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German Pages 484
Harm Klueting
Das Konfessionelle Zeitalter
Harm Klueting
Das Konfessionelle Zeitalter Europa zwischen Mittelalter und Moderne Kirchengeschichte und Allgemeine Geschichte
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2007 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandmotiv: Papst Leo X. mit den Kardinälen Luigi de‘ Rossi und Giulio de‘ Medici. Gemälde, 1517/18 von Raffael (1483–1520). Öl auf Holz. Foto: akg-images / Rabatti – Domingie Karte auf Vor- und Nachsatz: Europakarte von Matthaeus Merian (Theatrum Europaeum, Bd. 1), 1635. Staatsbibliothek Berlin, Z 660 1 Bd. II Redaktion: Christina Kruschwitz, Berlin Gestaltung und Satz: Satzpunkt, Bayreuth Printed in Germany www.primusverlag.de ISBN 978-3-89678-337-0
Inhalt Vorwort
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I. Der Raum und die Zeit Die undeutlichen Grenzen Europas Das politische und das geographische Europa Wandel des Europabegriffs Russland und Europa Die Kleine Eiszeit „Alles ändert sich, auch das Klima“ Der undeutliche Anfang der Neuzeit Mittelalter und Neuzeit Das Konfessionelle Zeitalter
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II. Die zwei Jahrhunderte vor der Reformation Der lange Schatten der Pest und die Bevölkerung Europas Die Pest und die Folgen Bevölkerungszahlen und Bevölkerungsgeschichte Die vorindustrielle Bevölkerungsweise Städtewesen Die materiellen Lebensverhältnisse Das ländliche Europa Gewerbe, Handel und Verkehr Frühkapitalismus – Hanse, Mittelmeer, Atlantik- und Russlandhandel Konjunkturen und Preise Der Fall von Konstantinopel Der 29. Mai 1453 Griechischer Osten und lateinischer Westen Die osmanische Expansion Muslime, Christen und Konvertiten zum Islam Das Ende des Hundertjährigen Krieges Frankreich, Burgund und die Rosenkriege in England Domaine royale und États généraux: Innere Entwicklung Frankreichs Das Haus Österreich Habsburg, Schweizer Bauerngemeinden und Luxemburger Albrecht II., Friedrich III. und Maximilian I., Jagiellonen, Burgund und Spanien
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INHALT
Das Ende der mongolisch-tatarischen Oberherrschaft in Russland Die Rus’ und der Mongolensturm Das Großfürstentum Moskau Novgorod und Pskov Das Großfürstentum Litauen Vom Kulikovo pole zum Ufer der Ugra Der Sieg der Reconquista und die Vereinigung von Kastilien und Aragón Triebkräfte der Katholischen Reform in Spanien al-Andalus und Kastilien-León Aragón und Portugal Das muslimische Granada, das katholische Spanien und der 2. Januar 1492 Entdeckungsreisen und europäische Expansion Warum die Portugiesen? Warum nicht die Chinesen? Die portugiesischen Entdeckungsfahrten seit 1419 1492: Der folgenreiche Irrtum und die Neue Welt Das portugiesische Seaborne Empire, deutsche Gelehrte und Kaufleute Tordesillas − Zaragoza Renaissance und Humanismus Das Renaissancebild Jacob Burckhardts Protorenaissancen und Renaissancebegriff studia humanitatis und Humanismus Das Studium des Griechischen Vollendung des Menschen durch Bildung Die Kunst der Renaissance Renaissance-Philosophie Humanistische Historiographie und historische Kritik Die urbane Kultur und Gesellschaft Italiens Humanismus und Renaissance außerhalb Italiens Renaissance und Religion Kirche und Staat, national- und territorialkirchliche Bestrebungen Ecclesia Gallicana Vorreformatorisches landesherrliches Kirchenregiment Päpste, Schisma und Reformkonzilien Das 14. und 15. Jahrhundert als Vorraum von Reformation und Konfessionellem Zeitalter Die Babylonische Gefangenschaft der Päpste in Avignon Das Große abendländische Schisma Die Konzilien von Konstanz und Basel Reich, Reichsreform und frühmoderner Staat Das Heilige Römische Reich deutscher Nation Landeshoheit, Territorien, frühmoderner Staat
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INHALT
Religiöse Bewegungen, Frömmigkeit und Observanz Unio mystica und cognitio experimentalis de Deo Religiöse Bewegungen Frömmigkeit und Frömmigkeitsformen Bettelorden und Observanzbewegung III. Der Kulminationspunkt von zwei Jahrhunderten voller Reformstreben Katholische Reform Katholische Reform − Gegenreformation − katholische Konfessionalisierung Italien: Kardinäle, Bischöfe, Spirituali Spanien: Katholische Reform im Dienst der Einheit des Königreichs Martin Luther und die Wittenberger Reformation Radikaler Umbruch oder Wandel in langfristigen Kontinuitäten? Voraussetzungen und Ursachen der Reformation Früh- oder Spätdatierung des reformatorischen Durchbruchs Die Stufen des Bruchs Martin Luthers mit der römischen Kirche Das Kernstück von Luthers reformatorischer Theologie Ulrich Zwingli und die Zürcher Reformation Reformatoren neben Luther Die Bedeutung der Verfassungsstrukturen der Schweiz für die Reformation Die Eigenständigkeit der Zürcher Reformation Der Gang der Reformation in Zürich Rückschläge und Ausbreitung der Zürcher Reformation Humanistische Präreformation in Frankreich Frankreich am Anfang des 16. Jahrhunderts Faber Stapulensis, Guillaume Briçonnet und die école de Meaux Der Reformer zwischen allen Stühlen: Erasmus von Rotterdam Widersprüchliche Einschätzungen Leben und Werk des Desiderius Erasmus IV. Konfessionelles Zeitalter Mächte und Staatensystem in der Zeit Karls V. Universalreich und europäisches Staatensystem Der Hegemonialkampf um Italien Die östliche Hälfte des Kontinents Das reformatorische Europa Die Fürsten, das Reich und die lutherische Konfessionsbildung Der Augsburger Religionsfrieden und das landesherrliche Kirchenregiment
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INHALT
Das Täufertum Spätzwinglianismus, Jean Calvin und der Calvinismus Der Calvinismus und die Bürgerkriege in Frankreich Die Niederlande, der niederländische Aufstand und der Calvinismus Reformiertentum in Deutschland Anglikanismus, Presbyterianismus, Puritanismus Die skandinavischen und baltischen Länder Reformation und Toleranzversuche in Ostmitteleuropa Das katholische Europa und die Welt Das Konzil von Trient Kontemplation und Apostolat: Alte und Neue Orden Italien Spanien und Portugal Frankreich: Le Catholicisme classique Das katholische Polen und das unierte Litauen Deutschland nach dem Augsburger Religionsfrieden Katholische Barockfrömmigkeit Mission und Akkommodation Das orthodoxe Europa Orthodoxe Kirchen und Patriarchate des Ostens Die autokephale russisch-orthodoxe Kirche Das Moskauer Patriarchat Die Raskol’niki Staatensystem und europäische Politik 1559–1648/59 Das Ende des habsburgischen Universalreiches Die drei Konfliktzonen der europäischen Politik Der Dreißigjährige Krieg Der Westfälische Frieden
209 214 222 230 238 241 249 255 262 262 272 283 289 297 302 305 316 322 332 332 333 334 336 339 339 339 344 346
V. Vom Konfessionellen Zeitalter zum Zeitalter der Aufklärung Der Westfälische Frieden als Konfessionsfrieden Normaljahr statt ius reformandi Politisierung und Säkularisierung Politik unter konfessionellem Vorzeichen Deutschland, Frankreich, Savoyen und Österreich Konfession und Politik in England und Irland Konfessionelle Elemente in der Staatenpolitik Das magische Weltbild Magiefeindlichkeit, chiliastisches Denken und Magieanfälligkeit Magie der Gebildeten und Magie des einfachen Volkes Hexenverfolgungen
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INHALT
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Die Anfänge des Atheismus Die Bestreitung der Existenz Gottes Philosophischer Atheismus in der littérature clandestine des 17. Jahrhunderts Scientific Revolution und Physikotheologie Naturwissenschaft seit der Legitimierung der curiositas Theologie unter der Herausforderung der neuen Naturwissenschaft Irenik und Antikonfessionalismus Konfessionelle Reunionsversuche Fürstenkonversionen Innerprotestantische Unionsbestrebungen Aufklärung Wurzeln, Ursachen und Grundzüge der Aufklärung Geistiger Zusammenhang zwischen Aufklärung und Christentum
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Anhang Zeittafel Abkürzungen Anmerkungen Literaturverzeichnis Personenregister
381 383 435 438 451 459
Vorwort
Siebzehn Jahre habe ich an diesem Buch gearbeitet − in Deutschland, in der Schweiz, in den Vereinigten Staaten, in Paris und in Rom. Immer wieder wurden Teile des großen Themas − in Köln, in Leicester und in Zürich − in Vorlesungen oder Seminaren behandelt; ein Kapitel geht auf eine Vorlesung zurück, die in Sibiu (Rumänien) gehalten wurde, wohin ich 2002 einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte an dem dortigen Institutul Teologic Protestant annahm. Das begann 1990, nachdem 1989 mein inzwischen vergriffenes Taschenbuch „Das Konfessionelle Zeitalter 1525−1648“ erschienen war. Dessen Gegenstand sollte auf ganz Europa − von Spanien und Portugal bis nach Russland, von den Britischen Inseln bis nach Siebenbürgen und von Italien bis nach Skandinavien − ausgeweitet werden. Nicht nur das Konfessionelle Zeitalter, das „bereits in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts einsetzt und seine letzten Ausläufer im frühen 18. Jahrhundert hat“ (Wolfgang Reinhard) sollte − wie 1989 − dargestellt werden, sondern auch die Reformation als „Kulminationspunkt von zwei Jahrhunderten voller Reformstreben“ (W. Reinhard) und darüber hinaus die zwei Jahrhunderte vor der Reformation. Das Buch sollte Kirchengeschichte und Allgemeine Geschichte integrieren und dabei Kirchengeschichte als allgemeine Christentumsgeschichte begreifen. So sollte das Buch der Kompetenz seines Verfassers als Allgemeinhistoriker und zugleich als katholischer − früher evangelischer − Theologe und Kirchenhistoriker entsprechen, der überdies als promovierter Slavist mit slavischen Sprachen − besonders mit dem Russischen und dem Altkirchenslavischen − vertraut und durch Studium in Schottland (Edinburgh) und Frankreich (Paris) und Gastprofessuren in England (Leicester) und den USA (Emory Univ. Atlanta) mit der anglophonen und der frankophonen Welt sowie durch lange und bis heute regelmäßig fortgesetzte Studien- und Arbeitsaufenthalte in Paris und in Italien mit der Romania verbunden ist. Ich wollte dem Buch einen anderen Titel geben und dachte an Europa zwischen Renaissance und Frühaufklärung. Religion und Kirche, Politik und materielle Kultur vom 15. bis 17. Jahrhundert. Nach dem Vorbild von Arnold Angenendts Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 1997 in demselben Verlag erschienen, hatte ich das Manuskript für ein Buch von mehr als 900 Seiten verfasst. Doch musste das Manuskript zur Veröffentlichung radikalen Kürzungen unterzogen werden. Das betraf viele Einzelheiten zur Politik-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, aber
VORWORT
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auch zur Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des spätmittelalterlich-katholischen, des tridentinisch-katholischen, des protestantischen und vor allem des russisch-orthodoxen Christentums. Es betraf auch die rund 3.500 Anmerkungen, für die ich im Laufe der Jahre etwa 22.000 Literaturtitel u. a. in deutscher, englischer, französischer, italienischer und russischer Sprache verarbeitet hatte. Doch ist das kein wirklicher Verlust, weil einige Wochen nach diesem Buch − als Band 17 der von mir herausgegebenen Reihe Historia profana et ecclesiastica im LIT Verlag Münster − der zugehörige Anmerkungsband erscheinen wird. Der Leser findet in dem vorliegenden Buch neben einer Auswahl-Literaturliste als Anmerkungen im Wesentlichen nur Nachweise wörtlicher Zitate und Zahlen sowie Druckortangaben für zeitgenössische Quellentexte. Wer mehr sucht, der sei auf diesen Anmerkungsband verwiesen, der auch die Auseinandersetzung mit der internationalen Forschungsliteratur bietet. Das Buch erscheint kurz vor meinem Eintritt in das Professorenkollegium einer katholischen theologischen Fakultät außerhalb Deutschlands, an der ich − unbeschadet meiner weiteren Kölner Lehrtätigkeit als Allgemeinhistoriker − Kirchengeschichte lehren werde. Möge das Buch seinen Lesern beides erschließen: Geschichte der Kirche und Allgemeine Geschichte zwischen Renaissance und Frühaufklärung. Ich danke allen, die mich in diesen siebzehn Jahren durch Ratschläge, Hinweise und Gespräche unterstützt haben − Professorenkollegen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Belgien, Großbritannien, den USA und Italien, Historikern, katholischen und evangelischen Theologen, Philosophen und Kunsthistorikern, Bibliothekaren, Archivaren und Buchhändlern in Deutschland und in Paris, aber auch meinen Studenten und Doktoranden. Der Verlagslektorin Frau Regine Gamm danke ich für die Lektoratsarbeit. Vor allem gilt der Dank meiner Frau Dr. Edeltraud Klueting, die als lehrende, forschende und publizierende Mediävistin und Kirchenhistorikerin über die Jahre hin Mitdenkende war und ist. Ihr soll das Buch gewidmet sein. Köln, im September 2007
Prof. Dr. theol. Dr. phil. Harm Klueting
I. Der Raum und die Zeit
Die undeutlichen Grenzen Europas Das politische und das geographische Europa Europa, im 19. und 20. Jahrhundert Schauplatz großer nationaler Kriege, die zweimal zu Weltkriegen wurden, ist heute ein Kontinent wirtschaftlicher und politischer Einigung. 1951 entstand die als Montanunion bezeichnete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), deren sechs Mitgliedsstaaten − Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande − mit den Römischen Verträgen von 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) begründeten. Damit begann der Name Europa, bis dahin ein Begriff der Geographie, zur Chiffre eines politischen Raumes zu werden, den sich manche schon vorher als „Vereinigte Staaten von Europa“ nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika vorstellen konnten, so der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill 1946 in seiner Rede in Zürich. Sein eigenes Land, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, wollte Churchill jedoch nicht in ein solches vereinigtes Europa einbringen. Das EWG-Europa entsprach mit seinen sechs Gründungsstaaten − und mit der Ostgrenze der damaligen Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR − annähernd dem Reich Karls des Großen, was nur durch das Abseitsstehen der Schweiz und Österreichs sowie durch die Zugehörigkeit Siziliens, Sardiniens und Kalabriens eingeschränkt wurde, die im 8. oder 9. Jahrhundert byzantinisch oder arabisch-muslimisch oder von örtlichen Machthabern beherrscht waren. So ließen sich mit diesem Sechs-Staaten-Europa karolingische Erinnerungen verbinden, die auch hinter der 1950 erfolgten Stiftung des bis heute in Aachen verliehenen Karlspreises für Verdienste um die Einigung Europas standen. 1973 wurde der Raum des karolingischen Europa mit dem Beitritt Dänemarks, Großbritanniens und Irlands gesprengt, bevor 1981 Griechenland und 1986 Portugal und Spanien aufgenommen und als Folge der deutschen Wiedervereinigung 1990 auch die deutschen Bundesländer im Bereich der ehemaligen DDR integriert wurden. Mit dem Maastrichter Vertrag genannten Vertrag über die Europäische Union von 1992 wurden die EWG, die EGKS und die ebenfalls auf das Jahr 1957 zurückgehende Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) zusammengeführt, und für diese wurde der Name Europäische Gemeinschaft (EG) eingeführt. Doch setzte sich die Bezeichnung Europäische Union (EU) durch. 1995 traten Schweden, Finnland und Österreich der EU bei, bis 2004 Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Čechien und Zypern und 2007 Bulgarien und Rumänien folgten.
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DER RAUM
UND DIE
ZEIT
2007 reicht das politische Europa im Norden weit über den Polarkreis hinaus. Im Westen wird es vom Atlantischen Ozean begrenzt. Im Süden kommt es der Küste Tunesiens nahe und umfasst im östlichen Mittelmeer die Insel Zypern. Im Osten erstreckt es sich bis an den Bug, der auf weite Strecken die Grenze Polens gegen die Ukraine und Belorussland bildet. Hinzu kommen die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla an der Mittelmeerküste Marokkos und die portugiesische Insel Madeira, die spanische Inselgruppe der Kanaren vor der Westküste Afrikas und die portugiesische Inselgruppe der Azoren im Atlantischen Ozean. Mit Kroatien und der Türkei werden Beitrittsverhandlungen geführt. Mit Mazedonien sind sie beabsichtigt. Manche denken auch an einen Beitritt der Ukraine. Theoretische Überlegungen beziehen Israel und die Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien ein − Perspektiven, die manchen Kommentator nach der Finalität des europäischen Einigungsprozesses und nach den Grenzen Europas fragen lassen. Wo liegen die Grenzen Europas? Die Geographen geben auf diese Frage eine simple Antwort: Europa sei eine halbinselartige Fortsetzung Asiens, aber doch von eigenem Charakter und deshalb ein Erdteil für sich, dessen Grenzen sich im Norden, Westen und Süden mit Nordmeer, Atlantik und Mittelmeer von selbst ergäben, wobei im Süden der Iberischen Halbinsel die 17 Kilometer breite Meerenge der Straße von Gibraltar Europa von Afrika trenne. Im Osten bilde das Uralgebirge zwischen Russland und Sibirien die Grenze Europas gegen Asien, weiter südlich der in das Kaspische Meer mündende Uralfluss, im Südosten die Manytsch-Niederung als Verbindung zwischen dem Kaspischen und dem Azovschen Meer, außerdem das Schwarze Meer und die schmale, streckenweise nur 700 Meter breite Meerenge des Bosporus. Demnach gehört Russland westlich des Ural zu Europa, während die kaukasischen Länder und die Türkei bis auf das Umland der amtlich seit 1930 Istanbul genannten alten Hauptstadt Konstantinopel Asien zugerechnet werden. Der eigene Charakter Europas besteht in historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kriterien. Historische, kulturelle und wirtschaftliche Verhältnisse sind aber einem weit schnelleren Wandel unterworfen als geographische Gegebenheiten. Deshalb ist zu erwarten, dass man unter Europa nicht immer dasselbe verstand. Wandel des Europabegriffs Tatsächlich gibt es mehrere Europabegriffe. „Das, was im Laufe der Jahrtausende mit dem Namen Europa belegt worden ist, ist nie dasselbe geblieben.“1 In der Antike, der wir den Namen Europa verdanken, war º EÙrèph einerseits die sagenhafte Tochter des phoinikischen Königs Agenor, die vom Gott Zeus in Gestalt eines Stiers über das Meer nach Kreta entführt wurde, wo er sich mit ihr vermählte. Andererseits war º EÙrèph eine geographische Bezeichnung. Hero-
DIE
UNDEUTLICHEN
GRENZEN EUROPAS
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dot gebrauchte im 5. Jahrhundert v. Chr. º EÙrèph mit zweifachem Sinn: als Name einer Landschaft im mittleren Hellas2 und als Name eines der drei ihm bekannten Erdteile Libyen (Afrika), Asien und Europa. Von Europa in diesem Sinne hatte Herodot jedoch nur vage Kenntnisse.3 Immerhin wusste er um die Säulen des Herakles4 − die Straße von Gibraltar − und begrenzte Asien gegen Europa mit dem südlich des Kaukasus ins Schwarze Meer mündenden Fluss Phasis (Rion) oder mit dem ins Azovsche Meer gehenden Tanais, dem Don.5 Herodot hatte also eine Vorstellung von einem Europa, das von Gibraltar bis zum Schwarzen Meer reichte, dessen Norden aber gänzlich im Dunklen lag. Im Rom der Kaiserzeit tauchte der Name Europa wieder als Bezeichnung eines relativ kleinen Gebietes im nördlichen Griechenland auf: Thrakiens, des Hinterlandes des seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. Konstantinopel genannten Byzanz (Byzantion). In der Karolingerzeit verlagerte sich der Europabegriff, indem nach dem Sieg Karl Martells über die Araber bei Tours und Poitiers 732 die fränkischen Krieger − nach unsicherer Zuschreibung von einem Anonymus von Córdoba − européens genannt wurden.6 Doch blieb das vereinzelt. Im Hochmittelalter trat der Begriff Europa in den Hintergrund und wurde durch Christianitas, Christianus orbis o. Ä. ersetzt, ohne ganz vergessen zu werden. Im späten 12. Jahrhundert schrieb Gottfried von Viterbo über das Herkunftsgebiet der Goten „in finibus Asie et Europe inter Meotidas paludes inaccessibiles“ (an den Grenzen Asiens und Europas bei den unzugänglichen Mäotischen Seen), also dem Azovschen Meer, das somit für ihn die Grenze Europas gegen Asien bildete. Im 15. Jahrhundert zählte der Verfasser des Chronicon Holtzatiae, der anonyme Presbyter (Priester) der Bremer Diözese, nicht nur Konstantinopel-Byzanz zu Europa, sondern auch Russland (Scitia). Über die Zugehörigkeit von Konstantinopel-Byzanz zu Europa ließ auch Dante Alighieri keinen Zweifel aufkommen, der in der um 1311 begonnenen Divina Commedia mit Nikosia und Famagusta auch zwei Städte Zyperns Europa zurechnete.7 Entscheidende Bedeutung für den Europabegriff der Neuzeit gewann Enea Silvio Piccolomini mit seiner Cosmographia. Darin stellte er die Balkanhalbinsel und Byzanz als Teil Europas dar, sparte aber Russland aus, obwohl es ein christliches Land und sein Kriterium für die Ostgrenze Europas die Ausbreitung des Christentums war. Die muslimischen Türken, die 1354 die Meerengen zwischen Anatolien und der Balkanhalbinsel überschritten hatten, betrachtete er als Eindringlinge und äußerte in seiner Rede De constantinopolitana clade et bello contra Turchos congregando auf dem Reichstag zu Frankfurt am Main 1454: „Retroactis namque temporibus in Asia et Aphrica, hoc est, in alienis terris vulnerati fuimus, nunc vero in Europa, id est in patria, in domo propria, in sede nostra percussi caesique sumus.“8 (Denn in früheren Zeiten sind wir nur in Asien und Afrika, also in fremden Ländern, geschlagen worden, jetzt aber wurden wir in Europa, also in unserem Vaterland, in unserem eigenen Haus, an unserem eigenen Wohnsitz, aufs Schwerste getroffen.) Diese Klage des späteren Papstes Pius II. bezog
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DER RAUM
UND DIE
ZEIT
sich auf den Fall von Konstantinopel 1453. Wolfgang Schmale spricht von der „katalytischen Wirkung der Rezeption der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453“9 auf den Europabegriff. Russland und Europa Bei der Frage der Zugehörigkeit Russlands zu Europa stand Piccolomini mit seiner ablehnenden Haltung nicht allein, so dass Gottfried von Viterbo und der anonyme Priester von Bremen eher als Einzelstimmen gelten können. Im Falle Russlands ist „die Frage der Zugehörigkeit zu Europa eine Frage des Wollens“10. Was die Russen betrifft, so wollte das auf seine Weise der Mönch Filofej von Pskov, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Lehre von Moskau als Drittem Rom nach dem Untergang des christlichen Konstantinopel, des Zweiten Rom, propagierte; noch mehr wollte das um 1700 Peter der Große, auf den die Annahme des Ural als der östlichen Begrenzung Europas zurückgeht. Und im Westen? Leopold von Ranke leugnete in seinem ersten Buch, den Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 von 1824, die Zugehörigkeit zumindest eines Teils des Russischen Reiches seiner Zeit zu Europa ebenso wenig wie die Zugehörigkeit eines Teils des Osmanischen Reiches, das 1824 − in der Zeit des erst 1829 entschiedenen Unabhängigkeitskampfes der Griechen − noch fast die ganze Balkanhalbinsel bis an die Grenzen des Kaisertums Österreich umfasste oder beherrschte. Gerade deshalb vermied er den Namen Europa und sprach stattdessen von den romanischen und germanischen Völkern, bei denen er den Kern aller neuern Geschichte sah. Was das slavische Osteuropa betrifft, so schrieb Ranke 1824: „In der That gehn uns Neuyork und Lima näher an als Kiew und Smolensk.“11 Anders als Ranke will der Verfasser dieses Buches das ganze Europa in den Blick nehmen.
Die Kleine Eiszeit „Alles ändert sich, auch das Klima.“12 Was Fernand Braudel mit diesem Satz vor mehreren Jahrzehnten zum Ausdruck brachte, ist heute − in einer Zeit, in der durch anthropogene Faktoren verursachte Klimaveränderungen ins allgemeine Bewusstsein drängen − sichere Erkenntnis der klimageschichtlichen Forschung. Die Beschreibung der klimatischen Gegebenheiten in manchen geographischen Handbüchern suggeriert eine Statik, die tatsächlich nicht gegeben ist. Zwar ist es richtig, dass Europa in historischer Zeit ganz überwiegend der gemäßigten Klimazone angehörte und heute noch angehört. Der Rückzug des Eises der letzten Eiszeit, der in Süddeutschland nach der Würm, dem Abfluss des Starnberger Sees, Würm-Eiszeit genannten Kaltzeit, liegt 10.000 bis 15.000 Jahre zurück. Die Januartemperatur bewegte sich in der Würm-Eiszeit in Mitteleuropa auf damaliger Meereshöhe bei –14° bis –22° Celsius und die Julitemperatur bei +5° bis +10° Celsius, beides bei sehr viel geringeren Niederschlägen als in der Gegenwart. Demgegenüber hat Europa heute, wenn auch von Westen nach Osten abnehmend, ein mildes und, gemessen an seiner Breitenlage, sogar ungewöhnlich mildes Klima, das vom Golfstrom des Atlantischen Ozeans und von den vorherrschenden Westwinden bedingt wird. Nur der hohe Norden mit seinem Polarklima und das Gebiet an der unteren Wolga mit seinem Steppenklima gehören nicht der gemäßigten Klimazone an. Aber auch unter diesen klimatischen Bedingungen gab es und gibt es nicht nur Naturkatastrophen wie Sturmfluten an den Küsten, Überschwemmungen nach Schneeschmelze und Starkregen in Alpentälern und Flussniederungen, schwere Winterstürme und in den Bergen Lawinenabgänge, sondern auch Anomalien wie frühlingshafte Winter oder Hitzesommer. Es gibt auch länger andauernde Veränderungen, wobei das gehäufte Auftreten von Anomalien, eine Folge strenger Winter und kühler Sommer und ein Rückgang der mittleren Jahrestemperatur um 0,5° Celsius in vormodernen Agrargesellschaften zu Ernteausfällen führen konnten. Ein exorbitantes Ansteigen der Brotgetreidepreise und allgemeine Teuerung, Hunger und Mangelernährung breiterer Schichten sowie Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit gegen Erreger epidemischer Krankheiten und somit die Verbreitung von Pest, Typhus, Pocken oder Ruhr waren die Folgen. Doch mochten auch feuchte und milde Winter ähnliche Folgewirkungen haben, etwa durch Begünstigung der Vermehrung der Rattenflöhe, die die Pest übertrugen, während deren Vermehrung durch strenge Winterkälte reduziert wurde.
