiert wird, eine Aporie der hier vorwaltenden psychologisch-logischen Alternative in der Reduktion des Bedeutungsproblems anzudeuten versuchen. Auch diese Aporie kann
525)
Ebda. S. 308 f. Vgl. im einzelnen Neff: Leibniz als Sprachforscher und Etymologe (Heidelberger Lyceumsprogramm, 2 Teile: 1870 u. 1871). 527) Nouveaux Essais, a. a. O. S. 309. 526)
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uns für eine Eigentümlichkeit der Vicoschen Theorie dichterischer Weltkonstitution den Blick öffnen. Im allgemeinen gesteht Leibniz dem Lockeschen Empirismus zu, daß die Entstehung der wirklichen menschlichen Begriffe als Weg von den individuellen Sinnesempfindungen zu immer abstrakteren Vorstellungen aufzufassen sei, wie sich das auch aus der etymologischen Wortgeschichte erweisen läßt. Die „Ideen” im Leibnizschen Verstand sind demgegenüber das an sich erste, d. h. die „Möglichkeit dessen, was man denkt"528), sie sind „in Gott von aller Ewigkeit her” und auch „in uns, bevor wir tatsächlich an sie denken"»» Am klarsten zeigt sich das für Leibniz immer dann, wenn der Mensch aus der Einsicht in das Wesensmögliche der zufälligen Wirklichkeit durch künstliche Schöpfungen vorgreift, z. B. bei der Züchtung neuer Pflanzenarten530) überhaupt durch (Kausal-)Definitionen, welche zugleich Konstruktionsanweisungen sind531). Eben dieses Prinzip einer Konstruktion des Wirklichen aus dem Möglichen — das zutiefst den Geist der neuzeitlichen exakten Wissenschaft zum Ausdruck bringt — gedachte er ja auch in seiner mathematischen Kunstsprache zur Geltung zu bringen. Bei der genaueren Untersuchung der Funktion des Sinnallgemeinen in der konkreten geschichtlichen Sprache muß Leibniz nun aber auch Lockes Ansicht entgegentreten, daß die Wortbedeutungen zuerst Eigennamen für Individuelles seien und erst später, durch Abstraktion von Zeit, Ort und Umständen allgemein würden. Ihr gegenüber stellt er fest: „Die allgemeinen Ausdrücke dienen nicht allein der Vervollkommenung der Sprache, sondern sind für ihre wesentliche Struktur notwendig. Denn wenn man unter den besonderen Dingen die individuellen Dinge versteht, so würde es unmöglich sein, zu sprechen, wenn es nur Eigennamen und keine Appellativa, d. h. wenn es nur Worte für die Individuen gäbe. Denn diese kehren in jedem Moment neu wieder, sofern es sich um individuelle Beschaffenheiten und vor allem um individuelle Handlungen handelt, die dasjenige sind, was man am häufigsten bezeichnet."532)
Bis hierhin wiederholt Leibniz die radikale Argumentation Platons im „Theaitetos” gegen die Heraklitäer, welche die Erkenntnis mit der Sinneswahrnehmung (^µpngpfs) des Werdenden gleichsetzen533). Indem er aber noch genauer auf das genetische Motiv und die mutmaßliche Phänomenbasis der Lockeschen Erkenntnispsychologie eingeht, fährt er fort: „Versteht man aber unter den besonderen Dingen die niedrigsten Arten (species infimas), so ist es — abgesehen davon, daß es sehr oft schwierig ist, sie fest
528) 529) 530) 531) 532) 533)
Ebda. Kap. III, § 15 (a. a. 0. S. 323). Ebda. Kap. IV, § 17 (a. a. 0. S. 332). Ebda. Kap. VI, § 28 (a. a. 0. S. 363). Ebda. Kap. III, § 18 sowie an zahlreichen anderen Stellen aller Schriften. Ebda. Kap. I, § 3, (a. a. O. S. 297). Platon: Theaitetos, S. 181 ff. (Steph.)
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zu bestimmen — auch offenbar, daß dies schon auf die Ähnlichkeit gegründete allgemeine Begriffe sind."534)
An diesem Punkt gelangt nun Leibniz selbst unter einem genetischen Gesichtspunkt dazu, Lockes These von der Entstehung der Allgemeinbegriffe aus Eigennamen (schärfer müßte man etwa sagen: Individualbezeichnungen) zu wiedersprechen. Nicht ohne die genetische Fragestellung durch den logisch-oekonomistischen Gesichtspunkt leicht abzufälschen, fährt er fort: „. . . ja die allgemeinsten Termini sind — da sie hinsichtlich der Ideen oder Wesenheiten, die sie einschließen, inhaltlich weniger erfüllt sind, wenngleich sie hinsichtlich der Individuen, denen sie zukommen, von größerem Umfang sind — am leichtesten zu bilden und am nützlichsten (was ja bei der Frage nach der tatsächlichen Entstehung nicht zur Debatte steht!). So sehen wir auch, daß die Kinder und diejenigen, die von der Sprache, welche sie sprechen wollen, oder von dem Gegenstand, von dem sie sprechen, nur wenig wissen, sich allgemeiner Bezeichnungen, wie Sache, Pflanze, Tier, bedienen, statt die besonderen Bezeichnungen anzuwenden, die ihnen fehlen. Und es ist sicher, daß alle Eigennamen oder individuellen Bezeichnungen ursprünglich Appellativa oder allgemeine Worte gewesen sind."535)
Wenn wir die hier zweifellos vorliegende Problemverschlingung konstruktiv zu entwirren versuchen, so ergibt sich zunächst, daß Locke mit seiner psychologischgenetischen Herleitung der Wortbedeutungen insofern recht hat, als nur ganz individuelle, schlechthin einzigartige Erkenntnisanlässe die Sprache um eine Bedeutungsnuance bereichern und d. h., radikal gedacht, ihrem Inhalt nach entstehen lassen können. Und weiter hat Locke darin recht, daß etwas von dieser schlechthinnigen Einzigartigkeit (und das heißt, logisch betrachtet: Zufälligkeit) in jede Wortbedeutung der lebendigen Sprache eingeht und ihr immer zugehörig bleibt, woraus sich die von ihm betonte Unübersetzbarkeit der Wortbedeutungen ergibt. Leibniz andererseits hat zunächst von einer rein logisch-transzendentalphilosophischen Fragestellung her darin recht, daß ein sprachliches Fixieren von „etwas” ohne eine sinnallgemeine (den konkreten Anlaß transzendierende) Wortbedeutung unmöglich ist (ja die Frage nach den logischen Bedingungen der Möglichkeit der Wortbedeutung überhaupt erzwingt die Antwort, daß selbst für die Funktion eines Eigennamens im Rahmen der sprachlichen Kommunikation die allgemeinste Bedeutung der „Etwasheit” (Seiendheit) implizit vorausgesetzt ist). Aus der logischen Voraussetzung der Sinn-Allgemeinheit in jeder Wortbedeutung folgt weiter, daß keine noch so einzigartige Wortprägung nur eine zufällige Privatvorstellung ein es Menschen bezeichnet, wie
534) 535)
Leibniz, a. a. 0. Ebda.
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Locke will, sondern jedes Wort der Sprache immer schon im Sinne möglicher Allgemeingültigkeit für jedes verstehende Bewußtsein überhaupt „veröffentlicht” ist (sonst könnte es auch nicht einmal von einem einzigen Menschen als Wort einer Sprache verwendet werden). Daraus folgt weiter, daß das in der Wortbedeutung ursprünglich Bezeichnete ( = Gemeinte) nicht lediglich eine psychische Vorstellung ist, sondern das unter einem transzendentalen (potentiell allgemeingültigen) Sinnhinblick „als etwas” verstandene und dergestalt identifizierte Seiende selbst. Denn die private psychische Vorstellung kann als solche gerade niemals schlechthin im Wort veröffentlicht werden: sie kann von dem psychologischen Selbstbeobachter nur dadurch bezeichnet und „als etwas” gemeint werden, daß er ihr den Status eines in allgemeingültiger Erforschung unausschöpfbar weiterbestimmbaren Seienden zugesteht (das selbst nur unter Gesichtspunkten und d. h. unter Aspekten, die sich als Vorstellung fixieren, bezeichnet werden kann). Die hier formulierte, von Leibniz immer wieder gegen Locke betonte Sachbezogenheit der Worte widerspricht der von Locke betonten individuellen Vorstellungsrelativität der Bedeutungen nicht, sie fordert sie vielmehr im Sinne eines aspektiven Realismus, für den die Vorstellungen des Menschen nicht „medium quod”, sondern „medium quo” seiner perspektivischen Erdeutung des Seienden sind. (Leibniz als Metaphysiker entgeht der seit Ockham für den abendländischen Nominalismus konstitutiven Verwechslung von „medium quo” und „medium quod” der Erkenntnis selbst nur für das reine Denken der intelligiblen Dinge, in dem bei ihm wie bei Kant die fehlende Kategorie der Sachintentionalität versteckt ist. Für das „Vorstellen”, das als prästabilierte Repräsentation fensterloser Monaden gefaßt wird, ist, streng genommen, auch bei Leibniz — wie bei allen Philosophen der Neuzeit vor der (Wieder-)Entdeckung der „Intentionalität” — die Sachbezogenheit nur eine indirekte. Dies kommt aber in den metaphysisch relativ unbefangenen Entgegnungen auf Lockes Psychologismus in den „Nouveaux Essais” kaum zur Geltung.)
Die bisher für unsere Interpretation maßgebende Disjunktion der Fragestellung erschöpft indessen, wie leicht aus dem Text ersichtlich, noch gar nicht das zwischen Leibniz und Locke zur Disk u s s i o n s t e h e n d e P r o b l e m : Weder die Angabe der erkenntnispsychologischen noch die der erkenntnislogischen Bedingungen der Wortbedeutung überhaupt kann die Frage, wie in den konkreten Sprachen das Sinnallgemeine sich zuerst konstituiert hat, allein beantworten. Diese Frage ist keine psychologisch-genetische, wohl aber eine sinngenetische, keine transzendentallogische, wohl aber eine t r a n s z e n d e n t a l p h i l o l o g i s c h e F r a g e . Gefragt ist in ihr nicht nach den (immer möglichen) empirischen Anlässen der Wortbildung, sondern nach der möglichen Bedeutungsstruktur der geschichtlich frühesten Worte menschlicher Sprache, und wiederum doch nicht nach den transzendental-
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logischen Voraussetzungen dieser Worte, die einer formalen Reflexion sich erschließen. Im Verhältnis zur formalen Reflexion der transzendentalen Logik (die auf ein „Bewußtsein überhaupt” hin abstrahiert) fragt die Untersuchung der sprachimmanenten Sinngenese (die auf den geschichtlichen Geist hin abstrahiert) z. B. nach den gehaltlichen Voraussetzungen, die selbst noch für den philosophischen Begriff der „Form” die (sprach-) geschichtliche Bedingung der Möglichkeit darstellen. Offenbar muß auch der Begriff „Form” der menschlichen Einbildungskraft irgendwann in einem einzigartigen Erlebnis als Bedeutungsgehalt im Medium der Sprache aufgegangen sein, ehe er, kategorial funktionalisiert, zur schlechthinnigen Abstraktion von allem ,Inhalt" dienen kann. Dies kann durch „Metapher” anhand einer schon sprachlich vorgeprägten Bedeutung zustandegekommen sein, womit wir, wie es zunächst scheint, auf den Lockeschen Weg der Untersuchung geführt werden. Allein die sprachliche Vorform (etwa jlocÌ als leibliche „Gestalt”, womit die etymologische Reduktion selbstverständlich nicht erschöpft ist) kann als Bedeutung (s. oben) niemals schlechthin nur sinnlichen Charakter gehabt haben, wie Locke will; vielmehr kann das rein Sinnliche einer „Empfindung” überhaupt erst dann und in dem Maße (und selbst noch als Bedeutung vermittelt) isoliert worden sein, als auch das rein Verstandesmäßige sprachlich abstrakt fixiert werden konnte. W i r g e l a n g e n a l s o b e i e i n e r i m i r r e d u z i b l e n M e d i u m d e r S p r a che beharrenden (und das heißt: transzendentalphilologischen) Sinngenese der Wortbedeutungen dazu, eine sprachliche Erstbedeutung der Worte zu postulieren, die weder rein sinnlich noch rein intellektuell, weder rein individuell noch bloß abstrakt allgemeingültig gewesen sein kann, sondern zu beidem die Potenz in s i c h b e r g e n m u ß t e . Mit anderen Worten: Kann schon jedes Wort einer natürlichen Sprache überhaupt als vorgängige Einheit von anschaulicher Gestalt und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand betrachtet werden, so Weist die transzendentalphilologische Sinngenese im Medium der weltgeschichtlichen Sprachen noch einmal genau auf den ganzheitlich-menschlichen Urakt transzendentaler Synthesis von „Welt” zurück, den Kant in der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft” der transzendentalen Einbildungskraft zuzuschreiben geneigt war536). Wie aber läßt sich ein solcher Urakt der Sprache denken? Leibniz selbst hat durch seine Auszeichnung der niedrigsten Arten (species infimae) als Ausgangspunkt der Bedeutungsgenese in den Sprachen, soweit das mit den Denkmitteln der (aristotelischen) Logik möglich war, in die Richtung unseres Problems gewiesen. Jedenfalls hat er hier
536)
Vgl. M. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, 2. Aufl. Frkft. 1951.
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auf einen Fragepunkt aufmerksam gemacht, der weder durch psychologische noch durch logisch-mathematische Reduktion der Sprachform geklärt werden kann. Später kommt er in einem besonderen Kapitel537) noch einmal auf die Frage nach der Funktion der allgemeinen Ausdrücke in der Sprache zurück, und diesmal erwidert er auf Lockes Theorie der Entstehung derselben „durch Abstraktion von Zeit, Ort oder diesem oder jenem Einzelumstand”: „Ich leugne diese Anwendung der Abstraktion nicht, aber sie gilt mehr beim Aufsteigen von den Arten zu den Gattungen, als beim Aufsteigen von den Individuen zu den Arten. Denn es ist uns, so paradox dies auch erscheinen mag, unmöglich, die Individuen zu erkennen oder die Individualität irgendeiner Sache genau zu bestimmen, ohne diese Sache selber festzuhalten, denn alle Umstände können wiederkehren, die kleinsten Unterschiede sind uns unmerklich; Ort und Zeit, weit entfernt, für sich bestimmend zu sein, müssen vielmehr selbst durch die Dinge, die sie enthalten, bestimmt werden538).
Hier hat Leibniz durch die Entgegensetzung von Raum, Zeit und Umständen einerseits, sachhaltiger Bedeutungsentstehung andererseits, wiederum das transzendentalphilologische Problem der Konstitution des Sinnes in der geschichtlichen Zeit zugleich angestrahlt und ins Dunkle abgedrängt. Die sensualistische Sprachpsychologie will zuletzt den Sinn aus den empirischen Umständen „erklären”; der mathematisch-logische Platonismus interessiert sich ausschließlich für die Entgegensetzung des „begreifbaren” Sinnallgemeinen und der empirischen Umstände, dabei ist er geneigt, dem „überzeitlichen” Sinnallgemeinen (dem „mundus intelligibilis” formaler Möglichkeit in Gottes Geist) auch das gutzuschreiben, was nur aus den raum-zeitlichen Bedingungen der menschlichen Endlichkeit „verständlich” wird: die spezifische Sachhaltigkeit der Bedeutung. So geschah es bei Platon, so geschieht es in dem zitierten Text offenkundig wieder bei Leibniz. B e s t e h e n bleibt das transzendentalphilologische (oder wenn man will: geistesgeschichtliche) Problem der Begründung des Weltsinnes in Raum und Zeit, die doch eben durch diese Begründung selbst erst bestimmt werden. Gegenwärtig ist dieses Problem von verschiedensten Forschungsrichtungen her konkretisiert worden: Wie wenig Raum und Zeit imstande sind, für sich bestimmend zu sein, hat uns die Relativitätstheorie, Leibnizens Raumbegriff gegen Newton bestätigend, inzwischen mit allen Konsequenzen selbst für die physikalische Begriffsbildung verdeutlicht. Wie es in der schlechthin homogenen und willkürlich relativierbaren, deshalb letztlich unanschaulichen Raum-Zeitlichkeit des strukturwissenschaft-
537 ) 538 )
Leibniz, a. a. O. Kap. III. Ebda. § 6.
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lichen Universums, die der „endlosen Relativität subjektiver Erlebnisse” entspricht, dennoch zur Begründung einer anschaulich-bedeutsamen „Welt” kommt, aus der Raum, Zeit und empirische Umstände erst „als etwas” bestimmbar werden, hat der Religionswissenschaftler M. Eliade sehr plastisch am Beispiel der immer erneuten archetypischen „Weltgründung” durch den Mythos verständlich gemacht539). „Durch die Offenbarung des Heiligen wird ontologisch die Welt gegründet”, heißt es bei Eliade. Zu demselben Ergebnis gelangt im Grunde der Erkenntnistheoretiker der Geisteswissenschaften E. Rothacker, wenn er in scharfer Absetzung von der Tatsachenwahrheit und der logischen Richtigkeit den Ursprung der geisteswissenschaftlichen Bedeutungsgehalte in der „dogmatischen Wahrheit” als dem Durchdringungspunkt menschlichen Werkschaffens und geschickhafter Offenbarung aufweist540). Endlich hat M. Heidegger im Zuge seiner fundamentalontologischen Untersuchungen in der „worthaften Stiftung des Seins”, d. h. in der wesentlich aufgefaßten Dichtung541), dieselbe Strukturverklammerung von Zeitlichkeit und Sinn, Individuellem und Allgemeinem als geschichtliche „Weltgründung” beschrieben. Alle hier aufgedeckten Kriterien des weltgründenden Uraktes der Sprache finden sich aber im Ansatz bereits bei G. B. Vico, der die von uns angesichts der Reduktionsmethoden von Locke und Leibniz zurückbehaltene Frage nach der sprachlichen Entstehung des Sinnallgemeinen bzw. nach dem Charakter der frühesten Wortbedeutungen durch seine Konzeption der „poetischen Charaktere” oder der „phantasiegeschaffenen Universalien” beantwortet. Er geht dabei, wie wir sehen werden, von dem von göttlicher Vorsehung geleiteten Schöpfertum des unwissenden Menschen aus, der „nil cognoscendo fit omnia”.
M. Eliade: Das Heilige und das Profane, Hamburg 1957, S. 13. Vgl. E. Rothacker: Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus, a. a. 0. 541) Vgl. K. O. Apel: Die beiden Phasen der Phänomenologie ..., a. a. 0. 539)
540)
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Kapitel X I I
Die t r a n s z e n d e n t a l p h i l o l o g i s c h e E n t f a l t u n g der geheimen P h i l o s o p h i e des ( r ö m i s c h - i t a l i e n i s c h e n ) Sprachhumanismus bei G. B. V i c o .
