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German Pages 330
Imke Niediek Das Subjekt im Hilfesystem
Imke Niediek
Das Subjekt im Hilfesystem Eine Studie zur Individuellen Hilfeplanung im Unterstützten Wohnen für Menschen mit einer geistigen Behinderung Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Bettina Lindmeier
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation Leibniz Universität Hannover, 2010
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Dorothee Koch / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17654-3
„Ich kann nicht umhin, an eine Kritik zu denken, die nicht versucht zu richten, sondern die einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zur Wirklichkeit verhilft; sie würde Fackeln anzünden, das Gras wachsen hören, dem Winde zuhören und den Schaum im Fluge auffangen und wirbeln lassen. Sie häuft nicht Urteil auf Urteil, sondern sie sammelt möglichst viele Existenzzeichen; sie würde sie herbeirufen, sie aus ihrem Schlaf rütteln.“ (Foucault 1999, 16)
Geleitwort
Unterstützung für die alltägliche Lebensgestaltung, das private Wohnen und Leben gehört zu den intimsten, die Privatheit eines Menschen am stärksten beeinflussenden Unterstützungsleistungen der Behindertenhilfe. Dies gilt um so mehr, wenn es sich nicht lediglich um Pflegeleistungen im Alter oder eng begrenzte, nach Anweisung ausgeführte Assistenzleistungen bei Körperbehinderung handelt, sondern um relativ umfängliche, verschiedene Lebensbereiche wie hauswirtschaftliche Versorgung, Körperpflege, Mobilität, Beziehungsgestaltung oder Kommunikation umfassende Unterstützungsleistungen. Es ist daher zu begrüßen, dass in den letzten Jahrzehnten eine intensive Diskussion über verschiedene Aspekte des Hilfebedarfs und der Hilfeerbringung stattgefunden haben. Ein wesentlicher Diskussionsstrang betraf die generellen Zielsetzungen der Leistungserbringung – Normalisierung der Hilfen, Integration, Selbstbestimmung, Lebensqualität – und die Handlungsprinzipien der Mitarbeiter. Diese Diskussion wurde teilweise durch empirische Untersuchungen begleitet; zum großen Teil war sie normativ ausgerichtet: die ‚neuen’ Leitprinzipien wurden positiv bewertet. Das zeitgleich und zum Teil unter Berufung auf sie eingeführte Instrument der ‚Individuellen Hilfeplanung’ wurden kaum hinterfragt. Es ging allenfalls um die Frage, welches Verfahren der Hilfeplanung geeignet sei, nicht um die Frage, welche neuen Zwänge für alle Beteiligten durch die Hilfeplanung selbst produziert würden. Thema der Arbeit von Imke Niediek ist die Analyse der Veränderungen im Unterstützten Wohnen, wobei die Individuelle Hilfeplanung im Mittelpunkt steht. Sie wird unter Bezug auf Foucault als ‚Dispositiv’ begriffen, das heißt als ein Ensemble, das Institutionen, Gesetze, Verwaltungsmaßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, Gebäuden und Diskurse umfasst und wie ein Netz wirkt, dass zwischen ihnen gespannt ist. Durch ein Dispositiv wird unser Sprechen, Denken und Handeln organisiert, es werden Möglichkeiten und Handlungsspielräume eröffnet, zugleich aber auch eingrenzt und möglicherweise begrenzt, und die Konzeptionierung der Individuellen Hilfeplanung als Dispositiv ermöglicht daher eine Analyse der gewonnenen Spielräume und Begrenzungen aller beteiligten Akteure. Dabei zeigt sich, dass in dem Maße, in dem das Unterstützte Wohnen als Arbeitsfeld der Behindertenhilfe sozialpolitisch an Bedeutung gewonnen hat, da es durch steigende Kosten und – auch in Zukunft – steigende Fallzahlen zu einem volkswirtschaftlich bedeutenden Dienstleistungssektor geworden ist, weniger die Fachwissenschaft als die Gesetzgebung und Sozialverwaltung das Thema als relevant erkannten. Obwohl Hilfeplanung bereits seit Beginn der 1960er Jahre im Bundessozialhilfegesetz verankert und somit gesetzliche Grundlage des Hilfeprozesses war, avancierte die Individuelle Hilfeplanung im Rahmen der Eingliederungshilfe für erwachsene Menschen mit (geistiger) Behinderung erst in den letzten Jahren zu einem zentralen Steuerungsinstrument, mit dessen Hilfe Wirtschaftlichkeit, Angemessenheit und Transparenz der Leistungserbringung gewährleistet werden sollte. Hilfeplanung wird als Modernisierungsstrategie aufgefasst, mit deren Hilfe der weitreichende Umgestaltungsprozess sozialer Hilfen und der Machtverhältnisse im Feld
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Geleitwort
gesteuert werden kann. Der Fokus der Arbeit liegt daher auf der Bedeutung der Individuellen Hilfeplanung für die Strukturierung des Verhältnisses von sozialrechtlichen Veränderungen, wissenschaftlicher Theoriebildung und Entwicklungen der Praxis. Die Erkenntnisse einer solchen Arbeit sind angesichts ihrer Komplexität, Vielschichtigkeit und ihres Abstraktionsgrades für die Praxis nicht unmittelbar umzusetzen, denn zunächst geht es nicht um die Frage nach ‚richtigem’ bzw. fachlich angemessenem Handeln, sondern um die Frage, wie die Rahmungen beschaffen sind, innerhalb derer überhaupt gehandelt wird. In einem zweiten Schritt können diese Erkenntnisse allerdings auch für Praktiker hoch relevant sein, indem sie helfen zu erkennen, warum Praktiker in diesem Feld die Einführung von Hilfeplanung einerseits überwiegend als eine Verbesserung und als grundsätzlich sinnvoll erachten, andererseits für sich und die Nutzer von Leistungen neue und schwer zu benennende Zwänge und Einschränkungen erleben. Diese Erkenntnis kann helfen, diese Zwänge nicht als Folge eigenen Versagens oder unzureichender Arbeitsbedingungen wahrzunehmen, sondern als Teil des Dispositivs Hilfeplanung und damit als Kehrseite der erwünschten Effekte der neu etablierten Steuerungsinstrumente. Damit werden sie zwar nicht auflösbar, aber der Reflexion zugänglich. Eine kritische Analyse der Individuellen Hilfeplanung ist daher, dies soll hier ausdrücklich vermerkt werden, keine Kritik an der fachlich qualifizierten Arbeit, die vielerorts in diesem schwierigen und komplexen Feld geleistet wird. Im Gegenteil: ohne die differenzierten Aussagen von Mitarbeitern im Gruppendienst ebenso wie von Vertretern der ‚Akteure’ der Leistungsträger, Leistungserbringer und der Wissenschaft zum Thema Hilfeplanung, ohne ihre hohe Fachlichkeit und Bereitschaft zur Auseinandersetzung wäre diese Analyse nicht möglich gewesen. Bettina Lindmeier
Inhalt
Geleitwort .............................................................................................................................5 Inhalt .....................................................................................................................................9 Abbildungsverzeichnis .......................................................................................................13 Tabellenverzeichnis ............................................................................................................15 1
Einleitung ...................................................................................................................17 1.1 Bedeutung des Themas ........................................................................................17 1.2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands ......................................................22 1.3 Ausgangsfrage und Hypothese ............................................................................23 1.4 Arbeitsprogramm ................................................................................................26
Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger 2 Behinderung‘ ......................................................................................................................29 2.1 Terminologische Bestimmung ............................................................................29 2.2 Qualitative Bestimmungen ..................................................................................32 2.2.1 Erwachsenenalter ...........................................................................................32 2.2.2 Unterstütztes Wohnen ....................................................................................34 2.3 Quantitative Bestimmungen ................................................................................38 2.3.1 Schwerbehindertenstatistik ............................................................................38 2.3.2 Eingliederungshilfestatistik ...........................................................................39 2.3.3 Daten der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger ...43 2.3.4 Gesamtstatistik der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ...........................................................................................44 3
Theoretische, methodologische und methodische Verortung ................................47 3.1 Einführende Orientierungen zum Theoriekorpus bei Foucault ...........................47 3.1.1 Erkenntnistheoretische Grundlagen ...............................................................49 3.1.2 Archäologie als analytischer Blick ................................................................51 3.1.3 Genealogie als analytischer Blick ..................................................................53 3.1.4 Gouvernementalität........................................................................................54 3.1.5 Technologien des Selbst ................................................................................62 3.1.6 Die Möglichkeit von Kritik............................................................................65 3.1.7 Zum Konzept der ‘Gouvernementalität der Gegenwart’ ...............................66 3.2 Methodologische Konzeptualisierung der Untersuchung ....................................68 3.3 Methodische Umsetzung .....................................................................................76
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Inhalt
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Globalanalyse des Diskursfeldes ..............................................................................79 4.1 Korpusbildung .....................................................................................................79 4.2 Entwicklung des Diskursfeles Individueller Hilfeplanung im Zeitverlauf ..........81 4.3 Infrastruktur des Diskursfeldes............................................................................82 4.4 Auswertung des Globalkorpus nach den Institutionen der Autoren/innen ..........90 4.5 Ergebnisse der Globalanalyse des Diskursfeldes ..............................................100
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Individuelle Hilfeplanung im Kontext sozialrechtlicher Veränderungen...........103 5.1 Aktuelle rechtliche Grundlagen der Eingliederungshilfe ..................................103 5.1.1 Rechtliche und vertragliche Beziehungen zwischen Leistungsträgern und Leistungsberechtigten ...........................................................................104 5.1.2 Koordination mit den weiteren Teilhabeleistungen nach SGB IX...............106 5.1.3 Rechtliche und vertragliche Beziehungen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern ..............................................................................107 5.1.4 Rechtliche und vertragliche Beziehungen zwischen Leistungsbeziehern und Leistungserbringern ..............................................................................108 5.2 Änderungen der Sozialgesetzgebung ................................................................109 5.2.1 1962: Inkrafttreten des BSHG: ....................................................................109 5.2.2 1970: Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation .........................111 5.2.3 1984: Haushaltsbegleitgesetz .......................................................................112 5.2.4 1994: Spar- und Konsolidierungsgesetze.....................................................114 5.2.5 1995: Einführung der Pflegeversicherung ...................................................118 5.2.6 1996: Reform des BSHG .............................................................................119 5.2.7 2001: Reform des Heimgesetzes..................................................................121 5.2.8 2001: Einführung des SGB IX .....................................................................122 5.2.9 2005: Einführung des SGB XII ...................................................................123 5.2.10 Benachteiligungsverbote (seid 2002)...........................................................126 Nachtrag: ...................................................................................................................127 5.3 Strategische Entwicklungslinien .......................................................................127
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Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger ....................................133 6.1 Innere und äußere Modernisierungserfordernisse .............................................133 6.1.1 Neue Steuerung in der Sozialhilfe ...............................................................134 6.1.2 Diskussionslinien zur Hilfeplanung in der Sozialhilfe.................................135 6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen .....141 6.2.1 Diskussionslinien zur Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe ..................142 6.2.2 Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf ...............................146 6.2.3 Hilfebedarfsfeststellung ...............................................................................151 6.2.4 Konzepte der Gesamtplanung ......................................................................153 6.3 Zusammenfassende Aspekte .............................................................................169
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Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer...............................173 7.1 Entstehungskontexte Individueller Hilfeplanung ..............................................173 7.2 Frühe Instrumente der Leistungsbemessung und Qualitätssicherung ................177 7.3 Instrumente der Betreuungsplanung ..................................................................183 7.4 Zusammenfassende Aspekte .............................................................................189
Inhalt
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Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften .............................191 8.1 Thematisierung gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Veränderungen ...................................................................................................191 8.2 Diskussionen in pädagogischen Kontexten .......................................................196 8.3 Konzepte ...........................................................................................................200 8.4 Zusammenfassende Aspekte .............................................................................206
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Dimensionalisierung von Hilfeplanungskonzepten...............................................207
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Individuelle Hilfeplanung als Spezial-Dispositiv moderner Gouvernementalität .................................................................................................215 10.1 Ausgangspunkte des Dispositivs Individueller Hilfeplanung ............................216 10.2 Politische Ökonomie der Hilfeplanung .............................................................219 10.2.1 Steuerungsinteressen der Akteure ..........................................................219 10.2.2 Strategische Technologien der Hilfeplanung .........................................225 10.2.3 Normalisierende Ordnung oder ‚Der Raum der Fachlichkeit wird neu vermessen’ .............................................................................................229 10.3 Subjektbegriff und Subjektivierungspraktiken ..................................................233 10.3.1 Normen und Normalisierungen oder ‚Mehr, als die Summe von Defiziten und Fähigkeiten’ .....................................................................233 10.3.2 Praktiken der Subjektivierung oder ‚Behinderung ist, was Du daraus machst’ ...................................................................................................236 10.4 Zusammenfassung .............................................................................................242
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Exemplarische Vertiefung ......................................................................................243 11.1 Methodische Erläuterungen ...............................................................................244 11.2 Entstehungszusammenhänge des Konzeptes .....................................................248 11.3 Das Konzept der Individuellen Hilfeplanung des LWL ....................................256 11.4 Umsetzung des Konzepts der Individuellen Hilfeplanung ................................263 11.5 Wirkungen in der Praxis des Unterstützten Wohnens .......................................271 11.5.1 Hilfeplanung als Strukturierungsrahmen von Praxis ..............................271 11.5.2 Bedeutung von Regeln ...........................................................................276 11.5.3 Normalitätsvorstellungen .......................................................................278 11.5.4 Selbst- und Fremdbestimmung ..............................................................279 11.5.5 Hilfeplanung und Ambulantisierung ......................................................281 11.6 Zusammenfassung .............................................................................................283
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Diskussion der Ergebnisse im Licht der Gouvernementally Studies ..................285 12.1 Politische Ökonomie der Hilfeplanung .............................................................285 12.2 Subjektivierende und normalisierende Praktiken Individueller Hilfeplanung ...288 12.3 Unterstützungspraxis zwischen Unterwerfung und Überschreitung..................294
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Ausblick ....................................................................................................................301
Literaturverzeichnis .........................................................................................................303
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Inhalt
Anhang ..............................................................................................................................327 I Infrastruktur des Diskursfeldes..........................................................................328 II Auswertung des Globalkorpus nach den Institutionen der Autoren/innen .......330 III Abfrage bei den Studienstätten der Heil- und Sonderpädagogik – Liste der angeschriebene Hochschulen ............................................................................333 IV Abfrage bei den Studienstätten der Heil- und Sonderpädagogik – Rohdaten....334 V Übersicht über die Entwicklung von Hilfebedarf-Feststellungsinstrumenten in der Eingliederungshilfe .................................................................................336
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1:
Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9:
Einzelleistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen im Laufe des Jahres 2007 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2009a, 13; Gesamtprozente von 101% ergibt sich aus der Rundung der Einzelprozente) ..................................................................................................40 Bruttoausgaben der Eingliederungshilfe für Menschen im Laufe des Jahres 2007 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2009a, 16; Gesamtprozente von 101% ergibt sich aus der Rundung der Einzelprozente) ...................41 Grundzüge der Dispositivanalyse (in Anlehnung an Bührmann 2005, Abb.1) ......................................................................................................71 Überblick über Diskursfragmente im Zeitverlauf (eigene Darstellung) ...82 Das Diskursfeld Individueller Hilfeplanung nach herausgebenden Organisationen (eigene Darstellung)................................................................89 Diskursfeld nach Organisationen der Autoren/innen (eigene Darstellung)..............................................................................................96 Sozialrechtliches Dreiecksverhältnis zu Hilfen in betreuten Wohnmöglichkeiten (eigene Darstellung in Anlehnung an Boeßenecker 2005, Abb. 32, 256) ..................................................................................................104 Personenbezogene Planung nach dem Sozialleistungsrecht (eigene Darstellung) Koordinierung von Leistungen zur Teilhabe nach §10 Abs. 1 und §12 Abs. 1 SGB IX ........................................................................107 Individuelle Hilfeplanung als Regierungstechnik ..................................241
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8:
Modernisierungslinien der Behindertenhilfe in Anlehnung an Wetzler 2009, 47 ff ...............................................................................................................18 Entwicklung der Anerkennung von Behinderungen (Quelle: Statistisches Bundesamt 2009b, 23) ...................................................................................39 Empfänger/innen von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach Ländern und ausgewählten Leistungsarten (Quelle: Statistisches Bundesamt 2009a, Tabellenanhang L2) ...........................................................................42 Hilfen für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege (Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 2006, 18) ...............................................45 Randverteilungen des Diskursfeldes nach Autoren/innen .............................94 Eingliederungshilfe 2006 (vgl. statistisches Bundesamt 2008, 19; Anhang L2, L4) ...............................................................................................................268 Verhältnis von ambulanten zu stationären wohnbezogenen Hilfen für alle Zielgruppen im Gebiet des LWL (Quelle: ZPE: Tabellensatz zu Basisdaten zum Stichtag 30.06.2006, Tabelle 35) .........................................................268 Anteilige Entwicklung der Fallzahlen im Gebiet des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe und Nordrhein-Westfalen für Menschen von Menschen mit geistiger Behinderung. (Eigene Berechnungen auf Grundlage von: ZPE: Tabellensatz zu Basisdaten zum Stichtag 30.06.2006, Tabelle 1, 10, 11, 7, 17, 18, 28) ..........................................................................................................269
1 Einleitung
1.1 Bedeutung des Themas Das Feld des Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in spektakulärer Weise differenziert (z.B. Wohnheime, Außenwohngruppen, ambulante Unterstützung). Fachliche Weiterentwicklungen hin zum Selbstbestimmungsprinzip und zur Individualisierung von Hilfen fordern dazu auf, neue, bedarfsgerechte Unterstützungsstrukturen und Konzepte zu entwickeln (dazu auch Rohrmann 2006; Theunissen 2005). Die Einrichtungsträger sehen sich zudem einer Veränderung der Klientel gegenüber, da auch Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf oder im Verhalten sehr schwierige Menschen an den fachlichen Veränderungen partizipieren sollen und immer mehr Menschen mit umfassendem Hilfebedarf das Rentenalter erreichen (vgl. Radaz 2008, 225 ff; Bundesarbeitsgemeinschaft der Überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) 2006; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) 2006, 224 f; Kolbe 2006, 188). Bis in die Mitte der 1980er Jahren wurden solche Veränderungen sozialer Bedarfslagen von der Sozialpolitik mit einer Ausweitung oder Neuschaffung von Angeboten beantwortet. Mit der Stagnation des wirtschaftlichen Wachstums in den 1980er Jahren konnten aber die notwendigen Mittel für diese Logik der ‚Problembewältigung durch Ressourcenausweitung’ der sozialen Arbeit nicht mehr zur Verfügung gestellt werden (vgl. Bäcker/ Heinze/ Naegele 1995, 209 ff; Merchel 2001, 193 ff). Wie in anderen Feldern der Sozialen Arbeit, werden deshalb auch im System der Hilfen für Menschen mit Behinderungen zunehmend die Effektivität und Effizienz von Maßnahmen hinterfragt (vgl. Braun 2004, 33 f). Einrichtungen und Dienste besitzen ihre Legitimation seither nicht allein aufgrund ihres caritativen Engagements für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, sondern erhalten eine Existenzberechtigung durch ihren Beitrag zur Erreichung von Versorgung- und Verteilungszielen (vgl. Merchel 2001, 49). Wetzler sieht darin eine Übertragung der Verwertungslogik des Marktsektors als dominante Rationalität auf den Nonprofit-Sektor (vgl. Wetzler 2009, 48 f), die sich in drei zentralen Modernisierungsstrategien im Verhältnis von Leistungsträgern und Leistungserbringern zeige: der Modernisierungsstrategie des organisierten Wettbewerbs, der Modernisierungsstrategie des Kontraktmanagements und der Modernisierungsstrategie der Aufwertung von Prävention und bürgerschaftlichem Engagement (vgl. a.a.O., 50). Ein weiterer wesentlicher Einflussfaktor ist die Kritik der ‚Neuen Selbsthilfebewegung‘ in den 1980er Jahren (Lindmeier/Lindmeier 2006, 48 u. Bezugn. auf von Ferber 1987). Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen forderten die Ent-Medizinierung des Behinderungsbegriffs, die De-Institutionalisierung der Hilfen, politische Mitsprache und die Zurückdrängung nicht-betroffener Experten (vgl. exempl. Steiner 2002). Sonderpädagogische Diskurse um die Begriffe Empowerment, Integration und Selbstbestimmung nä-
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1 Einleitung
hern sich dabei den Argumentationsmustern der Selbsthilfebewegung an (vgl. exempl. Theunissen/ Plaute 2002; Theunissen 2007; Färber/ Lipps/ Seyfarth 2000; Geiling/ Hinz 2005). Die Forderungen der Betroffenen und die Zustimmung der Fachwelt stellen aber zugleich auch eine Argumentationsgrundlage dar, um notwendige Unterstützungsleistungen von der Initiative und Mitarbeit der Betroffenen abhängig machen zu können und die Selbstverantwortung der Betroffenen zu betonen. In einer ersten Einordnung nach Wetzler (2009) lassen sich die neueren Entwicklungen im Feld des Unterstützten Wohnens als Formen der Rationalisierung, der Individualisierung und Differenzierung beschreiben (vgl. Tab. 1) unterscheiden. Tabelle 1:
Modernisierungslinien der Behindertenhilfe (nach Wetzler 2009, 47 ff):
Modernisierungstheoretischer Ansatz Rationalisierung der Gesellschaft und ihrer Institutionen (nach Max Weber) Individualisierung (nach Georg Simmel, Helmut Schelsky) Differenzierung (nach Emile Durkheim)
Veränderungen im Feld der Behindertenhilfe Sozialmanagement, Betriebswirtschaftliche Rationalität, Controlling Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, Persönliches Budget Case-Management, Spezialisierte Settings, Ressourcenorientierung, Fallindizierte Settings
Zu untersuchen ist daher, in welcher Weise sich in der Individuellen Hilfeplanung die sozialpolitischen Forderungen der Selbsthilfebewegung nach Autonomie und Selbstbestimmung mit fachlichen Debatten innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik und Argumentationsweisen von Politik und Sozialverwaltung verbinden. Dabei ist ein sehr spezifisches Feld von Macht-Wissensbeziehungen zu analysieren und im Hinblick auf Verkürzungen und Akzentuierungen im Dispositiv ‚Individueller Hilfeplanung‘ (IHP) zu hinterfragen. Mit der Einführung von Konzepten Individueller Hilfeplanung werden die sozialpolitischen und fachlichen Veränderungen zudem auf der Ebene der konkreten Unterstützung umgesetzt. Von den pädagogischen Fachkräften wird mit der Einführung dieses Instruments in neuer Weise verlangt, ihre Aufgaben mit den Nutzer/innen gemeinsam zu planen, zu organisieren und zu reflektieren. Eine wiederkehrende Selbstthematisierung in Reflexions- und Hilfeplangesprächen, eine fortwährende Optimierung des Individuums durch Zielformulierung und eine zunehmende Selbstkontrolle durch Wochenpläne und Dokumentationsvorgaben führen zu einem veränderten Verständnis von der Unterstützungsarbeit und der an ihnen beteiligten Personen. Durch die regelmäßige und systematische Auseinandersetzung mit den Zielen und Inhalten der Arbeit, sowie Methoden der Umsetzung und der Implementierung der Maßnahmen im Unterstützungsalltag verändern sich das berufliche Selbstverständnis der Fachkräfte und die Beziehung zu den unterstützten Personen. Die Auswirkungen dieser Veränderungen werden von den pädagogischen Fachkräften häufig als ambivalent (und unverständlich) erlebt. Obwohl das Unterstützte Wohnen für Menschen mit einer geistigen Behinderung sich in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Forschungsfeld entwickelt hat (vgl. dazu auch Weisser 2004, 35; Buchner/ Koenig 2009, 26; Janz/ Terfloth 2009) ist das Thema „Individuelle Hilfeplanung“ bisher nur in Ausschnitten wissenschaftlich bearbeitet und kaum empirisch untersucht worden:
1.1 Bedeutung des Themas
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So entstanden vor allem Anfang der 1990er Jahre (aber vereinzelt auch später) Auftragsarbeiten, die die Entwicklung von Instrumenten zur Bedarfsermittlung in einzelnen Einrichtungen, sowie Arbeiten, die eine Bedarfsermittlung von wohnunterstützenden Hilfen innerhalb eines Verbandes zum Ziel haben (Blankenfeld/ Diekmann/ Heck 2000–2004; Haisch 1991–1993; Hahn 1990–1992) 1. Eine Studie fragt explizit nach dem alltagsbezogenen Hilfebedarf, allerdings von Kindern mit geistigen oder körperlichen Behinderungen, um Schwachstellen der Einstufungsverfahren in die Pflegeversicherung zu ermitteln (Frühdiagnosezentrum Würzburg e.V. 2000–2002). Einige Studien interessieren sich im Rahmen von Qualitätsentwicklungsprozessen für den Unterstützungsbedarf der Nutzer/innen (Haisch 1991–1993; Schwarte 1997–2001; Schwarte 1994–1996). Inwiefern sich auch die zahlreichen sogenannten Enthospitalisierungs- und De-Institutionalisierungsprojekte mit Fragen Individueller Hilfeplanung beschäftigen, kann hier nicht eindeutig geklärt werden (Hahn 1991–1995; Hahn 1991–1998; Neumann 1991–1994; Priebe 1993–1998; Jantzen 1996–2002; Neumann/ Trost 1990–1992; Hahn 1994–1998; Egli 1988–1993; Henning/ Kruckenberg 1989–1993). Es ist allerdings zu vermuten, dass sie die Frage individueller bzw. personenbezogener Planung von Hilfen einbeziehen, da diese Projekte die konzeptionelle Weiterentwicklung wohn-unterstützender Hilfen im Hinblick auf die individuelle Unterstützung der Nutzer/innen im Sinn haben. Diese Studien sind vor allem durch Drittmittel finanzierte Praxisbegleitprojekte. In ihnen sollten organisationale Veränderungsprozesse evaluiert und damit ihre Effektivität belegt werden, oder aber sie dienten dazu, Konzepte zur Qualitätssicherung und Hilfebedarfsermittlung im Auftrag großer Einrichtungsträger zu entwickeln. Gegenstand dieser praxisorientierten Studien der 1990er Jahre war die Entwicklung von Konzepten und Verfahren. Sie können deshalb keinen sinnvollen Beitrag zu einer kritischen Analyse der mit der Emergenz verbundenen Prozesse und Wirkungen auf das Feld leisten, weil sie selbst Teil der hier zu untersuchenden Mechanismen sind. In einzelnen Bundesländern sind die Einführung und die Wirkungen von Hilfeplanverfahren der Leistungsträger im Rahmen von Selbstevaluationen (z.B. in Hessen durch den dortigen Landeswohlfahrtsverband, vgl. Bahl et al. 2009) oder Begleituntersuchungen (z.B. in Nordrhein-Westfalen durch das Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) im Rahmen der Begleitforschung zur Zuständigkeitsverlagerung der Eingliederungshilfe, vgl. Siegen, Wissel/ Aselmeier 2008) evaluiert worden. In Schleswig-Holstein hat das Forschungsinstitut Sozialpsychiatrie e.V. (vgl. Bremer 2008; 2009) die Wirkungen der Einführung von Hilfeplanverfahren auf die Lebenssituation von Menschen mit seelischen Behinderungen und Psychiatrieerfahrungen im Rahmen einer qualitativen Befragung untersucht. Die Ergebnisse erscheinen allerdings nicht einheitlich. Während einige Untersuchungen zu einer eher positiven Einschätzung der Wirkung auf die Beteiligungsmöglichkeiten von Nutzer/innen in den Verfahren und in der Berücksichtigung ihrer Wünsche kommen (Bahl et al. 2009; Aselmeier/ Wissel 2008), schätzen andere die Realisierung von Selbstbestimmung in der Hilfeplanung eher kritisch ein (Bremer 2008; 2009). Bundesweite und trägerunabhängige Untersuchungen zum Vergleich der Wirkungen einzelner Verfahren scheinen hier deshalb dringend erforderlich. Eine eher makrosoziologische Perspektive nehmen einige Studien zur Unterstützung in der selbständigen Lebensführung behinderter Menschen ein. Sie dokumentieren überwie1 Hier werden lediglich Projektleitung und Projektlaufzeit angegeben. Weitere Informationen zu den Projekten finden sich in der Forschungsdokumentation der Deutschen Interdisziplinären Gesellschaft zur Förderung der Forschung für Menschen mit geistiger Behinderung e. V. (DIFGB) (vgl. Mühl 2004).
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1 Einleitung
gend die Verbreitung verschiedener Hilfeformen und thematisieren dabei Hilfeplanverfahren nur am Rande (vgl. Häußler/ Wacker/ Wetzler 1996; Häußler/ Wacker/ Wetzler/ Hornung 1998; Zentrum für Planung und Evaluation sozialer Dienste (ZPE) 2006). In jüngerer Vergangenheit konzentrierte sich die empirische Forschung im Bereich des Unterstützten Wohnens im Wesentlichen auf die Lebensqualität und Nutzerzufriedenheit der unterstützten Personen als wesentliches Ziel der professionellen (sonder-) pädagogischen Arbeit. Sie sollte durch Nutzer- und Mitarbeiterbefragungen, teilnehmende Beobachtungen oder andere Methoden ermittelt werden (vgl. exemplarisch Seifert/ Fornefeld/ Koenig 2008; Drechsler 2004; Berns 2002; Bundschuh/ Dworschak 2003; Dworschak 2004; Sonnenberg 2004; Seifert 2006; Schäfers 2008; Janssen 2003; Hagen 2001; 2007). Dabei wird zunehmend die Perspektive der Betroffenen in den Blick genommen und versucht, forschungsmethodische Schwierigkeiten in der Befragung von kognitiv beeinträchtigten Menschen zu überwinden, um valide Aussagen über die Zufriedenheit der Nutzer/innen mit ihrer Lebenssituation zu erhalten (dazu insbesondere Hagen 2001, Schäfers 2008). Diese Untersuchungen, die sich überwiegend auf stationäre Wohnformen konzentrieren, versuchen die objektiven Lebensbedingungen in Relation zur subjektiv empfundenen Lebenszufriedenheit zu ermitteln. Inzwischen sind allerdings auch Evaluationen zu wohnformunabhängigen Veränderungen wie dem Persönlichen Budget erschienen. Allerdings wird auch hier insbesondere die Struktur- und Prozessqualität im Hinblick auf die Nutzerzufriedenheit untersucht (vgl. Kastl/ Metzler; Heidrun (2005); Wacker/ Wansing/ Schäfers 2005; Windheuser/ Ammann/ Warnke 2006; Kaas 2002; Metzler/ Rauscher/ Wansing/ Schäfers/ Meyer 2007). Auf die pädagogische Arbeit selbst konzentrieren sich dagegen eher theoretischkonzeptionelle Arbeiten oder solche, die auf der Basis vorhandener Anwendungsbeispiele der Leitprinzipien der Normalisierung und Selbstbestimmung Empfehlungen für die Gestaltung der pädagogischen Praxis formulieren. In Formeln wie „Vom Betreuer zum Begleiter“ (vgl. Hähner/ Niehoff/ Sack/ Walther/ Theunissen 2006) oder in der Diskussion um die Übertragbarkeit des Assistenzbegriffs auf den Unterstützungsbedarf geistig behinderter Menschen (vgl. Theunissen 2006; Loeken/ Windisch 2005; Kleine Schaars/ Appel 1999) wird ein solches Bemühen um eine Neufassung des Beziehungsverhältnisses zwischen pädagogischer Fachkraft und unterstützter Person auch auf fachwissenschaftlicher Ebene deutlich. Allerdings fehlt bisher, bis auf wenige Ausnahmen, eine empirische Erforschung der interaktionalen Prozesse zwischen pädagogischen Fachkräften und behinderten Erwachsenen, die mit den neuen Arbeitsprinzipien der ‚Assistenz‘ oder der ‚Begleitung‘ verknüpft sind. Es liegen nur wenige Erkenntnisse darüber vor, wie in der Interaktion zwischen pädagogischer Fachkraft und behinderter Person Lebensqualität und Selbstbestimmung im Unterstützungsalltag tatsächlich hergestellt werden und welche Bedeutung daran die unterschiedlichen Handlungsanteile der Beteiligten haben. So nimmt sich eine Studie von Wigger der Frage an, welche Tätigkeitsstrukturen von Sozialpädagogen/innen im Heimalltag in der Schweiz zu finden sind (2005) und deutet sie als die ‚Inszenierung stellvertretender Lebensräume‘. Die Arbeit von Rock (2001) dokumentiert in eindrücklicher Weise das Transferproblem neuer Leitprinzipien in den Alltag des unterstützten Wohnens für die Unterstützerinnen. Die auf der Basis von Selbstaussagen von Mitarbeiterinnen gewonnenen polaren Orientierungs- und Deutungsmuster von Mitarbeitern in Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen besitzen aber nur einen begrenzten Erklärungswert für das Han-
1.1 Bedeutung des Themas
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deln der Unterstützerinnen im Alltag. Eine der wenigen Arbeiten, die das ambulant betreute Wohnen in den Blick nehmen, ist die Untersuchung von Hanslmeier-Prockl (2009). Sie analysiert Erfahrungen von Nutzer/innen ambulanter Unterstützung beim Wohnen und vergleicht diese mit den Aussagen von Fachkräften, um daraus Handlungsschwerpunkte dieser Unterstützungsform zu entwickeln. Trotz dieser einzelnen Befunde lässt sich ein Mangel an empirischer Grundlagenforschung zur direkten Interaktion zwischen heilpädagogischer Fachkraft und unterstützter Person feststellen. Zudem beziehen die genannten Studien relevante äußere Einflussfaktoren kaum ein. Auch der Einfluss organisationaler Veränderungen (z.B. durch den Vergleich ambulanter und stationärer Unterstützungsstrukturen) und Führungsmechanismen (z.B. Fragen der Personalführung und Qualitätsentwicklung), sowie schließlich der sozialpolitischen wie sozialrechtlichen Kontexte (z.B. die Umstellung der Leistungsfinanzierung) bleibt bei diesen Studien außen vor. Einige neuere Untersuchungen setzen sich damit auseinander, in welcher Weise Einrichtungen der Behindertenhilfe auf die veränderten Anforderungen strategisch reagieren und sich zugleich konzeptionell weiter entwickeln können. Weber (2004) setzt sich mit den veränderten Anforderungen an die Einrichtungen auseinander und konzentriert sich in einer Pilotstudie auf die Frage, wie Komplexeinrichtungen auf dem Weg der De-Institutionalisierung begleitet werden können. Seifert zeigt in einer Evaluation eines Konsulentenprojekts des Landschaftsverbandes Rheinland (2004), wie durch gezielte flankierende Unterstützungsstrukturen für die Fachkräfte die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung und erheblichen Verhaltensauffälligkeiten verändert und stabilisiert werden kann. Schädler (2002) ging bereits einige Jahre zuvor einen Schritt weiter, indem er mit Hilfe des öko-systemischen Modells von Bronfenbrenner Regeln der institutionellen Gestaltung sogenannter ‚Offener Hilfen’ formulierte. Im Hinblick auf die Mechanismen sozialpolitischer Steuerung ist die Forschungslage ebenfalls als „dünn“ zu bezeichnen. Spörke (2008) untersucht im Entstehungsprozess des SGB IX und Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (GGB) die politischen Aushandlungsprozesse, in denen sich die Behindertenverbände ISL und VdK sowie politische Adressaten bewegen. Wansing (2005) diskutiert Inklusionschancen und Exklusionsrisiken moderner Gesellschaft mit Hilfe systemtheoretischer Ansätze. Die Zusammenhänge von Sozialpolitik, Gestaltung des Hilfesystems und professioneller Unterstützung wurde bisher allerdings am differenziertesten von Rohrmann (2007) untersucht. Er analysiert das Verhältnis von Institutionalisierung und Individualisierung in der Behindertenhilfe der BRD. Durch eine umfassende Analyse des Hilfesystems und Interviews mit Betroffenen arbeitet er Chancen, aber auch erhebliche Risiken für die Betroffenen heraus, die mit den zunehmenden Individualisierungsbemühungen des Systems einhergehen. Aktuelle, international vergleichende Arbeiten zu sozialpolitischen Entwicklungen im Bereich der Behindertenhilfe finden sich bei Schulz-Nieswandt (2007), Maschke (2008), Naue (2008) und Aselmeier (2008). In allen vier Studien wird deutlich, dass die zentralen Steuerungsmechanismen europaweit eine zunehmende Marktoffenheit und Wettbewerbsorientierung der Behindertenhilfe bewirken, die zugleich einhergehen mit einer Subjektund Dienstleistungsorientierung. Aselmeier befragt nach einer vergleichenden Untersuchung der historischen Entwicklung der Hilfesysteme in Schweden, England und Deutschland Menschen mit einer geistigen Behinderung zu ihrer Lebenssituation im Gemeinwesen. In seiner Arbeit zeigt er einerseits die Mechanismen der Beharrlichkeit bestehender Strukturen auf, die einen institutionellen Wandel behindern können, zum anderen identifiziert er
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1 Einleitung
Chancen und Risiken für das Individuum, die mit der zunehmenden Individualisierung im Hilfesystem einhergehen. Daraus zieht er vor allem für die Gestaltung gemeinwesenorientierter Unterstützungssysteme in Deutschland Konsequenzen. 1.2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands Diese Untersuchung nimmt das Unterstützte Wohnen als einen zentralen Lebensbereich von Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung in den Blick, in dem gesellschaftliche Teilhabe und soziale Integration realisiert werden. Im Fokus steht die Individuelle Hilfeplanung als begrifflicher Platzhalter für unterschiedliche Konzepte, welche individuelle und personenzentrierte Unterstützung im Bereich der alltäglichen Lebensführung planen und begleiten helfen sollen (vgl. auch Beck 2005, 388; Trost 2005, 204). Im Verlauf dieses Buches wird dieser Begriff präzisiert werden müssen. Welche Prozesse und Technologien die Umsetzung der mit der Individuellen Hilfeplanung verknüpften Zielvorstellungen fördern oder beeinträchtigen können und auf welche Weise sie den Unterstützungsalltag beeinflusst, bedarf der differenzierten Analyse sowohl der Konzepte, als auch ihrer zentralen Bezüge. Als Unterstütztes Wohnen werden hier alle Wohnformen bezeichnet, in denen Menschen professionelle Unterstützung (d.h. durch einen Fachdienst oder eine Einrichtung der Behindertenhilfe) in der alltäglichen Lebensführung erhalten. So sind heute unter anderem Wohnheime und Wohnstätten, Außenwohngruppen, Appartement-Wohnen auf dem Einrichtungsgelände, ambulante Assistenz-WGs und ambulante Assistenz in der eigenen Wohnung in diesem Feld zu finden (s.a. Bundesbericht zur Lage der Behinderten 2004; Dworschak 2004, 19 ff). Der Gegenstandsbereich muss zudem abgegrenzt werden von naheliegenden Feldern, die sich zwar im weiteren Verlauf als relevante Einflussbereiche herausstellen können, die aber explizit nicht im Zentrum der Untersuchung stehen. Es soll nicht gehen um
Individuelle Hilfeplanung nach dem KJHG – Da sich diese sowohl im Hinblick auf den betroffenen Personenkreis, wie auch im Hinblick auf das institutionelle Setting des Unterstützten Wohnens für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung unterscheiden. (Vgl. exempl. Merchel 2006; Schwabe 2005; Uban U. 2004; Stadtjugendamt Ludwigshaven 2003) Förderplanung im Sinne des Sonderpädagogischen Förderbedarfs – Da sich diese auf den Bereich der schulischen Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen bezieht und damit sowohl andere institutionelle wie auch fachliche Bedingungen beinhaltet. (Vgl. exempl. Feyerer 2009; Eggert 2007; Mutzeck 2003) Hilfeplanung im Sinne der Sozialarbeit/ Hilfe in besonderen Lebenslagen – In diesem Feld sind z.T. dieselben institutionellen Akteure beteiligt und deshalb sind auch Überschneidungen in der fachlichen Debatte denkbar. Der hier fokussierte Personenkreis (erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung) stellt aber nur eine kleine Teilgruppe der Empfänger von Hilfen in besonderen Lebenslagen dar. Die historisch gewachsenen Hilfestrukturen (Sozialarbeit und Behindertenhilfe) unterscheiden sich trotz gemeinsamer Wurzeln erheblich. Deshalb ist zweifelhaft, ob hier von
1.3 Ausgangsfrage und Hypothese
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einem Diskursfeld ausgegangen werden kann. (Vgl. Kleve/ Haye/ Hampe-Grosser/ Müller 2008) Hilfeplanung im Kontext gemeindepsychiatrischer Versorgung oder Rehaplanung – Seit der Psychiatriereform kann nicht mehr legitim von einem gemeinsamen Hilfesystem für Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen mit psychischen Erkrankungen gesprochen werden, auch wenn es Grenzfälle und Überschneidungsbereiche gibt. Es ist jedoch denkbar, dass die fachliche Debatte zur Hilfeplanung im Unterstützten Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung Aspekte der Hilfeplanung im Bereich der Gemeindepsychiatrie aufgreift, da die Entwicklung personenbezogener Planungsmethoden dort sehr intensiv diskutiert und von Verbänden und Selbsthilfeorganisationen forciert wird. (Vgl. exempl. Bremer 2008, 2009; Kunze et al. 2008; Peukert 2006; Dörner 2004; Speicher 2000; Speicher 2004) Qualitätsentwicklung/Lebensqualität/Nutzerzufriedenheit, Persönliches Budget, Hilfeplanung im Kontext beruflicher Rehabilitation – Diese Schlagworte markieren weitere Veränderungen der letzten Jahre und stellen eigene Diskursfelder dar. Sie können als Hintergrundfolie für die Entstehung Individueller Hilfeplanung verstanden werden und bilden diskursive Kontexte Individueller Hilfeplanung. (S.o.)
Im Zentrum steht in dieser Untersuchung die Hilfeplanung nach SGB IX bzw. SGB XII im Kontext der Eingliederungshilfe für (erwachsene) Menschen mit Behinderungen. Die Untersuchung beschränkt sich auf den bundesrepublikanischen Raum, da das deutsche System der sozialen Sicherung (Sozialversicherungen einerseits, steuerfinanzierte Sozialleistungen andererseits, Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege, förderalistische Struktur mit der Folge geteilter Zuständigkeiten der Sozialleistungsträger) im internationalen Vergleich sehr untypisch erscheint. Ein Vergleich nationaler Strategien und Konzepte personenbezogener Planung müsste diesen sehr unterschiedlichen Strukturen Rechnung tragen. Zudem wird auch im Hinblick auf die fachliche Diskussion in der Heil- und Sonderpädagogik der weitgehend fehlende Anschluss der Bundesrepublik an internationale Debatten bemängelt (vgl. Sarimski 2009; Schlee 2001; Klauer 2000; Tent 1997; Kanter 1985), so dass von einem weitgehend geschlossenen deutschen Diskursraum ausgegangen werden kann. Es ist aber zu betonen, dass Erfahrungen und Konzepte aus dem Ausland durchaus eine wichtige Bereicherung für die bundesdeutsche Debatte darstellen könnten (und dies zum Teil auch tun, z.B. Methoden des ‚Person Centered Planning’ (O’Brien/ Pearpoint 2002). 1.3 Ausgangsfrage und Hypothese Die vorliegende Untersuchung verfolgt zwei Zielsetzungen: 1. 2.
Sie soll am Beispiel der Individuellen Hilfeplanung einen Beitrag zur Aufklärung des Verhältnisses von sozialrechtlichen Veränderungen, wissenschaftlicher Theoriebildung und Entwicklungen in der Praxis im Kontext von Behinderung leisten. Anhand der Entstehung der „Individuellen Hilfeplanung“ im Unterstützten Wohnen für Menschen mit einer geistigen Behinderung sollen Möglichkeitsräume für die Weiterentwicklung des Feldes aufgezeigt werden.
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Individuelle Hilfeplanung ist zunächst einmal ein gedankliches und diskursives Konstrukt: Weil sie Antworten auf aktuelle Problemlagen zu geben verspricht, wird sie in Fachverbänden und zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern diskutiert und ist Gegenstand mehrerer Tagungen in den letzten Jahren gewesen. Individuelle Hilfeplanung als gedankliches und diskursives Konstrukt ist deshalb auch als Effekt der Denkweisen über Menschen mit Behinderungen und angemessene Unterstützung analysierbar. In einer ersten Annäherung kann man zwischen dem Verfahren zur Feststellung des Individuellen Hilfebedarfs, unterschiedlichen Planungsprozessen, der Durchführung von Maßnahmen und ihrer Evaluation und schließlich der Fortschreibung von Hilfeplänen unterscheiden. Entsprechend kann der Leistungsträger für sich reklamieren, Individuelle Hilfeplanung zu betreiben, da er die Höhe und Art der Leistungen für den/die Nutzer/in im Hilfeplanverfahren festlegt. Auch innerhalb eines Dienstes wird Individuelle Hilfeplanung betrieben, nämlich dann, wenn diese gewährten Leistungen umgesetzt werden in einen konkreten Begleit- oder Betreuungsplan, die ein/e Nutzer/in gemeinsam mit seinen Unterstützern/innen realisieren soll. Schließlich führen die Nutzer/innen und Unterstützer/innen gemeinsam diesen Hilfeplan aus, wenn sie in der Interaktion im Unterstützungsalltag tatsächlich diese Maßnahmen durchführen. Aus praxeologischer Perspektive (vgl. Reckwitz 2003; Hörning/ Reuter 2001, 157 ff)‚ machen sie damit Hilfeplanung. Individuelle Hilfeplanung hat also auch eine ganz praktische Seite. IHP wird in Handreichungen für Mitarbeiter/innen, Formularen und Vordrucken für den Planungsprozess, aber auch in didaktischen Materialien und Visualisierungshilfen beschrieben und erläutert. Sie findet in der Durchführung von Clearing- und Hilfeplangesprächen statt, ebenso wie in der praktischen Arbeit im Unterstützungsalltag und damit in sozialer Interaktion. In ihr enthalten sind implizite und explizite Vorstellungen über die Nutzer/innen, über die Aufgaben der Unterstützer/innen und darüber, wie die Beziehung zwischen beiden gestaltet sein sollte. Es sind fachliche Vorstellungen ebenso wie fiskalische Regulativa enthalten und schließlich Vorstellungen über das ‚normale‘ Leben in unserer heutigen Gesellschaft und darüber, wie diese ‚Normalität‘ für Menschen mit geistiger Behinderung erreicht werden kann. Deshalb muss IHP im Hinblick auf die dahinter liegenden Voraussetzungen, Grundannahmen, Mechanismen und Durchsetzungsstrategien analysiert werden, gerade wenn diese Hintergründe nur selten oder auch gar nicht explizit formuliert werden. Für die Zielsetzungen dieser Untersuchung wäre es also nicht sinnvoll, nur eine dieser Begriffsbedeutungen einzubeziehen. Auch wenn eine der Bedeutungen im Verlauf der Untersuchung stärker in den Fokus rückt, sind sie alle zugleich Facetten eines Kaleidoskops, in dem alle Spiegel gleichzeitig das Licht brechen. Die Lichtbrechungen beeinflussen sich gegenseitig, trotzdem sind einzelne Flecken erkennbar, aber erst in der Gesamtbetrachtung entfaltet das Bild seine Faszination. Die zentrale Bezugstheorie der Arbeit bildet Foucaults Auseinandersetzung mit der Frage nach der Konstitution des Subjekts in modernen Gesellschaften durch Techniken der Führung und Selbstführung. In der Sonder- und Heilpädagogik wurde Foucault bislang nur fragmentarisch aufgegriffen und rezipiert. Interaktionistische und phänomenologische Theoriestränge rekurrieren vor allem auf Foucaults Arbeiten, in denen er sich mit dem Verhältnis von Macht und Wissen anhand der Entstehungsgeschichte der Geisteskrankheit beschäftigt, wie ‚die Macht der Psychiatrie‘ (2005), ‚Wahnsinn und Gesellschaft‘ (1973), ‚die Anormalen‘ (2003) oder ‚Überwachen und Strafen‘ (1989) (vgl. exempl. Stinkes 1993;
1.3 Ausgangsfrage und Hypothese
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Fornefeld 2001). Einrichtungen der Behindertenhilfe werden dabei als Orte der Repression, Kontrolle und der Deformierung von Individuen untersucht und die Geschichte des Umgangs mit Behinderung als Geschichte der Ausschlusses beschrieben. Dabei wird Foucault in einem theoretischen Zusammenhang mit Goffman`s Begriff der ‚Totalen Institution‘ (1973) und Galtungs Begriff der ‚strukturellen Gewalt‘ (1975) diskutiert. Sie verbleiben allerdings in einer Negativ-Kritik des etablierten Hilfesystems, die die Entwicklungen seit den 1980er Jahren weitgehend ausblenden. Andere diskutieren vor allem die Emergenz des Behinderungsbegriff als Folge gesellschaftlicher Normvorstellungen (vgl. exempl. Schildmann 2001; Lingenauber 2003; von Stechow 2004). Auch Dederich greift diese Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen ‚Normalitätsvorstellungen‘ und dem Behinderungsbegriff mit Blick auf Fragen der Bioethik auf. Die Auseinandersetzung mit der Frage von Normalität und Abweichung scheint dabei stark von den Disability-Studies beeinflusst zu sein, die Behinderung als gesellschaftliches Konstrukt auffassen (ähnlich wie die Gender Studies für das Phänomen Geschlecht) und die Bedingungen und Wirkungen dieses Phänomens untersuchen (vgl. exempl. Trimain 2005; Waldschmidt 1999/ 2006; Egger 1999). Damit wurden aber wesentliche Chancen und Potenziale der Foucaultschen Arbeit für eine Reflexion aktueller Entwicklungen in der Heilpädagogik und Behindertenhilfe nicht ausgeschöpft. Die vorliegende Studie soll deshalb die Rezeption Foucaults für die Behindertenhilfe in zweierlei Hinsicht erweitern und fruchtbar machen: Zum einen wird mit einem stärkeren Bezug zum Konzept der Gouvernementalität (vgl. Foucault 2004a) der Blick über die Institution hinaus auf die behindertenpolitischen und rechtlichen Veränderungen gerichtet, zum anderen werden die Subjektivierungspraktiken und Subjekttechniken (vgl. Foucault 1986; 1993b; 2005) stärker thematisiert, die Machtbeziehungen als produktive Kraft und nicht nur Repressionsmaschinerie erkennbar werden lassen. Damit zeigt sich, dass Foucault nicht nur als Historiker einen Beitrag zu einer ‚kritischen Geschichtsschreibung‘ des Umgangs mit Behinderung leisten kann, sondern seine Arbeiten auch dazu geeignet sind, aktuelle Entwicklungen zu analysieren. Individuelle Hilfeplanung wird hier als Dispositiv aufgefasst, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Entwicklungen im Bereich der Hilfen für Menschen mit Behinderungen nicht eindimensional interpretiert werden können, sondern als Ergebnisse unterschiedlicher Interessenlagen, Umstände und Gegebenheiten gesehen werden müssen. Zum einen geht es Foucault darum, die Technologien zu identifizieren, mit denen die Individuen in einer Gesellschaft dazu gebracht werden, sich in einer bestimmten Weise als Teil der Gesellschaft wahrzunehmen (Foucault 2004, 145 f). Zum zweiten geht es ihm um die Frage, mit welchen Techniken dies für das einzelne Individuum möglich wird und wie in den Beziehungen zwischen Individuen eine Vorstellung vom Subjekt entsteht (Foucault 1993, 27 ff). Beide Fragekomplexe werden im Begriff des Dispositivs handhabbar. Dispositive entstehen nach Foucault als spezifische Verflechtungen von Sprache, Handeln und Wirklichkeit zu bestimmten historischen Zeitpunkten als eine Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen und Problemlagen (Foucault 1978, 119 f). Als Gebilde von Kräfteverhältnissen und Wissenstypen entstehen durch Dispositive bestimmte Subjektivierungsweisen, die den jeweiligen historisch strategischen Erfordernissen entsprechen (vgl. Bührmann 2001, 130). Ausgangsthese ist, dass im Dispositiv Individuelle Hilfeplanung gouvernementale Regierungstechnologien und Subjektivierungspraktiken erkennbar werden, die aufgrund institutionell-organisationaler Bedingungen Möglichkeitsräume für die professionelle Bezie-
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1 Einleitung
hung zwischen Mitarbeiter/innen und geistig behinderten Nutzer/innen beschreiben und die zugleich durch diese Beziehungen gestaltet werden. In einem mehrteiligen Untersuchungsaufbau wird deshalb das Dispositiv Individuelle Hilfeplanung als ein Geflecht von Denkweisen, Regierungstechnologien, strategischen Beziehungen und Praktiken dekonstruiert. Vorarbeiten und der aktuelle Stand der Auseinandersetzung mit dem Dispositiv deuten darauf hin, dass die Individuelle Hilfeplanung als ein Programm verstanden werden kann, mit dem bestimmte Subjektvorstellungen transportiert werden und welches in der Praxis eine enorme Wirkung und eine auffällige Brüchigkeit zugleich entfaltet. Es ist deshalb zu vermuten, dass die Veränderungen als ein kompliziertes Zugleich von Selbst- und Fremdbestimmung, von Techniken der Führung und Selbstführung gedacht werden müssen. Die Mechanismen dieses Geflechts in ihrer spezifischen Wirksamkeit zu beschreiben, ist deshalb ein vorrangiges Ziel der Untersuchung. 1.4 Arbeitsprogramm Um Individuelle Hilfeplanung nach Foucault als ‚Dispositiv‘ analysieren zu können, werden diskursive und nicht-diskursive Praktiken auf verschiedenen Ebenen in den Blick genommen und jene Denkweisen, Regierungstechnologien, strategischen Beziehungen und Praktiken herausgearbeitet, die zur Emergenz des Dispositivs beigetragen haben. Dazu ist ein mehrschrittiger Untersuchungsaufbau notwendig. Nach einer kurzen Einführung in den Gegenstandsbereich des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘ wird zunächst wird der theoretische Zugang der vorliegenden Untersuchung anhand einer Einführung in das Werk Foucaults dargelegt. Dabei wird nicht ‚die richtige’ Lesart seines komplexen und unabgeschlossenen Lebenswerks postuliert, sondern vielmehr jene Aspekte herausgearbeitet, die aus Sicht der Autorin für den weiteren Untersuchungsgang relevant erscheinen. In Auseinandersetzung mit methodologischen Folgerungen aus dem Diskurs- und dem Dispositivkonzept für die Untersuchung werden darauf aufbauend die einzelnen Arbeitsschritte beschrieben und erläutert. Anschließend wird das Feld der institutionellen Behindertenhilfe systematisch beleuchtet und die diskursiven wie machtvollen Beziehungen zunächst innerhalb relevanter Teilgebiete herausgearbeitet. Zunächst soll im Sinne einer ‚Globalanalyse’ ein allgemeiner Überblick über das Diskursfeld gegeben werden, in dem Individuelle Hilfeplanung auftaucht und verortet wird. Dabei werden die zentralen Akteure und Formen von Diskursbeiträgen herausgearbeitet. Anschließend wendet sich die Untersuchung dem Bereich des Rechts zu, welcher den Möglichkeitsraum für die Praktiken im Feld der Behindertenhilfe strukturiert. In den Kapiteln 6, 7 und 8 wird das Feld von Macht und Wissen, in dem sich das Dispositiv Individuelle Hilfeplanung bewegt, mit seinen zentralen Diskurssträngen, Strategien und Mechanismen anhand der drei Bereiche Leistungsträger, Leistungserbringer und Fachwissenschaften beschrieben. Hier geht es vor allem um Verhältnisbestimmungen zwischen Freier Wohlfahrtspflege und Sozialleistungsträgern als machtvollen Akteuren im Feld, aber auch der Bereich der wissenschaftlichen Sonderpädagogik erhält hier besonderes Augenmerk, da hier besondere Beiträge im Diskursfeld zu vermuten sind. Konzepte Individueller Hilfeplanung, die in diesen Bereichen als Effekte dieser Beziehungen und zugleich Katalysatoren zu verorten sind, werden exemplarisch dargestellt und anschließend in Kapitel 9 als diskursgenerierte Modelpraktiken einer Dimensionalisierung unterzogen. Die Erträge der
1.4 Arbeitsprogramm
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Kapitel 6 bis 9 auf der Ebene der öffentlichen Diskurse werden dann im zehnten Kapitel entfaltet. Eine exemplarische Vertiefung erhält das Arbeitsprogramm im elften Kapitel, welches die bisherigen Ergebnisse konkretisieren und ergänzen soll. Anhand der Region Westfalen-Lippe werden zentrale Entwicklungen und Strategien der Führung und Selbstführung von der Ebene des ‚strategischen Programms’ der Sozialpolitik bis zur Ebene der sozialen Interaktion in der Praxis des Unterstützten Wohnens herausgearbeitet. Schließlich werden im Kapitel 12 aus der Betrachtung des Diskursfeldes, der Analyse nicht-diskursiver Elemente und der exemplarischen Vertiefung die strategischen Technologien und Praktiken, die mit der Individuellen Hilfeplanung im Feld der Behindertenhilfe wirksam werden, zusammengetragen und mit Ergebnissen anderer ‚gouvernementally studies’ in Beziehung gesetzt werden. Die Analyse öffnet zum einen den Blick für die Freiheit des Einzelnen in einem sozialen Raum, der durch Führungen und Selbstführungen strukturiert ist und zeigt zum anderen Perspektiven für die Weiterentwicklung dieses Arbeitsfeldes auf. So werden abschließend Zukunftsperspektiven für die weitere Entwicklung und Möglichkeitsräume für das weitere Handeln der Akteure generiert.
2 Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘
Bevor in den nachfolgenden Kapiteln die Untersuchung des Dispositivs Individuelle Hilfeplanung vorgenommen werden kann, erscheint es hilfreich, zunächst den Bereich zum umreißen, auf den dieser Untersuchungsgegenstand Bezug nimmt. Das ‚Unterstützte Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung‘ wurde bereits in der Einleitung als Bezugspunkt definiert. Er stellt einen Ausschnitt der ‚sozialen Lage‘ dieses Personenkreises dar. Unter dem Begriff der ‚sozialen Lage’ (Zapf/ Habich 1996) wird in der Regel ein mehrdimensionales Konzept verstanden, mit dem die Lebensverhältnisse einer Personengruppe, die einen bestimmten sozialen Status innerhalb einer Gesellschaft einnimmt, beschrieben werden können. Der Begriff ist zudem mit dem der ‚Lebenslage’ verwandt, welcher sich aber auf die individuelle Lebenssituation bezieht. Nach Hradil bezeichnet die Lebenslage „die Gesamtheit ungleicher Lebensbedingungen eines Menschen, die durch das Zusammenwirken von Vor- und Nachteilen in unterschiedlichen Dimensionen sozialer Ungleichheit zustande kommen“ (Hradil 1999, 40 unter Bezugnahme auf ders. 1987). Zusammen genommen ermöglicht es ein übergreifender Lebenslagenansatz, auf der mikro- und meso- oder makrosoziologischen Ebene sowohl horizontale, als auch vertikale Formen sozialer Ungleichheit zu erkennen und dabei objektive Lebensbedingungen mit den subjektiven Bedürfnislagen der Personen zu verknüpfen. Nach Beck lässt sich entsprechend die soziale Lage behinderter Menschen in der BRD als „vertikale und horizontale soziale Ungleichheit und als eine Kumulation von objektiven und subjektiven Problemlagen“ (2003, 856) kennzeichnen. Um den Begriff allerdings handhabbar für konkrete Aussagen zur Lebenssituation einer Personengruppe zu machen, muss sich die Analyse einer bestimmten sozialen Lage in der Regel auf bestimmte Aspekte und einzelne Betrachtungsebenen beschränken. Im Folgenden werden deshalb definitorische, qualitative und quantitative Aspekte der sozialen Lage von Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung in der BRD skizziert und dabei objektive Lebensbedingungen sowie ihre subjektiven Bedeutungen für Menschen mit Behinderungen (sofern dazu Erkenntnisse vorliegen) angesprochen werden. Obwohl damit nur ein Ausschnitt der sozialen Lage beleuchtet wird, soll dabei der Schwerpunkt der Betrachtung auf den Bedingungen des Wohnens und Formen der Unterstützung beim Wohnen und der alltäglichen Lebensführung liegen. 2.1 Terminologische Bestimmung Das Aufkommen des Begriffs ‚geistige Behinderung’ Mitte des 20. Jahrhunderts (vgl. Gröschke 2000, 119 f) kann als Versuch gelesen werden, über eine veränderte Terminologie (statt ‚Idioten’, ‚Kretinen’ usw.) ein verändertes Bild von einem Personenkreis zu zeichnen, der in einer bestimmten Weise von der Mehrheitsbevölkerung abweicht (vgl. Stinkes 2003, 32 f). Dass dieser Versuch der einheitlichen Definition als gescheitert be-
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2 Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘
zeichnet werden muss, zeigt sich in einem bis heute intensiven ‚Ringen’ um Frage, ob überhaupt ein Personenkreis ausgemacht werden kann, der sich in spezifischen Merkmalen zugleich untereinander ähnlich und im Hinblick auf diese Merkmale hinreichend abweichend von einer ‚Mehrheitsbevölkerung’ ist. Die Versuche zu bestimmen, worin diese Abweichung besteht oder zu begründen, weshalb keine solche Abweichung legitim benannt werden kann, sind derartig heterogen, dass als gemeinsames Merkmal lediglich die Abweichung an sich, nicht aber ihre Spezifität festgemacht werden kann. Zum Teil wird dabei auch von Betroffenen selbst erwartet, zu beschreiben, was eine Gemeinsamkeit ausmachen könnte, mit der sie sich zugleich von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden könnten. Zugleich wird aber eben in dem Unvermögen, dies zu tun, eine solche Gemeinsamkeit gesehen: „Wir haben es mit einer grundlegenden Schwierigkeit zu tun: Die Gemeinten können zu einer terminologischen Klärung wenig beitragen. Wir als Nicht-geistigBehinderte können sie nicht so ohne weiteres definieren. Die Verantwortung für die Menschen verlangt es, dass wir die eigene Sicht nicht verabsolutieren und Definitionsversuche nur auf der Basis der Achtung vor ihnen vornehmen.“ (Speck 2005, 43) Die terminologische Diskussion der vergangenen Jahre (vgl. exempl. Wüllenweber/ Theunissen/ Mühl 2006; Stahl/ Irblich 2003; Greving/ Gröschke 2000; Feuser 1996) reicht dabei weit über das hinaus, was für das weitere Vorgehen sinnvoll dargestellt werden kann. Gerade weil die Frage, was geistige Behinderung ist, nicht abschließend geklärt werden kann, erscheint aber eine vorläufige Positionsbestimmung im Rahmen dieser Untersuchung notwendig. Der Gegenstand ist hier ein spezifisches gesellschaftliches Feld, in dem ‚Individuelle Hilfeplanung’ untersucht werden soll und in dem die gesetzlichen Grundlagen ein Element, nicht aber der einzige Bestimmungspunkt sind. Dennoch entfalten die rechtlichen Setzungen und Definitionen eine konkretere Wirkung als die terminologische Diskussion in den wissenschaftlichen Diskursen und gestalten die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der als ‚geistig behindert’ bezeichnete Menschen leben. So ist es notwendig, sich an der gesetzlichen Definition messen und bestimmen zu lassen, um bestimmte Leistungen und Vergünstigungen zu erhalten. Mit der Einführung des SGB IX hat der Gesetzgeber eine Definition vorgelegt, die sich in einen medizinischen und einen teilhabeorientierten Teil gliedert (vgl. Cloerkes 2007, 43). Notwendige Bedingung ist das Vorhandensein einer Abweichung der körperlichen Funktion, geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand von wahrscheinlich mehr als sechs Monaten (vgl. § 2 Satz 1 SGB IX). Das entscheidende Kriterium ist aber, dass aufgrund dieser Abweichung auch die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (vgl. Cloerkes 2007, 43). In diesem Sinn wird in der Eingliederungshilfeverordnung auch der Personenkreis der geistig behinderten Menschen durch eine Komponente umrissen, die eine individuelle Funktionseinschränkung beschreibt und eine Komponente, welche die möglichen sozialen Folgen dieser Einschränkung benennt. „Geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sind Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind.“ (§ 2 Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch) 2 2 Cloerkes stellt zur Behinderungsdefinition der Sozialgesetze allerdings zu Recht fest, dass dieser sich vom Begriff des Schwerbehindertengesetzes (SGB IX, Teil 2) unterscheidet, welcher allein auf die Schädigung bzw. Funktionsbeeinträchtigung, nicht aber auf die Teilhabechancen und -barrieren eingeht (vgl. 2007, S. 43 f) wie in Abschnitt 2.3.1 dargestellt wird.
2.1 Terminologische Bestimmung
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Damit greift der Gesetzgeber die Definition der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) auf, setzt sie aber nur teilweise in Staatenrecht um, da die ICF die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zwar auch an das Vorhandensein eines gesundheitlichen Problems knüpft. Dieses Problem muss aber nicht zu einer Funktionsbeeinträchtigung führen. (Bspw. kann eine HIV Infektion, die noch nicht zum Ausbruch einer Aids-Erkrankung geführt hat, dennoch zu Einschränkungen in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft führen und ist dann im Sinne der ICF eine Behinderung.) Zentral ist hier die Beeinträchtigung der Partizipation. So bezeichnet auch Beck Behinderungen als „erhebliche Erschwernisse der Partizipation und Selbstbestimmung, die mit länger andauernden, umfänglichen Beeinträchtigungen der selbständigen Lebensführung einhergehen“ (Beck 2003, 84). Allerdings ist Partizipation kein personenbezogener Faktor, sondern zielt auf die zwischenmenschliche Interaktion ab. Auch Individuelle Hilfeplanung wirkt letztlich auf alle weiteren beteiligten Personen ein und wird von ihnen gelebt, so dass die Frage der Behinderung von Partizipation und Selbstbestimmung nicht ausschließlich auf die unmittelbaren Adressaten/innen gerichtet beantwortet werden kann. In diesem Sinne könnte Behinderung auch angemessen als „gesellschaftliche Positionszuschreibung auf Grund vermuteter oder erwiesener Funktionseinschränkungen angesichts als wichtig angesehener Funktionen“ (Thimm 1999, 10) beschrieben werden. Die dieser Definition zu Grunde liegende Annahme der sozialen Konstruktion des jeweils in einer Gesellschaft verwendeten Behinderungsbegriffs deutet aber darauf hin, dass das Wissen um ‚geistige Behinderung’ mit Foucault ein Bestandteil der Episteme moderner Gesellschaften sein könnte (vgl. Abschnitt 3.1.2). Was er bedeutet und welche Menschen damit bezeichnet werden, ist demnach eine Folge gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, die bestimmt werden durch die spezifischen Macht-Wissenkomplexe der jeweiligen Zeit und Gesellschaft. Stinkes sieht denn auch in der Verwendung der Bezeichnung ‚Menschen mit einer geistigen Behinderung’ weniger die Charakterisierung ähnlicher individueller Merkmale eines Personenkreises, sondern vielmehr den Ausdruck eines wechselseitigen sozialen Verhältnisses. „Sie [geistige Behinderung; I.N.] hängt ab von der Teilhabe am gesellschaftlichen Erbe wie auch von entsprechenden Hilfs- und Unterstützungsangeboten in den für eine Person relevanten Lebensbereichen; daher ist geistige Behinderung sowohl Ausdruck einer individuellen Geschichte von Behinderung als auch der (allgemeinen) Geschichte des sozialen Ausschlusses.“ (Stinkes 2003, 45).
Die Bezeichnung ‚geistige Behinderung’ wird deshalb im Folgenden als Effekt verstanden, der im Geflecht aus Diskursen, Wissensbeständen und Machtverhältnissen entsteht. Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, die Realität des einzelnen Menschen zu leugnen oder hinter argumentativen ‚Winkelzügen’ die Tatsache zu verschleiern, dass einige Menschen mehr als andere auf Unterstützung und Hilfe, aber auch auf Anerkennung und Chancen für eine befriedigende Lebensführung angewiesen sind. Die Definition von Stinkes verweist vielmehr genau auf diese spezifischen Lebenssituationen (in Abhängigkeit), die allerdings weder natürlich noch statisch und unveränderbar sind. Vielmehr müssen sie als sozial konstruiert und damit historisch wie biographisch veränderbar (wenn auch nicht aufhebbar) angesehen werden. Dadurch sind die individuellen Lebenssituationen aber auch den vielfältigen Machtbeziehungen der sozialen Welt ausgesetzt.
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2 Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘
Die Position von Stinkes erscheint deshalb als Haltung für die vorliegende Studie geeignet. Da die Studie nicht außerhalb der Episteme ihrer Gegenwartsgesellschaft gestellt werden kann, sondern lediglich versucht, die Wirkungen anhand eines konkreten Beispiels, der Individuellen Hilfeplanung, zu beschreiben, wird hier der Begriff ‚geistige Behinderung’ weiter verwendet. Es wird dabei nicht der Anspruch erhoben, damit ‚Wahrheit’ über die so bezeichneten Menschen zu sprechen, sondern vielmehr eine gesellschaftliche Wirklichkeit zu beschreiben, die sich in konkreten Lebensbedingungen beispielsweise im Lebensbereich ‚Wohnen’ zeigt. 2.2 Qualitative Bestimmungen 2.2.1 Erwachsenenalter Im juristischen Sinn werden Personen mit dem Ende des 18. Lebensjahres volljährig (§ 2 BGB). Diese Grenze weist zwar eine gewisse ‚Flexibilität’ auf, die dem Umstand Rechnung trägt, dass individuelle Entwicklungsprozesse nicht gleichförmig und individuell unterschiedlich verlaufen. So kann im Strafrecht zwischen dem 19. und 21. Lebensjahr noch das Jugendstrafrecht angewendet werden, ebenso gibt es nach § 41 SGB VIII die Möglichkeit, junge Erwachsene bis in das 21. Lebensjahr durch Leistungen der Kinder- und Jungendhilfe zu unterstützen. Viele Volljährige, die als geistig behindert bezeichnet werden, erhalten zudem eine gesetzliche Betreuung, zu der vom zuständigen Amtsgericht ein Angehöriger (häufig ein Elternteil), eine private Vertrauensperson, ein Mitglied eines Betreuungsvereins oder ein beruflicher Betreuer bestellt werden kann. Im Hinblick auf den Lebensbereich Wohnen hat diese Einschränkung der Rechte des behinderten Erwachsenen zu seinem eigenen Schutz eine besondere Bedeutung, da die gesetzliche Betreuung auch die Bestimmung des ‚gewöhnlichen Aufenthalts’, also des Lebensortes beinhalten kann und häufig beinhaltet. Die Person ist also nicht frei in ihrer Entscheidung, wie sie leben möchte, sondern abhängig von der Entscheidung des/der gesetzlichen Betreuers/in. Dabei ist allerdings dieser/diese verpflichtet, im Sinne der Person zu entscheiden. Trotz dieser Einschränkungen stellt die Volljährigkeitsgrenze aber eine relativ präzise Abgrenzung für das gesamte Sozialleistungsrecht und die Bevölkerungsstatistik dar. Im Rahmen von Zuständigkeitsfragen für Sozialleistungen wird in der Regel das erwerbsfähige Alter (18–65 Jahre) beispielsweise für die Abgrenzung von Leistungen nach dem SGB VIII (Kinder- und Jungendhilfegesetz) oder den Leistungen der Altenhilfe (SGB XII) als Orientierungslinie herangezogen. Als soziologische Kategorie ist nach Hurrelmann das Erwachsenenalter als jene Folgephase nach der Jugendphase im Alter von ca. 20–25 Jahren zu beschreiben, in welcher der Mensch einen vollständigen oder zumindest weitreichenden Grad an Autonomie erreicht hat (vgl. 2005, 36). Dabei ist der Grad der Verselbständigung in zwei Lebensbereichen entscheidend: Zum einen soll der Bereich der schulischen und anschließend beruflichen Ausbildungsverhältnisse verlassen werden und der Übertritt in den Berufs- und Erwerbstätigkeitssektor vorgenommen sein. Zum anderen wird der Auszug aus dem Elternhaus und das Eingehen einer festen Partnerschaft und die Gründung einer eigenen Familie
2.2 Qualitative Bestimmungen
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als Markierungspunkt für das ‚Erwachsen sein’ von Hurrelmann bestimmt (vgl. a.a.O., 36). Beide Merkmale sind hier aber wenig aufschlussreich. Der Statusübergang von der Schule in das Erwerbsleben erscheint zunächst als eine sinnvolle soziologische Kategorie, um den Eintritt in das Erwachsenenalter zu bestimmen. Andererseits erschwert dieser individuelle Faktor die Anwendung sozialstatistischer Datensätze, da der Berufsstatus in der Sozialstatistik nicht miterfasst wird. Zudem weist Hurrelmann darauf hin, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene erst in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahrzehnts, später oder auch nie (z.B. aufgrund von Arbeitslosigkeit) diese Entwicklungsaufgabe der ökonomischen Selbstversorgung erfüllen können (vgl. a.a.O., 37). Zudem sind Beschäftigte der Werkstatt für behinderte Menschen zwar erwerbstätig, aber eben nicht in der Lage, sich ökonomisch selbst zu versorgen, sondern auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen. Damit wird die Funktion dieses Statusübergangs nicht erfüllt. Zudem sei auf Menschen mit komplexen Behinderungen hingewiesen, die als nicht erwerbsfähig gelten und in einer tagesstrukturierenden Maßnahme (oder auch ohne Tagesstruktur und zweiten Lebensbereich neben der Wohnung) beschäftigt werden. Der Auszug aus dem Elternhaus ist als Merkmal des Erwachsenenalters ebenfalls nur begrenzt aussagekräftig, da er nicht nur für junge Erwachsene mit Behinderungen keinen zwangsläufigen Schritt darstellt. Viele junge Erwachsene verbleiben über einen längeren Zeitraum im Elternhaus und ziehen erst später in eine eigene Wohnung oder in eine Wohngemeinschaft. Lebten 1972 20% der 25-Jährigen im früheren Bundesgebiet (einschließlich Berlin-West) noch bei den Eltern, waren es 2005 deutlich mehr, nämlich 29% (Statistisches Bundesamt 2006, 54). Im Hinblick auf den Auszug von jungen Erwachsenen mit Behinderungen ist hier allerdings auch ein umgekehrter Trend zumindest als Einstellungswandel zu beobachten: Der Verbleib im Elternhaus wurde lange von den Eltern bevorzugt und ein Umzug in eine Einrichtung nur dann in Erwägung gezogen, wenn die familiären Belastungen durch den Unterstützungsbedarf des Kindes nicht mehr ausreichend kompensiert werden konnten. So stellten Wacker et al. 1998 fest, dass der Einzug in eine stationäre Wohneinrichtung häufig aus einer Notsituation heraus, aber nur selten auf Wunsch der behinderten Person erfolgt (vgl. Wacker/ Wetzler/ Metzler/ Hornung 1998, 110 f). Zunehmend äußern Eltern und junge Erwachsene aber auch den Wunsch, dass der behinderte Mensch ein Leben ‚so normal wie möglich’ führen soll. Dies beinhaltet dann auch den als ‚normal’ empfundenen Auszug in eine Wohngemeinschaft oder Wohneinrichtung, aber auch in eine eigene Wohnung. Auch das Merkmal der Partnerschaft und Familiengründung besitzt nur begrenzte Aussagekraft für die hier fokussierte Personengruppe. Die Pluralisierung der Lebensformen führt gesamtgesellschaftlich dazu, dass eine heterosexuelle Partnerschaft, die meist in die Familiengründung mündet, nicht mehr als die einzige akzeptierte Lebensform des Erwachsenenalters gilt. Während eine Partnerschaft zunehmend akzeptiert wird, wird Menschen mit einer geistigen Behinderung insbesondere die Realisierung eines Kinderwunsches häufig von ihrem sozialen Umfeld verwehrt (vgl. Pixa-Kettner 2008; Walter 2005; PixaKettner/ Bargfrede/ Blanken 1996). An der zentralen Aufgabe des Erwachsenenalters, die biologische und soziale Reproduktion der Gesellschaft dürfen Menschen mit einer geistigen Behinderung somit oftmals nicht teilhaben. Neben den beiden Hauptfaktoren der beruflich-ökonomischen Selbständigkeit und der Aufbau einer festen Partnerbeziehung sind nach Hurrelmann ein hoher Grad an Selbstständigkeit der eigenen Verhaltenssteuerung im Bereich des Konsums und der Freizeitgestal-
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2 Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘
tung, sowie das Vorhandensein eines Wert- und Normensystems für verantwortliches und gemeinnütziges Handeln sowie politische Partizipation für das Erwachsenenalter bestimmend (vgl. Hurrelmann 2005, 33 f). Dabei ergibt sich insbesondere im Konsum- und Freizeitbereich das Problem, dass die Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung oftmals in besonderer Weise durch institutionalisierte Settings und pädagogisch/therapeutische Angebote bestimmt sind. Deshalb muss nach Markowetz von einem multifaktoriellen Wirkungszusammenhang ausgegangen werden, in dem Behinderungsfolgen, individuelle Entwicklung, materiale und soziale Umweltbedingungen die Möglichkeiten bestimmen, inwiefern eine Person in die Lage versetzt wird, eine selbstbestimmte Freizeitgestaltung vorzunehmen (vgl. Markowetz 2007, 316). Auch die Beteiligung an gemeinnützigen Tätigkeiten und politischer Partizipation kann deshalb letztlich nicht als alleiniger Ausdruck des individuellen Vermögens und Könnens gesehen werden, sondern muss vor dem Hintergrund von Barrieren und Beteiligungschancen durch das soziale Umfeld reflektiert werden. Es zeigt sich also, dass allgemein definierte Entwicklungsaufgaben des Erwachsenenalters kaum geeignet sind, Aussagen über das ‚erwachsen sein’ von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu treffen, weil sie von den typischen Lebensbedingungen nicht behinderter Erwachsener ausgehen und einen Grad von Selbständigkeit unterstellen, den nicht alle Menschen erreichen können. Die oft lebenslange Angewiesenheit auf z.T. umfassende Unterstützung in schwerwiegenden Lebensentscheidungen ebenso wie in der Gestaltung des Alltags stellt eine Besonderheit des Erwachsenenalters derjenigen Menschen dar, die in dieser Studie als geistig behindert bezeichnet werden. Junge Erwachsene mit einer geistigen Behinderung sehen sich zudem oftmals sozialen Bedingungen gegenüber, die ihnen das Erreichen der Entwicklungsaufgaben erschweren und die oftmals dadurch entstehen, dass ihnen die erfolgreiche Bewältigung der Aufgaben nicht zugetraut oder nötige Unterstützung nicht berücksichtigt wird. 2.2.2 Unterstütztes Wohnen Im Allgemeinen werden institutionelle Wohnformen von Menschen mit Behinderungen in vollstationäre, teilstationäre und ambulante Wohnformen unterschieden. Dworschak erläutert, dass stationäre Wohnformen Betreuung, Begleitung und Hilfe ‚rund um die Uhr‘ anbieten (Dworschak 2004, 20), d.h. den betreffenden Personen Wohnraum und Unterstützung in einem ‚Gesamtpaket‘ anbieten. Vollstationäre Einrichtungen (häufig als Wohnheime bezeichnet) bieten dabei Unterstützung in allen Lebensbereichen an, d.h. es gibt Angebote für Wohnen, Arbeit und Freizeit in einem organisationalen Zusammenhang. Teilstationäre Wohneinrichtungen (oftmals als Wohnstätten bezeichnet) beschränken ihr Angebot dagegen auf die Bereitstellung von Wohnraum und alle Hilfen, die die Gestaltung des Alltags im Zusammenhang mit dem Wohnen betreffen. Dworschak weist darauf hin, dass diese Einrichtungen dann häufig den Besuch einer externen Werkstatt oder Tagesstruktur als Aufnahmekriterium voraussetzen (vgl. a.a.O., 20). Ambulante Wohnformen seien dagegen solche, so der Autor weiter, in denen die behinderte Person Mieterin oder Untermieterin einer eigenen Wohnung ist und darüber hinaus stundenweise Unterstützung durch einen Dienst erhält (vgl. a.a.O., 21). Das Feld des unterstützten Wohnens für Menschen mit einer geistigen Behinderung hat sich aber insgesamt in den vergangenen zwei Jahrzehnten in
2.2 Qualitative Bestimmungen
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dramatischer Weise in eine Vielzahl von Unterstützungsformen differenziert (vgl. BT-Drs. 15/4575, 127). Deshalb erscheint es notwendig, etwas genauer zu beschreiben, welche Angebote sich heute hinter der Unterscheidung von ambulanten und stationären Wohnformen verbergen: Stationäre Wohnsettings sind noch immer die dominante institutionelle Wohnform von Menschen mit einer Behinderung (vgl. Abschnitt 2.3.2). Bereits Mitte der 1990er Jahre zeigte aber eine repräsentative Umfrage bei Anbietern stationärer Hilfen (vgl. Wacker et al. 1998) eine große Bandbreite von Angeboten, auch wenn solche, die als ‚vollstationär‘ bezeichnet werden können, in der Quantität damals deutlich überwogen:
Wohnform für WfB-Beschäftigte oder anders Erwerbstätige, Wohnen mit sonstiger Beschäftigung oder Förderung außerhalb, Wohnen mit integrierter Beschäftigung/ Förderung, Wohnen mit ganztägigem Pflegeangebot, Außenwohngruppen Wohnen für Besucher von Bildungsstätten (Internate), Wohngemeinschaften, Betreutes Einzelwohnen/ Paarwohnen, Trainingswohngruppen/-plätze, Dorf-/Stadtgemeinschaften, Servicehaus, Feierabendheim Sonstiges (nach: Wacker et al. 1998, Tabelle 2.10 und Tabelle 2.12; Daten aus: FST „Lebenswelten behinderter Menschen“ Uni Tübingen, MUG II, 1996).
Die Autoren einer Trägerbefragung in NRW bilanzieren, dass „mit dem sprunghaft steigenden Ausbau von stationären Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung seit den 80er Jahren eine Pluralisierung der Trägerlandschaft und eine Verkleinerung der Einrichtungen einher geht. Von Ausnahmen abgesehen sind nicht mehr Großeinrichtung dominant, sondern kleine bis mittelgroße Wohngebäude, die, auch wenn sie unter dem Dach einer Einrichtung zusammengehaltenwerden, räumlich entzerrt sind.“ (Schwarte/ Schädler, o.J. 106) In NRW bewohnen fast drei Viertel der stationär betreuten behinderten Menschen ein Einzelzimmer, ein weiteres Viertel lebt in Doppelzimmern. In Einzelfällen sind aber auch noch Drei-Personenzimmer zu finden (vgl. ebd). Obwohl immer häufiger kleine Gruppen und auch Einzel- oder Paarwohnungen in stationären Kontexten zu finden sind, ist das gruppengegliederte Wohnen in Gruppen mit 8–11 Personen noch immer die dominante Wohnform (Schwarte/ Schädler o.J., 107). Wacker u. a. betonen in ihrer Studie, dass ein nicht unerheblicher Anteil an Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen spezifische Aufnahmekriterien formulieren, wie z.B. Werkstattfähigkeit, ein gewisses Maß an körperlicher Mobilität, kein oder geringer Hilfebedarf im Bereich der Aktivitäten des täglichen Lebens oder nur geringer Bedarf an Pflegeleistungen. Knapp die Hälfte der befragten Einrichtungen sah sich in den 1990er nicht in der Lage, Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Problemen aufzunehmen (Wacker et al. 298 f). Andererseits sind in den vergangenen Jahren spezielle Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Behinderungen entstanden (vgl. BMFSFJ 2006, 233) die allerdings im Hinblick auf die Lebensqualität der Bewohner/innen eher kritisch zu
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2 Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘
bewerten sind (vgl. Seifert 2008). Spezifische lebenslaufbezogene Bedarfe, wie die von Senioren/innen mit geistiger Behinderung (BAGüS 2006) oder Eltern mit geistiger Behinderung (Pixa-Kettner 2008; Bundesregierung 2006, 224 f) spielen zunehmend eine Rolle in der Frage der konzeptionellen Ausgestaltung stationärer Wohnangebote, auch wenn gesicherte Daten hierzu aktuell nicht vorliegen. Auch der Bereich der ‚ambulanten Angebote‘ stellt sich empirisch sehr heterogen dar. Aktuelle Schätzungen deuten darauf hin, dass trotz der zunehmenden Tendenz, dass auch geistig behinderte, junge Erwachsene aus dem Elternhaus ausziehen (vgl. Abschnitt 2.2.1), noch ungefähr die Hälfte der geistig behinderten Erwachsenen in der Herkunftsfamilie lebt (Bultmann 2006, 13; Hennies/ Kuhn 2004, 13 etwas älter: Hartema 1997, 17). Entsprechende Unterstützungsstrukturen müssen deshalb auch an der Stabilisierung der Familien ansetzen (vgl. Stamm 2009). Ambulante Assistenzdienste und familienentlastende oder familienunterstützende Dienste betreuen Erwachsene mit einer geistigen Behinderung nicht nur in der eigenen Wohnung, sondern auch im Elternhaus, sofern hier eine Unterstützung mit dem Ziel eines selbstbestimmten Lebens gewünscht und ermöglicht wird. Zudem entwickeln sich Formen integrativer Wohngemeinschaften. So genannte ‚Gastfamilien’ nehmen Erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung in der eigenen Wohnung auf und erhalten ähnlich wie Pflege-Familien im Bereich der Kinder- und Jungendhilfe dabei Unterstützung und Beratung durch einen Fachdienst. Wacker u. a. listen zudem Arbeitsassistenz, Frühförderung und -beratung, Individuelle Schwerbehindertenbetreuung, Erwachsenenbildung, Nachgehende Fürsorge und Mobile soziale Dienste als ambulante Hilfen auf (Wacker et al. 1998, 54). Beratungs- und Freizeitangebote komplettieren das Bild. Auch ambulante Angebote beziehen sich also nicht automatisch nur auf den Lebensbereich Wohnen, weshalb Rohrmann und Schädler (2004) den Begriff ‚offene Hilfen‘ vorziehen (zur Vielfalt Offener Angebote vgl. auch Hamel/ Windisch 2000, Abb. 3, 25). „Offene Hilfen werden als Oberbegriff verstanden für Hilfen, die Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Sie unterstützen behinderte Menschen dabei, Entscheidungen über Hilfeformen zu treffen und stärken ihre Regiekompetenz bei der Inanspruchnahme von Hilfen.“ (Rohrmann/ Schädler 2004, 221) Da sie ihrer Struktur nach kein feststehendes Angebot, sondern eher einen organisationalen Rahmen für individuell ausgerichtete Hilfen darstellen, werden für offene Hilfen in der Regel keine ‚Plätze‘ angegeben, was verlässliche statistische Aussagen erschwert (vgl. Abschnitt 2.3.4). Nicht nur die Vielfalt der Angebote, sondern auch die verschwimmenden Grenzen zwischen ambulanten und stationären Trägern deuten deshalb darauf hin, dass eine Trennung in ambulant, teilstationär und stationär empirisch immer schwieriger wird (Schädler/ Rohrmann/ Schwarte et al 2008, 231). Im gesamten Bundesgebiet sind 990 Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege bekannt, die sowohl stationäre, wie auch ambulante Angebote für Menschen mit Behinderungen anbieten, während nur 367 ‚reine‘ ambulante Dienste Mitglieder der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege sind (vgl. BAGFW 2006, 43). 78% der beteiligten Träger (N=201, n=158) einer Befragung in NordrheinWestfalen bieten gruppengegliedertes stationäres Wohnen an (vgl. Schwarte/ Schädler o.J., 105). Etwa die Hälfte der Träger bietet Außenwohngruppen an und 16% dezentrales stationäres Einzelwohnen (vgl. Schwarte/ Schädler o.J., 108). Umgekehrt machten 72% der befragten Anbieter ambulanter Hilfen (N=104) auch stationäre Wohnangebote für Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Beeinträchtigung. 60% der befragten ambulanten Träger mieten selbst Wohnungen für die unterstützten Personen an (vgl. Schwarte/ Schädler o.J.,
2.2 Qualitative Bestimmungen
37
108). Einerseits ist diese Entwicklung dem Umstand geschuldet, dass der freie Wohnungsmarkt nicht ausreichend barrierefreie Wohnungen bereit hält. Ambulante Dienste versuchen deshalb in Kooperation mit Wohnungsbaugenossenschaften, Wohnraum für behinderte Mieter zur Verfügung zu stellen, um ihnen überhaupt einen Zugang zum Wohnungsmarkt zu verschaffen. Durch die Anmietung von Wohnungen in einem kleineren Umkreis soll den Nutzer/innen zudem die Möglichkeit für private Treffen und Austausch geschaffen werden. Andererseits kann die Bündelung von Wohnungen auch aus Kostengründen motiviert sein, weil dadurch die ‚Wegezeiten‘ von Mitarbeiter/innen reduziert werden können. Die Landesgesetzgeber reagieren zum Teil in den Landesheimgesetzen auf diese Entwicklung, dass sich ambulante Angebote strukturell einem stationären Setting annähern, aber auch umgekehrt stationäre Angebote immer mehr Merkmale klassischer ambulanter Angebote aufweisen 3: Die Frage, ob ein Angebot unter das Heimgesetz fällt, wird künftig voraussichtlich von zwei Faktoren abhängig sein (vgl. z.B. Landesheimgesetz NRW): Erstens spielt die organisationale Größe eine Rolle, so dass mehrere, von einem ambulanten Dienst als Hauptmieter angemietete Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus als stationäre Wohneinrichtung gelten können, weil sie einen organisationalen Zusammenhang darstellen. Zweitens spielt die Frage der Bedeutung der Betreuungsleistung eine Rolle. So kann auch bei getrennten Miet- und Betreuungsverträgen ein Angebot dann als stationäres Angebot nach dem jeweiligen Landesheimgesetz gelten, wenn die Betreuungsleistung wesentlich ist und die Person keine realen Wahlmöglichkeiten hat, einen anderen Dienst für die Betreuung zu beauftragen. Schädler hat allerdings schon 2004 darauf hingewiesen, dass nicht nur strukturelle Fragen wohnbezogener Hilfen zu diskutieren sind, sondern vielmehr ein soziologischer Institutionenbegriff den Veränderungen der Angebotslandschaft zu Grunde gelegt werden muss, der vor allem auf Veränderung der Interaktionsregeln abzielt (vgl. Schädler 2004, 3). So können durchaus in ambulanten Settings Interaktionsregeln und institutionalisierte Umgangsformen installiert werden, die denen früherer Wohnheime entsprechen (z.B. zentral organisierte Versorgungsleistungen, Dusch- und Badepläne, einheitliche zu-Bett-gehZeiten, Gruppenaktivitäten in der Freizeit). Umgekehrt lassen sich auch in stationären Wohnsettings bis zu einem gewissen Grad Interaktionsregeln und Umgangsformen typisch ambulanter Settings etablieren (z.B. selbst zubereitete Hauptmahlzeiten, individualisierte Tagesstruktur und Regeln, Eins-zu-Eins Betreuung). (Vgl. auch Schwarte/ Schädler o.J.; Schädler/ Rohrmann/ Schwarte et al. 2008, 231) Auch eine aktuelle Studie von HanslmeierProckl zeigt, dass die Veränderung organisationaler Rahmenbedingungen nicht allein die Umsetzung der Gesetzesziele von Selbstbestimmung und Teilhabe zu realisieren vermag. Sie bilanziert im Hinblick auf die gegenwärtige Situation in Bayern: „Mit dem Ambulant betreuten Wohnen ist Integration zwar räumlich und auch funktional gegeben. Soziale Integration ist jedoch eher selten anzutreffen.“ (Hanslmeier-Prockl 2009, 229) Insofern erscheint es künftig umso notwendiger, nicht nur die strukturellen Bedingungen des Wohnens, sondern vielmehr die pädagogischen Konzepte und Interaktionsformen in den Blick zu nehmen und hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Wohnformen im Hinblick auf die passgenaue Unterstützung der Nutzer/innen herauszuarbeiten (vgl. Schwarte 2005, 17), die jenseits einer formalen Auflösung der Trennung von ambulant und stationär liegen.
3
Auch die Diskussionen um die ‚Zukunft der Eingliederungshilfe‘ wird zunehmend mit der Forderung verknüpft, die klassische Trennung von ‚ambulant und stationär‘ aufzulösen.
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2 Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘
2.3 Quantitative Bestimmungen 2.3.1 Schwerbehindertenstatistik Zum Jahresende 2007 waren 6,9 Millionen Menschen (8,45 % der Gesamtbevölkerung) in Deutschland als schwerbehindert anerkannt. Über die Auskünfte der Versorgungsämter lässt sich aber insgesamt nur eine ungefähre Einschätzung vornehmen, wie viele Personen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland tatsächlich als geistig behindert bezeichnet werden können. Es ist davon auszugehen, dass es eine Dunkelziffer von Personen gibt, die keinen Schwerbehindertenausweis beim Versorgungsamt beantragt haben, sei es aus Unwissenheit über die damit verbundenen Nachteilsausgleiche, aus Scham oder weil die zu erwartenden Nachteilsausgleiche in keinem angemessenen Verhältnis zum tatsächlichen Bedarf stehen. Von allen als schwerbehindert anerkannten Personen in Deutschland werden 9,9% (271.443 Personen) als geistig oder lernbehindert behindert bezeichnet (davon bei 149 922 Personen angeboren) (Bundesamt für Statistik 2009b, Tabelle 8). Geistige Behinderung liegt im Mittelfeld der Verbreitung vorrangiger Behinderungsarten (vgl. statistisches Bundesamt 2009b 5). Dabei ist der Personenkreis der Menschen mit einer anerkannten geistigen Behinderung in den vergangenen Jahren angewachsen (vgl. Tab. 2). Der Altersaufbau der Personengruppe der Menschen mit einer geistigen Behinderung ist nicht nur zum Altersaufbau der Bevölkerung der Bundesrepublik insgesamt verschieden (vgl. Statistisches Bundesamt 2008a, 12), sondern auch zum Altersaufbau der Gesamtgruppe der als schwerbehindert anerkannten Personen. Von allen als schwerbehindert anerkannten Personen in Deutschland war Ende 2007 weniger als die Hälfte (ca. 43%, 3.001.957 Personen) im erwerbsfähigen Alter von 18–65 Jahren (vgl. a.a.O., Tabelle 16). Der Großteil aller als schwerbehindert anerkannten Personen war bereits im Rentenalter (vgl. a.a.O., 5), so dass von einem nicht unerheblichen Anteil von altersbedingten Behinderungen ausgegangen werden muss. Im Vergleich dazu waren aber 78% (210.600 Personen) der als geistig behinderten Personen Ende 2007 im erwerbsfähigen Alter. Dass vergleichsweise wenige Personen mit einer geistigen Behinderung im Rentenalter sind, lässt sich vor allem mit den Folgen des nationalsozialistischen Regimes und den Gesetzen zur ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ erklären, die nur wenige Personen mit einer geistigen Behinderung überlebt haben. Eine weitere Erklärung liegt darin, dass es sich bei einer geistigen Behinderung häufiger als bei anderen Behinderungsarten nicht um im Laufe des Lebens erworbene Beeinträchtigungen handelt, sondern diese durch genetische Abweichungen oder, durch prä-, peri-, oder postnatale Schädigungen bedingt sind. Zum Teil mögen auch eine schlechtere medizinische Versorgung als bei der nicht-behinderten Bevölkerung, sowie eine geringere Lebenserwartung in Folge der jeweiligen Beeinträchtigung eine Rolle spielen (vgl. Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe 2001; Cichon 2004; Klinkhammer 2009). Die in der Schwerbehindertenstatistik vorgenommene Zuordnung zu Beeinträchtigungsformen bezieht sich auf die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (SGB IX, Teil 2), also einem medizinischen Kategoriensystem. Die Kategorien sollen die „Erscheinungsform der Behinderung und der durch sie bestimmten Funktionseinschränkung (z.B. funktionelle Veränderung an den Gliedmaßen)“ systematisieren und den ‚Grad der Behinderung’ (GdB)
2.3 Quantitative Bestimmungen
39
bestimmen. Mit der neuen Versorgungsmedizin-Verordnung (Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes – VersMedV) wurden zum 01.01.2009 die bis dahin gültigen ‚Anhaltspunkte’ abgelöst. Der neue Maßstab für soziale Entschädigungen nach der VersMedV, der ‚Grad der Schädigungsfolgen’ (GdS), gibt nun das Ausmaß körperlicher, geistiger, seelischer und sozialer Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens an (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Referat Information, Publikation, Redaktion 2009, 18). Damit wird der Fokus stärker von den Schädigungen selbst auf die Funktionsbeeinträchtigungen als Schädigungsfolgen gesetzt. Die Kritik von Beck bleibt auch mit der neuen Verordnung gerechtfertigt, dass die Schwerbehindertenstatistik mit „der medizinisch festzustellenden Abweichung von einer für das Lebensalter typischen Funktionsfähigkeit stark schädigungsbezogen“ (Beck 2003, 857; vgl. auch Rohrmann, E. 2008, 406) sei. Sie fokussiere zudem einseitig die Teilhabe am Erwerbsleben. „So verkürzt sich Behinderung und die Gewichtung ihrer Schwere zu stark auf funktionale Leistungsfähigkeit; die gesetzlichen Teilhabeleistungen stellen vorrangig auf die berufliche Eingliederung (und Eingliederungsfähigkeit) mit negativen Folgen für die Partizipationsansprüche dauerhaft nicht oder noch nicht ‚Erwerbsfähiger‘ ab.“ (a.a.O., 406) Die Schwerbehindertenstatistik fragt also nicht danach, in welcher Weise die Teilhabechancen der Person aufgrund der Funktionsbeeinträchtigung behindert werden (z.B. im Sinne des Behinderungsverständnisses der ICF). Im Hinblick auf einen vergleichbaren Bedarf an Hilfe und Unterstützung können diese Statistiken also keine Auskunft geben. Dass es sich aber bei Menschen mit einer geistigen Behinderung um einen Personenkreis handelt, der möglicherweise besonders auf Hilfen zur Teilhabe angewiesen ist, zeigt der Aspekt, dass bei 64 % der Menschen mit einer geistigen Behinderung der anerkannte Grad der Behinderung bei 80 und höher liegt. Tabelle 2: Entwicklung der Anerkennung von Behinderungen (Quelle: Statistisches Bundesamt 2009b, 23) Störungen der geistigen Entwicklung Veränderungsrate Insgesamt Veränderungsrate
1995
1997
1999
2001
2003
2005
2007
225.892
238.062
236.293
253.373
259.165
263.823
271 .443
+ 5,4
- 0,7
+ 7,2
+ 2,3
+ 1,8
+ 2,9
6.621.157
6.633.466
6.711.797
6.638.892
6.765.355
6.918.172
+ 1,9
+ 0,2
+ 1,2
- 1,1
+ 1,9
+ 2,3
6.496.533
2.3.2 Eingliederungshilfestatistik Da im Sinne des Gesetzes nur diejenigen als behindert gelten, die nicht nur dauerhaft in ihrer Gesundheit eingeschränkt sind, sondern dadurch auch Beeinträchtigungen ihrer Teilhabe erleben, lässt sich argumentieren, dass die Sozialstatistik des Statistischen Bundesamtes einen guten Indikator für die Teilhabe behinderter Menschen darstellt. Sie erfasst nur diejenigen Personen, deren Beeinträchtigung der Teilhabe so groß ist, dass sie die besonde-
40
2 Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘
ren Hilfen des Staates für Menschen mit Behinderungen in Anspruch nehmen müssen. Die Sozialhilfestatistik stellt wichtige Informationen zur Verfügung, da in ihr die Ausgaben der Länder und Kommunen für die Hilfen beim Wohnen und Anzahl der Fälle ermittelt werden. Sie kann einen Eindruck von der Entwicklung des Verhältnisses ambulanter und stationärer Hilfen beim Wohnen für Menschen mit Behinderungen insgesamt liefern. Im Jahr 2007 erhielten nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes 39% (264.000 Personen) aller Empfänger/innen von Eingliederungshilfe Leistungen zum betreuten Wohnen (Statistisches Bundesamt 2009a, 12, Angaben ohne Bremen). In Hamburg, NordrheinWestfalen, Hessen und Berlin erhielten sogar mehr als die Hälfte der Empfänger von Eingliederungshilfen Hilfen zum betreuten Wohnen (Hessen: 66%, Nordrhein-Westfalen: 56%, Hessen: 54%, Berlin: 53%) (vgl. 20). Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten sind damit mit 31% die am häufigsten gewährte Hilfeform der Eingliederungshilfe (vgl. Abb. 1). Abbildung 1:
Einzelleistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen im Laufe des Jahres 2007 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2009a, 13; Gesamtprozente von 101% ergibt sich aus der Rundung der Einzelprozente)
Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung 7%
Leistungen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen 27%
Sonstige Leistungen der Eingliederungshilfe 10% Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten 31%
Heilpädagogische Leistungen für Kinder 15% Andere Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft 11%
Von den bundesweit 264.000 Personen, die 2007 Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten erhielten, lebten 176.000 Personen (§ 66,6 %) in einer teilstationären oder stationären Wohneinrichtung, 82.000 Personen (§ 31 %) wurden in der eigenen Wohnung ambulant betreut und 11.000 (§ 4,2 %) Personen lebten in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft (vgl. Statistisches Bundesamt 2009a, 12). Dabei ist die heutige Situation nur der vorläufige Höhepunkt einer langen Entwicklung: Von 1963–1990 war auf dem Gebiet der BRD die Zahl der Empfänger/innen von Eingliederungshilfen von 58.000 auf 290.000 Personen kontinuierlich angestiegen. Dieser Trend setzte sich auch nach der Wiedervereinigung fort (von 324.000 Personen im Jahr 1991 auf 643.000 Personen im Jahr 2006) (vgl. Statistisches Bundesamt 2008b, 5). Auch
2.3 Quantitative Bestimmungen
41
im Hinblick auf die Kosten nehmen die Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten eine besondere Position ein. Abbildung 2: Bruttoausgaben der Eingliederungshilfe für Menschen im Laufe des Jahres 2007 (Quelle: Statistisches Bundesamt 2009a, 16; Gesamtprozente von 101% ergibt sich aus der Rundung der Einzelprozente)
Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung 7%
Sonstige Leistungen der Eingliederungshilfe 9%
Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten 46%
Leistungen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen 27%
Andere Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft 4%
Heilpädagogische Leistungen für Kinder 8%
Von den rund 11,9 Mrd. Euro Bruttoausgaben der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen entfällt der größte Teil auf Ausgaben für ambulant betreutes, teilstationäres und stationäres Wohnen, nämlich 46% (5,5 Mrd. Euro) (vgl. 15 f). Auch die durchschnittlichen Ausgaben pro Hilfeempfänger (ambulant betreutes Wohnen 7.842 Euro, teilstationäres und stationäres Wohnen 20.799 Euro) lagen bei den Hilfen in betreuten Wohnmöglichkeiten etwas höher als die durchschnittlichen Ausgaben pro Hilfeempfänger in der Eingliederungshilfe generell (außerhalb von Einrichtungen 5.206 Euro, innerhalb von Einrichtungen 20.080 Euro) (vgl. 17 f). Damit liegt der Anteil der Ausgaben für das betreute Wohnen an den Ausgaben für die Eingliederungshilfe insgesamt erheblich höher als der Anteil der Leistungsfälle für das betreute Wohnen an der Gesamtzahl der Eingliederungshilfefälle. Auch im Hinblick auf die Ausgabenentwicklung lässt sich in den vergangenen Jahrzehnten eine deutliche Steigerung ausmachen: Leistungen zur Eingliederungshilfe machen heute 58% der gesamten Sozialhilfeausgaben aus; 1963 waren es lediglich 5% (vgl. Statistisches Bundesamt 2008b, 5 f). Von 46 Millionen Euro im Jahr 1963 stiegen die Bruttoausgaben für die Eingliederungshilfe bis zum Jahr 2006 auf 11,8 Milliarden Euro. Allein 5,1 Milliarden Euro (43%) davon machen die Hilfen zu einem selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten (Heimkosten und Kosten für ambulant betreutes Wohnen) aus
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2 Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘
(vgl. Statistisches Bundesamt 2008b, 14 f). Obwohl die Ausgaben für ambulante Hilfen im Bereich des Wohnens nach wie vor deutlich geringer sind, als die für stationäre Hilfen, zeigt sich, dass die durchschnittlichen Ausgaben je Hilfeempfänger für ambulante Hilfen in den letzten Jahren erheblich stärker angestiegen sind (+44% von 1996–2006), als die durchschnittlichen Ausgaben für stationäre Hilfen (+11% von 1996–2006) (vgl. Statistisches Bundesamt 2008b, 16). Im Ländervergleich zeigen sich erhebliche Unterschiede (vgl. Tab. 3). „Während in allen anderen Bundesländern Hilfen in stationären Wohnmöglichkeiten („Heimen“) überwogen, war allein in Berlin der Anteil der ambulant betreut Wohnenden (in einer eigenen Wohnung bzw. in einer Wohngemeinschaft) höher: 30% aller EingliederungshilfeEmpfänger wohnten dort ambulant betreut, lediglich knapp ein Viertel in einer Wohneinrichtung“ (Statistisches Bundesamt 2009a, 20). Sowohl in der Gesamtsumme, wie auch pro Hilfeempfänger hat Nordrhein-Westfalen im Ländervergleich die höchsten Ausgaben zu verzeichnen (vgl. ebd.). Tabelle 3: Empfänger/innen von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach Ländern und ausgewählten Leistungsarten (Quelle: Statistisches Bundesamt 2009a, Tabellenanhang L2)
1) Werte OHNE Bremen. Aufgrund eines Softwareproblems konnte Bremen für 2007 nur Eckdaten liefern. 2) Mehrfachzählungen, soweit erkennbar, ausgeschlossen.
Allerdings weist auch die Sozialhilfestatistik, ebenso wie die Schwerbehindertenstatistik erhebliche Defizite auf: Nicht erfasst werden in der Sozialhilfestatistik Personen, deren Beeinträchtigung durch Hilfen aus dem privaten Bereich vollständig kompensiert werden. Auch Personen, die aus anderen Gründen keine staatlichen Hilfen in Anspruch nehmen wollen oder können und so genannte ‚Selbstzahler’, deren Einkommen (oder das ihrer Angehörigen) die Einkommensgrenzen für einen Anspruch auf Sozialhilfe übersteigen, werden nicht erfasst. Deshalb geben die Daten der Sozialhilfestatistik nur Antworten auf die Frage, wie viele Personen in Deutschland staatliche Transferleistungen für eine Unterstützung beim Wohnen erhalten. „Über die Zahl und Teilhabe derjenigen behinderten Men-
2.3 Quantitative Bestimmungen
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schen, die keine behindertenspezifischen Hilfen in Anspruch nehmen, ist nichts bekannt“ (Cloerkes 2007, 47). Auch im Hinblick auf die Art des Hilfebedarfs oder die soziale Lage der Personengruppen, die in Einrichtungen leben oder ambulant betreut werden, gibt die Sozialhilfestatistik kaum Auskunft. Der Anteil der Männer ist höher als der Anteil von Frauen (knapp 60% aller Hilfeempfänger), die Hilfen zu selbständigem Wohnen erhalten, doch bleibt dieses Verhältnis über die verschiedenen Hilfeformen weitgehend konstant, so dass keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Hilfeform sicher festgestellt werden könnten (vgl. Statistisches Bundesamt 2008b, Anhang D3). 47% aller Leistungsempfänger außerhalb von Wohneinrichtungen sind zudem minderjährig, während dieselbe Altersgruppe in stationären Einrichtungen nur 19% ausmacht. Je älter die Personen sind, desto größer ist also die Wahrscheinlichkeit einer stationären Hilfeform (vgl. Statistisches Bundesamt 2008b, Anhang D3). Es werden allerdings keine behinderungsspezifischen Unterscheidungen getroffen. 2.3.3 Daten der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger Auch eine Mitgliederbefragung der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) Anfang 2006 bestätigt den Eindruck der länderspezifischen Unterschiede und ermöglicht zudem einen Einblick in die prognostizierte künftige Entwicklung der Fallzahlen. Die Mitgliederbefragung gibt einen differenzierteren Einblick in die Frage der Bedeutung der sachlichen Zuständigkeit der Sozialhilfeträger für die Eingliederungshilfe und damit die Frage der Steuerungsmöglichkeiten. Zwei Drittel aller Eingliederungshilfen wurden in 2007 von den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe gewährt (vgl. Statistisches Bundesamt 2008b, 1255), deshalb sind die Zahlen der BAGüS bedeutsam, bilden aber nur eine Seite der Kosten- und Fallzahlenentwicklung ab. Dies hat insbesondere Einfluss auf die Angaben zur Entwicklung ambulanter Hilfen, die häufig in örtlicher Zuständigkeit liegen (vgl. auch con_sens 2008, 16). Während in der Schwerbehindertenstatistik die Anzahl von Menschen mit einer geistigen Behinderung und geistig-mehrfachbehinderte Menschen nur im Mittelfeld lag, machen sie bei den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe mit 65% die deutlich größte Gruppe von Leistungsempfängern aus (die zweitgrößte Gruppe sind hier seelisch behinderte Menschen und Menschen mit Suchtproblemen 25%) (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006, 232, unter Bezugnahme auf den Kennzahlenvergleich der überörtlichen Träger der Sozialhilfe 2003/2004). Im Bereich ambulanter Hilfen stiegen die von den Sozialhilfeträgern gemeldeten Fallzahlen von 2000 bis 2005 um 48,7 % (vgl. a.a.O., 8). Für die folgenden Jahre von 2006 bis 2010 erwarten die Mitglieder der BAGüS einen weiteren Anstieg der Fallzahlen um insgesamt 26,9%, allerdings mit zunehmend flacher werdender Kurve (vgl. 9). Der Anteil ambulant betreuter Menschen an der Gesamtzahl von Menschen, die Hilfen zum selbständigen Wohnen erhalten, werde folglich, so die Prognose der BAGüS in den Jahren von 2000 bis 2010 von 18,9% auf 28,6% angestiegen sein. Im Ländervergleich werden aber auch in der Mitgliederbefragung der BAGüS deutliche länderspezifische Unterschiede festgestellt. Diejenigen überörtlichen Sozialhilfeträger, welche auch für die ambulanten Eingliederungshilfen zuständig sind, gaben in der Befragung höhere Fallzahlen an, als sie in einer
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2 Dimensionen des ‚Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung‘
früheren Befragung von 2002 prognostiziert hatten. Hinter ihren eigenen Prognosen blieben jene überörtlichen Sozialhilfeträger zurück, die weiterhin nicht für die ambulanten Hilfen zuständig sind. Die Beobachtungen für die ambulanten Hilfen korrespondieren mit der Fallzahlenentwicklung bei den stationären Hilfen. Bei den stationären Hilfen zum selbständigen Wohnen meldeten die Mitglieder der BAGüS für den Zeitraum von 2000 bis 2005 einen starken Anstieg der Fallzahlen um insgesamt 16% (BAGüS 2006, 3). Für die Jahre von 2006 bis 2010 prognostizieren die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft weiterhin einen eher geringeren Zuwachs von 4,3% (vgl. a.a.O., 7). Die BAGüS sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Ausbau ambulanter Hilfen und einem Rückgang des Fallzahlenzuwachses im stationären Bereich: „Dort, wo die Ist-Zahlen abfielen und die Prognosen nach unten korrigiert werden konnten, ist ein deutlicher Anstieg der Ist-Zahlen im ambulant betreuten Wohnen feststellbar, während bei denjenigen Mitgliedern, deren Ist-Zahlen in Wohneinrichtungen deutlich über den Prognosen lag, die im ambulant betreuten Wohnen erwarteten Ziele nicht erreicht wurden.“ (BAGüS 2006,8) Allerdings wird auch hier auf eine große Streuung der Angaben hingewiesen. Während einige Mitglieder der BAGüS davon ausgehen, die Fallzahlen so steuern zu können, dass sie zurück gehen, prognostizieren andere bis 2010 gleichbleibende oder steigende Fallzahlen. Zudem weist die Arbeitsgemeinschaft darauf hin, dass es in den einzelnen Bundesländern zum Teil erhebliche Unterschiede zwischen der prognostizierten Fallzahlenentwicklung im Jahr 2002 und der tatsächlichen Entwicklung gegeben habe (vgl. a.a.O., 4), so dass auch die weiteren Prognosen vorsichtig zu interpretieren und mit den realen (bisher noch nicht vorliegenden) Zahlen abgeglichen werden sollten. Insgesamt aber, so die BAGüS, werde die Anzahl der Menschen, die Hilfen zum selbständigen Wohnen beziehen, von 2000–2010 um 37,8 % angewachsen sein (BAGüS 2006,10). 2.3.4 Gesamtstatistik der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Trotz der von seit den 1990er Jahren zunehmenden Trägerpluralität (vgl. Boeßenecker 2005, 279 ff) bilden die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege noch immer einen wichtigen Standpfeiler der Hilfelandschaft für Menschen mit Behinderungen. So waren Freie Wohlfahrtsverbände 2001 Träger von 83,9% aller ‚Behindertenheime‘ in der Bundesrepublik (5,4% waren in öffentlicher und 10,8% in privater Trägerschaft) (vgl. Dahme/ Kühnlein/ Wohlfahrt 2005, Tabelle 2, 25). Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) stellt somit das institutionelle Gegenstück zur BAGüS dar und beobachtet die Kosten- und Fallzahlenentwicklung aus der Perspektive der Leistungserbringer. Die BAGFW dokumentiert mit dem Beginn des neuen Jahrtausends die quantitative Entwicklung ihrer Angebote in einer Gesamtstatistik, die einen Eindruck von der Angebotslandschaft für Menschen mit Behinderungen zu vermitteln vermag. Demnach hielten Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege mit dem Stichtag 01.01. 2005 185.566 Plätze in stationären Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen und psychisch kranke Menschen vor (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 2006, 43). Nach den Angaben der obersten Heimaufsichtsbehörden der Bundesländer gab es 2003 dagegen in etwa 5.100 stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe insgesamt lediglich knapp 179.000 Plätze (BFSFJ 2006, 230). Die Differenz von ca. 6.500 Plätzen mag neben den
2.3 Quantitative Bestimmungen
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unterschiedlichen Erhebungszeitpunkten in unterschiedlichen Definitionen begründet sein (z.B. der Frage, welche Einrichtungen für psychisch kranke Menschen der Behindertenhilfe zuzurechnen sind). Die Mitgliederstatistik der BAGFW berücksichtigt zudem nicht die Wohneinrichtungen öffentlicher oder gewerblicher Anbieter. Aufgrund ihrer geringen Bedeutung in der Anbieterlandschaft kann die Mitgliederstatistik aber dennoch als aussagekräftig für die Angebotslandschaft bezeichnet werden. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege waren allein 89.407 Plätze in speziellen Wohneinrichtungen für Menschen mit einer geistigen Behinderung und weitere 14.535 Plätze in Außenwohngruppen oder betreuten Wohnmöglichkeiten einer stationären Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung vorgesehen (vgl. BAGFW 2006, 43). Die Entwicklung der Platzzahlen für den Bereich der stationären Behindertenhilfe zeigt einen kontinuierlichen Ausbau dieses Arbeitsfeldes, der zwar Anfang des Jahrtausends einen leichten Rückgang erlebte, aber zum Zeitpunkt der Erhebung einen erneuten, hohen Anstieg zu verzeichnen hat (vgl. Abb. 4) Tabelle 4: Hilfen für Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege (Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 2006, 18) Jahr 1970 1981 1990 1993 1996 2000 2004
Einrichtungen 1.527 4.627 8.122 10.803 12.935 12.449 14.285
Veränderung in %
(+ 33) (+ 20) (- 4) (+ 15)
Betten/ plätze 81.369 176.100 248.562 294.880 351.448 344.819 499.390
Veränderung in %
(+ 19) (+ 19) (- 2) (+ 45)
Beschäftigte 19.011 62.627 96.659 120.620 152.363 157.711 242.830
Veränderung in %
(+ 25) (+ 26) (+ 4) (+ 54)
In der Gesamtbetrachtung des statistischen Materials zeigt sich, dass zuverlässige Aussagen über den Personenkreis, wie auch die Verbreitung der Wohnformen kaum zu treffen sind. Allerdings lassen sich Entwicklungen und Tendenzen aufzeigen. So nehmen Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten inzwischen einen Großteil der Eingliederungshilfeausgaben aus. Auch die Kosten pro Person steigen an, dabei steigen die Fallkosten für das ambulant betreute Wohnen stärker, als für stationäre Wohnbetreuung. Da zudem auch die Fallzahlen im ambulant betreuten Wohnen zunehmen, ist hier der Bereich zu sehen, in dem einerseits das größte Entwicklungspotenzial, andererseits aber auch das größte Steuerungsinteresse der Sozialhilfeträger zu vermuten ist. Die Mitgliederbefragung der BAGüS zeigt zudem, dass tatsächlich die Frage der Zuständigkeit für ambulante und stationäre Leistungen Auswirkungen auf die Entwicklungen im Unterstützten Wohnen hat, auch wenn hier nur die Auskünfte der überörtlichen Sozialhilfeträger zur Verfügung stehen und damit das Bild unvollständig bleibt. Schließlich zeigt sich die noch immer weitreichende Bedeutung der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege als zentrale Leistungserbringer. Indem sie einen Großteil des Angebotes an Hilfen für Menschen mit Behinderungen bereit stellen, stellen sie die Hauptverhandlungspartner der Leistungsträger dar. Dabei zeigt sich allein durch die fehlenden Angaben zu ambulanten Angeboten, dass hier noch Entwicklungsprozesse im Hinblick auf diese Angebotsformen notwendig sind.
3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
„Sie [die Theorien, I.N.] bilden Realität nicht ab, sondern haben einen produktiven, zugleich hervorbringenden und verbergenden Charakter. Indem sie Erkenntnis ermöglichen, schränken sie diese zugleich auch systematisch ein.“ (Dederich 2006, 104) 3.1 Einführende Orientierungen zum Theoriekorpus bei Foucault In wissenschaftlichen Zusammenhängen wird in der Regel zwischen Theorie und Empirie unterschieden. Demnach bestimmt die zu Grunde gelegte Theorie, was überhaupt aus einer wissenschaftlichen Position heraus als relevante ‚Wirklichkeit’ gilt und empirisch wahrgenommen werden kann. „Die ‚Beobachtung‘ der ‚Wirklichkeit‘ erfolgt nicht nur theoriegesteuert (selektiv), sondern auch theoriegesättigt, d.h. die Theorie liefert die Begriffe (Konzepte, Modelle) und Wahrnehmungsraster, durch die hindurch Realitätsaspekte wahrgenommen und im Zuge der Beobachtung synthetisiert werden.“ (Diaz-Bone 2006, Abs. 5) Erst im Rekurs auf diese Grundlagen werden das Erkenntnisinteresse und die avisierten Forschungsfragen präzisierbar. Dieser ‚methodologische Holismus‘ impliziert allerdings nicht nur, dass die zu Grunde liegenden Theorien den Gegenstands- und Wahrnehmungsbereich determinieren, sondern auch, dass die Theorie die Regeln für die empirische Forschung begründet. „Demnach durchdringt die Theorie die Forschungspraxis bis hin zum konkretesten Zuschnitt einzelner Techniken und Methoden genauso wie die Weite der Interpretation (Hermeneutik). Damit wird die Theorie zur Metaphysik der Methoden und die Trias von Theorie, Methodologie und Methode bildet einen ästhetischen Zusammenhang, weil letztere in ihren Formen und Prinzipien die Formen und Prinzipien der Theorie in sich wiederholen.“ (Diaz-Bone 2006, Abs. 6)
Deshalb werden dem Vorschlag Bührmanns und Schneiders folgend im Folgenden zunächst die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen beschrieben, innerhalb derer das Dispositivkonzept denkbar wird (Bührmann/ Schneider 2008, 14 ff). Diese beziehen sich sowohl auf erkenntnistheoretische Annahmen als auch auf begrifflich-theoretische Grundlagen entlang einer überblicksartigen Rezeption der Arbeiten Foucaults. Dadurch sollen die theoretischen Rahmungen, innerhalb derer das Verständnis von ‚Individueller Hilfeplanung als Dispositiv’ als Forschungsperspektive bestimmt wird, verdeutlicht werden. Die eingenommene Forschungsperspektive ermöglicht es, bestimmte Erkenntnisinteressen zu benennen, die dann in adäquate Methoden übersetzt werden müssen. In diesem Sinne bezeichnen Bührmann und Schneider die methodologischen Implikationen der eingenommenen Perspektive und die daraus abgeleiteten konkreten methodischen Schritte und Instrumente der
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
Datenerhebung/ und -auswertung als Forschungsstil der Dispositivanalyse (vgl. a.a.O., 16 ff). Das erkenntnistheoretische Konzept und das terminologische Instrumentarium müssen für den konkreten Gegenstandsbereich des unterstützten Wohnens für Menschen mit einer (geistigen) Behinderung aufbereitet und fruchtbar gemacht werden. Deshalb werden in einem zweiten Schritt aus der theoretischen Grundlegung der Arbeiten Foucaults methodologische Folgerungen abgeleitet. Dabei gilt für Dispositivanalysen ebenso wie für Diskursanalysen in der Nachfolge Foucaults, dass die Forschungsperspektive des Dispositivkonzeptes kein bestimmtes methodisches Repertoire vorschreibt. Aus diesem Grund gehört zum Begriff der Dispositivanalyse als Forschungsstil auch die Reflexion der Einsatzmöglichkeiten und Einsatzgrenzen einer gewählten Methode im Rahmen dieser Forschungsperspektive. In einem ersten Schritt soll also geklärt werden, welchen theoretischen Rahmen und welche methodologischen Anregungen Foucault zur Beantwortung der Forschungsfragen bietet. Im zweiten Schritt gilt es dann, das eigene Instrumentarium herauszuarbeiten, das zur Analyse der Individuellen Hilfeplanung geeignet erscheint. Hier sollen also zunächst die verschiedenen Richtungen, Um- und Neu-Orientierungen Foucaults nachvollzogen werden, um daraus dann im zweiten Schritt mein Analyseinstrumentarium entwickeln zu können. Die aus diesen Vorarbeiten abgeleitete konkrete Methodik und das Untersuchungsdesign werden dann im dritten Teil dieses Kapitels dargelegt. Da die Perspektiven Foucaults nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können, erscheint es legitim, sich in der Reihenfolge der Darstellung an der Reihenfolge zu orientieren, in der die unterschiedlichen Perspektiven eine zentrale Rolle im Lebenswerk Foucaults gespielt haben. Es werden deshalb die zu einer bestimmten Zeit zentralen Perspektiven, die mit ihnen verbundenen Begriffe in ihren Bezügen und methodologischen Folgerungen herausgearbeitet, die für die Frage nach den Subjektivierungsweisen heutiger abendländischer Gesellschaften wesentlich sind 4. Die Konstitution von Subjektvorstellungen und Subjektivierungsweisen stehen im Zentrum der Arbeiten Foucaults. Foucault konnte selbst aber erst quasi in der Retrospektive formulieren, welcher Untersuchungsgegenstand ihn sein gesamtes Leben beschäftigt hatte. Foucault hat sich nach Kessl von der Analyse der ‚Formen von Diskurspraktiken’ zu einer Analyse der ‚offenen Strategien und rationalen Techniken‘ bewegt, die die ‚Ausübung der Mächte artikulieren‘, um schließlich bei der Analyse von ‚Formen und Modalitäten des Verhältnisses zu sich‘ anzukommen, ‚durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt‘ (vgl. Kessl 2006, 65 unter Bezugnahme auf Foucault 2000, 12). Dabei interessiert ihn das Subjekt als historisch und lokal spezifische Seinsweise, die es nicht als ontolo4
Eine anschauliche Einführung anhand der zentralen Begriffe findet sich darüber hinaus bei Kleiner (2001), Ruoff (2007), grundlegende Darstellungen des Lebenswerks von Foucault bei Dreyfus und Rabinow (1987) und Lemke (1997). Die Frage der Mündigkeit bei Foucault stellt Rieger-Ladich (2002) in detaillierter und anschaulicher Weise vor und bietet in der Auseinandersetzung mit deutschen und französischen Philosophen im pädagogischen Kontext eine Grundlage für (selbst-) kritische Reflexionen. Wie Rieger-Ladich widmet sich auch Kajetzke (2008) Foucault in theorievergleichender Hinsicht. Sie vergleicht Arbeiten von Foucault mit denen Bourdieus. Ihr geht es darum, aus den Konzepten von Wissen, Macht, Subjekt, Diskurs und Dispositiv bei Foucault und Bourdieus Konzepten von Wissen, Habitus, Feld und Kapitalarten Leitfragen für Diskursanalysen entwickeln zu können. Kaven (2006) fragt nach der Möglichkeit sozialen Wandels bei Foucault, indem er ihn Weber und Elias gegenüber stellt. Die Konzepte der Gouvernementalität und der Biopolitik setzt Lemke (2007) einer kritischen Überprüfung durch andere Autoren aus, um anschließend daraus Implikationen für ihre Verwendung in empirischen Gegenwartsanalysen zu generieren.
3.1 Einführende Orientierungen zum Theoriekorpus bei Foucault
49
gische Konstante, sondern als gesellschaftliches Konstrukt zu hinterfragen gilt. Es geht ihm um die Frage, wie das ‚Ich’ als reflexiver Selbstbezug historisch entstanden ist. „Meine Absicht war es vielmehr, eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“ (Foucault 1987, 243). Während also die Frage nach dem Subjekt und den Subjektivierungsweisen sich durch die Arbeiten Foucaults wie ein roter Faden durchzieht, haben seine Perspektiven auf diesen Gegenstand und seine methodischen Herangehensweisen im Laufe seines Lebens verschiedene Wendungen genommen. Foucault arbeitete dabei jedes Vorhaben so lange aus, bis ihm mit dem zur Verfügung stehenden Methodenrepertoire keine neuen zufriedenstellenden Ergebnisse mehr möglich waren, um dann aus einer anderen Perspektive wieder neu anzusetzen. „In diskursanalytischer Perspektive problematisiert Foucault das Subjekt als Subjekt und Objekt von Diskursen. In machtanalytischer Perspektive konzentriert sich Foucault auf die Produktion von Individuen als durch Mikropraktiken der Macht spezifisch habitualisierte Subjekte. Und zu guter Letzt thematisiert Foucault die Formen des Verhältnisses zu sich selbst, durch welche das Individuum sich als Subjekt konstituiert und anerkennt.“ (Bührmann 2007, 60)
In der Retrospektive erscheint dieses Vorgehen als eine Art ‚vielstrahlige Suchbewegung‘, sich dem Phänomen des abendländischen Subjekts auf immer neue Weise zu nähern. Er entwickelte dabei insbesondere die Methoden der Genealogie und der Archäologie, lotete ihre Grenzen aus und kombinierte sie schließlich gemäß den ihn beschäftigenden Fragestellungen. Es wird bei Foucault deutlich, dass gerade in der intensiven Auseinandersetzung mit einem Gegenstand Beweglichkeit in der Forschung notwendig ist, anstatt in einem Feld oder bei einer Methodik zu verharren. Deshalb erscheint es vermessen, in der vorliegenden Arbeit eine ‚richtige Lesart’ der Arbeiten Foucaults behaupten zu wollen. Vielmehr wird hier eine mögliche Lesart vorgestellt, die es ermöglichen soll, sich dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand ‚Individuelle Hilfeplanung’ anzunähern und ihn so kritisch in den Blick zu nehmen. 3.1.1 Erkenntnistheoretische Grundlagen Zeit seines Lebens ging Foucault gegen eine Vorstellung von Geschichte an, die das ‚so geworden sein’ von Phänomenen aus einer aufeinander aufbauenden Folge historisch bedeutsamer Entwicklungen erklärt. Vielmehr gilt es nach Foucault, die Geschichte zurückzuverfolgen und die Brüche im Kontinuum zu suchen, in deren Folge die heutigen Phänomene in der Geschichte auftauchen. Nicht evolutionärer Fortschritt ist demnach der Motor des Wandels, sondern Konflikte, Brüche und Inkontingenzen. „Ich möchte hier also genau das Gegenteil des Historismus tun. Also nicht die Universalien befragen, indem ich als kritische Methode die Geschichtswissenschaft verwende, sondern von der Entscheidung der Nichtexistenz der Universalien ausgehen, um die Frage zu stellen, was für eine Geschichte man schreiben könnte.“ (Foucault 2004, 16). Dabei geht es Foucault nicht um die völlige Ablehnung sprachlicher Vermittlung von Wahrnehmungen, weil diese notwendigerweise immer intersubjektiv ausgehandelt und interpretativ sein müssen. Er offenbart hier keine vermeintliche Nähe zu radikal konstruktivistischen Ansätzen. Vielmehr weist Foucault darauf hin, dass sich die Beschreibungen von
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
Wirklichkeit maßgeblich verändern, wenn wir akzeptieren, dass alle Begriffe und Wissensbestände nur innerhalb des Wissens und der Kontexte ihrer Zeit adäquat verstanden werden können. Mit den Begriffen von heute lässt sich die Welt des 17. Jahrhunderts nicht beschreiben und die Begriffe des 17. Jahrhunderts lassen sich nicht vor dem Hintergrund der heutigen Wissensbestände erklären, sondern nur in den Bezügen ihrer Zeit. In diesem Sinne könnte man (in Anlehnung an Berger/ Luckmann 1987) von einem sozialkonstruktivistischen Ansatz sprechen: Die gesellschaftliche Wirklichkeit, die wir als ontologische Gegebenheit (als so und nicht anders) wahrnehmen, besteht tatsächlich aus Erscheinungen, die das Ergebnis von historisch nachvollziehbaren Machtprozessen und Wissens- bzw. Praxisformen sind. Weil wir dieses Geworden-Sein aber nicht wahrnehmen, ist es die Aufgabe (sozial-)wissenschaftlicher Forschung, die gesellschaftliche Ordnung als Ergebnis menschlichen Handelns zu rekonstruieren. (Vgl. Bührmann/ Schneider 2008, 34) Der erkenntnistheoretische Ansatz, den Foucault zu Grunde legt, kann dabei weder als objektivistisch noch als subjektivistisch bezeichnet werden. Weder erscheint es Foucault möglich, als Wissenschaftler einen neutralen Beobachterplatz außerhalb der Welt einnehmen zu können, noch nimmt er an, dass die Welt nur aus der Sicht des einzelnen Individuums heraus erklärbar ist. Bührmann und Schneider beschreiben dieses Selbst- und Weltverständnis folgendermaßen: „Die Welt, in der wir leben, ist für uns nicht ‚an sich‘ zu erkennen. Sie ist für uns nur gebunden an Raum und Zeit wahrnehmbar, entsprechend der jeweiligen sozialen Bezüge und kulturellen Kontexte, in denen wir als Gesellschaftsmitglieder wie als ‚Forscher-Subjekte’ leben.“ (Bührmann/ Schneider 2008, 36) Das vermeintlich Gegebene, Vernünftige und Rationale ist demnach nichts anderes als ein ‚Diskurseffekt‘ der Aufklärung. Deshalb muss diese Wahrnehmung durchbrochen werden, damit die Gewissheiten und Evidenzen in Frage gestellt werden und ihre Herkunft erforscht werden können. „Als erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt zu beachten und als Aufgabenstellung zu bearbeiten gilt es vielmehr, jegliches ‚transzendente‘ Erkenntnis-Apriori (sei es Gott, die Natur oder die Vernunft) als ein historisches Apriori zu fassen, offenzulegen und als solches auszuweisen.“ (Bührmann/ Schneider 2008, 37) Was für die Alltagswahrnehmung gilt, ist deshalb ebenso als kritisches Moment wissenschaftlicher Wahrnehmung aufzufassen. Auch die wissenschaftliche Perspektive kann sich demnach nicht auf die ontologische Gewissheit berufen, dass die menschliche Existenz prinzipiell als erkenntnisfähiges Vernunftwesen charakterisiert werden kann, da dieses Selbstverständnis selbst ein unter bestimmten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen diskursiv hergestelltes und bis heute wirksames Resultat der Aufklärung ist (vgl. a.a.O., 37). Es reicht demnach nicht, sich dem Primat der wissenschaftlichen Wahrheit zu verpflichten, sich mit wissenschaftlichen Methoden auszurüsten und einen scheinbar objektiven Beobachterstandpunkt einzunehmen, um wissenschaftliche Erkenntnisse produzieren zu können (vgl. a.a.O., 34). Vielmehr müssen auch die Prinzipien der Wissensanordnung, die als Selbstverständlichkeiten der Forschung zu Grunde liegen, hinterfragt werden. Sie wirken als diskursiv vermittelte Macht-/Wissensanordnungen, die aber oberflächlich als gesellschaftliche Phänomene vermeintlich ahistorisch und konstant erscheinen. Durch die Prinzipien der Wissensanordnung werden die konkrete materielle und kognitive Erkenntnispraxis der Gesellschaft determiniert, nicht nur innerhalb der Wissenschaftskulturen. Sie regeln und kontrollieren die Wissensproduktion und -durchsetzung, sie teilen in Positionen der ‚Wissenden‘ und ‚Unwissenden‘ oder ‚aus eigener Erfahrung wissenden Laien‘ ein und strukturieren damit gesellschaftliche Bereiche.
3.1 Einführende Orientierungen zum Theoriekorpus bei Foucault
51
Deshalb müssen auch die Forschenden, so Bührmann und Schneider, „die Grundlagen der eigenen wissenschaftlich-analytischen Konstruktionen in Frage stellen, indem sie die eigene Forschungstätigkeit historisieren und kontextualisieren (vgl. a.a.O. 39). Foucault bezeichnet diesen Ansatz der doppelten Kritik als ‚kritische Ontologie’. 3.1.2 Archäologie als analytischer Blick Nach Foucault sind die Begriffe und Konstrukte, in denen wir denken und handeln, keine Universalien, sondern Ausdruck der spezifischen Macht-Wissenkomplexe, in denen wir leben. In diesem Sinn repräsentiert unsere Sprache keine absoluten Wahrheiten, sondern die gedanklichen Konstruktionen unserer Gegenwart. Vor diesem Hintergrund entwickelt Foucault in den 1960er Jahren mit ‚Wahnsinn und Gesellschaft’ (1973), ‚Die Geburt der Klinik’ (1988) und ‚Die Archäologie des Wissens’ (1990) das Konzept der Archäologie. Die Archäologie ist bei Foucault eine Methode, mit deren Hilfe er die Konstruktion von historischen und gegenwärtigen Diskursen freizulegen versucht. Dabei steht der Diskursbegriff im Zentrum. Ein Diskurs ist bei Foucault ein Geflecht von Aussagen, die in Beziehungen zueinander stehen und auf diese Weise ein spezifisches Wissensfeld erscheinen lassen. Foucaults Forschungsinteresse gilt im Gegensatz zu Strukturalisten wie Léwi-Strauss aber nicht den ‚allgemeinen Möglichkeitsbedingungen von Aussagen’, also der Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten aller möglichen Diskurse. Foucault untersucht die Emergenz realer Diskurse und damit das Problem, dass wir einerseits meinen, zu wissen, wovon wir sprechen, aber in Schwierigkeiten geraten, wenn wir versuchen, die Grenzen unserer grundlegenden Wissensfelder zu beschreiben: „[…] the problem which I have set myself is that of the individualization of discourses. […] When one speaks in the singular of psychiatry, or of medicine, or of grammar, or of biology, or of economics, what is one speaking of?” (Foucault 1991, 54, Herv. i. Org.) Eine Aussage kann demnach nicht außerhalb eines tatsächlich geführten Diskurses verstanden werden, weil eine Aussage außerhalb des Diskurses nicht existiert. Vielmehr wird in der Archäologie davon ausgegangen, dass erst ein Diskurs die möglichen Aussagen entstehen lässt und dass außerhalb von Diskursen keine Aussagen denkbar sind. Wenn es außerhalb des Diskurses aber keine Aussagen gibt, so ist auch Wissen als aufeinander bezogene Aussagen nur innerhalb von Diskursen denkbar. „Der gesamte Wortkontext ist grundlegender als seine Elemente und ist somit mehr als die Summe seiner Teile. Tatsächlich gibt es hier keine Teile außer denen im Feld, das sie identifiziert und individuiert.“ (Dreyfus/ Rabinow 1987, 80) Foucault interessiert dabei die Anordnung von regelmäßig erscheinenden, seriösen Sprechakten (also keine Alltagsgespräche) innerhalb des Diskurses. Es geht um Aussagen, die regelmäßig und nach bestimmten Regeln auftauchen und deshalb auch als „institutionalisierte Redeweisen“ (Bührmann/ Schneider 2007, Abs. 9) bezeichnet werden können. In der Archäologie geht es darum, die Regelmäßigkeiten innerhalb eines Diskurses zu erkennen und die ihnen zu Grunde liegenden Regeln der Aussageproduktion herauszuarbeiten. Die Regelmäßigkeiten und Beschränkungen des Diskurses, bzw. die Regeln, die festlegen, welche Aussagen im Diskurs möglich sind und welche nicht, werden als die jeweilige Diskursformation des Diskurses bezeichnet.