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DER RAUM
UND DIE
ZEIT
Man sieht hier einen „Zyklus von Subsistenz- und Mortalitätskrisen“13, der in Mitteleuropa bereits im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts eingesetzt habe und mit einer generellen Verschlechterung des Klimas zusammenhänge. Die klimageschichtliche Forschung spricht von The Little Ice Age14 − oder der Kleinen Eiszeit −, die, regional unterschiedlich, auf die Zeit von etwa 1300 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts datiert. Christian Pfister misst ihre Klimadaten, die aus der Zeit vor den erst seit dem 19. Jahrhundert verfügbaren instrumentellen Messdaten nur als Proxydaten aus natürlichen und schriftlichen Quellen (z. B. Chroniken) zu gewinnen sind, an den Klimadaten der Referenzperiode 1901 bis 1960. Auf die Warmperiode des Hochmittelalters von etwa 900 bis um 1300 sei eine im Durchschnitt deutlich kühlere Periode gefolgt, die erst im 20. Jahrhundert von einer neuen Warmperiode abgelöst worden sei. Zwar dürfe die Kleine Eiszeit nicht als ununterbrochene Periode strenger Winter und kühler Sommer gesehen werden. Es gab auch milde Winter und warme Sommer. Aber die Gletscher der Alpen waren ausgedehnter als heute. Zumindest zeitweise kamen einzelne sehr kalte Sommer oder auch mehrere nacheinander vor. Viele Winter waren kälter und trockener als zwischen 1901 und 1960. Als ursächliche Faktoren für den Temperaturrückgang gelten Schwankungen der Sonnenaktivität, Meeresströmungen, Vulkaneruptionen irgendwo auf der Erde mit der durch sie hervorgerufenen Beeinträchtigung der Sonneneinstrahlung durch vulkanische Aerosole in der Atmosphäre und dadurch bedingter Abkühlung der Troposphäre, des Weiteren Oszillationen wie die durch Druckgegensätze zwischen Islandtief und Azorenhoch entstehende Nordatlantische Oszillation oder das El Niño-Southern Oscillation Phenomenon. Sicher ist man sich hinsichtlich der Ursachen aber nicht. Das 16. Jahrhundert zeigt in seinem ersten Drittel eher zu warme als zu kalte Winter, doch wurden die Sommer gegen Ende dieses Zeitabschnitts kühler. Das zweite Drittel des 16. Jahrhunderts wird auch als kleine Warmzeit bezeichnet, weil warme Frühlingswochen, trocken-warme Sommermonate und milde September nicht nur zum Rückgang der Gletscher führten, sondern auch zur Ausdehnung des Weinanbaus und zur Aufstockung der Viehbestände und somit das Wachstum der Bevölkerung günstig beeinflussten, auch wenn es zwischendurch, etwa 1542, sehr kalte Jahre gab. Im dritten Drittel des 16. Jahrhunderts sanken die Temperaturen im Frühjahr, Sommer und Winter jeweils um mehr als 1° Celsius. Zugleich konzentrierten sich die Niederschläge zumindest in Mitteleuropa auf die für Getreidewachstum und -ernte entscheidenden Sommerwochen. Ihren Höhepunkt erreichte die Klimaverschlechterung dieser Jahrzehnte, in denen seit 1580 auch die Alpengletscher rasch vordrangen, in den Jahren von 1585 bis 1597. Von einer kurzen Warmphase zu Beginn des 17. Jahrhunderts abgesehen, hielt die Klimaverschlechterung nach 1600 an, so dass der gesamte Zeitraum von 1560 bis 1630 als im Wesentlichen ununterbrochener Abschnitt der Kleinen Eiszeit mit verspätetem Frühjahrseintritt, häufiger Sommerkälte und unfreundlichen Wetterlagen im Herbst gelten kann. Die Zeit nach 1631 zeigt vorherrschend trockene
DIE KLEINE EISZEIT
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Jahre und den häufigen Wechsel von warmen und kalten Anomalien, bis 1675 Jahre ohne Sommer und bis 1677 strenge Winter, insgesamt aber eher günstige Bedingungen für Bevölkerungsentwicklung und Landwirtschaft. Von 1684 an sank dann die Jahrestemperatur um etwa 0,8° Celsius, wodurch sich die schneeund wahrscheinlich auch die frostfreien Zeiten der Jahre deutlich verkürzten, während die Sommer regnerisch, aber nicht so kalt wie zwischen 1560 und 1630 waren. Der Sommer 1529 gehörte zu den Sommern, in denen es gegenüber den vorangegangenen Jahren deutlich kühler wurde. Die Folge war eine mehrjährige Teuerung und Hungersnot. Hingegen war es im Sommer 1540 in Mitteleuropa so heiß, dass die Flüsse versiegten und viele Wälder brannten, bevor die Kälteperiode zwischen 1560 und 1630 zu zahlreichen Missernten und Teuerungen führte. In dieser Zeit, in der klimatische Anomalien wie schwere Stürme und Hagelschläge Endzeitstimmungen weckten, lag die Krise von 1570, eine durch die Kleine Eiszeit hervorgerufene soziale und ökonomische Krise, in der nach zeitgenössischen Berichten in Mitteleuropa im Winter 1570/71 Menschen auf den Straßen verhungerten und erfroren und hungernde Wölfe aus den Wäldern kamen und Reisende anfielen. Die Getreideausfuhr wurde von den Obrigkeiten überall unterbunden und 1572 führten Hunger und Mangelernährung zur Ausbreitung von Seuchen und zu hoher Sterblichkeit. Der eiskalte Winter 1572/73, in dem die großen Alpenseen, der Rhein, die Themse und die Rhône zufroren und die Ostsee von Dänemark bis Livland von Eis bedeckt war, brachte im Sommer 1573 wiederum einen neuen Höhepunkt der Teuerung. Katholische wie protestantische Theologen deuteten die Hungerkrise von 1570 und ähnliche Krisenerscheinungen der folgenden Jahre als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen, was sich in zahlreichen obrigkeitlichen Anordnungen für ein christliches Leben niederschlug: „Die Sozialdisziplinierung, die 1569 mit den Religionsmandaten massiv eingesetzt hatte, gelangte nun unter den Auspizien der Hungerkrise auf ihren Höhepunkt.“15 Aber auch die Hexenverfolgungen nahmen im Zeichen der Hungerkrise von 1570 deutlich zu, so dass Wolfgang Behringer einen Zusammenhang zwischen der Verschärfung der Hexenverfolgungen und der Hungerkrise von 1570 annimmt.16
Der undeutliche Anfang der Neuzeit Mittelalter und Neuzeit Hans Blumenberg hat in seinem Werk Die Legitimität der Neuzeit die „Legitimierung der theoretischen Neugierde“ als den „geschichtlichen Grundzug der beginnenden Neuzeit“ bezeichnet.17 Gemeint ist die Emanzipation der Naturwissenschaft von der Theologie. Blumenberg nimmt als Kennzeichen für den Anfang der Neuzeit die Wissenschaftsgeschichte. Genau genommen müsste man dann 1613 als Anfang der Neuzeit apostrophieren. Die Trennung der naturwissenschaftlichen Neugierde von der Theologie erfolgte erst 1613 mit Galileis Brief an den Benediktiner Benedetto Castelli. Alles Übrige, was Immanuel Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft von 1787 als Kopernikanische Wende18 betrachtet, wäre damit − ließe man sich ganz auf Blumenberg ein − bloße Vorgeschichte des Anfangs der Neuzeit, vielleicht noch Mittelalter. Die traditionelle Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit liegt für die deutsche Geschichtswissenschaft um 1500, wenn nicht gar im Jahr 1517, in dem Luther seine Ablassthesen publizierte, worin der Beginn der Reformation gesehen wird. Diese Epocheneinteilung geht auf Ranke und seine Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation von 1839 bis 1847 zurück und steht in Verbindung mit seiner Sicht, wonach die Geschichte der germanischen oder germanisch-romanischen Völker der „Kern aller neueren Geschichte“19 ist. Gewissermaßen wird mit der Betonung dieser Epochengrenze die Geschichte des protestantischen Deutschland zum Kern des Kerns der neueren Geschichte. Ranke nennt Luthers Thesen „das große Weltereignis“, das „Deutschland aufweckte“.20 Für andere Länder passt eine solche Epochengrenze nicht. Schon für Frankreich ist es schwierig, das spätere 15. Jahrhundert noch als Mittelalter zu bezeichnen. Wichtige Einschnitte der französischen Geschichte jener Zeit waren das Ende des Hundertjährigen Krieges mit England 1453 und das 1477 besiegelte Ende der Machtstellung Burgunds, das Eingreifen Karls VIII. von Frankreich in die Machtkämpfe um Italien 1494, der Einfluss der Renaissance auf Frankreich und die Neuorganisation der Macht unter Ludwig XI. zwischen 1461 und 1483. So beginnen viele Darstellungen der Geschichte Frankreichs am Anfang der Neuzeit 1450 oder 1453, wie man auch von La France de la Renaissance sprechen kann. Noch weniger möglich ist es, in dem Land Dantes und Petrarcas für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts noch vom Mittelalter zu sprechen. In Italien, wo die Antike nie gänzlich untergegangen und in ihren Relikten noch sichtbar und erinnerbar war, waren das 14. und 15. Jahrhundert, Tre-
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cento und Quattrocento, eher Frührenaissance als spätes Mittelalter. Auch wirtschaftlich zeigen die Handelsmetropolen Venedig und Genua und Florenz als Zentrum des Geldverkehrs schon im 13. und 14. Jahrhundert eher neuzeitliche Züge. Dazu gehörte die doppelte Buchführung, die für das Wirtschaftsleben unter den Bedingungen der Geldwirtschaft von ähnlicher Bedeutung war wie das von Galilei begründete Prinzip des Experiments in den Naturwissenschaften. In Italien war die doppelte, Soll und Haben gegenüberstellende Buchführung längst verbreitet, als Luca Pacioli 1494 sein Lehrbuch der Buchhaltung veröffentlichte und bevor die doppelte Buchführung über die oberdeutschen Handelshäuser in Deutschland aufkam. Politisch bildete in Italien der Zusammenbruch der Stauferherrschaft einen tiefen Einschnitt, der in den folgenden zwei Jahrhunderten rivalisierende Stadtstaaten und im Süden seit 1282 das Königreich Sizilien des Hauses Aragón entstehen ließ, das 1442 auch Neapel gewann. Nachdem die Päpste nach dem Ende des Schismas 1415 nach Rom zurückgekehrt waren, nachdem Florenz seine Macht ausgedehnt, Mailand seine Herrschaft ausgeweitet und Venedig sich die Terra Ferma gesichert hatte, standen sich in Italien seit dem Frieden von Lodi 1454 die fünf Mächte Mailand, Venedig, Florenz, der Kirchenstaat und NeapelSizilien gegenüber. So kommt es, dass Darstellungen der Geschichte Italiens häufig die Zeit um 1450 oder das Jahr 1454 als Epochenzäsur wählen, aber kein Ereignis um 1500. In Spanien waren die entscheidenden Vorgänge zwischen Mittelalter und Neuzeit die Personalunion der beiden Königreiche Kastilien und Aragón unter Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón seit 1479 und die Eroberung des muslimischen Granada 1492 − in demselben Jahr, in dem Kolumbus Amerika für die Krone von Kastilien entdeckte. Was Russland betrifft, so ist es sehr schwierig, „den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit“21 festzulegen: „Die Schwelle zur Neuzeit ist zwar auch in der Moskauer Rus’ des 16. Jahrhunderts erreicht worden, aber überschritten wurde sie noch nicht. Selbst die schweren Erschütterungen, die das Zartum Moskau [...] zwischen 1598 und 1613 erlebte, haben zwar innerhalb des religiösen Weltbildes zu einer differenzierteren Sicht der in der Geschichte wirksamen und wirkenden Kräfte geführt, aber keine Säkularisierung des geschichtlichen Denkens, keinen Zweifel an der realen Wirkungsmacht Gottes in der Geschichte bewirkt.“22
Setzt man Neuzeit mit Säkularisierung des Denkens und Mittelalter mit undifferenziertem religiösem Weltbild gleich, so wird man den Anfang der Neuzeit demnach in Russland erst im weiteren 17. Jahrhundert annehmen können. Fragt man hingegen nach der Entstehung von Strukturen, die in der Neuzeit wichtig wurden, so fällt auf, dass das Großfürstentum Moskau im 15. Jahrhundert nach außen wie im Inneren einen entscheidenden Machtzuwachs erfuhr. Im Südosten zerfiel in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Herrschaft der Goldenen
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Horde, bevor Moskau 1480 die seit 1240 bestehende Tatarenherrschaft abschütteln konnte. Im Nordwesten unterwarfen Vasilij II. Vasil’evič 1455/56 und Ivan III. Vasil’evič 1471 Novgorod, dessen Hansekontor Ivan III. 1494 schloss. Dem entsprach auf der kirchlichen Ebene die Begründung der autokephalen russischen orthodoxen Kirche durch die Wahl des Bischofs Iona von Rjazan’ zum Metropoliten von Moskau durch die russischen Bischöfe 1448. Nimmt man die Christenheit oder Europa im Allgemeinen und die Länder der Balkanhalbinsel im Besonderen, so war die Eroberung Konstantinopels durch die Türken der wichtigste Einschnitt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Zwar hatten die aus verschiedenen Türkmenenstämmen hervorgegangenen Türken − Osmanen ist der auf die Türken übertragene Name der Anfang des 14. Jahrhunderts an die Stelle der Rum-Seldschuken getretenen Herrscherdynastie − schon 1354 die Meerengen überschritten, nachdem sie seit 1071 in das byzantinische Anatolien eingedrungen waren. 1526 erreichten sie Ungarn, 1529 belagerten sie Wien und 1541 wurden große Teile Ungarns Teil des Osmanischen Reiches. Als Epochengrenze entscheidend ist von diesen Jahreszahlen für türkische Eroberungen nur eine: 1453. Schließlich werden für den Anfang der Neuzeit die überseeischen Entdeckungen der Europäer und vor allem die Entdeckung Amerikas von 1492 genannt. Die Entdeckungsfahrten setzten aber bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit den Seefahrten der Portugiesen ein. 1419/20 erreichten sie Madeira, 1427 die Azoren. Danach stießen sie bis zum westafrikanischen Kap Verde und darüber hinaus nach Guinea vor. 1488 erreichte Bartolomeu Dias die Südspitze Afrikas. Zwar war die Entdeckung Amerikas weltgeschichtlich folgenreich, aber das Zeitalter der Entdeckungen hatte lange vor Kolumbus begonnen. Das räumt auch Stephan Skalweit ein, auch wenn er mit Recht die „zukunftsträchtigen Hauptergebnisse [der Entdeckungsfahrten], die sich auf wenige Jahrzehnte zwischen 1490 und 1520 zusammendrängen“23, betont. Die Frage nach dem Anfang der Neuzeit ist also für verschiedene Länder Europas verschieden und eher mit einer größeren Zeitspanne als mit einem einzigen Jahr zu beantworten. Man darf auch nicht übersehen, dass Epochen und Epochengrenzen nur Arbeitshypothesen der Historiker sind und nur in unserer Vorstellung − nicht in der Realität − existieren. Niemand im Mittelalter wusste, dass er im Mittelalter lebte. Und niemand im 17. Jahrhundert hatte eine Ahnung davon, dass man seine Lebenszeit 300 Jahre später als Frühe Neuzeit bezeichnen würde. Es gibt eine Ausnahme. Die Humanisten der Zeit der Renaissance hatten das Bewusstsein, dass sie in einer neuen Zeit lebten, dass sie die alte Zeit, die Antike, erneuerten, und dass es zwischen jener alten und ihrer neuen Zeit das dunkle Mittelalter gegeben habe. So dachte Francesco Petrarca, der sich 1373 in seinen Epistula metrica XXI im Rückblick auf die Antike in einer Zeit des Niedergangs sah und auf künftige Erneuerung hoffte;24 so dachte auch der Bibliothekar des Vati-
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kans, der 1475 gestorbene Humanist Giovanni Andrea Bussi, der das Mittelalter von seiner eigenen Zeit unterschied. Die Zeit vor seiner Zeit nannte er media tempestas (mittlere Zeit); seine eigene Zeit war für ihn nostra aetas (unser Zeitalter). Es dauerte nach Bussi aber noch gut 200 Jahre, bis dieses humanistische Bewusstsein einer neuen Zeit Grundlage der Epocheneinteilung der Historiker wurde. Das bewirkte Christoph Cellarius, der zwischen 1685 und 1696 eine dreibändige Darstellung der Weltgeschichte in lateinischer Sprache veröffentlichte. Den ersten Band nannte er Historia antiqua. Darauf folgten die Bände Historia medii aevi und Historia nova. Vorher hatte man die Geschichte ganz anders eingeteilt. Von jetzt an verbreitete sich das Denken in den Großepochen Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Seitdem unterscheiden wir Mittelalterliche Geschichte (Medieval History, histoire médiévale) und Neuere Geschichte (Modern History, histoire moderne et contemporaine). Von vielen Historikern wird die Epochengrenze um 1500 seit Langem infrage gestellt. Diese Historiker betonen den Zäsurcharakter der Französischen Revolution und der Industriellen Revolution und unterstreichen den Epocheneinschnitt der Zeit um 1800 stärker als den um 1500. Manche sprechen wie Otto Brunner von der Epoche Alteuropas oder vom alteuropäischen Zeitalter, dessen Beginn im 13. Jahrhundert und dessen Ende mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert angesetzt wird. Das wichtigste Argument ist dabei, dass sich der moderne Staat in seiner Frühform schon seit dem 13. Jahrhundert entwickelt habe. Es gibt dazu aber auch Gegenpositionen, die am Epochencharakter der vom Mittelalter getrennten Frühen Neuzeit (Early Modern History, histoire moderne) − verstanden als 16. bis 18. Jahrhundert – festhalten. Dabei begegnet man dem Alteuropakonzept heute eher mit Ablehnung als mit Zustimmung. Deutlich ist auch, dass die Debatte um die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit inzwischen abgeebbt ist, so dass schon gefragt wurde, „ob eine solche Debatte überhaupt notwendig ist. Sie erscheint in mancher Hinsicht sehr spezifisch deutsch, und man könnte argumentieren, dass sie sich mit der wachsenden Internationalisierung historischer Forschung überlebt hat“.25 Diese Fragen sind für Historiker auch heute nicht unwichtig, aber man geht inzwischen pragmatischer mit dem Periodisierungsproblem und auch mit dem Mittelalter- und dem Neuzeitbegriff um und ist zunehmend bereit, Periodisierungen in eigene Konzepte zu integrieren, die auf fremde Gegebenheiten, etwa die des Osmanischen Reiches, bezogen sind. Fremde Gegebenheiten sind für Allgemeinhistoriker auch Dogmen- und Theologiegeschichte ebenso wie Wirtschafts-, Landwirtschafts- oder Technikgeschichte. Das sind Bereiche, die sich ihren Periodisierungen entziehen. Auch sind die Zäsuren der Wirtschafts- oder Technikgeschichte oft weniger ereignis- als prozesshaft, beziehen sich auf breitere Zeitspannen und weniger auf einzelne Jahre. Man kann die Französische Revolution genau datieren; die Industrielle Revolution genau datieren zu wollen, wird niemandem einfallen. Ähnlich ist es
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mit der Verlagerung von Produktionen, wenn etwa im 17. Jahrhundert die in Städten wie Florenz, Mailand oder Como, aber auch in Venedig bedeutsame Wolltuchherstellung allmählich zugunsten der Herstellung von Luxuswaren aus Seiden- und Brokatstoffen aufgegeben wird, wenn das Seidengewerbe im 16. Jahrhundert von Italien nach Lyon und weiter nach Antwerpen gelangt, wenn in den Niederlanden die Wolltuchproduktion im 16. Jahrhundert vom flandrischen Süden in den holländischen Norden abwandert, während der Süden sich auch hier auf Luxustextilien und Spezialprodukte wie Gobelins verlegt. Zwar kennt auch die Wirtschaftsgeschichte exakte Daten, etwa wenn 1553 das Hansekontor von Brügge nach Antwerpen verlagert und 1603 der Stalhof, die Hanseniederlassung in London, geschlossen werden. Es herrschen aber die langsamen, im vorstatistischen Zeitalter in ihrem Verlauf kaum fassbaren und erst von ihrem Ergebnis her erkennbaren Entwicklungen vor. Das Aufkommen des oberschlächtigen Wasserrades im 14./15. Jahrhundert − wichtig für den Betrieb von Mühlen und Hammerwerken −, die Verbreitung der Kammerschleuse, die Leon Battista Alberti in De re aedificatoria von 1443/52 beschrieb − wichtig für den Ausgleich von Niveau-Unterschieden bei Kanalbauten und im Binnenschifffahrtsverkehr − oder die technischen Innovationen bei Windmühlen und bei der Eisenerzeugung vom Rennfeuerverfahren zum Frischfeuerverfahren in Stücköfen zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert wogen mit ihren Folgen für die Technik- und Wirtschaftsgeschichte die Bedeutung gewonnener Schlachten für die Politikgeschichte auf. Von der doppelten Buchführung war die Rede. Noch viel einschneidender war die Entwicklung der Feuerwaffen seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und deren Einsatz im Hundertjährigen Krieg. Die Feuerwaffen setzten nicht nur den ritterlichen Idealen des Mittelalters ein Ende, sondern lösten die bis heute andauernde Rüstungsspirale technischer Menschenmassenvernichtung aus. „Vieles spricht dafür, dass die Feuerwaffe die Basisinnovation der Neuzeit darstellte.“26 Eine andere Basisinnovation der Neuzeit waren die im 14. Jahrhundert entwickelten mechanischen Uhren − zuerst die von Ingenieuren wie Richard of Wallingford oder von dem Arzt Giovanni de’ Dondi konstruierten Turmuhren −, die an die Stelle der Wasseruhren und anderer Techniken der Zeitmessung traten und den Weg zu der rigiden Zeitordnung der Moderne und zu „dem modernen Berufsmenschen, [der] ‚keine Zeit hat‘“27, eröffneten. Eine dritte Basisinnovation der Neuzeit war das Aufkommen des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, der 1455 als erstes großes Druckwerk die 42-zeilige lateinische Bibel des Mainzer Druckers Johannes Gutenberg hervorbrachte, was zunächst − wegen des geringen Alphabetisierungsgrades der Bevölkerung mit nur rund zehn Prozent Lesefähigen und der hohen Kosten der heute Inkunabeln genannten frühen Druckwerke − nur ein Moment der Technikgeschichte war, bevor die Drucktechnik mit der Publizistik der Reformation ein Kommunikationsmedium von bis dahin unbekannter Wirkung entstehen ließ. Aber schon im 15. Jahrhundert traten mit dem Buchdruck an die Stelle der nur
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langsam, in kleiner Zahl und mit großen Kosten zu verbreitenden Handschriften gedruckte Bücher und nach einiger Zeit auch Flugschriften, die bald nicht mehr nur kirchliche und gelehrte Texte vermittelten, sondern auch populäre und durch einprägsame, sich der Technik des Holzschnitts bedienende Bilder auch Analphabeten zugängliche Stoffe verbreiteten. Und die Kirchen- und Theologiegeschichte? Trotz der sozialen Resonanz und der politischen Unterstützung, die Luther bei Landesfürsten und Stadträten fand, und der tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Folgen der Reformation war die Reformation in erster Linie ein Vorgang der Kirchen- und Theologiegeschichte. Bei der Frage nach der Epochenbedeutung Luthers und der Reformation kommt es auf die Klärung des Verhältnisses von Reformation und Mittelalter und auf die Frage an, was Katholische Reform ist und wann sie einsetzte. Von beidem soll in diesem Buch ausführlich gehandelt werden. Das Konfessionelle Zeitalter Es war von historischen Prozessen die Rede, die vor 1500 begannen und im 16. Jahrhundert fortwirkten. Das 16. Jahrhundert war aber nicht nur die Fortsetzung des 15. Es gab Veränderungsprozesse, die erst im 16. Jahrhundert einsetzten und dieses und das folgende Säkulum prägten. Das war vor allem der konfessionelle Grundzug des Zeitalters, das Gegenüber konkurrierender christlicher Glaubensformen oft in demselben Land oder in derselben Stadt. Das hatte es trotz der religiösen Bewegungen im 15. Jahrhundert nicht gegeben. Nach dem Zurücktreten – nicht Verschwinden – der konfessionellen Polarisierung seit dem späteren 17. und im 18. Jahrhundert gab es diesen konfessionellen Grundzug nicht mehr in der alten Weise. Was unter Konfessionsbildung und unter Konfessionalisierung zu verstehen ist, wird noch zu erörtern sein. Wichtig ist, dass das 16. Jahrhundert in Europa noch ganz christlich bestimmt, ja gegenüber dem Mittelalter durch Reformation und Katholische Reform in mancher Hinsicht und zumindest auf kurze und mittlere Sicht noch stärker verchristlicht war, während diese Verchristlichung − vor allem die Konkurrenz der Konfessionen − auf längere Sicht zur Verweltlichung beitrug. Das Dasein Gottes, der Fluch der Sünde, die Existenz der Hölle und des jenseitigen Lebens waren noch selbstverständliche Voraussetzungen. Nur der Weg zur Gnade Gottes konnte fraglich sein. Alles war von den religiösen – und konfessionellen – Fragen der Zeit geprägt und durchdrungen. Das gilt für die innenpolitischen Auseinandersetzungen in den großen Monarchien im Westen Europas ebenso wie für das Reich und die deutschen Territorien, weil Religion und Politik, Kirche und Staat noch keine unabhängigen Teilbereiche darstellten, sondern einander umschlossen. Die konfessionelle Komponente zeigt sich auch in der zwischenstaatlichen Politik und bei den Kriegen des Zeitalters. Auch wenn das Konfessionelle dabei oft