Die drei geschichtlichen Perspektiven des Vico -Verständnisses.
Das Lebenswerk Giambattista Vicos ist bis heute, wie mir scheint, vornehmlich durch drei „vorgängige Hinblicknahmen” des Philosophiehistorikers aufgeschlossen worden — und es ist für ihn mehr als für irgendeinen anderen Philosophen charakteristisch, daß erst diese philosophiegeschichtlichen Maßstäbe seine ganze Bedeutung erkennen ließen: Von entscheidender Wichtigkeit war zweifellos, daß die geschichtsphilosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften, die Vico zuerst konzipierte, in der „deutschen Bewegung” von Herder bis Hegel in empirischer Breite und zugleich spekulativer, transzendentalphilosophischer Tiefe wiederholt wurde. Aus dieser Geistesbewegung heraus, die das „natürliche System der Geisteswissenschaften”, das schon in der Aufklärung durch psychologisch-genetisches Denken unterhöhlt worden war, durch ein neues, metaphysisches Grundmotiv (den „Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins”) endgültig ablöste, konnte die erste durchschlagende Wiederentdeckung Vicos erfolgen. Seitdem gilt der Neapolitaner als großer abendländischer Denker. Höhepunkt dieser Wiederentdeckung war die Monographie B. Croces592), die zugleich die national-italienische Sicht mit der des deutschen Idealismus zu integrieren schien. Croces Liberalismus bzw. Immanenzhistorismus des späten 19. Jahrhunderts bedeutete indessen schon Hegel gegenüber, vollends aber im Hinblick auf den katholischen Platoniker Vico eine Verkürzung grundlegender theologischphilosophischer Motive. Ihr gegenüber mußte der Barockmetaphysiker Vico, der jüngere Zeitgenosse Malebranches und Leibnizens, in den Vordergrund gerückt werden; dies geschieht z. B. bei E. Auerbach, der mit Recht gegen Croce die mystische Harmonie mensch-
542) B. Croce: La filosofia di Giambattista Vico, Bari 1911 (wir zitieren nach der deutschen übersetzung von E. Auerbach u. Th. Lücke, Tübingen 1927).
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liehen Schaffens und göttlicher Vorsehung in Vicos Geschichtstheologie herausstellt543). 3. Endlich gibt es gewisse Eigenarten des italienischen Philosophen, die weder aus dem Sinnzusammenhang der europäischen Barockmetaphysik noch aus der Perspektive des deutschen Idealismus und Historismus voll zu würdigen sind. Zu diesen besonderen Charakterzügen gehört nicht zuletzt die spezifische Bedeutung der Sprache für sein Denken, das methodisch durch die ständige Wechselbeziehung von Gesichtspunkten der Philologie, Rhetorik, Poetik und Jurisprudenz charakterisiert ist. Zwar hat auch in der „Deutschen Bewegung” die historische Neubegründung der genannten Fächer (mit charakteristischer Ausnahme der Rhetorik!) sowie einer eigenständigen Sprachphilosophie eine große Rolle gespielt; aber die Vico eigene transzendentalphilologische Zusammenschau der Geistesgeschichte wiederholte sich nicht, wenn man von Herder absieht, dem aber bereits die transzendentalphilosophische Schärfe abgeht. Die große deutsche Transzendentalphilosophie des „Bewußtseins” von Kant bis Hegel fand sich mit der großen Sprachphilosophie Herders und Humboldts bis heute nicht wirklich zusammen, und W. Diltheys Wiederholung der Vicoschen Grundlegung der „verstehenden” Geisteswissenschaften ließ (im Zeichen des Psychologismus) die Sprachphilosophie (und weitgehend auch die Jurisprudenz) aus. Hier ergab nun die Rückbesinnung auf die Eigenart und kontinuierliche Tradition des italienischen Humanismus, wie sie von existenzialphilosophischen Gesichtspunkten her besonders E. Grassi durchgeführt hat, einen dritten historischen und systematischen Schlüssel zum Verständnis Vicos544). Im Zusammenhang unserer Geschichte der Sprachidee erschließt sich uns die Philosophie Giambattista Vicos in der Tat als die späte Entfaltung der geheimen Metaphysik des römisch-italienischen „Sprachhumanismus”, wie wir jene rhetorisch-literarische bzw. philologische Ideologie nannten, die in Cicero ihren Gründerheros und im Italien der „Renaissance” das vitale und dogmatische Zentrum ihrer europäischen Erneuerung fand. Die begriffliche Entfaltung der impliziten philosophischen Tendenzen des rhetorischen Humanismus gelang aber bezeichnenderweise erst, als die rhetorisch-literarische Lebenshaltung abgelöst wurde durch die wissenschaftliche Distanz und Denkautonomie des „natürlichen Systems” der Barockmetaphysik; dies läßt sich ebenfalls an der Genesis des Vicoschen Denkens zeigen. Endlich kann im Zusammenhang unserer
543 ) Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft, übers. u. eingel. von E. Auerbach, München 1924, S. 26 ff.; vgl. für die katholisch-metaphysische Sicht Vicos V. Rüfner: Vicos philos. Bedeutung (= Einleitung zur dtsch. Ausg. der „Autobiographie”, Zürich 1948, S. 135 ff.). 543 ) Vgl. oben Anm. 295 u. 300.
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Entstehungsgeschichte der neuzeitlichen Sprachauffassung nicht übersehen werden, daß der Sprachbegriff, den der italienische Geschichtsphilosoph für die mythische Frühzeit der Menschheit hermeneutisch postuliert, den humanistischen Bildungsbegriff der Sprache wesenhaft überschreitet und zusammentrifft mit dem schöpferischen Offenbarungsbegriff der Sprache, der in der Traditionslinie der deutschen Logosmystik, die zuletzt in die „deutsche Bewegung” einmündet, weniger hermeneutisch erschlossen als programmatisch verkündet wurde. Zu diesem letzten Punkt, d. h. zu dem Verhältnis Vicos zur Sprachauffassung der „deutschen Bewegung” und ihrer Vorgeschichte sei zu Beginn unserer geistesgeschichtlichen Annäherung an den italienischen Denker ein Hinweis vorausgeschickt: Die oft bemerkte Verwandtschaft des spekulativen Begriffs von Sprache und Dichtung bei Vico einerseits, Hamann und Herder andererseits läßt sich einmal, bei rein problem- bzw. ideengeschichtlicher Betrachtung, durchaus erhärten und begründen durch einen letztlich einheitlichen Zusammenhang christlichneuplatonischer Logosmetaphysik, der sowohl für die Deutschen wie auch für den Italiener auf spekulative Grundgedanken zurückführt, die am klarsten und bedeutendsten bei Nikolaus von Cues formuliert sind: so der Symbolgedanke, der zugehörige Perspektivismus, die Idee des „homo creator” und der zugehörige Erkenntnisbegriff. Wir werden darauf im einzelnen zurückkommen. Eine geistesgeschichtliche Betrachtungsweise muß jedoch berücksichtigen, daß der Neuplatonismus der deutschen Logosmystik seit Eckehart und Nik. v. Cues eingeschmolzen wird in eine deutsche Unterströmung religiöser und sprachlicher Selbstfindung, die erst in den Tagen Hamanns und Herders ihre nationale Programmatik entfaltet und sozusagen die schöpferische Stunde des deutschen Geistes einleitet. Ganz anders liegen hier die geschichtlichen Voraussetzungen bei Vico: Während Hamann und Herder als Sprachdenker zugleich Mitbegründer einer neuen literarischen Epoche sind, liegt für Vico die repräsentative Sprach- und Kulturbewegung seines Vaterlandes schon weit zurück. Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariost, Tasso, die Florentiner Platoniker, den Historiker Guicciardini sieht er ineins mit den geliebten Klassikern der Antike schon als Vergangenheit545). Als solche verteidigt er ihren Stil gegen die kritische Wissenschaft, die rationale Poetik der Neueren, deren abstrakte Verständigkeit er als Signum einer historischen Spätphase ausdrücklich anerkennt, ja geschichtsmorphologisch erstmalig begreift. Vico
545) Vgl. G. B. Vico: De nostri temporis studiorum ratione (dtsch.-lat. Ausgabe von W. F. Otto u. Fr. Schalk, Godesberg 1947), S. 72 ff. u. ö. In der „Scienza nuova” wird Dante als der „toskanische Homer” an den Ausgang der wiedergekehrten Barbarei Italiens gestellt, Ariost und Boiardo leben schon „in philosophisch erleuchteten Zeiten” (a. a. O. S. 316 und 327).
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ist als Humanist ein Abschluß, wahrhaft die Eule der Minerva der italienischen Renaissancekultur. Speziell als Sprachdenker ist er nicht zugleich Kulturprogrammatiker — das war einst Dante und ist für Deutschland noch Herder —, sondern blickt auf die Zeiten dichterischer Schöpferkraft ohne den Anspruch einer Erneuerung, lediglich mit geschichtsphilosophischem Interesse zurück. (Hierin mag übrigens mitbegründet sein, daß er zunächst fast ohne Wirkung blieb.) Die aller Poesie und religiösen Ursprünglichkeit entfremdete westeuropäische „Aufklärung”, die sich eben anschickt, den mathematischen Geist der großen Barockdenker, mit empiristischer Psychologie kombiniert, zur Lebensform der Gesellschaft zu machen, erscheint dem einsamen Neapolitaner als die einzig mögliche Gegenwart und Zukunft, sie umgibt ihn als intellektuell durchaus faszinierende, aber doch nicht heimischnationale und eigentlich liebenswerte Welt. Ihr gegenüber bleibt ihm als für ihn selbst mögliche Erfüllung seines früh geäußerten Wunsches nach einer „Versöhnung der antiken und der modernen Studienart"546) zuletzt nur das historische Verstehen, eine „Gegenreduktion” gewissermaßen gegenüber der einerseits logischmathematischen, andererseits an der Gegenwart orientierten empirischpsychologischen Reduktion der Sprachform und des in ihr gefaßten Weltgehalts, wie sie von seiner Epoche im „natürlichen System der Geisteswissenschaften” exerziert wurde. Hiermit haben wir den m. E. für das geistesgeschichtliche Verständnis Vicos maßgebenden Punkt der Auseinandersetzung des humanistischen Erbes mit dem Geist des „natürlichen Systems” erreicht. Wir wollen die Anknüpfung Vicos an die Problemsituation des „natürlichen Systems” der Barockwissenschaft zunächst in ihrer prinzipiellsten Form, in der Genese der Vicoschen Erkenntnistheorie, ins Auge fassen; dabei muß aber von vorneherein bedacht werden, daß diese als eine Theorie des „Verstehens” die tiefsten Grundlagen seiner Sprachphilosophie implizit mitformuliert.
b) Vicos Theorie des Verstehens: mathesis universalis oder transzendentale Philologie.
Es kann heute kein Zweifel darüber bestehen, daß die berühmte Formel Vicos: verum et factum convertuntur, so wie er sie zuerst vorträgt (in der Universitätsrede: „De nostri temporis studiorum ratione” von 1708 und in der Schrift: „De antiquissima Italorum sapientia” von 1710 sowie in den „Antworten” („Risposte”) auf die Kritiken an der letztgenannten Schrift von 1711 und 1712), einem Topos der Renaissancephilosophie entspringt, der zu den grundlegenden Motiven der „mathesis universalis” sowie der instauratio der neuzeitlichen Wissenschaft überhaupt gerechnet
546)
Vgl. De ... studiorum ratione, a. a. 0. S. 153 f.
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werden muß: der Idee der Mathematik als einer (der einzigen) dem Menschen möglichen Nachahmung (Entsprechung) der göttlichen Schöpfungskunst: „Geometrica demonstramus, quia facimus; si physica demonstrare possemus, faceremus. In uno enim Deo Opt. Max. sunt verae rerum formae, quibus earumdem est conformata natura.”
So formuliert Vico sein erkenntnistheoretisches Prinzip zuerst, indem er zwischen mathematischer und physikalischer Wahrheit unterscheidet547); und in seiner Auseinandersetzung mit Descartes in „De antiquissima Italorum sapientia” wird der Grundlegung der Metaphysik in der unmittelbar „klaren und deutlichen Idee” des „cogito ergo sum” der Rang einer wissenschaftlichen „Wahrheit” abgesprochen, da es sich hier wie bei aller Metaphysik nur um eine menschliche „Gewißheit” (certum) des „Bewußtseins” handelt, nicht aber um ein „scire per causas” wie für Gott, der mich wie die Natur geschaffen hat und erkennt, insofern er mich geschaffen hat. Wollte das „cogito ergo sum” den Charakter eines „verum” beanspruchen, so müßte sich der Mensch selbst schaffen können (ein Anspruch, den Vico selbst im Gefolge gewisser kühner Andeutungen der italienischen Renaissance-Philosophie für den kulturellen Aspekt des Menschen später, wenn man will, halbwegs erheben wird!). Auch hier dient Vico als Modell einer menschenmöglichen wissenschaftlichen „Wahrheit” und nicht nur „Bewußtseinsgewißheit” die Mathematik. Sie ist für ihn gerade nicht unmittelbar evident wie für Descartes; denn, so faßt B. Croce die Argumentation Vicos zusammen: „ ...mit welcher klaren und deutlichen Idee könnte man wohl begreifen, daß die Gerade aus unteilbaren Punkten besteht?"548)
Dafür ist die Mathematik aber — wir dürfen ergänzen: gerade sofern ihr anschaulicher Aufbau analytisch nicht evident ist — vom Menschen selbst geschaffen und insofern in all ihren Teilen exakt verstehbar. Durch Abstraktion von letzten metaphysischen Wesenheiten — wir folgen dem Referat Croces — schafft der Mensch sich nach Vico die Ausgangspunkte der Mathematik: er bildet sich zwei Dinge: „duo sibi confingit: den Punkt zum Zeichen und die Zahleneinheit zum Multiplizieren. Beides sind Fiktionen (utrumque fictum), weil der gezeichnete Punkt nicht mehr Punkt ist und die multiplizerte Eins nicht Eins. Von diesen Fiktionen ausgehend, unternimmt er es aus eigener Willkür (proprio iure) zum Unendlichen fortzuschreiten, so daß sich die Geraden ins Unendliche verlängern lassen und die Eins sich unzählige Male multiplizieren läßt. So konstruiert er für seinen Gebrauch eine Welt von Formeln und Zahlen, die er ganz in sich trägt; und indem er die Linien verlängert, zerschneidet, zusammensetzt, indem er die Zahlen addiert, subtrahiert und mit ihnen rechnet, schafft er unendliche
547) 548)
Ebda. S. 40. B. Croce, a. a. O. S. 8.
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Werke und erkennt unendliche Wahrheiten. Da er nicht die Dinge definieren kann, definiert er Namen; da er nicht die wirklichen Elemente fassen kann, begnügt er sich mit imaginären Elementen, aus denen Ideen entspringen, die keinen Widerspruch zulassen. Gott ähnlich — ad Dei instar — ohne jedes materielle Substrat, gewissermaßen aus dem Nichts schafft er Punkt, Gerade und Fläche: den Punkt als Begriff des Unteilbaren, die Gerade als Begriff des verlängerten Punktes, d. h. die Länge ohne Breite und Tiefe; die Fläche als Begriff zweier verschiedener, sich in ein und demselben Punkt schneidender Geraden, d. h. der Länge und Breite ohne Tiefe. So überwinden die mathematischen Disziplinen den Fehler der menschlichen Wissenschaft, die Dinge stets außerhalb von sich zu haben und nicht selbst zu schaffen, was sie erkennen will. Sie schaffen, was sie erkennen, tragen ihre Elemente in sich selbst und sind deshalb in vollkommener Ähnlichkeit mit der göttlichen Wissenschaft gebildet (scientiae divinae similes evadunt)."549)
B. Croce hat gegenüber der mittelalterlichen Scholastik die philosophische Originalität auch dieser ersten Form der Vicoschen Erkenntnistheorie verteidigt: In der Tat kann Vicos Analogie des Schöpfertums gegenüber der thomistischen Analogie des Seins geradezu als Symbol des dynamischen Denkens der Neuzeit gelten. Als mögliche Vorläufer führt Croce selbst gewisse Stellen aus dem Umkreis des RenaissancePlatonismus und humanistischen Skeptizismus an. So bei Paolo Sarpi eine ohne Zusammenhang auftretende Abstufung der Erkenntnisarten bis zur Gewißheit über Existenz und Ursache der Dinge, die allein derjenigen Erkenntnis zukommt, welche die Dinge zu schaffen versteht; ferner bei Fr. Sanchez die Begründung seiner skeptischen Philosophie „Quod nihil scitur” (1581) durch die — nicht garz in sich klare — These, daß es niemandem möglich sei „perfecte cognoscere quis quae non creavit; nec Deus creare potuisset nec creata regere quae non perfecte praecognovisset”. Schließlich erwähnt Croce die folgende Beschreibung der „göttlichen Kunst” der Natur in Ficinos „Theologia Platonica”: „Sie berührt nicht die Oberfläche der Materie mit der Hand oder irgendeinem anderen äußeren Instrument, wie die Seele eines Geometers den Staub berührt, wenn er Figuren auf die Erde zeichnet, sondern perinde ut geometrica mens materiam intrinsecus phantasticam fabricat, so schafft sie wie der Geist eines Geometers: eine eingebildete Materie von innen gestaltend.” Ähnlich schreibt ein Jahrhundert später der Mathematiker Girolamo Cardano: „Die menschliche Seele, die ihren Sitz im Körper hat, kann die Substanzen der Dinge nicht erreichen, sondern sie tastet mit Hilfe der Sinne ihre Oberfläche ab, indem sie sich in Messungen, direkten Aktionen, Vergleichen und Theorien versucht. Scientia vero mentis, quae res facit, est quasi ipsa res, veluti etiam in humanis scientia trigoni, quod habeat tres angulo duobus rectis aequales, eadem ferme est ipsi veritate."550) Von dieser — wir können sagen humanistischen — Traditionslinie, die, vermittelt etwa durch Neapolitanische Philosophen wie Tommaso Cornelio551), zu Vico hinführt, unterscheidet Croce mit Recht die verwandten Stellen bei Gali-
549)
Ebda. S. 9 f. B. Croce: Le fonti della gnoseologia vicchiana (in: Atti d. Acc. Pontana p. 243-58). 551) Ebda. 550)
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lei552), sofern diese nicht auf den Gegensatz der Mathematik und Naturwissenschaft, sondern gerade auf die Interpretation der gottgeschaffenen Natur mittels der Gottes Kunst nachahmenden Mathematik abzielen.