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
„Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind (Gegenstände, Äußerungsmodalität, Begriffe, thematische Wahl). Die Formationsregeln sind Existenzbedingungen (…) in einer gegebenen diskursiven Verteilung.“ (Foucault 1988b, 58) In der Archäologie wird alles aus der Analyse ausgeklammert, was als nicht-diskursiv vermittelte Anteile der sozialen Welt den VerstehensHintergrund für die Sprechenden bildet. Es wird ignoriert, dass jeder Diskurs für sich beansprucht, wahre Aussagen zu ermöglichen. Hinter oder unter einem Diskurs liegende Bedeutungen sind irrelevant. „Sowohl Foucault als auch die Strukturalisten interessieren sich nicht dafür, ob die von ihnen untersuchten Phänomene den ernsten Sinn haben, den ihnen die Beteiligten unterstellen. Somit verwerfen sie die Ansicht, die von Pragmatikern wie Dewey, hermeneutischen Phänomenologen wie Heidegger und Philosophen der Umgangssprache wie Wittgenstein geteilt wird, dass man beim Studium linguistischer Praktiken dem Hintergrund gemeinsamer Praktiken, die sie intelligibel machen, Rechnung tragen muss.“ (Dreyfus/ Rabinow 1987, 81 f)
Nach Foucault ist das, was Menschen zu wissen glauben, ein konkretes Ergebnis der Denkweisen innerhalb einer spezifischen Epoche und muss deshalb in den diskursiven Zusammenhängen betrachtet werden, in denen es erscheint. Er geht davon aus, dass in jeder Epoche Regeln für die Formation von Objekten, Operationen, Konzepten und theoretischen Optionen existieren, die dann innerhalb eines untersuchten Wissensfeldes herausgearbeitet werden können. Diese Regelmäßigkeiten der Wissensordnungen bezeichnet Foucault als Episteme. Sie bilden die „Ordnung, auf deren Hintergrund wir denken“ (Foucault 2002, 25) und ermöglichen damit das Wissen der jeweiligen Epoche. Er fragt also danach, welche historischen Bedingungen vorliegen, damit ein konkreter Diskurs in der Geschichte auftaucht (vgl. Lemke 1997, 46). Da die Archäologie also weder in Bezug auf die einzelnen Diskursformationen noch in Bezug auf die Episteme ein universell anwendbares System von Regeln postuliert, welches auf die konkreten Diskurse angewendet werden könnte, sondern die einem Diskurs inhärenten Regeln sucht, ist die Archäologie im Gegensatz zu den strukturalistischen Methoden nicht als Analyse, sondern als Analytik zu verstehen. Indem Foucault diesen Ansatz immer weiter ausarbeitet und versucht, die Bedingungen zu objektivieren, die Objektivierung möglich machen, konzipiert er die Archäologie als eine Methode, die objektiv und ahistorisch erscheint und damit sich selbst als historischen und schöpferischen Diskurs ausblendet (dazu ausführlich Dreyfuß/ Rabinow 1987, 105 ff). Foucault entwickelt seine Methodik weiter, erkennt aber zunehmend diesen Widerspruch in seiner Analytik. Er nimmt deshalb in seiner Antrittsvorlesung ‚Die Ordnung des Diskurses’ am Collège de France 1970 erste Umorientierungen im Hinblick auf eine Ergänzung der Archäologie um die Methode der Genealogie vor. Er fragt nun auch nach den Bedingungen, die den Diskurs kontrollieren, verknappen und kanalisieren. Drei Prozeduren der Ausschließung und Kontrolle des Diskurses hält er zu diesem Zeitpunkt für wirksam: externe Ausschließungstechniken, interne Kontrollmechanismen und die Auswahl der Sprecher, die sich am Diskurs beteiligen dürfen (vgl. Foucault 1991, 17 ff). Sehr bald jedoch, in ‚Überwachen und Strafen’ sowie in ‚Sexualität und Wahrheit’, kehrt er das Verhältnis um. Nun steht die Methode der Genealogie im Zentrum, der sich die Archäologie zuzuordnen hat.
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3.1.3 Genealogie als analytischer Blick Mit der Genealogie entwickelt Foucault einen Ansatz, der versucht, die Beziehungen zwischen Wissen, Macht und Körper in der modernen abendländischen Gesellschaft heraus zu präparieren. Ähnlich wie in der Auseinandersetzung mit der Archäologie ist ein wesentlicher Ausgangspunkt die Annahme, dass die vermeintlich historischen Kontinuitäten tatsächlich keine kontinuierlichen Entwicklungen darstellen und nicht auf finale Bedeutungen oder metaphysische Gewissheiten zurückgeführt werden können. Die Menschen können immer nur das denken, was innerhalb des Denkrahmens ihrer Zeit gedacht werden kann. Es wird nun aber die Entstehung von Bedeutung als eine erfolgreiche Durchsetzung von spezifischen Interpretationen analysiert, die schließlich die Universalien der modernen abendländischen Kultur bilden. Auch mit der Genealogie werden Diskurse in ihrer einmaligen Erscheinung analysiert. Nun aber interessiert sich Foucault auch dafür, wie die Menschen Wissen über sich selbst erlangen und wie sie dieses anwenden. Nicht nur die formalen Diskurse, sondern auch die kulturellen Praktiken, welche minimale Bedeutungsverschiebungen, kleine Details und Diskontinuitäten in den Diskursen hervorrufen, geraten deshalb in den Blick. Foucault stellt diesen Zusammenhang von Diskursen und kulturellen Praktiken folgendermaßen dar: „So kann dieser oder jener Diskurs bald als Programm einer Institution erscheinen, bald im Gegenteil als ein Element, das es erlaubt, eine Praktik zu rechtfertigen und zu maskieren, die ihrerseits stumm bleibt, oder er kann auch als sekundäre Reinterpretation dieser Praktik funktionieren, ihr Zugang zu einem neuen Feld der Rationalität schaffen.“ (Foucault 1978,120) Die Methode ist dabei wieder die bewusste Distanzierung von dem Gegenstand und den ihm zu Grunde liegenden Bedeutungen: „Als Genealoge sieht der Interpretierende die Dinge aus der Ferne. Er entdeckt, dass die Fragen, die traditionell für die tiefgründigsten und dunkelsten gehalten wurden, wahrhaftig und buchstäblich die oberflächlichsten sind. [...] Genealogisch gesehen ergibt sich diese Verbohrtheit in Tiefe und versteckte Bedeutung einem Beobachter, sobald er sich vom kulturellen Glauben an tiefe Bedeutung distanziert.“ (Dreyfus/ Rabinow 1987, 135 f)
Im Rahmen der Genealogie besitzt die Archäologie weiterhin eine entscheidende Bedeutung, denn sie deckt die Willkürlichkeit des hermeneutischen Bedeutungshorizonts in den Diskursen auf. Vermeintlich kontinuierliche Entwicklungen einer Bedeutung stellen sich im Licht der Archäologie als von diskontinuierlichen Diskursformationen unterbrochen dar (vgl. Dreyfus/ Rabinow 1987, 134). Deshalb besitzt sie auch einen Platz in der Analyse von Macht-Wissenkomplexen: „Weil Diskurse konsequent in ihrer wirklichkeitsschaffenden Macht in den Blick genommen werden, geht es der diskursanalytischen Perspektive konkret immer auch um Wissens(-an)ordnungen (um vorherrschende Bedeutungen, Sinngehalte, Deutungsmuster, ihre Wirkungsbedingungen und Folgen), die durch institutionalisierte diskursive Praktiken im Sinne von Wissenspolitiken hergestellt, durchgesetzt, stabilisiert, verändert und umgestürzt werden.“ (Bührmann/ Schneider 2007, Abs. 12, Herv. i. Org.)
Mit dem Begriff des Dispositivs wird diese wirklichkeitsschaffende Macht von Diskursen beschreibbar: Dispositive erscheinen zu bestimmten historischen Zeitpunkten als eine Re-
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aktion auf gesellschaftliche Veränderungen und Problemlagen, die Lösungen erforderlich machen. Aufgrund dieser neuen Problemlagen oder dieses Handlungsbedarfs verknüpfen sich die verschiedenen Elemente (z.B.: Reden, Institutionen, Positionen, Waffen), mit dem gemeinsamen Zweck, diesen Notstand abzuwehren (vgl. Foucault 1978, 120). Indem sich in Dispositiven Kräfteverhältnisse und Wissenstypen gegenseitig stützen, wird gesellschaftliche Wirklichkeit geschaffen: Sie „konstituieren Möglichkeitsräume für gültiges, ‚wahres’ Wissen und sind selbst aber in diesem Sinne immer schon Effekte von Machtbeziehungen“ (Bührmann/ Schneider 2007, Abs. 20). Macht wird so mit dem Dispositivbegriff zu einer allgemeinen „Matrix der Kräfteverhältnisse zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft“ (Dreyfus/ Rabinow 1987, 217). Auf diese Weise werden in Dispositiven über spezifische Machttechniken auch bestimmte Subjektivierungsweisen hervorgebracht, die den jeweiligen historisch strategischen Erfordernissen entsprechen (vgl. Bührmann 2001, 130; Bührmann/ Schneider 2007, Abs. 22). Ein Dispositiv lässt sich nach Foucault als Ensemble von miteinander verzahnten diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken beschreiben. Ein Dispositiv ist „[…] ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ (Foucault 1978, 119 f).
Die einzelnen Elemente sind dabei weniger von Bedeutung, als vielmehr die Art und Weise, wie diese Elemente miteinander in Beziehung gebracht werden. Es interessiert nicht nur das gesprochene und geschriebene Wissen, sondern ebenso das Wissen, welches im menschlichen Handeln und in seinen Gegenständen gebunden ist. So wird im Dispositiv das Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit thematisiert: Ein Wirklichkeitsbereich (z.B. ein Gegenstand) wird durch das Wissen, das Menschen ihm zuschreiben angereichert mit Bedeutung. „Ändert sich das in ihm enthaltene Wissen, bekommt er andere Bedeutungen zugewiesen, wird er zu einem anderen Gegenstand, was etwa geschieht, wenn ein Bettler eine bedeutungslos gewordene Zentralbank als Wochenendhaus nutzt“ (Jäger 2001, 88). 3.1.4 Gouvernementalität Mit dem Instrumentarium der Archäologie und der Genealogie widmet sich Foucault erneut der Frage des Subjekts. Für die weiteren Untersuchungen entwickelt er zweierlei Fragerichtungen: Zum einen geht es darum, die Technologien zu identifizieren, mit denen die Menschen in einer Gesellschaft dazu gebracht werden, sich in einer bestimmten Weise als Teil der Gesellschaft wahrzunehmen. Zum zweiten muss Foucault den Einzelnen in den Blick nehmen und fragen, mit welchen Technologien dies für das einzelne Individuum möglich wird und wie in den Beziehungen zwischen Individuen dabei Subjektvorstellungen entstehen. Letztendlich müssen aber Regierungstechnologien und Technologien des Selbst zusammengedacht werden, damit die Wechselwirkungen zwischen den beiden Formen untersucht werden können: „He has to take into account the points where the technologies of domination of individuals over one another have recourse to processes by which the individual acts upon himself. And conversely, he has to take into account the points where the
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techniques of the self are integrated into structures of coercion or domination.” (Foucault 1993a, 203) Zunächst nimmt sich Foucault der Frage der Regierungstechnologien an. Dabei sind Machtverhältnisse immer wechselseitige Einflussnahmen. Die sozialen Kräfteverhältnisse und Machtbeziehungen innerhalb einer Gesellschaft können dabei zu Institutionen gerinnen und permanente Strukturen ausbilden. Aber erst in Herrschaftssituationen ist die Beziehung zwischen den Elementen nur einseitig in einem ‚Top-Down‘ Verhältnis strukturiert. Nur als Herrschaftszustände sind Machverhältnisse relativ starr und wenig veränderbar. Foucault interessiert sich aber nicht für solche Herrschaftszustände, auch wenn er zugibt, dass die Befreiung von Herrschaftszuständen in der Praxis ein notwendiges Ziel sein kann (vgl. Foucault 2005, 276). Er untersucht Regierung deshalb nicht als eine Institution zur Lenkung eines Staates, als politische Regierung, sondern als Strategien der Führung von Menschen in ihren Beziehungen (zu anderen Menschen, Gegenständen, Sitten, Denkweisen usw.) (vgl. Foucault 2004, 146). „Foucaults Ziel ist die Isolierung, Identifizierung und Analyse des Gewebes aus ungleichen Beziehungen, das durch politische Technologien verursacht wurde, und das der von Gesetz und politischen Philosophien unterstellten Gleichheit zugrunde liegt und sie unterhöhlt. [...] Um Macht in ihrer Materialität, in ihrem tagtäglichen Wirken zu verstehen, müssen wir uns auf die Ebene der Micropraktiken, der unsere Praktiken formenden politischen Technologien, begeben.“ (Dreyfus/ Rabinow 1987, 217)
Die Regierungstechnologien sind mehr oder weniger systematisierte, regulierte und reflektierte Formen der Machtausübung, die zweckgerichtet sind. Sie nehmen eine vermittelnde Position sowohl zwischen strategischen Beziehungen und Herrschaftszuständen ein. Regierungstechnologien geben den konkreten Techniken und Praktiken eine Richtung, werden aber zugleich nur im Vollzug dieser Techniken erkennbar und real. Mit La Perriére (1567) greift Foucault denn auch eine schlichte Definition von Regierung als „das richtige Verfügen über die Dinge, denen man sich annimmt, um sie dem angemessenen Zweck zuzuführen“ (Foucault 2004, 145) auf. Damit ist aber nicht nur die Führung anderer im Sinne eines ‚Anführens’ gemeint, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen sich selbst gegenüber anderen Menschen und Dingen in ihrer Umgebung verhalten (vgl. Foucault 1987, 255). Im Unterschied zur anderen Konzeptionen von Macht analysiert Foucault deshalb Macht als einen Bereich von strategischen Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen. Diese Beziehungen zielen auf die Führung des anderen oder der anderen und benutzen in den verschiedenen historischen Zeiträumen, in den verschiedenen institutionellen Rahmen und in verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedliche Verfahren und Techniken. Dabei sind Machtverhältnisse immer wechselseitige Einflussnahmen. Das Phänomen der Regierungstechnologien arbeitet Foucault in besonderer Weise in seinen Vorlesungen am Collège de France zwischen 1977 und 1978 heraus. Hier untersucht er den Zusammenhang von strategischen Beziehungen, Herrschaft und Regierungstechnologien in Westeuropa seit dem 18. Jahrhundert. Schon der Begriff, den Foucault für diese Regierungsform verwendet, umreißt sein Forschungsprogramm (vgl. Foucault 2004, 162f): ‚Gouvernementalität’ (la gouvernementalité) verknüpft Regierung und Denkweise bereits im eigentlichen Wortsinn miteinander. Er benennt drei Interpretationsrichtungen, wie dieser Begriff zu verstehen sei: ‚Gouvernementalität’ kann erstens als ein Gebilde aus Institutionen, Vorgängen, Analysen, Reflexionen, Berechnungen und Taktiken aufgefasst werden,
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welches eine sehr komplexe Form der Machtausübung ermöglicht. Zweitens lässt sich Gouvernementalität als eine ‚Kraftlinie’ interpretieren, in deren Zuge die Ausbreitung einer spezifischen Regierungsform in ganz Westeuropa stattgefunden hat. Diese Regierung zeichnet sich durch die Phänomene der Souveränität und der Disziplin, aber auch eine ganze Reihe von Regierungsapparaten und spezifischen Wissensarten aus. Drittens wird unter ‚Gouvernementalität’ das Ergebnis eines konkreten historischen Prozesses verstanden, „durch den der mittelalterliche Staat der Gerichtsbarkeit, der im 15. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat wurde, sich nach und nach ‚gouvernementalisiert’ hat.“ (Foucault 2004, 163) Konkret interessiert sich Foucault für eine spezifische Form der politischen Rationalität, die er im Europa des 18. Jahrhunderts zu erkennen glaubt. Mit ihr entstehen politische Technologien, die aufgrund eines gewandelten Regierungsverständnisses den Einzelnen als Teil des Staates neu verorten. Charakteristisch für diese Rationalität ist, dass der Gegenstand der Regierung ein Komplex aus Menschen und Dingen ist und dass das Regierungshandeln auf eine Finalität (ein Zweck-Nutzen-Kalkül) hin ausgerichtet wird. Während in vorhergehenden Jahrhunderten die Bedürfnisse des Souveräns das Ziel von Regierungshandeln waren, taucht in den politischen Schriften seit der Mitte des 17. Jahrhunderts „[...] die Bevölkerung also als Ziel und als Instrument der Regierung [auf, I.N.]. Die Bevölkerung erscheint als Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen, jedoch auch als Objekt in den Händen der Regierung“ (Foucault 2004, 158). Mit der Zunahme des statistischen Wissens über die Bevölkerung in dieser Zeit wird die Bevölkerung zu einem Subjekt, dessen Eigenschaften und Regelmäßigkeiten messbar und beeinflussbar sind und dessen Verhalten beobachtet werden kann. Während zuvor das Bild der Führung einer Familie dem Regierungshandeln Pate gestanden hatte, entwickelte sich nun eine eigenständige Vorstellung von der Bevölkerung als Gegenstand der Regierung (vgl. Foucault 2004, 157). Bevölkerung und Umwelt stehen in den politischen Schriften dieser Zeit in einer lebendigen Wechselwirkung, die durch Regierungshandeln gelenkt werden muss. Dadurch rückt auch das Individuum als Teil der Bevölkerung mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Zielen in den Fokus der Aufmerksamkeit und wird ebenfalls Ziel einer neuen politischen Rationalität. Diese doppelte Orientierung an Individuum und Bevölkerung, sowie dem doppelten Prozess der Subjektivierung und Objektivierung findet ihre Umsetzung im Aufkommen der Staatsraison und der 'Polizey'. Mit der Staatsraison ist eine Kunst des Regierens gemeint, welche auf rationalen Erwägungen beruht. Dazu musste zunächst die Frage geklärt werden, was der Staat sei, den es zu regieren gilt, da ein göttlicher Wille oder eine natürliche Ordnung nicht mehr als Begründung und Ziel des Regierungshandelns gelten konnten (vgl. Foucault 1993c, 173). Die Bevölkerung wurde nun als Ziel des Regierungshandelns erkannt. Zum Zweiten ist mit dem Begriff der Staatsraison die Vorstellung eines fortwährenden Wettstreits um die Vorherrschaft der Staaten verbunden, welche frühere Vorstellungen von einem natürlichen Gleichgewicht zwischen den Staaten ablöste. Deshalb hat Regierung zum Ziel, die Stärke des Staates beständig zu erhöhen. Der Einzelne ist in diesem Staatsverständnis in dem Maße bedeutsam, als sein Tun zur Stärkung oder Schwächung des Staates beiträgt (vgl. Foucault 1993c, 176). Der Modus dieser Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen des Staates ist aber nicht der Gedanke der ethischen Gemeinschaft (wie in der griechischen Polis), sondern eine Technologie des Regierens, die das Individuum zum Element des Staates macht und die in den Schriften jener Zeit unter dem Konzept der ‚Polizey‘ firmiert.
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„Ziel der Polizei ist die erweiterte Hervorbringung von etwas Neuem, das dem Leben des Einzelnen und der Stärke des Staates förderlich sein soll“ (vgl. Foucault 1993c, 184) 5. Die Polizey wird als permanent eingreifender und ordnender Verwaltungsapparat beschrieben. Dieser Apparat ermöglicht die Beobachtung, Registrierung und Kontrolle der Menschen, das Verhalten wird zunehmend beobachtbar und dokumentierbar (vgl. 1989, 224). Die ordnenden Prinzipien der Polizey greifen in alle gesellschaftlichen Bereiche und Institutionen über (vgl. Foucault 2004, 161). „Von der Idee, dass der Staat ein eigenes Wesen und eine eigentümliche Bestimmung besitzt, bis hin zu dem Begriff vom Menschen als einem lebendigem Individuum oder einem Teil der Bevölkerung, die in Wechselwirkung mit der Umwelt steht, erkennen wir, dass der Zugriff des Staates auf das Dasein des einzelnen immer deutlicher wird, dass die Probleme des Lebens für die politische Gewalt an Bedeutung gewinnen und dass sich neue Arbeitsfelder für die Sozialund Humanwissenschaftler herausbilden [...]“ (Foucault 1993c, 185).
Während die Aufgabe der Polizey also positiv gestaltend und als möglichst umfassend beschrieben wird, wird die Staatsraison (oder Politik) als negativ beschränkend konzeptioniert, als etwas, das Angriffe von außen und innen abwehren soll, das der Verteidigung dient, dabei aber möglichst wenig in die sozialen Prozesse eingreifen soll (vgl. Foucault 1993c, 185). Die Staatsraison steht immer in dem Verdacht, zu viel zu regieren und ist deshalb der steten Kritik unterworfen. Aus diesem Problem der Gleichzeitigkeit des ‚zu viel Regierens’ und der Notwendigkeit, die Entwicklung der Bevölkerung bis in ihre kleinsten Einheiten zu steuern, um den Staat zu stärken, entsteht der Liberalismus „als Prinzip und Methode der Rationalisierung der Regierungsausübung [...] – einer Rationalisierung, die, und hierin liegt die Besonderheit, der internen Regel maximaler Ökonomie gehorcht.“ (Foucault, 2004, 436) Aus der ‚Kunst des Regierens’ entsteht so eine ‚politische Ökonomie’, welche die zielgerichtete Führung der Bevölkerung und des Einzelnen als Teil der Bevölkerung zum Ziel hat. In dem Gebilde ‚Gouvernementalität’ stellt die Denkweise der ‚politischen Ökonomie’ den Rahmen her, um mit Hilfe von Sicherheitsdispositiven die Bevölkerung zu beeinflussen. Dabei geht es nicht nur um Systematisierung und Ordnung, sondern um Verbesserung und Steigerung. Hier treffen die von Foucault erarbeiteten Technologien der Normalisierung, die er für das Gefängnis, das Krankenhaus und die Irrenanstalt bereits herausgearbeitet hatte, zu einer ‚Bio-Macht‘ zusammen, die den Menschen physisch und psychisch zu einem produktiven Mitglied der Gesellschaft machen soll und ihm dafür Gesundheit und Wohlstand verheißt. Bevölkerungspolitik, Familien- und Wohlfahrtspolitik, Hygienediskurse und die Entstehung von Psychologie und Sozialwissenschaften bilden einen Zusammenhang, der den Einzelnen ‚unter die Lupe‘ nimmt und seine Verbesserung betreibt. “Wir haben gesehen, daß erst dann, wenn diese Technologien in spezifische Institutionen (Schulen, Spitäler, Gefängnisse) eingehen, wenn sie diese Institutionen ‚besetzen’, die Bio-Macht wirklich in Gang kommt. Erst wenn die Disziplinartechnologien diese institutionellen Anlagen miteinander verbinden, wird Disziplinartechnologie wirklich effektiv. In diesem Sinne meint Foucault, die Macht sei produktiv; sie steht nicht anderen Typen von Beziehungen äußerlich ge5 In einigen Übersetzungen wird die Schreibweise ‚Polizei’, überwiegend jedoch ‚Polizey’ verwendet. Deshalb verwende ich die Schreibweise ‚Polizey’.
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung genüber. Obwohl Machtverhältnisse Institutionen innewohnen, sind Macht und Institutionen nicht dasselbe.“ (Dreyfus/ Rabinow 1987, 217)
Es entsteht ein Macht-Wissenkomplex, der zugleich die Individualisierung und Totalisierung des Menschen denkbar macht. Am Beispiel der Gouvernementalität wird deutlich, wie in Foucaults Verständnis der Einzelne erst durch die Regierungstechnologien zum Subjekt in einer Gesellschaft gemacht wird (vgl. Foucault 1989, 250). Das Subjekt steht nicht am Anfang, sondern sozusagen am Ende menschlicher Beziehungen. Subjektformationen und Subjektproblematisierungen werden auf diese Weise als historisch bedingte Phänomene analysierbar (vgl. Meyer-Drawe, 1996, 656). Die Regierungstechnologie der Disziplin stellt in der Gouvernementalität eine Verbindung her zwischen den strategischen Beziehungen und den Herrschaftszuständen (vgl. Lemke/ Krassmann/ Bröckling 2000, 8). Unter Disziplin versteht Foucault dabei weniger die erzwungene Unterwerfung von Individuen, sondern eine mögliche Verfahrensweise von Macht, mit deren Hilfe Individuen systematisiert, geordnet und organisiert werden. „Sie richtet die unsteten, verworrenen, unnützen Mengen von Körpern zu einer Vielfalt von individuellen Körpern, Elementen, kleinen abgesonderten Zellen, organischen Autonomien, evolutiven Identitäten und Kontinuitäten, kombinatorischen Segmenten.“ (Foucault 1989, 220) Disziplin erzeugt also Ordnung, Rangfolgen, Kategorien und Systematisierungen unter den Menschen. Der Besonderheit der Disziplin ist, dass ihre Techniken die Individuen sowohl als Objekte wie als Subjekte behandeln und einsetzen (vgl. a.a.O., 220). Die Menschen werden geordnet, indem sie selbst Ordnungssysteme schaffen, indem sie sich ordnen. In ‚Überwachen und Strafen‘ (1989) beschreibt Foucault drei zentrale Techniken (die hierarchische Überwachung, die normierende Sanktion und die Prüfung) der Disziplin als ein Geflecht von Techniken der Objektivierung und Subjektivierung von Individuen, welches für die Zeit seit dem 18. Jahrhundert typisch war. 3.1.4.1 Hierarchische Überwachung Die Technik der hierarchischen Überwachung erklärt Foucault zunächst an Beispielen der Architektur: Das Militärlager, das Gefängnis oder das Spital des 19. Jahrhunderts sind Anlagen, die die detaillierte Kontrolle und Sichtbarmachung ihrer Insassen ermöglichen. Foucault beschreibt, wie die Art der Architektur menschliches Verhalten beeinflusst. Durchgänge, Öffnungen, lange Gänge, Schlafsäle usw. ermöglichen Durchblick und Beobachtung. Auch das Schulgebäude wird bei Foucault zum Disziplinarmittel. Bedeutsamer als die Architektur (als manifestierte Machtbeziehung) ist für die hierarchische Überwachung aber die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Foucault erkennt z.B. in der Institutionalisierung der Position des ‚Kontrolleurs‘ einen wichtigen Hinweis auf die Technik der hierarchischen Überwachung. Indem in den Fabriken und Manufakturen angestellte Inspektoren einzig die Aufgabe bekommen, die Arbeiter zu überwachen, „[…] geht es um eine innere, intensive, stetige Kontrolle, die den gesamten Arbeitsprozess durchzieht und sich nicht allein auf die Produktion bezieht […], sondern die Tätigkeit der Menschen, ihre Geschicklichkeit, ihre Gewandtheit, ihre Behändigkeit, ihren Eifer, ihr Verhalten erfasst“ (vgl. Foucault 1989, 225). Eine ähnliche Veränderung erkennt Foucault auch in den Schulen. Indem einzelne Schüler Kontroll- und Überwachungsaufgaben zugeteilt bekommen, oder für die Bereitstellung des Unterrichtsmaterials zuständig erklärt werden, wird die
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Überwachung zu einer eigenständigen Aufgabe im Unterrichtsgeschehen. Später werden der Unterricht, die Aneignung von Kenntnissen durch die Ausübung der pädagogischen Tätigkeit und die gegenseitige hierarchische Überwachung in einem hierarchischen System von Unter- und Oberlehrern miteinander verschränkt (vgl. a.a.O., 228). Ein hierarchisches Kontrollsystem, in dem sich die Individuen gegenseitig überwachen, wird so zum zentralen Mechanismus der Unterrichtspraxis. Die hierarchische Überwachung kulminiert bei Foucault im Begriff des Panoptismus. Durch das Panoptikum wird ein bewusster und permanenter Sichtbarkeitszustand bei den betroffenen Individuen geschaffen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt (vgl. a.a.O., 258). Dabei sind die verschiedenen Blickwinkel die bedeutsamste Eigenschaft des Panoptikums: Aus Sicht des Kontrolleurs wird der Raum parzelliert und strukturiert und die Überwachung aller Individuen und Prozesse von einem aus Standpunkt ermöglicht. Aus Sicht der Individuen sind diese voneinander isoliert und können permanent überwacht werden. Dabei können sie nicht wissen und erkennen, ob sie tatsächlich in einem bestimmten Augenblick überwacht werden, aber es besteht die permanente Möglichkeit der Überwachung. Ohne ihre Überwachung wahrnehmen zu können, müssen sie sich deshalb überwacht fühlen und werden so selbst zu Trägern und Ausführenden der Überwachung. Auf diese Weise wird die Macht ent-individualisiert und automatisiert, denn die Person des Kontrolleurs ist nicht von Bedeutung, sondern, dass die Individuen ihre eigene Unterwerfung selbst betreiben (vgl. a.a.O., 259 f). Foucault zeigt so, wie die Disziplinarmacht zu einem ‚integrierten‘ System wird, „das von innen her mit der Ökonomie und den Zwecken der jeweiligen Institution verbunden ist und das sich so zu einer vielfältigen, autonomen und anonymen Gewalt entwickelt.“ (a.a.O., 228) Es spielt dabei keine Rolle mehr, wer Macht über wen hat, denn Macht ist nicht Eigentum einzelner Individuen, sondern ist vielmehr eine Art Regelsystem, das unabhängig von den jeweiligen Funktionsträgern funktioniert und immer in dem Augenblick entsteht, in dem es angewendet wird. Weil die hierarchische Überwachung jederzeit und überall wirksam ist, produziert sich Macht durch die Disziplinierung der Individuen ständig selbst (vgl. a.a.O., 229). So wird die Macht zugleich anonymisiert und individualisiert, wenn der Einzelne die Selbstkontrolle zu einem Bestandteil der eigenen Lebenspraxis und Identität macht. Auf physische Gewalt kann in diesem System weitestgehend verzichtet werden. 3.1.4.2 Normierende Sanktion Mit normierender Sanktion beschreibt Foucault eine den Disziplinarsystemen eigene ‚SubJustiz’ (vgl. a.a.O., 230 f): Der Raum, der vom Gesetz nicht erfasst wird, wird durch eigene Gesetze, Delikte, Sanktionsformen und Gerichtsinstanzen gestaltet. Auch kleinste Verhaltensweisen, die den großen Bestrafungssystemen (der Justiz) gleichgültig sind, werden qualifiziert und sogar mit scheinbar harmlosen Elementen des Disziplinarapparates bestraft. Strafbar wird alles, was von der Regel abweicht. Am Ende kann alles dazu dienen, alles zu bestrafen. Das Disziplinarsystem operiert allerdings nicht nur mit der Bestrafung. Vielmehr ist es ein ‚Zweitaktmechanismus’ aus Vergütung und Sanktion (vgl. a.a.O., 232 ff). Dabei dient die Sanktion nicht ausschließlich der Einhaltung künstlicher Gesetze, sondern auch der Einhaltung einer Ordnung, die durch beobachtbare und natürliche Prozesse (wie z.B.
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der kindlichen Entwicklung) entsteht. Abweichungen von der Ordnung sollen so reduziert und korrigiert werden. Es erscheint wenig verwunderlich, dass die Mittel, die Ordnung wieder herzustellen, didaktischen Prinzipien nicht unähnlich sind: „Neben Strafmitteln, die direkt der Justiz entliehen sind […] bevorzugen die Disziplinarsysteme Bestrafungen, die in den Bereich des Übens, des intensivierten, vervielfachten, wiederholten Lernens fallen.“ (a.a.O., 232) Das Verhalten des Einzelnen wird in den Techniken der normierenden Sanktion allerdings nicht einfach als gut oder schlecht bewertet, sondern vielmehr in einem Kontinuum zwischen einem positiven und einem negativen Pol verortet. Dafür muss alles dokumentiert, quantifiziert, bewertet und schließlich bilanziert werden, was über das Individuum in Erfahrung gebracht werden kann. Durch das eigene Verhalten können so Plus- und Minuspunkte gesammelt werden, die notiert und miteinander verrechnet werden, so dass am Ende die legitime Position in der Hierarchie des Disziplinapparates ermittelt werden kann. Foucault spricht hier von der ‚Mikro-Ökonomie’ einer pausenlosen Justiz, die die Individuen als Ganzes (ihre Natur, ihre Anlagen, ihr Niveau, ihr Wert) und nicht mehr nur ihre Taten differenziert (vgl. a.a.O., 234). Durch die Anordnung der Individuen in Rängen oder Stufen werden Abstände markiert und die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisiert. „Die Disziplin belohnt durch Beförderungen, durch die Verleihung von Rängen und Plätzen; sie bestraft durch Zurücksetzungen.“ (a.a.O., 234) So werden die Rangplätze selbst zur Belohnung oder Bestrafung. Strafmittel zielen deshalb nach Foucault nicht auf die Buße des reuigen Sünders, auf die Wiedergutmachung für die Opfer oder auf die Rache der Gemeinschaft, sondern es geht um die Einhaltung von Konformität (vgl. a.a.O., 236): Zunächst werden einzelne Taten, Leistungen und Verhaltensweisen auf eine Gesamtheit bezogen. Zweitens werden die Fähigkeiten, das Niveau oder die ‚Natur‘ der Individuen gemessen und die Werte in eine Rangfolge gebracht. Drittens können die Individuen nun untereinander und im Hinblick auf die Gesamtheit differenziert werden, indem ein Durchschnitt, ein Mindestmaß oder Annäherungswert der Gesamtheit als Regel herangezogen wird. Schließlich wird eine letzte Kategorie gebildet: Das Anormale als Abgrenzung zu allen anderen Kategorien im Kontinuum. Indem im Disziplinarsystem also Abstände gemessen, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abgestimmt werden, werden die Individuen zugleich homogenisiert und differenziert. Auf diese Weise wirkt das Disziplinarsystem normend, normierend, normalisierend (vgl. a.a.O., 236). Die Macht der Norm erweist sich nun, so Foucault, als zentrales gesellschaftsbildendes Prinzip: „Zusammen mit der Überwachung wird am Ende des klassischen Zeitalters die Normalisierung zu einem der großen Machtinstrumente. An die Stelle der Male, die Standeszugehörigkeiten und Privilegien sichtbar machten, tritt mehr und mehr ein System von Normalitätsgraden, welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken. […]“
Und weiter: „Die Macht der Norm hat innerhalb eines Systems der formellen Gleichheit so leichtes Spiel, da sie in die Homogenität, welche die Regel ist, als nützlichen Imperativ und als präzises Messergebnis die gesamte Abstufung der individuellen Unterschiede einbringen kann.“ (a.a.O., 237) Ein aktuelles Beispiel für den Einfluss normierender Sanktionen sind die Sprachstandserhebungen in den Kindertageseinrichtungen, die vor der Einschulung die individuel-
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len Sprachkompetenzen von Kindern ermitteln und Abweichungen zur ‚normalen’ Entwicklung feststellen sollen. Durch gezielte Fördermaßnahmen sollen jene Kinder, deren sprachliche Kompetenz zu sehr von der Norm abweicht, mit speziellen Programmen bis zur Einschulung in ihrer sprachlichen Entwicklung gefördert werden. Zugleich werden durch diese Erhebungen aber neue Kategorien von ‚unauffälligen’ und ‚förderungsbedürftigen’ Kindern geschaffen, in die jetzt alle Kinder nach objektiven Kriterien eingeordnet werden. Zuvor wurde der Sprachstand eines Kindes überhaupt nur dann zum Gegenstand der Aufmerksamkeit, wenn er in irgendeiner Weise auffällig war. 3.1.4.3 Prüfung In der Prüfung werden die hierarchische Überwachung und die normierende Sanktion schließlich zusammengeführt. Durch sie werden die Individuen erst für die anderen Disziplinartechniken sichtbar gemacht, so dass sie differenzierend behandelt werden können. Letztlich ist die Prüfung der Ort der qualifizierenden und klassifizierenden Überwachung, in dem der normierende Blick wirksam wird (vgl. a.a.O., 238). Anhand der Geschichte des Spitals und der Schule zeigt Foucault, wie die Prüfung eine „bestimmte Form der Machtausübung mit einem bestimmten Typ der Wissensformierung kombiniert“ (a.a.O., 241): Durch die regelmäßige Visite des Arztes entstehen allmählich die untergeordneten Berufe der Krankenschwester und des Krankenpflegers. Durch die regelmäßige Überprüfung des Patienten wird medizinisches Wissen generiert und vermittelt und der Aspekt der Pflege und Fürsorge zurückgedrängt. In der Schule wird die abschließende Zunftprüfung, die das Ende der Lehrzeit markierte, durch häufige, regelmäßige Prüfungen und Tests im Verlaufe des Schuljahres ersetzt. Die Prüfung zeigt am deutlichsten den Unterschied zwischen Disziplinarmacht und der traditionellen Macht: In der traditionellen Macht steht die Macht selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diejenigen, die dieser Macht unterworfen werden, sind als Individuen unwichtig, an ihnen wird vielmehr Macht demonstriert. Deshalb sind die Unterworfenen austauschbare Platzhalter. Die Disziplinarmacht dagegen rückt die Unterworfenen ins Zentrum und bleibt selbst als anonymer Wirkmechanismus im Hintergrund. Durch die Prüfung untersteht das Individuum ständiger Aufmerksamkeit. „Es ist gerade das ununterbrochene Gesehenwerden, das ständige Gesehenwerdenkönnen, […] was das Disziplinarindividuum in seiner Unterwerfung festhält.“ (a.a.O., 241) Auf diese Weise wird das Individuum zum Objekt der Macht. Foucault zeigt diesen Vorgang an der (Militär-) Parade: Die einzelnen ‚Subjekte’ werden in der geordneten Aufstellung zu Objekten, die sich selbst der Beobachtung zuführen. Der Souverän zeigt seine Macht durch die Parade nicht direkt. Vielmehr wird seine Macht durch die Parade hergestellt, indem die Objekte selbst die Macht durch ihre Position im Raum und ihre Haltung zum Ausdruck bringen (vgl. a.a.O., 242). Gleichzeitig wird das Individuum durch die Prüfung beinahe vollständig dokumentierbar. Durch eine Vielzahl von Codes lassen sich die in der Prüfung ermittelten individuellen Merkmale vereinheitlichen und verschlüsseln. Gleichzeitig wird es durch die Prüfung und Dokumentation möglich, Durchschnittswerte zu ermitteln, zu klassifizieren, Kategorien zu bilden und Normen zu fixieren. Durch diesen „Aufzeichnungsapparat“ (a.a.O., 245) wird das Individuum einerseits zum beschreibbaren und analysierbaren Gegenstand, welches in seiner Einzigartigkeit dokumentiert werden kann, andererseits wird auf diese Weise erst
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Vergleichbarkeit als Grundlage von Bevölkerungswissenschaften, Demographie etc. geschaffen. Durch die umfassende Aufzeichnung aller Eigenheiten des Individuums wird erstmals das Individuum selbst und nicht mehr nur die Gattungseigenschaften zum Untersuchungsgegenstand der Humanwissenschaften (vgl. a.a.O., 246). Während in früheren Zeiten die Aufzeichnung der individuellen Lebensgeschichte, die Aufzeichnung von Tagesabläufen usw. ein Privileg der Mächtigen war, durch das sie sich von der Masse abheben konnten, wird durch das Entstehen der Disziplinarmacht die Beschreibung der Individualität zum Mittel der Kontrolle und der Beherrschung. Das Individuum wird zum Fall, der ausgewertet werden kann. Durch das Aufschreiben der wirklichen Existenz entstehen „die objektivierende Vergegenständlichung und die subjektivierende Unterwerfung“ (a.a.O., 247) des Individuums. Die Prüfung ermöglicht es, jedem Einzelnen eine Position im gesellschaftlichen Gefüge zuzuweisen, indem er „auf die ihn charakterisierenden Eigenschaften, Maße, Abstände und ‚Noten’ festgelegt wird, die aus ihm einen ‚Fall’ machen.“ (a.a.O., 247, Herv. i. Org.). Foucault hebt hervor, dass die Individualisierungsmechanismen am stärksten bei den Anormalen ansetzen, also beispielsweise bei Kindern, Kranken, Behinderten, Delinquenten 6. Die gesunden, normalen, gesetzestreuen Erwachsenen werden individualisiert, indem man gezielt nach Abweichungen von den Normen sucht (vgl. a.a.O., 249). In traditionellen Gesellschaften, so Foucault, nimmt die Individualisierung mit zunehmender Macht und aufsteigender gesellschaftlicher Position zu. Je höher jemand steht, desto mehr wird er als Individuum beobachtet, thematisiert und in Zeremonien eingebunden. In der Disziplinargesellschaft dagegen werden die Unterworfenen umso mehr individualisiert, je anonymer und funktioneller die Macht wird (vgl. a.a.O., 248). Das überwiegende Instrument der Macht ist deshalb auch nicht die Zeremonie oder das Ritual, die den Stand einer Person festschreiben können, sondern die Überwachung und Beobachtung. 3.1.5 Technologien des Selbst Später betrachtet Foucault die Disziplin stärker als Regierungstechnologie, welche nicht nur die Fremdsteuerung der Subjekte beinhaltet, sondern die vor allem dafür sorgt, dass die Subjekte sich auf eine bestimmte Weise selbst steuern. Es geht ihm nun um das Zusammenspiel von Subjektivierungspraktiken und Machttechniken zweiter Ordnung (vgl. Rieger-Ladich 2004, 212). Auch die Disziplinartechniken zielen aus dieser Perspektive letztlich auf die Konstitution des Selbst ab: Indem das Individuum dauerhaft und vollständig kontrolliert wird, entwickelt sich das Selbst in der Selbstaufgabe und dem Verzicht auf einen eigenen Willen (vgl. Foucault 1993, 57 f). „Das Selbst muss sich durch Gehorsam als Selbst konstituieren.“ (a.a.O., 58) In seinen letzten Lebensjahren konzentrierte Foucault seine Analysen auf diese Frage nach dem Subjekt und seinen Selbsttechniken. Dazu richtete sich sein Blick als Historiker auf das Verständnis von Sexualität in der klassischen griechischen Antike, der römischen Antike und dem frühen Christentum (vgl. Horn 2001, 140). Foucault nimmt hier erneut eine Perspektivenverschiebung in seiner Forschung vor: „Vielleicht habe ich die Bedeutung der Technologien von Macht und Herrschaft allzu stark betont. Mehr und mehr interessiere ich mich für die Interaktion zwischen einem selbst und anderen und für die Technologien indi6
Heute müsste man die Reihe vermutlich ergänzen: bei Flüchtlingen, Arbeitslosen, Migranten/innen.
3.1 Einführende Orientierungen zum Theoriekorpus bei Foucault
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vidueller Beherrschung, für die Geschichte der Formen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt, für die Technologien des Selbst.“ (Foucault 1993, 27) Foucault betrachtet nun die Technologien der Selbsterkenntnis und der Sorge um sich in der Antike und im frühen Christentum bis zum Mittelalter. In Platons Alkibiades und der Stoa weist er das Primat der ‚Sorge um sich’ als vorrangige Regel im persönlichen und sozialen Verhalten nach (vgl. a.a.O., 32 ff). „Sorge um sich selbst war kein abstrakter Ratschlag, sondern eine vielfältige Tätigkeit, ein Netz von Verpflichtungen und Diensten gegenüber der Seele.“ (a.a.O., 37) Um auf sich selbst achten zu können, war es notwendig, das eigene Verhalten und die eigenen Gedanken zu beobachten und zu reflektieren. Im Vergleich mit der klassischen Antike stellt Foucault heraus, dass sich die Sexualmoral des Christentums in Codes und Verhaltensregeln konstituiert, während die heidnisch-antike Einstellung zur Sexualität von Selbstpraktiken und Askesetechniken bestimmt gewesen sei. „Die pagane Antike interessierte sich für Aspekte der Mäßigung, Selbstbeherrschung und Selbststilisierung aus der individuellen Perspektive, während die christliche Reflexion an den Aspekten der gefallenen Natur sowie an universell gültigen Gesetzen orientiert ist“ (a.a.O. 148, Herv. i. Org.). Sexualität sei in der Antike nicht als per se schlecht oder Ausdruck von Bosheit, Verfall und Sünde interpretiert worden, sondern sexuelle Lust werde vom Standpunkt des Subjekts aus behandelt, das fürchtet, von der Heftigkeit erotischer Impulse überwältigt zu werden. Dadurch entstehen die Regeln der ‚diaita‘ (Lebensweise) für eine Lebensweise der Mäßigung, die zur Vergrößerung der Selbstverfügung des Individuums führen soll. Die ‚Diät’ ist eine Lebensweise und fundamentale Kategorie, „in der die menschliche Lebensführung gedacht werden kann; sie charakterisiert die Weise, in der man seine Existenz führt, und ermöglicht es, die Lebensführung mit Regeln auszustatten: eine Problematisierung des Verhaltens im Hinblick auf eine Natur, die man zu bewahren und der man sich anzupassen hat. Die Diät ist eine ganze Lebenskunst.“ (Foucault 1986, 131, Herv. i. Org.) Mit dem Christentum habe dagegen eine Vorstellung Einzug gehalten, nach der die Selbstlosigkeit, die Zurückweisung des Selbst zur obersten Regel wird. Nun untersucht Foucault jene Praktiken, mit deren Hilfe das Individuum die Regierung seiner selbst betreibt. Die Wurzeln dieser Selbsttechniken sieht Foucault im christlichen Pastorat und den Regeln mönchischen Lebens. Den Pastor zeichnet nach Foucault aus, dass er sich um das individuelle Seelenheil seiner Herde in der anderen Welt sorgt. Zweitens ist der Pastor im Gegensatz zum König bereit, sein „[…] Leben und Heil der Herde zu opfern“ (Foucault 1987, 248). Er kümmert sich nicht nur um das Wohl der Gemeinde insgesamt, sondern um jedes einzelne Individuum sein Leben lang. Schließlich impliziert das Pastorat, dass der Pastor die Seelen seiner ‚Schafe’ kennt und in der Lage ist, sie zu steuern. Der Mönch war dazu verpflichtet, sein gesamtes Denken auf Gott auszurichten und sich fortwährend zu prüfen. Dabei wurde unterstellt, dass etwas Verborgenes im Geist lauert, das eine wiederkehrende Selbsttäuschung und eine innere Unreinheit bewirkt. Um dieser entgegenzuwirken, entsteht neben dem absoluten Gehorsam die Verpflichtung zum steten Bekenntnis (z.B. durch die Beichte) gegenüber dem Oberen (vgl. Foucault 1993, 60). „Jeder hat die Pflicht, zu erkennen, wer er ist, das heißt, er soll ergründen, was in ihm vorgeht, er muss versuchen, Fehler, Versuchungen und Begierden in sich selbst ausfindig zu machen, und jedermann ist gehalten, diese Dinge entweder vor Gott oder vor anderen Mitgliedern der Gemeinschaft zu enthüllen, also öffentlich oder privat gegen sich selbst auszusagen.“ (a.a.O., 52)
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
Durch die stetige analytische Verbalisierung von Gedanken entsteht so eine Gehorsamsbeziehung zwischen Pastor und Sünder, die durch den Verzicht auf den eigenen Willen und das eigene Selbst bestimmt ist. Indem das Innerste, das Verborgene ausgesprochen wird, wird das Selbst sichtbar gemacht und zugleich der Verzicht auf dieses Selbst bekundet (vgl. a.a.O., 61). So wird das Pastorat „[…] mit einer Produktion von Wahrheit verbunden, der Wahrheit des Individuums selbst“ (Foucault 1987, 248). Dabei gehen die Verpflichtung, das eigene Selbst zu erkennen und die Verpflichtung zur Anerkennung von Wahrheiten eine eigentümliche Verbindung ein. Die Regeln für akzeptables Verhalten werden aus den Beziehungen zu anderen abgeleitet, wobei äußere Gesetzmäßigkeiten die Grundlage für Moral bilden. Man nun muss das eigene Selbst erkennen, um es zurückweisen zu können. Die Selbsterkenntnis wird so im Mittelalter zur Vorbedingung der Selbstlosigkeit, die den Schlüssel zum jenseitigen Heil darstellt. Das Motto ‚Erkenne Dich selbst’ überlagert deshalb in der christlichen Tradition das antike Motto ‚Achte auf Dich selbst’. Foucault wurde für diese Analysen stark kritisiert, da der Eindruck entstand, er würde hier einen ontologischen Subjektbegriff voraussetzen, den er zu Beginn seines wissenschaftlichen Wirkens so ausdrücklich ausgeschlossen hatte und die antiken Selbsttechnologien als Gegenmodell zu heutigen Selbsttechnologien präsentieren. Foucault betrachtet allerdings die Auseinandersetzung mit antiken Formen der Selbstsorge als kritische Auseinandersetzung mit modernen Subjektivierungsformen und weniger als Lösungsschablone für heutige Problemlagen. Rieger-Ladich sieht denn auch in diesen späten Arbeiten Foucaults die Aufforderung, „das komplizierte Zugleich von Unterwerfung und Aufbegehren, das für das Subjekt charakteristisch sei, zu denken, ohne dieses nachträglich doch noch mit einer elementaren Freiheit auszustatten.“ (Rieger-Ladich 2004, 204 unter Bezugnahme auf Foucault 1992, Herv. i. Org.). Tatsächlich sind die späten Werke eher als eine erneute methodische Wende zu sehen. Erst in der Auseinandersetzung mit den antiken Formen der Sorge um sich werden heutige Praktiken, durch die sich das Selbst konstituiert, als kulturelle Schemata der modernen Gesellschaft reflektierbar (vgl. Foucault 2005, 287). Foucault schafft durch den Vergleich mit antiken Technologien der Sorge um sich einen diskursiven Rahmen, damit es überhaupt erst möglich wird, neuartige Selbsttechnologien als solche zu erkennen und zu thematisieren. So zeigt er anhand von Gehorsam und Geständnis im Christentum auf, wie diese Selbsttechnologien zu zentralen Praktiken der Gouvernementalität werden. Im 18. Jahrhundert entwickelt sich eine individualisierende Pastoralmacht, die ihre Mechanismen auch außerhalb der kirchlichen Institutionen verbreitet. Diese neue Pastoralmacht sucht nicht mehr das Heil der Individuen im Jenseits, sondern in dieser Welt z.B. in Form des Lebensstandards, der Gesundheit oder der Sicherheit (vgl. a.a.O., 250). Diese ‚weltlichen‘ Ziele werden verwirklicht durch die Ausweitung der Pastoralmacht in der Verwaltung, indem staatliche Institutionen, öffentliche Einrichtungen, Hospitäler, Fürsorgevereine oder Privatunternehmungen entstehen, aber auch die Familie wird mobilisiert, um Pastoralfunktionen zu übernehmen. Der gesamte Gesellschaftskörper wird nach Foucault von der ‚individualisierenden Taktik‘ (a.a.O., 250) der Pastoralmacht durchzogen, die in Familie, Medizin, Psychiatrie, Erziehung, Erwerbsarbeit usw. sichtbar wird. Dabei stehen die Ordnungsapparate und Disziplinartechniken der Polizey und die Gehorsams- und Geständnistechniken der Pastoralmacht in einem engen Verhältnis zueinander. Zugleich tragen die ‚Institutionalisie-
3.1 Einführende Orientierungen zum Theoriekorpus bei Foucault
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rung’ von Pastoralmacht und Polizey zur Vermehrung des Wissens über die Bevölkerung als dem Ziel und Gegenstand der Regierung bei. 3.1.6 Die Möglichkeit von Kritik Damit wird aber die Frage nach den Technologien des Selbst und der Freiheit des Subjektes in den Machtbeziehungen erneut virulent. Denn wenn Foucault das Subjekt als historisches Subjekt begreift, muss er schließlich die Möglichkeit von gesellschaftlichem Wandel als einem Wandel der Regierungsform einbeziehen. Eine zentrale Frage, die aus diesem Subjektverständnis erwächst, ist die Frage nach der Möglichkeit von Kritik, aus der Widerstand und Veränderung entstehen kann. Subjektivierung ist also ein Prozess, der die Unterwerfung und Freisetzung des Subjektes zugleich betreibt, denn um sich selbst führen zu können, muss ein Akteur entstehen, der zu dieser Selbstführung fähig ist. Im Gegensatz zum Gewaltverhältnis, welches jede Möglichkeit des Gegenübers zur Reaktion ausschließt und nur Passivität zulässt, sind Machtbeziehungen darauf angewiesen, dass das Gegenüber als Subjekt des Handelns anerkannt und erhalten bleibt (vgl. Foucault 1987, 254). Die sozialen Kräfteverhältnisse werden auf dieser individuellen Ebene in den Beziehungen der Menschen zueinander und zu sich selbst entwickelt. So entsteht vor dem Machtverhältnis ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen und Erfindungen. Machtbeziehungen bestehen nur ‚in actu’, auch wenn sie sich auf permanente Strukturen stützen. Macht findet sich deshalb nicht nur in den strategischen Technologien, sondern „ist ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können. Sie ist auf Handeln ausgerichtetes Handeln.“ (a.a.O., 256)
Machtbeziehungen sind somit veränderbar und umkehrbar und haben einen unregulierten Charakter. Wenn es aber in Machtbeziehungen Handlungsoptionen gibt, dann ist potenziell auch die Möglichkeit gegeben, nicht nur die eigene Führung zu betreiben, sondern diese auch kritisch zu betrachten und ihre Bedingungen zu hinterfragen. Nach Foucault ist „[…] Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin“ (Foucault 1992, 13). Nach Rieger-Ladich geht es darum, eine kritische Haltung zu verinnerlichen, um die jeweils wirksamen Regierungspraktiken zu identifizieren und sie aus dem Nebel ihrer vermeintlichen Unantastbarkeit oder einer natürlichen Ordnung zu ziehen. Tatsächlich aber erscheint jede Form der Wendung gegen die Regierung tendenziell begrenzt, denn jedes widerständige Subjekt selbst ist aus dieser Regierungsform hervorgegangen und somit ein Teil derselben. Kritik bleibt somit immer „innerhalb des undurchsichtigen Gewebes von Diskursordnungen und Machtstrukturen“ (vgl. Rieger-Ladich 2004, 213) eingebunden. Die Kritik des Subjekts kann sich nicht außerhalb der Diskurse bewegen, die in seiner Zeit erscheinen, denn Wissen außerhalb des Diskurses ist nicht möglich.
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
Kritik kann sich deshalb nur gegen die konkreten Machtverhältnisse richten, in denen sich die Subjekte befinden, aber nicht gegen die Tatsache der Regierung selbst (vgl. ebd.). Widerstand ist möglich, aber das Streben nach individueller Freiheit ist kein natürlicher Wesenszug und Bestandteil menschlichen Daseins. Obwohl Foucault mit Habermas darin übereinstimmt, dass die Kommunikationsbeziehungen bestimmen, was als wahr gilt, hält er deshalb die Vorstellung des herrschaftsfreien Diskurses für eine Utopie: „Ich glaube, dass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann, sofern man sie als Strategien begreift, mit denen die Individuen das Verhalten anderer zu lenken und zu bestimmen versuchen. Das Problem ist also nicht, sie in der Utopie einer vollkommenen transparenten Kommunikation aufzulösen zu versuchen, sondern sich die Rechtsregeln, die Führungstechniken und auch die Moral zu geben, das ‚ethos’, die Sorge um sich, die es gestatten, innerhalb der Machtspiele mit einem Minimum an Herrschaft zu spielen.“ (Foucault 2005, 296 f, Herv. i. Org.)
Es geht nicht um eine Kritik, die die Regierung der Individuen an sich in Frage stellt und sich der Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft (wie sie in einer Erziehung zur Freiheit impliziert ist) verschreibt, sondern die Relativität und historische Gebundenheit der Art und Weise, wie wir regieren und regiert werden, hinterfragt. Foucault beschreibt deshalb Kritik als „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992, 12). Kritik ist bei Foucault deshalb nicht normativ. Insofern hat auch eine kritische Analyse der individuellen Hilfeplanung nicht die Aufgabe, diese als ‚gut’ oder ‚schlecht’ zu bewerten, sondern herauszuarbeiten, wie die Elemente des Dispositivs sich zueinander verhalten und auf welche Weise dadurch Probleme bearbeitet werden. 3.1.7 Zum Konzept der ‘Gouvernementalität der Gegenwart’ Während Foucault sich vor allem mit historischen Formen der Gouvernementaltiät beschäftigt hat (um dadurch die Frage nach modernen Formen überhaupt erst möglich zu machen,) identifizieren zahlreiche Autoren/innen ‚Neoliberalen Regierungsweisen‘ als überwiegende Form der Gouvernementalität der Gegenwart (vgl. Lemke 2007; Bröckling 2007; Dzierzbicka 2006; Bröckling/ Krasmann/ Lemke 2000; Rose 2000; Lemke 1997). Der Begriff der Gouvernementalität behandelt dabei zunächst ganz allgemein Regierung als Bindeglied zwischen strategischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen. Dadurch wird es möglich, den Zusammenhang von Regierungstechnologien und Techniken zu untersuchen, mit denen das Individuum sich selbst konzipiert und führt. Deshalb eignet sich drittens das theoretische Konstrukt der Gouvernementalität dazu, zu untersuchen, in welcher Weise die Wissensbestände einer Zeit und die spezifischen Regierungstechniken zusammen wirken (vgl. Bröckling/ Krasmann/ Bröckling 2000, 8). Neoliberale Gouverne-mentalität beinhaltet nicht den Rückzug des Staates aus gesellschaftlichen Problembereichen, sondern vielmehr eine strategische Führung durch neue Regierungsweisen (vgl. Lemke 2007, 55). Statt direkter Intervention und Kontrolle wirken diese Regierungsweisen durch indirekte Techniken zur Führung und Leitung von Individuen.
3.1 Einführende Orientierungen zum Theoriekorpus bei Foucault
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„Das Spezifikum der neoliberalen Rationalität liegt in der anvisierten Kongruenz zwischen einem verantwortlich-moralischen und einem rational-kalkulierenden Subjekt. Sie zielt auf die Konstruktion verantwortlicher Subjekte, deren moralische Qualität sich darüber bestimmt, dass sie die Kosten und Nutzen eines bestimmten Handelns in Abgrenzung zu möglichen Handlungsalternativen rational kalkulieren. Da die Wahl der Handlungsoptionen als Ausdruck eines freien Willens auf der Basis einer selbstbestimmten Entscheidung erscheint, sind die Folgen des Handelns dem Subjekt allein zuzurechnen und von ihm selbst zu verantworten.“ (Lemke 2007, 55)
Diese individualisierenden Strategien können, so Lemke weiter, in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern eingesetzt werden, so dass diese nicht mehr als Aufgabe gemeinschaftlicher Problemlösung, sondern als Angelegenheiten individueller Vorsorge wahrgenommen werden 7. Exemplarisch und zum besseren Verständnis dieser Strategien neoliberaler Gouvernementalität seien hier Techniken der Selbst- und Fremdführung beschrieben, die LehmannRommel (2004) im Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung von Schulentwicklungskonzepten herausgearbeitet hat: Sie zeigt in Anlehnung an Lemke (2000), dass die Übertragung des neoliberalen Programms und die Dominanz des Marktes in alle Lebensbereiche tiefgreifende Folgen für den Einzelnen haben. Mit dem Abbau staatlicher Interventionen und der Betonung der Freien Wahl und Selbstverantwortung etablieren sich vermehrt Techniken der indirekten Führung von Individuen (vgl. Lehmann-Rommel 2004, 265 f). Entsprechend zeigt sich die Ökonomisierung im schulischen Sektor „durch das Schaffen von Umgebungen, in denen Techniken, Arrangements und Taktiken Subjekte als selbstregulierende und autonome Agenten positionieren und dafür sorgen, dass zunehmend indirekt, d.h. ohne Vorschriften, regiert werden kann“ (a.a.O., 266). An drei Diskursen zu ‚Partizipation‘, Selbstreflexion ‚eigenverantwortlicher’ Schülerinnen und Lehrer‘, sowie am Diskurs um ‚Rückmeldung‘ zeigt Lehmann-Rommel, wie die derzeitigen Reformstrategien der Schulentwicklungskonzepte die Subjektivierung der Regierungstechniken auf unterschiedlichen Ebenen vorantreiben. Partizipation solle durch die Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen hergestellt werden (vgl. a.a.O., 267 f). Die Normativität von Machbarkeitsannahmen in den Schulentwicklungskonzepten haben dabei einen Einfluss auf das Identitätsverständnis und die Subjektivität der Beteiligten, unabhängig davon, ob der Einzelne den Schulentwicklungskonzepten zustimmt oder sie ablehnt. Dadurch werden aber konzeptionelle und strukturelle Probleme als individuelle Umsetzungsschwierigkeiten heruntergespielt und die Konzepte selbst nicht mehr hinterfragt. Die Individuen werden zu Unternehmern ihrer Selbst gemacht. In der Folge werden tendenziell Probleme von Kindern und Lehrpersonen nicht mehr in ihren sozialen oder institutionellen Kontexten untersucht, sondern als persönliche Defizite der Selbstwertschätzung, Selbstdisziplin und Motivation wahrgenommen (vgl. a.a.O., 272). Dabei werden nicht nur die Lernprozesse selbst thematisiert, sondern auch die Anforderung formuliert, Emotionen, Begehren und Konflikte managen zu können. Kontrolle wird nicht hierarchisch organisiert, sondern durch kommunikative Beurteilungsverfahren ersetzt. In solchen ‚demokratischen’ Verfahren liegen auch Gefahren für das Individuum: „Menschen, die ihre Identitäten in Diskursen von Leistung aufbauen, unterliegen einerseits der Verführung, leidenschaftlich zu sein in Bezug auf Höchstleistung, andererseits schaffen fortwährendes Beurteilt werden und dauernd wechselnde 7 Auch in anderen Theorierichtungen werden neoliberale Regierungsweisen als Individualisierungsstrategien von gesellschaftlichen Problemlagen und Aktivierungsstrategie der vermeintlichen ‚Problemträger‘ untersucht (vgl. exempl. Dahme/ Wohlfahrt 2003).
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
Anforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven Unsicherheit und Instabilität.“ (a.a.O., 276) So stellt Pongratz zusammenfassend fest, dass das Paradigma der Selbstorganisation das Herzstück eines Macht-Wissens-Komplexes bildet, „der Neoliberalismus und die Ökonomisierung der Bildung mit systemtheoretischen und konstruktivistischen Theoriemodellen verknüpft, um das Bildungssystem umfassender als je zuvor ins Netzwerk von Disziplinarprozeduren einzubinden.“ (Pongratz 2004, 254) 3.2 Methodologische Konzeptualisierung der Untersuchung Da Foucault nur einige methodologische Hinweise im Rahmen der Archäologie und der Genealogie gegeben hat, aber keine systematische Methodik im Rahmen seiner eigenen Analysen beschrieben, noch anderweitig explizit formuliert hat und im Gegenteil diese wegen der notwendigen Flexibilität im Forschungsprozess eher abgelehnt hätte, bleiben in dieser Hinsicht Fragen für die vorliegenden Arbeit aus dem Werk Foucaults offen. Einige Autoren halten es sogar für illegitim, aus den Arbeiten Foucaults eine konkrete Methodik ableiten zu wollen (vgl. exempl. Sarasin 2003; Schrage 1999). Zudem hat Foucault, im Gegensatz zum hier vorliegenden Forschungsinteresse, stets historisch bzw. historischvergleichend gearbeitet, so dass die Gegenwartsanalysen der so genannten ‚Gouvernementally Studies‘ in der Kritik stehen, Foucaults Ergebnisse unreflektiert auf eine Gegenwartsdiagnostik zu übertragen. Darin wird hier allerdings kein grundsätzlicher Widerspruch zum Anliegen Foucaults gesehen, da auch für Foucault ein Zweck historischer Analysen war, damit eine kritisch-reflektorische Distanz zu den Macht-Wissenkomplexen der Gegenwart zu erhalten, die erst aus einer solchen Distanz heraus erkannt und beschrieben werden können (vgl. Abschnitt 3.1.6; dazu auch Rieger-Ladich 2004, 218). Andere Autor/innen haben deshalb Vorschläge für eine systematische Diskursanalyse entwickelt, die jeweils unterschiedliche Aspekte des Diskursbegriffs bei Foucault akzentuieren und zudem verschiedene weitere erkenntnistheoretische Bezüge aufweisen (z.B. Keller 2007; Jäger 2004; Diaz-Bone 2006). Die methodologische Auseinandersetzung mit der Archäologie Foucaults hat in den vergangenen Jahren eine breite Aufmerksamkeit erfahren. Dabei sind unterschiedliche Diskursbegriffe und daraus abgeleitete Methoden der Analyse von Diskursen entstanden, die sich in der Tradition Foucaults sehen, aber jeweils unterschiedliche Schwerpunkte und Perspektiven einnehmen (einen guten Überblick bietet dazu Keller/ Hirseland/ Schneider 2001). Die Vielzahl weiterer Verfahren der Diskursanalyse macht darüber hinaus eine vollständige Darstellung möglicher methodischer Zugänge im gegebenen Rahmen kaum möglich (hierzu überblicksartig: Wrana 2006; Keller 2007). Die meisten Autor/innen wollen zudem ihre Konzepte lediglich als hilfreiche Vorschläge für die Untersuchungsanlage, nicht als konkrete Arbeitsanweisungen verstanden wissen. Die Dispositiv-Analyse ist dagegen als Forschungsstil bisher wenig in den Blick einer expliziten Methodendiskussion geraten. Eine Ausnahme stellen Bührmann und Schneider 2008 dar. Deshalb bleibt das Design dieser Untersuchung weitgehend einer eigenen Konzeptualisierung überlassen. Diaz-Bone hat zudem darauf hingewiesen, dass Diskursanalysen einem ‚Münchhausen-Problem‘ unterliegen: Es muss die Existenz diskursiver Praktiken unterstellt werden, ohne die Regeln ihrer Produktion zu kennen. „Dabei steht zunächst eine Betonung der
3.2 Methodologische Konzeptualisierung der Untersuchung
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strukturalen Perspektive im Vordergrund: die anfängliche Unterstellung einer kohärenten diskursiven Praxis, die sich aus einem Korpus rekonstruieren lassen soll.“ (Diaz-Bone 2006, Abs. 19) Dieses Problem scheint nicht abschließend lösbar und gilt m. E. in ähnlicher Weise auch für Dispositiv-Analysen. Vielmehr muss eine solche These den Ausgangspunkt darstellen, um sich auf die Suche nach Fragmenten eines solchen Diskurses zu begeben, die diese These stützen. Von dort aus können dann in einem zirkulären Vorgehen weitere Fragmente einbezogen werden, die einerseits zu einer vertieften Dispositivbeschreibung beitragen und andererseits immer wieder die Existenz des Dispositivs in Frage stellen. Letztlich bedeutet das Problem aber auch, dass sich eine Dispositivanalyse als gescheitert herausstellen kann, wenn eben keine kohärente diskursive Praxis herausgearbeitet werden kann. Dieses Risiko ist somit inhärenter Bestandteil jeder Dispositivanalyse. Während der Diskursbegriff das System der Regeln der Aussageproduktion in einem bestimmten gesellschaftlichen Feld beschreibt, geht Foucault mit dem Dispositivbegriff einen Schritt weiter. Nach Foucault ist ein Dispositiv „[…] ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ (Foucault 1978, 119 f).
Nun geht es nicht mehr nur um verbalisierte Aussagen, Ideen und Gedanken, sondern auch um die materielle Welt und alles Tun, das nicht sprachlich vermittelt ist, sowie die darin enthaltenen Bedeutungen. Zunächst soll also angenommen werden, dass es ein Netz von diskursiven wie nicht-diskursiven Praktiken gibt, welches als ein Dispositiv ‚Individueller Hilfeplanung‘ bezeichnet werden könnte. Das Dispositiv selbst (welches ja tatsächlich die Beziehungen zwischen diesen Elementen ist) lässt sich allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht hinreichend beschreiben. Es lassen sich lediglich Elemente benennen, welche die Vermutung plausibel erscheinen lassen, dass es sich hierbei um ein solches heterogenes Ensemble handelt, wie es Foucault im Blick hatte: Unter ‚Individueller Hilfeplanung‘ werden in den verschiedenen Zusammenhängen sowohl materielle und immaterielle, sowie diskursive und nicht-diskur-sive Elemente verstanden. Individuelle Hilfeplanung wird in Normen des Rechts oder der Konzeption, in Vereinbarungen und Verträgen diskursiv hergestellt. Sie wird in den Fachverbänden und zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern diskutiert, ist Gegenstand von Veröffentlichungen aus dem Wissenschaftsbereich und mindestens ein Anwendungsthema auf unterschiedlichen Tagungen. Sie zeigt sich auch ganz konkret in ‚Hilfeplanungsinstrumenten‘, in Formularen und Handreichungen usw. und wird so konkret begreifbar. Schließlich findet Individuelle Hilfeplanung im Unterstützungsalltag zwischen beeinträchtigten Menschen und ihren Unterstützungspersonen statt. Ausgangsthese ist hier also, dass im Dispositiv Individuelle Hilfeplanung gouvernementale Regierungstechnologien und Subjektivierungspraktiken erkennbar werden, die aufgrund institutionell-organisationaler Bedingungen Möglichkeitsräume für die professionelle Beziehung zwischen Mitarbeitern/innen und geistig behinderten Nutzern/innen beschreiben und die zugleich durch diese Beziehungen gestaltet werden. Ein Dispositiv ist aber nicht lediglich eine Ansammlung von Gegebenheiten in einem bestimmten gesellschaftlichen Feld. Ein Dispositiv Individuelle Hilfeplanung kann nicht als die Summe seiner Elemente bestimmt werden, sondern es sind die Verhältnisse zwischen
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
den Elementen und die Regeln der Produktion dieser Verhältnisse zu bestimmen. Mit dem Begriff des Dispositivs werden also nicht die Elemente an sich, sondern die Regeln beschrieben, durch die diese Elemente in Beziehung zueinander stehen. Es gilt also in Bezug auf Individuelle Hilfeplanung zu fragen, wie es dazu kommt, dass sich die heterogenen Elemente wie Gesetze, Formulare, Konzepte und Prozesse bis hin zu konkreten Formen des Umgangs in dieser spezifischen Art und Weise miteinander in Verbindung gebracht haben. Zu fragen ist danach, welche Mechanismen und Regeln hier eine Rolle gespielt haben und noch immer spielen, so dass das dieser Zusammenhang stets neu stabilisiert und aktualisiert wird. Da ein Dispositiv nie in Gänze abgebildet, aber in seinen wesentlichen Zügen beschrieben werden kann, wird also der Untersuchungsgegenstand ‚Individuelle Hilfeplanung‘ als Geflecht aus Denkweisen, Strategien und Techniken zwischen relevanten und konkreten Elementen herausgearbeitet. Bührmann unterteilt dazu die Dispositivanalyse in zwei Subbereiche (vgl. Bührmann 2005, Abs. 37):
Die Analyse von Beziehungen in Machtformationen im Sinne von komplexen, institutionalisierten sozialen Beziehungen. Sie fragt unter anderem danach: Wer ist autorisiert? Welche Beziehungen bestehen zwischen den Akteuren? Welche Machtstrategien werden verfolgt? Mit welchen Techniken werden sie umgesetzt? Die Analyse von Beziehungen in Diskursformationen im Sinne von komplexen, institutionalisierten Redeweisen. Sie fragt danach: Welche Gegenstände werden thematisiert? Welche Äußerungsmodalitäten sind zu erkennen? Wie werden die Begriffe konzipiert? Welche Möglichkeiten werden wozu gewählt?
Beide Subbereiche sind notwendig, um das Zusammenspiel von Macht- und Diskursbeziehungen im Hinblick auf eine spezifische Fragestellung untersuchen zu können (vgl. Abb. 3). „Damit wird auch deutlich, dass das Dispositiv-Konzept und die damit angeleitete empirische Forschung nicht nur auf der Meso-Ebene zu verorten sind, sondern in der Tat eine Vermittlung zwischen Makro- und Mikro-Ebene ermöglichen: gesellschaftlicher Wandel, Machtbeziehungen und Herrschaftsstrukturen auf der einen Seite, Konstitution von Subjektivität durch Diskurs und institutionalisierte Praktiken, Strukturierung des Alltags durch Wissensordnungen auf der anderen Seite.“ (Bührmann/ Schneider 2007, Abs. 38)
Es handelt sich hierbei aber nicht um zwei konkrete Teil-Untersuchungen, sondern um zwei Perspektiven auf einen gesellschaftlichen Bereich, die in jedem Untersuchungsschritt im Rahmen einer Dispositivanalyse auftauchen sollten. Deshalb werden in jedem Untersuchungsschritt die Untersuchungsobjekte im Hinblick auf die mit ihnen verknüpften institutionalisierten sozialen Beziehungen und im Hinblick auf ihre komplexen, institutionalisierten Redeweisen befragt. Anschließend sollten die folgenden Leitfragen im Hinblick auf die Individuelle Hilfeplanung beantwortet werden können:
Die Frage nach den im Dispositiv erzeugten, stabilisierten und aktualisierten Machtbeziehungen, die Frage nach den im Dispositiv erzeugten, stabilisierten und aktualisierten Wissensbeständen,
3.2 Methodologische Konzeptualisierung der Untersuchung
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die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und den durch das Dispositiv erzeugten, stabilisierten und aktualisierten Subjektivierungsweisen, die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Praxis.
Folgende Darstellung in Anlehnung an Bührmann (2005, Abb.1) soll den Zusammenhang von Leitfragen und Subbereichen veranschaulichen: Abbildung 3:
Grundzüge der Dispositivanalyse (in Anlehnung an Bührmann 2005, Abb.1)
Dispositivanalyse Analyse des Zusammenspiels von Macht- und Diskursbeziehungen Analyse von Machtformationen Analyse von Diskursformationen (Komplexe, institutionalisierte soziale Bezie(Komplexe, institutionalisierte Redeweisen) hungen) Wer ist autorisiert? Welche Gegenstände werden thematisiert? Welche Beziehungen bestehen zwischen Welche Äußerungsmodalitäten sind zu den Akteuren? erkennen? Welche Machtstrategien werden verfolgt? Wie werden die Begriffe konzipiert? Mit welchen Techniken werden sie umge- Welche Möglichleiten werden wozu gesetzt? wählt? Leitfragen: Die Frage nach den im Dispositiv erzeugten, stabilisierten und aktualisierten Machtbeziehungen. Die Frage nach den im Dispositiv erzeugten, stabilisierten und aktualisierten Wissensbeständen. Die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und den durch das Dispositiv erzeugten, stabilisierten und aktualisierten Subjektivierungsweisen. Die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und der Praxis.
Die Frage nach den im Dispositiv erzeugten, stabilisierten und aktualisierten Machtbeziehungen: Die Regeln der Produktion eines Dispositivs hat Foucault im Rahmen seiner Vorlesungen zur Gouvernementalität als Regierungstechnologien bezeichnet. „Dispositive sind Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von Ihnen gestützt werden.“ (Foucault 1978, 123) Dabei sind sie insofern strategisch, als sie eine Richtung oder eine Verhältnissetzung bestimmen, ohne dass eine einzelne Person benannt werden könnte, die diese Strategien bewusst in die Welt gesetzt hat. Wie Bührmann und Schneider formulieren (2007, Abs. 20), konstituieren sie Möglichkeitsräume für gültiges, ‚wahres‘ Wissen und sind zugleich selbst Effekte von Machtbeziehungen. Menschen handeln strategisch (zumeist unbewusst) und werden durch Strategien in ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung beeinflusst. Wenn aber keine Person oder ein organisationaler Akteur bestimmt werden kann, der ein Dispositiv hervorbringen kann, dann stellt sich die Frage, wie Dispositive entstehen. „Dispositive erscheinen zu bestimmten historischen Zeitpunkten als eine Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen und Problemlagen, die Lösungen erforderlich machen.“ (Foucault 1978, 129) Was ist also die Problemlage, aus der heraus Individuelle Hilfeplanung entstanden ist? Einige erste kursorische Ideen zu dieser Frage könnten konkret die
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
Veränderungen der Finanzsituation von Kassen, Ländern und Kommunen sein, die Nachwirkungen der Bürgerrechtsbewegungen der 70er Jahre und die fachlichen Veränderungen hin zu Normalisierung, Selbstbestimmung und Integration. Schließlich könnte die Problemlage auch im Zuge eines allgemeinen gesellschaftlichen Wandels entstanden sein, der je nach Theoriefolie der Autoren als Individualisierungsthese, als Folgen eines Neoliberalismus und Kennzeichen einer Postmoderne beschrieben werden kann. Wie genau die gesellschaftliche Problemlage beschrieben werden kann, ist allerdings erst am Ende der Arbeit tatsächlich formulierbar. Die Frage nach den durch das Dispositiv erzeugten, stabilisierten und aktualisierten Subjektivierungsweisen: Für Bührmann ist die Frage nach dem Subjekt eine entscheidende, wenn es um die Analyse von Dispositiven geht: „In Dispositiven werden über spezifische Machttechniken auch bestimmte Subjektivierungsweisen hervorgebracht, die den jeweiligen historisch strategischen Erfordernissen entsprechen“ (vgl. Bührmann 2001, 130). Die historisch konkreten Subjektivierungsweisen sind nach Bührmann also Effekte von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken, die in Dispositiven hervorgebracht werden (vgl. Bührmann 2007, 61). Dabei handelt es sich um spezifische Subjektivierungsweisen, die genau auf die Problemlage antworten, die in der Frage nach den Machtbeziehungen aufgeworfen wurde. Wenn die Machttechniken und Subjektivierungsweisen bekannt sind, lassen sich Möglichkeiten der Freiheit erkennen, wie sie Foucault in seinen späteren Arbeiten postuliert. Die Frage der Subjektivierung stellt sich einerseits als Frage der Subjektivierung der Akteure der diskursiven Praxen (als Autoren/innen von Texten), sie stellt sich andererseits aber auch als Frage nach der Subjektivierung der Adressaten/innen diskursiver Praxis (als Leser/innen von Texten). Vor allem aber stellt sich die Frage, durch welche Regeln die Akteure, welche in diskursiven Praktiken als ‚Objekte‘ einer Aussage angerufen werden, subjektiviert werden (z.B. als Hilfeplaner/innen, als Leistungsberechtigte, als Bewohner/innen, als Kunden/innen). Es sollen die Techniken der Führung und Selbstführung im ‚Programm‘ der Individuellen Hilfeplanung identifiziert werden. Wenn sich Techniken der Selbst- und Fremdführung in der Individuellen Hilfeplanung identifizieren lassen, auf welche Weise haben diese Einfluss auf die Subjektivierungsweisen? Wie wirken sie in nichtdiskursiven Praktiken im Unterstützungsalltag? Damit wird zugleich eine Grenze dieser Untersuchung erreicht, denn die ‚Aussageobjekte‘ werden selbst nicht im Hinblick auf ihre Technologien des Selbst im Kontext Individueller Hilfeplanung befragt. Die Frage nach den im Dispositiv erzeugten, stabilisierten und aktualisierten Wissensbeständen: Die Frage nach dem Diskurs und damit die Frage nach dem Wissen bleiben in der Dispositivanalyse ebenso wie in der Diskursanalyse aufgehoben. Foucault versteht unter einem Diskurs nicht lediglich eine Gesamtheit von Zeichen, sondern versteht sie von Anfang an als Praktiken, die „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (vgl. Foucault 1988b, 74). Diskurse haben somit eine wirklichkeitsschaffende Funktion, die im Dispositivbegriff aufgehoben und um die Bedeutung der nicht-diskursiven Praktiken ergänzt wird. So konzipieren auch Bührmann und Schneider das Dispositiv als Wechselverhältnis von Wissen und Praxis:
3.2 Methodologische Konzeptualisierung der Untersuchung
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„Konzeptionell zielt der Dispositivbegriff folglich sowohl auf die – in diesem Sinne als machtvoll zu verstehenden – Effekte der diskursiv erzeugten und vermittelten Wissens(-an)ordnungen, auf die (nicht-diskursiven) Praktiken in den betreffenden Praxisfeldern wie auch die (Rück)Wirkungen dieser Praktiken auf die diskursiven ‚Wahrheitsspiele‘ selbst.“ (Bührmann/ Schneider 2007, 23)
Auch hier geht es also weniger darum, wahres Wissen zu ermitteln, sondern danach zu fragen, warum bestimmte Wissensbestände als wahr gelten. Wie, d.h. nach welchen Regeln kommt es dazu, dass bestimmte Wissensbestände in einem Diskurs aufgerufen werden und andere nicht? Welche Kräfteverhältnisse werden durch diese Frage sichtbar und über welche Strategien werden diese Kräfteverhältnisse in den Diskursen stabilisiert und aktualisiert? Damit geht es auch bei der Frage nach den Wissensbeständen letztlich um die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Wissen als einem sich wechselseitig bedingendes Verhältnis. In welchen (Macht-)Beziehungen entsteht das Dispositiv der Individuellen Hilfeplanung und auf welche Weise entfaltet es dabei Wirksamkeit zwischen sozialrechtlichen Veränderungen, wissenschaftlicher Theoriebildung und Entwicklungen in der Praxis? Um das wechselseitige Verhältnis von Macht und Wissen im Kontext Individueller Hilfeplanung fassen zu können, bedarf es deshalb auch Elementen der Diskursanalyse. Diskurse können nach Keller ganz allgemein als eine „nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen [verstanden werden, I.N.], die im Hinblick auf institutionell stabilisierte gemeinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und Ressourcen der Bedeutungserzeugung untersucht werden.“ (Keller 2007, 64) Diskurse finden nach Keller in bestimmten Diskursfeldern (oder diskursiven Feldern) statt, in denen verschiedene Diskurse um die Konstitution bzw. Definition eines Phänomens wetteifern (vgl. ebd.). Veröffentlichungen der Behindertenhilfe sind als ein solches diskursives Feld begreifbar, da hier unterschiedliche Akteure um die Bestimmung dessen, wie die Hilfen für Menschen mit Behinderungen aussehen sollten, ringen. Insofern ist hier die Fragestellung relevant, in welcher Weise unterschiedliche Aussagepraxen (in Form von Spezialdiskursen) aufeinander treffen, eine neue Wirklichkeit produzieren (die Wirklichkeit Individueller Hilfeplanung) und welche Macht- und Kräfteverhältnisse dabei eine Rolle spielen. Diskurse werden im allgemeinen Sprachgebrauch als öffentliche Diskurse verstanden, vor allem als solche, die mit einer allgemeinen Publikumsorientierung in der massenmedial vermittelten Öffentlichkeit stattfinden. In diesem Verständnis gibt es nicht nur aktive Diskursteilnehmer/innen, sondern vor allem eine breite Öffentlichkeit als Adressatin oder Publikum des Diskurses. Die Adressaten/innen eines Diskurses sollen den Diskurs aufnehmen und in ihren eigenen Alltagsvollzügen (Interdiskurse) rezipieren. Im Hinblick auf die Individuelle Hilfeplanung ist ein allgemeines öffentliches Interesse aber ebenso wenig anzunehmen wie die Vorstellung, dass sich die Aussagen der Diskursteilnehmer/innen an eine breite Öffentlichkeit richten, sondern vielmehr an einen bestimmten Adressatenkreis. Insofern geht es hier um die Betrachtung von Spezialdiskursen, die „innerhalb von gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten, z.B. wissenschaftlichen Kontexten“ (Keller 2007, 64) stattfinden. Es geht um Spezialdiskurse zwischen sozialpolitischen Interventionsmustern, Fachdebatten innerhalb der Disziplin der Sonderpädagogik und öffentlichen Äußerungen von Meinungsträgern/innen. Solche Spezialdiskurse versteht Foucault als eigentliche diskursive Praxis.
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
Die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und der Praxis: Foucault möchte mit Hilfe des Dispositiv-Konzeptes die Verflechtungen von Sprache, Handeln und Wirklichkeit als eine Entität in den Blick nehmen8. Er konzipiert dazu das Dispositiv als miteinander verzahnte und ineinander verschlungene diskursive und nichtdiskursive Praktiken (vgl. Foucault 1978, 119). Da es ihm um die Verbindungen zwischen den Elementen geht, ist für ihn die Identifikation konkreter Elemente als diskursiv oder nicht-diskursiv weniger von Bedeutung. Die Unterscheidung zwischen diskursiven Praktiken und nicht-diskursiven Praktiken ist also zunächst eine rein analytische Trennung und bezeichnet nicht zwei unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche (Sprache und außerhalb von Sprache) (dazu auch Bührmann/ Schneider 2008, 47 ff). Um das Dispositivkonzept aber für empirische Analysen fruchtbar machen zu können, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis das Diskursive und das Nicht-Diskursive gesehen werden muss (dazu auch Bührmann/ Schneider 2008, 42 ff). Genau in dieser fehlenden Verhältnisbestimmung liegt eine Unschärfe in der Konzeption Foucaults: Einerseits stehen Diskurs und Wirklichkeit im Dispositivbegriff gleichwertig nebeneinander, andererseits bleibt bei Foucault unklar, wie das Verhältnis zwischen Diskurs und nicht diskursiver Wirklichkeit im Dispositiv empirisch erkannt werden kann (vgl. Jäger 2001, 90). Für Jäger ist deshalb die unspezifische Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und Praktiken die wesentliche Schwachstelle in der Argumentation Foucaults: „Foucault sah nicht, daß die Diskurse und die Welt der Gegenständlichkeiten bzw. Wirklichkeiten substantiell miteinander vermittelt sind und nicht unabhängig voneinander existieren.“ (Jäger 2001, 90) Während allerdings Jäger das Subjekt vor allem in der Akteursposition betrachtet, betrachten Bührmann und Schneider im Rahmen von Dispositivanalysen das Subjekt zugleich als Akteur und als Adressaten. „Das Diskursive kann als eine je angebbare Formierung von sprachlichen wie nicht-sprachlichen Praktiken bezeichnet werden, die auf zu identifizierende soziale Anlässe zurückgeführt werden kann und die zwar keine prinzipiell außer-diskursiven, aber – neben diskursiven gleichwohl möglicherweise nicht-diskursive Folgen im Sozialen – in den Selbst-Verhältnissen von Menschen wie in deren Austauschprozessen aufweist.“ (2008, 49)
Die zentrale Frage von Dispositivanalysen sei es dann, so die Autoren, welche Effekte die diskursiv vermittelten Wissensordnungen im Selbst- und Weltbezug von Subjekten bewirken. Wenn diese Effekte im Handeln der Subjekte wirken, können sie wiederum auf die diskursiv vermittelten Wissensordnungen rückwirken (vgl. 2008, 93). Der Begriff der Praktik meint dann folglich die Beschreibung einer sprachlichen oder auch nicht-sprachlichen Praxis, die im Hinblick auf die in ihr realisierten Techniken interpretiert werden kann. Keller hat dazu ein differenziertes begriffliches Instrumentarium entwickelt, welches nicht nur die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken für eine empirische Arbeit nutzbar macht, sondern auch das Subjekt als Akteur und Adressat der Praktiken thematisiert (vgl. Keller 2007, 62 ff): 8 Da Foucault im Dispositiv-Begriff nun die nicht-diskursiven Praktiken auch einbindet, löst er den Begriff der Episteme als zentralen Begriff ab. Er versteht sie nun als ‚strategisches Dispositiv‘: „Die Episteme ist das Dispositiv, das es erlaubt, nicht schon das Wahre vom Falschen, sondern vielmehr das wissenschaftlich Qualifizierbare vom Nicht-Qualifizierbaren zu scheiden.“ (Foucault 1978, 124)
3.2 Methodologische Konzeptualisierung der Untersuchung
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Die Praktiken der Diskurs(re-)produktion definiert er als die Formen der individuellen oder kollektiven Beteiligung von Akteuren am unmittelbaren Diskursgeschehen: Hier lassen sich diskursive Praktiken (z.B. Aufsätze oder Kommentare erstellen, eine Rede halten) und nicht-diskursive Praktiken (z.B. das Segnen am Ende eines Gottesdienstes, eine Straßendemonstration) unterscheiden. Während die einen Muster des Sprach- oder Zeichengebrauchs sind, die den Akteur zum Sprecher in einem Diskurs machen und ihm Gehör verschaffen, sind die anderen symbolisch aufgeladene Handlungsweisen, die durch ihren Vollzug den Diskurs stützen oder aktualisieren und z. T. auch verändern 9. Während die Praktiken der Diskurs(re)produktion also in direkter oder indirekter Weise an der (Re-)Produktion des Diskurses beteiligt sind, gibt es auch solche Praktiken, die zwar nicht unabhängig von den Diskursen gesehen werden können, aber als diskursgenerierte Modellpraktiken nicht aktiv den Diskurs adressieren oder den Diskurs fortführen. Vielmehr reproduzieren sie als normative Handlungsprogramme die jeweilige über den Diskurs entwickelte Wissens(an-)ordnung. Diskursgenerierte Modellpraktiken (egal ob diskursiv oder nicht-diskursiv) bilden die unmittelbare Kopplung zwischen den SpezialDiskursen und den (Alltags-)Praktiken in Bezug auf die Individuelle Hilfeplanung. An den Modellpraktiken lassen sich deshalb die strategischen Machtbeziehungen und Wissenskämpfe erkennen. Sprachliche Effekte von Diskursen sind beispielsweise ärztliche Diagnosen oder Beratungsgespräche. Sie stellen die praktischen Folgen eines aktuellen Diskursprozesses dar und können zugleich den weiteren Diskursverlauf mittelbar beeinflussen, ohne selbst Teil desselben zu sein. Im Hinblick auf die Individuelle Hilfeplanung sind hier die Hilfeplankonferenzen und Hilfeplangespräche zu nennen. Eine nicht-diskursive Modellpraktik ist dann beispielsweise die Art und Weise, in der Tagesabläufe in Folge der Individuellen Hilfeplanung gestaltet werden und wie sich die Arbeit von Nutzern/innen und Unterstützern/innen auf der Basis der Hilfeplanung gestaltet. Hier wäre vor allem auf neu entstehende Routinen und ritualisierte Handlungsvollzüge zu achten und zu fragen, wie diese von den Beteiligten wahrgenommen und beurteilt werden. Schließlich unterscheidet Keller diskursexterne Praktiken, die relativ diskursunabhängig stattfinden (z.B. alltagspraktische Routinen, in der Praxis tradierte Strafroutinen). In ihnen werden Diskurse aktualisiert, die (heute) keine Relevanz mehr haben und die deshalb von den beteiligten Akteuren nicht (mehr) diskursiv vermittelt werden können, sondern nur noch als inkorporierte Routinen in der nicht-sprachlichen Interaktion wirken. Durch diese Unterscheidung von Praktiken entlang einer Verhältnisbestimmung gegenüber dem Diskurs sollen empirische Beobachtungen möglich gemacht werden und zum Zweiten das Subjekt als Produzent des Diskurses und als Objekt der Diskursproduktion thematisiert werden (vgl. Bührmann/Schneider 2008, 51).
9 Hier erscheint die Terminologie Kellers etwas unscharf, da die Unterscheidung in diskursiv und nicht-diskursiv sich nur noch auf den Modus der Vermittlung eines Inhalts bezieht. Genau genommen müsste deshalb von sprachlich-vermittelten Praktiken und nicht-sprachlich vermittelten Praktiken gesprochen werden. Die Unterscheidung diskursiv – nicht diskursiv bedeutet dagegen eigentlich die Unterscheidung zwischen den Diskurs aktualisierend – den Diskurs nicht aktualisierend. Doch für diese Unterscheidung verwendet Keller die Begriffe ‚Praktiken der Diskurs(-re-)produktion’ und ‚diskursgenerierte Modellpraktiken’ einerseits und den Begriff der ‚diskursexternen Praktiken andererseits’.
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
3.3 Methodische Umsetzung Obwohl die vorliegende Untersuchung konzeptionell als Dispositiv-Analyse angelegt ist, wird der Schwerpunkt auf der Analyse diskursiver Praktiken liegen. Es geht vor allem darum, die strategischen Macht-Wissensbeziehungen herausarbeiten zu können, die im Feld der Behindertenhilfe aktiv sind und die Individuelle Hilfeplanung produzieren. Ich werde deshalb Konzeptualisierung der einzelnen Arbeitsschritte entlang eines Vorschlags von Diaz-Bone für Diskursanalysen vornehmen. Sein Vorschlag ist einerseits konkret genug, um daraus die notwendigen Schritte für das eigene Vorgehen ableiten zu können. Andererseits ist er auch offen genug, um ihn für den hier verwendeten Dispositiv-Ansatz nutzen und dem Untersuchungsgegenstand angemessen begegnen zu können. Sondierung (Kapitel 4): „In der Sondierungsphase wird exploriert, wie das Untersuchungsfeld strukturiert ist, welche Institutionen, Akteure und Datenbestände vorliegen.“ (Diaz-Bone 2006, Abs. 21) Bei Diaz-Bone dient dieser Schritt der Beschaffung von Informationen, die zur Feldsondierung dienen, und von solchen Informationen, anhand derer die Korpuserstellung (anfangs noch provisorisch) begründet werden kann. Dieser Empfehlung folgend wurde in der vorliegenden Studie eine systematische Sichtung von Publikationen der letzten 20 Jahre herangezogen. Einerseits dient sie dazu, festzustellen, wie das Feld organisational strukturiert ist und welche Akteure und Institutionen potenzielle Beteiligte im Diskursfeld sein könnten. Dabei werden auch die Beziehungen der Akteure untereinander beleuchtet. Anschließend werden im Rahmen einer ‚Globalanalyse‘ die gefundenen Diskursfragmente analysiert. Dabei soll herausgearbeitet werden, welche Akteure sich tatsächlich zu welchen Zeitpunkten mit welchen Diskursstrategien ins Diskursgeschehen eingebracht haben und wie sich die diskursive Praxis rund um die Hilfeplanung gestaltet. Aus dieser ‚Globalanalyse‘ des Diskursfeldes werden dann zentrale Teilbereiche extrahiert, die von ausgewählten Diskursfragmenten repräsentiert werden, „von denen theoretisch gestützt behauptet werden kann, dass sich eine einheitliche Wissensordnung vorfinden und sich deshalb ein kohärentes Regelsystem rekonstruieren lässt“ (Diaz-Bone 2006, Abs. 22). Oberflächenanalyse (Kapitel 5 – 8): Die in der Globalanalyse identifizierten zentralen Teilbereiche (Bereich des Rechts, Bereich der Leistungsträger, Bereich der Leistungserbringer, Bereich der Fachwissenschaften) werden im nächsten Schritt anhand von ausgewählten Diskursfragmenten untersucht. Da ein Dispositiv aus diskursiven wie nicht-diskursiven Zusammenhängen besteht, wendet sich die Arbeit in dieser Phase neben der Betrachtung der diskursiven Beiträge zentraler Akteure auch dem Bereich des Rechts als einem Element der Infrastruktur von Macht-Wissensbeziehungen zu, der den Möglichkeitsraum für die Praktiken im Feld der Behindertenhilfe strukturiert. Instrumente Individueller Hilfeplanung als Effekte der Beziehungen zwischen diesen Teilbereichen und zugleich Katalysatoren werden zudem im Zusammenhang mit den jeweiligen Teilbereichen (bzw. nachfolgend ‚Diskursarenen’ genannt) beschrieben. Im Rahmen dieses Arbeitsschritts werden die Diskursbeiträge im Hinblick auf wiederkehrende Thematisierungen und Problematisierungen untersucht. Dabei geht es um das Auffinden
3.3 Methodische Umsetzung
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von wiederkehrenden ‚Objekten’ und ‚Begriffen’ sowie Strategien der Aussageproduktion (vgl. Diaz-Bone 2006, Abs. 23). Rekonstruktion der diskursiven und nicht diskursiven Beziehungen (Kapitel 9–Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.): In diesem Schritt soll der Schluss auf erste Regeln der Aussageproduktion und Machtstrategien ermöglicht werden: Die im Kontext Individueller Hilfeplanung aktualisierten Diskurse und die Machtstrategien, welche diese Diskurse stabilisieren und die durch diese Diskurse stabilisiert werden, werden rekonstruiert. Diaz-Bone fordert in dieser Phase auch einen Rückbezug zu den Textstellen und den Versuch einer rekursiven Prüfung an den Aussagen im Text mit anschließender Verfeinerung/Korrektur (vgl. Diaz-Bone 2006, Abs. 24). Es soll damit geklärt werden, ob die gefundenen Elemente der diskursiven Formation ausreichend belegt sind oder ob der Korpus gegebenenfalls erweitert werden muss. Die Rekonstruktion der Beziehungen erfolgt hier in drei Teilschritten: Zunächst werden in Kapitel 9 die Konzepte Individueller Hilfeplanung als diskursgenerierte Modellpraktiken dimensionalisiert. Das bedeutet, es wird herausgearbeitet, in welchen Dimensionen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Konzepten ausweisen lassen, die zeigen, dass die unterschiedlichen Interessen und Strategien der Akteure sich letztlich in vergleichbaren Praktiken niederschlagen und so die Praxis des Unterstützten Wohnens beeinflussen. Wie die Strategien und Interessen der Akteure dabei aufeinander einwirken, um Individuelle Hilfeplanung als Dispositiv zu erzeugen und dabei politische Technologien und subjektivierende Praktiken in einer bestimmten Weise verknüpfen, wird in Kapitel 10 herausgearbeitet. In einem dritten Schritt wird die Gegenstandsbezogenheit (vgl. Glaser/ Strauss 1998) dieser Ergebnisse durch eine exemplarische Vertiefung (Kapitel 11) überprüft. Anhand der Region Westfalen-Lippe sollen zentrale Entwicklungen und Strategien der Führung und Selbstführung konkretisiert werden. Da Hilfen für Menschen mit Behinderungen in Deutschland auf Länderebene bzw. kommunaler Ebene organisiert werden, erhalten die Techniken der Führung und Selbstführung eine regional spezifische Prägung, die mit den besonderen Bedingungen der jeweiligen Region zusammen hängen. Solche lokalen Diskurse werden einerseits größeren Diskursen beeinflusst, andererseits strahlen sie auch auf das gesamte Diskursfeld aus. Deshalb wird die Region Westfalen-Lippe beispielhaft daraufhin untersucht, inwiefern dort spezifisch regionale Strategien und Praktiken sowie Diskursstränge zu finden sind. Dazu werden Diskursfragmente von regionsspezifischen Akteuren, Experteninterviews mit Zeitzeugen in institutionellen Schnittstellenpositionen und die Ergebnisse vorliegender Studien zur Entwicklung der wohnbezogenen Hilfen für Menschen mit Behinderungen in Westfalen-Lippe im Hinblick auf die in ihnen aktualisierten Macht-Wissensbeziehungen analysiert. Fertigstellung der Rekonstruktion und Ergebnisaufbereitung (Kapitel 12): Dieser letzte Schritt dient der ‚Theoretisierung’ der empirischen Ergebnisse. Die Vernetzungen der Diskurselemente werden noch stärker herausgearbeitet und die ihnen zu Grunde liegende Organisation der Oppositionen und Schemata extrahiert: „Welche impliziten Klassifikationsprinzipien lassen sich nach und nach erschließen? Lassen sich die gefundenen Oppositionen und Klassifikationen hierarchisch organisieren? Gibt es fundamentale Schemata? Anhand welcher fundamentalen Oppositionen sind die Elemente der diskursiven Formation angeordnet?“ (Diaz-Bone 2006, Abs. 25). Auch hier ist eine Rücküberprüfung
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3 Theoretische, methodologische und methodische Verortung
an den Ergebnissen der beiden vorherigen Schritte notwendig, die auch zu weiteren Verfeinerungen und Korrekturen führen kann. Es ist noch einmal zu klären, ob die ermittelte Regelhaftigkeit ausreichend hinsichtlich aller Bereiche rekonstruiert ist oder das Dispositiv noch unvollständig abgebildet ist. Auch wenn Diaz-Bone in der Reichweite der zu theoretisierenden Ergebnisse (vgl. ebd.) nicht gefolgt wird, so sollen doch hier strategische Technologien im Sinne Foucaults herausgearbeitet werden, die im Kontext Individueller Hilfeplanung Wirkung zeigen und das Macht-Wissensfeld wirksam strukturieren. Dabei wird davon ausgegangen, dass Individuelle Hilfeplanung hier einen beispielhaften Charakter einnimmt, d.h. diese Technologien werden auch in anderen Teilen des Feldes Wirksamkeit entfalten. Deshalb werden in diesem Kapitel Anschlussmöglichkeiten an die Diskurse der ‚Gouvernementally Studies’ aufgezeigt. Bei der Ergebnisaufbereitung geht es zunächst einmal um die Darstellung der herausgearbeiteten Wissensordnung. Die Resultate der Analysen sollen hier auf die Theorieformierung und die Ergebnisse der Sondierungsphase rückbezogen werden. Der Rückbezug zum Ausgangspunkt soll hier dazu dienen, die Frage nach der Freiheit in Machtbeziehungen, die Foucault gestellt hat, auf die Untersuchungsergebnisse zu beziehen und Diskussionsfelder zur Weiterentwicklung Individueller Hilfeplanung aufzuzeigen. Eine solche Kritik öffnet den Blick für die Freiheit des Einzelnen in einem sozialen Raum, der durch Führungen und Selbstführungen strukturiert ist und zeigt zum anderen Perspektiven für die Weiterentwicklung dieses Arbeitsfeldes auf. In diesem Sinne werden schließlich Möglichkeitsräume für das weitere Handeln der Akteure benannt (Kapitel 13).
4 Globalanalyse des Diskursfeldes
„Wissen ist stets in historisch gewachsenen Kontexten situiert und wird in gesellschaftlichen Institutionen (etwa Universitäten) kultiviert, d.h. verfeinert und gepflegt. Wissen entsteht im Gravitationsfeld von Erkenntnis- und Verwertungsinteressen, in einem gesellschaftlichen, politischen und disziplinären Kontext.“ (Dederich 2006, 102 f) 4.1 Korpusbildung Wie im vorhergehenden Kapitel herausgearbeitet wurde, ist der Begriff ‚Diskurs‘ ein analytischer Begriff der Sozialforschung und kein Begriff zur unmittelbaren Beschreibung von Wirklichkeit. Mit Verwendung des Begriffs wird theoretisch unterstellt, dass zwischen spezifischen empirischen Daten, die zunächst als singuläre, in Zeit und Raum verstreute Ereignisse (Äußerungen) existieren und i. d. R. schriftlich dokumentiert sind, ein Zusammenhang, eine Regel oder Struktur besteht. „Eine solche Annahme muss als Suchhypothese für die Zusammenstellung eines Datenkorpus eingesetzt werden.“ (Keller 2007, 79, Herv. i. Org.). Insofern ist die Existenz eines bestimmten Diskurses zunächst eine Hypothese der Forscherin, die es zu prüfen gilt, indem nach (schriftlichen) Aussagen gesucht wird, die in einem Zusammenhang stehen, der dann als Diskurs bezeichnet werden kann. Zunächst wurden Texte gesammelt und katalogisiert, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit dem Phänomen Individueller Hilfeplanung stehen. In einer ersten, klassischen Bibliotheks- und Literaturrecherche konnten dabei 215 solcher ‚Fragmente’ gesammelt werden, die bei einer ersten Sichtung einen Zusammenhang mit Individueller Hilfeplanung vermuten ließen. Darüber hinaus wurde eine systematische Recherche mit folgenden Schwerpunkten durchgeführt:
Gezielte Suche nach Hauptbeiträgen und Fachartikeln in einschlägigen Zeitschriften im Zeitraum von Anfang 1990 bis Ende 2008. Ƒ Rechtsdienst der Lebenshilfe Ƒ Geistige Behinderung Ƒ Zeitschrift für Heilpädagogik Ƒ Gemeinsam Leben Ƒ Blätter der Wohlfahrtspflege Ƒ Nachrichtendienst des Deutschen Vereins Ƒ Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit Gezielte Suche nach Tagungen/ Kongressen zum Thema in demselben Zeitraum. Gezielte Internetrecherche auf den Seiten der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, der Fachverbände für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen, des Deutschen Vereins und seinen Mitgliedern, der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilita-
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4 Globalanalyse des Diskursfeldes tion und ihrer Mitglieder, der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe, People First, der Interessenvereinigung Selbstbestimmt Leben, der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger und ihren Mitgliedern. Abfrage bei Lehrenden der Heil- und Sonderpädagogik der BRD und Sichtung einschlägiger Forschungsdokumentationen. Gezielte Internetrecherchen bei weiteren Akteuren der Behindertenhilfe.
Durch diese systematische Ausweitung der Rechercheaktivitäten konnte die Zusammenstellung auf 274 Dokumente erweitert werden. In einem zweiten Schritt galt es, aus dieser Zusammenstellung jene Dokumente heraus zu suchen, die Aussagen zur Individuellen Hilfeplanung beinhalten. In einem ersten Arbeitsschritt wurde dazu über eine einfache Stichwortsuche nach den Wortbestandteilen ‚plan’ (trunkiert) und ‚individuell’ (trunkiert) ein Bezug zum Untersuchungsgegenstand in den Dokumenten nachgewiesen. Der Begriff ‚Hilfe’ wurde nicht bei dieser Suche nicht verwendet, da er derartig allgemein ist, dass er keine gezielte Zuordnung zur ‚Individuellen Hilfeplanung’ ermöglicht. Zudem wird in den unterschiedlichen Zusammenhängen auch von ‚Individueller Begleitplanung’ oder ‚Individueller Teilhabeplanung’ oder ‚Gesamtplanung’ gesprochen, so dass der Hilfebegriff nicht als Indikator für einen inhaltlichen Bezug zum Gegenstand ‚Individuelle Hilfeplanung’ gelten kann. Der personenzentrierte Ansatz und der Planungsaspekt können aber als generelle Begriffsbestandteile angenommen werden. Durch eine erste Lesephase wurde abgesichert, dass der konkrete semantische Gehalt und die inhaltlichen Kontexte der Begriffe ‚plan’ und ‚individuell’ eine Zuordnung zum Globalkorpus rechtfertigen (z.B. fallen Suchergebnisse wie ‚Transplantat’ oder ‚Personalplan’ bei Betrachtung wieder heraus). Dabei ging es nicht darum, dass die Dokumente explizit ‚Individuelle Hilfeplanung’ zum Gegenstand haben, sondern dass an irgendeinem Punkt des Textes darauf Bezug genommen wird. Dokumente, die weder ‚plan’ noch ‚individuell’ als Begriffsbestandteile beinhalten (100 Dokumente) oder in denen diese Wortbestandteile in anderen Zusammenhängen verwendet werden, gehören nicht zum eigentlichen Textkorpus der Analyse. Diese Texte kommen jedoch z. T. als ergiebige Quellen für Kontextinformationen zum Diskursfeld in Betracht (vgl. Keller 2007, 87). Sie können ein tieferes Verständnis von dem institutionellen Feld der Behindertenhilfe und seiner sozialpolitischen Verweisungszusammenhänge ermöglichen und gehören damit in den Bereich einer ‚klassischen’ Literaturrecherche. Einige Texte, vor allem Tagungsbeiträge von Autoren aus dem Ausland, werden ebenfalls aus der Globalanalyse ausgeschlossen, da das innerdeutsche Diskursfeld Gegenstand der Betrachtung sein soll. Falls sie einen Einfluss auf das Diskursfeld haben, sollte das aber in der weitergehenden Analyse der ausgewählten Dokumente deutlich werden. Zu diesem Zeitpunkt werden sie deshalb ebenfalls als Quellen für Kontextinformationen kategorisiert. Im Sinne der theoretischen Vorarbeiten wurden die verbleibenden Textdokumente in drei Kategorien unterteilt:
Dokumente, in denen Individuelle Hilfeplanung in unterschiedlichen Zusammenhängen diskutiert wird. Diese Dokumente stellen den eigentlichen Globalkorpus dar. (147 Dokumente) Dokumente, die konkret einzelne Hilfeplanungsinstrumente beschreiben. Sie gelten eher als Diskurseffekte denn als eigenständige Diskursbeiträge. (26 Dokumente)
4.2 Entwicklung des Diskursfeles Individueller Hilfeplanung im Zeitverlauf
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Dokumente, die sich in besonderer Weise auf die Region Westfalen-Lippe beziehen und deshalb die materielle Grundlage für die exemplarische Vertiefung in Kapitel 11 der Arbeit darstellen. (30 Dokumente)
Tatsächlich stellen auch die Dokumente, in denen beispielsweise Einrichtungsleiter ihr Hilfeplaninstrument auf einer Tagung vorstellen, einen Beitrag zum Diskurs dar. Indem solche Fragmente die nicht-diskursiven Praktiken des Dispositivs in den Diskurs hineintragen, die zugleich ein Effekt der Diskurse sind, leisten sie einen Beitrag zur Aktualisierung und Re-Formulierung des Dispositivs (s.a. Kapitel 6–9). Hier wird also lediglich eine Unterscheidung vorgenommen, um in einem ersten Schritt das Material zu ordnen und in ein handhabbare Form zu bringen, weniger um eine inhaltliche Aussage über die diskursive Praxis zu treffen. Der Globalkorpus umfasst also schließlich 147 Dokumente, die das Ausgangsmaterial der Globalanalyse darstellen, weil sie in einer direkten Weise einen Bezug zum Gegenstand ‚Individuelle Hilfeplanung’ aufweisen. Die Dokumentation des Globalkorpus von Texten umfasst Angaben zum sich äußernden Diskursakteur (eine Institution oder Organisation), zur Person des Autors/ der Autorin und zu welcher Institution er/sie in welcher Funktion gehört, zum Erscheinungsort und Erscheinungszeitpunkt im Diskursfeld, zu den Adressaten der Äußerungen und zu der diskursiven Praktik, die mit dem Dokument verwendet wurde. Damit sollte es möglich sein, erste Zusammenhänge zu erkennen und Kriterien für die Auswahl von Daten für die Feinanalyse zu entwickeln. 4.2 Entwicklung des Diskursfeles Individueller Hilfeplanung im Zeitverlauf In einem ersten Schritt wird die Entwicklung der Publikationen zur Individuellen Hilfeplanung im Zeitverlauf betrachtet. Dabei werden zwei Unterscheidungen getroffen. Zunächst wird lediglich nach dem Erscheinungsmedium (also nicht nach dem/der Autor/in, dem Herausgeber oder Auftraggeber, noch Adressaten/innen) der Veröffentlichungen ausgewertet. Herausgeberbände und Tagungsbände werden in dieser ersten Auswertung als jeweils eine Veröffentlichung bewertet, da sie eine Bündelung von Texten zu einem gemeinsamen Thema darstellen und oftmals auch durch den mündlichen gemeinsamen Austausch der Tagungsteilnehmer/innen beeinflusst sind. Dies kann bei Zeitschriftenartikeln nicht vorausgesetzt werden, weshalb Zeitschriftenartikel als jeweils eigenständige Veröffentlichung bewertet wurden. In einem zweiten Schritt werden dann die in diesen Veröffentlichungen enthaltenen Texte nach ihren Autoren/innen und deren institutioneller Zuordnung untersucht. Das älteste Dokument wurde im Mai 1995 im Kontext der Einführung der Pflegeversicherung veröffentlicht; das jüngste stammt aus dem März 2008 und thematisiert vorrangig die Reform der Eingliederungshilfe (vgl. Abb. 4). Von 1995–1999 wird ein Interesse an Fragen Individueller Hilfeplanung nur durch wenige Publikationen dokumentiert. Erst mit dem Jahr 1999 sind relativ kontinuierliche Steigerungen zu beobachten. Ob es sich bei dem Rückgang in 2008 allerdings um eine zufällige Beobachtung handelt, oder ob sich tatsächlich derzeit das Diskursfeld zurückbildet, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht beantwortet werden.
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4 Globalanalyse des Diskursfeldes
Bereits dieser grobe Vergleich von Publikationen und den darin enthaltenen Diskursfragmenten (Texten) zeigt, dass das Diskursfeld, in dem sich Individuelle Hilfeplanung bewegt, offensichtlich besonders von Textsammlungen, d.h. z.B. Tagungsdokumentationen oder Herausgeberwerke bestimmt wird. Jedoch nimmt auch der Anteil von Einzelveröffentlichungen nach 1999 zu, wenn auch nicht in einem extremen Ausmaß. Offensichtlich lässt sich ein Schwerpunkt des Diskursfeldes in den Jahren 2000–2007 feststellen. Abbildung 4:
Überblick über Diskursfragmente im Zeitverlauf (eigene Darstellung)
30 25 20 15 10 5 0 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 Anzahl der Texte in Veröffentlichungen Anzahl der Veröffentlichungen
4.3 Infrastruktur des Diskursfeldes Nun wird genauer untersucht, welche Institutionen als Herausgeber von Publikationen zu einer (fach-)öffentlichen Auseinandersetzung um Individuelle Hilfeplanung beitragen. Damit wird zunächst herausgearbeitet, welche Medien zur Verbreitung von Diskursen genutzt werden, d.h. welche Akteure Ressourcen für das weitere Diskursgeschehen zur Verfügung stellen, z.B. indem Tagungen organisiert werden, Zeitschriften herausgegeben werden oder Sammelbände mit mehreren Artikeln publiziert werden und welche Ressourcen für die öffentliche Auseinandersetzung genutzt werden. Das Feld von Macht und Wissen wird so in einem ersten Schritt zugänglich gemacht, denn es wird deutlich, welche Akteure das Diskursfeld durch Ressourcen in welcher Weise strukturieren und wie davon Gebrauch gemacht wird. Andere Akteure halten sich als Herausgeber von Diskursfragmenten zurück, beteiligen sich aber womöglich als Produzenten von Diskursfragmenten aktiv am Diskursgeschehen (dies wird dann im zweiten Schritt deutlich werden) und beeinflussen so Diskursfeld. Schließlich werden Lücken im Diskursfeld erkennbar, wo mögliche Ressourcen nicht oder nur marginal für die Veröffentlichung von Dokumenten genutzt werden. Um die ‚Infrastruktur’ des Diskursfeldes herauszuarbeiten, wurde das Feld in ‚Diskursarenen’ aufgeteilt. Ausgangspunkt dieser Aufteilung sind die unterschiedlichen Funktionen, welche die Akteure im Hilfesystem für Menschen mit Behinderungen einnehmen. Der Zuordnung liegt die Vermutung zu Grunde, dass mit ähnlichen Funktionen innerhalb des Hilfesystems auch ein gemeinsamer Diskurszusammenhang unterstellt werden kann. Diese aus der Sondierungsphase entwickelten Diskursarenen lauten
4.3 Infrastruktur des Diskursfeldes
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Einrichtungsträger (häufig vertreten durch die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und ihrer Zusammenschlüsse), Leistungsträger (vor allem Träger der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfe und ihrer Zusammenschlüsse), Wissenschaft (vor allem von Fachhochschulen, Universitäten und Forschungsinstituten unterschiedlicher Disziplinen wie Jura, Medizin, Heilpädagogik, Sozialwissenschaft), Selbsthilfe (Vereine und Verbände der Selbstvertretung von Betroffenen). Politische Arena (hier im engeren Sinne einer institutionalisierten Politik zur Lenkung des Staates). Eine Gruppe von Verbänden wurde in der Kategorie unabhängige Interessenverbände subsummiert, da sie nicht eindeutig vorrangig als Träger von Einrichtungen oder Bestandteil der Selbsthilfebewegung gekennzeichnet werden konnten, aber sich aus einer fachlich-professionellen Perspektive für die Weiterentwicklung von Hilfen für eine Teilgruppe der Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise engagieren (z.B. DHG, DGSGB).
Auf diese ‚Arenen’ verteilen sich insgesamt 72 Akteure (also Organisationen, Unternehmen, Verbände, selten auch einzelne Personen usw.), die Beiträge zur Individuellen Hilfeplanung herausgegeben haben (vgl. Anhang I). Einrichtungsträger und Verbände der Freien Wohlfahrtspflege: Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege beteiligen sich als Herausgeber von Diskursfragmenten zur Individuellen Hilfeplanung vor allem durch die Publikation von Fachzeitschriften. Insbesondere die großen Zeitschriften wie die ‚Blätter der Wohlfahrtspflege’ und die ‚Geistige Behinderung’ (seit der Ausgabe 1/2009 ‚Teilhabe’), welche zwar von den Verbänden der Einrichtungsträger herausgegeben werden, aber ein breiteres Fachpublikum ansprechen, tragen auf diese Weise dazu bei, dass die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und die Bundesvereinigung Lebenshilfe als größte Herausgeber von Diskursfragmenten in der Arena der Einrichtungsträger gelten können. Allerdings beruht diese Bewertung auf der Basis von 13 (BAGFW) bzw. 17 (BVL) Herausgeberschaften in einem Zeitraum von insgesamt 18 Jahren und deutet damit nicht auf eine lebhafte Debatte innerhalb dieser Zeitschriften hin. Zum Thema Hilfeplanung in der Behindertenhilfe wurden zudem neben den Zeitschriftenartikeln, die nicht zwangsläufig von Mitgliedern der Verbände verfasst werden, wenige andere Veröffentlichungen der Verbände wie Pressemitteilungen und sozialpolitische Stellungnahmen gefunden. Die ungleiche Relation zwischen Veröffentlichungen der Verbände und einzelnen Einrichtungen liegt in der Natur ihrer Zuständigkeiten, da die Verbände es sich zu ihrer Aufgabe machen, die fachliche Diskussion zwischen den Einrichtungen zu unterstützen und dafür entsprechende Ressourcen z.B. durch die Herausgabe von überregionalen und überverbandlichen Zeitschriften zur Verfügung stellen. Die Einrichtungen selbst profitieren als Konsumenten (oder auch als Autorinnen, wie im nächsten Auswertungsschritt zu sehen sein wird) von diesen Ressourcen und können sich auf die Haus-interne Diskussion von fachlichen Inhalten konzentrieren. Nur sehr große Einrichtungen wie die Evg. Stiftung Alsterdorf oder das Engagement von einzelnen Personen in den Einrichtungen (die dann aber, wie Bradl (DGSP/ später DHG) und Steinhart (AWO) auch weitere verbandliche Funktionen über-
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4 Globalanalyse des Diskursfeldes
nehmen) ermöglichen es, dass Einrichtungen auch über ihren unmittelbaren Wirkungskreis hinaus als Herausgeberinnen das Diskursfeld mit gestalten. Leistungsträger und ihre Verbände: Die Leistungsträger besitzen auch über ihre großen Verbände keine eigenen überregional verbreiteten Fachzeitschriften, die von einem breiteren Fachpublikum gelesen werden. Die gefundenen Dokumente sind entsprechend hauseigene Stellungnahmen oder Rahmenempfehlungen für ihre Mitglieder. Im Hinblick auf die große Bedeutung der BAGüS und der BAR erstaunt dennoch die relativ geringe Anzahl von Publikationen, da die BAGüS die Interessen eines Großteils der Leistungsträger der Eingliederungshilfe vertritt und die BAR als Koordinationsinstanz auch im Hinblick auf die Individuelle Hilfeplanung die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Leistungsträger durch entsprechende Empfehlungen unterstützten müsste. Womöglich wird Individuelle Hilfeplanung eher als ein ‚Ausführungsproblem‘ der jeweiligen Leistungsträger gesehen, denn als ein ‚System-Problem‘, das einer überregionalen Klärung bedarf. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) ist ein freiwilliger Zusammenschluss aller 23 überörtlichen Träger der Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger o.J.a, o.S.). Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) ist die gemeinsame Repräsentanz der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, der Bundesagentur für Arbeit, der Bundesländer, Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, der BAGüS, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sowie des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Sie soll die Arbeit der unterschiedlichen Leistungsträger im Bereich der medizinischen, schulischen (pädagogischen) Rehabilitation sowie zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft koordinieren und diesen Prozess durch regelmäßige Berichte dokumentieren. (Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation o.J., o.S.) Auffällig ist, dass bei den ersten Recherchen zur Individuellen Hilfeplanung weitaus mehr Publikationen durch die Leistungsträger gefunden wurden, die beispielsweise das Persönliche Budget oder die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zum Gegenstand hatten, die aber dann bei einer genaueren Sichtung das Thema Individueller Hilfeplanung nur indirekt anschneiden und die somit unter die Textkategorie der Kontextinformationen fallen. Womöglich wird Individuelle Hilfeplanung als ein Thema verstanden, welches länderspezifische Lösungen erfordert, so dass die BAGüS und die BAR wenig Handlungsbedarf für eine bundesweite Diskussion und Abstimmung sehen. Die BAR vertritt ein sehr breites Themenspektrum, das weit über die Fragen der sozialen Rehabilitation hinaus reicht und vertritt die Interessen sehr unterschiedlicher Mitglieder. Deshalb mag das Thema ‚Individuelle Hilfeplanung’, zumal mit einer Eingrenzung auf den Lebensbereich Wohnen, zu speziell sein, um von der Arbeitsgemeinschaft stärker fokussiert zu werden. Die BAGüS hat zumindest Empfehlungen für ihre Mitglieder zur Entwicklung von Konzepten für die Gesamtplanung ausgearbeitet, sieht sich aber aufgrund der länderspezifischen Regelungen zur Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe behinderter Menschen möglicherweise auch sehr unterschiedlichen Mitgliederinteressen gegenüber, so dass sie von einer weitergehenden Beteiligung an einem öffentlichen und bundesweiten Diskurs zur Hilfeplanung absieht.
4.3 Infrastruktur des Diskursfeldes
85
Selbsthilfe: Erstaunlich erscheint die insgesamt geringe Beteiligung der Selbsthilfevereinigungen als Herausgeberinnen von Diskursfragmenten zur Individuellen Hilfeplanung. Es konnten lediglich drei Publikationen aus der Arena der Selbsthilfe gefunden werden. Da individuelle Hilfeplanung schon dem Namen nach beinhaltet, Hilfen für die einzelne Person zu planen und damit die Berücksichtigung von Betroffenenrechten als Experten in eigener Sache ein zentrales Kriterium für Hilfeplanung darstellt, wäre zu erwarten gewesen, dass sich die Betroffenenverbände stärker durch Veröffentlichungen an dem Thema beteiligen. Dies ist aber nicht der Fall. Deshalb bedarf es einer Erklärung, die möglicherweise in einem Machteffekt liegen kann, in dem Sinne, dass die Selbsthilfe in Deutschland in Bezug auf dieses Thema keinen institutionalisierten Platz in der Diskurslandschaft erhalten hat. Andererseits mag der Einfluss von Betroffenenverbänden auch weniger in einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit, denn in direkten Gesprächen mit Vertretern aus Politik, Verwaltung und Wohlfahrtsverbänden liegen (zu den unterschiedlichen Strategien von Selbsthilfeorganisationen s.a. Spörke 2008) auf die Gesetzgebungsverfahren zu den Gleichstellungsgesetzen). Obwohl bundesweit aktive Dachverbände vorhanden sind, wie z.B. der VdK und der Deutsche Behindertenrat, muss auch vermutet werden, dass die Interessenlagen der einzelnen Mitgliedsorganisationen derart heterogen sind, dass eine gemeinsame Strategie zur Beteiligung an behindertenpolitischen Themen erschwert erscheint. Gemeinsame Organisationen: Leistungsträger, Einrichtungsträger und die Selbsthilfeverbände behinderter Menschen haben ein Interesse daran, miteinander im Gespräch zu bleiben, um bei Veränderungen der Rechts- und Finanzsituation aufeinander Einfluss nehmen zu können und die Hilfelandschaft nach eigenen Interessen mit gestalten zu können. Der größte Zusammenschluss der öffentlichen und freien Träger Sozialer Arbeit in Deutschland ist der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV). In ihm sind die kommunalen, und überregionalen Leistungsträger ebenso Mitglied, wie die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege. (vgl. Deutscher Verein 2009, o.S.) Die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation ist ein weiterer, freiwilliger Zusammenschluss verschiedener Einrichtungen und Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, von Selbsthilfeverbänden und -organisationen, sowie örtlichen und überörtlichen Sozialleistungsträgern. Obwohl die Verbände der Leistungsträger keine eigenen überregionalen Zeitschriften für ein breiteres Fachpublikum herausgeben, finden sich solche Zeitschriften bei diesen Gemeinsamen Organisationen. Während der ‚Nachrichtendienst des Deutschen Vereins’ sich vor allem an die Mitgliedsorganisationen richtet, aber neben Verbandsnachrichten auch Fachartikel publiziert, versteht sich das ‚Archiv für die Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit’ des DV als Fachforum und Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis in den Feldern des Sozialrechts und der Sozialpolitik ebenso wie der Sozialarbeit. Diese Zeitschriften bieten insbesondere Autoren/innen aus dem Feld der Leistungsträger ein Forum für Publikationen, während in den Zeitschriften der Verbände der Einrichtungsträger fast ausschließlich Mitarbeiter/innen aus Einrichtungen oder aus der Wissenschaft publizieren. Vier gemeinsame Veröffentlichungen wurden nicht in einer Serie publiziert, sondern sind gemeinsame Stellungnahmen, Erklärungen oder Empfehlungen an die Mitgliedsverbände.
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4 Globalanalyse des Diskursfeldes
Unabhängige Interessenverbände: Die Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung (DGSGB) und die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG) stellen Interessenverbände dar, die sich für die Belange behinderter Menschen einsetzen, aber vor allem aus Fachkräften und Wissenschaftler/innen bestehen. Während nur eine Veröffentlichung der DGSGB dem Untersuchungsgegenstand Individueller Hilfeplanung zugeordnet werden konnte, stellt die DHG nicht nur innerhalb der unabhängigen Interessenverbände, sondern auch im Vergleich zu allen anderen Diskursarenen und Diskursakteuren eine recht große Anzahl an Diskursfragmenten. Diese sind zwei Tagungsdokumentationen, drei Expertisen und drei Texte, die den Charakter einer fachlichen Stellungnahme haben. Durch die Veröffentlichung der Expertisen und der Tagungsbeiträge, die in einem direkten thematischen Zusammenhang mit Individueller Hilfeplanung stehen, wurde der jeweils zu dem Zeitpunkt aktuelle Stand der Umsetzung Individueller Hilfeplanung in den Einrichtungen dokumentiert und dadurch zugleich die weitere fachliche Diskussion angeregt. Auf den Tagungen treten zudem die Akteure miteinander in direkten Kontakt. Das gesprochene Wort und spontane Gespräche auf diesen Tagungen haben einen anderen Charakter und lösen unmittelbare Reaktionen aus im Vergleich zu schriftlichen Aussagen. Tagungen können einen besonderen Impulscharakter für den weiteren Diskursverlauf haben. Es ist deshalb zu vermuten, dass die Aktivität der DHG keinen unerheblichen Beitrag zur Verankerung des Themas in der Diskurslandschaft geleistet hat. Wissenschaftsarena: Aus dem Kontext des Wissenschaftsbetriebes sind vor allem drei Herausgeberwerke hervorzuheben, welche einen wesentlichen Anteil an den Publikationen aus dem Wissenschaftsbereich haben. Darüber hinaus sind einzelne Dissertationen (Universitäten Siegen und Halle/Wittenberg), sowie Veröffentlichungen aus der bundesweiten Begleitforschung zum Trägerübergreifenden Persönlichen Budget zu nennen. Politische Arena: Sechs der neun gefundenen Dokumente aus dem Bereich der Politik setzen sich vorrangig mit Fragen zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe auseinander. Die Bundesregierung nimmt zudem in ihrem Bericht über die Ausführung der Leistungen des Persönlichen Budgets nach § 17 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch Stellung zur Fragen Individueller Hilfeplanung. Schließlich erarbeiteten die Koalitionsgruppe Menschen mit Behinderungen und die Partei Bündnis 90/ die GRÜNEN weitergehende Empfehlungen zur Fortentwicklung der Behindertenpolitik in der BRD, in denen Individuelle Hilfeplanung angesprochen wird. Die beiden Dokumente der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (AuSK) stellen einen Antrag und Beschluss zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe dar. Merkmale der Infrastruktur des Diskursfeldes: Die Infrastruktur des Diskursfeldes weist zwei wesentliche Merkmale auf (vgl. Abb. 5): Zum einen gibt es eine Vielzahl von Akteuren, die Ressourcen zur Aufrechterhaltung einer inhaltlichen Auseinandersetzung zur Verfügung stellen, indem sie für die Veröffentlichung von Texten sorgen. Umgekehrt lässt sich auch formulieren, dass von den Akteuren viele verschiedene Plattformen für die Veröffentlichung von eigenen Texten genutzt werden. Zum anderen lassen sich aber auch deutliche Kristallisationspunkte ausmachen.
4.3 Infrastruktur des Diskursfeldes
87
Auffällig ist, dass die Selbsthilfebewegung, die politische Arena, die Wissenschaftsarena und die Leistungsträger keine herausragende Position als Herausgeber von Diskursfragmenten einnehmen können. Zu prüfen ist deshalb im nächsten Auswertungsschritt die Frage, ob sich die Akteure dann als Autoren/innen am Diskursgeschehen beteiligen, bspw. durch Beiträge in Zeitschriften beteiligt. Dies erklärt sich durch eine Betrachtung der Art von Texten, die im Untersuchungszeitraum veröffentlicht wurden. So wird der Korpus von Texten aus überregionalen, verbandlichen Zeitschriften geprägt, in denen die Diskursfragmente zur Individuellen Hilfeplanung einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Dabei tragen von Seiten der Einrichtungsträger vor allem die ‚Blätter der Wohlfahrtspflege’ von der BAGFW und die ‚Geistige Behinderung’ der BVL zum Diskursfeld bei. Auch der Deutsche Verein trägt als Verbund von Leistungsträger- und Einrichtungsträgerverbänden durch seine Serien ‚Nachrichten des Deutschen Vereins’ und das ‚Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit’ maßgeblich zum Erhalt des Diskursfeldes bei. Fachzeitschriften bilden in der Regel ein breites Themenspektrum aktueller Diskurse ab und besitzen eine hohe ‚Produktivität’, denn in jeder Ausgabe werden in der Regel mehrere Hauptbeiträge veröffentlicht und alle untersuchten Zeitschriften erscheinen wenigstens einmal im Quartal. Im Hinblick auf den Untersuchungszeitraum von 18 Jahren erscheint deshalb die Thematisierung Individueller Hilfeplanung (im Vergleich zu anderen Themen) relativ gering. Selbst bei einer Beschränkung auf die zentrale Phase von 2000–2008 wurden im Durchschnitt in jeder Zeitschrift nicht einmal zwei Artikel pro Jahr veröffentlicht, die sich mehr oder weniger deutlich mit Fragen Individueller Hilfeplanung beschäftigen. Es kann deshalb nicht von einem regen Austausch über das Medium Fachzeitschriften ausgegangen werden. Presseerklärungen, Stellungnahmen und Positionsartikel im Internet werden zwar ebenfalls genutzt, erscheinen aber weniger als Gelegenheit zum Austausch, als vielmehr zur Positionsbestimmung gegenüber Verbandsmitgliedern und externen Gruppen. In diesem Zusammenhang sei die BAGüS erwähnt, die zwar nicht zu den ‚Spitzenreitern’ der veröffentlichenden Institutionen gehört, aber ebenfalls einen anderen, wenn auch ‚verbandstypischen’ Weg geht. Die BAGüS veröffentlichte auf ihrer Homepage mehrere Texte, die als ‚Empfehlungen’ oder ‚Orientierungshilfen’ an ihre Mitglieder gerichtet sind. Sie sucht damit weniger eine breite Fachöffentlichkeit, sondern unterstützt vielmehr ihre Mitglieder durch die Formulierung von Argumenten und Umsetzungsvorschlägen. Auch andere Verbände nutzen vor allem diese indirekte Möglichkeit, über ihre Mitgliedseinrichtungen Aussagen im Diskursfeld zu positionieren, wie sich bei der Analyse der autorinnenbezogenen Auswertung noch zeigen wird, allerdings mit quantitativ weniger Beiträgen als die BAGüS. Einzig die DHG scheint durch eine gezielte Publikationsstrategie auch größere Beiträge zum Diskursfeld zu lancieren, ohne dabei eine hauseigene Fachzeitschrift zu verwenden. Die DHG wählt stattdessen das Medium der ‚Expertisen’ zu Fragen der Hilfeplanung und benachbarten Themen, sowie der wiederkehrenden Thematisierung der Hilfeplanung in der Darstellung der fachlichen Positionen des Verbandes und der Publikation von Tagungen zu dem Themenkomplex. Allerdings ist hier der Verbreitungsgrad stärker eingeschränkt, als bei den Fachzeitschriften, da die Expertisen als ‚graue Literatur’ nicht über den Buchhandel, sondern über eine Bestellung beim Verband erhältlich sind. Das Diskursfeld Individueller Hilfeplanung konzentriert sich also auf einige wenige Akteure: Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, die Bundesvereini-
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4 Globalanalyse des Diskursfeldes
gung Lebenshilfe, der DV und die DHG Gesellschaft (vgl. Abb. 5). Die ersten drei treten vor allem als Herausgeber von Fachzeitschriften auf, der Deutsche Verein durch eine Fachzeitschrift und die Veranstaltung einer Tagung und die DHG durch die Veranstaltung von Tagungen und die Herausgeberschaft von Expertisen. Jede Veröffentlichungsform ist aber quantitativ nicht bedeutsam genug, um für eine Diskursanalyse einen ausreichend großen Textkorpus zu liefern. Die vier Akteure stehen zudem für vier unterschiedliche Diskursarenen (Einrichtungsträger, Leistungsträger, Gemeinsame Verbände und Unabhängige Interessenverbände), so dass im weiteren Verlauf der Untersuchung die Fokussierung auf eine der Diskursarenen nicht ausreichen wird, um das Feld angemessen zu beleuchten. Im Folgeschritt soll deshalb untersucht werden, ob sich möglicherweise einzelne Autoren als zentrale Akteure im Diskursfeld identifizieren lassen, die das Diskursfeld entscheidend prägen.