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nur als Vorwand gebraucht wurde und Bündnisse mit konfessionellen Gegnern und Kriege gegen Glaubensverwandte zuließ, so war es doch auch dann noch präsent. Die Prägung durch den christlichen Glauben und die Bedeutung des Konfessionellen bestand in allen sozialen Schichten und auf allen Stufen von den Analphabeten in Stadt und Land bis zu den intellektuellen Eliten. Das gilt selbst für diejenigen, die als Träger der Verweltlichung des Denkens die konfessionellen Gegensätze überwinden wollten und mit der Aufrichtung der Souveränität des konfessionell neutralen Machtstaates über Kirche und Religion auch tatsächlich überwinden oder wenigstens entschärfen konnten. Auch Unglaube und Irreligiosität, die es im späteren Mittelalter unter der Oberfläche einer in jeder Hinsicht von Kirche und Religion bestimmten Kultur – in der Welt der sozial Deklassierten ebenso wie in der Philosophie des lateinischen Averroismus – gegeben hatte, wurden im 16. Jahrhundert von der Konfessionalisierung zeitweise überdeckt. Auch standen die dem Späthumanismus keineswegs fremden Züge von theistischem Universalismus und Freigeisterei in Wechselbeziehungen mit den konfessionellen Gegensätzen, aber auch mit Gruppierungen wie den Antitrinitariern. Das alles erlaubt, dieses Zeitalter das Konfessionelle Zeitalter zu nennen, obwohl im 16. und 17. Jahrhundert auch andere „Sachkomplexe“ wirksam waren, „die eine eigene Entwicklungsdynamik gewinnen und als solche auch – neben der Konfession – singularisierbar sind“28. Zu fragen bleibt nach der zeitlichen Abgrenzung des Konfessionellen Zeitalters. Die traditionelle Epochengliederung der deutschen Geschichtswissenschaft unterscheidet für das 16. und 17. Jahrhundert einen ersten Abschnitt bis zum Augsburger Religionsfrieden von 1555; und einen zweiten Abschnitt von 1555 bis zum Westfälischen Frieden von 1648. Auch das geht auf Ranke und seine Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation zurück. Ranke führte den Begriff Reformation als Epochenbegriff und als Name des Zeitalters bis 1555 ein, der vor ihm als solcher ungebräuchlich war. Überhaupt ist der Begriff Reformation eine verhältnismäßig junge Bezeichnung für das Wirken Luthers und für dessen Ergebnis. Im 16. Jahrhundert bedeutete reformatio zunächst noch wie im Mittelalter Wiederherstellung eines ursprünglichen und damit Verbesserung eines als verdorben angesehenen Zustandes, auch wenn der Bezug auf Vergangenheitsnormen zunehmend wegfiel. Dabei bezog sich reformatio nicht nur auf religiöskirchliche Dinge, sondern auch auf profane Sachverhalte. Das änderte sich seit der Mitte des 16. und vor allem im 17. Jahrhundert. 1692 verstand Veit Ludwig von Seckendorff unter Reformation nur noch Luthers Kirchenkritik, sein Handeln und die Ausbildung einer neuen Kirche. Er schuf damit die Grundlage für den modernen kirchengeschichtlichen Reformationsbegriff, auch wenn er Zwingli und Calvin und die reformatorischen Bewegungen neben Luther noch nicht einbezog. Jünger als der von Seckendorff geprägte Begriff und die von Ranke eingeführte Epochenbezeichnung Reformation sind Begriff und Epochenbezeichnung Gegen-
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reformation. Von Gegenreformation war zwar schon 1654 die Rede, doch fehlte noch der katholische Bezug. Seine Prägung als Begriff erfuhr dieser Ausdruck 1776 bei dem Göttinger Staatsrechtsprofessor Johann Stephan Pütter, der zur Benennung der antiprotestantischen Anwendung des ius reformandi durch katholische Landesherren von Gegenreformationen sprach. Aber erst Ranke gebrauchte Gegenreformation für die katholische Reaktion auf die Reformation. Indem er die Gegenreformation als Zeitabschnitt auf die Reformation folgen ließ, bereitete er der Verwendung von Gegenreformation als Epochenbezeichnung den Weg. Danach war es Moriz Ritter, der 1889 Gegenreformation als Bezeichnung für das auf die Epoche der Reformation – im Sinne Rankes – folgende Zeitalter der deutschen Geschichte in Deutschland und bald auch außerhalb Deutschlands − englisch Counter-Reformation, französisch la Contre-Réforme, italienisch contra-riforma − einbürgerte. Mit der Ranke-Ritter’schen Periodisierung und Terminologie konnte die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts als protestantisches und die zweite Hälfte nach 1555 als katholisches Zeitalter erscheinen. Hier knüpften jüngere Historiker an. Otto Brunner sprach 1953 vom Konfessionellen Zeitalter und bezog das auf die Zeit von 1555 bis 1648. Er suchte damit dem Umstand Rechnung zu tragen, dass dieser Zeitraum nicht nur im Zeichen der katholischen Gegenreformation stand, sondern ebenso von der Ausbreitung des Calvinismus geprägt war. In gleichem Sinne hatte Karl Eder 1949, eine Formulierung Wilhelm Roschers aufgreifend, vom Zeitalter des konfessionellen Absolutismus gesprochen, während der katholische Kirchenhistoriker Joseph Lortz das ganze 16. Jahrhundert als Zeitalter der Glaubensspaltung bezeichnete und dieses unterteilte in protestantische Reformation und katholische Reform, wobei diese noch einmal in Katholische Reformbewegung und Gegenreformation aufgegliedert wurde. Wie bei der traditionellen Bezeichnung Zeitalter der Gegenreformation, so blieben auch bei Lortz die protestantischen Faktoren des späteren 16. Jahrhunderts undeutlich. Eine befriedigende Lösung dieses Problems setzt die Verknüpfung der Begriffsfrage mit der Periodisierungsfrage voraus, wie sie sich bei Ernst Walter Zeeden anbahnte. Zeeden verneinte die Bedeutung des Jahres 1555 als Zäsur für die allgemeine europäische Geschichte und für die Kirchengeschichte und hielt nur für die deutsche Geschichte die Aufgliederung in einen bis 1555 reichenden Abschnitt und in einen daran anschließenden Abschnitt für vertretbar. Doch betrachtete er den gesamten Zeitraum von 1517 bis 1648 als Einheit und nannte ihn Zeitalter der Glaubenskämpfe.29 Zeeden bezog die frühe Reformation in das Zeitalter der Glaubenskämpfe ein. Einen neuen Ansatz bot seit den 1970er Jahren Wolfgang Reinhard, der die Gegenüberstellung einer Epoche der Reformation und einer – im Gegensatz dazu als reaktionär verstandenen – Epoche der Gegenreformation zu überwinden suchte und die „relativ kurzfristige evangelische Bewegung“, in der er „den Kulminationspunkt von zwei Jahrhunderten voller Reformstreben“ und somit noch etwas Mittelalterliches sah, von einem „ebenfalls runde zwei Jahrhunderte anhal-
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tenden Prozeß der ‚Konfessionalisierung‘“ unterschied. Dieser habe „bereits in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts“ eingesetzt und „in allen drei konfessionellen Bereichen, bei Calvinisten, Katholiken und Lutheranern, sachlich weitgehend und zeitlich einigermaßen parallel“ stattgefunden.30 Diesen Zeitraum von den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts an nennt Reinhard konfessionelles Zeitalter.31 Diese Benennung lag dem Buch des Verfassers von 1989 zugrunde,32 das die Epochenbezeichnung Konfessionelles Zeitalter im Titel führte. Vieles spricht für, einiges auch gegen eine solche Unterscheidung zwischen der frühen Phase der Reformation als einer Zeit der reformatorischen Volksbewegung und der späteren, durch Verstaatlichung der Reformation, obrigkeitliches Kirchenwesen und beginnende konfessionelle Abschließung gekennzeichneten Phase. Die Trennlinie kann dabei im Jahr 1525 oder in dem Jahrfünft zwischen 1525 und 1530 gesucht werden. Dagegen könnte die Gefahr sprechen, dass damit die Reformation zu sehr auf das Mittelalter hin verschoben und das Neue in der Reformation, das es neben dem Mittelalterlichen auch gibt, zu wenig deutlich wird. Eine Gegenposition zu Reinhards Sicht eines von den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts an zu datierenden Konfessionellen Zeitalters nahm Heinz Schilling ein, der zwar auch die Epochenbezeichnung Konfessionelles Zeitalter kannte,33 die bei ihm aber nie eine herausgehobene Rolle spielte, während er inzwischen Luthers Reformation als einen Faktor − „wenn auch sicherlich ein ganz entscheidender“ − innerhalb einer mehrere Jahrhunderte umfassenden und tief im Mittelalter wurzelnden Reformepoche sieht und daher Pierre Chaunus Le temps des Réformes (1250–1550) den Vorzug zu geben scheint, ohne wie dieser ein Ende dieser Zeit der Reformationen in der Mitte des 16. Jahrhunderts zu befürworten.34 Schilling hob nie auf eine Zäsur um 1525 ab, im Gegenteil, er polemisierte gegen diejenigen, die das taten. Schilling betonte, dass der Ausgang des Bauernkriegs von 1525 kein Ende der Reformation als Volksbewegung und somit keine Zäsur bewirkt habe, zumal die reformatorische Bewegung in den Städten vielfach erst nach 1525 ihren Höhepunkt erlangt oder ihr Ziel erreicht habe.35 Der Verlauf der Reformation vor allem in den niederdeutschen Städten gibt ihm Recht. Dennoch brachte das Jahr 1525 vier Momente, in denen man eine Zäsur sehen kann, nämlich 1. mit dem Ausgang des Bauernkriegs zumindest in Mittel- und Oberdeutschland den Sieg des Territorialfürstentums und in Verbindung damit – und mit dem Speyerer Reichsabschied von 1526 – den Beginn des Ausbaus des landesherrlichen Kirchenregiments, 2. die Entstehung des Täufertums, 3. mit der literarischen Fehde über die Willensfreiheit zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam das Ende des Zusammengehens von Reformation und Humanismus und 4. mit dem Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli die Aufspaltung der Reformation in einen Wittenberger und einen Zürcher Flügel. Auf der Ebene der Politik traten der erste Krieg Karls V. gegen Frankreich in den Jahren 1521 bis 1526 und die 1526 erfolgte Wahl Ferdinands von Österreich zum
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König von Ungarn und Böhmen hinzu. Dazu kam in Deutschland die Entfaltung des Kirchenregiments der reformatorischen Fürsten mit der 1526 begonnenen kursächsischen Kirchen- und Schulvisitation, mit der 1526 auf dem Homberger Landtag den hessischen Landständen vorgelegten Reformatio ecclesiarum Hassiae und der 1527 in Marburg erfolgten Gründung der ersten reformatorischen Universität. Wenig später setzten mit dem gescheiterten Marburger Religionsgespräch von 1529 und mit den auf dem Augsburger Reichstag von 1530 vorgelegten Bekenntnisschriften − darunter die lutherische Confessio Augustana − auch in der theologischen Lehrentwicklung entscheidende Verfestigungen ein, die für die Konfessionsbildung bedeutsam wurden. Die Jahreszahlen machen deutlich, dass sich die Zeit um 1525 als mögliche Zäsur zwischen der Zeit der relativ kurzfristigen evangelischen Bewegung und dem Konfessionellen Zeitalter bis 1529/30 erstreckte, sich also nicht auf ein Jahr fixieren lässt. Dabei ist das Konfessionelle Zeitalter aber nicht scharf abgehoben von der frühen Reformation und überdies mit dieser zusammen mit den Reformbewegungen des 14. und 15. Jahrhunderts verbunden und somit als Teil einer Großepoche zu sehen, deren Anfang im sogenannten Spätmittelalter liegt und deren Ende in der sogenannten Frühen Neuzeit zu suchen ist. Das Ende des Konfessionellen Zeitalters wird hier in der Mitte und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit Nachwirkungen bis ins 18. Jahrhundert angesetzt, und zwar politikgeschichtlich beim Westfälischen Frieden von 1648 und beim Pyrenäenfrieden von 1659. Mit diesen Friedensschlüssen wurde die spanische Vorherrschaft im europäischen – oder westeuropäischen – Staatensystem durch die Dominanz Frankreichs abgelöst, während in Deutschland die konfessionspolitischen Bestimmungen des Westfälischen Friedens einerseits das Ende des Konfessionellen Zeitalters markierten, andererseits aber die Konfessionen in die Reichsverfassung einbauten und so zum Fortbestand konfessioneller Elemente in der Reichspolitik beitrugen. Darüber hinaus blieben konfessionelle Prägungen auch in der Politik lebendig. Zugleich erfuhr der konfessionelle Grundzug des Zeitalters mit Irenik und Antikonfessionalismus und konfessionellen Reunionsprojekten der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sowie mit der seit den neunziger Jahren heraufziehenden Aufklärung eine Abschwächung. Auch wenn in Deutschland − anders als in Frankreich − die Aufklärung während des gesamten 18. Jahrhunderts eine theologisch-kirchliche Prägung behielt, so drängten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts doch neue Kräfte in den Vordergrund. Das berechtigt dazu, die Grenze des Konfessionellen Zeitalters in dieser Zeit zu ziehen. Die Epochenbezeichnung Konfessionelles Zeitalter hat eine Vorgeschichte, die über Otto Brunners Ansatz von 1953 zurückreicht. Sie stammt von dem evangelischen Theologen und Religionssoziologen Ernst Troeltsch. Dieser unterschied 1906 zwischen Altprotestantismus und Neuprotestantismus und charakterisierte den Altprotestantismus als eine noch dem Mittelalter zugewandte Erscheinung.
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Erst der Neuprotestantismus habe die kirchliche Einheits- und Zwangskultur des Mittelalters überwunden, der die Reformation noch angehört habe. Als Kennzeichen des Neuprotestantismus nannte er die Emanzipation der allgemeinen weltlichen Kultur von der kirchlichen Zwangskultur und den Zug zur weltlichen Autonomie und zum Säkularismus. Die Grenze zwischen dem Altprotestantismus und dem Neuprotestantismus sah Troeltsch am Ende der großen Religionskriege des 17. Jahrhunderts – im Falle Deutschlands um 1648 – und in der Zeit des aufkommenden religiösen Individualismus im Zusammenhang mit dem Pietismus. Die Zeit des Altprotestantismus, also das 16. und große Teile des 17. Jahrhunderts, sei – so Troeltsch – nicht mehr Mittelalter, aber auch noch nicht Neuzeit – es sei das „Konfessionelle Zeitalter der europäischen Geschichte“.36 Von Troeltsch unterscheidet sich das Verständnis des Konfessionellen Zeitalters, das diesem Buch zugrunde liegt, nicht nur durch die Eigenstellung der frühen Reformation im Sinne des Kulminationspunkts teilweise lange vorher einsetzender Bewegungen, sondern auch durch die Einschätzung der in diesem Zeitalter wirksamen und aus ihm hervorgehenden säkularisierenden Momente. Hatte Troeltsch die Emanzipation der allgemeinen weltlichen Kultur erst mit dem von ihm so bezeichneten Neuprotestantismus angesetzt, so scheint doch gerade das Konfessionelle Zeitalter selbst durch eine Wechselwirkung von Konfessionalisierung und Säkularisierung gekennzeichnet zu sein. Indem die religiös-kirchliche Prägung der Welt und des Lebens der Menschen und die Bedeutung von Kirche und Religion für Staat und Politik die konfessionellen Kämpfe zu politischen Konflikten werden ließ, wurde die konfessionelle Polarität zu einer Sache der Politik. Aus religiös-konfessionellen Bürgerkriegen wurden politische Bürgerkriege, aus denen als Mittel zu deren Überwindung der rein weltliche und über den konfessionellen Streitigkeiten stehende, konfessionsneutrale Staat hervorging, der mit staatlichen Machtmitteln den politischen Frieden unter den streitenden Konfessionsparteien erzwang. So bildete sich ein weltlich-staatliches Denken im Bereich der Politik heraus, wie überhaupt der Staat eine Machtstabilisierung erfuhr und die Kirche unter die Suprematrie der Politik geriet. Besonders deutlich ist diese Beziehung von Konfessionalisierung und Säkularisierung – und der Beitrag der Säkularisierung zur Stärkung von Königtum und Staat – im Frankreich der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Hingegen trugen in Deutschland weniger die aus der Konfessionalisierung hervorgehende Säkularisierung, sondern die Konfessionalisierung selbst und die mit ihr verbundenen politisch-sozialen Formierungsprozesse zur Konsolidierung der Territorialstaaten bei. Doch gab es den Zusammenhang von Konfessionalisierung und Säkularisierung auch in Deutschland, wo er uns mit dem Augsburger Religionsfrieden entgegentritt, mit dem die fortbestehenden religiösen Streitigkeiten durch eine politisch-säkulare Friedensordnung überdeckt wurden. Doch beschränkte sich die Verbindung von Konfessionalisierung und Säkularisierung nicht auf den politisch-staatlichen Bereich. Die Konfessionalisierung brachte zunächst eine Stei-
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gerung der Religiosität. Doch enthielt die Konfessionalisierung des lateinischen Christentums auch den Keim der Säkularisierung, indem durch die Konkurrenz der Konfessionen die Glaubensaussage relativiert und durch Politisierung und Militarisierung der konfessionellen Gegensätze – und durch teilweise wiederholte Konfessionswechsel in manchen Territorien – Kirche und Religion diskreditiert wurden. So ging aus der Konfessionalisierung auf längere Sicht die Weltlichkeit der Moderne hervor.
II. Die zwei Jahrhunderte vor der Reformation
Der lange Schatten der Pest und die Bevölkerung Europas Die Pest und die Folgen Manche Historiker sehen im Schwarzen Tod von 1348 − eine auf die Jahre 1347 bis 1352 bezogene Bezeichnung − den Anfang der Neuzeit. Prononciert brachte das 1950 der Wirtschaftshistoriker Friedrich Lütge zum Ausdruck: „Wenn man schon an jener primitiven Zweiteilung in Mittelalter und Neuzeit festhalten will, dann wird man sagen müssen: das Mittelalter geht um 1350 zu Ende.“1 Ähnlich der Schriftsteller Egon Friedell: „Das Konzeptionsjahr des Menschen der Neuzeit war das Jahr 1348, das Jahr des Schwarzen Todes.“2 Während Lütges Sicht für Neithard Bulst „der Kritik nicht stand[hält]“3, teilen andere diese Auffassung. Das gilt für den Sozialhistoriker George Huppert ebenso wie für den auch als Historiker arbeitenden Volkswirt Karl Georg Zinn oder den Medizinhistoriker Klaus Bergdolt, der im Schwarzen Tod „das Ende des Mittelalters“4 sieht. Nicht weniger uneinig ist man sich über das Ausmaß der Folgen der Pest, die Europa in der Mitte des 14. Jahrhunderts heimsuchte. Sehen die einen darin „die größte Katastrophe, die je über die Menschheit hereingebrochen ist“5, so ist sie für andere ein „Mythos“6. Der nach ihm Yersinia Pestis − auch Pasteurella Pestis − genannte Pesterreger wurde erst 1894 von Alexandre Yersin entdeckt. Der Infektionsweg zum Menschen erfolgt von infizierten Hausratten aus über den Rattenfloh oder ohne Beteiligung von Ratten durch den Menschenfloh, in beiden Fällen also durch Flohstich. Bei beiden Übertragungswegen tritt nach der Infizierung einzelner Menschen die Infizierung von Mensch zu Mensch durch Tröpfcheninfektion hinzu, etwa durch Niesen eines Infizierten. Die Übertragung durch Flohstich führt zur Beulenpest. Diese bietet einen Rest an Überlebenschance, während die durch Tröpfcheninfektion übertragene Lungenpest so gut wie immer tödlich verläuft. Wann die Pest zum ersten Mal auftrat, ist nicht bekannt. Man weiß nur um die nach Kaiser Justinian I. benannte Justinianische Pest von 543. Der Ursprung der Pest der Jahre 1347 bis 1352 wird mit zeitgenössischen Autoren wie Matteo Villani in China gesehen. Ihren Weg nach Westen scheint sie über die alte Seidenstraße genommen zu haben, die das mongolische Innerasien mit den genuesischen Handelsplätzen am Schwarzen Meer verband. 1346 erreichte die Pest die Mündung der Wolga in das Kaspische Meer und danach das Azovsche Meer und die Nordküste des Schwarzen Meeres. Hier liegt Feodosija, damals die genuesische Handelsniederlassung Caffa, wo die Genuesen mit der Pest in Berührung
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kamen. Seit 1346 wurde Caffa von den Tataren belagert, die die Pest mitgebracht hatten, so dass ihr Belagerungsheer durch Todesfälle dezimiert wurde. Gabriele de Mussis, der sich in Caffa aufhielt, berichtet, dass die Tataren die Leichen mit Wurfmaschinen in die Stadt katapultierten. Bergdolt nennt das ein „frühes Beispiel bakteriologischer Kriegführung“7; andere melden Zweifel an. Während sich die Pest im östlichen Mittelmeerraum ausbreitete − 1347 wurden die ersten Pesttoten in Konstantinopel registriert −, flohen die Genuesen aus Caffa und brachten die Pest nach Italien. Zwölf Galeeren erreichten Messina, wo die Pest ausbrach. Von Sizilien aus gelangte sie in die Hafenstädte des Tyrrhenischen Meeres und Liguriens und vor allem nach Genua, breitete sich nach Pisa und in die Lombardei, nach Padua und Bologna aus, kam nach Rom und forderte in Venedig in großer Zahl Todesopfer. Nur Mailand bildete dank strengster Isolationsmaßnahmen eine Ausnahme. Nach Frankreich gelangte die Pest mit genuesischen Schiffen über Marseille, von wo aus sie sich verbreitete. Narbonne wurde im März, Toulouse im April, Paris im Mai und Bordeaux im August 1348 erreicht. Von Paris aus erfasste die Pest den Norden Frankreichs. Im päpstlichen Avignon verbarg sich Papst Clemens VI. im Papstpalast, jeden Kontakt mit der Außenwelt meidend. Im März 1348 erreichte die Pest Mallorca und im Laufe des Jahres das spanische Festland mit Zaragoza, Barcelona und Valencia und dem fast ganz ausgelöschten muslimischen Almeria, um 1350 auch auf Portugal überzugreifen. Der Rhône folgend kam die Pest in die Westschweiz und von der Lombardei aus ins Tessin, von Basel nach Straßburg. 1349 wurden Wien, Frankfurt am Main, Mainz, Thüringen und im Dezember 1349 Köln erreicht, Pfingsten 1350 Lübeck und 1351 Bremen, nachdem die Pest 1350 schon auf der Halbinsel Jütland und auf Gotland gewütet, den Ostseeraum bis Livland heimgesucht und auch Schweden erreicht hatte. Während in Brügge, Gent, Ypern, Brüssel oder Antwerpen die pestbedingte Mortalität niedriger war, überrollte die Pest England seit August 1348, wobei sie zunächst in Bristol, Southampton, Plymouth und Exeter auftrat. In London misslangen Versuche, die Stadt zu isolieren, in der die Pestwelle von September 1348 bis Frühjahr 1350 anhielt. Besonders betroffen war East Anglia; Norwich, bis dahin die zweitgrößte Stadt Englands, erlangte die alte Bedeutung niemals mehr zurück. Auch in Wales, Schottland und Irland forderte die Pest ihre Opfer, ebenso in Russland. Die Pest offenbarte die Hilflosigkeit der mittelalterlichen Medizin, die den Lehren antiker Autoren wie Hippokrates oder Galen verpflichtet war und kaum empirisch arbeitete. Die medizinischen Autoritäten von Paris erklärten die Pest mit Verdunstungsdämpfen des Meeres, die durch tote Fische verdorben seien und ganze Länder vergifteten. Sie empfahlen große Feuer aus Weinreben, Lorbeerzweigen, grünem Holz, Weihrauch und Kamille sowie Diät. Kein Arzt kannte den Pesterreger und die Infektionswege. So war die auch von Ärzten nahegelegte Flucht aus pestverseuchten Gebieten die beste Medizin, die aber die Gefahr der
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weiteren Verbreitung der Pest mit sich brachte. Oft waren es Ärzte oder Priester, die die Flucht ergriffen und die Kranken ihrem Schicksal überließen, oder lokale Amtsträger, von denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung abhing. Häufig suchte sich der hohe Klerus der Gefahr durch Flucht zu entziehen, so der Bischof von Bath, Ralph von Shrewsbury, oder der Erzbischof von Canterbury, John Stratford, der an seinem Zufluchtsort ebenso der Pest erlag wie der geflüchtete Abt von Westminister, Simon de Bircheston. Der Schwarze Tod blieb nicht ohne wirtschaftliche Auswirkungen. Der Handel stockte, Felder blieben unbestellt, Ernte verrottete. Nach dem Abflauen der Pest machte sich Arbeitskräftemangel bemerkbar, was einige Historiker vom „goldenen Zeitalter der Lohnarbeiter“8 sprechen lässt, während nach anderen die Agrarkrise infolge des Preisverfalls für Getreide ein ländliches Proletariat entstehen ließ und zu verstärkter Landflucht und dadurch zu sozialen Konflikten in den Städten führte. Diese Entwicklungen können aber nur regional beurteilt werden, wie der Schwarze Tod auch nicht die einzige Ursache der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der Zeit war. Eindeutiger mit ihm und den folgenden Pestwellen in Verbindung zu bringen sind die mit dem Bevölkerungsverlust zusammenhängende Vermögensumschichtung und der dadurch hervorgerufene soziale Wandel, auch wenn der Bevölkerungsrückgang schon vor 1348 einsetzte. Auch Wüstungen durch das dauernde Verlassen von Einzelhöfen oder Dörfern, das durch die Pestverluste erklärte Ende des Vordringens der bäuerlichen Siedlung in den Hochtälern der Alpen oder das Ende der deutschen Ostsiedlung sind zu nennen. Abgesehen von den bevölkerungsgeschichtlichen Folgen waren die sozio-mentalen Auswirkungen des Schwarzen Todes wahrscheinlich wichtiger als die sozio-ökonomischen. In diesem Zusammenhang werden oft die Judenpogrome genannt. Vielerorts wurde im 14. Jahrhundert die Pest mit der Brunnenvergiftung durch Juden erklärt, wobei aber auch andere, Aussätzige und Arme, in diesen Verdacht gerieten. 1348 kam der Verdacht der jüdischen Brunnenvergiftung, wohl zunächst in Frankreich, auf. Die Folge waren Judenpogrome u. a. in Konstanz, Solothurn, Zürich, Basel, Freiburg im Breisgau, Straßburg, Speyer, Worms, Mainz, Heilbronn, Colmar, Köln und an anderen Orten, auch in Frankreich und Spanien, bei der Judenviertel eingeäschert, Synagogen zerstört und viele Juden lebend verbrannt wurden, darunter auch getaufte Juden. Viele jüdische Gemeinden wurden ausgelöscht. Eine Ausnahme bildete Österreich, wo es nur zu einzelnen Übergriffen gegen Juden kam, deren Rädelsführer hingerichtet oder mit Kerkerhaft bestraft wurden, weil der Landesherr, Herzog Albrecht II. von Österreich, die Juden schützte. Er war der einzige weltliche Herrscher, von dem das ebenso wie von Papst Clemens VI. gesagt werden kann, der den Juden, wie auch sein Nachfolger Innozenz VI. und sein Neffe Gregor XI., beizustehen suchte. Clemens VI. verbot 1348, Juden auszuplündern, gewaltsam zu bekehren und ohne Gerichtsverfahren zu töten und wies den Vorwurf der Brunnenvergiftung mit dem Hinweis auf