Aber weder Croce noch, wie es scheint, die zahlreichen von ihm abgelehnten scholastischen Herleitungsversuche kannten den mit Abstand bedeutendsten Vorläufer der Vicchianischen Erkenntnistheorie, auf den sowohl die humanistisch-skeptische wie auch die für die mathesis universalis und die Entstehung der exakten Physik grundlegenden Versionen des Topos zurückgehen dürften: Nikolaus von Cues. Bei dem Cusaner finden sich sämtliche Grundzüge der ersten Form der Vicchianischen Erkenntnistheorie bis hinein in die Konstruktion der Geometrie und Arithmetik aus dem Punkt und der Zahl Eins, ja darüber hinaus erweist sich auch die, wie man gesagt hat, „semipantheistische” Metaphysik Vicos, die Lehre von den metaphysischen Kraftpunkten, die er in „De antiquissima Italorum sapientia” entwickelt und die den unveränderten Glaubens-Hintergrund noch der „Neuen Wissenschaft” bildet (obwohl bzw. gerade weil Vico sie als Wissen „de causis” und nicht „per causas” nicht für beweisbare Wissenschaft hält) als nahezu völlig strukturgleich mit den metaphysischen „Conjekturen” des Philosophen der „docta ignorantia”, für den die Welt der endlichen Kreaturen als „explicatio” der „Kontraktionen” Gottes sich zu diesem verhält wie die Zahlenreihe zur Eins bzw. in anderer Analogie: wie die richtig gebildeten Begriffe (insbesondere die mathematischen) zur „mens” des Menschen als ihrer
552) So die berühmte Stelle, in der Galilei die „intensive” Gleichheit der mathematischen Erkenntnis mit der göttlichen behauptet (Ober die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, übers. u. hrsg. v. E. Strauss, Lpz. 1891, S. 108; vgl. auch ebda. S. 11). 553) Man vergleiche z. B. mit der Lehre des Cusaners von der „contractio” als der Verendlichung Gottes die folgende Stelle in der Autobiographie Vicos (hrsg. v. V. Rüfner, Zürich 1948, S. 75 f.): „Wenn der Punkt als das, was keine Teile hat, bestimmt wird, so heißt das soviel als ein unendliches Prinzip der abstrakten Aussonderung zu begründen. Dann aber existiert eine unendliche Substanz, die gleichsam durch ein Heraustreten aus sich selbst — d. h. durch die Erschaffung — den endlichen Dingen ihre Gestalt gibt.” Cusanischer geht es in der Tat nicht mehr. Schon der früheste Vico verrät einen Denkstil, der manchmal frappierend an den wohl repräsentativsten Denker der Renaissance anklingt, so, wenn er seine erste Universitätsrede (1699) über die These hält: „der menschliche Geist sei unter Berücksichtigung der entsprechenden Verhältnisse ebenso Gott des Menschen wie Gott der Geist des Alls ist.” Zur „ersten Form der Vicchianischen Erkenntnistheorie” (Croce) vergleiche man folgende Stellen des Cusaners über das Wesen der mathematischen Erkenntnis: „Zum vierten wende dich dem zu, was Hermes Trismegistos sagt: daß der Mensch ein zweiter Gott (alter deus) ist, denn so wie Gott der Schöpfer dessen ist, was wirklich ist (entium realium), und der naturgegebenen Formen, so ist der Mensch der Schöpfer dessen, was begrifflich ist (entium rationalium) und der Kunstformen, die nichts anderes sind als Abbilder seiner Vernunft (intellectus), gerade so wie Gottes Schöpfung Abbild ist der göttlichen Vernunft” (De beryllo, c. 6, p. 7 der Heidelberger Akad.-Ausg. = Phil. Bibl. Bd. 217, S. 70). Ferner mit der genaueren Anwendung auf die Mathematik: „In den mathematischen Gebilden, welche aus unserem Verstand hervorgehen und von denen
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„complicatio"553). Hier dürften die neuplatonischen, pythagoräischen und hermetischen Lehren vom „homo alter deus” und den „iãdlfpmboj^qfhl¬”, die Vico erneuern will, zum erstenmal im Zusammenhang einer christlichen Metaphysik dynamisch geformt worden sein. Bei Nikolaus von Cues ist die Konzeption der schöpferischen („fiktiven” und „operativen”) Erkenntnis des Mathematikers, die der göttlichen Schöpfungskunst „entspricht”, nicht nur als Topos geäußert, sondern vermittels der Lehre vom Menschen als „imago dei” aus der Tiefe der christlichen Theologie heraus als Philosophem begründet. Über Leonardo, Galilei und Kepler bis zu Leibniz hin ist hier für die neuzeitliche Wissenschaft jene welttranszendierende, wahrhaft exzentrische Position des Geistes erobert; die es ihm erlaubt, zwar nicht die Natur selbst von innen zu verstehen, wie die sympathetische Naturphilosophie der Renaissance wollte, wohl aber die Verfahrensweise ihres Schöpfers aus der Teilhabe an seinen mathematischen Ideen nachzukonstruieren554). Bei dem Cusaner findet sich auch bereits die zum „Präzisions"-Begriff der modernen Wissenschaft, den er begründet, gehörige Idee einer „praecisen”, d. h. am definitorischen Aufbau der Geometrie orientierten Zeichensprache, deren Notwendigkeit sich letztlich daraus ergibt, daß Gott im Medium der realen Schöpfung denkt und sich darstellt, während der Mensch nur mit Hilfe sinnlicher Symbole seine „mens” entfalten und die Schöpfung repräsentieren kann555). Dieser Gedanke bildet die Grundlage der Sprachauffassung der „mathesis universalis”; er findet wie die Metaphysik der Kraftpunkte bzw. der Seelen als selbsttätiger Spiegel Gottes seine volle Entfaltung bei Leibniz.
wir durch Erfahrung wissen, daß sie in uns ihr Prinzip haben, wissen wir ebenso genau (praecise), d. h. in der Weise einer rationalen Präzision, um unsere bzw. die Verstandesdinge (nostra seu rationis entia), wie die realen Dinge durch die göttliche Präzision, aus der sie ins Sein hervorgingen, gewußt werden. „Et non sunt illa mathematicalia neque quid neque quale, sed notionalia a ratione nostra elicita, sine quibus non possit in suum opus procedere, scilicet aedificare, mensurare et id genus talia. Sed opera divina, quae ex divino intellectu procedunt, manent nobis, uti sunt, praecise incognita ... Unde omnium operum Dei nulla est praecisa cognitio, nisi apud eum, qui ipsa operatur.” (De possest, fol. 179v, dtsch. „Vom Können-Sein”, Phil. Bibl. Bd. 229, Lpz. 1947, S. 31 f.). Und speziell zu der von Croce für originell vicchianisch gehaltenen Fiktionstheorie der Mathematik: „Sed bene potuisset dixisse Plato, quod, sicut formae artis humanae sunt veriores in suo principio, scilicet in mente humana quam sint in materia, sic forma principii naturae, quae sunt naturales, sunt veriores in suo principio quam extra. Et si sic considerassent Pythagorici et quicumque alii, clare vidissent mathematicalia et numeros, qui ex nostra mente procedunt et sunt modo quo nos concipimus, non esse substantias aut principia rerum sensibilium, sed tantum entium rationis, quarum nos sumus conditores” (De beryllo, Heidelberger Akad.-Ausg. L. c 32, p. 42). Die Parallelen ließen sich noch beliebig vermehren auch für die Sprachphilosophie selbst, die bei dem Cusaner wie später bei Vico aus der Anwendung der platonischen Ideenlehre auf die geschichtliche Mannigfaltigkeit der Sprachen eine Art symbolischen Perspektivismus entwickelt, der z. B. auf die Etymologie angewandt wird: dieser metaphysische Schematismus ist noch für W. v. Humboldts Geistund Sprachphilosophie maßgebend. Vgl. hierzu auch S. 378 f. der vorliegenden Untersuchung. 554) Vgl. v. Verf.: Das „Verstehen”, a. a. 0. S. 146-153. 555) Vgl. v. Verf.: Die Idee der Sprache bei Nik. v. Cues, a. a. 0. S. 218 ff.
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Die von Cusanus ausgehende christlich-platonische bzw. christlichpythagoräische Metaphysik der Wissenschaft als „mathesis universalis”, welche sich sprachphilosophisch als Rationalisierung der christlichen Logosmystik darstellt, dergemäß der Mensch in seiner Sprache dem göttlichen (inkarnativen) Aussprechen der Welt im Logos (verbum) „ent-spricht” (vgl. oben Kap. I u. II), muß als Ausgangsbasis und als Vergleichsfolie auch für die Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie Giambattista Vicos zugrundegelegt werden. Gerade um die Radikalität seiner grundsätzlichen Polemik gegen den Cartesianismus und die noch heute kaum zu Ende gedachte Tragweite seiner originalen Begründung des geschichtlichen „Verstehens” der vom Menschen (mit-)geschaffenen Kulturwelt nicht zu verfehlen, muß man zuvor berücksichtigen, daß Vico von derselben Vorstellung einer göttlichen „mathesis universalis” ausging, die auch für Descartes maßgebend war, ja sie gegenüber Descartes' unmittelbarer Evidenzphänomenologie vielleicht tiefer zu begründen wußte in der schöpferischen Kausaldefinition, aus der auch Leibniz die mathematischen Gebilde entstehen ließ. Freilich muß hier sogleich ein Unterschied Vicos gegenüber den eigentlichen Metaphysikern der „mathesis universalis” betont werden, ein Moment, das wir oben schon berührten und im Gegensatz zu der Galileischen Wertung der Mathematik als humanistisch-skeptischen Zug bezeichneten: Wenn Vico die Mathematik mit der göttlichen Schöpfungskunst vergleicht, so schließt dieser Vergleich nicht wie bei Nik. von Cues, Kepler, Galilei, Leibniz den Gedanken einer „Repräsentation” der göttlichen Schöpfung durch den menschlichen Geometer ein, sondern bezieht sich im wesentlichen nur auf den Umstand, daß beim Mathematiker wie bei Gott Schaffen und Erkennen eins sind. Statt eines christlichen Platonismus der „Teilhabe” an göttlichen Ideen scheint Vicos Theorie der Mathematik in manchen Zügen geradezu einen nominalistischen Fiktionalismus (Gottes und des Menschen) vorauszusetzen. Genauer: Seine Metaphysik der Kraftpunkte (s. oben) enthält zwar auch eine Analogiespekulation hinsichtlich der Werke des menschlichen und des göttlichen Mathematikers, wie sie nun einmal zur Topik dieser Überlieferung gehörte; aber sobald er seine eigene Erkenntnistheorie explizit und gewissermaßen mit Bewußtsein vorträgt, betont er nur den Unterschied zwischen der Mathematik, welche Namen definiert, und der göttlichen Schöpfungskunst, welche in den Realitäten der Natur denkt. Jedenfalls fehlt ihm nahezu jedes tiefere Verständnis für jene technischmathematische „interpretatio naturae”, welche zu Beginn der Neuzeit genau in der Linie seines erkenntnistheoretischen Grundprinzips die Spekulationen eines mystischen Neupythagoräismus bzw. Platonismus in exakte Naturwissenschaft verwandelt. Sein geistesgeschichtlicher Scharfblick bemerkt zwar den Stilunterschied zwischen der galileischen, technisch-anschaulichen (experimentellen) und der carte-
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sischen, deduktiv-analytischen Grundlegung der exakten Physik, vermengt aber (wie freilich die meisten Betrachter bis in die jüngste Zeit) sein Verständnis der ersteren Phase mit einer Überschätzung der Baconschen Programmatik empirischer Physik556). Im Grunde bleibt Vico angesichts der für das 17. Jahrhundert charakteristischen naturwissenschaftlichen Anwendung der spekulativen Formel von der weltschöpferischen Mathematik auf dem traditionellen Standpunkt der Humanisten stehen, die schon der aristotelisch-averroistischen „Physik” gegenüber den Menschen auf das Menschliche, d. h. auf die „sapientia” bzw. „prudentia” in Fragen der Lebensführung und bürgerlichen Praxis (auf die rhetorische „scientia civilis” von Recht, Staat und Geschäften) verwiesen und die Natur mit Sokrates und Augustinus dem unerforschlichen Plan Gottes überließen. Indessen, der Anspruch der zeitgenössischen „mathesis universalis”, die „allgemeine Wissenschaft” überhaupt zu begründen, ließ dem Humanisten Vico keine Ruhe, und so reifte in ihm der Plan, gerade die von den Cartesianern der Verachtung preisgegebenen traditionellen Bildungsfächer, die „scientia civilis” Ciceros und Quintilians, genauer: die das pragmatische Sachwissen enthaltende Sprach- und Geschichtskunde, kurz: die „Philologie” zur „Form der Wissenschaft zurückzuführen"557). Es ist wichtig zu bemerken, daß Vico von der „Form der Wissenschaft” spricht. Eben diese hatte sich zu seiner Zeit in dem Präzisionsanspruch der „mathesis universalis” unabhängig von aller überlieferten Form des Lebens und der Bildung a priori und allgemeingültig begründet. Insbesondere durch Leibniz wurde der verstehbare Geist als „Form” und diese wiederum als mathematische Form den empirischen bloßen Tatsachen entgegengesetzt. Hierin lag der äußerste Gegensatz zum Formverständnis des vorwissenschaftlichen Zeitalters der Menschheit, das seine Form im Mythos, in sittlich-religiösen Institutionen oder endlich: in der Sprache und ihrer immanenten Welttopik fand. Und eben in der Zeit, in der Leibniz auch die Sprache auf die mathematische Form reduziert und sie zum technischen Instrument der „scientia generalis” macht, unternimmt Vico den entgegengesetzten Versuch, die „Form der Wissenschaft” in der Geschichte und
556) Vgl. „De... studiorum ratione", Kap. IV, a. a. O. S. 39 ff, sowie insbesondere den Kommentar C. Fr. v .Weizsäckers (ebda. S. 159). 557) „Die neue Wissenschaft”, a. a. O. S. 49 u. ö. Vgl. „Autobiographie”, a.a.O. S. 83 ff. Im italienischen Text (Opere, ed A. Mondadori, 1957, vol. I, p. 9) lautet die einschlägige Stelle aus der Einleitung zur „Scienza nuova” von 1744: 558) „Oltracciò qui si accenna che 'n quest 'opera ... la filosofia si pone ad esaminare la filologia, o sia la dottrina di tutte le cose le quali dipendono dallo umano arbitrio, come sono tutte le storie delle lingue, de' costumi e de' fatti così della pace come della guerra de' popoli, la quale, per la di lei deplorata oscurezza delle cagioni e quasi infinita varietà degli effetti, ha ella avuto quasi un orrore di ragionarne; e la riduce in forma di scienza col discovrirvi il disegno di una storia ideal eterna, sopra la quale corrono in tempo le storie di tutte le nazioni...”.
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zwar in der philologisch verstandenen Weltgeschichte, d. h. aber: in der inneren Form der geschichtlichen Sprache zu finden bzw. zur Geltung zu bringen. Sprachphilosophisch betrachtet, liegt in dieser Entgegensetzung von Vico und Leibniz, die es für eine historische Interpretation im engeren Sinne gar nicht gibt, der Angelpunkt einer aktuellen Würdigung Vicos; denn bei Leibniz und Vico liegen — noch innerhalb des „natürlichen Systems” der Barockwissenschaft, und das heißt: noch im Rahmen eines überwölbenden, gemeinsamen christlich-antiken Logosbegriffs — die Angelpunkte jener Divergenz im modernen Denken, die uns heute als Gegensatz logistisch-technischer Sprach- und Naturkonstruktion einerseits, historisch-hermeneutischer, muttersprachlich orientierter Geisteswissenschaft und Philosophie andererseits fast über die Möglichkeit sprachlicher Verständigung und Besinnung hinausgewachsen zu sein scheint. Oder wo fände sich heute auch nur der Ansatz zu einer echten philosophischen Kommunikation zwischen dem von weither hochstilisierten Scharfsinn derer, für die das philosophische Problem in der logisch-mathematisch kontrollierten, tunlichst eindeutigen Bezeichnung der „Welt” (dessen, „was der Fall ist” nach Wittgenstein) besteht, und dem nicht immer glücklich gegen die Nüchternheit der technischen Tatsachenverrechnung abgesicherten Tiefsinn derer, für die „Welt” ein sprachlich inkarniertes „offenbares Geheimnis” ist, dessen schicksalhafte (und insofern unvermeidliche) Vieldeutigkeit durch immer erneute sprachhermeneutische „Wiederholung” der Seinsgeschichte „ent-schieden” werden muß? Soviel scheint uns festzustehen: in dieser wohl größten Divergenz des methodischen Denkens, die heute die Geister scheidet, bekundet sich die Geschichte der Sprachidee als der Idee des Logos. Vielleicht läßt sich in der spätbarocken Antithese Vicos zum Verstehensbegriff und Formprinzip der „mathesis universalis” ein Stück dieser Geschichte „wiederholen”.
Vico selbst sah das ihm aufgegebene Problem bereits deutlich als das des Humanismus im „natürlichen System der Geisteswissenschaften” (die folgende Formulierung ergab sich ihm, wie er selbst berichtet, nach längerem Studium der Naturrechtsdenker, insbesondere des H. Grotius): „... es gab in der Welt der Wissenschaften noch kein System, in dem die beste Philosophie, wie es ein der christlichen Religion untergeordneter Platonismus ist, mit einer Philologie in Einklang steht, die eine zwangsläufig einleuchtende wissenschaftliche Ordnung in ihre beiden Gebiete bringt. Diese beiden Gebiete sind die zwei geschichtlichen Wissenschaften, von denen eine die Sprachen, die andere die Sachen betrifft."558)
Diese Zusammenfassung der Wort- und Sach-Geschichte im Rahmen der „Philologie” erweist Vico als Erben jener seit Salutati auf der Grundlage der rhetorischen Ideologie Ciceros konzipierten Kulturwissenschaft,
558)
„Autobiographie”, a. a. O. S. 83.
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deren philosophische Eigentendenz jeder Kenner des italienischen Humanismus wohl verspürt, deren philosophische Grundlegung aber bei all ihren Vertretern so wenig gelingt, daß auch nach Toffanins und E . Garins Interpretationen der Philosophie des Humanismus E. R. Curtius darauf bestand, daß es sich hier nicht um Philosophie, sondern um „rhetorische Stilübungen” handele559). Vico selbst beginnt seine Laufbahn mit solchen „rhetorischen Stilübungen”: seinen 7 Universitätsreden, von denen allerdings die letzte („De studiorum ratione"), die er selbst allein drucken ließ, schon ein erhebliches philosophisches Gewicht aufweist. Schon in diesen Reden spielt die humanistische Zusammenschau von Sprach- und Sachstudien eine bemerkenswerte Rolle. (In der ersten Rede von 1699 verbreitet sich Vico besonders darüber, „wie die Kinder, da sie frei von verkehrten Neigungen und Lastern sind, mit drei oder vier Jahren schon spielend die vollständigen Wörterbücher ihrer Muttersprache gelernt haben"560), in der sechsten Rede von 1707 über die rechte Studienordnung in „Erkenntnis der gefallenen Menschennatur” stellt er fest: „Oft hilft die Sprache der Ideenwelt nicht, ja sie wird sogar den Ideen zum Verräter, durch die der Mensch sich mit dem Menschen vereinigen möchte und es nicht fertig bringt”. Vico „beweist” dort, „daß, wie die Sprachen das mächtigste Mittel waren, die menschliche Gesellschaft zu gründen, auch die Studien von den Sprachen ausgehen müssen; denn alle Sprachstudien halten sich an das Gedächtnis, das in der Kindheit besonders stark ist"561).