4.3 Infrastruktur des Diskursfeldes Abbildung 5:
Das Diskursfeld Individueller Hilfeplanung nach herausgebenden Organisationen (eigene Darstellung)
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90
4 Globalanalyse des Diskursfeldes
4.4 Auswertung des Globalkorpus nach den Institutionen der Autoren/innen In einem zweiten Schritt werden nun die Institutionen der Autoren/innen den Diskursarenen zugeordnet, um eindeutigere Aussagen zur quantitativen Verbreitung der Aussagen zur Individuellen Hilfeplanung treffen zu können (s.a. Anhang II). Die Autoren/innen werden durch ihre Position innerhalb von Institutionen zu legitimen Sprecher/innen der Institution im Diskursgeschehen. Allerdings haben einige Autoren/innen Positionen innerhalb mehrerer Institutionen inne. So können z.B. Wissenschaftler/innen zugleich Funktionen in unabhängigen Interessenverbänden oder Verbänden der Wohlfahrtspflege übernehmen. In solchen Fällen ‚doppelter Mandate‘ wird diejenige Institution einbezogen, in deren Auftrag oder aus der heraus der/die Autor/in vermutlich den Text formuliert hat. Dass hierin eine methodologische Ungenauigkeit besteht, da die Autoren/innen innerhalb eines Textes durchaus die Sichtweise mehrerer ‚Mandate’ vertreten können, wird zunächst hingenommen. Im Rahmen der weiteren Auswertung gilt es dann aber herauszufinden, welche Diskurse ein/e Autorin in dem Text tatsächlich aufruft und durch seine/ihre Aussagen aktualisiert. Einrichtungsträger und Verbände der Freien Wohlfahrtspflege: Mitarbeiter/innen der Einrichtungsträger stellen in Zeitschriften, auf Tagungen, in Herausgeberbänden usw. das Erfahrungswissen der Praxis zur Diskussion und tragen dadurch aktiv zum fachlichen Diskursgeschehen bei. Dabei ist ein Großteil der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege durch Autoren/innen aus ihren Mitgliedseinrichtungen ebenso wie die Mitglieder der ‚Kontaktgespräche’ der Fachverbände der Behindertenhilfe größtenteils vertreten. Ausnahmen bilden das DRK und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, die allerdings auch kaum als Einrichtungsträger in der Behindertenhilfe auftreten, da sie andere Tätigkeitsschwerpunkte haben. Auch vom Verband für antroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V. konnte kein Diskursfragment zur Individuellen Hilfeplanung gefunden werden. Dies entspricht einerseits einer allgemein wahrnehmbaren Sonderstellung des weltanschaulich geprägten Fachverbandes (der allerdings anders als der CBP und der BeB keine Anbindung an die großen Glaubensgemeinschaften in Deutschland besitzt), die sich auch im Zusammenhang mit anderen Fachthemen feststellen lässt. Andererseits erscheint dies bedauerlich im Hinblick auf die Position des Fachverbandes als Einrichtungsträger, der wie die anderen Träger auch mit den Leistungsträgern im Hinblick auf die Finanzierung von individuellen Hilfen im Austausch stehen sollte und deshalb auch mit Fragen Individueller Hilfeplanung in der alltäglichen Arbeit befasst sein dürfte. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe und ihre Landesverbände beteiligen dagegen sehr aktiv am Diskursgeschehen. Diese Elterninitiative, der fib e.V., der Verein für Behindertenhilfe Hamburg (heute BHH Sozialkontor gGmbH Hamburg) demonstrieren auch eine Veränderung in der Trägerlandschaft, in der immer mehr auch Elterninitiativen und die Initiativen der Selbsthilfebewegung als Einrichtungsträger auftreten. Obwohl diese Träger fachlich durchaus unterschiedliche Positionen vertreten, besteht ihre Gemeinsamkeit darin, dass sie ursprünglich als Initiativen von Personen gegründet wurden, die als Betroffene oder als Angehörige mit dem bestehenden Angebot für Menschen mit Behinderungen unzufrieden waren und quasi aufgrund dieser Lücke im Hilfesystem eigene Unterstützungsformen entwickelt haben. Auch der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Men-
4.4 Auswertung des Globalkorpus nach den Institutionen der Autoren/innen
91
schen zählt letztlich ebenfalls zu diesen ‚neuen’ Trägern, die zwischen Selbsthilfeverband und Einrichtungsträger stehen. Hier steht allerdings in der Arbeit der Aspekt der ‚sozialpolitischen’ Interessenvertretung der betroffenen Menschen stärker im Vordergrund, als die Weiterentwicklung zu einem Trägerverband von Einrichtungen für betroffene Menschen. Deshalb werden Diskursfragmente des BVKM in dieser Untersuchung zu Beiträgen der Selbsthilfe gezählt. Leistungsträger: Wie schon bei den Einrichtungsträgern zeigt sich nun auch bei den Leistungsträgern, dass sie sich aktiv am Diskursgeschehen nicht nur durch die großen ‚Verbände’, sondern auch durch die ‚Basis’ der Leistungsträger beteiligen. Zum Teil handelt es sich dabei um ‚hauseigene’ Texte, die nicht nur von Autoren/innen des Hauses verfasst, sondern auch durch die Verbände selbst publiziert wurden und allem für die Verbandsmitglieder gedacht sind. Es fällt auf, dass alle hier aufgeführten Leistungsträger bzw. ihre übergeordneten Verbände zu den überörtlichen Sozialhilfeträgern gezählt werden können. (Da die BAR eine Arbeitsgemeinschaft aller Sozialleistungsträger der Rehabilitation ist, sind in ihr natürlich auch örtliche Träger vertreten). Der Landeswohlfahrtsverband Hessen, der als Herausgeber bisher nicht in Erscheinung getreten ist, tritt hier besonders hervor. Tatsächlich sind von dem Wohlfahrtsverband mehrere Zeitschriftenartikel und Tagungsbeiträge erschienen, was auf eine aktive Beteiligung am bundesweiten Diskursgeschehen hinweist. Selbsthilfe: Autoren/innen aus der Arena der Selbsthilfe beteiligen sich kaum am Diskursgeschehen. Bezieht man die Beiträge der kleineren Einrichtungsträger aus dem Kontext der Selbsthilfebewegungen mit ein, verbessert sich das Bild etwas. Dennoch ist festzustellen, dass keiner der etablierten Selbsthilfeverbände im Diskursfeld eine prominente Position einnimmt. Fraglich ist deshalb, ob die Selbsthilfeverbände das Thema nicht als zentral erkannt haben und andere Themen als relevanter erachten. Da die Verbände eine überaus unterschiedliche Geschichte haben und damit auch im Hinblick auf Zielsetzung, Mitgliederstruktur, Formen der öffentlichen Einflussnahme unterschiedliche Wege bestreiten, könnte dieses Ergebnis in den ‚Programmen’ der Verbände begründet liegen. Eine weitere Erklärung könnte sein, dass die Interessen von Menschen mit geistiger Behinderung und komplexen Behinderungen in den Selbsthilfeverbänden unterschiedlich deutlich vertreten werden. Zwar betrachten sich die Verbände in der Regel als Interessenvertretung aller behinderten Menschen ohne Beschränkung auf bestimmte Behinderungsformen (z.B. VDK, ISL) und Vereinigungen wie People First vertreten explizit die Belange dieser Personengruppe. Dennoch könnten sich hier generelle Schwierigkeiten im Hinblick auf die Durchsetzungsfähigkeit dieses Personenkreises im ‚Agenda-Setting’ in der Verbandsarbeit und auch in der politischen Lobbyarbeit auswirken. Möglicherweise sind es vor allem informelle und mündliche (bzw. nicht öffentlich zugängliche, schriftliche) Autauschprozesse zwischen Politik, Verwaltung und Selbsthilfeverbänden, über die die Verbände ihren Einfluss ausbauen und im Bedarfsfall geltend machen (vgl. auch Spörke 2008). Der Selbstvertretungsanspruch der Betroffenen in der Hilfeplanung ist deshalb vor allem für Menschen mit einer geistigen Behinderung, mit schweren Behinderungen oder Kommunikationsbeeinträchtigungen gefährdet, da sie oft nur über eingeschränkte Möglichkeiten verfügen, ihre eigenen Interessen zu artikulieren und durchzusetzen. So zeigt sich das Prob-
92
4 Globalanalyse des Diskursfeldes
lem der Durchsetzungsfähigkeit von spezifischen Interessen, Bedarfen und Ansprüchen möglicherweise nicht nur auf der Ebene der individuellen Aushandlung von Hilfeplänen, sondern auch auf der Ebene der Selbstvertretung in den großen Behindertenverbänden. Gemeinsame Institutionen: Der Deutsche Verein illustriert die Unterschiede zwischen einer Organisation, die vor allem Ressourcen für das Diskursfeld bereit stellt und einer Organisation, die sich vor allem aktiv am Diskurs durch eigene Diskursfragmente beteiligt. Während die hauseigenen Fachzeitschriften als wesentliche, wenn auch nicht führende, Ressourcen des Diskursfeldes beschrieben werden konnten, entstammen aus dem DV selbst nur drei Dokumente. Diese sind Empfehlungen an Bund, Länder, Sozialleistungsträger, Sozialleistungserbringer und an die Behindertenverbände zur Entwicklung eines Bundesteilhabegeldes, zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe und zur Umsetzung des Persönlichen Budgets. Der DVR tritt mit einem Diskursfragment in Erscheinung, in dem Individuelle Hilfeplanung thematisiert wird. Es handelt sich dabei aber um das Ergebnispapier einer gemeinsamen Tagung mit dem VDK zur Einführung des Persönlichen Budgets handelt. Der DVR besitzt keinen ausgewiesenen Arbeitsschwerpunkt im Bereich des Unterstützten Wohnens für Menschen mit Behinderungen. Hier zeigt sich möglicherweise ein Problem von Verbänden, die sehr unterschiedliche Interessengruppen zusammenbringen: Einerseits bieten sie eine Plattform für Kontakt und Austausch über die Diskursarenen hinweg, andererseits erscheint es aufgrund der unterschiedlichen Interessen kaum möglich, eine gemeinsame Position zu speziellen Fachthemen zu entwickeln. Unabhängige Interessenverbände: Die unabhängigen Interessenverbände sind ein Beispiel für Organisationen, die vor allem durch eigene Beiträge, die durch die Organisation auch veröffentlicht werden, das Diskursfeld bereichern. Insbesondere die DHG publiziert eigene Fachbeiträge. Die DGSP zeigt (wie zuvor schon die Westfälische Klinik Lengerich) die strukturelle Verbindung zwischen Fragen zur Individuellen Hilfeplanung in der Behindertenhilfe und Fragen der psychiatrischen Versorgung. Als Verbände, die sich für die Belange von Personengruppen mit sehr spezifischen Ausgangssituationen einsetzen, die z.B. auch in den Möglichkeiten der organisierten Selbstvertretung auf besondere Unterstützung angewiesen sind, füllen sie (zumindest die DHG) möglicherweise die thematische Leerstelle ‚Individuelle Hilfeplanung’, die von den Behindertenverbänden selbst wenig bearbeitet wird. Eine solche ‚stellvertretende Interessenvertretung’ ist allerdings nicht unkritisch zu sehen, da gerade die Abwendung von der Expertenzentrierung in Fachfragen und die Stärkung der Perspektive der Betroffenen ein wesentliches Anliegen der Selbsthilfebewegung ist und durch die hohe Fachkräftequote in DHG und DGSP die von der Selbsthilfebewegung kritisierte ‚Expertendominanz’ fortgesetzt wird. Wissenschaftsarena: Einerseits haben viele Autoren/innen von unterschiedlichen Hochschulen den einen oder anderen Beitrag zum Diskurs geliefert, andererseits gibt es nur wenige Autoren/innen, die besonders aktiv am Diskursgeschehen teilnehmen. So lassen sich zwar 42 Diskursfragmente einer Hochschule zuordnen, was auf den ersten Blick als vergleichsweise hohe Anzahl bewertet werden kann, doch stammen diese von insgesamt 24 Autoren, so dass im Durch-
4.4 Auswertung des Globalkorpus nach den Institutionen der Autoren/innen
93
schnitt jede/r Autor/in 1,75 Diskursfragmente zum Diskursfeld beigetragen hat. Nur wenige Wissenschaftler/innen scheinen im Bereich der Individuellen Hilfeplanung einen ausgewiesenen Arbeitsschwerpunkt zu haben. Es zeigt sich erneut die Bedeutung der bereits erwähnten Herausgeberwerke, welche die Anzahl der Diskursfragmente deutlich erhöht. Ebenso zeigen sich bei nach inhaltlicher Sichtung der betreffenden Diskursfragmente ‚Zweitverwertungen‘ von Texten in unterschiedlichen Publikationsorganen, die dann wenig neue Aspekte in das Diskursgeschehen einbringen. Gemeinschaftliche Publikationen mehrer Autoren/innen reduzieren den Korpus in der Wissenschaftsarena zusätzlich. Andererseits muss aber auch auf Selektionsmechanismen durch die Auswahlkriterien bei der Bildung des Globalkorpus hingewiesen werden. So wurden wissenschaftliche Beiträge aus verwandten Feldern wie der Gemeinde- und Sozialpsychiatrie ebenso wenig einbezogen, wie Evaluationen und Beschreibungen zu einzelner Konzepte oder Artikel zur Hilfeplanung in anderen Lebensbereichen, wie dem Arbeitsleben. Auffällig ist zudem, dass sich unter den Beiträgen aus dem Wissenschaftsbereich keine Monographie befindet 10. Dies bestätigt die Vermutung, dass das Thema nicht unbedingt als persönlicher Arbeitsschwerpunkt wahrgenommen wird, sondern als ein Thema, welches aufgrund seines Schnittstellenpotenzials neben anderen Themen ‚mitbearbeitet’ wird. Von den insgesamt 30 Autor/innen, die zum Thema Individuelle Hilfeplanung veröffentlicht haben, sind zudem nur 14 vorrangig im Lehrgebiet Heil- und Sonderpädagogik tätig und davon wiederum 8 als Professor/in. Auch dies deutet auf eine geringe Priorität innerhalb des Fachs hin. Individuelle Hilfeplanung scheint allerdings ein Thema für andere Forschungseinrichtungen zu sein, die vor allem im Auftrag von Einrichtungs- und Leistungsträgern Evaluations- und Begleitforschung betreiben. Die nicht unerhebliche Anzahl von insgesamt 18 Veröffentlichungen deutet auf einen Forschungsbedarf hin, der offensichtlich von den klassischen Hochschuleinrichtungen nur begrenzt gedeckt wird. Aufgrund der besonderen Bedeutung der Wissenschaftsarena für die fachliche Weiterentwicklung der Hilfen für Menschen mit Behinderungen wurden diese Hinweise in einer weiteren Teilstudie genauer untersucht (vgl. Kap. 4: Exkurs) Politische Arena: Einerseits war es für die vorliegende Untersuchung notwendig, die politische Arena als Teil des Diskursfeldes mit einzubeziehen. Andererseits ist es besonders schwierig, über diese Arena relevante Aussagen zu treffen, da ein großer Teil des Diskursgeschehens nicht schriftlich, sondern mündlich und nicht notwendigerweise im öffentlichen Raum stattfindet (vgl. Spörke 2008). Ein Unterschied zu den anderen Diskursarenen besteht hier außerdem darin, dass die Texte aus der politischen Arena häufig nicht einem/einer einzelnen Autor/in zugeordnet werden können, sondern von mehreren Gruppen oder mehreren Einzelpersonen gemeinsam veröffentlicht wurden. Auch dies deutet darauf hin, dass vor der Veröffentlichung ein mündlicher oder nicht öffentlicher Austauschprozess stattgefunden hat.
10
Eine erste Monographie zum Thema Individuelle Hilfeplanung im Kontext der Behindertenhilfe ist für Dezember 2009 angekündigt und stellt laut Ankündigung des Verlages ein Manual mit allgemeinen Prinzipien, Aufgaben und Vorgehensweisen Individueller Hilfeplanung für Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen dar. Insofern handelt es sich vermutlich eher um einen Beitrag zur Praxisgestaltung, denn um einen theoretisch-konzeptionellen Beitrag zum Diskursgeschehen. (Vgl. Schreiber, Thomas (vorauss. Dez. 2009): Individuelle Hilfeplanung: Behinderten Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Bonn: Psychiatrieverlag)
94
4 Globalanalyse des Diskursfeldes
Die vorliegenden Anträge, Eckpunktepapiere und Protokolle können insofern auch als Diskurseffekte interpretiert werden, bzw. als Reaktionen auf vorherige Ereignisse. Oft entsprechen sie zudem eher formalen Dokumentationserfordernissen und bilden weniger den tatsächlichen Diskussionsstand ab. Dennoch zeigt sich an den vorhandenen Dokumenten, in welchen Kontexten Individuelle Hilfeplanung auch in der politischen Arena diskutiert wird. Sieben Dokumente beschäftigen sich vorrangig mit der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe und des SGB IX, zwei Dokumente sind im Kontext der Einführung des Persönlichen Budgets entstanden, bei einem Dokument handelt es sich um einen Antrag einer Partei in Folge des zweiten Berichtes der Bundesregierung zur Lage behinderter Menschen. Ein Dokument nimmt sich dem Thema der Gesamtplanung durch die Leistungsträger an. Dabei ist dieser Text (neben einem der beiden Texte zum Persönlichen Budget) der einzige, für dessen Veröffentlichung mit den Nachrichten des Deutschen Vereins ein breiteres Medium als die Bundestagsdrucksachen oder andere hausinterne Medien genutzt wurde. Merkmale des Diskursfeld im Hinblick auf die Autoren/innen Mit Blick auf die Autoren/innen im Diskursfeld und deren institutionelle Verortung zeigt sich ein wesentlich heterogeneres Bild als bei der Betrachtung der ‚Infrastruktur’ des Diskursfeldes. Es lässt sich feststellen, dass sich zahlreiche Akteure (72 Institutionen) an einem Diskursfeld ‚Individuelle Hilfeplanung’ beteiligen (vgl. Abb. 6). Fraglich ist, wie diese breite Beteiligung zu interpretieren ist. Handelt es sich dabei um einen lebhaften Austausch innerhalb einer Diskursarena oder über die Diskursarenen hinweg, oder ist die Beteiligung der Institutionen größtenteils einmalig und kann deshalb auch eine ‚Zufallsbeteiligung’ darstellen? Für eine gezielte aktive Beteiligung wird hier von einem Kommunikationsmodell ausgegangen, das als Wechselspiel von Aktion und Reaktion charakterisiert werden kann. Um ein solches Wechselspiel herzustellen, muss ein Akteur wenigstens zwei Diskursfragmente in das Diskursgeschehen einbringen (Aktion und Gegenreaktion). Dies ist allerdings bei weniger als der Hälfte der Akteure der Fall (vgl. Tab. 5). Der Großteil der Akteure nimmt also in statistischer Hinsicht eine Randposition im Diskursgeschehen ein. Im Durchschnitt hat jeder Akteur 2 Diskursfragmente verfasst, der Modus liegt bei 1, der Median ebenfalls bei 1. Diese deutlich linksschiefe Verteilung lässt sich dahingehend interpretieren, dass Individuelle Hilfeplanung nur vereinzelt thematisiert wird, aber keinen Diskurszusammenhang herzustellen vermag, in dem wechselseitig aufeinander Bezug genommen wird. Tabelle 5: Randverteilungen des Diskursfeldes nach Autoren/innen
Einrichtungsträger Leistungsträger Gemeinsame Institutionen von Einrichtungsträgern und Leistungsträgern Selbsthilfe Gemeinsame Institutionen von Einrichtungsträgern, Leistungsträgern und
1 Diskursfragment 14 1
2–3 Diskursfragmente 8 2
4–6 Diskursfragmente 1 2
Mehr als 6 Diskursfragmente –
–
1
–
–
1
4
2
–
–
6
1
–
–
–
1
23 5
4.4 Auswertung des Globalkorpus nach den Institutionen der Autoren/innen Selbsthilfeverbänden Unabhängige Interessenverbände Wissenschaft Weitere wissenschaftliche Einrichtungen Politische Arena
95
2
–
–
1
3
6
8
–
2
16
3
2
1
1
7
8 39
2 25
– 4
– 4
10 n = 72
Ihre Beteiligung an einem Diskursfeld Individuelle Hilfeplanung kann deshalb nicht sicher als bewusster Beitrag eingestuft werden, sondern kann ebenso aufgrund einer zufälligen thematischen Nähe in den Korpus eingeflossen sein. Knapp 35% haben immerhin zwei oder drei Beiträge in das Diskursfeld eingebracht. Gegen die Vorstellung eines breit angelegten Austausches spricht zudem die vergleichsweise geringe Anzahl von Texten, die von wenigstens zwei Autoren/innen aus unterschiedlichen Diskursarenen verfasst wurden. Ihre Verteilung erscheint aufgrund der Breite eher zufällig und möglicherweise vor allem durch individuelle Arbeitskontakte geprägt zu sein, als von einem bewussten Versuch, gezielt mehrere Perspektiven in einer Veröffentlichung gemeinsam zu diskutieren. Allerdings muss bei diesem Indiz auch die Methode der Untersuchung berücksichtigt werden, denn Tagungsbeiträge oder auch Beiträge in Sammelbänden sollen in der Regel genau diese Mehr-Perspektivität auf einen Gegenstand herstellen. Sie wurden hier als Einzelbeiträge gewertet, obwohl sie erst in der Zusammenstellung einen möglichen Diskursstand abbilden können. Das Verhältnis von 61 Diskursfragmenten, in denen die herausgebende und die schreibende Institution identisch sind, zu 86 Diskursfragmenten, in denen die schreibenden Akteure in den Medien anderer Institutionen veröffentlichen, deutet ebenfalls nicht ein ‚lebendiges’ Diskursgeschehen hin. Vielmehr besteht ein nicht unerheblicher Anteil der Diskursfragmente aus Dokumenten, aus Stellungnahmen oder Positionspapieren oder verbandsinternen Handreichungen für die Mitglieder. Sie sind damit nicht notwendigerweise für die direkte Kommunikation und den direkten Austausch mit anderen Akteuren gedacht, wohl aber als Instrumente der Interessendurchsetzung und der Einflussnahme. Dennoch lassen sich auch Akteure ausmachen, die in besonderer Weise das Diskursfeld durch eigene Beiträge prägen. Sie sind in der Arena der Leistungserbringer (BVL), in der Arena der Leistungsträger (BAGüS und LWV), im Wissenschaftsbereich (Universität Hamburg, KFH, FH Fulda, ZPE Siegen, ZIEL Tübingen) und bei den unabhängigen Interessenverbänden (DHG) zu finden. Eine genauere Betrachtung der Diskursfragmente dieser Akteure/innen erscheint deshalb für die weitere Untersuchung erforderlich.
96 Abbildung 6:
4 Globalanalyse des Diskursfeldes Diskursfeld nach Organisationen der Autoren/innen (eigene Darstellung)
4.4 Auswertung des Globalkorpus nach den Institutionen der Autoren/innen
97
Exkurs: Eigene Abfrage zu Veröffentlichungen aus der Arena der wissenschaftlichen Heil- und Sonderpädagogik Um hier einen Einblick in die ‚Innenperspektive’ der Forschungslandschaft zu gewinnen und auch Forschungsprojekte jüngeren Datums einbeziehen zu können, wurde eine eigene Abfrage an den heil- und sonderpädagogischen Studienstätten durchgeführt. Das Ziel der Abfrage war es, einen Überblick über den wissenschaftlichen Diskurs zur Individuellen Hilfeplanung zu erhalten. Mit Hilfe der Abfrage sollte ermittelt werden, wie innerhalb der wissenschaftlichen Sonder- und Heilpädagogik Individuelle Hilfeplanung thematisiert wird, welche Beiträge aus diesem Feld zum Diskurs hervorgehen und auf welche Weise sich das Feld zum Diskurs positioniert. Dazu wurden Dozenten einschlägiger Heil-/Sonder- und Integrationspädagogischer Studiengänge gebeten, eigene Artikel, Monographien, Forschungsberichte oder Vortragsdokumentationen zur Individuellen Hilfeplanung zu nennen. Ebenso wurde darum gebeten, Kollegen/inn oder Mitarbeiter/innen zu bennen, die zu dem Thema arbeiten. Einbezogen wurden alle Universitäten, Pädagogischen Hochschulen und Fachhochschulen in der BRD, die zurzeit einen oder mehrere grundständige heilpädagogische Studiengänge (Lehramt an Sonderschulen, Diplom-, Bachelor- und Masterstudiengänge) anbieten. Insgesamt wurden 17 Universitäten, 2 Pädagogische Hochschulen und 8 Fachhochschulen angeschrieben (6 konfessionelle, 2 staatliche Fachhochschulen) (vgl. Anhang III). Aus den Vorarbeiten und der Globalanalyse war bekannt, dass Individuelle Hilfeplanung nicht nur an Studienstätten thematisiert wird, die grundständige heil- und sonderpädagogische Studiengänge anbieten (z.B. FH Fulda; Universität Siegen). Da aber der Begriff des Diskurses beinhaltet, dass die Akteure miteinander im Austausch stehen, war anzunehmen, dass die angeschriebenen Personen auch auf Kollegen verweisen, die aus dem konstruierten Sample aufgrund der festgelegten Kriterien herausfallen. Es wurden alle zum Zeitpunkt der Abfrage hauptamtlich Beschäftigten angeschrieben, die an den ausgewählten Studienstätten verantwortlich für die Lehrgebiete Allgemeine Heil- und Sonderpädagogik, Pädagogik bei schweren Beeinträchtigungen, Sonderpädagogischer Soziologie, Didaktik der Heil- und Sonderpädagogik sind oder ohne Lehrgebietszuordnung eigenverantwortlich Heil- bzw. Sonderpädagogik lehren und mindestens promoviert sind. Es wurden insgesamt N = 67 Personen angeschrieben – im Durchschnitt sind das ca. 2,6 Personen je Studienstätte (mit einer Spannweite von 1 und 8 Personen zwischen den Studienstätten). Insgesamt gingen binnen eines Monats 27 Rückmeldungen ein. Auf eine erneute Nachfrage per E-Mail erhöhte sich diese Zahl auf 49. Davon erfolgten 42 per EMail, zwei per Briefpost, zwei telefonisch und drei Rückmeldungen im persönlichen Gespräch. Allerdings konnten drei Rückmeldungen nicht berücksichtigt werden, da sie keine Informationen über Beiträge aus dem Wissenschaftsbereich zum Diskursfeld Individueller Hilfeplanung enthielten, so das n = 46 Antworten (Rücklaufquote von 69%) in die Auswertung einfließen (vgl. Anhang IV). Die zentralen Ergebnisse der Abfrage werden nachfolgend in Hypothesen formuliert und durch die Auswertung der Rückmeldungen erläutert: 1.
Nur wenige Autoren/innen aus dem Hochschulsektor veröffentlichen nach eigener Auskunft zum Thema ‚Individuelle Hilfeplanung‘. In der Anfrage wurde nach Veröffentlichungen sowie nach weiteren Diskursteilnehmern/innen im Wissenschaftsbereich gefragt. Im Ergebnis gaben 32 Personen die Auskunft,
98
4 Globalanalyse des Diskursfeldes
im Zeitraum von 1990 bis heute selbst keine Veröffentlichungen zum Diskurs beigetragen zu haben. Der überwiegende Teil der Befragten sieht sich also selbst nicht am Diskursfeld beteiligt. Nur fünf Personen nannten spezifische eigene Veröffentlichungen, die Individuelle Hilfeplanung und personenbezogene Planungsmethoden direkt thematisieren. Diese Veröffentlichungen deuten darauf hin, dass das Thema sowohl im Zusammenhang mit institutionell-organisationalen Fragen, als auch unter pädagogischen Aspekten diskutiert wird. 2.
Individuelle Hilfeplanung wird kaum als eigenständiges Thema wahrgenommen, sondern vielmehr mit übergreifenden Themen wie Qualitätsentwicklung, Bedarfs- und Angebotsplanung, konzeptionelle Weiterentwicklung von Hilfen beim Wohnen assoziiert. 12mal wurden Literaturangaben gemacht, in denen Individuelle Hilfeplanung nicht im Vordergrund steht, die aber von den Personen in diesem Zusammenhang als relevant betrachtet wurden. (Davon machten zwei Personen allerdings zugleich auch spezifische Literaturangaben.) Meistens wurden diese Angaben jedoch gleich mit der Einschränkung versehen, dass diese Veröffentlichungen das Thema der Anfrage nicht ganz treffen würden, aber passendere Veröffentlichungen nicht gemacht worden wären. Die von den Befragten getroffene Auswahl eigener Veröffentlichungen lässt dennoch darauf schließen, dass Individuelle Hilfeplanung vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Qualitätsentwicklung und den aktuellen Veränderungen der Hilfelandschaft (Ambulantisierung, Persönliches Budget) gesehen wird. Einige Angaben lassen außerdem auf eine Zuordnung der Individuellen Hilfeplanung als Bestandteil der Einzelförderung unter pädagogischen Aspekten schließen. 3. Hilfeplanung wird als Gegenstand in der Lehre vermittelt. Für drei Studienstätten wurde die Aussage getroffen, dass Instrumente Individueller Hilfeplanung Bestandteil der Lehre seien oder in studentischen Abschlussarbeiten (Examensoder Diplomarbeiten) zum Gegenstand gemacht würden. Da aber nicht explizit nach Hilfeplanung in der Lehre gefragt wurde, kann nicht sicher eingeschätzt werden, ob diese Studienstätten eine Ausnahme bilden, oder ob Individuelle Hilfeplanung auch an anderen Orten Bestandteil der Lehre ist. So ist beispielsweise zu vermuten, dass jene, die eigene Publikationen oder Forschungen zur Individuellen Hilfeplanung benannt haben, die Ergebnisse der eigenen Arbeit auch in die Lehre einfließen lassen und damit indirekt zum Diskurs beitragen. Umso erstaunlicher ist, dass die spontanen Verweise auf die Lehre als Ersatz für fehlende eigene Veröffentlichungen genannt wurden. Dies deutet auf eine Zuordnung Individueller Hilfeplanung zum Bereich der ‚Praxisanteile’ in der Hochschulbildung hin, wenn sie als Bestandteil der Ausbildung künftiger Heil- und Sonderpädagogen/innen gesehen wird. 4.
Forschungsprojekte und Personen, die sich mit Individueller Hilfeplanung befassen, sind wenig bekannt. Die Möglichkeit, andere Diskursteilnehmer/innen zu nennen, wurde ausschließlich von Personen genutzt, die selbst keine (spezifische oder unspezifische) Veröffentlichung genannt hatten. Dies war elfmal der Fall. Forschungsprojekte und Personen, die aufgrund eigener Literaturrecherchen als relevant für das Thema identifiziert werden konnten, werden allerdings nicht genannt: Verwiesen wurde hauptsächlich auf andere Personen aus dem
4.4 Auswertung des Globalkorpus nach den Institutionen der Autoren/innen
99
Wissenschaftsbereich (sechs Verweise), wobei dies in keinem Fall eine jener Personen war, die selbst mit einer spezifischen Literaturangabe geantwortet hatte. Dreimal wurde auf eine Person aus dem Wissenschaftsbereich verwiesen, die weder unter den befragten Personen war, noch durch die eigene Literaturrecherche als Teilnehmer/innen am Diskurs identifiziert werden konnte. Die befragten Personen hatten offensichtlich lediglich Vermutungen ausgesprochen, wer aufgrund entsprechender Interessenschwerpunkte sich mit dem Thema befasst haben könnte, ohne aber tatsächlich ‚Experten’ auf dem Gebiet sicher zu kennen. 5.
Individuelle Hilfeplanung scheint eher als Praxisthema wahrgenommen zu werden. Mehrfach wurde auf Akteure anderer Arenen verwiesen (zweimal auf Leistungsträger oder Leistungserbringer, einmal aus dem Bereich externer Beratung). Die Antworten auf die Frage nach anderen Diskursteilnehmer/innen deuten auf eine geringe Vernetzung über die eigenen Fachinteressen hinaus hin. Es scheint im wissenschaftlichen Bereich nur wenig bekannt zu sein, welche Akteure sich mit Individueller Hilfeplanung beschäftigen. Da nicht nach Praxiskontakten, sondern wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Akteuren gefragt wurde, ist zudem der Verweis auf die Expertise lokaler Praktikerinnen und Praktiker auffällig. Sehr vorsichtig interpretiert, lassen diese Rückmeldungen darauf schließen, dass Personen, die sich selbst bisher kaum mit der Thematik beschäftigt haben, eher geneigt sind, die Individuelle Hilfeplanung als ein Problem der Praxis, vertreten durch Leistungsträger und Leistungserbringer zu verstehen, als Personen, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Insgesamt zeigen die Ergebnisse dieser Abfrage, dass Individuelle Hilfeplanung in der bundesdeutschen Heil- und Sonderpädagogik in Deutschland bestenfalls ein randständiges Thema darstellt. Individuelle Hilfeplanung wird weniger als ein eigenständiger Problembereich heil- und sonderpädagogischer Forschung wahrgenommen, sondern eher als ein Aspekt, der im Zusammenhang mit anderen Themen mitdiskutiert wird. Dabei scheint auch die Uneindeutigkeit des Begriffs der Individuellen Hilfeplanung eine Rolle zu spielen. Mehrfach wurde im Rahmen der Rückmeldungen nach einer Definition oder genaueren Benennung, was unter ‚Individuelle Hilfeplanung‘ verstanden werde, gefragt. Auch die Verweise auf Praxiskontakte sowie die hohe Anzahl unspezifischer Veröffentlichungen weisen auf eine Unsicherheit im Umgang mit dem Thema hin. Nebenbei bestätigen die Ergebnisse auch die wiederholte Kritik an einem Mangel interdisziplinär angelegter Forschungsarbeit (wie zuvor auch schon Kanter 1985, Tent 1997, Schlee 2001 und Klauer 2000) und die These von einem Kommunikationsproblem innerhalb der hiesigen Forschungslandschaft (vgl. Wüllenweber 2006, 567 ff). Wüllenweber macht vor allem einen Mangel in der Publikation und Verbreitung von Forschungsergebnissen für diese Situation verantwortlich (vgl. ebd, 569), der sich auch beim Thema Individuelle Hilfeplanung bestätigt. Aus diesen Befunden lässt sich folgern, dass der Hauptfokus weniger auf der Frage nach heil- und sonderpädagogischen Theorien zur Individuellen Hilfeplanung liegen kann, sondern der Blick auf die Behindertenhilfe selbst gerichtet werden muss, um analysieren zu können, welche strategischen Technologien mit diesem Dispositiv verbunden sind und in der Praxis Wirksamkeit entfalten.
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4 Globalanalyse des Diskursfeldes
4.5 Ergebnisse der Globalanalyse des Diskursfeldes Im Hinblick auf die Frage, wer autorisiert ist, sich zur Individuellen Hilfeplanung zu äußern, zeigt sich, dass scheinbar einige hoch selektive Mechanismen im Feld wirksam sind, die sich auf die Frage der Publikationsformen, der sich äußernden Akteure/innen und (soweit dies an diesem Punkt bereits daraus abgeleitet werden kann) sich auf mögliche inhaltliche Schwerpunktsetzungen bezieht. So konnten von den Selbsthilfebewegungen und Selbstvertretungen behinderter Menschen kaum Diskursbeiträge ausgemacht werden. Hier mögen zahlreiche Faktoren eine Rolle spielen, von der Frage der Position geistig behinderter Menschen in den Betroffenenorganisationen, der Frage, inwiefern ihnen ‚kompetente Äußerungen‘ im Diskursgeschehen zugetraut werden bis hin zu sehr konkreten Partizipationsbarrieren, die allein schon durch die Bedeutung der Schriftsprache für das Diskursgeschehen entsteht, sich aber auch auf räumliche und gedankliche Barrieren bezieht. Schon bei der Bildung des Globalkorpus wurde deutlich, dass zahlreiche Texte eine Beschreibung oder Darstellung von Hilfeplankonzepten darstellen. Solche Texte wurden vor allem von Einrichtungsträgern bzw. ihren Mitarbeiter/innen geschrieben. Von den Einrichtungen wird also vor allem die Frage, wie mit dem Dispositiv ‚Individuelle Hilfeplanung‘ in der Unterstützungspraxis konstruktiv umgegangen werden kann, in das Diskursgeschehen eingebracht. Dieser Aspekt erscheint für die weitere Untersuchung relevant. Texte über generelle Fragen Individueller Hilfeplanung und ihre weitere Zusammenhänge wurden vor allem in überregionalen Verbandszeitschriften und von hochrangigen Vertretern von Leistungsträger- oder Leistungserbringerverbänden publiziert. Dabei handelt es sich weniger um einschlägige heil- und sonderpädagogische Zeitschriften, als vielmehr solche, die sich mit dem Zusammenhang von Fragen der Sozialarbeit, Sozialverwaltung und Sozialpädagogik widmen. Die Beiträge sind allerdings insgesamt derart vereinzelt, dass hier kaum von einem lebhaften Diskursgeschehen auszugehen ist. Weitere Diskursfragmente sind Bestandteile von Tagungsdokumentationen. Deshalb ist davon auszugehen, dass jenseits eines schriftlichen Diskursfeldes auch die verbale Kommunikation eine besondere Bedeutung für die Entstehung Individueller Hilfeplanung hat. Einige Diskursfragmente sind Stellungnahmen/ Positionspapiere und Dokumente der Öffentlichkeitsarbeit, von Leistungsträger- und Leistungserbringerverbänden, in denen die Position eines Akteurs zur Individuellen Hilfeplanung dargelegt wird. Ihnen ist eine besondere Bedeutung zuzuschreiben, da sie häufig als Diskussionsimpuls aufgefasst werden und auch jenseits schriftlicher Entgegnungen auf Tagungen und in mündlichen Gesprächen aufgegriffen werden. Eine auffällige Position nimmt die wissenschaftliche Heilpädagogik im Diskursgeschehen ein. Schon eine oberflächliche Betrachtung der Textsorten zeigt, dass es derzeit keine Monographie zur Individuellen Hilfeplanung aus der Heil- und Sonderpädagogik gibt. Auch gibt es nur einzelne Autoren/innen, deren quantitative Beteiligung am Diskursgeschehen auf einen Arbeitsschwerpunkt zum Thema Hilfeplanung hindeutet. Insgesamt zeigt die Analyse, dass Individuelle Hilfeplanung im Kontext des Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung kaum von Fachpublikationen aus der Heil- und Sonderpädagogik, in Form von theoretischen Analysen oder empirischer Forschung begleitet wird, wie dies im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe der Fall ist. Individuelle Hilfeplanung wird in der wissenschaftlichen Heil- und Sonderpädagogik vor allem in Kontexten erwähnt, aber wenig selbst zum eigentlichen Gegenstand gemacht. Solche Kontexte sind
4.5 Ergebnisse der Globalanalyse des Diskursfeldes
101
beispielsweise die Weiterentwicklung psychiatrischer Hilfen, die Zukunft der Eingliederungshilfe und die Weiterentwicklung des Persönlichen Budgets, sowie die weitere Ambulantisierungsdebatte. Die Anzahl von Beiträgen aus weiteren wissenschaftlichen Einrichtungen lässt zudem auf einen hohen Anteil von Auftragsforschung in dem Bereich schließen. So haben beispielsweise überörtliche Sozialleistungsträger Forschungsarbeiten in Auftrag gegeben, um Instrumente für die Gesamtplanung entwickeln, bzw. evaluieren zu lassen. Diese Aufträge sind aber entweder an gewerbliche Forschungsinstitute oder eher sozialwissenschaftlich denn heilpädagogisch ausgerichtete Institute gegangen. Leistungsträger nehmen also insgesamt eine wichtige Position im Diskursgeschehen ein, das sie als Auftraggeber, Autoren/innen und Herausgeber/innen von Diskursfragmenten in Erscheinung treten. Leistungserbringer nehmen eine ähnliche, wenn auch weniger deutliche Position ein. Der wissenschaftliche Bereich fällt zwar durch zahlreiche Publikationen auf, letztlich lässt sich aber eine deutliche, eigenständige Position im Diskursgeschehen nur für einzelne Autoren/innen begründen. Menschen mit Behinderungen tauchen so gut wie gar nicht als Akteure/innen auf. Aus diesem Ergebnis lassen sich deutliche Folgerungen für das weitere Vorgehen ableiten. Der nächste Schritt der Diskursanalyse ist nach Keller (2007b) und Diaz-Bone (2006) eine systematische und kontrollierte Auswahl von Dokumenten oder Textteilen aus dem Globalkorpus. Diese Texte sollten eine stärkere Konsistenz als die erste Sorte aufweisen, aber zugleich eine ausgewogene Mischung zwischen Breite und Vergleichbarkeit darstellen. Es erscheint wenig sinnvoll für das Anliegen dieser Studie, eine Auswahl von Texten zu treffen, die formal einer Textgattung zugeordnet werden können, da die Globalanalyse deutliche Hinweise darauf gegeben hat, dass die Suche nach einem derart in sich konsistenten Textkorpus, der zugleich das Diskursgeschehen in seiner Breite abzubilden vermag, zum Scheitern verurteilt ist. Im Folgenden werden deshalb die Diskurslinien der drei relevanten Arenen (Leistungsträger, Leistungserbringer, Wissenschaft) anhand von ausgewählten Diskursfragmenten und darin enthaltenen Aussagen skizziert, die besonders bedeutsam für das diskursive Geschehen rund um die Individuelle Hilfeplanung in der Behindertenhilfe gelten können. Dazu ist es auch notwendig, Informationen aus dem Kontextmaterial einzubeziehen. Dabei werden die für die jeweiligen Arenen dominanten strategisch/ politischen Hintergründe beleuchtet, Argumentationsweisen skizziert und daraus hervorgegangene Hilfeplanungskonzepte vorgestellt. Zudem wird die Ebene des Rechts in ihrer historischen Entwicklung beschrieben, da die rechtliche Entwicklung unmittelbar mit diskursiven und nicht-diskursiven Strategien im Bereich der Individuellen Hilfeplanung verknüpft ist. Die vier Bereiche werden dann einem analytischen Blick mit dem begrifflichen und konzeptionellen Instrumentarium Foucaults unterzogen. Dieses Vorgehen entspricht dem Anliegen, keine Diskursanalyse im engeren Sinn, sondern vielmehr das Geflecht von Macht und Wissen in den Blick zu nehmen, das Diskurse ermöglicht und verknappt und so das Dispositiv Individueller Hilfeplanung erst entstehen lässt. Den ersten Schritt stellt der Blick auf die sozialrechtlichen Veränderungen dar, die für die Entstehung Individueller Hilfeplanung‘ relevant sind.
5 Individuelle Hilfeplanung im Kontext sozialrechtlicher Veränderungen
Beck erkannte bereits Mitte der 1990er Jahre, dass die Hilfen für Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise von den sozialpolitischen Steuerungsmitteln ‚Recht’ und ‚Geld’ geprägt werden (vgl. Beck 1994, 124). In Anlehnung an Blessing erläuterte sie damals, dass der Einsatz dieser Steuerungsmittel von der gesellschaftlichen Anerkennung eines Problems, also einer normativ-gesellschaftsbezogenen Dimension gelenkt werde und mit dem gegliederten System sozialer Sicherheit (Sozialversicherungen und Sozialhilfe) einen wesentlichen Bestandteil des Interventionsmusters der Sozialpolitik darstelle (vgl. Beck 117 ff). Insofern hängen die Ausstattung eines Hilfesystems mit finanziellen Ressourcen sowie dessen Gestaltung ganz unmittelbar von der gesellschaftlichen Anerkennung einer sozialen Problemstellung ab. Der Situation von Menschen mit Behinderungen wird in der Bundesrepublik Deutschland insofern eine hohe Bedeutsamkeit zugemessen, als ihre Rechte und Ansprüche bereits im Grundgesetz verankert sind. In Artikel 3 Satz 3 heißt es seit 1994: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Trenk-Hinterberger bewertet den Verfassungsrang dieses Grundsatzes als Wertentscheidung und Auftrag an den Staat, „auf die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft hinzuwirken“ (2006, 54). Allerdings bedarf die Funktion des Grundgesetzes als allgemeine Richtschnur unserer Rechtsordnung der Ausgestaltung durch Bundes- und Ländergesetze, um individuell einklagbares Recht für die Betroffenen zu werden. Auf welche Weise also strategische Entwicklungslinien der Sozialgesetzgebung ein verändertes Bild von Behinderung bestimmen, soll nachfolgend zunächst an den zentralen Rechtsgrundlagen zur Individuellen Hilfeplanung und anschließend anhand einer Rekonstruktion jener Gesetzesänderungen in der BRD dargestellt werden, die als zentrale ‚Meilensteine‘ für die Gestaltung der Hilfen für Menschen mit Behinderungen bezeichnet werden können. Es geht dabei darum, übergreifende Tendenzen aufzuzeigen, welche das Sozialrecht seit der Einführung des BSHG prägen und die im Sinne Foucaults als Strategien bezeichnet werden können, mit deren Hilfe auf eine soziale Problemlage (Behinderung) reagiert wird. Diese Strategien tragen zur Emergenz der ‚Individuellen Hilfeplanung’ im Unterstützten Wohnen für Menschen mit Behinderungen bei. 5.1 Aktuelle rechtliche Grundlagen der Eingliederungshilfe Die Instrumente und Verfahren zur Hilfeplanung werden insbesondere von den Spezifika des sozialrechtlichen Dreieckverhältnisses geprägt. Individuelle Hilfeplanung entsteht nicht nur im Wechselverhältnis zwischen Leistungsträger und leistungsberechtigter Person, sondern muss das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis und die damit verbundenen individuellen und kollektiven rechtlichen und vertraglichen Beziehungen berücksichtigen.
104
5 Individuelle Hilfeplanung im Kontext sozialrechtlicher Veränderungen
Dieses Dreiecksverhältnis ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass die leistungsberechtigte Person einen Anspruch auf die ihr zustehenden Hilfen in Form einer Sachleistung erhält, zu deren Durchführung der Sozialhilfeträger eine Einrichtung oder einen Dienst beauftragt. Deshalb bestehen rechtliche und vertragliche Beziehungen 1. zwischen dem Leistungsträger und der leistungsberechtigten Person, sowie 2. zwischen dem Leistungsträger und dem Leistungserbringer. Darüber hinaus treffen 3. auch der behinderte Mensch und der Leistungserbringer privatrechtliche, vertragliche Vereinbarungen über die konkrete Ausgestaltung und den Inhalt der Hilfen. Abbildung 7:
Sozialrechtliches Dreiecksverhältnis zu Hilfen in betreuten Wohnmöglichkeiten (eigene Darstellung in Anlehnung an Boeßenecker 2005, Abb. 32, 256)
Leistungsberechtigte Person
3. Heimvertrag, individueller Betreuungs- oder Assistenplan
Leistungserbringer
2. Leistungs-/ Vergütungs- und Prüfvereinbarungen
1. Hilfe- und Gesamtplan, evtl. Zielvereinbarungen
Leistungsträger
5.1.1 Rechtliche und vertragliche Beziehungen zwischen Leistungsträgern und Leistungsberechtigten Die besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten, eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die betroffene Person in die Gesellschaft einzugliedern. Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wird dabei als ein zentrales Ziel gesehen (vgl. § 53 Abs. 3 SGB XII). Deshalb sind die Leistungen der Eingliederungshilfe als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen, in den §§ 26, 33, 41 und 55 SGB IX beschrieben. Damit schließt die Eingliederungshilfe als Sozialhilfe für Menschen mit Behinderungen direkt an die allgemeine Aufgabe des SGB XII an, den Leistungsberechtigten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen (vgl. § 1 SGB XII). Die Leistungen der Sozialhilfe sollen die Leistungsberechtigten „so weit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; darauf haben auch die Leistungsberechtigten nach ihren Kräften hinzuarbeiten“ (§ 1
5.1 Aktuelle rechtliche Grundlagen der Eingliederungshilfe
105
SGB XII). Damit sind die Leistungen des SGB XII nicht als Dauerleistung angelegt, sondern konzipiert als Hilfen zur Selbsthilfe, bzw. als Hilfen, welche die Potenziale und Ressourcen der Leistungsberechtigten aktivieren helfen sollen, insoweit dies möglich ist. Um dieses Ziel zu realisieren, nennt der Gesetzgeber Leistungen zur Eingliederung in die Gemeinschaft nach § 54 (1) 1–5 SGB XII. Im Hinblick auf die möglichen Hilfen im Rahmen der Unterstützung beim Wohnen für Erwachsene mit geistiger Behinderung sind vor allem die folgenden Leistungen nach § 55 Abs. (2) SGB IX besonders relevant: Hilfen zum selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten, Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, sowie Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben. Wie alle Leistungen der Sozialhilfe richten sich auch die Hilfen für ein selbstbestimmtes Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten „nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Bedarfs, den örtlichen Verhältnissen, den eigenen Kräften und Mitteln der Person …“ (§ 9 Abs. 1 S. 1). Damit werden die Leistungen der Sozialhilfe als personenzentrierte Hilfen konzipiert, die sich nicht an bestehenden Einrichtungen und Versorgungssystemen, sondern vor allem an der individuellen Lebenssituation der Person und ihrem Umfeld orientieren sollen. Dies macht es notwendig, die erforderlichen Hilfen auf der Grundlage eines individuellen Bedarfs, sowie personenbezogenen und umfeldbezogenen Kontextfaktoren zu ermitteln: In dieser Hinsicht ist das Sozialhilferecht der BRD kompatibel zur International Classification of Functioning, Disability and Health der WHO. Ein Recht auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben Menschen mit Behinderungen dann, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, die Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann (§ 53 Abs. 1 SGB XII). Dabei sollen die Sichtweisen der leistungsberechtigten Personen berücksichtigt werden (§ 9 Abs. 2 S. 1): „Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, soll entsprochen werden, soweit sie angemessen sind.“ Allerdings soll „Wünschen der Leistungsberechtigten, den Bedarf stationär oder teilstationär zu decken“ nur dann entsprochen werden, „wenn dies nach Besonderheit des Einzelfalls erforderlich ist, weil anders der Bedarf nicht oder nicht ausreichend gedeckt werden kann“ (Abs. 2 S. 2) und „der Träger der Sozialhilfe soll in der Regel Wünschen nicht entsprechen, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre“ (Abs. 2 S. 3). Damit ist das Wunsch- und Wahlrecht der Person zum einen auf die Gestaltung der Hilfen beschränkt, denn sie haben keinen Anspruch darauf, zu bestimmen, welche Art von Hilfen sie möchten und wie viel sie benötigen, sondern das ist die Aufgabe des Leistungsträgers. Zudem werden grundsätzlich ambulante Hilfen vom Gesetzgeber bevorzugt. Die Leistungsträger sollen eine teilstationäre oder stationäre Leistung auf Wunsch der leistungsberechtigten Person nur in dem Fall bewilligen, dass sie die einzige Hilfeart ist, die den Bedarf der Person angemessen decken kann. Allerdings besitzt die leistungsberechtigte Person ein Wunsch und Wahlrecht im Hinblick auf die Ausführung der Hilfen, d.h. beispielsweise zu der Frage, welche Einrichtung oder welcher Dienst sie unterstützen soll. Darüber hinaus besteht ein genereller Finanzierungsvorbehalt: Für alle in Frage kommenden Leistungsformen (ambulant, teilstationär und stationär) gilt, dass sie nicht nur den Bedarf ausreichend decken sollen, sondern auch im Vergleich keine ‚unverhältnismäßigen’ Mehrkosten verursachen dürfen (der Begriff der ‚Unverhältnismäßigkeit’ als unbestimmter Rechtsbegriff bedarf aller-
106
5 Individuelle Hilfeplanung im Kontext sozialrechtlicher Veränderungen
dings der Ausgestaltung durch Rechtsanwendung). Da dies aber nur für vergleichbare Leistungen gilt, d.h. für Leistungen, die jeweils in gleicher Weise geeignet sind, den Bedarf zu decken, muss (theoretisch) genau geprüft werden, welche Leistungen tatsächlich in gleicher Weise geeignet sind. Aus fachlicher Sicht kann eine solche Vergleichbarkeit nicht prinzipiell für ambulante und stationäre (bzw. teilstationäre) Hilfen unterstellt werden, sondern bedarf der genauen Prüfung im Einzelfall. Um die unterschiedlichen Leistungen der Eingliederungshilfe zu koordinieren, soll der zuständige Leistungsträger nach § 58 Abs. 1 SGB XII so frühzeitig wie möglich einen Gesamtplan zur Durchführung der einzelnen Leistungen aufstellen. Ein Individueller Hilfeplan ist nach Kronenberger dann ein Gesamtplan nach § 58 SGB XII, „wenn er alle Leistungen, die rehabilitativ notwendig sind, enthält, wenn er die Ziele der Leistungen transparent beschreibt und festlegt, wer diese Leistungen erbringt, und wenn sowohl Ziele als auch Leistungen mit dem Betroffenen abgestimmt sind. Nach der sozialrechtlichen Prüfung der Leistungsvoraussetzungen und des Leistungsumfangs kann der Hilfeplan als Gesamtplan Grundlage der Kostenübernahmeerklärung des Sozialhilfeträgers sein.“ (Kronenberger 2006, 37).
Nähere Ausführungen zur formalen und inhaltlichen Gestaltung des Gesamtplans gibt der Gesetzgeber selbst allerdings nicht vor. In den §§ 13–17 SGB I werden lediglich allgemeine Vorgaben zur Antragstellung, Aufklärung, Beratung und Auskunft, sowie zur ordnungsgemäßen Ausführung der Sozialleistungen als Rechte der Leistungsberechtigten formuliert. Die meisten Kommentatoren des Sozialhilferechts sind sich zudem darüber einig, dass der Gesamtplan keinen Verwaltungsakt in Form eines Bescheides darstellt, auf dessen Umsetzung die leistungsrechtliche Person einen Anspruch hätte oder gegen den sie im Bedarfsfall Widerspruch einlegen könnte. Lediglich auf fehlerfreie Durchführung des Verfahrens haben demnach die leistungsberechtigten Personen einen Anspruch. Insofern kann ein Gesamtplan nach Bundesrecht auch nicht als quasi vertragliche Vereinbarung zwischen Leistungsnehmer und Leistungsträger bewertet werden. 5.1.2 Koordination mit den weiteren Teilhabeleistungen nach SGB IX Die personenbezogenen Planungsvorgaben im Sozialleistungsrecht können im Idealfall als aufeinander aufbauend und ineinander greifend beschrieben werden (vgl. Abb. 8). Ziel ist ein individuelles Unterstützungssystem für die Person mit einer Behinderung, welches ihre Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigt und von Transparenz und möglichst einfacher Handhabung für die Person gekennzeichnet ist. Allerdings gibt der Bundesgesetzgeber kaum Vorgaben für die konkrete Ausgestaltung der verschiedenen Planungen, weshalb sie faktisch im Einzelfall nur wenig verbindlich sind und nur begrenzt ein einklagbares Recht der betroffenen Personen beschreiben. Die Leistungen der Eingliederungshilfe sind im Wesentlichen Teilhabeleistungen des SGB IX. Im Prinzip unterliegen sie deshalb ebenso wie die Teilhabeleistungen anderer Rehabilitationsträger der Verpflichtung, ihre Leistungen im Einzelfall zu koordinieren und zusammen zu arbeiten (vgl. §§ 10–12 SGB IX). Als Rehabilitationsträger kommen die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (für Leistungen nach § 5 Nr. 1 und 3), der Unfallversicherung (§ 5 Nr. 1 bis 4) und der Rentenversicherung (für Leistungen nach § 5
5.1 Aktuelle rechtliche Grundlagen der Eingliederungshilfe
107
Nr. 1 bis 3), der Alterssicherung der Landwirte (für Leistungen nach § 5 Nr. 1 und 3), die Bundesagentur für Arbeit (nach § 5 Nr. 2 und 3), die Träger der Kriegsopferfürsorge und der sozialen Entschädigung bei Gesundheitsschäden (nach § 5 Nr. 1, 2 und 4), der öffentlichen Jugendhilfe (nach § 5 Nr. 1, 2, und 4) und schließlich der Sozialhilfe (für Leistungen nach § 5 Nr. 1, 2 und 4) in Frage. Die notwendigen Leistungen all dieser potenziell beteiligten Träger sollen nahtlos, zügig sowie nach Gegenstand, Umfang und Ausführung einheitlich (vgl. § 12 Abs. 1 (1) SGB IX) – „wie aus einer Hand“ (BAR 2005, 12), – erbracht werden. Um dies zu gewährleisten, ist die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation dazu verpflichtet, gemeinsame Empfehlungen zu formulieren, wie diese Koordination realisiert werden könnte. Die gemeinsame Empfehlung der Rehabilitationsträger zum ‚Teilhabeplan‘ vom 16.12.2004 haben aber die Sozialhilfeträger bzw. ihre bundesweiten Verbände nicht mit unterzeichnet, weshalb die Empfehlung keine selbstverpflichtende Wirkung im Rahmen der Eingliederungshilfe entfalten kann. Damit ist also nicht nicht verbindlich geregelt, wie die Zusammenarbeit und Koordination der Leistungen der Eingliederungshilfe mit denen anderer Rehabilitationsträgern gestaltet wird. Abbildung 8:
Personenbezogene Planung nach dem Sozialleistungsrecht (eigene Darstellung)
Koordination von Leistungen zur Teilhabe nach §10 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB IX Die beteiligten Rehabilitationsträger im Einzelfall und im Benehmen miteinander und in Abstimmung mit den Leistungsberechtigten
Erforderliche Leistungen zur Teilhabe sollen nahtlos, zügig sowie nach Gegenstand, Umfang und Ausführung einheitlich erbracht werden.
Voraussichtlich erforderliche Leistungen nach dem individuellen Bedarf, funktionsbezogen feststellen und schriftlich so zusammenstellen, dass sie nahtlos ineinander greifen.
Gesamtplan nach dem §58 SGB XII Träger der Sozialhilfe in Zusammenarbeit mit dem behinderten Menschen, sonstige Beteiligte, insbesondere der behandelnde Arzt, Gesundheitsamt, Landesarzt, Jugendamt, Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit.
Plan zur Durchführung der einzelnen Leistungen für Menschen mit Behinderungen nach SGB XII
Hilfeplan für einzelne Leistungen nach dem SGB XII Für eine konkrete Leistung des SGB XII zuständiger Träger der Sozialhilfe und die leistungsberechtigte Person
Keine näheren Bestimmungen, Ausgestaltung abhängig von Leistungsvereinbarungen nach SGB XII
5.1.3 Rechtliche und vertragliche Beziehungen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern Tatsächlich spielen weniger die rechtlichen Beziehungen zwischen Leistungsträgern und Leistungsnehmer/innen eine Rolle bei der Ausgestaltung der Hilfeplanung für das Unterstützte Wohnen, als vielmehr die rechtlichen und vertraglichen Beziehungen zwischen den Leistungsträgern und Leistungserbringern: Wird die Leistung von einer Einrichtung erbracht, so ist der zuständige Träger der Sozialhilfe zur Übernahme der Vergütung für die
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Leistung nur verpflichtet, wenn mit dem Einrichtungsträger oder seinem Verband eine Vereinbarung über Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen (Leistungsvereinbarung), über die Vergütung (Vergütungsvereinbarung) und über die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen (Prüfungsvereinbarung) besteht (vgl. § 75 Abs. 3 SGB XII). Bei teilstationären und stationären Leistungen sind darüber hinaus die Landesheimgesetze anzuwenden, die ebenfalls den Abschluss von Vereinbarungen vorsehen, darüber hinaus aber auch allgemeine Standards über die Ausstattung, die Rechte der Leistungsnehmer/innen und die Befugnisse der Heimaufsicht festlegen. In der Leistungsvereinbarung sollen die wesentlichen Leistungsmerkmale festgelegt werden (vgl. § 76 Abs. 1 SGB XII). Dazu gehören im Minimalfall die betriebsnotwendigen Anlagen der Einrichtung, der von ihr zu betreuende Personenkreis, Art, Ziel und Qualität der Leistung, Qualifikation des Personals sowie die erforderliche sächliche und personelle Ausstattung. Darüber muss sich die Einrichtung verpflichten, im Rahmen des vereinbarten Leistungsangebotes Leistungsberechtigte aufzunehmen und zu betreuen. Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. In der Vergütungsvereinbarung (vgl. § 76 Abs. 2 SGB XII) sollen die Vergütungen für die vereinbarten Leistungen festgelegt werden. Nach den gesetzlichen Vorgaben sind diese Vergütungen aufzuschlüsseln in einer Grundpauschale für Unterkunft und Verpflegung (‚Hotelkosten’), in einem Investitionsbetrag für die Unterhaltung der betriebsnotwendigen Anlagen und ihrer Ausstattung (z.B. Gebäude, Mobiliar) und einer Maßnahmepauschale, die für jeden Leistungsnehmer individuell gezahlt wird, aber in Gruppen für Leistungsberechtigte mit vergleichbarem Hilfebedarf gestaffelt wird. Der § 76 SGB XII bildet also eine zentrale Bedingung für die Ausgestaltung der Hilfeplanverfahren, da hier durch die zwangsläufige Zuordnung individueller Hilfebedarfe zu einer Maßnahmepauschale die Notwendigkeit entsteht, individuelle Hilfepläne in eine verallgemeinerte Systematik zu überführen, um eine Leistungsbewilligung aussprechen zu können. Dazu erscheint es notwendig, auch die Feststellung individueller Gesamtpläne einem standardisierten Verfahren zu unterziehen und vergleichbare Kriterien zu schaffen. 5.1.4 Rechtliche und vertragliche Beziehungen zwischen Leistungsbeziehern und Leistungserbringern Die Leistungserbringer sind die Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe, die mit der Ausführung einer vom Sozialhilfeträger bewilligten Leistung beauftragt werden. Nach dem § 75 SGB XII Abs. 1 sind Einrichtungen stationäre und teilstationäre Einrichtungen, während Dienste zur Erfüllung ambulanter Leistungen in Anspruch genommen werden. Bei einer stationären oder teilstationären Hilfe werden diese privatrechtlichen Vereinbarungen im Heimvertrag (wobei die Landesheimgesetze allgemeine Grundlagen formulieren), bei ambulanten Diensten in einem Vertrag über die vereinbarten Dienstleistungen festgehalten. Allerdings werden auch die Dienste beim Abschluss von Vereinbarungen nach den § 75 – 80 SGB XII wie Einrichtungen behandelt, sofern der Gesetzgeber keine anderweitigen Regelungen getroffen hat. Deshalb werden im Zusammenhang mit der Hilfeplanung im Folgenden Einrichtungen und Dienste zusammen genannt und gedacht, sofern keine rechtlichen Unterschiede vorliegen.
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5.2 Änderungen der Sozialgesetzgebung 5.2.1 1962: Inkrafttreten des BSHG: Mit dem Inkrafttreten des BSHG am 1. Juli 1962 wurden die Reichsfürsorgepflichtverordnung (RFV) von 1924 und die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge (RGr) von 1924 und das noch neue Körperbehindertenfürsorgegesetz (KBG) von 1957 und das Tuberkulosehilfegesetz (THG) von 1959 abgelöst und in einem gemeinsamen Gesetzbuch zusammengefasst (vgl. Birk et al. 1985, Rn. 1). Wichtige Prinzipien, die bis heute die Gestaltung der Eingliederungshilfen für Menschen mit Behinderungen prägen, waren bereits in diesen Vorläufern angelegt: Aus den Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus wurde bei der Neugestaltung der Fürsorge in der neuen BRD darauf verzichtet, ein zentralisiertes und staatlich organisiertes Fürsorgesystem aufzubauen. Deshalb wurde der Handlungsvorrang der Kirchen und Wohlfahrtsverbände gegenüber den öffentlichen und privat-gewerblichen Trägern von Einrichtungen mit dem neuen Bundessozialhilfegesetz (BSHG) festgeschrieben. Aufgrund dieses ‚Subsidiaritätsprinzips’ dürfen öffentliche Träger nur dann eigene Einrichtungen und Dienste unterhalten, wenn es kein angemessenes Angebot der Freien Wohlfahrtspflege gibt (Dahme/ Kühnlein/ Wohlfahrt et al. 2005, 36). Damit waren zentrale Grundsteine zum Ausbau der Freien Wohlfahrtspflege gelegt. Obwohl die freie Wohlfahrtspflege volkswirtschaftlich gesehen zu diesem Zeitpunkt noch eine randständige Bedeutung hatte, nahm ihre Relevanz in den folgenden Jahrzehnten rapide zu (vgl. Boeßenecker 2005, 2006, 63 f). So entstand ein neo-korporatistisches Modell der Behindertenhilfe in Deutschland, welches durch eine klare Aufgabenteilung zwischen Leistungsträgern und der Freien Wohlfahrtspflege geprägt war: Die Leistungsträger und Freie Wohlfahrtspflege kooperieren dabei gleichberechtigt und freiwillig miteinander in einer institutionalisierten Form. Sowohl der Staat bzw. die ihn repräsentierenden Leistungsträger wie auch die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege profitieren von diesem Modell, welches auf Interessenausgleich und gegenseitigem Vertrauen beruht 11: Indem die Träger der Freien Wohlfahrtspflege die Aufgabe der Fürsorge für Menschen mit Behinderungen übernehmen, werden sie nach diesem Modell im Gegenzug relativ geringen Wirksamkeits- und Wirtschaftlichkeitsanforderungen unterworfen. Die Leistungsträger mussten sich dafür kaum mit der Frage einer angemessenen Versorgung behinderter Menschen befassen. Das ‚Selbsthilfeprinzip’, das ‚Einzelfallprinzip’ und der Grundsatz der ‚vorbeugenden Hilfe’ wurden ebenfalls aus den Vorgängergesetzen in das neue Gesetzbuch übernommen. Eine zentrale Neuerung (neben der Ausrichtung des BSHG an den Prinzipien des Grundgesetzes) war dagegen der Abschnitt 3, in welchem die ‚Hilfen in besonderen Lebenslagen’ neu entwickelt worden waren (vgl. Birk et al. 1985, Einleitung Rn. 3), zu denen auch die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung zählt. ‚Behinderung‘ wurde damit als ein Problem anerkannt, das der besonderen Unterstützung durch die Gesellschaft in Form einer Absicherung durch besondere sozialstaatliche Leistungen bedarf und nicht durch eine der Sozial-Versicherungen abgedeckt werden soll. Einerseits war damit klargestellt, dass Behinderung ein von der Gemeinschaft der Steuerzahler zu tragendes Problem ist und ande11
Zum Begriff des Neo-Korporatismus s.a. Spörke 2008, 34 ff
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rerseits wurde damit die Hilfe in besonderen Lebenslagen an die Voraussetzung der ökonomischen Bedürftigkeit gekoppelt und als Fürsorgeleistung konzipiert. Ein weiteres zentrales Gestaltungsprinzip ist die Orientierung am Bedarf im Einzelfall, welche als ‚Individualisierungsprinzip’ bezeichnet wird (vgl. a.a.O., § 3, Abs. 1) und dazu dienen soll, dass der Hilfe suchenden Person, ‚problemangemessene Hilfen’ gewährt werden (vgl. a.a.O., § 3, Rn. 2). Die Besonderheiten des Einzelfalls sind zu berücksichtigen, welche vor allem die Person des Hilfeempfängers und die örtlichen Verhältnisse (sofern sie den individuellen Bedarf beeinflussen) betreffen (vgl. a.a.O., § 3, Rn. 11). Die Hilfe suchende Person sollte schon von Beginn des BSHG an nicht Objekt staatlichen Handelns sein, sondern der Sozialhilfeträger muss seine oder ihre Vorstellungen über die Gestaltung der Hilfen berücksichtigen (vgl. a.a.O., § 3, Rn. 20). Die Verpflichtung, die Besonderheiten des Einzelfalls, die Vorstellungen der Hilfe suchenden Person über die eigene Lebensgestaltung und den sozialhilferechtlich anerkannten Bedarf in eine individuell gestaltete Hilfeleistung zu übersetzen, konkretisierte der Gesetzgeber ebenfalls bereits mit der Einführung des Bundessozialhilfegesetzes im § 46 BSHG. Mit der Vorgabe einer Gesamtplanung der Hilfen im Einzelfall hatten die Sozialhilfeträger dazu eine zentrale Steuerungsmöglichkeit erhalten, um einen Einfluss auf die inhaltliche, qualitative und quantitative Unterstützung im Einzelfall, und das Leistungsangebot insgesamt auszuüben. Die Träger der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfe sind demnach verpflichtet, im Rahmen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen einen individuellen Gesamtplan zur Durchführung der einzelnen Maßnahmen zu erstellen. Der Gesamtplan sollte so frühzeitig wie möglich aufgestellt werden (vgl. § 46 Abs.1 BSHG). Sind mehrere Sozialhilfeträger zuständig, weil medizinische, berufliche und/ oder soziale Eingliederungshilfen notwendig sind, dann sind diese auch gemeinsam zur Erstellung des Gesamtplanes verpflichtet. Der Lehr- und Praxiskommentar zum BSHG begründet diese Norm mit der Notwendigkeit der Verzahnung von Hilfen für deren Erfolg: „Eingliederungsmaßnahmen werden nur dann erfolgversprechend sein, wenn sie sorgfältig geplant, insbesondere mit den Beteiligten abgestimmt und nahtlos ineinandergreifend durchgeführt werden.“ (Birk et al. 1985, § 46, Rn. 1) Zu den Beteiligten wurde bereits zu dieser Zeit vorrangig die Hilfe suchende Person gezählt, die einen einklagbaren Rechtsanspruch auf den Gesamtplan besitzt. Die Sozialhilfeträger waren demnach verpflichtet, die Hilfe suchende Person an der Erstellung zu beteiligen, sowie ihre Wünsche im Verfahren zu berücksichtigen (§ 3 BSHG). Darüber hinaus sollten im Regelfall ein behandelnder Arzt, das Gesundheitsamt, ein Landesarzt, das Jugendamt und die zuständige Dienststellen des Bundesamtes für Arbeit einbezogen werden. Als weitere im Einzelfall Beteiligte kamen darüber hinaus Pädagogen, Psychologen und sonstige Sachverständige, Angehörige und durchführende Einrichtungen in Frage, die dann in das Erstellungsverfahren einzubeziehen sind (vgl. Birk et al. 1985, 356). Die Gesetzesnorm des § 46 BSHG ging weitgehend unverändert auch in den § 58 des späteren SGB XII über. Die zentralen Grundsätze der Gesamtplanung, wie sie heute von den meisten Sozialhilfeträgern vorgenommen wird, sind also seit Inkrafttreten des BSHG gültig und keine Neuerung der letzten Jahre. In § 58 SGB XII heißt es: „Bei der Aufstellung des Gesamtplans und der Durchführung der Leistungen wirkt der Träger der Sozialhilfe mit dem behinderten Menschen und den sonst im Einzelfall Beteiligten, insbesondere mit dem behandelnden Arzt, dem Gesundheitsamt, dem Landesarzt, dem Jugendamt und den Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit, zusammen.“ Auffällig ist die besondere Bedeu-
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tung, die der Gesetzgeber bis heute den medizinischen Fachkräften einräumt, obwohl es hier nicht um die ‚medizinische Rehabilitation’, sondern die ‚soziale Rehabilitation’ der Betroffenen geht. Aus der gewählten Reihenfolge der Auflistung von Beteiligten wird deutlich, dass hier noch immer ältere, medizinisch geprägte Bilder von Behinderung wirksam sind. Andererseits zeigt die Auflistung, dass im Gesamtplan einer Verwaltungsentscheidung nach Aktenlage vorgebeugt werden soll, indem die Fachlichkeit und Perspektiven anderer Institutionen hinzugezogen wird. Es geht aber aus dem Gesetz nicht hervor, wie das Zusammenwirken der verschiedenen beteiligten Personen einem Gesamtplanverfahren aussehen soll. Durchgängig lässt sich seit der Einführung des BSHG in einschlägigen Praxiskommentaren nachlesen, dass dem Gesamtplan in der Praxis der Bewilligungsverfahren von Eingliederungshilfemaßnahmen kaum Bedeutung zukam (vgl. Birk et al 1985 § 46, Rn. 8; 1990, § 46, Rn. 8; 1994, § 46, Rn.8). Was könnten die Ursachen dafür sein, dass die Verpflichtung zur Erstellung des Gesamtplans von den Sozialleistungsträgern über Jahrzehnte hinweg weitgehend unbeachtet blieb? Wendt bestätigte noch 1997 die Beobachtung, dass der § 46 BSHG nur selten angewendet werde und vermutete, dass die Sozialhilfeträger die Zuständigkeit für die Steuerung der Betreuung lieber bei den Eltern behinderter Menschen lassen und bei stationären Unterbringungen keinen Anlass zu weiteren Planungen sehen (vgl. 174). Michel-Schwartze (1997) sah dagegen die allgemeine Organisationskultur der Sozialverwaltung als Ursache für die geringe Nutzung des Gesamtplans (S. 118; vgl. auch Abschnitt 6.1.2). 5.2.2 1970: Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation Mit einem Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation legte 1970 dann die damalige Bundesregierung weitere Grundzüge der Sozialpolitik für Menschen mit Behinderungen vor. Zielsetzung des Programms sollte es sein, dass „allen Behinderten die gebotenen medizinischen, erzieherischen, beruflichen und sozialen Hilfen schnell und unbürokratisch erreichbar sind, unabhängig davon, ob es sich um Kinder, Jungendliche oder Erwachsene handelt und ob die Behinderung angeboren ist, auf einer Erkrankung, einem Unfall oder einer Kriegsbeschädigung beruht“ (BT-Drs. 6/643). Am Ende des Programms standen 1974 zwei zentrale Gesetzesänderungen: Das 3. Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) führte dazu, dass Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen gleichgestellt wurden. Es wurde ein allgemeiner Rechtsanspruch aller Menschen mit Behinderungen auf Eingliederungshilfe hergestellt. Damit wurde die mit der Einführung des BSHG eingeläutete Abkehr vom Kausalitäts- zum Finalitätsprinzip vollzogen. Zudem wurde das ‚Reha-Angleichungsgesetz’ in Kraft gesetzt, mit dem die Koordination der Leistungen unterschiedlicher Rehabilitationsträger verbessert werden sollte (vgl. Welti 2004, 122). Das Rehabilitationsangleichungsgesetz (RehaAnglG) machte die Rehabilitation zum übergreifenden Gesetzesbegriff. Es definierte die Aufgabe der Rehabilitation: „Die medizinischen, berufsfördernden und ergänzenden Maßnahmen und Leistungen zur Rehabilitation im Sinne des Gesetzes sind darauf auszurichten, körperlich, geistig oder seelisch Behinderte möglichst auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern“ (§ 1 RehaAnglG.). Das Rehabilitationsangleichungsgesetz legte damit den Grundstein für
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die Prinzipien ‚Rehabilitation vor Rente’ und ‚Rehabilitation vor Pflege’, die bis heute zentrale Prinzipien für die Leistungsrechte für Menschen mit Behinderungen sind. 5.2.3 1984: Haushaltsbegleitgesetz Erst mit dem Haushaltsbegleitgesetz vom 1. Januar 1984 wurde der Wunsch und das Wahlrecht der Hilfesuchenden formal eingeschränkt, indem der Grundsatz ‚ambulant vor stationär’ im Sozialgesetz verankert wurde. Die Bundesregierung nahm zu diesem Zeitpunkt eine drohende Überversorgung mit Sozialhilfeeinrichtungen wahr, die durch „zahlreiche, vielfach gewerblich motivierte Investitionsvorhaben von Einrichtungsträgern“ verursacht sei und „deren Folgekosten die öffentliche Hand zu einem maßgeblichen Anteil zu tragen hätte“ (vgl. BT-Drs. 10/335, 103). Zwei wesentliche Neuerungen wurden deshalb mit dem Haushaltsbegleitgesetz von 1984 und dem Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) verbunden:
Einführung des Grundsatzes ‚ambulant vor stationär’ Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts von Hilfeempfängern
Indem der § 3 Abs. 2 geändert und der § 3a BSHG neu eingefügt wurden, sollten die kostenintensive Unterbringung in Heimen und Anstalten reduziert und kostengünstigere offene Hilfeformen bevorzugt werden. Der neue § 3a BSHG räumte den ambulanten Hilfen einen Vorrang vor teilstationären und stationären Hilfen ein. Die Begründung dafür lautete, dass „ambulante Hilfen [...] oft sachgerechter, menschenwürdiger und zudem kostengünstiger“ (BT-Drs. 10/335, 103) seien. Das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen habe bisher, so die Bundesregierung, den Ausbau ambulanter und nachbarschaftlicher Hilfen gehemmt. Wegen der daraus drohenden Minder-Auslastung stationärer Hilfen sei mit zusätzlichen Mehrkosten in diesem Bereich zu rechnen. Außerdem sah die damalige Bundesregierung die Gefahr, dass durch den Ausbau von stationären Einrichtungen ältere Menschen mit Behinderungen, sowie ältere Menschen aus ihrem bisherigen Lebenskreis ausgeschlossen und in eine stationäre Unterbringung ‚abgeschoben’ würden. Die Änderungen wurden tatsächlich aber von Betroffenengruppen begrüßt, denn obwohl mit der Bevorzugung ambulanter Hilfen formal das Wahlrecht eingeschränkt wurde, hatten fehlende ambulante Angebote bisher die Nutzung des Wahlrechtes verhindert. Mit dem Vorrang ambulanter Hilfen bestand nun die Möglichkeit, einen gewissen sozialpolitischen Druck auf die Wohlfahrtsverbände und Kostenträger auszuüben, damit diese künftig den Aufbau ambulanter Hilfen unterstützen. Der § 3a BSHG wurde zwar von Anfang an lediglich als ‚programmatische SollVorschrift’ verstanden, die aktuellen Entwicklungen Rechnung tragen sollte (vgl. ebd.). Dennoch öffnete der Gesetzgeber zugleich auch Türen, diese tatsächlich zu realisieren. Entsprechend dem neuen § 3a BSHG war eine Anpassung des § 3 Abs. 2 BSHG notwendig geworden. In diesem war das Wunsch- und Wahlrecht der Hilfeempfänger festgehalten, der dadurch in seiner Eigenständigkeit geschützt werden sollte. Allerdings fand dieses Wunschrecht insofern eine Begrenzung, als Wünsche angemessen sein sollten und nicht mehr als den notwendigen Bedarf decken sollten. Verbunden mit der Vorstellung, dass ambulante Hilfen in der Regel kostengünstiger als stationäre seien, wurde mit § 3 Abs. 2 Satz 2 dem
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Sozialhilfeträger deshalb nun das Recht eingeräumt, den Wunsch nach einer stationären Unterbringung abzulehnen, wenn eine teilstationäre oder ambulante Hilfe ebenfalls möglich und geeignet wäre (vgl. ebd.). Gegenüber der fachlichen Angemessenheit sollten nun auch Aspekte der Wirtschaftlichkeit stärker berücksichtigt werden, da mögliche Mehrkosten nicht mehr ‚unvertretbar’ sondern lediglich ‚unverhältnismäßig’ sein mussten, damit der Wunsch nach einer bestimmten Hilfe abgelehnt werden konnte. Die Sozialhilfeträger sollten durch diese geänderte Formulierung eine rechtliche Grundlage erhalten, um Kostenvergleiche anzustellen und kostenaufwändige Maßnahmen ablehnen zu können (vgl. ebd.). Praktisch sahen die Autoren des Lehr- und Praxiskommentars von 1985 (Birk et al.) hier nur wenig Ermessensspielraum für die Sozialverwaltungen, die ein weitgehendes Ignorieren dieser beiden Grundsätze ermöglicht hätte: So müsste der zuständige Sozialhilfeträger zunächst prüfen, ob die Hilfe suchende Person einen Bedarf hat, der vom Sozialhilferecht anerkannt wird. Dann muss er eine dem Einzelfall angemessene Hilfsmaßnahme entwickeln. Da die Behörde keine Entscheidungen über die Lebensgestaltung der Person treffen darf, muss sie von Amts wegen die Wünsche der Hilfe suchenden Person bezüglich ihrer Lebensgestaltung bei der Entwicklung eine angemessene Maßnahme ermitteln und berücksichtigen. Hier zeigt sich ein umfangreicher Auftrag an die Sozialhilfeträger, die Lebenssituation der Hilfe suchenden Person, sowie ihren rechtmäßigen Unterstützungsbedarf festzustellen. Das Kriterium der Angemessenheit meint, dass die Maßnahme geeignet sein muss, den gesetzlich anerkannten Bedarf der Hilfe suchenden Person zu befriedigen. Kostenfragen spielen bei der Klärung der Angemessenheit aber keine Rolle. Der neue § 3a des BSHG bedeutete nun nach Ansicht der Autoren des Praxiskommentars, dass bei mehreren angemessenen Hilfevarianten eine ambulante Hilfeform vorgeschlagen werden muss (vgl. Birk et al. 1985, § 3, Rn. 33). Wünscht die Hilfe suchende Person trotzdem eine stationäre Hilfe, dann muss der Sozialhilfeträger nochmals prüfen, welche Hilfeformen tatsächlich angemessen sind, d.h. geeignet sind, den sozialrechtlich anerkannten Bedarf der Person und ihre Vorstellungen der eigenen Lebensgestaltung zu realisieren. Wenn mehrere Hilfeformen grundsätzlich geeignet sind, darf die Behörde dem Wunsch der Person nach einer stationären Hilfe nur dann nachkommen, wenn diese Hilfeform nicht unverhältnismäßig teurer als eine angemessene ambulante Hilfe ist (vgl. a.a.O. § 3, Rn. 24b ff). Neben dem Argument, dass ambulante Hilfen zumeist kostengünstiger als stationäre Hilfen seien, bedeutete der § 3a BSHG eine Neubewertung der möglichen Hilfeformen des BSHG. Ambulante Hilfen sollten eher den Grundsätzen der Menschenwürde und fachlichen Entwicklungen entsprechen als stationäre. Aus den üblichen gesellschaftlichen Zusammenhängen ausgrenzende Hilfen seien demnach künftig zu vermeiden. Allerdings erscheint diese inhaltliche Argumentation den Kommentatoren von 1985 eher zufällig und eher flankierend zu dem überwiegenden Kostenaspekt. Trotzdem erkennen sie die zu erwartende Wirkung dieser Änderung an (vgl. a.a.O. § 3a, Rn. 5 ff): Sie erwarteten, dass sich vor allem die Freien Träger der Wohlfahrtspflege auf eine veränderte Nachfragestruktur durch die Sozialhilfeträger einrichten und in der Folge ambulante und offene Hilfeformen ausbauen würden. Diese positive Einschätzung der Wirkung dieser Gesetzesänderung bestätigte sich allerdings nicht: Rohrmann bilanzierte noch zwanzig Jahre später unter Bezugnahme auf Daten des deutschen Zentrums für Altersfragen und des Statistischen Bundesamts, dass der Grundsatz ‚ambulant vor stationär’ nicht eingelöst worden sei, denn die stationären Hilfen
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seien eher ausgebaut als reduziert worden (vgl. Rohrmann, E. 2004, 138). Seiner Ansicht nach hatte die Einführung der Formel ‚ambulant vor stationär’ für die Sozialhilfeträger eher den Charakter einer programmatischen Sollvorschrift als den eines konkreten Umsetzungsauftrages. Ihren Rechtspflichten seien sie nicht ausreichend nachgekommen. Birk et al. (1990) sehen eine wesentliche Ursache dafür in einer mangelhaften Abstimmung des § 3a mit dem § 100 des BSHG (vgl. § 3a, Rn. 11): Nach § 99 BSHG war bis zum 1. Januar 2007 grundsätzlich der örtliche Sozialhilfeträger für Leistungen nach dem BSHG zuständig (vgl. Münder et al. 2005 § 97). Eine Ausnahme bildeten stationäre und teilstationäre Hilfen für Menschen mit Behinderungen, denn diese lagen nach § 100 BSHG im Zuständigkeitsbereich der überörtlichen Träger. Die geteilte Zuständigkeit bewirkte, dass für die örtlichen Träger der Sozialhilfe keinerlei Veranlassung bestand, auf eigene Kosten vermehrt ambulante Hilfen zu entwickeln und ein Netz Offener Hilfen aufzubauen. Schädler sieht hier ein wesentliches Versäumnis der Ländergesetzgeber, da nach § 100 Abs. 1, S. 1 durchaus die Möglichkeit bestanden hatte, auf der Basis von Ländergesetzen eine Regelung zu treffen, nach der auch für die ambulanten Hilfen der jeweils überörtliche Träger als zuständig ernannt werden könnte. Es bestand also die Möglichkeit, eine einheitliche Zuständigkeit für ambulante und stationäre (bzw. teilstationäre) Hilfen herzustellen. Schädler kritisiert: „Im Bereich der Behindertenhilfe haben die Bundesländer davon nahezu keinen Gebrauch gemacht. Dies erklärt auch den Kraftaufwand, der vielerorts notwendig war, um ambulante Dienste auf kommunaler Ebene zu schaffen.“ (Schädler 2002, 32) 5.2.4 1994: Spar- und Konsolidierungsgesetze Entgegen aller Zielsetzungen und Maßnahmen des Haushaltsbegleitgesetzes von 1984 stiegen die Ausgaben für stationäre Unterbringungen weiter derartig an, dass stationäre Unterbringungen im Rahmen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege bereits Anfang der 90er Jahre ca. 50% aller Sozialhilfeausgaben ausmachten (vgl. BT-Drs. 12-4401, 83). Diese wurden zwar auch auf steigende Fallzahlen und Qualitätssteigerungen der Hilfen zurückgeführt, dennoch wurde im Verhältnis zu anderen Leistungsbereichen der Sozialhilfe diese Steigerung als nicht mehr hinnehmbar wahrgenommen. Deshalb sah es die damalige Regierung als notwendig an, die Kostensätze künftig um wenigstens 1 % zu senken. Dies war die zentrale Zielsetzung der Änderung des § 93 BSHG, den Sozialhilfeträgern ein Steuerungsinstrument an die Hand zu geben, um „zusammen mit den Trägern von Einrichtungen die in den letzten Jahren drastisch gestiegenen Kosten der stationären Unterbringungen zu dämpfen.“ (BT-Drs. 12-4401, 83). Im Zuge des FKPB (Gesetz zur Umsetzung des föderalen Konsolidierungsprogramms), des ersten und des zweiten SKWPG wurden deshalb zum 01.01. bzw. 01.07.1994 die Regelungen zur Berechnung von Pflegesätzen umgestellt. Diese Umstellung wird heute als Umstellung vom ‚Selbstkostendeckungsprinzip zu prospektiven Leistungsvereinbarungen’ diskutiert. Obwohl nicht zwingend vorgeschrieben, wurden die Pflegesätze bis 1994 in der Regel nach dem Selbstkostendeckungsprinzip festgelegt. Das BSHG sah zwar kein bestimmtes Pflegesatzsystem zwingend vor, allerdings wurde aus der Formulierung „zu übernehmende Kosten“ im § 93 Abs. 2 BSHG in der Regel das Selbstkostendeckungsprinzip abgeleitet (vgl. Vigener 1994, 122). Vor Beginn eines Wirtschaftszeitraums wurde zwischen dem Sozialhilfeträger und dem Einrichtungsträger ein Pflegesatz für den kommenden Wirt-
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schaftszeitraum vereinbart. „Generell beschränkt sich der Inhalt der Pflegesatzvereinbarungen auf Aussagen, in welchem Umfang und nach welchem Verfahren der Sozialhilfeträger Kosten für die in der Einrichtung erbrachten Leistungen übernimmt.” (Friedrich 1994, 168) Es war also üblich, die voraussehbaren Kosten vorab zu kalkulieren (entweder für eine einzelne Einrichtung oder eine Gruppe vergleichbarer Einrichtungen und einschließlich von Sonderpflegesätzen für die Mehrkosten in begründeten Fällen (vgl. ebd.)). Eine Über- oder Unterdeckung der tatsächlich entstehenden Kosten in dem Zeitraum konnte dann für die in der Pflegesatzvereinbarung vorgesehenen Fälle zum nächsten Wirtschaftszeitraum verrechnet werden. Die Einrichtungsträger mussten dazu auf Verlangen der Sozialhilfeträger die notwendigen Unterlagen beibringen, um ihre Preisforderungen zu belegen (vgl. Sans 1994, 125). Durch das Selbstkostendeckungsprinzip sollten übermäßige Gewinne ebenso wie besondere Verlustrisiken bei den Einrichtungen verhindert werden. Die Sozialhilfeträger sollten mit dem Verfahren in die Lage versetzt werden, die Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit der Einrichtungen zu prüfen. Als wirtschaftlich galten solche Leistungen, die mit dem geringsten Aufwand ein definiertes Ziel erreichen (vgl. ebd.). Häufig wurde zur Ermittlung der zu übernehmenden Kosten von den Einrichtungsträgern deshalb ein ‚Selbstkostenblatt’ verlangt, auf dem sie die relevanten Kostenpositionen (Personalund Sachkosten) ausweisen sollten (vgl. Vigener 1994, 122). Es waren z.B. Angaben über die wirtschaftliche Größe der Einrichtung, die Personalplanung, dem adäquaten Raum- und Sachmitteleinsatz, dem Verhältnis von Fremd- und Eigenmitteln, der Art, des Umfangs und der Höhe der Abschreibungen notwendig (vgl. Sans 1994, 125). Friedrich fällt allerdings auf, dass bei dem bis 1994 praktizierten Verfahren, „[…] allgemein eine Beschreibung der von der Einrichtung zu erbringenden Leistung nach Art, Inhalt, Umfang und Qualität fehlt.“ (Friedrich 1994, 168). Sie führt dies darauf zurück, dass die Hilfe in Einrichtungen formal als Geldleistung gewährt werde. Deshalb habe die Festlegung eines allgemeinen Rahmens, innerhalb dessen die Hilfe erbracht werde, ausgereicht. Bei einer Sachleistung dagegen müsse die Einrichtung als Ausführungsorgan des Sozialhilfeträgers einen genauen Arbeitsauftrag mit spezifizierten Leistungen erhalten. Die Selbstkostenblätter und Berechnungen waren im Laufe der Jahre immer umfangreicher und komplizierter geworden, so dass sich einige Bundesländer mit jährlichen Abschlagszahlungen beholfen, die dann aber über mehrere Jahre hinweg nicht abschließend beschieden werden konnten (vgl. Vigener 1994, 122). Ein weiteres Problem war, dass alle nachweisbaren Kosten letztlich von den Sozialhilfeträgern wieder erstattet wurden; es gab deshalb auf Seiten der Einrichtungsträger keine Anreize zu wirtschaftlichem Handeln (vgl. ebd.). Das Ziel der wirtschaftlichen Kontrolle konnte deshalb mit Hilfe der Selbstkostenblätter langfristig nicht gesichert werden. Diese Lücken und Probleme sollten durch die Änderung des § 93 Abs. 2 BSHG im Rahmen des FKPG geschlossen werden. Der Paragraph wurde zunächst dadurch ergänzt, dass die Pflegesatzvereinbarungen zwischen Sozialhilfeträgern und Einrichtungsträgern künftig „Bestimmungen über Inhalt, Umfang, Qualität und Kosten der Leistung und deren Prüfung durch die Kostenträger“ (vgl. a.a.O. 15 f) beinhalten mussten. Diese Verpflichtung geht über das bisherige Gebot der Prüfung von Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit der Einrichtungen hinaus, da es nun notwendig geworden war, die vereinbarten Leistungen genauer zu beschreiben.
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Im Zuge des Zweiten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, und Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (2. SKWPG) wurde zum 1. Juli 2004 das Selbstkostendeckungsprinzip für Einrichtungen (d.h., entstandene Kosten wurden erstattet) zugunsten prospektiver Leistungsentgeltsätze (konkrete Leistungen werden leistungsgerecht vergütet) abgeschafft. Prospektive Leistungsvereinbarungen sind nun gesetzlich vorgeschrieben (§ 93 Abs. 2 und 3 BSHG), in denen zu Beginn eines jeden Wirtschaftszeitraums die voraussichtlich entstehenden Kosten kalkuliert und vergütet werden. Das komplizierte Verfahren der Abrechnung von Kosten im Nachhinein durch das Selbstkostenblatt und ihrer Verrechnung mit vorab geleisteten pauschalen Abschlägen sollte so entfallen. Der nachträgliche Ausgleich von Über- oder Unterdeckungen ebenso wie rückwirkende Vereinbarungen waren künftig nicht mehr zulässig (vgl. Friedrich 1994, 170). Mit dieser Umstellung waren verschiedene Hoffnungen verbunden:
Die Einrichtungsträger sollten zu Beginn eines Wirtschaftszeitraums Sicherheit darüber erhalten, mit welchen Einkünften sie rechnen können und mit welchen finanziellen Mitteln sie auskommen müssen (vgl. Friedrich 1994, 171; Vigener 1994, 122). Sie sollten dadurch zugleich Anreize erhalten, wirtschaftlich und sparsam zu handeln und auf diese Weise Überschüsse zu erzielen, da diese am Ende eines Wirtschaftszeitraums nicht mehr als Überdeckung in künftigen Wirtschaftszeiträumen verrechnet werden. Die Gewinne sollten dazu dienen, das eigene Leistungsangebot zu verbessern und sich in einem Qualitätswettbewerb mit anderen Anbietern zu messen (vgl. Friedrich 1994, 171). Allerdings wurde schon 1994 von Sans darauf hingewiesen, dass zwar notwendiger Weise mit den prospektiven Leistungsvereinbarungen auch eine Prüfung der bedarfsgerechten Leistungserbringung und damit Leistungsdokumentation erfolgen muss. Zugleich müsse aber auch sichergestellt werden, dass die Sozialhilfeträger im Rahmen dieser Prüfungen keinen unmittelbaren Zugriff auf Gewinn- und Verlustrechnungen der Einrichtungen erhalten, damit mögliche Gewinne nicht in den kommenden Pflegesatzvereinbarungen wieder abgeschöpft werden (vgl. Sans 1994, 125). Er weist damit auf einen zentralen Argumentationsfehler des Gesetzgebers hin: Überschüsse können eben nur dann erwirtschaftet werden, wenn entweder die Leistungen nicht bedarfsgerecht erbracht werden oder aber zu geringeren Kosten erbracht werden können, als vereinbart wurde und damit nicht dem Gebot der ‚Wirtschaftlichkeit’ entsprechen. Für die Sozialhilfeträger sollten die prospektiven Leistungsvereinbarungen eine bessere Grundlage für die Kalkulation der eigenen Haushalte bieten. Indem die Kosten in den einzelnen Bereichen im Voraus kalkuliert und nicht mehr konkret berechnet, belegt und ausgerechnet werden müssen, sollte der Verwaltungsaufwand verringert werden (vgl. ebd.). Vigener sieht zudem die Chance, die Wirtschaftsperioden der Einrichtungen künftig analog zu den Haushaltsjahren der Sozialhilfeträger schalten zu können und dadurch weitere Vereinfachungen zu erhalten (vgl. Vigener 1994, 122 f). Auf Seiten der Hilfesuchenden sollte es keine Veränderungen geben (die Einschränkung der Wahlfreiheit bestand ja schon seit 1984). Vielmehr sollten auch die künftigen Pflegesätze ‚leistungsgerecht’ sein und „die Gestehungskosten für eine bedarfsgerechte Hilfe bei wirtschaftlicher und sparsamer Betriebsführung abdecken, § 93 Abs. 2 Satz 2 BSHG“ (ebd.).
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Trotz aller grundsätzlichen Änderungen blieb es auch beim neuen § 93 BSHG dabei, dass nicht ein Gesamtbudget vereinbart werden sollte, sondern weiterhin die notwendigen Kosten im Einzelfall durch den Sozialleistungsträger übernommen werden (Kostenübernahmeprinzip) sollten (vgl. Friedrich 1994, 170). Sans sah deshalb schon zu diesem Zeitpunkt einen dringenden Bedarf, dass sich öffentliche und freie Träger darüber verständigen, wie bedarfsgerechte Hilfen möglichst genau beschrieben werden können und wie eine leistungsgerechte Vergütung für diese Hilfen aussehen können. Dazu müssten Zeiten und Personalbedarfe ermittelt werden und die notwendige räumliche und sachlich-technische Ausstattung kalkuliert werden (vgl. Sans 1994, 126). Dies müsse auf dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse geschehen (vgl. Sans 1994, 125).
Vigener schlug dazu vor, ein einrichtungsbezogenes Grundentgelt (für Unterkunft und Verpflegung, Gebäudekosten, Personal- und Sachkosten) und ein einrichtungsunabhängiges Leistungsentgelt zu zahlen, das diagnose- oder klientenbezogen zu kalkulieren sei. Das klientenbezogene Entgelt könne in ein Pflege-, Eingliederungshilfe- und medzinisch-/therapeutisches Entgelt aufgeteilt werden. Er hält für die Behindertenhilfe weniger eine Orientierung an den drei Stufen der künftigen Pflegeversicherung als vielmehr eine Orientierung am Gesundheitsstrukturgesetz für Krankenhäuser für angemessen, wo 160 Sonderentgelte und 40 Fallpauschalen vorgesehen waren (vgl. Vigener 1994, 124). Er ging davon aus, dass diagnosebezogene Referenzgruppen gebildet sollten, auf deren Basis der durchschnittliche Personal- und Sacheinsatz für jede Diagnose ermittelt werden kann, die für die Festlegung von Leistungsentgelten zugrunde gelegt werden können. Eine solche Entgeltberechnung müsse allerdings länderbezogen erfolgen und werde in den ersten Jahren sehr arbeitsaufwändig sein, könne aber später in allgemeinen Steigerungsraten fortgeschrieben werden (vgl. ebd.). Die Ermittlung der einzelnen notwendigen Leistungen im Einzelfall solle dann optimal von einem qualifizierten öffentlichen Gesundheitsdienst oder dem medizinischen Dienst der Krankenkassen übernommen werden. Für die Leistungsdefinition, Ermittlung der einrichtungsbezogenen und einrichtungsunabhängigen Entgelte und ‚Klassifizierung der Leistungsempfänger’ prognostizierte Vigener eine Umstellungsphase von zwei Jahren (ebd.). Friedrich präferiert dagegen gerade eine Orientierung an der künftigen Pflegeversicherung: Die nach Hilfebedarf gestaffelten Pflegesätze würden sicherstellen, dass auch besonders betreuungs- und pflegebedürftige Personen die erforderlichen Hilfen erhalten (vgl. Friedrich 1994, 171). Die Konkretisierung der Hilfeleistungen im Einzelfall würde der Sozialhilfeträger dann dem Einrichtungsträger überlassen. Damit würde die Eigenverantwortung der Einrichtungsträger bei der Leistungserbringung erneut gestärkt. Obwohl eine einheitliche Lösung zu diesem Zeitpunkt noch fehlte, stellte Vigener im April 1994 fest, dass „bereits eine Vielzahl prospektiver Pflegesätze vereinbart“ oder Übergangsvereinbarungen getroffen worden seien (vgl. Vigener 1994, 122). Zudem besaßen vor dem 1. Juli 1994 geschlossene Pflegesatzvereinbarungen nach dem Verfassungsgebot für Rechtssicherheit noch für die Dauer der Vereinbarung weiterhin Gültigkeit. Im Großen und Ganzen lassen sich also vier zentrale Änderungen sozialrechtlicher Steuerungsmechanismen aus der Änderung des § 93 zu diesem Zeitpunkt herauslesen:
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5 Individuelle Hilfeplanung im Kontext sozialrechtlicher Veränderungen Zeitliche Dimension: Von einer zeitlich rückwärts gerichteten Erstattung entstandener Kosten wurde die gesamte Kostenübernahme umgestellt auf eine zukunftsgerichtete Kalkulation. Qualitative Dimension: Erstmalig wurden die Kosten der Eingliederungshilfe direkt mit den tatsächlich erbrachten Leistungen in Verbindung gebracht. Das bedeutete für die Einrichtungsträger formulieren zu müssen, welche Leistungen sie zu welchen Kosten erbringen können und für die Leistungsträger, formulieren zu müssen, welche Leistungen sie zu welchen Preisen erwarten, um Entgelte für vereinbarte Leistungen festlegen zu können. Organisationale Dimension: Dieses Vorgehen erfordert auf Seiten der Einrichtungsträger eine stärkere Orientierung an betriebswirtschaftlichen Prinzipien der Organisation ihrer Angebote. Durch die Zukunftsorientierung und die Befristung der Vereinbarungen wurden sie zudem erstmalig mit erheblichen wirtschaftlichen Risiken konfrontiert. Andererseits wurde ihre Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit gestärkt, indem sie als gleichberechtigte Vertragspartner der Sozialhilfeträger auftreten können. Ordnungspolitische Dimension: Zugleich lag in dieser Gleichberechtigung eine weitere Neuerung, denn das Verhältnis zwischen diesen Parteien ist nicht mehr das zwischen einer Ordnungsmacht (Leistungsträger als Repräsentanten der Staatsgewalt) und ihren Ausführungsorganen (Leistungserbringer), sondern die Beziehungen sollten künftig verstärkt vertrags- und marktförmig gestaltet und damit für Aushandlungsprozesse und Veränderungen geöffnet werden.
5.2.5 1995: Einführung der Pflegeversicherung Mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 (SGB XI) wurde den Sozialversicherungen eine weitere Säule hinzugefügt, die zu prospektiven und leistungsdifferenzierenden Pflegesätzen und Leistungsentgelten sowie zu verstärktem Wettbewerb zwischen den Anbietern von Pflegeleistungen führte (vgl. Merchel 2001, 45 ff). Die Pflegeversicherung sollte der demographischen Entwicklung, d.h. der Zunahme alter und behinderter Menschen in der Gesellschaft Rechnung tragen, die Sozialhilfe als ‚letztes Sicherungsnetz’ entlasten und die notwendige Versorgung der Betroffenen mit pflegerischen Leistungen sicherstellen. Anstatt aus Steuermitteln sollten künftig die Pflegeleistungen überwiegend von der Gemeinschaft der Versicherten getragen werden. Pflegeleistungen werden seither nach einer Einstufung des individuellen Pflegebedarfs in eine von 4 Pflegestufen (Pflegestufe 0 führt allerdings zu keinen materiellen Leistungsansprüchen) bis zu einer festgelegten Höchstgrenze aus der Pflegeversicherung finanziert. Dabei werden die einzelnen Pflegeleistungen nach einem standardisierten Leistungskatalog vergütet, der auf der Grundlage von Zeitverwendungsmessungen entwickelt wurde. Menschen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe profitieren allerdings kaum von diesem Gesetz, da nach § 40a BSHG in Verbindung mit § 43a SGB XI die Eingliederungshilfe in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe auch die notwendige Pflege umfasst. Sie erhalten deshalb nur in geringem Umfang Leistungen der Pflegeversicherung. Zum 01. Juli 2008 wurde die Pflegeversicherung mit dem ‚Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung‘ (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, 28.05.2008) einer umfassenden Reform unterzogen. Dementiell erkrankte Personen erhalten aufgrund
5.2 Änderungen der Sozialgesetzgebung
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des erhöhten Betreuungsaufwandes künftig zusätzliche Leistungen. Auch die Sätze für die Pflege durch Angehörige (Pflegegeld) deutlich angehoben und die Situation pflegender Angehöriger verbessert, indem ihnen künftig ein Recht auf unbezahlten Urlaub im Falle eines Pflegefalles in der Familie ähnlich wie bei Eltern Heranwachsender eingeräumt wird. Zweitens wurden mit dem Terminus der ‚Pflegeberatung‘ die Prinzipien des Casemanagements für die Koordination von Pflegeleistungen übernommen und mit der Einführung von sozialräumlich verorteten Pflegestützpunkten ein stärkerer Fokus auf nachbarschaftliche Unterstützung und Stärkung des Gemeinswesens gerichtet, aber auch auf die gemeinsame Verantwortung verschiedener Leistungsträger, wie sie auch mit den ‚Gemeinsamen Servicestellen für Rehabilitation‘ gedacht war, betont. Pflegeheime werden künftig in regelmäßigen Abständen (ab 2011 jährlich) vom medizinischen Dienst der Krankenkassen nach festgelegten Qualitätskriterien geprüft und ihre Berichte werden veröffentlicht. Insgesamt zeigt sich vor allem eine verstärkte Orientierung an den Selbstorganisationsfähigkeiten der Betroffenen bzw. ihrer Angehörigen durch erhöhte Zahlungen im Einzelfall und die Einführung von Begleitdiensten zur Organisation der Pflege. Stationäre Einrichtungen werden dagegen stärker als bisher überwacht. Allerdings macht das Gesetz keine Aussagen dazu, was die konkreten Inhalte der Überwachung sein sollen und welcher Qualitätsbegriff zu Grunde gelegt wird, da diese Aufgabe der Konkretisierung von Rechtsnormen in der Regel an die zuständigen Stellen weiterverwiesen wird. 5.2.6
1996: Reform des BSHG
Im August 1996 erfolgte eine weitere Umgestaltung des § 93 BSHG und die Einfügung der §§ 93a bis 93d BSHG. Die Regelungen des BSHG-Reformgesetzes sind zum 1.1.1999 in Kraft getreten. Eine zentrale Änderung besteht in einem geänderten Verhältnis von ambulanten und teilstationären und stationären Leistungen. Zwar wird einerseits der Vorrang ambulanter Leistungen in § 3a Satz von einer ‚Soll’- zu einer ‚Muß’-Vorschrift eindeutiger formuliert. Während bisher § 3 Abs. 2 BSHG für die Prüfung, ob eine stationäre oder ambulante Hilfe angemessen ist, nicht eindeutig einen Kostenvergleich ausschließt, wird dies nun § 3a S. 2 BSHG klar geregelt. Nur, wenn zuvor die Zumutbarkeit einer stationären Unterbringung geprüft wurde und diese eine mögliche Option der Hilfegewährung sein kann, darf ein Kostenvergleich angestellt werden. Während aber zuvor galt, dass stationäre Maßnahmen nur dann bewilligt werden dürfen, wenn diese nicht unverhältnismäßig teurer als ambulante Maßnahmen sind, wird diese Logik nun genau umgedreht: Nun gilt der Vorrang ambulanter Leistungen nicht mehr, „wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist“. Damit fällt in der praktischen Konsequenz der Vorrang ambulanter Leistungen weg, denn diese können nur noch im Rahmen verhältnismäßiger Mehrkosten einer vergleichbaren stationären Leistung bewilligt werden. Münder et al. (2005) sehen darin einen zunehmenden Druck zu Umzügen ins Heim (vgl. § 13, Rn. 1). Finanzielle Erwägungen, nicht individueller Unterstützungsbedarf, entscheiden letzten Endes über die Wohnform, obwohl mit Letzterem argumentiert wird. Eine weitere zentrale Veränderung war die in Abs. 1 geänderte Formulierung, dass nicht mehr nur Träger der ‚Freien Wohlfahrtspflege’, sondern generell ‚andere Träger’ die
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5 Individuelle Hilfeplanung im Kontext sozialrechtlicher Veränderungen
Möglichkeit haben, Vereinbarungen mit den Trägern der Sozialhilfe abzuschließen. Schon vorher hatte das Bundesverfassungsgericht den Trägern der Sozialhilfe einen Ermessensspielraum bei der Inanspruchnahme von Anbietern der Freien Wohlfahrtspflege oder privatgewerblichen Anbietern eingeräumt, der sich an der Eignung möglicher Einrichtungen orientiert. Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege hatten also auch vor der Gesetzesänderung keinen Rechtsanspruch auf vorrangige Inanspruchnahme (Birk et al. 1991, § 93 BSHG, Rn. 4). Dennoch wurde durch die Änderung eine Art ‚Marktöffnung’ für privatgewerbliche Anbieter geschaffen und die Privilegierung der Wohlfahrtsverbände nach § 10 BSHG weitgehend ausgehebelt. Einrichtungen, die nicht zum Verband der Freien Wohlfahrtspflege gehören, können als Leistungserbringer beauftragt werden, sofern ihre Einrichtungen geeignet sind, die erforderlichen Leistungen zu erbringen. Zudem werden von stationären Einrichtungen neben der Verpflichtung, Inhalt, Umfang und Qualität der Leistungen in einer Leistungsvereinbarung festzulegen, künftig Vergütungsvereinbarungen und Prüfvereinbarungen über Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungen mit den Leistungsträgern verlangt. Der geänderte § 93a BSHG dient dazu, diese Vereinbarungen inhaltlich näher zu spezifizieren. Während die Leistungsbeschreibung im Wesentlichen den bisherigen Anforderungen entspricht, sollen in der Vergütungsvereinbarung (§ 93a Abs. 2) mindestens Pauschalen für Unterkunft und Verpflegung (Grundpauschale), für Maßnahmen (Maßnahmepauschale) und einem Betrag für die betriebsnotwendigen Anlagen und Ausstattung (Investitionsbetrag) festgelegt werden. Der dritte Absatz des neuen Gesetzes bestimmt nun auch genauer, wie die Qualität der Leistungen festgestellt werden soll. So sollen Sozialhilfeträger und Einrichtungsträger ‚Maßstäbe für die Wirtschaftlichkeit und die Qualitätssicherung’ sowie für das ‚Verfahren der Durchführung von Qualitätsprüfungen’ festlegen. Die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen müssen zudem dokumentiert und den Leistungsempfänger/innen zugänglich gemacht werden. Für die Entwicklung der Individuellen Hilfeplanung in der stationären Behindertenhilfe wurden mit dieser Gesetzesänderung zentrale Weichen gestellt, da die zu verhandelnden Maßnahmepauschalen nach „Gruppen für Hilfeempfänger mit vergleichbarem Hilfebedarf“ kalkuliert werden sollten. War es im Rahmen der Umstellung vom Selbstkostendeckungsprinzip zu prospektiven Leistungsvereinbarungen noch den Einrichtungen überlassen geblieben, im Rahmen ihrer Kostenkalkulation die individuellen Hilfebedarfe der einzelnen Nutzer/innen angemessen zu berücksichtigen (so lange sie ihre Kalkulation nachvollziehbar und plausibel beschreiben konnten), so mussten nun Verfahren entwickelt werden, wie ein individueller Hilfebedarf unabhängig von der Einrichtung, in der eine Leistung erbracht wird, festgestellt werden kann. Nur wenn Bedarfe einrichtungsunabhängig festgestellt werden können, werden sie vergleichbar und können zu Gruppen zusammengefasst bzw. Gruppen zugeordnet werden. Dies erhöhte bei den Sozialhilfeträgern erheblich den Druck, standardisierte Verfahren zur Bedarfsfeststellung einzuführen, die dann in den Rahmen einer Gesamtplanung eingebettet werden konnten. Mit der Reform von 1996 wurde das BSHG zudem um den § 101a ergänzt (mit einer Befristung bis zum 01.01.2005), mit dem die Landesregierungen das Recht bekamen, die Träger der Sozialhilfe in Modellvorhaben dazu zu ermächtigen, im Rahmen der Hilfen zum Lebensunterhalt und der Hilfen in besonderen Lebenslagen Pauschalbeträge für einen bestimmten Bedarf festzusetzen (Gesetz zur Erprobung Persönlicher Budgets). Die festgesetzten Pauschalen sollten geeignet sein, den angemessenen Bedarf zu decken. Diese Erprobung Persönlicher Budgets sollte nicht primär dazu dienen, die Ausgaben für die Sozialhil-
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fe zu senken, sondern sollte den Sozialhilfeempfängern mehr Dispositionsfreiheit und Selbstständigkeit ermöglichen. Darüber hinaus wurde mit weiteren Pauschalierungen eine Vereinfachung der Verwaltungsverfahren erwartet. Die durch die Vereinfachung eingesparten Mittel könnten dann bspw. für die individuelle Beratung der Leistungsempfänger/innen genutzt werden, so die Vorstellung des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 14/820, 7). Gleichzeitig wurde die Deckelung der Pflegesätze eingeführt, um der Praxis einerseits Zeit zu geben, sich in den Jahren 1996 bis 1998 auf das neue Finanzierungssystem der Sozialhilfe bei der Hilfe in Einrichtungen einzustellen, andererseits um einen neuerlichen starken Kostenschub zu vermeiden (BT-Drs. 13/11319). 5.2.7 2001: Reform des Heimgesetzes Neben den § 93 ff BSHG ist das Heimgesetz (HeimG) eine zentrale Rechtsnorm, die die Gestaltung des Unterstützten Wohnens in einer stationären Wohneinrichtung beeinflusst. Zum einen regelt es die vertraglichen Beziehungen zwischen Heimbewohner/innen und Heimträger (§§ 5–9). Zum anderen werden im Heimgesetz die Mitbestimmungsrechte der Bewohner/innen im Heimbetrieb festgelegt (§ 10). Drittens hat das Gesetz im Sinne einer Gewerbeordnung die Aufgabe, Mindeststandards in der Ausstattung festzulegen und die Aufsicht und Kontrolle durch die zuständigen Behörden zu regeln (§ 11–19). Das Heimgesetz hat seit seiner ersten Bekanntmachung 1978 als ‚Gesetz über Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime für Volljährige’ drei zentrale Novellierungen erfahren: 1990 wurde das Gesetz ergänzt um die Festlegung der Form und der Kernbestandteile eines Heimvertrags, den die Heimträger als privatrechtlichen Vertrag mit den Bewohner/innen abschließen. Aufgrund der Veränderungen auf dem Pflegemarkt durch die Einführung der Pflegeversicherung wurde 1997 eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Heimgesetzes auf Einrichtungen der Kurzzeitpflege notwendig. Zugleich wurde der Erlaubnisvorbehalt für den Betrieb von privatgewerblichen Heimen aufgehoben (vgl. Bmfsfj 2006, 19). In inhaltlicher Analogie zum § 93 BSHG wurde das Heimgesetz beinahe zeitgleich mit der Einführung des SGB IX 2001 grundständig überarbeitet und novelliert. Zum einen trug der Gesetzgeber damit der Notwendigkeit Rechnung, die unterschiedlichen Formen des Unterstützten Wohnens den unterschiedlichen Regelungsbereichen klarer zuzuordnen und Heime von Formen betreuten Wohnens klar abzugrenzen. So fallen nun auch Kurzzeitheime und stationäre Hospize unter das Heimgesetz, andererseits unterliegen Formen ambulant betreuten Wohnens oder Wohngruppen dann nicht dem Heimgesetz, wenn der Hauptvertragsbestandteil die Vermietung des Wohnraums ist und weitere Verpflegungs- und Betreuungsleistungen nur zweitrangig sind. Zum anderen wollte der Gesetzgeber die Transparenz von Heimverträgen verbessern und die Mitbestimmungsrechte der Bewohnervertretungen stärken. Zugleich wurden die Möglichkeiten der Heimaufsicht gestärkt: Nach § 13 HeimG müssen die Heimträger nun nicht nur die wirtschaftliche und finanzielle Lage, die räumliche und personelle Ausstattung und die allgemeinen betrieblichen Abläufe dokumentieren und der Heimaufsicht transparent machen, sondern auch umfangreiche personenbezogene Angaben machen. So müssen in der Dokumentation des Heimträgers unter anderem die Betreuungsbedarfe und evtl. Pflegestufen (§ 13 Abs. 1, Pkt. 4), Pflegeplanungen und Pflegeverläufe bei Personen mit Pflegebedarf (§ 13 Abs. 1, Pkt. 6), Förder- und Hilfepläne einschließlich der Umsetzung in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe (§ 13 Abs. 1,
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Pkt. 7) sowie Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung und zur Qualitätssicherung (§ 13 Abs. 1, Pkt. 8) aufgeführt werden. 2002 und 2003 erfolgten weitere, jedoch nur geringfügige Änderungen des Heimgesetzes. Die letzte große Neuerung ist mit Inkrafttreten der Föderalismusreform am 1. September 2006 geschehen. In diesem Moment ging die Zuständigkeit für das Heimgesetz von der Bundesebene in die Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer über. Langfristig könnten damit bis zu 16 länderspezifische Heimgesetze entstehen. (Eine Übersicht über den Stand der Gesetzgebungsverfahren der Bundesländer findet sich in bv-aktuell: Informationen aus dem Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte 5/2007, 36 ff). Zum 1. Oktober ist schließlich das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz in Kraft getreten, welches das Heimgesetz ablöst und die Bestimmungen der Förderalismusreform in gültiges Recht übersetzt. Es soll vor allem den Abschluss, die Durchführung und Beendigung von Verträgen regeln, in denen die Überlassung von Wohnraum mit Betreuungs- und/ oder Pflegeleitungen verknüpft werden. (Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2009, 77) Davon ausgenommen ist allerdings das Heimvertragsrecht, da zivilrechtliche Regelungen generell Aufgabe des Bundes sind (vgl. BT-Drs. 16/4654). 5.2.8 2001: Einführung des SGB IX Mit dem am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuch IX wurde das Recht zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen sowie das Schwerbehindertenrecht in einem Buch zusammengefasst und weiter entwickelt. Die Leistungen für Menschen mit Behinderungen wurden damit als ein eigenständiger Bereich der Sozialgesetzgebung aufgewertet. Das Gesetz soll die Selbstbestimmung behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen und ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft fördern, Benachteiligungen vermeiden oder ihnen entgegenwirken (vgl. § 1 SGB IX). Die Leistungen sollen dennoch auch nach dem SGB IX so bemessen werden, „dass eine Deckung des festgestellten Bedarfs unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit möglich ist“ (§ 17, Abs. 2). Mit der Zielsetzung, die gleichberechtigte Teilhabe der Betroffenen an dem Leben in der Gesellschaft zu realisieren, geht auch eine sprachliche Änderung im SGB IX gegenüber dem BSHG einher: Aus den ‚Hilfeempfängern’ werden ‚Leistungsberechtigte’, aus ‚Behinderten’ werden ‚Menschen mit Behinderungen’ und der Begriff der ‚Maßnahme’ wird durch den Begriff der ‚Leistung’ ersetzt. Damit wird die aktive Rolle der betroffenen Personen im Verfahren betont und sie von Objekten sozialstaatlicher Fürsorge zu Vertragspartnern mit Rechten und Pflichten erhoben. Die sprachliche Wendung im Gesetz zum ‚selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten‘ erhebt das ‚selbstbestimmte Leben‘ zur einzig akzeptablen Lebensform, die die Unterstützung der Gemeinschaft (durch Sozialhilfeleistungen) rechtfertigt (§ 55 Abs. 6 SGB IX). Umgekehrt werden damit aber auch alle bereits bestehenden (und weiterhin finanzierten) Hilfeangebote sprachlich zu Hilfen, die das ‚selbstbestimmte Leben‘ unterstützen, ohne dass geklärt werden muss, wie dies erreicht wird. Abhängigkeit ist damit umgekehrt kein Bestandteil des Daseins, der dauerhaft akzeptabel ist, auch wenn sie bei Menschen mit Behinderungen oftmals ‚hingenommen‘ werden muss.
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Eine zentrale Zielsetzung des neuen SGB IX war die Vereinheitlichung des Rehabilitationsrechts. Die Koordination und Kooperation aller beteiligten Rehabilitationsträger soll durch ein gemeinsames Recht gewährleistet werden. Das SGB IX bündelt damit Leistungsansprüche behinderter Menschen der anderen Gesetzbücher und stellt alle Leistungen Teilhabe, die sich in Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 5 SGB IX) differenzieren, nebeneinander. Alle Rehabilitationsträger tragen folglich eine gemeinsame Strukturverantwortung für die Bereitstellung der erforderlichen Hilfen zur Sicherstellung der Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft. Das Verfahren zur Zuständigkeitsklärung im Einzelfall wird dabei im SGB IX eindeutig geregelt (vgl. Münder et al. 2005, 13 ff). Letztlich konnte das Ziel der Vereinheitlichung aber nur begrenzt eingelöst werden, da nach wie vor die einzelnen Systemteile gemäß ihrer Bestimmung einzelne Aspekte des Hilfebedarfs erfassen (z.B. Bundesagentur für Arbeit – Integration ins Arbeitsleben, Krankenkassen – medizinische Rehabilitation) (vgl. Trenk-Hinterberger 2006, 56 f). Der Vorrang der Rehabilitation vor Pflege bleibt ebenso bestehen, wie der Vorrang von Leistungen der Sozialversicherungen und sozialen Entschädigung gegenüber den Leistungen der Sozialhilfe (und damit auch der Eingliederungshilfe). Auch nach der Einführung des SGB IX bleibt die Eingliederungshilfe ein Teil der Sozialhilfe und damit ein Bestandteil staatlicher Fürsorge, der dem Einkommensvorbehalt unterliegt. Die Einführung des SGB IX ist deshalb als programmatisch zentrale Neuerung zu bewerten, da es die Rechte behinderter Menschen im Sozialrecht deutlich heraushebt und einen Meilenstein auf dem Weg zu einer Vereinheitlichung der Rechte behinderter Menschen darstellt. Die verschiedenen Rehabilitationsträger werden zur Zusammenarbeit verpflichtet. Aber die Entwicklung eines Leistungsrechts, dass die Hilfen für Menschen mit Behinderungen ‚aus einer Hand’ ermöglicht, bleibt mit dem SGB IX ein Fernziel und leistungsrechtliche Neuerungen gehen vom SGB IX kaum aus. 5.2.9 2005: Einführung des SGB XII Durch die Sozialhilfereform vom 01.01.2005 wurde das BSHG durch das neue SGB XII abgelöst. Es zielt auf eine stärkere Leistungstransparenz und Vergleichbarkeit der Anbieter sozialer Dienstleistungen ab. Gemeinnützige und privatgewerbliche Leistungsanbieter sind seither in allen Leistungsbereichen der Sozialhilfe rechtlich gleichgestellt. Der Individualisierungsgrundsatz, der das Wunsch- und Wahlrecht der leistungsberechtigten Person beinhaltet, wurde aus dem § 3 BSHG weitgehend inhaltsgleich in das neue Gesetzbuch übernommen (vgl. SGB XII § 9 (2)). Die verschiedenen ‚Hilfen in besonderen Lebenslagen’, zu denen die Eingliederungshilfe bis dahin gezählt wurde, werden nun nicht mehr unter einem gemeinsamen Abschnitt gesammelt, sondern stehen jede für sich in einem eigenen Kapitel gleichwertig zu den ‚Hilfen zum Lebensunterhalt’. Insofern kann man von einer Aufwertung der Eingliederungshilfe sprechen. Anders als die anderen Bereiche der sozialen Sicherung und Rehabilitation ist die Eingliederungshilfe aber nach wie vor keine Versicherungsleistung, sondern dient wie die anderen Leistungen des BSHG bzw. SGB XII lediglich dazu, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, insbesondere das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern
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(Münder et al. 2005, § 1 Rn. 4). Für die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen gelten damit weiterhin die Prinzipien der Nachrangigkeit der Unterstützung, der individuellen Bedarfsprüfung und der Heranziehung von Einkommen und Vermögen. Wesentlich für die Frage nach der Bedeutung der Individuellen Hilfeplanung sind u. a. die Ausführungen zur Eingliederungshilfe nach § 55 Abs. 2 im SGB XII. Inhaltlich hat es hier im Vergleich zu den Vorläufergesetzen § 39 und § 40 BSHG kaum Veränderungen gegeben. Sie beinhalten: 1. 2. 3. 4. 5.
Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, Hilfen zur Förderung der Verständigung mit der Umwelt, Hilfen bei der Beschaffung, Ausstattung und Erhaltung einer Wohnung, die den besonderen Bedürfnissen der behinderten Menschen entspricht, Hilfen zu selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten, Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben.
Die Eingliederungshilfe kann nach dem neuen SGB XII als Sachleistung oder als trägerübergreifendes Persönliches Budget (§ 57 SGB XII; § 17 Abs. 2–4 SGB IX) gewährt werden. Für die letztere Hilfeform besteht ein Rechtsanspruch seit dem 01.01.2008, nachdem es vorher in Modellregionen erprobt worden war (dazu auch Metzler/ Meyer/ Rauscher/ Schäfers/ Wansing 2007). Zusammen mit den Hilfen zum Lebensunterhalt und den Hilfen zur Pflege macht die Eingliederungshilfe den wichtigsten Teil der materiellen Transferleistungen für Menschen mit einer geistigen Behinderung, die auf Unterstützung in der alltäglichen Lebensführung angewiesen sind, aus (vgl. Wörrle, 73 ff). Es handelt sich dabei um ein individuelles Recht der Leistungsberechtigten. Sprachlich werden aus den ‚Hilfeempfängern’ des BSHG im SGB XII ‚Leistungsberechtigte’ (vgl. Wörrle 2006, 73) und der Begriff der ‚Maßnahmen’ wird (wie schon im SGB IX) durch den Begriff der ‚Leistungen’ ersetzt. Menschen mit einer Behinderung werden nicht mehr als passive Hilfeempfänger betrachtet, die nach dem Finalitätsprinzip ohne Ansehen der Ursachen oder individuellen Bedingungen unterstützt werden, sondern werden zu aktiven Leistungsberechtigten, die den Nachweis der Berechtigung erbringen und sich selbstbestimmt um die notwendige Unterstützung selbsttätig kümmern. Dies soll nicht nur zu einer gleichberechtigten Teilhabe führen (und durch mehr Wettbewerb zu mehr Leistungsqualität), sondern auch die Effizienz steigern und damit Kosten im Sozialsystem einsparen (vgl. auch Evers-Meyer 2006, o.S.). Wörrle weist allerdings darauf hin, dass mit dieser Formulierung zwar der Rechtsanspruch der Leistungen betont werde, gleichzeitig aber auch die Leistungsberechtigung grundsätzlich im Einzelfall in Frage gestellt werde (Wörrle 2006, 73). Leistungsberechtigt ist beispielsweise nicht, wer über ausreichendes Einkommen verfügt, um die Hilfe selbst zu finanzieren. Die bereits in den 1980er Jahren angemahnte Abstimmung des § 3a BSHG (Vorrang ambulanter vor stationären Leistungen) mit dem § 100 BSHG (sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe) wurde erst im Zuge der Einführung des SGB XII in Angriff genommen. Während die Zuständigkeit der Sozialhilfeträger im Hinblick auf Eingliederungsleistungen für Menschen mit Behinderungen bislang geteilt gewesen war (für
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offene und ambulante Hilfen war der örtliche Träger zuständig, für teilstationäre und stationäre Hilfen der überörtliche Träger (vgl. § 99 und 100 BSHG), führte die Ablösung der § 99 und 100 BSHG durch den § 97 SGB XII mit Wirkung zum 01.01.2007 (Art. 70 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechtes in das Sozialgesetzbuch) zu einer grundsätzlichen Neuregelung: Demnach verbleibt die sachliche Zuständigkeit für Leistungen der Sozialhilfe grundsätzlich bei den örtlichen Trägern der Sozialhilfe. Für ambulante, teilstationäre und stationäre Leistungen der Eingliederungshilfe sind aber generell die überörtlichen Träger der Sozialhilfe zuständig, sofern es keine abweichende Landesregelung gibt (vgl. § 97 Abs. 3 SGB XII). Damit verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die Aufspaltung der Zuständigkeit für ambulante und teilstationäre/stationäre Leistungen zurückzubauen und für die Leistungsberechtigten künftig Leistungen ‚aus einer Hand’ zu ermöglichen. Die Differenzierung zwischen ambulanten, teilstationären und stationären Leistungen sollte mit beiden Maßnahmen langfristig aufhebbar werden, allerdings blieb es auch weiterhin den Bundesländern möglich, abweichende Regelungen zur Zuständigkeitsfrage zu erlassen. In Ausführungsgesetzen zum SGB XII haben damit die Bundesländer seit 2007 die sachliche Zuständigkeit für ambulante, teilstationäre und stationäre Eingliederungshilfen nach dem SGB XII für ihr Bundesland geregelt (vgl. Anhang V). Es ist ein bundesweiter Trend erkennbar, Hilfen für Menschen mit Behinderungen bei den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe zu verorten, was als Folge gewachsener historischer Strukturen gewertet werden kann (dazu auch Boeßenecker 2005, 11 ff). Teilweise wurden aber die Durchführungsverantwortung und das individuelle Fallmanagement in die Zuständigkeit der örtlichen Sozialhilfeträger gegeben. Darin drückt sich die Erkenntnis aus, dass einerseits landesweit einheitliche Regelungen getroffen werden müssen, um Angebots- und Hilfestrukturen überregional koordinieren zu können. Andererseits ist vor allem für die notwendige Verbesserung der örtlichen Angebotsstruktur und eine auf die Lebenssituationen der Menschen vor Ort abgestimmte Hilfeplanung eine Betreuung der Leistungsempfänger durch möglichst ortsnahe Stellen günstig. Bei einer derartig geteilten Zuständigkeit zeigt sich allerdings auch das Problem, die Kostenverantwortung zu teilen, bzw. entsprechende Regelungen treffen zu müssen. Einige Bundesländer haben denn auch die Gelegenheit genutzt, nicht nur die Durchführungsverantwortung, sondern die Zuständigkeit für Eingliederungshilfen für behinderte Menschen umfassend auf die örtliche Ebene zu verlagern. Bundesländer wie SchleswigHolstein hoffen durch die Kommunalisierung auf fachliche Weiterentwicklungen (Barrierefreiheit, regionale Teilhabeplanungen), aufgrund der Tatsache, dass die Kommunen sich nun nicht mehr aus ihrer Verantwortung für einen Teil ihrer Bürger ‚stehlen’ können. Die vom Gesetzgeber geplante bundesweit einheitliche Zuständigkeit konnte aber durch diese vielfältigen Lösungen bisher nicht erreicht werden. Diese Situation besitzt Vor- und Nachteile für die Sicherstellung und Weiterentwicklung von Hilfen für Menschen mit Behinderungen: Münder u. a. weisen darauf hin, dass der Gesetzgeber nach wie vor dafür Sorge tragen muss, dass die gesetzlichen Leistungen umfassend sichergestellt werden. Da die örtlichen Sozialhilfeträger sehr unterschiedlich finanziell und fachlich ausgestattet sind, könnte ihre Zuständigkeit dazu führen, dass Leistungsberechtigte in finanziell schwachen Kommunen gegenüber Leistungsberechtigten in bessergestellten Kommunen benachteiligt werden (vgl. Münder et al. 2005, § 97, Rn. 7). Tatsächlich zeigen die Ergebnissen einer Mitgliederbefragung der BAGüS von 2006 können diejenigen Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft, die sowohl für stationäre, wie auch für
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ambulante Hilfen zum selbständigen Wohnen zuständig sind, bessere Vorhersagen über die Entwicklung der Fallzahlen treffen und diese Entwicklungen besser steuern, als Sozialhilfeträger in den Regionen, wo die Zuständigkeit geteilt ist (vgl. auch Abschnitt 2.3.3). Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel von mehr Transparenz für die Leistungsberechtigten wird dagegen durch diese Entwicklung kaum verwirklicht: Da die Leistungsberechtigten nach wie vor einen Antrag auf Eingliederungshilfe beim örtlichen Sozialhilfeträger stellen können und dieser weiterhin in das Verfahren eingebunden bleibt, bleibe nach Münder u. a. ein Transparenzmangel bestehen. Die örtlichen Träger der Sozialhilfe sollten deshalb die notwendigen Hilfen mit größerer Bürgernähe konzipieren (vgl. Münder et al. 2005, § 97, Rn. 8). Insofern sehen Münder u. a. in dieser Reform eher eine Verwaltungsvereinfachung denn eine Verbesserung im Hinblick auf die Wirksamkeit der Hilfen. Allerdings fehle bisher eine bundesweite vergleichende Untersuchung der Wirkung unterschiedlicher Zuständigkeitsregelungen, insbesondere steht eine Evaluation derjenigen Bundesländer aus, die eine einheitliche Zuständigkeit für Eingliederungshilfeleistungen bei den örtlichen Sozialhilfeträgern ansiedeln (vgl. Rohrmann/ Schädler 2009, 230). Neben der Frage der einheitlichen Zuständigkeit wurde mit der Einführung des SGB XII eine weitere Angleichung von ambulanten und teilstationären bzw. stationären Leistungen vorgenommen. Der § 93a BSHG, der bisher nur für teilstationäre und stationäre Einrichtungen Leistungsvereinbarungen mit den Leistungsträgern und die Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf vorsah, wurde in den § 75 SGBXII überführt. Dieser sieht in Absatz 1 vor, dass nun auch ambulante Dienste den §§ 75–80 SGB XII unterliegen. Damit müssen die Leistungsträger nun auch mit den Anbietern ambulanter Dienste Leistungs-, Preis-, und Prüfvereinbarungen abschließen und darin Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf festlegen. 5.2.10 Benachteiligungsverbote (seid 2002) Seit dem 1. Mai 2002 ist das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) in Kraft getreten. Damit wurde das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes und die Gleichstellung behinderter Menschen umgesetzt, sowie Barrierefreiheit im Bereich des öffentlichen Rechts gesetzlich festgeschrieben. Für die Zuständigkeitsbereiche der Länder sind diese aufgefordert, entsprechende Ländergesetze zur Gleichstellung behinderter Menschen einzuführen. Hieraus erwachsen aber keine neuen Leistungsansprüche für Menschen mit Behinderungen. Auf die Weiterentwicklung der Hilfen beim Wohnen haben sie daher kaum Einfluss. Sie sind eher als gesetzlich festgeschriebene Zielvorstellungen und Zeichen zunehmender gesellschaftlicher Aufmerksamkeit gegenüber Benachteiligungsformen zu bewerten. Auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vom 14. August 2006 besitzt für die vorliegende Problemstellung nur einen geringen Neuerungswert, da es hier nicht um den individuellen Nachteilsausgleich aufgrund einer Behinderung (im Sinne des Gesetzes) geht, sondern um das Verbot von Diskriminierung durch andere aufgrund einer Behinderung. Zudem dient das AGG vor allem dem Zweck, Benachteiligungen im Bereich Erwerbsleben zu verhindern.
5.3 Strategische Entwicklungslinien
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Nachtrag: Mit dem „Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch zur Errichtung einer Versorgungsausgleichskasse und anderer Gesetze“ (SGB4uaÄndG) wurde im Juli 2009 die Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf in § 76 (2) Satz 3 SG XII von einer ‚Muss‘- zu einer ‚Kann‘-Vorschrift umgewandelt. Nun heißt es: „Die Maßnahmepauschale kann nach Gruppen für Leistungsberechtigte mit vergleichbarem Bedarf kalkuliert werden." (Art. 9a Gesetz vom 15.07.2009 BGBl. I, 1939 mit Wirkung vom 22.07.2009) Wie schnell diese Änderung Auswirkungen auf die Entwicklung der Verfahren zur Feststellung des Individuellen Hilfebedarfs nehmen wird, bleibt abzuwarten. Einige Bundesländer haben gerade erst begonnen, die Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf auch auf ambulante Hilfen anzuwenden (z.B. Sachsen), wie es mit der Einführung des SGB XII (§ 75) notwendig geworden war, andere haben sich dieser Norm durch die Entwicklung alternativer (personen-, nicht gruppenbezogener) Berechnungsmodelle für die Maßnahmepauschalen dieser Norm bisher entzogen (z.B. Rheinland-Pfalz). Es ist damit aber ein neuer Verhandlungsspielraum für die Verbände der Einrichtungen und Dienste mit den Leistungsträgern entstanden, hilfeformunabhängige und individuenbezogene Kalkulationsgrundlagen für die Maßnahmepauschalen zu schaffen. Zugleich besteht in dieser rechtlichen Öffnung auch die Gefahr einer weiteren Aufsplitterung von Verfahren im Bundesgebiet, statt einer stärkeren Vereinheitlichung. 5.3 Strategische Entwicklungslinien Abschließend sollen die zentralen strategischen Entwicklungslinien der Sozialgesetze für Menschen mit Behinderungen im Kontext des Wohnens zusammengefasst werden. Sie bestimmen wesentlich die Beziehungen zwischen den Akteuren Individueller Hilfeplanung heute und bilden damit die Grundlage für die im Dispositiv Individuelle Hilfeplanung wirksam werdenden Machtstrategien und Techniken. Mit der Einführung des BSHG wurde ein System der Hilfen etabliert, welches über mehrere Jahrzehnte bestand hatte. Es definierte die Beziehungen zwischen Leistungsträgern, Leistungserbringern und Menschen mit Behinderungen klar und trug vor allem den Interessen von Leistungsträgern und Leistungserbringern Rechnung. Lange Zeit finanzierten die Leistungsträger relativ pauschal die entstehenden Aufwendungen der Institution der Behindertenhilfe. Indem die Träger der Freien Wohlfahrtspflege die Aufgabe der Fürsorge für Menschen mit Behinderungen übernahmen, wurden sie im Gegenzug relativ geringen Kontrollen und Wirksamkeitsanforderungen unterworfen. Mit dem Subsidiaritätsprinzip war (und ist) es den Leistungsträgern weitgehend untersagt, eigene Angebote zu entwickeln und mit dem Vorrang gemeinnütziger vor gewerblichen Anbieten wurden neue Anbieter verhindert. So bestand kaum Konkurrenz für die etablierten Anbieter der Freien Wohlfahrtspflege. Dieses Modell einer korporatistischen Arbeitsteilung zwischen Leistungsträgern und den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege wurde mit der Umstellung vom Selbstkostendeckungsprinzip zu prospektiven Leistungsvereinbarungen, sowie später mit der weitgehenden Gleichstellung von frei-gemeinnützigen und frei-gewerblichen Leis-
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5 Individuelle Hilfeplanung im Kontext sozialrechtlicher Veränderungen
tungsanbietern zunehmend aufgegeben 12: Statt einer langfristigen und stabilen Aufgabenteilung werden nun zeitlich befristete und grundsätzlich freiwillige vertragliche Verpflichtung installiert. Mit der Umstellung auf individuelle Hilfearrangements wurde die Finanzierung von einer institutionellen auf eine personenbezogene Finanzierung umgestellt. Diese erfordert ein wesentlich differenzierteres System der Leistungssteuerung, als es bei pauschalen Pflegesätzen erforderlich war. Die wohlfahrtstaatliche Leistungsproduktion wurde in den folgenden Gesetzesänderungen zunehmend an das Wirtschaftsystem gekoppelt und ökonomischen Denkmodellen untergeordnet (vgl. Beck, 127 ff). Dahme, Kühnlein und Wohlfahrt sprechen aber in Bezug auf die Veränderungen der Steuerungsmechanismen im Sozialsektor von einer ‚Inszenierung von Wettbewerb’ und der „Etablierung quasi-marktlicher Beziehungen zwischen Leistungserbringern und Leistungsberechtigten einerseits und Leistungserbringen und öffentlichen Leistungsträgern andererseits“ (2005, 38). Durch die Konstruktion der Leistungs-, Qualitäts-, und Prüfvereinbarungen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern entsteht ein vorstrukturierter Rahmen, der zwar eine differenzierte Kostenkalkulation im Vorhinein erforderlich macht, aber keine Gewinnmaximierung durch Kostenführerschaft oder Qualitäts- oder Innovationsvorsprünge ermöglicht. Auch Landesrahmenverträge verhindern künftig eine Marktregulation über Angebot und Nachfrage. Der Leitsatz ‚ambulant von stationär’ ist einerseits als Erfolg der Kritik an einer Praxis der Unterbringung von behinderten Menschen mit ihren ausgrenzenden, stigmatisierenden Folgen der ‚Totalen Institution’ (Goffman 1973) zu sehen. Andererseits stellt ‚ambulant vor stationär‘ auch eine Norm dar, die entgegen den explizit formulierten Gesetzeszielen nicht die individuellen Wünsche und Hilfebedarfe der Betroffenen ins Zentrum rückt, sondern als Steuerungsstrategie zu verstehen ist. Die Ziele der ambulanten Unterstützung beim Wohnen werden von Beginn an nicht nur mit dem Argument der Menschenwürde und der Angemessenheit dieser Hilfeform, sondern auch mit einem Kostenargument verknüpft. Durch die Einführung des Kostenvorbehalts in der Eingliederungshilfe ist eine Kontrolltechnik im Grundsatz ‚ambulant vor stationär’ eingebaut, die als Verbindung von Disziplinartechniken mit der Ökonomie und dem Zweck der Institution verstanden werden kann Schon in der Einführung der Pflegeversicherung wurden Techniken und Argumentationsmuster vorweg genommen, die in der individuellen Hilfeplanung für Menschen mit einer Behinderung wieder aufkommen. So wird hier wie dort über Pflegestufen und Hilfebedarfsgruppen ein System der Normierung und Standardisierung der Abhängigkeit von Hilfe etabliert. Mit der Pflegeversicherung wurden die pflegebedürftigen Menschen zu Kunden von (ambulanten) Pflegediensten. Die Verantwortung für die Sorge um das eigene Wohl wurde so individualisiert, denn nun gab es Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Pflegediensten oder der privaten häuslichen Pflege z.B. durch Angehörige. Gleichzeitig wurde mit der Pflegeversicherung ein umfassendes Programm der subjektivierenden Überwachung eingeführt: So führt die umfassende Anamnese bei der Einstufung in eine Pflegestufe zu einem besonderen Bekenntniszwang. Um für sich eine möglichst gute und umfassende pflegerische Unterstützung zu erhalten, müssen die Betroffenen ihre eigenen Schwä12 Boeßenecker weist allerdings darauf hin, dass das Modell eines Wohlfahrtssystems, in dem die Akteure in friedlichem Einvernehmen die Strukturen des Sozialsystems aushandeln, niemals in dieser Form bestanden hat. „(…) die sich zwischen öffentlichen und freien Trägern historisch herausgebildete Arbeitsteilung basiert zunächst wesentlich auf anderen und spezifischen Interessen beider Akteure, die keineswegs auf eine Ausgestaltung sozialstaatlicher, demokratischer Strukturen zielten.“ (2005, 17)
5.3 Strategische Entwicklungslinien
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chen und Unzulänglichkeiten detailliert auflisten und die eigene Hilfebedürftigkeit formulieren 13. Die Rolle des Kontrolleurs übernehmen Ärzte des medizinischen Dienstes, welche durch einen Hausbesuch die Lebensumstände und Fähigkeiten der betroffenen Menschen (und ihrer Angehörigen) untersuchen. Wer besonders umfassend seine Schwächen bekennt, wird mit einer hohen Pflegestufe, die ein mehr an Pflegeleistungen bedeutet, ‚belohnt’, wer sich verweigert, wird niedrig im System eingestuft und erhält folglich weniger Hilfen. Die Prüfung und Dokumentation der Ergebnisse ermöglicht auch die Einordnung der einzelnen Individuen in ein Rangplatzsystem nach festgelegten Kriterien (Pflegeaufwand in Minuten pro Tag). Das Individuum wird dadurch zum Fall, der in ein abgestuftes System von Hilfeleistungen einsortiert werden kann. Die umfassende ‚Pflegedokumentation’, ermöglicht zudem die ständige Überwachung des Pflegeprozesses und der betroffenen Individuen. So steht das Individuum im Zentrum der Prüfung, und alle Folgen der Bewertung können als ‚natürliche’ Konsequenzen, dem Patienten die optimale Versorgung zukommen zu lassen, beschrieben werden. Das Gesetzesziel des SGB IX die „Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken“ (SGB IX § 1) soll behinderungsbedingte Benachteiligungen behinderter Menschen gegenüber nicht-behinderten Menschen verhindern. In der Terminologie Foucaults rücken dabei die Anormalen in das Zentrum der Aufmerksamkeit, indem das Verbot ihrer Benachteiligung durch besondere Regelungen, wie diese Nicht-Benach-teiligung auszusehen hat, gesetzlich festgelegt wird. Damit werden die Prozesse der Zuordnung von Individuen zu bestimmten Gruppen unterstützt. Umgekehrt wird zum Erhalt bestimmter Leistungen und Vergünstigungen die Selbstzuordnung zu dieser Gruppe notwendig. Durch das SGB IX sollte der Rechtsrahmen für Menschen mit Behinderungen vereinheitlicht werden und an andere Sozialgesetze angepasst werden. Die Angleichung der verschiedenen Rechtsbereiche ermöglicht eine bessere Steuerbarkeit der Leistungsprozesse inklusive einer verbesserten Kostenkontrolle und Kostensenkung. Obwohl aber der Rahmen des Rehabilitationsrechts mit dem SGB IX neu gesteckt wurde, geht die Zusammenführung nicht so weit, dass sie zu einer Angleichung der Rechtsbereiche führt. Vielmehr werden die einzelnen Stellen immer stärker dazu verpflichtet, miteinander im Hinblick auf den Einzelfall, aber auch im Hinblick auf Systemfragen zu kooperieren. Statt einer Zusammenführung durch gesetzliche Regelungen wird das Modell einer vertraglichen Kooperation der verschiedenen Rehabilitationsträger eingeführt, die sowohl im Einzelfall, wie auch als ganze Organisationen mit einander die wechselseitigen Rechte und Pflichten als gleichberechtigte Partner aushandeln sollen. Das Ziel des SGB IX, die verschiedenen Zweige des Rehabilitationsrechts zusammen zu führen, soll für die Betroffenen die Wahrnehmung und Durchsetzung der eigenen Rechte erleichtern. Die Trennung in unterschiedliche Rechtsbereiche erhöht zwar die Komplexität des Hilfesystems und macht es für den Einzelnen wenig transparent, es bietet aber auch die Möglichkeit, nur in bestimmten Bereichen Leistungen in Anspruch zu nehmen (bspw. im Rahmen der beruflichen Rehabilitation) und auf dieser Weise Normierungsprozessen des Hilfesystems als Ganzem zu entgehen, die im Falle einer Behinderung leicht zu Stigmatisierungsprozessen führen können. Durch die stärkere Kooperation sollen nun die Anspruchsgruppen für die definierten Transferleistungen deutlicher identifiziert werden. ‚Hil13 In der Praxis ist dies insbesondere für alte Menschen, die ihr Leben lang ohne fremde Hilfe zurechtkamen, eine demütigende Anforderung, die auf das Selbstbild Einfluss nimmt.