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die Tatsache zurück, dass auch Juden Opfer der Pest waren. Während das Verbot des Papstes in Deutschland und Frankreich weitgehend unbeachtet blieb, gab es in Avignon und in Italien keine Judenpogrome. Italien wurde nicht nur am stärksten vom Schwarzen Tod in Mitleidenschaft gezogen; aus Italien gibt es auch die bemerkenswertesten Zeugnisse über die Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts, die die sozio-mentalen Auswirkungen widerspiegeln. Petrarca war nicht nur Augenzeuge der Epidemie in Avignon und Italien, sondern durch den Tod seiner Geliebten Laura, die 1348 in Avignon der Pest erlag, und durch den Verlust seines einzigen Sohnes, Giovanni, der 1361 in Mailand an der Pest starb, sowie durch die Tausende Toter in seiner Umgebung auch persönlich von der Seuche betroffen. In seinen Epistolae metricae gab er 1348 seiner Trauer und dem Gedanken der Vanitas, der Nichtigkeit und Eitelkeit der irdischen Dinge vor dem Angesicht des Todes, Ausdruck. Seine Zeit, das Trecento, erkannte er als Zeit des Epochenwandels, ohne diesen allein mit der Pest zu erklären. Giovanni Boccaccio erlebte die Pest in Florenz, wo Petrarca 1350 sein Gast war. Er verfasste zwischen 1348 und 1353 den Decamerone, eine 1470 gedruckte Sammlung von 100 Novellen, die er sieben Damen und drei Herren, die vor der Pest aus Florenz auf ein Landgut geflohen sind, einander zum Zeitvertreib erzählen lässt. In der Einleitung schildert er die Pest in der Arnostadt und das Verhalten der Bewohner. Unter den sozio-mentalen Folgen der Pest nehmen hedonistische Verhaltensweisen breiten Raum ein, und das nicht nur während der Pestzeit, sondern mehr noch nach dem Abflauen der Todesgefahr. Berichtet wird über ausschweifende Lebensgier, Lockerung der Sitten und Autoritätsverfall, Vergnügungssucht und zielloses In-den-Tag-Hineinleben, das aber schon vor dem Schwarzen Tod eingesetzt zu haben scheint. Die Rede ist in zeitgenössischen Berichten von der Auflösung der Familienbande, wenn Eltern sich nicht mehr um ihre todkranken Kinder, Männer sich nicht mehr um ihre Frauen und Frauen sich nicht mehr um ihre Männer kümmerten, weil, zumal im Falle der Lungenpest, jede Zuwendung zu den Schwerkranken oder Sterbenden den noch nicht Infizierten ebenfalls den Tod gebracht hätte. Bei Michele da Piazza und bei dem Bologneser Arzt Tommaso del Garbo wird vom Verlust von Standesehre und Pflichtbewusstsein bei Notaren berichtet, die von Sterbenden keine Testamente mehr aufnahmen, und von Priestern, die Todgeweihten die Sterbesakramente nicht mehr reichten. Es gab aber auch selbstlose Pflege Kranker und Bestattung Gestorbener, etwa durch Mitglieder der Bruderschaft der Scuola della Carità in Venedig, von denen 300 ihren Einsatz mit dem Tod bezahlten, oder durch die Nonnen im Hôtel-deDieu zu Paris, von denen in fünfeinhalb Monaten 62 von 102, also rund 60 Prozent, starben.9 Demut (humilitas) und memento mori-Gedanken, wie bei Petrarca, wurden von dem allgegenwärtigen Tod angeregt, wie die bis dahin vor allem im Adel und in den Klöstern geübte Ars moriendi nun auch im Bürgertum Verbreitung fand. Zwar sind solche Frömmigkeitsformen schon vor dem Schwarzen
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Tod nachweisbar, doch wurden sie durch die Pest gesteigert; es mag auch sein, dass der Aufschwung der Frömmigkeit, etwa im Stiftungswesen, „nur von kurzer Dauer“10 war. Doch bleibt die Tatsache der religiösen Bewältigung der Pest in Pestmessen, im Bruderschaftswesen oder in Pestgebeten, in der Verehrung der Muttergottes als Schutzmantelmadonna und besonderer Pestheiliger, vor allem des hl. Sebastian. In den späteren Pestwellen kamen der 1450 heiliggesprochene Bernardin von Siena und der − amtlich nie kanonisierte − hl. Rochus (S. Rocco) hinzu, der einer der volkstümlichsten Heiligen wurde und sich oft unter die 14 Nothelfer eingereiht fand. S. Rocco, dem in Italien bis heute rund 3.000 Kirchen und Kapellen geweiht sind, wurde durch zahllose Bildwerke und Altäre geehrt und war der Patron von Bruderschaften wie der im 15. Jahrhundert errichteten venezianischen Arciconfraternità oder der 1499 päpstlich bestätigten römischen Erzbruderschaft Scuola di S. Rocco. Auch in Deutschland verehrt, wurde dem hl. Rochus 1689 die nach einem Pestausbruch in Bingen am Rhein 1666 errichtete Rochuskapelle auf dem Bergrücken über Bingen geweiht, deren Prozession Goethe mit seinem Essay Sankt-Rochus-Fest zu Bingen ein Denkmal gesetzt hat.11 Pestaltäre, Pestbilder, Peststiftungen − in Italien häufiger als in Deutschland − kamen hinzu, auch Prozessionsfahnen wie das Pestbanner von 1464 in S. Francesco al Prato in Perugia. Die religiöse Wahrnehmung der Zeit erblickte in der Pest ein Strafgericht Gottes und in der Sittenverderbnis der Menschen den Grund für den Zorn Gottes. So sah es der Bischof von Würzburg, Albrecht von Hohenlohe, der während des Schwarzen Todes in einem Hirtenbrief an den Klerus seiner Diözese Pest und Tod als Strafe Gottes für Fluchen und Blasphemie erklärte; so sah es der Bischof William Edendon von Winchester in England, für den die Pest Strafe Gottes war, der aber fürchtete, dass die Menschen sich kaum bessern würden; so sah es der Regensburger Domherr Konrad von Megenberg, und so sahen es zahllose Gläubige. Auch Muslime teilten die Wahrnehmung der Pest als Strafe Gottes. Zumindest überliefern christliche Geschichtsschreiber die Absicht vom Schwarzen Tod bedrohter spanischer Muslime, zum Christentum zu konvertieren, weil sie die Pest für eine Strafe Gottes für ihren Glauben hielten. „Als sie aber bemerkten, dass die Pest auch die Christen ereilt hatte, gaben sie ihre guten Vorsätze auf und kehrten zu ihrer (alten) Religion zurück.“12 Auch Petrarca teilte die Sicht. Der Intellektuelle Petrarca sah aber auch noch etwas anderes, das über die religiöse Wahrnehmung hinausführte und zu seiner Diagnose der Vergreisung der Kultur und Gesellschaft seiner Zeit beitrug: „mundus iam senescens“13 (schon altert die Welt). Er wünschte, so heißt es in seiner Autobiographie, „in jedem anderen Zeitalter geboren zu sein, und um die Gegenwart zu vergessen, suchte ich mich im Geist in andere Epochen zu versetzen“14. Weil die Pest als Strafe Gottes für den Sittenverfall der Menschen angesehen wurde, erließen die Obrigkeiten Anordnungen mit dem Verbot all jener Verhaltensweisen, von denen man annahm, dass sie den Zorn Gottes geweckt hätten:
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Sonntagsarbeit, Fluchen, Prostitution, Glücksspiel, Kleiderluxus usw. Das Glücksspiel wurde verboten, so 1348 in Siena, als die Pest in dieser Stadt ihren Höhepunkt erreichte, wie man in Deutschland dem Kleiderluxus − Ausdruck sündigen Hochmuts (superbia) − durch Kleiderordnungen zu begegnen suchte. Hier begann, was mit den Polizeiordnungen späterer Zeiten zu Instrumenten der Sozialdisziplinierung wurde. Mit der religiösen Wahrnehmung der Pest hingen die Geißlerzüge zusammen. Auch wenn es sie schon vor dem Schwarzen Tod gab, so war die Angst vor der Pest doch Auslöser der Flagellantenbewegung von 1348 und 1349. In Gruppen von mehreren Hundert Männern zogen die Geißler oder Flagellanten 33 Tage und einen halben Tag lang, getreu der Zahl der Lebensjahre Jesu, in strenger Ordnung barfuß und mit Lumpen bekleidet singend durch das Land, wobei sie sich − Ausdruck von Buße in der Imitatio Christi und Nachahmung der Geißelung Jesu vor der Kreuzigung − mit Geißeln, einer Art Peitsche mit scharfen eisernen Stacheln, blutig schlugen. Höhepunkt eines Geißlerzuges war die Geißlerpredigt mit dem Ruf zu Buße und Umkehr. Zu ihrer Haltung absoluter Bußbereitschaft gehörte es, dass die Geißler die Pesttoten begruben, als niemand mehr wagte, die Leichen zu berühren. Es scheint jedoch, dass die Geißlerzüge auch zur Verbreitung der Pest beitrugen. Anfangs von der Kirche geduldet, aber schon bald unter Häresieverdacht, wurde mit der Bulle Inter sollicitudines von Clemens VI. 1349 der Bann über die Geißler ausgesprochen. Unter den Geißlern kamen chiliastischapokalyptische Vorstellungen vor, nach denen der Wiederkunft Christi ein Tausendjähriges Reich voraufgehen werde, vor dessen Anbruch der Antichrist herrsche. Die Ankunft des Antichrist sollte sich durch schreckliche Plagen ankündigen, was man mit der Pest verwirklicht sah. Die Geißler waren eine sich zunehmend radikalisierende laikale − antiklerikale − Bußbewegung, hinter der das existentielle Bedürfnis stand, sich der Gnade Gottes zu versichern, verbunden mit Unzufriedenheit mit der kirchlichen Sakramentsverwaltung. Diese Unzufriedenheit wurde durch den Schwarzen Tod und durch das − menschlich verständliche − Verhalten von Teilen der Geistlichkeit gesteigert und wird bisweilen als „Krise des europäischen Klerus“15 bezeichnet. Priester waren der Gefahr der Infektion mit dem Pesterreger besonders ausgesetzt, wenn sie sterbenden Pestkranken das Sterbesakrament spendeten. Litt der Kranke an der Lungenpest, gab es keinen Schutz vor tödlicher Ansteckung. Doch war nicht der gesamte Klerus betroffen, sondern nur der einfache Seelsorgeklerus, vor allem Kapläne und Bettelmönche. Die Pfründeninhaber, also die Pfarrer, konnten sich wie Domkapitulare, Stiftsherren und Bischöfe der Gefährdung entziehen. Aber es gab auch unter Bischöfen und Domherren Pestopfer − in Marseille erlag, zeitgenössischen Berichten zufolge, während des Schwarzen Todes das gesamte Domkapitel der Pest, der an der Kurie in Avignon 14 bis 20 Prozent der Kurialbediensteten zum Opfer fielen;16 in England starben die Erzbischöfe von Canterbury John Stratford, John Offord und Thomas Bradwardine, in
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Frankreich der Bischof von Bayeux. Die Bettelmönche oder Mendikanten lebten in den Städten, teilten die Infektionsgefahr der Stadtbevölkerung, reichten das Sterbesakrament und übten, waren sie Franziskaner oder Augustiner-Eremiten, neben der Seelsorge auch noch die Krankenpflege aus. Extrem hoch war die Infektionsgefahr der Nonnen, oft Franziskanerinnen, die in der Krankenpflege tätig und ständig in Kontakt mit Pestkranken und Sterbenden waren. Hingegen lebten die Mönche in einer abgelegenen Benediktinerabtei sicherer, sofern die Pest nicht von außen in ihren Konvent eingeschleppt wurde. Die Zahl der Todesopfer im Weltklerus ist nicht einmal annähernd zu ermitteln. Am ehesten möglich ist das dank bischöflicher Register in England, die aber nur den bepfründeten Pfarrklerus erfassen. Für diesen lassen sich die Verluste mit etwa 40 Prozent beziffern. Besser bekannt sind die Verluste des Ordensklerus. In Magdeburg starben acht von elf Franziskanern, in Disentis acht von elf Benediktinern, in Messina 30 von 60 Franziskanern und in Neapel 20 von 50 Klarissen. In Montpellier erlagen 133 von 140 Dominikanern der Pest, in Perpignan vier von elf Karmeliten und 15 von 20 Augustiner-Eremiten, 15 von 20 Dominikanern und acht von 15 Franziskanern.17 In Piacenza starben 23 Dominikaner − die Zahl der Überlebenden ist nicht bekannt −, 25 Franziskaner und sieben Karmeliten, in Avignon wurden die Klöster der Karmeliten, 66 Brüder, und der Augustiner-Eremiten von der Pest ausgelöscht. In Bath übertrug der Bischof, Ralph von Shrewsbury, 1349 die Beichte Laien und sogar Frauen. Das bischöfliche Schreiben18 lässt offen, ob Laien und Frauen auch die Spendung des Bußsakraments gestattet wurde. Doch soll Ralph von Shrewsbury Laien in der Spendung des Sterbesakraments unterwiesen haben. Das Altarsakrament übertrug er den Diakonen und verfügte für das Sterbesakrament, dass, wenn kein Priester dafür zur Verfügung stehe, der Glaube das Sakrament ersetze. Solche Regelungen waren aus der Not geboren, kamen aber spiritualistischen Auffassungen nahe und schufen Präzedenzfälle, die antiklerikalen Bestrebungen Argumente liefern und auf die sich Reformbewegungen berufen konnten. Ähnlich wirkte es, wenn Laienbruderschaften wie die venezianische Scuola della Carità für Pestkranke tätig waren, während sich Priester in Sicherheit brachten. Maßnahmen wie in Bath und das Verhalten jenes Teils des Klerus, der sich der seelsorgerlichen Pflichten aus Angst um das eigene Leben entzog, hatten einen Glaubwürdigkeitsverlust des Klerus zur Folge, der durch Missstände in der Geistlichkeit, nicht zuletzt aufgrund von Notordinationen Ungeeigneter als Folge des pestbedingten Priestermangels, verstärkt wurde. So stand der Schwarze Tod am Beginn eines Zeitalters der Reform, das als Bewegung der Observanz, der Rückbesinnung auf die alten Ordensideale, in den Bettelorden begann, zu dem aber auch John Wiclif zu rechnen ist, der, um 1320 geboren, der Generation des Schwarzen Todes angehörte. Niemand vermag die Zahl der Opfer der Pest der Jahre von 1347 bis 1352 genau zu beziffern. Dazu fehlen Quellen. Selbst in Bremen, wo der Rat der Stadt
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genaue Erhebungen anzustellen suchte und 6.966 Todesopfer ermittelte, wurden die nicht identifizierten Toten, vorwiegend aus dem Armutsmilieu, nicht erfasst. Außerdem ist die Einwohnerzahl Bremens vor dem Schwarzen Tod − 10.000 oder 20.000 Menschen? − nicht bekannt. Die Schätzungen der Pestopfer in Bremen schwanken deshalb zwischen 60 bis 80 Prozent und 35 bis 40 Prozent.19 Ganz unklar ist das Ausmaß der pestbedingten Sterblichkeit außerhalb der Städte auf dem Lande. Nach den heute überwiegend akzeptierten Opferzahlen starb zwischen 1347 und 1350 etwa ein Drittel der Bevölkerung Europas an der Pest, doch findet diese Einschätzung neuerdings bei Manfred Vasold Widerspruch,20 der den Beginn des Bevölkerungsrückgangs schon vor 1348 ansetzt und dafür die Hungerkrise nach 1315 verantwortlich macht. Es gab auch fast ganz verschonte Gebiete − Teile Frankens mit Nürnberg und Würzburg, das südliche Bayern, Böhmen mit Prag, Teile Brabants und des Hennegaus, verschiedene Gegenden in Zentralfrankreich, Schlesien, Südpolen oder Schottland. Die größten Opferzahlen gab es in Italien, die hier bei 30 bis 50 Prozent − mit deutlich höheren Verlusten in einzelnen Städten wie Florenz, Genua oder Venedig − lagen, während sie in Oxford 43 Prozent erreichten. Für Siena werden etwa 50 Prozent, für die östliche Normandie etwa 30 Prozent, für London zwischen 25 und 30 Prozent und für ganz England 30 bis 35 Prozent pestbedingter Bevölkerungsverlust genannt. Nach der Mitte des 14. Jahrhunderts blieb die Pest bis ins 18. Jahrhundert eine Geißel Europas, doch anders als der Schwarze Tod der Jahre 1347 bis 1352 erfassten die späteren Pestwellen immer nur einzelne Länder. In Köln lassen sich zwischen 1350 und 1600 27 Pestausbrüche nachweisen, vor allem zwischen 1450 und 1540. In Augsburg gab es in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts acht Pestjahre mit zusammen rund 38.000, in der zweiten sieben Pestjahre mit rund 20.000 und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts neun Pestjahre mit zusammen ungefähr 34.000 Toten.21 Das Jahr 1628 brachte in Augsburg „mit über 9.000 Toten die größten Bevölkerungsverluste in der Geschichte der Stadt“22. In London gab es 1563: 23.660, 1593: 25.886, 1603: 42.945, 1625: 63.001 und 1665: 97.306 Todesfälle, wobei die Pest in 70 bis 90 Prozent dieser Sterbefälle Todesursache war.23 Die Pest in London von 1665 hat Daniel Defoe in seinem A Journal of the Plague Year of London von 1722 geschildet. Norditalien, das 1576/77 mit über 100.000 Toten in den vier wichtigsten Städten, darunter Venedig, von der Pest heimgesucht wurde, büßte durch die Pest von 1630 in den größeren Städten 25 bis 30 Prozent und auf dem Lande etwa 30 Prozent seiner Bevölkerung ein.24 In Hildesheim, wo die Pest in dieser Zeit alle fünf bis zehn Jahre auftrat, muss für 1609 ein Verlust von einem Viertel der Bevölkerung angenommen werden. Bisweilen handelte es sich um andere Epidemien, etwa um Fleckfieber. In Deutschland war die Pest Begleiterin des Dreißigjährigen Krieges. In Westfalen setzte 1635 eine Pestwelle ein, die bis 1637 anhielt. In Dortmund stieg die Zahl der Todesfälle auf das Vier- bis Fünffache der normalen Sterblichkeit. Seit der Mitte
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des 17. Jahrhunderts schwächten sich die Pestepidemien jedoch ab, um seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts − nach einem Pestausbruch 1720 in Marseille − in Europa fast ganz zu erlöschen. Bevölkerungszahlen und Bevölkerungsgeschichte Um 1340 lebten in Europa einschließlich Russlands wahrscheinlich etwa 73,5 Millionen Menschen. Um 1450 waren es noch rund 50 Millionen. Auch wenn der Bevölkerungsrückgang nicht nur der Pest angelastet werden kann, so bleibt ein Zusammenhang. Mit der Abschwächung der Pestepidemien im Laufe des 16. Jahrhunderts trat wieder ein Aufwärtstrend der Bevölkerungsentwicklung ein. Während für die Zeit um 1500 für die Iberische Halbinsel eine Bevölkerung von 7,8 Millionen25 angenommen wird, sind für Italien 10,5, für Frankreich im heutigen Umfang ohne das Elsass 16,4, für Deutschland ohne Österreich, Böhmen und die Schweiz 12, für die Britischen Inseln 3,9, für die Niederlande (Belgien, Niederlande, Luxemburg) 2,226 und für Europa insgesamt deutlich mehr als 60,927 bzw. weniger als 81,8 Millionen28 Menschen wahrscheinlich. Bis 1550 stieg die Bevölkerung auf der Iberischen Halbinsel anscheinend von 7,8 auf 8,6, in Italien von 10,5 auf 11,4, in Frankreich von 16,4 auf 19, in Deutschland von 12 auf 14 und auf den Britischen Inseln von 3,9 auf 4,9 Millionen, wobei England bzw. die Britischen Inseln einschließlich Irlands die höchste Wachstumsrate aufwiesen, wenn auch auf relativ flachem Niveau. Das setzte sich zwischen 1550 und 1600 fort. 1600 hatte die Iberische Halbinsel wahrscheinlich eine Bevölkerung von 9,2 Millionen.29 Auf Italien entfielen 1600 wohl 13,1,30 auf Frankreich 2031 und auf Deutschland 16 Millionen.32 England, Schottland und Irland hatten rund 6,2 Millionen Einwohner.33 Von 1500 bis 1600 lag die Bevölkerungszunahme in Spanien und Portugal wohl bei 17,9 Prozent, in Italien bei 24,8, in Frankreich bei 22, in Deutschland bei 33,3 und in England mit Schottland und Irland bei 59 Prozent. 1650 hatten die iberischen Königreiche zusammen eine Bevölkerung von etwa 8,3 Millionen, wovon 7,1 − nach 8,1 1600 − auf Spanien und 1,2 − nach 1,1 Millionen 1600 − auf Portugal entfielen. Die Bevölkerung Spaniens war 1650 seit 1600 um 12,3 Prozent zurückgegangen, die Portugals dagegen um neun Prozent gewachsen. Daran ist der allmähliche Niedergang Spaniens ablesbar, auch wenn bis 1700 wieder eine Zunahme auf 7,5 Millionen erfolgte. Einen Bevölkerungsrückgang verzeichnete auch Italien mit 1650 etwa 11,3 Millionen. Bis 1700 erreichte die Bevölkerung Italiens mit 13,3 Millionen aber wieder den Stand von 1600. Frankreich kam 1650 auf etwa 20,5 und 1700 auf 22 Millionen und damit auf eine deutlich höhere Einwohnerzahl als Spanien (7,5), Italien (13,3), Deutschland (15) oder England (5,2). England, Schottland und Irland hatten 1650 rund 8 Millionen Einwohner. Auf England entfielen 1600 4,2 und 1650 5,5 Millionen, womit das Bevölkerungswachstum in England besonders hoch war, bevor ein
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leichter Rückgang eintrat. 1700 hatte England noch 5,2 Millionen Einwohner. In den Niederlanden − im Sinne des heutigen Königreichs − wuchs die Bevölkerung von 0,95 Millionen 1500 über 1,25 Millionen 1550 und 1,5 Millionen 1600 auf 1,9 Millionen 1650, ohne bis 1700 weiterzuwachsen. In Österreich − im Sinne der heutigen Republik − hatte der Schwarze Tod große Bevölkerungsverluste gebracht, bevor das 15. Jahrhundert mit den Hussitenkriegen und den ersten Vorstößen der Türken in die Steiermark, besonders in Niederösterreich und der Oststeiermark, zum Rückgang des hochmittelalterlichen Siedlungsbestandes und zu Wüstungen führte. Um 1527 lebten in Österreich rund 1,5 Millionen Menschen. Das weitere 16. Jahrhundert brachte, abgesehen von Menschenverlusten in Gebieten türkischer Invasion im östlichen Niederösterreich und im damals zu Ungarn gehörenden Burgenland, eine Bevölkerungszunahme, die bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges anhielt. 1618 war die Bevölkerung auf etwa 1,9 Millionen angewachsen. Der zwischen 1633 und 1636 sowie 1645/47 mit Pestwellen verbundene Dreißigjährige Krieg mit Schwedeneinfällen in Niederösterreich und Vorarlberg, aber auch die Auswanderung protestantischer Bevölkerungsteile dezimierten die Bevölkerung, die auch nach dem Westfälischen Frieden, u. a. wegen einer neuen Pestwelle 1678/79 und wegen der türkischen Invasion 1683, nur geringfügig wuchs und um 1700 bei rund 2,1 Millionen lag.34 Den stärksten Bevölkerungsverlust gab es in Deutschland, das 1650 von etwa 12 Millionen Menschen bewohnt wurde und somit auf den Stand von 1500 zurückgefallen war. Bis 1700 war mit 15 Millionen der Stand von 1600 noch nicht wieder erreicht. Hier werden die Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges und der ihn begleitenden Pest sichtbar, auch wenn man die Bevölkerungsverluste heute − wegen regionaler Unterschiede und der schon vor 1618 registrierbaren Stagnations- bzw. Rückgangserscheinungen − zurückhaltender als früher beurteilt. Als Hauptzerstörungebiete mit großen Menschenverlusten gelten die Magdeburger Gegend, die Kurpfalz, Hessen und Württemberg, Teile Frankens und Bayerns und das Saarland. Von den großen Städten wurden Magdeburg und Augsburg am härtesten getroffen, während im Allgemeinen vor allem die Landbevölkerung zu leiden hatte. Für manche Dörfer der Magdeburger Börde wird der Bevölkerungsverlust durch unmittelbare Kriegshandlungen und durch Hunger, Pest und andere Seuchen mit etwa 70 Prozent beziffert.35 Im Rheinland wurde die Bevölkerungsentwicklung durch den Krieg kaum beeinträchtigt und das Wirtschaftsleben nicht wesentlich gestört. Die vorindustrielle Bevölkerungsweise Es war nicht nur das Aufhören der Pest bald nach 1700, wodurch die Demographic Revolution ausgelöst wurde, d. h. das Bevölkerungswachstum, das in Europa vom 18. Jahrhundert bis etwa 1914 anhielt. Hinzu kam ein Systemwechsel des Bevölkerungsgeschehens, den der Soziologe Gerhard Mackenrodt schon 1953 als
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Wandel von der Bevölkerungsweise des vorindustriellen Europa zur industriellen Bevölkerungsweise36 bezeichnet hat. Es geht dabei um den in jeder Gesellschaft begrenzten Nahrungsspielraum und darum, wie eine Gesellschaft ihre Fruchtbarkeit, ihre Fortpflanzung oder ihr generatives Verhalten der Begrenztheit der natürlichen und sozialen Ressourcen anpasst. Das Nahrungsprinzip stand hinter den Heiratsverboten der vorindustriellen Gesellschaft und hinter den ihr eigenen Formen der Geburtenregulierung. Man kann von einem auto-regulativen Fortpflanzungsverhalten sprechen, das sich an der nicht beliebig vermehrbaren Zahl der Nahrungsstellen orientierte, d. h. am Vorhandensein oder Fehlen einer die Existenz einer Familie materiell ermöglichenden Stelle, etwa eines Bauernhofes oder eines Handwerkerbetriebes. Wer keine Vollerwerbsstelle besaß, der war, wenn das Nahrungsprinzip beachtet wurde, von ehelicher − legitimer − Fortpflanzung ausgeschlossen, während außereheliche − illegitime − Fortpflanzung tabuisiert war, als Gegenstand der Kirchenzucht der Bestrafung unterlag und − besonders seit dem 16. Jahrhundert − vor allem für die Frauen und die Kinder sozial diskriminierend wirkte, auch wenn päpstliche Dispense vom Makel der illegitimen Geburt reinigen und so auch unehelich Geborenen den Weg ins Priesteramt öffnen konnten. Heiratshäufigkeit und Heiratsalter, besonders der Frauen, waren die Variablen, mit deren Hilfe die Anpassung an den begrenzten Nahrungsspielraum erfolgte, während die Fruchtbarkeit in den einmal geschlossenen Ehen die Konstante bildete. Damit unterschied sich die Bevölkerungsweise des vorindustriellen Europa grundlegend von der industriellen Bevölkerungsweise, in der Heiratshäufigkeit und Heiratsalter nahezu konstante Faktoren wurden, während die Fruchtbarkeit in den Ehen als Variable die Geburtenhäufigkeit und damit die Kinderzahl regulierte. Für sozialgeschichtliche Forschungen zur Geschichte der Familie bieten das 15. und 16. Jahrhundert wegen der nur spärlich verfügbaren Quellen größere Schwierigkeiten als das 18. oder 19. Jahrhundert. Dennoch scheint sicher, dass das am Nahrungsprinzip orientierte Heiratsverhalten − und das über das Heiratsverhalten regulierte Fortpflanzungsverhalten − durch den Bevölkerungsanstieg des 16. Jahrhunderts und die Preis-Lohn-Entwicklung der Zeit große Bedeutung erlangte, während die vorindustrielle Bevölkerungsweise, vor allem durch Nichtbeachtung oder Lockerung der Heiratsverbote, im 18. Jahrhundert bereits durchlöchert war, was zu dem im 18. Jahrhundert einsetzenden starken Bevölkerungswachstum beitrug. Städtewesen Von wenigen verstädterten Regionen in Flandern oder Italien, später auch in Holland, abgesehen, lebten die meisten Menschen im 15., 16. und 17. Jahrhundert auf dem Lande. Dabei waren die Städte kaum weniger zahlreich als heute. Die Mehrzahl der Städte war, abgesehen von den seit der Antike bestehenden städtischen
