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German Pages 266 [281] Year 2006
, Das Problem des ,Ur-Ich bei Edmund Husserl
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRÜNDET VON H.L. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRMHERRSCHAFT DER HUSSERL-ARCHIVE
178 SHIGERU TAGUCHI
, DAS PROBLEM DES ,UR-ICH BEI EDMUND HUSSERL
Redaktionskomitee: Director: R. Bernet (Husserl-Archief, Leuven) Secretary: J. Taminiaux (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve) Members: S. IJsseling (HusserlArchief, Leuven), H. Leonardy (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-laNeuve), D. Lories (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve), U. Melle (Husserl-Archief, Leuven) Wissenschaftlicher Beirat: R. Bernasconi (Memphis State University), D. Carr (Emory University, Atlanta), E.S. Casey (State University of New York at Stony Brook), R. Cobb-Stevens (Boston College), J.F. Courtine (Archives-Husserl, Paris), F. Dastur (Université de Nice), K. Düsing (Husserl-Archiv, Köln), J. Hart (Indiana University, Bloomington), K. Held (Bergische Universität Wuppertal), K.E. Kaehler (Husserl-Archiv, Köln), D. Lohmar (Husserl-Archiv, Köln), W.R. McKenna (Miami University, Oxford, USA), J.N. Mohanty (Temple University, Philadelphia), E.W. Orth (Universität Trier), C. Sini (Università degli Studi di Milano), R. Sokolowski (Catholic University of America, Washington D.C.), B. Waldenfels (Ruhr-Universität, Bochum)
, Das Problem des ,Ur-Ich bei Edmund Husserl Die Frage nach der selbstverständlichen , ,Nähe des Selbst
Shigeru Taguchi Yamagata University, Japan
A C.I.P. Catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
ISBN-10 ISBN-13 ISBN-10 ISBN-13
1-4020-4854-8 (HB) 978-1-4020-4854-8 (HB) 1-4020-4855-6 (e-book) 978-1-4020-4855-5 (e-book)
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort Einleitung
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ERSTER TEIL: VORMEDITATIONEN ZUR THEMATISIERUNG DES ,UR-ICH’
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Kapitel I: Die Phänomenologie als Wissenschaft der ,Selbstverständlichkeit’
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1. Das ,Fremdwerden’ der ,Selbstverständlichkeit’ in der Philosophie 2. Der Durchbruch des Motivs vom ,Rückgang auf das Selbstverständliche’ 2.1 Philosophie als Wissenschaft des ,Selbstverständlichen’: Frühe Ansätze 2.2 Intentionalität als ,Selbstverständlichkeit’ 3. Die ,Fremdartigkeit’ der phänomenologischen Enthüllung der Selbstverständlichkeiten 3.1 ,Anonymität’ der Selbstverständlichkeiten und ,Widernatürlichkeit’ der Phänomenologie 3.2 Wissenschaftskritik und das Recht der Natürlichkeit 4. Die ,Fremdartigkeit’ der transzendentalen Reduktion und das Weltproblem 4.1 Die Aufgabe, das Selbstverständliche zu ,verstehen’ 4.2 Die ,Fremdartigkeit’ der universalen Epoché vom Weltglauben 5. Das Problem der Subjektivität und die Tiefendimension der Selbstverständlichkeiten 5.1 Der Rückgang auf das selbstverständlich durchlebte ,transzendentale Leben’ 5.2 Die universale Konkretion der ,transzendentalen Subjektivität’ und die Selbstverständlichkeit des Anderen 5.3 Das Problem des ,Ur-Ich’: Die letzte Selbstverständlichkeit?
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel II: Die ,non-egologische’ Reduktion und der Rückgang auf die Evidenz: Zur Vertiefung des ,Sehens’ 1. Einleitung 2. Die non-egologische Position der frühen Phänomenologie und die phänomenologische Reduktion 2.1 Die ,verstehende’ Sinnesaufklärung des Selbstverständlichen und die natürlichen Theorien 2.2 Die radikale Skepsis als Methode: Die Vermeidung des Zirkels 2.3 Die phänomenologische ,Immanenz’ und die Reduktion 2.4 Die Ausschaltung der Ich-Apperzeption 2.5 Rückgang auf die ,Nähe’ des Lebens und die ,Unbestimmtheit’ des absoluten Bewußtseins 3. Die Evidenz als ,Schauen’: Die Eröffnung der evidenztheoretischen Perspektive 3.1 Die Unhintergehbarkeit der Evidenz: Das ,Schauen’ als letztes ,Maß’ allen Wissens 3.2 Die Radikalisierung des Evidenzprinzips und die Erweiterung der phänomenologischen Gegebenheitssphäre 3.3 Das vertiefte Selbstverständnis des ,Sehens’ und die Umdeutung der Reduktion
Kapitel III: Die Entdeckung des ,Ich’ als phänomenologisches Thema 1. Die Frage nach dem ,Schauenden’: Implizite Ansätze in der frühen Phänomenologie 2. Das Problem der Intersubjektivität und die egologische Wende der Phänomenologie 2.1 Die intersubjektive Reduktion und die Frage nach dem phänomenologisierenden Ich 2.2 Die egologische Konzeption der transzendentalen Phänomenologie und die ,monadologische’ Intersubjektivität 2.3 Die Bedeutung der egologischen und intersubjektiven Umwendung: Rück- und Ausblick 3. ,Reines’ und ,phänomenologisierendes’ Ich: Reinheit und Faktizität 3.1 Die ,Entdeckung’ des reinen Ich als neuartiger ,Gegebenheit’ 3.2 Die einfache ,Selbstverständlichkeit’ und die ,Nähe’ des reinen Ich 3.3 Der ,faktische’ Vollzug der Ich-Evidenz und das phänomenologisierende Ich
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Inhaltsverzeichnis 3.3.1 Die Notwendigkeit des jeweiligen Selbstvollzugs der IchEvidenz 3.3.2 Die ,Selbstverantwortung’ des Ego und die Einstellung des ,anfangenden Philosophen’ 3.3.3 Die ,Faktizität’ des phänomenologisierenden Ich
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ZWEITER TEIL: VERSUCH EINER SYSTEMATISCHEN DARSTELLUNG DER LEHRE VOM ,UR-ICH’
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Kapitel IV: Die ,Paradoxie’ der Subjektivität und die sich aufdrängende Frage nach dem ,Ur-Ich’
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1. Rückblick und Problemstellung 2. Die Paradoxie der menschlichen Subjektivität 3. Die Einheit der ,drei Ich’ und die Bedeutung des phänomenologisierenden Ich 4. Die Problematisierung des ,Ur-Ich’ 4.1 Das Problem der Intersubjektivität und die Frage nach der transzendentalen ‚Sichtweise’ 4.2 Das Problem des ,Ur-Ich’ und der intersubjektiven Pluralisierung 4.2.1 Das vertiefte Selbstverständnis und die ,philosophische Einsamkeit’ 4.2.2 Die radikalisierte Epoché und das Problem der ,Äquivokation’ 4.2.3 Die undeklinierbare ,Einzigkeit’ und die ,intentionale Modifikation’ 4.2.4 Die Analogie zwischen Fremderfahrung und Wiedererinnerung und das Problem der Zeitigung 4.2.5 Der methodische Primat des Ich und die Überwindung der Naivität 4.3 Die apodiktische Evidenz des ,absoluten Ego’
Kapitel V: Das Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché: Kritische Abgrenzung des Problems 1. Einleitung und Problemstellung 1.1 Die ,Unbekanntheit’ des Ur-Ich und die Radikalisierung der Epoché 1.2 Erfahrung und Begriff. Die ,transzendentalen Symbole’
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Inhaltsverzeichnis
1.3 Terminologische Klärung: ,Ur-Ich’, ,Ur-Ego’ und ,absolutes Ego’ 2. Das ,Ur-Ich’ als ,stumme Konkretion’? 2.1 Die scheinbare ,Unterschiedslosigkeit’ 2.2 Die ,Wachheit’ des Phänomenologisierenden in der Epoché 3. Das ,Ur-Ich’ als ,Anfang’ der Bewußtseinsentwicklung? 3.1 Entwicklungspsychologische Mißverständnisse 3.2 ,Ur-Ich’ und ,Vor-Ich’. Die Ordnung der Evidenz und der Genesis 4.,Singular’ oder ,Plural’ des Ur-Ich? 4.1 Vielheit der gleichursprünglichen Ur-Ich? Die Radikalisierung der Epoché 4.2 Die ,Einzigkeit’ des Ur-Ich: Ist ,jedes’ Ich einzig? 4.3 Das Ur-Ich ist ,weder Eines noch Vieles’. Eine metaphysische Annahme? 5. Ur-Ich als ,Eidos-Ego’? 5.1 Mögliche Belege für diese Interpretation 5.2 Die Epoché im Hinblick auf das Denkschema ,Eidos – Faktum’ 5.3 Das ,Urfaktum’ des Ego 6. Das ,absolute Leben’ vor dem Ur-Ich? Das Problem der ,Nähe’ des Selbst 6.1 Die Weggabelung von Husserl und Fink 6.2 Das ,Ur-Leben’ oder das ,Ur-Ich’? 6.3 Die Überwindung der tieferen Naivität des Phänomenologisierens: Die ,Nähe’ des ,Ich-schaue’ und Selbstverantwortlichkeit
Kapitel VI: Das Ur-Ich und die ,intentionale Modifikation’: Einzigkeit und Gleichstellung 1. Das Problem der ,intentionalen Modifikation’ 1.1 Die allgemeine Charakterisierung der ,Modifikation’ 1.2 Die fundamentale Struktur der Modifikation: Einzigkeit und Gleichstellung 2. Die intentionale Modifikation und die Fremderfahrung in der V. Meditation 2.1 Das Motiv der Sinnesaufklärung und die Modifikationslehre 2.2 Die ,analogisierende Apperzeption’ als intentionale Modifikation 2.3 Die primordiale Reduktion und der Doppelcharakter des Urmodus
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Inhaltsverzeichnis 3. Der urmodale Sinn des ,Ich’ und seine ,Verdeckung’ durch die Modifikation 3.1 ,Ein Ich – ist nicht Ich.’ Der modifizierte Sinn des ,Ich’ 3.2 Der urmodale ,Erfahrungssinn’ des Ich und seine wesensmäßige Implizitheit 3.3 Die Schwierigkeit der Thematisierung des ,Ur-Ich’ und ihre Notwendigkeit 4. Die Parallele zwischen dem ,Ur-Ich’ und der ,lebendigen Gegenwart’ im Hinblick auf die Modifikation 4.1 Die Fehlinterpretation des ,Produktionsmodells’ 4.2 Die ,lebendige Gegenwart’ und das Ur-Ich als Geltungsboden 4.3 Die ,Sinnesverdoppelung’ des Urmodus und dessen ,Selbsteingliederung’ in die Modifikationsreihe 4.4 Die ,Selbsteingliederung’ des Urmodus und die Ursprünglichkeit der ,Perspektivität’ 4.5 Die intentionale Modifikation als ,Selbsttranszendieren’ und das mediale ,Durchscheinen unter Verdeckung’ 5. Die ,Monadisierung’ des Ego. Die ursprüngliche ,Selbstentfremdung’ und ,Selbstwiederholung’ 5.1 Die rückwirkende Modifikation und die ,Monadisierung des Monadisierens’ 5.2 Das Urphänomen der ,Wiederholung’ in der monadischen Multiplikation ,in mir’
Kapitel VII: Die apodiktische Evidenz des Ur-Ich: Selbst als ,Nähe’ und ,Differenz’ 1. Problemstellung: Die ,perspektivische’ Ordnung der Evidenz und die Rehabilitierung der *`>" 2. ,Alles ist für mich’: Die apodiktische Urevidenz als ,selbstverständliche Nähe’ 2.1 Das Ego als Urquelle der Geltungsvollzüge und als ,Medium’ des Erscheinens 2.2 Das Ich als Pol und als ,Lebendigkeit’ des Lebens selbst 2.3 Die eigentümliche Bedeutung der ,Apodiktizität’ des Ego 2.3.1 Die Radikalisierung der Evidenzkritik 2.3.2 Die Differenz zwischen der ,adäquaten’ und der ,apodiktischen’ Evidenz 2.4 Die ,Nähe’ der apodiktischen Evidenz des Ego: Perspektivische Erkenntniskritik
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Inhaltsverzeichnis
2.5 Das ,Ich bin’ als die ,selbstverständlichste Selbstverständlichkeit’ 2.5.1 Das nicht-urteilende ,Wissen’ von der ,medialen’ Urevidenz 2.5.2 Die absolute Selbstverständlichkeit als ,Verständlichkeit des absoluten Selbst’ 3. ,Ich gehe mir selbst voran’: Das Ur-Ich in seiner ,Selbstdifferenz’ 3.1 Die Befremdung des ,Ich bin’ und das sich aufdrängende ,Fremde’ 3.2 Das Vorangehen des ,Ich’ vor mir selbst: Selbstentzug und Selbsttranszendenz des ,Ich-seins’ 3.3 Das ,Ur-Hyletische’ als Fremdheit in meinem ,Ich bin’ selbst 3.4 Die ,Machtlosigkeit’ des Ich und der Andere ,in mir’ 3.4.1 ,Ich stehe mir nicht zur Verfügung’: Die unverhüllte Offenheit des Ich 3.4.2 Die Bekundung des Anderen in meiner ,nächsten Nähe’ 4. Die Selbstverantwortlichkeit des Denkens und die Offenheit für das ,Fremde’ 4.1 Die Selbstverantwortlichkeit des ,Ich schaue’: Verbindlichkeit und Freiheit der Evidenz 4.2 Die Anderen und das ,Fremde’ der Theorie 5. Schluß
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Zusammenfassung
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Literaturverzeichnis
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Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Herbst 2003 von dem Fachbereich A (Geistes- und Kulturwissenschaften) der Bergischen Universität Wuppertal angenommen wurde. Ich freue mich, an dieser Stelle meinem Doktorvater, Prof. Dr. Klaus Held, noch einmal danken zu können, der meine Forschung immer mit warmherziger Ermunterung und wertvollen Ratschlägen unterstützt hat. Ohne ihn hätte dieses Buch überhaupt nicht entstehen können. Mein besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. Dieter Lohmar, der mir den Zugang zu Husserls unveröffentlichten Manuskripten ermöglicht und zudem dieser Arbeit auch verschiedene inhaltliche Impulse gegeben hat. Den Professoren Heinrich Hüni und László Tengelyi möchte ich auch für ihre freundliche Unterstützung und die anregenden Diskussionen danken. Prof. Dr. Rudolf Bernet, dem Direktor des Husserl-Archivs in Leuven, danke ich für die freundliche Erlaubnis, aus unveröffentlichten Manuskripten Husserls zitieren zu dürfen und ebenso für die Aufnahme der vorliegenden Arbeit in die Reihe Phaenomenologica . Auch durch die Anerkennung und Anregungen der Professoren Antonio Aguirre und James Mensch wurde ich sehr ermutigt, denen ich deshalb hier meinen herzlichen Dank ebenso aussprechen möchte wie den beiden japanischen Professoren für ihre kontinuierliche Unterstützung: Prof. Hiroshi Endo hat mich in die philosophische Forschung eingeführt und meinen philosophischen Weg entscheidend beeinflußt. Prof. Yoshihiro Nitta hat mich durch zahlreiche wertvolle und lehrreiche Hinweise inspiriert. Zu danken habe ich auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der mich für viereinhalb Jahre finanziell unterstützt hat, so daß ich mich in Wuppertal und Köln auf die Arbeit an der Dissertation konzentrieren konnte. Bei der sprachlichen Verbesserung dieser Arbeit hat mir Dr. Dirk Fonfara außerordentlich geholfen, dessen selbstloser Bemühung ich unendlich dankbar bin. Dr. Rainer Schäfer bin ich nicht nur für seine Änderungsvorschläge des Textes, sondern auch für die anregenden philosophischen Gespräche verbunden. Gedankt sei auch Prof. Dr. Eberhard Scheiffele für seine Verbesserungsvorschläge der Einleitung, PD Dr. Smail Rapic für das Korrekturlesen eines Kapitels sowie allen (auch ehemaligen) Mitarbeitern des Kölner Husserl-Archivs, insbesondere Dr. Henning Peucker, Siegfried Rombach und Dr. Mario Egger, für ihre Hilfe beim Zugang zu Husserls Manuskripten sowie für ihren kollegialen Ansporn. Schließlich geht mein Dank an meine Freunde, besonders Julio Vargas, Lina Rizzoli, Lee-Chun Lo, Manuel Alvarez,
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Vorwort
Jagna Brudzinska, Christian Lotz, Nicolas de Warren, Andrea Borsato, Stefano Micali, Euree Song und Dai Takeuchi; ohne die Diskussionen mit ihnen wäre ich nicht auf die Gedanken gekommen, die ich in dieser Arbeit vorgelegt habe. Yamagata, im Dezember 2005
Einleitung Wenn man die Entwicklung von Husserls Phänomenologie, deren Ansatz durch den erbarmungslos kritischen Geist der Logischen Untersuchungen bestimmt ist, schrittweise bis zu ihrem Ende verfolgt, stößt man in ihrer letzten Phase auf den zunächst recht seltsam erscheinenden Begriff des Ur-Ich, bei dessen Befremdlichkeit sich Fragen aufdrängen wie: Verdankt sich dieses Konzept etwa einem spekulativen Sprung, mit dem sich Husserl über seine sonstigen konkret-minutiösen Erfahrungsanalysen hinwegsetzt? Ist es nur als ein zusätzliches Nebenprodukt zu betrachten, das von Husserls spezifisch phänomenologischen Analysen problemlos geschieden werden kann? Zeigt sich das ,Ur-Ich’ wirklich dem phänomenologischen Blick? Oder ist es eine ,Idee’, die von außen her in die Phänomenologie eingeschmuggelt wurde? Die vorliegende Arbeit wird solche Fragen verneinen, indem sie zeigt, daß das ,Ur-Ich’ ein freilich äußerst schwer zu durchschauendes Phänomen darstellt, auch wenn es erst durch Husserls ,trockenen Geist’ 1 von seinen mehrfachen Verdeckungen befreit werden konnte. Die Schwierigkeit dieser Freilegung liegt darin, daß die traditionellen Denkformen, mit denen wir nicht nur im alltäglichen, sondern auch im wissenschaftlichen Leben vertraut sind, als unreflektierte ,Selbstverständlichkeiten’ fungieren, welche unsere Sicht immer schon in bestimmte Bahnen lenken und verengen. Das direkte, naive Bestimmen eines Phänomens durch herkömmliche, wohlbekannte Begriffe setzt ja unvermeidlich bestimmte ,Selbstverständlichkeiten’ mit in Geltung; dadurch werden diejenige Dimensionen des Phänomens verdeckt, welche nicht in der Richtung jener ,Selbstverständlichkeiten’ liegen. Was man also, ,Ich’ sagend, stillschweigend versteht; was man, um überhaupt ,Ich’ sagen zu können, immer schon ,weiß’, das läßt sich nur phänomenologisch ‚erschauen’, wenn man das als ,selbstverständlich’ geltende Verständnis dieses Begriffs in seinen naiven, möglicherweise die Reflexion hemmenden Funktionen Schritt für Schritt verfolgt und schließlich sorgfältig in Klammern setzt. Zu beachten ist, daß sich bei Husserl das ,Ur-Ich’ nicht jenseits, sondern diesseits von alltäglichen Selbstverständlichkeiten befindet. Es ist unauffällig und widersetzt sich der Thematisierung, weil es selbstverständlicher ist, 1
Fink spricht mit Bewunderung von der „hellen, klaren Trockenheit“ Husserlschen Geistes (Fink 1976, 227). Dabei denkt er an dem heraklitischen Fragment: „Trockene Seele weiseste und beste“ (Frg. B 118, Diels / Kranz 1996, 177).
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Einleitung
als es die alltäglichen Selbstverständlichkeiten sind. In der natürlichen Sprache findet sich daher kein entsprechender Ausdruck für das fragliche Phänomen. Bei dem ,Ur-Ich’ handelt es sich weder um etwas Allgemeines, das noch völlig unbestimmt wäre, noch um einen abstrakten Gegenpol zum Allgemeinen, das Individuelle, das etwa nur als Idee gesetzt würde. In beiden Fällen findet man sich bereits erneut auf der Bahn eines vertrauten Denkschemas, das das in Frage Stehende nicht sehen läßt, sondern vielmehr verdeckt. Der Begriff ,Ich’ scheint also zu gefährlichen Irrwegen zu führen. Husserl weiß sich aber davor zu hüten, diesen Begriff, der gewissermaßen an unsichtbaren Klippen zu scheitern droht, unkritisch von der Tradition zu übernehmen. Vielmehr versucht er ganz bewußt, hier einen „dunklen Winkel zu durchleuchten“ (XVII, 244), in dem — wie er selbst schreibt — allerlei „Gespenster“ spuken, nämlich ,Selbstverständlichkeiten’, wie sie die Philosophie so oft in ihren Bann ziehen.2 Der Titel ,Ur-Ich’ meint also in erster Linie ein Problem, das uns als Fremdes in uns selbst begegnet, und nicht etwa ein festes Stück unseres Lebens, aus dem sich alles andere deduzieren ließe. Besonders zu berücksichtigen ist, auf welche Weise Husserl hin und wieder zunächst auf Irrwege und sogar in Sackgassen gerät, diese aber gerade dadurch erst sichtbar werden läßt. Für die Phänomenologie gilt allgemein: „Ihr Schicksal (freilich hinterher wird es als ein Wesensnotwendiges verstehbar) ist ein immer wieder neues Hineingeraten in Paradoxien, die von unbefragt, ja unbemerkt gebliebenen Horizonten herstammen und als mitfungierende sich zunächst in Unverständlichkeiten melden“ (VI, 185). Aus Selbstverständlichkeiten stammender Schein soll hier also nicht einfach umgangen, sondern aufmerksam solange studiert werden, bis er Erfahrungsstrukturen und -konstellationen offenbart. Diese ,Methodik’ spielt bei der Thematisierung des ,Ur-Ich’ eine besondere Rolle, wie nachgewiesen wird. ———
Im hauptsächlich historisch ausgerichteten ersten Teil wird zunächst eingehend verfolgt, auf welchem Weg Husserl zu jenem dunklen Problembereich des ,Ich’ gelangt. Dadurch wird zugleich verdeutlicht, was für eine Bedeutug dieser Problematik innerhalb der Husserlschen Phänomenologie insgesamt zukommt. Es galt auch, frühere Motive Husserls zur Thematisierung des Ich sowie die sich in dieser bekundende eigentümliche Sichtweise herauszuarbeiten, weil ohne deren gründliche Untersuchung der spätere Begriff des ,UrIch’ nicht nachzuvollziehen wäre. In diesem Sinn wird im ersten Kapitel versucht, durch thematische Erörterung des Begriffs ,Selbstverständlichkeit’ einen Perspektivenwechsel erkennbar zu machen, der, wie ich meine, alle phänomenologische Analysen von Grund auf bestimmt. Allgemein geht es Husserl in seiner Phänomenologie 2
Vgl. die am Schluß der Arbeit zitierte Passage (Kapitel VII, 241).
Einleitung
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darum, die unscheinbaren Selbstverständlichkeiten des Lebens verständlich zu machen; denn sie bleiben verdeckt, solange sie in der natürlichen Einstellung durchlebt werden. Dieser Grundzug der Phänomenologie soll präzise charakterisiert werden. Dadurch wird deutlich, daß dem Leben seine ,Selbstverständlichkeiten’ in ihrem natürlichen Vollzug so tief verdeckt sind, daß sie fremdartig erscheinen, wenn sie eigens aufgedeckt werden. Daher kann man umgekehrt sagen, daß der fremdartige Anschein einer phänomenologisch beschriebenen Sache als dasjenige Indiz zu deuten ist, an dem sich die Tiefe ihrer ,selbstverständlichen’ Verborgenheit erkennen läßt. So drängt sich letztlich die Frage auf, ob das zunächst fremdartig erscheinende ,Ur-Ich’ nicht das ,selbstverständlichste Selbst’ meint, das im natürlichen Lebensvollzug – und sogar auch oft im philosophischen Denken – in Vergessenheit geraten ist. Im II. Kapitel wird versucht, Grundzüge der Phänomenologie bis etwa 1910 herauszuarbeiten, die einen markanten non-egologischen Charakter aufweisen. Hierbei wird sich zeigen, daß sich die Ausschaltung des empirischen Ich notwendigerweise aus der methodischen Grundforderung der Phänomenologie ergibt. Die phänomenologische Methode stützt sich auf eine strenge Evidenzkritik. Die Erörterung dieser Evidenzbetrachtung führt zu dem Resultat, daß die Methode der ,phänomenologischen Reduktion’ als Rückgang auf die ,Nähe’ des erfahrenden Lebens zu charakterisieren ist. Dies schließt eine Befreiung des phänomenologischen ,Sehens’ von seiner natürlich-objektivierenden Blickrichtung ein. Diese methodische Eigentümlichkeit der Phänomenologie macht aber gerade die egologische Umbildung der Phänomenologie unumgänglich. Darauf gehe ich im III. Kapitel ein. Es wird gezeigt, daß die methodische IchPerspektive die phänomenologische Analyse von Anfang an latent mitbestimmt. Ihre Bedeutung wird aber erst allmählich – besonders angesichts der Intersubjektivitätsproblematik – erkennbar. Unter diesem Aspekt wird Husserls ,egologische Wende’ nach der Ideen-Zeit verfolgt. Dabei wird sich herausstellen, daß das sogenannte ,phänomenologisierende Ich’ in dieser Entwicklung zunehmende Bedeutung gewinnt, die sich anhand der Analyse des ,reinen Ich’ im Hinblick auf seinen ,urfaktischen’ Charakter erweist. ———
Durch die Untersuchungen des I. Teils rückt die charakteristische Bedeutung des phänomenologisierenden Ich in den Vordergrund, was mit dem Grundzug der Phänomenologie als Rückgang auf die ,selbstverständliche Nähe’ des Lebens untrennbar zusammenhängt. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß das phänomenologisierende Ich nicht ein empirisches Ich besonderer Art – das nämlich Phänomenologie treibt – meint: Der Akzent liegt nicht auf der phänomenologisierenden Tätigkeit als einer unter vielen Tätigkeiten, sondern auf der Aktualität des ,hier und jetzt’ Lebenden; ein solches Ich kann innerhalb der phänomenologischen Reflexion nur das gerade phänomenologisierende
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Einleitung
Selbst sein, denn die Phänomenologie ist in spezifischer Weise auf die sich aktuell vollziehende Ich-Perspektive angewiesen. Dies führt aber den Phänomenologen zu einer „einzigartige[n] philosophische[n] Einsamkeit” (VI, 187f.). In diesem Zusammenhang tritt in der Krisis der eigentümliche Begriff des ,Ur-Ich’ auf. Im II. Teil soll seine Notwendigkeit und Bedeutung anhand der späten Schriften und Manuskripte Husserls systematisch herausgearbeitet werden. Das IV. Kapitel verfolgt zunächst den spezifischen Kontext, in dem das Problem des Ur-Ich hervortritt. Dabei wird gezeigt, daß dieses Problem erstens mit der Problematik der Intersubjektivität, zweitens mit der methodischen Frage des ,phänomenologisch schauenden’ Ich unmittelbar zusammenhängt. Zugleich werden die Anknüpfungspunkte für die genauere Erö rterung des Ur-Ich verdeutlicht, die den Darstellungen der Krisis zu entnehmen sind. Auf dieser Grundlage gehe ich im V. Kapitel auf die thematische Analyse des Ur-Ich ein. Dabei wird sich herausstellen, daß die sogenannte ,radikalisierte Reduktion’ notwendigerweise zum Ur-Ich hinführt. In diesem Zusammenhang sollen verschiedene mögliche Interpretationen des ,UrIch’ einer detaillierten Kritik unterzogen werden. Das ,Ur-Ich’ muß von dem ,Vor-Ich’ als einer genetischen Vorstufe streng unterschieden werden. Die naheliegende metaphysische Interpretation des Ur-Ich muß ebenfalls ferngehalten werden. Die zentrale Frage ist, wie die eigentümliche Einzigkeit des Ur-Ich zu verstehen ist. Die Radikalisierung der Reduktion führt zu einem scheinbar merkwürdig anmutenden Ergebnis, daß das Ur-Ich weder als eines noch als vieles zu charakterisieren ist. Dieser eigentümliche Charakter des Ur-Ich wird im VI. Kapitel anhand der Lehre von der intentionalen Modifikation eingehend erörtert. Dabei spielt eine charakteristische ,Rückwirkung’ der Modifikation auf den Urmodus eine zentrale Rolle. Die Erörterung dieser Modifikationsstruktur führt zu dem Resultat, daß die sogenannte ,Monadisierung’ bzw. ,monadische Pluralisierung’ des Ur-Ich nicht als – sei es reale oder metaphysische – Produktion zu interpretieren ist, in der sich aus dem einzigen Ursprung mehrere Resultate gleichermaßen ergeben. Diesem ,Produktionsmodell’ wird eine ursprüngliche unübersteigbare Perspektivität entgegengesetzt, die zur intentionalen Modifikation des Ich wesentlich gehört. In diesen Erörterungen wird sich herausstellen, daß die Lehre von der intentionalen Modifikation – insbesondere von der ,Sinnesverdoppelung’ – Einzigkeit und Vielheit der Subjektivität nicht als disjunktive Alternativen, sondern in ihrer ,Urspaltung’ und wesentlichen Zusammengehörigkeit zum Verständnis bringt. Schließlich wird im VII. Kapitel der Frage nachgegangen, wie das ,UrIch’ im Hinblick auf seine ,Evidenz’ näher zu charakterisieren ist. Zunächst soll erläutert werden, in welchem Sinn das ,Ich bin’ eine ursprüngliche Voraussetzung des Bewußtseinslebens sein muß. Durch eingehende Untersuchungen der Husserlschen Evidenzkritik wird deutlich, daß der traditionelle
Einleitung
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Begriff der ,Apodiktizität’ als höchster Evidenz beim späten Husserl eine grundsätzliche Umdeutung erfährt. Die ,Apodiktizität’ des Ego ist nicht als diejenige Evidenz aufzufassen, die etwa einem kleinen ,reglosen’ Gebiet des Bewußtseins zukäme, sondern als das allerursprünglichste – einfachste und selbstverständlichste – Medium allen Bewußtseinslebens, das letztlich die Lebendigkeit des Lebens selbst ausmacht. Dabei wird eine eigentümliche Struktur der ichlichen Apodiktizität ,Ich gehe mir selbst vorher’ deutlich. Aufgrund dessen ist die radikale Vorgängigkeit des Ur-Ich als innere Differenz und unüberwindbare Fremdheit meines eigenen Ich-Seins für mich selbst zu deuten. Dies ermöglicht es in weiterer Folge, einerseits die Apodiktizität des eigenen Ich-Seins als die letzte Instanz der ,selbstverantwortlichen’ Aussage der Philosophie zu beanspruchen, andererseits den ,radikalen Entzug’ meiner eigenen Apodiktizität als eine lebendige ,Freiheit’ zu verstehen, mich von jedem objektiv Festgestellten lösen zu können und dieses – auch meine eigenen Gedanken und Aussagen – der offenen Kritik zu unterziehen.