In seiner Schrift „De antiquissima Italorum sapientia ex linguae latinae originibus eruenda” (1. Buch, Neapel 1710) ist Vico bestrebt, die „Weisheit der Alten” (dieser alte humanistische Topos war ihm durch Bacons „De sapientia veterum” interessant geworden) „weiter als bis zu den Fabeln der Dichter zu verfolgen”, d. h. ihre Prinzipien „innerhalb der Ursprünge der lateinischen Sprache zu erforschen”, so wie Platon „sich im ,Kratylos` bemüht hatte, jene Prinzipien innerhalb der Ursprünge der griechischen Sprache aufzuspüren"562). Hier schon begannen ihm die üblichen „grammatischen Etymologien” (d. h die Deutungen der Sprache unter dem Gesichtspunkt einer dahinterstehenden begrifflich-philosophischen Weisheit ihrer Erfinder) zu „mißfallen"563). Er suchte, „unbefriedigt durch das Buch Bacons von Verulam, in dem dieser die Weisheit der Alten in den Fabeln der Dichter entdecken will”, „andere Prinzipien der Poesie”, „andere Prinzipien der Mythologie”, schließlich „die Grundlagen einer
559) Vgl. E. R. Curtius: Neuere Arbeiten über den italien. Hum. (in: „Bibliotheque d'Humanisme et Renaissance”, Bd. X/9 1947/48). 560) „Autobiographie”, a. a. O. S. 57. 561) Ebda. S. 64. 562) Ebda. S. 70 f. 563) Ebda. S. 71 u. 78.
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allumfassenden Etymologie" auf Grund eines Prinzips, „das die Ursprünge aller toten und lebendigen Sprachen aufzeigen sollte"564) Dieser humanistisch-philologischen Erforschung der Geschichte der Sachen mit Hilfe des rechten Sprachverstehens und wiederum der geschichtlichen Entwicklung der Sprachen mit Hilfe des rechten Verstehens der Sachgeschichte (denn in dem „harmonisierenden System” der Philologie „müßte” auch „durch die Sachgeschichte die Geschichte der Sprachen ... ins Reine gebracht werden"565) sucht Vico nun in der zweiten Form seiner Erkenntnistheorie, die er in der „Neuen Wissenschaft” zuerst vorträgt, eine transzendental-philosophische, d. h. für ihn: eine christlichplatonisch-augustinische Grundlage zu geben. Er gewinnt diese Grundlage, indem er eben jene transzendentale Identifikation von menschlichem und göttlichem schöpferischen „Verstehen” (in lumine verbi divini), welche die Erkenntnismetaphysik der (kunstsprachlichen) „mathesis universalis” und der mathematischen Physik begründete, seinerseits der Geschichtswissenschaft bzw. der Philologie der geschichtlichen Sprachen als Bedingung ihrer Möglichkeit und Gültigkeit zugrundelegte: Bei Leibniz hatte es geheißen: „L'âme raisonnable ou l'esprit ... n'est pas seulement un Miroir de l'univers des créatures, mais encore une image de la Divinité. L'esprit n'a pas seulement une perception des ouvrages de Dieu, mais il est meine capable de produire quelquechose qui leur ressemble, quoiqu'en petit. Car, pour ne rien dire des merveilles des songes ... , notre âme est architectonique encore dans les actions volontaires: et découvrant les sciences, suivant lesquelies Dieu a regle les choses (pondere, mensura, numero etc.) eile imite dans sons département, et dans son petit monde où il lui est permis de s'exercer, ce que Dieu fait dans le grand."566)
Vico erklärt in der Einleitung seiner „Neuen Wissenschaft”: Während bisher die Philosophen Gott und seine Vorsehung „über die Ordnung der natürlichen Dinge hinweg” betrachtet haben, hebt sich die Metaphysik „in diesem Werk ... höher empor und betrachtet in Gott die Welt des menschlichen Geistes, welches die metaphysische Welt ist, um seine Vorsehung zu erweisen in der Welt des menschlichen Willens, welches die historische Welt ist oder die Welt der Völker” (a. a. O . S. 43) 567)
Es wiederholt sich hier bei Vico für die Gundlegung der Geisteswissenschaften eine Konstellation, die von Cusanus bis Galilei und Leibniz bereits für die Grundlegung der Naturwissenschaften im Abendland entscheidend war: Trotz aller Erneuerung der antiken Philosophie und aller nominalistisch-empiristischen Unterscheidung von theologischer Of-
564)
Ebda. S. 78. Ebda. S. 83. 566) Leibniz: Principes de la Nature et de la Grace ... (Gerh. VI, 604 f.) 567) ...la Metafisica ... in quest' opera più in suso innalzandosi, contempla in Dio il mondo delle menti umane, ch'è 'l mondo metafisico, per dimostrarne la provvedenza nel mondo degli animi umani, ch'è 'l mondo civile o sia il mondo delle nazioni.” (a. a. O. S. 5) 565)
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fenbarung und Erfahrungswissenschaft, trotz aller apriorischen Autonomie des „natürlichen Systems”, sei diese nun von Platons Ideen oder von den stoischen „notiones communes” her begründet, geschieht die entscheidende Distanzierung, die Infragestellung alles statischen Soseins der Welt und wiederum dessen konstruktive, dynamisch-genetische Neuerstellung im menschlichen Verstehen aus der erst im Christentum möglichen formalen Identifikation des menschlichen Geistes mit dem exzentrischen Standpunkt eines transzendenten Gottes, der die Welt aus dem Nichts geschaffen, genauer: im „Wort” gesprochen hat. Hier liegt die von uns schon früher betonte Möglichkeit verankert, gerade die Konstitution der neuzeitlichen Metaphysik, die nicht mehr „ancilla Theologiae” sein will, aus der christlichen Logosmystik (und d. h. potentiell: sprachphilosophisch!) zu begründen. Erst die immer noch nicht restlos bewußt gemachten christlich-theologischen Voraussetzungen der abendländischen Kultur, wozu vor allem die „imago dei"-Anthropologie gehört, schaffen die metaphysische Grundfigur (des die Welt in Frage stellenden und neu erstellenden Menschen), innerhalb welcher die antiken Lehren, vor allem der Platonismus, zum Hebel der „Wissenschaft” im modernen Sinne werden konnten. Dies läßt sich gerade bei Vico gut belegen: Der oben zitierten monumentalen Einführung in die „Neue Wissenschaft” geht voraus Vicos Rede von 1719 über die These: „Omnis divinae atque humanae eruditionis elementa tria: Nosse, Velle, Posse, quorum principium unum mens; cuius oculus ratio, cui aeterni veri lumen praebet Deus"568).
Mit Hilfe dieser trinitarischen, auf Augustinus zurückgehenden Parallelisierung des menschlichen und göttlichen Geistes beweist Vico — nicht ohne im Sinne Descartes' (oder Augustinus'?) durch „jenes eine, worüber wir überhaupt nicht zweifeln können, nämlich durch das Denken”, sich stillschweigend eine zweite Basis zu verschaffen569) — 1. „wie alle Grundlagen der Wissenschaften von Gott stammen”, 2. „wie das göttliche Licht oder die ewige Wahrheit durch die drei unterstellten Elemente alle Wissenschaften durchdringt und wie sie alle in engster Verbindung miteinander stehen ... "670).
Diese augustinisch-platonische Begründung des wissenschaftlichen Erkennens durch die „illuminatio divina”, die bei Vico durchaus wie bei
568)
„Autobiographie”, a. a. O. S. 83. Die Rede selbst ist in ihrem Gesamttext nicht erhalten. Ebda. S. 84. Der Gegensatz von Autonomismus und Theozentrismus in der Begründung des Denkens liegt Vico ebenso fern wie Leibniz, ja wie im Grunde Descartes. In diesem Punkt besitzen die großen Barockdenker das Selbstvertrauen des intellektuellen Mystikers. 570) Ebda. S. 84. 569)
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Malebranche zu einem mystischen Occasionalismus hin tendiert571), macht die „Neue Wissenschaft” zu einer „vernünftigen Theologie der göttlichen Vorsehung” (a. a. O. S. 44). Dies hindert aber Vico nicht, die Möglichkeit der geschichtlichen Erkenntnis auch eigens vom Menschen her zu rechtfertigen. Es geht hier darum, verständlich zu machen, inwiefern der Mensch gerade der geschichtlichen Welt gegenüber das erhoffen kann, was nach Vico der Natur gegenüber ein aussichtsloses Unterfangen ist: das Erkannte und das selbst Geschaffene zur Deckung zu bringen. Auch in diesem Punkt konnte der neapolitanische Denker des Barock an eine allgemeine Tendenz des italienischen Humanismus bewußt oder unbewußt anknüpfen: Abgesehen von einem in der Renaissance geläufigen Verständnis des Dichters oder auch — in Konkurrenz hierzu — des bildenden Künstlers (Leonardo) als eines „alter deus”, der den göttlichen „artifex” (Augustinus) nachahmt, gab es auch schon eine quasi wissenschaftstheoretische Tradition, in der den Naturwissenschaften (insbesondere der in Padua gelehrten arabischen Medizin) die humanistischen Disziplinen, insbesondere die Rechtswissenschaft, entgegengestellt wurden. So hatte schon C. Salutati in seiner Schrift „De nobilitate legum et medicinae” von 1390 die Jurisprudenz als Zeugnis der göttlichen Weisheit und des von Menschen geschaffenen Guten über die Medizin gestellt, die sich nur mit dem Werdenden und Vergehenden beschäftigt572). Ähnlich argumentierte G. Manetti in seinem Traktat „De dignitate et excellentia hominis” von 1452; hier wird bereits betont, daß die Werke der Kultur die vom Menschen geschaffene Welt darstellen („nostra namque, hoc est humana, sunt, quonjam ab hominibus effecta ... " 5 7 9 worin das von Gott Geschaffene vom Menschen immer schöner und vollkommener ausgestaltet wird (ab omnipotenti Deo ad usus hominum primo inventa institutaque, et ab ipsis postea hominibus gratanter accepta, multo pulchriora multoque ornatiora ac longe politiora effecta"574). Noch kühner hatte Pico della Mirandola in seiner berühmten Rede „De hominis dignitate” von 1487 den Menschen als das sich selbst schaffende, personale Ebenbild Gottes von aller übrigen Gattungsnatur abgehoben (ein Gedanke, der sich allerdings auch schon bei dem Pico bekannten Nik. v. Cues findet). Kann man in den frühhumanistischen Auseinandersetzungen zwischen „Naturwissenschaft” und „Geisteswissenschaft” noch vorwiegend den Ausdruck einer christlichmittelalterlichen Hierarchie der Wissenschaften erblicken, die ihren Rang nach der Werthöhe des Gehaltes und nicht nach der Sicherheit und Präzision der Methode einnehmen, so liegt Vicos Bedeutung darin, daß er in Auseinandersetzung mit Descartes, d. h. aber vom methodologischen Gesichtspunkt der Neuzeit her, den Primat des geisteswissenschaftlichen „Verstehens” (und d. h. implizit, wie noch zu zeigen sein wird: des muttersprachlich-hermeneutischen Logos gegenüber dem mathematisch-kunstsprachlichen Logos) zu begründen versucht: „Da ... die historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht ist und darum ihr Wesen in den Modifikationen unseres eigenen Geistes zu finden sein muß; denn es kann nirgends größere Gewißheit für die Geschichte geben als da, wo der, der die Dinge schafft, sie auch erzählt. So verfährt diese Wissenschaft ,
571)
Vgl. V. Rüfner, a. a. O. S. 155. S. oben Anmerkung 169, ferner E. Garin, a. a. O. S. 26 ff. 573) Vgl. Gentile: Il concetto dell' uomo nel rinascimento (in: Giordano Bruno e il pensiero del Rinascimento, S. 111 ff.). 574) E. Garin, a. a. O. S. 63. 572)
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gerade so wie die Geometrie, die die Welt der Größen, während sie sie ihren Grundsätzen entsprechend aufbaut und betrachtet, selbst schafft; doch mit umso mehr Realität, als die Gesetze über die menschlichen Angelegenheiten mehr Realität haben als Punkte, Linien, Flächen und Figuren"575).
Die von Vico ins Auge gefaßte Analogie des geschichtlichen Verstehens mit der mathematischen Konstruktion wird deutlicher durch den vorhergehenden Satz: „Daher gelangt unsere Wissenschaft dazu, eine ewige ideale Geschichte darzustellen, nach der in der Zeit ablaufen die Geschichten aller Völker mit ihrem Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende. Ja wir getrauen uns zu sagen, daß, wer diese Wissenschaft überdenkt, insofern sich selbst die ewige ideale Geschichte erzählt, als er sie mit jenem Beweis: es mußte, es muß, es wird müssen, sich selbst schafft ..."576). „Bisher”, sagt Vico, „hat die Philosophie, wegen der von ihr beklagten Dunkelheit der Ursachen und unendlichen Vielfältigkeit der Wirkungen gewissermaßen einen Abscheu gehabt”, von der geschichtlichen Welt zu handeln; „hier aber führt sie die Philologie zurück zur
575)
Die neue Wissenschaft”, a. a. O. S. 139. Zum ital. Text vgl. Anm. 576. Ebda. S. 138 f.; („Onde questa Scienza viene nello stesso tempo a descrivere una storia ideal eterna sopra la quale corron in tempo le storie di tutte le nazioni ne'loro sorgimenti, progressi, stati, decadenze e fini. Anzi ci avanziamo ad affermare ch'in tanto che medita questa Scienza egli narri a se stesso questa storia ideal eterna, in quanto — essendo questo mondo di nazioni stato certamente fatto dagli uomini (ch'è 'l primo principio indubitato che n'è posto qui sopra), e perciò dovendosene ritruovare la guisa dentro le modificazioni della nostra medesima mente umana — egli, in quella pruova «dovette, deve, dovrà„, esso stesso se'l faccia; perché, ove avvenga che chi fa le cose esso stesso le narri, ivi non può essere più certa l'istoria. Cosi questa Scienza procede appunto come la geometria, ehe, mentre sopra i suoi elementi il costruisce o 'l contempla, essa stessa si faccia il mondo delle grandezze; ma con tanto più di realita quanta più ne hanno gli ordini d'intorno alle faccende degli uomini, che non ne hanno punti, linee, superficie e figure...” [a. a. O. S. 136 f.]); Vgl. auch folgende Parallelstelle: „Doch in jener Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das ewige Licht, das nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: daß diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muß jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der Natur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben.” (a. a. O. S. 125) („Ma, in tal densa notte di tenebre ond'è coverta la prima da noi lontanissima antichità, apparisce questo lume eterno, che non tramonta, di questa verità, la quale non si può a patto alcuno chiamar in dubbio: che questo mondo civile egli certamente è stato fatto dagli uomini, onde se ne possono, perché se ne debbono, ritruovare i principii dentro le modificazioni della nostra medesima mente umana. Lo ehe, a chiunque vi rifletta, dee recar meraviglia come tutti i filosofi seriosamente si studiarono di conseguire la scienza di questo mondo naturale, del quale, perché Iddio egli il fece, esso solo ne ha la scienza; e trascurarono di 576)
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Form der Wissenschaft, indem sie in ihr den Plan einer ewigen idealen Geschichte entdeckt . . . "577).
Es wird also hier zunächst durchaus die platonische Methode der idealisierenden Konstruktion, die Galilei mit so großem Erfolg auf die Natur angewendet hatte, auf die Geschichte bezogen, und ebenso wie Galilei von einer besonderen geometrischen Chiffrensprache redet, die derjenige verstehen müsse, der im Buch der Natur lesen wolle (s. oben S. 237), so postuliert jetzt Vico für die Wissenschaft von der geschichtlichen Welt einen allgemeinen Sprachschlüssel: „Es ist notwendig, daß es in der menschlichen Natur eine allen Völkern gemeinsame geistige Sprache gibt, die überall in gleicher Weise das Wesen der Dinge, die im gesellschaftlichen Leben vorkommen können, begreift, und sie in so viel verschiedenen Modifikationen ausdrückt, als diese Dinge verschiedene Aspekte haben können: so wie wir es bei den Sprichwörtern finden, die Maximen einer volksmäßigen Weisheit sind; sie werden dem Sinne nach als ein und dieselben von allen antiken und modernen Völkern verstanden, aber so viel Völker es gibt, auf so viel verschiedene Art werden sie ausgedrückt. Dies ist die eigentliche Sprache unserer Wissenschaft. Von ihr erleuchtet, können die Gelehrten, wenn sie sie erforschen wollen, einen geistigen Sprachschatz bilden, der all den verschiedenen artikulierten Sprachen, lebenden und toten, gemeinsam ist."578)
Hier ist offensichtlich weder an eine konkrete Volkssprache gedacht, noch auch an eine künstliche Konstruktion wie in Leibnizens „lingua universalis”, sondern an eine Art Topik oder Kategorienlehre, die (jedoch) zugleich der konkrete Inbegriff der wirklichen, geschichtlichen Sprachen ist; denn in ihren mannigfachen Perspektiven vollzieht sich ja (s. oben) erst das einheitliche Weltverständnis der allen Völkern gemeinsamen geistigen Sprache, die das Verstehen des Philologen-Philosophen erleuchten soll. Hier im Begriff der Sprache deutet sich an, wie Vico sich den Übergang von der Idealtypik seiner philosophischen Geschichtskonstruktion zur empirischen Philologie denkt. Man fühlt sich an Hegels Logik erinnert, die zugleich geschichtliche, ontologische Dialektik ist. Vicos Kon-
meditare su questo mondo delle nazioni, o sia mondo civile, del quale, perché l'avevano fatto gli uomini, ne potevano conseguire la scienza gli uomini.” [a. a. 0. S. 125 f.]). 577) Ebda. S. 49. 578) Ebda. S. 85. (,,È necessario che vi sia nella natura delle cose umane una lingua mentale comune a tutte le nazioni, la quale uniformemente intenda la sostanza delle cose agibili nell'umana vita socievole, e la spieghi con tante diverse modificazioni per quanti diversi aspetti possan aver esse cose; siccome lo sperimentiamo vero ne'proverbi, che sono massime di sapienza volgare, l'istesse in sostanza intese da tutte le nazioni antiche e moderne, quante elleno sono, per tanti diversi aspetti significate. Questa lingua è propria di questa Scienza, col lume della quale se i dotti delle lingue v'attenderanno potranno, formar un vocabulario mentale comune a tutte le lingue articolate diverse, morte e viventi ... " [a. a. 0. S. 88]).