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Siedlungen vor allem in Italien oder im Süden Frankreichs, im Hoch- oder Spätmittelalter entstanden. Für Deutschland unterschied Heinz Stoob die bis etwa 1150 entstandenen Mutterstädte, die bis um 1250 gegründeten Gründungsstädte, die nach etwa 1250 entstandenen Kleinstädte und die auf die Zeit zwischen 1300 und 1450 zurückgehenden Minderstädte. Für die Zeit zwischen etwa 1450 und dem 19. Jahrhundert sprach er vom Städtetal, in dem es nur noch zu wenigen Städtegründungen kam. Zu Beginn des Städtetals gab es in Deutschland etwa 3.000 Städte, deren Einwohnerzahl jedoch weit kleiner war als die heutiger Städte. Eine Stadt mit 20.000 Einwohnern war eine Großstadt. Viele Städte hatten nur etwa 1.000 oder auch nur 600 oder 700 Einwohner. Der städtische Charakter einer Siedlung hing nicht an der Bevölkerungszahl. Es gab Dörfer, die größer waren als Städte. Man kann eine Stadt juristisch, topographisch oder sozio-ökonomisch definieren. Entscheidend war der juristische Stadtbegriff − Stadt als ein sich durch ihren Stadtrat selbst verwaltendes Gemeinwesen. Damit hing die Ausbildung des Bürgertums zusammen, das sich von Bauern ebenso abhob wie von Adeligen und von Klerikern. Den höchsten Grad an Selbstverwaltung besaßen autonome Städte, wie sie in Italien als Stadtrepubliken wie Venedig oder Genua und in Deutschland als Reichsstädte wie Augsburg, Nürnberg, Frankfurt am Main oder Köln begegnen. Das waren Großstädte, doch konnte eine autonome Stadt als Reichsstadt auch winzig sein. Städte wie Paris, Neapel oder Wien waren keine autonomen Städte, sondern standen unter dem König oder Herrscher. Reichsstädte hatten nur den Kaiser über sich, was nicht dasselbe war. Um 1500 waren Konstantinopel, Paris und Neapel mit 150.000 bis 200.000 Einwohnern die größten Städte Europas. Im Laufe des 16. Jahrhunderts erreichten sie 200.000 bis 400.000 Einwohner.37 Darauf folgten um 1500 Venedig und Mailand mit 100.000 bis 150.000 sowie Córdoba, Sevilla und Granada, Florenz und Genua mit 60.000 bis 100.000 Einwohnern. Das zeigt die Bedeutung Italiens und der italienischen Städte zu Beginn des 16. Jahrhunderts, auch wenn das päpstliche Rom nur der Gruppe der Städte mit 40.000 bis 60.000 Einwohnern angehörte, ebenso wie Köln und Augsburg, Antwerpen, Gent und London. Keine deutsche Stadt hatte mehr als 60.000 Einwohner. So wird an diesen Zahlen ablesbar, dass der Rückstand Deutschlands schon um 1500 eingesetzt hatte. Um 1600 bildeten Konstantinopel, Neapel und Paris noch immer die Spitzengruppe mit 200.000 bis 400.000 Einwohnern, doch war London jetzt in die Gruppe der Städte mit 150.000 bis 200.000 Einwohnern vorgestoßen, gefolgt von Mailand und Venedig und dem ebenfalls aufgestiegenen Rom, das wie Amsterdam, der spanische Überseehafen Sevilla, Lissabon, Palermo und Antwerpen 100.000 bis 150.000 Einwohner hatte. Die deutschen Städte waren weit abgeschlagen. Die größten, Hamburg, Augsburg, Wien, Nürnberg und Köln, hatten 40.000 bis 60.000 Einwohner. Im 17. Jahrhundert setzte sich der Aufstieg Londons fort, das um 1700 mit über 400.000 Einwohnern die größte Stadt Europas war, gefolgt von Paris und Konstantinopel.
Die materiellen Lebensverhältnisse Das ländliche Europa In Europa waren bis an die Schwelle der Industrialisierung rund 90 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft, der Urproduktion, tätig. Mit dem Anstieg der Bevölkerung bildete sich seit dem 16. Jahrhundert eine unterbäuerliche Landbevölkerung aus, die in Deutschland im 18. Jahrhundert eine an die Anzahl der bäuerlichen Bevölkerung heranreichende oder diese übertreffende Größenordnung erreichte. Das waren Landbesitzlose, die allenfalls ein gepachtetes kleines Landstück bewirtschafteten, ihren Broterwerb aber in gewerblicher Produktion in Heimarbeit, im Fuhrwesen, als Hausierer oder als Wanderarbeiter fanden. Als Heimarbeit kamen Flachsspinnerei und Leinenweberei, aber auch Holzschuhmacherei oder Korbflechterei vor. In Deutschland waren das die Beilieger, Heuerlinge, Häusler, Büdner, Inmannen, Söldner oder Wurtsassen − die Namen deuten an, dass sie als Mieter auf den Höfen der Bauern lebten −, in Frankreich die journaliers (Tagelöhner), die Eigentümer oder Mieter eines Hauses und eines Gartens waren, oder die closiers, die eine winzige Bauernstelle oder einen Garten, eine closerie, innehatten, und unter denen die Armen, les pauvres, standen, in Polen die chałupniki, benannt nach ihrer elenden Hütte (chałupa, chałupisko), und die zagrodniki. Die Landwirtschaft war auf die Körperkraft von Menschen und Tieren angewiesen, kannte noch keinen künstlichen Dünger und befolgte die überkommenen Anbaumethoden der Dreifelder- oder Zweifelderwirtschaft, denen im Norden Frankreichs die rotation triennale und im Süden die rotation biennale entsprachen. Die Bodenerträge waren gering. Das Verhältnis von Aussaat und Ernte betrug, von begünstigten Gebieten abgesehen, nur etwa 1:4 oder 1:5. Die Landwirtschaft war äußerst klima- und krisenabhängig. Geringfügige Wetterunregelmäßigkeiten wie späte Fröste, starke Regenfälle, Hagelschläge, zu feuchte oder zu trockene Sommer oder der Befall der Ackerpflanzen durch Insekten oder Mikroorganismen führten zu Ernteeinbrüchen oder Missernten. Auch wenn einige Hundert Kilometer entfernt die Ernten gut waren, machte das Verkehrs- und Transportwesen, besonders im Binnenland abseits schiffbarer Flüsse, eine Versorgung der Mangelregionen kaum möglich. Nur Küstenländer konnten sich große Getreidezufuhren sichern. Ernteeinbrüche führten zu extremen Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel − vor der in Deutschland im 18. Jahrhundert und in Frankreich erst nach der Revolution erfolgten Einführung der Kartoffel als Massennahrungsmittel waren dies vor allem Getreideprodukte. Die
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Folge waren Hungersnöte, die neben dem Verhungern von Menschen zur Schwächung der Widerstandskraft gegen Krankheiten wie Typhus oder Grippe führten. Man unterscheidet die durch Ernteausfälle bedingten Hungerkrisen als Krisen vom type ancien von den durch Konjunktureinbrüche hervorgerufenen Hungerkrisen des beginnenden Industriezeitalters und bezeichnet für Mitteleuropa die Hungerkrise von 1816/17 als letzte Hungerkrise alten Typs. Die schwerwiegendsten Hungerkrisen nach denen des Mittelalters waren die von 1571 bis 1574 und von 1771 bis 1772. In der Hungerkrise der Jahre 1571 bis 1574 stiegen im Binnenland von Frankreich bis Polen die Preise, gemessen am Jahresdurchschnitt, auf das Vier- und Mehrfache der Niedrigstpreise, während sie in Hafenstädten wie Danzig oder London nur etwa das Doppelte des Ausgangsstandes erreichten.38 Die Steigerung der Lebensmittelpreise führte in eine Mortalitätskrise. Während in Augsburg 1569, also vor dem Hunger, 1.398 Todesfälle 1.838 Geburten gegenüberstanden, erreichten die Todesfälle 1572 mit 3.305 mehr als das Doppelte der auf 1.634 zurückgegangenen Geburten.39 Auch Suizid und Kindsmord traten als Verzweiflungstaten verstärkt auf. Das Leben war von materieller Unsicherheit geprägt und von der steten Gefahr des Hungers und der Seuchen bedroht. Trotz exorbitanten Luxuskonsums an den Spitzen der gesellschaftlichen Hierarchie in Adel, Kirche und städtischer Führungsschicht galt diese Bedrohung der materiellen Lebenssituation grundsätzlich für alle Menschen. Für die Masse der Bevölkerung bestand immer die Gefahr des Absinkens in wirkliche Armut. Darunter gab es eine in Krisenzeiten rasch wachsende Schicht dauernd Armer, vor allem Kranke und Arbeitsunfähige, Krüppel, Witwen und Waisen. Im 16. Jahrhundert verschlechterten sich die materiellen Lebensbedingungen aufgrund der Wirtschaftsentwicklung. Das ist an den Ernährungsgewohnheiten und am Fleischkonsum ablesbar. Hatte dieser im Spätmittelalter in Deutschland im Durchschnitt auf dem heutigen Niveau und teilweise darüber gelegen, so zwang der Rückgang des Geldwerts zur Einschränkung des Fleischgenusses und zu verstärktem Verzehr von nährwertreicheren Nahrungsmitteln pflanzlicher Herkunft, insbesondere von Brot und anderen Mehlspeisen. Die Menschen lebten nicht so statisch und ortsfest, wie das ein überholtes Geschichtsbild wahrhaben will. Viele waren in Bewegung und unterwegs von einem Ort zum anderen. Das gilt nicht nur für wandernde Studenten, Gelehrte und Handwerksgesellen, für Kleriker und Pilger, die die Apostelgräber in Rom, die heiligen Stätten in Palästina oder Wallfahrtsorte wie das spanische Santiago de Compostela aufsuchten, nicht nur für Fürsten, Adelige und Soldaten oder für Kaufleute, die zu Messen reisten, sondern auch für gesellschaftliche Außenseiter, Randständige, Bettler, Landstreicher und Vagabunden. Ein gravierendes Problem bildeten entwurzelte Arme, die im England des 16. Jahrhunderts in Bettlerscharen durchs Land zogen, bis dem durch das Poor Rate Law von 1572 mit Maß-
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nahmen der Armenfürsorge begegnet werden sollte. Daneben gab es die Migration durch Abwanderung aus ländlichen Lebenssphären in die nächste Stadt, durch Weiterwanderung von einer Stadt in eine andere und durch Wanderarbeit wie die Hollandgängerei in Westfalen. Dazu kamen Wanderhändlertum und Hausiererei. Die Antriebskraft der Wanderströme war der prekäre Nahrungsspielraum, das Fehlen einer ausreichenden Existenzgrundlage für alle. Was dem einen ein Verbleiben am Ort seiner Geburt ermöglichte, das zwang den anderen seit der Zunahme der Bevölkerung und dem Zurücktreten der Pesteinbrüche zur Abwanderung. Den Zwängen des Nahrungsspielraums unterlagen alle Menschen von den Unterschichten in Stadt und Land bis zu den führenden Adelsfamilien. Auf dem Lande kannte man in weiten Teilen Europas die Allmende − in Frankreich les communaux, in England the common lands −, d. h. das Land in Gemeinbesitz. Schon im Mittelalter setzten Versuche ein, die Nutzung der Allmende einem begrenzten Kreis Nutzungsberechtigter, den Inhabern alter Hofstätten und damit alteingesessenen Familien, vorzubehalten und Neuankömmlingen zu verwehren. Beim Adel, soweit er einigermaßen begütert war, spielte weniger die Nahrungsgrundlage als solche eine Rolle, sondern die standesgemäße Nahrungsgrundlage. Für den Adel standen zwei Grundsätze im Widerstreit, der Grundsatz, das Aussterben der Familie zu verhindern, dem im adeligen Wertesystem große Bedeutung zukam, und der Grundsatz, den Verlust der wirtschaftlichen Basis zu vermeiden, von der ein standesgemäßes Leben abhängig war. Der erste Grundsatz verlangte eine große Kinderzahl, während der zweite nur bei kleiner Kinderzahl zu verwirklichen war, weil Kinder, wenn sie heirateten, für ein standesgemäßes Leben mit Adelssitzen oder Teilen des Familienbesitzes ausgestattet werden mussten. Dadurch konnte eine Adelsfamilie wirtschaftlich ruiniert werden. Der Fortbestand der Familie war aber nur bei zahlreichen Kindern, vor allem Söhnen, wahrscheinlich, weil auch im Adel die Kindersterblichkeit hoch war und nur wenige Kinder das heiratsfähige Alter erreichten. Die beiden Grundsätze adeliger Familienplanung schlossen sich aus: Auch bei großer Kinderzahl drohte das Aussterben der Familie, während selbst bei nur drei oder vier Kindern, sofern diese das Erwachsenenalter erreichten und heirateten, eine Besitzschmälerung zu erwarten war. Eine Möglichkeit zur Überwindung dieses Dilemmas fand der Adel, besonders in Deutschland, bei der Kirche mit ihren Bischofsstühlen, Domkapitelspfründen und Stiftskanonikaten, die ganz überwiegend dem Adel vorbehalten und mit der Verpflichtung zur Ehelosigkeit verbunden waren. So konnten Adelsfamilien ihren Familienbesitz in der Hand eines erbenden Sohnes halten, der heiratete und die Familie fortpflanzte, während die anderen Söhne und manche Töchter auf kirchlichen Pfründen standesgemäß leben konnten, aber durch Ehelosigkeit an legitimer Fortpflanzung gehindert waren. Doch konnte einer dieser
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Söhne im Falle eines vorzeitigen Todes des erbenden Bruders oder der Kinderlosigkeit seiner Ehe den geistlichen Stand verlassen − auf seine Pfründe resignieren −, das Erbe übernehmen, eine Ehe eingehen und die Familie fortpflanzen. Die volle Ausbildung dieses Systems erfolgte zwar erst im 17. und 18. Jahrhundert, während im 16. noch häufig Adelsbesitzungen unter alle Söhne aufgeteilt wurden, die Primogeniturerbfolge und das Majorats- oder Fideikommissprinzip also noch nicht voll entwickelt waren. Doch vermochte der Adel schon im 16. Jahrhundert den auch für ihn begrenzten Nahrungsspielraum durch Teilhabe am kirchlichen Pfründensystem auszuweiten. Das erklärt das soziale Interesse des Adels an der Kirche und an den kirchlichen Pfründen, von denen der protestantische Adel bald nur noch begrenzt und schließlich so gut wie gar nicht mehr profitieren konnte. Landwirtschaft wurde nicht nur von Bauern betrieben, sondern auch von Städtern (Ackerbürgerstädte), vom Adel und von Klöstern, soweit Adel oder Klöster Eigenwirtschaftsgüter besaßen und von dienstpflichtigen Bauern bewirtschaften ließen. Die soziale und die rechtliche Stellung der Bauern wies große Differenzierungen auf. In Deutschland lassen sich freie Bauern, leibfreie Bauern und Eigenbehörige oder Leibeigene unterscheiden. Die wenigen freien Bauern hatten keinen Grundherrn und keinen Leibherrn über sich und waren persönlich frei, Eigentümer ihrer Höfe und lediglich dem Landesherrn sowie der Kirche abgabepflichtig. Die leibfreien Bauern waren persönlich frei, aber einem zumeist adeligen oder kirchlichen Grundherrn zu Abgaben und anderen Leistungen verpflichtet. Die Bauern der dritten Kategorie waren unfrei und als Person von einem Leibherrn, als Hofesbesitzer von einem Grundherrn abhängig, wobei Leibherr und Grundherr häufig identisch waren, aber nicht sein mussten. Von diesen Rechtskategorien unabhängig war der ökonomische Status. Neben den Besitzern der großen alten Höfe mit ausgedehnten Ackerflächen und ertragreichen Böden (Voll- oder Halbbeerbte) standen die Besitzer kleinerer Höfe mit schlechteren Böden. Dabei konnte der Bauer mit dem schlechteren Rechtsstatus den größeren Besitz haben, also wohlhabender sein als der Bauer mit dem besseren Rechtsstatus. Häufig waren die freien die armen und kleinen Bauern, während unter den leibeigenen die Inhaber der großen Höfe zu finden waren. Im 16. Jahrhundert trat im Osten Deutschlands eine Verschlechterung der Lage der Bauern ein. Die Abgabenforderungen nahmen zu, die ungemessenen Dienste, also die im zeitlichen Umfang nicht festgelegten Dienstleistungen, breiteten sich aus. Es entstand eine zweite Leibeigenschaft. Durch die Bevölkerungsverluste des 14. und 15. Jahrhunderts waren viele Bauernstellen wüstgefallen. Das ermöglichte dem Adel östlich der Elbe, durch Hinzufügung des Bauernlandes zu seinem Hofland (Bauernlegen) sein direktes Eigentum an landwirtschaftlich nutzbarem Land zu vergrößern, das er von dienstpflichtigen Bauern bewirtschaften ließ. Dagegen blieb die Rechtsstellung der Bauern im Westen und Süden günstiger. Hier bildete sich die Rentengrundherrschaft heraus. Die Bauern besaßen
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ihre Höfe in einem – oft zur Erbpacht gewordenen – Zeitpachtverhältnis und entrichteten den Grundherren als Obereigentümern jährlich Natural- oder Geldabgaben oder beides, während die von den Grundherren zumeist gar nicht benötigten Dienstpflichten in fixierte Abgaben umgewandelt waren. Hinzu kam das nach Ablauf einiger Jahre bei Verlängerung des Pachtvertrages zu entrichtende Gewinn- oder Aufzugsgeld, auch Weinkauf genannt. Dieses Gewinngeld besaß für die Grundherren als Einnahmequelle und für die Bauern als oft drückende Belastung häufig größere Bedeutung als die regelmäßigen Abgaben, weil die Grundherren es von Mal zu Mal erhöhen konnten. Wichtig war daher die Pachtdauer. Für die Eigenbehörigen kam der Sterbfall, das Besthaupt oder das Mortuarium hinzu, eine Abgabe in oft beträchtlicher Höhe, die beim Tod des Hofesbesitzers vom Erben oder Nachfolger an den Leibherrn zu entrichten war. Durch diese unterschiedliche Entwicklung bildete sich in Deutschland der Unterschied zwischen der Gutsherrschaft oder Gutswirtschaft im Osten − in Brandenburg, Pommern, Schlesien, Mecklenburg und im Herzogtum Preußen (Ostpreußen) − und der Grundherrschaft im Westen heraus. Doch gab es gutsherrschaftliche Elemente auch im Westen und grundherrschaftliche im Osten. Der Grundherrschaft in Deutschland entsprach in Frankreich die Seigneurie. Die Eigenwirtschaft der Grundherren war hier schon im Spätmittelalter zurückgegangen. In der Île-de-France, der Normandie, der südlichen Champagne, im Bordelais, in Burgund oder im Lyonnais, aber auch im Hainaut (Hennegau) gab es um 1500 noch seigneuriale Eigenwirtschaftsgüter des Adels oder der Kirche, doch griffen die seigneurs kaum noch auf Frondienste (corvée) zurück. Die Eigenbewirtschaftung des Herrenlandes (terre seigneuriale, grange) wich der Verpachtung (bail à ferme) oder Teilverpachtung (métayage), und die seigneurs waren Rentenempfänger, deren Einkommen aus regelmäßigen Geld- (cent) oder Naturalabgaben (champart, agrière, tâche oder terrage) der Bauern für ihr Bauernland (tenure paysanne oder tenure) und bei der Hofesübergabe (relief, lods et ventes) bestanden. Die Belastung durch diese Abgaben war unterschiedlich. In manchen Gegenden war ein Kopfzins (chevage) zu entrichten. Drückend war die königliche Steuer (taille), zumal dann, wenn sie der Grundherr als taille à volonté willkürlich einzog; drückend konnten auch ungemessene Frondienste (corvée à volonté) sein. Dennoch gingen die Dienstpflichtigkeit (servitude) und die Leibeigenschaft im 16. Jahrhundert allgemein zurück, sofern es um 1500 überhaupt noch Leibeigene (homme de corps) gab. Oft näherten sich die Besitzrechte der Bauern dem Eigentum, wenn auch Abgabe- und Dienstleistungspflichten gegenüber den Grundherren bis zur Revolution bestehen blieben. In der Auvergne und im Midi gab es Bauern, die ihre Höfe zu vollem Eigentum besaßen (franc-alleux). Im 16. Jahrhundert entließen Franz I. und Heinrich II. die Leibeigenen der königlichen Kammergüter aus der Leibeigenschaft. An der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie des ländlichen Frankreich standen, sieht man ab von den weltlichen und geistlichen adeligen Herren, die bäuerlichen Eigentümer, Pächter (fermiers)
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oder Halbpächter (métayers), soweit sie wohlhabend waren. Darauf folgten die Inhaber kleinerer Bauernstellen und darunter die closiers und die journaliers, schließlich die pauvres. Im Königreich Neapel, in der Lombardei und in Venetien, aber auch in Teilen Piemonts oder in der Campagna südlich von Rom gab es ausgeprägte Großgrundbesitzstrukturen. Doch hatte der Adel, außer im Süden, schon im Mittelalter die ländlichen Regionen verlassen und das Leben in den Städten vorgezogen, ohne das Eigentum an den Latifundien aufzugeben. Die Gewinne aus der Landwirtschaft flossen in die Städte und bildeten dort mit Erträgen aus Handels- und Geldgeschäften und mit Einkünften aus kommunalen oder kirchlichen Ämtern die wirtschaftliche Basis des Adels. Zugleich zogen die Städte ländliche Tagelöhner und Arme an, während Grundbesitzerwerbungen durch Städter auf dem Lande, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunahmen, den bäuerlichen Grundbesitz reduzierten und ein wohlhabendes Bauerntum nicht entstehen ließen. Italienische Bauern waren deshalb oft Halbpächter (mezzadro, mezzajuolo), wenn nicht Tagelöhner (mercenario, operario). In den Bergregionen des Apennin gab es, wie auf Sardinien, eine isoliert lebende Gesellschaft von Hirten und Kleinbauern. Charakteristisch für Italien und andere Teile der mediterranen Welt war die Transhumanz, bei der riesige Viehherden, vor allem Schafe, in jahreszeitlichen Rhythmen zwischen Weideregionen wechselten, während Ackerbau kaum betrieben wurde. Das galt vor allem für Teile der römischen Campagna oder Apuliens. Herdenwanderung gibt es auch heute noch, vor allem im Alpenraum mit dem Almauftrieb des Rindviehs im Frühsommer und dem Almabtrieb im beginnenden Herbst. Herdenwanderung gab es in Westfalen, wenn die Schweine zur Eichelmast in die Wälder, die als Marken Allmende waren, getrieben wurden. Herdenwanderung fand auch statt, wenn Rinder in Nordwesteuropa als Schlachtvieh über weitere Entfernungen dem Ort entgegenzogen, an dem sie geschlachtet wurden. Während das eine Wanderung ohne Wiederkehr war, waren bei der Waldmast der Schweine und der alpinen Weidewirtschaft die Entfernungen geringer. Der wichtigste Unterschied zwischen der westfälischen Schweinemast und der mediterranen Transhumanz bestand in der geringeren wirtschaftlichen Bedeutung der Schweinewanderung für die Herkunftsregion der Schweine, die zumeist ertragreichen Ackerbau aufwies. Im Mittel- und Süditalien des 16. Jahrhunderts gab es siedlungsleere und ackerbaulose Landstriche im Besitz von Großgrundbesitzern, die in den Städten lebten, Eigentümer der großen Viehherden waren und im internationalen Wollhandel große Gewinne machten. Der Rückgang des Ackerbaus wurde durch Getreideimporte auf dem Seeweg aus Nord- und Osteuropa ausgeglichen. Auch Bauern, Hirten und Viehzüchter wohnten in Städten und mussten zu ihren Feldern, sofern sie Acker- oder Weinbau betrieben, oder zu ihren Herden oft mehrstündige Wege zurücklegen. Dort, in der Einöde, besaßen sie primitive Übernachtungsmöglichkeiten, die an die
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Hütten der Köhler in den Mittelgebirgen des Nordens erinnern und in Gestalt der Trulli Apuliens im Landstrich um Bari noch heute begegnen. Auch die Iberische Halbinsel kannte die Bevölkerungskonzentration in den Städten, Wüstungen auf dem Land und Transhumanz. In Kastilien und Aragón war die Grundherrschaft des höheren und hohen alten und neuen Adels, des niederen Adels, der Bischofskirchen und großer Klöster verbreitet. Im Süden der Meseta, auf der Hochebene von Neukastilien, konzentrierten sich die als encomienda bezeichneten großen Grundherrschaften der Militär- oder Ritterorden. Die Grundherrschaft, deren Zusammenhalt sich der Adel Kastiliens im 16. Jahrhundert durch Einführung des Majorats (mayorazgo) sicherte, war oft mit Eigenwirtschaftsgütern (cap mas) verbunden. Die Landbevölkerung lebte vielfach in Schollengebundenheit und Leibeigenschaft. Die meisten Bauern waren labradores der großen Grundherren. Mancherorts, so in Katalonien oder in Westandalusien mit seiner durch Bewässerung ertragreichen Landwirtschaft, war ihre Lage günstiger, hingegen in Galicien wegen des dortigen Pachtsystems besonders schlecht. Im 16. Jahrhundert war etwa ein Viertel der Bauern Spaniens Pachtbauern (payeses de remensa), von denen manche zu Wohlstand gelangten. Die größte Gruppe bildeten oft die mittleren Bauern, die kleine Getreideäcker oder Weingärten besaßen, während nach Süden zu die Schicht der Tagelöhner zunahm. Seit dem späteren 16. Jahrhundert setzte die Verarmung der Bauern ein, bedingt durch Steuererhöhungen, militärische Aushebungen und Absatzprobleme. Die Folge war die Landflucht, die im ganzen 17. Jahrhundert anhielt. In Russland standen sich bis ins 15. Jahrhundert freie und unfreie (cholopy) Bauern gegenüber − eine Unterscheidung, die der sudebnik (Gesetzbuch) von 1497 aufrechtzuerhalten suchte, die aber bald eingeebnet wurde. Seit dem 15. Jahrhundert wurde die bäuerliche Freizügigkeit immer mehr eingeschränkt, bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Schollenpflichtigkeit (krepostničestvo) an ihre Stelle trat. Seit dem 17. Jahrhundert waren Bauern und Unfreie faktisch identisch. Die größten Grundherren waren die Klöster, der Adel mit den Bojaren an der Spitze, den die Großfürsten als Gegenleistung für Kriegsdienste mit Erbgütern (votčina) zu vollem Eigentumsrecht ausgestattet hatten, und der kleine Dienstadel, der seine Dienstgüter seit dem späten 15. Jahrhundert nur noch als zeitlich begrenztes Dienstgut (pomest’e) erhielt. Die Hungerkrise von 1601 bis 1603 ließ freie Bauern die Unfreiheit wählen, weil sie sich dadurch den Lebensunterhalt durch die Herren erhoffen konnten. Die Wüstungsperiode seit etwa 1560 brachte für die russischen Bauern nicht nur die Zunahme der Schollenpflichtigkeit, sondern auch der Frondienste (barščina) auf den Eigenwirtschaftsgütern der Herren, bevor die uneingeschränkte Schollenpflichtigkeit durch das Gesetzbuch von 1649 (Sobornoe Uloženie 1649-go goda) normiert wurde. Im 17. Jahrhundert gab es in Zentralrussland fast keine freien Bauern mehr, sondern nur noch Leibeigene (krepostnye ljudi). Nur in Nordrussland war die Lage etwas besser.