I. TEIL VORMEDITATIONEN ZUR THEMATISIERUNG DES ‚UR-ICH’
Kapitel I
Die Phänomenologie als Wissenschaft der ‚Selbstverständlichkeit’
„Von vornherein lebt der Phänomenologe in der Paradoxie, das Selbstverständliche als fraglich, als rätselhaft ansehen zu müssen [...].” (VI, 184)
1. DAS ‚FREMDWERDEN’ DER ‚SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT’ IN DER PHILOSOPHIE ‚Ur-Ich’ ist offensichtlich kein gewöhnlicher, unproblematischer Begriff. Er ruft dem ersten Blick nach sogar Befremden und Skepsis hervor. Ein Philosoph sollte sich aber davor hüten, ohne weiteres sich einer solchen natürlilichen Reaktion zu ergeben. Zumindest müssen die Gründe für dieses Befremden verständlich gemacht werden. Jede Philosophie hat zunächst einen gewissen fremdartigen Anschein, sofern sie mit dem ‚Erstaunen’ (2"LµV.,4", die auf einmal die Würde eines Fundamentes für die Wissenschaft, die ¦B4FJZµ0 beanspruchen soll” (VI, 158).5 Wenn Husserl die ‚absolute Einzigkeit’ und ‚zentrale Stellung’ des UrIch unterstreicht, handelt es sich keineswegs um ein metaphysisches ‚Aufblasen’ des Ich — auch wenn es nicht zu bestreiten wäre, daß Husserls Formulierungen so etwas zuweilen nahelegen könnten —, sondern um die Rehabilitierung einer besonders unscheinbaren, allzu verachteten *`>". Im folgenden soll verständlich gemacht werden, in welchem Sinn diese *`>" in den Mittelpunkt der Philosophie rücken muß. In erster Linie ist dabei die Bedeutung der Apodiktizität und die der Selbstverantwortung zu berücksichtigen, welche die Andersheit des Anderen überhaupt nicht ausschließen, sondern sogar von ihr wesentlich unabtrennbar ist.
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Vgl. auch VI, 465. Husserl hat schon in den Ideen I den Evidenz- und Vernunftcharakter der
*`>" im Auge: „Wahrheit ist offenbar das Korrelat des vollkommenen Vernunftcharakters der Urdoxa, der Glaubensgewißheit” (III/1, 323).
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Kapitel VII
2. ‚ALLES IST FÜR MICH’: DIE APODIKTISCHE UREVIDENZ ALS ‚SELBSTVERSTÄNDLICHE NÄHE’ 2.1 Das Ego als Urquelle der Geltungsvollzüge und als ‚Medium’ des Erscheinens Zunächst soll geklärt werden, in welchem Sinn die Evidenz des Ego immer schon ‚vorausgesetzt’ sein muß, wobei besonders der spezifische Sinn des Voraussetzens zu berücksichtigen ist.6 Wenn Husserl die Evidenz des ‚Ego’ betont, geht es ihm dabei nicht um die innerweltlich-reale Ordnung, sondern um die Ordnung des Wissens. Das ‚Wissen’ beruht überhaupt auf der ‚Erfahrung’: „Alle Erkenntnis, alles Wissen setzt Erfahrung letztlich voraus” (Ms. B I 14/ 147b); dabei ist die ‚Erfahrung’ nicht in einem engeren Sinne der ‚Empirie’ zu verstehen, sondern im Sinne der transzendentalen Erfahrung. Auch das für uns momentan oder überhaupt ‚Unerfahrbare’ setzt unsere Erfahrung voraus, sofern sie uns erst ermöglicht, auf das ‚Unerfahrbare’ begründet schließen und dessen Seins gewiß sein zu können. Alle Seinsmodalitäten, in denen sich das Seiende uns zeigt – dessen ‚Sein schlechthin’, dessen ‚anzunehmendes’, ‚mögliches’, ‚vermutliches’, ‚zweifelhaftes’, ‚nichtiges’ Sein – , setzen voraus, daß wir schon die unmittelbare Erfahrung des Seienden haben, in der wir seines Seins zweifellos gewiß sind – die Erfahrung, in der „wir bei ihm selbst sind, es direkt erfassen und haben” (ebd., 147a). Die ‚Evidenz’ ist nichts anderes als dieses unmittelbare ‚Dabeisein’ des Ich beim Seienden. Diesen Charakter drückt auch folgende Definition der Evidenz klar aus: „Evidenz bezeichnet [...] die intentionale Leistung der Selbstgebung. Genauer gesprochen ist sie die allgemeine ausgezeichnete Gestalt der ‚Intentionalität’, des ‚Bewußtseins von etwas’, in der das in ihr bewußte Gegenständliche in der Weise des Selbsterfaßten, Selbstgesehenen, des bewußtseinsmäßigen Bei-ihm-selbst-seins bewußt ist” (XVII, 166).7 Die Evidenz ist also weder der noetischen noch der noematischen Seite zuzuordnen,8 sondern besitzt – um mit Fink zu sprechen – den Charakter des „ursprünglichen Zugangs zum Seienden”, des „wahrhaftigen Seinszugangs”. 9 Alles ‚Sein’, dessen ich – in welcher Modalität auch immer – bewußt bin, ist entweder in der Evidenz, nämlich als ‚es selbst’, da oder weist als ‚Modifi6
Für die folgende Darstellung ist das Manuskript B I 14 XIII aus dem Jahr 1933 richtungsweisend. 7 Die Evidenz als ‚Dabeisein’ besagt in subjektiver Perspektive: „nicht verworren, leer vormeinend auf etwas hinmeinen, sondern bei ihm selbst sein, es selbst schauen, sehen, einsehen” (I, 93); vgl. auch I, 51f.; VI, 367; Mat III, 64; Ms. C 7/ 39a. 8 Vgl. III/1, 316f.; Wiegerling 1984, 144f. 9 Vgl. Fink 1966, 201; dazu auch Rosen 1977, 153f.
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kation’ auf seine urmodale, evidente Gegebenheitsweise zurück: „Alle Gewißheiten verweisen uns auf Urgewißheiten des eigentümlichen Modus ‚Evidenz’, Bewußtseinsweise der unmittelbaren Selbsthabe oder Erfahrung im weitesten Sinne, alle Gewißheiten modalisierten Inhalts auf unmodalisierte Evidenzen, alle Gewißheiten unmodalisierten Inhalts, die Urgewißheiten auf Urevidenzen — die Erfahrungen in schlichtem Sinne” (Ms. B I 14/ 147b). So beziehen sich alle Modi des Bewußtseins, in denen sich das Seiende zeigt, auf „das System der Evidenz” (IX, 427), auf das intentionale Verweisungssystem von Urmodi und Modifikationen. Jedes Sein gibt sich in einer bestimmten Seinsmodalität, die einen Modus der ‚Evidenz’ darstellt, der entweder der Urmodus ist oder auf ihn zurückverweist.10 Auf diese Weise ist alles Sein und Bewußtsein auf die ‚Urevidenz’ zurückbezogen, die das ursprünglichste ‚Ich erfahre und schaue’ darstellt. Es ist zu beachten, daß ‚ich’ auf diese Weise bei allem und jedem „immer dabei” und sozusagen „allgegenwärtig” bin (XIII, 52f.). Alles, was mir überhaupt bewußt sein kann, wovon ich überhaupt sprechen kann, ist ‚für mich’ da. Auch dasjenige, was ich nicht erfahren kann, setzt mich als dasjenige Ich voraus, das es als ‚unerfahrbar’ gelten läßt, sofern ich von ihm sprechen, es vermuten oder überhaupt bewußt haben kann; sonst wäre es wirklich nichts. Die ‚Unerfahrbarkeit’ ist auch ein ‚Geltungssinn’ für mich. Das ‚NichtSeiende’ hat auch eine – wenngleich negative – Seinsgeltung. Wenn alles Seiende mit dem entsprechenden ‚Seinssinn’ gegeben ist, kann es kein ‚Jenseits’ bzw. ‚Außerhalb’ geben, das sich der transzendentalen Sphäre des ‚Mir-Geltens’ entzöge.11 „[...] selbst jeder Unsinn ist ein Modus des Sinnes und hat seine Unsinnigkeit in der Einsehbarkeit” (I, 117).12 Angesichts dieser Konsequenz fragt Husserl, was das „Unerträgliche” an diesem Gedanken ist, daß „alles, was für mich ist, Sein und Sosein ausschließlich aus meinem Bewußtseinsleben” schöpfen muß (Ms. B I 14/ 154b). Das ‚Unerträgliche’ stammt offenbar aus dem Rest des natürlichen Selbstverständnisses des ‚Ich’. In den Cartesianischen Meditationen kritisiert Husserl Descartes’ Versuch, von der Evidenz des Ego ausgehend die Existenz der ‚Außenwelt’ zu beweisen. Husserl zufolge ist diese Fragestellung als solche widersinnig, da das Ich dabei als ein Reales in der Welt aufgefaßt wird, das die übrige Welt ‚außer sich’ hat. Dadurch ist „die Gültigkeit der Weltapperzeption schon in der Fragestellung vorausgesetzt worden, in den Sinn der Frage eingegangen, während doch ihre Beantwortung erst das Recht der objektiven Geltung überhaupt ergeben sollte” (I, 116); man gerät also in einen widersinnigen Zirkel. Dagegen muß man vielmehr die Frage 10
Zur Verwiesenheit aller Gegebenheiten auf die Originarität als ‚Sachnähe’ vgl. Held 1986, 9ff. 11 Vgl. I, 63ff.; VI, 82, 414f.; XVII,235, 238; Ms. B I 14/ 154b, 155a; Benoist 1994, 14. 12 Vgl. auch LV, 232 = XXXV, 271.
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zuspitzen: „wer ist denn das Ich, das solche transzendentalen Fragen rechtmäßig stellen kann?” (ebd.) Mit der Epoché von der Weltapperzeption kann ich mich selbst nicht mehr als ein Teilbestand des Weltganzen verstehen, sondern rein als das ‚Ich’ des ‚Mir-Geltens’ und des ‚Ich erfahre und schaue’. Daß es kein ‚Außerhalb’ der konkreten Sphäre des ‚Mir-Geltens’ gibt, besagt also nicht, „daß wir aus unserer ‚Haut’ nicht herauskönnen, es ist nicht gesagt, daß unsere Erkenntnis notwendig beschränkt ist, daß wir über die ‚Grenzen’ unserer Erkenntnis nicht hinaus kommen können [...]” (Ms. B I 14/ 155a), da ich dabei schon das ‚Außerhalb’ als einen Geltungssinn setze, das insofern ‚für mich’ ist. Man könnte behaupten, daß ein ‚Jenseits’ etwa durch ein „Gefühl” oder irgendwie „mystisch in unserer Bewußtseinssphäre anklopft, auf das nur die Sprache unseres Bewußtseins nicht paßt usw.” (ebd., 155a). Dagegen bemerkt Husserl: „Gibt ein Gefühl etwas kund, so ist das eine Weise des Für-uns-Seins, und wird von uns behauptet, daß jede Weise des Für-uns-Seins seine Sonderweisen hat, die da Bewährung heißen, so gilt das, meinen wir, auch vom Gefühl, und es wird auch von denjenigen implicite behauptet, die in ihm sich irgendein ‚Nichts’ bekunden lassen” (ebd., 155b). Sofern meine konkrete Bewußtseinssphäre kein ‚Außerhalb’ haben kann, „hat es keinen Sinn, diese Bewußtseinssubjektivität in der Welt zu suchen und nach dem Wo und Wann dieser Subjektivität zu fragen” (ebd., 156a). Das ‚Ich erfahre und schaue’ als die ‚Urquelle’ der Seinsgeltung und Bewährung ist nicht in der „Raumzeit”, aber auch nicht „überräumlich” oder „außerzeitlich”, als ob der Raum über sich wieder einen Über-Raum hätte (ebd., 159b). Ich bin zwar als Geltungsträger immer dabei, wo ein Seiendes ‚ist’, bin aber kein ‚Überseiendes’, das ‚über’ oder ‚neben’ allem Seienden stände. Ich bin weder eine „Bewußtseinsinsel” (I, 116) noch eine Über-Instanz außerhalb alles Seienden, sondern sozusagen das Medium, in dem alle diese ‚Ortungen’ überhaupt stattfinden können; daher ist es im strengen Sinne ‚nirgendwo’. Zugespitzt kann man auch mit Husserl sagen: Ich bin „nicht Seiendes”.13 Alles Seiende konstituiert sich in der Zeitigung, in der es in einer bestimmten Zeitstelle (und in weiterer Folge in einer bestimmten Raumstelle) erscheint, so daß sie alles Seiende im konstituierten Zeitfeld ‚ontifiziert’. Ich bin aber der ‚fungierende Pol’ der zeitlichen Konstitution, dem alles erscheint; insofern finde ich mich selbst als ‚fungierendes Ich’ nirgendwo im Zeitfeld: „Der fungierende Pol ist in seinem ursprünglichen Fungieren nie im Zeitfeld” (Ms. A V 5/ 5a). „Das Ich in seiner ursprünglichsten Ursprünglichkeit ist nicht in der Zeit [...]” (Mat VIII, 197).14 Alles, was ich von mir gegenständlich finde, ist ein Gezeitigt-Ontifiziertes, das mich als Fungierenden schon voraussetzt. Wenn man fragt, wer ich bin, der ich Gel13 14
XXXIII, 277f.; vgl. Kapitel III, 3.2. Vgl. auch Ms. E III 2/ 24b.
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tungsträger alles Seienden bin, so „erkenne ich, daß diese Frage nach dem Wer nicht besagt die Frage nach der menschlichen Person, welche vielmehr ein Motivat im ständigen lebendig fungierenden Motivationszusammenhang dieser Ursubjektivität ist. Dieser Wer bin ich selbst und doch nicht ich im gewöhnlichen Sinne, sofern ich in diesem gewöhnlichen Sinne Ich sagend schon über ein Endgebilde meines letztlich fungierenden Ich spreche, das überhaupt, um sich auszusprechen, schon fungieren muß. Das Fungieren und fungierende Ich ist aber, während es das ursprünglich lebendige ist, verborgen, unthematisch” (Mat VIII, 16).15 Das ‚Ur-Ich’ ist dieses ‚letzt-fungierende Ich’,16 das nicht im Zeitfeld erscheint, sondern vielmehr das ‚Medium’ alles zeitlich Erscheinens ist. Das Ich ist nicht das alles Umfassende, wie ein Gegenstand, der die anderen Gegenstände umgibt; das Verhältnis zwischen dem Ich und den Erscheinenden ist nicht durch räumliche Analogie zu begreifen. Man muß vielmehr sagen, daß das Bewußtseinsleben und letztlich das ‚Ich’ als Medium alles Erscheinende durchzieht: „[...] die Welt und ihrer Grundstruktur nach die Natur ist das Nicht-Ich, das für mich nur gegeben ist als Einheit meiner einstimmigen Erfahrung, also in einem ichlichen Medium, ohne das es für mich nichts wäre. Es ist gegeben in einem Medium, das nicht Natur ist, das rein ichlich ist” (IX, 528; m. H.). „Also in einem Milieu des Subjektiven scheint die Weltkugel zu schwimmen [...]” (IX, 148).17 Durch die Charakterisierung des Ich als ‚Medium’ kann man auch eine Hypostasierung des Ich in einem gewissen Maße fernhalten. Husserl schreibt in einem späten Manuskript: „Das Ich ist nicht etwas für sich und hat Bewußtsein nicht als etwas außer sich, neben sich” (XXXIV, 189). Das Ich kann überhaupt nicht als etwas ‚neben’ etwas anderem vorgestellt werden. Eine solche Vorstellung ontifiziert und objektiviert das Ich, so daß es mit dem Erscheinenden oder mit dem Erscheinungsfeld als Ganzen fiktiv nebeneinandergestellt wird. Ich bin vielmehr als das unsichtbare Medium alles Erscheinens untrennbar von dem ‚Erscheinen des Erscheinenden’ überhaupt. ‚Ich’ kennzeichnet in diesem zugespitzten Verständnis nicht mehr ein ‚Erscheinendes’, sondern eine ‚Wesensart’ des Erscheinens überhaupt.
2.2 Das Ich als Pol und als ‚Lebendigkeit’ des Lebens selbst Wenn das Ich als ‚Medium’ alles ontischen Erscheinens auf nichthypostasierende Weise zu verstehen ist, wird auch nachvollziehbar, warum der ‚Ichpol’ als dasjenige angesprochen werden kann, in dem alles Erscheinende erscheint. Der Ichpol darf nämlich nicht wie ein ‚Punkt’ im Erscheinungsfeld verstanden werden. Ich sehe nirgendwo einen Punkt, der das Ich 15
Vgl. auch Ms. C 10/ 2a, 5a; C 3/ 45a. „Ur-Ich = fungierendes Ich” (Ms. C 10/ 14b). 17 Vgl. dazu auch Lévinas 1982, 39. 16
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sein soll, weil ich es gerade bin, aus dem ich alles Erscheinende zu Gesicht bekomme.18 In diesem Sinne kann man zwar sagen, daß das Ich die Bedeutung des ‚Gesichtspunkts’ hat; das besagt aber nicht, daß der ‚Gesichtspunkt’ außerhalb des Erscheinungsfeldes eine Seinsdomäne hätte. Der Ichpol ist so gesehen letztlich eine andere Bezeichnung für die Zentrierung des Bewußtseinslebens selbst. Diese ‚Zentrierung’ muß aufgrund der Charakterisierung des Ich als Medium auf nicht-hypostasierende Weise verstanden werden. Es ist nicht so, daß es innerhalb des Bewußtseinslebens ein substantielles Zentrum gäbe. Husserl setzt das Ich vielmehr mit dem Sich-Zentrieren des Bewußtseins gleich: „[...] das Ich ist ‚Subjekt’ des Bewußtseins. ‚Subjekt’ ist dabei nur ein anderes Wort für die Zentrierung, die alles Leben als Ichleben – und somit lebend etwas zu erleben, etwas bewußt zu haben – hat” (Mat VIII, 35).19 ‚Ich’ meint bei Husserl keine zentrale Substanz, sondern nichts anderes als die ‚hinfällige’ perspektivische Zentrierung des Lebens, die durch die homogenisierende Gleichstellung des Ich mit dem Erscheinenden (als Folge der Ontifikation des Ich) sofort aus dem Blick gerät.20 Das ‚Ich’ wird also überhaupt nicht ‚sichtbar’, wenn alles in objektiver Hinsicht behandelt wird; es wird erst spürbar, wenn alles Sein in Hinsicht auf seine ‚lebendige Erlebtheit’ betrachtet wird. Man kann auch sagen, daß das ‚Ich’ ein anderer Ausdruck dafür ist, daß alles Seiende im Medium einer ‚Lebendigkeit’ erscheint.21 Es gibt kein Seiendes, das nichts mit dieser ‚Lebendigkeit’ des Erscheinens zu tun hätte. Die Verwurzelung alles Seienden im ‚Ich’, die zunächst merkwürdig klingt, meint eigentlich diese allzu selbstverständliche Urtatsache, die man in der natürlichen gegenstandsorientierten Einstellung unvermeidlich übersieht. Aus dieser Perspektive umschreibt Husserl das ‚Ich’ im reinen Sinn als „das strömende Lebendigsein” (Mat VIII, 40), 22 „Quellpunkt des Lebens” oder als „Träger aller Lebendigkeit” (XXXVIII, 390).23 Die Urlebendigkeit, die die Welt zusammen mit allem darin Erscheinenden zur lebendigen Welt 18
Vgl. XV, 289. Vgl. auch folgende Bemerkung: „Mein Ich und alles mir Eigene [...] das Meine hat seine Meinheit in dieser Ichzentrierung [...]” (XV, 351); auch Benoist 1994, 13ff. 20 Zur lebendigen Zentrierung und Nicht-Substantialität des Ich vgl. Ms. C 2/ 4a; C 7/ 9a; B III 8/ 4a. Zur ‚Hinfälligkeit’ der lebendigen Einzigkeit des Ich vgl. Held 1966, 171f. 21 Folgende Aussage Husserls ist in diesem Sinne zu verstehen, nicht im Sinne irgendeiner Ichmetaphysik: „Dieses ganze urströmende Geschehen ist nicht totes Geschehen, sondern ‚ichliche’ Leistung ist der innerste Motor” (Mat VIII, 199). 22 „Wir nehmen die phänomenologische Einstellung ein, wir reduzieren auf das transzendentale Ego, auf das strömende Lebendigsein, das Ich, als der ich bin, das Subjekt aller Geltungen ist, durch die alles und jedes, was für mich ist, auch ich selbst, eben für mich ist, mir gilt” (Mat VIII, 40). 23 Zitiert nach Marbach 1974, 184. Vgl. auch folgende Bemerkung: „[...] das konkrete IchSein (das des wachen Ich) ist die lebendige Zeitigung mit dem Ichpol [...]” (Mat VIII, 49). 19
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(Lebenswelt im prägnanten Sinn) macht, setzt der Welt gewissermaßen objektiv-inhaltlich nichts hinzu; ohne sie ist aber kein ‚Erscheinen’ der Welt denkbar.24 Dieses im natürlichen Leben kaum bemerkbare Lebendigsein, in dessen Medium sich unser Bewußtsein und das Erscheinen der Welt ereignet, ist dasjenige, was Husserl mit dem Terminus ‚Ego’ oder spezifischer mit ‚Ur-Ich’ ausspricht — mögen dies auch nicht gerade unmißverständliche Ausdrücke sein.25
2.3 Die eigentümliche Bedeutung der ‚Apodiktizität’ des Ego Die bisher dargelegte Deutung des Ich-Seins als Lebendigkeit findet in Husserls Evidenzlehre eine weitere Bestätigung. Hierbei soll gezeigt werden, daß die ‚Urevidenz des Ego’ keine punktuelle Evidenz ist, die eine kleine ‚Insel’ des Sichersten wäre, sondern nichts anderes bedeutet als das ursprüngliche Lebendigsein, das als ‚Medium’ zu verstehen ist. Zunächst soll Husserls Evidenzkritik kurz skizziert werden, damit daraus die fundierende Bedeutung der ‚Apodiktizität des Ego’ ersichtlich werden kann. Diese Bedeutung wird dann noch näher erörtert, indem der Unterscheidung von ‚apodiktischer’ und ‚adäquater’ Evidenz präzise nachgegangen wird. 2.3.1 Die Radikalisierung der Evidenzkritik Zunächst muß hervorgehoben werden, daß der ‚Erfahrungs’-Charakter der Evidenz für Husserls Evidenzkritik eine fundamentale Rolle spielt. Die Evidenz wird in den Cartesianischen Meditationen folgendermaßen definiert: „Erfahrung im gemeinen Sinne ist eine besondere Evidenz, Evidenz überhaupt, können wir sagen, ist Erfahrung in einem weitesten, und doch wesensmäßig einheitlichen Sinne” (I, 93).26 In dieser Hinsicht ist die Evidenz nicht nur der Wahrnehmung zuzuschreiben, sondern auch der Wiedererinne24
Vgl. auch: „Diese Urlebendigkeit als ‚beständige’ Konstitution, beständige Zeitigung, ist Zeitigung, durch die alles und jedes, was für mich das aktuell Gegenwärtige ist, ist [...]” (Mat VIII, 49). 25 Dies kann auch umschrieben werden durch ‚leben’. Nach Benoist ist das Ich als „le « vivre »” zu bezeichnen, im Gegensatz zu „la vie” und „le vécu” (Benoist 1994, 72-75, 69). Das Ich als ‚leben’ und das als eine Einheit konstituierte ‚Leben’ sind selbstverständlich voneinander nicht zu trennen. In diesem Sinne machen Ich und Leben (Bewußtseinsstrom) das Medium für das jeweils Andere aus. Husserl hebt hervor, daß das reine Ich „als etwas von diesen Erlebnissen, als etwas von seinem ‚Leben’ Getrenntes nicht gedacht werden kann — ebenso wie umgekehrt diese Erlebnisse nicht denkbar sind, es sei denn als Medium des Ichlebens” (IV, 99); vgl. XIV, 45f.; IX, 323; XXIX, 254; B III 8/ 5a. 26 Vgl. auch I, 52; XVII, 169; sowie besonders folgende Bemerkung: „Evidenz im ersten Sinne ist ‚Erfahrung’, ‚reine Evidenz’, (auf das eigentlich Erfahrene reduzierte) reine Erfahrung” (XXXV, 404).
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rung, sofern sie das ‚Vergangene’ als solches ursprünglich gibt. Dasselbe gilt für die Wesensschau als ursprüngliche ‚Erfahrung’ des Eidetischen. Letztlich entspricht jeder Gegenständlichkeit eine eigentümliche Erfahrungsart, die eine bestimmte Art der ‚Selbstgebung’ bzw. Evidenz darstellt.27 Dabei ist im Auge zu behalten, daß die Evidenz als solche – wie schon erwähnt – weder als Noetisches noch als Noematisches zu charakterisieren ist, sondern der ursprüngliche Zugang zum Seienden selbst ist. Eine Art der Evidenz stellt eine Art der Zugänglichkeit des Seienden dar, die in sich intentional auf andere Arten der Zugänglichkeit verweist. Husserls Evidenzkritik besagt eine Verfolgung dieses umfassenden Verweisungs- und Modifikationssystems der Evidenz, dessen Umfang sich mit dem System der ‚Erfahrung überhaupt’ deckt. Dabei werden verschiedene Evidenzen kritisch abgewogen, damit ihre Fundierungszusammenhänge untereinander deutlich hervortreten können. Husserl drückt in einem zentralen Manuskript über Evidenz (1924-26) diese Suche nach der ursprünglichen Evidenz folgendermaßen aus: „Wir suchen nach Evidenzen – Erfahrungen und Einsichten – die allen anderen in der Weise vorangehen, daß sie überall bereitliegend sind, derart, daß ihre Aufhebung diejenige aller anderen bedeuten würde” (Ms. A I 31/19b). Anhand dieses Kriteriums prüft Husserl die Evidenzen der einzelnen Gegenstände, der Welt und des Ego. Die Wahrnehmung eines Gegenstandes kann zwar sinnvoll als ‚evident’ bezeichnet werden, aber ihr Evidenzcharakter kann nicht für sich bestehen. Ein Ding zeigt sich als ‚seiend’ in der Welt, als ‚wahrnehmungsmäßig-real’. Diese scheinbar zweifellose Evidenz kann aber dennoch ‚modalisiert’ werden. Die Möglichkeit einer Täuschung oder Halluzination ist hier nie prinzipiell auszuschließen. Ein wahrgenommenes Ding kann seine Seinsgeltung im prägnanten Sinn verlieren; die Geltung als ‚seiend’ modalisiert sich in ‚möglich-seiend’, ‚wahrscheinlich-seiend’, ‚nicht-seiend’ usw. Ein Ding erscheint aber nicht für sich allein; es hat seinen Außenhorizont. Seine schlichte Seinsgeltung kann zwar durchstrichen werden, aber das besagt, daß statt dessen ein anderes Ding Seinsgeltung gewinnt. Anstelle eines erwarteten Buches steht ein anderes Buch im Regal. Wenn es durch nichts ersetzt wird, ist dennoch die ‚Welt’ da. Die Welt ist der Boden aller Erscheinungen und der äußerste Limes des Außenhorizonts, der als Ganzes nie zu durchstreichen ist. Wenn man die volle Konkretion der intentionalen Verweisungen miteinbezieht, bedeutet die Geltungsmodalisierung eines Dinges für mich im Grunde genommen ein Anders-Erfahren der Welt. Die Evidenz des jeweiligen Teilgehalts der Welt kann zwar immer schon modalisiert werden; das gilt aber nicht für die Welt als ‚Horizont’ und ‚Boden’ für die Erscheinung aller einzelnen Dinge.28 27 28
Vgl. XXXV, 325ff. Vgl. Ms. A I 31/ 26a = XXXV, 405f.