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zeption stützt sich nicht nur metaphorisch auf den Begriff einer kategorialen „Wissenschaftssprache”, sondern gedenkt diese Sprache tatsächlich aus der empirischen (vergleichenden) Linguistik zu gewinnen und sie gleichzeitig als regulatives Prinzip derselben a priori ins Auge zu fassen. Denn „es ist das Wörterbuch der Sprache, in der die ewige ideale Geschichte spricht ... und mit seiner Hilfe kann man wissenschaftliche Beweise beibringen für das, was das natürliche Recht der Völker und folglich über jedes besondere Recht auseinandergesetzt wird"579).
Er selbst zwar muß sich in concreto darauf beschränken, „die wahren Ursachen der lateinischen Sprache” (vgl. 1. C. Scaliger und Sanchez!) „als Probe” seiner Ideen darzulegen, und es den Gelehrten überlassen, „die gleiche Probe mit allen übrigen Sprachen vorzunehmen.” Aber sein wissenschaftstheoretisches Programm enthält die „Idee eines allen Ursprachen gemeinsamen Etymologikons”, ferner „die Idee eines anderen Etymologikons der Ausdrücke fremden Ursprungs”, „schließlich ... eines allgemeinen Etymologikons für die Wissenschaft und somit die Idee einer Sprache, die für die spezielle Erörterung des natürlichen Rechts der Völker unentbehrlich ist"580) Wir werden später auf die Konkretisierung dieses vieldeutigen Programms, soweit sie bei Vico etwa in der Beschreibung der drei epochalen Sprachtypen gefunden werden kann, zurückkommen (s. unten S. 358 f.). Hier kann dieses Programm zunächst als die transzendentalphilologische Variante jener für das „natürliche System” der Barockwissenschaft charakteristischen Idee einer „Natursprache” angesehen werden, die sich bei J. Böhme als religiös-mystische, gefühlsexpressive Tiefenschicht der Muttersprache, bei Leibniz als mathematische „ars combinatoria” aller einfachen rationalen Ideen und schließlich noch bei Berkeley als natürliche Zeichenverweisung der Sinnesqualitäten, durch die Gott mit dem Menschen redet, ausprägt. Diese barocken Systeme der Natursprache ent-sprechen ebensovielen Typen des „Verstehens” bzw. der Weltkonstitution, die sich hier alle noch aus der übergreifenden Konzeption des göttlichen Logos und seiner „Lichtung des Seins” (hier noch durch die „illuminatio verbi”) herleiten. Das Neue und Interessante, freilich auch am wenigsten Geklärte in Vicos Konzeption ist die Beziehung der philosophischen Idealtypik seiner „Neuen Wissenschaft” auf die historisch-philologische Forschung, können doch deren hermeneutische Befunde keineswegs nur als Fälle unter das
579) Ebda. S. 68. („Un tal lessico si truova esser necessario per sapere la lingua con cui parla la storia ideal eterna ... e per potere con iscienza arrecare l'autorità da confermare ciò che si ragiona in diritto natural delle genti, e quindi in ogni giurisprudenza particolare.” [a. a. 0. S. 32]) 580) „Autobiographie”, a. a. 0. S. 104.
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fertige Schema einer „starren Regel” subsumiert werden, wie dies etwa in der mathematischen Naturwissenschaft der Fall ist: „Non ex ista recta mentis regula (nämlich nach dem starren Maßstab des mathematischen Begriffs), quae rigida est, hominum facta aestimari possunt; sed illa Lesbiorum flexibili, quae non ad se corpora dirigit, sed se ad corpora inflectit, spectari debent."581)
So hatte Vico schon in seiner Rede „De studiorum ratione” von 1708 geschrieben, als die menschlich-geschichtliche Welt für ihn lediglich Gegenstand der „prudentia” bzw. des „sensus communis” war. In der Phase der „Neuen Wissenschaft” fordert er von seinem Leser, er müsse sich in „einen Zustand höchster Unwissenheit und reinen Verstehens versetzen"582), und von seiner eigenen Arbeit, die ihn die Welt der vorzivilisatorischen „Zeitalter der Götter und Helden” entdecken ließ, sagt er: „… so begegneten wir, um die Art dieses ersten menschlichen Gedankens, der in der heidnischen Welt entstand, zu ermitteln, und um hinabzusteigen von unseren menschlich gesitteten Naturen zu jenen völlig wilden und ungeheuren, die vorzustellen uns ganz unmöglich ist und deren Verständnis nur mit großer Mühe gelingt, harten Schwierigkeiten, die uns eine Arbeit von mehr als zwanzig Jahren gekostet haben"583).
Aus dieser konkreten Arbeit des Verstehens hat sich Vico die Idealtypik seiner Geistesgeschichte erst ergeben, die freilich ihrerseits zur Erschließung der Tatsachen auch schon im gewissen Sinne vorausgesetzt war. Das hier wie in allem sprachgetragenen Sinnverstehen vorwaltende Verhältnis des „hermeneutischen Zirkels”, demgemäß der systematische Begriff die historische Interpretation, diese wiederum den systematischen Begriff voraussetzt, deutet sich bei dem ersten Begründer einer transzendentalen Philologie von ferne an, wenn er schreibt: Die „philologischen Beweise dienen dazu, uns tatsächlich sehen zu lassen, was wir in Gedanken schon über die historische Welt erforscht hatten ... So geschieht es, daß mit Hilfe der vorhergehenden philosophischen Beweise die nachfolgenden philologischen zu gleicher Zeit die Autorität durch die Vernunft und die Vernunft durch die Autorität bestätigen"584).
Ein solches Methodengefüge von Induktion und Deduktion hatte Vico aus Bacons „Cogitata et visa de interpretatione naturae” herausgelesen585)
581)
„De ... studiorum ratione”, a. a. O. S. 60. Vico, Opere, 2. Ausg. v. Ferrari 1852/54, Bd. IV, p. 33, V, pp. 136, 50, 51). 583) „Die neue Wissenschaft”, a. a. O. S. 131. 583) Ebda. S. 142. („Le quali pruove filologiche servono per farci vedere di fatto le cose meditate in idea d'intorno a questo mondo di nazioni, secondo il metodo di filosofare del Verulamio, ch'è cogitare videre; ond'è che, per le pruove filosofiche innanzi fatte, le filologiche, le quali succedono appresso, vengono nello stesso tempo e ad aver confermata l'autorità loro con la ragione ed a confermare la ragione con la loro autorità.” [a. a. O. S. 139]) 584) Ebda. 582)
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— ein Beleg für die Szientifizierung des Humanismus in der Atmosphäre des „natürlichen Systems”. Soweit die erkenntnistheoretische Grundlegung der »Neuen Wissenschaft" als einer transzendentalen Philologie. Bevor wir hieraus die Sprachphilosophie Vicos im einzelnen entwickeln können, ist im folgenden noch ein zweites erkenntnistheoretisches Grundmotiv zu würdigen, durch das Vico, mehr noch als mit der geschichtlich-hermeneutischen Anwendung seiner Formel verum et factum convertuntur, die geheime Philosophie des römisch-italienischen Sprachhumanismus zur Entfaltung bringt: Gemeint ist seine Idee der „Topik”, wie er sie zuerst in der Universitätsrede von 1708 vorträgt, indem er in ihr den systematischen Schlüssel zum Verständnis der antik-humanistischen Geistesart im Vergleich zum erkenntniskritischen Cartesianismus gewinnt. c) Die Idee der „Topik” und der Sprachbegriff Vicos in der kulturkritischen Frühschrift „De nostri temporis studiorum ratione”.
Nirgendwo läßt sich die Verwurzelung Vicos in der Welt des römischitalienischen Sprachhumanismus deutlicher kennenlernen als in der Universitätsrede von 1708, der einzigen von Vico selbst veröffentlichten aus einer Reihe ähnlicher rhetorisch-pädagogischer Traktate, die er in seiner Eigenschaft als Professor der „Eloquenz” verfaßte (s. oben S. 328). Zugleich hat Vico in dieser Rede aber schon ein historisch-philosophisches Reflexionsbewußtsein über das Verhältnis eben dieser rhetorisch-humanistischen Bildung zur Geistesart der neuzeitlichen Wissenschaft, d. h. zum Cartesianismus, erreicht, eine apologetische Grundkonzeption, die erst durch die Infragestellung der humanistischen Bildungsideale durch Descartes provoziert werden konnte. Kulturpolitisch reduziert, vollzieht die Schrift „De . . . studiorum ratione” die Auseinandersetzung einer jesuitischhumanistischen Methodenlehre586) mit der jansenistisch-cartesischen „Art de penser” von Port-Royal. Mit dieser Entgegensetzung der alten und neuen Studienart, die sich mit der Frage nach der Überlegenheit der
586) Ratio studiorum" ist nach Fr. Schalk „der Terminus, unter dem die societas Jesu schon frühzeitig ihr Studienprogramm zusammengefaßt hatte” (Anhang zu „De ... studiorum ratione”, a. a. 0 . S. 169). Neal W. Gilbert (Renaissance Concepts of Method, New York 1960) schreibt dazu: „The most methodical of Humanist educational reforms was the Ratio studiorum of the Jesuits, completed in 1586, although ratified in 1599. This rigid scheme for instruction in the humanities and sciences could just as well have been called a Methodus ad eruditorum piorum fabricationem, for it was in every respect the model of Humanist method...” (a. a. 0. S. 73).
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Neuzeit über die Antike587) verbindet, lebt zugleich der schon im 12. Jahr-hundert und wiederum im 15. Jahrhundert entfachte abendländische Universitätsstreit innerhalb des „Triviums” zwischen Grammatik-Rhetorik als humanistischer Bildungsgruppe und Dialektik als Tendenz zur „voraussetzungslosen” Wissenschaft wieder auf. Indem aber, nach der Diskreditierung der Scholastik sowohl durch den Humanismus wie durch die nominalistisch orientierte Naturforschung, der mathematische Geist des Barock der nominalistischen Naturwissenschaft eine neue rationale Grundlage gegeben hatte, konnte sich der traditionelle Gegensatz bei Vico erstmals zu dem modernen, methodologischen von Geisteswissenschaft und exakter Naturwissenschaft vertiefen; ja, vom sprachphilosophischen Blickpunkt aus müssen wir in Vicos Deutung und Würdigung der humanistischen Topik bereits die entscheidenden Argumente aufspüren, die, in der Konstellation des 20. Jahrhunderts, der logistisch orientierten Kritik der geschichtlichen Sprache und sprachgebundenen metaphysischen Tradition entgegenzusetzen sind. Es läßt sich auch hier wieder eine höchst aktuelle Konstellation aus der Gegenüberstellung Vicos mit Leibniz gewinnen: Während der barocke Vorläufer der mathematischen Logik in seiner Dissertation von 1666 „De arte combinatoria” die „Topik” (d. h. die „ars meditandi seu Logica inventionis”) auf der Grundlage der Arithmetik systematisieren will, indem er das alte Projekt der „Lullischen Kunst” wiederaufnimmt, ein Projekt, das bei ihm zum Ausgangspunkt der logischmathematischen Sprachkonstruktion wird, entdeckt der junge Vico in Vertiefung des alten ciceronischen Topos vom Primat der „ratio inveniendi” vor der „ratio iudicandi” (s. o. S. 141) in der „Topik” den Gesichtspunkt einer grundsätzlichen Kritik am Erkenntnis- und Bildungsbegriff der „mathesis universalis”. Das Verhältnis von „Topik” und „Kritik” wird ihm zum paradigmatischen Modell für die Einsicht, daß alle deduktive (axiomatische) Wissenschaft und an ihr orientierte reflexive Erkenntniskritik den „sensus communis” als Organ einer humanistischen Ausschöpfung der anschaulich-bedeutsamen Weltgehalte der sprachlichen Bildungshorizonte schlechthin voraussetzt: „Was die Methoden (instrumenta) der Wissenschaft betrifft” — so heißt es in dem entscheidenden 3. Kapitel von Vicos Dissertation, betitelt: „Die Nachteile der neuen Kritik” —, „so beginnen wir heute die Studien mit der Erkenntniskritik, die, um ihre erste Wahrheit nicht nur vom Falschen, sondern auch vom bloßen Verdacht des Falschen frei zu halten, alle sekundäre Wahrheit,
587) Die „querelle des anciens et des modernes” ist ein Grundmotiv neuzeitlichen Geschichtsbewußtseins, dessen Wurzeln wir auch im „umanesimo volgare” (z. B. bei Speroni und du Bellay) bereits feststellen konnten. Im Barockzeitalter wurde sie zu einer berühmten literarischen Streitfrage, sozusagen der „Topos”, aus dem die moderne Fortschrittsidee (bei Fontenelle, Swift, Lessing u. a.) Gestalt gewann. Vgl. hierzu J. B. Bury: The Idea of Progress, New York 1932.
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sowie alles Wahrscheinliche genau so wie das Falsche aus dem Denken entfernt wissen will." (a. a. O. S. 27)
Vico hat hier den Gehalt des methodischen Zweifels von Descartes und seiner auf absoluter Reflexionsgewißheit des reinen Bewußtseins gründenden „Erkenntniskritik” mit sicherem Blick für die epochemachenden Konsequenzen fixiert. Ebenso genau — ein Beispiel für die dialektische Gesetzlichkeit einer idealen Geistesgeschichte — ist auch der Gegensatz, den er allein in seiner Epoche dem methodischen Ansatz Descartes' entgegenzustellen weiß: Dieser Gegensatz läßt sich selbstverständlich nicht gewinnen, wenn man mit Descartes den reflexiven Standpunkt autonomer Weltbeurteilung einnimmt, welche den praereflexiven Sinngehalt einer gelebten Welt, sofern er sich nicht a priori vor den Anforderungen der Kritik legitimieren kann, einfach ausklammert. Vico gewinnt den Abstand zum Cartesianismus zunächst durch den Gesichtspunkt der Pädagogik, der von Hause aus nicht nur die Beurteilung, sondern auch die Auffindung von Weltgehalten für ein Problem halten muß. Hier bringt seine Dissertation gewiß in vielen Argumenten nichts grundsätzlich Neues gegenüber dem traditionellen Humanismus. In der Tat mag die Mehrzahl philosophischer Leser zumal in den nördlichen Ländern bis heute wenig geneigt sein, einen Autor philosophisch ernst zu nehmen, der Descartes entgegenhält, „daß unsere kritische Schulung die jungen Leute zur Redekunst weniger geschickt machen könnte” (a. a. O. S. 27). Aber Vico bringt zum ersten Mal den erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt, der in den humanistischen Argumenten steckt, zum Vorschein und läßt ihn nicht mehr aus den Augen, bis er ihn schließlich in der „Neuen Wissenschaft” in Gestalt einer geschichtlichen „Phänomenologie des Geistes” entfalten kann. Der neuzeitlichen „Kritik”, welche das „Wahrscheinliche” und das ihm zugeordnete Organ des Allgemeinsinnes (sensus communis) mißachtet, stellt Vico die „Topik” entgegen: „denn wie die Auffindung der allgemeinen Beweisgründe früher ist als das Urteil über ihre Wahrheit, so muß die Lehre der Topik früher sein als die der Kritik” (a. a. O. S. 29).
Dieser Ciceronische Topos verbindet sich bei ihm mit der pädagogischentwicklungspsychologischen These, daß „wie das Alter im Verstand, so ... die Jugend ihre Stärke in der Phantasie” hat (ebd.).
„Malerei, Dichtkunst, Redekunst, Jurisprudenz” sind für ihn die Künste, welche vor allem aus der Kraft der Phantasie und des Gedächtnisses, d. h. aus der Entfaltung einer reichhaltigen „Topik” leben; ebenso stellt sich ihm die Geometrie mit ihrer Fülle anschaulicher Figuren (nicht sofern sie axiomatisch aufgebaut ist) im Verhältnis zur „Analyse” als eine
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Topik oder — entwicklungspsychologisch betrachtet — „Logik der Knaben” dar: „Denn sie legt ihnen eine ungeheure Menge von Figuren vor, die sie mit erstaunlicher Verstandesschnelle, wie die Buchstaben des Alphabets, durchlaufen sollen, um diejenigen auszulesen und zusammenzusetzen, die sie zur Lösung der gestellten Probleme braucht. Die Analysis dagegen ... stellt ihre Berechnungen an (d. h. sie entwirft abstrakte Funktionsschemata) und wartet, ob sich ihr etwa die Gleichungen bieten, die sie sucht” (S. 47).