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Auch im spätmittelalterlichen England bestand die Grundherrschaft (manor). Doch führten die Bevölkerungsverluste im 15. Jahrhundert zur Lockerung der grundherrschaftlichen Bindungen, womit auch die Leibeigenschaft (villeinage) fast völlig und bald nach 1600 restlos verschwand, während die Bauern schriftliche Fixierungen ihrer Pflichten und Rechte erreichten. Es entstanden die drei Bauerngruppen der copyholders (abhängige Erbpächter mit Abgabeverpflichtungen), der leaseholders (freie Pächter auf Lebenszeit oder auf Zeit mit fixierten Zahlungsverpflichtungen) und der freeholders (freie Bauern mit geringfügigen Rentenzahlungspflichten). Der Bevölkerungszuwachs des 16. Jahrhunderts und die Konjunkturentwicklung führten zu starker sozialer Differenzierung. Es entstand eine Schicht vermögender Bauern, die yeomen, die eine ähnliche Lebensweise wie der niedere Landadel, die gentry, ausbildete. Zugleich sanken arme Bauern zu Landarbeitern ab oder zogen als Bettler durchs Land. Die yeomen konnten rechtlich freeholders, leaseholders oder copyholders sein. Schon in der Zeit des Bevölkerungsrückgangs waren Dörfer wüstgefallen, und verödeter Ackerboden war in Weideland umgewandelt worden. Im 16. Jahrhundert setzte sich diese Entwicklung in vermindertem Umfang fort, indem grundherrschaftliche Eigenwirtschaften durch Einzäunungen (enclosures) und Einziehung von Pachtgut (Bauernlegen) vergrößert wurden. Vielfach wurde das Land als Weideland genutzt, weil die Schaf- und Weidewirtschaft wegen des wachsenden Wollmarkts große Gewinne versprach. Doch führten Schafhaltung, Weidewirtschaft und Wollproduktion in vielen Gegenden zur Entvölkerung und zur Abwanderung in die Städte. Die großen enclosures vollzogen sich jedoch erst seit dem späteren 17. und im 18. Jahrhundert. Die Niederlande zeigen große Unterschiede zwischen dem vom Adel und kirchlichen Institutionen, vor allem Klöstern, als Grundherren dominierten Süden (Belgien, Luxemburg) und dem Norden, wo Adel und Klerus nur in Utrecht, Gelderland und Overijssel politische und wirtschaftliche Bedeutung hatten. Doch war die Grundherrschaft im gesamten niederländischen Raum schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Auflösung begriffen. Besonders günstig war die Stellung der Bauern in der Grafschaft Holland, den heutigen Provinzen Noord- und Zuid-Holland, wo der Adel um 1500 nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Vor etwa 1500 zeigten die niederländischen Bauern vergleichsweise große soziale Homogenität, bevor soziale Differenzierungen eintraten, die mit der gewerblichen Produktion auf dem Lande und mit der Getreidepreisentwicklung zusammenhingen. Im 16. Jahrhundert wurden die Niederlande trotz der hier sehr früh und zuerst in Ostflandern einsetzenden ackerbautechnischen Neuerungen, vor allem neuer und ertragssteigernder Fruchtwechselfolgen, zum Getreideeinfuhrgebiet, besonders mit Getreideeinfuhren über See aus dem Ostseeraum.
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Gewerbe, Handel und Verkehr Das städtische Handwerk war zunftgebunden. Die im Mittelalter entstandenen Zünfte (in Frankreich corporation, in England guild, in Deutschland auch Amt, Bruderschaft, Gilde, Innung oder Gaffel) bewirkten als Zwangsvereinigungen der Handwerksmeister die Verteilung knapper Nahrungschancen durch Begrenzung der Zahl der Meister und Lehrlinge. Sie sorgten für ein standesgemäßes Einkommen der Meisterfamilien und verhinderten krasse Einkommensunterschiede, u. a. durch Preis- und Qualitätsnormierungen, die zugunsten der Abnehmer wirkten. Auch hier begegnet das vorindustrielle Nahrungsprinzip. Doch fehlten damit Wachstumsmöglichkeiten. Die Zünfte waren auch politische Korporationen innerhalb der Städte. Außerhalb der Zünfte standen die Handwerksgesellen, die keinen Anteil an den politischen Funktionen der Zünfte hatten. Es gab auch zunftfreies Handwerk. In den Städten waren das Klosterhandwerker, die auch für Abnehmer außerhalb des Klosters arbeiteten und dadurch mit den Zunfthandwerkern konkurrierten. Auf dem Land wurden handwerkliche Tätigkeiten von der unterbäuerlichen Bevölkerung ausgeübt. Schwerpunkte lagen in der Textilproduktion, die oft im Verlagssystem organisiert war. Ein Verleger stellte den Heimarbeitern die Rohstoffe zur Verfügung, holte die fertigen Produkte ab und besorgte ihren Absatz. Es gab Übergänge zur großgewerblichen Textilproduktion mit Exportorientierung. Dabei spielte Deutschland nur eine untergeordnete Rolle, trotz bedeutender Textilproduktionsstätten in Oberdeutschland und des Flachsanbaus in Norddeutschland, der in Münster und Osnabrück zum Aufkommen eines exportorientierten Leinengewerbes beitrug. Florenz, Mailand, Como und Venedig waren im 16. und 17. Jahrhundert bedeutende Standorte der Wolltuchherstellung. Doch machte sich ein Rückgang der Tuchproduktion bemerkbar, an deren Stelle die Herstellung von Luxustextilien, Seidenstoffen und Brokaten, trat. Traditionelle Produktionszentren bestanden in Lucca, Florenz, Mailand, Venedig und Bologna. Im 16. Jahrhundert gelangte das Seidengewerbe nach Lyon, aber auch nach Antwerpen. Ein Zentrum der Wolltuchherstellung waren schon im 13. Jahrhundert die südlichen Niederlande, vor allem Arras, Saint-Omer, Lille, Ypern, Brügge und Gent, später Mecheln, Brüssel und Löwen. Schon im 14. Jahrhundert spielte die englische Tuchherstellung als Exportgewerbe eine Rolle. Im 16. Jahrhundert standen England und die Niederlande an der Spitze. Hier verlagerte sich die Tuchproduktion in den Norden nach Amsterdam, Haarlem und besonders nach Leiden, wobei das Produktionsaufkommen der holländischen Tuchfabrikationsstädte durch das ländliche Textilgewerbe ergänzt wurde. In Holland wie im Süden, wo man sich auf Luxustextilien wie Gobelins verlegte, traten im 16. Jahrhundert Kapital besitzende und die Produktion zentralisierende Verleger-Kaufleute auf, womit das Textilgewerbe frühkapitalistische Formen annahm. Manche Historiker sprechen hier von Proto-Industrialisierung.
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Die Metallverarbeitung stand in Verbindung mit der Verhüttung von Metall sowie dem Erz- und dem Kupfer- und Silberbergbau. Nur in England spielte der Steinkohlenbergbau schon im 16. und 17. Jahrhundert, vor allem für die Versorgung Londons mit Brennmaterial, eine bedeutende Rolle. Entscheidend für das Eisengewerbe waren die Erzvorkommen Englands, Frankreichs, Nordspaniens, der Ardennen und der Karpaten, Skandinaviens, Polens, Russlands und des Urals sowie der Ostalpenländer und der deutschen Mittelgebirge. Die Steiermark mit den Tälern von Mürz und Mur und Teile Kärntens und Oberösterreichs waren wichtige Standorte des Eisengewerbes, ebenso der Harz, das Erz- und das Riesengebirge, die Oberpfalz und die Mittelgebirge im Bereich von Eifel, Bergischem Land, Lahn-Dill-Gebiet, Siegerland und Sauerland. Neben den Erzvorkommen boten die Wälder der Mittelgebirge die Rohstoffbasis für die Erzeugung der für die Eisenverhüttung wichtigen Holzkohle (Köhlerei), während die Bäche und Flüsse die Antriebsenergie für die Hammerwerke lieferten. Silber wurde, außer in Schweden, Norwegen und Spanien, im Harz, im Erzgebirge (Freiberg), in Böhmen, in den Karpaten und den Alpen gefördert, wobei die Silberförderung in der Mitte des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, aber nur einen Bruchteil dessen ausmachte, was aus den Silberminen Hispanoamerikas nach Europa kam. Der Handel war Einzel-, Groß- oder Fernhandel. Hinzu trat der Hausierhandel, der auch als Fernhandel betrieben wurde. Ein großer Teil des Handels entfiel auf den Lokalhandel. Bauern oder Grundherren setzten Getreide in der Stadt ab, während städtische Handwerker Gewerbeprodukte an die Landbevölkerung lieferten. Die Verteilerfunktion lag bei den täglich oder wöchentlich stattfindenden Märkten. Hinzu trat der Regionalhandel, etwa der Austausch zwischen Getreide produzierenden Ebenen und Eisenwaren herstellenden Mittelgebirgsgegenden. Der Fernhandel bediente sich überregionaler Jahrmärkte und Messen. Wichtig für den Fernhandel waren die Niederlassungen der Handelshäuser, die Tuchhallen der niederländischen Städte, die hansischen Kontore oder die Kaufhäuser, die im Mittelmeergebiet nach einem arabischen Wort fondaci genannt wurden. Wegen des schlechten Zustands der Straßen waren der Schiffstransport über See oder die Flussschifferei auch dann bequemer als der Landtransport, wenn dadurch die Entfernungen größer wurden. Das galt vor allem für den Handel mit Massengütern wie Getreide, Bausteine, Holz, aber auch für den Handel mit Wein (Fässer). So hatte der Fernhandel seine wichtigsten Standorte an günstig gelegenen Seehäfen mit guten Hinterlandverbindungen und an binnenländischen Messeplätzen, die an schiffbaren Flüssen lagen oder auf Landstraßen gut erreichbar waren. In Deutschland begann im 16. Jahrhundert der Aufstieg des über die Elbe mit der Nordsee verbundenen Hamburg als Seehafen, Handelsplatz und – mit der 1558 gegründeten Börse – Geldmarkt. Hamburg überflügelte die Ostseehäfen, obwohl Lübeck vor allem im Ostseehandel weiterhin eine Rolle spielte. Im
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Binnenland waren Frankfurt am Main und Leipzig die wichtigsten deutschen Messeplätze, wobei Leipzig seine osteuropäischen Handelsverbindungen und Frankfurt seine zentrale Lage nahe der großen Nord-Süd-Achse des Rheins zugutekamen. Dagegen begann in Köln, das 1553 eine Börse erhielt, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Rückgang. In Oberdeutschland lagen die großen Handels- und Geldmarktzentren Augsburg und Nürnberg. Frühkapitalismus – Hanse, Mittelmeer-, Atlantik- und Russlandhandel Augsburg und Nürnberg waren in Deutschland die wichtigsten Schauplätze des – nach Werner Sombart so bezeichneten – Frühkapitalismus. Träger waren Großkaufleute, die neben dem Warenhandel das Geldgeschäft betrieben und den Edelmetallbergbau in der Hand hatten. In Italien waren das die Herren der Handels- und Bankhäuser von Venedig, Florenz, Genua, Lucca oder − mit Filippo Strozzi dem Älteren − Neapel, voran die Medici mit ihrem Bankhaus und ihren weitgespannten Unternehmen. An der Spitze standen in Italien der 1464 gestorbene Cosimo der Alte de’ Medici in Florenz und im Norden Sir Thomas Gresham, der Gründer der Londoner Börse. Auch Konstantinopel wäre mit dem Großbankier Joseph Nassi zu nennen, einem in Portugal geborenen sephardischen Juden. Die Spitzenstellung in Deutschland hatten der Augsburger Jakob Fugger der Reiche und nach seinem Tod 1525 sein Neffe Anton Fugger. Beide betrieben Luxuswaren- und Metallhandel und verbanden damit Bankgeschäfte. Jakob Fugger besaß Silber-, Kupfer- und Bleibergwerke in Tirol, Kärnten, Ungarn und Spanien und beteiligte sich seit 1505 am levantinischen Ostindienhandel unter Umgehung des Zwischenhandels der Venezianer. Seine Firma galt als größtes europäisches Bankhaus der Zeit. Wichtig wurden die Finanztransaktionen der Fugger mit Maximilian I. und Karl V., bei dessen deutscher Königswahl 1519 der Einsatz von Augsburger Kapital, besonders aus dem Hause Fugger, eine entscheidende Rolle spielte. 1514 sicherten sich die Fugger das Geschäft mit dem Ablasshandel. Neben den Fuggern standen in Augsburg die Welser mit Bartholomäus Welser als bedeutendstem Vertreter, die auch ein Kolonisationsunternehmen in Venezuela in Angriff nahmen, die Höchstetter und die Baumgartner, in Nürnberg die Imhof und die Tucher, aber auch Kaufleute aus Städten wie Ulm, ferner aus Leipzig, Aachen oder Köln. Der Frühkapitalismus war eine Wirtschaftsform, die Erscheinungen des Kapitalismus des Industriezeitalters − freies Unternehmertum, Gewinnorientierung, Kostenkalkül − vorwegnahm. Doch waren die Fugger oder die Medici noch der vorreformatorisch-katholischen Kultur und Religiosität verbunden. Der Frühkapitalismus fand zeitgenössische Kritiker. Dazu gehörte Luther, der 1520 in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation den zynsz kauff (Kauf von Waren auf Kredit gegen Zinsen) als „das grossist ungluck deutscher Nation“ bezeichnete und auch die Fugger ansprach:
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„Hie must man werlich auch den Fuckern und dergleychen geselschafften ein zawm ynsz maul legen. Wie ists muglich, das solt gotlich unnd recht zugehen, das bey eynis menschen leben solt auff einen hauffenn szo grosse kuniglich gutter bracht werdenn? Ich weysz die rechnung nit. Aber das vorstehe ich nit, wie man mit hundert gulden mag des jarisz erwerben zwentzig, ja ein guld den andern, und das allis nit ausz der erden [Ackerbau] odder von dem fihe [Vieh], da das gut nit in menschlicher witz, szondern in gottis gebenedeyung stehet. Ich befilh das den weltvorstendigen, Ich als ein Theologus hab nit mehr dran zustraffen, den das bosze, ergerlich ansehen, davon sanct Paulus sagt ‚Huttet euch fur allen boszen ansehen odder scheyn‘. Das weysz ich wol, das viel gotlicher weere acker werck mehren und kauffmanschafft myndern, und die viel besser thun, die der schrifft [Bibel] nach die erden erbeytten [bearbeiten] und yhr narung drausz suchen.“40
Die Hansestädte des Nordens fielen, von Hamburg abgesehen, im 16. Jahrhundert zurück. Doch gilt das nur im Vergleich mit den oberdeutschen Handelsmetropolen, während von einem wirtschaftlichen Niedergang der Hanse insgesamt noch nicht die Rede sein konnte. Zwar hatte es Rückschläge gegeben wie die Schließung des Hansekontors in Novgorod 1494. 1553 folgte die Verlegung des Hansekontors von Brügge nach Antwerpen, wo der hansische Handel durch den niederländischen Aufstand beeinträchtigt wurde, und 1603 die Schließung der Londoner Hanseniederlassung, des Stalhofs. Dennoch erfuhren im 16. Jahrhundert neben Hamburg auch Bremen und Danzig einen Aufschwung. Die Passagen hansischer Schiffe durch den dänischen Sund nahmen von 20 Prozent aller Schiffspassagen dieses Seegebietes 1497 auf 23,5 Prozent 1597 zu, wobei die Ladekapazität der Schiffe am Ende des 16. Jahrhunderts größer war als ein Jahrhundert früher. Trotzdem schwächte das Vordringen der Holländer seit 1544 und auch der Engländer den hansischen Ostsee- und Russlandhandel. 1558 wurde Narva von Ivan IV. für Russland gewonnen und 1581 von Schweden erobert. Der Narvahandel der Niederländer und Engländer zwischen 1558 und 1581 und der Aufstieg Schwedens beeinträchtigten den hansischen Handel weiter. Dasselbe gilt für die Erschließung des Seeweges nach Russland über das Weiße Meer, seit der Engländer Richard Chancellor 1553 das Mündungsdelta der nördlichen Dvina und der Niederländer Claes Jansz 1582 den Liegeplatz entdeckt hatte, an dem Ivan IV. 1584 die Stadt Archangel’sk gründete. Archangel’sk wurde zum wichtigsten Ausfuhrhafen Russlands vor der Gründung von Sankt-Peterburg. Dabei kam der Weißmeerhandel vor allem den Niederländern zugute. Nach englischen Angaben von 1603 liefen 30 bis 40 niederländische und nur zwei bis drei englische Schiffe im Jahr Archangel’sk an. Vollends trat der wirtschaftliche Niedergang der Hanse mit der 1617 im Frieden von Stolbovo bestätigten schwedischen Eroberung der russischen Ostseezugänge und mit der Verdrängung der Hansekaufleute aus dem Englandhandel ein, nachdem sie 1650 ihre letzten Privilegien in England verloren hatten.