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5 Individuelle Hilfeplanung im Kontext sozialrechtlicher Veränderungen
fen aus einer Hand‘ erleichtern auch die Anwendung von Techniken der Überwachung und Prüfung der Subjekte im Sinne des Panoptismus. Indem verschiedene Stellen Informationen sammeln, entsteht ein ‚Rundum-Blick’ auf die Person, ohne dass für diese nachvollziehbar bleibt, welche Stelle welche Informationen besitzt, was damit geschieht und welche Folgen diese Informationen für die Person haben können. Eine Vereinheitlichung von Kriterien und Maßstäben der Informationssammlung erleichtert die Positionsbestimmung der Individuen und die Zuteilung der Hilfen nach einem einheitlichen System. Insofern stellt sich die Frage, ob durch eine Zusammenführung der einzelnen Rechtsbereiche tatsächlich die Hilfen besser den individuellen Bedürfnissen angepasst werden können, oder ob nicht der Hilfebedarf individualisiert, die Hilfezuteilung dagegen normiert wird. Auch die sprachliche Wende von der ‚Hilfeempfängerin’ zur ‚Leistungsberechtigten’ beschreibt die Beziehung zwischen Leistungsträgern und betroffenen Personen neu. Wie Wörrle (vgl. Abschnitt 4.1.2) herausgearbeitet hat, wird dadurch einerseits der individuelle Rechtsanspruch auf Unterstützung betont. Andererseits wird der Rechtsanspruch zu einer Option, die auf eigene Initiative aktiv eingefordert werden muss und die bei Fehlverhalten wieder aberkannt werden kann. Die Unterstützung verliert damit das Moment der Selbstverständlichkeit der Hilfe in einer Notlage. Wenn durch das SGB XII Menschen mit einer Behinderung zu Subjekten in einem selbstbestimmten Alltag werden sollen, dann wird mit der Formulierung der ‚Leistungsberechtigung‘ auch die Anforderung verknüpft, die notwendige Unterstützung selbst einzufordern und zu organisieren. Dieser Anspruch ist für viele Betroffene ein positives Ziel, erschwert aber die Situation insbesondere für geistig behinderte Menschen, deren Unterstützungsbedarf eben häufig darin liegt, den eigenen Alltag nicht selbstständig organisieren zu können. Die Selbstwahrnehmung der Betroffenen wird dadurch verändert. Wie noch in den weiteren Ausführungen zu zeigen sein wird, besteht durch solche Anforderungen die Gefahr, eine neue Trennung zwischen ‚normalen’ und ‚besonderen’ behinderten Menschen einzuführen, die zwischen der Fähigkeit verläuft, den eigenen Alltag überwiegend selbstständig zu bewältigen oder auf umfangreiche Unterstützung angewiesen zu sein. Die Gesetze zur Eingliederungshilfe behinderter Menschen im SGB XII müssen als konsequente Fortsetzung der Regierungstechniken aus dem SGB IX gesehen werden. Bedingungen für die in § 55 Abs. 2 SGB IX aufgeführten Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden im SGB XII näher bestimmt. Menschen mit Behinderungen sollen nach Zielsetzung der SGB IX und XII so wenig Hilfen wie möglich in Anspruch nehmen, möglichst produktiv an Arbeits- und Wirtschaftsprozessen teilnehmen und dabei eine möglichst individuelle und selbstbestimmte Lebensweise realisieren. Die Unabhängigkeit von Sozialhilfe durch Hilfen zur Selbsthilfe zu fördern, war zwar schon immer das Leitziel des BSHG. Mit den Reformen und schließlich der Überführung in das SGB XII wird aber aus dem allgemeinen Leitgedanken eine konkrete Anforderung an die Selbsttätigkeit des Einzelnen. Obwohl überwiegend einhellig betont wird, dass nicht das Training von Fertigkeiten, sondern die Entwicklung von Lebensperspektiven und die Suche nach dem passenden ‚Unterstützungsarrangement‘ das Ziel von Hilfeplanung sei, kann sich Individuelle Hilfeplanung deshalb nicht des Verdachts erwehren, letztlich ein Instrument zur ‚Brauchbarmachung der Anormalen‘ zu sein. Der Erfolg Individueller Hilfeplanung wird dadurch vom individuellen Engagement der Betroffenen abhängig.
5.3 Strategische Entwicklungslinien
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Zusammenfassend lassen sich folgende zentrale Strategien feststellen, die miteinander in Wechselwirkung stehen und die die Emergenz der Individuellen Hilfeplanung im Unterstützten Wohnen für Menschen mit Behinderungen wesentlich mit begründen:
Der Versuch, Abläufe und Zuständigkeitsregelungen zu vereinfachen, die Ausgaben stärker zu kontrollieren und darum neue Regeln zu produzieren, eine Liberalisierung des Anbieterfeldes und Wettbewerbsorientierung nach quasi marktwirtschaftlichen Prinzipien, Umstellung von einer Steuerung durch Gesetz auf eine Steuerung, in der gesetzliche Vorgaben den Rahmen bilden, innerhalb dessen die Akteure als gleichberechtigte Partner auf allen Ebenen und in allen Bereichen über Vereinbarungen und Verträge die konkrete Ausgestaltung der gesetzlichen Vorgaben verhandeln, der einzelne Mensch mit Behinderung als Bürger rückt stärker in den Fokus als aktives Subjekt im Hilfesystem und Ausgangspunkt der Leistungsfinanzierung.
Insgesamt betrachtet zeigt sich zudem, dass die rechtlichen Veränderungen nicht nur eine Rahmenbedingung für gesellschaftlichen Wandel darstellen, sondern selbst Ausdruck und Antwort auf eine neue gesellschaftliche Problemlage sind. Obwohl sich Beck nicht explizit auf metaanalytische Theorien bezieht, ist ihr Hinweis darauf, dass die sozialpolitischen Steuerungsmittel ‚Geld‘ und ‚Gesetz‘ von der gesellschaftlichen Anerkennung eines Problems, also einer normativen Dimension gelenkt würden, hier ein zentraler Bezugspunkt. Gesetze ‚fallen nicht vom Himmel‘, sondern sind zugleich Folge und Rahmenbedingung von Macht-Wissensverhältnissen. Insofern können rechtliche Veränderungen als Ausdruck von gesellschaftlichen Problemlagen gelten, sie allein können aber nicht ausreichend die Entstehung eines Dispositivs, wie das der Hilfeplanung begründen, wie die weitgehende Nicht-Beachtung des § 58 SGB XII gezeigt hat. Deshalb wird nachfolgend Individuelle Hilfeplanung aus der Perspektive der zentralen Diskursarenen, die im vorangegangenen Kapitel identifiziert wurden, in ihren Konzepten und adressierten Diskursen beschrieben, um so die Problemlage herauszuarbeiten, auf die Individuelle Hilfeplanung eine Antwort gibt.
6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
Rechtliche Veränderungen und Intentionen der Sozialgesetzgebung stellen eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Bedingung der Emergenz Individueller Hilfeplanung dar. Wie in Abschnitt 5.2.1 dargestellt, blieb das Interesse der Sozialverwaltungen an der Anwendung des § 46 BSHG (Gesamtplan) bis Mitte der 1990er Jahre relativ gering. Es wuchs erst Mitte der 90er Jahre, als steigende Fallzahlen und knapper werdende finanzielle Ressourcen einen Änderungsdruck auf die Sozialleistungsträger ausübten (vgl. Urban 1995; Reis 1997; Schädler 2000; Michel-Schwartze 2007). So sind die Veränderungen im Sozialsektor insgesamt auf das staatliche Bemühen zurückzuführen, „die Aufwendungen für den Sozialsektor zu begrenzen bzw. zu senken“ (vgl. Dahme/ Kühnlein/ Wohlfahrt et al. 2005, 53). Deshalb müssen auch die Modernisierungserfordernisse der Sozialverwaltung im Allgemeinen und der Sozialhilfe im Besonderen als zentrale Anwendungsbereiche der Sozialgesetze und als weiterer Kontext beschrieben werden, vor dessen Hintergrund Individuelle Hilfeplanung im Bereich der Eingliederungshilfe (und dem Unterstützten Wohnen) entstanden ist. Erst vor dem Hintergrund dieser Veränderungserfordernisse in der Sozialhilfe hat, so Kronenberger (2006, 34), die Forderung der Selbsthilfebewegungen nach individualisierten, passgenauen und zielgerichteten Maßnahmen günstige Voraussetzungen zur Realisierung gefunden. Deshalb werden zunächst allgemeine Diskussionszusammenhänge und Veränderungen der Sozialverwaltungen skizziert, bevor sich der Blick in diesem Kapitel auf die Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger verengt. 6.1 Innere und äußere Modernisierungserfordernisse Reis nennt zwei zentrale Faktoren, die einen Veränderungsdruck auf die kommunalen Verwaltungen ausgelöst haben (vgl. Reis 1997, 88 ff): Zum einen hatte sich die wirtschaftliche Lage großer Bevölkerungsteile seit Anfang der 1990er Jahre derartig verschlechtert, dass immer mehr Menschen von Armut und sozialer Ausschließung betroffen oder gefährdet waren. Zum anderen hatte die Globalisierung, so der Autor, eine Diskussion um die wirtschaftliche ‚Standortfrage’ für die BRD herbeigeführt. Für Reis bedeutet diese Standortfrage eine Herausforderung für die kommunalen Gebietskörperschaften. Einerseits galt es nun, die soziale und räumliche Ausgrenzung von marginalisierten Gruppen zu verhindern, um den sozialen Frieden zu bewahren. Andererseits wurde nach Reis eine ‚standortorientierte’ lokale Sozial- und Arbeitsmarktpolitik notwendig, in welcher niedrig entlohnte Dienstleistungs- und Kleinproduktionsbereiche geschaffen werden, die den lokalen Standort attraktiv für Wirtschaftsunternehmen machen. Diese äußeren ‚Modernisierungserfordernisse’ machten es notwendig, so die überwiegenden Äußerungen zu der Zeit, dass sich die Verwaltungen zunehmend als moderne Dienstleister verstehen müssen. Bestandteil dieses veränderten Selbstverständnisses wurde, die eigenen Leistungen und Finanzen selbst steuern zu wollen (vgl. Kronenberger/ Brinkmann/
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
Hassenzahl, 60; Kronenberger 2006, 34). Das betrifft sowohl die Steuerung der Leistungen und Finanzen im Inneren der Verwaltung, als auch der Steuerung der Verwaltung in ihren Außenbeziehungen. Zudem, so Michel-Schwartze (1997), hatte die interne Organisation der Sozialverwaltungen bis zu diesem Zeitpunkt umfangreichere Einzelfallplanungen eher behindert. Sie war geprägt von einer starken Arbeitsteilung und Spezialisierung, gepaart mit straffen Hierarchien und einer Tendenz zur Formalisierung von Abläufen, sowie zur Kommunikation durch Programmierung. Umfangreiche Bearbeitungslinien mit komplizierten Entscheidungswegen und -hierarchien machten so die Bearbeitung von größeren Fallaufkommen im Rahmen einer Gesamtplanung schwierig (vgl. Michel-Schwartze 1997, 122). Aufgrund dieser äußeren und inneren Modernisierungserfordernisse hat dann, so Dahme, Kühnlein, Wohlfahrt u.a. ein sozialwirtschaftlicher Modernisierungsprozess begonnen, der sich in drei Strategien zusammenfassen lässt: 1. 2. 3.
Die Modernisierungsstrategie der Einführung von organisiertem Wettbewerb, die Modernisierungsstrategie des Kontraktmanagements, die Modernisierungsstrategie der Aktivierung und Prävention (vgl. Dahme/ Kühnlein/ Wohlfahrt et al. 2005, 54).
6.1.1 Neue Steuerung in der Sozialhilfe Diese Modernisierungsstrategien konkretisieren sich im Modell der ‚Neuen Steuerung’ (KGST 1993), welches seit Mitte der 1990er Jahre als Schablone für die Veränderungen der kommunalen Sozialverwaltungen gilt, wenn auch in lokal unterschiedlichen Ausführungen und Umsetzungsgraden. Gedacht war das Modell als Orientierungs- und Koordinierungshilfe, welches Mindestbedingungen beschreibt, mit deren Hilfe Kommunalverwaltungen wie Dienstleistungsunternehmen arbeiten können (vgl. a.a.O., 15). Dieses Bild von der Verwaltung als Dienstleistungsunternehmen ist deshalb auch zentral für den Umbau des Hilfesystems für Menschen mit Behinderungen als einem Aufgabenbereich der Sozialverwaltungen. Das Neue Steuerungsmodell sollte vor dem Hintergrund der zuvor skizzierten volkswirtschaftlichen Veränderungen einerseits zu Kosteneinsparungen führen und andererseits den Kommunen bessere und autonome Handlungs- und Steuerungsmöglichkeiten eröffnen. Zielsetzung war es, „alle kommunalen Aufgaben […] nach einheitlichen Grundsätzen, demokratisch, d.h. unter eindeutiger Rats-/ Kreistagsverantwortung und zugleich wirtschaftlich, effektiv und abnehmer(kunden)orientiert zu steuern“ (a.a.O., 15). Im Neuen Steuerungsmodell werden dazu zentrale Mechanismen definiert: Kommunale Verwaltung soll unternehmensähnlich strukturiert sein und eine dezentrale Führungs- und Organisationsstruktur aufweisen, einschließlich einer klaren Verantwortungsabgrenzung zwischen Politik und Verwaltung. Alle Vereinbarungen über Leistungen, Produkte und Budgets zwischen Verwaltung und Politik, aber auch innerhalb der Verwaltung und in den Außenbeziehungen zwischen Verwaltung und Dritten (also Unternehmen oder öffentlichen, gemeinnützigen und privaten Dienstleistern) sollten künftig über Kontrakte vertragsförmig gestaltet werden (vgl. a.a.O., 17). Dabei wurde angenommen, dass die Bürger/innen veränderte Erwartungen an die Verwaltung als Dienstleister hätten, die eine stärkere Abnehmerorientierung notwendig machten. Ein interkommunaler Leistungsver-
6.1 Innere und äußere Modernisierungserfordernisse
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gleich solle deshalb die Verwaltung als Dienstleistungsunternehmen ‚unter Strom setzen’ (vgl. a.a.O., 22) und wettbewerbsähnliche Bedingungen herstellen. Die Logik des ‚Neuen Steuerungsmodells’ sieht in der Umsetzung dieser Mechanismen eine umfassende Weitergabe von Kompetenzen (im Sinne von Verantwortung) vor (vgl. a.a.O., 18): Um den gewandelten und verstärkten Anforderungen an die Verwaltung von außen gerecht werden zu können, müssen die einzelnen Fachbereiche der Verwaltung eine Kunden- und Marktverantwortung entwickeln. Dazu ist die Übertragung der Ressourcenverantwortung an die Fachbereiche in Form von kontraktförmig vereinbarten Budgets notwendig. Die Ressourcensteuerung wird dabei umgestellt von einer Input- zu einer Outputorientierung, d.h. die Mittelzuweisungen im Haushalt sollen über die Festlegung von Zielen erfolgen, mit deren Hilfe Leistungspakete (‚Produkte’, vgl. a.a.O., 21) vereinbart werden, deren zu erwartende Kosten (der Verwaltungstätigkeit) dann als ‚Produktbudgets’ (vgl. ebd.) kalkuliert und den zuständigen Fachbereichen zugewiesen werden können. Um dies Ressourcenverantwortung tatsächlich wahrnehmen zu können, müssen deshalb auch die anfallenden Management-, Steuerungs-, und Controllingaufgaben an die Fachbereiche übertragen werden. Kontrolle wird dabei indirekt und auf allen hierarchischen Instanzen ausgeübt: „Die Fachbereiche haben der politischen Führung regelmäßig über die Erfüllung ihres Leistungsauftrags zu berichten und für Abweichungen gerade zu stehen. […] Innerhalb der Fachbereiche muss die Verantwortung für das Leistungsergebnis soweit wie möglich nach unten bis auf einzelne Mitarbeiter verlagert werden. Mit der persönlichen Ergebnisverantwortung nutzt das Dienstleistungsunternehmen Kommunalverwaltung das Führungs- und Kreativpotenzial seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.“ (A.a.O., 18)
Flankiert wird das Kontraktmanagement durch ein umfassendes Controlling-System, welches sowohl dezentral innerhalb der Fachbereiche der Verwaltung, wie auch zentral als eigenständiger Controllingbereich im Wesentlichen die Selbststeuerung der Fachbereiche überwacht (vgl. a.a.O., 19). 6.1.2 Diskussionslinien zur Hilfeplanung in der Sozialhilfe Es ist zu vermuten, dass neben der allgemeinen Verwaltungsreform durch das Neue Steuerungsmodell und dem zunehmenden Kostendruck auf die Sozialhilfeträger auch die Reform der Sozialhilfe im BSHG von 1993 eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Thema gefördert hat. Da die Kommunen bis 2007 nur für ambulante Eingliederungshilfen zuständig waren, hatten sie wenig Interesse daran, den Gesamtplan für die Gruppe der Menschen mit Behinderungen einzuführen, weil es den Ausbau eines Netzes ambulanter Hilfen auf Kosten der Kommunen nach sich gezogen hätte (vgl. Abschnitt 5.2.9). So wurde die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Gesamtplanung erst zu dem Zeitpunkt für die Kommunen interessant, als dieses Instrument für eine wesentlich größere Klientel der kommunalen Sozialhilfe (nämlich Sozialhilfeempfänger/innen) nach §§ 17, 19 BSHG eingeführt wurde.
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger „Gesamtplanung ist ein Instrument des Sozialhilfeträgers und der/des Antragstellerin/ Antragstellers zur Feststellung des individuellen Hilfebedarfs und der entsprechenden Hilfen einschließlich deren Zielsetzung für einen bestimmten Zeitraum. Die Gesamtplanung umfasst alle individuelle notwendigen Hilfen des Sozialhilfeträgers und anderer Leistungs- und Kostenträger.“ (Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 364 f)
Michel-Schwartze sieht denn auch in der Gesamtplanung ein Instrument, welches die Erfordernisse der Neuen Steuerung und den politischen Willen zu Kostensenkung umsetzen kann (1997, 114). Wenn Kostensenkung den politischen Input und die Qualitätssicherung in der Sozialhilfe den Output von notwendigen Veränderungen darstellt, dann ist nach Ansicht der Autorin die Gesamtplanung das adäquate Mittel. Gesamtplanung soll es ermöglichen, einerseits die Quantität und Qualität der Fallbearbeitung in der Sozialhilfe zu steuern und andererseits konkrete Rückmeldung an die politischen und administrativen Entscheidungsträger zu liefern. Sie kann darüber hinaus das individuelle Fallmanagement mit dem institutionellen Qualitätsmanagement verknüpfen. Vorrangiges Ziel der Hilfeplanung in der Sozialhilfe ist die Hilfe zur Selbsthilfe, welche die Autonomie und Unabhängigkeit von Hilfen zum Lebensunterhalt wieder herstellen soll (vgl. Michel-Schwartze 1997, 130; Urban, M. 1995, 149). Hilfeplanung in der Sozialhilfe wird allerdings nicht nur mit dem Gesetzesziel der Unabhängigkeit von Sozialhilfe verknüpft, sondern steht auch in engem Zusammenhang mit dem Recht der Betroffenen auf persönliche Hilfe (neben dem Recht auf finanzielle Hilfe), die vor allem in Form von Beratung gewährt wird (vgl. Reis, 107; Seibert 1996). So wird die Hilfeplanung in der Sozialhilfe vor allem als Bestandteil von Beratungsprozessen verstanden, in denen Perspektiven für die Hilfe suchenden Personen entwickelt werden sollen (vgl. Urban, M. 1995, 149 f; Jakobs 1996, 164 f; Reis 1997, 81 ff). „Durch den Zwang, sich Rechenschaft darüber abzugeben, was für einen bestimmten hilfeberechtigten Klienten erreichbar scheint oder nicht, werden realistische Erwartungen im Hinblick auf die eigenen Einflussmöglichkeiten aufgebaut. Erfolg zu haben bedeutet dann, diesen Erwartungen zu entsprechen.“ (Jakobs 1996, 166). Mit der Neufassung der §§ 17 und 19 BSHG wurden deshalb zahlreiche Hoffnungen an die Hilfeplanung in der Sozialhilfe geknüpft (vgl. Urban, M. 1995, 150; Jakobs, 164 ff; Reis 109):
Hoffnungen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Sozialverwaltung und Leistungsberechtigten: Der/die Hilfesuchende sollte nicht nur Empfänger/in von Hilfen, sondern aktive und gleichberechtigte Mitgestalter/in werden. Der Hilfeplan sollte sich an der Lebenssituation der Person orientieren, die die vereinbarten Leistungen einfordern und die Erbringung kontrollieren kann. Ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Hilfeempfängern/innen und Sachbearbeiter/innen sollte durch partnerschaftliche und auf Beteiligung angelegte Verfahrensweisen abgebaut werden. Allgemein sollten die neuen Verfahren zum Abbau von Spannungen und Vorteilen gegenüber den Sachbearbeitern/innen der Sozialverwaltung beitragen. Hoffnungen im Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten: Hilfeplanverfahren sollten den Prozess der Hilfegewährung transparenter für alle Beteiligten gestalten und eine verbindlichere Zusammenarbeit der beteiligten Stellen ermöglichen, denn der Hilfeplan setzt die Einigung der Parteien voraus. Die gemeinsame Arbeit im Hilfeplanverfahren macht aber auch unterschiedliche Erwartungen und Be-
6.1 Innere und äußere Modernisierungserfordernisse
137
gründungen sichtbar, dadurch, so die Hoffnung, sollte die Bewertung von Erfolg und Misserfolg eines Maßnahmepakets einfacher werden. Hoffnungen im Hinblick auf Erfolg und Effizienz der Maßnahmen: Hilfeplanung sollte ein Instrument zur Prüfung des Erfolgs und der Effizienz von Hilfen sein. Durch Hilfeplanung sollten Zeiteinsparungen möglich werden, weil weniger Konflikte und eine höhere Verbindlichkeit der Vereinbarungen entstehen. Zudem wurden Leistungssteigerungen durch ziel- und zukunftsorientiertes Denken in der Sozialverwaltung erhofft.
Noch Ende der 1990er Jahre existierten allerdings nur wenige konkrete Hinweise zur Durchführung von Gesamtplanverfahren. Auch Hilfestellungen und Verfahrensanweisungen für die Sozialverwaltungen fehlten weitgehend (vgl. Reis 1997, 87; Kronenberger et al. 1999, 60 f; Michel-Schwartze 1997, 134). Allgemein werden vor allem Strukturprobleme der Sozialverwaltungen für die mangelhafte Umsetzung von Hilfeplanung in der Sozialhilfe verantwortlich gemacht:
Bemängelt wurde die Knappheit an Zeit, Geld und Personal und dass die Stellenpläne keine Zeitbudgets für die mit der Hilfeplanung einhergehende, notwendige Beratung vorsahen (Urban, M. 1995, 151; Michel-Schwartze 1997, 118). Einer Gesamtplanung mit umfassender Fallverantwortung für die Sachbearbeiter/innen stand zudem eine starke Arbeitsteilung, Spezialisierung und Hierarchisierung in den Sozialverwaltungen entgegen (vgl. Michel-Schwartze 1997, 122; Reis 1997, 104). Das grundsätzliche Dilemma zwischen den sozialrechtlichen Normen der Gleichbehandlung und individueller Fallbearbeitung bestand auch in der Gesamtplanung und musste im Einzelfall reguliert werden (vgl. Michel-Schwartze 1997, 124). Eine insgesamt routinisierte Fallbearbeitung stand aber den weiteren Verwaltungsabläufen näher, als eine Einzelfall-bezogene Planung von Hilfen (vgl. a.a.O., 131). Auch der präventive Charakter von Gesamtplanung widersprach den etablierten Mechanismen der Sozialverwaltung, da die Gesamtplanung auf eine evolutionäre Problemlösung als Prozess abzielt, statt der üblichen Strategie der Sozialbehörden, nur im Krisenfall tätig zu werden (vgl. a.a.O., 122). Darüber hinaus fehlten im Bereich der Sozialhilfe eine Zielbeschreibung der Hilfeplanung und Kriterien für die Feststellung von „geeigneten Fällen“ (a.a.O., 119). Im Verfahren selbst können unterschiedliche Interessenlagen, Einschätzungen und Ziele der Beteiligten im Einzelfall auftauchen (vgl. a.a.O., 124; Reis 101). Zielkonflikte zwischen den Gesetzeszielen und den aus der individuellen Problematik der Person abgeleiteten Zielen können im Einzelfall im Gesamtplanverfahren deutlich werden (vgl. Michel-Schwartze 1997, 125), die dann in dem Verfahren reguliert werden müssen. Zudem ist das Problem der Klientifizierung auch in der Gesamtplanung nicht gelöst, bei dem durch das behördliche Eingreifen die individuelle Problematik eher bestätigt, denn tatsächlich bearbeitet wird (vgl. a.a.O., 125). Im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit anderen Trägern und Diensten weist MichelSchwartze auf die starke Spezialisierung einzelner Hilfearten und deren Ausgliederung in Sonderdienste hin, sowie auf die unklare Rollenaufteilung zwischen Allgemeinem Sozialdienst und Verwaltung (vgl. a.a.O., 130 f). Diese arbeitsteilige Organisation führt dazu, dass Entstehungszusammenhänge schwieriger Lebenssituationen häufig von den Mitarbeitern/innen nicht mehr erkannt werden können (vgl. a.a.O., 120). Da-
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger rüber hinaus besteht oft ein Mangel an Handlungsalternativen oder an der Bereitschaft der Beteiligten, außergewöhnliche Problemlösungen zu suchen (vgl. a.a.O., 126). Die Verwaltungsausbildung der zuständigen Sachbearbeiter/innen bereite schließlich auf diese ‚aktiveren Aufgaben’ im Vergleich zu klassischen Verwaltungstätigkeiten innerhalb der Gesamtplanung nicht ausreichend vor (vgl. Urban, M. 1995, 151; Michel-Schwartze 1997, 118). Die Ausbildung vermittelt vor allem administratorische, juristische und organisatorische Kenntnisse, die eine soziale Distanz zur Klientel bewirke. Eine Überforderung durch mangelnde Vorbereitung auf den Beruf ist dann die Folge. Zudem ist auch die weitere berufliche Sozialisation geprägt durch institutionelle Regeln, Kontrolle und Beurteilung, durch Fremddisziplinierung und Internalisierung des Verwaltungshandelns (vgl. Michel-Schwartze 1997, 119).
Reis bemängelt zudem die geringe theoretische und fachliche Fundierung der Hilfeplanung in der Praxis der Sozialbehörden: „Die Geschwindigkeit, mit der sich das Konzept der Hilfeplanung in seinen verschiedenen Gestalten in den letzten Jahren in der Sozialhilfepraxis ausbreitet, steht allerdings in keinem Verhältnis zur Tiefe der Reflexion auf seine konzeptionellen und institutionellen Grundlagen. Denn abgesehen von wenigen, eher programmatischen Aufsätzen […] ist die Literaturlage eher dünn“ (Reis 1997, 91).
Innerhalb der Diskussion um die Gesamtplanung in der Sozialhilfe wurden mehrere Entwürfe für die konzeptionelle Gestaltung der Planung entwickelt. Nach Reis orientiert sich der Hilfeplanprozess an den Prinzipien des Case-Management-Konzeptes und lässt sich in vier Phasen einteilen (vgl. Reis 1997, 108 f): In einer ersten Assessment-Phase erfolgt eine diagnostische Bestandsaufnahme der Faktoren, die eine von der Sozialhilfe unabhängige Lebensführung verhindern (vgl. auch Jakobs 1996, 165). In einem zweiten Schritt werden Teilziele bestimmt, die auf dem Weg zur Unabhängigkeit von Sozialhilfe erreicht werden sollen. Reis weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass hier der Ansatz des Fördern und Forderns umgesetzt werden soll. Während Jakobs (vgl. ebd.) die Auswahl geeigneter Hilfen in einem dritten Schritt vorsieht, setzt das Modell von Reis diese schon als bestimmt voraus und nennt den dritten Schritt die Interventionsphase durch die beauftragten Leistungserbringer. Beide nennen als vierten Schritt die Kontrolle der Zielerreichung (Jakobs 1996), bzw. die Evaluation des Prozesses im Hinblick auf Effektivität und Effizienz (Reis 1997). Reis weist zudem darauf hin, dass häufig auch ein fortlaufendes Controlling im gesamten Hilfeplanprozess für sinnvoll erachtet wird. Das Case-Manage-ment muss nach seiner Ansicht nicht nur ein Konzept zur Integration einzelner Menschen, sondern ein Konzept zur Systemintegration darstellen. Die dafür notwendige Steuerung der Angebote (Reis 2007, 183) macht es erforderlich, dass die einzelnen Beiträge zum Erfolg einer Maßnahme eindeutig zugeordnet werden können, die nach seiner Ansicht über die Unterstützung und Steuerung von Netzwerken ermöglicht werden kann. Darüber hinaus wird in den Konzepten die Bedeutung der Motivation der beteiligten Behördenmitarbeiter/innen betont, die in den Prozess der Konzeptentwicklung einbezogen und durch Schulungen und Supervision auf ihre neuen Aufgaben vorbereitet werden müssten (vgl. Michel-Schwartze 1997, 134; Jakobs 1996, 166). Dabei wird die Hilfeplanung mal als Aufgabe der Verwaltungsfachleute gesehen (vgl. Jakobs 1996, 165), mal wird die Zusammenarbeit von Verwaltungsfachleuten und Sozialarbeiter/innen in der Sozialverwaltung
6.1 Innere und äußere Modernisierungserfordernisse
139
favorisiert (vgl. Urban, M. 1995, 151) oder sogar die Delegierung der Hilfeplanung an externe Dienste diskutiert (vgl. Jakobs 1996, 166). Wie nachfolgend noch zu zeigen sein wird, beschreiben Reis und Jakobs mit den Phasen des Case-Managements ein Modell, welches in dieser Grundlogik auch für die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen übernommen wurde. Allerdings ist mit der Grundlogik des Case-Managements, so Reis, ein technokratisches Verständnis von der Planung individueller Hilfen verbunden, welches sich dann in der Umsetzung als Problem erweisen kann: „Es gibt keinen, dem unmittelbaren Interaktions- und Verständigungsprozess vorgelagerten und somit in seinen Effekten planbaren Konsens über Ziele und Methoden der Veränderung, der sich in standardisierten Anweisungen und Regeln operationalisieren ließe“ (Reis 1997, 103). Vielmehr wird das äußere Ziel der Reduzierung der Hilfedauer in der Hilfeplanung extern vorgegeben und dann im Zuge des einzelnen Verfahrens zu einem individuellen Ziel der Leistungsbezieher als Hilfe zur Selbsthilfe umformuliert (vgl. a.a.O., 109). Die Logik des Neuen Steuerungsmodells scheint durch, wenn das Ziel von außen vorgegeben wird, aber der Weg der Realisierung den jeweiligen Beteiligten überlassen bleibt (vgl. a.a.O., 107). „Dem Ratsuchenden wird – knapp gesagt – die Hilfe angeboten, die ihn möglichst rasch aus der Sozialhilfe verschwinden lässt, wobei seine Motivation zur Annahme des Hilfeangebots durch Sanktionsdrohungen verstärkt werden kann. Zwar kann ein solches Vorgehen aus ordnungsoder finanzpolitischen Gründen gewählt werden, doch muss gesehen werden, dass gleichzeitig der Beratungserfolg mittel- und langfristig gefährdet ist.“ (ebd.)
Das politische Ziel, die Dauer der Abhängigkeit von Sozialhilfe durch eine zielorientierte Gesamtplanung zu verkürzen, steht deshalb dem realen Hilfeprozess oft im Wege (vgl. a.a.O., 102), denn Hilfeplanung in der Sozialhilfe fokussiert Hilfen, die möglichst rasch zum Erfolg führen. Da in der Sozialhilfe eine Hilfeleistung oft erst nach mehrmaligem Scheitern wirksam wird, ist es nach Reis zu kurz gedacht, im Falle des Verfehlens von vereinbarten Zielen die Ursachen im individuellen Versagen von Klienten zu suchen (vgl. ebd.). Die Ausgestaltung der Hilfeplanung als öffentlich-rechtlicher Vertrag macht die Hilfe schließlich zu einem Zwangsverhältnis, da gerade die bei einem Vertrag unterstellte Handlungsautonomie der Vertragsparteien bei den Leistungsbeziehern nicht vorausgesetzt werden kann und letztlich alle Entscheidungsbefugnisse einschließlich der Fallauswahl bei den Mitarbeitern/innen der Sozialbehörden liegt (vgl. a.a.O., 110). Da mit der Hilfeplanung individuelle Ziele der Lebensgestaltung und politische Ziele der Kostenminimierung verknüpft werden, können sich unterschiedliche Erfolgsmaßstäbe widersprechen (vgl. Reis 1997, 102). Das Technologiedefizit muss letztlich von den Mitarbeitern/innen in den Sozialbehörden ausgeglichen werden, die das Spannungsverhältnis von gesetzlichem Auftrag, gesellschaftlichen Normalisierungsanforderungen und der notwendigen Ko-Produktion des Planungsprozesses mit den Leistungsempfängern/innen in der konkreten Situation ausbalancieren müssen (vgl. a.a.O., 103). Die Folge ist eine Spannung zwischen formellem und informellem Handeln: Einerseits werden Regeln strikt befolgt und andererseits individuelle Handlungsspielräume ausgereizt. Zudem sind dann in den Sozialbehörden verstärkte Gruppenbildungsprozesse und Abgrenzungstendenzen nach außen (z.B. gegenüber Leistungsempfängern oder Leistungserbringern) zu befürchten (vgl. a.a.O., 104). So weist die Umsetzung des Konzepts des Case-Managements in der Praxis tatsächlich Engführungen, Handlungsroutinen und ‚Inszenierungen‘ von Case-Management-
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
Techniken auf, die aber nicht auf veränderten Entscheidungsstrukturen und Ressourcen beruhen (vgl. a.a.O., 187 f). Michel-Schwartze unterscheidet aufgrund der Probleme, die mit Individueller Hilfeplanung in der Sozialhilfe verknüpft sein können, nicht nur Prozessphasen, sondern benennt auch Dimensionen, die in den einzelnen Phasen wirksam werden und zu berücksichtigen sind, sowie Prinzipien, an denen sich die Gestaltung der Hilfeplanung orientieren sollte (vgl. Michel-Schwartze 1997, 128 ff). Sie gliedert den Prozess zunächst in die vier Phasen des Case-Managements, die Reis und Jakobs beschrieben haben (vgl. a.a.O., 128): Anamnese (Sammeln relevanter Informationen), Diagnose (Benennung und Bewertung der Problemlage), Intervention (Interventionen und damit verknüpfte Ziele) und Evaluation (Bewertung des Prozesses und der Ergebnisse). Darüber hinaus nennt Michel-Schwartze für jede Phase relevante Dimensionen des Planungsprozesses (vgl. a.a.O., 128 f): In jeder dieser Phasen sind relevante Faktoren, also Beschreibungen der Ursachen, Probleme, Ziele und Arbeitsschritte zu benennen (erste Dimension). Diese Faktoren sind zu bewerten und zu gewichten bzw. zu systematisieren, was Michel-Schwartze als die Dimension der Valenzen bezeichnet. Die dritte wirksame Dimension ist die der Differenzierungen, d.h. es müssen in jedem Prozessschritt unterschiedliche Perspektiven berücksichtigt und differenzielle Analysen vorgenommen werden. Die vierte wirksame Dimension ist die der Perspektiven: d.h. Diagnosen, Interventionen, Erfolge usw. sind auf ihre Zweckmäßigkeit und Eignung zu hinterfragen. Neben dieser analytischen Konstruktion benennt Michel-Schwartze auch normative Prinzipien als Verhaltensregeln, an die sich die Beteiligten in der Gesamtplanung halten sollten. „Es handelt sich hierbei insbesondere um eine Beteiligung aller in Frage kommenden Institutionen und der Betroffenen unter Beachtung von Freiwilligkeit, Transparenz des Vorgehens, um Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit des Verfahrens sowie um eine Subjektivierung des gesamten Verfahrens gegenüber der tradierten Gleichbehandlung.“ (a.a.O., 133) Bei der Formulierung von Zielen im Rahmen der Gesamtplanung schlägt Michel-Schwartze ein bipolares Vorgehen vor: Einerseits können konkrete Maßnahmeziele aus dem Gesetzestext und seiner zielgruppenspezifischen Zieldefinition für den individuellen Fall abgeleitet werden. Zugleich müssen sie aber auch individuell aus der jeweiligen Lebenssituation und spezifischen Problematik der Person heraus entwickelt werden. Michel-Schwartze verbleibt damit in der Phaseneinteilung des Case-ManagementModells, fundiert es aber durch Kriterien der Ausgestaltung. Weitergehende Überlegungen stellt erneut Reis an. Nach seiner Ansichht muss Beratung im Rahmen von Hilfeplanung oftmals nicht nur rechtliche Aspekte und die Unterbreitung von materiellen und immateriellen Hilfeangeboten beinhalten, sondern die Beratung kann nur dann erfolgreich sein, wenn „der Leistungsadressat in der Lage ist, diese Hilfsangebote in den Kontext seiner bewährten Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zu integrieren“ (Reis 1997, 94). Deshalb muss der Beratungsprozess auch Anteile psychosozialer Beratung beinhalten und sich an der Lebenslage der Person orientieren. Diese Orientierung bedeutet, die äußeren Umstände und die Grundanliegen der Person in Einklang zu bringen (vgl. a.a.O., 96). In Anlehnung an Nahnsen (1975) müssen die objektiven Lebensbedingungen und individuellen Lebensbedürfnisse, so Reis, in fünf Spielräumen konkretisiert werden: Diese Spielräume beinhalten die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (Versorgungs- und Einkommensspielraum), die Möglichkeit sozialer Kontakte (Kontakt- und Kooperationsspielraum), die Gestaltung von Sozialisations- und Ausbildungsprozessen (Lern- und Erfahrungsspielraum), die Notwendigkeit des Ausgleichs von psycho-sozialen
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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Belastungen in Beruf und Privatleben (Muße- und Regenerationsspielraum), sowie die Möglichkeit zur Teilhabe an Entscheidungen (Dispositionsspielraum) (vgl. Reis 1997, 97). Lebenslagenorientierte Beratung muss sich folglich an den Realitätsdeutungen der Klienten/innen ausrichten. Diese müssen dann in Bezug gesetzt werden zu hypothetischen Realitätsdeutungen, die sich in einer Situation freier Selbstbestimmung ergeben und schließlich mit den konkreten und objektiven Lebensumständen der Person abgeglichen werden (vgl. a.a.O., 98). Aus dem Ansatz der lebenslagenorientierten Beratung leitet Reis dann eine theoretische Begründung für das grundlegende Kriterium der Freiwilligkeit und der Offenheit im Beratungsprozess ab (vgl. a.a.O., 99). Allerdings werden die Möglichkeiten einer lebenslagenorientierten Beratung für die Sozialhilfe auch kritisch diskutiert, denn der „Klient muss folglich, überspitzt gesagt, in der Beratung dazu gebracht werden, dass er anerkennt, die Probleme zu haben, für die der Berater oder die Beratungsstelle Lösungen anbieten können. Eine Beratung ist in diesem Sinne erfolgreich, wenn der Ratsuchende sich am Ende der Beratung damit einverstanden erklärt, sein lebenspraktisches Handeln nach dem Kalkül eines verfügbaren Problemlösungsprogramms auszurichten.“ (Schmitz/ Bude/ Offe 1989, 143)
Das doppelte Mandat der Sozialpädagogik als Spannungsfeld zwischen Misstrauens-, Kontroll- und Restriktionsimperativ versus Hilfe- und Beratungsauftrag kommt hier, so MichelSchwartze, zum Tragen: Im BSHG stehen (im Vergleich zum KJHG) finanzielle Hilfeleistungen im Vordergrund gegenüber persönlicher Hilfe und Beratung in sozialen Angelegenheiten. Diese wird in die Zuständigkeit der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege gegeben. Zugleich besteht aber eine Tendenz bei den Fachkräften der Sozialverwaltungen, Verhaltensänderungen auf Seiten der Klienten bewirken zu wollen (normative Vorstellungen der Sachbearbeiter) (vgl. Michel-Schwartze 1997, 121). Da Beratungskompetenzen aber in der Ausbildung zu wenig vermittelt würden, wird in der Praxis dann wirtschaftlichen Aspekten häufig Vorrang gegeben gegenüber dem Auftrag, persönliche Hilfe in Form von Beratung über Leistungsansprüche zu leisten (vgl. a.a.O., 119). Das Vorurteil gegenüber den Hilfe suchenden Personen, tatsächlich ‚Sozialhilfeschmarotzer‘ zu sein, fällt unter diesen Bedingungen auf günstigen Boden. Die größere Autonomie der Sachbearbeiter/innen im Beratungsprozess erhöht mögliche Unsicherheiten. Reis empfiehlt deshalb, klare Rahmenbedingungen für die Beratungsprozesse durch ein Kontraktmanagement mit den Mitarbeitern/innen zu schaffen (vgl. a.a.O., 107). 6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen Die Ursachen und Bedingungen, die zur Einführung der Hilfeplanung in der Sozialhilfe beigetragen haben, müssen als relevante Kontextfaktoren der Entstehung Individueller Hilfeplanung für Menschen mit Behinderungen verstanden werden. Die Gesamtplanung nach § 46 BSHG ist allerdings etwas enger als der Hilfeplanbegriff der Sozialhilfe zu fassen, denn sie umfasst lediglich alle Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (vgl. Kronenberger 2001, 264). Die Frage nach der Identifikation ‚geeigneter Fälle’, die innerhalb der Sozialhilfe relevant ist, stellt sich in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen nicht: Hier reichen die Anspruchsvoraussetzungen der Behinderung und des Einkommens aus, um den Anspruch auf eine Gesamtplanung zu begründen. Der Gesamtplan ist in der Eingliederungshilfe, im Gegensatz zum
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
Hilfeplan anderer Leistungsbereiche der Sozialhilfe (vgl. §§ 19 Abs. 4; 72 Abs. 2 BSHG), nicht als Möglichkeit für besondere Fälle konzipiert, sondern ist als Regelinstrument obligatorisch. Aufgrund dieser unterschiedlichen Anforderungssituation erscheint es notwendig, sich nicht nur die Diskussionen zur Hilfeplanung in der Sozialhilfe insgesamt, sondern auch die Aussagen zur Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe im Speziellen anzuschauen. 6.2.1 Diskussionslinien zur Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe Auch in den frühen Veröffentlichungen zur Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen werden neben steigenden Kosten und sinkenden Einnahmen sich wandelnde Aufgaben der Sozialverwaltung als Begründungskontext genannt (vgl. Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 362). Zudem war die Umstellung der Leistungsfinanzierung nach § 93 ff BSHG und die damit beginnende Wettbewerbsorientierung im Sozialsektor ein spezifischer Kontextfaktor (vgl. a.a.O., 363; Kronenberger 2001, 263). Aus den Kontextfaktoren resultieren die „aktuellen Steuerungsinteressen der Sozialhilfeträger“ (vgl. Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 362; Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 58; Kronenberger 2001, 262). „Im Zuge der laufenden Verwaltungs-Organisationsreformen werden dezentrale Strukturen stärker in die Verantwortung genommen; gleichzeitig wächst das Interesse an globaler Steuerung der dezentralen operativen Verantwortung mit dem Ziel der Effektivierung des Outputs über die Einführung strategischer und operativer Steuerungsinstrumente“ (Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 362).
Die Umstellung von einer input- zu einer output-orientierten Steuerung innerhalb der Sozialverwaltung erfordert das Hinterfragen von Wirkungen und Ergebnissen der eingesetzten Mittel (vgl. Schädler 2000, 37). Dabei geht es vor allem um eine Steuerung der Kosten und Leistungen, die zu größerer wirtschaftlicher Effizienz führen sollen (Kronenberger 2001, 263). Urban wies schon 2000 darauf hin, dass mit dem steigenden Kostendruck der Leistungsträger diese den Interessen der Leistungserbringer vermehrt Anforderungsprofile gegenüberstellen würden: „Die Sozialhilfeträger wollen verstärkt solche Instrumente wie den Gesamtplan nutzen, um Prozesse bis hin zur Hilfegewährung und -gestaltung an sich zu ziehen – bei entsprechender Gegenwehr der freien Wohlfahrtspflege im Interesse der Sicherung des Status quo.“ (vgl. Urban, W. 2000, 404) So wurde beispielsweise im Hinblick auf die Hilfen für Menschen mit seelischen Behinderungen die Einrichtung der von der Aktion Psychisch Kranke (AKP) propagierten ‚Gemeindepsychiatrischen Verbünde’ (AKP 2005, 47 ff) als freiwilliger Zusammenschluss von lokalen Leistungserbringern abgelehnt, mit der Begründung, die Institutionenorientierung bleibe damit erhalten. Stattdessen wurde die Bildung von regelmäßigen Gesamtplankonferenzen vorgeschlagen, in denen nicht nur die Rehabilitation psychisch Kranker Menschen im Einzelfall von Leistungserbringern und Leistungsträgern gemeinsam geplant werden können, sondern auch lokale Versorgungslagen erkannt und geplant werden können (dazu auch Vigener 1997, 86). Es wird betont, dass Verfahren und Instrumente der Gesamtplanung eine hohe Passung zu den Grundprinzipien des Neuen Steuerungsmodells aufweisen und deshalb einen Beitrag
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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zur Verwaltungsmodernisierung und Qualitätssicherung leisten können (vgl. ebd.; Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 60; Kronenberger 2001, 262). Gesamtplanung ermöglicht, so die Hoffnung vieler Autoren/innen, die Verknüpfung einer einzelfallbezogenen Hilfegewährung mit dem Controlling der Sozialverwaltungen und Sozialplanung, so dass künftig eine bessere Steuerung von Angebotsstrukturen anhand der genauen Kenntnis der Bedarfe möglich wird (vgl. ebd.; Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 364). Gesamtplanung wird damit zu einem zentralen Instrument des Qualitätsmanagements in der Eingliederungshilfe. Während mit den gesetzlich vorgesehenen Leistungs- und Prüfvereinbarungen ein allgemeines System der Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle installiert wird, mit dem die Arbeit der Einrichtungen gesteuert werden können, so die Argumentation, ist der Gesamtplan ein Instrument zur Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle im Einzelfall, welches die fallbezogene Steuerung der Qualität der Anbieter regulieren hilft (vgl. Kronenberger 2001, 263; BAGüS 2007, 1). Dabei liefert die Gesamtplanung im Einzelfall auch Vergleichsdaten für das fallübergreifende Controlling und umgekehrt ermöglicht das fallübergreifende Controlling einen Fallvergleich, der für das individuelle Fallverständnis genutzt werden kann. So entsteht nach Ansicht Kronenbergers ein umfassendes Qualitätssicherungssystem in der Behindertenhilfe (vgl. a.a.O., 265). Schließlich gelten zunehmend fachpolitische Diskussionen um einen vermeintlichen Paradigmenwechsel vom Rehabilitationsparadigma zum Selbstbestimmungsparadigma als relevanter Faktor. Schädler erkennt in der Argumentation der Leistungsträger einen Wandel im Selbstverständnis der Sozialverwaltungen, die mit der zunehmenden Qualitätsdebatte nicht mehr nur eine Kostenverantwortung, sondern auch eine Fachverantwortung übernehmen wollen, was sich auch in der veränderten Begrifflichkeit vom Kosten- zum Leistungträger widerspiegelt (vgl. Schädler 2000, 37; ebenso Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 62). Der Wechsel bedeutet eine Abkehr vom „defizitorientierten, ‚Patient‘-/ ‚Klient‘-zentrierten, von Professionellen-Entscheidungen dominierten, auf größtmögliche Fähigkeiten bei Aktivitäten des täglichen Lebens und Berufstätigkeit abzielenden Paradigma“ (Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 363) zu einem Paradigma, das kompetenz- und bedarfsorientiert ist, die behinderten Menschen als ‚Kunden‘ sieht, die Entscheidungen der Betroffenen einbezieht und auf ein autonomes Leben und soziale Integration abzielt (vgl. ebd.). Kronenberger argumentiert in diesem Zusammenhang, dass Gesamtplanung der Grundlogik pädagogischen Handelns entspricht, „auf der Basis abgestimmter Ziele und einer anerkannten Methodik zu handeln und die Wirkungen dieses Handelns von Zeit zu Zeit auf Grundlage der Ziele zu überprüfen“ (Kronenberger 2001, 265). Aus der Sozialen Arbeit wurde mit der Gesamtplanung nun der konzeptionelle Gedanke des Case-Management übernommen: Nicht eine einzelne pädagogische Fachkraft sollte im Zuge einer pädagogischen Beziehung mit der betroffenen Person arbeiten, sondern verschiedene Fachkräfte, Angehörige und informelle Helfer werden nun in die Unterstützungsprozesse einbezogen. „Der Klient oder Patient wird als selbstaktiver Nutzer gesehen, mit dem man die Unterstützungs- und Behandlungsmaßnahmen abstimmen muss.“ (A.a.O., 266) Der Sozialhilfeträger wird auf diese Weise zum ‚Fürsorgemakler‘, „der ein entsprechend offenes, betroffenen- und kommunikationsorientiertes Bewilligungs- und Controllingverfahren der Gesamtplanung gemäß § 46 BSHG benötigt, um seinen Teil zur Ermöglichung des selbstbestimmten Lebens beitragen zu können“ (ebd.). Dabei wird die Aufgabe
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vor allem darin gesehen, die Leistungsansprüche zu prüfen, möglicherweise vorrangige Leistungsansprüche zu erfassen und einzubeziehen, sowie passende und preisgünstige Angebote für die leistungsberechtigten Personen zu einem ‚optimalen Leistungsmix‘ zusammenzustellen (vgl. Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 363). „Durch das strukturierte Instrument des Gesamtplans soll der Weg der (Wieder-) Eingliederung im Voraus überdacht, die Aufgaben aller beteiligten Personen und Institutionen sollen konkretisiert, ihre Zusammenarbeit gewährleistet und koordiniert werden – alle Maßnahmen und Leistungen können damit aufeinander abgestimmt, ineinandergreifend, nahtlos und zügig geplant und durchgeführt werden.“ (Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 61)
Die Einführung des Case-Management-Gedankens beinhaltet zudem eine Zurückdrängung des Einflusses der etablierten Einrichtungsträger. „Es ginge darum, eine Struktur zu etablieren, um unabhängig von einer Behinderteneinrichtung auf der Grundlage eines umfassenden Assessments den individuellen Bedarf an Hilfen zu erfassen und den Betroffenen fachlich und organisatorisch dabei zu unterstützen, ein für seine Situation sinnvolles Hilfearrangement zusammenzustellen und dann Unterstützung beim Umgang mit den ausgewählten Hilfeanbietern anzubieten“ (Schädler 2000, 40, Herv. i. Org.).
Es werden dazu vier zentrale Zielbereiche formuliert, in denen die Einführung der Gesamtplanung Wirkungen entfalten soll: Das sozialpolitische Ziel ist, die aktive und steuernde Rolle der Sozialhilfeträger zu steigern, indem die Gesamtplanung einen Beitrag zur Qualitätsentwicklung und Dienstleistungsorientierung im Leistungsprozess leistet (vgl. Gitschmann/ Offermann/ TumuschatBruhn 1999, 365; Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 58). Zudem sollen die Selbstbestimmungsrechte der leistungsberechtigten Person gestärkt werden (vgl. Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 365). Die Sozialhilfeträger sollten stärker als Dienstleister wahrgenommen werden und bürgerfreundlicher erscheinen (Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 58). Zweitens sind in inhaltlicher Hinsicht die Gesetzesziele des BSHG vorrangig. In der Sozialhilfe sind dies die Berücksichtigung der Besonderheit des Einzelfalles (§ 3 Abs. 1 BSHG), die Berücksichtigung der Wünsche der Person (§ 3 Abs. 2 BSHG), der Vorrang der offenen Hilfen (§ 3 a BSHG) und der Verhältnismäßigkeit der Kosten (vgl. ebd.), die Hilfe zur Selbsthilfe und der familiengerechten Hilfe (§§ 1, 7 BSHG). In der Eingliederungshilfe ist darüber hinaus die Eingliederung in die Gesellschaft zu nennen (§ 39 Abs. 3 BSHG) (vgl. Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 61; Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 365). Das Recht auf Hilfen zur Eingliederung in die Gesellschaft ergibt sich einerseits aus den verfassungsmäßigen Grundrechten auf Freiheit, Selbstbestimmung, Menschenwürde, Autonomie und Solidarität. Andererseits begründet das Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen den Anspruch auf Unterstützung, um ihre verfassungsmäßig und rechtlich zugesicherten Lebenswerte in Anspruch nehmen zu können (vgl. Rehn 2002, 131). Deshalb ist es notwendig festzustellen, inwiefern sich die konkrete Lebenssituation eines Menschen von den üblichen Lebensbedingungen in der Gesellschaft, in der er lebt, aufgrund seiner Behinderung unterscheidet (vgl. ebd.). Dabei geht es allerdings, so Gitschmann u.a., nicht vorrangig darum, die vorhandenen Probleme zu beseitigen,
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sondern sie sozialverträglich zu regulieren (Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 365). In personeller Hinsicht ergeben sich aus der Gesamtplanung neue Anforderungen an die Sachbearbeiter/innen, die eine Erweiterung ihrer fachlichen und persönlichen Kompetenzen erforderlich machen. Dabei geht es auch darum, gegenüber den Fachkräften in den Einrichtungen eine eigene Fachlichkeit zu entwickeln und Bewilligungsentscheidungen selbstbewusst zu vertreten. Deshalb müssen die Gesamtplanung durch geeignete Qualifizierungsangebote unterstützt werden (vgl. ebd.; Kronenberger 2001, 263). Finanzielle Ziele wurden Ende der 1990er Jahre noch nicht seriös benannt. Zunächst ging es darum, für ein effektives Controlling notwendige Planungs- und Steuerungsdaten zu gewinnen (vgl. ebd.; Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 62). Erst im Anschluss daran ist absehbar, ob und in welchem Umfang die Gesamtplanung über die bessere Steuerung auch zu Kostensenkungen beitragen können, so Gitschmann et al. (Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 365). Mögliche Einsparungseffekte müssen zudem mit den Ausgaben für die Ein- und Durchführung von Gesamtplanverfahren in der Eingliederungshilfe verrechnet werden (vgl. Kronenberger 2001, 264). Dennoch erhofften sich die Sozialhilfeträger, mit Hilfe der Gesamtplanung ineffektive und/oder kostenintensive Hilfen umsteuern zu können und vorrangige Leistungsträger stärker als bisher heranziehen zu können. Es sollten künftig ‚Überversorgungen’ durch genaue Planung und Kooperation mit den Leistungserbringern vermieden, und die Selbsthilfepotenziale durch Einbeziehung der Betroffenen und ihres sozialen Umfeldes verstärkt werden (vgl. ebd.). 14 Gesamtplanung kann, so fassen Kronenberger u.a. die Hoffnungen an das neue Instrument zusammen, zehn zentrale Prinzipien erfüllen (vgl. 1999, 62 f):
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Prinzip der Rechtstaatlichkeit: Der Rechtanspruch auf Eingliederung in die Gesellschaft wird erfüllt. Prinzip der Individualisierung und Vernetzung: Die individuellen Ressourcen der Person und ihres sozialen Umfeldes werden erschlossen. Prinzip der Transparenz: Mit allen Beteiligten werden Ziele, Prozesse, Stagnationen usw. besprochen. Prinzip der Betroffenenbeteiligung und Zielorientierung: Verbindlichkeiten und Eigenverantwortung werden durch vereinbarte Ziele (Kontrakte) hergestellt. Prinzip der Normalisierung und sozialen Integration: Probleme und Problemlösungen werden im Zusammenhang mit den sozialen Umständen der Person bearbeitet. Prinzip der Wirtschaftlichkeit: Der wirtschaftliche Mitteleinsatz wird durch die Zusammenarbeit der Beteiligten und die Steuerung des Sozialhilfeträgers gesichert. Prinzip der Wirtschaftlichkeit und Steuerung sozialer Dienstleistungen: Die Wirkungsanalysen können Daten für das Controlling der sozialen Dienstleistungen und Investitionen zur Verfügung stellen.
Inzwischen zeigt sich, dass die Hoffnung auf mögliche Einspareffekte nicht erfüllt werden konnte. So bilanziert beispielsweise Kolbe für Rheinland-Pfalz (2006, 188): „Die Kosten der Betreuung behinderter Menschen konnte nach dem Ende des Selbstkostendeckungsprinzips durch die Einführung von prospektiven, auf den Einzelfall bezogenen Pflegesätzen für fünf Hilfebedarfsgruppen nicht reduziert werden. Die Reduzierung wurde durch die faktische Einfrierung der Mittel erreicht.“
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger Prinzip der Partnerschaftlichkeit [eigene Formulierung, Anmerk. I.N.]: Der Mensch mit Behinderung wird vom Objekt des Verwaltungshandelns zum Partner in einer Zielvereinbarung. Prinzip der Kooperation [eigene Formulierung, Anmerk. I.N.]: Der Sozialhilfeträger wird von den Leistungserbringern in der Behindertenhilfe als kompetenter Partner wahrgenommen und die Verantwortung für das Hilfesystem gemeinsam getragen. Prinzip der internen Informationstransparenz [eigene Formulierung, Anmerk. I.N.]: Der Gesamtplan verbessert den Informationsfluss innerhalb des Sozialhilfeträgers und macht Arbeitsprozesse transparent.
Betont werden dabei die Bedeutung der Zusammenarbeit mit anderen Leistungsträgern und den Leistungserbringern sowie die aktive Beteiligung der behinderten Menschen am Gesamtplanungsprozess (Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 61). Darüber hinaus werden um die Jahrtausendwende insbesondere die wachsenden Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung hervorgehoben, die eine einheitliche und übersichtliche Erfassung der notwendigen Informationen erleichtern sollen (vgl. Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999, 365 ff; Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 63 ff). Es werden dazu Formulare entwickelt, die die Datensammlung und Planung der Hilfen möglichst vergleichbar machen und standardisiert dokumentieren helfen sollen (Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 64). Die Einrichtungen sollen neben der Konkretisierung des Gesamtplans in einer pädagogischen Betreuungsplanung regelmäßige Entwicklungsberichte verfassen, die sich in Aufbau und Struktur an den Gesamtplanformularen orientieren und möglichst ebenfalls standardisiert werden sollen, um an die Gesamtplanung anschlussfähig zu sein (vgl. ebd.) 6.2.2 Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf Die Verbindung zwischen der Gesamtplanung der Leistungsträger und der pädagogischen Betreuungsplanung der Leistungserbringer muss als ein wichtiges Element der Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen angesehen werden. Anders als für die Gesamtplanung in der Sozialhilfe hatte der Gesetzgeber mit der Novellierung des § 93 BSHG für die Eingliederungshilfe die Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf für die Vergütung von Leistungen zur Grundlage gemacht. Obwohl sich dieser Paragraph auf die vertraglichen Beziehungen zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer bezieht, nimmt er damit indirekt also auch Einfluss auf die Beziehungen zwischen Leistungsträger und Leistungsnehmer, da auf diese Weise alle zu bewilligenden Leistungen in das System der vergleichbaren Leistungsvergütung für die Einrichtungsträger übersetzt werden müssen (vgl. Krüger/ Kunze/ Kruckenberg 2000, 194). Entsprechend diskutierten sowohl Leistungsträger wie auch Leistungserbringer intensiv, wie im Rahmen der Leistungs-, Preis- und Prüfvereinbarungen leistungsgerechte Entgelte entwickelt werden könnten. Dabei sollte die Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf die Qualität der Versorgung, die Transparenz der Leistungen, die Wirtschaftlichkeit, die leistungsgerechte Finanzierung und Steuerung der Ausgaben bzw. der Einnahmevolumina ermöglichen (vgl. Krüger/ Kunze/ Kruckenberg 2000, 194; Fink 1995, 279).
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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Um ein solches Modell der Gruppenbildung möglichst einheitlich zu gestalten, hatte der Gesetzgeber dem Bundesministerium für Gesundheit mit der Reform des BSHG eine Verordnungsermächtigung erteilt, um die Vertragsbestandteile der vorgeschriebenen Leistungsvereinbarungen zu vereinheitlichen. Dazu gab das Bundesministerium für Gesundheit 1996 beim damaligen Landesarzt für Behinderte in Baden-Württemberg, Prof. Dr. Haas und der „Kirchlichen Dienstleistungs- und Beratungsgesellschaft für soziale Einrichtungen“ (KDSE) eine Untersuchung in Auftrag, an dessen Ende ein Modell zur Bildung von Hilfeempfängergruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf stehen sollte (vgl. Metzler 1998, 42). Ein solches Modell sollte typisierende Bedarfskonstellationen abbilden, zu denen dann passende Bündel von Eingliederungsleistungen (Leistungstypen) zugeordnet bzw. entwickelt werden können und zu denen preislich gestufte Entgelte ermittelt werden können (vgl. ebd.). Das Modell sollte damit wissenschaftlich gesicherte Eckpunkte und Leitlinien zur Erarbeitung von Bundesempfehlungen und Landesrahmenvereinbarungen zur Umsetzung der §§ 93 ff BSHG liefern (BT-Drs. 13/11319). Die KDSE und Haas entwickelten daraufhin auf der Grundlage der WHO-Klassifikation der Schäden, Beeinträchtigungen und Handicaps (ICIDH) ein theoretisches Modell der Gruppenbildung. Entsprechend der Systematik der WHO-Konzeption wurde ein hierarchisches Vorgehen gewählt, in dem ausgehend von der Art der Behinderung jeweils spezifische Beeinträchtigungen und Handicaps in verschiedene Ausprägungen des Hilfebedarfs zusammengefasst wurden (vgl. Metzler 1998, 23). Das Modell erfasst Beeinträchtigungen in den Bereichen: ‚Orientierung‘, ‚Fähigkeit zur Selbstversorgung‘, ‚Mobilität‘, ‚Beschäftigung‘, ‚Verhalten‘ und ‚soziale Beziehungen‘. Getrennt davon wird der Hilfebedarf der Person in diesen Bereichen mit einem standardisierten Itemset abgefragt (Metzler 1998, 25). Die Items werden mit einer vierstufigen Skala bewertet. (1. Strukturelle Anpassungen, 2. Motivation, Anleitung und Aufsicht erforderlich, 3. Anleitung, Aufsicht und zeit- oder teilweise Übernahme von Verrichtungen erforderlich, 4. Aufsicht und vollständige Übernahme von Verrichtungen erforderlich). Die Ergebnisse des Forschungsvorhabens wurden von den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege weitgehend abgelehnt. Kritiker wiesen vor allem darauf hin, dass das Gruppenmodell die ICIDH aber nur unvollständig umsetzt (vgl. Reumschüssel-Wienert, 91 f), sich aber deutlich am SGB XI und § 68 BSHG, bzw. den Klassifikationen der Pflegeversicherung orientiert; Sozialpädagogische und therapeutische Hilfen werden dagegen nur am Rande berücksichtigt. Die unterschiedlichen individuellen Hilfebedarfe können, so die Kritik, mit diesem Modell nicht ausreichend abgebildet werden. Die Zielsetzung der Teilhabe des § 93a BSHG kann das Modell deshalb nicht erfüllen, sondern konterkariert es vielmehr „die Absicht des Gesetzgebers nach einer Abgrenzung von Pflegeleistungen und Leistungen der Eingliederungshilfe“ (a.a.O., 105). Metzler kritisierte zudem, dass es der begutachtenden Person überlassen bleibt, ob sie von den derzeitigen Betreuungsleistungen oder dem tatsächlichen Betreuungsbedarf bei ihrer Einschätzung ausgeht (vgl. Metzler 1998, 37), weshalb sie die Validität und Reliabilität des Verfahrens in Frage stellt. Das Forschungsvorhaben von Haas/ KDSE wurde schließlich im Herbst 1997 ergebnislos abgebrochen (BT-Drs. 13/11319). Aufgrund der umfassenden Kritik gaben stattdessen die vier Fachverbände für Menschen mit geistiger Behinderung beim ‚Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der Lebenswelten behinderter Menschen‘ (Z.I.E.L.) 1997 ebenfalls ein Gutachten in Auftrag, welches fachliche Aspekte beim Übergang in die
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
neue Rechtslage stärker berücksichtigen sollte. Dieses Gutachten wurde am 12. Mai 1998 der Öffentlichkeit vorgestellt. Metzler entwickelte darin auf der Basis eines Vergleichs zwischen FIL, EHB und FILM 15 (vgl. Unterkapitel 7.2), dem IBRP 16 und den bis dahin vorliegenden Ergebnissen des ‚Haas-Gutachtens‘ einen eigenen standardisierten Erhebungsbogen (1998), der zwar auf den Lebensbereich Wohnen zugeschnitten war, aber keine spezifische Wohnform unterstellen sollte. Dieser Bogen ist in sieben Hilfebedarfsbereiche untergliedert 17: 1. Individuelle Basisversorgung auf Basis des Acitivities-of-Daily-Living Modells (in Anlehnung an Wetzler 1995), 2. Haushaltsführung, 3. Soziale Beziehungen, 4. Freizeitgestaltung, 5. Kommunikation, 6. Psychische Hilfe, 7. Medizinische Hilfen. Jeder Hilfebedarfsbereich ist in drei bis sechs Items unterteilt. Für jede/n Nutzer/in wird zunächst der Aktivitätsgrad in jedem Item auf einer dreistufigen Skala bestimmt (kann ohne Schwierigkeiten, kann mit Schwierigkeiten, kann nicht). Da aber dieses Aktivitätsprofil nicht hinreichend über Art und Umfang benötigter Hilfen Auskunft geben kann, wird zudem eine Bewertung des Hilfebedarfs vorgenommen. In diesem Punkt nimmt Metzler eine ähnliche Stufung wie Haas vor (s.o.). Durch die Hinterlegung von unterschiedlichen Punktwerten zu den vorgegebenen Kategorien in unterschiedlichen Lebensbereichen wird ein vergleichbares Maß für die Angewiesenheit auf Hilfe hergestellt (vgl. Beck 2005b, 394). Da die denkbaren Hilfen in den verschiedenen Items unterschiedlich häufig und intensiv notwendig sind, gewichtet sie die vier Stufen unterschiedlich durch differenzierte Bepunktung. Es gibt hier ‚major items‘, die eine kontinuierliche und intensive Zuwendung erforderlich machen und deshalb doppelt gewichtet werden (z.B. das Item ‚elementare Verständigung‘) und es sind ‚minor items‘ vorgesehen, die einen in regelmäßigen Zeitabständen auftretenden Hilfebedarf dokumentieren (z.B. ‚Zubereiten von Mahlzeiten‘). Diese werden einfach bepunket. Es werden schließlich die erreichten Punktzahlen über alle 24 Items zusammengezählt. Für die Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf werden dann Intervalle von Punktwerten festgelegt, denen jeder individuelle Punktwert zugeordnet werden kann. Metzler schränkte in ihrem Gutachten ein, dass die theoretische Fundierung dieses Systems noch eine empirische Überprüfung und Validierung durch Erfahrungswerte mit dem Bogen benötige (vgl. Metzler 1998, 63). Diese Überprüfung wurde in den ersten Monaten nach Abschluss des Gutachtens durch Erprobungen vorgenommen (vgl. Nawrath 1999, 14; Baur 2000, 21). Die Systematik blieb auch nach der Erprobungsphase weitgehend 15 FIL: ‚Fragebogen zur individuellen Lebensführung – zur Ermittlung des Hilfebedarfs‘ (Bundesverband evangelische Behindertenhilfe); EHB: ‚Erhebung zum individuellen Hilfebedarf von Personen mit Behinderung‘ (Verband katholischer Einrichtungen für Lern- und Geistigbehinderte); FILM: ‚Fragebogen zur individuellen Lebensgestaltung von Menschen mit Behinderungen‘ (Landesverband Baden-Württemberg der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.) 16 IBRP: ‚Integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsplan‘ (Aktion Psychisch Kranke) 17 Der Zusammenhang von Macht und Wissen erweist sich bei der Frage der Zuordnung des HMB-W zu einer Diskursarena als überaus produktive Reflexionsfolie, da der HMB-W inzwischen vor allem als Instrument von Leistungsträgern diskutiert wird. Eingebracht und unterstützt wurde er allerdings ursprünglich von den Fachverbänden, also den Vertretungsorganisationen der Leistungserbringer. Dementsprechend wäre auch eine Darstellung des Bogens in Kapitel 7 denkbar. Da er zudem auf einem nach wissenschaftlichen Maßstäben erstelltem Gutachten der Forschungsstelle ZIEL entwickelt wurde, wäre auch eine Präsentation des HMB-W in Kapitel 8 vorstellbar. Aufgrund der engen Anbindung des Bogens an die Verhandlungsfragen im Rahmen der Umsetzung des § 93a BSHG und aufgrund der Bedeutung, den dieser Bogen in den Folgejahren für die Hilfeplanung von Leistungsträgern entwickelt hat, erscheint es sinnvoll, ihn an dieser Stelle vorzustellen.
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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erhalten. Die Hilfebedarfsbereiche wurden später allerdings umformuliert und um weitere Items ergänzt (vgl. HMB-W Bogen Version 5/2001): 1. Alltägliche Lebensführung, 2. Individuelle Basisversorgung, 3. Gestaltung sozialer Beziehungen, 4. Teilnahme am kulturellen und gesellschaftlichen Leben, 5. Kommunikation und Orientierung, 6. Emotionale und psychische Entwicklung, 7. Gesundheitsförderung- und erhaltung. Nach dem Scheitern des Forschungsauftrages von KDSE und Haas wurde absehbar, dass das Bundesministerium von seiner Verordnungsermächtigung keinen Gebrauch machen würde (vgl. Nawrath 12 f). Deshalb machten sich die Vertragspartner Mitte Juni 1997 auf Bundesebene daran, eine Bundesempfehlung für die Vereinbarung von Landesrahmenverträgen zu entwickeln. Ein erster Entwurf für diese Bundesempfehlungen auf der Basis des Gutachtens der KDSE wurde aber kurz vor der Unterzeichnung am 10. März 1998 von den kommunalen Spitzenverbänden abgelehnt (Nawrath 1999, 13). Der Vorsitzende der BAGüS begründet rückblickend das damalige Veto mit den großen Strukturunterschieden zwischen den verschiedenen Kommunen, die für die ambulanten Eingliederungshilfen zuständig waren (Baur 2000, 21). Große quantitative und qualitative Unterschiede, aber auch unterschiedliche Begrifflichkeiten würden das Leistungsangebot unübersichtlich und in einer Bundesempfehlung nur schwer abbildbar machen. Bereits zwei Wochen später legten die kommunalen Spitzenverbände deshalb einen eigenen, zweiten Entwurf vor, der sich allerdings nur auf teil- und vollstationäre Hilfen bezog. Verbindliche Grundlagen zur Gestaltung des neuen Finanzierungssystems bestanden also auch im August 1998 (also ca. ½ Jahr vor Inkrafttreten der Reform des BSHG) noch nicht (vgl. BT-Drs. 13/11319). Erst mit dem Gutachten von Metzler gingen die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und die kommunalen Spitzenverbände mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in neue Verhandlungen, die Ende Oktober 1998 inhaltlich abgeschlossen werden konnten. Am 15. Februar 1999 beschlossen schließlich die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände und die Vereinigungen der Träger der Einrichtungen auf Bundesebene eine Bundesempfehlung nach § 93d Abs. 3 BSHG (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 2001). In dieser Bundesempfehlung wurden Kriterien für die Festlegung von Merkmalen und Besonderheiten der jeweiligen Hilfeart und für die Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf festgelegt: „§ 5 Bildung von Leistungstypen (1) Diese Empfehlungen sehen als wichtiges Element zur Umsetzung der §§ 93 ff BSHG die Bildung von Leistungstypen vor. Sie stellen in Bezug auf die wesentlichen Leistungsmerkmale (Zielgruppe, Ziel, Art und Umfang der Leistung, personelle und sächliche Ausstattung sowie Leistungs- und Qualitätsanforderung) typisierte Leistungsangebote dar. Die Leistungstypen haben eine zentrale Bedeutung für die Beschreibung des konkreten Leistungsangebotes der Einrichtung; Vergleichbarkeit von Inhalt, Umfang und Qualität der Leistung; Kalkulation der Maßnahmepauschalen nach Gruppen für Hilfeempfänger mit vergleichbarem Hilfebedarf. (2) In den Rahmenverträgen sollen für die Hilfearten nach BSHG – differenziert nach Zielgruppen (Personenkreise) – Leistungstypen beschrieben werden. Dabei ist eine hinreichende Differenzierung des Leistungsspektrums der Einrichtungen in unterschiedliche Leistungstypen vorzusehen. Je mehr Leistungstypen vereinbart werden, desto geringer ist die Notwendigkeit einer
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger Ausdifferenzierung in unterschiedliche Gruppen für Hilfeempfänger mit vergleichbarem Hilfebedarf innerhalb eines Leistungstyps. (3) In den Rahmenverträgen soll auch geregelt werden, unter welchen Voraussetzungen neue Leistungstypen zu berücksichtigen sind. § 6 Differenzierung der Maßnahmepauschalen nach Gruppen für Hilfeempfänger mit vergleichbarem Hilfebedarf (1) Der vom Gesetz geforderten Kalkulation von Maßnahmepauschalen (§ 17) nach Gruppen für Hilfeempfänger mit vergleichbarem Hilfebedarf soll vorrangig dadurch Rechnung getragen werden, dass Maßnahmepauschalen für Leistungstypen kalkuliert werden. Die vereinbarte Zielgruppe des jeweiligen Leistungstyps wird dabei als eine Gruppe von Hilfeempfängern mit qualitativ vergleichbarem Hilfebedarf angesehen. (2) Soweit innerhalb der Zielgruppe eines Leistungstyps der quantitative Bedarf stark variiert, soll eine Differenzierung nach Gruppen für Hilfeempfänger mit quantitativ vergleichbarem Hilfebedarf erfolgen. (3) Die Gruppenbildung soll nach vereinbarten empirischen Verfahren vorgenommen werden. Dabei sollen bei der Bildung der Gruppen für die Zuordnung des einzelnen Hilfeempfängers zu einer Gruppe Elemente der Plausibilität vorgesehen werden, die auch extern nachvollziehbar sind.“ (Bundesarbeitsgemeinschaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege 2001, § 5 f)
An dieser Empfehlung sind für die Weiterentwicklung der Hilfeplaninstrumente mehrere Faktoren bedeutsam: Die Bundesempfehlung gilt nur für den stationären und teilstationären Bereich. Es werden nur einzelne Paragraphen für eine Übernahme für den ambulanten Bereich empfohlen, die beim Abschluss von Landesrahmenverträgen zudem noch einmal zu überprüfen wären. Mit dieser Einschränkung stellt die Empfehlung deshalb ein Kompromisspapier dar. Der Begriff des Leistungstyps, der keinerlei rechtliche Grundlage besitzt, sondern in der Bundesempfehlung neu eingeführt wurde, umschreibt typisierte Leistungsangebote der Einrichtungen. Der Grundgedanke dabei ist, dass ein Leistungstyp einer ganz spezifischen Zielgruppe entspricht, die einen vergleichbaren Hilfebedarf besitzt (vgl. Nawrath 1999, 13 f; Baur 2000, 21). Die Bundesempfehlungen empfehlen deshalb für die Landesrahmenverträge, möglichst unterschiedliche Leistungstypen zu beschreiben, so dass eine hinreichende Differenzierung des Leistungsspektrums der Einrichtungen ermöglicht wird. Je mehr Leistungstypen vereinbart werden, desto geringer ist die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung in unterschiedliche Gruppen für Hilfeempfänger mit vergleichbarem Hilfebedarf innerhalb eines Leistungstyps (vgl. § 5 Abs. 2 der Bundesempfehlung). Indem aber so nicht sauber zwischen dem Leistungstyp als Kategoriensystem der Angebote und der Hilfebedarfsgruppe als Kategoriensystem der Hilfebedarfe unterschieden wird, wird eine Analogie hergestellt, die suggeriert, dass es für jede Person mit einem bestimmten Hilfebedarf nur eine Angebotsform gibt, die geeignet ist ihren Hilfebedarf zu decken 18. Im alltäglichen Betreuungssprachgebrauch wird so das Leistungsangebot zu einem persönlichen Merkmal der Person (z.B. werden aus einigen Menschen mit Behinderungen ‚LT9`er‘ (Menschen, 18
Hier lassen sich die Auseinandersetzungen von Beck (vgl. Abschnitt 8.2) zum Hilfebedarfsbegriff anschließen. Sie bestimmt den Hilfebedarf als sozial geformte Konkretisierung von Bedürfnissen. Während der Hilfebedarf ihrer Ansicht nach eindeutig bestimmbar ist, können die Wege und Mittel der Bedarfsdeckung (hier: die Frage, welche Leistungstypen geeignet sein können) nicht eindeutig bestimmt werden, sondern es können mehrere Mittel und Wege geeignet sein, deren Auswahl sich letztlich an den Interessen und Wünschen der Person ausrichten müsse.
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
151
deren Leistungstyp als LT 9 bestimmt wurde)), obwohl der Leistungstyp tatsächlich eine Aussage über das Hilfeangebot darstellen soll und keine Aussage über die Behinderung oder den Hilfebedarf der Person treffen kann. Die Veränderbarkeit von Hilfebedarfen, z.B. durch biographische Veränderungen oder Veränderungen persönlicher Lebensziele gerät durch die Gleichsetzung von Hilfebedarfsgruppen und Leistungstypen in der Hilfeplanung aus dem Blick. Vielmehr wird eine Hilfeplanung überflüssig, da bereits die Hilfebedarfsfeststellung unmittelbar auf einen einzig ‚richtigen‘ Leistungstyp verweist. So wird letztlich eine Passung zwischen den vorhandenen (institutionellen) Ressourcen und dem individuellen Bedarf der Betroffenen hergestellt. Die Logik ist insofern als institutionenorientiert und nicht personenorientiert zu bezeichnen: Es wird empfohlen, die Beschreibungen der Leistungspalette der Anbieter möglichst breit aufzufächern, so dass jedem Leistungstyp eine entsprechende Hilfebedarfsgruppe zugeordnet wird. Exakt in diese Richtung argumentieren auch die Sozialhilfeträger: „Gelingt dies in absehbarer Zeit nicht, wird sich die qualitativ wie quantitativ sehr unterschiedliche Struktur in den Ländern auf Dauer festigen. Eine Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse im Rahmen der Behindertenhilfe und der sonstigen Personengruppen, die vom BSHG umfasst werden, wäre damit auf lange Sicht unmöglich gemacht.“ (Baur 2000, 20). Ein personenorientierter Ansatz müsste dagegen ausgehend von vergleichbaren Hilfebedarfen fragen, welche gemeinsamen und welche individuellen Angebote gemacht werden müssen, um den jeweils individuellen Bedarf zu decken und dann in einem Rahmenvertrag die Einrichtungen dazu verpflichten, entsprechende Angebote vorzuhalten bzw. bei Bedarf zu entwickeln. Dabei ginge es nicht um die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse, sondern um die vom Gesetzgeber geforderte Bedarfsdeckung im Einzelfall. Die Bundesempfehlung hat so schließlich jenen Grundgedanken eingeführt, vor dem Metzler bereits in ihrem Gutachten gewarnt hatte. Sie sah, dass ihr Modell der Gruppenbildung auch zur einrichtungstypbezogenen Kalkulation von Maßnahmepauschalen herangezogen werden könne. Eine solche Orientierung an Leistungstypen (anstatt an Hilfebedarfsgruppen) würde dann aber dazu führen, dass lediglich das ‚Bedarfsspektrum‘ abgebildet wird, „das mit den vorhandenen Mitteln abgedeckt werden kann“. Die „Entwicklung flexibler Lösungen von Betreuungserfordernissen“ werde dadurch aber behindert (Metzler 1998, 65). 6.2.3 Hilfebedarfsfeststellung Wurden in einem Landesrahmenvertrag die ‚Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf‘ bestimmt, so stellt sich im nächsten Schritt die Frage, mit welchen Methoden und Instrumenten der individuelle Hilfebedarf einer Person festgestellt und in diese Systematik eingeordnet werden kann, um den Hilfebedarf dann in eine Hilfeplanung übersetzen zu können. Auch hier fehlten Ende der 1990er Jahre konkrete Modelle, abgesehen von den Vorschlägen von Haas u.a. und Metzler. So konnten die Bundesempfehlungen aufgrund des Vetos der kommunalen Spitzenverbände (vgl. Nawrath 14) nur in einer Fußnote sehr allgemeine Empfehlungen zur Feststellung des individuellen Hilfebedarfs aufnehmen: „In den Rahmenverträgen können auch Regelungen getroffen werden, wie unter Einbeziehung des Hilfeempfängers und seines gesetzlichen Vertreters sowie ggf. entsprechender Erfahrungen
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger und Beurteilungen der betreuenden Einrichtung der individuelle Hilfebedarf ermittelt wird und wie eine Zuordnung zu Leistungstypen sowie ggf. zu Gruppen mit quantitativ vergleichbarem Hilfebedarf erfolgt.“ (Fußnote zu § 6 Abs. 3)
Dabei sahen weder die Bundesempfehlung noch die Empfehlung der BAGüS von 1999 ein bestimmtes Verfahren vor (vgl. Abschnitte 6.2.2, 6.2.4.1, 6.2.4.2). Tatsächlich zeigt sich, dass im Jahr 1999 viele Bundesländer Übergangsregelungen geschaffen hatten (vgl. Baur 2000, 22). Es schien sich aber der HMB-W Bogen (‚Hilfebedarf von Menschen mit Behinderungen – Wohnen‘) auf der Basis des Gutachtens von Metzler für die Zuordnung von Fällen zu Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf für den teilstationären und stationären Bereich durchzusetzen (vgl. Anhang V). Es ist zu vermuten, dass aufgrund der strikten Ablehnung der Einrichtungsträger gegenüber dem Modell von Haas u.a., der vergleichsweise einfachen und quantifizierbaren Logik des HMB-W Bogen von Metzler und schließlich aufgrund eines Mangels an alternativen Verfahren zur Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf der HMB-W Bogen von vielen Leistungsträgern übernommen wurde. Dass das Problem der Bedarfsfeststellung noch nicht abschließend geklärt werden konnte, zeigt auch ein neueres Beispiel für ein Leistungsbemessungsverfahren von Kulig (2006): Ausgehend von der Notwendigkeit der Hilfebedarfsfeststellung im Rahmen der Eingliederungshilfe in Sachsen-Anhalt entwickelte er einen standardisierten Fragebogen, der eine valide und vergleichbare Quantifizierung des Hilfebedarfs der Betroffenen als Entscheidungsgrundlage für die Sozialhilfeträger ermöglichen sollte (vgl. auch Opp/ Theunissen/ Kulig 2003). Er konzipiert die Befragung von Betroffenen als Alternative zur Bedarfsfeststellung mit dem HMB-W Bogen und dem IBRP. Mit Blick auf die gesetzliche Vorgabe des SGB XII (besonders § 76 (2) und § 79 (2), soll es der Fragebogen ermöglichen, anhand von standardisierten Kriterien Gruppen von Personen mit vergleichbarem Hilfebedarf zu bilden. Obwohl er zwar darauf hinweist, dass „Erziehungswissenschaftliche Überlegungen […] sich einer derartigen Strukturierung des Feldes durch gesetzliche Vorgaben nicht dauerhaft entziehen [können]“ (Kulig 2006, 79), stellt er heraus, dass es ihm nicht darum geht, Aussagen über den Hilfebedarf von Personen im Hinblick auf die notwendige pädagogische Unterstützung zu treffen, sondern den Prozess der Leistungsbemessung durch die Leistungsträger transparent und vergleichbar zu gestalten (vgl. a.a.O., 78). Unklar bleibt in der Argumentation Kuligs aber, wie eine solche Trennung von pädagogischen und leistungsrechtlichen Aspekten sinnvoll in die Planung von Hilfen überführt werden kann. Bis 2007 haben alle Träger der Sozialhilfe mit den Verbänden der Wohlfahrtspflege auf Landesebene Rahmenverträge über Leistungen, Vergütungen und die Prüfung von Leistungen für stationären und teilstationären Hilfen, z.T. auch für ambulante Hilfen abgeschlossen. Es zeigt sich, dass sich im Zuge dieser Regelungen die Vielfalt von Bedarfsfeststellungsverfahren tendenziell vergrößert hat, auch wenn weiterhin ein Großteil auf dem HMB-W Bogen beruht. Darüber hinaus bieten neben IBRP (Integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsplan) und HMB-W auch einige Qualitätssicherungssysteme der Fachverbände nicht nur Hilfeplanungsinstrumente, sondern auch die Möglichkeit der Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf und Rechenformeln für die Kalkulation von Maßnahmepauschalen (vgl. Abschnitt 6.2.2). In einigen Bundesländern wurden auch eigene Feststellungsverfahren auf der Basis der bereits vorhandenen Verfahren entwickelt (bspw. der Landeswohlfahrtsverband Hessen). Im Jahr 2006 ging das PARITÄTISCHE Kompe-
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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tenzzentrum Persönliches Budget nach eigenen Recherchen davon aus, dass ca. 60 verschiedene Verfahren zur Feststellung des Individuellen Hilfebedarfs im Kontext der Eingliederungshilfe eingesetzt würden (PARITÄTISCHE Kompetenzzentrum Persönliches Budget 2006, 6). Bei genauerer Betrachtung dieser Aussage wird aber deutlich, dass für die Gruppe von Menschen mit geistigen Behinderungen die meisten Konzepte auf dem HMBW basieren. Eine Analyse der Verbreitung von Hilfebedarfsfeststellungsinstrumenten erscheint dabei weniger im Hinblick auf die Unterscheidung von ambulanten und teilstationären/stationären Hilfen relevant, sondern sollte vielmehr auf die Zuständigkeitsfrage der Sozialhilfeträger bezogen werden: Im ambulanten wie teilstationären und stationären Bereich werden innerhalb eines Bundeslandes in der Regel die gleichen Verfahren angewendet. Es zeigt sich aber, dass vor allem in den Bundesländern, in denen eine ‚Kommunalisierung’ der Behindertenhilfe stattgefunden hat, keine landesweit einheitlichen Instrumente verwendet werden, auch wenn hier die Verbände der örtlichen Sozialhilfeträger auf Landesebene an entsprechenden Lösungen arbeiten. Es wird in diesen Bundesländern auf freiwilliger Basis an der Entwicklung landesweiter Verfahren gearbeitet (z.B. BadenWürttemberg). Über den Grad der Verbindlichkeit solcher Empfehlungen sind aber kaum gesicherte Angaben möglich. 6.2.4 Konzepte der Gesamtplanung Ende der 1990er Jahre hatten nur wenige Sozialhilfeträger (wie z.B. die Modellvorhaben in Hamburg und Hessen) strukturierte Verfahren zur Gesamtplanung entwickelt. Dennoch war aufgrund der gesetzlichen Änderungen und den inneren wie äußeren Modernisierungserfordernissen der Sozialverwaltungen das Interesse an dem Instrument des Gesamtplans gewachsen. In der Folge haben vor allem die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) durch Empfehlungen zur Gestaltung von Gesamtplanverfahren und aktuell auch der Deutsche Verein entsprechende Empfehlungen für die Sozialhilfeträger herausgegeben. Diese Empfehlungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sind, repräsentieren den zum jeweiligen Zeitpunkt aktuellen Stand der Diskussion in den Sozialverwaltungen und sollen deshalb nachfolgend in ihren unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen skizziert werden. 6.2.4.1
Empfehlung der BAGüS von 1999
Ungefähr zeitgleich mit ersten Modellvorhaben zur Gesamtplanung in Hessen und Hamburg und der Gemeinsamen Bundesempfehlung für die Gestaltung der Landesrahmenverträge (vgl. Abschnitt 6.2.2) veröffentlichte die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe eine eigene Empfehlung für die Einführung von Gesamtplanverfahren (vgl. BAGüS 1999). Den Gesamtplan verstand die BAGüS damals als ein Instrument zur Steuerung und Dokumentation des Leistungsprozesses innerhalb der Eingliederungshilfe aus der Sicht der Leistungsträger (BAGüS 1999, 5). Nach Ansicht der BAGüS ist er aber kein Verwaltungsakt. Deshalb besteht beispielsweise für die Leistungsberechtigten zwar ein
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
Anspruch auf ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens, nicht aber auf Ausführung vereinbarter Maßnahmen, bzw. auf Widerspruchsmöglichkeiten (vgl. 5). Eine sorgfältige Gesamtplanung ist, so der damalige Standpunkt der BAGüS nur in den Fällen erforderlich, in denen mehrere Träger beteiligt sind, oder in denen die notwendige Hilfe mehrere Maßnahmen umfasst. Deshalb gibt die Empfehlung ausführliche Orientierungen für Fragen der Zusammenarbeit und Koordination mit anderen Leistungsträgern (vgl. 7 ff). Aber selbst dann genügt es im Regelfall „wenn bei einmaligen, kurzzeitigen oder nach allgemein festgelegten Regeln ablaufenden Hilfefällen der Maßnahmevorschlag vom Hilfeempfänger akzeptiert und die Durchführung durch Leistungsbescheid an einen Leistungsanbieter, mit dem eine Vereinbarung nach § 93 a Abs. 1 BSHG besteht, finanziell abgesichert ist“ (vgl. BAGüS 1999, 3), wobei eine tabellarische Aufstellung der gewährten Hilfen sinnvoll ist. Darüber hinaus listet die Empfehlung solche Fälle auf, in denen schriftlich ausformulierte Gesamtpläne nach einheitlichen Kriterien verfasst werden sollten. Die Empfehlung verortet die Zuständigkeit für die Bedarfsfeststellung bei den Gesundheitsämtern. Ärztliche Gutachten oder fachpädagogische Stellungnahmen, sowie Sozialberichte sollen die Grundlage für die Bedarfsermittlung darstellen. Allerdings könnten auch spezielle Ermittlungsverfahren mit kompetenzorientiertem Ansatz verwendet werden (vgl. BAGüS 1999, 4). Zur Hilfebedarfsfeststellung gehörte nach Ansicht der BAGüS 1999 auch die Festlegung der Art und des Umfangs geeigneter Hilfemaßnahmen: Ein multidisziplinärer Beratungsdienst sollte demnach die Sachbearbeitung bei der Auswahl und dem Umfang der Hilfen im Einzelfall und bei der Zuordnung zu einer Hilfebedarfsgruppe unterstützen (vgl. ebd.). Hierbei wird betont, dass sich eine Maßnahme an der individuellen Bedarfs- und Kompetenzsituation der Person und nicht am bestehenden Hilfeangebot orientieren solle (vgl. ebd.). Die Auswahl der geeigneten Maßnahmen und des ausführenden Leistungsanbieters obliegt nach Ansicht der BAGüS, dann dem Sozialhilfeträger (vgl. a.a.O., 11). Es fällt in diesem Abschnitt zur Hilfebedarfsermittlung (vgl. a.a.O., 4) eine sprachliche Gleichsetzung von Hilfebedarf und Maßnahme auf. Obwohl die Bedeutung der Bedarfsfeststellung betont wird, liegt der Fokus vor allem auf der Festlegung von geeigneten Maßnahmen, mit denen die Ziele der §§ 39 ff BSHG erreicht werden sollen. Es stehen die allgemeinen Gesetzesziele der Eingliederungshilfe im Vordergrund – die Empfehlung gibt aber kaum Hinweise für eine Konkretisierung der allgemeinen Ziele für den einzelnen Fall. Zum fertigen Gesamtplan gehört folgerichtig auch keine Beschreibung des Hilfebedarfs und die Nennung perspektivischer Ziele, sondern nur eine Aufstellung der geplanten Maßnahmen: „Der Gesamtplan enthält u. a. eine Kurzbeschreibung der vorgeschlagenen Maßnahmen und des Maßnahmezieles/ Teilzieles, Beginn und voraussichtliche Dauer der vorgesehenen Maßnahme, den Ort des Maßnahmevollzuges, andere Leistungsträger, von denen begleitende/ergänzende Maßnahmen erwartet werden, weitere, für den Eingliederungsfall wichtige Angaben.“ (BAGüS 1999, 4)
Schließlich wird empfohlen, die Leistungsgewährung in jedem Fall zu befristen und regelmäßig die Ergebnisqualität der bewilligten Maßnahmen im Einzelfall zu überprüfen. Dabei empfiehlt die BAGüS, die Zeiträume der Überprüfung an den individuellen biographischen
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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Gegebenheiten der Person auszurichten, um einerseits Weichenstellungen im Leben des Leistungsempfängers zu beeinflussen, aber zugleich unnötige administrative Belastungen zu vermeiden und so dem ökonomischen Interesse der Leistungsträger Rechnung zu tragen (vgl. a.a.O. 11 f). „Nach Vergleich von Gesamtplan (bzw. vereinbarter Leistung) mit dem Ergebnis der Förderung bzw. dem Fördervorschlag wird die Maßnahme entweder beendet oder unter Neuformulierung von Gesamtplan und Eingliederungsziel zeitlich begrenzt fortgeführt.“ (a.a.O. 12) Insgesamt erscheint dieses Papier als eine rechtliche und administrative Orientierungshilfe, die wenig Hinweise für die inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung von Gesamtplanungsverfahren und -instrumenten liefert, aber auch kaum Standardisierungs- und Normierungsvorschläge enthält. Es stehen die allgemeinen Gesetzesziele und die gesetzmäßige Funktion des Gesamtplans im Vordergrund, sowie die Klärung von Zuständigkeiten und Abgrenzungen zu anderen Kostenträgern. Hinweise für die Konkretisierung der allgemeinen Zeile für den einzelnen Fall werden in der Empfehlung kaum gegeben. Der Perspektivenwechsel zur personenzentrierten Hilfeplanung wird so zwar programmatisch proklamiert, aber kaum in Umsetzungsempfehlungen übersetzt. 6.2.4.2
Vorläufige Empfehlung der BAGüS von 2007
In dieser Hinsicht scheint die neuere vorläufige Empfehlung der BAGüS, welche im November 2007 erschienen ist, weitergehende Überlegungen einzubeziehen. Der Anspruch der BAGüS ist es jetzt, einen Beitrag zur Einzelfallsteuerung zu leisten, in dem Empfehlungen zur „Aufstellung und praktischen Anwendung des Gesamtplans nach § 58 SGB XII für die Praxis“ (BAGüS 2007, 2) gegeben werden. Dabei wird die Einzelfallsteuerung in der Eingliederungshilfe als wichtiges Element in die Gesamtsteuerung der Sozialverwaltung eingeordnet (vgl. a.a.O., 1). Neben einer begrifflichen Abgrenzung von Gesamtplan (als rechtlich verbindlichem Begriff), Hilfeplan (als nicht verbindlichem Begriff für Instrumente der Durchführungsplanung im Rahmen personenzentrierter Verfahren der Sozialhilfeträger) und Eingliederungsplan (dem rechtlichen Begriff für Hilfepläne zur beruflichen Rehabilitation im Rahmen der Werkstättenverordnung) wird deshalb in der neuen Empfehlung zunächst das zugrunde liegende Verständnis von Einzelfallsteuerung erläutert (vgl. a.a.O. 2 ff). Im Anschluss daran wird, wie schon in der Empfehlung von 1999, die rechtliche Stellung des Gesamtplans geklärt. Auch die Zusammenarbeit und Kooperation mit anderen möglichen Leistungsträgern ist erneut Gegenstand der neuen Empfehlung (vgl. a.a.O. 11 ff). Im Vergleich zur ersten Empfehlung wird in der vorläufigen Empfehlung von 2007 die Erstellung eines Gesamtplans nicht nur für besondere Fälle, sondern als generelles Instrument der Einzelfallsteuerung vorgesehen. Dennoch differenziert auch die neue Empfehlung in der Anwendung des Verfahrens: „Wie detailliert ein Gesamtplan erstellt werden soll, ist davon abhängig, über welche Leistungs- und Förderpotenziale ein behinderter Mensch verfügt und ob die Aufstellung eines detaillierten und schriftlichen Gesamtplans dazu beiträgt, die Ziele der Eingliederungshilfeleistungen zu erreichen.“ (BAGüS 2007, 8) Neben den bereits 1999 benannten Anlässen (vgl. BAGüS 1999, 3) wird entsprechend ein besonderes Entwicklungspotenzial der Person als besonderer Anlass für die Durchführung eines Gesamtplanverfahrens benannt. Außerdem gelten Situationen der Über- oder Unterversor-
156
6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
gung mit Leistungen als Anlass für eine Gesamtplanung, die Veränderung oder erstmalige Zuordnung zu einer Gruppe mit vergleichbarem Hilfebedarf, sowie eine mögliche Veränderungen der Lebenssituation (z.B. Wechsel in eine andere Wohnform, Schulwechsel) als Anlässe für die Anfertigung eines Gesamtplans (vgl. BAGüS 2007, 8). Der Gesamtplan bzw. seine Fortschreibung dient nach Ansicht der BAGüS nicht nur der Bewilligung bzw. Weiterbewilligung von Leistungen, sondern sollte auch weitergehende Anforderungen erfüllen, die gewährleisten, dass die Selbstbestimmung behinderter Menschen gefördert und die Steuerung der Leistungen und Ausgaben sowohl im Einzelfall, wie auch anbieterbezogen erfolgen kann (vgl. a.a.O. 6). So solle ein Gesamtplanverfahren idealerweise
„die persönliche direkte Einbeziehung des behinderten Menschen und ggf. Personen des Vertrauens, die Analyse der individuellen lebensfeldbezogenen Fähigkeiten als Ausgangspunkt für die Bedarfsermittlung, eine lebensfeldbezogene Darstellung der Bedarfe als Grundlage der Leistungsempfehlung und ggf. einer Budgetierung, die Berücksichtigung vorrangiger Leistungsansprüche und die Vernetzung aller Leistungen, die Vereinbarung und Überprüfung individueller, lebensfeldbezogener Zielsetzungen, die Eingruppierung in Bedarfsgruppen nach § 76 Abs. 2 Satz 3 SGB XII, die Auswahl des geeigneten Anbieters, die Darstellung des Gesamtplans als Beschreibung der Ermessensausübung des Sozialhilfeträgers und als EDV gestützte Grundlage für die Leistungsbewilligung, eine Verknüpfung mit den Sozialberichten des Trägers zur einzelfall- und trägerbezogenen Steuerung und Qualitätsüberprüfung und als Grundlage für Folgebewilligung“ (a.a.O., 6 f) ermöglichen.
Auch im Hinblick auf die Verfahrensabläufe gibt die neue, vorläufige Empfehlung von 2007 nun konkrete Hinweise: Zunächst ist die Leistungsberechtigung der Person festzustellen (d.h. die Feststellung von Behinderung und Bedürftigkeit) (vgl. a.a.O., 9). Für die Ermittlung des Hilfebedarfs nimmt die Empfehlung den Wortlaut der Empfehlung von 1999 auf, ergänzt allerdings, dass sich für die Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf nach §§ 75 ff SGB XII inzwischen das HMB-Verfahren durchgesetzt hat (vgl. ebd). Darüber hinaus haben die meisten überörtlichen Träger der Sozialhilfe eigene Fachdienste für die Bedarfsermittlung eingerichtet, z.T. mit sogar mit voller Einzelfallverantwortung. Als dritten, allerdings optionalen Schritt sieht die vorläufige Empfehlung ein Gesamtplangespräch zwischen Leistungsträgern, Leistungsberechtigten und/ oder einer Person seines Vertrauens und ggf. möglichen Leistungserbringern vor. Darin sollen die zu erreichenden Ziele, die notwendigen Leistungen und ihr Umfang, sowie der Leistungsort und die Leistungserbringer ausgehandelt werden. Betont werden für diesen Schritt der gemeinsame Aushandlungsprozess und das Bemühen um einvernehmliche Lösungen (vgl. a.a.O., 9). Offen bleibt jedoch, welche Kriterien die Notwendigkeit eines Gesamtplangesprächs begründen und wie die kooperative Planung in den Fällen aussehen soll, in denen kein Gesamtplangespräch als notwendig erachtet wird. Im letzten Schritt wird durch die Entscheidung des Leistungsträgers eine Leistungsbewilligung auf der Grundlage des Gesamtplans ausgesprochen (vgl. a.a.O., 11). Zur Überprüfung der Wirksamkeit muss schließlich der Leistungserbringer über die Zielerreichung berichten und auch die leistungsberechtigte
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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Person bzw. ihr Vertreter soll gehört werden (vgl. a.a.O., 11). Darauf aufbauend wird dann der Ist-Zustand neu ermittelt, so dass der Gesamtplan fortgeschrieben werden kann (vgl. a.a.O., 11). Der fertige Gesamtplan dokumentiert nun das gesamte Verfahren und umfasst deshalb einige Punkte mehr als in der Empfehlung von 1999 (vgl. a.a.O., 7). Zum einen sollen weiterhin die notwendigen Informationen zu den geplanten Maßnahmen festgehalten werden, wie sie die BAGüS bereits in der Vorgängerempfehlung benannt hatte. Darüber hinaus soll der Gesamtplan aber ergänzt werden um Aussagen zur bisherigen Entwicklung und bereits durchgeführten Maßnahmen. Festgehalten wird eine Beschreibung der Ist-Situation, die Zielvereinbarung mit dem behinderten Menschen und eine Konkretisierung der Ziele für einzelne Leistungen, der ermittelte Bedarf, die Überprüfung der Zielerreichung und Wirksamkeit der Maßnahmen und gegebenenfalls die Fortschreibung der Hilfeplanung. Bei stationären Leistungen ist zudem eine Einstufung in eine Hilfebedarfsgruppe nach dem HMB-W oder einem anderen Verfahren notwendig (vgl. a.a.O., 11). Im Vergleich zum Vorgängerpapier zeigt sich hier nun eine deutliche Trennung zwischen Hilfebedarfserfassung und Hilfeplanung, sowie eine deutliche Fokussierung auf individuelle Ziele, die mit den Maßnahmen erreicht werden sollen. Zudem nimmt die Frage der Qualitätssicherung einen wesentlich größeren Raum ein. Dabei wird der Ergebnisqualität gegenüber der Struktur- und Prozessqualität besondere Bedeutung beigemessen. Die Grundlogik der Qualitätssicherung wird zunächst fallbezogen und im Hinblick auf die im Einzelfall erbrachten Leistungen definiert. Sie unterscheidet sich nicht von der Grundlogik, die der Gesamtplanung selbst zu Grunde gelegt wird: Es wird ein Ist-Zustand ermittelt, dieser in Bezug zu einem erwünschten Soll-Zustand gesetzt und daraus Handlungsweisen zur Qualitätssicherung- und Verbesserung abgeleitet (vgl. a.a.O., 14). In zusätzlichen Controllingverfahren wird zudem die wirtschaftliche Effizienz von gewährten Leistungen überprüft (vgl. ebd). Die Summe vieler einzelfallbezogener Qualitätsmessungen und das Controlling der wirtschaftlichen Kennzahlen ermögliche dann die Einschätzung der Qualität einer Einrichtung, d.h. eines Leistungserbringers. Es wird zwar darauf hingewiesen, dass ein solches Qualitätskonzept innerhalb der Sozialverwaltungen bestimmte organisationale Strukturen benötige, z.B. den adäquaten Umgang mit personenbezogenen Informationen. Es fällt aber auf, dass das Verständnis der Qualitätssicherung sich nur auf die Bewertung der gewährten Leistungen und Qualität ihrer Durchführung bezieht. Nicht im Fokus der Qualitätssicherung stehen die Qualität des Gesamtplanverfahrens und seiner Instrumente selbst sowie die organisationalen Bedingungen des Sozialhilfeträgers im Leistungsprozess. Die vorläufige Empfehlung der BAGüS von 2007 wurde bisher nicht abschließend bestätigt, insofern hat sie keinen verbindlichen Charakter und kann nur als Momentaufnahme gesehen werden. Sie beruht allerdings weitgehend auf den zu diesem Zeitpunkt praktizierten Gesamtplanverfahren, wie sich an der Liste der für die Empfehlung verwendeten Materialien zeigt (vgl. BAGüS 2007, 18). Sie stellt insofern keine Zukunftsvision dar, sondern repräsentiert den zu diesem Zeitpunkt aktuellen Stand üblicher Verfahren. Sie kann zudem als Versuch der Standardisierung interpretiert werden, an dem sich andere Bundesländer orientieren sollten, in denen es zu diesem Zeitpunkt noch kein elaboriertes Verfahren gab.
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
6.2.4.3 Empfehlung des Deutschen Vereins von 2009 Da im Frühjahr 2008 nach Ansicht des Deutschen Vereins noch immer eine Vielzahl von Instrumenten und Verfahren zur Hilfeplanung gerade im Bereich ambulanter Hilfen existierten, erscheint es dem Deutschen Verein geboten, ebenfalls eine Empfehlung zur Bedarfsermittlung und Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe herauszugeben (vgl. Deutscher Verein 2009b, 1). Die Empfehlung bezieht sich allerdings nicht explizit auf eine Hilfeform (ambulant, teilstationär oder stationär), sondern besitzt den allgemeinen Wirkungsanspruch, „dass die Bedarfsermittlung und Hilfeplanung sich zu einer teilhabeorientierten und personenzentrierten Eingliederungshilfe weiterentwickeln und der Konversionsprozess von einem an Leistungsformen orientierten zu einem personenzentrierten Unterstützungssystem voran getrieben wird“ (vgl. a.a.O., 2). Dazu werden zunächst die rechtlichen Grundlagen der Bedarfsermittlung und Hilfeplanung beschrieben. Dabei werden nicht nur die relevanten Einzelvorschriften des SGB XII, sondern auch die weiteren Kontexte aus dem SGB IX, sowie SGB VII und XI erläutert (z.B. Leistungsansprüche, Beratungsansprüche, Leistungen der Frühförderung, Persönliches Budget). Die vorgeschlagenen Verfahrensschritte unterscheiden sich kaum von der vorläufigen Empfehlung der BAGüS von 2007: Nach der Feststellung der rechtlichen Voraussetzungen für die Leistungsbewilligung erfolgt die Bedarfsermittlung, deren Methodik allerdings konkret benannt wird: „Die Bedarfsermittlung erfolgt verfahrenstechnisch durch ein sog. Instrument, z.B. einen Erhebungsbogen oder einen strukturierten Gesprächsleitfaden, der von der Person, die die Bedarfsermittlung durchführt, in der Regel zusammen mit dem behinderten Menschen erarbeitet wird. Die bei dieser Erhebung verwendeten Instrumente basieren auf wissenschaftlichen Methoden.“ (a.a.O., 7)
An die Bedarfserhebung schließt sich die eigentliche Hilfeplanung an. Dabei werden, so der Deutsche Verein, unterschiedliche Verfahren eingesetzt. Am Ende der Hilfeplanung steht der Hilfeplan, anhand dessen der Leistungsträger seine Entscheidungen über individuelle Hilfeleistungen in qualitativer und quantitativer Hinsicht fällt und anhand dessen die Einrichtungen die im Einzelfall notwendigen Leistungen planen können (vgl. a.a.O., 8). Der Deutsche Verein schlägt zudem die Einrichtung von ‚Hilfe- oder Teilhabeplankonferenzen‘ vor. Dabei betont er deutlicher als die BAGüS die Möglichkeit der Verknüpfung von sozialraumbezogener Planung und individueller Hilfeplanung durch solche Konferenzen, zu denen (auch wenn dies im Ermessen des Sozialhilfeträgers steht) andere Leistungsträger und potenzielle Leistungserbringer eingeladen werden können (vgl. a.a.O., 8 f). Abgeschlossen wird das Hilfeplanverfahren schließlich mit dem Bewilligungsbescheid des Sozialhilfeträgers. Etwas unstimmig erscheint hier der Aufbau der Empfehlung: Einerseits soll sie der Weiterentwicklung der Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe dienen und Maßstäbe für künftige Verfahren formulieren. Andererseits wird sehr ausführlich ein typisches Verfahren auf der Basis bereits vorhandener Konzepte in den Bundesländern beschrieben, ohne dass kritische Aspekte benannt werden. So entsteht der Eindruck, das hier beschriebene typische Verfahren sei Bestandteil der Empfehlungen für die künftige Weiterentwicklung, die tatsächlich aber erst im vierten Abschnitt des Papiers erfolgen.
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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Die Empfehlungen werden durch die Formulierung von ‚Maßstäben’ strukturiert, die vor allem fachliche Weiterentwicklungen der vergangenen Jahre aufgreifen sollen:
Personenzentrierung und Unabhängigkeit von Leistungs- und Vergütungsformen, Mitwirkung des Menschen mit Behinderung, Zielorientierung, ICF-Orientierung, Berücksichtigung von Selbsthilfe und Sozialraum, Lebensweltorientierung, Lebenslagenorientierung, Transparenz, Evaluation und Qualitätssicherung, Interdisziplinarität und Multiprofessionalität, Fachliche Fundierung, Integrierte Verfahren (vgl. a.a.O., 10 ff).
Es fällt auf, dass die formulierten Maßstäbe durch Fachbegriffe z.B. der Sozialarbeit und den Sozialwissenschaften verschlagwortet werden, aber in den Erläuterungen ein sehr verkürztes Verständnis dieser Schlagworte deutlich wird. So wird der Begriff der ‚Lebensweltorientierung‘ (vgl. a.a.O., 13) in der Weise konkretisiert, dass die Verfahren für die Hilfeplanung in unterschiedlichen Lebensbereichen miteinander kombinierbar gestaltet sein sollten. Tatsächlich geht der Begriff der ‚Lebensweltorientierung‘, der von Thiersch in der sozialen Arbeit etabliert wurde, erheblich weiter: Nach Thiersch u.a. (vgl. Thiersch/ Grunwald/ Köngeter 2002) sollen die Selbstdeutungen und selbstentwickelten Problemlösungen der betroffenen Personen von professionellen Helfern respektiert werden und müssen in die Entwicklung von Hilfearrangements einbezogen werden. Thiersch betont deshalb, dass der Respekt vor fremden Lebensentwürfen und deren Akzeptanz eine Standardisierung professioneller sozialer Hilfen erschwert. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Lebensbereiche alleine stellt deshalb eine Verkürzung des Begriffs ‚Lebensweltorientierung‘ dar. Ähnlich wird auch der Begriff des Sozialraums verkürzt verwendet: In den Empfehlungen des Deutschen Vereins wird unter dem Schlagwort ‚Berücksichtigung von Selbsthilfe und Sozialraum‘ die Mobilisierung der Ressourcen des Menschen mit Behinderung und/ oder seines sozialen Umfeldes thematisiert (vgl. Deutscher Verein 2009b, 13). Der Begriff des Sozialraums beinhaltet aber nicht notwendiger Weise und nicht ausschließlich die Unterstützung von freiwilligen und informellen Helfer/innen im sozialen Nahraum einer Person. Der Begriff entstammt weniger der problemlösungsorientierten Sicht der Sozialen Arbeit, sondern stellt ursprünglich einen Beschreibungsbegriff in den Sozialwissenschaften dar. Er impliziert zudem für die Soziale Arbeit eine Abkehr von der Personenzentrierung hin zu einer Fokussierung auf die Potenziale eines Gemeinweisens (vgl. Kessl/ Reutlinger 2007, 37 ff). Insofern kann eine personenzentrierte Gesamtplanung nicht zugleich den Anspruch der ‚Sozialraumorientierung‘ erfüllen, die eben die personenzentrierte Perspektive überwindet, auch wenn beide Konzepte sich idealerweise aufeinander beziehen. Dennoch ist in den Maßstäben deutlich der Versuch zu erkennen, nicht nur die rechtlichen und administrativ/ organisatorischen Fragen und wirtschaftlichen Effizienzfragen zu thematisieren, sondern den Fokus stärker auf eine inhaltliche Diskussion der Hilfeplanver-
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
fahren zu richten. Darüber hinaus stellen die Empfehlungen einen Versuch dar, die unterschiedlichen Ansprüche an Hilfeplanverfahren zu konkretisieren. Dazu gehört auch ein Glossar relevanter Begriffe im Rahmen der Hilfeplanung am Ende der Empfehlungen, die zugleich zu einer Vereinheitlichung der Sprachregelungen beitragen sollen. Die Konkretisierungen bleiben allerdings auf der Ebene der programmatischen Benennung von möglichen Umsetzungsbereichen, so dass die Maßstäbe wenig geeignet erscheinen, bestehende Verfahren zu evaluieren oder sich bei der Einführung neuer Verfahren daran zu orientieren. 6.2.4.4 Hilfeplankonzepte von Leistungsträgern Die frühesten Verfahren zur Gesamtplanung wurden in Hessen und Hamburg entwickelt. Das Hamburger Modell (Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999) orientiert sich dabei an den Ergebnissen eines Modellversuchs des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, unterscheidet sich davon aber in der Reichweite der fachlichen Auseinandersetzung mit den individuellen Hilfebedarfen. Bereits Ende der 1990er Jahre unternahm der Landeswohlfahrtsverband Hessen mit dem Pilotprojekt ‚Qualitätskonzept für die Einzelfallhilfe im Landessozialamt’ erste Versuche, im Sinne des ‚Neuen Steuerungsmodells’ ein einzelfallbezogenes Management einzuführen (vgl. Bahl et al. 2009 Kap. 1). Diese Maßnahme ist auch im Zusammenhang mit dem zu dieser Zeit eingeführten Controllingkonzept der Gesamtorganisation des LWV zu sehen. Nach dem Pilotprojekt wurden weitere Modellgebiete einbezogen und das Projekt zu einer Erprobungsphase (November 2001 bis April 2003 (vgl. Bahl et al. 2009, Kap 2.1)) ausgebaut, mit der die Potenziale des im Pilotprojekt entwickelten Verfahrens „zur wirkungsorientierten Steuerung in der Behindertenhilfe in Hessen“ (ebd.) ausgelotet werden sollten. Zunächst wurden in der Erprobung alle ‚Neufälle’ im Bereich des ‚stationären Wohnens‘ aufgeteilt auf fünf ‚Zielgruppenmanagements’ für unterschiedliche Behinderungsarten (vgl. Bahl et al. 2009, Kap 2.1). Im Ablauf orientiert sich dann das hessische Modell an den von Michel-Schwartze beschriebenen Schritten des Case-Managements (vgl. Abschnitt 6.1.2; vgl. Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 62). Das „Gesamtkonzept über die Erprobungsphase bei der Erstellung von Gesamtplänen“ sieht folgende Arbeitsschritte vor (vgl. Bahl et al. 2009, Kap 3): Bei Neuanträgen sollte zunächst eine ‚Erstermittlung’ in Form eines strukturierten Interviews mit der Antrag stellenden Person und eine Bedarfserhebung mit dem HMB-W Bogen durch ein/e Sachbearbeiter/in aus der Fachgruppe ‚Begutachtung’ des LWV stattfinden. Dabei sollten schon aus den Ergebnissen der Bedarfserhebung erste mögliche Ziele formuliert werden. Daran schließt sich das Gesamtplangespräch zwischen Anwender/in (der/die Sachbearbeiter/in des LWV, die den Gesamtplan erstellt) und der Antrag stellenden Person möglichst in der Wohnung oder Einrichtung der Antrag stellenden Person an. Der LWV erhoffte sich durch die persönlichen Kontakte zwischen Antragstellern/innen und Sachbearbeitern/innen, dass diese „Verantwortung für die Qualität und Angemessenheit benötigter Hilfen“ übernehmen würden (Bahl et al. 2009, Kap 3.1.3). „Die Einzelfallsachbearbeiter/innen lassen sich im Gesamtplanverfahren auf individuelle Problem- bzw. Lebenssituationen ein.“ (Ebd.) Im Gesamtplangespräch sollen die Ziele für die jeweiligen Leistungen formuliert werden, da sie die Grundlage für die Hilfeplanung der Leistungserbringer darstelle (vgl. a.a.O. Kap 3.1.3.2). Dabei werden Fern- und Nahziele unterschieden. Diese
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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werden dann als schriftlicher Gesamtplan im Anschluss an das Gespräch der Person zur Zustimmung und Unterschrift zugesandt (vgl. a.a.O. 3.1.4). „Die Zielvereinbarungen (Teil 3 und 4 des Gesamtplans) werden den beteiligten Personen (z.B. sozialer Dienst, Gruppenleiter, der behinderte Mensch, Mutter, Vater oder gesetzliche Betreuer, Betreuer im Wohnheim) zusammen mit einer Erklärung zugeschickt. Diese Teile des Gesamtplans beschreiben den Kontrakt, den die Beteiligten zur Eingliederung des behinderten Menschen miteinander geschlossen haben. Sie sind Grundlage für die nächsten Gespräche und Vereinbarungen.“ (Kronenberger/ Brinkmann/ Hassenzahl 1999, 65).
Um den Gesamtplan am Ende des Planungszeitraums fortschreiben zu können, wurde darüber hinaus ein standardisierter Entwicklungsbericht entworfen, der von den Leistungserbringern unter Beteiligung der Antragsteller ausgefüllt werden soll (vgl. a.a.O. 3.1.5). Seit Januar 2005 werden darüber hinaus nicht nur Gesamtplangespräche durchgeführt, sondern auch, wenn es um Hilfen in betreuten Wohnmöglichkeiten geht, zielgruppenspezifische Hilfeplan- bzw. Belegungskonferenzen mit Vertretern der Leistungserbringer und Vertretern der Sozialleistungsträger in jeder Kommune durchgeführt (Hessisches Sozialministerium/ Hessischer Landkreistag/ Hessischer Städtetag/ Landeswohlfahrtsverband Hessen § 10 Abs. 1 u. 2) und damit eine Schnittstelle zur kommunalen Angebotsplanung geschaffen. Funktion der Belegungskonferenzen ist es, über die Aufnahmen von Antragsteller/innen im Zuständigkeitsgebiet der Belegungskonferenz unter Berücksichtigung von Hilfeplänen und Gesamtplänen zu beraten und eine Empfehlung für den Leistungsträger auszusprechen. Dadurch sollen die Belegungskonferenzen Bedarfslücken erkennen können und frei werdende Plätze rechtzeitig an den LWV mitteilen. Durch die Belegungskonferenzen sollen schließlich die Kooperation und Vernetzung von Einrichtungen und Diensten in ihrem Zuständigkeitsgebiet gestärkt werden. (Vgl. a.a.O. § 10 Abs. 3) Auch die Autoren/innen des Hamburger Modells betonen die arbeitsteilige Kooperation von Leistungsträgern und Leistungserbringern, da der Leistungsträger nach dem Gesetz nur dafür zuständig sei, Art, Form und Maß der notwendigen Hilfen festzulegen, aber die konkrete Ausgestaltung der Hilfen die Aufgabe der Leistungserbringer sei (vgl. Gitschmann/ Offermann/ Tumuschat-Bruhn 1999). Der Gesamtplan des Leistungsträgers muss jeweils durch eine pädagogische Planung der Einrichtungen konkretisiert und ergänzt werden (vgl. a.a.O. 366). In der Phase der Antragstellung und Gesamtplanung selbst solle aber Einfluss potenzieller Einrichtungen durch ein strukturiertes Verfahren möglichst reduziert werden, um die eigenen Steuerungsmöglichkeiten zu bewahren. Insgesamt erscheinen die beiden Konzepte aber ähnlich und stimmen auch mit neueren Konzepten anderer Bundeländer in zentralen Punkten überein (beispielsweise der Gesamtplanprozess für das Land Berlin, nach Klatt 2006, 66 f), so dass ihnen eine Vorbildfunktion für Konzepte anderer Leistungsträger unterstellt werden kann. Nach Ansicht des Deutschen Vereins waren im Jahr 2008 im teilstationären und stationären Bereich vor allem fünf Instrumente besonders verbreitet, wie auf der Fachkonferenz ‚Instrumente der Bedarfsermittlung und der Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe‘ im April 2008 festgestellt wurde (vgl. Deutscher Verein 2009b; 1 und 22 ff):
Hilfebedarf von Menschen mit Behinderungen im Bereich ‚Wohnen‘ (HMB-W) und im ‚Bereich Gestaltung des Tages‘ (HMB-T) (Dr. Heidrun Metzler, Forschungsstelle ‚Lebenswelten behinderter Menschen‘, Universität Tübingen)
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger Integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP) (Aktion Psychisch Kranke) Teilhabeplanung (THP) (Land Rheinland-Pfalz) Individuelle Hilfeplanung (IHP) (Landschaftsverband Rheinland) Integrierte Teilhabeplanung (ITP) (Landeswohlfahrtsverband Hessen)
Aufgrund der behaupteten Bedeutung dieser Verfahren für die ‚Hilfeplanlandschaft‘ in Deutschland sollen auch diese Verfahren exemplarisch für andere von Leistungsträgern verwendete Verfahren in der BRD vorgestellt werden: Der Bogen zum ‚Hilfebedarf von Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen (HMBW) wurde bereits in Abschnitt 6.2.2 vorgestellt. Der Bogen stellt kein Hilfeplaninstrument dar (vgl. auch Grampp 2005, 77 f), sondern ist als eine Reaktion auf die gesetzliche Anforderung der Gruppenbildung zu verstehen, die sich tatsächlich zunächst nur auf den stationären Wohnbereich bezog (vgl. Abschnitt 5.2.6). In der Anwendung hat es sich deshalb in einzelnen Einrichtungen und Diensten als sinnvoll erwiesen, zunächst eine ausführliche und sorgfältige Hilfeplanung durchzuführen, bevor eine ‚Einstufung‘ in eine Hilfebedarfsgruppe mit dem HMB-W Bogen vorgenommen wird. Dazu sei exemplarisch auf das Konzept ‚Hilfe nach Maß‘ verwiesen, das eine Verknüpfung zwischen dem Hilfeplanverfahren der Leistungsträger, der individuellen Betreuungsplanung in der Einrichtung und den Organisationsprozessen der Wohneinrichtung leisten soll (vgl. Kröger 2000, 2001; Beck/ Lübbe 2003, 51). 19 Auch ‚Hilfe nach Maß‘ eignet sich nicht zu einer Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe durch den Leistungsträger, sondern stellt ein institutionenorientiertes Qualitätssicherungsinstrument von Leistungserbringern dar (s.a. Abschnitt 7.3). Insofern erscheint die Zuordnung des HMB-W Verfahrens zu den gängigen Hilfeplanverfahren der Leistungsträger durch den Deutschen Verein unpräzise. Auch der ‚Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan‘ (IBRP) (vgl. Aktion Psychisch Kranke 2005) ist originär kein Verfahren eines Leistungsträgers, sondern wurde 1997 von einer Expertenkommission der Aktion Psychisch Kranke (APK) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit entwickelt. Ursprünglich sollten lediglich Grundlagen für die Personalbemessung (und damit für die Grundlagen von Finanzierung) der vielfältigen und regional sehr unterschiedlichen Leistungen im gemeindepsychiatrischen Hilfesystem erarbeitet werden (vgl. Krüger/ Kunze/ Kruckenberg 2001). Zentral war dabei ein Verfahren zur Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf. Entstanden ist schließlich ein Mehr-Ebenen-Modell, welches eine umfassende Reform gemeindepsychiatrischer Versorgung zum Ziel hat. 19
An dem HMB-W Bogen wurde vielfach kritisiert, dass er zu wenig differenziert ist, implizit auf ein institutionelles Setting abzielt und lediglich den aktuellen Bedarf abbildet (vgl. ebd.; Kolbe 2006, S. 188f). Tatsächlich muss diese Kritik aber weniger auf die konzeptionelle Anlage, als vielmehr auf eine davon abweichende Anwendungspraxis bezogen werden. Grundsätzlich geht dem HMB-W keine Zuordnung zu einem ambulanten oder stationären Wohnsetting voraus. Zudem zielen die mit dem HMB-W vorgenommenen Einstufungen nicht auf einen aktuellen Hilfebedarf ab, sondern erfassen denjenigen Hilfebedarf, der sich erst im Zusammenhang mit individuellen Zielvorstellungen ergibt. So wird in den ‚Hinweisen zum Verständnis des Fragebogens zum ‚Hilfebedarf‘ erläutert: „Bei der Einstufung des Bedarfs einer Person sollte dabei darauf geachtet werden, den Bedarf hinsichtlich der angestrebten Ziele anzugeben, nicht die momentan geleisteten Hilfen (es sei denn, Bedarf und Leistungen sind identisch).“ (Metzler b 2001, 3) Metzler hat zudem selbst darauf hingewiesen, dass ihr Verfahren zur Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf keinesfalls unmittelbar zur Kostenkalkulation herangezogen werden kann (vgl. Metzler 1998, 64).
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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Der IBRP, ein Element dieses Modells, grenzt sich bewusst vom HMB-W Bogen ab, welcher nach Ansicht der Autoren des IBRP nicht für die Erfassung des Hilfebedarfs von Menschen mit psychischen Erkrankungen geeignet ist (vgl. Gromann 2002, 5) und zudem eine einrichtungsbezogene Perspektive widerspiegelt, die zu einer Fortschreibung fremdbestimmender Hilfestrukturen führt (Krüger/ Kunze/ Kruckenberg, 194). „Wesentlich für das hier dargestellte Verfahren des IBRP ist, dass dieser den Anspruch hat, sowohl für die konkrete Hilfeplanung mit dem Klienten, als auch die regionale Kooperation und Bedarfsplanung wie auch für die Leistungsabrechnung und Dokumentation mit den Kostenträgern verwendbar zu sein.“ (Grohmann 2002, 6) Auf der Ebene der Erbringung von Hilfen begründet das Verfahren jede Hilfeleistung mit den Erfordernissen der Lebenslage, den Bedarfen und den Bedürfnissen der Klienten im Hinblick auf ihre gewünschte Lebensform. Deshalb soll es in der konsequenten Umsetzung dazu führen, dass die üblichen Verfahrensweisen der jeweiligen Einrichtungen und Dienste zugunsten individueller Absprachen und Begründungen verändert werden (z.B. müssen alle Beteiligten des IBRP an einer Gesprächsgruppe teilnehmen) (vgl. a.a.O., 4). Individuelle Hilfeplanung wird vom AKP als ein Verfahren verstanden, in dem mit dem Klienten und allen beteiligten Therapeuten und Helfern ein gemeinsamer Gesamtplan abgestimmt wird (AKP 2003, 36). Das Verfahren basiert auf dem Gedanken des CaseManagements (vgl. Cramer 2002) und gliedert sich entsprechend in mehrere Teilschritte (Grohmann 2002, 3):
„Erarbeiten und Zusammentragen von Informationen zum bisherigen und gewünschten Lebensfeld der Klientin / des Klienten Erkennen von aktuellen Ressourcen und Problemen Festlegung konkreter Hilfeziele in einem definierten Zeitraum (Selbsthilfe, Hilfen im persönlichen Umfeld, allgemeine soziale und medizinische Hilfen und fachpsychiatrische Hilfen) Abstimmung der Planung mit allen Beteiligten, Bündelung der Hilfen und Festlegen der Durchführungs- und der Prozessverantwortung koordinierte Durchführung und Dokumentation Bewertung der Ergebnisse der Hilfen, Fortschreibung und/ oder Veränderung der Hilfeplanung (danach erneuter Beginn bei 1).“
Das Hilfeplanverfahren im personenzentrierten Ansatz des AKP umfasst dazu folgende organisatorische Elemente: Eine koordinierende Bezugsperson, die bereits regelmäßig in die Hilfeerbringung für die betroffene Person eingebunden ist, soll einen Ansprechpartner einrichtungsübergreifend für alle Beteiligten darstellen, die notwendigen Informationen zur Verfügung stellen und den Planungsprozess koordinieren (vgl. AKP 2003, 44). Dazu kann bei Bedarf eine Personenkonferenz einberufen werden, an der alle aktuell beteiligten Therapeuten teilnehmen können. Personenkonferenzen sollen den weiteren Planungsprozess vorbereiten und beschleunigen, indem unterschiedliche Positionen vorab ausgetauscht werden und nach Lösungen gesucht wird (vgl. a.a.O., 42). Das Verbindungsstück zur Angebotsplanung stellt dann die Hilfeplankonferenz dar (vgl. a.a.O., 42 f), zu welcher der Leistungserbringer für Hilfen zur Teilhabe, der sozialpsychiatrische Dienst, die versorgungsverpflichteten psychiatrischen Klinik(en), die Wohnungslosenhilfe und der zuständige Leistungsträger in der Region regelmäßig Vertreter entsenden. In der Hilfeplankonferenz werden zum einen die aktuellen Belegungszahlen in den Einrichtungen der Region ausgetauscht, zum anderen die aktuell anstehenden Hilfepläne vorgestellt und nach kurzer Dis-
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
kussion besprochen. Es ist vorgesehen, dass dabei für jeden Hilfeplan ca. 20 Minuten zur Verfügung stehen. Im Ergebnis wird eine Empfehlung für den Leistungsträger über die zu bewilligenden Maßnahmen ausgesprochen. Zudem beinhaltet das Hilfeplanverfahren des AKP einen mehrseitigen Hilfeplanungsbogen, der von einer Fachkraft einer Einrichtung mit der betroffenen Person ausgefüllt wird. In diesem Bogen werden zunächst die langfristigen Lebensziele der Person und ihre allgemeine aktuelle Lebenssituation festgehalten. Im zweiten Schritt werden konkrete Ziele zur Veränderung oder Stabilisierung der aktuellen Lebenssituation benannt (vgl. Peukert 2006, 183). Im dritten Schritt werden mit Hilfe einer strukturierten Itemliste Aspekte der psychischen Erkrankung, der Aufnahme und Gestaltung sozialer Beziehungen, sowie der sozialen Lebensfelder ausgewählt und daraufhin bewertet, ob sie Fähigkeiten oder Fähigkeitsstörungen bzw. Beeinträchtigungen der Person darstellen. Für die ausgewählten Items wird dann festgestellt, ob nicht-psychiatrische Hilfen aktiviert werden können oder welche Arten von psychiatrischen Hilfen erforderlich sind. Peukert betont, dass es sich bei diesem vollstandardisierten Itemsatz um einen Gesprächsanlass, keine streng abzuarbeitende Liste handeln soll (vgl. a.a.O. 186). Nun werden die Ergebnisse des standardisierten Bogens (Ressourcen, Beeinträchtigungen und benötigte professionelle Hilfearten) mit den zuvor benannten Zielen der Person in Beziehung gesetzt und in möglichst konkrete Unterstützungsideen übersetzt. Erst danach geht es darum, funktionell-sozialrechtliche Zusammenhänge zu berücksichtigen und die Leistungsträgerschaft zu klären (vgl. a.a.O. 187). Die einzelnen Hilfen werden schließlich durch eine Gesamtbetrachtung der bisherigen Arbeitsschritte in funktionale Einheiten zusammengefasst, die es ermöglichen, die relevanten Lebensbereiche der Person und die funktionellen Ziele des Sozialrechts aufeinander abzustimmen (vgl. ebd.). Allerdings fehlen konkrete Hinweise, wie dies geschehen soll. Vielmehr bleibt es der Fachlichkeit der Mitarbeiter/innen sozialer Dienste geschuldet „die funktionellen Einheiten zu bestimmen und dies gegenüber den Leistungsträgern zu vertreten“ (ebd.). Das umfassende Strukturkonzept, in das der IBRP eingebaut ist und die verschiedenen Prozesselemente stellen eine Bereicherung der Diskussion um die Individuelle Hilfeplanung auch im Bereich der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung dar, denn der IBRP setzt stark auf die Beteiligung der Leistungsberechtigten und hat das gemeinsame Gespräch aller Beteiligten als neues Element in die Verfahren eingebracht. Allerdings wirft das Konzept auch Fragen für eine Einsetzbarkeit für verschiedene Zielgruppen auf: Die Kritik der AKP gegenüber dem HMB-W Bogen, für seelische behinderte und psychisch kranke Menschen nicht geeignet zu sein, muss grundsätzlich umgekehrt auch für den IBRP im Hinblick auf Menschen mit geistiger Behinderung als Frage formuliert werden. Die Angemessenheit dieses Verfahrens aus dem Kontext gemeindepsychiatrischer Versorgung für andere Zielgruppen wird allerdings kaum diskutiert 20. Die medizinisch-psychiatrische 20
Die Frage der Vergleichbarkeit stellt sich im Hinblick auf verschiedene Dimensionen wie die Selbstvertretungspotenziale der Leistungsberechtigten bzw. Unterstützungsbedarf im gesamten Planungsprozess gegenüber Leistungsträgern und Leistungserbringern; möglicher Unterstützungsbedarf im Entwickeln von Zielen und Lebensperspektiven; kognitive Kompetenzen zur Einschätzung der Bedeutung und möglichen Wirkungen des Hilfeplanverfahrens und der eigenen Rolle darin; der vermutlichen Dauer des Unterstützungsbedarfs; der Lebensbereiche, in denen Unterstützung erforderlich scheint; persönliche und umweltbedingte Barrieren (z.B. verbale und schriftliche Verstehens- und Ausdrucksmöglichkeiten, Bildungshintergrund, Barrieren in realen und virtuellen Räumen); des Umfangs notwendiger Unterstützung; benötigte fachliche Kompetenzen der potenziellen Leistungserbringer; des weiteren sozialen Umfeldes und Netzwerkes (dazu auch Schwarte 2005).