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Das Sein der Welt ist aber noch nicht die ‚fundamentalste’ Evidenz. Denn bei der Welt hat man es noch nicht mit dem Allerkonkretesten im transzendentalen Sinne zu tun. Jede Evidenz hat nicht nur eine noematische, sondern auch eine noetische Seite. Man kann also nicht unerwähnt lassen, daß die Geltung der Welt die Dimension der fungierenden Subjektivität voraussetzt, in der sie sich nach ihrem Sinn und ihrer Geltung erst konstituiert.29 Die Welt, die als der ‚Boden’ für die Evidenz aller dinglichen Gegenstände gilt, hat selbst nur eine ‚relative’ Apodiktizität.30 Ihre Evidenz ist auch eine Erfahrung, in der die Welt erst als solche erscheinen kann.31 „Apodiktisch ist mein Sein beschlossen als selbsterfahrenes in jedem Welterfahren” (XXXIV, 432). Die Welt hat also das ‚transzendentale Bewußtseinsleben’ als verborgene Voraussetzungsdimension; sie zeigt sich notwendig auf dem Boden des konkreten Bewußtseinslebens.32 Wie verhält es sich aber mit den idealen Gegenständlichkeiten, die nicht in der realen raumzeitlichen Welt erscheinen? Sofern sie Gegenständlichkeiten sind, verweisen sie auch auf eine Erfahrung, in der sie sich zeigen. Sie bestehen zwar unabhängig von der einzelnen empirischen Erfahrung, aber gerade diese ‚Unabhängigkeit von der momentanen Erfahrung’ ist ihre spezifische ‚Erfahrungsart’ im transzendentalen Sinne: Das Eidetische wird also als diejenige Gegenständlichkeit erfahren, die unabhängig von der realen Raumzeitlichkeit a priori Identisches ist. Es zeigt sich zwar in der Erfahrung, aber ihm fehlt – anders als beim Realen – jegliche Verweisung auf weitere Erscheinungen, die unendlich perspektivisch verlaufen werden.33 Das ist der spezifische Evidenzcharakter des Eidetischen, dem durchaus eine Art ‚Erfahrung’ entspricht. Auch die idealen Gegenständlichkeiten sind im transzendentalen Bewußtseinsleben und in dessen Erfahrungssystem verwurzelt.34 Aus dem Gesagten geht hervor, daß das transzendentale Bewußtseinsleben als der universalste Boden der Seinsgeltungen zu betrachten ist, dessen Evidenz im eigentlichen Sinne die Bezeichnung Apodiktizität verdient. Ohne seine Evidenz würden alle darauf basierenden Evidenzen (die der Welt und aller Gegenständlichkeiten) aufgehoben. „Mein Leben ist das an sich Erste, ist der Urgrund, auf den alle Begründungen zurückbezogen sein müssen [...]” (VIII, 396).35 Das konkrete Bewußtseinsleben enthält aber verschiedene
29
Vgl. dazu Kapitel I, 5.1. Vgl. VIII, 397, 400, 406. 31 Vgl. VIII, 404. 32 Vgl. Ms. A I 31/ 26a = XXXV, 406. 33 Vgl. dazu Kapitel II, 3.2. 34 Vgl. Kapitel II, 3.2, 3.3; Kapitel III, 1. 35 Vgl. auch folgende charakteristische Stelle: „Auf die absolute Subjektivität zurückzugehen, die ‚transzendentale’, ist das Ursein feststellen, das absolut zu rechtfertigen ist und allem zu rechtfertigenden Sein notwendig voranliegt. Es zeigt sich eben, daß alles andere Sein in diesem 30
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Gehalte. Seine Apodiktizität kann nicht die Evidenz jedes seiner Gehalte bedeuten, da sie ständig verfließende reelle Erlebnismomente darstellen. Hier ergibt sich die weitere kritische Frage, was am transzendentalen Bewußtseinsleben im prägnanten Sinne apodiktisch ist. Durch die von dieser Frage motivierte ‚apodiktische Evidenzkritik’ 36 stellt sich heraus, daß die letzte apodiktische Urevidenz nicht den ganzen konkreten Bewußtseinsstrom, sondern allein dessen „ich bin, ich lebe” (XIV, 442) betrifft. Das besagt nicht, daß nur ein kleines Stück des Bewußtseinslebens, das ‚Ich’ hieße, apodiktisch wäre. Das ‚Ich’ ist eigentlich kein reeller Punkt im Bewußtsein, sondern ein anderer Ausdruck für die ‚Lebendigkeit’ des ganzen Bewußtseinslebens als solchen.37 Das ‚ich bin, ich lebe’ macht also die letzte absolute Urevidenz aus. Wie ist nun aber diese „Urevidenz des Ich-bin” (XIV, 154) präziser zu verstehen, ohne die alle anderen, bisher beschriebenen Evidenzen aufgehoben würden? 2.3.2 Die Differenz zwischen der ‚adäquaten’ und der ‚apodiktischen’ Evidenz Damit die Eigentümlichkeit der Evidenz des ‚ich bin, ich lebe’ genauer bestimmt werden kann, muß der Unterschied von adäquater und apodiktischer Evidenz eingehend in Erwägung gezogen werden. Beide Termini benutzt Husserl seit der frühen Zeit, hält aber zu Beginn den Unterschied der beiden Evidenzarten nicht für wesentlich.38 Er sieht zwar, daß sie unterschiedliche Bedeutungen haben: Die adäquate Evidenz bedeutet eine vollständige Erfüllung der Leerintentionen, die apodiktische dagegen eine Unbezweifelbarkeit und Unmöglichkeit des Anders- oder Nicht-Seins des Eingesehenen. Bis zum Anfang der zwanziger Jahre meint Husserl aber, daß die adäquate Evidenz notwendigerweise auch apodiktischen Charakter hat und vice versa.39
Ursein – dem der transzendentalen Subjektivität – vermeintes und, wenn es wirklich ist, als rechtmäßig auszuweisendes ist” (VIII, 377). 36 Vgl. dazu Melle 1996, 624ff. 37 Vgl. Kapitel VII, 2.2. 38 Zur Unterscheidung der beiden Begriffe in den Logischen Untersuchungen vgl. Heffernan 1983, 65 Anm. 39 In den Ideen I werden die beiden Termini zwar verwendet, aber ihre Unterscheidung weicht von derjenigen in den späteren Schriften ab (III/1, 317ff.; Tugendhat 1967, 207 Anm. 20). In den Londoner Vorträgen von 1922 heißt es, Adäquatheit und Apodiktizität seien „gleichwertig” (LV, 207 = XXXV, 318; vgl. auch XXXV, 63, 286, 383f.). Dasselbe sagt Husserl auch in der Ersten Philosophie (1923/24), obwohl er zugleich auf ihren Bedeutungsunterschied aufmerksam macht (VIII, 35). Die Vorlesungen und Vorträge vom Anfang der zwanziger Jahre enthalten aber schon Überlegungen, die implizit zu einer entscheidenden Differenzierung beider Evidenzen führen.
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Man kann aber anhand der Texte aus dem Ms. A I 31,40 die etwa aus den Jahren 1924-26 stammen, die Entwicklung der Differenzierung beider Evidenzbegriffe genau verfolgen: Auch hier werden sie zu Beginn als äquivalent behandelt, aber im Laufe der Untersuchungen allmählich deutlicher unterschieden. Entscheidend ist, daß die Apodiktizität des ‚Seins’ von derjenigen des ‚Soseins’ streng abgegrenzt wird, so daß erstere ohne letztere auftreten kann (Ms. A I 31/ 27aff. = XXXV, 410f.). Aufgrund dieser Einsicht wird die Apodiktizität als eigenständiger Evidenzbegriff etabliert (ebd., 31aff.). Es ist zu unterstreichen, daß die Betrachtung des ‚Ego’ dabei von Anfang an eine maßgebliche Rolle spielt. Es ist offensichtlich die eigentümliche Evidenz des ‚Ego’, deren Erörterung Husserl dazu führt, die Apodiktizität als einen spezifischen Evidenzbegriff zu etablieren.41 Um diese Entwicklung nachvollziehbar zu machen, soll zunächst die Unterscheidung zwischen Seins- und Soseinsevidenz näher erörtert werden. Im traditionellen Begriff der Apodiktizität kommt zum Ausdruck, daß etwas aus einem allgemeinen Wesensgesetz notwendig folgen muß.42 Der darin enthaltene Sinn ‚es muß sein’ bzw. ‚es kann nicht anders sein’ wird im Sinne der Notwendigkeit der Wesensallgemeinheit verstanden. Diese deckt sich aber nicht mit dem gesamten Umfang der Notwendigkeit von ‚Nicht-anders-seinKönnen’. Auch das faktische ‚ego cogito’ kann ‚nicht anders sein’, wenn es nicht in Hinsicht auf seinen Erfahrungsinhalt, sondern in seiner Erlebtheit als solcher betrachtet wird. Die Tatsache, daß ich jetzt dieses weiße Papier sehe, kann ich nicht durchstreichen. Es könnte sich zwar später herausstellen, daß das Papier in der Tat cremefarbig ist und nur wegen der Beleuchtung weiß aussah. Diese Korrektur in bezug auf den Erfahrungsinhalt ändert aber nicht im geringsten die Tatsache meines Erlebnisses, daß ich es nämlich so und so erlebt habe; sie kann diese Tatsache nicht rückgängig machen und ‚wegwischen’. Diese Undurchstreichbarkeit kann hier als Probierstein für die Apodiktizität im neuen Sinn dienen (Ms. A I 31/ 12a = XXXV, 402). Schon in den Londoner Vorträgen bezieht Husserl Apodiktizität im phänomenologischen Sinne auf „das Faktum der Erfahrung” (LV, 208 = XXXV, 69). Diese Apodiktizität erstreckt sich über den ganzen Bereich der Erfahrung: Es ist apodiktisch unbezweifelbar, daß ich mich jetzt an das und das erinnere, das und das erwarte, vermute, phantasiere, urteile, begehre, fühle usw. (LV, 209 = XXXV, 70). Die Apodiktizität in diesem Sinne betrifft aber nicht den Sinn- bzw. Bestimmungsgehalt des Erfahrenen: „Nicht auf Recht und Unrecht meines cogito darf diese Evidenz im mindesten erstreckt werden” (ebd.). Gerade diese ‚Beschränkung’ gewährleistet paradoxerweise den 40
Ein Teil des Ms. A I 31 ist in XXXV (401-406, 410-411) veröffentlicht. Daß die Apodiktizität eventuell inadäquat sein kann, wird im Hinblick auf die Evidenz des ‚Ich bin’ deutlich gemacht (Ms. A I 31/ 11a = XXXV, 401). 42 Vgl. III/1, 19; III/2, 619; Ms. A I 31/ 27b = XXXV, 411. 41
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umfassenden Charakter jener Evidenz. Auch wenn ich urteile 2 × 7 = 15, ist das faktische Erlebnis des Urteilens ‚apodiktisch’ gegeben. Die Evidenz oder Nicht-Evidenz des Erfahrungsgehalts ist insofern irrelevant, als es hier um die Apodiktizität der faktischen ‚egologischen Wahrnehmung’ geht: „Was diese apodiktisch feststellt, ist bloß die Tatsache, daß ich so und so erfahre, mich erinnere, denke, fühle, will” etc. (ebd.). Mögen die vollzogenen Stellungnahmen auch unrichtig sein, „als Tatsachen sind sie absolut” (LV, 211 = XXXV, 321). So ergibt sich die „Unterscheidung zwischen der Apodiktizität des Faktums (und das ist eine einzige, die des Ego für sich selbst) und der Apodiktizität im gewöhnlichen und besonderen Sinn, der aller Wesensgesetze” (XXXV, 287). Die Apodiktizität im phänomenologischen Sinn gehört nur zum ‚Ego’ und seinem ‚cogito’ überhaupt. Das Ego ist aber keine sichere ‚Insel’ im Erfahrungsfeld, sondern das Medium des Erscheinens, das immer schon vorausgesetzt ist, aber in der gegenständlich orientierten Einstellung nicht sichtbar wird. ‚Voraussetzung’ darf dabei nicht im Sinne einer logischen ‚Prämisse’ verstanden werden. Das Ego ist kein Ansatzpunkt einer Deduktionskette, sondern als das universalste ‚Medium’ immer schon ‚da’, in dem alle sonstigen Evidenzen auftreten. Als ‚Medium’ ist es mit allen Evidenzen und Evidenzerlebnissen untrennbar ‚eins’: „Das Weltliche und die Welt überhaupt, die für mich beständig ist, ist nicht hypothetisch bedingt durch mein Sein als Ego, aber was immer ich erfahre, es ist in eins mit ihm erfahren, in der Weise des in ihm Erfahrenen gegeben [...]. So bin ich als Ego mit allem und jedem, was für mich soll sein können, eins, wie immer dies Miteinandersein aufzuklären ist in seinen ausgezeichneten Eigenheiten.” (Ms. A I 31/ 10b). Obwohl die Apodiktizität des faktischen ‚Ich bin, ich erfahre’ in diesem Sinne von dem darin Erfahrenen untrennbar ist, kann ihr Sinngehalt in eidetischer Hinsicht durchaus des Charakters des ‚Nicht-anders-sein-Könnens’ entbehren. Wenn ich urteile 2 > 3, ist das Geurteilte selbst nicht evident, aber ich kann die erlebte Tatsache, daß ich so urteile, nicht durchstreichen, sie ist also im phänomenologischen Sinne ‚apodiktisch gewiß’. Diese konkrete Erfahrungstatsache enthält aber auf gewisse Weise ihren Erfahrungsgehalt: Aus der Perspektive der unmittelbaren Erlebtheit hat auch dieser Gehalt einen besonderen Charakter des ‚Nicht-anders-sein-Könnens’; denn es wäre eine andere Erfahrungstatsache, wenn ich statt 2 > 3 doch richtig 2 < 3 urteilen würde. Auch die mögliche Korrektur setzt die primäre ‚apodiktische’ Erlebtheit voraus, in der allein das zu Korrigierende ‚ansprechbar’ ist. Das Erfahrene ist in seinem So-und-so-erfahren-Sein apodiktisch; die Evidenz oder Nicht-Evidenz seines Erfahrungsgehalts muß dagegen unabhängig von dieser primären Apodiktizität entschieden werden. Das ‚Sosein’ des erfahrenen Gehalts kann also nicht ohne weiteres seine eidetisch-allgemeine Gül-
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tigkeit behaupten: „Wir haben das Ego cogito als einen Bereich absoluter Erkenntnisse, die aber hinsichtlich des So-Seins keineswegs vollkommen sind [...]” (Ms. A I 31/ 29a).43 Die Apodiktizität des ‚Ich bin’ und ‚Ich erfahre’ ist also die fundamentale Evidenz, die jeden Zweifel ausschließt. Auch wenn man sie bezweifeln wollte, gibt es noch keinen sinnhaft differenzierten Inhalt, der anders sein könnte. Das Zweifeln selbst setzt schon die Apodiktizität des zweifelnden ‚ego cogito’ und das apodiktische Erlebtsein des zu Bezweifelnden voraus. Die apodiktische Evidenz ist inhaltlich gesehen völlig ‚anspruchslos’, aber – und deswegen – das Umfassendste und Fundamentalste, das überhaupt denkbar ist.44 Die inhaltliche Vollständigkeit bezieht sich vielmehr auf die Adäquatheit der Evidenz. ‚Adäquat’ besagt, daß das Vermeinte in aller Hinsicht vollkommen erkannt ist; es bleibt nichts übrig, was seinen Meinungshorizont ausmacht und noch nicht erfüllt ist.45 Dies unterscheidet deutlich die Adäquatheit von der Apodiktizität: „Adäquate und apodiktische Selbstgebung und Prädikation auf dem Grunde der Selbstgebung: Apod geht auf Sein, Notwendigkeit des Seins, Unmöglichkeit des Nicht-Seins, Adäquation auf den Gehalt, das So-Sein” (Ms. A I 31/ 31a).46 Die adäquate Evidenz verlangt nicht nur die Unbezweifelbarkeit des Seins, sondern auch das inhaltliche Nicht-anders-sein-Können des Soseins: „[...] adäquate Erkenntnis ist apodiktisch, aber nicht jede apodiktische ist adäquat” (Ms. A I 31/ 37a).
2.4 Die ‚Nähe’ der apodiktischen Evidenz des Ego: Perspektivische Erkenntniskritik Die Urevidenz des ‚Ich bin, ich erfahre’ wurde als ‚Apodiktizität’ im prägnanten Sinne herausgearbeitet im Gegensatz zur ‚Adäquatheit’. Im folgenden soll der Zusammenhang zwischen den beiden (und auch anderen) Evidenzarten erörtert werden. Auf diese Weise wird die Bedeutung der apodiktischen Evidenz innerhalb der ganzen Evidenzkonstellation deutlicher hervortreten. Es sei zunächst daran erinnert, daß die Apodiktizität des Ego keine punktuelle Evidenz ist, als ob nur das Ego evident wäre und alles andere ungewiß oder Schein. ‚Evidenz’ bei Husserl deckt sich dem Umfang nach mit 43
Vgl. auch Ms. A I 31/ 27b = XXXV, 411. Zur Unhintergehbarkeit der Apodiktizität vgl. besonders folgende Stelle: „Absolute Evidenz im Sinne apodiktischer Zweifellosigkeit rechtfertigt sich durch die Sache selbst, nämlich durch Übergang in ebensolche Evidenzen. Alle diese Evidenzen sind ‚zweifellos’, fraglos gültig, die weitere Frage nach dem Grund der Geltung ist widersinnig, und auch das sehe ich eben in derselben Weise” (Ms. A I 31/ 29a). 45 Vgl. Ms. A I 31/ 36b, 37a, b. 46 Vgl. XIV, 433. 44
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,Erfanrung’ überhaupt. Auch der nicht apodiktische Erfahrungsgehalt gibt sich in seiner spezifischen Evidenz, sofern er erfahrungsmäßig gegeben ist. Es gibt also verschiedene Arten der Evidenz: Die Dingwahrnehmung ist eine ‚perspektivische’ Erfahrung, die wesensmäßig einen präsumtiven Charakter hat: Ihr Gegenstandsbezug ist notwendig durch die perspektivischen Darstellungen vermittelt; dabei „komme ich nie zu einem ‚nackten’ unverhüllten Selbst” (Ms. A I 31/ 12b = XXXV, 403). Dies führt uns aber keineswegs zu einem verzweifelten Relativismus oder Skeptizismus. Das perspektivische Sich-Zeigen stellt vielmehr die spezifische Evidenzart des realen dinglichen Gegenstandes dar. In der perspektivischen Erfahrung liegt ein „Vorgriff auf ein Optimum” (ebd. 13a = 404), der das Streben nach Adäquation bedeutet. Das wahre ‚Selbst’ des dinglichen Gegenstandes ist der ideale „Limes” dieses Erfahrungsprozesses (ebd.),47 an dem „jede Spannung zwischen Erscheinung und Erscheinendem verschwindet” (Ms. A I 31/ 24b). Es ist als diejenige ‚Idee’ gegeben, auf welche jede dazugehörige ‚einseitig-relative’ Erscheinung über sich hinausweist; 48 die Erscheinungen deuten in ihrer Nicht-Endgültigkeit selbst – nämlich in ihren Leermeinungen – auf die Wege hin, auf denen sich die Erfahrung mit steigernder Evidenz dem Ideal der Adäquation ‚annähern’ kann. Auch die ‚Welt an sich’ ist eine Idee, die sich nie vollständig gibt: „Die Welt an sich, die endgültig wirkliche, ist nie gegeben” (XV, 614). Das besagt aber nicht, daß die Welt, die wir erfahren, eine Illusion wäre. Die erfahrene Welt ist in jeder Phase ‚wirklich’, aber zu ihrem Wesen gehört, daß sie notwendigerweise über sich hinaus auf weitere Erscheinungen verweist; die ‚Welt an sich’ als Idee ist also Korrelat des unendlichen Prozesses der Welterfahrung.49 Die Erfahrung der Welt findet nie ihren Abschluß, sondern ist immerfort ‚auf dem Weg’.50 Die Adäquation ist dabei das ‚Telos’ der Erfahrung, das nie zur vollkommenen Erfüllung zu bringen ist. Das schadet aber dem Evidenzcharakter der Welterfahrung nicht im geringsten; ganz im Gegenteil: Gerade in der Annäherung an dieses Telos hat die Welterfahrung ihre präsumtive Evidenz, die in jeder Phase ihre relative Erfüllung hat: „Die Welt ‚beweist’ sich in der Form einer apodiktischen Präsumtion, die sich ständig bewährt, aber in ständiger Relativität” (XXIX, 330). Darin zeigt sich
47
Vgl. auch Ms. A I 31/ 31a, 33a, 36b, 38a; XI, 431. Vgl. XIV, 245f., 286f.; IX, 180, 186, 431. 49 Zur Gegebenheitsweise des ‚Limes’ überhaupt vgl. folgendes Zitat: „So ist der Limes ein selbst Nicht-Gegebenes, aber adäquat gegeben jedes Glied, jede Phase der Approximation und apodiktisch, daß sie ein Ziel hat” (Ms. A I 31/ 31a). 50 Zum wesentlich perspektivischen Charakter der natürlichen Erkenntnis vgl. Ms. A I 31/ 26b = XXXV, 406, und folgende Stelle: „Menschliches Dasein, menschliches Leben spielt sich als ihm selbst horizonthaft in der beständigen und beständig beweglichen Spannung der Bekanntheit und Unbekanntheit, der Nähe und Ferne ab [...]” (XV, 395). 48
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deutlich der Charakter der Evidenz als Weg, der mit ihrem Ziel-Charakter wesentlich untrennbar ist.51 Es ist nun zu beachten, daß die fundamentale Apodiktizität des Ego diesen unendlichen Prozeß der Welterfahrung derart fundiert, daß diese ständig in jenem ‚Medium’ statthat, sofern es sich dabei überhaupt um eine Erfahrung handelt.52 Die perspektivische Annäherung an die Adäquation ist ohne das konkrete ‚Ich bin, ich lebe’ als mediale Urstätte der Erfahrung undenkbar: „So bin ich präsumtiv gewiss, dass die Welt ist — gewiss, solange ich so lebe, wie ich lebe. Die erste Gewissheit: ich bin, ich lebe, absolut undurchstreichbar” (XIV, 442). Erst auf dem universalsten Boden dieser Apodiktizität kann sich das Evidenzstreben der Welterfahrung überhaupt in Gang setzen, das sich auf präsumtivem Wege dem Ideal der Adäquation annähert. Dies ist als die allgemeinste Konstellation von Evidenzerfahrung zu betrachten, die eine triadische Struktur von Apodiktizität, Präsumtivität und Adäquation ausmacht.53 Aufgrund dieser Erörterungen kann nun besonders hervorgehoben werden, daß nicht nur die Welterfahrung, sondern auch die Bewegung des Evidenzstrebens überhaupt ‚perspektivischen’ Charakter hat: Sie schreitet vom „absolut Nahen und selbst Absoluten” zum „Ferneren und Fernsten” fort (Ms. A I 31/ 26b = XXXV, 406). In dieser Hinsicht spricht Husserl von einer „perspektivischen Kritik der transzendentalen Erfahrung” bzw. einer „perspektivischen Erkenntnistheorie” (ebd.). Mit jenem ‚absolut Nahen’ ist die Apodiktizität des Ego gemeint, die als ‚Lebendigsein’ der lebendigen Gegenwart zu verstehen ist. Ihr fundierender Charakter für das Evidenzstreben wird auf folgende Weise ausgedrückt: „Das Ich in einer Reduktion auf die Gegenwart und jedes abzuhebende Gegenwartserlebnis, reduziert auf das rein Gegenwärtige, und zwar auf das strömend Gegenwärtige und eventuell seine darin konstituierte Einheit – von diesem apodiktisch absolut Nahen und auf seinem Grund, unter seiner Voraussetzung +führt, der Weg zu den 51
Erinnert sei auch an den Zugangscharakter der Evidenz; vgl. Kapitel VII, 2.1. Brand bemerkt treffend: „Evidenz ist Prinzip, Methode und Ziel in eins” (Brand 1955, 5). Husserl selbst charakterisiert die „Wahrheit” als „Ziel” und „Weg” (Ms. A I 31/ 19a, b); vgl. auch Lohmar 2000, 196. 52 Den Medium-Charakter des Ego präzisiert Husserl auch dadurch, daß „Objektivität als ein in der Subjektivität Erzielbares nirgendwo sonst seine Stätte haben kann als eben in ihrem Bewußtseinsbereich selbst [...]” (VII, 84). 53 Vgl. dazu Nitta 1997, 286f. Der Präsumtivität der Erfahrung ist die ‚Relativität’ der Evidenz deutlich zu entnehmen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese ‚Relativität’ erstens nur auf dem Grund der ‚absoluten’ Apodiktizität möglich ist und zweitens ein System der intentionalen Verweisungen und Modifikationen darstellt, innerhalb dessen jede ‚relative’ Evidenz einen sicheren ‚Stellenwert’ haben kann. Der sogenannten ‚Relativitätstheorie’ der Evidenz ist insofern kein skeptischer Relativismus zu unterstellen. Zu diesem Thema vgl. VIII, 34; XVII, 284ff.; Heffernan 1983, 166ff.; ders. 1998, 55ff.; Lohmar 2000, 195ff. Zur ‚Gradualität’ der Evidenz vgl. Ms. A I 31/ 35bff., 38a; sowie Kapitel II, 3.3.