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Deutlicher als der wirtschaftliche war im 16. Jahrhundert der politische Niedergang der Hanse, die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, endgültig seit 1530, eine Vereinigung von Städten anstelle der alten Kaufmannshanse war. Entscheidend dafür war der Aufstieg Dänemarks und Schwedens, aber auch Englands, Polens und des in die nordeuropäische Handelswelt eingebundenen Russland, die – in einer Zeit, in der von den Prinzipien freien Handels noch keine Rede sein konnte – die Vorherrschaft der hansischen Kaufleute zugunsten der einheimischen zu beseitigen suchten. Das zeigt die Unterstützung der englischen Merchant Adventurers durch Elisabeth I. Hinzu kam die Konsolidierung der norddeutschen Territorialstaaten, die vielen binnenländischen Hansestädten die Zugehörigkeit zur Hanse verboten. Nur Lübeck, Hamburg und Bremen vereinigten sich 1630 noch einmal in einem engeren Bund. 1669 fand der letzte Hansetag statt, der nur noch von Lübeck, Hamburg, Bremen, Köln, Braunschweig und Danzig beschickt wurde. Hinter dem erst im 17. Jahrhundert endgültigen wirtschaftlichen Niedergang der Hanse, aber auch hinter dem Ende der großen oberdeutschen Handelshäuser, von denen die Welser 1614 in Konkurs gingen, stand die Verlagerung der Schwerpunkte des Fernhandels vom östlichen Mittelmeer, Oberitalien, Oberdeutschland und dem Ostseeraum zu den Anrainerstaaten des Atlantischen Ozeans, nach Sevilla, Cádiz und Lissabon, nach Antwerpen und später Amsterdam, nach England und zu französischen Atlantikhäfen wie Rouen, Nantes oder Bordeaux. Entscheidend dafür waren die überseeischen Entdeckungen. Doch hat man die Auswirkungen dieser Schwerpunktverlagerung und die Geschwindigkeit, mit der sie eintraten, früher überbetont. So traten im östlichen Mittelmeer Rückschläge des Levantehandels schon vor den Entdeckungen ein. Auch im 16. Jahrhundert kam der Mittelmeerhandel nicht zum Erliegen, sondern nahm an dem allgemeinen Handelsaufschwung teil. Beteiligt waren daran nach wie vor Venedig und Genua. Selbst hansische Schiffe gelangten ins Mittelmeer, wozu der Schiffsverkehr beitrug, der den Getreidezufuhren nach Italien diente. Englische Kaufleute gründeten 1581 eine Levant Company und lieferten Tuche und anderes in Häfen des Osmanischen Reiches, um von dort u. a. Baumwolle nach Nordwesteuropa zu verfrachten. Auch im Norden, wo Hamburg, seit 1611 Sitz einer Niederlassung der englischen Merchant Adventurers, von der Verlagerung der Handelsströme profitieren konnte, gab es keinen vollständigen Niedergang, wohl aber eine regionale Schwerpunktverschiebung von der Ost- an die Nordsee. Das vollzog sich auf Kosten von Lübeck und – neben Hamburg – zum Vorteil der Niederländer, aber auch von Danzig oder Elbing. Über Danzig und Elbing wurde ein großer Teil der polnisch-litauischen Getreideexporte abgewickelt, deren wichtigstes Zielland die Niederlande waren. Der Transport des Getreides wurde zunehmend von holländischen Schiffen besorgt. Auch die Engländer drangen seit 1585 mit einer Eastland Company an die Weichselmündung vor. Große Bedeutung erlangte der
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Russlandhandel, für den in England die Muscovy Company gegründet wurde. Aus dem Westen gelangten Tuche, Wein und Luxusartikel nach Russland, während Russland Juchtenleder und Pelze, Getreide, das für die Schießpulverherstellung wichtige Salpeter und vor allem Hanf, Flachs, Teer, Holz (Baumstämme) und die für die Seifenproduktion und die Herstellung von Glas benötigte Pottasche lieferte. Die russischen Baumstämme dienten in den holzarmen Niederlanden der Herstellung der hölzernen Schiffsrümpfe und der Mastbäume; Hanf wurde, zu Seilen verarbeitet, für die Takelage der Segelschiffe benötigt, Teer für die Dichtung der Schiffsrümpfe. Nachdem seit Mitte des 15. Jahrhunderts die Rolle als internationaler Fernhandelsplatz von Brügge auf Antwerpen übergegangen war, verlagerte sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Handelsmetropole von Antwerpen nach Amsterdam. Damit begann der Aufstieg Amsterdams, das nach 1585 zum Zentrum des Überseehandels der Niederlande und zum führenden Finanzplatz wurde. 1600 gründeten Londoner Kaufleute die East India Company, eine Gesellschaft auf Aktienbasis. 1602 folgte die niederländische Verenigde Oostindische Compagnie und 1621 die niederländische Westindische Compagnie, bevor weitere englische, aber auch dänische, schwedische und französische Überseehandelsgesellschaften hinzukamen, die in Indien, in der Karibik, in Südostasien und an anderen Plätzen bewaffnete und befestigte Faktoreien als Handelsniederlassungen gründeten, eigene Truppen unterhielten, den Schiffsverkehr organisierten und den Handel zwischen Europa und den fremden Kontinenten bestimmten. Deutschland war daran nur indirekt – durch deutsche Aktionäre der niederländischen Handelsgesellschaften – oder in ganz kleinem Stil beteiligt. Konjunkturen und Preise Das 16. Jahrhundert war eine Zeit der Hochkonjunktur und hoher Preise, was Wirtschaftshistoriker von Preisrevolution sprechen lässt. Am stärksten stiegen die Getreidepreise und damit die Preise für die Hauptnahrungsmittel. Für die Zeit vom ersten bis zum letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts wird eine Steigerung des Brotpreises in Europa von etwa 386 Prozent angenommen.41 Dagegen waren die Getreidepreise im Spätmittelalter nach unten gerichtet; zwischen 1451 und 1475 hatten sie ihren tiefsten Stand erreicht. Die hohen Preise hielten auch noch im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts an, doch flachte die Steigerungsrate etwa seit der Jahrhundertwende ab. In Deutschland kam es durch den Dreißigjährigen Krieg zu einer neuen Preissteigerungswelle, bevor in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts ein Absinken der Getreidepreise zu verzeichnen war und bald danach ein krisenhafter Preisverfall eintrat. Während die Getreidepreissteigerungen im Deutschland der Zeit des Dreißigjährigen Krieges mit der Verknappung des Angebots zusammenhingen, waren die Preissteigerungen des 16. Jahrhunderts Ausdruck der mit der Nachfragezu-
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nahme einhergehenden Hochkonjunktur für Agrarprodukte während des langen 16. Jahrhunderts, wie Wirtschaftshistoriker wegen des im späten 15. einsetzenden und erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts auslaufenden Trends sagen. Diese Nachfragezunahme war eine Folge der im 16. Jahrhundert beginnenden Bevölkerungsvermehrung und der Belebung der Wirtschaftstätigkeit. Hinzu kamen die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts stark zunehmenden Silberimporte aus Hispanoamerika, nachdem die Förderung der europäischen Silberbergwerke seit dem späten 15. Jahrhundert deutlich angestiegen war. In Europa wurden um 1540, der Zeit des Höhepunktes der europäischen Silberförderung, jährlich etwa 65 Tonnen Silber gefördert, während aus den Silbergruben Mexikos eine in dieser Zeit noch darunterliegende Menge kam. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ging die europäische Silbergewinnung zurück, doch stieg die mexikanische wesentlich an. Zugleich kam nun die überaus reiche Silberförderung Perus hinzu, mit der sich für den europäischen Edelmetallmarkt des gesamten 16. Jahrhunderts eine Menge von rund 7.400 Tonnen Silber ergab.42 Dieser Edelmetallzufluss vermehrte den Geldumlauf und blieb nicht ohne inflationäre Auswirkungen. So wird erklärlich, dass die Preissteigerungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dort am stärksten waren, wo sich der Silberzufluss unmittelbar auswirkte: in Spanien, das diesen scheinbaren Reichtum wirtschaftlich nicht verkraften konnte. Während des 16. Jahrhunderts stiegen die Getreidepreise in Frankreich um 651 Prozent, in England um 424 Prozent, in den südlichen Niederlanden um 379 Prozent und in den nördlichen um 318 Prozent, in Deutschland um 255 Prozent und in Polen um etwa 400 Prozent.43 Wichtig war die Preisstreuung. Während die Preise für Getreide ebenso wie für andere kalorienreiche und als Massennahrungsmittel geeignete Produkte (Verhältnis Nährwert/Preis) besonders stark anstiegen, verlief die Preissteigerungsrate bei Fleisch, Butter, Schmalz oder Käse flacher. Doch waren diese Nahrungsmittel teurer als Mehlprodukte und dienten wegen der ungünstigeren NährwertPreis-Relation eher der Luxusernährung. Weit geringer als bei landwirtschaftlichen Produkten einschließlich des Fleisches waren die Preissteigerungen jedoch bei gewerblichen Produkten wie Metallwaren oder Textilien. Infolgedessen blieb der Anstieg der Löhne auch in anderen gewerblichen Produktionsbereichen und im Dienstleistungssektor weit hinter dem Anstieg der Preise für Agrarprodukte und insbesondere für Massennahrungsmittel zurück. So stiegen in Hamburg zwischen 1511/25 und 1601/25 die Preise für Roggen auf 376 Prozent, die Löhne der Maurer aber nur auf 265 Prozent und die der Zimmerleute gar nur auf 209 Prozent.44 Hier öffnete sich eine Preis-Lohn-Schere, die erhebliche soziale Auswirkungen haben musste. Dem standen bei den Getreideproduzenten, also bei einem Teil der Grundherren und bei den Bauern, die ihr Getreide frei vermarkten konnten, sowie bei den Getreidehändlern hohe Gewinne gegenüber, die teilweise, vor allem beim Adel und bei stadtbürgerlichen Kaufmannsfamilien, dem Kleiderluxus, der Ausstattung der Wohnhäuser und anderen Formen des
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Luxuskonsums zugeführt wurden. Uneinheitlich war die Lage des Adels. Wo Adelige Getreideproduzenten waren und den über den Eigenbedarf hinausgehenden Anteil dem Markt zuführen konnten, profitierten sie von den hohen Getreidepreisen. Wo aber Adelige im Zeichen des im 15. Jahrhundert hohen Geldwertes und niedriger Getreidepreise die bäuerlichen Abgaben in Geldabgaben umgewandelt hatten, gehörte auch der Adel zu den Opfern der Agrarkonjunktur des langen 16. Jahrhunderts.
Der Fall von Konstantinopel Der 29. Mai 1453 Nach 54 Tage dauernder Belagerung eroberte Sultan Mehmet II. am 29. Mai 1453 Konstantinopel, die alte Kaiserstadt Byzanz. Der letzte oströmische Kaiser, Konstantinos XI. aus der Palaiologendynastie, fand den Tod. Die Hagia Sophia wurde geplündert, als christliche Kirche entweiht und in die Moschee Ayasofya umgewandelt. Mehmet II. verlegte die seit 1366 in Adrianopel (Edirne) bestehende Hauptstadt des Osmanischen Reiches nach Konstantinopel, das den Namen Istanbul erhielt, aber bis zu der erst 1930 erfolgten amtlichen Umbenennung weiter Konstantinopel (Kostantiniye) genannt wurde. Der Fall von Konstantinopel löste in Europa Entsetzen und Erschrecken aus. Türkenfurcht und eschatologische Deutungen, die in den Türken die Zornesrute Gottes für die Sünden der Christen sahen, machten die Runde. Berichte kursierten, die das blutige Geschehen als Akt der „Menschen- und Gottesschändung in einem“45 erscheinen ließen. Humanisten wie Piccolomini, der 1454 auf dem Reichstag zu Frankfurt am Main die deutschen Fürsten zum Krieg gegen die Türken aufzurütteln suchte, fürchteten um die Überlieferung antiker Bildung in den Bibliotheken am Bosporus. Griechische Gelehrte waren, wie der griechisch-orthodoxe Erzbischof von Nicaea, Johannes Bessarion, teilweise schon vorher nach Italien geflohen, wo Bessarion 1439 römisch-katholischer Kardinal wurde. Griechischer Osten und lateinischer Westen Erst der Fall von Konstantinopel brachte den Untergang der christlichen Herrschaft auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeer im lateinisch-katholischen Teil Europas voll ins Bewusstsein. Die Verluste gingen nahezu ganz zu Lasten der Ostkirche, auch wenn die osmanische Expansion bald in den römisch-katholischen Bereich ausgriff und auch Rom und Italien bedrohte. Die Trennung zwischen der römischen und der griechischen Kirche bestand seit Jahrhunderten und wurzelte in theologischen Differenzen, im Sprach- und Kulturunterschied zwischen dem griechischen Osten und dem lateinischen Westen und im Rangstreit zwischen den Patriarchen von Rom und Konstantinopel. Schon 484 bis 519 hatte es ein erstes Schisma gegeben. Schließlich hatten Auseinandersetzungen über die Patriarchatsrechte in Süditalien, die Papst Leo IX. für Rom beanspruchte, 1054 zum Schisma geführt, wobei theologische Fragen mitspielten. Die Griechen warfen den Lateinern die Verwendung von ungesäuer-
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tem Brot als Hostien und den Zölibat der Priester vor, die Lateiner den Griechen die Priesterehe. Noch mehr verschärften sich die Gegensätze während des vierten Kreuzzugs, als Kreuzritter 1204 Konstantinopel eroberten und plünderten und dort das Lateinische Kaisertum errichteten, das ein gutes halbes Jahrhundert bis zur Thronbesteigung der Palaiologendynastie bestand. Erst der Druck der osmanischen Expansion führte 1439 auf dem Unionskonzil von Ferrara-Florenz zu einem Annäherungsversuch der Griechen an die römische Kirche, zur Annahme des Florentinum genannten Unionsdekretes und zur Anerkennung des Papstprimates. Obwohl von Kaiser Johannes VIII. Palaiologos, Erzbischof Bessarion von Nicaea und dem Moskauer Metropoliten Isidoros, einem Griechen, unterzeichnet, wurde das Unionsdekret im Osten und vor allem im Russland des Großfürsten Vasilij II. Vasil’evič nicht rezipiert. Die osmanische Expansion 1071 schlugen türkmenische Reiter bei Manzikert in Südostanatolien die byzantinischen Truppen. Die Türkmenen gehörten zu den aus Mittelasien vordringenden Türkvölkern, die seit etwa 970 islamisiert waren. Manzikert war die Entscheidungsschlacht, nach der Anatolien, das zum Byzantinischen Reich gehörte und von einer christlichen, hellenisierten Bevölkerung aus Griechen, Armeniern und eingewanderten Slaven bewohnt wurde, von den Türkmenen überflutet wurde. Bald entstanden auf der anatolischen Halbinsel türkmenische Fürstentümer, darunter das Emirat Osman am Marmarameer gegenüber von Konstantinopel, das zur Keimzelle des Osmanischen Reiches wurde. Die nächste Entscheidungsschlacht war die Eroberung von Gallipoli, mit der die Meerengen zwischen Anatolien und der Balkanhalbinsel 1354 endgültig überschritten wurden; in demselben Jahr eroberten die Osmanen Ankara in Mittelanatolien. Auf Gallipoli folgte 1361 Adrianopel, bevor 1389, nach der ersten Schlacht auf dem Amselfeld (serb. Kosovo Polje), Serbien und 1393 Bulgarien erobert und 1394 − endgültig 1416 − die Walachei osmanisches Vasallenfürstentum wurde. Die dritte Entscheidungsschlacht war die von Nikopolis in Bulgarien, in der Sultan Bayezit I. 1396 das von König Sigmund von Ungarn geführte Kreuzfahrerheer besiegte. Trotz der Hilferufe Konstantinos’ XI. Palaiologos an Papst und Markusrepublik, trotz der Aufrufe zum Kreuzzug gegen die Osmanen, der Türkenablässe und der Aufgebote an Truppen und Kriegsschiffen durch Papst Nikolaus V. und seine Nachfolger Calixtus III. und Piccolomini, der 1458 als Pius II. den Papstthron bestieg, bildete sich keine Abwehrfront. Venedig schloss einen Vertrag mit dem Osmanischen Reich, der den Kaufleuten der Republik Handelsvorteile verschaffte. Doch hinderte das Mehmet II. nicht, 1463 das venezianische Argos (Nauplia, Nauplion) auf dem Peloponnes zu besetzen. In Deutschland organisierte Piccolomini als Berater Friedrichs III. 1454 und 1455 Türkenreichstage in
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Regensburg, Frankfurt am Main und Wiener Neustadt. Herzog Philipp der Gute von Burgund förderte Kreuzzugspläne, doch blieb davon nur der schon 1430 gestiftete Orden vom Goldenen Vlies und die Erinnerung an das Fasanenfest zu Lille 1454. Hier wurde, wie Johan Huizinga schildert, der Kampf gegen die äußere Bedrohung als aristokratisches Fest zelebriert statt auf dem Schlachtfeld ausgetragen zu werden. Ernsthafter Widerstand kam von Johann Hunyadi, dem Woiwoden von Siebenbürgen und Reichsverweser des minderjährigen Ladislaus Posthumus in Ungarn. Hunyadi hatte 1441 osmanische Truppen bei Semendria (Smederovo) und 1442 bei Hermannstadt (Sibiu) geschlagen und 1443 bis Sofia zurückgedrängt. In der zweiten Schlacht auf dem Amselfeld wurde er 1448 von den Türken geschlagen. Nach dem Fall von Konstantinopel konnte Hunyadi mit seinen Truppen 1456 Belgrad verteidigen. Dennoch wurde der nordserbische Vasallenstaat 1459 dem Osmanischen Reich einverleibt. Hunyadis Sohn, der ungarische König Matthias Corvinus, setzte die Politik der Gegenwehr gegen die Osmanen fort und versuchte 1464 erfolglos, das von den Osmanen unterworfene Bosnien zurückzuerobern. Ein anderer Gegner der osmanischen Expansion war der albanische Fürst Skanderbeg, der eigentlich Gjergj Kastrioti hieß. Als Geisel im Dienst des Sultans Muslim geworden, floh er nach dem Sieg Hunyadins von 1443 und kehrte zum Christentum zurück. Als Generalkapitän von Albanien kämpfte er erfolgreich gegen die Türken. Erst nach seinem Tod 1468 konnten die Osmanen Albanien unterwerfen. Die Bosnier und die Albaner wurden nach der osmanischen Eroberung ihrer Länder Muslime. 1460 eroberten die Osmanen den Peloponnes (Morea) und 1461 den Rest des Oströmischen Reiches, das Kaiserreich Trapezunt. 1475 wurde das Chanat der Krim osmanischer Vasallenstaat. 1479 verlor Venedig Negroponte (Euböa) vor der griechischen Ägäisküste, Lemnos vor der Einfahrt in die Dardanellen, Skutari und den größten Teil der albanischen Adriaküste an das Osmanische Reich. Als Gegenleistung erhielt Venedig das Recht des freien Handels im Osmanischen Reich, jedoch in Konkurrenz mit Ragusa (Dubrovnik). Danach griff die osmanische Expansion auf Süditalien aus, wo die Türken Otranto südlich von Brindisi besetzten. Nur der Tod Mehmets II. 1481 wandte die osmanische Bedrohung von Rom ab. Unter Mehmets Nachfolger Bayezit II. gewann das Osmanische Reich, das von 1499 bis 1502 einen Seekrieg mit Venedig austrug, 1483 die Hercegovina, 1484 Häfen im Donaudelta und 1499 das venezianische Lepanto (Navpaktos) am Eingang des Golfs von Korinth. Sultan Selim I., Nachfolger Bayezits II. seit 1512, führte 1514 Krieg gegen Persien und sicherte durch den Sieg in der Schlacht von Çaldıran Ostanatolien für das Osmanische Reich. Durch die siegreichen Schlachten von Mardsch Dabik in Syrien 1516 und vor Kairo 1517 gewann er Syrien, den Libanon, Palästina und Ägypten. Auch die heiligen Stätten des Islam, Mekka und Medina, traten unter das Protektorat des Sultans, der nun der mächtigste Herrscher der islamischen Welt war.
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1520 gelangte mit Sultan Süleyman dem Prächtigen der Sohn Selims I. an die Herrschaft. Unter ihm erhielt die expansionistische Politik unter Einsatz militärischer Gewalt neue Kraft. 1521 fielen Belgrad und 1522 Rhodos, das die Johanniter 1480 noch hatten halten können. Die für die Osmanen siegreiche Schlacht von Mohács 1526 führte zur Eroberung Ungarns. 1529 stand das Heer des Sultans vor Wien, das die erste türkische Belagerung erlebte, die wie die zweite − 1683 − abgewiesen werden konnte. Aber Ofen (Buda) war seit 1526 in osmanischer Hand. 1537 griff die osmanische Expansion erneut auf Süditalien aus. 1538 schlug die türkische die venezianische Flotte. 1540 musste Venedig auf die letzten Reste seines Besitzes in Dalmatien, auf dem Peloponnes und in der Ägäis verzichten, auch wenn es dafür erneut Handelsprivilegien erhielt. 1538 wurde die Moldau osmanisches Vasallenfürstentum. 1538 wurde Aden an der Südspitze der Arabischen Halbinsel besetzt, bevor Teile des Jemen 1547 an das Osmanische Reich fielen. Nach 1550 wurden weite Gebiete Nordafrikas erobert, nachdem die Besetzung der Stadt 1535 an der Eroberung der Stadt durch Karl V. gescheitert war. Seit 1541 war die ungarische Tiefebene zwischen Donau und Theiß als Paschalik Ofen Teil des Osmanischen Reiches. Die Dreiteilung Ungarns beließ den Habsburgern das königliche Ungarn, das Kroation, einen Streifen Westungarns und Oberungarn (im Wesentlichen die Slowakei) umfasste. Der Osten des historischen Ungarn war das Fürstentum Siebenbürgen, das im Westen über das eigentliche Siebenbürgen (Transylvanien) im Karpatenbogen mit den Städten Hermannstadt, Klausenburg (Cluj) und Kronstadt (Brasov) hinaus in den Teil Ungarns östlich der Theiß reichte, wo Debrecen liegt. Ab 1551 wurden die Gebiete östlich der Theiß von den Türken besetzt. Dabei blieb das eigentliche Siebenbürgen verschont, ebenso Debrecen. In Siebenbürgen erkannten die Landtage von Neumarkt (Târgu Mureş) und Thorenburg (Turda) 1542 den zwei Jahre alten Johann II. Sigismund Zápolya als Fürsten von Siebenbürgen ebenso an wie die Oberhoheit des Sultans. So entstand das Fürstentum Siebenbürgen „als Puffer zwischen den Imperien der Habsburger und der Osmanen“46 und als osmanischer Vasallenstaat. Seit 1535 gab es einen Bündnisvertrag zwischen König Franz I. von Frankreich und Sultan Süleyman, bei dem die antihabsburgische Tendenz offenkundig war und mit dem das Osmanische Reich in das europäische Staatensystem eintrat. Muslime, Christen und Konvertiten zum Islam Nicht alle Bewohner der in das Osmanische Reich eingegliederten europäischen Länder wurden Muslime wie viele in Bosnien und Albanien. Die meisten blieben − in Bulgarien, Griechenland oder Serbien − orthodoxe oder − in Ungarn − katholische, reformierte oder lutherische Christen. Konstantinopel blieb als Hauptstadt des Osmanischen Reiches Sitz des Ökumenischen Patriarchen, dem zwar
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die Kirche des Apostels Andreas genommen und dem zunächst das Pammakaristos-Kloster und um 1600 die bescheidene Georgskirche zugewiesen wurde, dem aber innerhalb des Osmanischen Reiches die Vertretung aller Orthodoxen gegenüber dem Sultan zuwuchs. So konnte der Patriarch von Konstantinopel unter den Osmanen eine Stellung einnehmen, die ihm zuvor durch die Entstehung nationalkirchlicher − autokephaler − orthodoxer Patriarchate für Bulgarien und Serbien beinahe verloren gegangen war. Auch bedeutende orthodoxe Klöster bestanden fort. Der Sultan bestätigte den Athos-Klöstern die Privilegien, die sie von den byzantinischen Kaisern erhalten hatten. Die Toleranz des osmanisches Staates gegenüber den Christen, die sich mit Desinteresse an den innerchristlichen Gegensätzen verband, hing einerseits mit dem muslimischen Religionsgesetz zusammen, das die Bekehrung der Nichtmuslime nur für Anhänger polytheistischer Religionen zwingend vorschrieb, für die Gläubigen monotheistischer Buchreligionen − Juden und Christen als Schriftbesitzer (arab. ahl al-kitab, türk. ehlülkitab) − aber die Duldung erlaubte, sofern diese Nichtmuslime sich der Herrschaft des Islam unterwarfen und die Kopfsteuer zahlten. Andererseits spielten Christen und Juden in Teilen des Osmanischen Reiches für Gewerbe und Handel und durch ihren Beitrag zum Steueraufkommen eine Rolle, die ihre Duldung aus fiskalischen Gründen nahelegte. Es gab auch Konversionen von Christen zum Islam. Quantitativ bedeutsam war die Knabenlese (türk. devşirme), bei der Kinder christlicher Bauern in den Balkanländern ihren Eltern entfremdet und muslimisch erzogen wurden. Manche Christenknaben stiegen als erwachsene Muslime in höchste Stellungen des Osmanischen Reiches oder in hohe Offiziersränge der Janitscharentruppen auf. Es gab aber auch individuelle Konversionen zum Islam, so die des Theologen Adam Neuser, der im reformierten Heidelberg zu den Antitrinitariern stieß und auf diesem Weg zum Muslim wurde. Beim Reichstag in Speyer 1570 übergab er Abgesandten Sultan Selims II. ein Gesuch um Aufnahme ins Osmanische Reich und Übertritt zum Islam. Er starb 1576 in Konstantinopel. Aus Frankreich im damaligen Umfang sind aus den Jahren 1560 bis 1665 222 Konvertiten namentlich bekannt, die zum Islam übertraten.47
Das Ende des Hundertjährigen Krieges Frankreich, Burgund und die Rosenkriege in England Im Jahr des Falls von Konstantinopel, 1453, endete der Hundertjährige Krieg zwischen Frankreich und England, auch wenn der Frieden zwischen Ludwig XI. und Edward IV. erst 1475 geschlossen wurde. Mit dem Tod Karls IV. war 1328 der Mannesstamm des französischen Königshauses der Kapetinger erloschen. Seine Schwester Isabelle war die Gemahlin Edwards II. von England. Nach seinem Tod hatte der französische Adel Philippe de Valois als Philipp VI. zum König von Frankreich gewählt. Nach männlichem Erbrecht war er der legitime Nachfolger. Nach weiblicher Erbfolge wäre Edward III. von England, der die Wahl Philipps VI. nicht anerkannte, als Sohn Isabelles auch Erbe des französischen Königtums gewesen. Der Krieg hatte 1340 in Flandern begonnen und sich anfangs auf den Norden Frankreichs konzentriert − 1346 vernichteten die englischen Bogenschützen das französische Ritterheer bei Crécy, 1347 kapitulierte Calais −, sich aber dann in den Süden verlagert, wo 1356 das Languedoc verwüstet wurde. 1360 kam der Frieden von Brétigny zustande, mit dem Edward III. außer Guyenne im Süden den Poitou und die Gascogne und im Norden die Grafschaft Guines und die Stadt Calais erhielt. Doch begann der Krieg erneut. 1415 besiegte Heinrich V. von England in der Schlacht von Azincourt das vierfach überlegene französische Heer. Einen Tiefpunkt für Frankreich stellte der Vertrag von Troyes von 1420 dar, in dem Philipp der Gute von Burgund − obwohl ein Valois mit England verbündet − den Ausschluss des späteren Königs Karl VII. von der Thronfolge und die Nachfolge Heinrichs V. von England in Frankreich vereinbarte. Der Umschwung zugunsten Frankreichs kam 1428 während der englischen Belagerung von Orléans durch einen Wandel der Stimmung im burgundischen Lager und unter dem Einfluss der charismatischen Persönlichkeit der Jungfrau von Orléans, der 1920 heiliggesprochenen Jeanne d’Arc, die Visionen und Auditionen empfangen hatte und sich als die von Gott berufene Retterin Frankreichs sah. 1429 konnte Karl VII. in der Kathedrale von Reims die Königsweihe empfangen. 1435 begann mit dem Friedenskongress von Arras der Frieden sichtbar zu werden. Doch bedurfte es dazu noch des französischen Sieges in der Schlacht von Castillon (Castillon-la-Bataille) von 1453. In Frankreich öffnete das Ende des Hundertjährigen Krieges den Weg zur Stärkung des Königtums, zum Aufbau des neuzeitlichen Staates und zur Entstehung des modernen Frankreich,48 auch wenn dieser durch die Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts noch einmal schwere Beeinträchtigungen erfuhr. Trotz der