Die Topik der Rede muß, ganz allgemein betrachtet, dem Weltverständnis, das auf Phantasie und Gedächtnis beruht, zuerst einmal die Flügel aufspannen, bevor die Kritik eine sinnvolle Funktion erfüllen kann. Von hier aus klagt Vico über die „moderne” Studienart: „Die Topik wird nicht nur nicht vorausgeschickt, sondern ganz und gar vernachlässigt ... Die Modernen ... sagen, wenn die Menschen nur einmal geschulte Kritiker sind, dann braucht man sie nur über die Sache in Kenntnis zu setzen, und sie werden finden, was an ihr Wahres ist; und das Wahrscheinliche, das daran grenzt, sehen sie durch eben diese Regel der Wahrheit, ohne Belehrung durch eine Topik.” (S. 31)
Diesem formallogisch geschulten Verstand, der jederzeit den starren Maßstab der Folgerichtigkeit an die Dinge anzulegen weiß, traut Vico nicht zu, daß er die Fülle der materialen Bedeutsamkeit eines vorgelegten Problems überhaupt wahrnehmen kann: „Allein, wie können sie gewiß sein, alles gesehen zu haben?” (ebd.);
und hieran schließt Vico eine auch erkenntnistheoretisch relevante Würdigung jener für den Sprachhumanismus zentralen Idee der „eloquentia” als „copiose loquens sapientia” (vgl. oben S. 163): „Daher stammt ja jene höchste und seltene Kraft der Rede, um derentwillen man sie „voll” nennt, die nichts unberührt, nichts im Unklaren, nichts den Zuhörern zu wünschen übrig läßt. Denn die (sc. unausgelegte) Natur ist ungewiß, und das vorzüglichste, ja das einzige Ziel der Künste ist, uns gewiß zu machen, daß wir recht getan haben.” (S. 31)
Es ist die alte Rhetorenideologie von der Verfügungsgewalt über die ibhq| „Wahrheit der Situation”, die hier erneuert wird: „Die in der Topik oder in der Lehre, das Medium aufzufinden, Geübten — Medium nennen die Scholastiker, was die Lateiner mit Argumentum bezeichnen — besitzen, da sie gewohnt sind, beim Reden alle Punkte, wo Argumente bereit liegen, wie die Buchstaben des Alphabets zu durchlaufen, damit schon die Fähigkeit, ohne weiteres zu sehen, was jeweils in der vorliegenden Sache überzeugend gemacht werden kann. Die diese Fähigkeit nicht erreicht haben, verdienen kaum den Namen des Redners.” (S. 31)
Während der über Boethius an die Scholastik vermittelte Unterschied von „ratio iudicandi” und „ratio inveniendi” sich seit Ockham in der westeuropäischen, nominalistisch bestimmten Philosophie in den Gegensatz
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von sprachfreier Erfassung der Außenwelt (actus apprehensivus) und deren Beurteilung (actus iudicativus quo intellectus non tantum apprehendit obiectum, sed etiam illi assentit vel dissentit) verwandelt hatte588), ist bei dem Humanisten Vico die antike Bindung der „ratio inveniendi” an die „Rede” erhalten. Die Rede ist für Vico das „Medium” der Argumentation schlechthin, sofern sie dem Philosophen dazu verhilft, „bei weit auseinanderliegenden und verschiedenen Dingen die Analogien zu bemerken” (S. 43). Dies geschieht durch die Kraft der „Metapher”, die „bei scharfgeschliffenen Aussagen im Vordergrund” steht (ebd.). Einer solchen Rede gegenüber verhält sich die geometrische Methode, welche „immer aus dem Vorangehenden das Nächstfolgende ableiten muß”, wie das „Dünne” (tenue) zum „Scharfen” (acutum): „Das Dünne besteht aus einer Linie, das Scharfe aus zweien” (ebd.). Es ist diese blitzartige Zweilinienkonstellation der analogischen Andeutung, durch die die Sprache der Phantasie nach Vico den Horizont des Weltverstehens zuerst aufreißt. In der Metaphorik hat Vico in der Tat die gewissermaßen praelogische Funktion der Sprache entdeckt, wodurch diese — in schöpferischer Ausdeutung der Ähnlichkeiten der Erfahrungswelt — das der Logik zum Ausgangspunkt dienende Begriffsallgemeine allererst zusammenbringt. Später in der „Scienza nuova” wird er diese Funktion in differenzierterer Form beschreiben und dabei insbesondere den fundamentalen Unterschied herausarbeiten zwischen einer schöpferischen Universalienbildung der Sprachphantasie vor der Existenz des philosophischen Begriffs und der nachträglichen Veranschaulichung desselben durch allegorische Metaphern im Sinne eines uneigentlichen Sprachgebrauchs. In „De ... studiorum ratione” versucht Vico, den Unterschied einer rhetorischmetaphorischen und einer logisch-kritischen Sprache am Gegensatz des Italienischen und des Französischen zu illustrieren: „Die Franzosen haben einen Überfluß an Worten für die Substanz; die Substanz aber an und für sich ist starr und unbeweglich und läßt keinen Vergleich zu. Deshalb können sie keine Sätze feurig beleben, was ohne Bewegung, und zwar heftige Bewegung, nicht möglich ist, und nichts erhöhen und steigern. Ebenso sind sie nicht in der Lage, den Sinn eines Wortes abzuwandeln (verba invertere); da nämlich die Substanz die höchste Kategorie der Wirklichkeit ist, läßt sie keine mittlere Zone zu, in der sich die äußersten Punkte des Verglichenen treffen und vereinigen können (nihil medium substernit, in quo similitudinum extrema conveniant et uniantur). Deshalb können Metaphern bei Substanzen dieser Art mit einem einzigen Wort nicht zustande kommen ...”.
(Die französische Sprache, wie Vico sie sieht, entspräche also weitgehend der Leibnizschen Konzeption der Kalkülsprache, nach der die Worte nicht metaphorisches Medium der intuitiven Erkenntnis, sondern absolut feste und „taube”, d. h. ohne „figürliche innere Sprachform” (Marty) eindeutig
588)
Vgl. oben Kap. I S. 90.
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zugeordnete Zeichen für ein „blindes Denken” der Substanzen in ihren Beziehungen sein sollen.) Vico fährt fort: „Geht somit dieser Sprache jede Fähigkeit zu erhabener, glänzender Redeweise ab (omnis sublimis ornatique dicendi characteri impos), so ist sie für den Stil anspruchsloser Sachlichkeit vorzüglich geeignet (tenuis patientissima est). Da sie nämlich von Substanzausdrücken voll ist, und zumal von solchen, die die in den Schulen sogenannten „abstrakten” Substanzen bezeichnen, so erfaßt sie die Dinge immer in den obersten Kategorien. Deshalb ist sie für den lehrhaften Vortrag besonders geeignet ..." (S. 71)
Von hier aus gelangt Vico zu einem offenbar in Humanistenkreisen schon viel diskutierten Problem, das in der Folge bei Herder und W. v. Humboldt ernsthaft zum Thema einer philosophischen Sprachwissenschaft erhoben wurde: „Wenn also in jener, der vorzüglichsten Denker würdigen Diskussion der Satz recht hat, daß durch die Sprachen die Geister, nicht die Sprachen durch die Geister gebildet werden, dann konnten auf der ganzen Welt nur die Franzosen kraft ihrer überaus subtilen Sprache die moderne Wissenskritik ausdenken .. . und die Analysis, die, soweit es an ihr liegt, den Gegenstand der Mathematik aller Körperlichkeit entkleidet.” (S. 73)589)
Ist das Französische so die Sprache der Kritik schlechthin, so erscheint Vico das Italienische sozusagen als die Sprache der rhetorischen Topik: „Uns dagegen ist eine Sprache zu eigen, die immerdar Bilder hervorruft; daher die Italiener in der Malerei, Plastik, Baukunst und Musik unter allen Nationen der Erde den ersten Platz errungen haben: eine Sprache, die immer lebendig bewegt ist und den Geist der Zuhörer kraft ihrer Vergleiche zu weit auseinanderliegenden und entfernten Gegenständen führt, daher die Italiener nach den Spaniern das geistreichste Volk sind; eine Sprache, die in der geschmückten und groß angelegten Rede, nämlich in der Herodoteischen, Livianischen und Ciceronianischen einen Guicciardini, in der großartigen und leidenschaftlichen, das heißt der Thukydideischen, Demosthenischen und Sallustinischen andere, in der Attischen Eleganz einen Boccaccio, in der neuen Lyrik einen Petrarca,
589) Später, in der „Neuen Wissenschaft”, baut V i c o seine Charakteristik der französischen Sprache, wie folgt, in sein geschichtsphilosophisches Phasenschema ein: „Daß so die Natur der menschlichen historischen Entwicklung ist, bestätigt sich uns durch die französische Nation; mitten in der barbarischen Zeit, um 1100, tat sich die berühmte Pariser Schule auf, wo der gefeierte Lehrer der Sentenzen Petrus Lombardus sich der Darstellung subtilster scholastischer Theologie widmete; indes sich, gleich einem homerischen Gedicht, die Geschichte des Erzbischofs von Paris, Turpin, erhielt, voll von allen Sagen der Heroen von Frankreich, die sich Paladine nannten, von denen später so viele Romanzen und Gedichte erfüllt sind. Und wegen dieses vorzeitigen Übergangs von der Barbarei zu den subtilsten Wissenschaften, blieb der französischen Sprache eine äußerste Feinheit: so daß sie unter allen lebenden Sprachen in unserer Zeit den Attizismus der Griechen wiederhergestellt zu haben scheint und vor jeder anderen geeignet ist zu wissenschaftlichen Erörterungen, ganz wie die griechische.” (a. a. O. S. 83)
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Nachfolger des Homer in der Kühnheit der Fabeln und Gewandtheit des Ausdrucks, wie Ariost, Nacheiferer Virgils in der Erhabenheit der Gedanken und dem Zauber der Rhythmen, wie Torquato, zählt und aufweist." (S. 73 f.)
In diesem Vergleich der italienischen und französischen Sprache bereitet sich schon die geistesgeschichtliche Phasentheorie vor, die Vico später aus dem Gegensatz von Topik und Kritik und der entsprechenden pädagogisch-ontogenetischen Konstruktion der naturgemäßen Abfolge von „Phantasie” bzw. „Gedächtnis” und „Verstand” gewinnen wird. (Die parallele Konstruktion der Rechtsgeschichte vom Zeitalter der „Gewalt” zum Vernunftrecht der „Billigkeit”, die in „De ratione studiorum” schon weit gediehen ist, müssen wir hier beiseite lassen.) Schon hier erkennt er klar den Gegensatz zwischen dem Wesen des Dichterischen und dem Geist der Verstandeskritik, der seine Zeit beherrscht: „Von der kritischen Philosophie der Neuzeit sagte ich, sie schade der Dichtkunst, falls sie im Knabenalter aufgenommen werde; denn sie raubt der jugendlichen Phantasie die Sehkraft (phantasiam obcoecat) und verschüttet das Gedächtnis (memoriam obruit).” (S. 77)
Aber noch gesteht Vico der Verstandeskritik den Primat der „Wahrheit” zu und nimmt für die „Topik” und den „sensus communis” der humanistischen Sprachbildung — nach dem Vorgang Ciceros bzw. letztlich des Aristoteles — nur die „Wahrscheinlichkeit” in Anspruch. Dementsprechend glaubt er, daß die begriffliche Logik, wenn sie nicht zu früh, sondern nach vorheriger Kräftigung von Phantasie und Gedächtnis erlernt wird, „für die Dichtkunst von großem Nutzen” ist: „Denn ich bin nicht der Ansicht, daß die Dichter am Unwahren ihre besondere Freude haben; vielmehr wage ich zu behaupten, daß sie, ebenso wie die Philosophen, geflissentlich dem Wahren nachgehen. Denn der Dichter lehrt durch Lust, was der Philosoph mit Strenge lehrt (poeta delectando docet, quae severe philosophus).” (S. 79)
Hier fällt auch Vico in jene Grenzen zurück, die, wie wir mehrfach betonten, der geheimen Philosophie des Sprachhumanismus durch die hellenistische Grundlegung der „Logostechnai” gezogen waren. Noch in der Schrift „De antiquissima Italorum sapientia” geht er von der humanistischen bzw. genauer: seit dem Auftreten der griechischen Philosophen maßgebenden Auffassung aus, daß die „sapientia veterum”, d. h. die Weisheit der alten Dichter und letztlich sogar der sprachlichen Etymologie eine Verhüllung philosophisch-begrifflicher Wahrheit sei. Erst in der „Neuen Wissenschaft” gelingt ihm die sprachphilosophisch und erkenntnistheoretisch-geistesgeschichtlich revolutionäre Einsicht in die ursprüngliche Notwendigkeit einer dichterischen Weltkonstitution. Diese hat, wie er schließlich erkennt, mit „Auszierung” und „Verhüllung” begrifflicher Wahrheit sowenig zu tun und entspringt so sehr aus der Notdurft eines
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schlechthin unwissenden Zeitalters, daß er ihr in der aufgeklärten Spätphase der Kultur überhaupt keine echte schöpferische Leistung und Lebensfunktion mehr zutrauen kann. d) Die Sprachphilosophie der „Scienza Nuova”. Wenn Vico in seiner Frühschrift die Versöhnung der alten und der modernen Studienart in der Formel findet: „Die Kritik ist die Kunst der wahren, die Topik aber die der reichhaltigen Rede” (a. a. O. S. 31, vgl. auch S. 33),
so könnte man hier zunächst den bei Speroni, Galilei und wiederum bei Leibniz beobachteten Kompromiß zwischen Humanismus und wissenschaftlichem Wahrheitsbegriff wiederfinden. Das humanistische Postulat der Sprachfülle ist jedoch bei Vico von vorneherein in einem tieferen Sinne verstanden; das zeigt die erneute Ausdeutung des Gegensatzes von Topik und Kritik in der „Scienza nuova”: „Die Vorsehung hat die menschlichen Angelegenheiten wohl gelenkt, indem sie im menschlichen Geist früher die Topik als die Kritik entwickelte; wie das erste ist die Dinge zu erkennen, das spätere sie zu beurteilen. Denn die Topik ist die Disziplin, die den Geist schöpferisch, die Kritik die, die ihn exakt macht; und in jenen Urzeiten mußten alle zum menschlichen Leben notwendigen Dinge erfunden werden, das Erfinden aber ist Sache des schöpferischen Geistes. Und wer darüber nachdenkt, wird finden, daß nicht nur die zum Leben notwendigen, sondern auch die nützlichen, bequemen, erfreulichen Dinge, ja sogar die überflüssigen Luxusdinge in Griechenland erfunden waren, bevor dort die Philosophen auftraten ...” (a. a. O. S. 209)590)
Ganz im Gegensatz zur deutschen Entwicklung, für die der humanistische Sprach- und Kulturbegriff von vorneherein auf den Bereich des konventionellen Bildungswissens beschränkt war, ja durch die Bindung der Grammatik ans fremde Latein und später der Poetik (Opitz, Gottsched) an französische Vorbilder, sogar an die kritisch-rationale Tendenz Westeuropas heranrückte, gegen die der „Sturm und Drang” sich wendet, gelangt Vico in Verteidigung der humanistischen RenaissanceKultur Italiens und ihrer römischen Vorbilder gegen den neuen cartesischen Geist dazu, ge-
590) „La Provvedenza ben consigliò alle cose umane col promuovere nelle umane menti prima la topica che la critica, siccome prima è conoscere, poi giudicar delle cose. Per chè la topica è la facultà di far le menti ingegnose, siccome la critica è di farle esatte; e in que' primi tempi si avevano a ritruovare tutte le cose necessarie alla vita umana; e 'l ritruovare è proprietà dell'ingegno. Ed in effetto, chiunque vi rifletta, avvertirà che non solo le cose necessarie alla vita, ma l'utili, le comode, le piacevoli ed infino alle superflue del lusso, si erano già ritruovate nella Grecia innanzi di provenirvi i filosofi ...” (a. a. O. S. 222 f.)
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rade in und hinter der rhetorischen Topik das schöpferische Prinzip der Kultur: Kunst und Dichtung, ja Mythos und Religiosität der Urzeit zu begreifen. Topik ist für ihn jetzt schlechthin die Fähigkeit des Menschen, die Welt und seine Beziehung zu ihr in einem System von Bedeutungseinheiten auszulegen und aus diesem her jedes einzelne Ding „gut und vollständig” zu bestimmen (a. a. O. S. 209). In dem Sinne enthält jede Sprache ihre Topik, oder auch — und hieran denkt Vico vor allem —: jede der drei von ihm unterschiedenen Stufen der Sprache überhaupt (und damit zugleich aller anderen Kulturfunktionen) hat ihr System der Topik. So ergibt sich, „daß die ältesten Urheber der Gesittung auf eine sinnliche Topik ausgingen, mittels derer sie die gewissermaßen konkreten Eigenschaften und Beziehungen der Individuen vereinigten und daraus ihre poetischen Gattungen bildeten” (S. 209)591).
Vico gelangt so zu einem System der „poetischen Logik” — E. Cassirer spricht später von einer „mythischen Logik"592) —, welches, zugeordnet der „poetischen Metaphysik” oder „Theologie”, die beiden ersten Phasen der idealen Geschichte, die „göttliche” und die „heroische” (die Unterscheidung verschwimmt bei Vico oft, wichtiger ist ihr gemeinsamer Gegensatz zu der „humanen” Spätzeit) begründet und durchherrscht. In der nun zu charakterisierenden Topik der Urzeit, Vicos eigentlicher Entdeckung, „deren Verständnis” ihn „eine Arbeit von mehr als zwanzig Jahren gekostet” hat, ist freilich der humanistische Sprachbegriff, von dem er ausging, völlig überwunden; oder genauer: Vico hat ihn jetzt soweit distanziert, daß er in der Topik, Metaphorik, Allegorik der humanistischen Bildungspoesie und -Rhetorik die humane und schon auf den aufgeklärten Verstand bezogene Endphase eines ungeheuren und wilden, aber schöpferischen Phantasiezeitalters erkennt, einer Zeit, in der mit der Sprache zugleich alle Verhaltensweisen des Menschen: Recht, Gesittung, Kriegführung, Wirtschaft, Religion durchaus dichterisch waren; und dies nicht, um den rationalen Kern der Welt oder die eigentliche prosaische Bedeutung einer Institution poetisch zu verkleiden oder aus der Fülle sprachlicher Möglichkeiten heraus zusätzlich zu schmücken im Sinne der „elegantia” und „copia verborum” — solchen Motiven humanistischer Bildungspoesie stellt Vico „als Quellen allen poetischen Ausdrucks” entgegen: „s p r a c h l i c h e A r m u t und N o t w e n d i g k e i t sich zu erklären und verstanden zu werden; hieraus ergibt sich die A u s d r u c k s g e w a l t der he-
591) „Ch 'i primi autori dell'umanità attesero ad una topica sensibile, con la quale univano le proprietà o qualità o rapporti, per cosi dire, concreti degl'individui o delle spezie, e ne formavano i generi loro poetici.” (a. a. O. S. 222) 592) Vgl. E. Cassirer: Philos. d. symbol. Formen, Bd. II (1925): Das mythische Denken.
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roischen Sprache, die unmittelbar folgte auf die stumme Sprache durch Gebärden oder Körper, die eine natürliche Beziehung zu den auszudrückenden Gegenständen hatten, welche Sprache in den göttlichen Zeiten gesprochen worden war" (S. 67)593).
Für Vico ist erwiesen, daß alle Sprachbilder oder Tropen „nicht, wie man bisher geglaubt hat, geistreiche Erfindungen der Schriftsteller gewesen sind, sondern Ausdrucksarten, die für die ersten poetischen Völker Bedürfnis waren, und daß sie ursprünglich ihre eigentümliche Bedeutung ganz besaßen. Als aber bei wachsender Aufklärung des Menschengeistes sich Worte fanden, die abstrakte Formen bedeuten oder Gattungsbegriffe, die ihre Arten einbegreifen oder die Teile mit dem Ganzen verbinden, da wurden die Ausdrucksweisen der ersten Völker zu Übertragungen; und hier beginnen zwei allgemein verbreitete Irrtümer der Grammatiker in sich zusammenzufallen: daß die prosaische Sprache die eigentliche, die der Dichter die uneigentliche sei; und daß man zuerst in Prosa, und dann in Versen gesprochen habe” (S. 175)594).
Durch seine Einsichten in die Geistesverfassung der Urzeit sieht Vico „alles gestürzt, was bisher über den Ursprung der Dichtung geäußert worden ist, von Plato und Aristoteles bis zu unseren Patrizzi, Scaliger und Castelvetro; es hat sich gezeigt, daß die Dichtung so erhaben entstand, weil die Klarheit der menschlichen Vernunft mangelte, und daß späterhin durch die Philosophie, durch Kunstlehre, Poetik und Kritik, und zwar gerade infolge dieser, keine ebenbürtige, geschweige eine größere hervorgebracht wurde” (S. 159).