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weiteren Apodiktizitäten für mich, dieses absolute und reduzierte Ich” (Ms. A I 31/ 26a = XXXV, 406). Die perspektivische Evidenzbetrachtung nach ‚Nähe und Ferne’ steht schon in den Ideen I im Vordergrund, wenn Husserl von den „Klarheitsstufen” spricht.54 Dieser Blickwinkel ist auch in der Darstellung der „Methode der Klärung” in den Ideen III ausgeprägt.55 Demzufolge gibt es „für alle Gegenstände eine Anschauungsnähe und eine Anschauungsferne, ein Emportauchen in das helle Licht, das einen inneren Reichtum an bestimmten Momenten herauszuanalysieren gestattet, ein Zurücksinken ins Dunkel, in dem alles verschwimmt” (V, 104). Dabei ist aber die fundamentale Bedeutung der Apodiktizität des Ego noch nicht klar sichtbar. Unter der ‚absoluten Nähe’ wird vielmehr die ‚Adäquation’ als die zu erreichende ‚Idee’ verstanden. Dasselbe gilt auch für eine Beilage der Analysen zur passiven Synthesis, welche die „Nähe und Ferne innerhalb der Klarheit” (XI, 383) behandelt. Dort wird die ‚absolute Nähe’ folgendermaßen erläutert: „Die optimale Erscheinung, die der absoluten Nähe, ist das absolute Maximum, in dem das Durchscheinen aufhört und die Erscheinung nicht mehr durch sich hindurch auf Neues verweist, sondern selbst der terminus ad quem ist” (XI, 383). Das widerspricht aber nicht der Auffassung von der ‚absoluten Nähe’ als Apodiktizität. Die Frage ist hier, wozu eine Anschauung ‚nah’ ist. Husserls Rede von der „Ichnähe und Ichferne” (XIII, 248; III/1, 189) weist darauf hin, daß das Ich bei ‚Nähe und Ferne’ schon von Anfang an als der einzigartige „Beziehungspunkt” (III/1, 189) – oder besser: als „Nullpunkt”56 – eine fundamentale Rolle spielt. Bei ‚Nähe und Ferne’ geht es nicht um eine umkehrbare, sondern um eine asymmetrische Beziehung mit eindeutiger ‚Richtung’. Die ‚absolute Nähe’ ist kein bloßer Grenzpunkt, sondern der ‚Null- und Quellpunkt’ aller perspektivischen Gerichtetheit und Distanz, ohne den es weder Nähe noch Ferne geben kann. Das Ich ist also die ‚Null’ der Orientierung für die gesamte Nah-Fern-Perspektive der Evidenzen. Man darf dabei nicht übersehen, daß dieses ‚Null’-Phänomen diejenige Struktur der intentionalen Modifikation und der Sinnesverdoppelung hat, die im letzten Kapitel ausgeführt wurde: Alle Nähen und Fernen der Evidenz verweisen auf die Apodiktizität des Ego als ‚absolute Nähe’, die von ihnen allen als Urgrund vorausgesetzt ist. Jede Nähe und Ferne impliziert die Beziehung auf die ‚Null’, die aber selbst nicht von ihnen sinnhaft abhängig ist. Vielmehr verlöre ohne diese Beziehung jede relative Nähe und Ferne ihren 54
Vgl. III/1, 141ff. Vgl. besonders V, 101ff. 56 In bezug auf die „phänomenale Nähe und Ferne” der Vergangenheit spricht Husserl aus drücklich vom „Nullpunkt” und „Nahpunkt” (XXXIII, 148). Daß dieser maßgebende Nullpunkt das Ich bedeutet, ist folgender Formulierung zu entnehmen: „Das unklar Wiedererinnerte ist mir ‚ferner’, das klare ist mir ganz ‚nahe’” (XXXIII, 51; m. H.). Zur „Erinnerungsnähe und -ferne” vgl. auch Ms. C 14/ 4a. 55
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Sinn. In dieser Hinsicht muß die ‚absolute Nähe’ von der ‚relativen Nähe’ streng unterschieden werden. Die erstere ist das Medium, durch das alle Nähen und Fernen erst erscheinen können. 57 In dem so eröffneten perspektivischen Horizont nimmt sie aber selbst eine Stellung ein, die zwar als ‚Nullstellung’ noch einen besonderen Charakter hat, aber schon neben anderen Stellungen steht. Die ‚absolute Nähe’ gliedert sich selbst in die durch sie erschlossene perspektivische Konstellation ein, in der sie jetzt in der Relativität zur ‚Ferne’ aufgefaßt wird. Dieser ‚Doppelsinn’ von ‚Nähe’, der aus der intentionalen Modifikation resultiert, spielt in der Struktur des Evidenzstrebens eine entscheidende Rolle. (1) Oben wurde schon festgestellt, daß jede Evidenz hinsichtlich ihres ‚Ich erfahre’ absolut undurchstreichbar ist. Dies ist dahingehend zu verstehen, daß jede Evidenz in einer primitiven ‚Nähe’ erlebt wird, welche die mediale Basis für das Evidenzstreben bedeutet. Ohne die ‚absolute Nähe’ als das primitive ‚Ich bin, ich erfahre’ kann es kein Evidenzstreben geben. (2) Die Evidenz ist hinsichtlich ihres inhaltlichen ‚Soseins’ modalisierbar.58 Die Modalisierbarkeit bedeutet jedoch, daß sich jede Evidenz im System des Evidenzstrebens bewegt, in dem auf die ‚Wege’ zur Evidentmachung in mehrfacher Weise verwiesen ist. 59 In dieser ‚Evidentmachung’ spielt die ‚Nähe’ im zweiten, relativen Sinn eine entscheidende Rolle. Das ‚Evidentmachen’ des ‚noch nicht Evidenten’ besagt, daß ich den zu erkennenden Gegenstand in meine ‚relative Nähe’ bringe.60 Im Grenzfall könnte ich ihn in meiner ‚absoluten Nähe’ erfahren, die aber hier die absolute ‚Adäquation’ als die unerreichbare Idee darstellt.61 Es ist aber apodiktisch zu erkennen, daß diese als Idee gegeben ist;62 d. h., das An-sich des Gegenstandes ist zwar das ‚Fernste’ hinsichtlich der vollkommenen Erfüllung, erscheint aber notwendig auf dem Grund bzw. im Medium der apodiktischen ‚Nähe’, sofern es überhaupt erscheint und im weitesten Sinne ‚gegeben’ ist. In diesem Sinne 57
Husserl charakterisiert die „aktuelle Gegenwart” als „Urnähe”, d. i. „Urmodus” für die zeitlichen Nähen und Fernen (Mat VIII, 292). Daraus ist deutlich die modifikationstheoretische Bedeutung der ‚absoluten Nähe’ zu entnehmen. Diese betrifft auch die ‚absolute Nähe’ in der Evidenzlehre. 58 Vgl. Ms. A I 31/ 29b, 36a. 59 Fink schreibt zu Recht: „Originäre und nichtoriginäre Bewußtseinsweisen stehen nicht nebeneinander, getrennt und unbezüglich, sondern bilden eine Sinneinheit, einen Sinnzusammenhang, ein zusammengehöriges System” (Fink 1966, 206). 60 Das wird auch „Näherbringen” (V, 104), „Näherkommen an das Selbst” (Ms. A I 31/ 35b) oder „Näherkommen” als tendenzielle und relative Erfüllung (XXXIV, 166) genannt. 61 Zu dieser ‚absoluten Nähe’ im Sinne des adäquaten Optimums vgl. Ms. A I 31/ 24b; C 14/ 2b, 3a. Man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß sie nur ein Ideal darstellt, das immer eine – wenn auch minimale – „Ichferne hat” (VIII, 13). In diesem Sinne ist die wirkliche ‚Nähe’ nur der Apodiktizität der ichlichen ‚Null’ zuzuschreiben. 62 Vgl. folgendes: „Jedes, auch das Ferne kann klar gesehen sein, Klarheit weist selbst auf einen endlichen Limes des relativen Selbst” (Ms. A I 31/ 35b).
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„bin ich immer schon bei dem Gegenstand selbst” (Ms. A I 31/ 36a). Darin zeigt sich der Zugangscharakter der Evidenz. Die apodiktische Evidenz des Ego ist also – zusammengefaßt gesagt – bei jeder Evidenz (jeder näheren und ferneren, einschließlich der fernsten) und ihren inhaltlichen Momenten immer schon als das ‚durchsichtige Medium’ dabei. In diesem apodiktischen Medium vollzieht sich erst die Bewegung des Evidenzstrebens überhaupt. Hier ist allerdings auf die Anonymität dieser ‚medialen’ Evidenz zu achten: Als das Medium des eigenen ‚Schauens’ ist die Apodiktizität des Ego einerseits das ‚Nächste aller Nächsten’, aber andererseits wegen dieser äußersten Nähe gerade nicht leicht durchschaubar. Vielmehr muß man sagen, daß sie in der gewöhnlichen thematischen Richtung des Evidenzstrebens strukturell nicht auftreten kann, da sie dabei als ‚Ankergrund’ und ‚Medium’ aller Thematisierung ständig vorausgesetzt ist. Auch das philosophische Evidenzstreben bildet davon eigentlich keine Ausnahme. Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß diese ‚mediale’ Evidenz keine inhaltlich bestimmte Evidenz ist, die man unter die inhaltlich je verschieden bestimmten Evidenzen einordnen könnte; man kann sie vielmehr gerade nicht auf solche Weise ‚festnageln’ und ‚vor Augen’ haben. Im folgenden soll diese Eigentümlichkeit der Apodiktizität des Ego im Hinblick auf deren ‚Selbstverständlichkeit’ näher betrachtet werden.
2.5 Das ‚Ich bin’ als die ‚selbstverständlichste Selbstverständlichkeit’ Die ursprüngliche Apodiktizität des Ego ist als ‚Medium’ eigenen Sehens zwar höchst schwer zu durchschauen; aber damit ist nicht gemeint, daß von ihr überhaupt nichts zu wissen wäre, daß sie nur spekulativ konstruierbar wäre. Sie ist vielmehr allzu klar bewußt, so daß sie gewöhnlich gar nicht eigens bewußt gemacht werden muß. 63 Bei der natürlichen, im weitesten Sinne praktisch orientierten Evidenzsuche fehlt jede Motivation, diese ‚selbstverständlichste’ Klarheit überhaupt zu thematisieren, da dies gar nicht erforderlich ist. Selbst beim Philosophieren bleibt diese meist ein stummes Medium. Die ‚mediale’ Apodiktizität des Ego macht also die tiefste Selbst-
63
Die apodiktische Evidenz des Ego ist, aristotelisch gesagt, ein ‚an sich Früheres’, aber ‚für uns Späteres’ (vgl. Aristoteles: Physik I 1, 184a17ff.; Metaphysik VII 3, 1029b 1-12). Mit dieser Sichtweise ist Husserl schon seit der frühen Schaffensphase vertraut; vgl. XVIII, 255 (1900); Mat III, 81 (1902/03); XXIV, 249 Anm. 1 (1906/07); dazu auch Ströker 1988, 261. Ein Einfluß Heideggers ist in dieser Hinsicht nicht anzunehmen, obwohl nicht auszuschließen ist, daß Husserls spätere Zusammenarbeit mit ihm eine Aufmerksamkeit auf diese Sichtweise verstärkt haben könnte; vgl. Heidegger 1927, 15, 43; 1975, 220; 1976, 331f.
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verständlichkeit aller Evidenzstrebungen aus. 64 Dieses selbstverständliche ‚Wissen’ soll im folgenden näher charakterisiert werden. 2.5.1 Das nicht-urteilende ‚Wissen’ von der ‚medialen’ Urevidenz Die Apodiktizität des Ego ist nicht objektiv zu fixieren, da jede objektive Evidenz erst in diesem ‚Medium’ auftritt. Wenn man glaubt, daß diese ‚Ungreifbarkeit’ der letzten Apodiktizität ihrer Wahrhaftigkeit schaden würde, geht man stillschweigend von einem bestimmten Wahrheitsbegriff aus, demzufolge die Wahrheit als solche mit der gegenständlichen Wahrheit ohne weiteres zu identifizieren sei. Dagegen wurde schon zuvor aufgezeigt, daß die als Gegenstand betrachtete Wahrheit nur ein Moment der ‚Evidenz’ im weitesten Sinne ist, die eine sich noetisch-noematisch erstreckende ‚Evidenzerfahrung’ darstellt. Ohne diese ist die gegenständliche Wahrheit eigentlich nicht denkbar. Daraus geht hervor, daß die Apodiktizität des Ego auch keine Evidenz des Urteils ist, das die Existenz eines Seienden mit dem Namen ‚Ego’ behauptet, da dies schon als ein zu beurteilender Gegenstand vorgestellt ist. Die Apodiktizität des Ego besteht ebensowenig in einer ‚wahren’ Verknüpfung zwischen Subjekt und Prädikat, weil die ‚Wahrheit’ dieser Verknüpfung ihren letzten Grund wiederum in der fraglichen Apodiktizität hat, um überhaupt als ‚wahr’ eingesehen zu werden. Husserl charakterisiert die Evidenz nicht nur durch die „Selbstgebung”, sondern auch durch die „Normgebung der Richtigkeit” (Ms. A I 31/ 35a). Dabei unterscheidet er einerseits „die Richtigkeit der Meinung als ihr Recht” und andererseits „das ‚Selbst’, das satte, erfüllte Urteil, die Wahrheit als das Telos, der richtunggebende Pol” (ebd.). Das letztere, betont Husserl, „darf nicht verwechselt werden mit dem Sich-Richten des prädikativen Urteils nach der unterliegenden Erfahrung” (ebd.).65 Die letzte Apodiktizität ist also keine bestimmte Wahrheit, die sich unter anderen ‚Wahrheiten’ behaupten würde, sondern der letzte und allgemeinste Grund für das ‚Wahr-sein’ überhaupt bzw. für das ‚Als-wahr-Erscheinen’ und ‚Als-wahr-Erfahren’ überhaupt; dies ist bei jedem Urteil notwendig vorausgesetzt, sofern es etwas als ‚wahr’ behauptet. Die Apodiktizität im neuen Sinne ist also mit der absoluten Evidenz als Maß gleichzusetzen, die ich im 64
Vgl. dazu folgende Bemerkung Helds: „Das anonyme Faktum des ‚Ich fungiere’ ist eine so ‚selbstverständliche’ und darum gerade unverständliche ‚Vorgegebenheit’ [...]” (Held 1966, 162). 65 Die Gleichsetzung der Evidenz überhaupt mit der urteilenden Evidenz kritisiert Husserl scharf: „Es ist das verderblichste aller verbreiteten Vorurteile, daß Evidenz und ‚logische’ Evidenz einerlei ist, daß mittelbare Evidenz soviel hieße wie logisch deduktive und unmittelbare soviel wie axiomatische, wie die ‚unmittelbar evidenter Aussagen’ (‚Urteile’)” (XXIX, 150).
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II. Kapitel anhand der frühen Evidenzlehre erläutert habe. Sie ist als ‚Maß’ aller Evidenzen schlechthin unbezweifelbar. Diese Zweifellosigkeit ist aber keine dogmatische, die etwa andere Möglichkeiten ausschließen müßte, um sich zu behaupten. Ein Urteil ‚A ist B’ begleitet notwendig andere denkbare Möglichkeiten wie ‚A ist nicht B’, ‚A ist vielleicht B’ usw., auch wenn sie faktisch oder a priori als ‚Unmögliches’ auszuschließen sind. Für die nichturteilsmäßige Evidenz des apodiktischen ‚Ich bin, ich lebe’ gibt es aber keine andere – sei es reale, ideale oder phantasiemäßige – Alternative, die zu verneinen wäre.66 Auch alle Phantasiemöglichkeiten sind in dieser Apodiktizität verwurzelt: „Die Phantasiemöglichkeiten als Varianten des Eidos schweben nicht frei in der Luft, sondern sind konstitutiv bezogen auf mich in meinem Faktum, mit meiner lebendigen Gegenwart, die ich faktisch lebe, apodiktisch vorfinde und mit allem, was darin enthüllbar liegt” (XXIX, 85).67 Jeder Zweifel muß ebenfalls die letzte Apodiktizität voraussetzen, sofern er das zweifelnde Urteil als das ‚wahre’, ‚richtige’ vollzieht. Selbst der Skeptizismus, der behauptet, alle Erkenntnisse seien unsicher, bewegt sich stillschweigend auf dem Grund bzw. im Medium der ‚absoluten Evidenz’ im Sinne der letzten Apodiktizität.68 Man müßte wohl sagen: Ob man davon weiß oder nicht, leben wir immer schon in dieser ‚absoluten’ Evidenz: „Man lebt in der Evidenz, reflektiert aber nicht über Evidenz” (XXIV, 164).69 Das betrifft auch den Wissenschaftler: „Solange wir in den Wissenschaften darin stehen und sie naiv betreiben, leben wir in der Evidenz ihres Verfahrens [...]” (XXX, 322). „Während wir, Wissenschaften von den verschiedenen Gegenständlichkeiten treibend, in der Evidenz leben, das Vernunftbewußtsein vollziehen mit dem Gehalt, den eben Erkenntnis solcher Gegenständlichkeiten fordert, ist dieses Bewußtsein nicht unser Objekt, wir erleben es, wir erkennen es aber nicht” (XXX, 329).70 Die Evidenz ist also ein anonymes ‚Ur-Element’ des vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens, in dem es sich ständig bewegt. Die charakteristische Evidenzdefinition der Cartesianischen Meditationen muß dahingehend verstanden werden: „Im weitesten Sinne bezeichnet Evidenz ein allgemeines Urphänomen des intentionalen Lebens” (I, 92). Husserl bezeichnet die Evidenz auch als „einen wesensmäßigen Grundzug des intentionalen Lebens überhaupt” (I, 93). Die Apodiktizität des ‚ich bin, ich lebe’ ist das letzte anonyme Medium, auf dem dieser Zug der Evidenz beruht.71 66
Vgl. Ms. B I 5/ 17a. Vgl. auch Ms. E III 9/ 7b. 68 Vgl. XXIV, 147, 397f.; Mat III, 85. 69 Zur Unterscheidung zwischen unthematisch gelebter und reflektierter Evidenz vgl. XXIV, 432, 374 (auch 123, 125); Ms. K III 6/ 103b. 70 Vgl. dazu auch XVII, 206; Ms. B II 22/ 4a. 71 Insofern bezieht sich die Evidenz nicht nur auf die ‚begriffliche’, sondern auch auf die ‚vorbegriffliche’ Sphäre, in der ich noch keine Aussage mache (Ms. A I 31/ 24a). 67
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Auf diese Weise ist die Apodiktizität des ‚ich bin, ich lebe’ immer schon ‚vorausgesetzt’. Mit dieser ‚Voraussetzung’ ist keine aktive Setzung einer „Prämisse” gemeint, also nicht eine „aktive Seinssetzung, ‚auf die hin’ eine Nachsetzung statthat”, und zwar in der Weise des durch jene begründeten Schlusses (Ms. B I 5/ 22a). Die Aussage: „Voraussetzung besagt nicht: Prämisse” (VII, 246 Anm.) charakterisiert Husserl anschließend durch die Vorgängigkeit des sich immer schon anonym vollziehenden Lebens: „Wir beschrieben also unter dem Titel ‚Voraussetzung’ den allgemeinen Sinn natürlichen Lebens, den es als solches also immerzu in sich trägt — als eine Form aller seiner Überzeugungen, ohne daß er je herausgestellt würde” (ebd.). Die Apodiktizität des Ego wird somit nicht etwa ‚logisch’ oder ‚spekulativ’ angenommen,72 sondern ist ein Ausdruck für das immer schon anonym fungierende Selbsterleben, in dem ich meiner selbst auf nicht-gegenständliche Weise ‚bewußt’ bin. Die Apodiktizität besteht in meinem urfaktischaußerthematischen ‚Dabeisein’ bei meinem eigenen Leben,73 oder genauer, darin, daß ich dieses eigentümliche ‚Selbstwissen’ des Lebens nie durchstreichen kann, sofern ich lebe. „Mein eigenes Sein ist für mich unverlierbar, nämlich mein Sein ist, während ich was immer erfahre, bewusst habe (darin beschlossen mich selbst im Thema), unbezweifelbar, undurchstreichbar und bei allem, was für mich ist, ‚dabei’, sofern alles zunächst Gemeintes meiner Meinungen ist [...]” (XIV, 433).74 Die ‚Undenkbarkeit’ der Verleugnung dieses ‚Ich bin’ besagt nicht etwa, daß es als ‚Satz’ oder ‚Formel’ unbezweifelbar wäre; eine formale Negation des ‚Ich bin’ ist immer schon möglich (‚Ich bin nicht’). Es verhält sich nicht so, als ob die Aussage ‚Ich bin’ nicht falsch sein könnte (XIV, 433): „Es ist mir unmöglich, dieses Ich in dieser mir evident möglichen Epoché und mein strömendes Leben zu bezweifeln oder zu negieren, was aber nicht besagt, dass jede Aussage, die ich nun machen wollte, richtig sein muss und dass für sie ‚objektive’ Wahrheit in welchem Sinn immer bestehe” (XIV, 436).75 Dagegen hebt Husserl hervor, daß es sich bei dem apodiktischen ‚Ich bin’ um „ein beständiges unthematisches Leben” (XIV, 433) handelt, das für seinen eigenen Vollzug in Konkretheit die fundamental-‚mediale’ Basis bietet. Insofern kann man es nicht schlechthin ‚dogmatisch’ nennen, wenn Husserl sagt: „Beim ego angelangt, wird man dessen inne, daß man in einer Evidenzsphäre steht, hinter die zurückfragen zu wollen ein Unsinn ist” (VI, 192). 72
Ich setze mein Sein nicht „als Hypothese” (Ms. B I 5/ 15a; vgl. B III 1/ Tr. 8). Vgl. XIV, 431. 74 Zum nicht-gegenständlichen Selbstbewußtsein vgl. Kern 1989; Ni 1998 und vor allem Zahavi 1999. Kern betont dessen non-egologischen Charakter; Zahavi weist dagegen mit Hilfe einer Sartre-Kritik auf Schwierigkeiten der non-egologischen Bewußtseinskonzeption hin (138ff.), wobei er treffend aufweist, daß diese Differenz der Auffassungen an der Mehrdeutigkeit des ‚Ich’ liegt (142ff.). 75 Vgl. auch XXXIV, 238. 73
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Das ist keine beliebige Abschneidung der Evidenzsuche, sondern ein Ausdruck für das ‚Selbstbewußtsein’ des letzten Mediums, in dem sich jede Evidenzsuche – einschließlich des Philosophierens – abspielt.76 2.5.2 Die absolute Selbstverständlichkeit als ‚Verständlichkeit des absoluten Selbst’ Es wurde herausgestellt, daß die Apodiktizität des Ego als ‚Medium’ allen Wissens in jeder Evidenzstrebung immer schon ‚vorausgesetzt’ ist, daß dieses Voraussetzen aber nicht ein aktives Setzen der Prämisse bedeutet, sondern vielmehr auf die Urtatsache hinweist, daß wir immer schon ‚in der Evidenz leben’, ohne uns dessen thematisch bewußt zu sein. Darin zeigt sich die ‚Selbstverständlichkeit’ der apodiktischen Evidenz. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine naive ‚vermeintliche’ Selbstverständlichkeit, die durch weitere Rückfragen nach ihren Gründen verständlich gemacht werden kann, sondern um die selbstverständlichste Selbstverständlichkeit, hinter die nicht mehr zurückzufragen ist. In dieser Hinsicht unterscheidet Husserl „eigentliche” und „uneigentliche Selbstverständlichkeit” (Ms. C 7/ 31b). Die „Selbstverständlichkeit im gewöhnlichen Sinn” läßt sich charakterisieren – wie im I. Kapitel erläutert wurde – durch die „Benützung eines fraglosen Erkenntnisbodens”, die auch „Verstecktheit von Voraussetzung” bedeutet (ebd.). Die nächstliegenden Selbstverständlichkeiten könnten in dieser Hinsicht „Selbstmißverständnisse” sein (VI, 254). Wenn man dagegen versucht, die „Idee der absolut verstehenden Erkenntnis zu realisieren”, stößt man letztlich auf die „absolute Selbstverständlichkeit”, die jede Frage nach weiteren Gründen sinnlos macht. „Selbstver-
76 In dieser Hinsicht weist Brand auf die „Zirkelhaftigkeit” des Phänomenologisierens hin (Brand 1955, 51); vgl. dazu auch Kapitel III, Anm. 8. Rosen weist treffend darauf hin, daß das „dogmatische Motiv” des Strebens nach absoluter Gewißheit darin besteht, daß sich die erkenntniskritische Prüfung selbst „im Medium der Evidenz” vollziehen soll: „Die reine Immanenz der Evidenz ist als das Medium der phänomenologischen Forschung gefordert, weil die Kritik der Erkenntnis radikal sein will. Das dogmatische Motiv kommt also nicht zufällig oder aus caprice zum kritischen hinzu, sondern gerade der Radikalismus der Kritik verlangt einen dogmatischen Gewißheitsboden” (Rosen 1977, 147). In dieser Hinsicht ist Tugendhats Kritik, daß die apodiktische Evidenz bei Husserl „dogmatisch” sei, nicht zu rechtfertigen (Tugendhat 1967, 208ff.). Husserl versucht nicht, diese Evidenz weiter zu begründen, weil das sinnlos wäre, da man sich für diese Begründung wiederum auf die betreffende Evidenz berufen muß. Tugendhat meint später selbst, während er Wittgensteins Analyse der „ich n”-Sätze auslegt, daß es „ein Wissen” gibt, „das nicht auf einer Feststellung – auf einem Erkennen – beruht” (Tugendhat 1979, 133). Bei diesem „Wissen” wäre es „sinnlos”, „die Frage » wie wissen wir es? « zu iterieren” (ebd.). Zur Unhintergehbarkeit der Letztbegründung vgl. auch Mertens 1996, 49f.
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ständlichkeit” besagt in diesem Fall nichts anderes als Verständlichkeit des absoluten Selbst (Ms. C 7/ 31b).7778 Diese „absolute Selbstverständlichkeit” bedeutet offensichtlich die bisher erörterte ‚Apodiktizität’ im prägnanten Sinn. In einer Beilage zur Krisis betont Husserl, daß „jede erdenkliche Meinung, jede erdenkliche Frage, jede erdenkliche Stellung zu ihr in Anerkennung, in Negation, in Bezweiflung, in Vermutung etc. schon einen, und überall formal denselben Boden voraussetzt, als eine absolut apodiktische Selbstverständlichkeit, ohne die nichts dergleichen, also keine prätendierte Erkenntnis Sinn haben könnte, also auch keine wirkliche Erkenntnis” (VI, 425)79. Ob man etwas anerkennt, bezweifelt oder vermutet, immer ist man schon im Zug der Evidenz und kann sich insofern niemals der ‚absoluten Selbstverständlichkeit’ entziehen, die das letzte und universalste Medium des Erkenntnislebens darstellt, das in sich jede speziell bestimmende Erkenntnis ermöglicht und als solche ‚zuläßt’. Schon in der Idee der Phänomenologie (1907) bezeichnet Husserl das evidente ‚Schauen’80 als „absolute Selbstverständlichkeit” (II, 50). Die absolute Evidenz, die in der frühen Phänomenologie noch als non-egologisch aufgefaßt wurde, wird angesichts der egologischen Wende als Apodiktizität des ‚Ego’ gekennzeichnet. Die letzte ‚Selbstverständlichkeit’, die das Medium allen Denkens, Fragens und Antwortens darstellt, besagt nun die apodiktische Evidenz des ‚Ich bin, ich erfahre’. In bezug auf die schlichte Unbezweifelbarkeit des ‚Ich bin’ sagt Husserl: „Hier stehe ich, der mich selbst Besinnende, in der Tat in der letzten Selbstverständlichkeit – bzw. ich habe mich zurückgeführt auf eine letzte Seinssituation – in der [Selbstverständlichkeit] als der letzten, auf die ich zurückfragen kann, welche also die an sich erste ist für die universale Ordnung der Fragen und für ihre universale 77
Ich interpretiere diese Stelle nach einer alten Transkription des stenographischen Manuskripts. In der neuen Transkription hingegen lautet diese Stelle: „Idee der Selbstverständlichkeit als Verständlichkeit des Absoluten selbst”. Beide Interpretationen sind möglich, denn es gibt in der Stenographie keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinschreibung. Es scheint mir plausibel, daß die absolute ‚Selbst-verständlichkeit’ Verständlichkeit desjenigen meint, wessen Verstehen nichts mehr anderes als es selbst erfordert; also desjenigen, was sich selbst absolut verständlich macht. An einer anderen Stelle bezeichnet Husserl die adäquate Gegebenheit als Grenze des absoluten Selbst (Ms. A I 31/24b). Schon in den Logischen Untersuchungen verwendet Husserl diesen Ausdruck in demselben Sinne (XIX/2, 647); vgl. auch XXXV, 404; Ms. A I 31/36a; B II 22/2b. Das ,Selbst’ wird auch mit der ,Sache selbst’ gleichgesetzt (Ms. C7/39a). 78 Auch im Aufsatz Über Ursprung (1930) stellt Husserl den „vermeinten Selbstverständlichkeiten altererbter Vorurteile” die „absolute Selbstverständlichkeit, die Aufweisungen aus purer Evidenz” entgegen (XXVII, 131). 79 Auch in den Vorlesungen Einleitung in die Philosophie (1922/23) spricht Husserl von „apodiktischen Selbstverständlichkeiten”, die dem deduktiven Beweis entgegengesetzt werden (XXXV, 166). 80 Vgl. Kapitel II, 3.1.
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und geordnete Beantwortung, indem ich dieser intuitiven Sachlage inne werde und ihre Geltung intuitiv vollziehe” (Ms. B I 5/ 17a). 81 Hieraus ist deutlich zu entnehmen, daß die Apodiktizität als ‚absolute Selbstverständlichkeit’ keine punktuelle Ich-Evidenz ist, sondern als eine „Grenzsituation” (ebd.) zu betrachten ist, in der ich bin. Man muß also sagen: Ich bin ‚in’ der Apodiktizität des ‚Ich bin’. Diese selbstbezügliche Selbstverdoppelung des apodiktischen ‚Ich bin’ soll im folgenden Schritt genauer betrachtet werden (3). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß die ‚absolute Selbstverständlichkeit’, die in der natürlichen Evidenzsuche anonym durchlebt wird, für den Philosophen zum wachen, klaren – wenn auch nicht gegenständlichen – ‚Bewußtsein’ gebracht werden muß. Dies ist ein weiterer entscheidender Grund dafür, daß die ‚letzte Selbstverständlichkeit’ nicht von der ‚Ichlichkeit’ zu trennen ist. Darauf werde ich anschließend eingehen (4).