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
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Ausrichtung verweist sowohl auf Unterschiede in den Hilfebedarfen der Zielgruppen, wie auch auf Unterschiede in den zielgruppenspezifischen Institutionen und Organisationen. Die starke Fokussierung auf die Bildung ‚multiprofessioneller Teams‘ und die Bedeutung von ‚Expertenmeinungen‘ sind zudem im Hinblick auf ihre Wirkungen auf die behinderten Personen und ‚ihres Falls‘ kritisch zu befragen. Sie mag im Bereich psychischer Erkrankungen vor allem in Akut-Phasen wichtig und sinnvoll sein und ist überdenkenswert im Hinblick auf die Lebenslage geistig behinderter Personen. Das Verfahren zur Individuellen Hilfeplanung des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen in Rheinland-Pfalz wurde 2002 von Engel (ISG Köln - Sozialforschung und Gesellschaftspolitik) und Schmitt-Schäfer (transfer – Unternehmen für soziale Innovation, Wittlich) entwickelt (vgl. Engel/ Schmitt-Schäfer 2002). Es basierte ursprünglich auf dem IBRP und dem HMB (Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Frauen 2005, 11), wurde aber seither überarbeitet (2005 und 2009) und 2007 in Teilhabeplanverfahren umbenannt, obwohl die konzeptionelle Weiterentwicklung des Hilfeplanverfahrens in das künftige Teilhabeplanverfahren (THP) derzeit noch nicht abgeschlossen ist. Das ‚alte‘, aber derzeit noch verwendete Hilfeplanverfahren soll als Bestandteil der Gesamtplanung sowohl im Rahmen der Eingliederungshilfe für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen, als auch im Rahmen der Hilfen für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten angewendet werden (Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Frauen 2005, 13 ff). Zudem kann die Hilfeplanung der WfbM in den Teilhabeplan integriert werden. Auch dieses Verfahren gliedert sich in folgende Schritte (vgl. a.a.O., 1 f): Wird dem Leistungsträger durch eine nachfragende Person selbst oder durch einen Leistungserbringer ein Fall bekannt, prüft er zunächst die rechtlichen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung. Der Leistungserbringer, der Allgemeine Sozialdienst (ASD), die Sozialpsychiatrischen Dienste bei den Gesundheitsämtern oder einschlägige Beratungsstellen werden dann beauftragt, mit der leistungsberechtigten Person einen Hilfeplan zu erstellen (vgl. a.a.O., 14). Dazu gibt es ein vier Bögen umfassendes Formularpaket, in dem zunächst im Mantelbogen allgemeine Daten zur Person und ihrer derzeitigen Unterstützungssituation notiert werden (vgl. a.a.O., 42 ff). Der erste Hauptbogen dient dann zur Konzipierung grundsätzlicher Zielsetzungen für die Lebensbereiche Wohnen, Arbeit/ Beschäftigung/ Ausbildung/ Schule, Freizeit, soziale Beziehungen und Gesundheit (vgl. a.a.O., 51 ff). Dazu wird auch die Lebenssituation der Person innerhalb dieser Lebensbereiche geschildert. Dabei werden die Sichtweisen des Fachdienstes und der leistungsberechtigten Person getrennt erfasst, genauso wie bei der darauf folgenden Aufzählung von Hindernissen für die Erreichung der Grundsatzziele. Schließlich werden Meilensteine der Zielerreichung im Sinne von Zwischenzielen benannt. Der zweite Hauptbogen soll Interessen, Fähigkeiten, Ressourcen und Beeinträchtigungen der Person in den Themenbereichen Basis- und Selbstversorgung, Alltagsbewältigung, Tages- und Freizeitgestaltung, Umgang mit der eigenen Person, Arbeit/ Beschäftigung/ Ausbildung/ Schule, Soziales und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten erfassen (vgl. a.a.O., 58 ff). Dazu können bis zu 34 Merkmale, die den Themenbereichen untergeordnet sind, bearbeitet werden. Der dritte Bogen bildet den eigentlichen ‚Aktionsplan‘ (vgl. a.a.O., 65 ff): Die einzelnen Meilensteine werden nun konkretisiert in Ergebnisziele, die im kommenden Planungszeitraum realisiert werden sollen. Dazu werden die jeweils notwendigen Hilfen eingetragen. Die Hilfen werden im Hinblick daraufhin präzisiert, von wem (Privates oder familiäres Umfeld, allgemeine soziale oder
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
medizinische Hilfen, Fachliche Hilfen) und wo die Hilfen erbracht werden sollen und wie viele Stunden pro Woche und Leistungserbringer für die jeweilige Hilfeleistung veranschlagt werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, zwischen Gruppen- und Einzelleistungen zu differenzieren, sowie geplante Therapie- und Trainingsmaßnahmen anzugeben (Therapiemaßnahmen sind hier in der Regel befristete Maßnahmen anderer Träger, Trainingsmaßnahmen sind konkrete, befristete und systematische Fördermaßnahmen). Der Leistungsträger prüft im nächsten Schritt den ermittelten Hilfebedarf und die vorgeschlagenen Hilfen und bringt den Fall in eine regelmäßige Teilhabekonferenz ein, die das eigentliche Kernstück des Verfahrens darstellt. Die Teilhabekonferenz wird vom Leistungsträger geleitet. Er lädt die leistungsberechtigten Personen, deren Hilfepläne zur Erörterung anstehen, von ihnen ernannte Personen ihres Vertrauens, ihre gesetzlichen Vertretungen, die Leistungserbringer für die Region, sowie beratende Dienste ein (vgl. Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen o.J.; 2). „Die wesentliche Funktion der Teilhabekonferenz besteht darin, eine effektive und effiziente sowie fachlich sich auf dem aktuellen Stand befindende verantwortbare, wirtschaftliche Umsetzung von Hilfen für behinderte Menschen sicherzustellen.“ (Ebd.) Der Leistungsträger erstellt schließlich den abschließenden Teilhabeplan und verschickt den Bewilligungsbescheid für die damit verbundenen Eingliederungshilfeleistungen an die Hilfe suchende Person bzw. einen von ihr benannten Leistungserbringer. Die Weiterentwicklung der Verfahrens der Individuellen Hilfeplanung zum THPVerfahren ist derzeit noch nicht abgeschlossen (vgl. Diehl 2008, Folie 10), zumal sich die Träger der Sozialhilfe noch nicht mit den Verbänden der Einrichtungen auf Landesebene über Rahmenverträge für Leistungs-, Vergütungs- und Prüfvereinbarungen einigen konnten. Die Zielvorstellung des Ministeriums stellt ein „konsistentes und modernes System der Behindertenhilfe [dar; I.N.], das aus der an den persönlichen Zielen und Bedarfen der behinderten Person ausgerichteten, individuellen Teilhabeplanung, den Teilhabekonferenzen und einem einheitlichen Finanzierungssystem für ambulant und stationär erbrachte Leistungen bestünde“ (Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Frauen 2009, 42). Diskutiert wird derzeit, das Verfahren der Leistungskalkulation für ambulante Hilfen so weiter zu entwickeln, dass es auch für teilstationäre und stationäre Hilfen angewendet werden kann. Individuellen Leistungsansprüche werden dann auf der Basis des Betreuungsbedarfs in Stunden mit Werten für einzelne Leistungskomplexe verrechnet, die zuvor mit den Leistungsträgern vereinbart wurden (Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Frauen 2005, 78). Die Leistungskomplexe können analog zu den Themenbereichen der Individuellen Hilfeplanung entwickelt werden und ein festes Set von konkreten Hilfeleistungen umfassen. Künftig soll das Teilhabeverfahren dann im Aktionsplan einen vorab festgelegten Leistungskatalog beinhalten, in dem der wöchentliche Stundenbedarf der Person je Leistung eingetragen und anteilig je Leistungserbringer kalkuliert wird. Auf die Zuordnung von Leistungsfällen zu Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf könnte dann sowohl bei ambulanten, wie auch bei teilstationären und stationären Hilfen in RheinlandPfalz künftig verzichtet werden, da das THP-Verfahren keine empirisch belegbare und valide Bildung von Gruppen ermöglicht (vgl. Diehl 2008, Folie 9). Auch das ‚Individuelle Hilfeplanverfahren (IHP) des Landschaftsverbandes Rheinland‘ (LVR) wurde von Schmidt-Schäfer (transfer – Unternehmen für soziale Innovation, Wittlich) fachlich begleitet (vgl. LVR o.J., 9). Tatsächlich basieren Instrument und Verfahren
6.2 Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen
167
des Landschaftsverbandes nicht nur auf dem IBRP und HMB, sondern explizit auch auf dem Verfahren in Rheinland-Pfalz (vgl. a.a.O., 17). Allerdings bezieht sich das Konzept hier ausschließlich auf Hilfen zum Wohnen, während in Rheinland-Pfalz die Individuelle Hilfeplanung Bestandteil eines Gesamtplanverfahrens ist. Die Individuelle Hilfeplanung wird hier nicht nur als ein Instrument für die eigene Fallsteuerung angesehen, sondern als Schnittstelle zur Förder- und Betreuungsplanung der Leistungserbringer im Sinne einer Rahmung der pädagogischen Arbeit betrachtet (vgl. a.a.O., 30 f). Sie soll damit eine Verbindung zu den Qualitätssystemen der Leistungserbringer herstellen über die gemeinsame Orientierung an den Bedürfnissen und Wünschen der betroffenen Menschen mit einer Behinderung und über die Sammlung von Informationen (vgl. a.a.O., 29). Das Verfahren des LVR gliedert sich grob in die bereits aus anderen Konzepten bekannten Schritte: 1. Ausfüllen der Bogen durch die beeinträchtigte Person gemeinsam mit einem Fachdienst oder einer beauftragten Beratungsstelle. 2. Hilfeplangespräch mit einem/r zuständigen Mitarbeiter/in des Landschaftsverbandes. 3. Vorstellung des ‚Falls‘ und Formulierung des Maßnahmevorschlags in einer regelmäßigen Hilfeplankonferenz mit lokalen Vertretern von Leistungsträgern und Leistungserbringern. 4. Bescheid durch den Landschaftsverband. Das Hilfeplaninstrument setzt aus einem Satz von vier Erhebungsbögen zusammen. Sie erfassen die Grunddaten zur Person, die angestrebte Wohnform und allgemeine Ziele, sowie der derzeitigen Lebenssituation und Problemlagen, die Fähigkeiten, Ressourcen und ihrer Beeinträchtigungen und die zu beantragenden Leistungen. Eine Besonderheit des Konzeptes des LVR ist, dass mit der Förderung von so genannten Koordinierungs- Kontakt- und Beratungsstellen für Menschen mit geistiger Behinderung (KoKoBe) auch in eine entsprechende Infrastruktur investiert wird. Das Ziel der unabhängigen Beratung erscheint zwar auch hier noch nicht abschließend erreicht, da die KoKoBe als Gemeinschaftsprojekte verschiedener Leistungserbringer vor Ort geführt werden, aber sie stellen dennoch eine neue institutionelle Struktur da, die erst mit Einführung der Individuellen Hilfeplanung notwendig geworden war. Da das Konzept des SchwesterLandschaftsverbandes zum LVR, das Hilfeplanverfahren des LWL, in Unterkapitel 11.3 vertiefter vorgestellt und diskutiert werden soll, wird hier auf die Darstellung von weiteren Details verzichtet. Der ‚Integrierte Teilhabeplan‘ (ITP) des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen soll vor allem eine Umsetzung der ICF in der Hilfeplanung für alle Leistungstypen und in verschiedenen Lebensbereichen gewährleisten. Da sich der ITP noch in der Erprobungsphase befindet, liegen Informationen bisher nur begrenzt vor 21, dennoch können einige Aussagen zum vorläufigen Stand Konzeptes getroffen werden. Der ITP stellt im Wesentlichen eine Weiterentwicklung des IBRP dar und soll künftig den alten IBRP für Menschen mit seelischen Behinderungen, sowie den Integrierten Hilfeplan (IHP Hessen), einem eigenen Instrument des LWV für Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen (auf der Basis des HMB-W) in betreuten Wohnmöglichkeiten ersetzen. 21 Die ITP-Bögen befinden sich im Internet unter: http://www.dhg-kontakt.de/tagungen.htm [04.07.2009]. Ein Manual für Fachkräfte im Unterstützten Wohnen befindet sich im Internet unter http://www.lagwohnen.de/~upload/documents/562_manual_itp_hessen_09_290409.pdf [12.10.2009]. Die Dokumentation eines Fachgesprächs, zu dem die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft Vertreter des LWV und Leistungserbringer eingeladen hatte, lässt sich unter http://www.dhg-kontakt.de/tagungen.htm [04.07.2009] finden.
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
Das Kernstück des ITP bildet ein Erhebungsbogen (vgl. Landeswohlfahrtsverband Hessen 2008), in dem neben Sozialdaten und Informationen zur bisherigen Lebens- und Betreuungssituation zunächst allgemeine Ziele eines künftigen Betreuungsarrangements formuliert werden sollen. Dann werden die aktuelle Lebenssituation und Teilhabeprobleme beschrieben. Im vierten Schritt werden Ziele und Indikatoren der Zielerreichung für unterschiedliche Lebensbereiche stichwortartig benannt. Auf der nächsten Seite des Formulars erfolgt die eigentliche Planung von Hilfen, indem zunächst Ressourcen in der Lebenssituation der Person im Sinne von Umweltfaktoren aufgeführt werden. In einem nächsten Schritt sollen die persönlichen Fähigkeiten und Beeinträchtigungen der Person eingeschätzt werden. Dazu wird eine Liste vorgegeben, die aus einer Auswahl und Überarbeitung von Items der ICF aus den Klassifikationsbereichen ‚Körperfunktionen‘, sowie ‚Aktivitäten und Partizipation‘ besteht. Die Items sind entweder als Fähigkeit anzukreuzen oder im Umfang ihrer Beeinträchtigung einzuschätzen. Im Gegensatz zum Klassifikationsschema der ICF sind dabei aber nicht nur die Items für Körperfunktionen, sondern auch die Items für Aktivitäten und Partizipationsmöglichkeiten im Ausmaß ihrer Beeinträchtigung nach einem Punktesystem zu bewerten. Die Auswahl der Items wird im Einzelnen nicht begründet und berücksichtigt nicht ausreichend mögliche Beeinträchtigungen der Partizipation und Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung oder Körperbehinderungen. So bleibt beispielweise unklar, weshalb kein einziges Item der ICF für die Beeinträchtigungen der Teilhabe und Partizipation im Bereich der Kommunikation (Items d310–d369 der ICF) berücksichtigt wird. Auch Beeinträchtigungen der Teilhabe und Partizipation im Bereich der Mobilität (Items d410– d499 der ICF) bleiben im ITP mit zwei Items deutlich unterrepräsentiert 22. Hier fehlen Begründungen für die wenig differenzierte Erfassung von typischen Beeinträchtigungen der Teilhabe und Partizipation von Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen im Vergleich zur Erfassung möglicher Beeinträchtigungen anderer Zielgruppen. Bezogen auf die Itemliste werden im nächsten Arbeitsschritt die Art der vorhandenen oder zu aktivierenden Hilfen im sozialen Umfeld, sowie die Art der notwendigen professionellen Hilfen angegeben. Schließlich werden daraus konkrete notwendige Maßnahmen beschrieben und ihr zeitlicher Umfang eingeschätzt. Die fehlenden Bereiche in dem Itemset wirken sich unmittelbar auf die Möglichkeiten aus, spezifische Maßnahmen für spezifische Beeinträchtigungen der Teilhabe zu formulieren. Eine Stellungnahme der leistungsberechtigten Person bildet den Abschluss des Erhebungsbogens. Der Bogen ermöglicht zudem auf einem weiteren Blatt die Überprüfung der Zielerreichung und eine Kopplung von Eingliederungshilfen im betreuten Wohnen mit Hilfen der beruflichen Eingliederung. Der hier vorgenommene Überblick zeigt, dass sich die Verfahren in ihren zentralen Prozessschritten stark ähneln. Insbesondere die regelmäßige und auf einen begrenzten Sozialraum konzentrierte ‚Hilfeplankonferenz‘ scheint stark verbreitet zu sein. Der Vergleich mit den Verfahren in den Stadtstaaten Hamburg und Berlin zeigt allerdings auch, dass das Instrument der Hilfeplan-/ oder Teilhabeplankonferenz nicht flächendeckend praktiziert wird. Die in der Regel mit der Unterstützung von Fachdiensten (Leistungserbringern) auszufüllenden Formulare weisen einen unterschiedlich hohen Grad der Standardisierung auf, allerdings ist ihnen eine Aufteilung gemeinsam, die zwischen allgemeinen personen- und leis22 So entsprechen im ITP lediglich die Items I-d (‚gehen’) dem Item d450 (‚gehen’) der ICF und Item III-k (‚Transportmittel benutzen’) dem Item d470 (‚Transportmittel benutzen’) der ICF.
6.3 Zusammenfassende Aspekte
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tungsbezogenen Daten, der augenblicklichen Lebenssituation, Zielsetzungen, Hilfebedarfen und schließlich Maßnahmen unterscheidet. Unterschiedlich ist dagegen die Reihenfolge dieser Bereiche. Damit wird deutlich, dass der Zusammenhang von Lebenssituation, Zielen, Hilfebedarfen und Maßnahmen unterschiedlich begründet wird und keinesfalls einen gemeinsamen Argumentationszusammenhang aller Verfahren darstellt. Dieser Zusammenhang scheint also noch immer unklar und nicht ausreichend fachlich begründet zu sein. Darüber hinaus bestehen Unterschiede darin, wie groß das Bemühen um die aktive Partizipation der Betroffenen im Verfahren sich bereits im Instrument und in den Verfahrensanweisungen wiederspiegelt oder wie sehr es dem individuellen Engagement der Beteiligten überlassen bleibt. Ebenso wird die Frage unterschiedlich gehandhabt, wie sehr die Leistungserbringer als Experten und Fürsprecher, aber auch als wirtschaftlich agierende Auftragnehmer der Leistungsträger an den jeweiligen Verfahren beteiligt werden. Eine weite Verbreitung der fünf vorgestellten Instrumente, wie vom Deutschen Verein behauptet, konnte in eigenen Recherchen nur zum Teil bestätigt werden. Der Deutsche Verein räumt zwar ein, dass auch weitere Instrumente für die Bedarfsfeststellung und Hilfeplanung im Bereich der teilstationären und stationären Hilfen vorhanden seien, diese seien aber weniger stark verbreitet oder würden auf den fünf wichtigen Instrumenten mit kleinen Veränderungen basieren (vgl. DV 2009, 1). Ein solches Fazit erscheint fragwürdig. Der HMB (bzw. HMB-W) und der IBRP sind tatsächlich bundesweit am stärksten verbreitet und scheinen die beiden zentralen Grundformen der Hilfeplanung für Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu sein. Sie spiegeln sich in anderen, neueren Konzepten wieder, auch wenn sich bei der Frage von Gewichtungen, Zuordnungen, Prozessschritten usw. durchaus Unterschiede zeigen. Es muss deshalb von einer besonderen Bedeutung dieser beiden Verfahren für die bisherige Entwicklung von Hilfeplanverfahren in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen ausgegangen werden. THP und IHP (Rheinland) besitzen eine konzeptionelle Nähe zum HMB-W, auch wenn das Punktesystem zur Gewichtung von Items und die starke Strukturierung nicht übernommen wurden. Inwieweit der HMB-W Bogen als Instrument für die Bildung und Zuordnung von Hilfebedarfsgruppen für die künftige Weiterentwicklung bedeutsam sein wird, bleibt aber abzuwarten (s.a. Kapitel 5: Nachtrag:). Auch der ITP in Hessen erscheint weniger als eine konzeptionelle Neuerung, denn als Versuch, den IBRP auf Menschen mit geistiger Behinderung anzuwenden. Der ITP befindet sich noch in der Erprobung und kann deshalb genauso wenig wie der THP in Rheinland-Pfalz über das jeweilige Bundesland hinaus verbreitet sein, wie der Deutsche Verein postuliert. Insofern bleibt abzuwarten, welche Wirkung diese Konzepte künftig für die Weiterentwicklung von Verfahren in anderen Bundesländern haben werden. 6.3 Zusammenfassende Aspekte Im vorliegenden Kapitel konnte gezeigt werden, dass die Einführung Individueller Hilfeplanung durch Leistungsträger mit äußeren Modernisierungserfordernissen begründet wird, die sich einerseits aus steigenden Ausgaben und Fallzahlen in der Sozialhilfe ergeben, aber auch mit Globalisierungstendenzen und einer Konkurrenz von Nationen, Regionen und Kommunen als Wirtschaftstandorte begründet werden. Daraus ergibt sich das ‚innere Modernisierungserfordernis‘, die Sozialverwaltung, stärker unternehmensförmig zu organisie-
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
ren und in den Innen- wie Außenbeziehungen Angebots- und Nachfragesituationen zu schaffen, die Sozialverwaltung als Dienstleistung erscheinen lassen. In dieser Argumentation sind deutliche Parallelen zu dem von Foucault in den Vorlesungen zur Gouvernementalität erfassten Wechselverhältnis zwischen dem Wettbewerb der Nationen und den Strategien zur Regierung der Bevölkerung zu erkennen (vgl. Foucault 2004a). Sozialverwaltung als Dienstleistung beinhaltet eine ‚Regierungsweise‘, die auf Kontrakte vermeintlich gleichberechtigter Partner in den Innen- und Außenbeziehungen setzt. Die Vertragspartner müssen dazu mit Freiheiten und Rechten ausgestattet sein, was aber zugleich eine Individualisierung von Verantwortung nach sich zieht. Dadurch wird direkte Kontrolle weitgehend überflüssig, da die Kontraktpartner auch die Regeln der Überprüfung der Einhaltung von Vertragsinhalten selbst aushandeln und die Systeme der Kontrolle selbst entwickeln. In diesem allgemeinen Modernisierungszusammenhang wird seit Anfang der 1990er Jahre auch die Einführung der Hilfeplanung in der Sozialhilfe für ‚schwierige Fälle‘ diskutiert. Hilfeplanung wird als Möglichkeit zur Kosteneinsparung benannt und eng mit dem allgemeinen Ziel der Sozialhilfe, die Unabhängigkeit der Leistungsbezieher von staatlichen Hilfen zu erreichen verknüpft. In den Diskussionen der Sozialhilfe wird Gesamtplanung vor allem als Aktivierung der Leistungsberechtigten durch Beratung verstanden. Als Modell dient dabei der Gedanke des Case-Managements, welches klare Zielsetzungen erfordert, eine lineare Folge von Prozessschritten beinhaltet und eine Klärung von Zuständigkeiten der Beteiligten erfordert. Allerdings wird eine technokratische Anwendung des CaseManagement Konzeptes von einigen Autoren auch kritisch betrachtet. Sie verweisen auf strukturelle und organisationale Probleme der Sozialverwaltungen, sowie auf eine grundsätzlich andere Wirkungslogik Sozialer Arbeit. Die Beratung im Rahmen der Hilfeplanung müsse vielmehr an der Lebenslage der Leistungsberechtigten ansetzen und ihre subjektiv empfundene Lebenswirklichkeit einbeziehen. Beratung in der Gesamtplanung, so wird deutlich, kann mit Foucault als subjektivierende Praktik verstanden werden, welche die Selbstverantwortung und Eigeninitiative der Leistungsberechtigten thematisiert und das Ziel verfolgt, eine effiziente Selbstoptimierung bei den Leistungsberechtigten zu fördern. Mit der Einführung der Hilfeplanung für ‚schwierige Fälle‘ in der Sozialhilfe und den Modernisierungstendenzen der Sozialverwaltungen erfährt auch die Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe, welche als Regelinstrument gesetzlich vorgeschrieben ist, aber kaum angewandt wurde, neuen Auftrieb. Auch hier wird als Begründung die Kosten- und Fallzahlenentwicklung herangezogen. Als Rechtfertigung für die Umsetzung der Gesamtplanung wird auch ein gewandeltes Verständnis vom behinderten Menschen als Kunden im Sinne des Neuen Steuerungsmodells verwendet. Die Sozialleistungsträger verstehen sich zunehmend als Interessenvertretung für Menschen mit Behinderungen und Interessenvertretung der Bevölkerung (die durch die Sozialabgaben das Hilfesystem finanziert), woraus sie umfassende Steuerungsbefugnisse ableiten. So wird die Gesamtplanung deutlich als Bestandteil eines umfassenden Steuerungsprogramms konzipiert. Die Gesamtplanung soll dabei sowohl Kernstück der Einzelfallsteuerung, als auch Basis der Angebotssteuerung sein. So soll sie durch eine verbesserte Effizienz der bewilligten Leistungen zu passgenauen Hilfen und zugleich Kosteneinsparungen im Einzelfall führen und einen Beitrag zur Qualitätsprüfung und zum betriebswirtschaftlichen Controlling der Leistungserbringer durch die Leistungsträger leisten. Die Zielsetzungen der Gesamtplanung und die ihr zugrunde liegen-
6.3 Zusammenfassende Aspekte
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den Prinzipien scheinen dabei in den Diskussionen zu verschwimmen und werden zunehmend gleich gesetzt. Gesamtplanung steht in der Argumentation der Sozialhilfeträger im Zentrum einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen Leistungsträgern, Leistungserbringern und Menschen mit Behinderungen. Diese realisiert sich in Vereinbarungen, Verträgen und Empfehlungen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern, welche durch die gesetzlichen Neuerungen als dominierendes Steuerungsmittel eingeführt wurden. So nehmen die Strukturen des Hilfesystems im Zusammenhang mit der Individuellen Hilfeplanung den Charakter von Selbstverpflichtungen an, die in Verhandlungen und Kompromissbildungen entwickelt werden. Landesrahmenverträge, die Leistungstypen und Hilfebedarfsgruppen festlegen, stellen wesentliche Strukturierungsmomente der weiteren Entwicklungen in den Bundesländern dar, die auf gemeinsamer Aushandlung von Verbänden der Leistungsträger und Leistungserbringer beruhen. Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen sind an diesen Verhandlungen nicht beteiligt. Stattdessen werden die dort getroffenen inhaltlichen Strukturierungen über Expertenwissen aus wissenschaftlichen Gutachten und Expertisen abgesichert. Die Ergebnisse der Verhandlungen bekommen auf diese Weise den Charakter ‚objektiven Wissens‘, sind aber wesentlich auch auf Handlungsdruck, fehlende Alternativen, Interessenschwerpunkte und Möglichkeiten der Durchsetzung von Interessen durch die Akteure geprägt. Durch die getroffenen Regelungen wird es möglich, eine Passung zwischen individuellen Bedarfslagen von Menschen mit Behinderungen und vorhandenen Angeboten herzustellen, indem beide in analoge Systematisierungsschemata überführt werden. Angebot und Nachfrage werden auf diese Weise nicht marktförmig, sondern vertraglich reguliert. Die Notwendigkeit einer individuellen Planung von Hilfen wird so weniger erforderlich, da eine quasi natürliche Folge von Hilfebedarf und Auswahl eines Leistungstyps entsteht. Stattdessen steigt aber das Erfordernis einer systematischen Hilfebedarfsfeststellung, um eben diese Passung zum Leistungstypensystem zu ermöglichen. Dazu werden Selbstauskünfte der Betroffenen als Techniken des subjektivierenden Bekenntnisses in den Einstufungs- und Hilfebedarfserhebungsverfahren notwendig (wie im folgenden Kapitel noch deutlicher werden wird). Durch die umfassende Überprüfung und Dokumentation der Fähigkeiten und Schwächen, Lebensgewohnheiten und Eigenschaften wird eine Positionszuweisung der Individuen in Hilfebedarfsgruppen ermöglicht. Der Vergleich der im Laufe der Zeit von der BAGüS und dem DV herausgegebenen Empfehlungen skizziert eine Entwicklung, welche den Gesamtplan von einer relativ einfachen Auflistung der notwendigen Hilfen und der erforderlichen Kooperationen mit anderen Leistungsträgern immer weiter ausbaut zu einem umfassenden Dokument über die Stärken und Schwächen der Leistungsberechtigten, ihrer weiteren Lebenszusammenhänge und prognostizierten Entwicklung. Ende der 1990er Jahre standen vor allem rechtliche und administrative Fragen zur Gesamtplanung im Raum. In der Nachfolgempfehlung wird der Gesamtplan dann in ein umfassendes System der Fallsteuerung, Gesamtsteuerung und Qualitätskontrolle durch den Sozialleistungsträger eingebettet und der Gesamtplanung ein Phasenablaufmodell zu Grunde gelegt. Die Empfehlungen des Deutschen Vereins wiederholen weitgehend diese Schwerpunktsetzungen. Darüber hinaus listen sie umfassende inhaltliche Kriterien auf, die im Gesamtplan zu berücksichtigen sind. Die Entwicklung scheint geprägt von dem Versuch der Klärung offener Fragen, aber auch einer stärkeren Standardisierung und Angleichung
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6 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungsträger
vorhandener Konzepte. Gesamtplanung wird zum zentralen Steuerungsinstrument ausgebaut und dafür einerseits mit anderen Steuerungsinstrumenten verknüpft, andererseits immer mehr erweitert und ausdifferent. Mit dem Ausbau steigen aber auch die Anforderungen an das Subjekt, die notwendigen Informationen zu liefern und an diesem Prozess aktiv mitzuarbeiten. So entwickelt sich die Gesamtplanung zu einem Aktivierungs- und Steuerungsinstrument behinderter Menschen. Tatsächlich, so konnte im letzten Abschnitt des Kapitels herausgearbeitet werden, gibt es große konzeptionelle Übereinstimmungen zwischen vielen Verfahren, bei zahlreichen Detailunterschieden. Der Zusammenhang von Lebenssituation, Zielen, Hilfebedarf und Maßnahmen scheint bislang noch nicht geklärt, denn sie werden in den Instrumenten in unterschiedlicher Reihenfolge erfragt. In den Ablaufschritten scheint der wesentliche Unterschied in den Konzepten darin zu bestehen, ob zusätzlich zum Hilfeplangespräch noch eine Hilfeplankonferenz einberufen wird. Als vermeintlich unabhängiges und interdisziplinäres Gremium stellt sie ein Bindeglied zwischen den Interessen des behinderten Menschen und den Interessen des Gemeinwesens dar. Sie ist einerseits geeignet, individuelle Unterstützungssettings zu entwickeln, andererseits kann sie aber auch zu einem Instrument normierender Ordnung werden, indem hier ‚schwierige‘ Fälle in die bestehende Angebotsstruktur eingeordnet werden. Unterschiede bestehen zudem in dem Ausmaß, inwieweit aus einer Hilfebedarfsfeststellung durch die Umrechnung von Punktwerten unmittelbar der Umfang von Hilfen berechnet wird (häufig in der Anwendung des HMB-W), oder ob kein unmittelbarer Zusammenhang angenommen wird, der dann aber diskursiv in Verhandlungen hergestellt werden muss (Ansatz im THP Rheinland-Pfalz und im IBRP). IBRP und HMB-W bilden – insgesamt betrachtet – die zentralen Grundmuster von Hilfeplankonzepten durch die Leistungsträger. Es zeigt sich eine besonders prägende Wirkung dieser Konzepte für die Entwicklung von Hilfeplanverfahren der Leistungsträger und damit für die Entwicklung der Beziehungen zwischen Leistungsträger, Leistungserbringer und Menschen mit Behinderungen.
7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer
In ihrer Expertise ‚Individuelle Hilfeplanung. Anforderungen an die Behindertenhilfe‘ stellten Beck und Lübbe 2002 fest, dass es kaum möglich erscheint, einen Überblick über die Vielzahl der in der Praxis verwandten Instrumente von Leistungserbringern zu gewinnen. Als Erklärungen nannten sie die schwierige Veröffentlichungslage und Zugänglichkeit (Veröffentlichungen als ‚graue Literatur‘, die in öffentlichen Bibliotheken und dem Buchhandel kaum geführt werden), die Vielfalt der in der Praxis verwendeten Begriffe für vergleichbare Instrumente und Konzepte (z.B. Individuelle Hilfeplanung, Betreuungsplanung, Individuelle Teilhabeplanung, Persönliche Zukunftsplanung) und die recht unterschiedliche Bereitschaft von Einrichtungen, von ihnen entwickeltes Material für vergleichende Untersuchungen zur Verfügung zu stellen. Auch deshalb nahmen die Autorinnen keine umfassende Auswertung aller bekannten Instrumente vor, sondern verglichen ausgewählte Instrumente nach selbst entwickelten Kriterien, um eine „Orientierung in der unübersichtlichen ‚Hilfeplanungslandschaft‘ zu ermöglichen“ (Beck/ Lübbe 2002, 8). Diese Befunde werden durch die eigenen Recherchen bestätigt (vgl. auch Kapitel 4). Während Beck und Lübbe allerdings Konzepte verglichen, die von Einrichtungen für die pädagogische Praxis entwickelt wurden, soll in dem Bewusstsein, damit selbst einen Beitrag zur Konstruktion des Dispositivs zu leisten und damit die Beschreibungsebene zu verlassen, das folgende Kapitel auch die Diskussionslinien und Entwicklungen aufzeigen, die die Entstehung dieser Konzepte beeinflusst haben. Dabei werden die Aussagen vor allem von hochrangigen Vertretern der Verbände gemacht. Es steht also weniger die Beschreibung einzelner Instrumente im Vordergrund, als vielmehr der Versuch, diese im Zusammenhang mit den mit ihnen verknüpften Interessen und Intentionen zu sehen. Im Folgenden soll deshalb zunächst aufgezeigt werden, inwiefern die Leistungserbringer die Diskussionslinien der Leistungsträger seit Mitte der 1990er Jahre aufgegriffen haben und in welcher Weise Konzepte Individueller ‚Hilfe-, Betreuungs- oder Begleitplanung‘, die von Verbänden und Einrichtungsträgern seither entwickelt wurden, in diesem Zusammenhang zu bewerten sind. 7.1 Entstehungskontexte Individueller Hilfeplanung Bereits mit der Umstellung vom ‚Selbstkostendeckungsprinzip‘ auf ‚prospektive Leistungsvereinbarungen‘ im § 93 BSHG waren Überlegungen laut geworden, um detaillierte Verfahren zu entwickeln, mit deren Hilfe „dieser Hilfebedarf in Zukunft möglichst genau nach Art, Umfang und Qualität beschrieben und preislich bewertet werden“ kann (Sans 1994, 125). Metzler sah einen Zusammenhang zwischen der Entstehung erster Verfahren individueller Hilfebedarfsfeststellung durch Einrichtungsträger allerdings weniger von der Umstellung auf die prospektiven Vergütungssysteme als von der Einführung von Qualitäts-
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7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer
und Prüfvereinbarungen (vgl. 1998, 21 f) und der damit einhergehenden Qualitätsdiskussion beeinflusst (s.a. vgl. exempl. Jantzen/ Lanwer-Koppelin 1999; Speck 1999, 200a, 200b; Walther-Müller 2002; Metzler/ Rauscher 2003; Peterander/ Speck, 2004; Seifert/ Fornefeld/ Koenig 2008; Greving 2003). Dabei spielten, so einige Autoren/innen, auch die seit den 1980er Jahren lauter gewordenen Forderungen Betroffener eine Rolle, die sich zunehmend als Kunden/innen mit einem Anspruch auf qualitativ hochwertige Dienstleistungen verstehen würden (vgl. Nagy 2002a). Mit der Einführung der Maßnahmepauschalen wurde es erforderlich, zur Ermittlung leistungsgerechter Entgelte zu gelangen, die dem Dreiklang „Individueller Hilfebedarf, Wirtschaftlichkeit und Effizienz“ (Fink 1995, 279; vgl. auch Nawrath 1999, 12; Rehn 2000, 2002) gerecht werden könnten. Für Kolbe ist zudem die politische Vorgabe relevant, dass jegliche Weiterentwicklungen unter der Bedingung der Kostenneutralität erreicht werden mussten, obwohl zu prognostizieren war, dass die Bedarfe aufgrund des steigenden Durchschnittsalters von Menschen mit Behinderungen künftig zunehmen würden (vgl. Kolbe 2006, 188; dazu auch Carroll 2001, 81 f). Auch Urban verwies schon 2000 darauf, dass mit dem steigenden Kostendruck der Leistungsträger diese den Interessen der Leistungserbringer vermehrt Anforderungsprofile gegenüberstellen. Fink fasst diese Diskussionsstränge, die für ihn die Auseinandersetzung um den Begriff des ‚leistungsgerechten Entgelts‘ charakterisieren, folgendermaßen zusammen: „Damit die Leistungen gewährt und die Kosten übernommen werden, die erforderlich (und damit gerechtfertigt) sind, muss vom individuellen Anspruch der Person ausgegangen werden. Damit die Kosten den Leistungen entsprechen, muss Wirtschaftlichkeit und Effizienz gewährleistet sein. Damit schließlich der individuelle Hilfebedarf nicht nur wirtschaftlich und effizient, sondern auch gerecht und menschenwürdig definiert und befriedigt wird, müssen Qualitätsstandards gesetzt werden.“ (Fink 1995, 279)
Fink weist allerdings auf vier Grundsatzprobleme aus Sicht der Leistungserbringer hin, die sich mit der Umstellung auf prospektive Leistungsvereinbarungen für die Einrichtungen stellen (vgl. a.a.O., 280): Er befürchtet, dass mit der Forderung nach mehr Transparenz in der Eingliederungshilfe die Leistungsträger auch mehr Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung der Arbeit erhalten. Dieser Einfluss geht dann auf Kosten der Spontaneität, Flexibilität und Innovationsfähigkeit der Einrichtungen. Fink bezweifelt zudem, dass ein individueller Leistungsanspruch oder individueller Hilfebedarf objektivierbar ist, dass „persönliche Zuwendung im Gespräch […] nicht im positivistischen Sinne nach Inhalt, Umfang und Qualität objektiv meßbar, darum auch kaum abrechenbar“ (a.a.O., 280) ist. Eine Differenzierung personenbezogener Leistungen kann so in eine verstärkte Arbeitsteilung und Ausfächerung der helfenden Handlung münden, die Fink als horizontale Differenzierung der Leistung bezeichnet. In diesem Punkt stimmt er mit Urban überein, der durch eine Orientierung an den Regelungen der Pflegeversicherung eine Zersplitterung des Hilfearrangements in Lebensbereiche und in Wert- und Zeitanteile befürchtet (vgl. Urban, W. 2000b, 27). Auch Kolbe kritisierte noch 2006, dass eine exakte Umrechnung der Betreuungsleistung in anfallende Kosten nicht möglich ist, weil diese zu komplex ist. Zudem werden die kalkulierten Kosten in der tatsächlichen Betreuungssituation häufig obsolet, weil beispielsweise im Urlaubs- oder Krankheitsfall eingeplante Fachkräfte durch Nicht-Fachkräfte vertreten werden müssen (vgl. Kolbe 2006, 189). Darüber hinaus befürchtet Fink eine vertikale Differenzierung der Leistung, wenn die Leistungen nach Leistungsträgern in Pflegeleistun-
7.1 Entstehungskontexte Individueller Hilfeplanung
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gen und Eingliederungshilfeleistungen unterschieden werden müssten (vgl. Fink 1995, 280). Dobslaw sieht dagegen in der Ermittlung von individuellen Hilfebedarfen einen Beitrag zur Umsetzung des Paradigmenwechsels von fremdbestimmter Versorgung hin zum Assistenzmodell im Hilfesystem (vgl. Dobslaw 2006). Individuelle Hilfeplanung kann ihrer Ansicht nach erfolgreich sein, wenn sie in ein Hilfesystem eingebettet wird, das es ermöglicht, ein passendes Angebot für die spezifische Ausgangssituation der behinderten Person zu finden und das sich wiederum auf die Wünsche und Bedürfnisse von behinderten Personen flexibel einstellen kann (vgl. a.a.O., 94). Bisher hätten allerdings nicht die individuellen Bedürfnisse, sondern die vorhandenen Angebote im Vordergrund von Planungsprozessen gestanden, „bei denen im Einzelfall entschieden wird, welches am ehesten geeignet erscheint oder wo im Zweifelsfall einfach ein Platz frei ist.“ (Dobslaw 2006, 92; vgl. auch Krüger/ Kunze/ Kruckenberg, 194; Urban W. 2000a, 405; 2000b, 22). „Wenn sich sein Hilfebedarf oder seine Bereitschaft zur Mitwirkung an den vorgesehenen Hilfeleistungen ändern, muss er die Einrichtung verlassen und ggf. die Dienste einer anderen Einrichtung in Anspruch nehmen.“ (vgl. Krüger/ Kunze/ Kruckenberg, 194). Dabei ist der Druck auf die Leistungsträger nur gering, Angebote, die zwar von Nutzer/innen gefordert werden, aber noch nicht vorhanden sind, zu schaffen, weil sie auf bestehende Verträge mit den Leistungserbringern verweisen können. Den Leistungsberechtigten bleibt dann häufig nur, ihren Rechtsanspruch auf dem Einzelfall angemessene Hilfen einzuklagen, oder den Hilfebedarf aus dem vorhanden Einrichtungsangebot zu decken (vgl. Urban, W. 2000a, 406; 2000b, 24). Urban weist hier auf erhebliche Nachfrageverzerrungen hin, weil fehlende Alternativen im Einzelfall dazu führen, aus dem vorhandenen (stationären) Angebot auszuwählen, anstatt diejenigen Hilfen einzufordern, die den individuellen Bedarf tatsächlich decken können (Urban, W. 2000b, 22). Menschen mit Behinderungen haben dann lediglich an der konzeptionell vorgesehenen Form der Eingliederung teil. Urban spitzt die Kritik am bestehenden Hilfesystem zu, wenn er meint, dass Begriffe wie Kunden- bzw. Nutzerorientierung und -beteiligung bisher eher zur Gewissensberuhigung denn zu einem wirklichen Wechsel der Sichtweisen beigetragen haben (vgl. Urban, W. 2000a, 404). In diesem Zusammenhang werden aber von anderen auch Chancen durch Individuelle Hilfeplanungen diskutiert, die in einer Professionalisierung des Feldes liegen können, weil die Mitarbeiter/innen durch Beschäftigung mit der Nutzer/innen ihre Arbeit besser verstehen und auf fachlichen Überlegungen aufbauen können („Abschied von der Zufallspädagogik“) (vgl. Siemssen 2000, 54; AKP 2005, 45). Die zentrale Bedeutung von Hilfeplangesprächen für die fachliche Weiterentwicklung der Mitarbeiter/innen in Wohneinrichtungen wird hier betont, die durch ein Hilfeplanverfahren sich oftmals erstmalig mit den Interessen und Bedürfnissen der Nutzer/innen aus deren Perspektive befassen (vgl. Kröger 2001, 85 f). Aktuell wird insbesondere die große Bandbreite unterschiedlicher Konzepte Individueller Hilfeplanverfahren (der Leistungsträger) kritisiert, weil dadurch das Prinzip der Gleichbehandlung gefährdet ist (vgl. Conty 2008, 1; s.a. Argumentation des Deutschen Vereins in Abschnitt 6.2.4.3). Für Conty ist deshalb die voranginge Aufgabe der Beteiligten in den nächsten Jahren, über die Formulierung von Anforderungen zu einer Vereinheitlichung von Konzepten zu gelangen. Mögliche konzeptübergreifende, allgemeine Anforderungen für einen solchen Prozess sind seiner Ansicht nach (vgl. a.a.O., 11 ff):
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7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer die Formulierung von Mindeststandards, die Orientierung an den Prinzipien der ICF, die Einführung multidisziplinärer Gutachterdienste für die Feststellung der ‚wesentlichen Behinderung‘ als Leistungsvoraussetzung, die systematische Feststellung des Hilfebedarfs nach ‚rehabilitationswissenschaftlichen‘ Standards eine partizipativ gestaltete, personenzentrierte und ergebnisoffene Hilfeplanung, die vollständige Beratung, Information und Begleitung der Betroffenen (wobei er den Vorwurf, die Leistungserbringer würden lediglich von betriebswirtschaftlichen Interessen geleitet beraten an die Leistungsträger in gleicher Weise zurück gibt), die Wahrung des Wunsch- und Wahlrechts der Betroffenen, die Transparenz und Überprüfbarkeit der eingesetzten Konzepte, und die Sicherstellung von Vertraulichkeit und Schutz der persönlichen Daten.
Kolbe konkretisiert diese Anforderungen mit einem stärkeren Fokus darauf, sowohl den Interessen der Leistungserbringer, wie auch denen der Leistungsträger gerecht zu werden (2006, 189). Demnach muss ein gutes Hilfeplankonzept
„ […] eine Bedarfsermittlung leisten, die eine stabile Bedarfseinschätzung über den Zeitverlauf und unabhängig von der Erbringung durch eine Fachkraft oder NichtFachkraft ermöglicht. Die Einschätzung muss sowohl unabhängig von der Tagesform des Bewohners, als auch dem Ausbildungsstatus des Leistungserbringers sein (mit Ausnahme von einer angemessenen Quote für eine qualifizierte Arzt- und Psychologenleistung). Es muss gesundheitliche und neurotische Erscheinungsformen mitberücksichtigen. Das Erbringungs- und gleichzeitige Messkriterium der Leistung muss demzufolge kein fachkraft- oder zeitabhängiger, sondern ein bedarfsorientierter Intensitätswert der Betreuung sein. Das Verfahren muss außerdem – in der stationären Form – die Erbringung der Einzelleistung innerhalb einer Gruppenleistung berücksichtigen. Jede andere Leistungsform wäre meist ineffizient, deren Berechnung ebenfalls. Das Verfahren darf nicht diskriminierend sein, sondern muss dem politischen und anthropologischen Modell der Teilhabe entsprechen. Aus all diesen Kriterien ergibt sich die Forderung, dass man zunächst eine Vorstellung vom menschlichen Leben an sich und in seinen Formen des Lernens braucht, die es ermöglicht, einem breiten Spektrum von Fähigkeiten und Unfähigkeiten gerecht zu werden. Es muss andererseits so in einem Fragebogen verkürzbar sein, dass es für die tägliche Betreuung Relevanz hat. Ein angemessenes Verfahren zur Feststellung des Hilfebedarfs muss für den Leistungserbringer unbürokratisch, leicht zu verschlagworten und rasch zu berechnen sein – also computergestützt sein. Die bürokratische Anforderung an den Leistungsträger müsste noch geringer sein: die Beschränkung auf die Forderung der dokumentierten Ziele, die entsprechenden Maßnahmepläne der Zielerreichung, deren stichpunktartige Kontrolle und eine einfache Kostenkontrolle, die sich beispielsweise an der budgetgleichen Umstellung des Augenblicks, also immer an einem Teil eines Gesamtetats, orientiert. Das Verfahren muss mit der konkreten Hilfeerbringung und deren Dokumentation verbunden sein. Dies bedeutet: Machbare und erwünschte Leistungen müssen unterschieden werden können.
7.2 Frühe Instrumente der Leistungsbemessung und Qualitätssicherung
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Die betroffenen Menschen müssen weiterhin – wie auch im Individuellen Hilfeplan [des Landes Rheinland-Pfalz; Anmerk. I.N.] vorgesehen – intensiv beteiligt werden. Aus Kostengründen sollte es in der Hilfeplankonferenz zu einer echten Konkurrenz zwischen den Anbietern kommen können. Nur wenn gute Betreuung anerkannt wird, wird sie sich (bei den Nutzern) durchsetzen.“
Abgesehen von kritischen Aussagen einzelner Autor/innen weisen die Aussagen zur Individuellen Hilfeplanung durch Vertreter/innen der Leistungserbringer insgesamt eine große Übereinstimmung mit den Diskussionslinien der Leistungsträger auf. Z.T. stellen sie Gegenpositionen dar, zum Teil stimmen sie mit hier bereits dargestellten Aussagen überein. Einige betonen eher Potenziale und Chancen, die mit der Individuellen Hilfeplanung verknüpft sein können (insbesondere für die Nutzer/innen der Hilfen) andere betonen eher Risiken und Gefahren (besonders für die Angebots- und Finanzierungsstrukturen der Einrichtungen) – in jedem Fall thematisieren aber auch die Leistungserbringer Individuelle Hilfeplanung als Antwort auf die veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen und die daraus abgeleitete Notwendigkeit, die Kostenkalkulation und Ökonomie der Hilfegewährung zu verändern. Häufiger als allgemeine Diskursbeiträge sind aus dem Bereich der Leistungserbringer solche Beiträge, die sich auf die Entwicklung von konkreter Konzepte beziehen, wie beispielsweise die Fachtagungen der DHG 1999 und 2000 (vgl. DHG 2000; 2001) und des Deutschen Vereins (2008) zeigen. Deshalb soll das weitere Augenmerk auch auf die verschiedenen Verfahren gerichtet werden. 7.2 Frühe Instrumente der Leistungsbemessung und Qualitätssicherung Die Leistungserbringer hatten sich ganz unterschiedlich mit den veränderten Anforderungen befasst und erst nach anfänglichem Zögern Mitte des Jahrzehnts konkrete Schritte ergriffen (vgl. BT-Dr. 13/11319), um den gesetzlichen Anforderungen nach mehr objektivierbaren Kriterien des individuellen Bedarfs entgegen zu kommen (vgl. Bradl 2000). Die Zielsetzung dieser frühen Verfahren lag in der Entwicklung von Controllingsystemen, welche die Transparenz der Kosten und Leistungen einer Einrichtung ermöglichen sollten, um dadurch Ansprüche gegenüber den Leistungsträgern geltend machen zu können (vgl. auch Schubert 2000; Eisenreich/ Peters 2006; Greving 2002; Nagy 2002b). Sie sollten vor allem einen Orientierungsrahmen für die Personalbemessung leisten (vgl. Seifert 1997, 92), Exemplarisch seien hier die bekanntesten Konzepte, die in Zusammenarbeit mit den Fachverbänden für ihre Mitgliedseinrichtungen entwickelt wurden, vorgestellt: Der FIL (‚Fragebogen zur individuellen Lebensführung – zur Ermittlung des Hilfebedarfs‘) ist Bestandteil eines Verfahrens zur EDV-gestützten ‚Gestaltung der Betreuung für Menschen mit Behinderungen‘ (GBM) vom Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB): Das GBM-Verfahren wurde seit dem Gutachten von Metzler zu einem umfassenden Qualitätssicherungssystem weiter entwickelt. Es basiert auf einem sog. ‚Modell des Lebens und Lernens‘, das in Anlehnung an die Entwicklungspsychologie Piagets von Haisch (Ursprünglich unter dem Titel ‚Planung und Organisation in der Betreuung‘ (POB)) entwickelt wurde (vgl. Klauß/ Schumm 2001; Kolbe 2006, 189). Geistige Behinderung wird in dem Modell nicht als homogenes psychologisches Konstrukt definiert, sondern über die Abhän-
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7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer
gigkeit von anderen, d.h. über die Hilfebedarfe der Person bestimmt (vgl. Kolbe 2006, 189). Erhoben werden deshalb individuelle Lebensformen, die in sieben aufeinanderfolgenden Stufen gegliedert sind; diesen Lebensformen werden jeweils spezifische Lern- und Betreuungsformen zugeordnet (Metzler 1998, 22). Zunächst werden mit Hilfe des FIL und mit Alltagsbeobachtungen die Lebenssituation und der Betreuungsaufwand des Menschen mit geistiger Behinderung eingeschätzt. Der aktuelle ‚Aufwand‘ der Hilfen ist dabei allerdings vom wirklichen ‚Bedarf‘ an Unterstützung zu unterscheiden (vgl. Kolbe 2006, 188). Im Gespräch mit der behinderten Person wird deshalb dieser Bedarf durch eine Analyse der aktuellen Situation der Person geklärt und anschließend in individuelle Intensitätswerte übersetzt (vgl. 190 f). Es folgt die Erstellung eines individuellen Betreuungsplans (IBP) (vgl. 190). Parallel zu dem individuellen Verfahren werden die Betreuungskosten der Einrichtung für die unterschiedlichen Hilfeleistungen auf der Basis der Ressourcen der Institution und der geleisteten Hilfen kalkuliert. So entstehen durchschnittliche Zeitwerte. Die benötigten Einzelbedarfe werden dann kalkuliert aus den durch die individuellen Intensitätswerte der Person gewichteten durchschnittlichen Zeitwerten der Einrichtung (vgl. 191). Durch diese Methodik soll die Organisation die Möglichkeit erhalten, mit den organisationalen Zeitwerten und individuellen Intensitätswerten nicht nur die eigenen Ressourcen effizient zu steuern. Betont wird dabei die Möglichkeit der computergestützten Datenverarbeitung und Verwaltung im GBM-Verfahren, welches zahlreiche Materialien zur Planung und Dokumentation einrichtungsrelevanter Prozesse enthält (vgl. Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. 2004; Kolbe 2006, 189). Zudem können die Ergebnisse des Verfahrens auch für Vertragsverhandlungen mit den Leistungsträgern genutzt werden. Hilfeplankonferenzen mit mehreren Leistungserbringern können dann z.B. „klären, welcher von diesen in der Lage ist, die erhobenen Bedarfsaussagen […] am preisgünstigsten zu bedienen. Hier würden – bei gleichen Kostensätzen – gute Konzeption, effektive Organisation und qualifizierte Personalausstattung in einem Heim triumphieren.“ (vgl. Kolbe 2006, 191) Kolbe nennt zwar auch Probleme des Verfahrens; so sehe es keine explizite Benennung von Zielen der Betreuung vor, wie es die Hilfeplanung der Leistungsträger verlange (und auch mit der ISO-9001 Norm zur Ermittlung der Anforderungen an ein Produkt vereinbar sei). Diese könne aber in den Verfahrensablauf integriert und durch regelmäßige Zielerfassungsgespräche überprüft werden (vgl. 191). Zudem sei das Verfahren vor allem in der Einführungsphase sehr aufwendig (vgl. ebd.; Seifert 1997, 102). Letztlich würden aber die Vorteile des Verfahrens überwiegen. Der ‚EHB 94‘ (Erhebung zum individuellen Hilfebedarf von Personen mit Behinderung) des Verbands katholischer Einrichtungen für Lern- und Geistigbehinderte (VKELG) (vgl. Bichler 1990; Bichler/ Fink/ Pohl 1995) ist Bestandteil des Qualitätssystems SYLQUE, einem ‚System der Leistungsbeschreibung, Qualitätsbeschreibung, Qualitätsprüfung und Entgeltberechnung‘ (vgl. Fink 1995, 280). Der EHB und seine Vorläufer wurden entwickelt, um dem Verband zuverlässige Zahlen über die Altersstruktur und Behinderungsformen in seinen Mitgliedseinrichtungen zur Verfügung stellen zu können (vgl. Pohl 1995, 9). Das Verfahren der Datenermittlung und Personalbemessung ähnelt dem GBM-Verfahren: Zunächst werden repräsentative Gruppen aus Mitgliedseinrichtungen des Verbandes ausgewählt, die einem zuvor entwickelten Kriterienkatalog zur Beschreibung der Struktur-,
7.2 Frühe Instrumente der Leistungsbemessung und Qualitätssicherung
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Prozess- und Ergebnisqualität der Leistungen der Einrichtungen entsprachen (vgl. Fink 1995, 282). Die Mitarbeiter/innen dieser Gruppen sollen dann für die behinderten Personen Fragebögen über deren individuellen Hilfebedarf (EHB-Bögen) ausfüllen. Der EHB gliedert sich in vier Skalen (Hilfe zur Selbstständigkeit, Hilfe bei der Pflege, Hilfe bei Verhaltensauffälligkeiten und medizinische Hilfen), die durch 36 Items erfasst werden (vgl. ebd.). Jede Einrichtung schickte bei der Entwicklung des EHB einen anonymisierten Datensatz seiner Bewohner/innen an den Verband, der auf diese Weise einen statistischen Überblick über den Hilfebedarf seiner Bewohner/innen gewinnen konnte (vgl. Pohl 1995, 14). Zusätzlich wurden die von den Gruppen erbrachten Personalstunden erfasst, welche die erbrachte personenbezogene Leistung der Gruppen darstellen (vgl. Fink 1995, 282). Mit Hilfe von statistischen Regressionsanalysen wurden dann die Personalstunden in Bezug zu den ermittelten Hilfebedarfen gesetzt. So konnten für die individuellen Hilfebedarfe sogenannte ‚Personenmesszahlen‘ ermittelt werden, die zur Grundlage für die künftige Kalkulation der notwendigen Personalkosten gemacht werden können (vgl. ebd.). Mit dem EHB werden dann die Hilfebedarfe weiterer Bewohner/innen ermittelt und mit den zuvor ermittelten Personenmesszahlen (PMZ) verrechnet. Die Berechnungen mit Hilfe des EHB und der PMZ konzentrieren sich allerdings auf den gegenwärtigen Hilfebedarfs (1997, 100). Deshalb kann der EHB nur begrenzt für eine in die Zukunft gerichtete Hilfeplanung genutzt werden. Auch die Übersetzung der Ergebnisse in pädagogisches Handeln bleibt weitgehdn den Mitarbeiter/innen überlassen (vgl. Grampp 2005, 277). SYLQUE stellt vielmehr ein Qualitätssicherungssystem dar, indem vorab die Qualität der zu erbringenden Leistungen beschrieben und auf die jeweiligen Gruppen übertragen wird (vgl. ebd.). Die Loseblattsammlung der Bestandteile von SYLQUE wurde fortlaufend vom Verband aktualisiert und inzwischen zu einem ‚Qualitätsmanagementsystem‘ (QMS) orientiert an SYLQUE (VKELG 1996) erweitert. Auch ‚FILM‘ (Fragebogen zur individuellen Lebensgestaltung von Menschen mit Behinderungen) der Bundesvereinigung Lebenshilfe entstand vorrangig zu dem Zweck, „auf dieser Grundlage ein System zur Berechnung leistungsgerechter Entgelte nach § 93 Abs. 2 BSHG unter Berücksichtigung des individuellen Hilfebedarfs der jeweils betreuten Menschen zu entwickeln“ (Landesverband Baden-Württemberg der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. 1995). In diesem Modell wird zwischen drei Arten des Bedarfs unterschieden: Die anteiligen fixen ‚Sachkosten‘ beziehen sich auf die Kosten für die Infrastruktur der Einrichtung, Ausstattung usw. pro Person und werden mit dem Leistungsträger separat, d.h. unabhängig vom individuellen Bedarf einer Person verhandelt. Der sogenannte ‚Allgemeine Bedarf’ wird als die durchschnittliche Anwesenheitszeit von Betreuungspersonen in einer Wohngruppe anteilig auf die Bewohner/innenanzahl umgelegt. Es wird bei diesem Posten davon ausgegangen, dass „unabhängig von spezifischen Bedürfnissen nach Betreuung, Förderung und/oder Pflege einzelner Bewohner beim institutionellen Wohnen von Menschen mit geistiger Behinderung […] ein behinderungsbedingter Grundbedarf an Hilfe und Unterstützung [entsteht], der sich aus der Notwendigkeit ergibt, während der Öffnungszeiten der jeweiligen Wohngruppe ständig oder teilweise eine Präsenz von Mitarbeitern zu gewährleisten“ (Landesverband Baden-Württemberg der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. 1995, 6).
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7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer
Darüber hinaus besteht ein von den einzelnen Personen abhängiger ‚Spezifischer Hilfebedarf‘ in den Bereichen ‚Gestaltung des Lebensraumes‘, ‚körperliches und psychisches Wohlbefinden‘ und ‚Zugang zu neuen Lebensräumen‘ (vgl. Landesverband BadenWürttemberg der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. 1995, 7). Mit Hilfe des FILM wird der spezifische Bedarf jedes Bewohners/ jeder Bewohnerin in diesen drei Bereichen auf einer Skala von vier bis fünf Stufen eingeschätzt (vgl. ebd.). Seifert hebt hervor, dass mit FILM nicht nur quantitative Dimensionen abgefragt werden, sondern vor allem die Form der benötigten Unterstützung erfragt wird, also Anleitung, Begleitung, Aufsicht, Kontrolle, Beratung oder Gespräch (vgl. Seifert 1997, 103). Weiterentwicklungen dieses Fragebogens sind nicht bekannt, obwohl sich Metzler bei der Entwicklung ihres Erhebungsbogens an den Bedarfsbereichen des ‚FILM‘ orientiert (vgl. Metzler 1998, 53). Das P-A-C (Progressive Assessment Chart) von Günzburg und Günzburg (2001) ist zwar ein vergleichsweise neues Konzept, steht aber in der Tradition einer klassischen Förderplanung (vgl. auch Abschnitt 8.3) und kann deshalb als ein weiteres Beispiel früher Konzepte der Hilfeplanung von Leistungserbringern gelten. Das Konzept soll „Menschen mit Behinderung eine Hilfe zur Selbständigkeit und Alltagskompetenz … vermitteln [und; I.N.], dabei gleichzeitig eine Einschätzung und Dokumentation der Förderung und Entwicklung … betreiben“ (Günzburg/ Günzburg 2001, 4). Ausgehend von der ‚Normalentwicklung‘ des Menschen werden Items mit Fähigkeiten und Fertigkeiten gebildet, die es geistig behinderten Menschen erlauben sollen, selbständiger und unabhängiger zu leben (vgl. a.a.O., 6). Das Ziel ist die Steigerung der sozialen Kompetenz und Integrationsfähigkeit geistig behinderter Menschen (vgl. ebd.). Dafür stehen unterschiedliche Formulare zur Verfügung, die einerseits für unterschiedliche Altersgruppen, andererseits für unterschiedliche Schweregrade der Behinderung angewendet werden sollen. „Das Auswählen des geeigneten P-AC Formulars ist keine einfache Aufgabe, denn die Institution muss dazu die Zeitdauer, den organisatorischen Rahmen, die Zielrichtung der Förderung und das Fähigkeitsniveau der Klienten berücksichtigen“ (a.a.O., 10). Ist dies geschehen, werden im Rahmen eines Assessment-Prozesses dabei zunächst die Lebensfertigkeiten der Person ermittelt, die den Ausgangspunkt für die Einschätzung des Hilfebedarfs und der notwendigen Unterstützung darstellen (vgl. ebd.). Dabei werden durch die Angabe von Prozentwerten (für das Ausmaß der Ausführungskompetenz) in zahlreichen Items die Bereiche Selbsthilfe, Kommunikation, Soziale Integration und Beschäftigung erfragt. Für jeden der vier Sektoren wird durch den Vergleich der individuellen Leistungen einer Person mit den durchschnittlichen Leistungen gleichaltriger behinderter Menschen ein ‚Social Competence Index’ (SCI) berechnet. Indem darüber hinaus auch für die Unterabschnitte in den einzelnen Sektoren die individuellen Leistungen mit den durchschnittlichen Leistungen gleichaltriger behinderter Menschen verglichen werden, können für die Unterabschnitte der einzelnen Sektoren so genannte ‚Pädagogische Entwicklungs-Indizes’ (PEI) berechnet werden. Ein Förderbedarf besteht dann vor allem in den Unterabschnitten, in denen die Person nur vergleichsweise geringe Prozentwerte erreicht hat (vgl. a.a.O., 7). Daran schließt sich die Förderung an, deren Lernerfolge mit P-A-C Formularen überprüft werden kann. Dabei macht auch das P-A-C System keine Vorgaben oder gibt Orientierungen im Hinblick auf mögliche Fördermethoden oder Maßnahmen (vgl. ebd.). Der PAC erstellt ein umfassendes Defizite-Profil der Person, gibt aber kaum Hinweise auf passende Fördermöglichkeiten. Insofern kann es als Diagnoseinstrument, aber kaum als
7.2 Frühe Instrumente der Leistungsbemessung und Qualitätssicherung
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Hilfeplanungsinstrument bezeichnet werden. Es wird weder der Zusammenhang von gezeigten und potenziellen Fähigkeiten, noch der Zusammenhang von individuellen Fähigkeiten und Umfeldbedingungen thematisiert. Darüber hinaus fokussiert der PAC vor allem die Anpassung des Verhaltens von Menschen mit Behinderungen an ‚Entwicklungsnormen‘, die sich auf Fähigkeiten und Fertigkeiten (d.h. die Selbständigkeit der Person), aber weniger auf die Persönlichkeitsentwicklung bezieht. Der Mensch mit geistiger Behinderung wird an keiner Stelle des Verfahrens einbezogen; es werden weder seine Sichtweisen auf die Situation oder Lernwünsche berücksichtigt noch werden ihm Entscheidungsmöglichkeiten eingeräumt. Er bleibt damit Objekt der Förderung. Auch methodisch erscheint P-A-C nicht mit modernen fachlichen Standards konform. Der Vergleich mit den durchschnittlichen Leistungen gleichaltriger behinderter Menschen erscheint nicht wissenschaftlich fundiert, da eine entsprechende Normierungsstichprobe aufgrund unterschiedlicher Erscheinungsweisen ‚geistiger Behinderung’ kaum möglich ist. Methodische Mängel in der Erhebung durch das pädagogische Personal macht zudem eine sichere Erhebung des Profils durch mögliche Verzerrungen und voreingenommene Wahrnehmung schwierig. Der PAC kann zwar durch LOCO (Learning Opportunities Coordination, Günzburg/Günzburg, 1989), einem Instrument zur Erfassung der Lerngelegenheiten und objektiven Lebensbedingungen in einer Wohneinrichtung, ergänzt werden, allerdings hat Seifert (1997, 96 ff) unter Bezugnahme auf Meyer (1991) auch bei LOCO auf erhebliche methodische und konzeptionelle Probleme hingewiesen, so dass die grundsätzlichen Fragen an das Instrument dadurch nicht gelöst werden können. Alle Instrumente beziehen sich (zumindest in ihren ursprünglichen Versionen) auf den Bereich des stationären Wohnens und erfassen deshalb nicht das gesamte Spektrum möglicher Leistungen und Bedarfssituationen im Rahmen der Eingliederungshilfe (vgl. Reumschüssel-Wienert 1999, 87). Tatsächlich zeigt sich bei diesen Konzepten eine deutliche Institutionen-Orientierung, die vor allem den Organisations- und Steuerungsbedürfnissen großer (stationärer) Einrichtungen entspricht (vgl. auch Schädler 2001, 39). In den Verfahren ist zwar eine individuelle Bedarfsfeststellung vorgesehen, an die eine Individuelle Hilfeplanung angeschlossen wird. Diese Hilfeplanung bleibt allerdings vollständig dem pädagogischen Personal überlassen und erscheint im Gegensatz zur Hilfebedarfsfeststellung nicht systematisch angekoppelt an die weiteren Qualitätssicherungselemente oder an eine Gesamtplanung mit dem Leistungsträger. Es wird vorausgesetzt, dass der Status-Quo der Gesamtressourcen und Versorgungsstrukturen den individuellen Bedarfen der Nutzer/innen entspricht und lediglich eine angemessene Verteilung der Ressourcen ermittelt werden muss. Die Erwartungen und Wünsche der Nutzer/innen an die zu erbringenden Leistungen, sowie Ziele der Hilfen werden bestenfalls randständig ermittelt. Eine personenzentrierte und zukunftsorientierte Sichtweise ist bestenfalls in Ansätzen verankert. Metzler sah zudem die Folgen eines Bedarfsbereichs ‚Auffälligkeiten‘ in einigen Verfahren kritisch, da Verhaltensauffälligkeiten in einem allgemeinen Erhebungsinstrument nicht angemessen abgebildet werden können und sie stigmatisierende Effekte für die gesamte Personengruppe erwartet (vgl. Metzler 1998, 39). Insofern erscheint auch die Frage nach einer direkten oder indirekten Defizitorientierung in den Konzepten gerechtfertigt. Auch Beck und Lübbe kommen zu der Einschätzung, dass diese Verfahren die wirklichen, individuellen Bedarfslagen nicht erfassen könnten und deshalb nicht geeignet seien, persönliche Unterstützungsleistungen für einzelne Nutzer/innen zu erfassen. Ihr Nutzen
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7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer
läge aber darin, eine allgemeine Bedarfsplanung innerhalb einer Einrichtung oder einer Region vorzunehmen, weniger den individuellen Bedarf einzuschätzen (vgl. 56). Diese Argumentation erscheint allerdings nicht plausibel, da eine allgemeine Bedarfsplanung nur dann sinnvoll vorgenommen werden kann, wenn sie auf den individuellen Bedarfen der einzelnen Nutzer/innen beruht. Die Gefahr besteht tatsächlich in ‚bedarfslenkenden‘ Verzerrungen der Ergebnisse, wenn sich die Instrumente an den Versorgungsstrukturen der Einrichtungen orientieren (vgl. Metzler 1998, 39). An diese Kritik lässt sich zudem die Frage anschließen, wie aus den beschriebenen Verfahren Ideen für die Qualitäts- und Organisationsentwicklung und die Veränderung von personenbezogenen Leistungen gewonnen werden können, wenn die Bezugsgrößen der Planung die bestehenden Leistungen und Ressourcen darstellen. Metzler bemängelte neben diesen grundsätzlichen Problemen eine inhaltliche Orientierung dieser frühen Instrumente an ADL-Skalen (Aktivitäten des täglichen Lebens), wie sie für die Ermittlung der Pflegestufen in der Pflegeversicherung eingesetzt werden. Solche Skalen zur Erfassung der Aktivitäten des täglichen Lebens, wurden bereits seit den 1960er standardmäßig in der geriatrischen Forschung eingesetzt (vgl. Schneekloth/ Wahl 2005): Das ursprünglich von Katz, Ford, Moskowitz, Jackson und Jaffe 1965 entwickelte Instrument zur Einschätzung des ‚Independence in Activities of Daily Living’ (ADL) sollte die Alltagsaktivitäten des Badens, Anziehens, der Toilettenbenutzung, der Bewegung in der Wohnung, der Blasenkontrolle und der Mahlzeiteneinnahme beurteilbar machen. Zwei Jahre später publizierten Mahoney und Barthel ein bereits in den 1950er Jahren eingesetztes Instrument, den sog. ‚Barthel-Index’ zur Einschätzung von Rehabilitationspotenzialen, welcher über den ADL hinaus auch Einschränkungen in der Mobilität des Gehens und des Treppensteigens erfasste, sowie eine Gewichtung der Bedeutung der einzelnen Items für die selbständige Lebensführung der Betroffenen vornahm. „Der Akzent liegt auf den vorhandenen resp. wiedergewonnenen Fähigkeiten des Patienten. Der Hilfe- bzw. Pflegebedarf wird lediglich qualitativ erfasst.“ (Bundesarbeitsgemeinschaft klinisch-geriatri-scher Einrichtungen (BAGkgE) 2002, 3, Herv. i. Org.). Der Barthel-Index gilt aber als methodisch fragwürdig, da seine Zielparameter, einerseits den Umfang notwendiger Unterstützung, andererseits aber auch die vorhandenen Fähigkeiten zu erfassen, nicht immer kongruent sind. Vor allem das Gütekriterium der Reliabilität kann der Index, so die Kritik, nicht umfassend erfüllen. Er stellt deshalb letztlich einen Kompromiss zwischen diesen beiden Foki dar (ebd.). Weil in einigen Teilbereichen handhabbare Operationalisierungen fehlten, wurde der Barthel-Index zum ‚Hamburger Manual‘ weiterentwickelt (vgl. BAGkgE 2002, 5; Lübke/ Meinck/ von Renteln-Kruse 2004). Eine Erweiterung im Hinblick auf kommunikative und kognitive Fähigkeiten setzte sich dagegen nicht durch (vgl. BAGkgE 2002 2; DIMDI 2008). Aufbauend auf dem Barthel-Index und dem ADL erschien zudem 1965 die Arbeit ‚Assessment of Older People: Self-Maintaining and Instrumental Acitivities of Daily Living’ von Lawton und Brody. Dieses Erhebungsinstrument, kurz IADL genannt, berücksichtigt auch höherkomplexe Alltagsaktivitäten, wie die Zubereitung von Mahlzeiten, Telefonieren, Medikamenteneinnahme usw. Schneekloth und Wahl resümieren in ihrem Überblick über den Stand der Hilfe- und Pflegebedürftigkeitsforschung noch im Jahr 2005, „dass alle seit den 1970er Jahren bis heute eingesetzten Instrumente zur Erfassung von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit einschließlich der in den MuG [Untersuchungen zu ‚Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung' des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1991–
7.3 Instrumente der Betreuungsplanung
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2007, Anmerk. I.N.] verwendeten Skalen im Wesentlichen auf diesen Arbeiten aufbauen“ (2005, 30). Da die Weiterentwicklungen des ADL, des IADL und des Barthel-Index auch zur Grundlage der Bemessung von Pflegestufen in der Pflegeversicherung geworden waren, sah Metzler eine Orientierung an diesen Instrumenten für die Einschätzung des Individuellen Hilfebedarfs im Sinne der Eingliederungshilfe kritisch. Sollten Leistungen zur Pflege vollständig den Leistungen der Pflegeversicherung zugeordnet werden, so würde damit der Bedarf an Eingliederungshilfeleistungen für Menschen mit Behinderungen eine wesentliche Begründung verlieren (vgl. Metzler 1998, 41). Auch nach Erscheinen des Gutachtens von Metzler wurden Verfahren im Kontext der Qualitätsdiskussion in der Heilpädagogik und Behindertenhilfe zu Beginn des Jahrtausends entwickelt (vgl. exempl. Jantzen/ Lanwer-Koppelin 1999; Speck 1999, 200a, 200b; Walther-Müller 2002; Metzler/ Rauscher 2003; Peterander/ Speck, 2004; Seifert/ Fornefeld/ Koenig 2008; Greving 2003). Diese Verfahren sollten vor allem die Lebensqualität der Nutzer/innen und ihre Zufriedenheit mit den genutzten Hilfen ermitteln helfen (z.B. LEWO; AQUQA-UWO; QUOFHI; vgl. auch Überblicksdarstellung in Seifert 1997, 89 ff). Sie sollten damit nicht nur Daten zur Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Hilfeerbringung liefern, sondern durch die Betrachtung der individuellen Lebensqualität der Person auch Impulse für die Angebots- und Qualitätsentwicklung der Einrichtung oder des Dienstes ermöglichen. Im Zentrum dieser Verfahren steht deshalb nicht die Planung individueller Hilfen, sondern die Frage, wie aus der Erfassung der Zufriedenheit mit dem aktuellen Leistungsangebot Impulse für die Angebots- und Organisationsentwicklung gewonnen werden können. Deshalb sollen sie hier nur erwähnt, aber nicht näher beschrieben werden. Dennoch stellen sie einen wichtigen Beitrag auch zur Entwicklung der Hilfeplanung dar, da sie die Bedeutung der Nutzer/innenperspektive für die Weiterentwicklung von Unterstützungsstrukturen hervorheben und zeigen, dass Angebotsplanung und individuelle Unterstützungsplanung sinnvoll miteinander gekoppelt werden sollten. 7.3 Instrumente der Betreuungsplanung Aufgrund der Kritik an den vorhandenen Systemen der Leistungs- und Einrichtungstypen und den formalen Anforderungen der Kostenträger wurde Anfang des neuen Jahrtausends der Ruf nach personenzentrierten Systemen und Standards für die Planung, Umsetzung und Evaluation von Hilfen lauter (vgl. Bradl. 2000, 2; Beck/ Lübbe 2002, 61). Zu diesem Zeitpunkt in der Behindertenhilfe vorfindliche Verfahren der Individuellen Hilfeplanung können, so die Kritik, diesen Ansprüchen nicht gerecht werden. Die Dominanz der Bedarfsermittlung in der Diskussion um die Hilfeplanung vernachlässigt die Frage des richtigen Hilfeansatzes (vgl. Urban, W. 2002, 138 f; Doose 2004, 14). Viele Konzepte fokussieren auf die Ermittlung eines umfassenden Persönlichkeitsprofils, ohne die Relevanz der Angaben für die Entwicklung angemessener Hilfearrangements zu hinterfragen. Oft sei der Bezug zwischen Hilfebedarf und Zielvereinbarung nicht greifbar und die vorhandenen Konzepte würden Ressourcen des Umfeldes der Person und deren Entwicklungsfähigkeit zu wenig berücksichtigen. Vielen Verfahren würde die Annahme zu Grunde liegen, dass eine Einrichtung die Gesamtverantwortung für den Hilfeplan der Person übernimmt, was dem Grundgedanken eines individuell gestalteten Hilfearrangements aber widerspricht (vgl.
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7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer
Urban, W. 2000b, 27). Auch die Bildung von Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf trägt zu einer Zementierung der einrichtungsbezogenen Strukturen bei (vgl. a.a.O., 24). Beck greift diese Kritik auf unterscheidet deshalb einen lebensweltlichen und einen verwaltungstechnischen Hilfebedarfsbegriff als theoretischer Grundlage von Hilfeplankonzepten. Der ‚Individuelle Hilfebedarf‘ bezeichnet ihrer Ansicht nach in der Regel eine „verwaltungstechnische Kategorie zu verteilungspolitischen Zwecken“ (2001, 6). Er bildet eine institutionelle Sichtweise ab, „die auf der Grundlage von Organisationszielen auf Ausschnitte einer komplexen Lebenswirklichkeit gerichtet ist und ihr mit Organisationsmitteln Rechnung zu tragen versucht“ (ebd.; vgl. auch 2005b, 394). Im Gegensatz zu einem lebensweltlichen Hilfebedarfsverständnis wird ihrer Ansicht nach in formalen Konzepten der Hilfebedarf im Rahmen vorgegebener Kategorien erhoben, die aber keine ausreichende Differenzierung erlauben und weder die Faktoren des Zustandekommens eines Hilfebedarfs noch seine soziale Bedingtheit berücksichtigen (vgl. 2005b, 394). Allerdings ist die verwaltungstechnische Verwendung des Begriffs des Individuellen Hilfebedarfs im Zusammenhang mit den sozialrechtlichen Regelungen für die Einrichtungen und Dienste leitend, weil mit ihm Anspruchsberechtigungen festgelegt werden (vgl. Beck 2005b, 394). Ein lebensweltlicher Hilfebedarfsbegriff bedeutet dagegen ein Zusammenspiel individueller und sozialer Bedingungen behinderter Lebensführung, die in der Herstellung gleicher Lebenschancen zusammen kommen. Ein lebensweltlicher Hilfebedarfsbegriff richtet sich deshalb auf die „Förderung der Partizipation, den Abbau von Benachteiligung und sozialer Isolierung“ (Beck/ Lübbe 2003, 223). Die Herausforderung besteht nach Ansicht der Autorinnen darin, den lebensweltlichen und den formalen bzw. verwaltungstechnischen Hilfebedarfsbegriff miteinander abzustimmen, bzw. zu überbrücken (vgl. Beck/ Lübbe 2002, 33) 23. Beck und Lübbe nehmen auf der Grundlage dieser Unterscheidung einen Vergleich von insgesamt elf Konzepten aus Einrichtungen der Behindertenhilfe vor, die ihrer Ansicht nach „als eindeutig pädagogische Instrumente dazu beitragen, individuelle zugeschnittene Unterstützungsmaßnahmen gemeinsam zu planen“ (vgl. a.a.O., 29). Im Verfahrensablauf ähneln sich die meisten dieser Konzepte (vgl. Beck/ Lübbe 2002, 18 f): Nach einer Eingangsphase, die dem Kennenlernen von professioneller Hilfeplanerin und Nutzer dient, beginnt der eigentliche Prozess in der Regel mit der Erhebung des aktuellen Hilfebedarfs. Dabei unterscheiden sich die Instrumente darin, ob zwischen der realisierten Unterstützungssituation und dem festzustellenden Hilfebedarf unterschieden wird, oder ob der IstZustand der Unterstützung mit dem individuellen Bedarf der Person gleichgesetzt wird 24. Bei der Formulierung von Zielen der Hilfemaßnahmen, die in allen Instrumenten vorgesehen ist, unterscheiden sich die Instrumente darin, inwiefern die Interessen der Nutzer/innen berücksichtigt werden und welchen Stellenwert das Training von alltagspraktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten einnimmt. Für die Phase der Durchführung der festgelegten Maß23 Die Idee zweier voneinander unabhängiger Grundansätze Individueller Hilfeplanung besitzt zwar eine theoretische Klarheit und verweist damit indirekt auf die unterschiedlichen Interessen, die in der Individuellen Hilfeplanung zusammen kommen. Zugleich liegt in dieser Zweiteilung aber auch die Gefahr, auszublenden, dass tatsächlich die Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Interessen Individuelle Hilfeplanung erst hervorgebracht haben und auch in den Hilfeplanungen selber wirksam sind. Die Zweiteilung wiederholt damit die Vereinfachungs- und Strukturierungstechniken, die in den meisten Hilfeplankonzepten Anwendung finden, anstatt die Komplexität des Themas zu erfassen. 24 Auch Metzler hatte bereits in ihrem Gutachten auf dieses zentrale Unterscheidungskriterium hingewiesen (1998, 34 ff).
7.3 Instrumente der Betreuungsplanung
185
nahmen machen die Instrumente vor allem Vorgaben für die Dokumentation der Durchführung. Obwohl alle Instrumente die Bedeutung der Evaluation der Hilfeplanung und der durchgeführten Maßnahmen betonen, finden Beck und Lübbe nicht in allen Konzepten konkrete Hinweise auf deren Durchführung. Auch im Hinblick auf die abgefragten Themenbereiche weisen die Konzepte, so Beck und Lübbe, große Ähnlichkeiten auf (vgl. Beck/ Lübbe 2002, 11) 25. Sie werden von den Autor/innen unterschieden in:
Haushaltsführung, Wohnen, Recht, Finanzen, Psychisches Wohlbefinden, psychiatrische Probleme Körperliches Wohl, Körperpflege, Gesundheit, Soziale Beziehungen, Kommunikation, Orientierung und Mobilität im Haus/ außerhalb des Hauses, Arbeit, Beschäftigung, Bildung und Freizeit, Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (vgl. Beck/ Lübbe 2002, 11)
Unterschiede zeigen sich nach Ansicht der Autorinnen vor allem in der Zuordnung einzelner Items zu den jeweiligen Bereichen, so dass diese unterschiedlich umfangreich und differenziert abgefragt werden (vgl. ebd.). Die Ergebnisse des inhaltlichen Vergleichs deuten einerseits darauf hin, dass es inhaltliche Schwerpunkte in den Hilfeplankonzepten gibt. Andererseits zeigt sie aber auch, dass die Systematisierung von Aspekten des Lebens bestenfalls einen diskursiv ausgehandelten Konsens darstellt und auf Wissen beruht, das gesellschaftlich, historisch, fachlich, individuell-biographisch usw. geprägt ist, aber keine ‚Wahrheiten‘ über Menschen mit Behinderungen repräsentiert. Im Hinblick auf die Bedeutung des Themas Wohnen lassen die Ergebnisse von Beck und Lübbe (vgl. 2002, 16) die Vermutung zu, dass die Zufriedenheit mit der Wohnsituation weniger als Element einer Individuellen Hilfeplanung gesehen wird. Vielmehr wird sie als Element der Strukturqualität der Einrichtung gesehen und deshalb womöglich eher in Nutzerbefragungen zur Zufriedenheit mit den Leistungen der Einrichtung erhoben (vgl. auch Abschnitt 7.2). Damit zeigt sich aber eine Lücke in den untersuchten Hilfeplankonzepten, weil damit zentrale Fragen des persönlichen Lebensstils nicht im Hinblick auf individuelle Veränderungswünsche, sondern nur im Hinblick auf Anpassungen der Angebotsstruktur durch die Einrichtung ermittelt werden. Beck kritisiert an einigen der Konzepte, dass sie tatsächlich nicht kompetenz-, sondern defizitorientiert vorgehen, indem abgefragt wird, inwieweit eine Person eine bestimmte Fähigkeit zeigt. Damit wird, so Beck, aber zum einen lediglich die gezeigte Performanz und nicht vorhandene Potenziale der Person erfragt und zum anderen wird der Fokus auf fehlende Kompetenzen in vorab festgelegten Bereichen gelegt (vgl. Beck 2002, 55). Dabei können z.B. notwendige Veränderungen im Umfeld der Person als notwendige Voraussetzung, damit sie vorhandene, aber verschüttete/ nicht gezeigte/ noch zu entwickelnde Kompetenzen entwickeln kann, nicht ermittelt werden (vgl. ebd.). 25
Die Kategorisierung zeigt Parallelen zu den Lebensbereichen des HMB-W Bogens, auch wenn Beck und Lübbe für den Vergleich eine geringere Differenzierung der Bereiche vornehmen.
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7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer
Auch die Beteiligung der Nutzer/innen und ihre gleichberechtigte Position im Planungsprozess werden nach Beck und Lübbe in den Konzepten sehr unterschiedlich realisiert. Im Hinblick auf die Frage der Interessenvertretung bemängeln die Autorinnen, dass die Interessenvertretung gegenüber Mitarbeiter/innen und anderen Nutzer/innen in den Instrumenten so gut wie keine Rolle spiele (vgl. Beck/ Lübbe 2002, 16 f). Die Autorinnen sehen deshalb einen besonderen Entwicklungsbedarf in der Frage der Zuständigkeit für die Durchführung von Hilfeplanprozessen und der Position der Nutzer/innen dabei (vgl. a.a.O., 58). Allerdings lassen sich hier deutliche Unterschiede in den Zugängen der Konzepte feststellen, die sich nicht auf die Frage reduzieren lassen, wer sich für die Durchführung der Hilfeplanung verantwortlich zeigt. Die unterschiedlichen Herangehensweisen im Hinblick auf die Partizipation der Nutzer/innen in den Hilfeplankonzepten soll deshalb an fünf Beispielen verdeutlicht werden: Der Geschäftsbereich Hamburg Stadt der Evangelischen Stiftung Alsterdorf empfiehlt, für die Assistenzplanung so genannte Bewohnerberater/innen zu beschäftigen, die als Interessenvertreter der behinderten Menschen mit ihnen gemeinsam den Prozess der Assistenzplanung durchlaufen und sie unabhängig von der Leistungserbringung auch in der weiteren Durchführung begleiten und beraten. Ein/e Bewohnerberater/in „ist verantwortlich für die Koordination und Kooperation mit den jeweiligen Fachdiensten sowie Fachkräften und den jeweiligen Angehörigen, gesetzlichen Betreuer/innen usw. Sie achtet gemeinsam mit bzw. für die Nutzer/in auf zeitliche Vereinbarungen“ (vgl. Siemssen 2000, 54). Für die eigentliche Erbringung der vereinbarten Hilfen ist dann ein/e persönliche/r Assistenten/in der behinderten Person zuständig, mit der aber die Hilfen abgesprochen werden. Ein ähnliches Modell, das eine möglichst unabhängige Interessenvertretung gewährleisten soll, wird auch von Appel und Kleine Schaars (1999) vorgeschlagen. Der Unterschied zu den Beratungsstellen, deren Einführung einige Leistungsträger im Rahmen der Gesamtplanung vorantreiben (z.B. die Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsangebote (KoKoBes) im Gebiet des Landschaftsverbandes Rheinland) besteht in der stärkeren Betonung der Begleitung und Beratung der behinderten Person über die Planungsphase hinaus auch in der Phase der Durchführung von Hilfen. Andererseits bleibt die Frage der unabhängigen Interessenvertretung der Bewohner-Berater/innen nicht abschließend geklärt, weil auch sie Mitarbeiter/innen der Einrichtung bleiben und sich damit, wie die Assistenten/innen auch, in einem Loyalitätskonflikt zwischen Bewohner/innen-Interessen und Einrichtungsinteressen wiederfinden können. Ein zweites Beispiel legt ebenfalls ein Hamburger Anbieter von Hilfen vor. Die Behindertenhilfe Hamburg (heute: Sozialkontor BBH) sichert die Beteiligung und Interessenvertretung der Nutzer/innen vor allem über ein systematisch installiertes Beteiligungsverfahren mit konkreten Verfahrensanweisungen ab (vgl. Carroll 2001, 81). Hier wird die Individuelle Hilfeplanung insbesondere als ein Instrument verstanden, um die einrichtungseigenen Angebote zu evaluieren und weiter zu entwickeln. „Unsere Aufgabe ist es, das Leistungsangebot auf das Individuum zu beziehen, auf der Grundlage individueller Bedarfe zu vereinbaren und individuell zu erbringen.“ (Carroll o.J., 3) Besonders betont wird die mögliche Verbindung des eigenen Hilfeplaninstrumentes mit der Gesamtplanung (einschließlich der Einstufung des Individuellen Hilfebedarfs im HMB-Verfahren) und den Leistungsvereinbarungen mit dem Leistungsträger (vgl. Carroll o.J., 2).
7.3 Instrumente der Betreuungsplanung
187
Burkhardt und Schulz (1999) entwickeln ein Hilfeplankonzept auf der Basis der Ansätze der materialistischen Behindertenpädagogik für die Diakonische Behindertenhilfe Lilienthal, welches das dritte Beispiel darstellt. Auf der Basis der rehistorisierenden Diagnostik (vgl. Jantzen/ Lanwer-Koppelin 1996; Jantzen 2003, 2005) soll mit dem Konzept ein Zugang zum Verstehen von Menschen mit schweren Behinderungen und/ oder Menschen mit schwierigem Verhalten ermöglicht werden. Das von ihnen entwickelte Verfahren soll auch in den Fällen Handlungsoptionen eröffnen, die von scheinbarer Perspektivlosigkeit gekennzeichnet sind. „Dabei ist entscheidend, darauf hinzuarbeiten, dass gerade ein Verstehen und eine Kommunikation mit diesem Menschen dort wieder möglich werden, wo das sichtbare Verhalten dieses Menschen unverständlich ist.“ (Burkhardt/ Schulz 1999, 253). Kraft (geb. Schulz) geht davon aus, dass z.B. stereotype Verhaltensweisen, Auto- und Fremdaggressionen lediglich Ausdruck oder Symptome hochkomplexer Problemverdichtungen sind und deshalb für eine angemessene Planung künftiger Unterstützungsleistungen keine ausreichende Information bieten (vgl. Kraft 2005, 3). Deshalb müssen die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge der Person im Sinne einer rehistorisierenden Diagnostik erkundet werden, um erkennen zu können, wie sich das so-Geworden-sein des Menschen entwickelt hat und welche Bedeutung das von außen unverständliche Verhalten für seine psychische Stabilität besitzt. Unter Rückgriff auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse betont Kraft die Bedeutung früher Dialoge und Bindungserfahrungen für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit. Misslungene frühe Dialoge könnten dagegen dazu führen, dass die Person Grundprobleme im Aufbau von Bindung und Sicherheit entwickelt und daraus eine Neigung zu psychopathologischen Syndromen wächst, die sich als ‚Verhaltensstörungen‘ ein ganzes Leben lang durchziehen können (vgl. Kraft 2005, 4 ff). Nach Burkhardt und Schulz ist eine Zuordnung der Person zu einer Gruppe mit vergleichbarem Hilfebedarf erst nach einer umfassenden rehistorisierenden Diagnostik im Rahmen einer Fachberatung und unter Beteiligung des betroffenen Menschen sinnvoll (vgl. Burkhardt/ Schulz 1999, 259). Das anschließende Hilfeplanungsinstrument besteht aus den vier Hilfebereichen ‚Hilfen bei der sozialen Lebensgestaltung‘, ‚Hilfen bei der individuellen Lebensgestaltung‘, ‚Hilfen im körperlichen Bereich‘ und ‚Hilfen im psychischen Bereich‘, die zunächst durch eine allgemeine Inhaltsangabe beschrieben werden. Für die individuelle Bedarfsfeststellung werden die einzelnen, mit einem Hilfebereich angesprochenen Themen in je fünf Hilfebedarfsstufen unterteilt. Die Hilfebedarfsstufen bauen aufeinander auf und sollen so nicht nur die Feststellung eines Zustandes ermöglichen, sondern zugleich eine Orientierung zum nächsthöheren Kompetenzniveau ermöglichen (vgl. Burkhardt/ Schulz 1999, 253). Zugleich werden die Hilfebedarfe durch diese Strukturierung miteinander vergleichbar und die gesetzlichen Anforderungen des § 93a BSHG erfüllt (vgl. Burkhardt/ Schulz 1999, 256). Jeder Hilfebereich wird durch die entwicklungspsychologische Fundierung des Verfahrens mit einer Entwicklungsdimension hinterlegt. Die Inhaltsangabe des Hilfebereichs umfasst dann einmal die mit diesem Hilfebereich adressierten Lebensaufgaben des Menschen und die möglichen Hilfeleistungen der Einrichtung zur Bewältigung dieser Lebensaufgaben. (Vgl. Burkhardt/ Schulz 1999, 257 f) In der Hilfeplanung geht es nicht darum, bestimmte erwünschte Verhaltensweisen zu identifizieren und zu trainieren, sondern darum, die vorhandenen Ausdrucksformen der Person zu entschlüsseln, um ihr Chancen anzubieten, psychische Stabilität zu gewinnen und Alternativen zu den bisherigen Ausdrucksformen zu entwickeln (vgl. Burkhardt/ Schulz
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7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer
1999, 258). Dabei kann es in der Hilfeplanung beispielsweise darum gehen, Situationen dialogisch, sozial und kulturell anzureichern, um einer Person, deren Lebensgeschichte durch Dialogarmut und Beziehungsabbrüche gekennzeichnet war, entwicklungsförderliche Situationen anzubieten (vgl. Kraft 2005, 9). Rehistorisierende Qualitätsentwicklung bedeutet dann, die Leistungen für die einzelne Person abzusichern, wie auch diejenigen Strukturen innerhalb der Einrichtung zu identifizieren, die die persönliche Entwicklung bisher verhindert haben und die die Gestaltung von individuellen und sozialen Lebensräumen hemmen (vgl. Burkhardt/ Schulz 1999, 260). Das Konzept von Burkhardt und Schulz ist nach einer ersten Veröffentlichung 1999 nicht wesentlich weiterentwickelt worden, so dass Beck und Lübbe darauf hinweisen, dass konkrete methodische Empfehlungen zum Verfahren (vgl. Beck/ Lübbe 2002, 27) bisher fehlen. Kraft (geb. Schulz) verfolgt allerdings im Rahmen ihrer Arbeit als Fachberaterin den konzeptionellen Ansatz einer rehistorisierenden Qualitätsentwicklung weiter (vgl. Kraft 2005; Weber o.J., 37 ff). Deutlich wird an diesem Konzept, dass es die Beteiligung der betroffenen Personen zwar postuliert, aber nicht systematisch vorsieht. Allerdings zeigen die Beispiele der Autorinnen in ihren einführenden Texten, wie weniger durch ein ‚strukturiertes Beteiligungsmanagement‘, sondern vielmehr durch die Aufmerksamkeit für die vielfältigen Äußerungsformen der Nutzer/innen ihre Sichtweise in den Planungsprozessen berücksichtigt werden und in die Ergebnisse der Planung einfließen können. Neben einer ausgeprägten fachlichen Orientierung zeigt sich allerdings auch in diesem Konzept eine deutlich institutionelle Sichtweise, die einen Abgleich zwischen individuellem Bedarf der Person und dem vorhandenem Leistungsangebot der Einrichtung leisten soll, sowie eine Verbindungslinie zur Finanzierungssystematik der Leistungsträger. Dabei wird von einer Gesamtverantwortung der Einrichtung für das Unterstützungsarrangement ausgegangen, die bereits Leistungen erbringt. Schließlich sei auf eine alternative Perspektive auf Individuelle Hilfeplanung hingewiesen: Urban versteht Individuelle Hilfeplanung weniger als ein bestimmtes Konzept, sondern vielmehr als einen übergreifenden Arbeitsansatz, mit dem Interessen der Nutzer/innen Berücksichtigung in der Gestaltung des Hilfesystems finden. In eine so verstandene Hilfeplanung setzt er die Hoffnung, dass sie den Interessen der Nutzer/innen zum Durchbruch verhelfen kann, indem die Nutzer/innen echte Beteiligung in den relevanten Entscheidungen im Zusammenhang mit den notwendigen Hilfen erhalten (vgl. Urban W. 2000, 404 f; vgl. auch Doose 2004, 11). Urban betont, dass sich vor allem die Beziehungsgrundlage zwischen den Diensten und den Nutzer/innen verändern muss und nennt dafür Elemente (vgl. Urban, W. 2000, 409). Hilfeplanung für ihn Bestandteil eines Hilfeverständnisses, dass sich gegenüber Nutzern/innen, ihren gesetzlichen Vertretern und Auftraggebern rechtfertigen kann und muss (vgl. Urban, W. 2000, 410). Urban sieht die Bedeutung der Hilfeplanung darin, dass sie den Zugang zu Hilfen für behinderte Menschen transparent, nachvollziehbar, überprüfbar, verlässlich, sinnfällig und effektiv machen kann (vgl. Urban, W. 2000, 404). So kann sie „die Entwicklung von Hilfekonzepten und Arrangements, die erstens unmittelbar an der Lebenssituation Betroffener ansetzen, zweitens trägergebundene und -abhängige Wohn- und Lebensformen überwinden helfen und drittens behinderten Menschen möglichst uneingeschränkte Partizipation im gesellschaftlichen Leben ermöglichen“ (vgl. Urban, W.
7.4 Zusammenfassende Aspekte
189
2000, 404) vorantreiben. Die Debatte um die Individuelle Hilfeplanung muss deshalb ergänzt werden um Konzepte der Angebotsentwicklung (vgl. Urban, W. 2000a, 405). Statt umfassender Fähigkeits- und Bedarfsprofile spricht sich Urban deshalb für die Entwicklung von orientierenden Kriterien aus, deren konkrete Bedeutung für die Lebenssituation der Betroffenen dann mit ihnen gemeinsam ausgehandelt werden muss. Dabei räumt er trotz grundsätzlicher Kritik an vorhandenen Verfahren (z.B. der HMB-W Bogen, das Gesamtplanverfahren in Hessen) ein, dass hier schon erste Ansätze entwickelt wurden (vgl. Urban W. 2000a, 408). Mögliche Kriterien daraus könnten individuelle Wünsche und Bedürfnisse, Psychosoziale Kompetenzen und Eigenressourcen, Selbstversorgung, Alltägliche Lebensführung, Gesundheit, Infrastruktur und Mobilität/räumliche und zeitliche Orientierung/Hilfsmittel, Bildung – Tätigkeit – Arbeit, Kontakte/ soziale Beziehungen, Aktivitäten und Freizeitgestaltung, Informelles Hilfepotenzial/ persönliche Netzwerke sein (vgl. Urban W. 2000a, 408). Sein Verständnis von Individueller Hilfeplanung ist zentral eingebettet in generelle Fragen professionellen Handelns in dem Feld: Professionelles Handeln müsse sich jederzeit darstellen und rechtfertigen können, auch ohne obrigkeitsstaatliche Kontrolle (vgl. Urban, W. 2000, 409). Zentral müsse deshalb sein, ständig die richtige pädagogische Idee zu hinterfragen, anstatt den Hilfebedarf aus Erfassungslisten abzulesen. Die Folge könne sonst eine Rückkehr zur klassischen Objektpädagogik sein, wenn „Sozialarbeiter vor Ort den Hilfeprozess nur noch als verordneten Standard in ritualisierten Abläufen kennen“ (Urban, W. 2000, 408). Die Planung und Durchführung von Hilfeplanung sei deshalb kompliziert und erforderte ein besonderes Know-How des Dienstes (vgl. Urban, W. 2000, 410). 7.4 Zusammenfassende Aspekte Die untersuchten Konzepte zeigen, dass in der Regel aus der Perspektive einer stationären Wohnform oder einem betreuten Gruppenwohnen gefragt wird. Dabei geht es neben der Erfüllung gesetzlicher Vorgaben um die Planung der konkreten Unterstützung im Rahmen der vorgehaltenen Angebote der Einrichtung und es werden die Wechselwirkungen zwischen individuellen und organisationalen Planungsprozessen betont. Siemssen verweist hier beispielsweise auf die Auswirkungen der individuellen Hilfepläne auf die Dienstplangestaltung und die notwendige Klärung der Anteile von Hintergrund- und Assistenzdiensten an der Hilfegewährung (vgl. Siemssen 2001, 67). Carroll sieht generelle Grenzen einer individuellen Planung durch die Ressourcen der Einrichtung (vgl. 2001, 81 f). Dennoch stellen die ‚neueren‘ Ansätze im Vergleich zu den älteren Ansätzen in Abschnitt 7.2 vorgestellten Konzepten in der Regel konsequentere Versuche dar, unter den Rahmenbedingungen der Institution die Lebenssituation der Nutzer/innen in das Zentrum der Hilfeplanung zu rücken und von hier aus Perspektiven für die künftige Unterstützung zu entwickeln. Die Auswahl der Konzepte von Beck und Lübbe zeigt einen deutlichen Schwerpunkt im Raum Hamburg, wo bereits Ende der 1990er Jahren Globalrichtlinien zur Gesamtplanung durch den Leistungsträger erlassen worden waren. Dies bedeutet, dass sich für diese Einrichtungen konkret die Frage nach einer Verknüpfung einrichtungsinterner Planungsprozesse und den Planungsprozessen der Leistungsträger gestellt hat. Dabei konnte schon Vorerfahrungen mit vorhandenen Konzepten (z.B. HMB-W, GBM und SYLQUE) zurückgegriffen werden, die aus der Auseinandersetzung mit den Leistungs-, Vergütungs-, und
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7 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht der Leistungserbringer
Prüfvereinbarungen entstanden waren und eher die Fragen der Leistungs- und Angebotsplanung beantworten sollen. Die skizzierten Diskussionslinien zeigen, wie sehr die Diskussionen der Leistungsträger ein Pendant und eine Entsprechung in der Argumentation der Verbände-Vertreter/innen von Leistungserbringern finden. Dabei zeigen sich zwei zentrale Argumentationslinien: Zum einen basieren die Konzepte auf vermeintlichem Fachwissen über Menschen mit einer geistigen Behinderung, ihrer Entwicklung und ihren Entwicklungserschwernissen (Bezugswissenschaft ist hier vor allem die Psychologie). Zum anderen werden die Konzepte aus einem Qualitätsmanagementgedanken heraus entwickelt, der eher aus dem Management-Bereich der Betriebswirtschaft entlehnt ist und hieraus Terminologie und konzeptionelle Ansätze übernimmt. Er ergänzt den individuellen Case-Management Ansatz der Leistungsträger um die Frage der ‚richtigen‘ Organisation der Hilfen aus der Sicht betrieblicher Organisation. Näher zu untersuchen wäre ferner, welche Wirkung und welchen Einfluss das Software-Engeneering hat, dessen sich die computergestützten Konzepte der Leistungserbringer zum Teil sehr umfassend bedienen. Zu befürchten ist, dass lineare Kausalitätsvorstellungen über Ursache und Wirkung von Unterstützungsprozessen durch die technische Abbildung von Hilfeplankonzepten gestützt werden. Beispielhaft für die Perspektive ambulanter Anbieter, die sich der Selbstbestimmung und Selbstvertretung behinderter Nutzer/innen verpflichtet fühlen, wurden die Perspektiven Urbans auf Individuelle Hilfeplanung dargestellt. Er beschreibt ein Verständnis jenseits von standardisierten und normorientierten Verfahren, die die Perspektive der Nutzer/innen und die Planung der gemeinsamen Arbeit mit pädagogischen Fachkräften in das Zentrum rückt. Insgesamt wurde damit deutlich, wie Organisationsformen (stationäres oder ambulantes Angebot, einzelne Einrichtung oder Trägerverband) eine zentrale Rolle bei der Konzeptentwicklung Individueller Hilfeplanung spielen und welche Interessen außer denen der Nutzer/innen in die Konzeptionsentwicklung, einfließen. So bleibt der Ansatz von Urban nicht in einer Kritik an bestehenden Konzepten verhaftet, sondern zeigt vielmehr mögliche produktive Perspektiven Individueller Hilfeplanung für eine Weiterentwicklung des Hilfesystems auf.
8 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften
8.1 Thematisierung gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Veränderungen Diese Diskussionslinie um Individuelle Hilfeplanung ist zum einen durch Auftragsforschung von sozialwissenschaftlichen Instituten zur Entwicklung, Implementation und Evaluation von Hilfeplankonzepten für örtliche und überörtliche Sozialhilfeträger dominiert (vgl. Kap. 4). Zum anderen lässt sich aber auch eine (wenn auch bisher kleine und wenig verbreitete) Metaperspektive ausmachen, die versucht, Individuelle Hilfeplanung in ihren politischen und gesellschaftlichen Entstehungszusammenhängen zu erklären. So werden die bereits in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Modernisierungserfordernisse von Leistungsträgern und Leistungserbringern als Folge eines allgemeinen gesellschaftlichen Wandels interpretiert: Unter Rückgriff auf postmoderne Begründungszusammenhänge für Chancen und Risiken, die mit einer zunehmenden Individualisierung von Lebensläufen und einer Bedeutung des Individuums einhergehen, betonen die Autoren/innen unter Rückgriff auf Dahrendorfs Konzept der Optionen und Ligaturen den Zusammenhang von Autonomie und Zugehörigkeit (vgl. Beck 2002, 34 ff; Schwarte 2005, 13; beide unter Verweis auf Thimm 1997). Soziale Verantwortung und traditionelle politische Steuerungsfunktionen werden im Zuge der Individualisierung durch mehr individuelle Verantwortung und neue Steuerungsmodelle ersetzt werden (vgl. ebd). So formuliert Schäfers pointiert das Erfordernis der traditionellen Behindertenhilfe, sich Individualisierungsund Pluralisierungsprozessen anzupassen: „Nicht die Bearbeitung kollektiver Risiken, sondern die Gestaltung individueller Leistungsarrangements, welche jede einzelne Person bei der Entwicklung eines eigenen Lebensstils und der Verwirklichung einer möglichst autonomen Lebensführung unterstützen, muss im Vordergrund stehen.“ (vgl. Schäfers 2008, 60) Menschen mit geistiger Behinderung werden dabei einerseits stärker zu verantwortlichen Gestaltern ihres Lebenslaufs, andererseits sind sie aber auch stärker Risiken des Scheiterns und der Erosion stabiler sozialer Milieus und gesellschaftlicher Strukturen ausgesetzt (Schwarte 2005, 13). Fachliche Weiterentwicklungen, wie der personenzentrierte Ansatz, können, wenn die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung darin keinen Platz fänden, diese Personengruppe zu Modernisierungsverlierern werden lassen, wenn „die Leitfigur des autonomen Individuums […] zur Legitimation der sozialen Determination des Individuums“ (Beck 2002, 34) benutzt wird. So fragt sich Greving denn auch, ob es sich bei Konzepten wie Selbstbestimmung, Assistenz oder der Individuellen Hilfeplanung „wirklich um gesellschaftlich gewollte positive Parameter oder aber um eine schrittweise Entkopplung von gesellschaftlichen Aufgaben von den Bedürfnissen des Einzelnen handelt.“ (vgl. Greving 2001, 33). Andererseits dürfen die Risiken der Modernisierung auch nicht als Begründung für eine Fortführung behindernder Sonderwelten „um den Preis des Ausschlusses aus anderen gesellschaftlichen Bezügen“ missbraucht werden (vgl. Schwarte 2005, 14 f).
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8 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften
Die Modernisierungsprozesse in der Behindertenhilfe lassen sich nach Schädler durch drei zentrale Reformstränge charakterisieren: Zum einen hat die fachliche Diskussion um den ‚Paradigmenwechsel’ hin zum Prinzip der Selbstbestimmung und Integration konzeptionelle Veränderungen in den Einrichtungen notwendig gemacht (vgl. Schädler 2001, 37). Die Input-orientierte Steuerungslogik der Sozialleistungsträger hat bis Mitte der 1990er Jahre dazu geführt, dass Auseinandersetzungen um eine angemessene Angebotsstruktur in der Behindertenhilfe lediglich mit normativen und ideologischen Argumenten geführt wurden. Man ging davon aus, dass die gesetzlichen Ansprüche von Menschen mit Behinderungen schon über die Bereitstellung von Geld-, Sach- und Dienstleistungen direkt und passgenau erfüllt werden könnten (vgl. Beck 2005a, 440). Erst mit der Akzeptanz der Forderungen behinderter Menschen und ihrer Interessenvertretungsgruppen nach Transparenz, Wahlfreiheit und Adressatenorientierung, sowie durch den Einfluss internationaler Diskussionen um Normalisierung und Integration hat auch die Behindertenhilfe in Deutschland angefangen, ihre Konzepte zu hinterfragen (vgl. ebd.). Zum zweiten hatten die Modernisierungsstrategien der Sozialpolitik und Sozialverwaltung hin zu einer output-orientierten Steuerung und zur Einführung von Marktmechanismen im Sozialbereich einen Einfluss auf die institutionelle Behindertenhilfe (vgl. Schädler 2001, 37). Dabei hat der steigende Kostendruck die Nutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven bei den Leistungsträgern und Leistungserbringern erforderlich gemacht, die aber nicht zu Lasten der Qualität der Leistungen führen sollten (Braun 2004b, 37). Die damit verbundene Diskussion um Qualitätssicherung und Effizienz der Dienstleistung trägt so drittens dazu bei, die gewandelten fachlichen Ansprüche und das moderne sozialstaatliche Handeln zusammen zu führen (vgl. Schädler 2001, 37). Auch innerhalb der Sonder-/ und Heilpädagogik entwickelte sich, beeinflusst von den Entwicklungen innerhalb der Selbsthilfebewegung und der Sozialpolitik in den vergangenen Jahren eine Argumentationsweise, die den Kostendruck durch die Sozialpolitik und die fachliche Wende zum Selbstbestimmungsprinzip und zur Individualisierung der Hilfen in Anlehnung an betriebswirtschaftliche Managementkonzepte zusammen zu bringen versucht. Es wird die Möglichkeit formuliert, die Verbesserung der Hilfequalität als unternehmensspezifische Ressource zu setzen (vgl. Merchel 1995, 304; Speck 1999, 25). Im Sinne des § 9 SGB IX sollte die Qualität der Leistung an den Prinzipien ‚Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft‘ und ‚auf die persönliche Situation abgestimmte Hilfe‘ gemessen werden (Metzler/ Rauscher 2003, 236). Die gesetzliche Zielvorgabe der Selbstbestimmung (und Teilhabe) geistig behinderter Personen wird dabei als quasi-natürliches menschliches Bedürfnis aufgefasst, dessen Unterstützung den Kern pädagogischen Handelns darstellt. Folglich ist die Förderung von Selbstbestimmung das zentrale Qualitätskriterium sonderpädagogischer Arbeit. Walther-Müller warnt allerdings davor, dass die Problematik der Qualitätsdiskussion in der Pädagogik auch darin besteht, dass die Besonderheiten der Qualität sozialer Dienste schwer anderen Systemen zu vermitteln ist, weil die Pädagogik eine eigene Ausdrucksweise benutzt, die anderen Systemen fremd ist (vgl. Walther-Müller 2002, 18). Eine Trennung von fachlicher und ökonomischer Argumentation wird aber durch eine sprachliche Annäherung erschwert, denn sowohl ein ökonomisch begründeter, wie auch ein pädagogisch/lebensweltlich begründeter Qualitätsbegriff kann auf die gesetzlichen Regelungen zurückgeführt werden. Einige Vertreter/innen der sonderpädagogischen Profession warnen deshalb vor einem Missbrauch des Qualitätsbegriffs unter dem Diktat geringer werdender finanzieller Res-
8.1 Thematisierung gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Veränderungen
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sourcen des sozialen Sicherungssystems (vgl. Weiß 2000; Speck 1999, 2000a, 2000b; Theunissen 2002; Beck 2005a): Sie fordern dazu auf, sich nicht von den Leistungsträgern und den Finanziers der Behindertenhilfe die ‚Zügel aus der Hand nehmen zu lassen’. Nur so kanne verhindert werden, dass künftig statt fachlich angemessenen Qualitätsstandards bei den Hilfen für beeinträchtigte Menschen die betriebswirtschaftliche Effizienz der eingesetzten Mittel unter dem Deckmantel von mehr Freiräumen die praktische Arbeit bestimmt. Speck, Metzler/Rauscher und andere setzen sich im Rahmen der Qualitätsdiskussion dafür ein, dem Kostendruck durch die Sozialhilfeträger aktiv zu begegnen, indem (sonder-) pädagogische Konzepte als Alternative zu rein ökonomisch begründeten Qualitätskonzepten entwickelt werden. Auch Galiläer sieht die Notwendigkeit eines pädagogisch begründeten Qualitätsbegriffs. Er bezieht sich dabei auf das von Luhmann und Schoor (1982) herausgearbeitete ‚Technologiedefizit‘ pädagogischen Handelns (vgl. Galiläer 122 f). Das kontextund situationsabhängige Handeln der Pädagogen/innen könne nur negativ als nicht detailliert planbare Mischung von methodisch-instrumentellen und kommunikativen, bedeutungsgenerierenden Anteilen beschrieben werden. „Für den Verlauf und die Effekte spielen Zufälle, die unhintergehbare Selbstbezüglichkeit der Adressaten und Persönlichkeitseigenschaften des Pädagogen neben Kontextmerkmalen (organisatorische Rahmungen etc.) eine wichtige Rolle.“ (a.a.O., 124) Deshalb ist Professionalität in der Pädagogik nicht ex ante bestimmbar, sondern zeigt sich vielmehr als ‚reflektierte Praxis‘, die sowohl in der Vorbereitung und Planung wie auch in der nachträglichen Reflexion auf theoretisches Wissen zurückgreift und so die begründete Auswahl und Anwendung alternativer pädagogischer Konzepte ermöglicht (vgl. a.a.O., 126). Eine pädagogische Qualitätsentwicklung muss deshalb nach Galiläer
„von den pädagogischen Kernprozessen der Institution ausgehen, sich auf Theorien stützen, welche die Spezifik des jeweiligen Feldes erfassen, auf regelmäßigen Diskussionen über Ziele, Ansprüche und Aufgaben basieren und für Innovationen und alternative Lösungen offen sein.“ (a.a.O., 129)
Vorhandene Konzepte von Leistungserbringern zur Hilfeplanung im Zusammenhang mit der Qualitätsdiskussion systematisiert Schädler als Instrumente, die für die Ermittlung von Personalbedarfen entwickelt wurden (vgl. Abschnitt 7.2), als Instrumente, die aus dem Diskussionszusammenhang der Sozialindikatoren- und Lebensqualitätsforschung stammen (vgl. Abschnitt 7.2), sowie als Instrumente, die das Qualitätsverständnis industrieller Managementkonzepte (z.B. die DIN ISO Normen, EFQM) auf die Behindertenhilfe übertragen sollen. Letztere liefern wertvolle Verfahrenshinweise für die Organisation moderner Dienstleistungen in der Behindertenhilfe (vgl. Schädler 2001, 39). Die in diesen Normverfahren vorgesehenen Verfahrensschritte weisen eine große Übereinstimmung mit dem Konzept des Case-Managements auf, was nach Schädler zu einer raschen Verbreitung dieser Normverfahren beigetragen hat. Dennoch ist die weitgehend unhinterfragte Übernahme dieses Qualitätsverständnisses verwunderlich, denn die damit verbundenen Normierungen sind fachlichen Standards gegenüber indifferent (vgl. Schädler 2001, 40). Zudem definiert eine Einrichtung oder ein Dienst, welcher ein solches Verfahren einsetze, seine Qualitätsziele selbst, deren Einhaltung dann später überprüft werden, so dass z.B. die Orientierung an fachlichen Leitprinzipien und Veränderungsbedarfe nur insoweit in diese Verfahren einfließen, wie die Einrichtungen dies selbst initiieren (vgl. Schädler 2001, 40).
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8 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften
Schwarte sieht deshalb in Abgrenzung zu solchen Konzepten, die aus der Sicht von Institutionen auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen blicken, in der Individuellen Hilfeplanung das „Kernstück des personenzentrierten Ansatzes“ (Schwarte 2005, 18). Er verweist auf die Bedeutung grundlegender Konzepte im Bereich der Sozialpsychiatrie (Hilfeplankonferenz und IBRP, sowie dem Psychiatrischen Verbund), betont zugleich aber auch die Unterschiede im Unterstützungsbedarf geistig behinderter Menschen gegenüber Menschen mit seelischen Behinderungen und Psychiatrieerfahrungen (vgl. Schwarte 2005, 13 f): Anders als im Bereich der psychiatrischen Versorgung bezieht sich der Unterstützungsbedarf nur selten auf akute Krisen, sondern auf langfristige Bedarfslagen. Menschen mit geistiger Behinderung sind in der Regel dauerhaft auf komplexe und kontinuierliche Unterstützungsleistungen angewiesen. Der Unterstützungsbedarf bezieht sich zudem stärker als bei anderen Gruppen auch auf die Artikulation von Bedürfnissen und damit einhergehender eingeschränkter Selbstvertretung. Schwarte plädiert deshalb für eine besondere Aufmerksamkeit bei der Planung von Hilfen im frühen Kindesalter und bei anstehenden Übergängen im Lebenslauf, da aussondernde Hilfen häufig Lebenslauf-entscheidende Wirkungen entfalten würden (vgl. Schwarte 2005, 15). Am Beispiel des Unterstützten Wohnens macht Schwarte die Wirkung solcher Planungen deutlich. Es geht „nicht darum, mit einer minimalen Unterstützung allein in einer Wohnung zu Recht zu kommen, sondern darum, ein individuell passendes hilfreiches Arrangement zu finden“ (vgl. Schwarte 2005, 17). Wenn auf diese Weise Hilfen konsequent von den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Person aus geplant werden, macht die der Institutionenlogik geschuldete Unterscheidung von ambulanten und stationären Angeboten keinen Sinn mehr und verschwindet (vgl. ebd.) Schwarte und Schädler stimmen darin überein, dass sich daraus einerseits ein individuelles Planungserfordernis, andererseits aber auch ein Planungsbedarf der sozialen Infrastruktur ergibt (vgl. Schädler 2001, 38; Schwarte 2005, 15). Rohrmann und Schädler weisen hier aber auf bestehende Problemstellen in der Behindertenhilfe hin: Die zersplitterte Zuständigkeit der verschiedenen Rehabilitationsträger und die geteilte Zuständigkeit örtlicher und überörtlicher Sozialhilfeträger verhindert, dass die Kommunen entsprechende Planungsstrukturen entwickeln können. Zudem führt die lokale ‚Marktmacht‘ einzelner Freier Träger im Feld der Behindertenhilfe dazu, dass sich die Angebotsentwicklung eher an Einrichtungsträgerinteressen, denn an den realen Bedarfen der betroffenen Menschen in einem Gebiet orientiert (vgl. Rohrmann/ Schädler 2004, 219). Anfang der Jahrtausendwende vorhandene Verfahren Individueller Hilfeplanung von Leistungsträgern im Bereich der Behindertenhilfe sind zu sehr in der Logik stationärer Versorgung verhaftet und orientieren sich an der Logik der Pflegesätze, so dass von ihnen kaum Impulse für die Weiterentwicklung offener (ambulanter) Hilfestrukturen ausgehen können (vgl. Rohrmann/ Schädler 2009, 230; vgl. 5.2.3). Die Autoren verweisen auf das Feld der Kinder- und Jugendhilfe, in dem bereits seit mehreren Jahren intensiv über die Kopplung von individueller und kommunaler Jugendhilfeplanung und adäquaten Verfahrensweisen diskutiert wird. In der Behindertenhilfe, so die übereinstimmende Feststellung der Autoren, fehlt aber bislang eine entsprechende Auseinandersetzung mit dem Problemkomplex (vgl. Schädler 2001, 38; Rohrmann/ Schädler 2004, 220; Schwarte 2005, 13). Üblich war in der Behindertenhilfe lange ein drei-schrittiges Grundmodell der ‚Hilfeplanung‘ durch die Leistungsträger (vgl. Rohrmann/ Schädler 2004, 224 ff): Ausgangspunkt ist der individuelle Hilfebedarf einer Person, der von ihrer jeweiligen Situation, ihren subjektiven Vorstellungen, sowie von sozialökologischen Bedingungen der Umwelt abhän-
8.1 Thematisierung gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Veränderungen
195
gig ist. Dieser muss, damit die Person einen sozialrechtlichen Hilfeanspruch geltend machen kann, übersetzt werden in eine formale Artikulierung des Hilfebedarfs in einem Antrag. Bislang hat diese Übersetzungsleistung eine Einrichtung oder ein Dienst für die Antrag stellende Person übernommen. Der Antrag hat dabei aber nur eine formale Bedeutung gehabt, da die Leistungsträger in der Regel der fachlichen Begleitung der Antrag stellenden Person durch die Einrichtung oder des Dienstes vertraut haben und die darin beantragten Hilfen nicht hinterfragt haben. Der Zweck der Anträge hat in der Regel lediglich in der Zuweisung eines Heimplatzes in der beantragenden Einrichtung bestanden. Auf eine über die allgemeine Anspruchsberechtigung hinaus gehende Feststellung des Hilfebedarfs durch die Leistungsträger ist deshalb verzichtet worden. Die eigentliche Planung von Hilfen hat dann erst im Anschluss an die Kostenzusage durch den Leistungsträger stattgefunden. „Nach einer so erfolgten Platzierung erfolgt die Hilfeplanung als pädagogische Planung in der Einrichtung, die aber mit Finanzierungsfragen nichts mehr zu tun hat. Oftmals leiten sich die Ziele und Inhalte der Hilfeleistungen in Einrichtungen aus dem gegebenen Angebot und den üblichen Routinen ab.“ (vgl. Rohrmann/ Schädler 2004, 226) Dennoch setzten Rohrmann und Schädler Hoffnungen in die Entwicklung von Verfahren in Verantwortung der Leistungsträger, weil diese in der Lage sind, tatsächlich eine am individuellen Bedarf ausgerichtete Hilfeplanung zu entwickeln (vgl. Schädler 2001, 40; Rohrmann/ Schädler 2004, 225). Individuelle Hilfeplanung kann dann auch als Korrektiv einer örtlichen Angebotsplanung dienen, denn in ihr zeigt sich, ob eine örtliche Angebotsplanung „tatsächlich zu einem nutzerorientierten Unterstützungsnetzwerk für die Gestaltung individueller Lebensläufe führt“ (vgl. Rohrmann/ Schädler 2004, 224). Ein konzeptioneller Entwurf, der diese Grundüberlegungen aufgreift und in konkrete Umsetzungsempfehlungen übersetzt, wurde mit dem NetOH-Konzept vorgelegt (vgl. Rohrmann et al. 2001, 93 ff): Demnach soll zunächst die Antrag stellende Person in einem Assessment-Verfahren gemeinsam mit einer unabhängigen Person ihres Vertrauens ein individuelles Unterstützungsarrangement entwickeln. Voraussetzung ist allerdings, dass die Durchführung von Hilfeplanverfahren dann nicht bei den Leistungsträgern, aber auch nicht bei den Leistungserbringern, sondern möglichst in unabhängigen oder gemeinschaftlich betriebenen Beratungsstellen mit den Betroffenen durchgeführt wird (vgl. Rohrmann 1999; Rohrmann/ Schädler 2004, 224). Diese Beratungsdienste sollten die Aufgabe des ‚CaseManagements’ für die betroffenen Personen übernehmen (vgl. Rohrmann et al. 2001, 95). Im Rahmen der sozialrechtlichen Gesamtplanung wird dann der Antrag vom zuständigen Sozialleistungsträger bearbeitet und eine Kostenzusage erteilt. In dem offiziellen Bescheid des Antrags werden auch Anbieteroptionen für die Person benannt. Die Hilfe berechtigte Person kann dann einen Dienst auswählen und mit ihm in einem Hilfevertrag die konkrete Ausgestaltung der Hilfen vereinbaren (vgl. Rohrmann 1999; Rohrmann/ Schädler 2004, 224). Die aus den Individuellen Hilfeplanverfahren gewonnenen Daten zu den Lebenssituationen und Unterstützungsbedarfen können anschließend anonymisiert als Sozialberichterstattung einem örtlichen Planungsgremium zur Verfügung gestellt werden, welches für die örtliche Angebotsplanung zuständig ist und aus Vertretern von Leistungsträgern, Leistungserbringern, Selbsthilfevereinigungen und der unabhängigen Beratungsstelle für das Hilfeplanverfahren zusammen gesetzt ist. Für die Aufgaben, Entscheidungsbefugnisse, Organisation usw. wurde mit dem AQUA-NetOH ein umfassendes Konzept erarbeitet,
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8 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften
welches diesen Zusammenhang von kommunaler Angebotsplanung und individueller Hilfeplanung realisieren helfen soll (vgl. Rohrmann et al 2001). Rohrmann und Schädler befürchten allerdings erhebliche Widerstände bei den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege, weil diese mit einem solchen Konzept an Autonomie einbüßen und damit fachliche und interessenpolitische Fragen verbunden sind (vgl. Rohrmann/ Schädler 2004, 224). Schwarte verweist in diesem Zusammenhang auf Gefahren bei der Implementation des personenbezogenen Ansatzes im System der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung: Wenn Individuelle Hilfeplanung auf die Ermittlung sozialrechtlicher Leistungsansprüche reduziert wird, wird sie in einer defizitorientierten Sicht auf Menschen mit Behinderungen verbleiben (vgl. Schwarte 2005, 18). Sie bleibt dann auf Festschreibung der bestehenden Situation beschränkt und kann keine Entwicklungspotenziale durch die Erprobung neuer Unterstützungsarrangements berücksichtigen (vgl. ebd.). Eine Fokussierung auf die Person kann zudem zur Folge haben, dass der Unterstützungsbedarf des individuellen Lebensumfeldes der Person und notwendige Veränderungen der Infrastruktur ausgeblendet bleiben (vgl. ebd.) Schließlich besteht die Gefahr, dass, ähnlich wie in den korporatistischen Beziehungen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern, auch im Rahmen der Hilfeplankonferenzen eine Art Tauschhandel stattfindet, anstatt die individuell hilfreichen Arrangements von Hilfen für die Personen zu entwickeln (vgl. ebd.). Deutschland befindet sich deshalb noch in einer Phase der Entwicklung und Erprobung und könnte auch von den Erfahrungen anderer Länder profitieren, um Fehlentwicklungen zu vermeiden (vgl. ebd.). 8.2 Diskussionen in pädagogischen Kontexten Während die gerade vorgestellten sozialwissenschaftlichen Perspektiven stärker versuchen, Individuelle Hilfeplanung im Zusammenhang mit gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Veränderungen zu diskutieren, nehmen die pädagogischen Perspektiven stärker die Gestaltung von Hilfeplanung selbst in den Blick. Allerdings ist diese Unterscheidung nicht ganz trennscharf, so dass es für beide Bereiche Überschneidungspunkte in der Argumentation gibt. Kennzeichnend für die heilpädagogischen Autoren/innen ist, dass sie weniger konkrete Konzepte zur Hilfeplanung entwickeln, als vielmehr allgemeine Gestaltungsempfehlungen geben. Dabei wird in unterschiedlicher Weise auf psychologische, philosophische oder soziologische Theorien zurückgegriffen. Trost stellt klar, dass die pädagogische Wirklichkeit derart unvorhersehbar und komplex ist, dass sie die Möglichkeiten zur Differenzierung in jedem Plan übersteige (vgl. 2005, 206). Der Planungsbegriff in der Pädagogik muss deshalb als „veränderliches, offenes Arbeitskonzept aufgefasst werden, das für jede Person und jeden Lebensbereich zu spezifizieren ist und keinesfalls in immer gleicher, verallgemeinerter Art und Weise angewendet werden kann“ (ebd.). Deshalb muss weniger der fertige schriftliche Plan, als vielmehr der Planungsprozess im Zentrum der Überlegungen stehen (s.a. Abschnitt 6.1.2). Planung ist keine deterministische Antizipation angestrebter Effekte, sondern eine prozessbegleitende, gemeinsame Reflektion des pädagogischen Geschehens (vgl. ebd.; Greving 2002). Nach Greving fließen dabei immer die in den konkreten Interaktionen entwickelten Repräsentationen (erster Ordnung), d.h. die „inneren, subjektiv-individuellen Ausdeutungen von Bereichen der Umwelt“ (a.a.O., 62) der Interaktionspartner in die Hilfeplanung ein.
8.2 Diskussionen in pädagogischen Kontexten
197
Greving verweist damit auf die Bedeutung von Wirklichkeitsdeutungen, der emotionalen Bedeutung von Interaktionen, Selbstkonzept und Habitus, die in Interaktionsprozessen entwickelt und aktualisiert werden, aber zugleich auch die Gestaltung der Interaktionsprozesse selbst beeinflussen und gestalten (vgl. Greving 2001, 30 f; 2002, 74). Der Hilfeplanungsprozess von Nutzern/innen und Fachkräften in den Einrichtungen und Diensten muss nach Greving als ein solcher Interaktionsprozess aufgefasst werden. Zugleich ist aber die Hilfeplanung eine besondere Interaktion, da in ihr frühere Interaktionen reflektiert und kommende Interaktionen geplant werden. Gemeinsam reflektieren Nutzer/innen und Fachkräfte die geteilten Interaktionen und tauschen Sichtweisen aus. Solche schöpferischen Akte erfolgen nach Greving vor allem in narrativen Formen der Auseinandersetzung, durch Erzählen, Analysen und Gespräche (vgl. 2002, 75). Dabei sollten die Belange und Wirklichkeiten des Menschen mit Behinderung ebenso Berücksichtigung finden, wie die der professionellen Helfer/innen (vgl. Greving 2001, 32). Daraus entstehen neue Perspektiven, Deutungen und Vorstellungen, die Greving als ‚Repräsentationen zweiter Ordnung‘ bezeichnet. Hilfeplanung bedeutet für Greving also, sich die vergangenen Interaktionen anzuschauen und die darin enthaltenen Repräsentationen erster Ordnung mit Hilfe der Repräsentationen zweiter Ordnung zu reflektieren, zu überprüfen und daraus künftige Interaktionen abzuleiten (vgl. Greving 2002, 75). In den künftigen Interaktionen entstehen dann wieder neue Repräsentationen erster Ordnung. Zur Hilfe werde eine Interaktion dann, in Abgrenzung zur Unterstützung oder Begleitung, wenn die Person nicht in der Lage ist, verbal, nonverbal oder aufgrund von bestimmten Verhaltensweisen, zu deutende Handlungsmuster stimmig mit zu gestalten (vgl. Greving 2001, 32). Auch für Dobslaw ist in der Hilfeplanung weniger die Verwendung eines bestimmten Instrumentes als vielmehr der Aushandlungsprozess zwischen Fachkraft und Person zentral. Der Aushandlungsprozess zwischen Hilfeplaner/in und Person mit einer Behinderung verläuft zwar nicht immer konfliktfrei, ist aber zentral (vgl. Dobslaw 2006, 90). Instrumente dienen ihrer Ansicht nach vor allem dazu, die Planungsgespräche zu strukturieren und das Ergebnis des Planungsprozesses zu dokumentieren (vgl. a.a.O., 88). Im Vergleich zu Trost und Greving thematisiert Dobslaw allerdings weniger die Bedeutung der Reflexion der bisherigen Arbeit als vielmehr die Wünsche, Ziele und Verantwortlichkeiten der Person für die Zukunft (vgl. a.a.O., 89). Beck nimmt eine Klärung der Begriffe Bedürfnis, Bedarf und Hilfe vor, um daraus grundsätzliche Überlegungen für die Individuelle Hilfeplanung abzuleiten. Unter Bedürfnis versteht sie „die grundlegenden Motive und Strebungen für die Handlungsprozesse eines Individuums mit seiner sozialen und materiellen Umwelt im Allgemeinen“ (vgl. 2003, 223). Die Grundbedürfnisse des Menschen umfassen materielle, psychologische und soziale Dimensionen (vgl. Beck 2002, 44 f). Von den konstanten Grundbedürfnissen des Menschen sind die näheren Bestimmungen notwendiger Lebensinhalte, also die individuellen, zeit-, orts- und personengebundenen Konkretisierungen dieser Bedürfnisse zu unterscheiden (vgl. a.a.O., 39). Sie werden als Bedarf bezeichnet und stellen den als notwendig oder erstrebenswert empfundenen Inhalt verdichteter und konkretisierter Grundbedürfnisse dar (vgl. Beck 2002, 39 f). „Grundbedürfnisse lassen sich nicht von außen feststellen, allenfalls ein bestimmter Bedarf, den man u. U. auf ein Grundbedürfnis zurückführen kann. Aber auch die Bedarfsfeststellung kann nicht losgelöst vom Individuum (oder von einer Gruppe) erfolgen: Ein Bedarf ist trotz seiner so-
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8 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften zialen Dimensionen immer etwas subjektiv Empfundenes oder dem Subjekt Zugeschriebenes, solange er sich nicht in einer konkreten Nachfrage niederschlägt.“ (a.a.O., 40, Herv. i. Org.)