Sehr bezeichnend für sein neues Verständnis der dichterischen Sprache ist auch folgende Stelle in der „Neuen Wissenschaft”: „Kraft des Grundsatzes: daß man in jeder Fertigkeit durch Fleiß Erfolg haben kann, auch wenn das Talent mangelt, nur in der Dichtkunst es dem, der nicht die natürliche Gabe hat, völlig versagt ist, durch Fleiß etwas zu erreichen — kraft dieses Grundsatzes können die poetischen und kritischen Kunsttheorien die Geister gebildet, aber nicht groß machen. Denn der verfeinerte Geschmack ist eine kleinliche Tugend, und die Größe verachtet ihrem Wesen nach alles Kleinliche; ein großer verheerender Strom kann nicht anders als wilde Wogen mit sich führen und Felsen und Baumstämme in der Gewalt seines Sturzes
593) ,, ... i fonti di tutta la locuzion poetica si truovano questi due, cioè povertà di parlari e necessità di spiegarsi e di farsi intendere; da'quali pro-viene l'evidenza della favella eroica, che immediatamente succedette alla favella mutola per atti o corpi ch'avessero naturali rapporti all'idee che si volevan significare, la quale ne' tempi divini si era parlata.” (a. a. O. S. 31) 594) ,, ... che tutti i tropi ... , i quali si sono finora creduti ingegnosi ritruovati degli scrittori, sono stati necessario modo di spiegarsi [di] tutte le prime nazioni poetiche, e nella lor origine aver avuto tutta la loro natia proprietà: ma, poi che, col più spiegarsi la mente umana, si ritruovarono le voci che significano forme astratte, o generi comprendenti le loro spezie, o componenti le parti co' loro intieri, tai parlari delle prime nazioni sono divenuti trasporti. E quindi s'incomincian a convellere que' due communi errori de' gramatici: che '1 parlare de prosatori è proprio, improprio quel de'poeti; e che prima fu il parlare da prosa, dipoi del verso." (a. a. O. S. 175)
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fortreißen; darum nennt man die Dinge häßlich, die sich so oft bei Homer finden. Aber das ändert nichts daran, daß Homer der Vater und Fürst aller erhabenen Dichter ist.... Das Abgeschmackte und Häßliche ist eine Folge der Unbehilflichkeit, mit der die griechischen Völker in der Zeit ihrer größten Spracharmut sich um den Ausdruck bemühten, während sie erst dabei waren, ihre Sprache zu bilden." (a. a. O. S. 330 f.)
Die Grundlage aller „poetischen Logik” als Topik der Urzeit ist für Vico die „poetische Metaphysik” oder „Theologie”. Daß die Dichter die ersten Metaphysiker und Theologen waren, ist ein alter Topos des Humanismus (vgl. oben S. 174 ff.), der letztlich auf Aristoteles zurückgeht595). Vico hat ihn aber völlig neu gedacht und mit der schon bei den Kirchenvätern vertretenen Auffassung gebrochen, daß die alten heidnischen Dichter ähnlich wie die Verfasser des alten Testaments philosophische Weisheit absichtlich in poetische Sprache gekleidet hätten596). (Erst Hamann bricht mit dieser Vorstellung auch für die heilige Schrift, ohne ihr deshalb den Charakter göttlicher Offenbarung zu nehmen, vielmehr zieht er die umgekehrte Konsequenz und leitet aus der Tatsache, daß Gott sich dort in dichterisch-symbolischer Sprache den Menschen offenbart hat, radikaler noch als Vico deren absoluten Primat vor der Sprache des philosophischen Begriffs ab.) Vico hat den Primat der dichterischen Sprache in erster Linie für die Entwicklungsgeschichte der „Weltanschauung” durchgedacht: „Die poetische Weisheit, die die erste Weisheit des Heidentums war, mußte mit einer Metaphysik beginnen, und zwar nicht mit einer abstrakten und verstandesmäßigen, wie die der Gelehrten, sondern einer sinnlich empfundenen und durch Einbildungskraft vorgestellten, wie es solchen ersten Menschen ent-spricht, die gar kein Nachdenken, aber ganz starke Sinne und mächtige Phantasie besaßen. Dies war die ihnen eigentümliche Dichtung, eine ihrem Wesen entsprechende Fähigkeit ..., entstanden aus der Unkenntnis der Ursachen; die Unkenntnis ist die Mutter des Staunens; daher bestaunten sie in ihrer Unwissenheit aufs heftigste alle Dinge. Solche Dichtung begann in ihnen als eine göttliche, weil sie sich die Ursachen der Dinge, die sie empfanden und bewunderten, als Götter vorstellten ... (Jetzt bestätigen es die Amerikaner, die auch alles, was ihre geringe Fähigkeit des Begreifens übersteigt, für Götter ansehen; wir fügen die altgermanischen Anwohner des Eismeeres hinzu, von denen
595)
Vgl. E. R. Cur tius: Eur. Lit., a. a. O. S. 223. Vgl. oben S. 180 ff. die frühhumanistische Wesensbestimmung der Dichtung: „veritatem rerum pulchris velaminibus adornare”. Platon selbst, der den Ausgangspunkt der humanistischen Topoi vom „Enthusiasmus” bzw. vom „göttlichen Wahnsinn” der Dichter bezeichnet, hatte freilich dem Künstler ein Wissen um Inhalt und Art seines Schaffens gerade bestritten (vgl. „Ion” und „Apologie”, 22 Bg - C). Seiner Auffassung eines unbewußten Wahrsagens der Dichter kommt Vico wieder sehr nahe, aber als gläubiger Christ betont er den rein menschlich-subjektiven (aus Mangel geborenen) Ursprung der dichterischen Phantasiewahrheit im Gegensatz zur biblischen Offenbarungswahrheit und verstärkt so auch indirekt die Herausarbeitung des schöpferischen Charakters der menschlichen Kulturleistung, als welche die Dichtung seit der Renaissance begriffen wird. 596)
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Tacitus erzählt, sie hörten zur Nacht die Sonne auf ihrem Weg durch das Meer vom Niedergang zum Aufgang, und behaupteten die Götter zu sehen; von diesen rohesten und einfachsten Völkern kann man sehr viel über die hier behandelten Gründer des Heidentums lernen.) Gleichzeitig verliehen sie den bewunderten Dingen wirkliche persönliche Existenz nach ihren eigenen Gedanken, ganz wie die Kinder, die wir beobachten, wie sie leblose Dinge in die Hand nehmen und damit spielen und sprechen als wären es lebendige Personen." (S. 151 f.)
In dieser Art — und damit kommt Vico auf seine erkenntnistheoretische Grundlegung zurück — „schufen die ersten Menschen der heidnischen Völker, als Kinder des entstehenden Menschengeschlechts, ... nach ihren Ideen die Dinge, jedoch unendlich verschieden von dem Schaffen, das Gottes Tätigkeit ist. Denn Gott in seinem reinsten Erkennen durchschaut die Dinge und durchschauend schafft er sie; jene aber infolge ihrer starken Unwissenheit, taten es vermöge ihrer ganz körperlichen Einbildungskraft („ ... Iddio, nel suo purissimo intendimento, conosce e, conoscendole, cria le cose; essi, per la loro robusta ignoranza, il facevano in forza d'una corpolentissima fantasia,” [a. a. O. S. 154]). Und eben weil sie so körperlich war, taten sie es mit einer staunenswerten Erhabenheit, die sogar die Dichter und Schöpfer selbst erschütterte und überwältigte; daher wurden sie Poeten genannt, was im Griechischen soviel bedeutet wie Schöpfer." (S. 152 f.)
Vicos Konzeption der ursprünglichen dichterischen Erschaffung (Po[i]esis) der Dinge durch das menschliche Wort ist, wie man sieht, nachdrücklich unterschieden von seiner Auffassung der Schöpfertätigkeit Gottes, die ja der christlichen Tradition zufolge ebenfalls durch das Wort geschieht. Eine mystische Verbindung der göttlichen und menschlichen Poiesis, wie sie einmal die platonische Enthusiasmustradition (z. B. bei Cristoforo Landino597) und bei G. Bruno), andererseits die deutsche Logos-mystik kennt, wird von Vico nicht erwähnt. Besteht also zwischen der mythischen „Wahrheit” der archaischen Dichter-Theologen und der göttlichen Wahrheit selbst keinerlei Verwandschaft? Ist die Analogie der schöpferischen Erkenntnis zwischen Gott und Mensch nur eine formale?
597) Nach Cristoforo Landino (vgl. A. Buck: Ital. Dichtungslehren, a. a. O. S. 92 f.) liegt die Bedeutung des griechischen Verbs, von dem „poeta” abzuleiten ist, in der Mitte zwischen dem „Schaffen” Gottes aus dem Nichts und dem „Machen” des Menschen: „si parte dal fare e al creare molto s'appresta”. Dahinter steht wie bei Augustinus und noch bei Vico die „imago dei"-Anthropologie: „Eté Iddio sommo poeta ed è il mondo suo poema” (Discorsi che cosa sia poesia et poeta, et della origine sua divina et antichissima, in: Dante con l'espositioni di C. Landino, et d'Alessandro Vellutelli ... ridotto alla sua vera Lettura per F. Sansovino Fiorentino, Venetia 1587). Im Gegensatz zu Vico versteht Landino das Schöpferische der Dichtung gerade nicht aus der menschlichen Endlichkeit: „Non enim una aliqua ex iis artibus est quas prisci illi propter excellentiam suam liberam appellarunt neque humana dicenda est disciplina” (Commento a Virgilio, c. 86, Firenze 1487).
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Im Hinblick auf die schöpferische Erkenntnis der Frühmenschen scheint dies allerdings Vicos Meinung zu sein, was um so mehr überrascht, als der Philosoph für sich selbst, d. h. für sein hermeneutisches Wiedererkennen der nach dem Plan der Vorsehung geschehenen menschlichen Kulturschöpfungen sehr wohl die „illuminatio verbi” in Anspruch nimmt; denn in der „Neuen Wissenschaft” betrachtet er „in Gott die Welt des menschlichen Geistes ...” (vgl. oben S. 330 f. unsere Ausführungen über die Logos-Idee als Voraussetzung der barocken Systembildung). Der Widerspruch, der hier vom Standpunkt eines geschlossenen Systems menschlicher Poiesis und ihrer verstehenden Rekonstruktion aufzutreten scheint, besteht für Vico nicht, da er als christlicher Geschichtsphilosoph, der als solcher von der göttlichen Vorsehung weiß, gewissermaßen annehmen kann, daß er die Schöpfungen der heidnischen Dichtertheologen zugleich als endlicher Mensch nachverstehen und sie doch als christlicher Philosoph in einem ganz anderen Licht, nämlich gemäß ihrer den damaligen Menschen durchaus verborgenen, göttlichen Notwendigkeit begreifen kann: „So muß unsere Wissenschaft gewissermaßen eine Begründung der Vorsehung als historischer Tatsache sein, weil sie eine Geschichte sein muß der Ordnungen, die jene, ohne daß die Menschen es bemerkten oder daran mitwirkten, ja oft ihren Plänen ganz entgegengesetzt, der großen Gemeinde des Menschengeschlechts gegeben hat.” (S. 134 f.) 598)
Es ist die theologische Vorstufe der Hegelschen „List der Vernunft”, in deren Licht Vico das Verhältnis von menschlicher Schöpfung und göttlicher Vorsehung zu verstehen glaubt. Als Erkenntnistheoretiker der dichterischen Weltkonstitution der Frühzeit betont Vico die kompensatorische Rückbezogenheit der schöpferischen Einbildungskraft der Urmenschen auf ihre Unwissenheit. Er variiert den aristotelischthomistischen Satz, daß die „Seele in gewisser Weise alles” ist, der meist auf das einsichtige Wissen der Seele von den Dingen bezogen wird, indem er die bedeutsame These aufstellt: „h o m o n o n i n t e l l i g e n d o f i t o m n i a " (S. 172), womit die schöpferische und zugleich sich leibhaft einfühlende (sozusagen sakramentalliturgische) Einbildungskraft zum geschichtlichen Fundament menschlicher Weltorientierung gemacht wird. Die Strukturanalogie zur Problematik Kants ist nicht zu übersehen: Wenn Kant die Spontaneität der Weltsynthesis (durch Einbildungskraft und Verstand) als einer solchen von Erscheinungen auf die sinnliche Rezeptivität des endlichen Menschen zurückbezieht
598) ,,Laonde cotale scienza dee essere una dimostrazione, per cosi dire, di fatto istorico della Provvedenza, perché dee essere una storia degli ordini che quella, senza verun umano scorgimento o consiglio, e sovente contro essi proponimenti degli uomini, ha dato a questa gran città del gener umano... " (a. a. O. S. 134)
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und sie von einer durchschauend-schöpferischen Erkenntnis der „»Dinge-an-sich” (dem „intuitus originarius” oder „intellectus archetypus”) radikal unterscheidet, so wiederholt sich in der (Hegelschen) Frage nach der Bedingung der Möglichkeit dieser Kantischen Aussage (über die „an-sich-bestehenden” Verhältnisse!?) eben die Schwierigkeit, in die der Geschichtsphilosoph Vico hinsichtlich seiner eigenen Erkenntnis zu geraten scheint. Hegel, dessen Philosophie eindeutig aus der erkenntnistheoretischen Grundlage der deutschen' Logosmystik erwächst, hat diese Schwierigkeit bereits im Ansatz (in Gott) „überholt”, aber ihm fehlt die scharfe Herausarbeitung der Beziehung der schöpferischen Spontaneität des Menschen auf die Bedingungen der Endlichkeit, die wir bei Vico und Kant finden599). Sprachphilosophisch und entwicklungsgeschichtlich beleuchtet und gewissermaßen ausgewertet, zeigt Vicos Theorie der dichterischen Welttopik der hilflosen und unwissenden Urmenschen eine gewisse Änlichkeit mit Herders Theorie von der Entstehung der Merkmale setzenden Sprache ineins mit der Besonnenheit als Kompensation des Mangels an Instinktwissen — einer Konzeption, die gegenwärtig durch A. Gehlen zu einem Grundprinzip der philosophischen Anthropologie ausgebaut wurde600). Wie scharfsichtig Vicos Satz „homo non intelligendo fit omnia” für das Verständnis menschlicher Schöpferpotenz überhaupt ist, kann schließlich — abseits aller philosophiehistorischen Vergleiche — unmittelbar einleuchten angesichts der fast neidischen Hochachtung moderner Künstler vor allem Archaischen. Hier ist Vico zweifellos der erste Denker, der die Fortschrittsidee der Aufklärung (noch bevor sie Epoche machte) überholt hat, und seine Phasentheorie der Sprachentwicklung ist in diesem Punkt noch heute der von E. Cassirer überlegen, die lediglich den „Aufstieg” der Sprache zum intellektuellen Begriff ins Auge faßt. Eine historische Interpretation Vicos muß die Unterscheidung desselben zwischen menschlicher „Poiesis” und göttlicher schaffender Welterkenntnis zusammensehen mit seiner — für ihn noch grundlegenden — universalgeschichtlichen Scheidung zwischen der Geschichte der wirk-
599) In Vicos Betonung der „Körperlichkeit” der schöpferischen Einbildungskraft und ihrer Kraft der Einverwandlung in die Dinge („ ... fit omnia") liegen übrigens m. E. noch Hinweise erkenntnisanthropologischer Art über die weltkonstitutive Funktion der (apriorischen!) Leiblichkeit des Menschen, die von einer reflexiven Erkenntnistheorie des „reinen Bewußtseins” (Descartes, Kant, Husserl) gar nicht zu Ende gedacht werden können. Vgl. hierzu vom Verf.: Technognomie, eine erkenntnisanthropologische Kategorie (in: „Konkrete Vernunft”, Festschr. f. E. Rothacker, Bonn 1958, S. 61 ff.). 600) Genauer betrachtet, unterscheidet sich die Herdersche Theorie freilich dadurch, daß in ihr der Kompensationsgedanke erstmals entwicklungsgeschichtlich, d. h. im Verhältnis zum Instinktwissen des Tieres und nicht erkenntnismetaphysisch wie bei Vico (und Kant) im Verhältnis zum göttlichen Wissen, angesetzt ist. Vgl. hierzu oben S. 107 f.
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liehen Offenbarung der göttlichen Wahrheit in der jüdischen Geschichte und somit ihrer Überlieferung in der Abfolge der heiligen Sprachen einerseits und der zwar naiv-wahrhaftigen, aber doch letztlich als — von der göttlichen Vorsehung zugelassene, ja benutzte — Phantasiekompensation der Unkenntnis der Wahrheit aufzufassenden Mythendichtung der Heiden. Gerade indem er mit der christlichhumanistischen Überlieferung von dem abstrakt philosophisch-theologischen Hintersinn der frühen Dichter bricht, bekennt sich Vico zu seiner Trennung der Heilsgeschichte von der profanen Geschichte, die freilich auch von den Taten der göttlichen Vorsehung handelt. — In Deutschland haben die christlichen Sprachdenker (Jakob Böhme, Klopstock, Hamann) gerade an der Bibel, also an „Gottes Wort”, den Begriff der schöpferischen Dichtersprache gewonnen, wobei, wie schon verschiedentlich angedeutet, die Konstellation der Logosmystik im Hintergrund wirksam wurde. Andererseits ist wohl niemand der Vision Vicos von der ursprünglichen, dichterischen Mythopoiie näher gekommen als der deutsche Dichter Hölderlin in seiner fremdartig „armen”, aber numinos-bedeutungstiefen Sprache zumal der späten Hymnen. Aber für Hölderlin handelt es sich nicht um das Verständnis einer Urzeit religiösen Nichtwissens aus der Position des christlichen Glaubenswissens heraus, sondern eher um die religiöse Wiedereroberung jener heidnischen, mythischen Welt, aus der die Götter noch nicht geflohen waren. Gleichwohl ist die Nähe Vicos zu Hölderlin oft frappierend; so wenn er die ursprünglichen, echten „Mythen” und ihre zentrale Stiftungsfunktion für die Ausbildung einer sprachlichen WeltTopik aus „phantasiegeschaffenen Gattungsbegriffen” von ihrer späteren, literarischen Verwendung als „Fabeln” oder „Allegorien” im Dienste abstrakter Begriffe abhebt: „So dachten sie (sc. die „theologischen Dichter” der Frühzeit) zum Beispiel Jupiter, Kybele, Neptun und drückten zuerst lautlos durch Fingerzeige aus, das seien die Substanzen des Himmels, der Erde, des Meeres, die sie sich als belebte Gottheiten vorstellten und darum mit sinnlicher Wahrheit für Göttter hielten. Durch diese drei Gottheiten bezeichneten sie ... (hiermit kommt Vico auf die sogenannten „poetischen Charaktere”, die als „phantastische Universalien” die Topik der archaischen Sprache, ihre „poetische Logik” begründen) alles das, was zum Himmel, zur Erde oder zum Meer gehörte, und ebenso drückten sie auch durch die anderen Gottheiten die Arten von Gegenständen aus, die zu jeder gehörten, wie alle Blumen zu Flora, alle Früchte zu Pomona. Dasselbe tun auch wir noch, jedoch umgekehrt, mit den Dingen des Geistes, den Fähigkeiten des menschlichen Verstandes, den Leidenschaften, Tugenden, Lastern, Wissenschaften und Künsten; aus ihnen formen wir Bilder und zwar meistens von weiblichen Wesen, und führen auf sie alle Ursachen, Eigenschaften und Wirkungen zurück, die einer jeden zugehören; denn sobald wir geistige Dinge aus dem Verstand heraus zum Ausdruck bringen wollen, brauchen wir die Hilfe der Phantasie, um sie darzustellen, und machen daraus wie die Maler menschliche Bilder. Doch die theologischen Dichter, die keinen Gebrauch vom Verstand machen konnten, verliehen durch einen weit erhabeneren, ganz entgegengesetzten Akt, wie wir eben sahen, Sinne und Leidenschaften den Körpern („ ... con uno più sublime lavoro tutto contrario diedero sensi e
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passioni ... a' corpi ..." [a. a. 0. S. 170]), und sogar so riesigen Körpern wie Himmel, Erde und Meer. Als aber später solche ungeheure Kraft der Phantasie verarmte und die Fähigkeit zur Abstraktion stärker wurde, nahm man sie als kleine Zeichen ihrer selbst. Die Unwissenheit der Grammatiker über die bis heute verborgen gebliebenen Ursprünge der menschlichen Dinge machte solche Verwechslung zum System; Jupiter wurde so klein und leicht, daß ihn ein Adler im Fluge trug; Neptun eilt auf einer leichten Muschel über das Meer; und Kybele sitzt auf einem Löwen." (a. a. 0. S. 168 ff.)