3. ‚ICH GEHE MIR SELBST VORAN’: DAS UR-ICH IN SEINER ‚SELBSTDIFFERENZ’ 3.1 Die Befremdung des ‚Ich bin’ und das sich aufdrängende ‚Fremde’ Durch die vorangegangenen Untersuchungen ist deutlich geworden, daß die sogenannte Apodiktizität des Ego bzw. des ‚Ich bin’ keine punktuelle Evidenz darstellt, die den Primat des Ego dogmatisch behaupten würde, sondern vielmehr das universalste Medium des erfahrenden Lebens meint, ohne das alle seine Evidenzerlebnisse und korrelative Wahrheiten aufgehoben würden. Dieses Medium wurde durch absolute Nähe und Selbstverständlichkeit charakterisiert. Damit ist Husserls Evidenzlehre aber noch nicht von Skepsis befreit: Gerät man dadurch nicht in einen Solipsismus, daß dieses apodiktische Medium gerade als ‚Ich bin’ gekennzeichnet wird? Wenn ‚ich’ der einzige Urgrund aller Evidenzen ist, bedeutet das, daß das Sein des Anderen bezweifelbar und von der Evidenz meines Ich einseitig abhängig sei? Auf diesen Einwand hin kann man zunächst die naheliegenden Mißverständnisse ausräumen, die ich im V. Kapitel behandelt habe: Die Urevidenz des ‚Ich bin’ ist weder die Evidenz eines Ich unter vielen noch die Evidenz 81
Zur Vorgängigkeit des ‚Ich bin’ vor allem Fragen und Antworten vgl. auch folgende Stelle: „Auf die reine Subjektivität, auf das ego cogito zurückzugehen, das heißt, sich auf das Letztunfragliche, Letztzweifellose besinnen, als das seinerseits in jedem In-Frage- und In-Zweifelstellen vorausgesetzt ist” (VII, 167).
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eines über-individuellen, allgemeinen Ich. Denn beide Auffassungen des Ich setzen schon das urfaktisch-apodiktische ‚Ich bin, ich lebe’ voraus, sofern das ‚Ich’ als Gegenstand kategorial begriffen und beurteilt wird. Auch der Sinn des Anderen muß notwendig dieses ‚Ich bin’ voraussetzen. Es scheint eine unausweichliche Urtatsache zu sein, daß alles, was mir gilt, „ob Sein oder Schein, ob Sein von Anderen oder Sein meiner selbst”, ohne das erlebend-fungierende ‚Ich bin’ nicht bestehen kann (Ms. B I 5/16a).82 Es drängt sich jedoch die Frage auf: Kann es mit dem Gesagten in bezug auf den Anderen wirklich sein Bewenden haben, obwohl es vollkommen Recht zu haben scheint? Das Befremden, das die anscheinend richtige Aussage: ‚Alles ist für mich’ in mir hervorruft, warnt uns insgeheim, was wir ernst nehmen müssen; denn sie offenbart gewichtige Probleme, die noch zu bedenken sind. Jenes Befremden darf weder ignoriert noch durch eine künstliche Theoretisierung eliminiert werden, sondern auf entsprechende Weise in konkret analysierbare Probleme umgewandelt werden. Es ist zwar richtig, daß der Andere mein Anderer ist, sofern es um die Evidenz und Erfahrung geht, die ihn betrifft: „Anderer ist ja Für-michAnderer” (VII, 334). „Der Intersubjektivität geht aber für jeden Erkennenden er selbst voran, in der Weise: Ich bin es, der in sich die Anderen erfährt und erkennt und nur von daher von Anderen etwas weiß” (Ms. B II 5/ 15a).83 Andererseits kann man aber auch sagen, daß der Andere nicht bloß ‚für mich’ ist: Denn im Sinn des Anderen ist impliziert, daß er die mir originär zugängliche Sphäre transzendiert. Dieser Sinn muß jedoch als Sinn notwendig ‚in mir’ auftreten und erfahren werden. Sofern es sich um den Sinn handelt, scheint die Evidenz des ‚Alles ist für mich’ unbeschränkt zu gelten. Alles, was für mich überhaupt sinnvoll ist – darunter auch jeder ‚Unsinn’ und ‚Widersinn’ als spezifische Arten von Sinn – , gilt ‚für mich’.84 Wenn das Sein des Anderen gegen die schrankenlose Geltung dieser Evidenz dennoch Widerspruch erhebt, stammt dieser offensichtlich nicht aus der Sphäre des Sinnes. In ihm bekundet sich vielmehr etwas, das alles Sinnvolle übersteigt. Allerdings läßt sich der Unterschied zwischen ‚Sinn’ und dem ‚Sinn-Transzendierenden’ wiederum als ein Sinn begreifen, wenn er so ausgedrückt wird. Das legt es nahe zu sagen, daß das Sinn-Transzendierende auf sinnvolle Weise völlig ‚unsagbar’ ist. Wenn man dennoch davon spricht, kann dies eigentlich keine ‚sinnvolle’ Aussage darstellen. Wie ist es dann aber zu verstehen, daß jener ‚Widerspruch’ von Seiten des Anderen dennoch etwas ‚sagt’, wenn er sich in mir in Form jenes lautlosen Befremdens bekundet?
82
Vgl. auch LV, 229ff. = XXXV, 267ff. Vgl. auch XXXIV, 273. 84 Vgl. I, 117; vgl. auch Kapitel VII, 2.1. 83
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Angesichts dieser Frage kann man sich als Anhaltspunkt darauf berufen, daß sich die Apodiktizität des ‚Ich bin’ dem Machtbereich des Sinnes ‚halbwegs’ entzieht; denn sie ist als ursprünglichste Voraussetzung (bzw. als Medium) für jeden geltenden Sinn einerseits von jedem Sinn untrennbar, kann aber andererseits in der sinnhaft erkennbaren Sphäre nicht vollständig erscheinen, da sie in ihrer Ursprünglichkeit und Medialität bei einem solchen Erscheinen wiederum vorausgesetzt ist. Die Apodiktizität des ‚Ich bin’ ist insofern „unsagbar”, worauf Husserl schon in den Logischen Untersuchungen hinweist: Die „Evidenz des Satzes ich bin” hänge an einem „begrifflich ungefaßten und daher unsagbaren Kern” der Ichvorstellung (XIX/1, 367). Der späte Husserl, der die entwickelte Theorie der transzendentalen Intersubjektivität vor Augen hat, spitzt die Frage nach der ‚unsagbaren’ Evidenz des ‚Ich bin’ zu; dabei tritt das Problem des Ur-Ich in den Vordergrund, das nur durch ‚Äquivokation’ so bezeichnet werden kann. Das ‚Ur-Ich’ stellt – wie besonders das V. Kapitel ergab – in seiner lebendigen Funktion diejenige einzige Dimension innerhalb der konstitutiven Phänomenologie dar, die das radikal Sinn-Transzendierende kundtun kann. Aber dadurch, daß man diese Dimension zur Sprache bringt, wird sie unvermeidlich in die Welt der ‚Sinne’ aufgenommen und ‚modifiziert’, wie die im VI. Kapitel ausgeführte Lehre von der ‚intentionalen Modifikation’ detailliert erörterte. Jene Dimension spielt im Modifikationsphänomen einerseits eine fundamentale Rolle, sofern alle ihre Modifikationen auf sie als ‚Urmodus’ sinngemäß zurückverweisen; andererseits wird sie in ihrer allerprimärsten Urmodalität gerade durch dasselbe Modifikationsphänomen verdeckt. Es liegt somit nahe, daß die Dimension des ‚Ur-Ich’ wegen ihrer singulären Stellung im gesamten System des ‚Sinnhaften’ gerade noch dasjenige Fremde spüren läßt, das sich allem Sinnhaften absolut entzieht; das ‚Ur-Ich’ kann also ein Zugang zum radikalen ‚Anderen’ bzw. das ursprüngliche ‚Medium’ für dessen Bekundung sein.85 Um dies zu belegen, möchte ich im folgenden zunächst die apodiktische Urevidenz des ‚Ich bin’ dahingehend näher betrachten, daß sie selbst eine gewisse ‚Fremdheit’ in sich birgt, sofern sie sich nicht anders als eine ‚Differenz’ zeigt. Diese Interpretation werde ich dann durch eine Erörterung des Verhältnisses von ‚Ur-Ich’ und Ur-Hyle ergänzen. Aufgrund dessen soll 85
Darauf weist auch Mensch in bezug auf die „Unruhe” der lebendigen Gegenwart hin: „Disquiet, we can now say, arises from the fact that, as mine, presence can be not mine” (Mensch 2001, 235). Bernet stellt heraus, daß Husserls Zeitanalyse, die einer Phänomenologie des egologischen transzendentalen Bewußtseins zugrunde liegen soll, paradoxerweise Momente enthält, die zu einer „ethischen” Phänomenologie des Anderen führen (Bernet 2004, 247f.). Husserls Beschreibungen der Zeiterfahrung bergen also in sich „les germes d’un dépassement du cadre philosophique dans lequel Husserl les avait insérées” (ebd., 247). Wie diese Autoren darauf hinweisen, zeigen Husserls Beschreibungen als solche ‚symptomatisch’, daß die Radikalisierung der Analyse des ‚Ego’ den Weg zum radikalen ‚Anderen’ eröffnet.
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schließlich als Resultat der phänomenologischen Radikalisierung der Frage nach dem ‚Ich’ gezeigt werden, daß sich die radikale Fremdheit des Anderen gerade in der tiefsten Mitte von mir selbst bekundet. Auf diesem Weg muß man den Rahmen der reinen Text-Exegese überschreiten und diejenigen Phänomene erhellen, die sich in Husserls Analysen nur implizit bekunden. Eine solche Bekundung wird dadurch ermöglicht, daß Husserl, anstatt die Phänomene künstlich zu systematisieren, alles unverhüllt beschreibt, was er ‚sieht’ — auch dort, wo das Gesehene seiner Theorie nicht mehr zu entsprechen scheint.
3.2 Das Vorangehen des ‚Ich’ vor mir selbst: Selbstentzug und Selbsttranszendenz des ‚Ich-Seins’ In einem Text von etwa 1927 unterstreicht Husserl die apodiktische Vorausgesetztheit des Ego mit folgendem nicht zu vernachlässigenden Gedanken: „[...] alles, was mir gilt, setzt mich und mein Notwendiges voraus, und so ist immerzu vorausgesetzt mein Ich in einem notwendigen Seinsbestand, der von allen meinen Meinungen schon vorausgesetzt ist, ob sie sich auf anderes oder auf mich selbst beziehen. Ich gehe mir selbst so vorher und zugleich allem Nicht-Ich” (XIV, 432). Oberflächlich gesehen handelt es sich um eine nicht sonderbare Aussage über die Vorgängigkeit des apodiktischen Ich. Die Aussage: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ scheint mir aber eines der wichtigen Gedankenmomente anzuzeigen, deren konsequente Entwicklung in den dreißiger Jahren zur Lehre vom ‚Ur-Ich’ führt. Denn damit wird nicht nur die radikale Vorgängigkeit des Ich, sondern auch die Sinnesverdoppelung und die Selbstdifferenzierung des dennoch einzigen Ich schlicht ausgedrückt. Tatsächlich tritt die Aussage: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ in den Manuskripten der dreißiger Jahre wiederholt auf: Im Manuskript B I 5 III (1931) macht Husserl darauf aufmerksam, daß die Vorgängigkeit des ‚Ich bin’ im Rückbezug auf mich selbst eine besondere Bedeutung erhält: „Diese Seinspriorität hat mein eigenes Dasein vor allem vor mir selbst, als von mir selbst in der Selbsterfahrung und sonstigen Selbsterkenntnisakten Erkannten und zu Erkennenden” (Ms. B I 5/ 14a). Die vorangehende „Selbsterfahrung” ist keine „reflektierende”, „auf mich aktiv gerichtet aufmerkende” (ebd./14b). Ihr Unterschied zur thematisch-objektivierenden Selbsterfahrung zeigt sich besonders darin, daß ich in der letzteren „wie hinsichtlich anderer Gegenstände so auch hinsichtlich meiner selbst mich reichlich täuschen kann” (ebd.). Auch der Selbsttäuschung entspricht aber eine Selbsterkenntnis, denn sie „vollzieht sich als Bewußtsein, daß ich nicht so bin, sondern anders” (ebd.). Dieses urfaktische ‚Bewußtsein’, in dem die Evidenz meines Soseins modalisiert wird, kann als ‚Medium’ dieser Modalisierung nicht selbst
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modalisiert werden.86 Daraus geht hervor, „daß ich nie zu beirren bin durch mein Irren in der Hinsicht, daß ich bin, der ich bin, daß mein Mich-übermich-Täuschen doch schon voraussetzt, daß ich bin und mit einem wahren Wasgehalt bin, eben dem, den meine Selbstirrungen verfehlen” (ebd.).87 Es ist aber zu beachten, daß dieser evidenzielle Vorrang zugleich besagt, daß ich mich als ‚Ur-Ich’ meinem mich selbst so und so apperzipierenden Blick wesentlich entziehe. Ich kann mich selbst als ‚Ur-Ich’ nicht apperzeptiv ‚fassen’, da allem ‚Gefaßten’ immer schon die mediale Evidenz des ‚ich bin, ich lebe’ vorangeht. Das besagt auch, daß ich mein ursprüngliches IchSein selbst sozusagen nie ‚im Griff’ haben kann. Die Aussage: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ bringt nicht nur die durchgängige Vorausgesetztheit der Apodiktizität zur Sprache, sondern auch zugleich den radikalen Entzug des Ich für mich selbst: „[...] ich habe doch kein anderes Sein als aus meiner Erkenntnis, das Wort in einem weitesten Sinne genommen, das gewissermaßen in dem prägnanten kulminiert. Mein Sein geht allem Sein, auch meinem eigenen Sein vorher” (Ms. B I 5/ 15b). Diesen ‚Entzug’ des Ich selbst pointiert Husserl in Ms. B I 5 an anderer Stelle88 dadurch, daß das ‚Ich selbst’ immerfort ‚hinter’ allem für mich überhaupt Erscheinenden bleibt: „Alles, was ich als Bewusstseinserlebnis feststelle (als bloß Subjektives) und in der Form immanenter Zeitlichkeit scheinbar in einer Ordnung der Koexistenz und Sukzession überschaue, hat schon Bewusstsein hinter sich und das Ich hinter sich, das in diesem Raume nicht sichtbar ist” (XXXIV, 229f.).89 Im Hinblick auf diese ‚Unsichtbarkeit’ des Ich verwendet Husserl wiederum jene Redeweise: Ich „gehe [...] mir selbst vorher als ‚Objekt’ für mich, als Einheit meiner Bewußtseinspassivitäten und -aktivitäten, durch die ich +in, mannigfaltigem Erfahren etc. für mich seiender, der eine und selbe für mich wirkliche und zu bewährende etc. bin” (ebd., 229). Dieser ‚Entzug’ darf aber nicht dahingehend mißverstanden werden, daß sich hinter mir eine unsichtbare ‚Substanz’ versteckt hielte. Das letzte ‚Ich’ im phänomenologischen Sinne ist trotz seiner radikalen Vorgängigkeit nicht etwa ein metaphysisches Ich ‚außerhalb’ von mir, sondern ich selbst, der ich faktisch lebe und jetzt phänomenologisiere. ‚Ich selbst’ bin es, der mein phänomenales Ich-selbst in jeder Gestalt ‚transzendiert’. Diese ‚Transzendenz’ muß aber von derjenigen Transzendenz streng unterschieden werden, 86
Die Geltung alles für mich ‚Seienden’ ist „modalisierbar, eventuell durchstreichbar”. Aber: „Das Ich-bin ist seinerseits davon nicht betroffen, als Stätte derartiger Vorkommnisse” (Ms. B I 5/ 68b; m. H.). 87 Vgl. dazu näher Ms. B I 5/ 16a. 88 Ms. B I 5 IX aus dem Jahr 1930 = XXXIV, 228-254 (Nr. 15). 89 Vgl. auch: „[...] wenn ich mich selbst zum Thema mache, bin ich, der ich mich zum Thema mache, und mein auf mich bezogenes Bewußtsein wieder anonym. Alle Objekterfahrung hat also das Ich hinter sich, aber nicht vor sich” (IX, 385); „Allem Für-mich-Sein geht mein Sein vorher” (Ms. B I 5/ 23a); vgl. auch XXXIV, 451.
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die sich auf das Gegenständliche richtet. Sie ist keine ‚ekstatische’ Transzendenz, in der ich selbst aus mir herausträte, sondern gewissermaßen eine innerliche Transzendenz. Dieser noch vage Begriff muß nun mit Hilfe der Modifikationstheorie konkretisiert werden: Das ‚Ur-Ich’ in seiner primären Urmodalität zeigt sich mir als ‚transzendent’, wenn ich als Betrachtender mich selbst mit einem Modifikat des Ur-Ich identifiziere. Im allgemeinen hat ein Modifikat gegenüber dem Urmodus einen Charakter der Transzendenz.90 Wenn man seinen ‚Standpunkt’ in ein Modifikat versetzt, sieht der Urmodus so aus, als ob er ein unerreichbares Jenseits wäre. Dies ist aber eine – im Modifikationsprozeß – ‚nachträglich’ gedachte, konstruierte Sichtweise. Die fragliche ‚Transzendenz’ bezieht sich nicht auf ein Jenseitiges, das alles Sichtbare ‚zur anderen Seite hin’ übersteigt. Vielmehr geht es um die schlichte Nähe alles Sehens und Erfahrens selbst, die immer schon ‚hier und jetzt’ durchlebt ist, ohne daß darauf ausdrücklich ‚abgezielt’ wird. Alles Intendieren vollzieht sich seinerseits im Medium dieser Nähe des Selbsterlebens. Der Satz ‚Ich gehe mir selbst vorher’ drückt dieses ‚innerliche Selbsttranszendieren’ des Ich aus. Husserl bemüht sich dabei, die künstliche Vereinfachung des Phänomens fernzuhalten, daß man ausschließlich das ‚UrIch’ als authentisches Ich anerkennt und das phänomenale Ich als ‚Schein’ verurteilt. Vielmehr handelt es sich dabei um eine innere Differenzierung des einzigen Ich, die wesensmäßig zur ‚Ichheit’ des Ich als solcher gehört. Das ‚Ich’ ist kein starrer Punkt, sondern das Lebendigsein des Lebens selbst,91 das eine andere Bezeichnung für ‚Selbsttranszendieren’ ist. Im stehenden Strömen bin ich in der „Selbsttranszendenz” (Mat VIII, 130). 92 Dieses Selbsttranszendieren und -differenzieren läßt mich selbst zugleich als das ‚Medium’ alles Erscheinens und als das ‚greifbare’ Ich in seiner Objektivität und konkreten Inhaltsfülle (gewissermaßen als das Ich in der ‚absoluten Nähe’ und zugleich in der ‚greifbaren Nähe’) erfahren. Anders gesagt, geht es hierbei um jene Selbstverdoppelung des Ich, welche allerdings nicht nur meine Selbstmodifikation und ‚Monadisierung’ besagt, sondern auch eine Ermöglichung bzw. ‚Zulassung’ alles gegenständlichen Erscheinens durch die primäre zeitliche ‚Distanzierung’. Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, daß Husserl diese ursprüngliche Selbsttranszendenz als ‚Übersein des Ego’ bezeichnet, welches ein ‚Entquellen’ und ‚Überfließen’ assoziiert: „Das ‚Übersein’ des ego ist selbst nichts anderes als ein ständiges urtümlich strömend Konstituieren, und Konstituieren von verschiedenen Stufenuniversa von Seienden (‚Welten’) [...]” (XV, 590). Das Ego ist immer schon ein 90
Vgl. Kapitel VI, 4.5. Vgl. Kapitel VII, 2.2. 92 Näheres dazu in Kapitel VI, 4.5. 91
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‚Über-sich’, das ‚im Überfluß (an Erscheinungen) lebt’, das sich selbst jedoch niemals einholen kann. Der radikale Entzug des Ich-selbst ist von dem Erscheinen und Sich-Konstituieren alles Erscheinenden überhaupt nicht zu trennen. Erst durch diesen Entzug, der die Kehrseite der evidenziellen Priorität darstellt, kann ich alles wirkliche und mögliche Sein im weitesten Sinne ‚empfangen’. Das Ego ist also als ein ‚Grund’ alles Erscheinens zu betrachten, der jedoch nicht das erste Seiende unter allen erscheinenden Seienden bedeutet. Vielmehr besteht der Charakter des ‚Grundes’ gerade in seinem SichEntziehen von dem Kreis der Seinserscheinung. Anders ausgedrückt: Das ‚Mir-Erscheinen’ überhaupt besteht in der unüberbrückbaren Differenz zwischen dem sich entziehenden ‚Ego’ und allem als seiend Erscheinenden. Diese Differenz pointiert Husserl in dem wichtigen Manuskriptkonvolut K III 6 der Krisis-Zeit (1936), wobei er wiederum jene Formel in Anspruch nimmt: „Ich kann zwar mein Sein in Frage stellen und diese Frage, ob und was ich bin, entscheiden wollen und entscheiden. Aber dann bin ich wieder das Subjekt, das entscheidet, und ich finde alle Gründe in mir. Mein Sein ist Grund für mein Sein, mein Sein geht wie allem Sein meinem eigenen Sein voran” (Ms. K III 6/ 100b). Dabei ist ‚Grund’ nicht im Sinne einer substanziellen ‚Ursache’ zu verstehen, die alles Seiende kausal hervorbrächte, sondern im Sinne der ‚apodiktischen Evidenz’. Mein urfaktisches ‚Sein’ wird von allen meinen urteilsmäßigen Entscheidungen nicht betroffen, weil sie erst im Medium dieses apodiktischen ‚Seins’ stattfinden. Diese primitive – ‚mediale’ – Vorausgesetztheit ist auch nicht als ‚Begründung’ im gewöhnlichen, logischen Sinne zu begreifen. Um dies anzudeuten, setzt Husserl in der Überschrift jenes Textes das Wort Grund in Anführungszeichen: „Ich als letzter ‚Grund’ aller Erscheinungen” (ebd., 100a). Dazu bemerkt er auch: „Ich als Ego, als letzter Grund für das Universum der Objektivität, für die Welt — aber Ordnung der ‚Begründung’?” (ebd., 101a) Darauf antwortet Husserl an anderer Stelle: Die „Fundierung” ist zwar keine „schließende Begründung”, aber doch eine „Begründung” im weitesten Sinne,93 denn ohne das Fundierende bestände das Fundierte nicht. Es geht also um jene unauffällige, ‚umgekehrte’ Ordnung der Evidenz, die schon mehrfach behandelt wurde. Dies ist gemeint, wenn das Ur-Ich als ‚Grund’ für alles Seiende bezeichnet wird. Das Ego als ‚Urgrund’ ist also keine zugrundeliegende Substanz, sondern das lebendige Medium, das trotz (und wegen) seiner evidenziellen Vorausge-
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So lautet die gesamte Aussage: „Eine Fundierung der Geltung, das ist eine Einsicht der konstitutiven Explikation, ist aber nicht schließende Begründung, obschon Begründung” (Ms. B I 5/ 23b).
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setztheit nicht als ein fest identifizierbares Objekt aufzufassen ist. 94 Darin zeigt sich die Eigentümlichkeit des urmodalen Ich, die ich als die rein ‚subjektive’ – d. h. auch unscheinbar-‚hinfällige’ – Lebendigkeit gekennzeichnet habe.95 Dies bestätigt eine Stelle im oben genannten Manuskript von 1936: „Mein Sein als Grund ist absolut subjektiv — es ist in sich und für sich Sein, in sich apodiktisch entscheidbar; also muß es schlechthin von allem ‚objektiven Sinn’ befreit werden, von mir selbst, wie andererseits ich es bin, der aller Objektivität Sinn geben müßte und Geltung” (Ms. K III 6/ 100b).96 Hier bringt Husserl nicht nur die Differenz zwischen jenem Unscheinbaren, das prinzipiell nicht objektiv erscheint, und allem objektiv Seienden zur Sprache, vielmehr bestätigt dies auch, daß sich mein apodiktisches Sein allem Objektiven entzieht und zugleich alles Objektive erst erscheinen und gelten läßt. Daraus ergibt sich: Mit der Formulierung: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ bringt Husserl zum Ausdruck, daß ich in mir selbst eine Differenz berge, die deswegen unübersteigbar ist, weil sie gerade das Zentralste meines Ich-Seins ausmacht.97 Ich bin ein Selbstdifferieren, sofern ich mich selbst immer schon in meiner konkreten Lebensgeschichte erfahre und zugleich mein urmodales Ich-selbst niemals ‚vor Augen’ haben kann. Gerade diese sich entziehende Nähe gewährt aber die primitivste und fundamentalste Apodiktizität des ‚ich bin, ich lebe’. Alle Erscheinenden finden in dieser ‚medialen’ Evidenz die lebendige Urstätte ihrer Erscheinung, in der sie das elementarste ‚Sein’ als urfaktische Undurchstreichbarkeit gewinnen, das allerdings noch keine inhaltliche Evidenz von ihnen verbürgt. Es darf nicht übersehen werden, daß diese primärste Evidenz für mich ‚unfaßbar’ ist, sofern sie jenen sich entziehenden Charakter hat. Trotz allem besagt sie die höchste Evidenz: Eigentlich braucht man sie überhaupt nicht zu ‚erfassen’, da sie vor allem Erfassen und Bestätigen ‚gewiß’ ist, das ja seinerseits erst im Medium dieser Evidenz möglich ist. Die ‚Unfaßbarkeit’ gehört zur elementaren Struktur der Apodik-
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Das Ur-Ich geht der Identifikation voraus, die eine Art – obschon primitive – Objektivation ist: „Das ständige Ich [ist] ständig Urquelle, identisch nicht durch ein ‚Identifizieren’, sondern als Ureinig-Sein, seiend im urtümlichsten Vor-sein” (Ms. A V 5/ 6b); vgl. auch XV, 289. 95 Vgl. Kapitel VII, 2.2. Man kann auch an die ‚Umkehrung’ der Ordnung erinnern, welche die vermeintliche ‚Doxa’ in die Evidenz höchsten Grades verwandelt. Dazu ist folgende charakteristische Stelle zu berücksichtigen: „Mag Seiendes wie immer, mir eventuell in gutem Sinne als An-sich gegenüber meinem Zufälligen des Vorstellens etc. gelten — es kann mir nicht gelten, ohne daß ich selbst in Fraglosigkeit und Undurchstreichbarkeit mit dabei wäre mit meinem Bewußtseinsleben, worin diese Geltung Sinn hat” (Ms. B I 5/ 17a). 96 Auf die hier genannte ‚Freiheit’ des Ur-Ich komme ich später in 4.1 zurück. 97 Held weist darauf hin, daß die Ur-Ichlichkeit in der sich lebendig einigenden Distanzierung besteht: „Durch die vorgegenständliche Selbstidentifikation ist mein Ur-Ich etwas unverändert Stehendes und Bleibendes, durch die vorgegenständliche Selbstdistanzierung ist es etwas lebendig Strömendes [...]. So ist mein Ich in seiner tiefsten Dimension ein lebendiges Sein, worin ‚Stehen’ und ‚Strömen’ eins sind” (Held 1986, 30).