(Dazu auch Klauß 2006, 11 ff, der allerdings den Bedarfsbegriff stärker an die Frage koppelt, welche Mittel die Gesellschaft bereit ist zur Verfügung zu stellen, damit der Einzelne seine Bedürfnisse befriedigen kann.) Auch der Begriff der ‚Hilfe‘ erscheint Beck diskussionswürdig. Weil er sich auf eine konkrete und begrenzte Notlage bezieht, ist er wenig geeignet, die Unterstützung zu beschreiben, die Menschen mit Behinderungen benötigen (Beck 2002, 47). Die Behinderung liegt vielmehr in einer erhöhten sozialen Abhängigkeit bei der Bedürfnisbefriedigung und in erschwerenden sozialen und personalen Bedingungen im Prozess der Bedürfnisbefriedigung, so dass unterschiedliche Unterstützungsleistungen notwendig werden (vgl. a.a.O., 50). „Der behinderungsbedingte Hilfebedarf ist also eine vertiefte und individualisierte, auch spezialisierte Hilfe, die das Mehr an sozialer Abhängigkeit und Benachteiligung und an individuell erschwerter Alltagsbewältigung aufgreift, aber in einem allgemeinen Betrachtungsrahmen von Lebensführung und pädagogischer Zielsetzung, von angestrebter Qualität insgesamt, verankert sein muss.“ (A.a.O., 51)
Deshalb sind nach Beck die Behinderungsfolgen und ihre Auswirkungen im Hinblick auf die Lebensqualität der Person zu thematisieren. Hier verweist Beck auf den Lebensqualitätsbegriff von Glatzer und Zapf (1984). „Wichtig ist in diesem Konflikt von Sollen und Brauchen, dass beide Dimensionen bedacht und begründet werden.“ (A.a.O.) Damit können biographische und historische Faktoren, Faktoren des näheren und weiteren Umfeldes, sowie gesellschaftliche Normen und Vorstellungen ‚guten Lebens‘ besser in eine Planung von Unterstützungsleistungen einbezogen werden (vgl. a.a.O., 52 und 41). Die Bedarfserhebung kann dann unterteilt werden in die Bedarfe ‚Leistungen zur Alltagsbewältigung’, ‚Leistungen zur Bewältigung von Behinderung’, und ‚Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung’ (vgl. a.a.O., 52). Bedürfniskonzeptionen können allerdings dazu verleiten, möglichst alle Aspekte einer individuellen Lebenslage ermitteln zu wollen, weil sie nicht nur alltagspraktische Fähigkeiten, sondern auch psychosoziale Dimensionen beinhalten. Um einen ‚totalen Zugriff‘ auf die Lebenssituation behinderter Menschen zu verhindern, ist es deshalb sinnvoll, eine Hilfeplanung nur für einzelne Lebensbereiche oder Anlässe mit den Nutzern/innen zu vereinbaren, ohne aber die anderen Bereiche dabei vollständig aus dem Blick zu verlieren (vgl. a.a.O., 37 f; 2005, 397). So müssen grundsätzlich auch die Bereiche Pflege und Mobilität in die pädagogische Arbeit integriert werden (vgl. 2003, 56 ff). Auch Interessen der Nutzer/innen, die nicht durch die Instrumente erfragt werden können, sollten in die Hilfeplanung mit aufgenommen werden können. Spezielle Bedarfslagen z.B. ein besonders umfassender oder spezieller Pflegebedarf, herausfordernde Verhaltensweisen oder mögliche Krisensituationen sind über eine vertiefte und individuell ausgerichtete Analyse besonders sorgfältig zu erfassen und in der Hilfeplanung zu berücksichtigen (vgl. ebd.). Beck und Lübbe präferieren Arbeitsmaterialien, die in modularisierter Form flexibel für jeden Planungsprozess eingesetzt werden können und die durch ‚barrierefreie‘ Materialien für die Nutzer/innen ergänzt werden. Die methodische Ausgestaltung und Evaluation von Hilfeplanungen zeigt sich, so Beck und Lübbe in diesem Punkt bisher wenig konkret und ausge-
8.2 Diskussionen in pädagogischen Kontexten
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reift. Dobslaw verweist im Zusammenhang mit Methodenfragen auf die SMART-Regeln (auch wenn sie diese nicht explizit so benennt) (vgl. 2006, 89), die aus der Managementlehre stammen. Im Hinblick auf die Dokumentation der erhobenen Daten weisen Beck und Lübbe auf die Einhaltung des Datenschutzes hin; hier sehen sie dringenden Regelungsbedarf. (Vgl. Beck/ Lübbe 2003, 58 ff) Darüber hinaus müssen Anforderungen an die Partizipationsmöglichkeiten der Betroffenen auf allen Ebenen und in allen Bereichen formuliert werden (vgl. Beck 2002, 52f) und die Verantwortlichkeiten und Entscheidungswege geklärt werden, um die Beteiligung und die Sichtweise der Betroffenen sicher zu stellen, ohne sie zu überfordern. Das grundsätzliche Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle in Bereichen der Sozialen Arbeit ist in diesem Zusammenhang auch im Konzept der Hilfeplanung in der Behindertenhilfe zu diskutieren und kritisch zu reflektieren. Dass mit der Individuellen Hilfeplanung lebensweltliche Probleme letztlich institutionell bearbeitet werden, ist nach Beck ebenfalls ein Problem, welches der kritischen Auseinandersetzung und Klärung bedarf (vgl. Beck 2002, 58). Für die Hilfeplanung sollten deshalb möglichst institutions-unabhängige Mitarbeiter/innen eingesetzt werden, um die Interessen der Nutzer/in adäquat vertreten zu können (vgl. Beck/ Lübbe 2003, 58 ff, vgl. auch Dobslaw 2006). Unterstützungspersonen sollten versuchen, die Meinung der Nutzer/innen zu ermitteln und im Falle einer notwendigen stellvertretenden Fürsprache Arbeitshypothesen entwickeln, die aus der Perspektive der Nutzer/innen deren vermutlichen Wunsch und Willen beschreiben. Beck betont die Bedeutung der Umsetzung von Hilfeplanung, denn die Qualität personenbezogener Dienstleistungen entsteht erst in der Handlungsebene zwischen Unterstützer/innen und den Menschen mit Behinderungen „in der Art und Weise, wie über Bildung, Beratung und Begleitung immaterielle Bedürfnisse nach Persönlichkeitsentwicklung, Teilhabe, Anerkennung erfüllt und damit Hilfen zur Alltags- und Behinderungsbewältigung gegeben werden“ (Beck 2001, 6; vgl. 2002, 32 f). Fachkräfte, die Hilfeplanungen durchführen, müssen deshalb über solides Fachwissen, Erfahrung in der Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen, Konfliktlösungsstrategien, Instrospektions- und Reflexionsfähigkeit, sowie persönliche Kompetenzen zur Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen verfügen (vgl. Beck 2005b; Dobslaw 2006, 93). Schließlich müssen auch die Defizite der Person berücksichtigt werden, um die Faktoren zu erkennen, die die Integration der Person bisher verhindert haben (vgl. Dobslaw 2006, 93). Zugleich erscheint aber auch die Frage der Diagnostik im Rahmen der Hilfeplanung zentral, hier sind vor allem methodische Fragestellungen noch zu klären und entsprechende diagnostische Kompetenzen bei den Unterstützungspersonen zu entwickeln (vgl. Beck 2002, 56; 2005b, 395). Individuelle Hilfeplanung wird deshalb auch mit Fragen professionellen Handelns in der Heilpädagogik verknüpft (vgl. Greving 2001, 29 f; Beck 2005b, 396; Beck/ Lübbe 2003, 58 ff). Unter Bezugnahme auf Seeck und Ackermann (2000), sowie Oevermann (1996) bedeutet für Greving professionelles Handeln, die ambivalente Einheit von ‚Theorieverstehen‘ und ‚Fallverstehen‘ in der Interaktion mit behinderten Menschen zusammen zu bringen. Auch im Hinblick auf die Evaluation von Maßnahmen darf die Komplexität pädagogischer Situationen und ihr Technologiedefizit nicht ignoriert werden, damit Evaluation nicht zur Bewertung der ‚Förderbarkeit‘ einer Person wird (vgl. Beck 2005a, 443). Für die Durchführung der in der Hilfeplanung entwickelten Maßnahmen müssen deshalb Organisationsformen, Zuständigkeiten, Prozesse usw. ebenfalls angepasst werden, was eine pädagogisch orientierte Hilfeplanung zum Kernelement und Ausgangspunkt des Qualitätsmana-
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8 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften
gements macht (vgl. Beck 2002, 52 f; Beck/ Lübbe 2003, 60 f). Dazu müssen die Phase ermittelt werden, in der sich eine Einrichtung oder ein Dienst im Unternehmens-Lebenszyklus befindet und die organisationalen Strukturen bekannt sein (vgl. Greving 2001, 32 f). Erst in der gelebten Interaktion der Menschen zeigt sich aber das Lern-, Entwicklungs- und Veränderungspotenziale einer Einrichtung oder eines Dienstes (vgl. ebd.). Um über einen einzelnen Anbieter hinaus wirksam zu sein, müssen schließlich die Individuelle Hilfeplanung und die Konzepte zur Qualitätsentwicklung innerhalb der Einrichtungen und Dienste an ein regionales Sozialplanungskonzept anknüpfen (vgl. Beck 2002, 52 f; Beck/ Lübbe 2003, 60 f). Aufgrund der sozialen Bedingtheit der konkreten Ausgestaltung von Bedarfen lassen sich nach Beck in ähnlichen Lebensumständen ähnliche Bedarfslagen annehmen (vgl. Beck 2002, 41). Einrichtungen könnten durch eine Individuelle Hilfeplanung stärker als bisher miteinander kooperieren, um differenzierte und bedarfsgerechte Angebote entwickeln und dem gesetzlich geforderten Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen gerecht werden zu können (vgl. Beck/ Lübbe 2003, 60 f). 8.3 Konzepte Insgesamt zeigten die Recherchen zu der vorliegenden Arbeit, dass zwar einige Texte aus der ‚Wissenschaftsarena‘ entstanden sind, dass diese aber weder ein schlüssiges Diskursgeschehen darstellen (vgl. Unterkapitel 4.5), noch bisher wesentliche Versuche unternommen wurden, wissenschaftlich fundierte Konzepte Individueller Hilfeplanung zu entwickeln, die nicht zugleich als ‚Auftragsarbeit‘ für bestimmte Leistungserbringer oder Leistungsträger identifiziert wurden. Die Entwicklung von Konzepten scheint sich vor allem in den Arenen der Leistungsträger und Leistungserbringer zu vollziehen. Obwohl auch die Konzepte vieler Leistungserbringer (z.B. die Konzepte der Evg. Stiftung Alsterdorf, Diakonische Behindertenhilfe Lilienthal) und z.T. auch von Leistungsträgern (z.B. der IHP des Landes Rheinland-Pfalz) sich auf wissenschaftliche Theorien und Konzepte berufen, sind sie doch im Auftrag und damit aus Sicht der jeweiligen Einrichtungen entstanden. Nachfolgend sollen deshalb solche Konzepte in den Blick genommen werden, die für sich beanspruchen, nicht die Sichtweisen oder Interessen eines bestimmten institutionellen Settings zu vertreten. Sie lassen sich dabei aber nicht unbedingt einem wissenschaftlichen ‚Fach‘ (d.h. z.B. als pädagogische, sozialwissenschaftliche oder psychologische Konzepte) zuordnen, weshalb sie eher im Hinblick auf ihre inhaltliche Ausgestaltung ausgewählt wurden. In der Geistigbehindertenpädagogik existieren zahlreiche Konzepte zur Planung von Hilfen, die vor allem in den 1970er Jahren vor dem Hintergrund der Anerkennung des Bildungsrechts geistig behinderter Menschen und dem damit verbundenen Ausbau von besonderen Bildungs- und Hilfeeinrichtungen für diese Gruppe entwickelt wurden. Entsprechend beziehen sich die meisten Konzepte auf Kinder- und Jugendliche im Schulalter und sind an schulische Lernsettings gebunden. Konzepte der Förderplanung basieren in der Regel auf lerntheoretischen Grundlagen und stellen standardisierte Förderprogramme für die Entwicklung lebenspraktischer, kommunikativer oder motorischer Fähigkeiten dar (vgl. Trost 2003, 503). „Förderplanung heißt hier, diejenigen Bereiche zu identifizieren, in denen sich bei den Schülern oder Heranwachsenden mit geistiger Behinderung Entwicklungsrückstände feststellen lassen und aus den vorliegenden Programmen bzw. Trainings diejenigen Angebote einzusetzen, die am ehesten eine Verbesserung der jeweiligen Leistungsfähigkeit
8.3 Konzepte
201
versprechen.“ (Ebd.) Förderplanung umfasst in diesem Sinn nach einer Analyse von Sander (2000) die Beschreibung der Ist-Situation, die Definition angestrebter Förderziele, der Zusammenstellung beabsichtigter Fördermaßnahmen und den Förderzeitraum, an dessen Ende eine Überprüfung der Zielerreichung stattfinden soll (vgl. Trost 2003, 20). Förderplanung kann deshalb nach Trost für sehr eng umrissene Problemstellungen und spezifische Lernschwierigkeiten oder situationsübergreifend angelegt sein. Entsprechend unterschiedlich sind avisierte Förderzeiträume (vgl. ebd, 508 f). Trost spricht sich aber gegen eine Reduzierung von ‚Erziehung‘ auf ‚Förderung‘ aus, da ‚Förderung‘ nur ein Teilaspekt der Erziehung und Unterstützung von Menschen mit geistiger Behinderung ist, und sich nicht vollständig planen und operationalisieren lässt (vgl. a.a.O., 509 f). Konzepte der Förderplanung stehen heute in der Kritik, weil vor allem Leistungsdefizite von Menschen mit geistiger Behinderung gegenüber einer nicht behinderten ‚Normalbevölkerung‘ in den Blick nehmen (vgl. Trost 2003, 505 ff). Stärken und Fähigkeiten geraten dabei oft nicht in den Blick. Welche Fähigkeiten defizitär ausgebildet und welche Fähigkeiten mit welchen Zielen und welchen Methoden gefördert werden sollen, obliegt in der Regel der Definition von Fachkräften, die oftmals aufgrund der fachlichen Anforderungen an den/die Gutachter/innen und der psychologischen Ausrichtung der Verfahren Psychologen/innen sind und weniger jene Fachkräfte, welche die Betreuung und Begleitung der behinderten Menschen übernehmen. Die Durchführung der Maßnahmen obliegt dann pädagogischen Betreuungspersonen. Menschen mit Behinderungen werden so leicht zum passiven Objekt der Förderung. Ausgehend von dieser Kritik nennt Trost sieben Qualitätskriterien, die seiner Ansicht nach für eine Förderplanung gelten sollen, damit sie Menschen mit geistiger Behinderung eine weitestgehende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht:
Eine Kompetenzorientierung meint, die Fähigkeiten einer Person, mit den konkreten Anforderungen ihrer jeweiligen Lebenswelt umzugehen, zu erkennen und dabei die Wechselbeziehungen zwischen Person und Lebenswelt einzubeziehen (vgl. a.a.O., 512 ff). Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit bedeutet, autonome Handlungs- und Wahlmöglichkeiten für die Person zu schaffen, sie darin zu unterstützen, diese nutzen zu können und Abhängigkeiten zu reduzieren (vgl. a.a.O., 516 f). Einbeziehung der Perspektiven der Menschen mit geistiger Behinderung beinhaltet, mit der Person gemeinsam die Ziele und Maßnahmen zu planen und sie als Expertin in eigener Sache in alle Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Dabei geht es darum, die eigenen Relevanzsysteme zu verlassen und sich auf die Sicht- und Erlebensweise des Menschen mit Behinderung einzulassen, auch wenn dies nicht immer problemlos und konfliktfrei möglich ist. (Vgl. a.a.O., 518 f) Die ökosystemische Betrachtungsweise sieht den Menschen im Mittelpunkt eines Systems von sozialen, materialen und institutionellen Bezügen, die es im Rahmen einer Förderplanung in ihren Wechselwirkungen mit dem Menschen zu berücksichtigen gilt (vgl. a.a.O., 50 f). Individualisierung meint, die jeweiligen Hilfen an den Interessen und Bedürfnissen der Person auszurichten und nicht Themen oder Hilfebereiche an die Person heran zu tragen, die keine oder kaum Relevanz für sie besitzen (vgl. a.a.O., 521 f).
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8 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften Kooperative Planung und Zusammenarbeit meint, die Sicht von Eltern und anderen Bezugspersonen in den Planungsprozess einzubeziehen (vgl. a.a.O., 522 f). Struktur, Praktikabilität und Ökonomie weist auf die Klärung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten im Planungsprozess hin. Förderplanung soll nicht nur Bestandteil der Ausbildung von angehenden Pädagogen/innen sein, sondern auch praktikabel und ökonomisch einsetzbar unter regulären pädagogischen Arbeitsbedingungen, also flexibel und überschaubar in der Handhabung sein. (Vgl. a.a.O., 523 f)
Bensch und Klicpera (2003a; 2003b) sehen vor allem in der Umsetzung des Normalisierungsprinzips und der Selbstbestimmung behinderter Menschen die Notwendigkeit, fachliche Konzepte für die Unterstützung dieses Personenkreises zu entwickeln (Bensch, Klicpera 2003b, 10 ff). Sie verknüpfen deshalb Elemente der im angloamerikanischen Bereich verbreiteten ‚individual habilitation plans‘ zu einem Konzept ‚Dialogischer Entwicklungsplanung‘. Die Dialogische Entwicklungsplanung basiert auf den vier Grundelementen der Priorität der Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung, dem Lebensstil der Personen und Lebensqualität als Grundlage der Planung, der Orientierung an gewünschten Aktivitäten und die Arbeitsweise der betreuenden Personen und dem Prinzip des Case Managements (vgl. Bensch/ Klicpera 2003a, 10; 2003b, 43). Sie soll den neuen fachlichen Anforderungen nach einer stärkenorientierten Förderplanung, die die subjektive Sicht und Selbstbestimmung der betroffenen Person berücksichtigt, gerecht werden (vgl. Bensch/ Klicpera 2003a, 22 ff; 2003b, 41). Unter Förderplanung verstehen die Autoren Maßnahmen, die auf ein Ziel ausgerichtet sind, geplant und reflektiert werden. Fördermaßnahmen dienen der Weiterentwicklung eines Menschen und stellen deshalb keine einmalige Episode dar, sondern werden wiederholt angewandt (vgl. Bensch/ Klicpera 2003a, 15). Dabei grenzen sich die Autoren allerdings von normativen Konzepten der Förderplanung ab, da in diesen Konzepten das „wesentliche Kriterium für die Auswahl von Förderzielen die fehlenden Fertigkeiten der Menschen mit Behinderung“ sind (Bensch/ Klicpera 2003a, 18, unter Bezugnahme auf Bensch 1998). Die diagnostischen Prozesse in diesen Konzepten sind nach Ansicht der Autoren methodisch ungenau, da Wahrnehmungstendenzen und verzerrungen des Betreuungspersonals nicht berücksichtigt würden (vgl. a.a.O., 20). Aus einer derartigen Diagnostik lassen sich zudem nur rein kompensatorische und korrektive Maßnahmen entwickeln (ebd.). Zudem ist das Bild von Menschen mit Behinderungen defizitorientiert und die Gesamtpersönlichkeit des Menschen mit seinen Stärken und Schwächen wird nicht ausreichend anerkannt (ebd.). Schließlich werden die Menschen mit Behinderungen weder in der Zielauswahl noch in der Planung von Maßnahmen einbezogen. Das Verfahren der Dialogischen Entwicklungsplanung gliedert sich ähnlich den bereits vorgestellten Verfahren in die Teile Erhebung bzw. Diagnostik, Planung, Durchführung und Evaluation (vgl. Bensch/ Klicpera 2003a, 16). Zunächst sollen die aktuelle Lebenssituation der betroffenen Person und ihre Bedürfnisse ermittelt werden, wozu ein Gesprächsleitfaden genutzt werden kann, der die Lebensbereiche Wohnen, Freizeit, Bildung, Tagesstruktur/ Arbeit, soziales Umfeld/ soziale Kontakte/ Beziehungen, rechtliche und finanzielle Angelegenheiten, Gesundheit/ körperliches Wohlbefinden und Persönlichkeitsentwicklung umfasst (vgl. Bensch/ Klicpera 2003b, 46). Aber auch andere Methoden wie Stellvertreterbefragungen mit Bezugspersonen, beschreibende Beobachtungen, Erhebung augenblicklicher Aktivitäten und Dokumentenstudium zur Lebensgeschichte der Person können zur Beantwortung der Fragen hinzugezogen werden (vgl. Bensch/ Klicpera 2003a, 47 f). Dabei
8.3 Konzepte
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sollen in den Lebensbereichen die Dimensionen Präsenz und Integration in die Gesellschaft, Freie Wahl, Kompetenzen, Ansehen und gesellschaftliche Teilnahme durch entsprechende Leitfragen berücksichtigt werden (vgl. Bensch/ Klicpera 2003b, 38 ff). „Gegenstand dieser Erhebung sollte nicht sein, was der Mensch mit geistiger Behinderung kann bzw. nicht kann, vielmehr sollten Bereiche wie Interessen, Bedürfnisse, Werthaltungen, soziale Kontakte usw. angesprochen werden“ (ebd.). Zunächst werden die Einschätzung der Person selbst zu ihrer aktuellen Lebenssituation, ihre Zufriedenheit und mögliche Veränderungswünsche sowie vorhandene Kompetenzen der Person und notwendige Veränderungen des Betreuungsangebots in Bezug auf diesen Lebensbereich erfragt (vgl. Bensch/ Klicpera 2003b, 47). Dann findet die Zielplanung im Rahmen einer Planungsbesprechung statt, an der neben der betroffenen Person und einem/er Unterstützer/in auch andere wichtige Personen aus dem sozialen Umfeld der Person teilnehmen sollen. Die betroffene Person bestimmt dabei selbst, welche Personen zu der Besprechung eingeladen werden sollen (vgl. Bensch/ Klicpera 2003b, 48). Die Besprechung gliedert sich in die Schritte Einführung in das Konzept der Dialogischen Entwicklungsplanung, Darstellung der Lebenssituation der Person, Darstellung der bereits von ihr und mit ihr erarbeiteten Entwicklungsziele, Auswahl von wichtigen Zielen, Erstellung eines schriftlichen Entwicklungsplans (vgl. ebd.). Der Entwicklungsplan soll möglichst konkret formulierte Ziele, die für die Erfüllung notwendigen Schritte und Methoden, sowie Zuständigkeiten und einen Zeitplan umfassen. Die Durchführung der einzelnen Schritte soll fortlaufend dokumentiert werden, um den Fortschritt und den Erfolg der Maßnahmen erkennen zu können (vgl. Bensch/ Klicpera 2003b, 50). Die dialogische Entwicklungsplanung stellt die jeweilige Lebenssituation des Menschen mit einer Behinderung in das Zentrum der Überlegungen. Dabei geht es um eine pädagogische Förderung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im Zusammenhang mit der Gestaltung der verschiedenen Lebensbereiche der Person gesehen werden. Einerseits ist eine starke Strukturierung durch die Leitfragen und die Prozessschritte gegeben, andererseits bleibt das Verfahren im Hinblick auf die Methoden zur Beantwortung der Fragen offen, sofern diese einen Einblick in die Perspektive der Person ermöglichen. Ähnlich wie Bensch und Klicpera bezieht sich auch Doose (2004) auf angloamerikanische Konzepte des ‚person centered planning‘, der personenzentrierten Unterstützungsplanung. Wie die beiden vorangehend dargestellten Autoren sieht er im Ansatz der ‚Persönlichen Zukunftsplanung‘ weniger ein in sich geschlossenes Instrument und Verfahren, sondern vielmehr einen methodischen Ansatz, „mit Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam über ihre Zukunft nachzudenken, sich Ziele zu setzen und diese gemeinsam mit anderen konkret abzuarbeiten“ (Doose 2004, 3; vgl. auch Trost 2005, 207). Ausgangspunkt aller Verfahren ist eine normative Basis, die sich auf das Verhältnis zwischen der Person mit Behinderung und ihren Helfern bezieht (vgl. Trost 2005, 208). Die Grundannahme des Ansatzes lautet, dass die jeweils planende Person unabhängig von ihren Beeinträchtigungen prinzipiell selbst über ihr Leben bestimmen kann. Auch in Krisenzeiten hat sie Stärken, Fähigkeiten und Interessen und ein uneingeschränktes Recht auf ungehinderte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (vgl. Emmrich 2004, 22). Deshalb gibt es auch keinen vorgesehenen Anlass für eine Zukunftsplanung, sondern sie kann immer dann stattfinden, wenn die Person vor einer Entscheidung steht, unzufrieden mit ihrer derzeitigen Situation insgesamt
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8 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften
oder in einem Teilbereich ihres Lebens ist oder Lebensperspektiven entwickeln möchte (vgl. Emmrich 2004, 23; Lindmeier/ Meyer 2005, 2). Die Persönliche Zukunftsplanung ist prinzipiell nicht auf einen Lebensbereich oder Lebensabschnitt begrenzt und unabhängig vom zersplitterten System der Zuständigkeiten in der Behindertenhilfe zu sehen (vgl. Lindmeier/ Meyer 2005, 2) ‚Persönliche Zukunftsplanung‘ wird dagegen explizit von ‚institutioneller Planung‘ abgegrenzt, womit solche Konzepte gemeint sind, welche die Person im Kontext der verfügbaren Maßnahmen von Behinderteneinrichtungen sehen (Doose 2004, 12; Emmrich/ Gromann/ Niehoff 2006, 193). Doose erläutert die Prinzipien des Ansatzes an einer umfassenden Kritik an institutioneller Hilfeplanung (vgl. Doose 2004, 12). Solche Hilfeplanung ist vorgeschrieben, Persönliche Zukunftsplanung ist aber in jedem Fall freiwillig. Bei institutioneller Hilfeplanung wird ein festgestellter Unterstützungsbedarf immer abgeglichen mit einem vorhandenen Maßnahmenangebot, während die Persönliche Zukunftsplanung zunächst unabhängig von institutionellen Rahmenbedingungen stattfindet (vgl. Emmrich/ Gromann/ Niehoff 2006, 197). Eine Persönliche Zukunftsplanung kann aber die institutionelle Hilfeplanung gut ergänzen (vgl. 198). Wichtigstes inhaltliches Element der persönlichen Zukunftsplanung sind die persönlichen Träume der Person. Es geht allerdings nicht darum, alle persönlichen Träume der Person unreflektiert erfüllen zu wollen, sondern herauszuarbeiten, was der (motivationale) Kern dieser Träume ist, um zu erkennen, welche Bedürfnisse dahinter zu finden sind (vgl. Doose 2004, 19; Trost 2005, 210). „Die Kraft des Prozesses Persönlicher Zukunftsplanung liegt in seiner Orientierung auf die Möglichkeiten in der Wirklichkeit. Die Vielfalt von Ideen kommt dann zustande, wenn man konstruktiv die Wirklichkeit mit verschiedenen Leuten aus verschiedenen Perspektiven zu beschreiben, zu drehen und zu wenden beginnt.“ (Doose 2004, 20) Dadurch wird es möglich, realisierbare Vorschläge zu entwickeln, die diese Bedürfnisse erfüllen können und der Realisierung der Träume möglichst nahe kommen. Für eine konkrete Planung erscheint es dann auch in diesem Konzept notwendig, zwischen Kurz-, Mittel- und Langfristzielen zu unterscheiden und für jedes Ziel die notwendigen Schritte zu beschreiben. So wird der Zukunftsplan in einen Aktionsplan übersetzt, der künftig als Orientierungshilfe für die weitere Arbeit gilt (vgl. a.a.O., 21). Die Person mit einer Behinderung steht in der Persönlichen Zukunftsplanung sowohl im Hinblick auf inhaltliche Fragen, als auch im Hinblick auf die Gestaltung des Prozesses als aktive Gestalterin im Zentrum. Unterstützt wird der Prozess durch so genannte Unterstützerkreise. Sie sollen nicht nur in der Planungsphase, sondern vor allem auch in der Realisierung der vereinbarten Schritte die Person in ihren Vorhaben unterstützen und durch regelmäßige Treffen den Prozess weiterentwickeln helfen (vgl. Doose 2004, 21 f; Emrich 2004, 24; Lindmeier/ Meyer 2005, 3; Lindmeier 2006; Emmrich/ Gromann/ Niehoff 2006, 190). Dabei sollen verschiedene Materialien und Hinweise zum Einsatz kommen. Der Prozess der Persönlichen Zukunftsplanung wird nicht nur als reiner Arbeitsprozess verstanden werden, sondern soll den Beteiligten auch Freude am gemeinsamen Tun bereiten und deshalb auch für alle Beteiligten möglichst angenehm gestaltet werden (vgl. Doose 2004, 20). Zudem sucht sich die Person eine/n Unterstützungsagenten/in, der/die möglichst nicht aus dem Kreis der professionellen Helfer stammt, und der/die die Person in der Vorbereitung und Organisation der Zukunftsplanung unterstützen soll (vgl. Doose 2004, 22). Die Persönliche Zukunftsplanung setzt stark auf das freiwillige Engagement der Beteiligten (vgl. Lindmeier/ Meyer 2005, 13). Zudem erscheint der Prozess für alle Beteiligten
8.3 Konzepte
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aufwändig zu sein und setzt Kreativität und Vertrauen in einen Erfolg der gemeinsamen Arbeit voraus. Darin besteht eine Schwierigkeit des Ansatzes, da Menschen mit einer geistigen Behinderung, wenn ihre Biographie stark durch Sondereinrichtungen und professionelle Fürsorge geprägt ist, kaum über informelle soziale Netze verfügen (vgl. ebd.; Lindmeier 2006). Wie informelle soziale Netze aufgebaut und gestärkt werden können, klärt der Ansatz aber nicht. Das Konzept zeigt aber das Potenzial, tatsächlich individuelle Unterstützungsarrangements zu entwickeln, die auch notwendige Unterstützungsressourcen für das Umfeld beinhalten können. Allerdings bleibt relativ unklar, wie im Konfliktfall mit divergierenden Zielsetzungen und Bedürfnissen der behinderten Person und Personen in ihrem Umfeld umgegangen werden kann. Darüber hinaus besteht noch immer ein Klärungsbedarf, in welcher Weise die Ergebnisse der Zukunftsplanung, die auf kreative Lösungen jenseits des etablierten Hilfesystems setzt, mit einer leistungsträgerbezogenen Hilfeplanung verknüpft werden kann. Es wird zwar verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse einer Persönlichen Zukunftsplanung für die Zielformulierung von Gesamtplänen genutzt werden können (vgl. Gromann 2009), allerdings stehen hier gesetzliche Regelungen zu Leistungsvereinbarungen und Leistungstypen unter Umständen den in der Persönlichen Zukunftsplanung entwickelten Lösungsansätzen entgegen. Mit dem AQUA-UWO (Arbeitshilfe zur Qualitätsentwicklung in Diensten für Unterstütztes Wohnen von Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. Aselmeier et al. 2001) und dem NetOH-Konzept (Netzwerke Offener Hilfen für Menschen mit Behinderung (vgl. Rohrmann et al. 2001) wurde ein eher sozialwissenschaftlich orientiertes Gesamtkonzept zur Qualitätsentwicklung von Hilfen im Unterstützten Wohnen entwickelt, welches die individuumzentrierte Sicht der Individuellen Hilfeplanung mit einer institutionen-orientierten Qualitätssicherung und einer Vernetzung von Hilfen im Sozialraum herstellen soll. Individuelle Hilfeplanung hat hier die Funktion, Passgenauigkeit herzustellen, „d.h. Hilfen für Menschen mit Behinderungen sollen auf den individuellen Hilfebedarf der Betroffenen in ihrer konkreten Lebenssituation zugeschnitten sein. Individuelle Hilfeplanung soll dazu dienen, den einzelnen Menschen bei der Zusammenstellung eines Arrangements professioneller und informeller Hilfen zu unterstützen.“ (Aselmeier et al. 2001, 169) Der Ansatz geht damit, ähnlich wie die Persönliche Zukunftsplanung, explizit nicht von einer bereits bestehenden ‚Hauptverantwortung‘ einer Einrichtung oder eines Dienstes für die Hilfen einer Person aus, sondern bezieht das ‚Assessment‘, die ‚Gesamtplanung‘ des Sozialhilfeträgers und die ‚Umsetzungsplanung‘ mit einem von dem/r Nutzer/in ausgewählten Dienst in das Konzept ein (vgl. a.a.O. 170). Das Konzept thematisiert deshalb den Zusammenhang von leistungsrechtlichen Fragen und inhaltlichen Fragen der Hilfeplanung. Dabei werden aber vor allem die Aufgaben und Funktionen der potenziellen Leistungserbringer im Prozess der Hilfeplanung thematisiert und insbesondere die Rechte und Entscheidungsfreiheit der Nutzer/innen in Verfahrensvorschläge übersetzt. Im Vergleich zu anderen Konzepten wird allerdings der Ansatz des ZPE nicht bis ins Detail ausgearbeitet, sondern verbleibt auf der Ebene eines ‚Rahmenkonzepts‘ mit Umsetzungsvorschlägen, da es ein zentrales Merkmal dieses Ansatzes ist, die regionalen Unterschiede zu berücksichtigen. Deshalb soll beispielsweise die inhaltliche Gestaltung des Assessments mit den Beteiligten der jeweiligen Region ausgehandelt werden und sich an den dortigen Bedingungen orientieren (vgl. Rohrmann et al. 2001, 99).
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8 Individuelle Hilfeplanung aus Sicht von Fachwissenschaften
8.4 Zusammenfassende Aspekte Die fachliche Diskussion um Individuelle Hilfeplanung fasst einerseits Perspektiven von Leistungsträgern und Leistungserbringern zusammen und greift erneut Aspekte auf, die in diesen Kontexten bereits beschrieben wurden. Andererseits zeigen sich in der heilpädagogischen Diskussion Versuche der begrifflichen Klärung und damit einer Verschiebung von einem technokratischen Verständnis Individueller Hilfeplanung als Frage des ‚Managements‘ und der ‚Planung‘ von Hilfen als vielmehr als Bestandteil der Auseinandersetzung um die heilpädagogische Aufgabe. Allerdings, so zeigte bereits die ‚Globalanalyse‘ des Diskursfeldes (Kap. 4), verweisen die Beiträge aus der (wissenschaftlichen) Fachwelt weniger auf einen eigenständigen intensiven Diskurs, sondern eher auf den Versuch Einzelner, den Beiträgen von Leistungserbringern und Leistungsträgern reflektierende Momente beizusteuern. Der förderorientierte Ansatz greift verschiedene Elemente anderer Konzepte auf, blendet dabei aber das Spannungsverhältnis unterschiedlicher Interessen, das bei gleichzeitiger Förder- und Personenorientierung entsteht, aus und geht auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der Beteiligten in dem Prozess nicht ausreichend ein. Die Partizipation der behinderten Menschen droht so zur Leerformel zu werden. Die personenzentrierten Verfahren beziehen sich auf das Konzept des ‚Case-Managements‘ und nehmen eine tendenziell angebotsunabhängige Perspektive ein. Trotz der formalen Analogie in den Verfahrensschritten zu den Verfahren der Leistungsträger zeigt sich aber bei den stark personenbezogenen Konzepten das Problem, dass diese besonders aufwändig erscheinen und aufgrund ihrer Anlass- und Ergebnisoffenheit nur begrenzt anschlussfähig an die Leistungsbemessungsverfahren der Leistungsträger sind. Zudem muss auch bei diesen Verfahren untersucht werden, inwiefern die postulierte Selbstbestimmungsperspektive und demokratische Vereinbarungskultur nicht Asymmetrien in den Beziehungen der Beteiligten und damit Durchsetzungsmöglichkeiten verschleiern, bzw. verhindern, dass solche ‚Machtgefälle‘ aufgedeckt und thematisiert werden können. So erfordert die Sicherung der ‚Qualität‘ dieser Verfahren eine besondere Gesprächsführungs- und reflektorische Kompetenz der ‚Unterstützungsagenten‘ und Moderatoren. Bei den eher förderorientierten Verfahren soll die ‚Qualität‘ der Planung vor allem über formalisierte Verfahrensabläufe und normierten Erhebungsverfahren sichergestellt werden. Beide Zugänge für sich genommen erscheinen deshalb problematisch. Insofern zeigt sich, dass die ‚fachwissenschaftliche Perspektive‘ keinen eigenständigen Diskurs darstellt, sondern andere Diskurse aufgreift und ergänzt. Auch im Hinblick auf die Entwicklung von Instrumenten stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um grundsätzlich ‚andersartige‘ Konzepte handelt, oder vielmehr die gleichen Probleme anderer Konzepte hier wieder neu aufgeworfen wurden. Deshalb werden im nachfolgenden Kapitel die bis hierher untersuchten Arenen des Dispositivs zusammengeführt zu einer Betrachtung der ‚Individuellen Hilfeplanung‘ unter gouvernementalitätstheoretischen Aspekten.
9 Dimensionalisierung von Hilfeplanungskonzepten
Zunächst soll der Blick auf Konzepte Individueller Hilfeplanung als diskursgenerierte Modellpraktiken gerichtet werden. Neben den Aussagen und ‚Wahrheitsproduktionen‘ über Individuelle Hilfeplanung entfaltet das Dispositiv seine Wirkung vor allem über die Konzepte, die es hervorbringt, und die die Praxis des Unterstützen Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung gestalten und nachhaltig verändern. In diesem Verständnis lassen sich Hilfeplanungskonzepte danach unterscheiden, in welcher Weise sie inhaltlich oder formal konzipiert sind. In der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Diskursarenen, in denen Individuelle Hilfeplanung thematisiert wird, wurde deutlich, dass es keine einheitliche Beschreibung dieses Phänomens gibt, sondern sehr unterschiedliche Konzepte unter dem Begriff firmieren. Die Beschreibungen der Diskursarenen in den vorangegangenen Kapiteln zeigen vor allem, dass die von Beck und Lübbe (2003) vorgenommene Unterscheidung in verwaltungstechnisch/ administrative Hilfeplanungsinstrumente und pädagogische Hilfeplanungsinstrumente aus der spezifischen Fragestellung der Expertise entstanden ist und bei einer breiter angelegten Recherche nicht beibehalten werden kann. Vielmehr erscheint es sinnvoll, die unterschiedlichen Konzepte, die sich als Individuelle Hilfeplanung für Menschen mit Behinderungen verstehen, im Hinblick auf unterschiedliche Dimensionen zu unterscheiden. Diese Dimensionen liegen quer zu der bisherigen Darstellung und gelten für Hilfeplankonzepte aus allen Arenen. Individuelle Hilfeplanung lässt sich zunächst einmal im Hinblick auf verschiedene zeitliche Dimensionen unterscheiden. Individuelle Hilfeplanung kann regelmäßig in festgelegten Intervallen oder nur zu bestimmten Zeitpunkten in der Biographie einer Person stattfinden (z.B.: Empfehlung der BAGüS 1999, s.o. 153; Hilfeplankonzept in Rheinland-Pfalz, s.o. 165 26). Dieser Aspekt ist mit der Frage des Planungsanlasses verknüpft, aus dem heraus eine Hilfeplanung stattfinden soll. So kann Hilfeplanung beispielsweise durch einen Antrag auf Eingliederungshilfe veranlasst sein (vgl. Konzepte von Leistungsträgern, s.o. 160 ff), aus der persönlichen Motivation einer Person, ihre Lebensumstände verändern zu wollen (z.B. Konzept der ‚Persönlichen Zukunftsplanung‘, s.o. 203 ff), als ‚Assessment-Instrument‘ bei Neukunden/innen einer Einrichtung oder eines Dienstes, oder als Bestandteil der regelmäßigen Erneuerung des Unterstützungsbündnisses zwischen einer Person mit Behinderung und ihren Unterstützungspersonen (insbesondere der Ansatz von Urban, s.o. 188). Auch der fokussierte Planungszeitraum im Lebenslauf der unterstützten Person ist von Bedeutung. Auf eher langfristige Veränderungen abzielende (‚strategische‘) Konzepte (z.B. Konzept der ‚Persönlichen Zukunftsplanung‘, s.o. 203 ff), sind von Konzepten mittlerer Reichweite (z.B. die Konzepte der Leistungsträger, s.o. 160 ff, die langfristige Perspektiven 26 Verweise auf Beispiele ‚Individueller Hilfeplanung‘, die im Verlauf dieser Arbeit vorgestellt wurden, werden nachfolgend zur Unterscheidung von Quellenbelegen kursiv gesetzt.
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9 Dimensionalisierung von Hilfeplanungskonzepten
oft benennen, aber nicht konsequent in die Planung von Hilfen einbeziehen) und der ‚operativen‘ Betreuungsplanung, welche die konkrete und kurzfristige Planung der Unterstützung fokussiert, zu unterscheiden, auch wenn einige Autoren/innen eine Verknüpfung der verschiedenen Konzepte für sinnvoll erachten (vgl. Grohmann 2009, 3). Einrichtungsinterne Hilfeplanung kann beispielsweise von einer kurz–mittelfristigen Umsetzungsplanung konkreter Hilfen inklusive Dienstplangestaltung und Vertretungsregelung, über eine mittelfristige Begleit- bzw. Assistenzplanung bis hin zu einer mittel- bis langfristigen Perspektivplanung im Hinblick auf die Lebenslage einer unterstützten Person reichen. Auch die Frage nach dem ‚Ausgangszeitpunkt der Planung’ stellt eine Unterscheidungsdimension dar. Es lässt sich zwar fast kein Konzept finden, in dem keine in die Zukunft gerichteten Ziele für die zu planenden Hilfen formuliert werden. Einige Konzepte zur Hilfeplanung gehen aber bei der Planung der Hilfen stärker vom gegenwärtigen Hilfebedarf aus und planen von dort aus notwendige Schritte (z.B. Individuelle Hilfeplanung im GBM oder SYLQUE, s.o. 177 ff; P-A-C Konzept, s.o. 180 f) in einer Art ‚Vorwärtsplanung’, während andere eine künftige, gewünschte Situation in der Zukunft zum Ausgangspunkt nehmen, und von dort in einer Art ‚Rückwärtsplanung’ die notwendigen Schritte zur Realisierung dieser Situation planen (z.B. die dialogische Entwicklungsplanung, s.o. 202 f; Persönliche Zukunftsplanung, s.o. 203). Bei gegenwartsorientierten Verfahren besteht die Gefahr, dass sie bei genauerer Betrachtung tatsächlich Instrumente lediglich die Fortschreibung einer bestehenden Unterstützungssituation ermöglichen. Die Fokussierung auf die gegenwärtigen Hilfebedarfe kann zudem dazu führen, dass lediglich die Defizite der Person in den Blick genommen werden, die minimiert oder kompensiert werden sollen, anstatt darüber nachzudenken, auf welchem Wege eine gewünschte Lebenssituation realisiert werden kann. Dagegen lässt sich bei Konzepten, die von einem Zeitpunkt in der Zukunft ausgehen, die potenzielle Gefahr erkennen, ein lineares Zukunftsmodell und die umfassende Planbarkeit von Entwicklungsverläufen zu unterstellen, sowie die gegenwärtigen Bedingungen der Lebenssituation der Person auszublenden. Entsprechend unterschiedlich ist der ‚Detaillierungsgrad‘ von Hilfeplanung, aber auch die Bedeutung für die Lebensgestaltung der Person. Instrumente zur Hilfeplanung im Rahmen der Eingliederungshilfe sollen den Umfang und die Form professioneller Hilfen festlegen (vgl. Abschnitt 0). Der Umfang wird in der Regel entweder als Summe von Fachleistungsstunden in einem festgelegten Zeitraum oder als zusammengesetzter Score-Wert eines Bedarfsfeststellungsverfahrens (z.B. dem HMB-W Bogen, vgl. Abschnitt 6.2.2) bestimmt. Die Planung der Hilfen bezieht sich auf die Form (ambulante, teilstationäre oder stationäre Hilfe) der Hilfe, besteht aber dann aus kaum mehr als der Benennung des Leistungstyps. Wie aber die Hilfen zur Erreichung der im Hilfeplan benannten Ziele konkret gestaltet sein sollen, obliegt dann der Planung der ausführenden Leistungserbringer gemeinsam mit den behinderten Menschen. Im Hinblick auf den Detaillierungsgrad erscheint in diesen Fällen die Relation zwischen Hilfebedarfsermittlung und Hilfeplanung unausgewogen. Im Hinblick auf die Reichweite und Bedeutung für die weitere Lebensgestaltung für die Person erscheint allerdings eine sorgfältige Bedarfsermittlung sinnvoll, denn mit der Hilfeplanung wird in der Regel der weitere Lebensort festgelegt. Eine persönliche Betreuungsplanung für die gemeinsame Arbeit zwischen der behinderten Person und einer Unterstützungsperson bezieht sich dagegen stärker auf Details der Lebenssituation (z.B. Betreuungsplanung nach
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dem GBM-Verfahren, s.o. 177 ff; Ansatz von Urban, s.o. 188 ff), ist dafür aber unter Umständen weniger entscheidend für die Person, weil die Unterstützung nur einen Teilaspekt ihres Lebens ausmacht. Konzepte Individueller Hilfeplanung können sich in der Reichweite ihres Einsatzbereichs unterscheiden. So zeichnen sich einige Konzepte durch einen hohen Grad an Spezialisierung aus z.B. für bestimmte Behinderungsarten oder Lebensbereiche (z.B. IBRP, s.o. 162 ff; P-A-C, s.o. 180 ff) oder können sich als umfassende Instrumente verstehen, die möglichst die gesamte Lebenswirklichkeit der Person berücksichtigen sollen und unabhängig von der Art der Behinderung eingesetzt werden können (z.B. die Persönliche Zukunftsplanung, s.o. 203 ff; Konzept der Teilhabeplanung in Rheinland-Pfalz, s.o. 165). Was dabei als Vorteil umfassender Konzepte gilt, kann zugleich als Nachteil spezialisierter Konzepte verstanden werden und umgekehrt. Während spezialisierte Konzepte eine höhere ‚Passgenauigkeit’ ermöglichen und spezifische Hilfebedarfe besser abbilden können, wird für die umfassenden Instrumente argumentiert, dass sie besser in der Lage sind, für die Person ein Hilfekonzept wie ‚aus einer Hand’ zu entwickeln und für die Einrichtungen und Dienste eine leichtere Handhabung der Hilfeplanung ermöglichen. Schließlich gibt es auch Unterscheidungen dahingehend, wer und wie viele Personen an der Hilfeplanung beteiligt werden sollten und wer dabei eine Führungsposition übernehmen sollte. Die Vorstellungen reichen von einer unabhängigen Beratungsstelle oder einem externen Fachdienst (beispielsweise mit den KoKoBes des LVR, s.o. 166 ff, 186), über einen hausinternen Fachdienst (wie dem örtlichen Gesundheitsamt, z.B. im Konzept der Teilhabeplanung in Rheinland-Pfalz, s.o. 165 f) oder professionelle Unterstützungspersonen (z.B. beim ITP in Hessen, s.o. 167 f) oder auch private Vertrauenspersonen des Menschen mit Behinderungen. Dabei lassen sich zwei verschiedene Argumentationen ausmachen: Sollen fremde Personen, z.B. eines unabhängigen Beratungsdienstes oder des zuständigen Leistungsträgers mit der Person die Hilfeplanung durchführen, dann soll diese Konstellation sicher stellen, dass tatsächlich die persönliche Sicht der Person erfasst wird, ohne dass es zu Überformungen und Verzerrungen der Sichtweisen durch die vertraute Personen kommt. Die andere Argumentation geht davon aus, dass gerade die vertrauten Personen, mit denen ein Mensch eine längere Beziehung pflegt, in der Lage sind, auch Wünsche und Bedürfnisse der Person zu benennen, die diese ohne eine solche persönliche Unterstützung nicht benennen könnte. In beiden Fällen stellt aber die Gesprächssituation den Menschen mit Behinderung in das Zentrum und es wird versucht, ein möglichst umfassendes Bild von ihm zu gewinnen. In einer zweiten Planungsphase werden dann in der Regel weitere Personen hinzugezogen. Diese können einen ‚Unterstützerkreis’ aus vertrauten und bekannten Personen (z.B. in der Persönlichen Zukunftsplanung, s.o. 203 f), einen Kreis von Vertreter/innen unmittelbar für diese Person relevanter Leistungserbringer und Leistungsträger (z.B. in der rehistorisierenden Hilfeplanung, s.o. 187; wurde ursprünglich im IBRP angedacht, von den Leistungsträgern aber kaum übernommen, s.o. 162 f) oder eine Teilhabe-/ bzw. Belegungskonferenz aus regelmäßigen Vertretern von Leistungsträgern und Leistungserbringern (vgl. bspw. Teilhabeplanverfahren in Rheinland-Pfalz, s.o. 165 f; ITP in Hessen, s.o. 167 f; Hilfeplanverfahren im Rheinland, s.o. 166 f) in der Region bilden. So unterschiedlich diese Konstellationen sind, so ist ihnen gemeinsam, dass die Planung der Hilfesituation einer einzelnen Person scheinbar die Beteiligung vieler anderer Personen benötigt. Sie sollen
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sicher stellen, dass einerseits die subjektive Sicht der Person auf ihre Lebenssituation, andererseits eine objektive Sicht auf die Situation möglich wird. Damit wird der Hilfebedarf einerseits individualisiert, weil er nur auf die einzelne Person bezogen gedacht wird und andererseits aber auch objektiviert und zu einer ‚Gemeinschaftsangelegenheit‘ gemacht. Auch wenn inzwischen in den meisten Konzepten Hilfebedarfsfeststellung und Hilfeplanung getrennt werden, liegen die Schwerpunkte im Prozess häufig in der Beschreibung der Ausgangssituation und der Feststellung eines Hilfebedarfs (z.B. P-A-C Konzept, s.o. 180 f; SYLQUE, s.o. 178 f; Teilhabeplanung in Rheinland-Pfalz, s.o. 165). Viele Konzepte zergliedern dazu zunächst die Lebenssituation der Person in Lebensbereiche und erfragen anschließend innerhalb dieser Lebensbereiche die Fähigkeit der Person, zentrale funktionale Tätigkeiten auszuführen (beispielsweise in einem Lebensbereich ‚Alltagsversorgung’ die Tätigkeit ‚Zubereitung einfacher Mahlzeiten’) (vgl. auch Kapitel 7 und Unterkapitel 8.3). Einige Verfahren vermeiden zwar weitgehend eine differenzierte Zuordnung von Tätigkeiten zu Lebensbereichen, sondern versuchen ein umfassendes Fähigkeitsprofil der Person zu erstellen (vgl. z.B. ITP Hessen, s.o. 167 f). Allerdings erscheint auch hier die Auswahl von relevanten Fähigkeiten noch wenig fachlich begründet. In der Regel kann im Anschluss an die Bedarfsfeststellung lediglich aus einem mehr oder weniger fest stehenden Angebot von professionellen Hilfen ausgewählt werden – es geht nur in wenigen Konzepten darum, tatsächlich neue und individuell spezifische Hilfen zu konzipieren. Hier zeigt sich noch ein deutlicher Entwicklungsbedarf. Die eigentliche Planung der Gestaltung der Hilfen wird in der Regel der informellen Absprache und Aushandlung zwischen der behinderten Person und den Leistungserbringern bzw. den Fachkräften überlassen. Einige Hilfeplanungsinstrumente fokussieren aber stärker auf die tatsächliche Planung von Hilfen. Ihr Ansatz ist die mittel- und langfristige Entwicklung von Lebensperspektiven für die Person und die Suche nach den dafür notwendigen Hilfen, die auch jenseits bestehender (Spezial-)Angebote für Menschen mit Behinderungen gefunden werden können und stärker auf die Umfeldgestaltung, als die Entwicklung der Person abzielen (z.B. die Persönliche Zukunftsplanung, s.o. 203; der Ansatz zur Qualitätsentwicklung Offener Hilfen des ZPE, s.o. 205). Im Planungsprozess werden die Partizipation und die Entscheidungsmöglichkeiten der betroffenen Personen (vor allem bei Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Erleben und Verhalten, bei Kommunikationsbeeinträchtigungen, bei schwerer geistiger Behinderung) unterschiedlich konsequent umgesetzt. Teilweise finden sich hierzu wichtige Ansätze, beispielsweise durch Formulare und Handbücher in leichter Sprache und die Hervorhebung der Sicht der Person vor der Einschätzung von Fachkräften (z.B. Hilfeplanung in Rheinland-Pfalz, s.o. 165). Es ist zu befürchten, dass die Verwendung leichter Sprache mit einer Vereinfachung der Inhalte einhergeht und nur eine Globaleinschätzung von der Person im Zentrum der Hilfeplanung erfragt wird. Die Frage der Partizipation von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen und eingeschränkter verbaler Kommunikation ist damit noch nicht zufriedenstellend gelöst. Es ist zudem häufig unklar, welchen Stellenwert diese ‚persönliche Stellungnahme‘ gegenüber den Aussagen von anderen Beteiligten haben und wie die Sicht der Person auf ihre Lebenssituation in die eigentliche Planung integriert wird. Die Evaluation des Planungsprozesses und die Evaluation der durchgeführten Maßnahmen werden in den meisten Hilfeplanungskonzepten zwar erwähnt und als wichtig postuliert, selten aber systematisch in den Hilfeplanungskonzepten entwickelt und konkreti-
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siert. Oftmals wird die nächste Bedarfsfeststellung zugleich als Evaluation des vorangegangenen Planungszeitraums verstanden (z.B. Hilfeplanverfahren des LVR, s.o. 166). Wenn explizite Evaluationen vorgesehen sind, dann sind sie als Evaluationen der jeweiligen ‚Fallentwicklung‘ konzipiert (z.B. Hilfeplanung in Rheinland-Pfalz, s.o. 165 f). Die Evaluation und Weiterentwicklung der eingesetzten Hilfeplankonzepte selbst ist dagegen zwar oftmals in der Einführung eines Konzepts, nicht aber als Bestandteil einer fortlaufenden der Qualitätsentwicklung und Reflexion des Konzeptes gedacht. Das Verhältnis von individueller Bedarfslage und Umweltbedingungen wird zunehmend zu einem Thema in der Hilfeplanung. Dabei wird in einigen Konzepten auf das bio-psychosoziale Modell der ICF rekurriert. Der Einbezug des sozialen Umfelds und informeller Unterstützungsstrukturen erscheint insgesamt als eine neuere Entwicklung (z.B. ITP Hessen, s.o. 167), die so in älteren Konzepten aus den 1990er Jahren noch nicht angelegt war. Konzepte, die sich besonders auf die Frage der Hilfebedarfsfeststellung konzentrieren, fokussieren dennoch in der Regel stärker die personenbezogenen Faktoren. Die Frage nach dem individuellen Hilfebedarf wird auf die individuelle Ausstattung der Person mit Fähigkeiten und Potenzialen aber auch Defizite und Grenzen bezogen. Wenn aber die anschließende Planung von Hilfen nicht als ‚Förderplanung’ gedacht sein soll, muss die Suche nach den geeigneten Hilfen die Gestaltung des Umfeldes der Person (welche materiellen, personellen, emotionalen und sozialen Hilfen benötigt die Person um sich herum?) berücksichtigen. Vielen Hilfeplanungskonzepten liegt deshalb ein additives Verständnis der PersonUmweltbeziehung zu Grunde: Lebenssituation + Beeinträchtigung – informelle/nichtprofessionelle Hilfen + Barrieren im Umfeld = Bedarf an zusätzlichen Hilfen. Das Wechselverhältnis von personenbezogenen Faktoren und Umweltfaktoren lässt sich aber in solchen Hilfeplanungskonzepten nicht abbilden. Die Frage, in welcher Weise beispielsweise ermittelte informelle Hilfen als Gegenstand professioneller Unterstützung in die Planung einbezogen werden müssen und durch flankierende Maßnahmen erhalten bzw. gepflegt werden können, sind in der Planung der unmittelbaren Hilfen für die Person oft nur als zusätzliche oder begleitende Maßnahmen vorgesehen (z.B. ITP Hessen, s.o. 167). Eine weitere Unterscheidungsdimension ist die der Begründung für das Hilfeplankonzept. Eine kleine Gruppe von Konzepten begründet die zu planenden Hilfen mit der Förderung von Selbstbestimmung und Teilhabe der Person, die vor allem über die individuelle Aneignung, das Erlernen und Trainieren von Fähigkeiten und Fertigkeiten erreicht werden sollen (bspw. das P-A-C Modell, s.o. 180 f). Der Mensch mit einer geistigen Behinderung wird hier als ein in besonderer Weise zu fördernder Mensch konzipiert, weil er in seiner persönlichen Entwicklung von einer statistischen oder theoretischen Norm abweicht. Eine Förderung der Person, die über das Maß hinausgeht, in dem jeder Mensch auf die Unterstützung durch andere Menschen angewiesen ist, lässt sich aber nur begründen, wenn Defizite benannt werden, die diese Förderung rechtfertigen. Deshalb kommen förderorientierte Konzepte nicht ohne eine Beschreibung ‚noch nicht vorhandener’, ‚noch zu entwickelnder’, ‚noch auszubauender’ Fähigkeiten aus. Solche förderorientierten Konzepte beruhen häufig auf entwicklungspsychologischen Annahmen (z.B. P-A-C, s.o. 180 f). Auch Konzepte zur Gesamtplanung und zur Individuellen Hilfeplanung in betreuten Wohnmöglichkeiten von Leistungsträgern besitzen insofern eine Förderorientierung (vgl. Unterkapitel 5.1), als es das Ziel der Hilfen nach dem SGB XII ist, die Leistungsempfänger
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möglichst unabhängig von den Hilfen zu machen. Die Leistungsempfänger sollen also dabei unterstützt werden, ihre individuellen Ressourcen (also auch Lernpotenziale) möglichst optimal auszuschöpfen. Dabei weisen die Konzepte der Leistungsträger sowohl in den Verfahrensschritten wie auch in der inhaltlichen Gestaltung eine größere Homogenität auf, als vielfach angenommen wird (vgl. Abschnitt 6.2.4.4). In der öffentlichen Darstellung werden sie oftmals als ‚wissenschaftlich fundiert‘ und ‚fachlich begründet‘ beschrieben, wobei oftmals unklar bleibt, welche Fachdisziplin und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse hier zu Grunde gelegt werden (vgl. Abschnitt 6.2.4.4). Aufgrund der geringen Bedeutung des Themas in fachwissenschaftlichen Publikationen zur Individuellen Hilfeplanung in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. Kap 4: Exkurs) darf angenommen werden, dass es sich dabei selten um heil- und behindertenpädagogische Erkenntnisse handelt. In einigen Konzepten scheint die ICF als Ersatz für eine ‚fachwissenschaftliche Fundierung‘ und Begründung der Konzeption verwendet zu werden (z.B. ITP Hessen, hier 167 f). 27 Einige Instrumente von Leistungserbringern fokussieren mit der Individuellen Hilfeplanung die Personalbemessung und Individuelle Hilfeplanung wird hier als ‚Kernprozess‘ der betrieblichen Steuerung gesehen. Die Ursprünge dieser Instrumente orientierten sich stark an den ADL-Skalen und wiesen damit Ähnlichkeiten zu den Items der Pflegestufen auf, was nicht nur inhaltliche Fragen, sondern vor allem Fragen der Leistungsfinanzierung in der Abgrenzung von Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung aufwarf (vgl. Unterkapitel 7.1). Seit Ende der 1990er Jahre entstehen darüber hinaus zahlreiche Konzepte, die mit einer Individuellen Hilfeplanung Informationen für die Weiterentwicklung der eigenen Angebote aus dem Blickwinkel einer Kundenorientierung und Qualitätsentwicklung gewinnen wollen (vgl. Unterkapitel 7.2). Hilfeplanung ist für einige Leistungserbringer heute nicht mehr nur ein Instrument, das eine bessere Kenntnis und Steuerung der organisationsinternen Ressourcen, sowie die Herstellung der gesetzlich vorgeschriebenen Transparenz und Dokumentation der Leistungen ermöglichen kann, sondern Hilfeplanung stellt heute für einige Leistungserbringer einen Beitrag zur Professionalisierung der Hilfen dar (vgl. Abschnitt 10.2.1). Während prinzipiell alle Konzepte auch mit der Selbstbestimmung und dem Recht auf Teilhabe der Menschen mit Behinderungen argumentieren, lassen sich nur wenige Konzepte originär auf diese Prinzipien zurückführen. Solche Konzepte setzen unmittelbar bei den Wünschen der Person an und wenden deshalb die Prinzipien der Selbstbestimmung, Integration und Partizipation zumindest in ihrer konzeptionellen Anlage mehr oder weniger konsequent an. Hier wird auch das unmittelbare Lebensumfeld der Person in den Blick genommen, Unterstützungsressourcen eruiert und das direkte soziale Umfeld als Gegenstand der weiteren Überlegungen einbezogen. Entsprechend weisen diese Instrumente zwar konkrete Anweisungen für die Durchführung auf, vermeiden allerdings standardisierte Fragebögen und sind anders als die Gesamtplanung und die Verfahren der Qualitätssicherung kaum einem interindividuellen Vergleich oder einer quantitativen Erfassung zugäng27
Dabei wird wenig thematisiert, dass die ICF lediglich eine Kategorisierung von Behinderungsfolgen auf der Basis eines bio-psycho-sozialen Modells von Behinderung ermöglicht, aber weder die individuelle Perspektive der Person auf ihre Lebenssituation berücksichtigt, noch unmittelbar aus der ICF Überlegungen zur Planung von individuellen Hilfen abgeleitet werden können (vgl. Niediek 2008). Die gesellschaftliche und kulturelle Bedingtheit des Bedarfsbegriffs, den die ICF tatsächlich deutlich hervorhebt, wird zudem kaum berücksichtigt, sondern vielmehr die Orientierung an einem internationalen Standard der Kategorienbildung der Behinderungsfolgen betont.
9 Dimensionalisierung von Hilfeplanungskonzepten
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lich. Sie geben damit kaum unmittelbar verwendbare Informationen für die Ressourcensteuerung in den Einrichtungen und bei den Leistungsträgern, sondern bedürfen der Transformation und Reduktion in intersubjektiv vergleichbare Daten. Letztlich ist eine zentrale Konsequenz der unterschiedlichen Begründungen für eine Individuelle Hilfeplanung die Frage, inwieweit mit den Konzepten, tatsächlich eine Personenorientierung oder Institutionenorientierung realisiert werden kann. Vergleicht man diese unterschiedlichen Begründungsansätze, so lassen sich vorhandene Hilfeplanungskonzepte vor allem danach unterscheiden, ob die Hilfebedarfsermittlung tatsächlich in eine Planung neuer und individueller Unterstützungssets mündet (z.B. die Persönliche Zukunftsplanung s.o. 203 f; Hilfeplanung im Rahmen des AQUA-UWO Konzeptes, s.o. 205 f; die Individuelle Entwicklungsplanung, s.o. 202 f), oder ob das Konzept letztlich bestenfalls die Weiterentwicklung eines bestehenden Unterstützungsangebotes (institutionell oder lokal/regional) (z.B. das GBM-Verfahren, s.o. 177 f; das Konzept der rehistorisierenden Hilfeplanung, s.o. 187 f; die Hilfeplanung im Rheinland, s.o. 166 f; die Hilfeplanung in Rheinland-Pfalz, s.o. 165 f) beinhaltet. In einer Reihe von Instrumenten lässt sich so die postulierte Personenorientierung als tatsächliche Institutionenorientierung entlarven und damit die Verwendung des Begriffs ‚Individuelle Hilfeplanung‘ in Frage stellen. Sie zeigt sich deutlich in den zuvor beschriebenen Diskussionslinien und im Vergleich von Hilfeplanungskonzepten über die einzelnen Diskursarenen hinweg. Diese Unterscheidung ist aber bei der Betrachtung eines einzelnen Planungsinstruments schwierig eindeutig zu treffen. Ein deutliches Signal für eine versteckte Institutionenorientierung liegt beispielsweise immer dann vor, wenn einer Einrichtung oder einem Dienst die Hauptverantwortung für eine individuelle Hilfeplanung übertragen wird (die Hilfeplanung in Rheinland-Pfalz, s.o. 165 f; das GBMVerfahren, s.o. 177 f). Die darin enthaltene Vorstellung einer ‚Rundumversorgung‘ der Person mit Behinderungen in allen Lebensbereichen durch einen Anbieter oder in Hauptverantwortung eines Anbieters kann mit einer personenzentrierten Sicht, die ein auf die persönlichen Bedürfnisse der Person abgestimmtes Set von Hilfen vorsieht, nicht konform gehen.
10 Individuelle Hilfeplanung als Spezial-Dispositiv moderner Gouvernementalität
„Die Macht der Norm hat innerhalb eines Systems der formellen Gleichheit so leichtes Spiel, da sie in die Homogenität, welche die Regel ist, als nützlichen Imperativ und als präzises Messergebnis die gesamte Abstufung der individuellen Unterschiede einbringen kann.“ (Foucault 1989, 237) Versteht man Individuelle Hilfeplanung als ein Dispositiv, so ist nach dem Netz zu fragen, das ‚Gesagtes und Ungesagtes’ miteinander verknüpft, denn einzelne Elemente sind weniger relevant als ihre Beziehungen und Verhältnisse zueinander. Individuelle Hilfeplanung ist also zu verstehen als ein Zusammenhang von Verhaltenserwartungen und Regeln, von Denkweisen und Wissensbeständen, sowie formellen und informellen Regeln der Beziehungen von Menschen zueinander und zu sich selbst. Dabei schafft Individuelle Hilfeplanung neue Praktiken und neue Institutionen und strukturiert die Beziehungen zwischen bestehenden Praktiken und Institutionen neu. Es lässt sich nachfolgend eine Mischung disziplinarischer und pastoraler Praktiken in einem Geflecht von Macht und Wissen identifizieren, die sich in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf verschiedenen Ebenen zeigen. Individuelle Hilfeplanung hat deshalb eine ausgesprochen produktive Wirkung im Hilfesystem für Menschen mit Behinderungen. Zugleich wird damit aber auch eine eindeutige Bündelung einzelner Beziehungen und Aspekte zu Unterkapiteln erschwert. Die hier vorgenommene Untersuchung stellt deshalb einen vorläufigen Abschlusspunkt der Auseinandersetzung mit dem Dispositiv Individuelle Hilfeplanung dar, erhebt aber keinen Anspruch auf die Behauptung einer ‚richtigen‘ Zusammenstellung und Reihenfolge der Beziehungen, sondern stellt vielmehr einen eigenen Diskursbeitrag dar. Individuelle Hilfeplanung stellt ein Spezialdispositiv (in Analogie zum Begriff des Spezialdiskurses) dar, das auf eine spezifische Problemlage innerhalb des Systems der Hilfen für Menschen mit Behinderungen antwortet, wie in einem ersten Schritt dargestellt werden soll. Dabei entwickelt sich das ‚Dispositiv Individuelle Hilfeplanung‘ in einem Zusammenhang aus diskursiv hergestellten Wissensbeständen, die auf den spezifischen Interessenlagen und Durchsetzungsmöglichkeiten der Beteiligten beruhen, welche in einem zweiten Schritt dargestellt werden. So entsteht ein Macht-Wissensgeflecht aus Techniken der Führung und Selbstführung, die das Feld gestalten (vgl. Abb. 9). Individuelle Hilfeplanung gerät somit als Bestandteil einer politischen Ökonomie in den Blick, wie im dritten Teil dieses Kapitels dargestellt wird. Dabei wird verdeutlicht, wie Individuelle Hilfeplanung als Mittel einer ‚Biopolitik‘ aufgefasst werden kann, die das Subjekt zugleich individualisiert und normalisiert 28. Die Lebenssituation des Einzelnen wird individualisiert, in28 Es sei hier darauf hingewiesen, dass sich Begriffe wie normal, Normalisierung usw. in diesem Kapitel ebenso wie in der Arbeit insgesamt nicht auf das ‚Normalisierungsprinzip‘ von Nirje (1994), Wolfensberger (1986),
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10 Individuelle Hilfeplanung als Spezial-Dispositiv moderner Gouvernementalität
dem sie als einmalig und losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen verstanden wird und in die Verantwortung des Einzelnen übergeben wird. Zugleich wird sie normalisiert, d.h. die Lebenszusammenhänge der Person werden in Kategorien zerteilt, bewertet und in ein gestuftes System von Lebensbereichen, Hilfebedarfsgruppen und Leistungstypen einordnet. Damit ist die Perspektive eröffnet, um die Frage nach dem mit Individueller Hilfeplanung verbundenen Subjektvorstellungen und Subjektivierungspraktiken zu fragen. In einem dritten Schritt wendet sich dieses Kapitel der Frage des Subjekts zu, um herauszuarbeiten, mit welchen Techniken ein Subjekt der ‚Individuellen Hilfeplanung‘ entsteht und dazu gebracht wird, die Führung seiner selbst zu betreiben. Es wird dargestellt, wie individuelle Hilfeplanung die ‚Individualisierung‘ und zugleich ‚Normalisierung‘ von Menschen mit Behinderungen betreibt und welche Techniken dabei wirksam werden. Ein abschließendes erstes Fazit fasst zum einen zentrale Aspekte dieser Auseinandersetzung zusammen, fragt aber zugleich auch nach den Inkonsistenzen und Brüchen des so skizzierten strategischen Programms, die es im Kapitel 11 anhand eines exemplarischen Blicks in eine ‚Praxis Individueller Hilfeplanung‘ herauszuarbeiten gilt. 10.1 Ausgangspunkte des Dispositivs Individueller Hilfeplanung Individuelle Hilfeplanung wird in vielen Diskursfragmenten im Zusammenhang mit steigenden Ausgaben im Sozialsektor und steigenden Fallzahlen (vgl. Abschnitt 6.2.1, Unterkapitel 7.1 und Unterkapitel 7.2) thematisiert. Dabei steckt hinter dem vorgebrachten Kostenargument die Vorstellung, dass ein gegebener Betrag an Einnahmen dem Sozialsystem zur Verfügung steht, der möglichst effektiv und gerecht auf die Not leidenden Personen verteilt werden muss. Es werden die zu erwartenden Einnahmen als Obergrenze dessen markiert, was das Gemeinwesen bereit ist, für die Unterstützung seiner Mitglieder zu bezahlen. Zu einem Problem werden die steigenden Ausgaben dadurch, dass sie sich entgegengesetzt zu den Einnahmen verhalten. Andere Lösungen, wie eine pauschale Kürzung von allen Leistungen oder die Streichung einzelner Leistungen werden abgelehnt oder gar nicht erst diskutiert. Auch die Möglichkeit der Einnahmensteigerung, die zur Diskussion stellen würde, welchen Betrag die Gesellschaft bereit ist, für die Unterstützung derjenigen Mitglieder zu zahlen, die sich nur unzureichend selbst helfen können, wird nicht thematisiert. Einzig ein Kostensenkungserfordernis kann also das fachliche Steuerungsinteresse der Leistungsträger nicht hinreichend erklären, denn mit der Hilfeplanung (im Zusammenhang mit Leistungsvereinbarungen, Hilfebedarfsgruppen und Leistungstypen) wurde das ‚Zuweisungssystem‘ von Hilfen vollständig umgestellt, was zumindest in der Umstellungsphase auch zusätzliche Kosten hervorruft. Individuelle Hilfeplanung muss also als neue Lösung auf die Frage der Verteilungsgerechtigkeit thematisiert werden. Diese ist allerdings nicht
Thimm (1994) beziehen. Das ‚Normalisierungsprinzip’ der Heil- und Sonderpädagogik versteht sich als Kritik an der Diskriminierung und Aussonderung von Menschen mit Behinderung an den gesellschaftlichen Prozessen der Mehrheitsgesellschaft und der Forderung der gleichen ‚Lebenschancen’ für alle Menschen. Das ‚Normalisierungsprinzip’ stand und steht aber in der Kritik, die Angleichung von Menschen mit Behinderungen an gesellschaftliche Normen betreiben zu wollen. Die hinter einer solchen Kritik stehende Vorstellung einer ‚Individualisierungsgesellschaft’ muss aber m. E. ebenso als postmodernes Paradigma kritisch hinterfragt werden, wie die Umsetzung des Normalisierungsprinzips sich mit der Gefahr der ‚Normierung’ und ‚Normalmachung’ von Lebensentwürfen im Sinne einer kritischen Selbstreflexion auseinander setzen muss.
10.1 Ausgangspunkte des Dispositivs Individueller Hilfeplanung
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allein betriebswirtschaftlich/ mathematisch zu klären, sondern hängt von der gesellschaftlichen Problemlage und den weiteren Zusammenhängen von Macht und Wissen zusammen. Die ‚Modernisierung‘ der Sozialverwaltung‘ beinhaltet zwei zentrale Mechanismen der Steuerung, die zugleich unmittelbar miteinander verbunden sind: Zum einen das Modell indirekter Steuerung über Kontrakte, Vereinbarungen und Selbstverpflichtungen, die eine dezentrale Organisation der Prozesse und Entscheidungswege ermöglicht und zum anderen die Stärkung der Selbstverantwortung des Einzelnen, die sich sowohl auf die Mitarbeiter/innen der Leistungsträger, wie auch auf die Bürger/innen als ‚Kunden/innen‘ der Verwaltung bezieht. Beide Mechanismen sollen eine Steigerung der Effizienz von Abläufen, Prozesse des ‚Outsourcings‘ von Arbeitsanteilen, die nicht notwendiger Weise von der Verwaltung selbst geleistet werden müssen und interne wie externe Marktverhältnisse (inklusive einer Anbieter-Konkurrenz) schaffen, die letztlich dazu führen, dass die Kosten reduziert werden. Das fiskalische Prinzip nimmt also stets eine horizontale Regelungswirkung zur Qualität im fachlichen Sinne an (vgl. Speck 1999, 23). Für die Nutzer/innen der Hilfen sollen durch die zunehmende Anbieter-Konkurrenz und individuelle Steuerungsmöglichkeiten (z.B. durch das persönliche Budget) mehr Entscheidungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten entstehen (vgl. Merchel 2001, 50; Hürlimann 2002, 17 f). Allerdings wird das Programm der ‚Neuen Steuerung‘ im Kontext der Eingliederungshilfe nicht ungebrochen umgesetzt. So bleiben die Mechanismen des korporatistisch organisierten Wohlfahrtsstaates auch unter einer neuen Terminologie erhalten. Die HauptVertrags- und Gesprächspartner der Leistungsträger sind weiterhin die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und ihre Organisationen auf landes- und kommunaler Ebene. Marktmechanismen, die nur über Angebot und Nachfrage hergestellt werden, existieren insofern nicht, als das Angebot über die Leistungs-, Qualitäts-, und Prüfvereinbarungen gefiltert wird. Eine Abgrenzung von Konkurenten können die Leistungsträger nur über die Einrichtungskonzeption und inhaltliche Ausgestaltung von Hilfen realisieren, sowohl der Preis, als auch die Qualität der Leistungen (zumindest theoretisch) einheitlichen Standards genügen müssen. Auch die Steuerungsgruppen, die im Rahmen kommunaler Angebotsplanung vergleichbar mit der Jugendhilfeplanung in einigen Kommunen in den letzten Jahren entstanden sind, widersprechen letztlich dem Marktgedanken einer freien Angebotsentwicklung. Zudem nehmen die Leistungsträger durch die Individuelle Hilfeplanung und durch die Entscheidungshoheit über Form und Umfang von Hilfen auch Einfluss auf die Nachfrage. Der Kundengedanke trifft bei Sozialhilfeberechtigten auch deshalb nicht zu, weil sie diese per Definition und Subsidiaritätsprinzip in einer individuellen Notlage befinden, die sie aus eigener Kraft oder mit anderen Mitteln als der Sozialhilfe (zu der die Eingliederungshilfe zählt) nicht befreien können. Insofern sind hier die Handlungsoptionen grundsätzlich ungleich verteilt. Der Kunden/innenbegriff kann sich deshalb lediglich auf die Formen des Umgangs mit den Antragsteller/innen beziehen. Die Stärkung von Selbst- und Mitbestimmung der Betroffenen ist damit begrenzt. Die zunehmende Kundenorientierung der Leistungsträger kann dabei die Forderungen der ‚neuen Selbsthilfebewegung‘ seit den 1980er Jahren aufgreifen, in der zunächst vor allem körperbehinderte Menschen selbst die Initiative ergriffen, um ihre Interessen nicht mehr von Stellvertretern und Fürsprechern vertreten zu lassen, sondern diese selbst durchzusetzen (vgl. Rüggeberg 1990; Steiner 2001; Göhling/ Schirbort/ Theunissen 2006). Als die wichtigste Selbstvertretungsorganisation von Menschen mit Behinderungen in Deutschland gilt die 1990 gegründete ‚Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V.‘ (ISL).
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10 Individuelle Hilfeplanung als Spezial-Dispositiv moderner Gouvernementalität
Folgende Stichworte können als Programm und zugleich als Zielsetzung von ISL betrachtet werden (vgl. Miles-Paul 1999, 225–226): 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Forderung nach umfassenden Gleichstellungs- und Anti-Diskriminierungsgesetzen, Chancengleichheit in den zentralen Lebensbereichen, Barrierefreiheit öffentlicher Einrichtungen, Bestreben nach einer Entmedizinierung von Behinderung, persönlicher Assistenz (Arbeitgebermodell), Solidarisierung und behinderungsübergreifender Zusammenarbeit und nach dem Aufdecken von Behinderung als Macht- und Gesellschaftsverhältnis, Prinzip der Nicht-Aussonderung und größtmögliche Integration, Forderung nach gemeindeorientierten Unterstützungsdiensten und echten Wahlmöglichkeiten, Forderung nach Betroffenen in den Vorständen der Behindertenorganisationen, Forderung nach größtmöglicher Kontrolle über die Dienstleistungen der Behindertenhilfe durch die Behinderten selbst. Gegenseitige Unterstützung, Beratung und Förderung (Peer Counselling).
Diese Forderungen können zugleich als die wesentlichen Elemente der Selbstbestimmungsdebatte betrachtet werden. Die Forderungen der Selbsthilfebewegungen Betroffener nach einer Ent-Medi-zinierung des Behinderungsbegriffs, der De-Institutionalisierung der Hilfen, nach politischer Mitsprache und der Zurückdrängung nicht-betroffener Experten (vgl. auch Steiner 2001) bilden eine Argumentationsgrundlage, welche die Selbstverantwortung der Betroffenen betont und die notwendigen Unterstützungsleistungen von ihrer Initiative und Mitarbeit abhängig macht. Durch die massive Kritik an der Expertendominanz, den Sondereinrichtungen und der Unüberschaubarkeit des Hilfenetzes und durch das Engagement von Betroffenen entstanden seit den 1980er Jahren neue offene und ambulante Hilfeformen, die auch einen Einfluss auf die Hilfen für Menschen mit einer geistigen Behinderung hatten (vgl. Lindmeier/Lindmeier 2006, 48; Theunissen/ Schirbot 2006). Sonder- und Heilpädagogische Diskurse um die Begriffe Empowerment, Integration und Selbstbestimmung nähern sich dabei den Argumentationsmustern der Selbsthilfebewegung an (vgl. exempl. Theunissen/ Plaute 2002; Theunissen 2007; Färber/ Lipps/ Seyfarth 2000; Geiling/ Hinz 2005). In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends wurde in der Sonder- und Heilpädagogik insbesondere der dritte Punkt aufgegriffen und in die eigene Argumentation übernommen. Andere Punkte, wie die Punkte 2, 4 und 5, welche die Existenzberechtigung der Sonderpädagogik und der etablierten Behindertenhilfe selbst in Frage stellen, werden dagegen von kaum aufgegriffen. Da in der fachwissenschaftlichen Debatte die Forderungen mit sozialpolitischer Sprengkraft und elementaren Folgen für die etablierte Behindertenhilfe weniger stark aufgegriffen wurden, erscheint es plausibel, dass auch in Diskursfragmenten zur Individuellen Hilfeplanung in der Regel auf die Begriffe Selbstbestimmung, Empowerment und Integration hingewiesen wird, ohne die Existenz vorhandener Hilfestrukturen grundsätzlich zu hinterfragen (vgl. Unterkapitel 7.1). Seltener wird dagegen auf die Wurzeln des Selbstbestimmungs- und Integrationsgedankens in den Selbsthilfe- und Bürgerrechtsbewegungen Bezug genommen. Entsprechend wird den Betroffenen Selbstbestimmung in der Regel lediglich für unmittelbare Alltagsentscheidungen zugebilligt wird, aber nicht zugleich als Mitspracherecht und politische Beteiligung bei der Weiterentwicklung von Hilfeangeboten und dem Hilfesystem insgesamt.
10.2 Politische Ökonomie der Hilfeplanung
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In einigen Fragmenten wird die Förderung von Selbstbestimmung und Integration sogar nur aus den gesetzlichen Änderungen im SGB IX und XII abgeleitet, welche das Leitziel der Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft aufgegriffen und in Individualrecht übersetzt haben. Die gesetzliche Norm stellt aber lediglich einen äußeren und formalen Rahmen für die Umsetzung inhaltlicher Leitvorstellungen dar und ist selbst eine Reaktion auf einen gesellschaftlichen Wandel und ein gewandeltes Bild von Menschen mit Behinderungen. Die gesetzliche Norm der Selbstbestimmung und Teilhabe kann deshalb eine inhaltliche Begründung für Hilfeplanung nicht ersetzen. Der Gleichheitsgrundsatz und das Subsidiaritätsprinzip schließlich führen dazu, dass die einzelne Person mit einer Behinderung lediglich in der Nutzung von gewährten Hilfen selbstbestimmt ist, aber ihren Anspruch auf Hilfen begründen und rechtfertigen muss und. Die Festlegung von Art und Umfang der Hilfen obliegt dann anderen. So muss sich ein Mensch mit Behinderungen dem Prozedere der Individuellen Hilfeplanung unterwerfen und seine Lebenswirklichkeit in den Mittelpunkt des Interesses rücken, um Hilfen zu bekommen, die ihm die Wahrnehmung seines Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Die Bestandteile der ‚Problemlage des Unterstützten Wohnens‘ (Modernisierung der Leistungsträger, Selbstbestimmungsdiskussion, Kosten- und Fallzahlenentwicklung) stehen aber nicht für sich, sondern sind vielmehr Bestandteil einer gesamtgesellschaftlichen Problemlage (vgl. Unterkapitel 12.1) Betrachtet man die verschiedenen Ausgangspunkte, in deren Zentrum die Individuelle Hilfeplanung entsteht, so lassen sich diese Wiederum in einem Kontext gesamtgesellschaftlicher Veränderung sehen, die gemeinhin mit Schlagworten wie ‚Individualisierung‘, ‚neoliberale Ökonomie‘ oder ‚Postmoderne‘ begriffen werden. Sie beschreiben die Durchdringung von Effizienzfragen in alle gesellschaftlichen Bereiche, die Betonung individueller Selbstverantwortung und die Auflösung feststehender Strukturen und Verbindlichkeiten. Die Frage nach der ‚richtigen‘ Verteilung und Verwendung vorhandener Ressourcen und die Steuerungsinteressen der Akteur/innen werden dabei in neuer Weise virulent. Dabei werden die Akteure/innen von spezifischen Interessen geleitet, die sie wiederum dazu bewegen, in bestimmter Weise Einfluss zu nehmen. Auch ‚Gegenstimmen‘, die vor einer Ökonomisierung des Sozialen durch den Qualitätsdiskurs warnen, können deshalb nicht außerhalb desselben stehen, sondern müssen sich in einer bestimmten Weise (zustimmend, ablehnend oder um eine Integration der Ansätze bemühend) dazu verhalten. Es bildet sich somit eine scheinbare ‚Normativität des Unvermeidlichen‘ heraus (vgl. Lehmann-Rommel 2004). Deshalb sollen im nächsten Schritt diese Steuerungsinteressen als Elemente des Programms ‚Individueller Hilfeplanung‘ skizziert werden. 10.2 Politische Ökonomie der Hilfeplanung 10.2.1 Steuerungsinteressen der Akteure Mit der Individuellen Hilfeplanung werden implizite wie explizite Steuerungsinteressen verknüpft. Diese Steuerungsinteressen werden in Funktionen von Hilfeplanung für verschiedene Anspruchsgruppen/ Beteiligte transformiert, die schließlich die Gestaltung von Hilfeplankonzepten prägen. Dieser Mechanismus entsteht durch die mit Individueller Hilfeplanung verbundene Annahme, dass mit Individueller Hilfeplanung etwas oder jemand in eine bestimmte Richtung oder zu einem gewünschten Endpunkt hin gelenkt werden könnte.
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10 Individuelle Hilfeplanung als Spezial-Dispositiv moderner Gouvernementalität
Sie wird damit zum Mittel für „das richtige Verfügen über die Dinge, denen man sich annimmt, um sie dem angemessenen Zweck zuzuführen“ (Foucault 2004, 145) und somit zu einer Regierungspraktik im Sinne Foucaults. Dieses Mittel wird allerdings von unterschiedlichen Gruppen aus unterschiedlichen Steuerungsinteressen eingesetzt, wie nachfolgend beschrieben wird. Die Leistungsträger sehen in der Individuellen Hilfeplanung ein zentrales Steuerungsinstrument, welches zusammen mit weiteren verwaltungsinternen Verfahren personenzentrierter Steuerung, Verfahren der organisationsinternen Steuerung (Neues Steuerungsmodell), sowie den Verfahren zur Steuerung der Außenbeziehungen der Leistungsträger (Kontrakte, Leistung-, Vergütungs-, Qualitäts- und Prüfvereinbarungen) ein umfassendes Steuerungssystem darstellt (vgl. Abschnitt 6.2.1 und 6.2.4). Durch die Individuelle Hilfeplanung soll eine Steuerung der Fallzahlen (die Zunahme der Fallzahlen soll durch Hilfeplanung gebremst werden) und der Ausgabenentwicklung (die Ausgaben für die Eingliederungshilfe sollen sinken oder zumindest gleich bleiben) erreicht werden. Sie kann also als Bestandteil einer sozialpolitischen Umorientierung vom Prinzip der Problembewältigung durch Ressourcenausweitung (vgl. Bäcker/ Heinze/ Naegele 1995, 209 ff; Merchel 2001, 193 ff) hin zu einem neo-liberalen und ökonomisch orientierten Interventionsprinzip (Speck 1999, Beck 1994) interpretiert werden. Bis zum Beginn des Jahrtausends beruhte das System der Leistungsbewilligung auf einer unterstellten Angemessenheit der beantragten Hilfen. Die beantragten Hilfen wurden (kaum) hinterfragt, dafür nahmen die Leistungsträger geringfügige Über- oder Unterversorgungslagen, sowie Fehlversorgungen in Kauf, überließen aber die Planung von Hilfen und fachliche Fragen vollständig den Leistungserbringern. Mit der Maßgabe des ökonomischen Steuerungsinteresses wurde die Angemessenheit der beantragten Hilfen aber prinzipiell fragwürdig. Vor allem Überversorgungs- und Fehlversorgungslagen sollten künftig vermieden werden, weil sie wirtschaftlich nicht effizient sind. Deshalb mussten die Leistungsträger die stillschweigende Aufgabenteilung mit den Leistungserbringern aufgeben und sich mit der fachlichen Dimension der Unterstützung für Menschen mit Behinderungen befassen, um diese Fehlsteuerungen erkennen und künftig verhindern zu können. Das Steuerungsinteresse der Leistungsträger bezieht sich also nicht vorrangig auf die Gestaltung eines individuellen und passgenauen Sets von Hilfen für die einzelne Person, sondern sie steuern individuelle Hilfeprozesse, weil die personenbezogene Steuerung einen Ansatzpunkt darstellt, um die Angebotspalette der Leistungsanbieter beeinflussen und steuern zu können. Der Einfluss der Leistungsträger auf die Angebotspalette erfolgt also im Rahmen der Hilfeplanung nicht direkt, sondern über die Einflussnahme auf der Nachfrageseite, dem Mensch mit Behinderungen 29. Der/Die Konsument/in kann die gewünschte oder benötigte Hilfe im deutschen Hilfesystem nicht direkt als konkrete Nachfrage auf dem ‚Markt der Hilfeangebote’ realisieren, wenn sie nicht über die dafür notwendige Kaufkraft (Geld) verfügt, sondern muss zunächst Sozialleistungen beantragen. Standardisierte Hilfebedarfsfeststellungen und Hilfeplanungen generieren dann standardisierte Nachfragen nach Unterstützungsangeboten. Da die Individuellen Hilfepläne in der Regel die zentrale Grundlage für Leistungsbewilligungen darstellen, schaffen die Leistungsträger über die Individu29 Zusätzlich nehmen die Leistungsträger allerdings oftmals auch direkt Einfluss, beispielsweise über Quotierungen und Finanzierungsverhandlungen im Zusammenhang mit dem Abschluss von Landesrahmenverträgen, so dass ein umfassendes Steuerungssystem entsteht, wie exemplarisch für die Region Westfalen-Lippe in Kapitel 11 gezeigt wird.
10.2 Politische Ökonomie der Hilfeplanung
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elle Hilfeplanung die Rahmenbedingungen für eine realisierte Nachfrageentwicklung von Hilfeangeboten. Zugleich soll eine Einflussnahme direkt auf die Angebotsseite stattfinden, indem die gesetzlich vorgeschriebenen Vereinbarungen über Leistungen, Qualität, Vergütung und Prüfmodalitäten mit den Einrichtungsträgern getroffen werden. Dabei ist die gewünschte Steuerungswirkung unterschiedlich. So können ambulante Strukturen befördert werden, aber auch die Bedeutung besonders etablierter oder besonders kostengünstiger Leistungserbringer befördert werden. Einige Leistungsträger setzen auf die kooperative Zusammenarbeit mit ansässigen Leistungserbringern als diejenigen, die die Menschen mit Behinderungen besonders gut kennen, andere sehen in der Beteiligung von Leistungserbringern an der Hilfeplanung den Versuch, unter Verweis auf die Fürsorge für die Nutzer/innen, die eigene Marktmacht zu stützen und auszubauen. Sie versuchen deshalb, die Leistungserbringer aus den Planungsprozessen so weit wie möglich auszuschließen. Die daraus entstehende Lücke fehlender Beratung und Unterstützung gerade von Menschen mit einer geistigen Behinderung bei der Beantragung von Hilfen soll dann entweder durch eigene Fach- und Beratungsdienste oder durch Beratungsstellen in gemeinsamer Trägerschaft verschiedener Leistungserbringer geschlossen werden. Allerdings müssen dazu Leistungsträger sowohl ein historisch gewachsenes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der wohlfahrtstaatlichen Fürsorgebürokratie (vgl. Abschnitt 6.1.2) überwinden, als auch neue Befürchtungen, Menschen mit Behinderungen könnten durch gut geschultes Personal in den Fachdiensten und Beratungsstellen die ihnen zustehenden Hilfen vorenthalten bekommen, entkräften. Zugleich muss hier auch auf die geringe Transparenz des Hilfesystems und das Fehlen adäquater Alternativen zu einer Beratung durch einen Leistungserbringer hingewiesen werden. Da man potenzielle Nutzer/innen in der Vergangenheit oftmals nicht an eine unabhängige Fachberatung verweisen konnte, waren vielerorts die Einrichtungen und Dienste die einzigen kompetenten Anlaufstellen. Aufgrund dieser Umstände sehen es Leistungserbringer häufig als notwendig an, Menschen mit Behinderungen bei der Vertretung ihrer Interessen bei den Leistungsträgern zu unterstützen. An dieser Stelle setzen aber tatsächlich auch Steuerungsinteressen von Leistungserbringern an, bereits akquirierte Nutzer/innen an sich zu binden und neue Nutzer/innen zu gewinnen. Da von den Leistungserbringern gefordert wird, sich marktwirtschaftlich zu verhalten, erscheint es nur folgerichtig, dass sie über Beratungsleistungen Kundenakquise betreiben. Da die Hilfebedarfserfassung und Hilfeplanung bei der Beantragung von Leistungen der Eingliederungshilfe in der Regel von den Leistungsträgern nicht vergütet werden, erscheint es außerdem folgerichtig, wenn die Leistungserbringer im Anschluss an die Beratung auch die bewilligten Leistungen erbringen wollen und entsprechend nur unter großer Anstrengung vorbehaltlos beraten können. Auch Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen verhalten sich insofern ‚marktwirtschaftlich‘, als sie sich direkt an diejenigen Anbieter wenden, von denen sie sich eine Befriedigung ihres ‘Konsumbedarfs’ an sozialen Dienstleistungen erhoffen. So kommen sowohl Schwarte, Schädler et al. (2006, 13) wie auch Lübbe und Beck (2002, 58) zu dem Ergebnis, dass eine Individuelle Hilfeplanung nicht von den Personen durchgeführt werden sollte, die schließlich auch die Betreuungsleistung erbringen, da hier Rollenkonflikte und Interessenkonflikte zwischen der hilfesuchenden Person und der Hilfe leistenden Institution vorprogrammiert sind. Jahrelange Unterstützungsbeziehungen, die ein Vertrauen in die Beratung durch die Einrichtung
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10 Individuelle Hilfeplanung als Spezial-Dispositiv moderner Gouvernementalität
bewirken, und unübersichtliche Formulare in ‚Amtssprache‘ führen ebenfalls dazu, dass die Hilfe suchenden Personen Einrichtungen bzw. die dort tätigen Fachkräfte bei der Antragstellung um Unterstützung bitten, da sie dort die notwendige Vertrautheit und Expertise erwarten. Insofern muss sich zeigen, inwiefern unabhängige Beratungsstellen, die lediglich im Prozess der Beantragung von Hilfen unterstützen, aber keine ‚Case-Management‘ oder Beratungsfunktionen im Rahmen der Hilfeerbringung leisten können, tatsächlich von den ‚Verbraucher/innen‘ angenommen werden können, da sie mit diesem Schritt ihre eigene Bedürftigkeit zugeben und quasi ‚veröffentlichen‘. Auch die Leistungserbringer stellen Individuelle Hilfeplanung in den Zusammenhang einer Qualitätsdebatte (vgl. Unterkapitel 7.1). Die Argumentationsweise erscheint damit kompatibel zu derjenigen der Leistungsträger. In der Wahrnehmung der Leistungserbringer steht Individuelle Hilfeplanung in direktem Zusammenhang mit Fragen der Qualitätssicherung und -entwicklung sowie der Personalentwicklung in den jeweiligen Einrichtungen und Diensten. Individuelle Hilfeplanung wird dabei als eine Komponente in einem Gesamtkonzept von Maßnahmen und Strukturen gesehen, die innerhalb einer Einrichtung oder eines Dienstes zur Qualitätssicherung/-entwicklung eingesetzt werden. Begründungsmuster sind auch hier einerseits Kostenargumente und andererseits die Wahrnehmung der Selbstbestimmungsforderung von Betroffenen als fachliche Weiterentwicklung, derer die Einrichtungen und Dienste Rechnung tragen müssen. Eine auf dem Gedanken des Qualitätsmanagements aufbauende Hilfeplanung dient dazu, die vorhandenen Ressourcen möglichst effizient zu verteilen und zu nutzen. Die Individuelle Hilfeplanung soll die allgemeinen Angebote der Einrichtung oder des Dienstes in konkrete Hilfen für die einzelnen Personen übersetzen (vgl. Unterkapitel 7.2). Im Rahmen vorhandener Organisationsstrukturen und Ressourcen kann dann dem individuellen Bedarf der einzelnen Person entsprochen werden. Zudem dient die Dokumentation der Hilfeplanung als ein Nachweis (neben anderen) für die Realisierung im Rahmen der Leistungsvereinbarungen gegenüber dem Leistungsträger zugesichert haben. Hilfeplanung liefert zugleich Daten für die Organisationsentwicklung und Ressourcenkalkulation in der Zukunft, wenn der individuelle Bedarf normiert und in vergleichbaren Kategorien angegeben werden kann. Auf diese Weise sollen Überkapazitäten abgebaut und die einrichtungsinterne Steuerung verbessert werden. Die Notwendigkeit einer Übersetzung allgemeiner Angebote für die einzelne Person wird aus den Sozialgesetzen für Menschen mit Behinderungen abgeleitet: Die Hilfen sollen sich am individuellen Bedarf der betroffenen Personen ausrichten und das Ziel verfolgen, die Teilhabe der Person am Leben in der Gemeinschaft zu sichern. Individuelle Hilfeplanung wird deshalb nicht als freiwillige Leistung, sondern als Verpflichtung verstanden (vgl. Behindertenhilfe Hamburg 2007, 1). Neben einer rechtlichen und vertraglichen Verpflichtung zur Individuellen Hilfeplanung tritt aber auch das fachliche Selbstverständnis hinzu, neuere Leitprinzipien wie Normalisierung, Integration und Selbstbestimmung umzusetzen. Die Vergleichbarkeit und Strukturiertheit der Hilfen, die mit der Individuellen Hilfeplanung verbunden wird, soll außerdem auf die Arbeitsweisen der Fachkräfte Einfluss nehmen, indem sie durch die Planungsprozesse für und im Idealfall mit den Nutzer/innen deren Sichtweisen verstehen und berücksichtigen lernen. Da die Fachkräftequote in dem Bereich unter derjenigen beispielsweise der Kinder- und Jugendhilfe oder der Sozialarbeit liegt, wird in der Hilfeplanung eine Gelegenheit (neben Fortbildungen und Schulungen) gesehen, auch wenig qualifiziertes Personal zu einer personenzentrierten Sichtweise zu
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bewegen 30. Zudem erscheint es (vor allem für ältere) Mitarbeiter/innen oftmals schwierig, die neueren Leitprinzipien der Selbstbestimmung und Integration mit älteren Leitbegriffen wie denen der Förderung und der Fürsorge in der alltäglichen Arbeit in Einklang zu bringen (vgl. Rock 2001). Durch Individuelle Hilfeplanung sind alle Mitarbeiter/innen aufgefordert, sich mit den Nutzer/innen einer Einrichtung oder eines Dienstes als selbstbestimmte Kunden/innen zu befassen. Eine standardisierte Hilfeplanung kann so als ein Instrument verstanden werden, mit dem Leistungserbringer versuchen, fehlendes Fachwissen bei ihrem Personal zu kompensieren und neuere Leitprinzipien durchzusetzen. Fraglich ist allerdings, ob damit nicht eine Semi-Professionalität hergestellt wird, da beispielsweise fundiertes didaktisch/methodisches Wissen von den Fachkräften durch Hilfeplanung nicht erlernt werden kann, ebenso wie möglicherweise notwendiges medizinisches oder pflegerisches Wissen. Die Vorstellung ist allerdings, dass mit Individueller Hilfeplanung solche Fortbildungsbedarfe besser erkannt werden könnten. Die Bedeutung, die Individueller Hilfeplanung für die Qualität der Unterstützung eingeräumt wird, zeigt allerdings ein stark technokratisches Verständnis der Arbeit im Unterstützten Wohnen und blendet alle die Aspekte aus, die nicht planbar erscheinen, sondern nur situativ bearbeitet werden können. Individuelle Hilfeplanung ist somit insgesamt aus der Sicht der Leistungserbringer als zentrales Steuerungselement der Organisation zu verstehen, welches sowohl im Hinblick auf die Außenbeziehungen (zu den Leistungsträgern), als auch im Hinblick auf die Binnenbeziehungen (Entscheidungsstrukturen, Prozessmanagement) konzipiert werden muss. Sie ist Bestandteil von Qualitäts- und Professionalisierungsdebatten, in denen Individuelle Hilfeplanung als eine Art ‚Universalwerkzeug‘ und ‚Verbindungsstück‘ zwischen den verschiedenen Ebenen einer Organisation funktionieren soll (vgl. Unterkapitel 0). Individuelle Hilfeplanung soll schließlich auch einen Beitrag zur Überwindung bevormundender Fürsorge leisten und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen fördern. Damit sind vor allem die Steuerungsinteressen von Menschen mit Behinderungen angesprochen. Größtenteils handelt es sich dabei aber lediglich um eine programmatische Zielformulierung, die in Konkurrenz zu den übrigen Steuerungsinteressen steht (vgl. hier 175 ff). Nur wenige Konzepte sehen dieses Interesse nicht nur programmatisch, sondern real als Zentrum Individueller Hilfeplanung (z.B. der Ansatz von Urban, hier 188; die dialogische Entwicklungsplanung, hier 202 f oder die Persönliche Zukunftsplanung, hier 203 f). Die Autoren/innen dieser Konzepte und Ansätze berufen sich insbesondere auf die Aktivität der Selbsthilfebewegungen seit den 1960er Jahren, die für eine Abkehr von der Expertendominanz medizinischer und pädagogischer Fachkräfte, gegen die Institutionendominanz und für die Rechte der Betroffenen kämpften. In Diskursen um die Gestaltung von Hilfen beim Wohnen und in den Aussagen der Selbsthilfevertreter/innen wird dabei die Unterscheidung von ‚Selbständigkeit‘ und ‚Selbstbestimmung‘ betont, d.h. weniger die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung des Alltags als wichtig angesehen, sondern die Möglichkeit, einen eigenen Lebensstil zu verfolgen und kurz-, mittel- und langfristige Perspektiven für die eigene Lebensgestaltung entwickeln zu können. Deshalb müsse Hilfeplanung die Sicht der Nutzer/innen als Experten/innen in eigener Sache in das Zentrum rücken. Es ist aber festzustellen, dass auch jene Konzepte, die am deutlichsten die betroffe30
Exemplarisch sei hier auf Daten aus NRW verwiesen: Demnach lag im Jahr 2003 das Qualifikationsniveau der Beschäftigten in stationären Einrichtungen im Vergleich zu ambulanten Hilfen erheblich niedriger. „Im stationären Bereich verfügen ca. 9% über eine Hochschulausbildung, im ambulanten Bereich sind dies immerhin 71%.“ (Schwarte/ Schädler o.J., 10)
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nen Personen als aktive Gestalter/innen in das Zentrum ihrer Hilfeplanung stellen, auch von pädagogischen Fachkräften mitentwickelt wurden und damit im Sinne Foucaults die Machtverhältnisse des Diskurses nicht grundsätzlich neu eingerichtet wurden. Im Verhältnis der Akteure/innen in konkreten Hilfeplanungssituationen zueinander entsteht ein Ungleichgewicht in den Möglichkeiten der Interessenvertretung und -durchsetzung. Die Möglichkeiten zur Durchsetzung der eigenen Steuerungsinteressen sind für Menschen mit Behinderungen im Vergleich zu den anderen Akteuren/innen begrenzt. Die Steuerungsinteressen der Leistungsträger und Leistungserbringer werden überindividuell von Organisationen getragen. Die Steuerungsinteressen von Menschen mit Behinderungen in Bezug auf Individuelle Hilfeplanung beziehen sich aber per definitionem auf ihre individuelle Lebenssituation. Wären sie verallgemeinerbar, dann wäre eine Individuelle Hilfeplanung nicht erforderlich. Zudem beziehen sie sich auf die unmittelbare Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderungen, d.h. die Steuerungsinteressen sind essentiell für die Verwirklichung eines Lebens in weitgehender Zufriedenheit. An der eigenen Hilfeplanung können sie nur in dem Maß Einfluss nehmen, indem er ihnen von ihren jeweiligen ‚Verhandlungspartnern‘ eingeräumt wird, z.B. beim Ausfüllen von Planungsinstrumenten und in Planungsgesprächen. Konzepte zur Individuellen Hilfeplanung wurden zudem bisher fast nie mit behinderten Menschen gemeinsam entwickelt und nur in seltenen Fällen wurde ihnen oder den Selbsthilfeverbänden zumindest die Möglichkeit der Stellungnahme gegeben. In einigen Fällen (vgl. Unterkapitel 11.4) wurden mit der Einführung von Hilfeplanverfahren zur Eingliederungshilfe auch Evaluationen durchgeführt, in denen Betroffene befragt wurden. Allerdings wurden hier (wie in der Hilfeplanung selbst) die Evaluationskriterien und Fragebögen von externen oder internen Fachleuten, nicht von den Betroffenen entwickelt. Sie bleiben damit marginalisierte Diskurspartner/innen. Hilfeplanung umfasst also weitgehend Konzepte für Menschen mit Behinderungen, nicht von ihnen. Der Raum der Hilfeplanung für die einzelne Person bleibt deshalb von vorneherein von außen bestimmt. Zudem sind Menschen mit Behinderungen im Diskursfeld marginalisierte Akteure/innen. In einem Feld, welches so unmittelbar die Gestaltungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen beeinflusst, wurden in der Analyse des Diskursfeldes so gut wie keine Beiträge von Experten/innen in eigener Sache gefunden (vgl. Unterkapitel 4.3 und 4.4). Gründe dafür mögen in den Mechanismen der Wissensproduktion im öffentlichen Raum liegen, welche diesen Machtverhältnissen unterliegen, in denen Betroffene häufig weiterhin unterlegen sind. Zudem wurde und wird die Selbsthilfebewegung ganz wesentlich von Menschen mit körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen oder eher geringfügigen Lernschwierigkeiten getragen. Insbesondere Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen, mit Kommunikationsschwierigkeiten oder schwerwiegenden Beeinträchtigungen im sozial-emotionalen Verhalten und Erleben nach wie vor besondere Barrieren bei der (Selbst-)Vertretung ihrer Belange im öffentlichen Raum (z.B. durch die aktive Teilhabe an Tagungen, Veröffentlichungen in Zeitschriften). Sie sind in besonderer Weise auf das Engagement und die Verantwortungsübernahme durch andere Betroffene oder Stellvertreter/innen angewiesen. Es zeigt sich allerdings, dass ihre Belange im Diskursfeld Individueller Hilfeplanung nur wenig Berücksichtigung finden. Es zeigt sich, dass Individuelle Hilfeplanung in einem Raum aus Selbstbestimmungsforderungen (die zu einer fachlichen Weiterentwicklung im Feld führten), Modernisierungserfordernissen und Kostenentwicklung eine spezifische Antwort auf unterschiedliche
10.2 Politische Ökonomie der Hilfeplanung
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Interessenlagen darstellt. Die Frage der ‚richtigen Verteilung‘ der vorhandenen Ressourcen ruft letztlich die Frage nach der Legitimation für die advokatorische Vertretung und Interessenvertretung für Menschen mit Behinderungen auf. Wer darf legitim behaupten, im Interesse behinderter Menschen zu agieren? Die bisherigen Fürsprecher/innen, die Leistungserbringer, konnten bisher mit dem Argument der Fachkenntnis und der PraxisKenntnis von den Lebenssituationen und Bedürfnissen behinderter Menschen argumentieren. Mit dem Selbstbestimmungsanspruch behinderter Menschen und dem Anspruch Experten/innen in eigener Sache zu sein, werden diese Argumente allerdings fragwürdig. Die Fürsprache der Leistungserbringer erhält damit den Nimbus bevormundender Fürsorge. So zeigen stationäre Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege und ihre Verbände z. T. erhebliche Beharrungstendenzen, wenn es um den Umbau des Hilfesystems im Hinblick auf die neueren fachlichen und (internationalen wie nationalen) rechtlichen Veränderungen geht. Darin besteht die Chance von Leistungsträgern, sich argumentativ an die Seite behinderter Menschen zu stellen und mit dem Hinweis auf die von ihnen formulierten Wünsche die Angebote der Leistungserbringer zu hinterfragen. Allerdings wird auch dieser Anspruch brüchig vor dem Hintergrund der bis dahin etablierten Arbeitsteilung von Leistungsträgern und Leistungserbringern, die zur Folge hatte, dass die Leistungsträger bis vor wenigen Jahren kaum Interesse an den individuellen Lebensbedingungen der Menschen mit Behinderungen und fachlichen Fragen hatten. An der Auseinandersetzung um die Individuelle Hilfeplanung in den Diskursarenen, die sich in den Konzepten wiederspiegeln, zeigt sich nun, dass diese Arbeitsteilung obsolet geworden ist und es um eine Neubestimmung der ‚Bestimmungsverhältnisse‘ im sozialhilferechtlichen Leistungsdreieck geht. 10.2.2 Strategische Technologien der Hilfeplanung Die rechtlichen Veränderungen der letzten Jahre führen zu veränderten Beziehungen zwischen den Akteuren im sozialrechtlichen Leistungsdreieck (vgl. Abb. 7). Marktprinzipien werden in der Individuellen Hilfeplanung zwar immer wieder sprachlich postuliert durch die Verwendung von Begriffen wie Management, Controlling, aber real nicht im Hinblick auf die Beziehung zwischen Menschen mit Behinderungen und Einrichtungen und Diensten hergestellt. Durch die gesetzlich vorgeschriebenen Landesrahmenverträge zwischen den Verbänden von Leistungsträgern und Leistungserbringern, sowie die jeweils zwischen ihnen abzuschließenden Leistungs-, Vergütungs-, Qualitäts-, und Prüfvereinbarungen bestehen letztlich Angebots- und Nachfrageverhältnisse unmittelbar zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern, nicht aber zwischen Leistungserbringern und Menschen mit Behinderungen (vgl. Unterkapitel 5.1). Menschen mit Behinderungen können aus einem vordefinierten Angebot auswählen und dies auch nur, soweit verschiedene Angebote in einer Region zur Wahl stehen und der Leistungsträger entsprechende Freiräume in der Leistungsbewilligung einräumt. Die Leistungsträger werden damit zu den eigentlichen Kunden der Leistungserbringer, denn sie regulieren über ihre eigene Nachfragepolitik durch die Hilfeplanung und Bewilligung das Angebot von Hilfen.
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Die Triade der ‚Leistungsbegriffe‘ in der Terminologie des neueren Sozialrechts weist den Beteiligten eindeutige Plätze zu in einem ökonomischen Modell31 sozialer Hilfen. Sprachlich wird mit dem Begriff der ‚Leistung‘ eine ‚Gemeinschaft der Beteiligten an der Leistungsproduktion‘ hergestellt. Dabei legt die sprachliche Regelung der ‚Leistungsträger‘, ‚Leistungserbringer‘ und ‚Leistungsberechtigten‘ die Frage nahe, wer tatsächlich welche Leistungen erbringt, wer welche Leistungen trägt und wer zu welchen Leistungen berechtigt ist. Die näheren Bestimmungen -träger, -erbringer, und -berechtigter weisen den einzelnen Beteiligten konkrete Anteile an der Leistungsproduktion zu. Menschen mit einer geistigen Behinderung werden sprachlich von ‚Hilfeempfängern‘ zu ‚Leistungsberechtigten‘. Damit werden sie aus der passiven Position des ‚Empfängers‘ in die Position des aktiven Gestalters seiner Lebensvollzüge gebracht. Der Begriff des Hilfeempfängers verschleierte dagegen, dass soziale Dienste immer von der Ko-Produktion der Beteiligten abhängig sind, da er ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis der behinderten Menschen zur zuständigen Sozialbehörde unterstellt. Zugleich bedeutet es aber auch, dass Hilfen nicht automatisch gewährt werden, sondern die Person zunächst aktiv werden muss, um diese zu erhalten. Die ‚Berechtigung‘ ist deshalb zunächst nur eine Möglichkeit. Ob die Person tatsächlich Leistungen erhält, hängt von vielen Faktoren ab. Der Begriff der ‚Leistung‘ anstatt des Begriffs der ‚Hilfe‘ oder ‚Maßnahme‘ rückt die sozialstaatliche Unterstützung von ihrem altruistischen und fürsorgenden Charakter weg in die Nähe betriebswirtschaftlicher Logik der stetigen Suche nach dem Optimum. Leistungen sind Handlungen, die einen wie auch immer gearteten Zuwachs zum Effekt haben. Damit sind definitorisch Hilfen ausgeschlossen, die den Erhalt des Status quo oder die Verhinderung von Rückschritten zum Ziel haben. Dadurch wird die Position des Individuums als aktives Mitglied der Leistungsproduktionsgemeinschaft mit eigenen Rechten und Pflichten bestimmt. Der Begriff des ‚Leistungsträgers‘ untermauert den umfassenden Verantwortungsanspruch der Sozialbehörden und beinhaltet, für die fachlichen Fragen der inhaltlichen Gestaltung der Leistung Verantwortung zu tragen. Daraus ergeben sich die Legitimation und die Verpflichtung, auf die ordnungsgemäße Erbringung der Leistung zu achten und umfassende Selbstkontrolle im Sinne von Dokumentation und Evaluation von den anderen Beteiligten zu fordern. Die Leistungserbringer werden so zu ‚Ausführungsgehilfen‘ der Pläne der Leistungsträger. Individuelle Hilfeplanung setzt auf eine Technik der Vereinbarung, die disziplinierend wirkt. Dabei wirkt die ‚Vereinbarungskultur’ nicht nur unmittelbar in der Individuellen Hilfeplanung, sondern passt sich ein in ein umfassendes System der Selbstkontrolle. Es wird nicht angeordnet, was ein Mensch künftig zu tun hat, sondern es wird kommunikativ ein Netz aus Verpflichtungen und Gegenverpflichtungen hergestellt. Auf diese Weise wird es kaum möglich, sich der Hilfeplanung zu widersetzen, denn die in ihr enthaltenen Verpflichtungen wurden auf der Basis der ‚Freiwilligkeit’ und ‚selbst gewählt’ eingegangen. Sie abzulehnen bedeutet, gegen sich selbst zu sprechen. So werden im Zuge des ‚Neuen Steuerungsmodells’ zwischen den Arbeitsbereichen der Sozialverwaltungen ‚Kontrakte’ geschlossen, in den Außenbeziehungen werden mit den Menschen mit Behinderungen ‚Zielvereinbarungen’ und ‚Hilfepläne’ vereinbart und mit den Leistungserbringern Leistungs-, Vergütungs-‚ und Qualitätsvereinbarungen getroffen. Schließlich bilden die Landes31 Ökonomisch soll hier im ursprünglichen Sinne als Steuerung von Mitteleinsatz und Mittelverwendung verstanden werden, nicht im Sinne von Steuerung durch Einführung von Marktbedingungen, Wettbewerb und Profitorientierung.
10.2 Politische Ökonomie der Hilfeplanung
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rahmenverträge zwischen den Verbänden von Leistungsträgern und Leistungserbringern auf Landesebene eine weitere Ebene dieser Vereinbarungskultur. Dabei kommt auch die Vereinbarungskultur nicht ohne Kontrolle aus. Im Zentrum steht die Befürchtung, die eingesetzten Mittel könnten nicht effektiv verwendet oder sogar verschwendet werden oder an den ‚wirklichen‘ Bedarfen der Personen vorbei gehen. (So wird beispielsweise z.T. akribisch nach aktivierbaren Nachbarschaftshilfen, informellen Netzwerken und Selbsthilfepotenzialen der Person gesucht, um den ‚tatsächlichen‘ Hilfebedarf der Person festzustellen.) Dabei wird allerdings kaum von Kontrolle, sondern von Evaluation und Qualitätssicherung gesprochen. Die Logik der Vereinbarung geht von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der beteiligten Akteure aus und von der Vorstellung, dass alle prinzipiell die gleichen Chancen haben, ihre Interessen durchzusetzen. Anstatt hierarchische und äußerliche Kontrollinstanzen und Disziplinierungsmaßnahmen zu entwickeln, die der eigentlichen Hilfeplanung äußerlich bleiben, setzt die Vereinbarungskultur auf umfassende Dokumentation- und (Selbst-)Kontrolle. Die Vereinbarungspartner halten nicht nur gegenseitige Verpflichtungen und Freiheiten fest, sondern vereinbaren auch die Formen, die die Einhaltung der Vereinbarung sicher stellen sollen. Dabei entsteht weniger ein System hierarchischer Kontrolle, als vielmehr ein System, welches über die Dokumentation der Prozessschritte die Notwendigkeit der Selbstbeobachtung schließlich eine fortwährende Selbstevaluation der Akteure erzeugt, die sich zur Einhaltung der Vereinbarung verpflichtet haben und denen andernfalls die Sanktion droht, dass die Vereinbarung aufgekündigt und nicht erneuert wird. Dabei wirkt dieser Mechanismus vor allem auf die Leistungserbringer, da sie in den Vereinbarungen die Ausgestaltung der Angebotslandschaft leisten. Die Verpflichtungen der Leistungsträger beziehen sich weitgehend darauf, die vereinbarten Kosten zu zahlen. Sie müssen keine Eigenaktivitäten dokumentieren und evaluieren, um die Einhaltung der Vereinbarung zu belegen, sondern sie zeigt sich in der unmittelbaren Kostenübernahme. Zudem sollen Menschen mit Behinderungen die gemeinsame Arbeit mit dem Leistungserbringer, von dem sie abhängig sind und zu dem in der Regel eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut wird, und die Erreichung der in der Hilfeplanung formulierten Ziele bewerten. Von diesen Dokumentationen und Bewertungen hängt nicht nur die weitere Hilfeplanung des einzelnen Menschen ab, sondern letztlich auch die Anerkennung des Leistungserbringers durch den Leistungsträger im Rahmen der nächsten Leistungsvereinbarungen. Die Arbeit der Leistungsträger wird dagegen nur in einzelnen Bundesländern durch hausinterne Evaluationsmaßnahmen oder externe Evaluation geleistet, die aber keinerlei bindende Konsequenzen für die Leistungsträger haben. Die fortwährende Diskussion um Qualität und Professionalität führt dabei dazu, dass die stetige Selbst- und Fremdbewertung mit dem Ziel der Wissensproduktion als sinnvoll und hilfreich erlebt wird. Im Gegensatz zum Prinzip der ‚hierarchischen Kontrolle‘ bei Foucault ist die Kontrolle der Evaluation und des Qualitätsmanagements also nicht den Organisationen und den Beziehungen der Menschen äußerlich, sondern wird durch das Kontraktmanagement zur Selbstverpflichtung. Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit als ‚Handeln in Unsicherheit‘ wird so zu einem ‚Handeln wider die Unsicherheit‘. Menschen mit Behinderungen werden durch die Individuelle Hilfeplanung dem ‚Wissen über die Bevölkerung‘ zugänglich gemacht. Der Einzelne wird in seinen persönlichen Merkmalen individuell beschreibbar und zugleich mit anderen Menschen mit Behinderungen und der Bevölkerung insgesamt vergleichbar. Menschen werden durch die Hilfepla-
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nung und die mit ihr im Zusammenhang stehenden Verfahren in ein Kontinuum eingeordnet, es werden Abstufungen von Hilfebedarfen gemessen, Abstände zwischen den Personengruppen beschreibbar gemacht und auf diese Weise Menschen in Klassen (oder eben Hilfebedarfsgruppen) einsortiert (vgl. Abschnitt 6.2.2 bis einschl. Abschnitt 6.2.4). Indem individuelle Hilfebedarfe nicht nur individuell erfasst werden, sondern nach vorgegebenen Kriterien und im Hinblick auf definierte Bedarfsbereiche zusammengefasst werden, wird der Einzelne als Einzelner und zugleich als Element eines Ganzen dokumentierbar. Mit der Klassifizierung von Hilfebedarfsgruppen werden die Abstände von der Norm der Mehrheitsbevölkerung messbar und quantifizierbar und schließlich ‚verpreislicht’ werden können (vgl. Sans 1994; Fink 1995; Breme/ Kronenberger 2007). Die Quantifizierung der individuellen Merkmale und ihre Bewertung im Vergleich mit anderen ‚Fällen‘ sind eine typische Form der Normierung und Normalisierung des Individuums als sichtbares Einzelwesen in Relation zur statistisch erfassten Bevölkerung. Individuelle Hilfeplanung wird so zu einer ‚Informationssammelmaschinerie‘, die sowohl Daten über den Einzelnen als auch über die Organisationen sammelt. Es geht darum, Transparenz über die Leistungen und Prozesse herzustellen. Der Bevölkerung soll offen gelegt werden, wie mit den Steuergeldern in der Eingliederungshilfe umgegangen werde und eine Grundlage geschaffen werden, um in überschaubaren lokalen Räumen aber auch in ganzen Regionen die notwendigen Angebote rückbezogen auf die gesammelten und normierten Daten aus den individuellen Hilfeplanungen effizient zu planen (vgl. z.B. Konzept des ITP Hessen, hier 167 f; AQUA-UWO, hier 205 f). Die Qualität der Leistungserbringung von Diensten und Einrichtungen soll vergleichbar gemacht werden und über Verfahren betriebswirtschaftlichen Controllings die effizientesten Einrichtungen und Regionen (vgl. exempl. Das Benchmarking 2006 der 16 großen Großstädte Deutschlands von con_sens 2008) ermittelt werden. Dazu ist neben der schriftlichen Fixierung von Regelungen und Nebenabsprachen eine umfangreiche Sammlung von Daten und Informationen über die Einrichtungen und Dienste, aber auch über die erstellten Hilfepläne und die bewilligten Leistungen notwendig. Leistungsträger werden auf diese Weise zu Sammlern von individuellem Wissen (über die Unterstützungsbedarfe der Personen), institutionellem Wissen (über die Leistungserbringer) und sozialräumlichem Wissen (über die Angebots- und Nachfragelandschaft im Zuständigkeitsgebiet des Leistungsträgers). Unklar bleiben die Folgen dieser Wissensproduktion, welche Interessen sie bedienen und wie sie je nach Verwendungskontext unterschiedliche Wirkungen entfalten können. So bleibt es den Leistungsträgern überlassen, wie sie der Öffentlichkeit oder ausgewählten Kreisen welche Daten zur Verfügung stellen (abgesehen von den unmittelbaren Rechten der einzelnen Person auf ihre persönlichen Daten). Mit der objektiven Messung von Hilfebedarfen wird zudem ein Wissen über das Individuum produziert, das aus medizinischen, psychologischen und sozialen Faktoren besteht und die scheinbar passenden Hilfen legitimiert. Durch ‚wissenschaftlich‘ fundierte Hilfeplanungsinstrumente wird ein gegebener oder künftiger Hilfebedarf ermittelt, in ein System der Bedarfsgruppen eingeordnet und einem passenden Angebot zugeordnet. Dabei bleiben die Entstehungszusammenhänge der ausgefüllten Planungsbögen, die Subjektivität der Beteiligten und die situative Dimension weitgehend ausgeblendet. So entsteht ein umfassendes und zugleich selektives Wissen über den einzelnen Menschen wie auch über die Merkmale von ‚Gruppen mit vergleichbarem Hilfebedarf‘. Die Gruppen stellen eine neue Form der Kategorisierung dar, die die klassischen (und medizinisch geprägten) Behinde-
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rungsarten zum Ausgangspunkt (geistige Behinderung, Körperbehinderung, Sinnesbehinderung und seelische Behinderung und Abhängigkeitserkrankungen) eines umfassenden ‚Assessments‘ machen (vgl. Abschnitt 6.2.4.4). Die Frage nach der Art der Behinderung wird im Zuge des Assessments umgewandelt in die Frage nach der Intensität des Unterstützungsbedarfs, wozu individuelle, aber ‚behinderungstypische‘ Informationen über die einzelne Person ermittelt werden müssen. So wird in der Individuellen Hilfeplanung der Mensch reduziert auf eine mehr oder weniger vorbestimmte Summe von Fähigkeiten und Beeinträchtigungen, die in Beziehung gesetzt wird zu seiner aktuellen Lebenssituation, sowie Zielen für die Zukunft. Fragen des Lebensstils und Geschmacks, persönliche Motive und möglicherweise Verletzungen, die aus der Biographie resultieren und nicht mit dem Leitziel der Hilfeplanung im Kontext der Eingliederungshilfe konform gehen, ‚Selbstständigkeit‘ zu ermöglichen, müssen durch diesen normierenden und auf die Zukunft gerichteten Blick begründet und gerechtfertigt werden. Mit der Individuellen Hilfeplanung wird ein bestimmtes Wissen über die Person in einer ganz bestimmt Form erzeugt. Die Argumentation der ‚bedarfsgerechten Hilfen‘ auf der Basis von objektiv und mit der Person gemeinsam ermittelten Hilfebedarfen schafft einen Rahmen, in dem bestimmte Hilfeformen als ‚richtig‘ für die Person und andere als ‚falsch‘ deklariert werden können. Der Konstruktionsprozess dieses Wissens über die Person bleibt dabei in der Regel unhinterfragt. Die einzelne Person gerät so mit ihrem Lebensentwurf in ständige Rechtfertigungsnot. Sie muss plausibel machen, weshalb sie beispielsweise trotz objektiv ‚gemessenem‘, geringem Hilfebedarf in einer teilstationär oder stationär betreuten Wohnform leben möchte oder weshalb sie trotz hohem Hilfebedarf möglicherweise darauf besteht, in einer eigenen Wohnung leben zu wollen. Das Individuum ist damit von Interesse, sobald es von der Norm abweicht und gerät in den Blick der normierenden Wissensproduktion. 10.2.3 Normalisierende Ordnung oder ‚Der Raum der Fachlichkeit wird neu vermessen’ Die Personenzentrierung der geplanten Hilfen findet ihre Grenzen bei der Zuordnung zu Hilfebedarfsgruppen und Leistungstypen, die standardisierte Angebotspakte für professionelle Hilfen markieren, die der Mensch trotz aller Selbsthilfepotenziale, sozialen Netzwerke und Engagement von Unterstützerkreisen benötigt. Die Diskussion um die Förderung der selbstbestimmten Lebensführung im Zusammenhang mit der Debatte um steigende Ausgaben in der Eingliederungshilfe und der daraus abgeleiteten Umsetzung des Grundsatzes 'ambulant vor stationär' lässt auch im Bereich der Hilfen für Menschen mit Behinderungen einen ‚creaming the poor‘ Effekt befürchten. Diejenigen, die wenige Hilfen benötigen, erhalten eine differenzierte Hilfeplanung, die ihre Potenziale optimal fördert, ihre Selbsthilfekräfte stärkt und verbleibende Hilfen möglichst effizient organisiert. Es geht bei dieser Gruppe darum, möglichst das Maximum an ‚selbstbestimmter‘ Eigenleistung und ein Minimum an ‚fremdbestimmender‘ professioneller Fremdleistung zu ermitteln. Diesem Personenkreis wird nahe gelegt, dass eine ambulante Betreuung am ehesten ihren Bedürfnissen entspricht. Sobald die Kosten für die Hilfen in einer solchen Wohnform aber die Kosten einer Heimunterbringung wesentlich übersteigen würde, kann aber argumentiert werden, dass diese Wohnform eben nicht dem objektiven Hilfebedarf der Person entspricht, auch wenn dies nicht im Sinne des Gesetzgebers war (vgl. Abschnitt 5.2.3, ab 113 ff). Diesen
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10 Individuelle Hilfeplanung als Spezial-Dispositiv moderner Gouvernementalität
Personen wird möglicherweise nahe gelegt, dass sie in einer stationären Wohneinrichtung die optimale Hilfe finden 32. Die Argumentation dreht sich in den Praktiken gegenüber den Diskursen um: Nicht die Hilfen werden der Person angepasst, sondern es wird tatsächlich durch die Hilfebedarfsfeststellung die Eignung der Person für vorhandene professionelle Angebote festgestellt. Um es alltagssprachlich zu formulieren: Wer wenig Arbeit macht, kostet wenig und sollte ambulant betreut werden, wer viel Arbeit macht und deshalb viele Kosten verursacht, sollte im ‚Behinderten‘- oder sogar Pflegeheim leben. Wenn so die Hilfeform zur Eigenschaft der Person wird, stellt sich die Frage, wie Veränderungen der Lebenssituation für die Person möglich werden können. Zudem werden neue Abstufungen in einem Kontinuum zwischen Nicht-Behindert und Schwerst-Behindert gezogen, die sich an der Form der Hilfen, die eine Person erhält, festmacht. Die Gefahr besteht darin, Menschen mit Behinderungen in förderungswürdige, ambulant betreute und lediglich versorgte, stationär betreute Menschen zu unterteilen. In einzelnen Bundesländern gibt es solche verkürzten Hilfeplanverfahren für stationäre Hilfen, die in der Regel aus der Einordnung in eine Hilfebedarfsgruppe und Zuweisung zu einer Einrichtung bestehen. Eine ausführliche Hilfeplanung findet dann nur noch bei voraussichtlich ambulanten Hilfen statt (vgl. exempl. Unterkapitel 11.3). Hilfeplanung richtet sich also vor allem an jenen Personenkreis, von dem ein gewisses Maß an Selbsthilfepotenzial und Eingliederungsfähigkeit erwartet wird und der sich bereit zeigt, an seiner eigenen Selbstoptimierung mitzuarbeiten und der deshalb die größten Einsparpotenziale erwarten lässt. Diese, einer Hilfeplanung vorgelagerte Richtungsentscheidung ordnet und sortiert die Menschen und verschiebt dadurch die Grenzziehungen der Normalität und verschleiert sie, anstatt sie aufzuheben. Es bleibt ein Rest der ‚Anormalen‘ in Einrichtungen. Das Dispositiv Individuelle Hilfeplanung bezieht sich nicht auf neue Formen der Wissensproduktion über den Einzelnen im Verhältnis zur Bevölkerung, sondern muss auch in seinen Wirkungen auf das Angebotssystem betrachtet werden. Aus dem Zusammenhang von Selbstbestimmungsdebatte, steigenden Kosten und den erhofften Einsparungen durch die Umsetzung des Selbstbestimmungsgedankens ist die Forderung nach neuen, ambulanten und flexiblen Hilfen nicht mehr nur eine Forderung von wenigen Betroffenen, sondern trifft das Interesse der Sozialverwaltungen (vgl. Abschnitt 6.2.1). Deshalb war es Ende der neunziger Jahre nicht mehr möglich, die Entwicklung dieses Angebotssegments lediglich zu dulden, sondern vielmehr hatte sich ein Zusammenhang von Interessen gefunden, der die größere Verbreitung des Selbstbestimmungsprinzips und damit eine Verbreitung jener Hilfeformen ermöglichte, die eine Umsetzung dieses Prinzips versprachen. Dafür mussten allerdings Strukturen geschaffen werden, um den ‚Wildwuchs‘ kleiner, ambulanter Anbieter zu reglementieren und in das bestehende System der Behindertenhilfe zu integrieren. Mit der Norm der Hilfebedarfsgruppen und Leistungstypen wurde genau dies möglich, da die Leistungstypen die bestehenden unterschiedlichen Hilfeformen in eine überschaubare Systematik überführen. Leistungstypen stellen eine wesentlich differenziertere Unterscheidung dar, als eine bloße Trennung in ambulante und teilstationäre und stationäre Hilfen. Dadurch differenziert sich offiziell das Hilfeangebot, allerdings werden die prinzipiell mög32
Tatsächlich zeigen die Erfahrungen der ambulanten Dienste, die im Zuge der Selbsthilfebewegung seit den 1980er Jahren entstanden, dass die Frage der richtigen Hilfeform (ambulant, teilstationär, stationär) nicht vom Umfang der benötigten Hilfen abhängt, sondern mit einem passgenauen Hilfearrangement jede Person prinzipiell in einer eigenen Wohnung leben kann. Leider fehlen bisher Empirische Untersuchungen, die diese Erfahrungen der Praxis wissenschaftlich belegen.
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lichen Differenzierungen vorab klar beschrieben, sortiert und normiert, so dass die Freiräume für die Entwicklung neuer Hilfeformen kleiner werden, weil jede Form in das genormte Raster der Leistungstypen passen muss. Jedes Angebot benötigt eine Legitimation durch einen Leistungstyp, dem es zugeordnet werden können muss, um eine legitime Hilfe für Menschen mit Behinderungen sein zu können. Leistungstypen können aber nicht fortlaufend, sondern nur jeweils bei den nächsten Vertragsverhandlungen zu den Landesrahmenverträgen entwickelt werden. Indem in den Bundesländern Kataloge von Leistungstypen entstanden, konnten ambulante und offene Angebote in das bestehende System integriert werden, ohne dass bestehende und etablierte Angebote grundsätzlich in Frage gestellt werden mussten. Das Grundmuster der umfassenden Zuständigkeit eines Leistungserbringers für alle Leistungen innerhalb eines Lebensbereichs (Wohnen, Arbeit, Freizeit) blieb dabei erhalten (z.B. im GBM-Konzept, hier 177 f; im Hilfeplankonzept von Rheinland-Pfalz, hier 165; im ‚alten‘ IHP Verfahren in Hessen und Hamburg, hier 160). Die ‚personenzentrierte‘ Sicht hat somit ihre Grenzen in der Systematik der Hilfeangebote. Individuelle Hilfeplanung strukturiert und ordnet Hilfen für die einzelne Person. Sie schafft eine räumliche (Benennung von Orten) und zeitliche Ordnung (Phasenmodelle der Planung) benennt Entscheidungswege und Zuständigkeiten (wer ist an welcher Planungsphase beteiligt, wer trifft welche Entscheidungen?) und weist Verantwortung zu. Dadurch entstehen Freiräume und Verpflichtungen für die Beteiligten (zur Auskunft, zur Mitarbeit, zur Entscheidung). Die jeweiligen Hilfebedarfe werden gemessen, normiert und geordnet und in Hilfebedarfsgruppen systematisiert. Individuelle Hilfeplanung zielt so auf die Disziplinierung und Formung des Individuums durch sich selbst ab. Obwohl rhetorisch das ‚individuelle Unterstützungsarrangement‘ als Zielsetzung von Hilfeplanung fungiert, entsteht real mit der Formulierung von Leistungstypen und Hilfebedarfsgruppen ein Ordnungssystem mit ‚Schubladencharakter‘. Im Sinne Foucaults könnte man hier von normierenden und normalisierenden Praktiken sprechen, denen nicht nur die einzelne Person, sondern auch die Hilfeangebote, die ihr zur Verfügung gestellt werden sollen, unterworfen werden. Die Person kann aber nur diejenigen Hilfen finanziert bekommen, welche durch die Zuordnung zu einem Leistungstyp als angemessen und damit als legitim anerkannt sind. So wird die Zuordnung der individuellen, aber normierten und standardisierten Hilfebedarfe zu einem analogen System von Leistungstypen geschaffen. Es entsteht eine neuartige ‚Zuordnungsmaschinerie‘, die die Angebote und Nachfragen zueinander in Passung bringt. Individuelle Hilfeplanung segmentiert dabei in den meisten Konzepten die Lebenswirklichkeit des Einzelnen auch zeitlich, indem Phasen der Planung, der Durchführung und der Evaluation unterschieden werden (z.B. in den Konzepten von Leistungsträgern der Eingliederungshilfe, hier 160; aber auch in Konzepten wie der Persönlichen Zukunftsplanung, hier 203 f). Das Leben muss geplant und Ziele, die der Einzelne erreichen möchte, formuliert werden, damit Leben (mit Hilfen) gelebt werden kann. Auch die Strukturierung der Fachlichkeit wird unter der Perspektive Individueller Hilfeplanung neu bestimmt. Es werden verschiedene Formen und Bereiche von Hilfeleistung unterschieden, z.B. Beratung, Begleitung, Assistenz, (pädagogische) Betreuung, Therapie, Pflege, hauswirtschaftliche Versorgung usw. (z.B. im Hilfeplanverfahren in RheinlandPfalz, hier 165 f; im ITP Hessen, hier 167; aber auch z.B. im Hilfeplankonzept von SYLQUE, hier 178 f). Durch diese Sichtbarmachung einzelner Bestandteile von Unterstützung werden diese in der Hilfeplanung separiert und zu eigenständigen Fachlichkeiten in der Hilfeplanung parzelliert. Es entsteht eine Fachlichkeit der Diagnose, eine Fachlichkeit
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der Beratung, eine Fachlichkeit der Unterstützung usw. (indem z.B. eigenständige Fachdienste für die Hilfebedarfsfeststellung und Unterstützung bei der Antragstellung aufgebaut werden). Die Parzellierung der Unterstützung bezieht sich dabei nicht nur auf die Hilfeplanungsprozesse selber, sondern entfaltet diese Wirkung auch auf die Fachlichkeit der eigentlichen Hilfe. So werden professionelle von nicht-professionellen Hilfen unterschieden, professionelle Hilfen in hauswirtschaftliche, therapeutische, sozialpädagogische Hilfen usw. getrennt und mit unterschiedlichen Qualifikationsanforderungen an professionelle Helfer/innen und schließlich ‚Verpreislichungen’ versehen. Bestanden diese unterschiedlichen Fachlichkeiten schon vor der Individuellen Hilfeplanung als strukturelle Ressourcen im Angebot der Behindertenhilfe, hat sich nun die Legitimation der Notwendigkeit unterschiedlicher Hilfen verändert. Die Notwendigkeit der Existenz unterschiedlicher Fachlichkeiten begründet sich nicht mehr aus einem ‚allgemeinen Bedarf’ dieser besonderen Bevölkerungsgruppe, sondern ergibt sich aus einem partiellen, ‚individuellen Bedarf’ der einzelnen Person. Durch das Erfordernis, die verschiedenen Fachlichkeiten zu unterscheiden und Berufsgruppen, sowie Kostenstellen zuzuordnen, entsteht darüber hinaus eine neue Form der Fachlichkeit. Sie zeigt sich in der Übernahme des ‚Casemanagement-Gedankens‘ durch die Leistungsträger, in der Diskussion um die ‚Verpreislichung’ und kostenmäßigen Kalkulation von Hilfen (vgl. Rehn 2000, 2002; Fink 1995; Breme et al. 2007) und der gemeinsamen Verwendung der Begriffe ‚Hilfeplanung’ und ‚Controlling’ (vgl. Greving 2002; Schubert 2000). Sie liegt an der Schnittstelle zwischen sozial- oder heilpädagogischen Fragen und sozialrechtlichen bzw. verwaltungsfachlichen Fragen der Hilfegestaltung. Dabei wird allerdings die Güte der unterschiedlichen Fachlichkeiten kaum thematisiert. Es werden Unterscheidungen und Differenzierungen vorgenommen, ohne allerdings näher zu bestimmen, was den Kern der jeweiligen Fachlichkeiten ausmachen solle. Was unter guter Betreuung, guter Assistenz, guter Therapie zu verstehen ist, bleibt den jeweiligen Fachdiskursen überlassen. Individuelle Hilfeplanung thematisiert lediglich die individuelle Anordnung der verschiedenen Fachlichkeiten in Bezug auf die einzelne Person. Die unterstellte Prognostizierbarkeit von pädagogischen Erfolgen und der Planbarkeit des Lebens in festgelegten Zeiträumen vieler Hilfeplankonzepte liegt aber ein lineares Ursache-Wirkungsmodell zu Grunde, das im Widerspruch steht zu den psychologischen und pädagogischen Wissensbeständen über das Lernen und die menschliche Entwicklung (vgl. Gudjons, 215 ff; Montada, 71 ff). Allerdings wird das von der Systemtheorie postulierte ‚Technologiedefizit’ (vgl. Luhmann/ Schorr 1982) der Pädagogik und Sozialen Arbeit nicht vollständig aufgefangen. Vielmehr wird der Raum des nicht-Technologisierbaren (also des Standardisierbaren und vorab Bestimm- und Planbaren) enger umschrieben. Elemente der Unterstützung, wie die Planung und Dokumentation von Hilfen werden als standardisierbar bearbeitet, während andere Elemente weitgehend ausgespart bleiben. Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe soll sich in der Regel auf die Planung von ‚Hilfearrangements’, auf die Auswahl und Anordnung von Hilfeformen konzentrieren, aber nicht auf Fragen der konkreten Ausgestaltung von Hilfesituationen eingehen, da dies Aufgabe der Leistungserbringer sei (vgl. ITP in Hessen, hier 167 f; Konzept der Hilfeplanung in Hamburg, hier 1607 f). Es werden kaum die didaktisch-methodischen und organisatorischen Fragen der Umsetzung geplanter Hilfen oder die Bedeutung der Beziehungsgestaltung zwischen den helfenden Personen und der behinderten Person thematisiert, obwohl Hilfeplanung doch zentralen Einfluss auf den Unterstützungsprozess haben soll (vgl. Ab-
10.3 Subjektbegriff und Subjektivierungspraktiken
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schnitt 6.2.4.4). Der Gestaltung von Instrumenten und der Begründung von Verfahrensschritten wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Der Gestaltung der Interaktionssituation ‚Hilfeplanung‘ wird aber, im Vergleich zu den Diskussionssträngen in der Sozialhilfe (vgl. Abschnitt 6.1.2) häufig kaum Beachtung geschenkt und weitgehend der ‚Professionalität’ des Fachpersonals überlassen. Im Vergleich dazu bezieht sich eine klassische didaktisch-methodische Planung in der Pädagogik durchaus auf die konkrete Ausgestaltung einer Interaktionssituation (vgl. Gudjons 1999, 236). Hilfeplanungskonzepte bleiben hier in Distanz zu Situationen, auf die sie einwirken sollen. Dies sind z.B. auch die Situationen, die notwendiger Weise vor der eigentlichen Hilfeplanung ablaufen müssen, in denen sich eine helfende Person, der Mensch mit Behinderung oder beide gemeinsam (die konkreten Beteiligungsverhältnisse sind in den einzelnen Konzepten unterschiedlich angelegt) über die Hilfebedarfe der Person ins Bild setzen und Perspektiven der Hilfeplanung entwickeln. Da Hilfeplanung keinen unmittelbaren Zugriff auf die Gestaltung der Interaktionssituationen zwischen behinderter Person und ihren Unterstützungspersonen hat, werden diese ‚blinden Flecken’ Individueller Hilfeplanung in der Regel mit dem Verweis auf die hohen fachlichen Anforderungen an die Hilfeplaner/innen kompensiert. Diese Aussparung von nicht- technologisierbaren, d.h. vorstrukturierten und standardisierten Bereichen fällt umso klarer auf, je weniger in den Konzepten und Ansätzen der Hilfeplanung eine Personenzentrierung realisiert wird, sondern eine eher organisationsbezogene Sichtweise dominiert. So macht die ‚Persönliche Zukunftsplanung’ als personenzentriertes Verfahren sehr konkrete Vorschläge zur gemeinsamen Erarbeitung von Zukunftsperspektiven, während das GBM-Verfahren und die Individuelle Hilfeplanung des Landschaftsverbandes Rheinland hier weitreichende Lehrstellen aufweisen. Somit bleibt, insgesamt betrachtet, offen, wie Individuelle Hilfeplanung einen Beitrag zur Professionalisierung im Feld leisten kann, wenn die Professionalität der Fachkräfte letztlich als Voraussetzung für gute Hilfeplanung gilt. Lediglich im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der aktuellen Lebenssituation und der Frage nach zukünftigen Lebensperspektiven der Nutzer/innen scheint Individuelle Hilfeplanung einen solchen Anspruch einlösen zu können. Die Grenze dessen, was formal und objektiv bestimmbar erscheint, wird zwar im Rahmen von Hilfeplanung immer mehr zu Gunsten der Objektivierbarkeit hin verschoben, dennoch bleibt ein Kern erhalten, der von Hilfeplanung auch im Prozess der Hilfeplanung nicht erfasst wird. 10.3 Subjektbegriff und Subjektivierungspraktiken 10.3.1 Normen und Normalisierungen oder ‚Mehr, als die Summe von Defiziten und Fähigkeiten’ Am stärksten von Beck (vgl. Unterkapitel 8.2) ausgearbeitet, zeigt sich aber auch bei anderen Autoren/innen der Grundgedanke, dass Hilfeplanung quasi natürliche menschliche Bedürfnisse befriedigen helfen soll. Diese Bedürfnisorientierung in der Individuellen Hilfeplanung zielt also auf ein Verständnis des Individuums als Gattungswesen mit natürlichen Merkmalen ab. Dabei geht es nicht nur um das physische, sondern auch um das psychische Wohl des Menschen. Der Kritik an einer ausgeprägten Förderorientierung und die Fokus-
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sierung alltagspraktischer Fähigkeiten in der Hilfeplanung zu Beginn des neuen Jahrtausends wird ein Begründungszusammenhang angenommener menschlicher Grundbedürfnisse zur Seite gestellt, die für Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen gelten. Die Bedürfnisorientierung unterstreicht statt möglichen Unterschieden zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen ihre Gemeinsamkeiten. Dabei können die individuellen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung und ein möglicher Unterstützungsbedarf durchaus unterschiedlich sein. Individualisierung wird durch die Form der Bedürfnisbefriedigung hergestellt, die individuell entwickelt werden muss. Neuere Instrumente Individueller Hilfeplanung haben den Anspruch, möglichst den ‚Menschen als Ganzen‘, als bio-psycho-soziale Einheit zu betrachten. So wird vielfach die Orientierung an alltagspraktischen Fähigkeiten als nicht ausreichend für den Hilfebedarf von Menschen mit geistiger Behinderung kritisiert, sondern herausgestellt, dass hier der Hilfebedarf vor allem im Aufbau und der Pflege sozialer Beziehungen, im Bereich der emotionalen und psychischen Entwicklung zu sehen sei. Deshalb gelte es, nicht nur die individuellen ‚Merkmale’ der Person, sondern auch ihr biographisches ‚So-geworden-sein‘, ihre sozialen Beziehungen und Netzwerke, die materielle Lebenssituation und das weitere Sozialumfeld in den Blick zu nehmen, da Behinderung immer als Wechselwirkung von individuellen Faktoren und Umfeldfaktoren in der konkreten Situation entstehe. Der Behinderungsbegriff wird in einem bio-psycho-sozialen Modell so erweitert, dass im Prinzip alle Sphären einer Person ‚behindert‘ sein können, so dass sie dort einen ‚Hilfebedarf’ besitzt. Um diesen decken zu können, muss er erfasst und zum Gegenstand einer Hilfeplanung gemacht werden. Deshalb bezieht sich Generierung des Wissens über die Person im Rahmen von ‚Hilfebedarfsfeststellungen‘ nicht nur auf die Person selbst, sondern auf ihre Lebenssituation und ihr soziales Umfeld insgesamt (z.B. im ITP Hessen, hier 167 f). So gibt es scheinbar keinen Aspekt menschlichen Daseins, der nicht in irgendeiner Weise zum Gegenstand Individueller Hilfeplanung werden könnte, da der Mensch in jeglichem Aspekt seines Daseins potenziell der Hilfe bedürfen könnte. Umgekehrt kann das soziale Umfeld (im Sozialleistungsrecht) nicht beanspruchen, Bestandteil der Person zu sein und im Rahmen von Hilfeplanung Unterstützung für die eigenen Hilfeleistungen beanspruchen. Individuelle Hilfeplanung lässt sich als eine Technik interpretieren, welche die Vorstellung des aktiven, selbstbestimmten, rational denkenden, planenden und zielgerichteten ‚Leistungsberechtigten‘ mit dem fachlichen Anspruch der Individualisierung von Hilfen zusammenbringt und an den Einzelnen heranträgt. Individuelle Hilfeplanung kann deshalb auch als ein Instrument der Normalisierung 33 von Menschen mit (geistiger) Behinderung gesehen werden. Indem Menschen mit (geistiger) Behinderung in der Individuellen Hilfeplanung grundsätzlich die Fähigkeit zur Äußerung über sich selbst, zur Formulierung von Zielen, zum ‚Schmieden’ von Zukunftsplänen usw. zugetraut wird, werden prinzipielle Unterschiede zu einer ‚Normalbevölkerung’ wie sie bisher als Begründung für den Ausschluss und die Besonderung von Menschen mit einer (geistigen) Behinderung galten, verwischt. Hilfeplanung gibt aber zugleich ein ‚Standardverfahren‘ vor, dem das Bild eines ‚Normalbehinderten‘ zu Grunde liegt. So wird in den Diskursfragmenten zur Individuellen Hilfeplanung ein Typus des behinderten Menschen unterstellt, der sich im Rahmen eines 33 Auch hier wird nicht das ‚Normalisierungsprinzip’ der Heil- und Sonderpädagogik zurückgegriffen, sondern Normalisierung als analytischer Begriff verwendet, der hier darauf hinweisen soll, dass keine Differenzierung zwischen Menschen mit einer geistigen Behinderung und Menschen ohne eine geistige Behinderung vorgenommen wird, indem allen prinzipiell dieselben Fähigkeiten unterstellt werden.