Hier hat Vico mit genialem Vorgriff den ganzen Horizont des archaischen Logos aufgerissen, den Religionswissenschaft und Tiefenpsychologie, Mythenforschung und Sprachphilosophie bis heute — meist ohne von Vico zu wissen — in Besitz zu nehmen versuchen601). Klages' „Charaktere” und C. G. Jungs „Archetypen” sind — mutatis mutandis — Nachfolger von Vicos „poetischen Charakteren”. Deren mythische Logik, die Topik des „universale fantastico”, sucht Vico in ständiger Bezugnahme zum Problem der „inneren Sprachform” und einer inneren Entwicklungsgeschichte der Sprachfunktion überhaupt zu erforschen. In der Entgegensetzung von archaischer „Mythologie” und später Allegorik hat Vico nicht nur den humanistischen Bildungsbegriff der Sprache, die vom Verstand aus gedachte und aesthetisch-pädagogisch bezogene Poetik der Figuren, Tropen und Allegorien erstmalig durch geschichtliches Denken überwunden: er hat in der Vision eines der Allegorik g a n z e n t g e g e n g e s e t z t e n A k t e s (s. oben) der Naturbeseelung, der Konzeption einer numinosen Zeichensprache der Natur selbst auch noch hinter die seit Goethe und der Romantik geläufige Unterscheidung von Allegorie und Symbol zurückgegriffen. Dazu setzt ihn offenbar gerade seine Scheidung von biblischer Heilsgeschichte und heidnischer Urgeschichte instand. Denn der Symbolbegriff der deutschen Bewegung setzt schon einen platonisch-christlich verstandenen WeltHintergrund rein geistiger Bedeutung in einem transzendenten Vernunftbezug voraus; ein solcher ist bei Vicos poetischen Cha-
601)
Zu Vicos Kennzeichnung der verharmlosenden und verniedlichenden Wandlung, die die „Mythen” bei ihrer literarischen Umdeutung als allegorische „Fabeln” im Dienste des Verstandes-Logos durchmachen (man nahm sie „als kleine Zeichen ihrer selbst”, s. oben), vergleiche man die folgende Unterscheidung von K. Kerényí (Die antike Religion, S. 31, 1952): „Geht das Leben in den überlieferten Stoff mit völligem Einsatz seiner selbst ein und tut es dies in großen zeremoniellen Formen: in Kult oder Krieg (denn auch dieser ist bei archaischen Völkern zeremoniell), so hat man mit Mythologie und Heldensage zu tun. Sind die großen Zeremonien zu einer ganz kleinen: zum Erzählen und Zuhören, zuletzt zum bloßen Lesen geworden, der Einsatz des Lebens zum genießerischen Sichvergessen, so steht ein Märchen, im Falle des bloßen Lesens schon eine Art Roman vor uns.” Vico hat diesen Unterschied zuerst gesehen und seine Entstehung durch das Aufkommen der Philosophie in der griechischen Kulturentwicklung nach Homer erklärt. In der Tat hat das griechische Wort „to;” seinen neuen Sinn einer „Fabel” im literarischen Kunstwerk in der Poetik des Aristoteles bekommen. Vgl. hier E. Grassi: Kunst und Mythos, Hamburg 1957, Kap. V.
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rakteren ebensowenig mitgedacht wie der Verstandesbezug. Für Goethe ist „Alles ... ja nur symbolisch zu nehmen, und überall steckt noch etwas anderes dahinter"602). „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe"603). So ist für Goethe die Natursprache der „farbige Abglanz” einer unendlichen höheren Lichtfülle, die unaussprechbar bleibt, wenn sie auch in allen sichtbaren Körpern sich ausspricht. Auch Vico kennt dieses Symbolverhältnis und mißt ihm die größte Bedeutung für die Sprachentwicklung in der Phase der Metaphorik bei; aber diese Phase spiegelt nicht die Ursprünge der Worte „aus den Dingen selbst”, sondern die Ursprünge der späteren „vulgären Sprache . . . aus der Analogie” (a. a. 0., S. 170); sie setzt bereits einen transzendentalen, philosophischen Denkhorizont voraus: „Hieraus wird für die Zeit, in der die Metaphern in den Sprachen entstanden, folgende Kritik gegeben: daß alle Metaphern, die durch Analogie von körperlichen Eigenschaften übertragen wurden, um abstrakte Geistestätigkeiten zu bezeichnen, aus Zeiten stammen müssen, wo die Philosophie allmählich sich zu bilden begann.” (S. 171)
In der ersten oder „göttlichen” Zeit, d. h. in der Epoche der „theologischen Dichter” fehlt noch jede Unterscheidung zwischen einem bloß körperlichen und einem unendlich geistigen Bereich: „Da erhoben einige wenige ... erschreckt und entsetzt von der ungeheuren Wirkung, deren Ursache sie nicht wußten (sc. des ersten Blitzes nach der Sintflut) die Augen und gewahrten den Himmel. Da nun in solchem Fall die Natur des Menschengeistes es mit sich bringt, daß er einer derartigen Wirkung sein eigenes Wesen zuschreibt ... so erdichteten sie den Himmel als einen großen belebten Körper, den sie Jupiter nannten, ... der ihnen durch das Zischen des Blitzes und das Krachen des Donners etwas mitteilen wollte.” (S. 154) „Doch für die theologischen Dichter war ... Jupiter nicht höher als die Gipfel der Berge. Nun glaubten die ersten Menschen, die selbst in Zeichen sprachen, aus ihrer eigenen Natur heraus, daß die Blitze und Donner Zeichen Jupiters seien; darum nannten sie nach ,nuo’ , nicken, den göttlichen Willen ,numen`, ... sie nahmen an, Jupiter befehle durch Zeichen, solche Zeichen seien Wirkliches ausdrückende Worte, und die Natur sei die Sprache Jupiters; als die Deutung dieser Sprache sahen die Völker allgemein die Weissagung an, die von den Griechen Theologie genannt wurde, das heißt Wissenschaft von der Sprache der Götter.” (S. 156)604)
602)
G o e th e zum Kanzler v o n M ü l l e r , 8. 6. 1821. G o e th e : Maximen und Reflexionen, hrsg. v. G . M ü l l e r , Nr. 633. 604) Ma per gli poeti teologi ... Giove non fu più alto della cima de' monti. Quivi i primi uomini, che parlavan per cenni, dalla loro natura credettero i fulmini, i tuoni fussero cenni di Giove (onde poi da nuo, «cennare», fu detta numen la «divina volontà» ... ), che Giove comandasse co' cenni, e tali cenni fussero parole reali, e che la natura fusse la lingua di Giove; la scienza della qual lingua credettero universalmente le genti essere la divinazione, qual da' greci ne fu detta „teologia”, che vuol dire «scienza del parlar degli dei».” (a. a. 0. S. 157) 603)
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So entstand nach Vico die erste Sprache als ein Gespräch der Menschen mit der numinosen Natur: „Doch in der gegenwärtigen Zeit ist das Wesen unseres gesitteten Geistes den Sinnen allzu entfremdet... als daß wir uns das ungeheure Bild jener Frau vorstellen könnten, die man ,empfindende Natur' nennt ... so ist es uns folglich auch verwehrt, in die gewaltige Einbildungskraft jener ersten Menschen einzudringen; deren Geist in keiner Weise abstrakt, in keiner Weise verfeinert oder spiritualisiert war, sondern ganz versunken in den Sinnen, ganz gebändigt von den Leidenschaften, ganz vergraben im Körper.” (S. 155)
Die so noch ohne jeden Hinblick auf einen Hintersinn, ohne Unterscheidung von „eigentlich” und „uneigentlich” gefundene real-ideale Bedeutungseinheit des Gottes oder der Göttin dient in der Topik der Ursprache gleichzeitig an Stelle eines Gattungsbegriffs: „So entstand Jupiter, entsprechend dem, was wir in den Grundsätzen über die Entstehung der poetischen Charaktere gesagt haben, in der Dichtung naturgemäß als ein göttlicher Charakter oder phantasiegeschaffenes Allgemeines, auf das die heidnischen Völker alle Weissagungsangelegenheiten zurückführten ...” (S. 157)605)
Ähnlich bedeutet „Neptun” das Meer und — da noch keine kategoriale Abstraktion möglich war — alles, was als Eigenschaft oder Wirkung auf diese Macht zurückgeführt werden konnte, ähnlich „Kybele” die Erde usw. Wie sich Vico auf Grund dieser Topik oder mythisch-poetischen Logik eine ganze Sprache ausgestaltet dachte, zeigt die folgende Stelle: „Für die Latiner sammelte Varro dreißigtausend Götternamen; das genügte für einen reichen Wortschatz in der göttlichen Sprache, so daß die Stämme Latiums alle ihre menschlichen Bedürfnisse damit ausdrücken konnten ... Auch die Griechen hatten dreißigtausend, sie machten aus jedem Quell, jeder Pflanze und jedem Fels eine Gottheit, ganz wie die amerikanischen Indianer” (S. 188)606)
605) Cosi, per ciò che si detto nelle Degnità d'intorno a' principii de' caratteri poetici, Giove nacque in poesia naturalmente carattere divino, ovvero un universale fantastico, a cui riducevano tutte cose degli auspicii tutte le antiche nazioni gentili... " (a. a. 0. S. 158) 606) Vgl. hiermit die folgende Beschreibung des archaischen animistischsympathetischen Weltverhältnisses und seiner Ausbildung zum sprachlichen Weltbild bei A. Gehlen, der in „Urmensch und Spätkultur” (Bonn 1956) auf der breiten Basis moderner empirischer Forschungsergebnisse eben das Thema behandelt, das Vico vor mehr als 200 Jahren zuerst dem abendländischen Denken eröffnet: „ ... es sieht so aus, als ob in den ältesten Schichten der Sprachen der Name die Wesenheit „fixiert”, gebannt hätte, als ob die Beseelung der Welt durch die Namengebung erst gekrönt, aber auch verfestigt worden wäre. Wir können aus unserem abstrakten Informations- und Lesebewußtsein heraus uns dem nicht mehr nähern, aber es wurde ja z. B. im Indogermanischen nicht als sinnlos empfunden, allen denkbaren Dingen Geschlechter zuzuschreiben und dies in der Sprache auszudrücken.” (a. a. 0. S. 196) Wenn die Kommunikation mit „Wesenheiten”, „Geistern”, „Dämonen” einmal im Zentrum des
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Derselben Logik folgt die Topik der heroischen Sprachwelt: „Achilleus ist eine Idee der Tapferkeit, die allen Starken gemeinsam ist; ebenso Odysseus eine allen Weisen gemeinsame Idee der Klugheit607); . . . es müssen also solche Allegorien die Etymologien der poetischen Sprechweisen sein, so daß sie uns ihre Ursprünge stets aus den Dingen selbst geben, während die der vulgären Sprache meist aus der Analogie kommen.” (S. 170)608)
Aus dem Prinzip der mythischen Identifikation, welche der anthropomorphen Allbeseelung und zugleich dem Selbstverständnis des Menschen aus dem Urbild und wirkmächtigen Vorbild der Götter und Heroen zugrundelag, ist nach V i c o auch das Wesen der Sprachbilder, „von denen das lichtvollste und häufigste die Metapher ist” (S. 170) zu verstehen: „Dies ist sehr bemerkenswert: daß in allen Sprachen die Mehrzahl der Ausdrücke für leblose Dinge übertragen sind vom menschlichen Körper und seinen Teilen, von den menschlichen Sinnen und den menschlichen Leidenschaften; z. B. Haupt für Gipfel oder Anfang, Mund für jede Öffnung, Zähne bei einem Pflug, einem Rechen, einer Säge, einem Kamm; Zunge des Meeres, Arm eines Flusses; Busen vom Meer; Herz für die Mitte, was die Römer umbilicus, Nabel, nannten; Fuß für Ende; Sohle für Unterlage; Ader von Wasser, Steinen und Bergwerken; Eingeweide der Erde; es lachen der Himmel und das Meer, der Wind pfeift, die Welle murmelt; es seufzt ein Körper unter einer großen Last; die Bauern Latiums sagten ,sitire agros', ,laborare fructus', ,luxuriari segetes', und unsere Bauern sagen ,andar in amore le plante', ,andar in pazzia le viti', ,lagrimare gli orni'; so gibt es unzählige Beispiele in allen Sprachen. Das alles ist die Folge unseres Grundsatzes, daß der unwissende Mensch nach sich selbst das Weltall beurteilt: wie er, in den angeführten Proben, aus sich selbst eine ganze Welt gemacht hat. Wie daher die rationale Metaphysik lehrt ,homo intelligendo fit omnia', so lehrt diese phantasieentsprungene Metaphysik ,homo non intelligendo fit omnia'; und vielleicht liegt in diesem Wort mehr Wahrheit als in jenem, denn durch das Verstehen klärt der Mensch seinen Geist auf und
Rituals entwickelt wurde, trägt sie die Sprache über die ganze Breite der Außenwelt hinweg und macht sie an beliebigen Einzelheiten der Wahrnehmung fest, höchst wirkungsvoll unterstützt durch das Bedürfnis des Verstandes, die Ursachen „hinter” den Erscheinungen zu erfahren. Die Folge ist eine wahrhafte Veralltäglichung des Außeralltäglichen. [vgl. Vicos 30000 Götter!] Von den TenaIndianern wird gesagt, daß es ein Geist ist, der sie ruft wenn sie im Walde einen gellenden Ton gehört haben, der nicht ganz (!) dem Schrei der ihnen vertrauten Vögel entspricht. Es vergeht kein Tag in einem Indianerlager, an dem nicht eine Person berichtet, daß sie irgendetwas Derartiges gesehen oder gehört hat. Und bei den Chiriguanos lautet die Grußformel, wenn zwei Menschen sich begegnen: „Bist du lebendig?” (d. h. kein Geist?) — „Ja, ich bin lebendig.” (a. a. 0., S. 196 f.) 607 ) Sehr schön hat Th. Mann mit Hilfe der Funktion mythisch-heroischer Identifikationen das Zustandekommen der Genealogie und Hausgeschichte der biblischen Erzväter in seinem Roman „Joseph und seine Brüder” gedeutet und dargestellt. 608 ) "...talché si fatte allegorie debbon essere l'etimologie de' parlari poetici, che ne dassero le loro origini tutte univoche, come quelle de' parlari volgari lo sono più spesso analoghe.” (a. a. O. S. 171)
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begreift die Dinge, doch durch das Nichtverstehen macht er die Dinge aus sich selbst, verwandelt sich in sie und wird selbst zum Ding." (S. 171 f.)609) In der Tat hat Vico in seiner Schilderung des göttlichen Zeitalters der „theologischen Dichter”, die dem Prinzip „homo non intelligendo fit omnia” folgt, gezeigt, daß die monadischmikrokosmische Darstellung des Alls in einer menschlichen Bewußtseinswelt zunächst nicht als Repräsentation einer logisch-mathematischen Tatsachen-Ordnung durch den distanzierten Verstand, sondern als ein sympathetisches Darleben der Umwelt durch den ganzen Menschen zu verstehen ist. Und diese sympathetische Schöpfung der „körperlichen Einbildungskraft” kann auch nicht, wie Leibniz wollte, als unvollkommene Vorstufe der verstandesmäßigen Repräsentation allein gewürdigt werden; denn die qualitativen, anschaulich-bedeutsamen Weltbildelemente, die aus jener dichterischen Weltkonstitution hervorgingen, sind ebensosehr die sinngenetischen Voraussetzungen aller rationalen Begriffe im geschichtlich-anthropologisch einheitlichen (transzendentalphilologischen) Sinnhorizont der Sprache, als sie — nach Leibniz — vermittels der rationalen Analyse auf ihre Elemente (die „petites perceptions”) reduziert („erklärt") werden können. Dem bei Vico entdeckten geschichtlich-transzendentalphilosophischen Fundierungsverhältnis von schöpferisch dargelebtem und begrifflich erkanntem Weltsinn entspricht eine zugehörige Korrektur des rationalen Denkens für die lautliche Seite der Sprache: So wie die „Verstandesrepräsentation” der Welt (nach Gegenständen und Relationen) das qualitativ bedeut-
609) Die Auerbachsche Übersetzung enthält nicht alle Beispiele Vicos, wie aus dem folgenden italienischen Text ersichtlich ist: „Quello è degno d'osservazione: ehe 'n tutte le lingue la maggior parte dell' expressioni d'intorno a cose inanimate sono fatte con trasporti del corpo umano e delle sue parti e degli umani sensi e dell' umane passioni. Come capo, per cima o principio; fronte, spalle, avanti e dietro; occhi delle viti e quelli che si dicono