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Kapitel VII
tizität des ‚Ich bin’, da sie nur in jener Selbstdifferenz besteht, die mit dem Formel ‚Ich gehe mir selbst voran’ ausgedrückt wird. So wird man schließlich gezwungen zu sagen, daß ich gerade in meinem wesentlichen Kern mir selbst ‚unbekannt’ und ‚befremdlich’ bin. Ich begegne mir selbst nun als ‚Fremdes’. Dieses Fremde tritt nicht ‚von vorne’ auf, so daß ich es ‚vor Augen’ haben könnte. Vielmehr öffnet es sich für den phänomenologisch Denkenden mitten in seinem Ich selbst. Diese ‚Fremdheit des Eigenen’ kann von mir selbst ebensowenig abgerissen werden wie ich von mir selbst. Die ‚absolute’ Evidenz des ‚Ich bin’ besteht nur darin, daß sie sich allem erkennenden Beweisen und Gewährleisten entzieht und so dem thematisch erkennenden Geist überhaupt ‚fremd’ bleibt. In dieser ‚Fremdheit’ der ur-ichlichen Evidenz kulminiert die ‚Unbekanntheit’ des transzendentalen Ich, die Husserl folgendermaßen zum Ausdruck bringt: „Hier geht ja nicht eine Bekanntheit, mindestens einem Typus nach, voraus; ich bin als transzendentales Ich ja noch völlig Unbekanntes, noch nie in seiner Eigenheit Erfahrenes und schon Angesprochenes, Beschriebenes, unter anderen meinesgleichen Vorgegebenes, geschweige denn Substrat altvertrauter logischer Aktionen, also schon im voraus aufgefaßt in der Sicherheit, dergleichen in logischen Akten erkennen zu können” (Ms. B II 13/ 9b).98
3.3 Das ‚Ur-Hyletische’ als Fremdheit in meinem ‚Ich bin’ selbst In der bisherigen Darlegung wurde die ‚Fremdheit im Zentrum meiner selbst’ bloß in ihrer formalen Struktur festgestellt. Die gewonnene Einsicht kann aber dadurch einigermaßen konkretisiert werden, daß die Bedeutung des Ur-Hyletischen für das undurchstreichbare Selbsterleben beleuchtet wird. Im nächsten Schritt muß zunächst deutlicher herausgestellt werden, in welchem Sinn das Erscheinen von allem Erscheinenden ‚undurchstreichbar’ ist, und auf welche Weise diese Undurchstreichbarkeit von derjenigen des ‚Ich bin’ untrennbar ist. Dadurch wird die spezifische Einigkeit und ‚Nähe’ von Ur-Ich und Ur-Hyle hervortreten. Was das Sosein des für mich Erscheinenden anbelangt, so ist die Möglichkeit der Modalisierung prinzipiell nicht auszuschließen; seine inhaltsbezogene Evidenz hat nie endgültigen Charakter. Im Gegensatz dazu ist sein lebendiges, hinfälliges Für-mich-da-Sein insofern undurchstreichbar, als ich kein einziges Erscheinen ‚rückgängig’ machen kann.99 Ich kann zwar möglicherweise das Nicht-Sein eines Gegenstandes in der Welt nachweisen (‚Da ist kein Wasser, das ist nur eine Fata Morgana.’); das primäre ‚Erscheinen’ des Gegenstandes als intendierter, das bereits stattgefunden hat und stattfindet, kann ich jedoch nicht aus meinem erfahrenden Leben ‚wegwischen’, 98 99
Vgl. dazu auch XXXIV, 451f.; Ms. K III 6/ 102a. Vgl. XIV, 433f.; Ms. E III 9/ 8b; vgl. auch Kapitel VII, 2.3.2.
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auch wenn er sich als Nicht-Existierendes herausstellt. Kein Seiendes ist denkbar, das dieses primären – im Husserlschen Sinne ‚transzendentalen’ – Erscheinens entbehrt; ohne dies verlöre das Seiende jeglichen Zugang, durch den es mich überhaupt ‚angeht’. Wie fließend und vergänglich es auch erscheinen mag, kann ich doch das lebendige Ganze des Erscheinens nicht durchstreichen. Wenn ich bin, ist es auch da. Man kann dieses ‚erscheinende Ganze’ auch als ‚Welt’ bezeichnen, obwohl es noch keine gegenständliche Welt ist. Diese ‚Welt’ ist sozusagen absolut subjektiv-lebendige und von meinem ‚Ich bin, ich lebe’ als dem medialen Lebendigsein gar nicht abzutrennen. Die ‚Welt’ erscheint nicht als totes Substrat, sondern in ihrer vollen Lebendigkeit und Beweglichkeit, welche die apodiktische Medialität des ‚Ich bin, ich lebe’ von einem anderen Aspekt darstellt. „Ich bin apodiktisch und apodiktisch im Weltglauben” (XV, 385); „[...] das ‚Ich bin’ und die Zeit, die Welt, und jede mögliche Welt – das ist untrennbar” (Ms. A V 20/ 9b).100 Die Reduktion auf die lebendige Gegenwart ist nach Husserls Bestimmung „die radikalste Reduktion” auf die „Ursubjektivität” alles Mir-Geltens (XXXIV, 187). Hier handelt es sich um die ‚Urquelle’ aller Konstitution, in der die erscheinende Welt zusammen mit allem in ihr Auftretenden ‚impliziert’ ist. Diese ‚Implikation’, die freilich nicht als reelles Enthaltensein betrachtet werden darf, läßt sich in ihrer primärsten Form als die oben dargestellte Einigkeit von meinem ‚Ich bin, ich lebe’ und dem ‚für mich Undurchstreichbaren’ verstehen. In der strömenden Urzeitigung konstituiert sich die immanente (und – in weiterer Folge – die objektive) Zeit, in der sich das Gegenständliche erst als für mich Identifizierbares, als „ein für alle Mal Seien des” (XXXIV, 188), zeigen kann. In bezug auf sein Erscheinen, das notwendig im Medium des ‚Ich bin’ statthat, bemerkt Husserl: „Der Bereich des ‚ein für alle Mal’ wie des Ansich und dieser Zeit bin ich selbst, Ich, Ego” (ebd.). Es geht dabei um die undurchstreichbare ‚Einmaligkeit’. In einer Aufzeichnung von etwa 1927 beschreibt Husserl die Reduktion auf mein ‚Lebendigsein’ wie folgt: „Die Reduktion des für mich Seienden auf mich und mein Leben (mein ‚Bewusstsein’) in reiner Originalität ist Reduktion auf mein reines Dasein in seiner undurchstreichbaren Eigenwesentlichkeit und ‚Individualität’, d.i. absoluten Einmaligkeit des Daseins” (XIV, 434). Aus der Perspektive der ‚Einmaligkeit’ ist alles, was mir überhaupt erscheint und – ob positiv oder negativ – gilt, von meinem einzigartigen Urfaktum des ‚Ich bin, ich lebe’ unabtrennbar.101
100
Zur untrennbaren Einigkeit von ‚Ich bin’ und Objektivität überhaupt vgl. auch I, 117; XIV, 439. 101 Vgl. auch die Einmaligkeit der Monade und ihre undurchstreichbare ‚Individualität’, deren Möglichkeit (Essenz) ohne Wirklichkeit (Existenz) undenkbar ist; vgl. XIV, 159f., auch 98, 139; XV, 374ff.
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Es ist besonders zu bedenken, daß die Reduktion auf das ‚Lebendigsein’ des Ur-Ich keine bloße Abstraktion innerhalb der Subjekt-Objekt-Korrelation bedeutet. Das Objektive erscheint nach Husserl notwendig durch den ‚Sinn’. Die Epoché setzt dabei die sinnhafte Konstitution außer Funktion. Das besagt freilich nicht, daß ich alles für mich Erscheinende eliminieren würde. Ohne aber die geltende sinnhafte Konstitution ist das Erscheinende nicht als ein erkennbares Identisches ‚greifbar’. Alles Erscheinende reduziert sich also letztlich auf die Ur-Hyle, die sich noch nicht sinnhaft bestimmen läßt. Hier muß man die Vorstellung, daß uns die Ur-Hyle etwa ‚von vorne’ als unverständliches ‚Etwas’ begegnen würde, streng fernhalten. 102 Zu ihrem Wesen gehört es, daß sie noch nicht als ‚Gegen-stand’ aufzufassen ist. Wie Husserl seit den Logischen Untersuchungen klarstellt, erscheint das ‚Reelle’ nicht als Gegenstand, sondern wird erlebt, also nicht intendiert, sondern durchlebt.103 Das gilt für die Ur-Hyle als rein Reelles auf zugespitzte Weise: Sie entzieht sich also radikal jeder gegenständlichen Apperzeption. Bemerkenswert ist, daß diese Charakterisierung mit derjenigen des Ur-Ich übereinstimmt. Die Ur-Hyle ist keinesfalls ein Mir-Gegenübertretendes, sondern das ‚abstandslos’ Durchlebte; in diesem Sinne gehört sie auch mit zur Dimension der absoluten Nähe. In dieser Hinsicht legt Husserl besonderen Nachdruck darauf, daß sich das „Ichliche [...] in eins mit und ungetrennt von dem untersten Hyletischen” zeitigt (Mat VIII, 53).104 Das besagt nicht, daß beide bloß in minimalem Abstand nebeneinander ständen; sondern sie sind im prägnanten Sinne ‚in eins’:105 „Das Ich ist nicht etwas für sich und das Ichfremde ein vom Ich Getrenntes, und zwischen beiden ist kein Raum für ein Hinwenden; sondern untrennbar ist Ich und sein Ichfremdes [...]” (Mat VIII, 351f.). Das Hyletische gehört zum Wesen des Ichlichen und umgekehrt; ohne ein Reich des hyletischen „Nicht-Ich” „ist kein Ich möglich” (XIV, 379). Das wird besonders deutlich, wenn die radikale Reduktion auf die ‚Urquelle’ vollzogen wird. Husserl weist darauf hin, daß die Konstitution von allem Seienden „zwei Urvoraussetzungen, zwei Urquellen” hat: „1) mein urtümliches Ich als fungierendes Ur-Ich in seinen Affektionen und Aktionen [...]; 2) mein urtümliches Nicht-Ich als urtümlicher Strom der Zeitigung und selbst als Urform der Zeitigung, ein Zeitfeld, das der Ur-Sachlichkeit, konstituierend” (Mat VIII, 199). Offensichtlich gehört zu diesem ‚urtümlichen Nicht-Ich’ besonders die 102
Hinsichtlich der Affektion macht Husserl auf folgendes aufmerksam: „Das ‚Ansprechen’ des Inhaltes sei nicht Anruf zu etwas, sondern ein fühlendes Dabei-Sein des Ich, und zwar nicht erst als ein Dabeisein durch Hinkommen und Anlangen” (Mat VIII, 68a). 103 XIX/1, 359f., 387. 104 Vgl. auch Ms. C 3/ 38a, b. 105 Zahavi schreibt zu Recht: „These two sides can be distinguished, but not separated” (Zahavi 1999, 124).
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Ur-Hyle.106 Anschließend macht Husserl unmißverständlich klar: „Aber beide Urgründe sind einig, untrennbar und so für sich betrachtet abstrakt” (ebd.). Die radikale Reduktion auf die lebendige ‚Urquelle’ der Zeitigung und Konstitution muß also als diejenige auf das Ur-Ich und die Ur-Hyle in ihrer untrennbaren Einigkeit verstanden werden. Wenn Husserl die Reduktion als Rückgang auf das ‚radikal Subjektive’ charakterisiert, darf das ‚Subjektive’ keineswegs als eine Seite der Subjekt-Objekt-Korrelation aufgefaßt werden, die durch eine Abstraktion von der anderen Seite übrigbliebe. Das Hyletische ist zwar ein ‚Nicht-Ichliches’, aber mit dem Ichlichen reell einig, kann daher ebenfalls ‚subjektiv’ genannt werden.107 Insofern habe ich in dem ‚subjektiven’ Kern meines eigenen Lebens ein ‚Fremdes’, das noch nicht sinnhaft aufzufassen ist: „Innerhalb der Innerlichkeit [ist] das erste ‚Ichfremde’ dem puren Ich vorgegeben, das Ich Affizierende (Reize Ausübende): das Hyletische. Sofern es zum Wesen des Ich gehört, auf ein ihm Fremdes (in einem eigenen Sinn ‚Äußeres’) angewiesen zu sein und reizbar zu sein” (Ms. E III 2/ 22a). Dieses ‚Äußere’ ist also nicht als ein Intentionales zu betrachten, das sich innerhalb der transzendentalen Sphäre sinnhaft konstituiert. Die hyletischen Daten sind zwar schon im primären Sinne ‚konstituiert’; die Ur-Hyle ist aber als das Urmaterial aller transzendentalen Konstitution zu verstehen.108 Es ist zu beachten, daß Husserls evidenztheoretische Argumentation, die ich in bezug auf das ‚Ich bin’ erläutert habe, im Grunde genommen auch für die Ur-Hyle gilt, da diese von jenem im strengen Sinne untrennbar ist. Oder besser: Das, was Husserl als ‚Ich bin’ bzw. ‚Ur-Ich’ behandelt, ist eigentlich die untrennbare Einigkeit des Ur-Ichlichen mit dem Ur-Hyletischen. Sofern aber das Ur-Hyletische als ein ursprüngliches ‚Nicht-Ich’ bezeichnet werden kann, habe ich in meiner absoluten Nähe des ‚Ich bin’ – im Ichlichsten des Ich selbst – ein undurchstreichbares Nicht-Ich. Die angeblich ‚realen’ Gegenstände sind das Intendierte, das das Reelle übersteigt und im Hinblick auf die Evidenz jederzeit ‚modalisierbar’ ist; es ist also – wie zweifellos es auch erscheinen mag – wesentlich relativ, obwohl diese ‚präsumtive’ Relativität eine spezifische Evidenzart darstellt.109 Im Gegensatz dazu ist die Ur-Hyle als dasjenige zu betrachten, was die Urwirklichkeit ausmacht, die für mich im echten Sinne ‚unübersteigbar’ ist. Dieses urwirkliche ‚Nicht-Ich’ steht 106
In einem Manuskript von 1921 findet sich eine entsprechende Aussage über die „Urelemente für Zeitkonstitution”, die von zwei Seiten dargeboten werden: „a) von der ursprünglich ichfremden Seite, der hyletischen, b) von der ursprünglich ichlichen Seite, den ursprünglichen Ichakten, Ichverhaltungsweisen” (Ms. E III 2/ 24b). 107 Vgl. die folgende klare Aussage: „Sofern es undenkbar ist, dass ein Ich Bewusstsein hat ohne eine Hyle, und diese sich als reell einig mit dem Ichlichen gibt, heisst auch die Hyle subjektiv” (XIV, 52). 108 Vgl. Ms. C 13/ 25a; XV, 385. 109 Vgl. Kapitel VII, 2.4.
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mir nicht in gewöhnlicher Weise ‚zur Verfügung’, ist mir nicht als ‚Gegenstand’ gegenübergestellt, sondern ist das, was mir ohne jeglichen Abstand, also in meiner einzigartigen Nähe, gegeben ist. Man muß also sagen, daß ich mitten in mir selbst das urwirkliche und unverfügbare ‚Nicht-Ich’ berge, das von mir als dem ursprünglichen ‚Ich bin’ nicht loszureißen ist.110 Das UrHyletische ist nicht etwas für mich; das habe ich nicht, sondern das lebe ich und bin ich gewissermaßen, bevor ich mich selbst dem Nicht-Ichlichen gegenüberstelle.111 Dieses ursprünglich ‚Ichfremde’ befindet sich nicht vor mir, sondern in mir selbst.
3.4 Die ‚Machtlosigkeit’ des Ich und der Andere ‚in mir’ 3.4.1 ‚Ich stehe mir nicht zur Verfügung’: Die unverhüllte Offenheit des Ich Es wurde gezeigt, daß das Ur-Ichliche mit dem Ur-Hyletischen untrennbar eins ist. Das besagt aber dennoch nicht, daß sich die ‚nicht-ichliche’ Ur-Hyle in mein Ego auflöst, sondern daß ich auf dieses ursprünglich ‚Ichfremde’ unausweichlich „angewiesen” (Ms. E III 2/ 22a) bin, daß ich ihm gewissermaßen im Innersten ausgesetzt bin. Darüber hinaus hat sich schon herausgestellt, daß mein ursprüngliches ‚Ich-Sein’ als solches so beschaffen ist, daß ich mir selbst notwendig ‚vorangehen’ muß. Das läßt sich auch dahingehend interpretieren, daß ich mir selbst in einem eigentümlichen Sinne ‚nicht zur Verfügung’ stehe. Denn die Unterscheidung zwischen Verfügbarkeit und Nicht-Verfügbarkeit erhält in bezug auf mich als das urtätige Ich erst ihren Sinn. Dazu bemerkt Husserl folgendes: „Als dieses letztlich entscheidende Ich bin ich in meinem Sein apodiktisch — von inneren Entscheidungen unbetroffen, deren Sein selbst erst in mir der Entscheidung bedarf, ob sie und was sie sind” (Ms. K III 6/ 100b). Dieses Ich selbst ist also in der Weise ‚unverfügbar’, daß es derjenige ‚Nullpunkt’ ist, von dem aus erst zu bestimmen ist, was verfügbar und was nicht 110
Die Einigkeit von Ur-Hyle und Ur-Ich beschreibt Waldenfels treffend. Bemerkenswert ist, daß er dabei auf das Vorausgehen des ‚Ich bin’ vor mir selbst hinweist: „Dieses Schon-sein bedeutet Welt- und Selbstvorgegebenheit in eins. Das ist zunächst nicht zu verstehen als äußeres Prius: Welt und Ich waren schon da, sondern als inneres Prius: ich bin mir voraus und habe eine Welt.” (Waldenfels 1971, 127). 111 Husserl macht an folgender Stelle deutlich, daß das Hyletisch-Unwillkürliche zwar nicht dem konstituierten, aktiven Ich, aber dennoch dem Ur-Ich ‚entquillt’: „Das Ich ist im Unwillkürlichen nicht schlechthin passiv, in jedem Sinne untätig; vielmehr entquillt es dem Ich, dem Ur-Ich (nicht dem Ich-Mensch und Du-Mensch)” (Ms. M III 3 III 1 II/ Tr. 35). Dies ist nicht als eine Reduzierbarkeit des Ur-Hyletischen auf das Ich zu verstehen, sondern als die ursprüngliche Untrennbarkeit und Unentrinnbarkeit des Ich vom Ur-Hyletischen. Selbst gegen das ‚Unwillkürliche’ kann das Ich im tiefsten Niveau nicht ‚gleichgültig’ sein, da es mitten in mir selbst herausquillt.
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verfügbar ist; es kann daher von der auf ihm beruhenden Entscheidung und Unterscheidung nicht betroffen werden. Mein Ich-Sein habe ich nicht ‚in meiner Hand’, da es in jeder meiner freien Verfügbarkeit vorausgesetzt ist und ihr auf diese Weise vorausgeht. Diese fundamentale ‚Unverfügbarkeit’ (bzw. ‚Urpassivität’ 112 ) des IchSeins für mich selbst kann als ein Moment der ursprünglichen Fremdheit des Ich-Seins für mich selbst verstanden werden. Diese Fremdheit ist deswegen besonders fundamental, weil sie die Macht des Ich nicht ‚von Außen her’ relativiert, sondern das ursprüngliche Ich-Sein selbst innerlich betrifft. Diese urpassive Fremdheit des Ich selbst ist keine für mich lediglich unbekannte ‚Ferne’, die in eine gewohnte Bekanntheit umgewandelt werden könnte, sondern tut sich nirgendwo anders als in meiner nächsten Nähe auf. Das phänomenologisch ‚wache’ Ich, das sich seiner urfaktischen Apodiktizität bewußt ist, stellt gerade in dieser Apodiktizität selbst jenes ‚unverfügbare’ Vor-Sein meines eigenen Ich fest. Die klarste Evidenz aller Evidenzen weist also gerade in sich die ‚Fremdheit’ des radikalen Mir-Vorangehens bzw. des Entzugs von meiner eigenen Verfügbarkeit auf. Dieses Resultat erfordert notwendigerweise einen radikalen Perspektivenwechsel in bezug auf die Vorstellung des Ich, der sich durch die bisherigen Untersuchungen schon ankündigte. ‚Ich’ ist keine verschlossene Kapsel, die aus sich nie heraustreten kann, sondern ein offenes Lebendigsein als ‚Medium’, in dem alles Seiende und überhaupt Erscheinbare erscheint. Die ursprüngliche Weise des medialen Ich-Seins steht aber außer meiner Verfügbarkeit. Das ursprüngliche Ich-Sein kann man in dieser Hinsicht als ‚hüllenlos-bloße’ Offenheit bezeichnen, in der ich auf keinerlei Weise in der Lage bin, mich dem Erscheinenden zu verschließen. Husserls evidenztheoretische Feststellung: ‚Alles ist für mich’ ist kein Zeichen für einen Solipsismus, demzufolge ich ‚triumphierend’ über allem Seienden stände, sondern meint eine ursprüngliche, ‚unumgängliche’ Offenheit, welche besagt, daß ich allem Erscheinenden in der Weise ‚ausgesetzt’ bin, daß ich dieses Ausgesetztsein überhaupt nicht ‚abhalten’ kann bzw. mich nicht dagegen ‚wehren’ kann. Wie kann ich vermeiden, daß das Erscheinen als solches geschieht? So gleicht das ‚Ich’ den Augen, die ich nicht schließen, den Ohren, die ich nicht zuhalten kann. In diesem Sinne bin ich immer schon dem Erscheinen alles Erscheinenden wehrlos ausgeliefert und auf diese Weise von ihm ‚überwältigt’. 3.4.2 Die Bekundung des Anderen in meiner ‚nächsten Nähe’ Was besagt nun diese Umwandlung der Ichvorstellung, wenn man die Erfahrung des Anderen in Betracht zieht? Das mediale Ich-Sein kann sich auch 112
Zur Urpassivität des Ich und ‚Selbsthinnahme’ des ‚Ich fungiere’ vgl. Held 1966, 162ff.
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dem Sich-Zeigen des Anderen nicht verschließen. Ich bin auch der Bekundung des Anderen, dieses radikalen Nicht-Ich, unausweichlich ‚ausgesetzt’. In evidenztheoretischer Hinsicht steht zwar fest, daß ich als die apodiktische ‚Urstätte’ aller Geltungen auch dem Gegebensein des Anderen ‚vorangehe’. Im ‚Sinn’ des Anderen bekundet sich aber das radikal Fremde, das sich all meinem sinnhaften Begreifen entzieht. Ich kann nicht ‚abwehren’, daß der Andere sich gerade ‚in mir’ – in dem offenen Medium meines Ich-Seins – als dasjenige zeigt, das selbst ‚Ich’ ist, und insofern das apodiktische Medium für alles Erscheinende sein muß.113 Dies ist aber nicht dasjenige, dessen ich mir als meines ‚Ich bin’ inne werde; das bedeutet, daß ich auch das mich radikal transzendierende ‚Fremde’ gewissermaßen in mir aufnehmen muß, daß ich dieses Fremde in meinem ursprünglichsten Ich-Sein selbst ‚wehrlos empfangen’ muß, bevor ich überhaupt zu ihm irgendwie Stellung nehmen kann.114 In dieser Dimension ‚erfahre’ ich das mich radikal Transzendierende. Diese ‚Erfahrung’ bedeutet aber keine Herrschaft des Ich, sondern vielmehr eine uneingeschränkte, ‚hüllenlose’ Offenheit, welche die Vorstellung der wie Kapseln aneinander grenzenden Ichsubjekte nutzlos macht. Das radikal Fremde ist weder vor noch neben mir, sondern in mir ‚gegeben’; dabei ist streng genommen jede räumliche oder quasi-räumliche Vorstellung des Enthaltenseins gegenstandslos, da sie eine entsprechende sinnhafte Konstitution voraussetzt, die bereits außer Geltung gesetzt ist. Um diesen thesenhaften Vorblick zu konkretisieren, soll die Apodiktizität des Ego noch einmal genauer in Erwägung gezogen werden. Sie ist nach den vorangegangenen Überlegungen als ‚Medium’ alles Erscheinens zu charakterisieren; dies kann aber kein abstraktes, allgemeines, neutrales Medium sein.115 Aus evidenztheoretischer Perspektive hat es nur als ‚Ich bin’ und ‚Ich schaue’ mediale Bedeutung. Das impliziert, daß es als letzte Evidenz nicht ein bloßes ‚Jemand schaut’ sein kann. Die Evidenz fordert, daß niemand anderer als ‚ich’ schaut: „Sowie wir also apodiktische Gewissheit fordern, sind 113
Die Bekundung des mich Transzendierenden im medialen Ich-Sein drückt Husserl, obwohl seine Analyse noch auf die sinnhafte ‚Bewährung’ zielt, folgendermaßen aus: „[...] sollten andere als transzendentale Ichsubjekte von mir aus transzendental zugänglich sein, so gehe ich mit meinem eigenen Sein vorher, und die Zugänglichkeit würde besagen, mir selbst eigenes Bewusstsein vollzieht als Anderen eine transzendente, eben mein Eigensein überschreitende Setzung, ein über mich Hinausmeinen, das doch zu Bewährung kommen kann — transzendental” (XV, 115). 114 Dieses Ergebnis würde auch bedeuten, daß die von Lévinas herausgestellte ‚Andersheit’ des Anderen Husserls Gedanken vom ‚Ur-Ich’ keineswegs widerspricht, sondern vielmehr aus ihm notwendig folgt. Dies würde Lévinas selbst – in gewissem Sinne – einräumen; vgl. dazu besonders seine späteren Schriften (Lévinas 1974, 1982). Eine eingehende Überlegung hierzu würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. 115 Vgl. dazu die Kritik an der Vorstellung des ‚gemeinsamen Ursprungs’ in Kapitel V, 4.