10.3 Subjektbegriff und Subjektivierungspraktiken
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(durchaus intensiven und längeren) Beratungsgesprächs verbal äußern, seine aktuelle Lebenssituation vor dem Hintergrund persönlicher Präferenzen reflektieren und bilanzieren, relativ problemlos Zeithorizonte von einem Jahr antizipieren und notwendige Hilfebedarfe für selbstgewählte Lebensziele überblicken kann (insbesondere in den Konzepten von Leistungsträgern, vgl. Abschnitt 6.2.4.4). Hier wird der Einfluss der Diskussionslinien aus der Gemeindepsychiatrie und dem dort eingesetzten IBRP augenscheinlich, deren Klientel sich i.d.R. von Menschen mit geistiger Behinderung unterscheidet 34. Individuelle Hilfeplanung für Menschen mit geistiger Behinderung richtet sich aber an eine Personengruppe, deren Fähigkeiten zur Antizipation künftiger Lebenssituationen, zur Einschätzung von Risiken, zur Planung von Arbeitsschritten usw. in unterschiedlichem Maße eingeschränkt sind und deren Hilfebedarf häufig genau in diesen Bereichen liegt. Hinzu kommen unterschiedliche kommunikative Fähigkeiten der an Hilfeplanung beteiligten Personen, die sich schon alleine aus den unterschiedlichen Bildungshintergründen (i. d. R. Abschluss einer Förderschule bei den Betroffenen, Fachhochschulabschluss oder Fachschul- bzw. Berufsschulabschluss bei den Fachkräften im Unterstützten Wohnen und den Leistungsträgern) ergeben. Der Modus der Hilfeplanung ist aber die gesprochene und geschriebene Sprache. Ist ein Mensch nicht, oder nicht in (für eine Hilfeplanung) erforderlichem Maße dazu in der Lage, so wird in der Regel lediglich einem Anteil nehmenden Fürsprecher die Aufgabe übertragen, sich in die Lage des Menschen zu versetzen und in seinem Sinn die Hilfeplanung durchzuführen. Allerdings wird nur selten über die Verwertbarkeit solcher Stellvertreteraussagen reflektiert. Individuelle Hilfeplanung begründet sich letztlich immer aus einem Abhängigkeitsverhältnis, weil eine Person Hilfe benötigt, die in der Regel über die anthropologische Abhängigkeit eines jeden Menschen von anderen Menschen weit hinaus geht. Indem Individuelle Hilfeplanung diese Voraussetzung der Abhängigkeit nicht thematisiert und es kaum Ansätze gibt, wie diese Schwierigkeiten in der Hilfeplanung überwunden werden können, verschleiert Hilfeplanung die unterschiedliche Verteilung von Macht und Wissen. Gleichberechtigte Dialoge in den Planungsprozessen erscheinen deshalb in Bezug auf diese Personengruppe als rhetorische Utopie. Tatsächlich bleibt es der Professionalität von Hilfeplaner/innen und Vertrauenspersonen überlassen, in welcher Weise sie die Hilfeplanung mit Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen, mit Kommunikationsschwierigkeiten oder schwerwiegenden sozial-emotionalen Beeinträchtigungen führen, deren Unterstützung besondere Sorgfalt und gute Planung benötigt (z.B. bei Gromann 2009; das GBM Konzept, hier 177 f; nur wenige Konzepte von Einrichtungsträgern zeigen eine größere Sensibilität, z.B. die rehistorisierende Hilfeplanung, hier 187 f). Während hier vielfach auf notwendige Fachkompetenzen der professionellen Hilfeplaner/innen hingewiesen wird (die dann aber kaum näher ausgeführt werden) und die Leistungsträger ihr Personal für ihr Hilfeplankonzept schulen, werden notwendige Kompetenzen der behinderten Personen für eine erfolgreiche Hilfeplanung kaum benannt. Für sie erscheint Hilfeplanung voraussetzungslos möglich zu sein, denn Hilfeplanung wird auch für Menschen eingesetzt, die umfassende und schwerwiegende Beeinträchtigungen ihrer Lebensvollzüge besitzen. Allerdings zeigt sich, dass es bisher kaum Konzepte gibt, die die aktive Beteiligung dieser Personen an der Hilfeplanung ermöglichen. Hilfeplanung wird so zu einem Feld negativer 34 Solche schematischen Aussagen zu Behinderungsarten sind allerdings nur unter der Einschränkung zu treffen, dass die Kategorisierung in Behinderungsformen an sich schon eine diskursiv hergestellte Ordnungslogik darstellt, die durchaus kritisch hinterfragt werden muss.
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Freiheit, in dem die selbstbestimmte Äußerung der Person zu sich selbst und ihren Lebensperspektiven als eine Art Grundrecht postuliert wird, ohne aber die Bedingungen dafür zu schaffen, dass der Einzelne dieses Grundrecht tatsächlich wahrnehmen kann. So dürfen beispielsweise Menschen mit Behinderungen an den für ihren Antrag relevanten Teilhabe-/ Belegungskonferenzen teilnehmen, allerdings werden Formulare, Tagesordnungen usw. nur in wenigen Fällen auch in einfacher Sprache oder sogar symbolunterstützt gestaltet und z.B. auf Anfahrtsmöglichkeiten, Terminbindungen usw. der Personen kaum Rücksicht genommen (z.B. im ITP Hessen (hier 167 f) ist erheblicher Entwicklungsbedarf festzustellen; die Individuelle Hilfeplanung in Rheinland-Pfalz (hier 165 f) zeigt zwar nennenswerte Ansätze, die aber nicht konsequent umgesetzt werden; der LVR (hier 166 f) hat einen Materialkoffer für die Hilfeplanung mit geistig behinderten und kommunikationsbeeinträchtigen Menschen entwickelt). Letztlich ist hier zu fragen, ob die postulierte Anwendbarkeit für alle Menschen tatsächlich gegeben ist, oder ob mit dem Grundgedanken Individueller Hilfeplanung als Konzept der Selbstbestimmung und Partizipation nicht tatsächlich derart umfassende Anforderungen an die Fähigkeiten des Einzelnen verbunden sind, die letztlich diejenigen benachteiligt, die diese Fähigkeiten nicht besitzen. 10.3.2 Praktiken der Subjektivierung oder ‚Behinderung ist, was Du daraus machst’ Individuelle Hilfeplanung enthält das Versprechen eines Mehr an selbstbestimmter Lebensführung, an individueller Freiheit und weitgehender Unabhängigkeit von fremd bestimmender Fürsorge, sogar von Hilfe überhaupt. In der Hilfeplanung steckt somit die Verheißung, nicht nur selbst über die Ausführung der Hilfen bestimmen können, sondern insgesamt weniger abhängig von Hilfen zu werden. Hilfen, die zur Erfüllung dieser Verheißung notwendig sind, sollen nach den mit der Person vereinbarten persönlichen Lebenszielen und den individuellen Wünschen der Person geplant werden (z.B. in den Konzepten der Leistungsträger 6.2.4.4; im Ansatz des AQUA-UWO, hier 205 f.) In der Eingliederungshilfe muss die Individuelle Hilfeplanung davon ausgehen, dass das Interesse von Leistungsträgern, eine möglichst weit gehende Unabhängigkeit der Menschen mit Behinderungen von Sozialleistungen herzustellen, dem Interesse des Menschen mit Behinderung entspricht. Durch die Erreichung dieser Ziele soll die Person unabhängiger werden, so dass die Hilfen bei erneuter Hilfeplanung reduziert werden oder wegfallen können. In der dialogischen Entwicklungsplanung (hier 202 f) und der Persönlichen Zukunftsplanung (hier 203 f) ist zwar nicht die Selbstständigkeit der Person der zentrale Fokus, sondern Möglichkeiten zur Realisierung der selbstbestimmten Wünsche der Person zu entwickeln. Aber auch hier ist der selbstbestimmte Mensch mit Behinderung die Idealvorstellung. Die individuelle Hilfeplanung dient konkret dazu, das passende Unterstützungsangebot, die Ziele und Maßnahmen für Unterstützung gemeinsam festzulegen. Zielvereinbarungen sollen dabei zu individuellen und passgenauen Hilfen führen (vgl. Abschnitt 6.2.4.4). Um die Ziele benennen und vereinbaren zu können, müssen die Bedingungen spezifiziert werden, durch die die Hilfe notwendig geworden ist, was eine genaue Untersuchung der Lebensumstände der Person notwendig macht. Mit der Aussicht auf die Belohnung, im Anschluss genügend Hilfen für ein selbstbestimmtes Leben zu bekommen, wird deshalb die Anforderung verknüpft, aktiv am Verfahren mitzuwirken, wahrheitsgemäß Auskunft zu geben, keine relevanten Aspekte zu verschweigen usw. In der Gleichzeitigkeit der postu-
10.3 Subjektbegriff und Subjektivierungspraktiken
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lierten ‚Personenorientierung‘ und ‚Zielorientierung‘ steckt allerdings ein Grundkonflikt, wenn eine Person keine oder nicht ausreichende persönliche Ziele benennen kann oder möchte. Dieser Konflikt wird in der Regel aufgelöst, indem der Hilfeplanung eben dann ein ‚Zielfindungsprozess‘ vorgeschaltet werden muss, den die Person durchlaufen muss, aber es gibt keine Planung von Hilfen jenseits formulierter Ziele. In der Hilfeplanung ist damit stets die gerichtete und positiv bewertete Steuerung von individuellen Lebensbedingungen verbunden, die nicht nur der behinderten Person zu gute kommen soll, sondern die sie selbst (gemeinsam mit anderen Personen gemeinsam) herstellen soll oder für die sie zumindest eine Mit-Verantwortung trägt. Insofern ist sie auch für den Erfolg oder auch Misserfolg von Hilfeplanmaßnahmen mit-verantwortlich. Das Hilfeplanverfahren erfolgt nach festgelegten Regeln. Die Hilfebedarfsfeststellung findet meistens mit standardisierten Erhebungsbögen statt, in denen Sachverhalte in einem eigenen Sprachcode verschlüsselt sind (so die Konzepte von Leistungsträgern, vgl. Abschnitt 6.2.4.4, aber auch von Leistungserbringern, z.B. das GBM Konzept, hier 177 f; SYLQUE, hier 178 f; das P-A-C Konzept, hier 180 f). Individuelle Hilfeplanung arbeitet mit der unausgesprochenen Norm der positiven Bewertung von Unabhängigkeit und der negativen Bewertung der Abhängigkeit 35. Eine tolerierende Akzeptanz des Angewiesen-Seins auf Hilfe ist in vielen Konzepten nicht systematisch vorgesehen, auch wenn real der Großteil von Menschen mit einer geistigen Behinderung ein Leben lang auf Hilfe angewiesen bleibt. Die Begrenzungen und Behinderungen des eigenen Daseins wohlwollend als Bestandteil der eigenen Existenz zu akzeptieren, wird so für den Einzelnen erschwert. Vielmehr zielt die Selbsterkenntnis der Hilfeplanung darauf ab, Behinderung und Abhängigkeit als einen Bestandteil der eigenen Existenz anzuerkennen, den es letztlich zu bekämpfen gilt. Die Person muss in Distanz gehen zu ihrem eigenen Nicht- oder Noch-nicht-können und nach einer besseren, fehlerfreien Existenz streben. Das abhängige Subjekt bleibt aber stets hinter der Idealvorstellung seiner selbst zurück, denn im nächsten Planungszeitraum müssen neue Ziele gesetzt werden können. Indem die Person als aktives Mitglied der Gemeinschaft und Mit-Gestalterin ihres Umfeldes wahrgenommen wird, richtet sich der Blick dabei nicht nur auf psychische und physische Defekte, sondern der Hilfebedarf ergibt sich aus persönlichen Defiziten abzüglich persönlicher Stärken und abzüglich der Hilfen, die bereits aus dem sozialen Umfeld heraus erbracht werden (z.B. im ITP, hier 167 f oder in der Hilfeplanung in RheinlandPfalz, hier 165 f). Dabei geraten die Einflussmöglichkeiten der Person in den Blick. Mit der Stärken-Perspektive und der Frage nach persönlichen Ressourcen sowie Selbsthilfefähigkeiten wird suggeriert, die Person habe bisher selbst noch alles dafür getan, ihre Defizite zu kompensieren. Behinderung wird damit zu dem ‚was die Person daraus macht’. Es handelt sich also in der Hilfebedarfsfeststellung nicht nur um eine Beschreibung der eigenen Lebensumstände, sondern um eine umfassende Bewertung und zurückblickende Bilanz von Erfolgen und Verlusten, sowie die Formulierung von persönlichen Lebenszielen. Während der Mensch das selbstbestimmte Recht und die Pflicht zur Selbstoptimierung hat, besteht nicht das gleiche Recht dazu, sich nicht weiter zu entwickeln oder Rück35 Es sei hier aber deutlich darauf hingewiesen, dass in diesem Verständnis der Selbstbestimmungsbegriff auf den Begriff der Selbstständigkeit reduziert wird. In einem umfassenderen Verständnis bedeutet Selbstbestimmung dagegen mehr als die Unabhängigkeit von Hilfen und wird erst in der Wechselwirkung mit sozialen Beziehungen für das Individuum zu einer relevanten Kategorie (vgl. Thimm 1997; Weiß 2000; Lindmeier/Lindmeier 2003; Moosecker 2004)
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schritte im eigenen Leben nicht als Fehler negativ zu bilanzieren, sondern als wertvolle Erfahrung und Bereicherung der eigenen Biographie. Das Individuum wird zum ‚Evaluator‘ des eigenen Lebens gemacht und ist aufgefordert, stets nach einem persönlichen Optimum zu suchen. Dabei besteht für das Individuum latent die Gefahr, persönliche Erfolge auf die gut geplante professionelle Unterstützung zurückzuführen, Rückschritte und Verluste oder Konflikte dagegen auf ein eigenes mangelndes Engagement oder auf überschätzte Fähigkeiten zurückzuführen. Als regelmäßig wiederkehrende Hilfebedarfsfeststellung (und Hilfeplanung) entsteht so eine panoptische Form dauerhafter Selbstbeobachtung und -kontrolle, die auch dann wirksam wird, wenn gerade keine Hilfeplanung durchgeführt wird. Auch in den Phasen der Durchführung muss dokumentiert und protokolliert werden. Die formulierten Ziele werden nie vollständig erreicht, solange die Person auf Hilfen angewiesen ist. Stets besteht die Gefahr, hinter ein bereits erreichtes Maximum individueller Selbstoptimierung zurückzufallen. Deshalb müssen die Planungen immer wieder von neuem durchgeführt werden. Dabei unterzieht die Hilfeplanung die gesamte Lebenswirklichkeit diesem selbst-normierenden Blick. Die Wahrnehmung der eigenen Lebenswirklichkeit wird ausgerichtet auf die Frage, welche Bedeutung die Geschehnisse wohl für künftige Planungsprozesse haben mögen. Das Hilfeplangespräch in der Hilfeplanung ähnelt in ihren Mechanismen den von Foucault herausgearbeiteten Praktiken der Beichte. Individuelle Hilfeplanung bringt das Individuum dazu, sich über sich selbst zu äußern, um sich selbst zu erkennen. Dazu muss zunächst von der Person erkannt und anerkannt werden, in welchen Situationen in welcher Weise und mit welchen Wirkungen sie nicht in der gleichen Weise wie andere in der Welt steht. Erwartet wird ein objektiver und distanzierter diagnostischer Blick auf die eigene Lebenswirklichkeit. Behinderung ist dabei aber nicht lediglich ein physisches oder psychisches Defizit und damit konstitutives Merkmal der Person, sondern wird als Effekt der Wechselwirkungen von individuellen Faktoren und Umweltfaktoren erkannt. Bereits in der Erstellung von Hilfeplänen werden so durch die Erhebung des Hilfebedarfs der ‚Bekenntniszwang‘ und die ‚Selbstunterwerfung‘ der Subjekte unter das Verfahren ausgelöst. Dabei geht es in den ‚Geständnisprozeduren’ der Individuellen Hilfeplanung aber nicht, wie in den von Foucault beschriebenen christlichen Techniken des Mittelalters (Foucault 1993b) darum, eine sündige Natur zu bekennen, um sie dann abstreifen zu können. Vielmehr wird die eigene Lebensführung unter der Fragestellung in den Blick genommen, inwiefern sie ‚produktiver‘, ‚sozialer‘, ‚gesünder‘ usw. gestaltet werden kann. Der ‚Pastor‘ oder auch die ‚Hilfeplaner/in‘ oder eine Vertrauensperson haben dabei als Personen keine Bedeutung, sondern als Medien der Führung zur Selbstführung in diesem Prozess. Sowohl die Beichte, wie auch die Hilfeplanung entfalten dabei Wirkung über die unmittelbare Situation hinaus. Während allerdings die Buße im Anschluss an die Beichte als direkte Anordnung des Pastors durchgeführt werden muss und sich das Subjekt der Führung des Pastors über die Beichtsituation hinaus gewiss sein kann, verlangt die Hilfeplanung von der Person, die Bußen bzw. ihre Ziele und ihr Engagement zur Zielerreichung selbst zu bestimmen. In diesem Sinne sind Zielvereinbarungen als Führungen der Selbstführung in der Hilfeplanung zu verstehen. Einige Verfahren lassen zwar diese Unterschiede durch die Anwendung von ‚Kreativmethoden‘ oder ‚Gesprächsführungsansätzen‘ weniger deutlich hervortreten (z.B. die dialogische Entwicklungsplanung, hier 202; die Persönliche Zukunftsplanung, hier 203 f; der Methodenkoffer des LVR, hier 166 f). Auch Kreativmethoden und Gesprächsführungsmethoden dienen aber letztlich dazu, die latent vorhandenen
10.3 Subjektbegriff und Subjektivierungspraktiken
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Fähigkeiten der Person zur Selbststeuerung zu aktivieren. Auch wenn einige Verfahren weniger stark die Menschen mit Behinderungen selbst in die Hilfeplanung involvieren (z.B. die rehistorisierende Hilfeplanung, hier187 f), bleibt auch bei unterschiedlichen Graden der Beteiligung des Einzelnen ein Grundmoment der Hilfeplanung, das Subjekt in das Zentrum zu stellen, und Wissen über das Subjekt als Individuum, wie auch als Bestandteil der (behinderten) Bevölkerung zu gewinnen. Sie erscheint so als Technik ‚Erkenntnis über sich selbst’ zu gewinnen und damit die Chance auf ein besseres Leben zu erhalten. Das Ergebnis dieser beichtförmigen ersten ‚Erhebungsphase‘ der Hilfeplanung gilt in der Regel als eine Art Bilanzierung des bisherigen Lebens. Elemente wie Hilfeplan-, Teilhabe-, oder Belegungskonferenzen rücken das einzelne Individuum darüber hinaus ein weiteres Mal in den Mittelpunkt (z.B. im IBRP, hier 162 f; im Hilfeplanverfahren des LVR, hier 166 f; oder im ITP Hessen, hier 167; in der Individuellen Hilfeplanung in RheinlandPfalz, hier 165 f). Während es bei der beichtförmigen ersten Phase um das detaillierte Bekenntnis der eigenen Fähigkeiten und Schwächen geht, stellt die Teilhabe-/ oder Belegungskonferenz in der Regel die Zuordnung des individualisierten Wissens über die Person zum vorhandenen Leistungsangebot in der Region her. Der umfassende Blick auf die Person durch die Person in einer ersten Planungsphase wird nun ergänzt durch den Blick auf die Person durch viele andere Personen. Das Individuum wird hier zum Fall, welches in einer Reihe mit anderen Fällen zugeordnet wird. Deshalb reichen hier zusammengefasste, d.h. normierte Informationen (z.B. die Benennung der Hilfebedarfsgruppe) für die Entscheidungsfindung und eine Zeittaktung der Tagesordnung aus. Indem die Konferenzen ‚multiprofessionell‘ und unter Beteiligung von Leistungsträgern, Leistungserbringern und in einigen Fällen Vertretern der Selbsthilfeorganisationen mit standardisierten Tagesordnungen und Protokollvorgaben durchgeführt werden, geben sich diese Konferenzen den Anschein einer fachbezogenen Objektivität. Sie erscheinen frei von Macht- und Kräftelinien, die eine Entscheidung im Sinne der Person behindern könnten. Die Teilhabekonferenz repräsentiert dabei in gewisser Hinsicht die Sorge der Gemeinschaft für das Wohl des Einzelnen. Dabei wird der Einzelne zum Gegenstand der Erörterung, während die anderen Beteiligten in der Regel als Vertreter von Institutionen auftreten. In der Teilhabekonferenz rückt so die Verantwortung des Einzelnen durch die gemeinsame Verantwortung der Teilhabekonferenz als überindividuelle Instanz in den Hintergrund. In der Teilhabekonferenz wird abschließend festgelegt, was der Hilfebedarf der Person ist und wie er gedeckt werden. Dazu müssen aber die Fähigkeiten, Stärken, Schwächen, die Lebenssituation und persönlichen Interessen usw. des Einzelnen dieser Gruppe von Vertretern verschiedener Institutionen offenbart werden. Wenn die betroffene Person an diesem Verfahren beteiligt wird, muss sie sich erneut selbst offenbaren, sich selbst als Bestandteil dieses Verfahrens erleben und sich ihm ‚unterwerfen’ oder es aus der Distanz über sich ergehen lassen. Die tatsächliche Teilnahme wird aber in der Regel den behinderten Personen zur Wahl gestellt, so dass von ihr kein Zwang, sondern freiwillige Unterwerfung ausgeht. Durch die beichtförmige Selbstauskunft in der ersten Erhebungsphase und durch die Teilhabekonferenz wird so eine ‚individuelle Wahrheit’ des Hilfebedarfs einer Person geschaffen, die den Anspruch erhebt, ein Abbild der Lebenssituation der Person zu sein, letztlich aber erst in der Hilfeplanung diskursiv und durch institutionalisierte Prozeduren produziert wird. Individuelle Hilfeplanung hat so, um mit Foucault zu sprechen, einen überaus produktiven Charakter.
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Kaum thematisiert wird in Konzepten und Diskursfragmenten das Spannungsverhältnis zwischen den Interessen des einzelnen Menschen mit Behinderung und der allgemeinen Zielsetzung der Konferenzen, nicht nur den individuellen Hilfebedarf der Person zu decken, sondern auch eine Passung zwischen Angebot und Nachfrage der Hilfen in dem jeweiligen Sozialraum herzustellen. Die Interessen der beteiligten Einrichtungs- und Dienstvertreter, sowie der Vertreter der Leistungsträger werden zudem durch die Multidisziplinarität in der Teilhabekonferenz nur scheinbar reguliert, nicht aber aufgehoben. Unausgesprochene Machtverhältnisse, Interessenlagen und Konflikte, die nur mittelbar mit der Hilfe suchenden Person, aber beispielsweise mit Konkurrenzverhältnissen von Einrichtungen, Belegungszahlen und Kostenentwicklungen, sowie persönlichen und fachlichen Differenzen der Beteiligten zusammenhängen können, sollen zwar durch standardisierte Verfahrensweisen reguliert werden. Es bleibt zu befürchten, dass diese Verfahrensweisen nicht ausreichen, sondern nur die vorhandenen Konflikte und Brüche überdecken und verschleiern und im Effekt doch Einfluss auf die vermeintlich ‚unabhängigen‘ Entscheidungen im Sinne der Betroffenen nehmen. Wenig anders liegt der Fall auch bei den anderen Varianten von Gesprächen und Konferenzen, die mit Individueller Hilfeplanung einhergehen können. Indem beispielsweise in ‚persönlichen Zukunftskonferenzen‘ mögliche Interessenkonflikte der Beteiligten schon konzeptionell ausgeschlossen werden, da es ausschließlich um die persönlichen Wünsche der Person im Zentrum geht, erscheinen die Möglichkeiten erst recht begrenzt, sie frühzeitig zu erkennen und ihnen konstruktiv zu begegnen. Postuliert wird in der Hilfeplanung, (anders als in der Beichte, in der die Selbstaufgabe der Person unter der Führung des Pastors durch die Beichte hergestellt wird,) die Möglichkeit eines ‚herrschaftsfreien’ Dialogs (insbesondere in Konzepten wie der dialogischen Entwicklungsplanung, hier 202 f oder der persönlichen Zukunftsplanung, hier 203 f). Diese Setzung blendet allerdings nicht nur die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten an der Hilfeplanung aus, sondern auch die unterschiedlichen Möglichkeiten, diese Interessen im Dialog zu platzieren und durchzusetzen. So wird die Mitwirkung des Individuums gefordert und seine Selbstbestimmungsrechte betont, letztlich wird aber ebenso deutlich klargestellt, dass eine Hilfeplanung letztlich nur die Entscheidung des Leistungsträgers vorbereiten, aber nicht vorweg nehmen könne. Damit bleiben die Konsequenzen der Hilfeplanung für den Einzelnen im Ungewissen und die Mitarbeit am Planungsprozess wird zu einer ‚Lotterie‘, da letztlich die Kriterien, die tatsächlich zur Entscheidung des Leistungsträgers (bzw. zuständigen Sachbearbeitern führen) nicht offen gelegt werden. Zudem bestehen Gefahren der Steuerung und Manipulation durch die Gesprächsführung der beteiligten Personen, denen ein Mensch mit Behinderung unter Umständen nicht angemessen begegnen kann. Die Person kann sich über sich selbst äußern, aber nicht unbedingt zu den Aspekten ihres Lebens, die ihr besonders relevant erscheinen, sondern Hilfeplanung zeichnet sich dadurch aus, dass die Bereiche und Themen, über die sich die Person äußern soll, in den meisten Fällen vorgegeben sind. Darüber hinaus stellt die Individuelle Hilfeplanung selbst keine neutrale Situation dar, wie die verschiedenen Steuerungsinteressen zeigen (vgl. Abschnitt 10.2.1).
10.4 Zusammenfassung Abbildung 9:
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Individuelle Hilfeplanung als Regierungstechnik
Selbstbestimmungsforderung von Betroffenen
Problemlage des Unterstützten Wohnens
Modernisierung der Sozialverwaltung
Kosten- und Fallzalenentwicklung
Frage der ‚richtigen‘ Verteilung und Verwendung vorhandener Ressourcen ÆSteuerungsinteressen der Akteure
Techniken
INDIVIDUELLE HILFEPLANUNG Blick auf das Individuum Standardisierung/ Normung/ Hierarchisierung Selbsterkenntnis und Selbstoptimierung Lineare Prozess- und Kausalitätsmodelle
VERTRÄGE UND VEREINBARUNGEN RECHTLICHE VERÄNDERUNGEN QUOTIERUNGEN UND BUGDETIERUNGEN
Ökonomisierung der Lebenswirklichkeit Individualisierung von Lebensproblemen Reduzierung auf standardisierte Ausschnitte der Lebenswirklichkeit Praktiken Individueller Hilfeplanung: Welche Verwerfungen/ Brüche/ Kontinuitäten?
QUALITÄTSSICHERUNG & EVALUATION
CASEMANAGEMENT
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10 Individuelle Hilfeplanung als Spezial-Dispositiv moderner Gouvernementalität
10.4 Zusammenfassung Letztlich zeigt sich individuelle Hilfeplanung als eine von mehreren Techniken, mit denen Veränderungen der Bedingungen des Unterstützten Wohnens bearbeitet werden. Dabei lässt sich individuelle Hilfeplanung als ein Effekt unterschiedlicher Steuerungsinteressen interpretieren (vgl. Abb. 9). Sie muss deshalb auch im Zusammenhang mit anderen Techniken gesehen werden, die an unterschiedlichen Stellen ansetzen und diese Steuerungsinteressen realisieren. Dabei wirkt die Individuelle Hilfeplanung auf die Beziehungen der Akteure zueinander, wie auch auf die einzelnen Akteure. So muss sich der Mensch mit Behinderung als Person, die Hilfe benötigt identifizieren, dabei Geständnis- und Selbsterkenntnistechniken anwenden, die ihn ‚verortbar‘ und ‚zuordbar‘ in einem System aus Zielgruppen, Hilfebedarfsgruppen und Leistungstypen machen, damit er einen Platz im System der Hilfeleistungen erhält. Dabei erfolgen die Zuweisungen nicht von einer fernen Machtinstanz, sondern werden mit dem Menschen ausgehandelt, seine aktive Beteiligung an diesen ‚Normierungspraktiken‘ ist gewollt. Dabei folgt Individuelle Hilfeplanung meist einer Orientierung am Casemanagement-Modell mit der Folge, dass lineare Prozess- und Kausalitätsmodelle nicht nur der Planung, sondern auch der Erbringung von Hilfen zu Grunde gelegt werden, die nur begrenzt in Übereinstimmung mit klassisch heilpädagogischen Theorien und Methoden zu bringen sind. Das Individuum muss sich dieser linearen Logik unterwerfen und letztlich seine gesamten Lebenszusammenhänge an einer Ökonomie ausrichten, die auf der Ablehnung von Abhängigkeitsverhältnissen und damit auf einer Minimierung externer Hilfen beruht und seine Lebenszusammenhänge reduziert auf die standardisierten Inhalte seines Hilfeplans. Damit wird das Individuum aber zugleich in neuer Weise abhängig von der Systematik und Organisation des Hilfeplans. Letztlich bleiben allerdings nach dieser überblicksartigen Darstellung des MachtWissenkomplexes und der Techniken, die mit der Individuellen Hilfeplanung einhergehen, einige Leerstellen offen. Vor allem ist die Frage zu stellen, ob jene Wirkungen, die im ‚Programm‘ Individueller Hilfeplanung angelegt erscheinen, tatsächlich in den Beziehungen der Menschen zueinander in dieser Weise wirken oder welche Verwerfungen, Brüche, Bestätigungen und Kontinuitäten sichtbar werden, wenn Regierung als das ‚Handeln von Menschen in Beziehungen‘ verstanden und damit der Blick auf die Praxis Unterstützten Wohnens gerichtet wird. Deshalb soll sich im nachfolgenden Kapitel der Blick verengen auf eine Region Deutschlands, in der exemplarisch Strategien, Wirkungen und Praktiken im Zusammenhang mit Individueller Hilfeplanung herausgearbeitet werden.
11 Exemplarische Vertiefung
Als Erklärungszusammenhang für das plötzliche Auftauchen des Interesses von Trägern der Sozialhilfe an der Hilfeplanung konnte in den vorangegangenen Kapiteln ein Zusammenspiel von behaupteten Modernisierungserfordernissen innerhalb der Sozialverwaltungen und einem neuen Selbstverständnis der Verwaltung, einer Zunahme von Fallzahlen und Kosten, sowie schließlich der fachlichen Veränderungen im Hinblick auf die Realisierung der Leitprinzipien der Normalisierung, Selbstbestimmung und Integration aufgezeigt werden. Erst das Zusammenwirken von organisationalen, finanziellen und fachlichen Veränderungsbedarfen hat Strategien wie die Individuelle Hilfeplanung hervorgebracht, die das Feld des Unterstützten Wohnens in neuer Weise gestalten. In diesem Kapitel sollen die Ergebnisse der Analyse des diskursiven Feldes, in dem Individuelle Hilfeplanung auftaucht, am Beispiel einer Region in Deutschland exemplarisch konkretisiert werden. Um mit einem Bild zu sprechen, wird das Mikroskop nun ‚scharf’ gestellt, wodurch sich der sichtbare Ausschnitt verkleinert, zugleich aber auch ‚Mikropraktiken’ (Bührmann 2007, 60; Bührmann/ Schneider 2007, Abs. 38; Dreyfus/ Rabinow 1987, 217) sichtbar werden, die bei ‚gröberer Einstellung‘ verschwommen oder sogar unsichtbar bleiben. Dabei geht es aber nicht nur um einen einseitigen Wirkmechanismus (im Sinne von ‚die Leistungsträger machen Vorgaben, denen Leistungserbringer und Leistungsberechtigte ausgeliefert sind‘), sondern die Strategien finden in einem Feld von Macht und Wissen statt, in dem die Akteure zugleich durch jene Strategien beeinflusst werden, die sie selbst (mit-) gestalten. Die Individuelle Hilfeplanung regiert nicht einfach Menschen, sondern Individuelle Hilfeplanung ist eine Form der ‚Führung der Führungen‘, in der die Menschen die Regierung ihrer selbst und die Regierung anderer betreiben. Dieses wechselseitige Verhältnis soll im Folgenden anhand einer exemplarischen Vertiefung deutlicher als bis hierher herausgearbeitet werden. Die exemplarische Vertiefung hat deshalb nicht nur eine validierende und konkretisierende Funktion, sondern soll es auch ermöglichen, neue Aspekte aufzuzeigen, die aus den öffentlich zugänglichen Diskursfragmenten nicht herausgearbeitet werden können. Während bisher der Blick vor allem auf die diskursiven Formationen im öffentlichen Raum gerichtet war, sollen nun auch die Diskurseffekte Individueller Hilfeplanung im Feld des Unterstützten Wohnens in den Blick genommen werden, die sich in diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zeigen. Es soll beispielhaft herausgearbeitet werden, wie Menschen mit Hilfeplanung umgehen und damit eine ‚Wirklichkeit der Hilfeplanung’ produzieren, wie sie im ‚strategischen Programm’ des öffentlichen Diskursfeldes nicht deutlich wird. Neben öffentlichen Diskursfragmenten, wie sie bereits in der Globalanalyse des Diskursfeldes skizziert wurden, sollen deshalb nun auch Interviewaussagen einbezogen werden, die einen Einblick in die nicht-diskursiven Praktiken im Zusammenhang mit Individueller Hilfeplanung ermöglichen.
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11 Exemplarische Vertiefung
11.1 Methodische Erläuterungen Das Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde für diese exemplarische Vertiefung ausgewählt, da dort die örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger bereits seit den 1990er Jahren an Verfahren zur Individuellen Hilfeplanung arbeiteten (Schwarte/ Schädler o.J., 103 f; vgl. LT, Z. 137–140 36), so dass eine längere Auseinandersetzung der Akteure mit entsprechenden Fragen zu vermuten ist. Zudem wurde in Nordrhein-Westfalen versuchsweise die Zuständigkeit für ambulante und stationäre Eingliederungshilfen in betreuten Wohnmöglichkeiten vom 01. Juli 2003 bis zum 30. Juni 2010 zusammengelegt und in die Zuständigkeit der überörtlichen Sozialhilfeträger überführt (vgl. Rahmenvereinbarung Eingliederungshilfe Wohnen zwischen den kommunalen Spitzenverbänden in NRW und den Landschaftsverbänden, 1). Für alle Eingliederungshilfen ‚zum selbstständigen Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten’ (§54 (1) SGB XII i. Verb. m. § 55 (2) Abs. 6 SGB IX) sind damit in Nordrhein-Westfalen die beiden Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR) zuständig. Diese Situation ermöglichte es den beiden Landschaftsverbänden, in einem vergleichsweise großen räumlichen Gebiet und mit relativ umfassender einheitlicher Zuständigkeit ein Hilfeplanverfahren für die Leistungsbewilligung einzuführen. Für NRW spricht auch, dass die Konzepte Individueller Hilfeplanung in NRW eingebunden sind in ein Gesamtprogramm von verschiedenen Strategien. Zudem wurde die Erprobung der einheitlichen Zuständigkeit durch eine externe Begleitforschung des ZPE dokumentiert, so dass zusätzliche Informationen über die Implementationsphase vorliegen. Beide Regionen haben zwar eigene, aber doch einander sehr ähnliche Konzepte Individueller Hilfeplanung entwickelt, so dass es im Hinblick auf eine Dekonstruktion mit dem begrifflichen Instrumentarium Foucaults gerechtfertigt erscheint, sich nur auf eine der beiden zu beziehen. Der Entscheidung für das Gebiet des LWL geht aber keine positive oder negative Vorab-Bewertung des dort eingesetzten Konzeptes voraus. Die weitere Eingrenzung auf die Region Westfalen-Lippe ist vor allem forschungsökonomisch begründet. Das für die Interviewaussagen herangezogene Material besteht aus EinzelExperteninterviews mit Zeitzeugen in Schnittstellenpositionen und Gruppeninterviews mit Fachkräften im Unterstützten Wohnen. Die Gruppeninterviews (GI und GII) fanden im Winter 2005/2006 im Rahmen eines Forschungsprojektes von Frau Prof. Dr. Lindmeier zum ‚Professionellen Handeln im unterstützten Wohnen geistig behinderter Menschen im Kontext der Umstellung von stationärer
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Für die Verweise auf das Interviewmaterial werden folgende Kennzeichnungen verwendet: LT = Interview mit einem Vertreter des überörtlichen Leistungsträgers LE = Interview mit einem Vertreter eines Leistungserbringers BF = Interview mit einem Vertreter der Begleitforschung GI = Gruppeninterview I (fünf Teilnehmer/innen) GII = Gruppeninterview II (drei Teilnehmer/innen) In den Nachweisen zu den Einzelinterviews (LT, LE und BF) verweisen die Ziffern hinter der Abkürzung ‚Z.’ auf die betreffenden Zeilennummern der Interviewtranskripte. Die Transkripte der Gruppeninterviews GI und GII sind an das Projekt ‚Professionellen Handeln im unterstützten Wohnen geistig behinderter Menschen im Kontext der Umstellung von stationärer auf ambulante Unterstützung’ von Frau Prof. Dr. Lindmeier an der Leibniz Universität Hannover gebunden. Die Ziffern in den Nachweisen zu den Gruppeninterviews (GI und GII) verweisen deshalb auf nummerierte Transkriptauszüge aus diesem Projekt.
11.1 Methodische Erläuterungen
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auf ambulante Unterstützung’ an der Leibniz Universität Hannover statt 37. Zeitlich liegen sie in der Implementationsphase der Individuellen Hilfeplanung in Westfalen-Lippe und, wie noch herausgearbeitet werden wird, in einem Moment, in dem auch weitere Steuerungsmechanismen der Leistungsträger besondere Wirkungen in den Praktiken der Mitarbeiter/innen einer Wohneinrichtung entfalten. Obwohl diese Interviews nicht mit einem expliziten Fokus auf die Praxis ‚Individueller Hilfeplanung’ geführt wurden, wurde dieses Thema, entsprechend des Offenheitskriteriums qualitativer Interviews (Helferich 2005, 22) derartig umfangreich von den Interviewpartnern/innen eingebracht, dass entsprechende Passagen für die vorliegende Studie hinzu gezogen wurden 38. Die Interviewaussagen zur Individuellen Hilfeplanung aus den Gruppeninterviews beziehen sich überwiegend auf die Durchführung von Unterstützungsleistungen. Diese wurden im Rahmen einer pädagogischen Prozessplanung, wie sie der Landschaftsverband im Anschluss an sein Hilfeplanverfahren erwartet, in Anlehnung an den HMB-W Bogen, weitgehend von Bezugsmitarbeiter/innen und den Nutzer/innen 39 in der Einrichtung gemeinsam geplant. Sie zeigen damit, wie in den nicht-diskursiven Alltagspraktiken mit dem Dispositiv Individuelle Hilfeplanung umgegangen wird, welchen Einfluss es auf die Arbeit hat, und wie es im praktischen Umgang eine eigene ‚Gestalt’ durch die Mitarbeiter/innen und Nutzer/innen annimmt. Zu der zentralen Frage, was für die Interviewpartner/innen ‚gutes’ bzw. ‚professionelles’ Handeln ausmache, berichteten acht Fachkräfte, aufgeteilt in zwei Gruppen mit Hilfe eines Interviewleitfadens zu Aspekten ihrer Arbeit. Die Zusammensetzung der Interviewgruppen ermöglicht zudem eine große Bandbreite von Aussagen zur Individuellen Hilfeplanung. Die Qualifikation der Interviewpartner/innen umfasst zwischen angelernter Kraft und Hochschulabsolvent verschiedene Berufsabschlüsse (Berufsabschlüsse waren u.a. Moto-Therapeut, Erzieher, Heilerziehungspfleger, Sozialpädagoge (FH)). Es sind Kräfte in regulären Vollzeitbeschäftigungsverhältnissen und Kräfte mit reduzierten Arbeitszeiten beteiligt. Die Dauer der Zugehörigkeit zu der Einrichtung schwankt zwischen zwei und 15 Jahren. Alle Kräfte sind direkt in der Unterstützung für Nutzer/innen mit einer geistigen Behinderung tätig. Die Formen der Unterstützung reichen von gruppengegliedertem stationärem Wohnen für Menschen mit komplexen Behinderungen (die u.a. auf umfangreiche Pflegeleistungen angewiesen sind), so genanntes stationäres ‚Trainingswohnen’ in Gruppen für Personen, die langfristig in eine ambulante Betreuungsform wechseln sollen und stationäres Einzelwohnen in Appartements im Gebäude der Einrichtung sowie in Einzelwohnungen in der Umgebung. Die Zusammensetzung bildet einen großen Ausschnitt des möglichen Angebots an Unterstützungsformen ab, auch wenn nicht das gesamte Spektrum von Angeboten berücksichtigt wurde (so fehlen ambulante Angebote, integrative Angebote wie ‚Pflegefamilien‘ für Erwachsene und integrative Wohngemeinschaften). Die Interviews zeigen aber, dass das Thema Individuelle Hilfeplanung nicht nur die Praxis ambulanter Angebote berührt, sondern auch die Arbeit in stationären Wohnformen tangiert. Der Interviewleitfaden thematisiert die Sicht der Fachkräfte auf ihre Arbeit im Verhältnis zur vermuteten Sicht der Nutzer/innen auf die Arbeit; das Verhältnis von Nähe und 37 Weiter gehende Informationen zum Design und zu den Ergebnissen des Forschungsprojektes sollen in einer eigenen Veröffentlichung publiziert werden, die derzeit noch in Vorbereitung ist. 38 Zur Sekundärnutzung qualitativer Interviews s.a. van den Berg (2005) 39 Nachfolgend wird überwiegend von den Nutzer/innen gesprochen, wenn von Menschen mit Behinderungen die Rede ist, welche Unterstützung von den Interviewpartner/innen im Rahmen ihrer Arbeit erhalten, da weder der Begriff des/der Kunden/in noch der des/der Bewohners/in hier angemessen erscheinen (zur Begriffsdiskussion s.a. u.a. Schleebrowski 2009, 37 ff; Fröhlich 2000; Walther-Müller 2002).
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11 Exemplarische Vertiefung
Distanz in der Arbeit mit den Nutzer/innen, das Verhältnis von Gleichbehandlung und Individualisierung, die Bedeutung von Leitprinzipien, Regeln, Routinen, sowie Routinebrüche und Regelverletzungen, das Verhältnis von Handlungssicherheit und Handlungsunsicherheit und schließlich das Verhältnis von teamgemäßem Handeln und individualisiertem Handeln. Die Interviews wurden in Anlehnung an Kallmeyer und Schütze (1976) zur Kodierung phonetischer Informationen als halbstandardisierte Transkripte verschriftlicht. Die Experteninterviews (vgl. Bogner/ Littig/ Menz 2005; Gläser/ Laudel 2006) wurden von Juli bis November 2008 mit jeweils einem Vertreter des überörtlichen Leistungsträgers (LT), einem Vertreter aus der Diskursarena der Leistungserbringer (Wohneinrichtung mit stationären, teilstationären und ambulanten Angeboten) (LE) und einem Vertreter aus der Diskursarena der Wissenschaft (Begleitforschung) (BF) geführt. Die Interviews haben einen eher retrospektiven Charakter, da sie gegen Ende des Versuchs über die einheitliche Zuständigkeit in Nordrhein-Westfalen und der Implementation des Hilfeplanverfahrens stattfanden. Für die Bestimmung der Interviewpartner als Experten (vgl. Meuser/ Nagel 1997) war entscheidend, dass sie sich seit Mitte der 1990er Jahre mit den Entwicklungen im Unterstützten Wohnen und dabei (auch) mit der Entstehung der Individuellen Hilfeplanung in der Region Westfalen Lippe beschäftigen. Sie haben zudem eine berufliche Position inne, die es ihnen ermöglicht, über ihren konkreten Aufgabenbereich hinweg Entwicklungen in ihrer Institution sowie der Region und der Bundesrepublik beobachten zu können, aber auch in gewissem Rahmen gestaltenden Einfluss nehmen zu können. Die Interviews fanden leitfadengestützt statt, wobei den Interviewpartnern die Leitfäden vorab zur Vorbereitung zur Verfügung gestellt wurden. Der Leitfaden gliedert sich in drei Teile. Im Einstieg wurde nach den beruflichen Werdegängen der Interviewpartner gefragt, um einerseits ihre Bestimmung als ‚Zeitzeugen in Schnittstellenpositionen’ zu bestätigen und um mögliche Einflüsse der beruflichen Biographie auf die Sichtweisen zur Individuellen Hilfeplanung erkennen zu können. Im Hauptteil des Interviews werden Aspekte zu drei Themenbereichen erfragt: Die ersten Fragen beziehen sich auf die Entstehung des Konzepts zur Individuellen Hilfeplanung im Gebiet des LWL. Hier sollen die Interviewpartner berichten, welche Prozesse, Strategien und Akteure sie in der Entstehungsphase des Konzepts in der Region als relevant erlebt haben. Die so gewonnenen Ergebnisse sollen die Aussagen aus den öffentlich zugänglichen Diskursfragmenten ergänzen und gegebenenfalls Brüche und Inkonsistenzen zwischen Diskursen und Praxen aufzeigen helfen. Der zweite Themenbereich umfasst Fragen zur Verbreitung Individueller Hilfeplanung in der BRD seit den 1990er Jahren. Hier werden die Interviewpartner gebeten, sich zu vermuteten Zusammenhängen zwischen bundesweiten Veränderungen und Entwicklungen in Westfalen-Lippe zu äußern. Die gewonnenen Aussagen liefern zum einen weitere Hinweise zur Identifikation der gesellschaftlichen Problemlage, als deren Antwort Individuelle Hilfeplanung in der Bundesrepublik seit den 1990er Jahren entsteht. Zum anderen können Zusammenhänge und Unterschiede zwischen bundesweiten und regionalen Entwicklungen auf diese Weise herausgearbeitet werden. Der dritte Themenbereich fokussiert weniger Entstehungszusammenhänge von Individueller Hilfeplanung, als vielmehr ihre Wirkungen. Die Interviewpartner werden gebeten, Erfahrungen mit dem Konzept des Landschaftsverbandes für Hilfeplanung und heutige Perspektiven zu formulieren. Der Leitfaden schließt mit bilanzierenden Fragen im Sinne einer abschließenden Bewertung des Konzepts durch die Interviewpartner und ausblickenden Fragen im Hinblick auf Entwicklungsbedarfe des Kon-
11.1 Methodische Erläuterungen
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zepts aus ihrer Sicht. Die Interviews wurden transkribiert und die Transkripte den Interviewpartnern zur Genehmigung vorgelegt. Die Aussagen aus den fünf Interviews stellen selbst ‚Diskursbeiträge’ dar (auch wenn Foucault selbst sich auf die ‚regelhaften Aussagen’ in schriftlichen Dokumenten beschränkte), in denen Menschen sich dazu äußern, welche Bedeutungen sie den Dingen und Praktiken ihrer Welt zumessen. Sie stellen damit selbst die Anschlüsse an jene Aussagen und Diskurse her, die in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitet wurden. Deshalb wurde auf eine tiefergehende inhaltsanalytische Auswertung des empirischen Materials verzichtet, entsprechend dem gewählten Forschungsansatz nicht nach tiefer liegenden Bedeutungen zu suchen oder diese in das Material ‚hineinzuinterpretieren’, sondern die Bedeutungen ‚an der Oberfläche’ zu benennen (vgl. Abschnitt 3.1.2) 40. Eine Rekonstruktion der Entwicklung der Individuellen Hilfeplanung bleibt unvollständig, wenn sie nicht die weiteren sozialpolitischen Entwicklungen als Kontext berücksichtigt. Deshalb werden zunächst die politischen Prozesse und Entscheidungen in NRW im Zusammenhang der Einführung der Individuellen Hilfeplanung untersucht. Dabei zeigt sich, dass Individuelle Hilfeplanung dort in einem Gesamtzusammenhang strategischer Entwicklungen gesehen werden muss. In NRW sind dies insbesondere die befristete einheitliche Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe in betreuten Wohnmöglichkeiten bei den überörtlichen Sozialhilfeträgern, das damit verbundene Projekt ‚Selbständiges Wohnen behinderter Menschen – Individuelle Hilfen aus einer Hand’ des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales in NRW und weitere Steuerungsinstrumente. Dann wird das Konzept der Individuellen Hilfeplanung des Landschaftsverbandes selbst beschrieben und im Hinblick auf die darin enthaltenen ‚Regierungspraktiken’ befragt. Im dritten Schritt wird die Praxis Individueller Hilfeplanung anhand der Ergebnisse der Begleitforschung des ZPE reflektiert. Schließlich zeigen sich die Wirkungen der Individuellen Hilfeplanung erst in der Praxis des Unterstützten Wohnens. Wie Mitarbeiter/innen und Nutzer/innen mit dem Phänomen ‚Individuelle Hilfeplanung‘ in ihrem Arbeitsalltag umgehen, wird deshalb in einem vierten Schritt untersucht, bevor schließlich Zusammenhänge der vier Ebenen aufgezeigt werden. Das Dispositiv Individuelle Hilfeplanung wird so als Geflecht von Denkweisen, Regierungstechnologien, strategischen Beziehungen und Praktiken dekonstruierbar, mit dem bestimmte Subjektvorstellungen transportiert werden und welches in der Praxis eine enorme Durchschlagskraft und eine auffällige Brüchigkeit zugleich entfaltet. In den folgenden Abschnitten sollen Beschreibungen und Dekonstruktionen abwechselnd und aufeinander Bezug nehmend dargestellt werden. Dabei werden die beschreibenden Abschnitte daraufhin untersucht, inwiefern die dort benannten Aspekte die Ergebnisse aus Kapitel 9 bestätigen können oder inwiefern sich bei einem schärferen Blick auf eine exemplarische Region Diskontinuitäten, Brüche und Divergenzen zu der überblicksartigen Betrachtung der Individuellen Hilfeplanung in den vorangegangenen Kapiteln ergibt. Zentrale Aussagen werden dabei zur Illustration durch Interviewzitate aus den Experteninterviews und den Gruppeninterviews ergänzt.
40 Wenn es um nicht-diskursive Praktiken geht, wären auch teilnehmende Beobachtungen als methodischer Zugang denkbar gewesen. Die damit verbundenen forschungsmethodischen Probleme im Hinblick auf die ‚Interpretation’ der Wahrnehmungen zu der Frage ‚wie die Akteure/innen Hilfeplanung machen’ wären allerdings derart umfangreich, dass sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zufriedenstellend hätten beantwortet werden können.
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11 Exemplarische Vertiefung
11.2 Entstehungszusammenhänge des Konzeptes Die Entstehung Individueller Hilfeplanung in NRW ist eingebunden in ein Gesamtprogramm, welches vorrangig auf den Ausbau ambulanter Hilfen abzielt. In dem Projekt ‚Selbständiges Wohnen behinderter Menschen – Individuelle Hilfe aus einer Hand’‚ wurden Ansätze und Instrumente entwickelt, die an der konkreten Problemlage von behinderten Menschen ansetzen sollten (vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen o. J., S. 9). Die Selbstbestimmungsforderung und die fachliche Orientierung zu Selbstbestimmung und Integration lassen sich, so die politische Aussage des Projektes, nur mit ambulanten Angeboten realisieren. Dazu wird die örtliche Zuständigkeit als nicht zweckmäßig problematisiert, weil sie zu einem ungleichmäßigen Ausbau der Versorgungsstrukturen und damit zu einer Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen in verschiedenen Gemeinden führt. ‚Falsche‘ Steuerungsmechanismen und Anreizstrukturen werden für fehlende ambulante Angebote verantwortlich gemacht. Obwohl sie bisher die Chance gehabt hätten, ambulante Hilfen auszubauen, hätte bisher nur ein Teil der örtlichen Träger diese genutzt. Deshalb wird eine ‚Zentralisierung‘ der Zuständigkeit bei den überörtlichen Trägern befürwortet. Einem unkontrollierten ‚Wildwuchs‘ der Angebotslandschaft soll Einhalt geboten werden, zugunsten einer regulierten und geplanten Entwicklung. In den öffentlichen Darstellungen erscheint dies als Konsens der beteiligten Akteursgruppen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends habe, so das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, ein fachlicher Paradigmenwechsel stattgefunden, der beinhaltete, dass Hilfen nicht ausschließlich rehabilitativ angelegt sein sollen, sondern bedarfs- und kompetenzorientierte Konzepte der sozialen Integration und des selbstbestimmten Lebens realisieren sollen (vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen o.J., 6 f). Tatsächlich würden aber immer mehr Menschen mit Behinderungen in NRW in Heimen leben (vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen o.J., 6). So erhielten 2003 zwar bereits 7,7% (2.734 Personen) der geistig behinderten Einwohner NRWs eine ambulante Unterstützung, 92,3% (31.329 Plätze) lebten allerdings in einer stationären Wohneinrichtung (Schädler/ Schwarte et al. o.J., 8). Diese Zahlen stellen dennoch eine Momentaufnahme eines sich bereits abzeichnenden Wandels dar: Während noch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die stationären Angebote in NRW wesentlich ausgebaut worden waren, entstanden 60% der ambulanten Angebote, die das ZPE in seinen Untersuchungen berücksichtigen konnte, erst ab dem Jahr 2000. Dabei verbirgt sich auch hinter dem Begriff ‚stationär‘ eine Vielzahl von Wohnangeboten (vgl. a.a.O., 143 f): Das gruppengegliederte Wohnheim mit Gruppen für 8–11 Bewohner ist die häufigste Wohnform (78% der Träger). Die Hälfte der Träger bieten aber auch Außenwohngruppen an und 16% dezentrales stationäres Einzelwohnen. Von Anbietern ambulanter Hilfen machen 72% auch stationäre Wohnangebote für Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Beeinträchtigung. 60% der befragten ambulanten Träger mieten (auch) selbst Wohnungen für die unterstützten Personen an. Der überproportionale Ausbau stationärer Wohnangebote bis in das neue Jahrtausend hinein sei, so das zuständige Sozialministerium, durch den demographischen Wandel und den medizinischen Fortschritt begründet, aber vor allem eine Folge fehlender ambulanter Angebote (vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NordrheinWestfalen o.J., 6 f). Schwarte und Schädler bewerten diese Entwicklung als Folge der Trä-
11.2 Entstehungszusammenhänge des Konzeptes
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gerkonzeptionen der Einrichtungen und Dienste, aber auch als Folge nachhaltiger struktureller und finanzieller Anreizstrukturen, die für Träger ein Engagement in stationären Einrichtungen attraktiv machen (vgl. Schwarte/ Schädler o.J., 9). So bestehe kein statistischer Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsdichte in den Gebietskörperschaften und dem Ausbaustand des Ambulant Betreuten Wohnens (vgl. a.a.O., 25). Auch die bislang unterschiedlichen Strategien der beiden überörtlichen Leistungsträger zum Ausbau des ambulant betreuten Wohnens (der LVR förderte systematisch den Ausbau ambulanter Dienste mit einem eigenen Finanzprogramm, der LWL förderte dagegen ‚nur‘ sporadisch) hätten einen ähnlichen Ausbaustand in beiden Landesteilen bewirkt, ohne die Entstehung von Angebotslücken in beiden Landesteilen zu verhindern (vgl. a.a.O., 9). Die kommunalen Leistungsträger, welche bislang für die ambulanten Angebote zuständig waren, seien nicht verpflichtet, bestimmte ambulante Angebote zu schaffen und Menschen mit Behinderungen hätten in der Regel keinen Rechtsanspruch auf ein ambulantes Angebot in ihrer Heimatgemeinde (vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen o.J., 6 f). Zudem stellte das ZPE später in einer Untersuchung fest, dass kommunale Planer/innen meist von dem Prinzip ausgingen, dass eine stationäre Unterbringung die angemessene Unterstützung für Menschen mit einer geistigen Behinderung darstelle (vgl. Schwarte/ Schädler o.J., 11). Hier seien Wissens- und Erfahrungslücken maßgeblich. So hing es bisher vor allem vom Engagement in den einzelnen Gebietskörperschaften ab, ob und wie sich ambulante Angebote für Menschen mit Behinderungen in einer Gegend entwickeln. Vor dem Hintergrund dieser Ausgangssituation stellte auch der Landtag in NRW im April 2000 in einem Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis '90/Grüne die besagten Angebotslücken in den Regionen fest. Man vermutete, dass die geteilte Zuständigkeit für diese Situation mitverantwortlich sei und bat die Landesregierung zu prüfen, ob die geteilte Zuständigkeit sachgerecht und geboten erscheine und unter welchen Bedingungen der Ausbau betreuter Wohnmöglichkeiten möglich sei (vgl. LT-Drs. 12/4889). Das damalige Ministerium für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie in NRW organisierte deshalb im April 2001 ein Werkstattgespräch zum Betreuten Wohnen, an dem Vertreterinnen und Vertreter der Landschaftsverbände, der Kommunalen Spitzenverbände, der Wohlfahrtsverbände, der Einrichtungsträger, der Betroffenenorganisationen, der Wissenschaft und der Landesregierung sowie weitere Fachleute, die sich in ihrer Praxis mit dieser besonderen Problematik beschäftigen, teilnahmen (vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen o.J., 7). Im Ergebnis wurden die Aussagen des Entschließungsantrags erneut bestätigt (vgl. a.a.O., 6 f). Einerseits sei zwar die Einbeziehung der örtlichen Ebene für die Steuerung und Sozialplanung grundsätzlich notwendig, andererseits kam man überein, dass es sinnvoll sei, die Zuständigkeit für ambulante Hilfen befristet auf die überörtliche Ebene zu verlagern, um die aufgedeckten Versorgungslücken schließen zu können (vgl. LT-Drs. 13/2379). Eine auf der Basis dieser Ergebnisse diskutierte Zielvereinbarung zwischen den kommunalen Spitzenverbänden und den Landschaftsverbänden scheiterte allerdings aufgrund von unterschiedlichen Interessen (vgl. ebd.). So beauftragte der Landtag die Landesregierung im März 2002, die Zuständigkeit für alle sozialhilferechtlich erforderlichen Hilfen in betreuten Wohnformen zuzüglich aller in diesem Zusammenhang notwendigen weiteren Hilfen zeitlich befristet bis Ende Juni 2010 den Landschaftsverbänden als überörtlicher Träger der Sozialhilfe zu übertragen (Ministe-
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11 Exemplarische Vertiefung
rium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen o.J., 8). Auf der Basis gewonnener Erfahrungen und Erkenntnisse im Rahmen einer Begleitforschung sollte dann im Anschluss an die Befristung eine dauerhafte Regelung der Zuständigkeiten für die Aufgaben der Eingliederungshilfe getroffen werden. Die dafür notwendigen rechtlichen Regelungen wurden mit der Landesverordnung zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes vom 20. Juni 2003 getroffen. „Ziel der Konzentration dieser Zuständigkeiten in einer Hand ist es, vorhandene örtliche Versorgungslücken (Disparitäten) aufzuheben, möglichst zeitnah eine flächendeckende und bedarfsgerechte Angebotsstruktur für behinderte Menschen zu entwickeln, den behinderten Menschen damit die soziale Integration und ein selbstbestimmtes Leben in ihrer Heimatgemeinde zu ermöglichen und letztlich dem deutlichen Anstieg der Fälle und der Kosten im stationären Bereich entgegenzuwirken. Ein quantitativ und qualitativ verbessertes ambulantes Angebot dient nicht nur den Interessen und Bedürfnissen der behinderten Menschen, sondern auch den Kostenträgern und führt insgesamt zu einer finanziellen Entlastung.“ (Begründung zur Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes (AV-BSHG))
Die einheitliche Zuständigkeit und der damit verbundene quantitative und qualitative Ausbau ambulanter Hilfen werden als zugleich im Interesse der behinderten Menschen (Ziel der Realisierung eines weitgehend selbstbestimmten Lebens) und im Interesse der Leistungsträger liegend gesehen (Ziel der finanziellen Entlastung der Leistungsträger) (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen o.J., 9). Es wird zum einen unterstellt, dass ambulante Hilfen in der Regel kostengünstiger seien: „Die durchschnittlichen Kosten in Wohnheimen betragen täglich rund 90 Euro, die durchschnittliche Betreuungskosten für ambulant selbstständiges Wohnen dagegen nur rund 30 Euro.“ (vgl. Begründung zur Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes (AV-BSHG)). Dabei bleibt aber unklar, welche Bedingungen der Kalkulation dieses Kostenvergleichs zu Grunde gelegt werden. Zum anderen werden ambulante Hilfen als grundsätzlich ‚besser‘ postuliert, weil sie die Selbstbestimmung und Integration von Menschen mit Behinderungen besser unterstützen könnten, als stationäre Hilfen. Es wird vermutet, dass diese Zielsetzung zudem in der Regel den Interessen der Menschen mit Behinderungen entspricht. Auf diese Weise wird argumentativ eine Interessenkongruenz von Interessen der Leistungsträger und der behinderten Menschen hergestellt, letztlich aber von der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Vergleichsmaßstäbe ausgeht: Einerseits gilt die Präferenz ambulanter Angebote aufgrund fachlicher Zielsetzungen und der vermuteten Interessen behinderter Menschen. Andererseits werden aber ambulante und stationäre Hilfen von den Leistungsträgern als gleichwertig angesehen, denn sonst wäre ein direkter Kostenvergleich sowohl rechtlich wie auch moralisch illegitim, wie auch Schwarte und Schädler (o.J., 14 f) feststellen. Die Paradoxie dieser Argumentation wird von anderen Akteuren im Diskursgeschehen durchaus kritisch wahrgenommen: „ […] und gleichzeitig hat der Kostenträger, der sich heute als Leistungsträger definiert, jetzt unsre Vokabeln benutzt. Teilhabe, also SGB IX, SGB XII später, Teilhabe, Selbstbestimmung, Empowerment, nicht mehr so beschützt sein. Und meinte damit immer nur Sparen. (..) Also wenn Teilhabe teurer wurde, war Teilhabe nicht gefragt. Wenn Teilhabe aber günstiger wurde, oder angeblich günstiger wurde, weil das ja noch mal die Frage ist, ( ?) (…) Und wenn jetzt, eh,
11.2 Entstehungszusammenhänge des Konzeptes
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im Sinne der Hilfeplanung geguckt wird, (.), wird eigentlich nach Kosten geguckt.“ (LE, Z. 1060–1074).
Sobald die ambulante Hilfe im Einzelfall mehr kostet als eine stationäre, kann so der Kostenvorbehalt in einen fachlichen Vorbehalt umgewandelt werden: Die kostengünstigere Hilfe gilt dann auch jeweils als die fachlich angemessene Hilfe. Tatsächlich erscheint das Kostensenkungserfordernis als zentraler Anlass für die Entwicklungen auf dem Gebiet des LWL: „Wenn es die Finanzkrise nicht gäbe, die Finanzierungskrise, also wenn fresh money ins System rein käme, das war mit dem Bundesbehindertengeld auch angedacht, nicht? Wenn das so wäre, dann könnte eigentlich alles so bleiben, wie es ist. (…) Also die Dominanz der stationären Versorgung oder so, das könnte eigentlich so bleiben“ (BF, Z. 716– 722), fasst ein Gesprächspartner die Haltung der überörtlichen Leistungsträger zusammen. (vgl.). Mittelfristig gehe es vielmehr darum, die Handlungsfähigkeit der überörtlichen Träger der Sozialhilfe vor dem Hintergrund einer zunehmenden Zahl Hilfe suchender behinderter Menschen sicher zu stellen (vgl. BF, Z. 1147–1163). In einer ‚Rahmenvereinbarung Eingliederungshilfe’ verständigten sich die Kommunalen Spitzenverbände und die beiden Landschaftsverbände im Frühjahr 2004 auf zentrale Strategien, um die mit der Neuregelung verbundenen Ziele zur erreichen. Diese Strategien sind die Einführung von neuen Finanzierungsformen, insbesondere für ambulante Hilfen und der Planung und Koordinierung örtlicher Angebote sowie Individueller Hilfeplanung zur Steuerung von Einzelfällen (vgl. Schwarte/ Schädler o.J., 39). Die finanzielle Entlastung sollte dabei unter anderem durch eine Umsteuerung der Angebotsstruktur in ambulante (statt stationäre oder teilstationäre) Angebote erreicht werden. Auch wenn, wie nachfolgend noch herausgearbeitet wird, weder die Umsteuerung der Leistungsfälle zum ambulant betreuten Wohnen, noch eine nennenswerte Kostensenkung durch das Maßnahmebündel erreicht werden konnte, bilanziert der Interviewpartner aus der Begleitforschung aber die Steuerung der Angebote: „Und jetzt muss ich mal was Verdienstvolles sagen, immerhin ist es gelungen, die weißen Flecken in der Landschaft zu tilgen“ (BF, Z. 1215–1217). Der LWL eröffnete dazu ein Ausschreibungsverfahren für Einrichtungen und Dienste, um auch in den Gebieten, in denen bisher keine ausreichenden ambulanten Angebote vorhanden waren, neue Angebote zu schaffen (vgl. Schwarte/ Schädler o.J., 48). Damit wurden aber nur ‚quasi‘ Marktmechanismen geschaffen, denn die Leistungsträger fördern die Entstehung einer Angebotsstruktur, für dessen Nachfrage sie später selbst über die Leistungsbewilligungen sorgen und Menschen mit Behinderungen als vermeintliche ‚Kunden/innen‘ auftreten lassen können. Die Bedarfe, die eine Nachfrage erzeugen, sind dabei reguliert über die Hilfeplanverfahren und normiert an den Standards, die über die Leistungstypen bereits vorab festgelegt wurden. Während der LVR durch die Installierung von Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsangeboten (Ko-Ko-Be) für Menschen mit geistiger Behinderung den Aufbau unabhängiger Beratungsangebote und darüber einen Rahmen für eine verbesserte örtliche Angebotsplanung schaffen wollte, hob der LWL die Erstattungsbeträge für die Fachleistungsstunden im ambulant betreuten Wohnen an, damit die Leistungserbringer eigenständig Beratungsangebote aufbauen und eine örtliche Ange-
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botsplanung vorantreiben können (vgl. a.a.O., 45). Darüber hinaus wurden mit den Leistungserbringern Zielvereinbarungen zur örtlichen Angebotsentwicklung abgeschlossen. Auch hier zeigt sich eine Marktorientierung beim LWL, die weniger auf Regulierung, denn auf das freie Spiel von ‚Angebot‘ und ‚Nachfrage‘ zu setzen. Er überlässt damit die Verantwortung für eine ‚unabhängige‘ Beratung zur Hilfeplanung den Interessen der Leistungserbringer, anstatt für eine eigene Infrastruktur zu sorgen. Der mit der Einführung der Individuellen Hilfeplanung verknüpfte fachliche Anspruch der Leistungsträger wird trotz der Stärkung ambulanter Angebote auch in strukturschwachen Regionen nur wenig durch Investitionen begleitet, um die notwendige Expertise und Beratungsinfrastruktur für die behinderten Menschen als mündige Kunden dieser Angebote aufzubauen. Aufgrund der Tragweite der Entscheidungen für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft erscheint die geringe Bereitschaft, in den Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur zu investieren, erstaunlich (vgl. BF, Z. 1162–1170). Damit wird erneut die Vorstellung, des aktiven und selbstbestimmten Menschen mit Behinderungen aufgerufen, der an seiner eigenen Optimierung mitarbeitet und auf diese Weise dazu beiträgt, dass er keine Hilfen mehr erhalten muss. Als weiteres Instrument der finanziellen Steuerung führten beide Landschaftsverbände die ‚Fachleistungsstunde‘ als kleinste, personenbezogene Vergütungseinheit für das ambulant betreute Wohnen ein, mit der alle direkten und indirekten Leistungen für die Nutzer/innen abgegolten werden (vgl. Schwarte/ Schädler o.J., 46). Neben erhöhten Nachweis- und Dokumentationsanforderungen sehen die Autoren des ersten Zwischenberichts der Begleitforschung allerdings erhebliche Umsetzungsprobleme durch die Konzentration auf die direkten Unterstützungsleistungen für die Person, anstatt auf das Umfeld. Diese Flexibilität wird andererseits als betriebswirtschaftliches Risiko vor allem für kleine Anbieter ambulanter Hilfen eingeschätzt (vgl. Schwarte/ Schädler o.J., 48). Zudem befürchten sie Wettbewerbsverzerrungen und Steuerungswirkungen zugunsten größerer Träger (vgl. a.a.O., 47 f). Die Fachleistungsstunde ist ein wichtiges Element im ‚Steuerungsmix‘, welches einerseits zu einer ‚individuelleren‘ Kostenkalkulation führt, damit aber auch die Hilfen stärker als Pauschalsätze einem kontrollierenden Blick aussetzt und den Rechtfertigungsdruck für die einzelne Person (und ihre Unterstützungskräfte) erhöht, da jede erbrachte und nicht erbrachte Stunde dokumentiert und gegebenenfalls begründet werden muss. Da aber kein ‚Kontrolleur‘ von außen, sondern die Dokumentation fortwährend von dem Unterstützungstandem (unterstützte Person und Unterstützer/in) selbst geleistet wird, erfolgt mit der Fachleistungsstunde eine fortwährende Selbstbeobachtung der eigenen Arbeit. Zugleich werden Ansprüche und ‚Kundenrechte‘ der behinderten Menschen gegenüber den Leistungserbringern gestärkt, da sie ihre Ansprüche in Stunden genau benennen und einfordern können (im Gegensatz zu pauschalen Tagessätzen) und damit Machtverhältnisse verändert. Andererseits wird aber auch die Frage der Bemessung von Zeiten und ihrer ‚geldmäßigen‘ Bewertung und aufgeworfen, die eine neue Abgrenzung von Fachlichkeiten und eine Hierarchisierung unterschiedlicher Tätigkeiten in der Unterstützungsarbeit nach sich zieht (vgl. Abschnitt 10.2.3). Für die Steuerung der Einzelfälle wurden neben der Einführung der Individuellen Hilfeplanung, die im nächsten Unterkapitel vorgestellt werden soll (vgl. Unterkapitel 11.3), zwischen den Verbänden der Leistungsträger und Leistungserbringer auf Landesebene im Jahr
11.2 Entstehungszusammenhänge des Konzeptes
253
2001 Rahmenverträge für die nach § 75 Abs. 3 SGB XII zu schließenden Leistungs-, Vergütungs- und Prüfvereinbarungen zwischen Leistungsträgern und Einrichtungen und Diensten geschlossen. Dabei werden vor allem im Zusammenhang mit den Vergütungsvereinbarungen die Maßstäbe für die Maßnahmepauschalen nach § 79 Abs. 2 SGB XII festgelegt. Die Beschreibung der Leistungstypen geht dabei von einer Beschreibung typischer Fähigkeiten und Defizite der ‚Zielgruppe‘ aus und darauf aufbauend allgemeine Ziele, Leistungen und Qualitätsstandards des Leistungstyps. Sowohl der Rahmenvertrag für stationäre und teilstationäre Leistungen (§ 11 (1)), wie auch der Rahmenvertrag für ambulante Leistungen (§9 (1)) der Eingliederungshilfe folgen dabei explizit der Gemeinsamen Bundesempfehlung von 1999 (vgl. Abschnitt 6.2.4.1). „In den Leistungstypen werden Leistungsbezieher mit qualitativ vergleichbarem Hilfebedarf zusammengefasst. Jeder Leistungstyp stellt ein standardisiertes Leistungsangebot dar, das in der Regel den Hilfebedarf der Angehörigen der Zielgruppe abdeckt.“ (§ 11 (2)) Rahmenvertrag stationär 23.08.2001; vgl. auch § 9 (2) Rahmenvertrag ambulant, 02.07.2001). Eine Differenzierung der Leistungstypen durch eine Unterscheidung von Hilfebedarfsgruppen innerhalb eines Leistungstyps erfolgt dann lediglich im Hinblick auf den Umfang des Hilfebedarfs 41. Insgesamt betreffen die in Abschnitt 6.2.2 bereits skizzierten Kritikpunkte an der unkritischen Verwendung der Systematik der Bundesempfehlung auch die Systematik von Hilfebedarfsgruppen und Leistungstypen in NRW 42. Die Rahmenvereinbarungen für das ambulante und das teilstationäre bzw. stationäre Wohnen haben nicht nur Auswirkungen auf die individuelle wie institutionelle Steuerung von Leistungen, sondern gleichermaßen auch Auswirkungen auf die finanzielle Steuerung: Die Sätze für die Vergütung von Grund-, Maßnahme- und Investitionspauschalen werden sowohl bei den ambulanten, wie auch bei teilstationären und stationären Hilfen orientiert an den Leistungstypen bzw. Hilfebedarfsgruppen gezahlt und bisher mit jeder Einrichtung individuell ausgehandelt (wobei die Landschaftsverbände hier eine Homogenisierung anstreben). Dazu hat der Landschaftsverband einen detaillierten Vordruck für solche Vereinbarungen herausgegeben. Es ist unklar, inwiefern es sich dabei um Vorgaben, um eine Verhandlungsposition oder einen unverbindlichen Vorschlag handelt. Da insgesamt aber eine Vergleichbarkeit des Leistungsangebots mit dem Ziel möglichst einheitlicher Leistungssätze vom Landschaftsverband angestrebt wird, ist zu vermuten, dass durch diesen 41
So werden in NRW 32 Leistungstypen (LT1–LT32) stationärer Hilfen und neun Leistungstypen (A–I) ambulanter Hilfen unterschieden. Dabei kommen für erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung im stationären Wohnbereich vier Leistungstypen in Frage (LT 9, 10, 12 und 20) und im ambulanten Bereich lediglich ein Leistungstyp, der darüber hinaus auch qualitativ keine vergleichbare Personengruppe umfasst (Leistungstyp I: Betreutes Wohnen für Menschen mit psychischen Behinderungen, geistigen und/oder Körper- und Mehrfachbehinderungen, Sinnesbehinderungen und/oder Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen). Die geringe Differenzierung von Leistungstypen bei den ambulanten Hilfen ist auffällig, da sie der Forderung der Bundesempfehlung widerspricht, möglichst für die unterschiedlichen Gruppen von Hilfebedarfen je einen Leistungstyp zu bilden. 42 Zum Teil wird dabei die Beschreibung der Zielgruppe an der typischen Nutzung anderer Angebote vorgenommen. So in einer Fußnote zur Beschreibung der Zielgruppe des Leistungstyps 9: „In der Regel besuchen die Personen der Zielgruppe die Werkstatt für behinderte Menschen. Falls sie aus unterschiedlichen Gründen das Angebot der Werkstätten für behinderte Menschen nicht, noch nicht oder nicht mehr in Anspruch nehmen können, kann das Angebot mit dem Leistungstyp 23 oder 24 verknüpft werden.“ (Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2000, 50) Obwohl es das explizite Ziel der WfbM ist, Menschen mit einer Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, wird dies nicht als Möglichkeit in Betracht gezogen. Hier findet womöglich eine Gleichsetzung von Hilfebedarfen in unterschiedlichen Lebensbereichen statt: Wer auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeitet, der braucht auch keine stationäre Wohnform. Dies mag zwar überwiegend der Fall sein, ist aber als konzeptioneller Ansatz ungeeignet, da sie die Nutzung bestimmter Angebote als Merkmal der Person deklariert.
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11 Exemplarische Vertiefung
Vordruck tatsächlich eine Vereinheitlichung der Leistungen und Vergütungen herbeigeführt werden soll. Trotz der grundsätzlich ähnlichen Finanzierungsstrukturen bestehen große Unterschiede zwischen der Finanzierung ambulanter und stationärer Hilfen: Während im stationären Bereich Grund-, Maßnahmen-, und Investitionspauschalen gezahlt werden können, entfallen bei ambulanten Hilfen die Grundpauschalen aufgrund der nicht anfallenden Unterkunfts- und Verpflegungskosten für die einzelnen Nutzer/innen. (Die Leistungsbezieher/innen beantragen dazu Hilfen zum Lebensunterhalt mit dem ‚Sozialhilfegrundantrag.) Zudem können die Anbieter stationärer Hilfen zusätzlich personenbezogene, ‚gesondert abrechenbare Aufwendungen’ geltend machen, wie z.B. verschiedene Beihilfen, Bekleidungsgeld, personenbezogene Barbeträge zur persönlichen Verfügung oder Aufwendungen für Urlaubs- oder Freizeitmaßnahmen (vgl. § 16 Rahmenvertrag stationär), die im Rahmenvertrag für ambulante Leistungen nicht vorgesehen sind. Während also zusätzliche Beträge für stationäre Hilfen über die Vereinbarungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern reguliert werden, sind die Nutzer/innen ambulanter Hilfen bei zusätzlichen Hilfen weitgehend auf die eigene Initiative und ihr Durchsetzungsvermögen angewiesen, bzw. auf kompetente Hilfen von Diensten oder anderen Helfer/innen. Damit unterliegen diese Hilfen stärker individualisierenden Tendenzen, während die stationären Hilfen stärker institutionell reguliert sind, auch wenn auch hier ‚personenbezogene Leistungen‘ erbracht werden. Die ‚Rahmenzielvereinbarung zwischen der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und den Landschaftsverbänden zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe unter fachlichen und finanziellen Aspekten’ (gültig vom 09.05.2006 bis zum 31.12.2008) stellt ein weiteres Steuerungsinstrument dar. Auch hier werden die Begründungen der Kostensenkung (vgl. a.a.O., 3) und einer problematischen Veränderung der Klientel (vgl. Rahmenzielvereinbarung, 2) wieder angeführt. Die Ziele der Vereinbarung sind deshalb eine qualitative Veränderung der Hilfeerbringung und der Finanzierungssystematik. Die Zielrichtung ist eine perspektivische und nachhaltige Senkung der durchschnittlichen Fallkosten. Um dies zu realisieren, sollen ca. 9% der am 31.12.2005 stationär betreuten Menschen mit einer Behinderung künftig ambulant zu betreut werden. „Zur Realisierung möglichst vieler Wechsel zu ambulanten Betreuungen ist sicher zu stellen, dass die Rahmenbedingungen dieser ambulanten Leistungen der Eingliederungshilfe zum selbstständigen Wohnen („betreutes Wohnen“) effizient, effektiv und bedarfsgerecht gestaltet werden können“ (a.a.O., 4). Vorgesehen ist z.B. eine Differenzierung nach regionalen und zielgruppenspezifischen Besonderheiten (vgl. ebd.). Die Entgeltsätze im Bereich des stationären Wohnens sollen 2007 und 2008 im Prinzip unverändert weiter gelten. Über Einzelverhandlungen können in Ausnahmefällen aber höhere Entgeltsätze vereinbart werden. Eine Möglichkeit, höhere Entgeltzahlungen zu erhalten, besteht in so genannten personenbezogenen ‚Übergangsbudgets’, die die Einrichtungsträger mit den Landschaftsverbänden vereinbaren können. Ein weiterer Anreiz für die Einrichtungen, die Ambulantisierung mit voran zu treiben, bietet sich den Einrichtungsträgern durch so genannte ‚Sonderzahlungen‘, die durch den Abschluss einer einrichtungsindividuellen Zielvereinbarung mit den Landschaftsverbänden erworben werden können. „Inhalt der Zielvereinbarung ist die zukünftige Entwicklung der Einrichtung hinsichtlich ihres Nettoplatzabbaus und/ oder ihrer Ambulantisierungsquote“ (a.a.O., 6).
11.2 Entstehungszusammenhänge des Konzeptes
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Die ‚Ambulantisierung‘ von nennenswerten Gruppen bislang stationär betreuter Menschen soll aber keine freiwillige Maßnahme von Leistungserbringern sein: Die Landschaftsverbände können mit Einrichtungen, die keine Zielvereinbarungen zur Ambulantisierung treffen möchten, entsprechende Gespräche einberaumen, der Zielerreichungsgrad soll für die einzelnen Einrichtungen am Ende der geplanten Laufzeit überprüft werden und es soll ein halbjährliches Controlling über die Einhaltung der Zielvereinbarungen stattfinden (a.a.O., 6) „Eine Steuerungsgruppe wird den Prozess beobachten und ggf. Vorschläge zur Intervention bzw. Weiterentwicklung machen“ (a.a.O., 6). Die in der Rahmenzielvereinbarung beschlossenen Änderungen der Vereinbarung beinhalten also einerseits eine Verringerung direkter Steuerung und Kontrolle durch den Landschaftsverband, was eine Organisationsflexibilität der Leistungserbringer bewirken soll (dadurch sollen die Kosten gesenkt werden) und andererseits eine Neuorganisation der abrechenbaren Betreuungsleistungen, wodurch direkt Kosten eingespart werden können (vgl. a.a.O., 4). Die Wirkungen der aufgeführten Maßnahmen werden in fachliche und finanzielle Wirkungen unterschieden. In fachlicher Hinsicht sollen die Maßnahmen „personenzentrierte Hilfen im Sinne der Förderung von Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe“ (a.a.O., 7) in den Mittelpunkt stellen. „Die Maßnahmen sollen ferner dazu beitragen, dass Wohnhilfen für Menschen mit Behinderung passgenau in dem jeweils individuell benötigten Umfang erbracht werden. Zudem sollen Potenziale der Menschen mit Behinderung bei der Hilfeplanung adäquat einbezogen und entsprechend gefördert werden“ (a.a.O., 7). In finanzieller Hinsicht werden wesentliche Entlastungen für die überörtlichen Träger der Sozialhilfe erwartet. Die Rahmenzielvereinbarung zwischen den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege und den Landschaftsverbänden hat durch die Form der ‚Vereinbarung’ den Charakter eines Vertrages zwischen gleichberechtigten Parteien. Quotierung, Sondervereinbarungen und personenbezogene, zusätzliche ‚Übergangsbudgets‘ stellen die Strategien der Vereinbarung dar. Dadurch entsteht eine Mischung aus Druck- und Anreiz-Elementen, die die Leistungserbringer ‚freiwillig‘, weil gemeinsam vereinbart, dazu bringen sollen, künftig ambulante Angebote auszubauen. Dabei werden zudem Mechanismen der Kontrolle und Selbstkontrolle der Leistungserbringer installiert, die sowohl fortlaufend, wie auch abschließend wirken. Die Installierung einer Steuerungsgruppe führt dazu, dass die konkreten Kontrollpraktiken als freiwillig und selbstgewählt erscheinen. Die Leistungsträger und Leistungserbringer kontrollieren gemeinsam die Leistungserbringer. Dabei entwickeln die Leistungserbringer den Modus ihrer Kontrolle selbst (mit). Auf diese Weise wird die Kontrolle legitimiert und Kritik an den Mechanismen unmöglich. Die Rahmenzielvereinbarung stellt zudem eine enge Verknüpfung zwischen individuellem Hilfebedarf der Betroffenen und der finanziellen Situation der kommunalen Haushalte her. Ambulante Unterstützung wird dabei als Lösung angesehen, einerseits die Kosten pro Fall zu reduzieren und den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen Rechnung zu tragen. Durch Quotierung soll der Anteil ambulant unterstützter Personen gesteigert werden. Das fiskalische Ziel der Kosteneinsparung wird also mit dem mutmaßlichen individuellen Ziel der Betroffenen, ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung führen zu können, verknüpft. Auf diese Weise wird das Ziel einzelner Individuen, in der eigenen Wohnung zu leben, normalisiert, d.h. Ziele der Organisation werden individualisiert und die Betroffenen zu Mithelfern gemacht, indem ihre Ziele aufgegriffen und mit den Organisationszielen verknüpft werden. Individuelle und finanzielle Ziele werden verknüpft und
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auf diese Weise die Ökonomisierung sonderpädagogischer Arbeit gefördert. Allerdings zeigen sich in der Umsetzung Grenzen der Übereinstimmungsthese: So berichtet der Gesprächspartner, der LWL habe im Zuge der vereinbarten Ambulantisierungsquoten Namenslisten erstellt mit potenziellen Kandidaten/innen für einen Wechsel von einem stationären in ein ambulantes Wohnsetting (LE, Z. 1211–1220). Doch hätten sich dann weniger Personen gefunden, die diese Veränderung der Wohnsituation tatsächlich realisieren wollten, als von dem Leistungsträger und auch dem Leistungserbringer erwartet worden war (LE Z 114-1195). Der Umzug von einem stationären in ein ambulantes Setting im Rahmen der Quotenregelung war dabei sogar mit mehr möglichen Fachleistungsstunden verbunden, als in der Bewilligungspraxis im regulären Hilfeplanverfahren (vgl. LE, Z. 1148–1155; auch in Hamburg wurde eine solche Quotenregelung für den Wechsel ins ambulant betreute Wohnen mit höheren Fachleistungsstunden vereinbart). D.h. hier hatten auch Menschen mit einem höheren Hilfebedarf die Gelegenheit, in ein ambulantes Setting zu wechseln. In der Quotenregelung durch die Rahmenzielvereinbarung zeigt zudem ein Bruch mit der ‚Hauptstrategie‘, über die Technik der Individuellen Hilfeplanung Menschen aus stationären Wohnsettings in an ambulante zu überführen. Zugleich stabilisiert dieser Bruch aber auch die Technik Individuelle Hilfeplanung, denn durch die höheren Fachleistungsstunden im Rahmen der einer Quotenregelung lässt sich die These entkräften, dass nur Menschen mit geringem Hilfebedarf die Möglichkeit bekommen, ambulant betreut wohnen zu können, ohne damit generell das ambulant betreute Wohnen allen Menschen unabhängig von ihrem Hilfebedarf im Rahmen des regulären Hilfeplanverfahrens zugänglich machen zu müssen. Während die erste Rahmenzielvereinbarung von 2006 konkrete Kriterien für Maßnahmen und Zielsetzungen beinhaltete und einen verbindlichen Rahmen für die Zusammenarbeit in den kommenden Jahren bot, stellt die Fortschreibung der Rahmenzielvereinbarung von 2008 vor allem eine Bestätigung dieser Zielsetzungen und der Zusammenarbeit dar (vgl. Rahmenzielvereinbarung Wohnen II). Indem die Bedingungen der Möglichkeit für Kritik aus den Reihen der Beteiligten minimiert werden, wird der Fortbestand des Programms abgesichert. Oppositionales Denken ist nur denen möglich, die nicht an der Vereinbarung beteiligt sind. Tatsächlich zeigt sich aber auch, dass die Rahmenzielvereinbarungen nicht nur vor dem Hintergrund großer Einigkeit zu Stande gekommen sind, sondern das Ergebnis von Auseinandersetzungen darstellen. In den Interviews mit Zeitzeugen wurde deutlich, dass zentrale Konfliktlinien die Entwicklungen in Westfalen-Lippe begleiten, die aus dem gegenseitigen Vorwurf von Leistungsträgern und Leistungserbringern bestehen, nicht die Interessen behinderter Menschen, sondern vor allem eigene Interessen zu vertreten. Dabei werden Bedingungsgefüge des Handelns der Akteure als zielgerichtete Aktionen dargestellt, um das interessengeleitete Handeln des anderen zu belegen (vgl. LT, Z. 171– 185; LT, Z. 188–208; BF, Z. 361–383; BF, 432–526; BF, Z. 846–859; BF, Z. 889–900). 11.3 Das Konzept der Individuellen Hilfeplanung des LWL Beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe gab es schon in den 1980er Jahren erste Überlegungen zu der Frage, wie es möglich sein könnte, über die Mittelverwendung und die ‚Entwicklung der Leistungsfälle’ bei den Leistungserbringern Informationen einzuholen (vgl. LT, Z. 213–216). In anderen Leistungsbereichen wurden bereits entsprechende Konzepte eingesetzt, so dass innerhalb des Leistungsträgers die Übertragbarkeit für den Bereich
11.3 Das Konzept der Individuellen Hilfeplanung des LWL
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der Eingliederungshilfe diskutiert wurde (vgl. LT, Z. 229–233). Vor der Zuständigkeitsveränderung oblag allerdings die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen außerhalb von Einrichtungen den örtlichen Sozialhilfeträgern. Bis 2003 wurden in 19 Gebietskörperschaften unterschiedliche Verfahren zur Hilfeplanung für Menschen mit einer geistigen Behinderung eingesetzt, davon gehörte in sieben Fällen auch eine Hilfeplankonferenz zum Prozess (vgl. ZPE o.J., 12). Im Zuge der ‚Hochzonung’ der Zuständigkeiten wurde dann 2003 im gesamten Bereich des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe ein einheitliches Verfahren zur Hilfeplanung eingeführt (vgl. a.a.O., 2). Das Hilfeplankonzept selbst wurde zunächst nur im engeren Kreis des Grundsatzreferates des LWL ohne Beteiligung von Leistungserbringern oder anderen Fachleuten entwickelt (vgl. LT, Z. 295–313). Die Vereinheitlichung vorhandener Verfahren stand dabei im Vordergrund, um Transparenz und Leistungsgerechtigkeit für die Leistungsberechtigten herzustellen. Etablierte ‚Kulturen‘ der Hilfebedarfsfeststellung und Leistungsgewährung, sowie bestehende Kooperationen zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringer auf kommunaler Ebene mussten dieser Vereinheitlichung in weiten Teilen angepasst werden. In der Konzeption des Projektes ‚Hilfen aus einer Hand’ in NRW wird die Individuellen Hilfeplanung als personenzentriertes das Konzept beschrieben, welches hohe Ansprüche an die Hilfeplanung beinhaltet: „Der einzelne Mensch mit Behinderung soll durch die Individuelle Hilfeplanung bei der Zusammenstellung eines Arrangements professioneller und informeller Hilfen unterstützt werden. Hilfeplanung beinhaltet individuelle Hilfe im Rahmen von Zielen, die zwischen Berater und Rat Suchenden vereinbart werden. Casemanagement zielt dagegen auf die Koordination verschiedener Instanzen im Hilfesystem, die Leistungen im Hinblick auf ein zwischen Organisationen vereinbartes Ziel erbringen. Auf Grund der speziellen Bedürfnisse von behinderten Menschen muss ein übergreifender, die Lebenssituation der Behinderten insgesamt betrachtender Handlungsansatz angewendet werden. Das zu entwickelnde individuelle Hilfearrangement muss so angelegt sein, dass unabhängig von der Art und der Schwere der Behinderung dem betroffenen Menschen ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben ermöglicht wird. Dieses Hilfearrangement umfasst die Sicherung der Lebensgrundlagen, lebenspraktische Hilfestellung und Lebensplanentwicklung und Lebensgestaltung. Die Dienstleistungen und materiellen Hilfen orientieren sich am konkreten Hilfebedarf der jeweiligen Person in deren jeweiligen Lebenssituation. Bei der individuellen Hilfeplanung geht es also um die Herstellung von Passgenauigkeit.“ (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen o.J., 10)
Der überörtliche Leistungsträger erklärt sich im Rahmen der Individuellen Hilfeplanung zum weitgehend uneigennützigen Fürsprecher und Anwalt der Interessen von Menschen mit Behinderungen. Den Leistungserbringern werden dagegen eigene, wirtschaftliche Interessen unterstellt, obwohl die wirtschaftlichen Interessen tatsächlich auf beiden Seiten bestehen und durch die getroffenen Vereinbarungen auf Landesebene zum Teil von beiden selbst hergestellt wurden (vgl. LT, Z. 204–210). Mit der Einführung der Individuellen Hilfeplanung hoffte der Landschaftsverband, künftig die Einzelfallentwicklungen besser steuern zu können, denn „[…] wir wurden einfach in so fern nach unserm Eindruck zu stark fremdgesteuert.“ (LT, Z.181–182). Dadurch verschafft er sich zusätzliche Legitimation (neben der juristischen Legitimation kommt nun eine moralische Legitimation), um über die Art und den Umfang der benötigten Hilfen der Personen zu befinden. Allerdings beruht die Einführung der Hilfeplanung, wie bereits beschrieben, auch auf den Interessen des Leistungsträgers. Das finanzielle Interesse des Leistungsträgers (in Richtung ambulante Hilfen
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11 Exemplarische Vertiefung
mit möglichst geringem Stundenumfang zu steuern) rückt durch die behauptete Zielkonformität aber in den Hintergrund. Das Verfahren zur Individuellen Hilfeplanung beim LWL lässt sich wie folgt beschreiben (vgl. LWL o.J.: Erläuterungen, 14 ff): Das Hilfeplanverfahren beginnt, sobald der behinderte Mensch und/oder seine gesetzliche Vertretung einen Antrag auf Hilfen in betreuten Wohnformen stellt. Wird eine stationäre Wohnform angestrebt, sind ein standardisierter Erhebungsbogen auszufüllen, sowie eine persönliche Stellungnahme des/der Antragstellers/in. Ist bei einem Erstantrag die ‚geeignete Wohnform‘ nicht eindeutig oder wird eine ambulante Unterstützung angestrebt, wird ein eigener, dritter Erhebungsbogen zur Ziel- und Maßnahmeplanung angefügt. Darin werden die im Erhebungsbogen erfassten Lebensbereiche noch einmal aufgegriffen und Ziele, sowie geeignete Maßnahmen zur Zielerreichung notiert. Der/die Antragsteller/in sollte die beteiligten Stellen von der Schweigepflicht entbinden; tut er/sie dies nicht, kann kein Clearing (s.u.) einberufen werden (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 19). Darüber hinaus können weitere Unterlagen eingereicht werden, bzw. kann auch der/die zuständige Hilfeplaner/in des LWL ergänzende Unterlagen anfordern. Zur Klärung der wirtschaftlichen Verhältnisse ist aber in jedem Fall ein Sozialhilfegrundantrag einzureichen. Die gesamten Unterlagen werden an den Landschaftsverband Westfalen-Lippe gerichtet. „Alle Antragsunterlagen des Hilfeplanverfahrens dienen zur Feststellung des notwendigen und geeigneten Betreuungsangebotes (ambulant/ stationär) mit den dazugehörigen Zielen und Maßnahmen“ (vgl. LWL o.J.: Erläuterungen, 2). Der Erhebungsbogen I, der von einer Fachkraft eines Fachdienstes in Abstimmung der antragstellenden Person auszufüllen ist, soll einen Überblick über die Lebenssituation der Person ermöglichen und umfasst sozialstatistische Angaben zur Person, eine Eingruppierung in ein vorgegebenes Schema von ‚Behinderungsarten‘, Angaben zu einer möglicherweise anerkannten Pflegebedürftigkeit und Einstufung in die Pflegeversicherung, sowie eine Eingruppierung der bisherigen Wohnsituation in ein vorgegebenes Raster (vgl. LWL o.J.: Erhebungsbogen I). Die Lebensbereiche Wohnen, lebenspraktische Fähigkeiten, Arbeit und Beschäftigung, Freizeit, soziale Beziehungen, sowie ein Bereich ‚besonderer Hilfebedarf‘ (nur für Personen mit psychischen Erkrankungen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen) werden in der Regel im Hinblick auf den Ist-Zustand, allgemeine Perspektiven und Ressourcen, vorhandene Fähigkeiten und Ressourcen der Person und einer zusammenfassenden Formulierung des Hilfebedarfs beschrieben. Dabei werden allerdings die einzelnen Lebensbereiche unterschiedlich stark vorstrukturiert und nur zum Teil offene Antwortmöglichkeiten gegeben. Zudem werden nicht für alle Lebensbereiche alle vier Aspekte abgefragt 43. Der Erhebungsbogen I endet mit der Entbindung des LWL vom Datenschutz durch die Antrag stellende Person, mit der die Voraussetzungen für die Vorstellung des Falls im Clearing erfüllt werden. Die persönliche Stellungnahme der behinderten Person im Erhebungsbogen II wird dem Erhebungsbogen I als Anhang beigefügt (vgl. a.a.O., 10). Der Bogen soll nur von der Antrag stellenden Person und gegebenenfalls mit Unterstützung durch eine selbstgewählte Vertrauensperson ausgefüllt werden. Er stellt eine inhaltlich verkürzte und vereinfachte 43
Im Bereich der lebenspraktischen Fähigkeiten wird beispielsweise eine geschlossene Liste von zehn Tätigkeiten angeboten, zu denen Angaben gemacht werden können (vgl. a.a.O., 3). Perspektiven und Ressourcen werden für diesen Lebensbereich aber nicht abgefragt, sondern lediglich die vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen und der sich aus diesen Informationen ergebende Hilfebedarf. Im Lebensbereich Wohnen werden lediglich Erfahrungen mit früheren Wohnformen erfragt und mit Hilfe einer geschlossenen Liste von möglichen Wohnformen die angestrebte künftige Wohnform erfragt (vgl. a.a.O., 2 f). Hier fehlt der Bereich der Fähigkeiten und Ressourcen.
11.3 Das Konzept der Individuellen Hilfeplanung des LWL
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Version des Erhebungsbogens I dar. Sowohl der Bogen, wie auch eine Anleitung zum Ausfüllen des Bogens im Anschluss sind in einer vereinfachten Sprache gehalten, allerdings erscheint sowohl die optische, wie auch die sprachliche Gestaltung des Materials nicht für den Personenkreis von Menschen mit geistigen Behinderungen ausreichend angepasst. Es fehlen beispielsweise Visualisierungen und bildliche Darstellungen, sowie ein Layout, das die Orientierung im Text erleichtert. Ist eine stationäre Wohnform vorgesehen, ist in der Regel ein H.M.B.-W Bogen (Version 5/2001)‘ zur Einstufung in eine Hilfebedarfsgruppe auszufüllen 44. Die Einstufung in eine Hilfebedarfsgruppe kann bei einem Erstantrag aber auch nach einer ‚Kennenlernphase‘ in der stationären Einrichtung nachgereicht werden (vgl. LE, Z. 1410–1415), so dass bei einer stationären Wohnform die (vorläufige) Entscheidung von der/m Hilfeplaner/in auf der Grundlage der Rahmendaten des Erhebungsbogens I, des ärztlichen Berichts und der Stellungnahme des/r Antragstellers/in in Bogen II erfolgt. Eine Maßnahmeplanung mit dem Erhebungsbogen III ist nur in Zweifelsfällen oder bei angestrebter ambulanter Unterstützung vorgesehen. Der Bogen folgt der Aufzählung der Lebensbereiche dem Erhebungsbogen I. Dabei sind zunächst die Ziele in dem jeweiligen Lebensbereich zu benennen (vgl. LWL o.J.: Erläuterungen, 12). Es sollen also keine langfristigen Zielperspektiven, sondern lediglich kurzfristige Handlungsziele aufgeführt werden. Die Ziele sollen speifisch, meßbar, akzeptabel, realistisch und transparent formuliert werden (die ‚S-M-A-R-T‘-Regel der Zielformulierung). Es fällt auf, dass die nun zu benennenden Ziele sowohl mit den vorher allgemein beschriebenen Perspektiven, wie auch mit den Hilfebedarfen in Bogen I gleichgesetzt werden (vgl. 12 f). Hier entsteht eine terminologische Ungenauigkeit, die für die Planung der Maßnahmen durch Fachkräfte des Unterstützten Wohnens möglicherweise zu Problemen führen kann. Allgemeine Lebensperspektiven, konkrete Ziele für den nächsten Planungsabschnitt und Hilfebedarfe der Person sollten zwar in der Regel ineinander greifen, stellen aber durchaus unterschiedliche Elemente einer Hilfeplanung dar 45. Dann sind einer zweiten Spalte „die zur Erreichung der Ziele in den Bereichen notwendigen Maßnahmen, entsprechend dem vorgegebenen Raster, zu benennen“ (vgl. 12). Dabei sollen die Maßnahmen auf diejenigen beschränkt werden, die zur Erreichung des jeweiligen Ziels notwendig sind. In einer dritten Spalte können informelle Hilfen, allgemeine medizinische und soziale Hilfen, wie z.B. Beratungsstellen sowie weitere Fachdienste für behinderungsspezifische Leistungen angegebenen werden, sofern sie einen Teil der beschriebenen Maßnahmen übernehmen sollen. Schließlich ist für jede Maßnahme ein Zeitrahmen in Minuten anzugeben, der die Grundlage für die Berechnung der Fachleistungsstunden bei ambulanten Hilfen darstellt 46. Die stringente Konzentration auf ‚unbedingt notwendige’ Maßnahmen und die separierte Darstellung von Einzelzielen und den dazugehörigen Maßnahmen blendet Zusam44
Zur Erinnerung: Der HMBW-Bogen ist kein Hilfeplanungskonzept, sondern lediglich ein Einstufungsverfahren in Hilfebedarfsgruppen. 45 In dieser Ungenauigkeit mag die Kritik einzelner Fachdienste (vgl. Unterkapitel 11.4) an den Hilfeplanbögen begründet liegen. 46 Hier liegt ein zentraler Unterschied zu anderen Hilfeplanverfahren, wie z.B. dem in Hessen derzeit erprobten ITP, bei dem nicht Minutenwerte einer einzelnen Maßnahme zugeordnet werden, sondern vielmehr mögliche ‚mehrfach-Funktionen‘ einzelner Tätigkeiten von Fachkräften für die Unterstützung einer Person in Rechnung gestellt werden. So kann beispielsweise die gemeinsame Zubereitung eines Abendbrots soziale Unterstützung durch ein nebenbei geführtes Gespräch, wie auch eine lebenspraktische Unterstützung darstellen. Die einfache Zuordnung von Tätigkeiten und Zeitwerten zu jeweils einem Hilfeziel wird deshalb im z.B. im ITP als nicht sachgerecht angesehen (vgl. Gromann 2009; s.a. Abschnitt 6.2.4.4)
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11 Exemplarische Vertiefung
menhänge von Problemlagen und Ressourcen aus. Das produzierte Wissen über die Person reduziert sich in der Hilfeplanung auf die kurzfristigen Ziele in den einzelnen Lebensbereichen und die dafür notwendigen Maßnahmen. Hilfebedarfe werden so fragmentiert und vereinzelt. Eine solche Fragmentierung erleichtert zugleich eine schematische Darstellung und die Unterstellung von linearen Ursache-Wirkungsbeziehungen, anstatt die Wechselwirkungen von verschiedenen Problemlagen, Ressourcen und Lebensbereichen als individuelle Lebenssituation abbildbar zu machen. Indem die Maßnahmeplanung letztlich auf die Einschätzung von benötigten Minutenwerten abzielt, reduziert sich damit der Hilfebedarf auf eine quantifizierbare und ‚objektiv‘ vergleichbare Größe, die damit auch die professionelle Arbeit meßbar und vergleichbar macht (vgl. BF, Z. 911–923). Da die Maßnahmeplanung aber nur bei einer potenziellen ambulanten Unterstützung durchgeführt werden muss, der eine Berechnung der zu bezahlenden Fachleistungsstunden folgt, erscheint die Frage berechtigt, ob bei der Maßnahmeplanung tatsächlich ein fachliches Interesse der Leistungsträger im Vordergrund steht, um ein „individuelles Arrangement professioneller und informeller Hilfen“ (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen o.J., 10) zu entwickeln, oder ob es sich dabei vielmehr um eine Grundlage für die Kostenkalkulation handelt. Dass für stationäre Hilfen keine individuelle Maßnahmeplanung, sondern stattdessen mit dem HMB-W Bogen ebenfalls ein solches Kalkulationsverfahren eingesetzt wird, lässt diese Frage umso mehr berechtigt erscheinen. So genannte Hilfeplaner/innen sind jeweils in einem räumlichen Gebiet für die Durchführung der Hilfeplanverfahren zuständig (Wissel/ Aselmeier 2008, 17). Sie nehmen die eingereichten Unterlagen entgegen und bereiten die Clearingsitzungen vor, in denen ein Teil der Anträge diskutiert wird und eine Empfehlung die Bewilligung der beantragten Leistungen ausgesprochen wird. Die Hilfeplaner/innen entscheiden vorbehaltlich der formalen Prüfung der Antragsberechtigung durch den LWL über die Hilfeform und den Umfang der Hilfen (vgl. LT, Z. 524–538). Die Tatsache, dass der Landschaftsverband Verwaltungsfachpersonal und keine einschlägig vorgebildeten Sozial- oder Heilpädagogen/innen als Hilfeplaner/innen einsetzt, zeigt eine Verortung der Hilfeplanung stärker bei ökonomischen, denn fachlichen Fragen: „[…] das ist ja auch die Vorschrift die ebenfalls schon seit 1962 im Gesetz steht, dass die Sozialhilfe von Fachkräften ((lacht)) @gemacht werden soll@ ja nun auch, sagen wir mal, hinsichtlich der Auslegung des Begriffs Fachkraft sehr großzügig interpretiert wurde, ((lacht)) nicht. Das spielt natürlich auch ne Rolle, ein Konflikt, den wir hier intern durchaus haben, nicht Verwaltung oder Sozialarbeit, wer macht eigentlich Hilfeplanung? Wir haben uns für die Verwaltungsleute entschieden […]“ (LT, Z. 841–848).
Die Clearingsitzungen werden lokal organisiert, so dass in einer Sitzung mehrere Anträge für ein bestimmtes Gebiet besprochen werden. Es gibt zwei Varianten von Clearingteams: Zum einen werden Anträge von Menschen mit einer seelischen Behinderung und/ oder Suchterkrankung diskutiert. In der zweiten Variante werden Anträge von Menschen mit einer geistigen Behinderung oder eine Körperbehinderung diskutiert (vgl. Wissel/ Aselmeier, 53). Der/die Antragsteller/in, seine/ihre gesetzliche Vertretung, sowie auf Wunsch weitere sachkundige Personen dürfen darüber hinaus an dem Gespräch teilnehmen. „Ein wesentliches Anliegen des Verfahrens ist es, die Antragstellerin aktiv in das Hilfeplanverfahren einzubeziehen. Falls dieses nicht möglich ist, sollte darauf geachtet werden, dass die
11.3 Das Konzept der Individuellen Hilfeplanung des LWL
261
Überlegungen und Planungen die Akzeptanz des betroffenen Menschen finden.“ (LWL o.J.: Erläuterungen, 2) Die Clearingsitzung endet mit einer Entscheidung über die Wohnform der/des Betroffenen sowie ggf. bei der Entscheidung für ambulante Unterstützung über den Umfang der Hilfen, d.h. die Anzahl der Fachleistungsstunden (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 19). „Also in so fern kann man auch nicht im Moment ableiten, aus den Clearingsitzungen könnte man jetzt nicht sagen, jetzt kann die Kommune M-Hausen gucken, was müsste denn in dem Stadtteil noch sein, damit diese Frau ambulant wohnen könnte.“ (LE, 1113–1116) Das Gespräch und die Entscheidung werden protokolliert. Das Protokoll wird von den empfehlungsberechtigten Mitgliedern unterschrieben und zum einen dem/der Antragstellerin übergeben und zum anderen an die interne Sachbearbeitung des LWL weitergeleitet, die die Entscheidung noch einmal prüft und schließlich den Bescheid über eine Kostenzusage an die Antragstellerin verschickt (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 19). Vorgesehen ist das Clearing tatsächlich nur in einem kleinen Teil aller Fälle, wenn ein/e Antragsteller/in erstmalig Hilfen in einer ambulant betreuten Wohnform beantragt. Fortschreibungen nimmt der/die Hilfeplaner/in dann auf der Grundlage der schriftlichen Unterlagen vor (vgl. ebd.). Seit dem Sommer 2006 wird zwar in einigen Gebietskörperschaften ein erweitertes Hilfeplanverfahren eingesetzt. Die damit verbundenen Veränderungen betreffen allerdings vor allem die Auswahl der Fälle für das Clearing. Grundsätzlich werden künftig alle Neuanträge und Verlängerungen von befristeten Bewilligungen nur noch befristet bewilligt, wobei die Höchstgrenzen des Bewilligungszeitraums vom LWL je nach Leistungstyp und Wohnform vom LWL vorgeschrieben werden, die aber auch kürzer befristet bewilligt werden können, wenn der Einzelfall dies erfordert (vgl. ebd.). In das Clearing kommen nun auch alle ‚Fortsetzungsanträge‘, die eine größere Veränderung gegenüber dem letzten Planungszeitraum beinhalten (vgl. a.a.O., 19). Dabei bleibt es aber auch im weiterentwickelten Verfahren in zahlreichen ‚Ausnahmen’ dem/der Hilfeplaner/in überlassen, zu entscheiden, ob ein Fall im Clearing oder nach Aktenlage entschieden werden soll. Eine fachlich/ inhaltliche Weiterentwicklung des Verfahrens ist nicht zu erkennen. Zudem es gibt Fälle von Neuanträgen, die nicht im Clearing beraten, sondern von der Hilfeplanerin nach Aktenlage entschieden werden. Die ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Personen „im Bereich der lebenspraktischen Fähigkeiten der intensiven Förderung bedürfen“ oder wenn Selbstzahler/innen schon längere Zeit eine stationäre Hilfeform in Anspruch nehmen (vgl. a.a.O., 20). Die Differenzierung von Fällen, die im Clearing beraten werden, wird mit ökonomischen Effizienzüberlegungen begründet, stellt aber in der Konsequenz eine potenzielle Ausschlusslinie zwischen unproblematischen Personen mit hohem Hilfebedarf und Personen mit wenig Hilfebedarf oder mit Veränderungen der Lebenssituation. Damit fällt bei dem ersten Personenkreis der Blick des ‚unabhängigen Gutachtergremiums‘ weg, vielmehr bleibt die Entscheidungsfindung in der Verantwortung des/r Hilfeplaners/in. So bilanziert der Gesprächspartner beim Landschaftsverband, dass das Hilfeplanverfahren des LWL tatsächlich „[…] ein Platzierungsverfahren [ist, I.N.], sprich zunächst mal ambulant oder stationär, und für den ambulanten Bereich gilt dann noch so zu sagen, nachgeschoben die Bedarfsfeststellung in Höhe der Fachleistungsstunden. Im stationären Bereich ist es nämlich im Moment noch anders, es wird eben nicht dann gesagt, meinetwegen Leistungstyp X Hilfebedarfsgruppe Y, A oder B, sondern da wird erst mal gesagt, gut, stationäre Hilfe ist erforderlich, (..). Und dann muss die stationäre Einrichtung innerhalb von sechs Monaten oder so einen Vorschlag vorlegen,
262
11 Exemplarische Vertiefung welcher Leistungstyp und welche Hilfebedarfsgruppe und den natürlich auch belegen. Also ich mein, insofern ist der Ausdruck Hilfeplanverfahren, den wir bei uns tatsächlich im Moment, irreführend. Das muss man also ganz klar sagen. Es ist kein Assessment in dem Sinne wo gesagt wird, da wird der Bedarf komplett aufgerechnet, jetzt wird schön sorgfältig geplant, was alles gemacht werden muss und wer es bezahlen muss […]“ (LT, Z. 377–391).
Das Hilfeplanverfahren des LWL lässt sich mit panoptischen Konstruktion im Sinne Foucaults vergleichen: Die betroffenen Personen müssen einzeln sichtbar (unter Umständen mit Unterstützung der Betreuungskräfte) das Hilfeplanverfahren durchlaufen und zugleich wird die Masse der Leistungsberechtigten in ambulant, sowie stationär betreute Leistungsempfänger, in verschiedene Leistungstypen und Hilfebedarfsgruppen unterteilt. Dabei führt allerdings die Regionalisierung und persönliche Betreuung einer Region durch einen/e Hilfeplaner/in dazu, dass der Leistungsträger nicht mehr eine ferne Machtinstanz darstellt, sondern ein Gesicht bekommt. Da im Clearing die behinderte Person die Möglichkeit bekommt, sich zu äußern und ihren Fall darzustellen und sich dabei direkt mit dem/r Hilfeplaner/in als Vertreter/in des LWL auseinandersetzen muss, werden Entscheidungen personalisiert und generelle Kritik erschwert. Kontrolle findet (in Bezug auf die Eingliederungshilfe) dabei durch die regelmäßige Wiederholung des Hilfeplanverfahrens statt. Die Subjekte müssen sowohl die Suche nach der Selbsterkenntnis durch die Selbstauskunft in der regelmäßigen Hilfeplanung, wie auch die Überprüfung ihrer selbst vornehmen, indem sie sich selbst dabei überwachen, wenn sie die Hilfeplanmaßnahmen zusammen mit einer Fachkraft des Unterstützten Wohnens ausführen. Die Leistungsdokumentation führt zur stetigen Überwachung und Selbstüberwachung, sowohl der behinderten Personen, wie auch ihrer Unterstützungspersonen. Sie müssen die gemeinsame Arbeit am Hilfeplan ausrichten und jede Änderung in der Dokumentation begründen. So entsteht ein selbst-normierender Blick, der sich an der selbst-formulierten Hilfeplanung ausrichtet. Kritik und Opposition werden dadurch auch auf der Ebene der Unterstützung erschwert, wenn die Beteiligten nicht gegen sich selbst aussagen wollen. Das Hilfeplanverfahren des LWL reguliert zudem die Interessen der anderen beteiligten Akteure im Verfahren durch verschiedene Mechanismen: Eine unklare Ausgangslage oder der Wunsch nach einer ambulanten Unterstützung wird mit einem zusätzlichen Aufwand für die Antragsteller/innen und ihre Unterstützer/innen verbunden. Für ein wirklich individuell angepasstes Hilfearrangement sind also erhebliche Vorleistungen von den Betroffenen und ihren Unterstützungspersonen notwendig, ohne vorab zu wissen, ob diese Bemühungen dann in Form einer Bewilligung von Leistungen erfolgreich sein werden (vgl. auch Kritik der Fachdienste in Unterkapitel 11.4). Ambulante Wohnformen unterstehen zudem kürzeren Bewilligungsfristen und erfordern häufiger eine Einberufung des Clearings. Ist dagegen eine stationäre Wohnform angedacht, ist die Maßnahmenbeschreibung nicht erforderlich. Der Verbleib in einer stationären Wohnform kann in der Regel nach Ermessen der Hilfeplanerin nach ‚Aktenlage’ beschieden werden (und das bedeutet auch ohne direkten Kontakt zu den Antragstellern). Schwarte/ Schädler et al. (2006) weisen deshalb darauf hin „dass die Hilfeplanverfahren alleine durch ihre faktische Gegebenheit möglicherweise auch indirekte Steuerungswirkungen entfalten. Diese können jedoch nicht valide quantifiziert werden.“ (a.a.O., 11) Die vorläufige Zuordnung zu ambulanten oder stationären Unterstützung erleichtert zwar eine zügige Bearbeitung der Anträge. Dadurch erfährt die Erprobung veränderter Unterstützungsarrangements aber eine Barriere, da durch die getroffenen ‚Vorentschei-
11.4 Umsetzung des Konzepts der Individuellen Hilfeplanung
263
dung’ der Status Quo unterstützt wird und die besondere Chance des Clearings, auch über alternative Unterstützungsarrangements nachzudenken, vertan wird. Ein bereits bestehendes oder geplantes Hilfearrangement muss schließlich nicht zwangsläufig auch das angemessene sein. Auch die ‚Ausnahmen’, in denen es dem/der Hilfeplaner/in obliegt, eine Beratung im Clearing anzuberaumen können den konzeptionellen Anspruch, für jede Person ein passendes Hilfearrangement entwickeln zu wollen, letztlich nicht realisieren. Es entsteht, mit aller Vorsicht gesprochen, der Eindruck einer Trennung in ‚förderungswürdigen’ und ‚versorgungswürdigen’ Personen: Gerade bei Personen, die aus fachlicher Sicht der Sonderpädagogik einen besonderen Hilfe- und damit auch Planungsbedarf für diese Hilfen haben (weil sie beispielsweise sehr schwer behindert oder im Verhalten auffällig sind), wird eine gezielte Hilfeplanung durch den Kostenträger weniger stark forciert, als bei denjenigen, bei denen langfristig auch der Hilfebedarf (und damit die Folgekosten) gering eingeschätzt wird. Die historische Ausschlusslinie der ‚Brauchbarkeit’ (Restverwertbarkeit der Arbeitskraft, Bildbarkeit usw.) wird hier in veränderter Form wieder eingeführt, nämlich im Sinne eines ‚individuellen Kosteneinsparpotenzials’ 47. Für die Einen ist das Ziel des weitgehend selbstbestimmten Lebens in der Gemeinschaft der ‚Normalen’ durch ein ambulant betreutes Wohnsetting möglich, die Anderen verbleiben in Sondereinrichtungen mit ihren ausgrenzenden Folgen aus der ‚Normalgesellschaft’. Die strukturelle Unterscheidung zwischen ambulanten und stationären Hilfeformen erscheint deshalb weniger am Bedarf der Antragsteller und der Gestaltung moderner Hilfeformen orientiert, sondern eher in der historischen Trennung von örtlicher und überörtlicher Sozialhilfe und ihren Zuständigkeiten in der Behindertenhilfe verwachsen. Damit wird eine wesentliche Chance der einheitlichen Zuständigkeit vertan, diese historische Trennung zu überwinden und der Vielfalt der Hilfebedarfe durch eine differenzierte individuelle Planung und Angebotsentwicklung gerecht zu werden. 11.4 Umsetzung des Konzepts der Individuellen Hilfeplanung Da überwiegend Dienste und Einrichtungen die Antragsteller/innen in Westfalen Lippe beim Ausfüllen der Erhebungsbögen unterstützen, erscheinen ihre Erfahrungen mit dem Verfahren besonders relevant. Deshalb beginnt die Darstellung der Erfahrungen mit der Umsetzung des Konzepts mit Ergebnissen der Begleitforschung des ZPE über die Einschätzungen der Dienste und Einrichtungen. Die Untersuchung zeigt, dass aus Sicht der an den Hilfeplanverfahren beteiligten Dienste und Einrichtungen die Erhebungsbögen nur bedingt als angemessen zu bezeichnen sind (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 72). Einerseits zeigt sich zwar die Hälfte der befragten Einrichtungen und Dienste mit dem Konzept der Hilfeplanung des LWL prinzipiell zufrieden (vgl. ebd.). Aber nur ungefähr die Hälfte der Fachdienste hält die Erhebungsbögen des LWL für die bedeutsamsten Unterlagen, um den Hilfebedarf der Antragsteller/innen darstellen zu können (Schädler/ Rohrmann/ Schwarte et al. 2008, 40). Auch wenn in der Nacherhebung von 2007 diese Zahlen rückläufig sind, erscheint der Anteil dennoch hoch.
47 Die Auswirkungen einer solchen, wenn auch nicht mit dem Verfahren beabsichtigten Unterscheidung können auf der Ebene der konkreten Umsetzung der individuellen Hilfeplanung eindrücklich beobachtet werden vgl. Unterkapitel 11.5.
264
11 Exemplarische Vertiefung
Die von den Leistungsträgern grundsätzlich als positiv bewertete einheitliche Gestaltung der Erhebungsbögen für unterschiedliche Zielgruppen wird von den Fachdiensten eher negativ bewertet, weil dadurch ihrer Ansicht nach behinderungsspezifische Aspekte nicht ausreichend dargestellt werden können (vgl. Aselmeier et al. 2007, 71). Insgesamt sei das Verfahren zu aufwändig und zu umfangreich (vgl. ebd.). Die Bearbeitung des Erhebungsbogens III (Maßnahmeplanung) erfordere, die Antragsteller/innen gut zu kennen, was bei Neuanträgen in der Regel nicht der Fall sei (vgl. ebd.). Hinzu kommt, dass die Unterstützung bei der Hilfeplanung durch einen Fachdienst von den Leistungsträgern nicht refinanziert wird, so dass hier die Einrichtungen zum Teil in erhebliche Vorleistungen gehen (vgl. ebd.). „(…) das ist ja auch unsre Zeit, das kriegen wir nicht bezahlt, die Fachlichkeit reinzubringen, und wir haben den Eindruck, dass die Hilfeplaner/innen sehr fachlich interessiert sind. Also, Vorgespräche, Nachgespräche, wir buttern da rein, sozusagen, um da, was überhaupt möglich ist, also einen Input zu geben“ (LE, Z. 1444–1450). Von den Fachkräften wird hier eine bereits herausgearbeitete Leerstelle der Individuellen Hilfeplanung benannt (vgl. Abschnitt 10.2.3). Es zeigt sich hier, dass der Leistungsträger seinen fachlichen Anspruch nicht einlösen kann, da die pädagogischen Fachkräfte die Hilfeplaner/innen über die eigentliche Hilfeplanung hinaus zu informieren und zu unterstützen scheinen. Insgesamt gab ¼ der befragten Fachdienste in einer qualitativen Befragung an, dass sich die Hilfebedarfe anhand der Erhebungsbögen nur eingeschränkt oder nicht angemessen darstellen lassen (vgl. ebd.). Ungefähr die Hälfte der Fachdienste stellte fest, dass sich die Erhebungsbögen des LWL nicht gut ausfüllen lassen, weil Doppelungen in den Erhebungsbögen und zu wenig Raum für Eintragungen vorhanden seien (vgl. Aselmeier/ Stamm/ Wissel 2007, 71). Zudem wird verschiedentlich auf die beeinflussenden Wirkungen hingewiesen, die dadurch entstehen, dass die Nutzer/innen beim Ausfüllen der Hilfeplanbögen von Mitarbeiter/innen der Einrichtungen und Dienste unterstützt werden: „Aber natürlich, wenn ich ((Geräusche im Hintergrund)) als Mitarbeiter im stationären Wohnen arbeite, denke ich in dem Kontext, in dem ich arbeite, also immer mit dieser Einschränkung. Wenn ich ein Mitarbeiter im ambulant unterstützten Wohnen bin, […] hab ich einen anderen Fokus.“ (LE, Z. 751–755; vgl. BF, Z. 988–991) In einer Untersuchung von ausgefüllten Hilfeplanformularen wurde darüber hinaus gehend eine große Bandbreite in der Qualität festgestellt (Schädler/ Rohrmann/ Schwarte et al. 2008, 40). So erscheint es plausibel, dass in der überwiegenden Zahl der Anträge die Erhebungsbögen um zusätzliche Unterlagen (z.B. ärztliche Stellungnahmen, Sozialberichte oder HMB-W Bögen) ergänzt werden, um die Hilfebedarfe ausreichend darstellen zu können (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 72; vgl. auch Aselmeier et al. 2007, 71). Die Umrechnung von geplanten Maßnahmen erscheint einigen Diensten grundsätzlich schwierig, zudem ist ihnen wenig transparent, auf welcher Basis der LWL in den Bescheiden die Fachleistungsstunden berechnet (vgl. Aselmeier/ Stamm/ Wissel 2007, 72). So erscheint vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bewilligungen die Vergleichbarkeit von Hilfeplanungen auch einem Interviewpartner fragwürdig: „Das kann ja nicht angehen, dass sie also einen durchschnittlichen Fachleistungsstundensatz im einen Gebiet, in der einen Gebietskörperschaft haben, der bei sechs Stunden liegt, und in der andern bei zwei. Das ist ja nicht anzunehmen, dass da in der einen, in dem einen Fall von vorn herein mehr Bedarf oder weniger Bedarf ist, nicht?“ (BF, Z. 652–656)
11.4 Umsetzung des Konzepts der Individuellen Hilfeplanung
265
Es zeigt sich, dass mit der Individuellen Hilfeplanung eine Vereinheitlichung der Informationssammlung nur bis zu einem bestimmten Grad möglich erscheint. Einerseits sperrt sich die individuelle Lebenssituation von Nutzer/innen einer umfassenden Standardisierung. Andererseits müssen auch die standardisierten Vorgaben der Hilfeplanungsbögen von den Mitarbeiter/innen der Fachdienste interpretiert und beantwortet werden, ebenso, wie die ausgefüllten Bögen von den Hilfeplaner/innen interpretiert werden müssen, so dass die Produkte dieser Wissensproduktion keinesfalls als standardisiert gelten können. Die Clearingsitzungen werden von den befragten Fachdiensten insgesamt positiv eingeschätzt, allerdings hängt ihre Gestaltung scheinbar wesentlich von den Hilfeplaner/innen ab (vgl. ebd.; LE, Z. 1420–1447). Die fachliche Kompetenz der Hilfeplaner/innen und ihr Interesse an der Situation der Nutzer/innen erscheinen den Vertreter/innen der befragten Einrichtungen wichtig. Dazu seien die persönliche Zuständigkeit der Hilfeplaner/innen für die einzelnen Antragsteller/innen und der persönliche Kontakt im Clearing wichtige Instrumente (vgl. Aselmeier/ Stamm/ Wissel 2007, 72). „Ja und die Hilfeplanerin sieht den Nutzer, das hab ich ja vorhin gesagt, der Vorteil ist, der Nutzer ist da, kann auch Fragen stellen, und die Vertrauensperson auch, und man kriegt sofort eine Kostenzusage, das ist der absolute Vorteil. Aber es ist kein offenes Verfahren.“ (LE, Z. 1510-1514) Einige Fachdienste haben den Eindruck, dass die Leistungsträger sehr auf Kürzungen drängen und um die Fachleistungsstunden hart verhandelt wird (vgl. Aselmeier/ Stamm/ Wissel 2007, 72). Dieser Eindruck wird allerdings von den Beobachtungen der Begleitforschung kaum bestätigt, da hier der Eindruck überwiegt, dass die Auseinandersetzungen vor allem von fachlichen Fragen getragen sei und letztlich die Suche nach einer geeigneten Lösung die Diskussionen und schließlich auch die Ergebnisse prägen würde (Schädler/ Rohrmann/ Schwarte et al. 2008, 42). Es seien keine Koalitionsbildungen unter den Clearingstellenmitgliedern beobachtbar und es könnten alle Clearingmitglieder strittige Fälle für das Clearing vorschlagen (vgl. ebd.). Allerdings wird auch von den Beobachter/innen der Begleitforschung die Situation für die Nutzer/innen zumindest als ‚künstlich‘ empfunden, aber grundsätzlich schätzen sie den persönlichen Kontakt und die Atmosphäre in den Clearingsitzungen positiv ein (vgl. ebd.). Während in den Clearingsitzungen fast immer die vorgeschlagene Hilfeform (ambulant/stationär/teilstationär) realisiert wird, kommt es in einigen Fällen zu einer Abweichung vom Umfang der Hilfen, dann vor allem in Form einer geringeren Fachleistungsstundenzahl (vgl. a.a.O., 43). Nach Einschätzung der Autoren der Studie von 2008 findet in über 90 % der Anträge die von den Fachdiensten vorgeschlagene Hilfeform in der Clearingsitzung Zustimmung. Wenn dem Antrag doch einmal nicht entsprochen wird, dann wird in der Regel ein geringerer Stundenumfang bewilligt als beantragt (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 62). „[…] also wenn ich das mitkriege, also auch von da wo`s praktisch durchgeführt wird, das da richtig mitkriege, dann ist das eben vielfach das eine ziemlich formelle Geschichte. Es wird ein Antrag gestellt und dem Antrag wird weitestgehend entsprochen gegenwärtig. Weil man auch Nachweise braucht, dass man also Leute ins betreute Wohnen rein gekriegt hat.“ (BF, Z. 1077– 1081) „Also, der Nutzer ist beteiligt, aber er ist auf eine Art und Weise beteiligt, dass das Verfahren im Grunde da schon eigentlich abgeschlossen ist. Da geht`s nur noch um, also in ganz wenigen Fäl-
266
11 Exemplarische Vertiefung len geht`s drum, ist das nicht doch AuW [Ambulant unterstütztes Wohnen, Anmerk. I.N]?“ (LE, Z. 1084–1086)
Da die Diskussion eines Falls in der Clearingsitzung zudem nur selten länger als eine halbe Stunde dauert (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 59) erscheint die Frage begründet, ob das Clearing nicht lediglich die Funktion einer Plausibilitätsprüfung der schriftlichen Antragsunterlagen besitzt (vgl. Schädler/ Rohrmann/ Schwarte et al. 2008, 41). Damit kann das Clearing aber nicht die vom LWL intendierten Steuerungswirkungen entfalten, wenn letztlich den Anträgen stattgegeben wird, die maßgeblich von den Einrichtungen und Diensten mit erarbeitet wurden. Die Chance, im Clearinggespräch durch die Beteiligung der verschiedenen Seiten nach individuell passenden Lösungen zu suchen, wird nicht ausreichend genutzt (vgl. Schädler/ Schwarte 2006, 13). Insofern nimmt der Leistungsträger durch das Clearing nicht in dem Maße eine umfassende Fachverantwortung wahr, wie im öffentlichen Diskurs dargestellt, sondern entwickelt vielmehr mit dem Clearing ein ‚mehrköpfiges‘ Aufsichtsgremium mit Entscheidungsfunktionen im Bedarfsfall. Sie erscheint vielmehr als eine Instanz des ‚normierenden‘ Blicks, die auf die Einhaltung der ‚Zuordnungsregeln‘ der Individuen achtet. Im Rahmen der schriftlichen Befragung geben etwa zwei Drittel der Antragsteller/innen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung aus beiden westfälischen Regionen an, die Fragen in den Erhebungsbögen gut oder zumindest teilweise verstanden zu haben (vgl. Schädler/ Rohrmann/ Scharte et al. 2008, 39). Ungefähr ebenso viele Personen geben zudem an, dass die an ihrem Hilfeplanverfahren Beteiligten genau verstanden hätten, welche Hilfen sie benötigen (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 67). Dies bedeutet aber auch, dass ein Drittel aller Antragsteller/innen die Fragen kaum oder gar nicht verstanden hat und auch ungefähr ein Drittel den Eindruck hatte, nicht sehr gut verstanden worden zu sein. Berücksichtigt man aktuelle Erkenntnisse über das tendenziell positive Antwortverhalten geistig behinderter Menschen (vgl. Schäfers 2008, 161 f), so ist zu vermuten, dass möglicherweise noch mehr Menschen dieser Zielgruppe Schwierigkeiten mit dem Verständnis der Erhebungsbögen hatten oder ihren Hilfebedarf nicht gut vermittelt sehen 48. „[…] also, Clearingsitzungen, die halt ich schon für häufig problematisch, also viele geistig Behinderte wissen offensichtlich nicht, (.) wo sie da hineingeraten sind und was da vor sich geht, und das wir ja alles auch sehr schnell abgehandelt, und so, und von daher ist das, ja, die Gefahr ist, dass es zu einer Farce verkommt.“ (BF, Z. 975–980) Im Hinblick auf die selbstbestimmte Nutzung des Clearings zeigen sich auch andere Quellen kritisch: „Die Ergebnisse zeigen, dass nur 3 Personen noch vage wussten, welche Bedeutung das Clearing-Verfahren für die weitere Gestaltung ihres Hilfeprozesses hat. Die anderen waren nur auf Weisung der Mitarbeiter zu der Sitzung hingegangen, und hatten zwischenzeitlich alle Abspra48 Auch die Frage, welcher Personenkreis in der einen oder anderen Weise geantwortet hat, bleibt unbeantwortet. So zeigt die Lebensqualitätsforschung, dass gerade die Personen, die besonders auf die Berücksichtigung ihrer Perspektiven in der Hilfeplanung angewiesen wäre, Menschen mit hohem Hilfebedarf und/oder Kommunikationsbeeinträchtigungen, häufig ihre Wünsche und Interessen im Unterstützungsalltag weniger berücksichtigt sehen, als Menschen mit geringerem Hilfebedarf (vgl. Seifert 2008; Schäfers 2008). Diese Gefahr besteht grundsätzlich auch in der Hilfeplanung, vor allem deshalb, weil diese Personengruppe im Gebiet des LWL kaum in den Clearingkonferenzen auftaucht und damit nicht die Chance erhält, 1.) persönlich vorstellig zu werden und 2.) durch die Interdisziplinarität der Clearingbesprechung eine (wenn auch nur vermeintlich) unabhängige Sicht auf ihren Fall zu erhalten. So reproduziert auch die Befragung zur Qualität der Hilfeplanung des LWL die gezogene Ausschlusslinie des Konzeptes.
11.4 Umsetzung des Konzepts der Individuellen Hilfeplanung
267
chen vergessen. Auch nach intensivem Nachfragen zeigte sich bei fast allen Befragten, dass sie den Zusammenhang zwischen Hilfebedarf bzw. ihren Zielen für Teilhabe und den vereinbarten Hilfen nicht nachvollziehen konnten.“ (Dobslaw 2006, 92)
Zu den Antworten der Nutzer/innen passt die Einschätzung der beteiligten Fachdienste, dass die persönliche Stellungnahme für viele Nutzer/innen zu umfangreich und zu differenziert sei, als dass sie diese alleine ausfüllen könnten. Würden sie aber durch einen Dienst dabei unterstützt, sei es keine persönliche Stellungnahme mehr (vgl. Aselmeier et al. 2007, 71). Auch das Verfahren insgesamt sei für viele Nutzer/innen umfangreich und wirke abschreckend auf die Nutzer/innen (vgl. a.a.O., 72). In den Befragungen der Fachdienste wird zudem deutlich, dass für einige Nutzer/innen das Clearing, indem sie ihren Hilfebedarf selbst darstellen sollen und Fragen zu ihrer Lebenssituation beantworten sollen, eine kritische Situation darstellt, die sie überfordert (vgl. Aselmeier et al. 2007, 72). Einige Fachdienste kritisieren, dass die Nutzer/innen zu viele persönliche Aspekte ihres Lebens im Clearing gegenüber ihnen unbekannten Menschen preisgeben müssten und sich dabei vor allem als defizitär und hilfebedürftig darstellen müssten. In der Untersuchung des ZPE zum Hilfeplanverfahren des LWL haben ca. 10% der berücksichtigten Personen nicht am Clearing ihres Hilfeplanverfahrens teilgenommen (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 67). Die Ergebnisse zur Beteiligung der Antragsteller/innen am Clearing erscheinen ausbaufähig: Alle Befragten geben an, etwas sagen können und beinahe alle haben den Eindruck, alle Hilfen erhalten zu haben, die sie benötigen. Aber weniger als die Hälfte der Befragten erinnert sich daran, im Clearing Wahlmöglichkeiten angeboten bekommen zu haben (dabei wurden Menschen mit einer seelischen Behinderung häufiger Wahlmöglichkeiten angeboten als Menschen mit einer geistigen Behinderung) und nur gut zwei Drittel der Befragten wurden die Protokolle vorgelesen (vgl. a.a.O. 2008, 67 f). Es zeigt sich, dass Individuelle Hilfeplanung auf die Nutzer/innen wirkt, positivbestärkend, aber auch beängstigend und auf die eigenen Schwächen verweisend. In jedem Fall beeindruckt sie die Nutzer/innen und führt zu einer Selbstthematisierung oder Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Semantik des ‚selbstbestimmten‘ behinderten Menschen erscheint aber als brüchige und normierende Strategie, die erst die Umsetzung des Konzepts der Hilfeplanung ermöglicht. Hilfeplanung setzt voraus, was ihr Ziel ist. Es zeigt sich, dass vor allem in den Clearingverfahren der Ansatz der Partizipation und Beteiligung brüchig wird durch implizite Machtwirkungen jenseits der ‚Empowerment’-Semantik. Individuelle Hilfeplanung ermöglicht denjenigen, die das Verfahren durchlaufen, Hilfen, die Bedingungen für ein Leben so ‚normal, wie möglich‘ schaffen können. Sie produziert aber auch neue Linien des Ausschlusses, die sich bereits an der dem Verfahren vorgelagerten Frage entzündet, ob eine Person eine ambulante oder stationäre Hilfe beim Wohnen erhalten soll. Drei Jahre nach Einführung der einheitlichen Zuständigkeit steht Nordrhein-Westfalen 2006 sowohl im Hinblick auf die Ausgabenstruktur, als auch im Hinblick auf die Zahl der Leistungsempfänger im Bereich der Eingliederungshilfen behinderter Menschen im bundesweiten Vergleich an der Spitze (vgl. Tab. 6). Pro Person wurden durchschnittlich 24.700 € für die Eingliederungshilfe ausgegeben, der bundesweite Durchschnitt liegt bei 16.400 €. Nach Aussagen des Verbandes leben in Westfalen-Lippe derzeit ca. 13.300 Leistungsempfänger/innen mit einer geistigen Behinderung in stationären Wohneinrichtungen, sowie weitere 3.000 in einer ambulant betreuten Wohnform (Wedershoven 2008, Folie 5).
268
11 Exemplarische Vertiefung
Tabelle 6: Eingliederungshilfe 2006 (vgl. statistisches Bundesamt 2008, 19; Anhang L2, L4) NRW Einwohnerzahl Bezieher von Eingliederungshilfen davon Bezieher von Leistungen zur Teilhabe davon Bezieher von Hilfen zum selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten
davon Bezieher von stationären Hilfen Davon Bezieher von ambulanten Hilfen
BRD
NRW (Ausga-
BRD (Ausga-
ben in Mio.)
ben in Mio.)
18.036.000
82.315.000
117.441
643.064
3.206,9
11.804,1
82.740
405.871
2.258,0
6.575,9
64.656
248.249
2.040,8
5.070,7
42.423
172.098
1.875,7
4.482,6
22.730
79.578
165,1
588,1
Die Kosten für diese Hilfen belaufen sich auf 846 Mio. Euro jährlich, davon entfallen 767 Mio. Euro auf stationäre Hilfen aber vergleichsweise nur 79 Mio. Euro auf ambulante Hilfen (vgl. a.a.O. Folie 6). Auch Menschen mit einer geistigen Behinderung erhalten im Gebiet des LWL 2006 häufiger als zuvor die Möglichkeit, in einer eigenen Wohnung oder ambulant betreuten Wohngemeinschaft zu leben (vgl. Tab. 7). Tabelle 7: Verhältnis von ambulanten zu stationären wohnbezogenen Hilfen für alle Zielgruppen im Gebiet des LWL (Quelle: ZPE: Tabellensatz zu Basisdaten zum Stichtag 30.06.2006, Tabelle 35)
Sie profitieren jedoch in einem geringeren Ausmaß von den Veränderungsmaßnahmen wie andere Zielgruppen. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der ambulant unterstützten Eingliederungshilfeempfänger/innen geht auf dem Gebiet des LWL zurück (vgl. Tab. 8). Im Hinblick auf die mit dem Hilfeplanverfahren intendierten Steuerungswirkungen scheinen vor allem ‚leistungsfähige‘ Menschen mit einer geistigen Behinderung, denen 1–3 Fachleistungsstunden in der Woche als Unterstützung ausreichen, vom Hilfeplanverfahren zu profitieren (vgl. Aselmeier et al. 2007, 33). Nie liegen die bewilligten Fachleistungsstunden über sieben
11.4 Umsetzung des Konzepts der Individuellen Hilfeplanung
269
Stunden in der Woche (vgl. Wissel/ Aselmeier 2008, 61f, vgl. LE, Z. 1095–1100). Zudem zeigt sich, dass zwar die Zuwachsraten im stationären Wohnen insgesamt gebremst werden konnten, von einem signifikanten Rückgang der Fallzahlen im Bereich der stationären Hilfen allerdings nicht die Rede sein kann. Eine stationäre Unterbringung ist noch immer die überwiegende Wohnform von Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung. ‚Ambulant vor stationär‘ scheint als ein Anspruch von Personen mit einem geringen Hilfebedarf verstanden zu werden. Tabelle 8: Anteilige Entwicklung der Fallzahlen im Gebiet des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe und Nordrhein-Westfalen für Menschen von Menschen mit geistiger Behinderung. (Eigene Berechnungen auf Grundlage von: ZPE: Tabellensatz zu Basisdaten zum Stichtag 30.06.2006, Tabelle 1, 10, 11, 7, 17, 18, 28) Erhebungszeitpunkte LWL
30.06.2003
amb Menschen mit geistiger Behinderung zielgruppenübergreifend Anteile (in%) Veränderung der Anteile NRW
31.12.2004
stat
amb
31.12.2005
stat
amb
30.06.2006
stat
amb
stat
1.488
--1
--1
12.825
2.062
13.170
2.258
13.220
6.025
--1
8.303
19.492
8.946
20.043
9.739
20.140
24,69
--
2
--
2
65,79
23,49
65,71
23,18
65,64
--
2
--
2
2
2
-0,08
-0,31
-0,07
stat
amb
stat
--
2
amb stat amb Menschen mit --1 geistiger Behin2.463 --1 derung zielgruppen10.981 --1 14.738 übergreifend Anteile (in %) 22,43 --2 --2 Veränderung --2 --2 --2 der Anteile 1 fehlende Daten 2 aufgrund fehlender Daten nicht berechenbar
-stat
-amb
27.072
3.535
27.845
3.934
27.909
41.534
17.622
42.636
19.415
42.607
65,18
20,03
65,31
20,26
65,50
--2
--2
+0,13
+0,23
+0,19
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Beobachtungszeitraum vergleichsweise kurz ist und die langfristigen Wirkungen der Steuerungsinstrumente in NRW abzuwarten bleibt. So spielen auch die Wünsche von Nutzer/innen und ihren Angehörigen nach einer umfassenderen und behüteteren Versorgung in einem stationären Hilfesetting ebenso eine Rolle wie Planungsvorläufe für konzeptionelle und organisationale Veränderungen in den Einrichtungen. „(…) ich denk das hat mit den Eltern zu tun, das hat mit dem Sicherheitsbedürfnis zu tun, und das hat damit zu tun, dass man noch nicht viele Beispiele hat (…)“ (LE, Z. 1103–1105). Schließlich stellen aber auch die Schwellen in der Bewilligung von Fachleistungsstunden für das ambulant betreute Wohnen des LWL eine Barriere für Personen dar, die trotz
270
11 Exemplarische Vertiefung
einem Hilfebedarf von mehr als sieben Fachleistungsstunden in der Woche in ein ambulant betreutes Wohnsetting wechseln möchten (vgl. Aselmeier et al. 2007, 33). Ein Interviewpartner deutet diese Entwicklung als halbherzigen Versuch des Umbaus von stationären von ambulanten Hilfen: „(…) den fachlichen Anforderungen kommt man entgegen, indem man sozusagen eine Art creaming of the poor macht. Indem man also die Fittesten abschöpft und denen besondere Bedingungen zuweist. Das find ich eigentlich, also es ist die Idee, dass man das Hilfesystem insgesamt umbaut, also von der Dominanz des Stationären hin zur Dominanz des Ambulanten, das ist nicht, das ist nicht richtig gegeben, das kann mit dieser geringen Stundenzahl nicht voran kommen.“ (BF, Z. 818–825)
Für die Chancen auf ein ambulant betreutes Wohnsetting spielt nicht nur die konkrete Bewilligungspraxis, sondern schon die Beantragung eine Rolle und damit die fachliche Haltung der bei der Antragstellung unterstützenden Fachkräfte. Sie stellt damit eine weitere Erklärung für die ‚Beharrlichkeit‘ bestehender Strukturen dar. So stellen Schädler und Schwarte fest, dass „der gesetzlich vorgeschriebene Vorrang ambulanter vor stationären Hilfen in der Erörterung von Hilfeplanverfahren für Menschen mit geistiger Behinderung seltener in Betracht gezogen wird (unabhängig von der späteren Entscheidung) als bei den anderen Zielgruppen“ (2006, 13). Mit Foucault betrachtet wird hier die Brüchigkeit von Regierungstechnologien deutlich, die sich in den widerständigen Praktiken der Menschen zeigen. Die verschiedenen Diskurse im Feld finden eine Verbindung in den Praktiken der Menschen, überformen sie, aber bringen sie auch erst zum Leben und erzeugen damit die Wirkungen. Einige Vertreter/innen verweisen auf behinderungsspezifische oder besondere Lebenssituationen, die es für eine kleine Gruppe von Menschen notwendig mache, stationäre Angebote vorzuhalten, auch wenn prinzipiell für alle Menschen ambulante Hilfen zu bevorzugen seien (vgl. a.a.O., 35). Andere sehen die Frage, ob ambulant betreutes Wohnen für eine Person in Frage kommt, vor allem als Frage des Umfangs und der Gestaltung Hilfen, die die Person dazu benötigt und gestehen deshalb prinzipiell jedem Menschen eine eigene Wohnung als Möglichkeit zu. Schließlich nehmen einige Fachkräfte auch die Erfahrungen mit der Bewilligungspraxis der Leistungsträger als Maßstab für eine fachliche Einschätzung der Eignung der Person für die gegebenen ambulanten Unterstützungsstrukturen. Dabei verschiebt sich die Frage der Eignung eines Angebots für eine Person zu einer Frage der Eignung der Person für ein bestehendes Angebot. Statt den Ausgangspunkt der Hilfeplanung im Hilfebedarf der Person zu suchen, wird der Ausgangspunkt im bestehenden Angebot gesucht, dem dann der Mensch zugeordnet wird. So werden von einigen Vertretern bereits 4–5 Fachleistungsstunden in der Woche als ‚hoher Hilfebedarf‘ und die Menschen als ‚schwere Fälle‘ bezeichnet und Personen mit 1–2 Fachleistungsstunden als ‚Klassische ABW-Nutzer (ambulant betreutes Wohnen) mittleren Hilfebedarfs (Aselmeier et al. 2007, 34). Für Personen, die mehr als sieben Stunden Unterstützung in der Woche benötigen, wird dann das stationär betreute Wohnen als geeignete Wohnform angesehen. Ein Interviewpartner bestätigt, dass dem eigentlichen Hilfeplanverfahren häufig eine Vor-Auswahl durch die unterstützenden Fachkräfte vorgelagert ist: „aber in vielen Stellen muss gar nicht mehr gehandelt werden, weil von vorne herein höchst bescheidene Ansprüche rein gebracht werden und schwierigere Menschen gar nicht erst vorgestellt werden als möglicherweise ambulant zu Betreuende.“ (BF, Z. 1084–1088), ein anderer ergänzt: „Also das heißt, je-
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mand, der einen Bedarf hat, der zwölf Stunden umfasst wäre, stationär. Aber der geht auch so gar nicht rein. Also es gibt bisher auch gar nicht jemanden, der da rein geht und sagt ‚Ich möchte aber ambulant, und ich habe aber 24 Stunden Betreuungsbedarf.‘“ (LE, Z. 1100– 1112). Im Hinblick auf die Verschiebung von der Frage, welchen Hilfebedarf die Person hat und wie Hilfen für sie gestaltet sein sollten, hin zu der Frage, ob eine Person für eine bestimmte Hilfeform ‚geeignet‘ ist, sei auch auf eine Fußnote im ersten Zwischenbericht zum Projekt ‚Hilfen aus einer Hand‘ des ZPE hingewiesen: „Der hier verwendete Begriff des Ambulant Betreuten Wohnens ist nicht unumstritten. Fachlich wird die Konnotation zum Begriff der ‚Betreuung’ und die fehlende Abgrenzung zur gesetzlichen Betreuung nach dem Betreuungsgesetz (BtG) kritisiert. Daher wird teilweise anderen Bezeichnungen wie dem des ‚Unterstützten Wohnens’ der Vorzug gegeben. Zusätzlich ist zu beachten, dass sich hinter dem Label ‚Ambulant Betreutes Wohnen’ ganz unterschiedliche Unterstützungsangebote und Konzepte verbergen. Ausgehend von der Richtlinie des LWV Hessen (1994) hat sich ein Verständnis durchgesetzt, das insbesondere durch den Personalschlüssel (meist zwischen 1: 12 und 1 : 6) definiert ist und insofern eine Unterstützung mit geringer Intensität kennzeichnet. Dieses Verständnis prägte das Förderprogramm des LVR und auch die Finanzierungspraxis vieler Kommunen in Westfalen-Lippe. Dessen ungeachtet bestand ein individueller Rechtsanspruch auf eine dem individuellen Bedarf entsprechende Eingliederungshilfe, die aber nur in wenigen Fällen realisiert wurde, sofern ein über den pauschalen Betreuungsschlüssel hinausgehender Bedarf bestand. […]“ (Schwarte/ Schädler, o.J. Fußnote 17, 36)
Hier wird ganz deutlich auf die Unterschiede in der Intention des Gesetzgebers und in der Rechtsanwendung hingewiesen, die in der Folge dazu führen, dass nicht Hilfeleistungen daraufhin überprüft werden, ob sie dem einzelnen Menschen und seiner Angewiesenheit auf Unterstützung angemessen sind, sondern ob der Mensch im Rahmen der gesetzten Bedingungen für eine Unterstützungsform in Frage kommt. Aufgrund dieser Ergebnisse erscheint es plausibel, dass nur selten Personen vom stationären Wohnen in eine ambulant betreute Wohnform wechseln. 11.5 Wirkungen in der Praxis des Unterstützten Wohnens Nachdem nun einige Erfahrungen mit dem Hilfeplanverfahren des LWL kritisch reflektiert wurden, soll nun der Blick in die Unterstützungspraxis des betreuten Wohnens selbst gerichtet werden, welches den eigentlichen Gegenstand der Individuellen Hilfeplanung darstellt. Entsprechend müssten hier deutliche Wirkungen, aber auch Brüche und Diskontinuitäten durch die Verformungen der Praxis zu erkennen sein. 11.5.1 Hilfeplanung als Strukturierungsrahmen von Praxis Obwohl die in den Gruppeninterviews thematisierten Arbeitszusammenhänge das stationäre Wohnen betreffen und deshalb der Leistungsträger für die Leistungsbewilligung selbst keine standardisierte Hilfeplanung verlangt, wurde in der Einrichtung sowohl aufgrund von fachlichen Überlegungen wie auch für die Leistungsdokumentation im Rahmen der Eingliederungshilfe und des Heimgesetzes ein Konzept zur Betreuungsplanung entwickelt,
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welches auf dem HMB-W basiert. In der Folge findet ‚Hilfeplanung’ nicht nur zum Ende eines Bewilligungszeitraumes für den Leistungsträger statt, sondern ist Bestandteil des Selbstverständnisses der Einrichtung. Insofern stellen die nachfolgenden Ausführungen im Sinne qualitativer Forschung ‚mögliche’ Wirkungen der Individuellen Hilfeplanung im Unterstützten Wohnen dar. Sie sind eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt der flächendeckenden Einführung des Hilfeplanverfahrens und der Rahmenzielvereinbarung des LWV, einem Moment also, der in den Einrichtungen und Diensten für Veränderungen und damit verbundenen Unsicherheiten und Routinebrüchen verbunden war. Das Konzept der Individuellen Hilfeplanung wird in der Folge von den Fachkräften zum Zeitpunkt der Untersuchung als ein Konstrukt erlebt, welches den gesamten Arbeitsalltag durchzieht und dabei strukturierende, wie normierende Wirkungen entfaltet. „Ja, die ganze Hilfeplanung ist ja auch so ein Leitprinzip. Das ist ja im Grunde die Arbeit. Also das ist, das ganze System spielt ja ineinander. Also die Einstufung der Bewohner, dadurch die sich ergebende Hilfeplanung und dadurch unsere Arbeit, wie wir die Hilfeplanung innerhalb der Woche dann strukturieren und was wir sonst alles machen müssen und sollen.“ (GI 22)
Allerdings führt die Verstetigung der Hilfeplanung in den Alltag nicht dazu, dass ‚Hilfeplanung’ unsichtbar in die alltäglichen Arbeitsprozesse eingebunden wird, vielmehr wird durch die Hilfeplanung der Alltag stark vorstrukturiert und erhöht den Planungsaufwand für die Mitarbeiter/innen. In der Umsetzung der Vorgaben hat sich beispielsweise die 1:1 Betreuung bei der Durchführung von Hilfeplanmaßnahmen mit einem festen Wochenplan für alle Beteiligten etabliert. Für sie ist der Hilfeplan der Nutzer/innen nicht nur eine Orientierungshilfe für eine angemessene und individuelle Unterstützung, sondern ein konkreter und detaillierter Arbeitsauftrag, welcher exakt zu erfüllen ist. Individuelle Hilfeplanung wird dabei als fester und verpflichtender Bestandteil der eigenen Arbeit aufgefasst, der allerdings nicht aus dem eigenen fachlichen Selbstverständnis motiviert ist, sondern als von außen (der Leitung/ dem LWL) auferlegt wahrgenommen wird (GI 9, GI 16, GI 29). „Also, man braucht ein gutes Zeitmanagement, man muss sich die Arbeit gut einteilen […]“ (GI 1; vgl. auch GI 29). Für das gruppengegliederte Wohnen bedeutet dies eine zusätzliche Einschränkung individueller Freiheit für die Nutzer/innen, denn „wenn ein Bewohner dann sagt, ‚ich möchte heute nicht, aber morgen’, dann hat man einfach schon ein Terminproblem. Ja, dann geht es nicht, weil dann hat man ja schon wieder den Bewohner x-y, der dann eben zeitgleich seinen Hilfeplan hat und ich denke, es wäre dann eine Zumutung zu sagen ‚Weist du was x-y? Möchtest du eventuell tauschen?‘“ (GI 10)
Die Mitarbeiter/innen stellen fest, dass ihnen dadurch Flexibilität verloren geht und der eigene Anspruch, allen Nutzer/innen individuell gerecht zu werden, im Alltag schwer umzusetzen ist. Sie erleben sich deshalb als fremdbestimmt durch die Strukturierung der Individuellen Hilfeplanung im Alltag. Auch inhaltlich gehört die Durchführung von Hilfeplanmaßnahmen nicht zu den Routineaufgaben, die ‚nebenbei’ erfüllt werden können, sondern stehen im Zentrum der Unterstützungsarbeit. Die Durchführung der Maßnahmen wird als Fachaufgabe wahrgenommen, deren Erfüllung zunächst den jeweiligen Bezugsmitarbeiter/innen der Nutzer/innen obliegt. Einzelabsprachen mit Nutzer/innen im Rahmen der Hilfeplanung werden zwar den anderen Mitarbeiter/innen bekannt gemacht und dokumentiert, aber in der Regel nicht in einem
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größeren Kreis besprochen (vgl. GII 4, GII 5). Dadurch wird diesen Maßnahmen eine besondere Bedeutung beigemessen, die aber auch dazu führt, dass sie fast vollständig in die Verantwortung der Bezugsmitarbeiter/innen übergeht, was zu Problemen beispielsweise in Vertretungssituationen führt (vgl. GI 31, GI 35). In gewisser Hinsicht wird die strukturierende Wirkung der Individuellen Hilfeplanung auf den Alltag als positiv erlebt und die Mitarbeiter/innen vermuten, dass auch die Nutzer/innen diese Strukturierung positiv bewerten, da sie ein Sicherheitsgefühl vermitteln kann (vgl. GI 20; G I 17). Dabei scheint eine grundsätzlich positive Beziehung zwischen dem/der Nutzer/in und dem/der Mitarbeiter/in und die Art und Weise, wie beide die Unterstützung gestalten, für die Bewertung ausschlaggebend zu sein. So unterscheiden die Fachkräfte prinzipiell zwischen ‚schöner’ und ‚nicht-schöner’ Hilfeplanung (wobei als nichtschöne Hilfeplanung häufig Situationen genannt werden, in denen es um Trainingsmaßnahmen für ein selbständiges Wohnen geht, wie z.B. die Reinigung der Wohnung oder Wäschepflege). Allerdings wird eingeschränkt, dass auch eine Pflichtaufgabe wie das ‚Kochtraining’ zur schönen Hilfeplanung werden kann, wenn es beispielsweise von den Nutzer/innen genutzt werden kann, um Freunde zum gemeinsamen Essen einzuladen (vgl. GI 19) oder wenn die regelmäßige Dusche zu einem ‚Wellness-Event’ ausgebaut wird (vgl. GI 12). Bei diesen Beispielen liegt allerdings die Begründung für die positive Bewertung der Hilfeplanung nicht in den im Hilfeplan formulierten Zielen für die jeweilige Tätigkeit, sondern in der Befriedigung darüber hinaus gehender physischer, sozialer und emotionaler Bedürfnisse. Es zeigt sich, dass die Unterstützung in der Umsetzung nur schwerlich einer Zielsetzung zugeordnet werden kann, sondern tatsächlich je nach Gestaltung unterschiedliche Zielsetzungen bedienen kann. Zudem wird der langfristige Nutzen der Hilfeplanmaßnahmen eher kritisch bewertet: „Die ganze Hilfeplanung, wenn die jetzt alleine leben würden, ich glaube, da würden die nicht mit klar kommen. Das würde alles wieder fallen gelassen. […] Die wüssten auf einmal nicht mehr was sie einkaufen sollen, die wüssten auf einmal nicht mehr, wie gewaschen wird, die würden auch nicht mehr putzen. Ich glaub, dass wäre dann alles für die Katz gewesen.“ (GI 24)
Neben der ‚planmäßigen’ Durchführung der Hilfeplanmaßnahmen scheinen auch ‚Ausnahmen’ für die Stabilität der Hilfeplanung im Unterstützungsalltag notwendig zu sein. Ausnahmen können die Mitarbeiter/innen gewähren, wenn beispielsweise die Stimmung in der Gruppe und das Verhalten der Bewohner/innen von den Mitarbeiter/innen als belohnenswert erachtet werden. Für die Gewährung von ‚Ausnahmen’ gibt es aber keine allgemeinen Regeln. Vielmehr bestätigen sie den machtvollen Status der Mitarbeiterinnen. „[…], aber dann sagt man ‚ach komm, wir gehen heute mal in die Pommesbude‘ oder so was. Muss ja auch mal sein, denke ich. Anstatt Kochtraining zu machen. Dann sage ich immer zu dem Bewohner, ‚Eija, wir haben heute wieder gut gekocht, oder?’ ‚Ja!’ sagt er dann immer.“ (GI 28) So dienen die Ausnahmen dazu, gemeinsame Erlebnisse zu produzieren, Vertrauen herzustellen und möglicherweise Differenzen und Konflikte zu entschärfen. Eine Abweichung vom Hilfeplan als Manifestation einer den Alltag strukturierenden Ordnungsmacht ist demnach besonders gut geeignet, um sicherzustellen, dass die Nutzer/innen die Mitarbeiter/innen akzeptieren und positiv wertschätzen. Zugleich wird durch den Ausnahmecharakter einer spontanen Planänderung grundsätzlich die Legitimität und Ordnung des Hilfeplans anerkannt und dadurch schließlich sogar bestätigt. Der Hilfeplan wird auf diese Weise aber zugleich zu einem Machtmittel der Mitarbeiter/innen, mit dessen Hilfe sie
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das Verhalten der Nutzer/innen beeinflussen können. Indem sie den ‚Hilfeplan’ kurzzeitig aussetzen und Abweichungen vom Plan als ‚Belohnung’ oder auch ‚Befriedungstechnik’ einsetzen können, bestätigen sie die Notwendigkeit der Durchführung von Hilfeplanmaßnahmen und sichern ihren eigenen Status in der Unterstützungsbeziehung. Ausnahmen müssen deshalb selten bleiben, um als Bestätigung der Position der Mitarbeiter/innen und des Hilfeplans wirksam sein zu können. Die subjektivierende Wirkung hierarchischer Überwachung und Normierung tritt hier offen zu Tage. Es wird nicht hinterfragt, ob die Kategorisierung und Standardisierung des Hilfebedarfs grundsätzlich dem Anspruch einer bedarfsgerechten Unterstützung im Einzelfall gerecht werden kann und inwieweit strukturelle Probleme durch den Hilfeplan individualisiert werden. Schließlich wird auch der eigene Umgang mit dem Instrument und auf welche Weise dieser die Beziehung zu den Nutzer/innen beeinflusst, kaum hinterfragt. Geplante Unterstützungsleistungen im Rahmen der Hilfeplanung stehen zudem in einer stetigen Konkurrenz zu anderen Unterstützungen, die erst in der konkreten Situation erforderlich werden. „Ja, es ist schon so, wenn dieses Pärchen meinetwegen Schwierigkeiten hat und Probleme in der Beziehung hat und (hängt) nur Zuhause und eigentlich bin ich zum Putzen in der Wohnung, dann natürlich. Dann bespreche ich das erst mit denen. Denn sonst könnte man das gar nicht. Aber sonst. Eigentlich, finde ich, sind wir schon angehalten, uns an die Hilfeplanung und an die Termine zu halten.“ (GI 29)
Der Konflikt ergibt sich für die Mitarbeiter/innen aus der Leitvorstellung in der Behindertenhilfe, die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen fördern zu wollen, die sie für ihre Arbeit akzeptieren und verinnerlicht haben. So müssen Sie entscheiden, welchem ‚selbstbestimmten’ Interesse der Nutzer/innen sie in einer konkreten Situation Vorrang einräumen wollen. Es liegt in der fachlichen Kompetenz der Fachkräfte, zu entscheiden, ob sie auf der Durchführung der verabredeten Hilfeplanmaßnahme bestehen oder auf die momentanen Belange der Nutzer/innen eingehen sollen. Sie müssen dabei zudem zwar in erster Linie die situativen mit den langfristigen Interessen der Nutzer/innen abwägen, in zweiter Linie aber auch die Interessen der Einrichtung und des Leistungsträgers zu berücksichtigen, die letztlich in der Existenz des Hilfeplans zum Ausdruck kommen. Die konfliktbehaftete Frage, ob in einer konkreten Situation eine geplante Hilfeplanmaßnahme oder eine spontane Aktion ausgeführt werden soll, kann deshalb so weit gehen, dass die gemeinsam vereinbarten Ziele der Hilfeplanung gegen die Nutzer/innen ausgespielt werden und so der damit intendierte Gedanke der Stärkung von Selbstbestimmungsrechten konterkariert wird. Verweisen die Mitarbeiter/innen auf die Individuelle Hilfeplanung, so zitieren sie diese als Vereinbarung, der der/die Bewohner/in freiwillig zugestimmt hat „Ich hab dann gesagt: ‚Ne, natürlich bin ich nicht immer so ordentlich. Aber ich bin jetzt nicht hier dran. Sondern es geht um deine Wohnung hier und du hast gesagt, du willst die Hilfeplanung, ich will mein Zimmer in Ordnung halten.“ (GI 15) Indem die Wünsche der Nutzer/innen als kompatibel mit den Interessen der Leistungsträger erscheinen, wird es möglich, von den Nutzer/innen in der konkreten Unterstützungssituation Bedürfnisaufschub zu verlangen und so die Durchführung der Hilfeplanung gegen den momentanen Willen Nutzer/innen durchzusetzen. Der selbstverpflichtende Charakter der Hilfeplanung wird so tatsächlich als Druckmittel für die Durchsetzung von Vereinbarungen genutzt, denen die Nutzer/innen nicht viel entgegen zu setzen haben, außer eine solche Situation zu verlassen
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(vgl. GI 14). Individuelle Hilfeplanung wird als Selbstverpflichtung der Nutzer/innen gedeutet, bei den vereinbarten Maßnahmen mitzuarbeiten. Sie unterwerfen sich freiwillig und geben damit einzelne Rechte im Rahmen der Unterstützungsbeziehung an die Mitarbeiter/innen ab. Eine Verweigerung, ‚Tricksereien’ oder egoistische Forderungen können deshalb als Vertragsbruch oder, um in den Begrifflichkeiten pastoraler Machttechnologien zu sprechen, als ‚Sünde’ aufgefasst werden. Hier werden subjektivierende Techniken der Macht deutlich. Zugleich zeigen Widerstände von Nutzer/innen gegen die vereinbarten Maßnahmen die Brüchigkeit der gemeinsamen Vereinbarung, denn in einzelnen Situationen stellen die Nutzer/innen die Legitimation der Mitarbeiter/innen als ausführendes Organ des Hilfeplans in Frage (vgl. GI 15). Indem die Bewohnerinnen dabei aus der habitualisierten Interaktion heraustreten, erkennen sie den Mitarbeiter/innen die Macht ab, über ihre Handlungen zu entscheiden. Im pädagogischen ‚Jargon’ fordern sie eine Kommunikation ‚auf gleicher Augenhöhe’ ein. Dies löst bei den Fachkräften eine starke Handlungsunsicherheit aus, weil die gängigen Kommunikationsmuster von Anweisung und zustimmendem Gehorsam, die als ‚symbolische Gewalt‘ (vgl. Bourdieu 1973) von beiden Seiten anerkannt werden, kurzzeitig durchbrochen wird. Allerdings ist dieser Bruch nicht von Dauer, denn die Mitarbeiter/innen können durch den Verweis auf die Instanz des Hilfeplans, die zugleich von außen (durch Anforderungen des Leistungsträgers) und von innen (als gemeinsame Vereinbarung von Nutzer/in und Mitarbeiter/in) auf die Arbeit einwirkt, die ursprüngliche Ordnung wieder herstellen: „(…) auch schon sagen, Anwältin für das Haus sein oder Anwalt fürs Haus, zu sagen: ‚Wenn du deinen Hilfeplan nicht machst, muss du hier ausziehen’“ (GI 6). Es scheint sich eine Art Bewertungshierarchie von unterschiedlichen Unterstützungsleistungen zu entwickeln, bei der denjenigen Unterstützungsleistungen eine höhere Priorität eingeräumt wird, die direkt in der individuellen Hilfeplanung einer Person formuliert sind (vgl. GII 2, GII 3). Eine geringere Priorität scheinen demgegenüber solche Leistungen zu genießen, die nicht als ‚Hilfeplanung’ deklariert wurden und bei denen die Förderung von Selbstständigkeit nicht unmittelbar erkennbar ist, sondern eher durch die Form der Ausführung realisiert wird (bspw. bei Hilfen bei der Körperpflege) (GII 3). Die Bewertung und Hierarchisierung von unterschiedlichen Unterstützungsleistungen im Hinblick darauf, ob sie ‚hilfeplanrelevant’ sind oder nicht, führt in den Interviews zu der Frage nach einer gerechten Ressourcenverteilung für Nutzer/innen mit unterschiedlichen Hilfebedarfen (vgl. GII 2, GII 3, GII 6). Aus den Aussagen der Mitarbeiter/innen entsteht der Eindruck einer bevorzugten Behandlung von Personen, die langfristig für das ambulant betreute Wohnen vorgesehen sind, gegenüber Personen, die komplexe Hilfeleistungen benötigen und deshalb voraussichtlich langfristig stationäre Unterstützung erhalten werden. Dabei werden auch unterschiedliche Formen der Unterstützung für diese beiden Zielgruppen unterstellt (vgl. GII 1, GII 2, GII 3). Während für die ‚mobilere’ Gruppe Hilfestellungen des Alltags (z.B. beim Einkaufen) im Rahmen von Hilfeplanung mit zusätzlichen Ressourcen ausgestattet werde, würden die alltäglichen Hilfestellungen für die Menschen mit komplexen Hilfebedarfen (z.B. Hilfe beim Ankleiden) als Basisversorgung mit den regulären Ressourcen geleistet. Dabei scheinen neben der personenbezogenen Zuordnung von Personalressourcen auch konzeptionelle Überlegungen eine Rolle spielen (vgl. GII 6). Inwiefern diese Vermutung der Interviewpartner zum Interviewzeitpunkt objektiv gerechtfertigt war, konnte nicht abschließend geklärt werden. Für die vorliegende Fragestellung ist aber nicht eine möglicherweise ungleiche Ressourcenverteilung von Bedeutung, sondern,
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dass die mit der Hilfeplanung des Leistungsträgers verbundene Finanzierungssystematik zum Zeitpunkt des Interviews bei den Teilnehmer/innen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und Legitimation von einzelnen Unterstützungsleistungen aufgeworfen hat. Durch die Durchführungsverantwortung im Rahmen der Hilfeplanung, deren Einhaltung von der Leitung überprüft und bestätigt wird, greift der Einfluss der Leistungsträger direkt auf die Arbeit der Mitarbeiter/innen durch. Die Leitung wird dabei von einigen Interviewpartner/innen in diesem Zusammenhang als Disziplinarinstanz wahrgenommen, welche die Vorgaben des Leistungsträgers durchsetzt. Dabei werden pastorale Regierungstechniken eingesetzt, indem bei einer Missachtung von Vorgaben nicht bestraft, sondern zu einem ‚Gespräch’ eingeladen wird. Die Mitarbeiter/innen müssen dann ihr Handeln darstellen und rechtfertigen (‚beichten’) und können entweder mit der ‚Absolution‘ (in begründeten Ausnahmefällen darf zum Wohl der Nutzer/innen von Regeln abgewichen werden) oder mit ‚Bestrafung‘ (Missbilligung, Personalvermerk, in besonderen Fällen Abmahnung) sanktioniert werden. Die Technik des Gesprächs selbst erhält durch den Zwang zur Selbstauskunft den Charakter einer Sanktionierung und wird deshalb durch die Einhaltung der Hausregeln, Dienstvereinbarungen von den Mitarbeiter/innen möglichst vermieden. Die Mitarbeiter/innen übernehmen so ihre eigene Überwachung im Sinne der Disziplinarmacht. Auch darin, dass die Leitung Bezugsbetreuungen nach Wünschen der Nutzer/innen und Kapazitätsüberlegungen, nicht aber nach Wünschen der Mitarbeiter/innen zuordnet, wird dies deutlich. In den Augen der Mitarbeiter/innen sind weniger ihre eigenen fachlichen Leistungen maßgeblich, als die Zufriedenheit der Nutzer/innen. Darauf haben sie zwar Einfluss, aber nicht unbegrenzt, wenn sie zugleich das Langfristziel der ambulanten Betreuung für die Nutzer/innen erreichbar machen wollen. 11.5.2 Bedeutung von Regeln Regeln sind in den Gruppeninterviews ein wichtiger Bestandteil der Arbeit. Für alle Nutzer/innen wurden im Laufe der Zeit individuelle Regeln festgelegt, die als gemeinsame Absprachen deklariert und dadurch legitimiert werden. „Es gibt, glaube ich, für jeden einzelnen Bewohner ein bestimmtes Regelwerk. Würde ich mal sagen.“ (GI 30, vgl. auch GI 35) Auf diese Weise wird das Verhalten der Nutzer/innen beobachtbar und bewertbar. Von den Nutzer/innen wird erwartet, dass sie die vereinbarten Regeln ‚einsehen’ und akzeptieren. Einschränkungen und Verbote sollen von den Bewohner/innen als sinnvolle pädagogische Maßnahmen anerkannt werden. Darin liegt auch ein Aspekt der ‚Absolution’, den die Nutzer/innen den Mitarbeiter/innen für ihre Entscheidungen erteilen sollen und damit ein umgekehrtes pastorales Verhältnis. „Also es gibt Bewohner, die brauchen einfach wirklich sehr enge Grenzen, weil die ihnen ja auch eine Sicherheit geben. Also einen sehr starren Tagesablauf, weil diese Routine ihnen ganz klar auch sagen das kommt als nächstes und da brauche ich mir keine Gedanken zu machen, da hab ich dann auch keinen Stress mit und keine Probleme. Und andere Bewohner, bei denen kann man das offener gehalten. Da kann man dann schon mal sagen: ‚Ok, dann eben heute nicht, aber dafür dann nächstes mal’, oder eben auch wirklich an die Einsicht appellieren, wenn das eben nicht so läuft, wie es eigentlich gut wäre, dann wird dieses und jenes funktionieren.“ (GI 7)
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Indem sie als ein notwendiges Element der Förderung der/des Nutzers/in interpretiert werden, bekommen Regeln den Charakter einer quasi natürlichen Folge individueller Verhaltensweisen. Dadurch wird aber auch verschleiert, dass die personenbezogenen Regeln auf den Situationsdeutungen der Mitarbeiter/innen basieren und tatsächlich soziale Konstruktionen darstellen. Regeln werden so an die Person der Bewohnerinnen gekoppelt und individualisiert, anstatt sie als soziale Regeln wahrzunehmen. Der sanktionierende Charakter von individuellen Regeln, die tatsächlich Einschränkungen der persönlichen Freiheit sind, wird dadurch verdrängt. Es entsteht so etwas wie eine normative Unterscheidung in ‚Nutzer/innen, mit denen man etwas aushandeln kann’ (meint, sie halten sich an Regeln), und ‚Nutzer/innen mit denen man nicht aushandeln kann’ (meint, sie halten Regeln nicht ein). Auf diese Weise werden die Nutzer/innen für den Gruppenalltag kategorisiert und die Mitarbeiter/innen erhalten eine Handlungsorientierung im Umgang mit den Nutzern/innen. Dabei wird ein Verhalten erst durch eine entsprechende Deklaration in der Überwachung zur Regelübertretung. Durch eine umfassende Dokumentation (durch Übergabe, Protokolle, Absprachen) versuchen die Mitarbeiter/innen deshalb möglichst viele Ereignisse zu erfassen und betreiben dadurch nicht nur die Kontrolle der Nutzer/innen, sondern zugleich eine freiwillige Selbstkontrolle, sowie Kontrolle der Kollegen/innen. Die Bedeutung von Strukturen und Regeln werden auch deutlich in der immer wieder formulierten Befürchtung, Nutzer/innen könnten die Mitarbeiter/innen für eigene Zwecke (die nicht beispielsweise in der Hilfeplanung vereinbart sind) instrumentalisieren, indem sie Regeln hintergehen oder die Mitarbeiterinnen austricksen (GI 32; GI 33). In solchen Momenten haben die Mitarbeiter/innen (kurzzeitig) nicht die Kontrolle über die Situation, was bei ihnen Unsicherheit auslöst und das gewohnte Machtverhältnis außer Kraft setzt. Es wird deutlich, wie wichtig für die Mitarbeiter/innen ein Sicherheitsgefühl in der Arbeit ist, welches auf einer stabilen Ordnung beruht. Kontrollverlust sorgt bei den Mitarbeitern/innen für starke Verunsicherung. Hier werden Aspekte der hierarchischen Kontrolle im Kontext einer Disziplinarmacht deutlich. Die Mitarbeiter/innen befinden sich in der Regel in einer Position, in der sie in der Lage sind, das Verhalten der Bewohnerinnen zu beobachten, zu bewerten und zu sanktionieren. Wenn sie die Vorkommnisse kennen, können sie kleinere ‚Tricksereien’ der Bewohnerinnen tolerieren, weil sie weiterhin in einer Position sind, von der aus sie notfalls einschreiten können, solange der ‚Trick‘ die Ordnung als solche nicht gefährdet. Anstatt in Konfliktsituationen um die Durchführung der Maßnahmen nach Kompromissen und Optionen zu suchen, versuchen die Mitarbeiter/innen häufig, eine Maßnahme durchzusetzen oder sie gewähren eine Ausnahme von der Regel und setzen damit Hilfeplan kurzzeitig außer Kraft. So sind denn auch die wesentlichen Strategien, um die Ordnung wieder herzustellen als Rückzug oder Verweis auf diese Ordnung charakterisierbar. Hinweise auf die Vorgaben des Kostenträgers (in Extremfällen auch Gerichtsurteile z.B. zur Fixierung oder Einschließung) als ferne Machtinstanz entlasten die Mitarbeiter/innen von persönlicher Rechtfertigung bei Entscheidungen, verpflichten aber sowohl Nutzer/innen wie auch Mitarbeiter/innen auf die Einhaltung von Normen, an deren Entstehung sie nicht beteiligt waren. Indem die Mitarbeiterinnen sich selbst nur als ausführende Kraft, aber nicht als gestaltende Kraft darstellen, nehmen sie die Bedingungen des Hilfeplans als gegeben hin und müssen die Rechtmäßigkeit der Ordnung nicht hinterfragen.
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11.5.3 Normalitätsvorstellungen Individuelle Hilfeplanung produziert ‚normalisierende’ Effekte, indem vermeintliche Vorstellungen einer ‚normalen’ Lebensführung als Maßstab für die Lebensführung der Menschen mit Behinderungen verwendet werden, an dem sich die Ziele der Hilfeplanung, aber auch ihre Verpflichtung zur Mitarbeit bei der Zielerreichung messen lassen müssen. Bleiben diese Normalitätsvorstellungen bei der Aufstellung des Hilfeplans unhinterfragt, so werden sie im Alltag als Brüche und Irritationen oder im Widerstand von Nutzer/innen, sichtbar: „Ja, die Bewohner kennen einen einfach auch schon so gut. Die machen ja selber Witze darüber. Ich war letztends bei euch in der Gruppe und ich so: ‚Oh, da ist ja wieder eine Tasse von Gruppe Z.’ Und da sagte Fm nur: Ja, Bm war wieder unterwegs’. Also, die machen sich auch schon darüber lustig. Das ist halt deren Spaß. Die kennen auch schon unsere Ticks.“ (GI 34; vgl. auch GI 15)
In solchen Situationen wird den Mitarbeiter/innen bewusst, dass Anforderungen an die Nutzer/innen im Rahmen der Individuellen Hilfeplanung z.B. im Bereich der Haushaltsführung manchmal jenseits der eigenen, privaten ‚Normalität’ liegen. „Da denke ich manchmal, da werden auch von außen an uns Ansprüche herangetragen, die wir Zuhause vielleicht auch nicht so, beherzigen. Und die müssen wir natürlich an die Bewohner weitergeben und man muss natürlich immer die Maximalforderungen stellen um die Minimalansprüche befriedigen zu können. @(Und)@, von daher, habe ich manchmal das Gefühl, da fühle ich mich selber nicht authentisch.“ (GI 16; vgl. auch GI 14).
Während von außen gesetzte ‚Normalitätsvorstellungen’ an die Nutzer/innen durch die advokatorische Funktion der Mitarbeiter/innen von ihnen noch erkannt und kritisiert werden, stellen äußere Beurteilungen für die Bewertung der eigenen Arbeit einen wichtigen Maßstab dar. „Oder wenn wir am Donnerstag den Putztag haben und dann kommt die Hauswirtschaftsleiterin und guckt alles nach und die ist @(bestens zufrieden)@. Dann bin ich auch zufrieden.“ (GI 18) In der eigenen Wohnung würden die Mitarbeiterinnen das Lob einer Hauswirtschaftleitung vermutlich als unangemessene Einmischung in ihren Zuständigkeitsbereich bewerten und wissen, wo ihre Stärken und Schwächen in der Haushaltsführung liegen. Die Bedeutung der positiven Bewertung sekundärer Tätigkeiten (wie die Hauswirtschaft) zeigt die Internalisierung von Normen des Ordnungssystems und eine Anpassung an eine hierarchische Überwachung. Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit entsteht weniger durch die Erreichung objektiver Zielgrößen, sondern durch die positive Rückmeldung von Nutzer/innen und anderen Beteiligten und wird somit interaktiv und individuell vermittelt (vgl. GI 21). In diesem Sinn haben die Mitarbeiter/innen Dienstleistung als Dienst am Menschen verinnerlicht und zum Maßstab der individuellen Arbeitszufriedenheit erhoben. Die Bedeutung des Lobs durch lediglich mittelbar Beteiligte ist in Bezug auf die Individuelle Hilfeplanung aber auffällig, denn mit der Individuellen Hilfeplanung soll schließlich auch der Zielerreichungsgrad und damit der Erfolg der eigenen Arbeit besser eingeschätzt werden können. Offenbar ist das Instrument aber für die Zufriedenheit mit der eigenen Leistung kaum maßgeblich.
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Allerdings sind nicht nur unausgesprochene Vorstellungen über eine ‚normale’ Lebensführung in der Hilfeplanung enthalten, sondern ihr liegen auch bestimmte Vorstellungen über die Fähigkeiten der Menschen mit Behinderungen zu Grunde. „Aber andererseits man hat es immer auch mit erwachsenen Menschen zu tun, man hat es mit Menschen zu tun, die schon auch ein sehr starkes Gespür dafür haben, was sie selber wollen, was gut für sie ist.“ (GI 5) Menschen mit geistiger Behinderung werden nicht als Kinder, sondern ‚Erwachsene wie andere auch’ gesehen und auch in der gemeinsamen Arbeit so behandelt. Unterstellt wird die Fähigkeit, die eigenen Probleme zu kennen und adäquat benennen zu können, da die Nutzer/innen als erwachsene, gleichartige Menschen gesehen werden. Den Nutzer/innen wird dabei eine ‚Normalität’ im Sinne der Fähigkeiten einer vermeintlichen Durchschnittsbevölkerung unterstellt, die auch dazu führt, dass sie das ‚normale Leben’ mit allen Chancen und Risiken kennen lernen sollen (vgl. GI 5). Individuelle Hilfeplanung fokussiert den Unterstützungsprozess auf die verbale Auseinandersetzung und impliziert, dass die Nutzer/innen als selbstbestimmte und selbstreflexive Individuen sich lautsprachlich zu ihrer Lebenssituation äußern und ihre Belange (weitgehend) selbst vertreten können. Eine Trennung von Handeln und Denken, sowie die Trennung von Tat und Bekenntnis (und Vergebung) werden hier deutlich. Es bleibt aber verdeckt, wenn der Unterstützungsbedarf der Nutzer/innen in der Entwicklung und Wahrnehmung eigener Interessen und der Nutzung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten liegt. „Ich lieg mit ihm im Clinch und sag ihm: ‚Ich will nicht ständig hören, das was ich hören will, du sollst das sagen, was du meinst.’ […]“ (GI 14) In den Interviews ließen sich insgesamt deutliche ‚Normalisierungstechniken’ erkennen. Die Bewertung und Einstufung behinderter Menschen findet einerseits im Rahmen der Ermittlung des Hilfebedarfs statt. Das Ermittlungsverfahren wird dabei von den Mitarbeiter/innen als Ort der Wahrheitsproduktion vollkommen akzeptiert, was sich darin zeigt, dass der anschließende Plan von ihnen möglichst genau umgesetzt wird. Andererseits wird in der Umsetzung der Maßnahmen die Wirkung des subjektivierenden Bekenntnisses deutlich, welches im Erhebungsverfahren eingesetzt wird, indem die Hilfeplanung als gegenseitige Vereinbarung später auch gegen die Nutzer/innen eingesetzt werden kann. Zugleich entstehen in der Umsetzung des Hilfeplans Kriterien der Vergleichbarkeit von Nutzer/innen im Alltag, an denen die Mitarbeiter/innen ihre Unterstützungsleistungen orientieren. 11.5.4 Selbst- und Fremdbestimmung Der ‚Selbstverpflichtungscharakter’, der bereits in der Rahmenzielvereinbarung zwischen Landschaftsverband und Einrichtungsträger festgestellt wurde, wird auch in der Durchführung der Hilfeplanmaßnahmen deutlich. So zeigt sich die gemeinsame Planung von Hilfen nicht nur als Zugewinn an Freiheit und Selbstbestimmung, sondern auch als Zunahme von Anforderungen an die Fähigkeiten der Nutzer/innen und an Selbstverpflichtung. Die betreffende Person muss sich über die Zufriedenheit mit ihrer augenblicklichen Lebenssituation und ihre Wünsche und Interessen für die Zukunft auseinandersetzen und mit einem/r Bezugsmitarbeiter/in austauschen. Hier wird aus der Chance zur selbstbestimmten Zukunftsplanung die Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft, die für die Nutzer/innen deshalb zu einer belastenden Situation werden kann.
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Die Selbstverpflichtung geht auf der Ebene der direkten Unterstützung zudem eine Verbindung mit einem pastoralen Beziehungsverhältnis durch die so genannte Bezugsbetreuung einher, die durch eine emotionale Komponente abgesichert wird. Widersprüche und Brüche im Machtverhältnis können so durch die persönliche Beziehung, sowie die Fürsorge und Verantwortung der Bezugsbetreuer/innen gegenüber den Nutzer/innen verschleiert werden. Der/die Bezugsmitarbeiter/in ‚Hirte’ oder ‚Pastor’ übernimmt in der gemeinsamen Hilfeplanung die Verantwortung für das Wohl und Heil (hier auch Heil im Sinne von heil werden – ein vollwertiger, erwachsener Mensch werden) des/der Nutzer/in, der/die sich in der Hilfeplanung über sich selbst äußert. Die Planungssituation wird deshalb auch von den Mitarbeiter/innen als konflikthaft erlebt, wenn sich Nutzer/innen vermeintlich weigern (womöglich sich aber auch in einer Überforderungssituation befinden), über ihre Interessen und Wünsche mit dem/der Bezugsbetreuer/in zu sprechen: „Und dann versucht der es immer weiter, also er geht immer weiter, immer weiter zurück und sagt nie wirklich das, was er jetzt gerade will und irgendwann platzt ihm dann der Kragen und er knallt die Tür zu und dann haut er ab. […] Es ist halt mein großer Wunsch, trotz dieser Drängelung, die ich immer mache, dass er irgendwann sagt, ‚OK, das ganze Weglaufen nutzt sowieso nichts, lass uns lieber mal zusehen’“ (GI 14)
Es liegt an den Mitarbeiter/innen, die Bedürfnisse und Wünsche der Nutzer/innen zu interpretieren und zu entscheiden, ob diese ‚normal’ oder ‚angemessen’ sind und entsprechende Unterstützung anzubieten oder nicht. „[… ] und am Anfang hab ich mich von ihm bereden lassen, dann hab ich immer auch mal gesagt, ich muss doch mit dem losgehen. Aber jetzt hab ich auch eingesehen, das muss nicht sein. Und dann hat man vielleicht auch manchmal Angst, übersieht man was, ist da wirklich was, nachher mache ich mir Vorwürfe. Aber mittlerweile hab ich das auch gelernt, dass das nicht so ist. Dass er einfach damit leben muss. Er akzeptiert seine Behinderung nicht und meint von einem Arzt zum anderen laufen zu müssen, um Bestätigung zu holen, dass er vielleicht doch was hat, was man behandeln kann.“ (GI 3)
Solche Problemstellungen werden zwar durchaus von den Mitarbeiter/innen als belastend erlebt und zeigen, dass sie versuchen, den Interessen der unterschiedlichen Nutzer/innen gerecht zu werden und dass sie sich verantwortlich für ihre Nutzer/innen fühlen. Allerdings wird dann eine Lösung gewählt, welche die äußerlich wahrnehmbaren Folgen einer individuellen Problemlage betrifft. Die Problemlage selbst erscheint nicht als Gegenstand der Arbeit. Auch inhaltlich fällt die Fokussierung auf bestimmte Themen der Individuellen Hilfeplanung auf, wie die Freizeitgestaltung und die Haushaltsführung, während andere Themen kaum genannt werden. „Ich begleite dich bei deiner Putzaktion oder ich begleite dich zum Einkaufen, ich begleite dich einfach dadurch auf dem Weg zur Selbstständigkeit und ich assistiere dir dabei, je nachdem was du brauchst. Oder, ich berate dich jetzt und sage ‚da bleib mal lieber weg, da laufen ( ) Gestalten herum‘ grob ausgedrückt, ‚von dem Ort halt dich mal fern‘. Das sind so alles Sachen, (die man so sagen würde).“ (GI 4)
Es zeigt sich in den Interviews eine Tendenz, den Schwerpunkt auf das Training von Fertigkeiten und solche Fähigkeiten zu legen, die für eine spätere ambulant betreute Wohnform
11.5 Wirkungen in der Praxis des Unterstützten Wohnens
281
als relevant erachtet werden. Wenn etwas nicht klappt, dann muss noch mehr geübt werden, dann ist die Bewohnerin noch nicht gut genug (nicht das Unterstützungsangebot ist noch nicht gut genug für die Bewohnerin). Tiefer liegende Problemstrukturen und Motivlagen der Nutzer/innen werden dagegen kaum erkannt und bearbeitet (vgl. GI 13). Sowohl strukturell als auch inhaltlich zeichnet sich die Umsetzung der Individuellen Hilfeplanung also eher durch fortgesetzte Vereinheitlichung statt individuell entwickelter Maßnahmen aus. Selbstbestimmung wird von den Fachkräften trotzdem nicht nur als ein Recht und ein Anspruch wahrgenommen, der durch Instrumente wie die Hilfeplanung systematisch in die Arbeit eingebaut werden muss. Selbstbestimmung wird auch als Lern- und Entwicklungsaufgabe wahrgenommen, die oft erst langjähriger Unterstützungsarbeit von den Nutzer/innen realisiert werden kann. „(…) also eigentlich find ich total positiv, dass er mal sagt, was er möchte, weil das lange gedauert hat. Also vier Jahre begleite ich den jetzt. Und das er wirklich so selbstbewusst ist und auch mal nein sagt und so, also das fand ich eigentlich positiv, obwohl ich den ganzen Tag umschmeißen musste.“ (GI 8; vgl. GI 5) Dabei stehen die Mitarbeiter/innen in einem Konflikt zwischen der fachlichen Norm der Selbstbestimmung als Recht und der Dienstleistungsorientierung gegenüber den Nutzer/innen als Kunden/innen der Einrichtung und dem alltäglichen Erleben, dass die Nutzer/innen nicht ohne weiteres in der Lage sind, die damit verbundenen Freiräume für sich produktiv zu nutzen. Das Ideal der demokratischen Unterstützungsbeziehung stellt sich so letztlich als Utopie heraus. Um den Nutzer/innen Entwicklungsmöglichkeiten für die Nutzung dieser Freiräume zu eröffnen, wäre eine intensive pädagogische Arbeit (einschließlich der kritischen Reflexion derselben) notwendig, die mit den Implikationen der Hilfeplanung nicht kompatibel sind. Es entsteht dadurch ein latenter Konflikt zwischen dem eigenen fachlichen Anspruch, Selbstbestimmung zu ermöglichen, aber immer wieder erkennen zu müssen, dass diese Ermöglichung für die Menschen mit einer geistigen Behinderung, für die sie zuständig sind, nur eine ‚negative Freiheit’ darstellt, weil sie (noch) nicht über die Erfahrungen und Kompetenzen verfügen, diesen Freiheitsraum selbstbestimmt auszufüllen. „Weil man ja auch mit seinen alten Vorurteilen vielleicht in die Arbeit rein gegangen ist und auch wenn man die jetzt schon Jahre lang macht, man sieht ja auch immer wieder, wo Bewohner ihre Handicaps haben, ihre Beeinträchtigungen haben und dass es manchmal auch ganz sinnvoll ist, wenn man mal Direktiven ausgibt und die Bewohner würden darauf auch mal hören (…)“ (GI 5).
Weil diese Erkenntnis aber der aktuellen Norm der Selbstbestimmung in der Behindertenhilfe widerspricht, wird sie den Mitarbeiter/innen nur selten bewusst und erzeugt bei ihnen ein Gefühl von Schuld und Inkompetenz, anstatt diese Erkenntnis für die Nutzer/innen zu nutzen. 11.5.5 Hilfeplanung und Ambulantisierung Kurz nach der Durchführung der Interviews trat die erste Rahmenzielvereinbarung der Leistungsträger mit den Wohlfahrtsverbänden in NRW in Kraft mit der Maßgabe, im Vereinbarungszeitraum effektiv 5% der stationären Wohnplätze abzubauen. Bei den Mitarbeiter/innen wirkt dies weniger als Anreiz, denn als Drohung, Nutzer/innen in relativ kurzer Frist so zu trainieren, dass sie ‚fit’ für ein ambulant betreutes Wohnen sind. Der Druck
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11 Exemplarische Vertiefung
durch die Leistungsträger, dass die Bewohner/innen eigentlich ambulant unterstützt werden sollten, wird auf diese Weise in die Interaktion mit Bewohner/innen hineingetragen und individualisiert. „Und es geht quasi, Ziel unsrer Arbeit wird jetzt eigentlich nur noch sein, das für die Bewohner wie für uns in irgendwelche Bahnen zu lenken, dass das einigermaßen klappen kann.“ (GI 26; vgl. GI 23) Die Idee, dass eine dauerhafte ambulante Unterstützung nicht nur das messbare Ziel der Individuellen Hilfeplanung, sondern auch der Lebenstraum der Nutzer/innen ist, ermöglicht es den Mitarbeiter/innen, Nutzer/innen-Zufriedenheit und Leistungsziele miteinander zu vereinbaren. „Aber ich denke mal schon, dass unseren Bewohnern schon bewusst ist, dass wir sie begleiten und gerade in der Trainingsgruppe immer weiter bringen, dass sie irgendwann eventuell mal ausziehen können und das ist ja auch deren großes Ziel, zum größten Teil und dass wir denen dabei helfen. Also so sehen die uns.“ (GI 2) Dabei sehen sie allerdings auch, dass das ambulant betreute Wohnen für viele Nutzer/innen eher ein ideales Fernziel darstellt, denn eine konkrete Option für die mittelfristige Lebensgestaltung: „Und wenn die das dann unbedingt wollen die Bewohner, wobei da eigentlich kaum einer ist, der das wirklich unbedingt zwangsweise will, und alleine eigentlich sowieso schon mal gar nicht […].“ (GI 23) Allerdings haben auch die Mitarbeiter/innen bisher das ambulant betreute Wohnen weniger als konkrete Option und Zielsetzung ihrer Arbeit aufgefasst. „Dass wir auch im Kopf diesen Schritt machen zur Verselbstständigung hin und wirklich auch zum Ausziehen. Ich denke da kommen wir nicht drum rum.“ (GI 25) Die Anforderungen des Leistungsträgers werden so als Aufforderung aufgefasst, die Ambulantisierung als ernsthafte Option und konkrete Zukunft zu durchdenken. Die von außen forcierte ‚Ambulantisierung’ durch den Leistungsträger sehen die Mitarbeiter/innen aber dennoch zwiespältig. Während einerseits der grundsätzliche Gedanke begrüßt wird und die Mitarbeiter/innen die Nutzer/innen in ihrer Selbstbestimmung und Lebensplanung unterstützen möchten, muss ein Auszug aus einem stationären Wohnsetting nach Ansicht der Mitarbeiter/innen an die Gestaltung der Rahmenbedingungen geknüpft werden. So sehen sie zum einen die Gefahr, dass die Ambulantisierung vom Leistungsträger lediglich als Mittel zur Kosteneinsparung gesehen wird und die Nutzer/innen keine ausreichende Versorgung und Unterstützung in einer ambulanten Wohnform erhalten. „Das Problem bei dieser Verselbständigung und Auszieherei wird auch sein, dass sie in Sozialwohnungen kommen, also auch in soziale Brennpunkte und dann in ein Umfeld kommen wo die auch ganz schön ausgenutzt werden für irgendwelche Sachen.“ (GI 27; vgl. GI 23) Zum anderen werden die kritisierten Rahmenbedingungen als kaum beeinflussbar wahrgenommen, so dass letztlich die Fähigkeiten der Nutzer/innen für die Mitarbeiter/innen das entscheidende Kriterium darstellen, ob sie eine ambulante Unterstützung erhalten sollten. „Also von den Bewohnern, die ich […] begleite, da setze ich mich immer schwer für ein, dass sie nicht ausziehen, weil das auf keinen Fall gehen würde. Also das ist dann finde ich auch immer so ein bisschen unsere Aufgabe, die schon immer weiter zu begleiten aber halt auch immer wieder zu sagen, da und da hapert es halt, der könnte zum Beispiel nie alleine einkaufen gehen, weil er überhaupt nicht mit Geld umgehen kann.“ (GI 23; GI 24).
Dabei werden vor allem alltagspraktische Fertigkeiten genannt (obwohl das Hilfeplankonzept der Einrichtung soziale und psychische Aspekte der Lebensgestaltung vorsieht). Psychologische Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz oder des Erwachsenenalters spielen dagegen bei der Nennung von Anforderungen an die Nutzer/innen für das ambulant betreu-
11.6 Zusammenfassung
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te Wohnen keine Rolle. Die Mitarbeiter/innen befürchten, dass sich hinter den Ambulantisierungsbemühungen der Leistungsträger tatsächlich Zwangsmaßnahmen verbergen könnten, die sich nicht mit dem Wunsch und Willen der Nutzer/innen decken und sich weniger als positive Chance und Herausforderung, denn als Überforderung entpuppen könnten (vgl. GI 23). Sie sehen sich deshalb in anwaltlicher Funktion für die Nutzer/innen, um sie vor Schaden durch die falsche Unterstützungsform zu bewahren. In der Folge gilt es als persönliches Versagen von Mitarbeiter/innen und Nutzer/innen, wenn der Versuch einer ambulanten Unterstützung ‚scheitert’ und ein/e Nutzer/in in die stationäre Wohnform zurückkehren muss. Die individuellen Fähigkeiten der Nutzer/innen können nämlich durch die gemeinsame Arbeit beeinflusst werden; die Rahmenbedingungen des ambulant betreuten Wohnens werden dagegen als gegeben hingenommen (vgl. GI 23) (vgl. auch Aussagen der Fachdienste in Unterkapitel 11.4). Dies erzeugt einen Leistungsdruck in der gemeinsamen Arbeit, der sich letztlich im Umgang mit der Hilfeplanung zeigt, wie er zuvor beschrieben wurde. 11.6 Zusammenfassung Die gesetzlichen Vorgaben, die Vereinbarungen und Verordnungen auf Landesebene, sowie das Hilfeplankonzept der Einrichtung und schließlich die internen Absprachen und Regelungen stellen einen Rahmen dar, innerhalb dessen und mit dem die Nutzer/innen und Mitarbeiter/innen eine bestimmte ‚Wirklichkeit der Hilfeplanung’ erzeugen. In schriftlich fixierten Regeln, Hilfeplanung und Leistungsdokumentation werden Subjekte produziert, die einerseits individuell beschreibbar sind und zugleich in Stufensystemen kategorisiert werden können. Durch das geschriebene Wort wird eine Wahrheit über die Nutzer/innen produziert, die zwar immer wieder gebrochen werden kann durch die Routinebrüche, Konflikte und Widerstände der Individuen gegen die regelhaften Abläufe des Unterstützungsalltags, sowie durch das (selbstbestimmte) Handeln der Akteure in den Hilfeplanverfahren. Die Techniken der Wahrheitsproduktion sind aber derart mächtig, dass andersartige Wahrnehmungen von den Fachkräften kaum reflektiert und für eine Veränderung ihrer Unterstützungsarbeit genutzt werden können. Es entstehen Regelmäßigkeiten (wie z.B. im Hinblick auf die Höhe von beantragten, sowie bewilligten Fachleistungsstunden), die die Subjektvorstellungen über Menschen mit Behinderungen (und ihre vermeintlichen Hilfebedarfe) prägen und schließlich eine Ordnung des Unterstützungsalltags produzieren, die über Ausnahmen, Überreden, Sanktionen oder der Verweis auf Selbstverpflichtungen oder äußere Machtinstanzen von den Akteuren/innen im Unterstützten Wohnen immer wieder selbst hergestellt werden. Darin liegt produktive und zugleich regulierende Wirkung. Damit wird Individuelle Hilfeplanung zu einem wirkmächtigen Dispositiv im Unterstützten Wohnen, mit deren Hilfe Menschen geführt werden und zugleich die Führung ihrer Selbst betreiben. Diese Wirkungen zu erkennen, zeigt aber auch die Möglichkeiten des Einzelnen, Kritik zu äußern und in ihr und über sie hinaus zu handeln. Einige Anregungen dazu mögen Diskurse verwandter Disziplinen z.B. zur Pädagogik und Schulentwicklung, aber auch zum Selbstmanagement in der Arbeitswelt bieten, die im folgenden Kapitel skizziert werden.
12 Diskussion der Ergebnisse im Licht der Gouvernementally Studies
„Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragten und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin.“ (Foucault 1992, 15) Im Verlauf dieser Untersuchung konnte Individuelle Hilfeplanung als eine Technik in einem Gesamtprogramm zur Steuerung im Hilfesystem für Menschen mit geistiger Behinderung identifiziert werden, die unterschiedliche Strategien und Techniken, Gesagtes und Ungesagtes miteinander verbindet. Individuelle Hilfeplanung greift in einem gesellschaftlichen Teilbereich unterschiedliche Diskurse auf und führt sie zu einem Geflecht aus unterschiedlichen Wissensbeständen Beziehungen und Praktiken zusammen. Foucault hat für solche Phänomene den Begriff des Dispositivs eingeführt. Dieses Dispositiv gilt es nun im Hinblick auf seine Funktionsweise als Technik moderner Gouvernementalität zu hinterfragen. Im Folgenden werden also Verbindungen zwischen den Ergebnissen dieser Untersuchung und einschlägigen Gouvernementalitätsstudien der Gegenwart aufgezeigt, zum einen, um die Ergebnisse als Bestandteil vielseitiger gesellschaftlicher Veränderungen (vgl. auch Waldschmidt 2003a) und nicht nur als ein Thema des Hilfesystems für Menschen mit Behinderungen auszuweisen, zum anderen, um mögliche Vertiefungspunkte und Aschlussfragen zu eröffnen. 12.1 Politische Ökonomie der Hilfeplanung Neue Formen der Regierung, so wurde in den vorangegangenen Kapiteln deutlich, zeigen sich auch im Feld der Hilfen für Menschen mit Behinderungen, einem Feld, welches bislang vor allem als Feld direkter staatlicher Fürsorge und Kontrolle verstanden wurde. Individuelle Hilfeplanung stellt, so wird nun noch einmal pointiert herausgearbeitet, einerseits ebenfalls eine Konkretisierung neoliberaler Regierungstechnologien im Feld der Hilfen für Menschen mit Behinderung dar, die Regierungstechnologien und Subjektivierungsweisen neoliberaler Gouvernementalität miteinander verbindet. Allerdings gehen Aktivierungs-, Selbstverantwortungs-, und Selbstoptimierungspostulate dabei eine Verbindung mit neuen Formen der Kategorisierung und Kontrolle behinderter Menschen ein, so dass das ‚neoliberale Programm‘ im Hilfesystem für Menschen mit geistiger Behinderung zugleich als Normierungs- und Integrations- und Ausschlussmechanismus wirkt. Am Beispiel Individueller Hilfeplanung zeigt sich, und dies wird in den nachfolgenden Ausführungen zu den typi-
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12 Diskussion der Ergebnisse im Licht der Gouvernementally Studies
schen Elementen Individueller Hilfeplanung noch konkretisiert werden, dass „Entgegensetzungen von Mündigkeit und Unmündigkeit, Autonomie und Heteronomie, die Kontrastierung von Selbst- und Fremdbestimmung, von Freiheit und Macht als Engführungen begriffen werden“ (Weber/ Maurer 2006, 14; vgl. auch Waldschmidt 1999) müssen. Individuelle Hilfeplanung, so konnte herausgearbeitet werden, wird im Kontext von postulierten Modernisierungserfordernissen gesehen, die einen Umbau der Sozialverwaltungen und ihrer Außenbeziehungen nach dem Modell des marktwirtschaftlich operierenden Unternehmens erforderlich machen sollen. Schäper hat umfassend die verschiedenen Elemente dieser ‚Ökonomisierung‘ der Behindertenhilfe beschrieben und die damit verbundenen Ambivalenzen insbesondere für den diakonischen Auftrag kirchlicher Wohlfahrtseinrichtungen herausgearbeitet (vgl. Schäper 2006). Die hier vorliegende Untersuchung stellt dagegen den Versuch dar, anhand eines solchen Elementes (der Individuellen Hilfeplanung) auch die Praxis und damit die Brüche und Verwerfungen einer solch umfassenden Ökonomisierungsthese aufzuzeigen. In Individueller Hilfeplanung und den sie flankierenden Techniken werden zudem auch etablierte Mechanismen des korporatistischen Wohlfahrtsstaates erneut aufgerufen und eingebunden in neue Steuerungsformen. Raithelhuber beschreibt diese als kooperative Formen der Handlungskoordination, die sich vor allem in der Förderung so genannter ‚Politik-Netzwerke‘ zeigen (vgl. Raitelhuber 2006, 166). Nicht rein marktwirtschaftliche Strategien der Deregulierung und Privatisierung seien demnach im Bereich der wohlfahrtstaatlichen Leistungserbringung und Politikgestaltung weiterführend, sondern vielmehr gemischte Netzwerke öffentlicher und privater Akteure. Sie könnten die unterschiedlichen Interessen und Ziele koordinieren und damit das Gemeinwohl erhöhen 49. Es entsteht dabei eine Vereinbarungs- und Vertragskultur, die aus Regulierungs- und Deregulierungselementen besteht (vgl. Forneck/ Franz 2006, 222) und auf Verpflichtung und Gegenverpflichtung beruht (vgl. Dzierzbicka 2006, 199 ff). So zeigten die beiden vorangegangenen Kapitel, dass sich das System der Hilfen nicht vollkommen marktförmig strukturiert. Die Bildung von Konsens bei gleichzeitig bestehenden unterschiedlichen Interessen wird dabei zu einem Hauptmerkmal dieser politischen Ökonomie in der Behindertenhilfe. Sie zeigt sich in Praktiken der Gewährung von Anreizen, von Quotierungen, Budgetverhandlungen und Ausschreibungsverfahren auf der überinstitutionellen Ebene und in Managementstrategien der Qualitätssicherung und Effizienzsteigerung auf der institutionellen Ebene 50. Strategien indirekter Kontrolle (Dokumentationen und Evaluationen) und Selbstkontrolle (Steuerungsgruppen und Qualitätszirkel), knüpfen dabei ein Netz, das Kritik ausschließt, da die Kontrollierten selbst die Kriterien und Praktiken der Kontrolle entwickeln. So formieren sich Leistungsträger (in Anlehnung, aber nicht vollständiger Übernahme des ‚Neue Steuerungsmodells‘) und Leistungserbringer sowohl in ihrer innerbetrieblichen Organisation und Selbstdarstellung, wie auch in ihren Außenbeziehungen neu, aber ohne sich aufzulösen. Paradoxe Argumentationen und Wiedersprüche bleiben so verdeckt: Hinter der Vereinbarungskultur entsteht ein Kampf um die Frage, wer legitimen Anspruch auf die Vertretung der Interessen behinderter Menschen hat. Die bisherige ‚Sorge 49 Am deutlichsten wird die von Raitelhuber erkannte Strategie der Unterstützung von Politik-Netzwerken im Unterstützten Wohnen für Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Diskussion um die Angebotsplanung und in der Etablierung örtlicher Teilhabe-Konferenzen, die weniger die Planung individueller Unterstützungsarrangement zum Ziel haben, sondern vielmehr das Bindeglied zwischen individueller Hilfeplanung und sozialraumbezogener Angebotsplanung zum Ziel haben. 50 Dazu insbesondere Bröckling 2007, 215 ff
12.1 Politische Ökonomie der Hilfeplanung
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um das Wohl behinderter Menschen‘ wird zu der Frage, wer von sich behaupten darf, ‚die Interessen behinderter Menschen als selbstbestimmte und aktive Bürger der Gemeinschaft vertreten zu können‘. Bezugspunkte sind dabei nicht nur die ‚Verantwortung‘ gegenüber Menschen mit Behinderungen, sondern zugleich auch die ‚Verantwortung‘ gegenüber der Bevölkerung als Finanzier von Steuern und Versicherungen. Dabei werden vorhandene betriebswirtschaftliche Eigeninteressen der Akteure, (so der Erhalt bzw. die Senkung der Kosten bei den Leistungsträgern, der Erhalt bzw. die Steigerung der Einnahmen bei den Leistungserbringern, die beide als existenznotwendig ansehen) in den Hintergrund gerückt. Die Entwicklung und Implementierung politischer Entscheidungen werden so als Lösungen für gesellschaftliche Problemstellungen von öffentlichem Interesse begründet und damit normativ aufgeladen. Bevölkerung wird dabei zu etwas, das zugleich Ziel und Ausgangspunkt des Regierungshandelns ist. Gegenüber der Bevölkerung als Souverän des Regierungshandelns müssen die Ausgaben des Sozialsektors dokumentiert und begründet werden, zugleich muss die Bevölkerung in ihrem Verhalten gesteuert werden (vgl. Raithelhuber 2006, 169). Im Zuge der Argumentation aktualisiert und konkretisiert Individuelle Hilfeplanung Selbstbestimmungs- und Empowermentdiskurse, welche von den Betroffenenbewegungen seit den 1980er Jahren in die öffentliche Debatte eingebracht wurden. Wie andere Soziale Bewegungen auch sind sie Betreiber gesellschaftlichen Wandels und als Widerstand gegen die Regierungstechnologien ihrer Zeit diesen zugleich unterworfen (vgl. Weber, 2006). Hier sei vergleichend auf die Arbeiten von Bührmann (2004) und Weber (2006) hingewiesen. Bührmann (2004) arbeitet ein Feld von Macht und Wissen deutlich heraus, in dem sich die Kategorie ‚Geschlecht‘ Ende des 19. Jahrhunderts als männliche Geschlechtsidentität herauskristallisiert. Während das männliche Geschlecht als in sich stimmig und allgemeinmenschliches Konstrukt konzipiert wird, wird das weibliche Geschlecht als dazu ins Verhältnis zu setzendes Konstrukt verstanden. Die Frauenbewegung entsteht so als ein Kampf der Frauen um eine eigene weibliche Geschlechtsidentität, der sich in diskursiven wie nicht diskursiven Praktiken und Ebenen zeigt. Weber (2006) arbeitet dann Transformationen der Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts heraus. Die Forderungen nach Autonomie, politischer Partizipation, Selbstorganisation und selbstbestimmter Lebensführung stellen nach Weber eine Hintergrundfolie dar, vor der ‚Frauenförderung‘ zu einer Technik neoliberaler Gouvernementalität wird. Unternehmerisches Denken zur effizienten Nutzung von ‚Humanressourcen‘ bezieht sich dabei ebenso auf die Frauen in Betrieben, wie auf die mütterliche Aufgabe der ‚Förderung von Potenziale‘ von Kindern durch die Familienerziehung (vgl. Weber 2006b, 147 ff). Auch die Forderungen der Betroffenenbewegungen behinderter Menschen bauen einerseits auf der Kritik an einer Konzeption von Behinderung in Abweichung einer normativen Normalität auf (vgl. Waldschmidt 2003b) und sind zugleich Bestandteil ihrer eigenen Transformationen, die Selbstbestimmung zu einer neoliberalen Pflicht werden lassen (vgl. Waldschmidt 2003a). So bilden die Empowerment-Debatten der Behinderten-Selbsthilfebewegung Bröckling (2007) zufolge nur einen Ausschnitt eines umfassenden Empowerment-Diskurses, dessen Transformationen und Wirkungsweisen bis in die neuere Management-Literatur nachvollzogen werden kann. In den Subjektvorstellungen der Individuellen Hilfeplanung spiegelt sich nicht nur der Einfluss der Selbsthilfebewegungen und einer neoliberalen Gouvernementalität, sondern auch der Einfluss der Psychiatriebewegung. Nach heutigen Vorstellungen sind Menschen mit einer psychischen Krankheit oder seelischen Behinderung in ihrem Wesenskern ‚nor-
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12 Diskussion der Ergebnisse im Licht der Gouvernementally Studies
mal‘, d.h. vernünftig, selbstbestimmt u.s.w. und nur ihre psychische Erkrankung hindert sie daran, ein ‚normales‘, ‚gesundes‘ Leben zu führen 51. Geistige Behinderung beinhaltet dagegen die Vorstellung, dass die ‚Andersartigkeit‘ zum Wesenskern dieser Menschen gehöre, so dass zwar die Behinderungsfolgen gelindert werden könnten, nicht aber die Behinderung an sich. Indem die Individuelle Hilfeplanung in der Behindertenhilfe wesentlich durch die Auseinandersetzungen der Psychiatriebewegung mit beeinflusst wird, wird nun die Vorstellung, wenn Hilfen nur sorgfältig geplant und professionell ausgeführt werden, eine ‚Heilung‘ oder zumindest weitgehende Unabhängigkeit von professionellen Hilfen erreicht werden könnte, auf Menschen mit geistiger Behinderung übertragen. So aktualisiert sich in der Individuellen Hilfeplanung eine Hoffnung der ‚Anfangsjahre’ der Heilpädagogik, geistige Behinderung sei ein im Prinzip äußerlicher Makel des Menschen, ähnlich einer Krankheit, die behandelt werden und von dem der Mensch geheilt werden könne. In seinem Wesenskern sei der Mensch dagegen vollkommen. Die letzten 100 Jahre Forschung und Praxis zeigen jedoch die Grenzen der Umsetzbarkeit eines solchen Ansatzes. 12.2 Subjektivierende und normalisierende Praktiken Individueller Hilfeplanung Individuelle Hilfeplanung ist im deutschen Diskursraum, mit wenigen Ausnahmen, vor allem Hilfebedarfsfeststellung mit Hilfe von standardisierten Erhebungsbögen. Zusammen mit den Anforderungen an ein Qualitätsmanagement der Leistungsträger stellen Hilfebedarfsfeststellungen eine panoptische Konstruktion der Produktion und Systematisierung von Wissen dar. Dabei ist für die evaluativen Techniken des Qualitätsmanagements eine Ambivalenz charakteristisch: „Zum einen wird mit ihnen ein reflexives Wissen erzeugt, mit dem Handeln bei komplexer Problemlage sicherer gemacht werden kann. Zum anderen tragen sie unweigerlich zu einer sozialen Verallgemeinerung und Normalisierung panoptischer Praktiken bei.“ (Höhne 2006, 210). Diese Aussage lässt sich am Instrument der Hilfebedarfsstellung deutlich zeigen: Zentral ist für das gesamte Dispositiv Individueller Hilfeplanung die schriftliche Dokumentation der gesammelten Informationen nach einem vorgegebenen Raster, welches vorbestimmt, welche Informationen relevant sind, und welche nicht 52. Dem geht die Annahme voraus, dass nur eine sorgfältige Diagnostik/ Assessment/ Hilfebedarfsfeststellung, dass heißt, die genaue Kenntnis darüber ‚was der Fall ist‘ ermöglicht, die ‚richtigen‘ Hilfen zu entwickeln und zu planen. Individuelle Hilfeplanung stellt insofern eine Informationssammel-Maschinerie über das Subjekt im Hilfesystem dar. Dabei wird einerseits ein umfassender Blick postuliert, andererseits geht es vor allem um das Sammeln möglichst vieler Einzelinformationen, weniger um die Frage ihres Zusammenwirkens und ihre individuelle Bedeutung für die Person. Die Reihenfolge, Gewichtung und Auswahl der zu ermittelnden 51 Dies ist, zugegebener maßen eine sehr vereinfachte und plakative Darstellung, die lediglich die unterschiedlichen alltagstheoretischen Wissensbestände über verschiedene Behinderungsarten als und keine fachwissenschaftlichen Einschätzungen wiedergeben soll. 52 Es wurde (fast) kein Konzept gefunden, indem nicht die schriftliche Dokumentation im Zentrum stand. Diese muss selbst als Machtpraktik verstanden werden, da viele Menschen mit einer geistigen Behinderung (auch aufgrund der Strukturierung des deutschen Schulsystems) keine Schriftsprache beherrschen und damit darauf angewiesen sind, dass ihnen schriftliche Dokumente vorgelesen und erklärt werden. Da auch nicht alle Menschen in gleicher Weise Lautsprache dekodieren können, sind aber auch durch diese Übersetzungen mögliche Machteffekte nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Sie mit-zudenken kann aber vor Macht-Missbrauch bewahren helfen.
12.2 Subjektivierende und normalisierende Praktiken Individueller Hilfeplanung
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Informationen sind vorbestimmt, damit der Hilfebedarf interindividuell vergleichbar wird und auf die bestehenden Angebote abgestimmt werden kann. Das Leben der Person wird auf dabei in mehrfacherweise segmentiert: In Lebensbereiche, die erfragt werden, in die Einzelschritte der Planung und Durchführung und in die wiederkehrenden Planungsdurchläufe. Dabei werden Ausschnitte einer typisierten Vorstellung von der Lebenswirklichkeit behinderter Menschen in standardisierten Formularen festgehalten, so dass diese parzelliert und segmentiert wird, dadurch aber auch eindimensional beschreibbar und interindividuell vergleichbar wird. Die Hilfebedarfsfeststellung muss deshalb als Praktik der Individualisierung und Standardisierung zugleich betrachtet werden. Die meisten im Zuge dieser Untersuchung vorgestellten Hilfeplanungsbögen lesen sich dabei wie die von Bröckling analysierten Selbstmanagement-Ratgeber, die empfehlen, ähnlich einer betriebswirtschaftlichen Buchführung ein Konto der eigenen Fähigkeiten mit einer Soll- und einer Habenspalte der persönlichen Stärken und Schwächen zu führen (vgl. Bröckling 2000, 155 f). Als Unternehmer-seiner-selbst (vgl. auch Liesner 2004) tritt das Individuum zu sich selbst als Produzent und Kunde der eigenen Lebensgestaltung auf. Entsprechend muss auch die ‚Nachfrage‘ detailliert ermittelt werden. „Die Exploration der eigenen Wünsche ist deshalb so wichtig wie die Stärken und Schwächen.“ (A.a.O., 157) Es besteht allerdings ein Unterschied zu dem von Bröckling in den Ratgeberbüchern herausgearbeiteten Typ des Selbstunternehmers. Während dort die Liste kein „genormtes Inventar von Persönlichkeitsmerkmalen“ darstellt, sondern die Selbstmanagement-Programme auf die auf die Norm der Individualität geeicht sind (vgl. ebd.), stellen HilfebedarfsFeststellungsbögen tatsächlich meistens standardisierte Inventare dar. Allerdings ließen sich auch Konzepte finden, die die Individualität zur Norm werden lassen, wenn sie die Trias von Stärken-Schwächen und Zielen eines Selbstunternehmertums verwenden. Der zweite zentrale Unterschied liegt darin, dass die Frage, was mit dieser Lebensbilanz geschieht, nicht in den Händen der Person liegt, sondern Bestandteil eines institutionalisierten Arrangements ist, dem sie sich unterwirft. Darin liegt der panoptische Charakter der Hilfeplanung, da sie von dem Individuum eine Selbstoffenbarung vor dem Hintergrund der Abhängigkeit vom Hilfesystem verlangt. Das Individuum weiß, dass es durch die Individuelle Hilfeplanung zum Gegenstand von Beobachtungen wird, aber weiß nicht genau wann, wie und mit welchem Zweck und kommt deshalb nicht umhin, das eigene Handeln und Denken selbst zu beobachten und daraufhin zu hinterfragen, ob es den Regeln der Beobachter entspricht. Dabei ist also die Art und Weise, wie sich das Subjekt ins Verhältnis zu sich selbst setzt, nicht ihm überlassen, vielmehr soll es sich in einer bestimmten Weise selbst erkennen. Damit dies gelingt, wird das Hilfeplangespräch zu einem weiteren Element der Hilfeplanung. „Sich selbst so zu sehen, wie andere einen sehen, wird zur Voraussetzung dafür, das aus sich zu machen, was man sein will, aber noch nicht ist“ (Bröckling 2000, 154). Grundlage ist ein Bild vom aktiven, selbstbestimmten, rational denkenden und handelnden Menschen mit Behinderungen, der in reflektorischer Distanz zu sich selber gehen kann. Die zweite Voraussetzung ist die Annahme, dass das Individuum sich weiter entwickeln und an sich arbeiten will, um letztlich unabhängig von Hilfe zu werden (vgl. auch Bröckling 2000, 157). Nur vor dem Hintergrund dieser Annahmen wird die Anforderung an das Individuum möglich, eine umfassende Bewertung des eigenen Selbst im Rahmen der Individuellen Hilfeplanung vorzunehmen. Vorhandene Defizite und Beeinträchtigungen müssen deshalb ‚ehrlich‘ und ‚wahrheitsgemäß‘ beschrieben werden, aber nicht, um sie als Bestandteil des
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12 Diskussion der Ergebnisse im Licht der Gouvernementally Studies
eigenen Selbst zu akzeptieren, sondern um sich davon zu distanzieren und die Optimierung des eigenen Selbst betreiben zu können. Die Abhängigkeit von anderen ist also in den meisten Konzepten Individueller Hilfeplanung nicht elementarer Bestandteil des menschlichen Daseins, sondern Ausdruck der Unvollkommenheit des Einzelnen, die es durch Hilfen der Umwelt, aber vor allem durch die aktive Arbeit an sich und mit sich selbst zu überwinden gilt (vgl. auch Karl zur Semantik des aktiven und erfolgreichen Alterns 2006, 306). Ähnlich wie die ‚Beichte‘ bei Foucault soll das Hilfeplangespräch die Person mit Behinderung nun bei dem Bekenntnis dieser Stärken und Schwächen unterstützen (vgl. auch Duttweiler zur Wirkung sozialpädagogischer Beratungssituationen 2007, 268). Die Hilfeplaner/in bekommt die Funktion des ‚Pastors‘, der für das ‚Heil‘ (die Bewilligung der Leistungen) der Person sorgt und in dessen Hände sich die Person begeben muss, um die ‚Absolution‘ bzw. die ‚Anerkennung‘ ihres Bedarfs auf Hilfe zu erhalten. „Einerseits wird in actu ein Wissen über die Lebensführung der Einzelnen hergestellt, es wird eine (situativ angemessene) Wahrheit über den Ratsuchenden produziert, die fortan dessen Lebensführung beeinflussen soll, und andererseits wird das Expertenwissen des Beraters transformiert.“ (a.a.O., 267). Der/ie Hilfeplaner/in soll das Subjekt dazu zu bringen, über sich selbst in einer neuen und gewünschten Weise auszusagen und dadurch dem ‚Unmündigen‘ zur Wahrheit über sich selbst zu verhelfen (vgl. auch a.a.O., 269; Coelen 2006, 258). Dabei stellt das Hilfeplangespräch aber keine Indoktrination oder Manipulation dar. Vielmehr ist die Unterstellung des ‚selber Wollens‘ von Unabhängigkeit und Verbesserung der eigenen Lebenssituation eine wichtige Voraussetzung der Hilfeplanung. Das ‚selber Wollen‘ geht dabei eine günstige Verbindung mit der gesellschaftlichen Forderung des ‚Sollens‘ ein, zum Wohle der Gemeinschaft an der eigenen Unabhängigkeit von Hilfen zu arbeiten. Die Verbindung von individuellen Zielen und Steuerungsinteressen der Akteure stellt die Daseinsberechtigung und den Motor dar, denn Individuelle Hilfeplanung soll kein Repressionsinstrument, sondern ein Hilfsmittel der Selbst-Aktivierung sein. Duttweiler spricht hier von Techniken der Responsibilisierung. Individuelle Hilfeplanung suggeriert dem Individuum, dass die im Gespräch erarbeiteten (und konstruierten) Probleme lösbar seien und dass die Veränderung der Situation nur durch die Selbsttransformation des Individuums erreicht werden kann (vgl. Duttweiler 2007, 270 f). So wird keine direkte Kontrolle und Sanktion benötigt, sondern Individuelle Hilfeplanung operiert mit Kontrollmechanismen zweiter Ordnung (Kontrolle durch Zielvereinbarungen im Hilfeplanung und Durchführungsdokumentation), die möglich wird, wenn die Kontrollierten freiwillig und ehrlich sich selbst dieser Kontrolle unterziehen (vgl. auch Dzierzbicka/ Sattler 2004, 125). Natürlich wird immer wieder eingestanden, dass die Ansprüche an die Mitarbeit und Aktivität des geistig behinderten Menschen von ihm nicht immer realisiert werden können. Sie werden aber als Voraussetzung der Hilfeplanung nicht grundsätzlich als konzeptionelles Problem der Hilfeplanung hinterfragt. Vielmehr bleibt es als individuelles Problem der Person und ihren Unterstützer/innen überlassen, eigenständig Mittel und Wege zu finden, um diese Schwierigkeiten zu überwinden (beispielsweise durch stellvertretende Stellungnahmen, die als Ersatz für die Selbstauskunft der Person unhinterfragte Gültigkeit annehmen, Gesprächstechniken, Visualisierungshilfen). Das selbstbestimmte, aktive Subjekt bleibt aber letztlich nicht nur Ziel der Hilfeplanung (zumindest nach dem Gesetz und den meisten Selbstaussagen in Hilfeplanungskonzepten), sondern stellt seine konzeptionelle Voraussetzung dar. Ein solch verändertes Subjektverständnis erkennen auch Forneck und Franz im aktuellen Qualitätsdiskurs in der Weiterbildung: „War der bzw. die Teilnehmende
12.2 Subjektivierende und normalisierende Praktiken Individueller Hilfeplanung
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noch Gegenstand einer stellvertretenden Beistandschaft durch den Bildungsanbietenden, seine/ihre Emanzipation erst das Resultat von Weiterbildung, so ist die Kundin bzw. der Kunde ‚immer schon emanzipiert‘ und damit unabhängig von den Bildungsanbietenden.“ (2006, 228) Zwar besteht aufgrund der geringeren Anbietervielfalt im Bereich des Unterstützten Wohnens für Menschen mit geistiger Behinderung im Gegensatz zur Weiterbildungslandschaft tatsächlich keine Unabhängigkeit von Anbietern, doch wird auch hier der unabhängige und selbstorganisierte Kunde, den es an sich zu binden gilt, zum Paradigma der Individuellen Hilfeplanung. Strukturelle und gesellschaftliche Ursachen individueller Problemlagen und Problemlösungen bleiben dadurch ausgeblendet und werden der individuellen Verantwortung überwiesen (vgl. Lemke 2007, 56). Zwar werden in neueren Ansätzen zur Hilfeplanung unter Bezugnahme auf die ICF Aspekte des Lebensumfeldes der Person einbezogen, doch bleiben sie letztlich auf das Individuum bezogen und werden nur unzureichend als strukturelle oder gesellschaftliche Probleme in den Blick genommen. Das soziale Umfeld wird so beispielsweise vor allem unter der Perspektive in den Blick genommen, inwiefern Nachbarn, Freunde oder Familie als informelles, engagiertes und möglichst selbstorganisiertes Hilfenetzwerk in das Unterstützungsarrangement eingebunden werden können, so dass sozialstaatliche Leistungen minimiert werden können. Sie stellen somit vielmehr eine weitere Facette des umfassenden und aktivierenden Blicks auf das Individuum dar. Auch die Teilhabe- oder Hilfeplankonferenz stellt einen Bestandteil von Hilfeplanung dar, der einerseits das Individuum als Subjekt neu formiert. Vor allem stellt sie aber den Einzelnen in den Zusammenhang des Hilfesystems und ist damit ein wichtiges Element einer modernen Gouvernementalität im Hilfesystem für Menschen mit Behinderungen. Die Teilhabe- oder Hilfeplankonferenz kann symbolisch als eine Form der Sorge, aber auch der ‚Regierung der Gemeinschaft über sich selbst‘ aufgefasst werden. Sie hat deshalb die Aufgabe und Pflicht, über das Leben des behinderten Menschen zu bestimmen. Da ihr bereits mit dem Hilfeplangespräch und dem Ausfüllen von ‚Bögen‘ ein umfassendes Bekenntnis der Person der eigenen Stärken und Schwächen voraus gegangen ist, hat die Hilfeplankonferenz dieses Wissen über die Person zunächst zu bestätigen (Plausibilitätsprüfung der eingereichten Unterlagen). Die Hilfeplankonferenz ordnet das standardisierte Wissen über das einzelne Subjekt den vorhandenen Angeboten einer Region zu. Deshalb erscheint es notwendig, dass in der Hilfeplankonferenz nicht nur ein Akteur des Hilfesystems vertreten ist, sondern Vertreter möglichst aller beteiligten Akteure gemeinsam die Hilfeplankonferenz bilden und über die ‚Fälle‘ beraten. So wird das so generierte Wissen über die ‚richtige‘ Hilfeform für das Individuum objektiviert und als Ergebnis der Sorge der Gemeinschaft für den Einzelnen legitimiert. Die ‚Regionalisierung‘ der Hilfeplankonferenzen stärkt diesen Aspekt der gemeinschaftlichen Entscheidung, da nicht eine ferne und anonyme Machtinstanz, sondern lokal agierende Akteure die Entscheidung treffen. (Formal liegt zwar die Entscheidung beim zuständigen Leistungsträger, doch die Zahlen in NRW zeigen, dass die Vorschläge der Hilfeplankonferenz in der Regel übernommen werden.) Die Zuordnung des individuellen Falls zum institutionellen Angebot durch die Hilfeplankonferenz entfällt in einigen Bundesländern, wenn die Person bereits vor der Hilfeplankonferenz als Person mit ‚hohem Hilfebedarf‘ und damit als Nutzerin eines stationär betreuten Wohnsettings zugeordnet werden kann 53. Die ‚Sorge‘ gilt also nicht vorrangig 53 Dass, wie für NRW beschrieben, vor allem jene Fälle in der Hilfeplankonferenz besprochen werden, die sich nicht bereits vorab dem standardisierten System der Hilfefälle zuordnen lassen, bestätigt die Zuordnungsfunktion.
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12 Diskussion der Ergebnisse im Licht der Gouvernementally Studies
denjenigen, die besonders umfangreiche Hilfe benötigen, sondern denjenigen, bei denen Veränderungen zu erwarten sind, die an der ‚Grenze‘ zwischen ambulanter und stationärer Hilfe stehen (s.u.) oder von denen bereits vorab bekannt ist, dass sie nur wenig Hilfe benötigen. Die Hilfeplankonferenz konzentriert sich also auf die Flexibilisierung und Optimierung jener behinderter Menschen, die bereits Aktivität und Flexibilität und damit das Potenzial mitbringen, von (professioneller) Hilfe weitgehend unabhängig zu werden. Allerdings zeigt der Blick in die ‚widerspenstige‘ Praxis, dass die Vorstellung der aktiven Beteiligung auch dieses Personenkreises an ‚ihrer‘ Hilfeplankonferenz nur bedingt gelingt. Es werden Machtwirkungen in den Hilfeplankonferenzen jenseits des Partizipationsdiskurses und der postulierten Selbstbestimmung der Betroffenen deutlich. Außerdem zeigen erste quantitative Erhebungen, dass die Hilfeplankonferenz vor allem bereits getroffene VorEntscheidungen durch die Hilfebedarfsfeststellung und das Hilfeplangespräch bestätigt und kaum eigene Steuerungswirkungen entfaltet. Insofern liegt ihrer Bedeutung eher in einer bestätigenden und legitimierenden Funktion vorheriger Beichtpraktiken des Individuums durch die Fürsorgegemeinschaft, als in einer tatsächlichen ‚Fallsteuerung‘. Die Etablierung der Fachleistungsstunde für ambulante Hilfen lässt sich ebenfalls als ein Instrument beschreiben, welches zum einen eine ‚Flexibilisierung‘, zum anderen aber auch die ‚Individualisierung‘ der Hilfen ermöglichen soll. Sie wirft deshalb neue ‚Regulierungsfragen‘ auf. Die mit der Fachleistungsstunde aufgeworfene Frage des ‚Wertes‘ der Unterstützungsarbeit führt zu einer Segmentierung der Arbeit in unterschiedliche Fachlichkeiten (Assistenz, Beratung, Betreuung), die voneinander (zeitlich und personell) abgegrenzt und bewertet werden müssen. Dadurch entstehen höherwertige und niedriger wertige Unterstützungsleistungen, die die Komplexität der Unterstützung behinderter Menschen reduziert auf beschreib- und beobachtbare Einzeltätigkeiten, denen (Fach-)Kompetenzen der Unterstützungspersonen und eine preisliche Bewertung zugeordnet werden können. Die Reduzierung von Hilfebedarfen auf Minutenwerte erzeugt zudem eine Vergleichbarkeit von Hilfebedarfen, die die Messung von Abständen erlaubt und Reihenfolgen ermöglicht. Die betroffenen Menschen mit Behinderungen werden so zu Subjekten, die aufgrund der Summe ihrer benötigten Fachleistungsstunden kategorisiert werden können. Es entstehen Kategorien von Subjekten, die ambulant betreut leben können (und sollen) (Menschen mit ‚niedrigem‘ Hilfebedarf) und solchen, die (nur) stationär betreut leben können (Menschen mit ‚hohem‘ Hilfebedarf). Der dem Subjekt zugeschriebene Hilfebedarf wird ein individuelles Merkmal, welches es vergleichbar mit anderen Subjekten macht und bestimmt, welche Lebensweise ‚gut‘ für es ist (vgl. dazu auch die Kritik von Karl an den Grenzziehungen zwischen ‚jungem‘ und ‚altem‘ Alter; 2006, 302 f). Auf diese Weise wird die ‚Fachleistungsstunde‘ zu einem Instrument, das zu einer neuen Kategorisierung von Menschen mit Behinderungen und ihrer Unterstützung führt, die jenseits der bis dahin gültigen ‚Behinderungsarten‘ und ‚Fachrichtungen‘ existiert. Dass es sich dabei nicht nur um eine terminologische Unschärfe, sondern reale Folgen in der Bewilligungspraxis der Leistungsträger handelt, die sich auf das Behinderungsverständnis der Fachkräfte auswirkt, konnte im vorhergehenden Kapitel dargestellt werden. Die Fachleistungsstunde und ihre Umsetzung ist so ein überaus gestaltendes und wirksames Instrument einer neuen Subjektivierungsform im Unterstützten Wohnen, welches sowohl das Leben des einzelnen Menschen betrifft und die Vorstellungen über Behinderung an sich verändert. Auch wenn nicht alle Menschen mit Behinderungen in einer Hilfeplankonferenz vorgestellt werden, entgehen sie nicht dem ‚normierenden Blick‘, sondern dieser wird lediglich
12.2 Subjektivierende und normalisierende Praktiken Individueller Hilfeplanung
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(aus ökonomischen Effizienzüberlegungen) vorweg genommen. Zudem werden auch diese Personen in der Regel einem Normierungssystem unterworfen, den Hilfebedarfsgruppen. Auch die Hilfebedarfsgruppen stellen letztlich eine Systematik dar, die den Einzelnen im Hinblick auf ausgewählte Merkmale in den Blick nimmt, die Merkmale in ein Punktesystem überführt und dadurch quantifizierbar macht, so dass Abstände gemessen und Kategorien gebildet werden können. Das Kategoriensystem der Hilfebedarfsgruppen stellt eine Analogie zum Leistungstypensystem der Angebote dar, so dass eine unmittelbare Zuordnung der Personen zu jeweils einem passenden Leistungstyp ermöglicht wird (nicht umgekehrt potenziell mehrere Leistungstyp passen könnten, aus denen dann die Person einen auswählen könnte). So wird die Hilfe, die eine Person erhält, zum individuellen Merkmal der Person und zu einem Symbol ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Die Leistungstypen 54 bilden das konzeptionelle Gegenstück zu den Hilfebedarfsgruppen indem sie zu einer Standardisierung des vorhandenen Angebotes beitragen. Die ‚wildwüchsig‘ entstandenen Angebote ambulanter und offener Hilfen der Selbsthilfebewegung werden durch die Leistungstypen eingebunden in das etablierte System der Hilfen. Die Selbsthilfebewegung und ihre Angebote verlieren dabei ihre kritische Position außerhalb des Systems, sondern müssen sich in die Systematik einreihen, um weiter existieren zu können. Dadurch entsteht zwar einerseits bei den etablierten Anbietern ein Druck, sich zu verändern, aber nicht im Sinne einer radikalen Neuorientierung, sondern im Sinne einer Öffnung, die den Fortbestand etablierter Strukturen ermöglicht. Es gilt, neue ‚Kundengruppen‘ zu erschließen und solche zurück zu gewinnen, die sich vom etablierten Angebot (stationärer) Hilfen nicht mehr angesprochen fühlen. Dies führt zu einem Ausbau ambulanter Angebote in Trägerschaft etablierter Anbieter, ohne dass dabei empirisch ein nennenswerter Rückgang stationärer Angebote zu verzeichnen ist und ohne die institutionalisierten Regeln des Zusammenlebens stationärer Wohnangebot hinterfragt werden. Auch wenn Leistungsträger also seit den 1980er Jahren die Strategie der ‚Problembewältigung durch Ressourcenausweitung‘ (vgl. Bäcker/ Heinze/ Naegele 1995, 209 ff; Merchel 2001, 193 ff) versuchen, durch eine Strategie der Effizienzsteigerung zu ersetzen, so zeigen die Beharrungskräfte der Praxis, dass diese nur begrenzt gelingt. Die Fachleistungsstunde, Leistungstypen, Hilfebedarfsgruppen und Hilfeplankonferenz sind stabilisierende Praktiken in der Hilfeplanung, die nicht nur die Trennung von ‚ambulanten‘ und ‚stationären‘ Hilfen letztlich aufrecht erhalten, sondern die Art der Leistung (die tatsächlich immer auch mit dem vor Ort gegebenen Angebot, den Möglichkeiten der Person, ihre Interessen durchzusetzen, den sonstigen Lebensumständen, usw. zusammenhängt), die eine Person erhält, tatsächlich zu einem individuellen Merkmal der Person und einem elementaren Bestandteil des ‚Wissens über die Person‘ werden lassen. Was individuelles Merkmal ist, wird dabei zugleich zum Vergleichspunkt und Ordnungskriterium einer neuen Kategorisierung behinderter Menschen und generiert so ein neuartiges Wissen über die ‚Bevölkerung‘. Was von Waldschmidt (2003) als Übergang zu einem flexiblen Normalismus deklariert wurde, muss insofern im Zusammenhang der neueren Re54 Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, 1. Dass die Leistungstypenbildung keine vom Gesetzgeber vorgesehene Maßgabe ist und dass 2. Sich die gesetzlichen Regelungen für die Hilfebedarfsgruppen inzwischen mehrfach geändert haben (zunächst nur für stationäre Hilfen, dann für stationäre und ambulante Hilfen verpflichtend, inzwischen optional in den Landesrahmenverträgen). ‚Leistungstyp‘ und ‚Hilfebedarfsgruppe‘ sind damit ganz wesentlich Effekte einer Gouvernementalität im Hilfesystem, die zwar vom Recht beeinflusst, aber von den weiteren Akteuren inhaltlich ausgeformt und aktiv genutzt werden.
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gierungspraktiken im Unterstützten Wohnen als neue Form von Integration und Ausschluss diskutiert werden, die sich eines neuartigen Kategorisierungssystems bedient. Menschen mit Behinderungen werden in der Individuellen Hilfeplanung zu Menschen, ‚wie alle anderen auch‘, d.h. vielfältig und unterschiedlich, so dass man nicht von einer Masse ‚Anormaler‘ ausgehen kann, sondern der Blick auf den Einzelnen erforderlich wird. Andererseits scheint insbesondere die Individuelle Hilfeplanung von Leistungsträgern auf ein bestimmtes Subjektkonzept des behinderten Menschen zugeschnitten zu sein. Es beinhaltet, dass er weitgehend selbst über die eigenen Belange entscheiden kann, Risiken und Chancen abwägt, gut informiert ist (oder sich fehlende Informationen besorgen kann), aktiv ist und nach persönlicher Weiterentwicklung und möglichst unabhängig von Hilfen sein möchte. Ähnlich, wie Karl es für die Techniken des ‚aktiven‘ und ‚erfolgreichen‘ Alterns herausgearbeitet hat, fügt sich Individuelle Hilfeplanung in die Logik des ‚aktivierenden Staates‘ ein, die eine Passung zwischen den subjektiven Bedürfnissen nach Möglichkeiten der Lebensgestaltung und Regierungspraktiken herstellt, die auf die Aktivierung der Einzelnen bei gleichzeitigem Abbau sozialstaatlicher Intervention zielt (vgl. Karl 2006, 304). Damit wird aber die Frage der Integration nicht obsolet, wie die Zahlen zum Ausbau ambulanter und stationärer Hilfen zeigen. Vielmehr schließt sie alle jene aus, die nicht in der notwendigen Weise zu diesen Anpassungsleistungen in der Lage sind. Individuelle Hilfeplanung setzt eine ‚Normalität‘ der Behinderung voraus, die andere Seiensweisen menschlichen Daseins, als die des ‚aktivierbaren und selbstorganisierten‘ behinderten Menschen nicht mitzudenken vermag und dadurch neue Mechanismen der Integration und des Ausschlusses schafft (vgl. auch Höhne zu den Exklusionswirkungen evaluativer Verfahren (2006, 215). Individuelle Hilfeplanung als Selbstoptimierungsprogramm bezieht sich letztlich auf die Logik der Pflicht des Einzelnen, am Wohlergehen des Staates mitzuarbeiten und sei es ‚nur‘ mit dem Ziel, möglichst unabhängig von staatlichen Hilfen zu sein. Außerhalb dieser Regierungsweise kann sich nur stellen, wer über ausreichend ökonomische Mittel verfügt, sich anderweitig die benötigten Hilfen selbst zu organisieren, womit die Grundvorstellung des aktiven und selbstorganisierten Behinderten, der unabhängig von staatlichen Hilfen ist, tatsächlich aber bestätigt wird. 55 12.3 Unterstützungspraxis zwischen Unterwerfung und Überschreitung Machtbeziehungen, so zeigt Foucault, entstehen erst in Situationen, im Handeln der Menschen in Beziehungen und sind nicht ‚per se‘ vorhanden. Dadurch entsteht die Führung der Führungen als Möglichkeitsraum für das Handeln der Individuen (vgl. Forneck/ Franz 2006, 220). „Das Subjekt […] verdankt sich zwar machtvollen Diskursordnungen und informierten Machtverhältnissen“, so Rieger-Ladich unter Bezugnahme auf Foucault (1992) „aber parallel zu jenem Prozess, der es gleichsam ins Leben ruft und als Akteur erzeugt, beginnt es diese auf ihre Schwachstellen und Angriffspunkte hin zu mustern“ (2004, 214). 55 In neuer Weise wird hier ein Programm der ‚Brauchbarmachung‘ behinderter Menschen aufgerufen. Möglicherweise ist in den impliziten Grenzziehungen und Kategorisierungen Individueller Hilfeplanung so ein Aspekt zu sehen, der eine Form des ‚sterben machens‘ (Marten/ Simons 2004) all jener beinhaltet, die auch bei der Mobilisierung aller Kräfte, nicht ‚brauchbar‘ gemacht werden können. Da aber nach der Erfahrung des nationalsozialistischen Regimes eine solche Trennung nicht mehr denkbar ist, geht es nun um Strategien der Brauchbarmachung, die nicht mehr als Disziplinierung daher kommen, sondern über die Individualisierung und Selbstbestimmung viel effektiver als ‚Selbstbrauchbarmachung‘ beschrieben werden.
12.3 Unterstützungspraxis zwischen Unterwerfung und Überschreitung
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Individueller Hilfeplanung als Technik neoliberaler Gouvernementalität ist insofern nicht als Herrschaftsverhältnis zu verstehen, sondern als ein lebendiges und durchaus heterogenes Wechselverhältnis aus Diskursen und Praktiken. Die Normalisierungs- und Individualisierungspraktiken im ‚Programm‘ Individueller Hilfeplanung erfahren, so konnten auch die Abschnitte zur Betreuungsplanung und Unterstützungspraxis im vorangegangenen Kapitel zeigen, eine lebendige und vielschichte Umsetzung im Handeln der Menschen. Für den Verlauf von Hilfeplanungsprozessen, so wurde gezeigt, ist entscheidend, wie sich die realen Akteure verhalten, ‚was sie daraus machen‘. Dies ist aber wiederum von Einstellungen geprägt, die nicht nur als reine Subjektivierungseffekte einer neoliberalen Gouvernementalität in der Behindertenhilfe interpretiert werden können. Neben öffentlichen Diskursen spielen Interdiskurse, Alltagsdiskurse und eingelagertes ‚diskursives Wissen‘, welches heute nicht mehr aktualisiert und verbalisiert werden kann, im Handeln der Menschen eine Rolle. Eine ausreichende Erklärung dieser Wirkungen auf Praxis und Wechselverhältnisse unterschiedlicher Diskurse und Dispositive liegt derzeit noch nicht vor und es erscheint fraglich, ob mit Foucault zu dieser Frage zufriedenstellende Antworten gefunden werden können 56. Auch die Frage, ob mit der Unterstellung einer ‚widerständigen Praxis‘ nicht die Vorstellung eines ahistorischen und unabhängigen Subjekts angerufen wird, kann hier nicht abschließend diskutiert werden. Hier scheint der Ansatz von Rieger-Ladich weiterführend zu sein, der vorschlägt, Mündigkeit gezielt als relationalen Begriff zu denken, der „das Zugleich von Abhängigkeit und Widerstand, von Disziplinierung und Aufbegehren, von Unterwerfung und Kritik betont und das Streben nach Überschreitung der existierenden Grenzen bezeichnet.“ (Rieger-Ladich 2002, 441; vgl. Balzer 2004, 29). So lässt sich bereits an der Oberfläche der bereits vorgestellten Interviewaussagen zeigen, dass Macht-Wissengeflechte keine simple ‚Top-Down‘ Wirkung auf die Individuen haben, sondern sie Brüche, Widersprüche und Irritationen hervorrufen, mit denen die Individuen unterschiedlich umgehen. Auch Yates stellte in Interviews mit Bewohner/innen stationärer Einrichtungen fest, dass sie selbst unter den Bedingungen einer ‚totalen Institution‘ (Goffman 1973) Subjektkonzepte entwickeln, die als eine ‚Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Überschreitung‘ der normalisierenden Praktiken ihres Alltags charakterisiert werden können. Caruso zeigt ebenfalls anhand historischer Arbeiten zur Unterrichtspraxis die Unvollständigkeit und strukturelle Fehlerhaftigkeit der Vorstellung einer positivierenden Zwangsläufigkeit der Disziplinarmacht (vgl. 131) und eröffnet damit eine Möglichkeit, Regierung und Freiheit gleichzeitig zu denken. Wesentlich sind seine Erkenntnisse über den fehlerhaften Charakter jeder Machtstruktur, die sich in Über- und Untersubjektivierungen der Individuen zeigen, sowie der ereignishafte Charakter der Subjekthandlungen, die Formen des Widerstandes ermöglichen. Menschen mit Behinderungen rücken durch die Individuelle Hilfeplanung als aktive Subjekte ihrer eigenen Unterstützung in den Blick, was nicht nur für den Planungsprozess, sondern auch für die daran anschließende Unterstützungsarbeit als Fortschritt gewertet wird. Zugleich segmentiert, strukturiert und vereinfacht sie aber auch die Art und Weise wie, mit welchen Fragen und zu welchen Zwecken auf den Einzelnen geschaut wird. Die Lebenssituation wird nach einem einheitlichen Schema beleuchtet und entsprechend diesem Schema die Hilfemaßnahmen geplant. So unterliegt der Individuellen Hilfeplanung die Vorstellung linearer Ursache-Wirkungsmodelle für die pädagogische Arbeit, deren Erfolge 56
Hier mögen Identitäts- und Sozialisationstheorien, oder Bourdieus Arbeiten zu einer Theorie der Praxis weiterführender sein.
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prognostizierbar und planbar werden. „Kontinuierliche Verbesserung verlangt kontinuierliche Leistungsmessung.“ (Bröckling 2007, 233) Rückschritte, Stillstände und ‚Versagen‘ müssen deshalb besonders begründet werden. Da aber zuvor eine sorgfältige Planung stattgefunden hat, die alle Lebensumstände der Person und ihre Kontextfaktoren berücksichtigt, muss die Ursache für solche Fehlentwicklungen nicht in der Planung, sondern der Unterstützung selbst gesucht werden. Damit bezieht sich die Ursachensuche aber nicht nur auf die Arbeit der Unterstützer/innen, sondern auch auf die behinderte Person, die ja aktives Subjekt der Unterstützung ist. Die fortlaufende Dokumentation und die in regelmäßigen Abständen stattfindende erneute Hilfeplanung führen so zu einer fortwährenden Selbstbeobachtung (und Selbstkritik) der Beteiligten (vgl. auch Drinkwater 2005, 237). In der Praxis des Unterstützten Wohnens entwickelt also das Dispositiv Individuelle Hilfeplanung eine Wirkung, die beide (behinderte Person und ihre Unterstützungsperson) handeln und reagieren macht. So können Mitarbeiter/innen die Individuelle Hilfeplanung benutzen, um das Verhalten von Menschen mit Behinderungen zu steuern und die selbstgewählten ‚Selbständigkeitsziele‘ gegen die situativen Interessen der Nutzer/innen ausspielen. Zugleich können Nutzer/innen immer wieder ausbrechen, indem sie die Mitarbeiter/innen mit den an sie gerichteten, (und zum Teil überzogenen) Vorstellungen eines ‚normalen‘ Lebens konfrontieren (vgl. Drinkwater (2005) zur Bedeutung von Normalitätsvorstellungen in der Umsetzung des Konzepts der ‚Valorisation sozialer Rollen‘ im ambulant betreuten Wohnen, 232 f). Sie zeigen sich als durchaus kritische und widerspenstige Subjekte, welche die strukturierende Ordnungsmacht der Individuellen Hilfeplanung in der konkreten Situation in Frage stellen. Caruso hat solche Phänomene als ‚umgangsbedingte Negativität‘ bezeichnet (vgl. 128 f), die zeigen, dass Disziplinartechniken keinesfalls Zwangscharakter besitzen, sondern ihre Wirkung vom Handeln der beteiligten Akteure abhängig ist. Individuelle Hilfeplanung wird als strukturierendes Instrument im Tagesablauf, bei der Dienstplangestaltung und Planung von Einzelaktivitäten der Nutzer/innen, aber auch inhaltlich als Verpflichtung und zentrales Element der eigenen Arbeit wahrgenommen (vgl. auch Pongratz zur strukturierten Lehrplanung im Unterricht 2004, 252). Dabei hat diese ordnende Funktion durchaus auch einen positiven Wert, da insbesondere im stationären Setting durch eine Individuelle Hilfeplanung Raum geschaffen werden kann für Einzelaktivitäten und persönliche Gespräche. Dort, wo Hilfeplanung sich nicht unmittelbar auf das Training einzelner Fähigkeiten, sondern auf die Unterstützung von Selbstbewusstsein, Beziehungspflege, Umgang mit Konflikten, Suche nach angemessenen Problemlösungen usw. bezieht, werden die durch die Hilfeplanung bewusst eingeführten Einzelaktivitäten als hilfreich erlebt. Dies führt aber auch zu neuen Gerechtigkeitsfragen. So taucht die Frage nach der Bewertung unterschiedlicher Unterstützungsleistungen auf (ist die alltägliche pflegerische und hauswirtschaftliche Versorgung weniger wert als die gezielten Einzelaktivitäten im Rahmen von Hilfeplanmaßnahmen?) Hilfeplanmaßnahmen erhalten im Unterstützungsalltag Vorrang vor anderen Aufgaben der Lebensbewältigung und verdrängen ein Verständnis der Komplexität von Lebenslagen, die nur begrenzt in Einzeltätigkeiten aufgespalten werden können. Die Einführung eines speziellen Rahmens für Einzelaktivitäten durch die Hilfeplanung führt dazu, dass diese als besondere Leistungen wahrgenommen werden, die nur im Rahmen von Hilfeplanmaßnahmen stattfinden und nicht als grundsätzlicher Anspruch von Heimbewohner/innen auf eine individuelle Begleitung.
12.3 Unterstützungspraxis zwischen Unterwerfung und Überschreitung
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Indem die ‚Individuelle Hilfeplanung‘ zudem mit der ‚Verheißung‘ verknüpft wird, durch sie (und nur durch sie) könnten die Nutzer/innen langfristig so selbständig werden, dass sie in eine ambulant betreute Wohnform umziehen können, werden beide auf den Erfolg der gemeinsamen Arbeit und zur Disziplin verpflichtet 57. So wird Individuelle Hilfeplanung vor allem als Macht-Instrument wahrgenommen, welches nicht nur die Nutzer/innen diszipliniert, sondern auch die Mitarbeiter/innen. Mitarbeiter/innen erleben sich einerseits in ablehnender Distanz zur Individuellen Hilfeplanung als etwas, das ihnen von außen (dem Leistungsträger und der Leitung) aufgezwungen wird und das sie lediglich ausführen. Andererseits erleben sie sich auch gestaltend und fühlen sich selbstverpflichtet, die Nutzer/innen in ihren vermeintlich selbst gewählten Zielen zu unterstützen. (Diese Unterstützung kann sich dann auch darin ausdrücken, mit den Nutzer/innen Regeln zu ‚vereinbaren‘ oder Bedürfnisaufschub zu erzwingen.) Phasenweise reduziert sich so die Wahrnehmung des Arbeitsauftrags der Mitarbeiter/innen auf die Ausführung von ‚Hilfeplanmaßnahmen‘, durch die die Nutzer/innen ‚fit gemacht‘ werden sollen für das ambulant betreute Wohnen. Die Arbeit fokussiert sich dann auf das Training von Fertigkeiten, die für die alltägliche Lebensführung als notwendig erachtet werden 58. Nutzer/innen werden in diesen Momenten reduziert auf Objekte, die nach vermeintlich selbst gewählten Maßstäben ‚trainiert‘ werden müssen und dazu gebracht werden müssen, sich aktiv an diesem Training zu beteiligen 59. Die Mitarbeiter/innen in den Gruppeninterviews erkannten allerdings Grenzen eines solchen Trainings, da sie davon ausgehen, dass die in den Hilfeplanmaßnahmen ‚antrainierten‘ alltagspraktischen Fertigkeiten wieder verloren gehen, sobald der von den Mitarbeiter/innen gesetzte strukturierende und verpflichtende Rahmen wegfällt. Sie schätzen die langfristige Wirkung solcher Hilfeplanmaßnahmen gering ein, obwohl sie einen bedeutenden Raum in der Interaktion und Tagesgestaltung mit den Nutzer/innen einnehmen. Mit Caruso kann diese Einschätzung als Folge der ‚strukturellen Negativität‘ von Disziplinartechniken beschrieben werden, die zeigt, dass Disziplinartechniken ‚über‘- oder ‚untersteuernd‘ wirken und deshalb die Lehrsituation und die Lernlogik des/r Schülers/in kaum in Übereinstimmung zu bringen sind (vgl. Caruso 2005, 124 ff). Drinkwater stellt dagegen fest, dass die disziplinierenden Techniken tatsächlich eine subjektivierende Wirkung ausüben. Er untersucht die Wirkungen der Umsetzung des Programms zur ‚Valorisation sozialer Rollen‘ nach Wolfensberger im Konzept des Supported Living in Großbritannien. Hier werden seiner Ansicht nach die Nutzer/innen durch ein 57
Da hier nicht das ambulant betreute Wohnen im Zentrum steht, soll an dieser Stelle damit nur kurz darauf hingewiesen werden, dass die Gleichungen wenig Hilfe benötigen = ambulant betreutes Wohnen = gut; viel Hilfe benötigen = stationär betreutes Wohnen = schlecht die aktuelle Lebenssituation der Nutzer/innen negativ besetzt und so eine positive Haltung zur aktuellen Wohnsituation und einer wahrscheinlich lebenslangen Abhängigkeit von Hilfe erschwert wird. Dieser Effekt einer impliziten Bewertung von Lebensbedingungen konnte auch bei Mitarbeiter/innen des so genannten ‚Trainingswohnens‘ beobachtet werden: Das Verhältnis zu ihrer Arbeit musste ständig zwischen dem Anspruch, die Nutzer/innen ‚fit‘ zu machen für eine ambulante Unterstützung und gleichzeitig zu sehen, dass dies womöglich eine Utopie bleibt, so dass viel mehr der Anspruch eines ‚zu Hauses bis zum Lebensende‘ als sinnvoll erachtet wurde, ausbalanciert werden. 58 So hat Pongratz auch schon für die Elementarmethode Pestalozzis herausgearbeitet, dass diese deshalb so erfolgreich sein konnte, weil die Techniken der Zerlegung, des Arrangements und der produktiven Reorganisation durch die Ausarbeitung verbindlicher, gegliederter Lektionspläne und eine gleichmäßige Sequenzierung des Lernprozesses den Techniken der modernen Fabrikation entsprachen (vgl. Pongratz 2004, 251). 59 Inwieweit diese Maßstäbe tatsächlich selbstbestimmt und individuell gewählt sind, zeigt sich der Aussage von Interviewpartnern, dass bei fast allen Nutzer/innen das Aufräumen und Putzen des eigenen Zimmers im Hilfeplan stünde, sie aber nur selten freiwillig aufräumen würden und die Unterstützung beim Aufräumen ‚nicht-schöne‘ Hilfeplanung, sondern Verpflichtung für beide Seiten sei.
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strukturiertes Programm der Unterstützung im ambulant betreuten Wohnen an bestimmte gesellschaftliche Normen eines ‚angemessenen Lebensstils‘ angepasst (vgl. Drinkwater 2005, 229). Er identifiziert Prozeduren der Überwachung und Regulierung des Körpers (Körperpflege, Verrichtungen des täglichen Lebens), Techniken der fortwährenden und panoptischen Beobachtung durch Dokumentationssysteme und die Anpassung der Nutzer/innen an festgelegte und normative Rollenkonzepte. In den Beziehungen zwischen Mitarbeiter/innen und Nutzer/innen werden die letzteren zu kompetenten Partner/innen stilisiert, die ersteren dagegen als austauschbare Vorbilder konzipiert, die freundlich agieren, aber keine Freundschaften mit den Nutzer/innen entwickeln sollen, sondern sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie im Gegensatz zu den Nutzer/innen bereits alle notwendigen Kompetenzen und Wissen besitzen (vgl. 234 f; 239). Herausforderndes Verhalten wird als Abweichung von den aufgestellten Regeln sanktioniert (vgl. a.a.O., 240). Auch wenn der einseitig negativen Interpretation Drinkwaters nicht gefolgt werden kann, so wurden auch in den eigenen Gruppeninterviews diese disziplinierenden Effekte deutlich, die ebenfalls die Frage nach den Kriterien und dem Maßstab der ‚normalen‘ Lebensführung aufwerfen. Individuelle Hilfeplanung birgt die Gefahr in sich, einseitig als Anpassung an normative Vorstellungen einer ‚normalen Lebensgestaltung‘ verstanden und umgesetzt zu werden. In den eigenen Interviews zeigen sich die Wirkungen im Unterstützten Wohnen aber vielgestaltiger, wie beispielsweise an der Bedeutung von ‚Ausnahmen‘ deutlich wird. ‚Ausnahmen‘, d.h. wenn eine Hilfeplanmaßnahme nicht wie geplant durchgeführt wird, sondern aufgrund von situativen Faktoren verschoben wird, werden von beiden Seiten als eine Befreiung erlebt. Der bewusste, zeitlich und räumlich begrenzte Ausbruch aus dem durch die Individuelle Hilfeplanung vorstrukturierten Handlungsrahmen hat letztlich die Funktion, dass der Rahmen selbst und die Rollen der Akteur/innen darin, nicht in Frage gestellt werden muss und die Mitarbeiter/innen nicht nur eine ferne Disziplinarinstanz, sondern aufgrund einer positiven Beziehung auch Vorbild und Vertrauensperson sind, wodurch es möglich wird, auch unangenehme Verpflichtungen durchzusetzen. Pongratz hat in diesem Zusammenhang auf die Gefahren hingewiesen, wenn derart asymetrische Beziehungskonstellationen (wie sie in der Schule, aber m.E. auch in der Unterstützung beim Wohnen vorhanden sind) durch partnerschaftliche Ideale und Aufweichung von Distanzen verdeckt werden: So werde der Schutz des eigenen Selbst erschwert und binde die Personen ein, ohne ihnen ausreichende Rückzugsmöglichkeiten zu gewähren (vgl. Pongratz 2004, 254). Auch die Mitarbeiter/innen sind einer fortwährenden Beobachtung und Selbstbeobachtung ihrer Arbeit im Hinblick auf die in der Hilfeplanung festgelegten Ziele ausgesetzt. Dabei werden die geschriebenen Hilfepläne und Dokumentation der Hilfeplanung (welche ja die Qualität der Arbeit beschreiben soll) tatsächlich allerdings aber nicht als Selbstvergewisserungsinstrumente genutzt (wie die von Bröckling (2007) untersuchte Ratgeberliteratur postuliert). Die Beurteilung der eigenen Arbeit hängt vielmehr von der Beurteilung anderer Personen ab (z.B. Qualitäts- Hygiene-, Hauswirtschaftsbeauftragten, Beurteilung von Hilfeplaner/innen, Kollegen/innen). Während sie selbst gegenüber den Nutzer/innen zu einer Disziplinarinstanz werden, erleben sie selbst dabei ihr Verhältnis zu der ihnen vorgesetzten Leistungskraft als Disziplin, wenn die Leitungskraft als Fürsprecher/in der Nutzer/innen deren Interessen gegenüber den Mitarbeiter/innen durchsetzt und die Einhaltung der Hilfeplanmaßnahmen überwacht. Als ‚höchster‘ Maßstab der eigenen Selbstbeurteilung
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gelten die Rückmeldungen der Nutzer/innen, die damit zu Auftraggeber/innen avancieren, die die Qualität der gemeinsamen Unterstützungsarbeit beurteilen sollen. Dass damit aber von den Nutzer/innen die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion verbunden ist, macht dieses Auftraggeber/innenverständnis allerdings zu einem voraussetzungsvollen Anspruch. In diesem Sinne könnten mit Bröckling auch hier Formen eines panoptischen 360° Feedbacks deutlich werden, in dem jede/r jede/n beobachtet und bewertet und diese Bewertungen zum Bestandteil der eigenen Selbstevaluation gemacht werden (vgl. Bröckling 2007, 236 ff). Individuelle Hilfeplanung stellt im Gegensatz zur didaktischen Planung in der Regel keinen unmittelbaren Eingriff in die Unterstützungsarbeit dar, sondern wirkt vielmehr mittelbar, indem sie den Raum der Unterstützung, segmentiert und nach festgelegten Kriterien organisiert. Pongratz führt diesen Effekt, nicht die Lernsituation selbst, sondern das Umfeld gestalten zu wollen, den er ebenso im Schulsystem feststellt, auf den Kompetenzdiskurs zurück. Nach Pongratz wird Kompetenz im momentanen Bildungsdiskurs als „Selbstorganisationsdisposition“ (2004, 254 f) verstanden. Durch den Kompetenzbegriff werden Lernprozesse ‚sozio-technisch instrumentiert’ und dadurch nebenbei der Selbstbestimmungsbegriff auf die Selbststeuerung reduziert (bzw. das konstruktivistische Verständnis von Selbststeuerung in Selbstbestimmung transformiert, vgl. ebd.). Die Steuerung von Lernsituationen selbst bleibt dabei letztlich im Sinne systemtheoretisch-konstruktivistischer Pädagogik jedem selbst überlassen 60. So zeigte sich in den Gruppeninterviews eine verstärkte Konzentration auf die Verabredung und Einhaltung von personenbezogenen und gemeinsam verabredeten Regeln, die nicht nur die Mitarbeiter/innen einsetzen, um das Verhalten der Nutzer/innen steuern und kontrollieren zu können, sondern die den gesamten Arbeitsalltag durchziehen. Es entsteht sowohl im Umgang mit den Nutzer/innen wie auch in der Personalführung der Mitarbeiter/innen ein Netz aus Regeln, Zielvereinbarungen und Gesprä60 Die Elemente Selbststeuerungspostulat und systemisch-konstruktivistische Theoriebildung passen nach Pongratz zu neoliberalen und postfordistischen Parolen von der Freiheit als Ressource, mit denen die Ungewissheit und Komplexität der Marktverhältnisse subjektiv umformuliert wird (vgl. Pongartz 2004, 255). Die Kritik an der Expertendominanz durch Betroffene und die Entdeckung der Bedeutung subjektiver Sicht- und Erlebensweisen bereitete auch in der sonderpädagogischen Theoriebildung den Boden für eine konstruktivistische Sicht, Wirklichkeit als konstruiert, Behinderung als soziale Konstruktion und die Zuschreibung von Verantwortung des Individuums für sein Leben als maßgeblich zu beschreiben. Durch die Initiative der Selbsthilfebewegung bestärkt, werden so in der Sonderpädagogik zunehmend konstruktivistische Ansätze diskutiert (vgl. exemplarisch Lindemann/ Vossler 1999; Palmowski/ Heuwinkel 2000; kritisch: Dederich 2001). Für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen soll dadurch die subjektive Sichtweise der Individuen gestärkt, der Allmachtsanspruch der vermeintlichen Experten zurückgedrängt und neue Formen der Unterstützung angeregt werden: Der behinderte Mensch als autopoietisches und selbstrefenzielles System ist von außen nicht steuerbar, sondern kann nur sich selbst steuern. Deshalb kann auch die Förderung und Unterstützung nicht auf eine bestimmte Verhaltensänderung des Menschen zielen. Stattdessen soll durch die Gestaltung der Umwelt soll das selbstreferentielle und autopoietische System irritiert werden. Dabei bleiben die Lernprozesse letztlich ergebnisoffen und die Steuerung des eigenen Lernens wird dem Subjekt überlassen. Konstruktivistische Annahmen harmonieren auf diese Weise mit Regierungstechnologien, die die Selbstführung des Subjektes betonen. Nicht nach tieferliegenden Motiven zu fragen kann als Ausdruck des Respekts gegenüber dem anderen selbstreferentiellen System verstanden werden, dessen Inneres sowieso nicht objektiv erkannt und ‚verstanden‘ werden kann. Perspektivenübernahme wird so zur ‚strukturellen Kopplung’. Die Vorstellung ermöglicht es, gleichzeitig Leitbilder der Lebensbegleitung und Nutzerzufriedenheit mit dem Training von Fertigkeiten zu verknüpfen, weil nicht nach Ursachen, Inkonsistenzen etc. im Handeln der Bewohnerinnen gefragt werden muss. Geringe didaktische Fundierung der Arbeit könnten aus der Vorstellung heraus entstanden sein, das Gegenüber als gleich-berechtigten Partner in der Unterstützungssituation nicht manipulieren zu wollen und so Macht auszuüben, daher eine Konzentration auf verbale Unterweisung, Vereinbarung von Regeln, Wiederholung und Einsicht.
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chen, die als aktive und gleichberechtigte Interaktionspartner ansprechen, zugleich aber ein Netz aus Verpflichtungen und Selbstverpflichtungen spannen, an dessen Konstruktion die Verpflichteten selbst beteiligt sind. Dabei gibt dieses Netz den Mitarbeiter/innen durchaus Halt, denn es verhilft in unstrukturierten Situationen zu Handlungssicherheit (vgl. auch Bröckling 2007, 117 ff zur Bedeutung von Risiken). Situationen, die der interindividuellen Aushandlung und Interpretation bedürfen, werden dadurch reguliert, dass auf die Anwendung bestehender Regeln und möglicherweise Sanktionen verwiesen wird. Erklärungen für abweichendes Verhalten der Nutzer/innen werden dann eher in den unmittelbaren Beobachtungen als in dahinter liegenden Motiven oder Perspektiven der Nutzer/innen gesucht. Als mit den Nutzer/innen ‚ausgehandelte Regeln‘ tragen die Regeln zudem nicht nur den Charakter der Disziplin, sondern auch der Selbstunterwerfung der Nutzer/innen in sich (vgl. Yates 2005, 74; Drinkwater 2005, 236). Es entsteht auf diese Weise eine neue quasi natürliche Ordnung, die auf Eigenschaften der Nutzer/innen beruht und sie unterteilt in die Nutzer/innen ‚mit denen man etwas aushandeln kann‘ und in die Nutzer/innen, ‚mit denen das nicht geht‘. Gemeint ist dabei aber weniger die kognitive Fähigkeit, Regeln verabreden zu können, als vielmehr die Frage, ob die Nutzer/innen sich regelmäßig einer solchen Regel unterwerfen und sie freiwillig einhalten oder ob sie durch widerkehrend durch Sanktionen ‚richtiges‘ Verhalten lernen sollen. So entsteht eine neue Beziehung aus Macht und Wissen, in der beide Seiten regieren und zugleich vom anderen regiert werden. Individuelle Hilfeplanung stellt damit für sich genommen nur eine unzureichende Antwort auf die verschiedentlich gestellte Frage nach den Professionalisierungserfordernisse (vgl.exempl. Loeken/ Windisch 2005; Lindmeier/ Lindmeier 2003) des Unterstützten Wohnens für geistig behinderte Menschen dar.
13 Ausblick
„Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – und dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?“ (Foucault 1992, 12) Wie beendet man eine solche Arbeit? Oder mit der Leitfrage von Pongratz u. a. (2004) zu sprechen: Wie weiter machen nach Foucault? Wer Kritik an bestehenden Problemen äußert, so die gängige Meinung, der muss auch die Lösung dieser Probleme kennen. Kann ich Empfehlungen für eine ‚verbesserte Hilfeplanung‘ geben? Oder soll ich dazu raten, sie abzuschaffen und sich etwas gänzlich Neues auszudenken? Und wie könnte dieses ‚Andere‘ aussehen? Diese Fragen beschäftigen mich in den letzten Tagen der Fertigstellung dieser Studie. Habe ich nicht von Foucault gelernt, dass Veränderungen, die auf einer Kritik bestehender Macht-Wissen Verhältnisse beruhen, neue Macht-Wissensbeziehungen heraufbeschwören, die wiederum zum Gegenstand neuerlicher Kritik zu machen sind? Dann erfordert doch jeder Vorschlag letztlich neue Kritik? Gibt es also keine Hoffnung? Foucault, der sich nie auf eine Position festnageln ließ, der ein Meister des ‚Dazwischen‘ war und der jedem Versuch, ihn erkenntnistheoretisch oder forschungsmethodisch einordnen zu wollen, mit neuen Hakenschlägen auswich, würde wahrscheinlich sagen: Die Antwort ist ‚doch‘, aber die Frage ist falsch. Zwei Einwände bringen mich zu dieser Annahme: 1.
Die Vorstellung eines Utopia, eines Zustandes, in dem keine Kritik mehr notwendig ist, weil keine Macht wirksam ist, mit denen die Menschen einander führen und sich selbst führen, bedeutet das Ende jeder Bewegung und Veränderung. Es ist ein Zustand der Erstarrung, der letztlich aber nur als Zustand absoluter Herrschaft vorstellbar ist. Die Frage selbst beinhaltet ein Missverständnis der Machtanalytik Foucaults und der Funktion von Kritik. Macht beschreibt den Raum der Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen und die Beziehungen der Menschen zueinander. Insofern benötigt Macht zugleich die Freiheit, um wirksam zu sein und Freiheit ohne Macht ist letztlich ein Vakuum. Autonomie und Heteronomie bedingen sich gegenseitig und sind insofern keine absoluten, sondern relationale Größen. So ist nicht ein Zustand jenseits der Macht das Ziel, sondern die Frage, wie die produktiven Kräfte der Macht miteinander wirken sollten. Da sie aber die Freiheit zur Wirkung benötigen, kann es niemals einen optimalen Zustand des ‚Gleichgewichts‘ der Kräfte geben. Insofern besitzt die Kritik die Funktion, die jeweils aktuellen Verflechtungen von Macht und Wissen auf ihre Wirkungen zu hinterfragen und auf das jeweils aktuelle ‚Ungleichgewicht‘ hinzuweisen. Kritik ermöglicht es, die Freiheit in den Machtbeziehungen aufzuzeigen, aber auch zu zeigen, welche Macht in der Freiheit liegen kann.
302
Ausblick
Auch für Meyer-Drawe ist nicht die entscheidende Frage, ob Macht ausgeübt wird, sondern ob Macht so, wie sie ausgeübt wird, ausgeübt werden muss (1996, 659). Sie weist darauf hin, dass die Art und Weise, wie wir Dinge thematisieren, eine bestimmte Praxis mit ihren Möglichkeiten in den Blick nimmt, während andere Handlungsalternativen vernachlässigt werden (vgl. Meyer-Drawe 2005, 24). Gerade die Tatsache, dass sich Pädagogik gerne als Pädagogik zur Freiheit beschreibt, benötigt nach dieser Lesart die regulative Funktion einer Machtanalytik nach Foucault, die sie immer wieder reflektieren und zu hinterfragen kann. Solche Reflexionen könnten aber letztlich „auch nicht vor dem Verdacht haltmachen, dass Individualität und Selbstbestimmung historisch bedingte Technologien des Selbst sind […]“ (Meyer-Drawe 1996, 662). Foucaults Subjektkritik fast sie deshalb als anhaltende (Selbst-) Reflexionsanforderung und Irritation für die Bildungstheorie auf. Insofern stellt auch die vorliegende Arbeit einen ganz spezifischen Blickwinkel auf Individuelle Hilfeplanung dar, die bestimmte Aussagen ermöglicht und andere nicht. Einzelne Aspekte rücken dabei automatisch deutlicher in den Vordergrund als andere. Sie stellt den Anfang einer Reflexion Individueller Hilfeplanung und des Unterstützten Wohnens für Menschen mit einer geistigen Behinderung dar, die fortgesetzt werden kann und sollte. Aktuell werden im Kontext Individueller Hilfeplanung bereits ‚Reformierungserfordernisse‘ geäußert, welche alte Probleme beseitigen und neue Hoffnungen realisieren sollen. Hier sind vor allem folgende Diskussionsansätze zu nennen:
Hilfeplanung als Gesamtplanprozess Umfassende Individuelle Hilfeplanungskonzepte jenseits der Kategorisierung in Behinderungsarten Verknüpfung von Individueller Hilfeplanung und kommunaler oder regionaler Teilhabeplanung Individuelle Hilfeplanung und Persönliches Budget Individuelle Hilfeplanung und Professionalisierung der Hilfen.
Auch diese neueren Diskussionszusammenhänge zur Individuellen Hilfeplanung sollten auf die ihnen intendierte ‚Fortschrittsgläubigkeit‘ befragt werden und die Macht-Wissenkomplexe analysiert werden, die Menschen mit Behinderungen zu Subjekten im Hilfesystem werden lassen. Dabei gilt es nicht nur, Regierungstechniken in einem vermeintlichen ‚Programm‘ herauszuarbeiten, sondern vor allem die Wirkungen auf die Menschen und ihren produktiven Umgang mit den diskursiven und nicht diskursiven Praktiken zu analysieren. Mit Foucault, so konnte die vorliegende Arbeit zeigen, ist dabei ein reflektorischer Zugang eröffnet, der sowohl theoretisch, wie empirisch einen fruchtbaren Beitrag zur Erforschung der Bedingungen des Subjekts im Hilfesystem des Unterstützten Wohnens ermöglicht.
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