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wir auf das Ego beschränkt” (XXXV, 145). Wie kann ich mich aber auf das Ego ‚beschränken’, wenn ich vom Non-Ego nichts weiß? Auch wenn die Reduktion in ihrer Radikalität letztlich auf das Ur-Ich führt, das nicht mehr im Gegensatz zum anderen Ich steht, besagt das nicht, daß aus ihr Unterschiedslosigkeit resultiert. 116 Durch die radikale Reduktion verschwindet zwar der Anschein, daß ich mich auf eines unter vielen Ich, also auf mein privates Ich, beschränken würde. Wenn aber die apodiktische Evidenz trotzdem das ‚Ich schaue’ sein muß und nicht ein ‚Jemand schaut’, zeigt sich in diesem ‚nicht’ eine Differenz, die noch kein apperzeptiv konstituierter Unterschied zwischen gleichgestellten Ichsubjekten sein kann. Da sind wir gewissermaßen auf ein im eigentümlichen Sinne Konkretes und Singuläres verwiesen,117 das noch nicht ein Einzelnes unter vielen anderen, aber auch nicht ‚alles’ ist. ‚Alles’ erscheint durch das Medium dieses Singulären, das selbst jedoch nicht ‚alles’ ist. In diesem Nicht-alles-Sein bekundet sich auf negative Weise das mir radikal Fremde, das insofern nicht ‚erscheint’, als alles Erscheinende durch das Medium jenes singulären ‚Ich’ zum Vorschein kommt. Es handelt sich bei dieser ‚Differenz’ als ‚Nicht’ offensichtlich um die weitere Bedeutung jenes ‚Lebendigseins’, welches das ‚Ich bin’ und ‚Ich schaue’ nicht zu einem unbewegten Endpunkt macht. Die apodiktische Evidenz des ‚Ich bin’ kann kein ‚gleichmäßiges’, ‚ein-fältiges’ Medium sein; die Medialität dieses Mediums besteht vielmehr in der ‚Differenz’, die mit dem Satz: ‚Ich gehe mir selbst vorher’ ausgedrückt wird. Die Charakterisierung der absoluten Evidenz als ‚Ich schaue’ ist einerseits aus evidenztheoretischer Perspektive notwendig, erzeugt andererseits aber gerade die „innere Unruhe” der Phänomenologie, von der Fink spricht.118 Man könnte sagen, daß Husserl als Philosoph des Sinnes das ‚Ich bin’ als letzte Urstätte aller Sinneskonstitution notwendig beanspruchen mußte, was jedoch gerade eine „treibende Ungewißheit”119 schafft, die verhindert, daß man es bei der Feststellung der Apodiktizität des ‚Ich bin’ bloß bewenden läßt. Die ‚Unruhe’ besteht darin, daß die letzte Evidenz weder als eine mir ausschließlich zugehörige Sphäre noch als das allgemeine ‚neutrale’ Absolute zu betrachten ist, das über allen einzelnen Ichsubjekten steht; die letzte apodiktische Evidenz ist ‚meine’, aber nicht ‚lediglich meine’ Evidenz. Der Sinn des ‚Mein’ durchbricht die abgegrenzte Sphäre des Mir-Eigenen, kann aber nie zu einer allgemeinen ‚Über-Instanz’ werden. Das besagt keine theoretische Unvollständigkeit, sondern eine ‚Urtatsache’ des Lebens, die phänomenologisch
116
Vgl. Kapitel V, 2.1. Darauf habe ich in Kapitel VI, 4.4 in bezug auf die ‚Urperspektive’ hingewiesen. 118 Vgl. Dok II/2, 175. 119 Fink 1966, 184. 117
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herauszustellen ist. 120 Dieser ‚beunruhigenden’ Urtatsache ist das ‚radikal Fremde’ zu entnehmen, das Husserl vielleicht spürte, aber nicht klar zum Ausdruck brachte.121 Es ist aber nicht ausgeschlossen, in Husserls Texten Indizien für die Bekundung des radikal fremden Anderen aufzufinden. Sie ist vielmehr in seinen Texten überall zu spüren, sofern sie in ihnen als ‚treibende Ungewißheit’ wirksam ist. Husserl schreibt z. B., daß im Bereich des ego cogito „keine Seinsgewissheit für einen Anderen” beschlossen ist (XXXV, 145). Wenn aber der Andere in dieser Dimension überhaupt nicht in Frage käme, hätte man überhaupt keinen Anlaß, die Frage nach der transzendentalen Intersubjektivität zu stellen. Dagegen versucht Husserl bis zur letzten Phase seines Lebens unermüdlich, dieses Problem in immer tieferer Dimension in Augenschein zu nehmen, wie es in seinem Nachlaß dokumentiert ist. Bei der ‚Erfahrung’ des radikalen Anderen handelt es sich nicht mehr um ein Phänomen im eigentlichen Sinne. Daher sagt Husserl nichts Deutliches von einer solchen negativen Bekundung des Anderen aus, da von ihr keine eigentlich evidenzielle Aussage zu machen ist. Indessen ist zu vermuten, daß er sich über sie nicht hinwegtäuschen konnte, denn er reagiert auf diese nicht-erscheinende Bekundung in der Weise, daß er – die absolute Evidenz des Ich behauptend – keine Ichmetaphysik entwickelt, womit seine Phänomenologie als Theorie hätte stabiler sein können; statt dessen kommt er immer wieder auf das unbehagliche ‚Phänomen’ des Anderen zurück, der auch ein ‚Ich’ ist und alle Rechte des Ichlichen teilt.122 Husserl bringt zwar die ‚negative Phänomenalität’ des Anderen nicht klar zur Sprache, ist jedoch so schlicht und offen, daß er dieses unangenehme Problem nicht theoretisch verschleiert oder scheinbar ausradiert, sondern auf die eigene Beschreibung so ‚wirken lassen’ konnte, daß es als deren treibende Kraft dient. Über diese Andeutung hinaus möchte ich nun das ‚nicht-erscheinende’ Phänomen des Anderen konturieren. Jene Aussage, der Andere sei nicht evident gegeben, ist von Husserls Absicht der Evidenzsuche abzutrennen und als reine Beschreibung zu lesen anstatt als eine Behauptung, die das Sein des Anderen für ‚ungewiß’ erklärt und im Gegensatz zum Ich-Sein etwa ‚degradiert’. Dort ist also zum Ausdruck gebracht, daß sich der ‚Andere’ gerade 120
Dieses Ziel verfolgten die Untersuchungen des II. Teils. Es wäre zwar denkbar, daß Husserl auch in folgender Bemerkung das Gesagte im Sinn hatte: „Mein faktisches Sein kann ich nicht überschreiten und darin nicht das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc. also die absolute Wirklichkeit” (XV, 386). Wenn er aber von dem intentionalen Beschlossensein spricht, zielt er schon offensichtlich auf den sinnhaft verstehbaren ‚Anderen’ ab, und nicht auf das radikal ‚Fremde’ in ihm. 122 Waldenfels bemerkt treffend: „Was sich nur zeigt, indem es sich entzieht, erfordert eine phänomenologische Frageweise, die den Spalt zwischen Sagen und Sichzeigen nicht nur nicht schließt, sondern von ihm ausgeht und immer wieder auf ihn zurückkommt” (Waldenfels 2001, 37). 121
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dadurch in meiner Erfahrung bekundet, daß er sich nicht zeigt. Wenn er sich in mir wie mein Ich selbst zeigen würde, höbe das den Sinn des Anderen auf. Das ‚Sein’ des Anderen besagt vielmehr für mich sein radikales Nichtpräsent-Sein.123 Durch dieses ‚Nicht’ zeichnet sich die paradoxe ‚Gegebenheit’ des Anderen aus. Angesichts dieser ‚Gegebenheit’ des Anderen steigert sich jene ‚Unverfügbarkeit’, die mein Ich-Sein grundsätzlich bestimmt. Die Machtlosigkeit des Ich prägt sich nicht nur in meinem Ausgesetzt-Sein von allem Erscheinen aus, sondern auch darin, daß ich das ursprüngliche Sein des Anderen, der in Form der sinnhaften Konstitution nicht erscheint, dennoch als ‚gegeben’ akzeptieren muß. Ich muß diese unerklärbare ‚Gegebenheit’ des NichtErscheinenden hinnehmen, das ich auf keinerlei Weise erkenntnismäßig sicherstellen kann. Der radikale Andere kann sich nirgendwo im Erscheinungsfeld geben, das von dem ‚Für-mich’ durchdrungen ist, das sich also grundsätzlich auf die apodiktische Evidenz des Ego stützt. Über dieses Medium der Evidenz kann keine Erscheinung des Erscheinenden hinaustreten. Der Herrschaft dieser Evidenz entzieht sich – wie schon festgestellt – einzig das mediale Ur-Ego selbst. Daraus ergibt sich: Wenn sich der radikale Andere, der in meinem Erscheinungsfeld nicht auftritt, mir trotzdem bekundet, kann dies für mich nirgendwo anders stattfinden als in meinem Ur-Ego selbst. Der radikale Andere, der meiner Erkenntnis nicht verfällt, bekundet sich also im tiefsten Grund meiner selbst; m. a. W., in meiner absoluten Nähe. Dort zeigt er sich als das radikale Nicht-Ich. Ich erfahre also in meiner nächsten Nähe selbst das Fremdeste.124 Dieses Fremdeste kann nicht als ‚Ferne’ bezeichnet werden, obwohl es nicht ‚vor Augen’ präsent ist. Denn die Gegebenheit von etwas als einem ‚Fernen’ impliziert, daß ich es mit Distanz betrachten kann. Das Hinsehen aus der sicheren Distanz ist eine Weise, etwas zu beherrschen, ohne selbst bedroht zu sein. Der Andere gibt sich jedoch als derjenige, von dem ich nicht ‚Abstand nehmen’ kann. Ein völlig unverständlicher, unheimlicher Mensch bringt mich deswegen in Verlegenheit, weil er nicht als ein von mir entferntes, beziehungsloses Objekt, sondern gerade als ein ‚Ich’ – als ein lebendiges ‚Ich-lebe’ – auftritt, das als solches in meinem eigenen Ich ein unabweisbares ‚Mitschwingen’ auslöst, während ich von seiner ‚inneren Welt’ fast 123
Vgl. I, 144, 139; XIV, 351. Dazu vgl. die genauere Argumentation in Vf. 2002 (bes. 66ff.), die dasselbe Thema aus der Perspektive der zeitlichen Individuation behandelt. Diese Argumentation dient offensichtlich dazu, den Gedanken der ‚Nähe’ des Anderen bei Lévinas (Lévinas 1974, 102ff.) phänomenologisch zu bestätigen. Er spricht beispielsweise von: „L’autre en moi et au sein de mon identification même” (ebd., 160). Auch Nishida unterstreicht mehrfach, daß ich das Du als die absolute Andersheit im Urgrund meines eigenen Seins finde (Nishida 1948, 380ff.). Dasselbe stellt Kimura durch seine psychopathologischen Überlegungen fest (Kimura 1990, 290ff.).
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nichts erkennen und wissen kann. Das Sich-Bekunden des fremden Ich, von dem ich immer schon ‚betroffen’ bin, kann ich nicht ignorieren, obwohl es sich nicht in meine Erkenntnis aufnehmen läßt und sich nicht wie das evidente Erlebnis von mir selbst gibt. Selbst das Ignorieren ist eine Weise des Antwortens auf den Anderen, in der ich die unleugbare Manifestation des Anderen immer schon empfangen habe. Oder: Ich lasse ihn ins Zentrum meines Ich-Seins ein, bevor ich auf ihn irgendwie erkennend reagieren kann. Die Bekundung des Anderen greift mich in meinem ur-ichlichen Grund an. In meinem Kern sich bekundend gehört er doch auf keinerlei Weise zu mir. Diese ‚Nähe’ des Anderen sprengt die gewöhnliche Ordnung von Nähe und Ferne, die für mich die Ordnung der Evidenz bedeutet.125 Obwohl sich der Andere in meiner ur-ichlichen, absoluten ‚Nähe’ bekundet, habe ich nicht die geringste Ahnung, wohin (zu welchem Ort) er gehört: Er läßt sich in dem von mir erkennbaren Universum des Wirklichen und Möglichen nicht lokalisieren. Er gibt sich gewissermaßen als ortlos und a-dimensional, ist nicht zu fassen, aber dennoch ‚erfahren’.126 So derangiert der Andere die Ordnung des erscheinenden Universums von Grund auf, die auf meiner apodiktischen Evidenz beruht. Die Begegnung mit dem Anderen ist für mich ein – zumindest potentielles – ‚Durcheinandergeraten’. Dies ist zwar gewöhnlicherweise durch die Sozialisation und die damit ermöglichte Antizipierbarkeit scheinbar verharmlost; die Begegnung mit dem Anderen verliert aber ihren beunruhigenden Charakter nicht. Selbst in einer sehr vertrauten Person kann sich jederzeit ein unermeßlicher Abgrund auftun; ohne diese Möglichkeit wäre es nicht anders, als wenn man allein ist. Das Mitsein des Anderen besagt eine Potentialität, daß die universale Ordnung, in der sich mein Verstehen des Gegenständlichen überhaupt bewegt, umgestürzt werden kann. Diese Potentialität verbürgt mir, daß mein Leben und Erfahren in meiner von mir projizierten universalen Ordnung der Erkenntnis nicht erstarrt. Darauf gehe ich im nächsten Abschnitt ein.
4. DIE SELBSTVERANTWORTLICHKEIT DES DENKENS UND DIE OFFENHEIT FÜR DAS ‚FREMDE’ Am Schluß möchte ich noch ein bedeutsames Moment des Husserlschen IchGedankens in Erwägung ziehen, aus dem sich ergibt, daß sich die Phänomenologie dem radikal Fremden für das schauende Ich nicht verschließt: Es
125
Vgl. Kapitel VII, 2.4. In diesem Zusammenhang kann man an die „Nähe” als „Nicht-Ort” (non-lieu) und „Utopie” bei Lévinas erinnern (Lévinas 1974, 58, 103, 229).
126
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geht um die ‚Selbstverantwortlichkeit’ des Denkens. Dabei spielt die Evidenzlehre wiederum eine entscheidende Rolle.
4.1 Die Selbstverantwortlichkeit des ‚Ich schaue’: Verbindlichkeit und Freiheit der Evidenz Es hat sich herausgestellt, daß jedes Verständnis des ‚Sinnes’ letztlich auf der apodiktischen Einsehbarkeit beruht, die das ‚Ich schaue’ bedeutet. Warum ist aber das ‚Schauen’ nicht als etwas Allgemeines, nicht mehr Ichliches zu charakterisieren? Zur Beantwortung dieser Frage dient neben den vorangegangenen Erörterungen noch ein wichtiger Gesichtspunkt, der bisher im Hintergrund geblieben ist: Wenn das sinnhaft-intentional aufzuzeigende System der transzendentalen Erfahrung letztlich in einem allgemeinen Schauen verankert wäre, das ‚niemandes’ Schauen wäre, müßte man dieses System als ein ‚Vollkommenes’ annehmen, das außer sich nichts übrig ließe, was noch sinnvoll behandelt werden könnte. Das würde eine ‚perfekte Theorie’ darstellen, die niemand mehr korrigieren oder bestreiten könnte, denn sie würde weder von ‚mir’ noch von ‚dir’ oder sonst irgend jemandem, sondern von einem angeblich über-ichlichen, ‚absoluten Schauen’ als solchen geschaut und verbürgt. Entgegen dieser Verabsolutierung eines philosophischen Systems findet man bei Husserl eine völlig andere Haltung zum System und zur Theorie: Er charakterisiert das absolute Schauen durchgängig als ‚Ich schaue’. In einer späten Aufzeichnung akzentuiert er, daß „wir eine Philosophie versuchen aus wirklicher Verantwortung, die nur meine eigene sein kann und erst von mir aus ‚unsere’, eine ‚objektive’” (XXIX, 331f.). Die apodiktische ‚Antwort’ auf transzendentale Fragen gibt nicht irgend jemand anders, sondern es geht um die „Antworten, die ich selbst gebe und in transzendentaler Absolutheit verantworte” (ebd., 331). Sofern die Evidenz das Erfüllungsbewußtsein der Selbstgegebenheit darstellt, besagt dies, daß sie auch die Bedeutung des ‚Für mich da’ notwendigerweise impliziert. Ich kann nicht ohne weiteres dasjenige als Wahrheit hinnehmen, was ich mittelbar von jemandem erfahren habe. Die Evidenz muß von mir selbst vollzogen werden. Eine bloß symbolisch vorgestellte Wahrheit ist zwar eine Möglichkeit der Wahrheit, die bewährt werden kann, aber noch keine Wahrheit als solche, die ihre Rechtsquelle im ‚Schauen’ und ‚Einsehen’ hat: „Ich, der aktuell hier Überlegende und irgendeine Wissenschaft Aufklärende, muß mir sagen, daß aus meinem Erkennen, aus meinem Leben alle Wahrheit, die für mich ist und soll sein können, sich verstehen muß, ihr Recht sich aufklären muß. Mein Leben ist das an sich Erste, ist der Urgrund, auf den alle Begründungen zurückbezogen sein müssen” (VIII, 396).
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Darunter kann man nicht einen subjektiven Dogmatismus verstehen, der behaupten würde: Alles, was ich sage, ist wahr. Husserls Pointe liegt vielmehr darin, daß ein angeblicher ‚Objektivismus’ ein sich tarnender Dogmatismus sein kann. Husserls Anliegen ist eigentlich viel bescheidener als dasjenige dessen, der die Objektivität der Wahrheit schlechthin behauptet. Wer sagt: ‚Ich sehe das als wahr und verantworte die Antwort’, der verantwortet auch die mögliche Konsequenz, daß sich die Antwort als falsch erweisen könnte. Wer hingegen seine Aussage einfach als ‚objektive’ Wahrheit hinstellt, befindet sich in einer Selbstvergessenheit, in der er nicht vor Augen hat, daß niemand anderer als er die betreffende Wahrheit als solche einsieht; ihre ‚Evidenzquelle’ liegt in seinem eigenen Evidenzerlebnis. Wenn es um diejenige Wahrheit geht, die von jemand anderem behauptet wurde, vollziehe ich als der sie als ‚wahr’ Aussagende, das urstiftende Evidenzerlebnis des Stifters nach.127 Allein durch diesen Nachvollzug kann ich die betreffende Wahrheit als Wahrheit aussprechen. Es ist nichts anderes als mein Evidenzerlebnis, das die Wahrhaftigkeit meiner Aussage verbürgt und verantwortet: „Die absolute Rechtfertigung aller ursprünglichen Setzungen und wissenschaftlichen Bestimmungen von Objektivitäten, die ursprüngliche Rechtfertigung also aller Wissenschaften, setzt voraus, dass der Erkennende absolutes Selbstbewusstsein in einer absoluten Rechtfertigung vollziehe, im ego cogito” (XXXV, 434). Die objektive Wahrheit kann daher nicht eine abgeschlossene sein. Ihre ‚Nicht-Endgültigkeit’ schadet aber ihrer Evidenz nicht im geringsten. Von einem bloßen Relativismus kann hier keine Rede sein. Die Wahrheit schöpft zwar ein wesentliches Moment ihrer Wahrhaftigkeit aus meinem Evidenzbewußtsein des Nicht-anders-sein-Könnens, ohne das keine Wahrheit möglich wäre. Das bedeutet aber nicht, daß ich willkürlich bestimmen könnte, was wahr und was falsch wäre. Im Evidenzbewußtsein besteht kein Raum für eine Willkürlichkeit, in der man sich für das A entscheidet, das auch B sein könnte. In der apodiktischen Evidenz bin ich vielmehr an die Notwendigkeit des Nicht-anders-sein-Könnens gebunden. Diese Gebundenheit an die Evidenz besagt aber nicht unbedingt eine Gebundenheit an das objektiv Festgestellte. In dieser Hinsicht ist zu berücksichtigen, daß die Evidenz ‚ausgelegt’ bzw. ‚expliziert’ werden kann. Ihre erste Auslegung kann sich als ungenügend und korrekturbedürftig herausstellen. Denn es ist jederzeit möglich, daß die erste unklare Evidenz sich deutlicher zeigt oder auf weitere Evidenzen verweist. Zur Evidenz als solcher gehört als Grundzug, daß sie nicht an das objektiv Ausgelegte und Festgestellte starr und fest gebunden ist, sondern
127
Vgl. Beilage III der Krisis, die als „Ursprung der Geometrie” bekannt ist (VI, 365ff.).
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darüber hinausgehend sich entfaltet.128 Nicht eine Auslegung der Evidenz, sondern die Evidenz selbst zeigt sich als letzte Instanz, nach der sich die Auslegung richten muß. Der folgenden Stelle kann man diese ‚Offenheit’ der Evidenz, die dennoch verbindlich ist, unmißverständlich entnehmen: „Die Möglichkeit der Täuschung gehört mit zur Evidenz der Erfahrung und hebt ihren Grundcharakter und ihre Leistung nicht auf [...]. Evidenz der Erfahrung ist also hierbei immer schon vorausgesetzt. Die bewußtseinsmäßige ‚Auflösung’ einer Täuschung, in der Ursprünglichkeit des ‚nun sehe ich, daß das eine Illusion ist’, ist selbst eine Art der Evidenz, nämlich die von der Nichtigkeit eines Erfahrenen, bzw. von der ‚Aufhebung’ der (vordem unmodifizierten) Erfahrungsevidenz. [...] Selbst eine sich als apodiktisch ausgebende Evidenz kann sich als Täuschung enthüllen und setzt doch dafür eine ähnliche Evidenz voraus, an der sie ‚zerschellt’” (XVII, 164).129 Die apodiktische Evidenz ist also als Medium immer schon vorausgesetzt, unterscheidet sich aber prinzipiell von der objektiv erstarrten Gestalt der Evidenz. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, daß diese Nicht-Gebundenheit der Evidenz an das objektiv Festgestellte gerade die Kritik der Evidenz erst ermöglicht. Evidenz bedeutet für das Ich eine unentrinnbare Verbindlichkeit und zugleich eine Freiheit, da ich mich aufgrund der Evidenz von jedem Ausgesagten und ‚Gefestigten’ loslösen und dieses jederzeit einer freien Kritik unterziehen kann.130 Diese ‚Freiheit’ bedroht nicht die Invarianz der Wahrheit, sondern gewährleistet vielmehr, daß eine Wahrheit jederzeit kritisch überprüft werden kann, so daß sie sich bewähren läßt; sie bleibt aber ein Korrelat des Evidenzbewußtseins, und nur insofern kann sie als ‚zweifellose’ erscheinen. Keine ausgesagte Wahrheit gilt also bedingungslos und ‚autark’; keine kann sich einer Kritik entziehen. Gerade dadurch kann aber eine Wahrheit gegebenenfalls unendlich bekräftigt werden. Es ist nun zu bedenken, daß die oben erläuterte ‚Freiheit’ und ‚Verbindlichkeit’ der Evidenz mit der Selbstverantwortung des Denkens untrennbar
128
Das ideale Korrelat dieses Prozesses ist die vollkommen objektive Wahrheit, deren Adäquation eine ‚unendliche Idee’ bzw. ein ‚Limes’ ist; vgl. dazu Kapitel VII, 2.3.2. Es ist zu beachten, daß die Unterscheidung zwischen Apodiktizität und Adäquatheit es ermöglicht, den bindenden, aber nicht gebundenen Charakter der Evidenz verständlich zu machen. 129 Husserl bemerkt: „[...] die naive Evidenz gibt sich als irrelativ – das führt zum verkehrten Rationalismus; sie muß relativiert werden” (Ms. A I 31/ 20b; vgl. Ms. B I 14/ 149b). Dogmatisch ist die naive Evidenz; die apodiktische Evidenz im Husserlschen transzendentalen Sinne ist keine absolute im Gegensatz zur relativen Evidenz, sondern impliziert wesentlich die Relativität und Mannigfaltigkeit der Explikationen. 130 Mit dieser ‚Freiheit’ ist die Epoché untrennbar verbunden, die letztlich auf das selbstverantwortliche ‚Ich denke’ in der Apodiktizität führt. In der „freien Epoché” bin ich, sagt Husserl, der „unbeteiligte Betrachter aller und auch der eigenen Philosophie” (XXIX, 419); vgl. XXIX, 374f., 416.
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zusammenhängt.131 Jede Evidenz und Wahrheit stützt sich letztlich auf mein ‚Ich schaue’; dies ist es, das meine Aussage ‚verbindlich’ macht und zugleich von einem dogmatischen Verharren am Festgestellten befreit. Die blinde Hinnahme eines angeblich objektiv Festgestellten besagt hingegen, daß man zum Wahrheitsgrund seiner eigenen Aussage nicht Stellung nimmt; darin besteht eine Verantwortungslosigkeit der Aussage. Wenn man andererseits die ‚Freiheit’ der Evidenz mit der schrankenlosen Willkürlichkeit vermengt, ergibt sich ein relativistischer Skeptizismus, der eine andere Art von Verantwortungslosigkeit darstellt. Allein die Berufung auf mein eigenes ‚Ich schaue’ ermöglicht eine ‚letztverantwortliche’ Aussage, in welcher sich der Aussagende direkt auf seine eigene Evidenzquelle der Aussage stellt und zugleich sich selbst kritisch gegenüberstehen kann.132 Bei der medialen ‚Apodiktizität’ handelt es sich – wie ich schon zeigte133 – um „eine absolut apodiktische Selbstverständlichkeit” (VI, 425), die das natürliche Erkenntnisleben immer schon unthematisch durchlebt. Für die Philosophie ist es aber entscheidend, daß diese ‚Selbstverständlichkeit’ als solche thematisiert und ausdrücklich anerkannt wird: „Die Enthüllung dieser Selbstverständlichkeit und ihre apodiktische Inanspruchnahme ergibt den absolut apodiktischen Boden einer Philosophie [...]” (ebd.). Es würde für den Philosophen eine fundamentale Unverantwortlichkeit gegenüber seiner eigenen Erkenntnis und Aussage bedeuten, wenn er denjenigen Boden nicht anerkennt oder sogar negiert, auf den sich seine ganze Erkenntnis und jede Aussage stützt.134 Durch den Rekurs auf die selbstverantwortliche Evidenz wird also nicht der „alte Rationalismus” erneuert (VI, 346).135 Die ‚Selbstverantwortung’ meint vielmehr ein fundamentales Selbstverstehen des Denkenden, in dem er des Grundes seines ‚Sehens’ inne wird: „Die ratio, die 131
Zum Zusammenhang von Freiheit und Selbstverantwortung vgl. XXIX, 377. Held versteht unter „Freiheit” bei Husserl „die Verantwortlichkeit, die ich als transzendentales Ur-Ich besitze, das sich durch keine Vergegenständlichung einholen läßt” (Held 1986, 47). 132 Husserl zufolge muß jeder Wissenschaftler einsehen, „daß Wissenschaft, daß Philosophie entweder einen Boden naiver Vorurteile hat oder einen neu und frei geschaffenen Boden aus absoluter Selbstverantwortung – das ist meiner, in der unwiederholbaren Einzigkeit meines Ich”, daß die Transzendentalphilosophie „der Weg der Selbstverantwortung überhaupt ist, der echten, der den Menschen zu sich selbst, zu seinem absoluten ‚Ich selbst’, als mich verantwortendes, zurückführt” (XXIX, 165). Darin sieht Husserl die Aufgabe des letzten Selbstverständnisses vom Menschen (VI, 275, 429f.). In dieser Hinsicht würde Husserl Aguirres Ansicht zustimmen, daß die Einzigkeit und Undeklinierbarkeit des Ur-Ich „die Auszeichnung des Menschen” sei (Aguirre 1982, 46), wobei der Begriff Mensch nicht anthropologisch oder humanistisch mißverstanden werden darf. 133 Vgl. Kapitel VII, 2.5.2. 134 Vgl. auch die bemerkenswerte, als Motto diesem Kapitel vorangestellte Passage (VI, 439); auch VI, 115; I, 118. 135 Mit Aguirre kann man sagen, daß Husserls Phänomenologie „eine klare Absetzung gegen den klassischen Rationalismus” ist (Aguirre 1972, 103f.).
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jetzt in Frage ist, ist nichts anderes als die wirklich universale und wirklich radikale Selbstverständigung des Geistes in Form universaler verantwortlicher Wissenschaft” (VI, 346). Es ist dabei nicht aus dem Auge zu verlieren, daß der „äußerste Radikalismus der philosophischen Selbstverantwortung” (VI, 426) nicht zu toten Formeln führt,136 sondern zur absoluten Freiheit des lebendigen ‚Ich schaue’, die ihm selbst – im bereits erläuterten Sinne – ‚vorangeht’ und jeder objektiv fixierten Evidenz kritisch begegnen kann. 137
4.2 Die Anderen und das ‚Fremde’ der Theorie Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Berufung auf das apodiktische ‚Ich schaue’ keineswegs als dogmatisch zu bezeichnen ist, sondern im Gegenteil auf entscheidende Weise verhindert, daß die Phänomenologie zu einer angeblich ‚absoluten Theorie’ erstarrt und sich ihrem ‚Fremden’ verschließt.138 Es soll nun gezeigt werden, daß das Problem des ‚radikal Fremden’ aus dieser Perspektive eine neue Bedeutung erhält. Der Gedanke, daß alle Anderen ihr Sein ‚in mir’ bezeugen müssen, scheint insofern in Schwierigkeiten zu geraten, als er die Frage beantworten muß, auf welche Weise der Andere in seiner radikalen Fremdheit dennoch ‚gegeben’ sein kann. Die Fremdheit des Anderen kann gewiß als ein ‚Sinn’ betrachtet werden; ich kann ‚sinngemäß’ verstehen, daß sich mir der lebendige Andere nicht vollständig gibt. Wenn ich aber die radikale Fremdheit des Anderen bloß sinnhaft ‚annähme’, hätte sie nur eine Evidenz niederen Ranges, die im Prinzip jederzeit gestrichen und für ‚Schein’ erklärt werden könnte. Dagegen scheint man einwenden zu können, daß das ‚Wirklichsein’ des Anderen über alle meine sinnhaften Auffassungen hinausgeht, m.a.W. jeder sinnhaften Konstitution vorangeht. Muß man demzufolge sagen, daß Husserls Phänomenologie, die sich als universale ‚Sinnesaufklärung’ bestimmt, nicht den ‚wirklichen’ Anderen erreichen und man nicht vom urfaktischen ‚Dasein’ des Anderen sprechen kann? Auf diese Skepsis kann man mit folgender Gegenfrage antworten: Muß und kann das Dasein des Anderen wirklich durch die ‚Theorie’ verbürgt 136
Husserl schreibt an Cairns: „Bedenken Sie, dass meine Schriften keine formelhaft zu lernenden Resultate bringen, sondern Fundamente um selbst bauen zu können, Methoden um selbst arbeiten zu können, Probleme, sie selbst zu lösen” (Dok III/4, 24). 137 ‚Selbstverantwortlichkeit’ markiert also die einzigartige Weise, in der die Evidenz für immer ‚meine’ ist, ihren einmalig-singulären Charakter nie verliert, aber dennoch als ‚Maß’ des Wissens fungiert, ohne das auch die ‚objektive’ Evidenz nicht möglich wäre. Hier befindet man sich sozusagen jenseits von Relativismus und Dogmatismus. Dies könnte – was im Rahmen der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht geleistet werden kann – im Hinblick auf Nietzsches Perspektivismus näher erörtert werden. 138 Darin sieht Landgrebe den entscheidenden Unterschied zwischen Husserls Gedanken vom notwendig vorangehenden ‚Ego’ und dem absoluten Idealismus (Landgrebe 1963, 196).
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werden? Die Frage muß verneint werden, denn es wäre vielmehr eine Hybris, wenn man behaupten würde, daß eine ‚Theorie’ das Wirklichsein des Anderen in sich vollkommen ‚subsumieren’ und ‚absorbieren’ könnte. Das würde einen versteckten Solipsismus bedeuten, da eine Theorie aus Aussagen besteht, die notwendigerweise jeweils ‚meine’ sein müssen. Auch wenn eine solche Theorie von mehreren Forschern (von ‚uns’) vertreten wird, liegt ihre Evidenzquelle letztlich jeweils in meinem ‚Ich schaue’. Die wirklichen Anderen stehen immer ‚außerhalb’ der Theorie. Das ist offenbar eine gesunde ‚Selbstverständlichkeit’, die durch eine extreme Verallgemeinerung und Verabsolutierung der philosophischen Theorie leicht in Vergessenheit geraten kann. Unter ‚Anderen’ müssen diejenigen verstanden werden, die ich nie ‚neben mir’ gleichgestellt finden kann;139 wäre dies nämlich der Fall, wären sie nur die sinnhaft aufgefaßten Anderen, die theoretisch vollständig bestimmt werden könnten. Ob absichtlich oder nicht – Husserl spricht nicht explizit vom radikal fremden Anderen, der über allen ‚Sinn’ hinausgeht. Dies wäre eine konsequente Haltung, sofern er sich für einen Analytiker aller erdenklichen ‚Sinne’ hielte.140 Wenn er aber auf die ‚Selbstverantwortung’ der philosophischen Aussage Anspruch erhebt, bekundet sich darin zumindest, daß er niemals das sinnvoll Ausgesagte verabsolutiert, sondern vielmehr im Auge behält, daß jede Aussage immer schon auf dem urfaktischen ‚Medium’ der apodiktischen Evidenz beruht, die sich als mein urfaktisches ‚Ich schaue’ vollzieht. Die Philosophie muß ausgesprochen werden; ohne das Sprechen und Aussagen wäre sie nichts. Es gibt keine reglose ‚Philosophie an sich’, die von jedem Aussagen unabhängig wäre. Husserls ‚strenge Wissenschaft’ stützt sich durchgängig auf das ‚selbstverantwortliche’ Aussagen, das sein Recht allein aus dem Evidenzvollzug des Aussagenden schöpft.141 Husserl versteht also unter Philosophie eine unendliche Aufgabe, die immer auf dem Weg zur Erfüllung ist. 142 Er meint, daß die verwirklichten Philosophien und ihre Aussagen – auch Husserls eigene – prinzipiell jederzeit korrigiert, ja sogar umgestürzt werden können. 143 Die ‚Philosophien’ im Plural sind nicht relativistisch 139
Vgl. VI, 346. Vgl. XVII, 13; I, 117ff.; Dok III/9, 83f. Es wäre auch denkbar, daß Husserl – wie der frühe Wittgenstein – über dasjenige schwieg, was nicht ‚sinnvoll’ ausgesprochen werden kann. Dabei war er möglicherweise konsequenter als dieser, da er tatsächlich schwieg, anstatt zu sagen, daß man schweigen müsse. Man könnte auch daran erinnern, daß sich Husserl nahezu sein ganzes Leben hindurch für religiöse Probleme stark interessierte, sich aber in seiner theoretischen Arbeit eine Haltung der asketischen Selbstbeschränkung bewahrte (vgl. Dok III/3, 83, 419; Dok III/4, 408; Dok III/7, 237; Dok III/9, 124; Cairns 1976, 23, 46f.). 141 Vgl. Brand 1955, 52; Ströker 1988, 263. 142 Vgl. VI, 273ff.; XXIX, 405. 143 Vgl. hierzu folgende charakteristische Stellen: „Die Phänomenologie geht auf Wahrheit aus, aber Wahrheit in ständiger Bewegung, antizipierend, dass jede erreichte Wahrheit als 140
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zu betrachten, sondern tragen in sich die Philosophie als universale teleologische Idee.144 Diese ‚Idee’ zwängt uns aber nicht in eine bestimmte Richtung, sondern eröffnet uns immer auch andere Möglichkeiten, und zwar auf radikale Weise. Dessen inne zu werden, auch darin besteht das wesentliche Moment jener Freiheit und Selbstverantwortung des philosophischen Denkens. Eine philosophische ‚Theorie’ kann sich also – wie vollkommen und universal sie auch erscheinen mag – niemals von ihrem ‚Fremden’ losreißen. Husserl betrachtet die gewisse „Vagheit”, welche den tatsächlichen Philosophien anhaftet, nicht als ein Zufälliges, sondern als „das Schicksal aller Begriffsgebilde, universal gesprochen, aller philosophischen aus Wesensgründen” (XXIX, 405). So fährt Husserl fort: „Diese Vagheit als ein in allem Umgriffenen, doch nicht Ergriffenes, +die, also ungeformte Tiefe ausmacht, ist schwer zu fassen” (XXIX, 405f.). Es sei eine Naivität, hier mit schulmäßigen Definitionen oder Logistik helfen zu wollen, da diese selbst zum Problem gehören. M.a.W., es geht hier eigentlich um das „Rätsel der Voraussetzung der Vernunft” (XXIX, 31), die der Wissenschaftler in seiner theoretischen Interessenrichtung naiv unterläßt (ebd., 30f.). Dies sind wesentlich „unbehagliche” Fragen, mit denen jede Theorie behaftet ist (ebd.). Diese ‚Unbehaglichkeit’ hängt offenbar untrennbar mit der ‚Fremdheit’ des eigenen urfaktischen, lebendigen ‚Ich schaue’ zusammen, das allerdings auch die Quelle der ‚Freiheit’ des Denkens ist. Jede meine Aussage hat also ihren ‚verbindlichen’ Grund darin, daß sie aufgrund des Evidenzbewußtseins ‚selbstverantwortlich’ in Anspruch genommen wird; aber gerade deshalb entzieht sich das evidenzielle ‚Ich schaue’ dem Horizont des Ausgesagten.145 Jede Aussage ist dem notwendig bleibenden ‚Fremden’ ausgesetzt, das ihr sowohl durch die ‚Freiheit’ von meinem eigenen kritischen ‚Ich schaue’ als auch durch diejenige des Anderen gegenübertreten kann. Wenn Husserl von der transzendentalen ‚Philosophengemeinschaft’ spricht, handelt es sich nicht nur um die Intersubjektivität, die durch die phänomenologische Theorie relative in einem Horizont vermöglicher systematischer Vervollkommnung ist [...]” (Ms. K III 6/ 59; zit. nach Brand 1955, 51); vgl. Ms. K III 6/ 100a; VIII, 406; XXXIV, 431ff. Es sei auch Finks Bemerkung über Husserl herangezogen: „Immer war er bereit, alle Erkenntniserwerbe, alle Theoreme aufzugeben, wenn die Sache sich anders zeigen sollte” (Fink 1976, 225). 144 Vgl. XXIX, 403ff.; Hoyos Vásquez, 1976, 196; Nitta 1978b, 178ff.; Melle 1988, 59. Husserl bemerkt in einem Brief: „Die Struktur der konstitutiven Unendlichkeiten ist selbst eine Unendlichkeit in Bewegung, mit einem Horizont von Entwicklungsmöglichkeiten und Entwicklungswirklichkeiten, der zwar eine allumspannende Vorzeichnung hat, aber nicht eine in endlicher Axiomatik abschließbare ontol Struktur und Theorie” (Dok III/3, 497f.; m. H.). Wenn er dabei von einer „Unendlichkeit der Teleologie” spricht, besagt dies „nicht eine einlinige oder mehrlinige Unendlichkeit, es ist ein unendliches Strahlensystem von Unendlichkeiten” (ebd., 498). 145 Auch Held verbindet die Möglichkeit der freien verantwortlichen Selbstkritik mit der Anonymität des Ur-Ich (Held 1966, 182).
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entsprechend behandelt werden kann, sondern darüber hinaus um das ‚Fremde’ der Theorie, das sich von ihr nie subsumieren läßt, da es zu ihren eigenen ‚selbstverständlichsten’, also unüberholbaren Voraussetzungen gehört. Aus der Perspektive der Modifikationslehre kann man dies dahingehend umschreiben, daß es hier nicht nur um die monadisierten Anderen geht, die mit meiner Monade gleichgestellt sind, sondern auch um das ‚Fremde’ inmitten des Monadisierens selbst, das durch die erfolgte monadisierende Modifikation notwendigerweise verdeckt wird.
5. SCHLUß Aufgrund der vorangegangenen Überlegung kann man schließlich feststellen, daß Husserl niemals die ‚gesunde Selbstverständlichkeit’ aus dem Auge verloren hat, daß ‚ich selbst’ und die Anderen als wirklich Aussagende – mit ihrer urfaktischen Wirklichkeit des Lebens – nicht in, sondern vor und außerhalb der Philosophie stehen: „Das Leben geht immer vorher der auslegenden Methode und diese Methode ist selbst Leben [...]” (XXXIV, 175).146 Das ‚Fremde’ der Theorie meint nicht etwas Extravagantes, sondern das ‚selbstverständlichste’ Leben, Sehen und Aussagen, das aber in unserer ‚nächsten Nähe’ durchlebt wird und sich deswegen paradoxerweise dem theoretisierenden Blick immerfort entzieht. Wenn Husserl dennoch versucht, diese scheinbar ‚triviale’ Selbstverständlichkeit zur Sprache zu bringen, nehmen seine Aussagen einen befremdlichen Anschein an. Diese beunruhigende ‚Befremdlichkeit’ ist dasjenige, das nicht überwunden werden soll, sondern bis ins Unendliche ‚durchgehalten’ werden muß. Husserl befaßt sich mit der systematischen Begründung alles sinnhaft Auszusagenden, indem er das Universum der ‚Sinne’ in seiner durchgängigen Evidenzstruktur untersucht. Dabei schält sich das ‚UrIch’ als der letzte ‚Ankergrund’ bzw. als ‚Medium’ der Evidenzstruktur heraus, in dem sowohl das welterfahrende Leben als auch die phänomenologische Enthüllung selbst verwurzelt ist; es handelt sich dabei um die „Quelle alles erdenklichen Seins, aller erdenklichen Wahrheit — die für mich, den sich Besinnenden, je soll Sinn haben können [...]” (XXXIV, 451). Genau dieses ‚Ur-Ich’ – und seine ‚strömende Gegenwart’ – zeigt sich jedoch als dasjenige, das dem Universum der ‚Sinne’ prinzipiell entgeht.147 Das 146
Vgl. I, 177. Zum urtümlichen Strömen bemerkt Husserl: „Es ist als Vor-Sein unerfahrbar, unsagbar; sowie das Unsagbare bzw. Unerfahrbare aufgewiesen, also doch erfahren und zum Thema einer Aussage wird, ist es eben ontifiziert” (Mat VIII, 269). Das Ego ist nicht mehr „das urtümliche ego”, „wenn es selbst als seiend in Anspruch genommen, bezeichnet, ausgesprochen ist, gar beschrieben” (XV, 584).
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,UrIch’ ist der Urgrund und das innere Fremde dieses Universums zugleich. Das besagt, daß es nicht in dem Universum des Seienden eine überlegene – herrschende – Position einnimmt, sondern vielmehr aus diesem ‚sinn-reichen’ Land für immer vertrieben ist, während es bei allem Erscheinen des Seienden notwendigerweise ‚dabei’ ist. Es ist das ‚Ego’, das „fälschlich” so heißt (XV, 586), denn es gibt keine entsprechende ‚richtige’ Beschreibung des ‚Ur-Ich’, da es sich hierbei um eine wesentlich ungewöhnliche, ‚regelwidrige’ Bezeichnung handelt, die ein Nicht-sinnhaft-Auszusagendes zum sprachlichen Ausdruck bringen soll. Dieser Ausdruck zeigt jedoch gerade durch seine ‚Fremdartigkeit’ etwas an, was man zunächst einmal als Problem ‚sehen’ soll. Das ‚Ur-Ich’ bleibt also für eine Theoretisierung und Systematisierung wesentlich ‚unbehaglich’, verschafft dieser jedoch eine ‚gesunde Offenheit’, indem es das Fremde der Theorie bleibt. Es verneint die Theorie nicht, führt also nicht zu einem Skeptizismus, der die Möglichkeit der Wahrheit und der enthüllenden Feststellung des Sinnes-Universums in Frage stellt. Vielmehr erweist sich an diesem ‚Fremden’, daß alles theoretisch Invariante – wie dasjenige der Logik – nicht als Leblos-Erstarrtes, sondern in einer ursprünglichen Belebung bzw. in einer unendlich-lebendigen Selbsterneuerung ist; das macht seine ‚Evidenz’ aus, die eine unendliche Transformation – Umdeutung und Umformulierung – des Identischen zuläßt. Mit dem Begriff des ‚Ur-Ich’ liefert Husserl einen Ansatz, das dem ‚Sinn’ Entgehende zu denken, ohne das Universum der ‚Sinne’ zu leugnen. Dadurch wird es ermöglicht, daß die Ordnungen der ‚Sinne’ als Evidenzen festgestellt werden, wobei aber diese Feststellungen nicht zu absoluten Theoremen erstarren; sie behalten vielmehr eine Offenheit für freie Kritik und ihre ‚Lebendigkeit’ in der Evidenzbewegung. Dies besagt auch, daß uns jene ‚Unbehaglichkeit’ des Ur-Ich ‚wach’ hält und davon abhält, uns in die faszinierende Erstarrtheit der unlebendigen – insofern scheinbaren – ‚Wahrheit’ zu verlieren. ——— Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Untersuchungen erscheint folgende Passage aus der Formalen und Transzendentalen Logik – mit der ich die Arbeit schließen will – nicht mehr als eine Zumutung: „Zuerst und allem Erdenklichen voran bin Ich. [...] Ob bequem oder unbequem, ob es mir (aus welchen Vorurteilen immer) als ungeheuerlich klingen mag oder nicht, es ist die Urtatsache, der ich standhalten muß, von der ich als Philosoph keinen Augenblick wegsehen darf. Für philosophische Kinder mag das der dunkle Winkel sein, in dem die Gespenster des Solipsismus, oder auch des Psychologismus, des Relativismus spuken.
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Der rechte Philosoph wird, statt vor ihnen davonzulaufen, es vorziehen, den dunklen Winkel zu durchleuchten” (XVII, 244).
Zusammenfassung1
Das Ziel dieser Arbeit ist es, Husserls Gedanken zum ,Ur-Ich’ phänomenologisch nachvollziehbar zu machen, indem sowohl der historische Weg zur Thematisierung des Ur-Ich als auch die systematischen Zusammenhänge der einschlägigen Problemdimensionen aufgezeigt werden. In der Forschung wird der Begriff des Ur-Ich tendenziell kritisch betrachtet; hierbei wird seine ‚Undeklinierbarkeit’ der Individualität und Pluralität des einzelnen Ich gegenübergestellt. Dieser Ansicht liegt die Interpretation zugrunde, daß das UrIch ein ‚über-individuelles’ Ich sei, das erst die Pluralität der einzelnen Ich hervorbringt. Durch eine genaue Untersuchung der Husserlschen Texte erweist sich aber diese Interpretation als unhaltbar. Das Ur-Ich ist keine ÜberInstanz, die außerhalb der einzelnen Ichsubjekte stände. Es ist aber ebensowenig mit einem einzelnen Ich schlechthin zu identifizieren; denn das Ur-Ich geht Husserl zufolge derjenigen Selbstkonstitution voraus, in der das Ich erst als Einzelnes im Gegensatz zu anderen Einzelnen erscheint. Wie kann man dieses ‚Ich’ verstehen, wenn es weder ein bloß Einzelnes noch ein ÜberIndividuelles ist? Um diese Frage zu beantworten, muß man die eigene theoretische Sichtweise sorgfältig prüfen. Diejenigen Mißverständnisse müssen ausgeräumt werden, die für das entsprechende ‚Sehen’ der Problemdimension hinderlich sind. Dies bedeutet zugleich eine Vertiefung des phänomenologischen Sehens, die vor aller Interpretation es ermöglicht, daß die betreffende Sachsphäre ‚sich zeigt’. Die vorliegende Arbeit beleuchtet diese Aufgabe von zwei Aspekten aus: Zunächst wird im ersten Teil gezeigt, daß Husserls Phänomenologie seit den frühen Jahren konsequent den Weg verfolgt, auf die unmittelbare ‚Nähe’ des selbstverständlichen Lebens zurückzugehen, und daß Husserl auf diesem Weg notwendig das Ich als eines der wichtigsten phänomenologischen Themen anerkennt. Die Nachzeichnung dieses historischen Weges, den Husserl mit Mühe auf sich nahm, kann als angemessene Einleitung in die Thematik des Ur-Ich und zugleich als methodische ‚Reinigung’ der phänomenologischen Sichtweise fungieren. Dieses Vorhaben, die Sichtweise zu vertiefen, wird im zweiten Teil fortgesetzt, vor allem im V. Kapitel. Verschiedene irreführende Interpretationen werden kritisch betrachtet und widerlegt. Ohne 1
Eine detaillierte Zusammenfassung findet sich in der „Einleitung” der Arbeit (xivff.). Hier möchte ich hauptsächlich die Absicht und das Ergebnis der Arbeit herausstellen.
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Zusammenfassung
diese methodischen Überlegungen zur phänomenologischen ‚Sichtweise’ wäre es unmöglich, die fragliche Problemdimension entsprechend offenzulegen. Bei diesen Untersuchungen stellt sich allmählich heraus, daß es Husserl bei der Thematisierung des Ur-Ich eigentlich darum geht, die schlichte Bewußtseinsrichtung auf das gegenständlich Vorgestellte in jedem Sinne methodisch außer Kraft zu setzen und auf die ‚selbstverständlichste Nähe’ des erfahrend-schauenden Selbst zurückzugehen, die in ihrer lebendigen Wirklichkeit immer schon anonym durchlebt wird. Um überhaupt das Ich als Einzelnes oder als Über-Individuelles auffassen zu können, muß diese Dimension der ‚Nähe’ des urfaktischen Ich-Lebens schon vorausgesetzt sein. Warum muß aber diese Dimension der ‚Nähe’ als Ur-Ich bezeichnet werden? Wäre es nicht konsequent, das Wort ‚Ich’ nicht mehr zu verwenden, wenn die fragliche Dimension der Selbstkonstitution des Ich vorausgeht? In den letzten drei Kapiteln der Arbeit wird dieser Frage nachgegangen. In Kapitel V. wird die Interpretation zurückgewiesen, der zufolge die UrDimension der Phänomenologie das nicht-ichliche ‚Absolute’ sei. Eine alternative Fragestellung, ob die Ur-Dimension ichlich oder nicht-ichlich sei, ist als solche unzutreffend. Auf diese Frage kann man allenfalls mit ‚wedernoch’ bzw. ‚sowohl-als-auch’ antworten. Die Ur-Dimension ist nicht bloß ichlich, da sie der ausdrücklichen Konstitution des Ich vorausgeht. Andererseits kann sie auch nicht ausschließlich als ‚nicht-ichlich’ betrachtet werden, da sie für mich als den phänomenologisch Schauenden die ‚am nächsten’ durchlebte Dimension ist. Und ohne diese phänomenologische ‚IchPerspektive’ hat man keinen methodischen Zugang zur betreffenden Dimension. Mit der Bezeichnung ‚Ur-Ich’ beabsichtigt Husserl, die äußerste ‚Nähe’ der phänomenologischen Ur-Dimension zu mir selbst im Auge zu behalten und jede metaphysische Verabsolutierung fernzuhalten. Die Ur-Dimension als Ur-Ich zu bezeichnen, ist eine methodische und zugleich sachliche Notwendigkeit; denn die betreffende Dimension würde sich nicht als Phänomen zeigen, wenn sie quasi objektiv behandelt würde. Eine Objektivierung würde nämlich das Phänomen selbst zerstören, das hier befragt wird. Der Terminus ‚Ur-Ich’ hat für Husserl offenbar die Funktion, den methodisch Schauenden stets auf diese ‚Nähe’ der Problemdimension zu ihm selbst aufmerksam zu machen. In diesem Zusammenhang muß noch folgendes hinzugefügt werden: Man kann die Frage ,Was ist Ur-Ich?’ nicht durch eine Definition oder durch eine Angabe seiner Eigenschaften beantworten. Im V. Kapitel wird gezeigt, daß gerade eine solche am Objekt orientierte Auffassung von Frage und Antwort hier nicht zutrifft. Es geht vielmehr darum, die Erfahrung der betreffenden Dimension sichtbar zu machen, die sich sonst nur anonym-selbstverständlich vollzieht. Ohne diese Freilegung der betreffenden Erfahrung wäre jede Rede von Ur-Ich phänomenologisch sinnlos. Das heißt: Das Ur-Ich ist keine hypothetische Über-Instanz, sondern eine Erfahrungsdimension, die phänomeno-
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logisch zu ‚schauen’ ist. Im VI. Kapitel wird die Struktur dieser Erfahrungsdimension näher charakterisiert. Dabei geht es um die ‚intentionale Modifikation’ des Ur-Ich. Dies meint keine Produktion bzw. Deduktion der pluralen Ich aus dem UrIch, sondern ein Ur-Geschehen, in dem sowohl das einzigartige Ur-Ich als auch die Vielheit der Ich notwendige Strukturmomente darstellen. Dies kann als die ursprüngliche Pluralisierung („Monadisierung“) des Ich gekennzeichnet werden, die aber von der fundamentalen Einzigartigkeit der ‚Perspektive’ nicht zu trennen ist. Diese sozusagen ‚urwüchsige’ Differenzierung besagt eine Pluralisierung und zugleich eine perspektivische Zentrierung. Dieses Urgeschehen ermöglicht erst die konstituierte Ordnung eines Nebeneinander der Ichsubjekte. Dieses Geschehnis kann man durch eine ‚sich wiederholend-multiplizierende Kreisbewegung’ veranschaulichen. Im VII. Kapitel wird die ‚Apodiktizität des Ego’ eingehend analysiert. Es stellt sich heraus, daß die apodiktische Evidenz des ‚ich bin, ich lebe’ keine objektiv festzumachende Evidenz ist, sondern sich vielmehr als ein ‚Medium’ bzw. ‚Element’ alles Wissens und seiner Evidenzsuche erweist. Die Gesamtkonstellation der Evidenzen kann folgendermaßen beschrieben werden: Jede Evidenzsuche bewegt sich im Medium der apodiktischen Evidenz; in dieser Evidenzstrebung fungiert die adäquate Evidenz, die den Charakter der Endgültigkeit hat, als ihr ideales Ziel. Alle Stadien der Evidenzsuche, die die endgültige Erfüllung noch nicht erreichen, haben trotzdem den Charakter einer Evidenz – der präsumtiven Evidenz –, sofern sie sich in diesem Prozeß der Evidenzsuche befinden. Keine Evidenz kann aus diesem Prozeß bzw. aus dieser Bewegung herausgerissen werden. Die apodiktische Evidenz des Ego wird als die ‚sicherste’ Evidenz betrachtet; das bedeutet aber, daß sie die ‚einfachste’ und ‚unmittelbarste’ Evidenz darstellt, welche in der vorliegenden Arbeit als ‚Nähe des Selbst’ thematisiert wird. Sie darf nicht als starre Formel behandelt werden. Vielmehr entzieht sie sich allem objektiv Feststellbaren. Die Apodiktizität als die ‚sicherste’ Evidenz erweist sich paradoxerweise als diejenige Evidenz, die wir überhaupt nicht als etwas durchgehend Invariantes vor Augen haben können. Sie bleibt vielmehr dasjenige Moment der Evidenzkonstellation, das jedem festgestellten Inhalt als die absolute Freiheit gegenübertritt, die eine freie Kritik ermöglicht. Es handelt sich um das Moment der ‚Lebendigkeit’ als solcher in der Evidenzbewegung. Dieses apodiktische ‚ich bin, ich lebe’ ist der unmittelbarste Standpunkt, von dem aus ich alles Gegenständliche erfahre. In diesem Sinne hat es die Bedeutung der ‚Nähe des Selbst’. Zu dieser Dimension der ‚Nähe’ gehören aber sowohl die Ur-Hyle als auch der Andere als das radikale Fremde. Im Gegensatz zu allem intentional Nahen und Fernen bleibt die ‚Nähe’ des apodiktischen ‚ich bin, ich lebe’ für mich selbst ‚unbekannt’; wenn sie thematisiert wird, tritt sie selbst als das ‚für mich Fremde’ auf. Die ‚urwüchsige’ Untrennbarkeit des apodiktischen ‚ich bin, ich lebe’ von der Ur-Hyle und
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dem radikalen Anderen ist das, worauf ich in diesem Kapitel hinweisen wollte. Diese Dimension liegt allem Theoretisieren zugrunde; sie ermöglicht es, bleibt ihm aber fremd. Durch sie bleibt die Theorie überhaupt lebendig; diese Lebendigkeit verhindert, daß jene zu einem ‚unerschütterlichen’ System erstarrt, das gegen jede Kritik immun wäre. Husserls Lehre vom ‚Ur-Ich’ – auch wenn diese Bezeichnung irreführend sein mag – kann als ein Zugang zu dieser lebendigen Dimension dienen, der uns zu einem entsprechenden Perspektivenwechsel bzw. zu einer ‚Vertiefung des Sehens’ führt.
Literaturverzeichnis
Zur Zitierweise: Schriften Husserls werden nach der römischen Bandnumerierung der Husserliana und arabischer Seitenzahl zitiert (z. B. VI, 188). Die Passagen aus Husserliana Dokumente und Husserliana Materialienbände werden durch die Abkürzung ,Dok’ und ,Mat’ gekennzeichnet und sonst auf dieselbe Weise zitiert (z. B. Dok II/2, 73). Unveröffentlichte Manuskripte (= Ms.) zitiere ich nach der Signatur des Husserl-Archivs mit Seitenzahl der Originalblätter (z. B. Ms. B II 22/ 4a) bzw. der Transkription (z. B. Ms. B I 5/ Tr. III, 15); die Manuskripte habe ich in Husserl-Archiv in Köln gelesen. Zu den anderen Schriften Husserls siehe die Abkürzungen in folgender Liste (1.5). Sekundärliteratur wird zitiert unter Angabe des Verfassers, des Erscheinungsjahres und der Seitenzahl (z. B. Fink 1966, 52). Einfügungen in eckigen Klammern [...] in den Zitaten stammen von mir. Meine Hervorhebungen werden mit ,m. H.’ kenntlich gemacht.
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III/1:
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III/2:
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Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. 2. Halbband: Ergänzende Texte (1912-1929). Neu hrsg. v. Schuhmann, Karl, 1976. IV:
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hrsg. v. Biemel, Marly, 1952.
V:
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. Hrsg. v. Biemel, Marly, 1952.
VI:
Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. v. Biemel, Walter, 1954.
VII:
Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte. Hrsg. v. Boehm, Rudolf, 1956.
VIII:
Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hrsg. v. Boehm, Rudolf, 1956.
IX:
Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925. Hrsg. v. Biemel, Walter, 1962.
X:
Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917). Hrsg. v. Boehm, Rudolf, 1966.
XI:
Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918-1926). Hrsg. v. Fleischer, Margot, 1966.
XII:
Philosophie der Arithmetik. Mit ergänzenden Texten (1890-1901). Hrsg. v. Eley, Lothar, 1970.
XIII:
Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905-1920. Hrsg. v. Kern, Iso, 1973.
XIV:
Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921-1928. Hrsg. v. Kern, Iso, 1973.
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XVI:
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XVII:
Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der lo-
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gischen Vernunft. Mit ergänzenden Texten. Hrsg. v. Janssen, Paul, 1974. XVIII:
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XIX/1:
Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. I. Teil. Hrsg. v. Panzer, Ursula, 1984.
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Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Erster Teil. Entwürfe zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer 1913). Hrsg. v. Melle, Ullrich, 2002.
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1.2 Unveröffentlichte Manuskripte A I 31 (1924-26), A V 5 (1933), A V 20 (1934/35), A VI 20 (1925/26) B I 5 (1922-33), B I 6 (1930-33), B I 14 (1923-35), B II 1 (1907/08), B II 6 (1930-33), B II 13 (1930-34), B II 22 (1913-26), B III 1 (1929), B III 3 (1931), B III 8 (1930) C 2 (1931/32), C 3 (1930), C 5 (1930), C 7 (1932), C 10 (1931), C 13 (1934), C 14 (1933), C 16 (1931/32), C 17 (1930-32) E III 2 (1921), E III 9 (1931-33) F I 44 (1916-28) K III 6 (1936) M III 3 III 1 II (etwa 1922)
1.3 Husserliana Dokumente. Husserliana Dokumente. Den Haag/ Dordrecht, 1977ff. Dok I:
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Dok III:
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Dok III/2: Die Münchener Phänomenologen. Dok III/3: Die Göttinger Schule. Dok III/4: Die Freiburger Schüler. Dok III/5: Die Neukantianer. Dok III/6: Philosophenbriefe. Dok III/7: Wissenschaftlerkorrespondenz. Dok III/9: Familienbriefe.
1.4 Husserliana Materialienbände Mat III:
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Mat VIII: Späte Texte über Zeitkonstitution (1929-1934). Die C-Manuskripte. Hrsg. v. Lohmar, Dieter, Dordrecht 2006.
1.5 Sonstige Schriften Husserls UKL
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EU
Erfahrung und Urteil. Untersuchung zur Genealogie der Logik. Redigiert u. hrsg. v. Landgrebe, Ludwig, mit Nachwort u. Register v. Eley, Lothar, Hamburg 1972.
LV
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An dieser Stelle möchte ich einen sinnentstellenden Druckfehler meines oben angegebenen Aufsatzes korrigieren: „aufgehoben” statt „abgehoben” in der letzten Zeile von S. 72.
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