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großen materiellen Einbußen, der Bevölkerungsverluste und der zeitweiligen Einschränkung der Zentralgewalt bedeutete der Hundertjährige Krieg auch selbst ein wichtiges Moment für das Erstarken Frankreichs, vor allem wegen der Eroberung des gesamten englischen Festlandsbesitzes mit Ausnahme von Calais, das erst 1558 gewonnen wurde. Der Niedergang der burgundischen Machtstellung an der Ostgrenze Frankreichs in den Schlachten von Grandson und Murten 1476 und Nancy 1477 stärkte Frankreich weiter. Burgund war im Schatten des Hundertjährigen Krieges zu einer politisch und kulturell bedeutenden und auch militärisch hervorragenden Macht geworden. 1363 gab König Johann II. von Frankreich aus dem Haus Valois das Herzogtum Burgund (duché de Bourgogne) um Dijon seinem jüngsten Sohn Philipp dem Kühnen. Dieser heiratete 1369 Margarete von Flandern, deren Erbe ihm 1384 die Grafschaften Flandern, Artois, Nevers und Rethel und die zum Heiligen Römischen Reich gehörende Freigrafschaft Burgund (Franche Comté) einbrachte. 1390 kam durch Kauf die Grafschaft Charleroi hinzu. Philipp starb 1404, sein Sohn Johann ohne Furcht 1419. Ihm folgte Philipp der Gute, der 1428 die Grafschaft Boulogne eroberte und Namur 1428 durch Kauf, Brabant und Limburg 1430 durch Erbschaft erwarb. Außerdem eroberte er 1433 den Hennegau (Hainaut), Holland und Zeeland und gewann im Frieden von Arras 1435 Mâcon, Auxerre sowie einen Teil der Picardie und erweiterte diesen Territorialbesitz 1443 noch um Luxemburg. Philipp der Gute, der einen der glänzendsten Fürstenhöfe seiner Zeit unterhielt, starb 1467. Sein Sohn Karl der Kühne fiel zehn Jahre später in der Schlacht von Nancy. Danach ging das burgundische Reich nach kaum mehr als 100 Jahren unter. In England förderte der Hundertjährige Krieg die Ausbildung des englischen Nationalbewusstseins. Doch folgten auf ihn zunächst die Rosenkriege (Wars of the Roses), deren Name mit den Abzeichen der streitenden Häuser Lancaster − rote Rose − und York − weiße Rose − zusammenhing. Ausgelöst wurde der Kampf um das Königtum durch den Wahnsinn des letzten Königs aus dem Hause Lancaster, des 1461 abgesetzten Heinrich VI., neben dem Richard of York seit 1455 als Reichsverweser amtierte. 1460 besiegte Richards Sohn Edward of York Heinrich VI. Danach erhob Richard of York Anspruch auf den Thron, bevor das Haus Lancaster in demselben Jahr einen Sieg errang, der Richard das Leben kostete. Nun usurpierte Edward of York 1461 als Edward IV. den Thron. 1471 siegte er über das Heer des Hauses Lancaster, wobei Heinrichs VI. Sohn Edward den Tod fand, bevor sein Vater in demselben Jahr im Wahnsinn starb. Nach dem Tod Edwards IV. 1483 konnte dessen Bruder Richard of Gloucester Edwards unmündigen Sohn, Edward V. of York, und dessen Bruder liquidieren lassen und sich selbst als Richard III. zum König Englands machen. Doch erhob nun ein walisischer Landedelmann, Henry Tudor, der über seine Mutter mit dem Haus Lancaster verwandt war, Anspruch auf die Krone. In der Schlacht von Bosworth errang er 1485 den Sieg über Richard III. und gewann die Krone. Henry Tudor − als
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Heinrich VII. Begründer des Tudor-Königtums − heiratete Elisabeth of York, eine Tochter Edwards IV., vereinigte so beide Häuser, befriedete England und schuf damit die Grundlage für den Aufstieg Englands im 16. Jahrhundert. Domaine royale und États généraux: Innere Entwicklung Frankreichs In Frankreich war, wie im Heiligen Römischen Reich bis 1806 oder in Polen bis 1795, das Königtum anfangs ein Wahlkönigtum. Doch war die Kontinuität der Monarchie, seit die Kapetinger 987 durch Wahl das Königtum erlangt hatten, über Jahrhunderte hin gesichert, weil es den Königen bei Lebzeiten gelang, durch Wahl des Sohnes zum Mitkönig das Königtum faktisch erblich zu machen, was 1137 zur Anerkennung des Erbrechts führte, bevor in der Zeit Philipps II. August in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Erbmonarchie Wirklichkeit wurde. Vor dem 16. Jahrhundert blieben in Frankreich schwerwiegende dynastische Krisen aus; 1328 ging das Königtum trotz der Ansprüche Edwards III. von England auf Philipp VI. und damit auf das Haus Valois über. Doch beherrschten die Könige lange nur einen Teil des alten, aus der Teilung des Reiches Karls des Großen hervorgegangenen westfränkischen Reiches als Krondomäne oder domaine royale. Frankreich war ähnlich zersplittert wie später das Reich. Neben der domaine royale standen die Fürstentümer der Großvasallen und kleinere Herrschaftsgebiete. In diesen Fürstentümern vollzog sich ebenso wie im Bereich der Krondomäne ein Territorialisierungsprozess, der mit der Ausbildung der territorialen Landeshoheit in Deutschland verglichen werden kann und zur Entstehung von Großterritorien wie der Herzogtümer Burgund oder Bretagne führte. Im Unterschied zu Deutschland wurden die Fürstentümer nach und nach vom Königtum übernommen und in die Krondomäne einbezogen. Wichtig wurden dabei schon das 11. und 12. Jahrhundert, vor allem aber die Zeit Philipps II. August, der durch seine erste Heirat 1180 das – der Krondomäne aber bald wieder verlorengegangene – Artois und andere Gebiete und durch Eroberung 1204 die Normandie sowie die Grafschaften an der Loire an die Krone brachte. Unter Ludwig IX. folgte 1226 der Zugriff der Krone auf Teile der Provence und 1258 die Einziehung der teilweise schon von Philipp II. August eroberten Fürstentümer Anjou, Maine, Poitou und Touraine, während Philipp IV. durch seine Ehe im späten 13. Jahrhundert die Grafschaft Blois-Champagne für die Krondomäne gewann. Doch wurden viele dieser Gebiete wieder als Apanage an jüngere Prinzen ausgegeben und teilweise erst sehr viel später, so die Provence 1481, endgültig in die Krondomäne eingegliedert. Das Ergebnis des Hundertjährigen Krieges bestand in der Ausweitung der Krondomäne um die bis dahin zu England gehörenden oder von England besetzten Gebiete mit Ausnahme der Stadt Calais. Ludwig XI., der von 1461 bis 1483 regierte, übte die Herrschaft persönlich mit Hilfe moderner Beratungsgremien aus. Nur einmal fand er sich zur Duldung einer Versammlung der Generalstände, 1468 in Tours, bereit. Wichtig war die
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Vergrößerung der Armee, die Verschärfung der Steuererhebung und die Zurückdrängung der Prinzen von Geblüt (princes du sang). Das waren die ehelich geborenen Mitglieder des Königshauses, aber auch die Angehörigen der Seitenlinien des Königshauses wie Orléans, Anjou und Bourbon. Diese Richtung der inneren Politik wurde unter seinem Sohn Karl VIII. zwischen 1483 und 1498 zwar teilweise wieder in ihr Gegenteil verkehrt, weil dieser als dreizehnjähriger Knabe zur Königswürde gelangte. Dennoch besaß das Königtum um 1500 und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine bedeutende Machtstellung. Doch gab es noch immer das Nebeneinander der Krondomäne und der Fürstentümer großer Adelsdynastien wie Orléans, Bourbon, Anjou, Bretagne und Alençon und die Grafenhäuser Foix, Armagnac und Albret, deren Rolle mit der deutscher Territorialfürsten vergleichbar war. Nur im Bereich der Krondomäne trat der König unmittelbar als Lehnsherr und als Grundherr in Erscheinung. Hier gab es keinen Adel von fürstlichem Rang. Aus dem Bereich der Krondomäne kamen seine Einkünfte. Erst in den anderthalb Jahrhunderten zwischen dem Ende des Hundertjährigen Krieges und der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert gelang es dem Königtum, die Fürstentümer in die Krondomäne einzubeziehen. Dadurch wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts, das mit den Bürgerkriegen der zweiten Jahrhunderthälfte einen bedeutenden Rückschlag brachte, der Staatsbildungsprozess auf der Zentralebene uneingeschränkt möglich und wesentlich vorangebracht. Das vollzog sich zumeist auf lehnsrechtlichem Wege, aber auch unter Einsatz militärischer Gewalt. Während die burgundischen Besitzungen in den Niederlanden nach 1477 ebenso wie die Freigrafschaft Burgund an den Habsburger Maximilian I. gelangten, fielen das Herzogtum Bourgogne, Boulogne und die Picardie 1478 an die Krondomäne, nachdem zuvor schon die Dauphiné (1456) und die Besitzungen der Fürsten und Grafen Armagnac (1460/70) und Alençon (1456/74) zugunsten der Krondomäne eingezogen worden waren. 1515 wurden die Grafschaft Angoulême und 1532 die Bretagne der Krondomäne inkorporiert, was auf die 1491 geschlossene Ehe Karls VIII. mit Anne de Bretagne zurückging. Nach 1527 gelangte der größte Teil der Fürstentümer und Grafschaften des Hauses Bourbon an die Krondomäne, wovon nur das Herzogtum Vendôme ausgenommen war, das 1572 an Heinrich von Navarra, den späteren ersten Bourbonen-König Heinrich IV., fiel, der bereits eine Reihe von Herrschaftsgebieten im Pyrenäenbereich besaß. Nachdem Heinrich IV. 1589 König geworden war, brach er mit der Regel, wonach der Hausbesitz eines Königs bei der Thronbesteigung der Krondomäne zuzuschlagen war. Krondomäne und Privatdomäne blieben getrennt, bis Heinrich IV. 1607 die Vereinigung seines Hausgutes mit der Krondomäne vollzog. Damit wurden die Grenzen der Krondomäne mit den Grenzen des Königreichs identisch. Die Krondomäne wurde zum Staat. Dazu trug die Organisation der Verwaltung und der Einsatz römisch-rechtlich gebildeter Beamter bei, zu dem es in Frankreich früher als in Deutschland kam.
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Während deutsche Studenten auch nach der Gründung der ersten Universitäten in ihrem Land noch immer italienische und französische Studienorte aufsuchten, um das römische Recht kennenzulernen, war Frankreich im 13. und vor allem in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts das neben Italien (Bologna) wichtigste Zentrum des Rechtsstudiums. Das gilt besonders für die Universitäten von Toulouse, Montpellier und Orléans und vor allem für die Universität Paris. Dabei war im praktischen Rechtsleben das römische Recht auf den Süden Frankreichs, die pays de droit écrit, beschränkt, obwohl das römische Recht auch Einfluss auf den Norden, die pays de coutumes, gewann. Schon im 13. Jahrhundert fanden die des römischen Rechts kundigen Juristen (Legisten), darunter Bürgerliche, Aufnahme in den Königlichen Rat. In die Zeit Philipps II. August und seines seit 1226 regierenden Enkels Ludwig IX. fiel die Bildung von Zentralbehörden, mit denen der Behördenaufbau des frühneuzeitlichen Frankreich in den Grundzügen ausgebildet wurde. Aus dem alten Königlichen Rat (curia regis) gingen neue Behörden hervor, das Hofgericht (Parlement) für die Rechtsprechung, die Rechnungskammer für die Finanzverwaltung und der – seit dem 16. Jahrhundert so bezeichnete – Staatsrat (Conseil d’État) als Zentralbehörde für Politik und Verwaltung. Zwar fanden die Sitzungen des Staatsrates noch nicht regelmäßig statt, wie auch die Zugehörigkeit zum Staatsrat noch nicht auf einen festen Personenkreis fixiert war, doch waren in Frankreich Justiz und Verwaltung bereits getrennt, indem mit dem Parlement die richterlichen Funktionen verselbständigt waren. Dem Staatsrat gehörten die Inhaber der hohen, im 16. Jahrhundert oft nur noch repräsentativen Staatsämter, die Grand-Officiers de la Couronne, an, darunter als höchster Amtsträger der Kanzler (Chancelier). Mit Ausnahme des KanzlerAmtes, in dem bürgerliche Amtsinhaber vorkamen, waren die Ämter der GrandOfficiers Angehörigen des Schwertadels (noblesse d’épée) vorbehalten. Seit 1515 trat mit drei, später vier – seit 1559 so bezeichneten – Staatssekretären (Secrétaires d’État) ein neues Element hinzu. Die Staatssekretäre, Vorläufer der modernen Minister, kamen aus dem Bürgertum oder aus dem Amtsadel (noblesse de robe). Ihre Ämter waren von der seit Franz I. und somit seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbreiteten Ämterkäuflichkeit ausgenommen. Die Staatssekretäre waren absetzbar und die ersten modernen Beamten an der Spitze französischer Zentralbehörden; sie wurden das wichtigste Instrument des Königtums beim Aufbau des modernen Staates in Frankreich. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzte sich auch die Bildung von Ressorts, abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen, durch. 1589 verfügte Heinrich III., dass einer der Staatssekretäre für die Außenpolitik und ein anderer für Angelegenheiten des königlichen Hauses und den Krieg zuständig sein sollte. Damit zeichnete sich, erstmals in Europa, die heute übliche Organisationsstruktur von Regierungsapparaten ab, bevor in der Zeit Richelieus in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Ressortaufteilung weiter differenziert wurde.
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Seit dem 13. Jahrhundert war das Gebiet der Krondomäne in Bailliages oder, wie sie im Süden genannt wurden, Sénéchaussées eingeteilt. An der Spitze der – um 1300 23, im 16. Jahrhundert rund 100 – Bailliages bzw. Sénéchaussées stand der Bailli oder Sénéchal als höchster Amtsträger des Königs in seinem Bezirk. Die Inhaber dieses später käuflichen Amtes gehörten dem Schwertadel an, während ihre Vertreter (lieutenant-général) aus dem Amtsadel kamen und seit 1499 einen juristischen Studienabschluss nachweisen mussten. Der Bailli/Sénéchal vereinigte ursprünglich alle Kompetenzen für Verwaltung, Justiz, Steuereinzug und Militärwesen in seiner Bailliage. Im Laufe des 14./15. Jahrhunderts verlor er die Steuererhebung an den Receveur und die Rechtsprechung an den Lieutenant, bevor er im 16. Jahrhundert die militärischen Befugnisse an den Gouverneur der Provinz abgab, der im 17. Jahrhundert durch den Intendanten verdrängt wurde. Dennoch waren die Bailliages/Sénéchaussées im 16. Jahrhundert noch immer die tragenden administrativen Einheiten des Königreichs. Auf das 13. Jahrhundert geht die Bildung der Generalstände (états généraux) zurück, die 1302 unter Philipp IV. erstmals zusammentraten. Im 16. Jahrhundert war der Höhepunkt ihres Einflusses überschritten, obwohl sie in der zweiten Jahrhunderthälfte in einer Zeit der Schwäche des Königtums noch einmal eine Blütezeit erfuhren, bevor sie 1614 letztmalig vor 1789 zusammentraten. Doch gab es im ganzen 16. Jahrhundert nur noch fünf Generalständeversammlungen: 1560/61 in Orléans, 1561 in Pontoise/Poissy, 1576/77 in Blois, 1588/89 in Blois und 1593 in Paris. Seit dem 15. Jahrhundert setzten sich die Generalstände aus Klerus, Adel und Drittem Stand zusammen, dem außer der städtischen Bürgerschaft auch die Steuern zahlenden Bauern angehörten. Die Deputierten aller drei Stände wurden von ihren Standesgenossen auf der Ebene der Bailliages/Sénéchaussés gewählt. Neben den Generalständen gab es seit dem 14. Jahrhundert Provinzialstände (états provinciaux), die im 15. Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt hatten, aber im Laufe des 16. Jahrhunderts in vielen Provinzen verschwanden, so dass nach 1610 nur noch in den Provinzen Normandie, Languedoc, Dauphiné, Bourgogne, Provence, Bretagne und in der unteren Auvergne Provinzialstände bestanden.
Das Haus Österreich Habsburg, Schweizer Bauerngemeinden und Luxemburger 1477 schloss Maximilian I. die Ehe mit Maria von Burgund, der Erbin Karls des Kühnen. Der Habsburger gewann dadurch − und durch die Behauptung des burgundischen Erbes gegen Ludwig XI. von Frankreich in der Schlacht von Guinegate 1479 sowie im Frieden von Arras 1482 − Flandern, Brabant, Hennegau (Hainaut), Luxemburg, Holland und Zeeland und somit den größten Teil der heutigen Niederlande, Belgiens und Luxemburgs sowie die Freigrafschaft Burgund. Nach dem Tod Marias von Burgund 1482 und nach dem Scheitern seiner Pläne einer Eheverbindung mit Anne de Bretagne seit 1494 mit Bianca Maria Sforza, Tochter des Herzogs Ludovico il Moro von Mailand, verheiratet, folgte Maximilian I. seinem Vater Friedrich III. nach dessen Tod 1493 als deutscher König. 1508 nahm er den Titel erwählter römischer Kaiser an. Er vereinigte alle Territorialbesitzungen der Habsburger im heutigen Österreich, Slowenien und Oberitalien sowie in den auch Vorderösterreich genannten Vorlanden − in Südwestdeutschland, der Schweiz und dem Elsass − mit dem burgundischen Erbe. Der 1232 gestorbene Graf Rudolf II., der Alte, von Habsburg war neben den Staufern einer der mächtigsten Dynasten im Südwesten des Reiches, wo seine Vorfahren im Aargau zur Sicherung des habsburgischen Besitzes in jener Gegend um 1020 die Habesbur (Habsburg) erbaut hatten. So war sein Enkel Rudolf IV. kein machtloser kleiner Graf, als er 1273 als Rudolf I. zum deutschen König gewählt wurde, zumal er 1264 durch die Ehe seines Vater den Besitz der Grafen von Kyburg erlangt hatte. Als Hausgut eines Königs war dieses Erbe aber zu schmal. Aussichten auf Territorialgewinn bot der Südosten des Reiches mit den Ländern der 1246 im Mannesstamm erloschenen Babenberger, der 1156 zum Herzogtum erhobenen − und mit dem privilegium minus mit besonderen Rechten ausgestatteten − Markgrafschaft Österreich im Bereich des heutigen Ober- und Niederösterreich und der 1180 gleichfalls zum Herzogtum erhobenen Steiermark. Als König belehnte Rudolf I. 1282 seine Söhne Albrecht I. und Rudolf II. mit den Herzogtümern Österreich und Steier, bevor er Nieder- und Oberösterreich und die Steiermark ungeteilt Albrecht I. überließ. Seit 1282 „datiert die Herrschaft der Habsburger in Österreich, die bis zum 12. November 1918 dauerte“49. Albrecht I. wurde 1298 deutscher König. Mit seinem Tod 1308 − er wurde ermordet − begann ein langes Jahrhundert des Niedergangs der Habsburger. Deutscher König wurde 1308 Heinrich VII. aus der Dynastie Luxemburg, dem 1314 der Wittelsbacher Ludwig der Bayer folgte, der aus einer Doppelwahl mit
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Friedrich dem Schönen von Österreich hervorging und den habsburgischen Rivalen 1322 in der Schlacht von Mühldorf am Inn schlug. In der Schweiz hatten nach dem Tod Rudolfs I., 1291, die genossenschaftlich organisierten Bauerngemeinden nördlich des Gotthardpasses, Uri, Schwyz und Unterwalden (Ob- und Nidwalden), den Ewigen Bund geschlossen. Sie stellten sich den Territorialisierungsbestrebungen der Grafen von Habsburg in ihren Stammlanden entgegen. 1315 schlugen sie in der Schlacht von Morgarten das Ritterheer der Habsburger. Bis 1353 erweiterte sich der Ewige Bund um Luzern, Glarus und Zug und die beiden Reichsstädte Zürich und Bern. 1386 verlor Leopold III. von Österreich die Schlacht von Sempach gegen die Schweizer. In dieser Zeit verfügten die Luxemburger über das deutsche Königtum und seit 1310 auch über die böhmische Königskrone. 1346 wurde der Luxemburger Karl IV., zunächst als Gegenkönig gegen Ludwig den Bayern, zum deutschen König gewählt und 1355 zum Kaiser gekrönt. Er machte Prag zur glanzvollen Residenz, gründete 1348 die Universität Prag und ließ die Stadt an der Moldau zum Zentrum des Frühhumanismus nördlich der Alpen werden. Für die Habsburger schien neben den Luxemburgern bestenfalls ein zweitrangiger Platz möglich zu sein. Nach dem Tod Karls IV. 1378 wurde sein Sohn Wenzel König von Böhmen und deutscher König. Doch kündigte sich in seiner Zeit bereits das Ende der Luxemburger Herrschaft an. 1400 sorgten die vier rheinischen Kurfürsten − die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier und der Pfalzgraf bei Rhein − wegen der von ihnen abgelehnten dynastischen Politik der Luxemburger in Polen und Ungarn für die Absetzung des Königs. Während Wenzel in Böhmen König blieb, trat im Reich Ruprecht von der Pfalz an seine Stelle. Nach seinem Tod wählten die Kurfürsten Wenzels Bruder Sigmund. 1433 empfing er in Rom die Kaiserkrönung. Als er 1437 starb, war das das Ende der Dynastie Luxemburg. Besser schienen die Dinge für die Habsburger in dem Jahrhundert nach 1308 in Österreich zu stehen. 1335 starben die Grafen von Tirol im Mannesstamm aus. Nach einer Vereinbarung von 1282 fiel das Herzogtum Kärnten mit Krain und der Windischen Mark, also großen Teilen des heutigen Slowenien, an Habsburg. 1363 übergab die Erbin Tirols, Margarete Maultasch, auch die Grafschaft Tirol an Rudolf IV. von Österreich, womit die Habsburger nicht nur ein wegen seiner Silber- und Salzvorkommen und wegen des Passverkehrs über den Brenner wichtiges Land erhielten, sondern auch eine direkte Verbindung zwischen dem Ostalpenraum und ihren gefährdeten Besitzungen in der Schweiz. Rudolf IV. war ein bedeutenden Fürst, der zwar mit seinen auf Böhmen und Ungarn zielenden Plänen keinen Erfolg hatte und mit der Nichtaufnahme der Herzöge von Österreich unter die Kurfürsten des Reiches in der Goldenen Bulle Karls IV. von 1356 einen Misserfolg verbuchen musste, aber bis zu seinem Tod 1365 für seine Länder und seine Dynastie Grundlagen schuf, die in der Zukunft Bedeutung erlangten. Er heißt fundator (Stifter), weil er 1359 den Grundstein für den gotischen Neubau der Wiener Stephanskirche legte. 1365 gründete er nach dem
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Vorbild von Prag und Krakau die Universität Wien. Die Goldene Bulle, die die deutsche Königswahl regelte und die Zahl der wahlberechtigten Kurfürsten auf sieben festlegte − neben den vier rheinischen Kurfürsten der König von Böhmen, der Markgraf von Brandenburg und der Herzog von Sachsen −, beantwortete Rudolf IV. mit dem erst 1852 von Wilhelm Wattenbach als Fälschung erwiesenen privilegium maius, das mit seiner Bestätigung durch Kaiser Friedrich III. 1453 Rechtskraft erlangte. Auf das privilegium maius ging der seit 1453 anerkannte Erzherzogstitel der Habsburger zurück, der die rangmäßige Gleichstellung mit den Kurfürsten anzeigte. Bald nach Rudolfs IV. Tod, 1379, kam es zur Teilung des habsburgischen Territorialbesitzes unter seine beiden Brüder, wobei Albrecht III. Niederösterreich mit Wien und Oberösterreich und Leopold III. Steiermark, Kärnten und Tirol erhielt. So entstand die Albrechtinische und die Leopoldinische Linie. 1382 unterwarf sich die Stadt Triest Leopold III., der durch den Kauf von Feldkirch und Bludenz auch das spätere Vorarlberg gewann. Nach seinem Tod in der Schlacht von Sempach 1386 teilte sich die Leopoldinische in die Steierische und die Tiroler Linie. Haupt der Steierischen Linie war der 1424 gestorbene Herzog Ernst der Eiserne, ein Sohn Leopolds III. Von ihm und seiner polnischen Gemahlin Cimbura von Masovien stammen alle späteren Habsburger ab, nur nicht Albrecht V., den die Kurfürsten 1438 als ersten Habsburger seit 1308 zum deutschen König wählten und der sich danach Albrecht II. nannte. Mit ihm begann die lange, nur zwischen 1742 und 1745 unterbrochene Reihe der Habsburger an der Spitze des Heiligen Römischen Reiches, die bis 1806 andauerte. Albrecht II., Friedrich III. und Maximilian I., Jagiellonen, Burgund und Spanien Albrecht II. war seit 1421 mit der Tochter Elisabeth des letzten Luxemburgers, seines Vorgängers Sigmund, vermählt, dem er nicht nur als deutscher König folgte, sondern auch als König von Böhmen und Ungarn. Albrecht II. starb 1439. Erst nach seinem Tod gebar Elisabeth den Sohn Ladislaus Posthumus, mit dessen Tod 1457 die Albrechtinische Linie der Habsburger erlosch. In Böhmen war Georg von Podiebrad, ein Mann aus mährischem Adel und Anhänger der Hussiten, Reichsverweser für Ladislaus, wie Hunyadi in Ungarn. Nur in Österreich konnte sich Friedrich III., Sohn von Ernst dem Eisernen und Haupt der Steierischen Linie, als Vormund behaupten. Er wurde 1440 von den Kurfürsten zum König gewählt und empfing, nach der Königskrönung in Aachen 1442, zehn Jahre später als letzter deutscher König und als erster Habsburger in Rom die Kaiserkrönung. Friedrich III. konnte seiner Dynastie vom Erbe des Ladislaus nur Österreich sichern. In Böhmen wählten die Stände Podiebrad zum König, in Ungarn Hunyadis Sohn Matthias Corvinus. Podiebrad starb 1471, worauf die Stände den Sohn der mit dem polnischen König Kazimierz IV. Jagiellónczyk ver-
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heirateten älteren Schwester des Ladislaus, Elisabeth, Władisław (Vladislav), zum König wählten. Damit übernahm die litauisch-polnische Dynastie der Jagiellonen das böhmische Königtum. Stammvater der Jagiellonen war der 1386 katholisch gewordene Großfürst Jagiełło von Litauen, der 1386 die Personalunion von Polen und Litauen begründet hatte − als König von Polen hieß er Władysław II. Das böhmische Königtum ging 1516 von Władisław auf dessen Sohn Ludwig II. über, den letzten König von Böhmen und Ungarn aus jagiellonischem Haus vor dem Triumph der Habsburger. Ansprüche auf Böhmen erhob 1471 auch der mit einer Tochter Podiebrads verheiratete Matthias Corvinus, der Mähren und Schlesien besetzte. Seit 1477 kämpfte er gegen Kaiser Friedrich III. 1485 besetzte er Wien und machte es zu seiner Residenz, von wo aus er Ungarn, Mähren, Schlesien und Österreich beherrschte. Während der fünf Jahre zwischen 1485 und 1490 entfaltete er in Wien den Glanz eines Renaissancehofes mit der Förderung humanistischer Gelehrsamkeit. In dieser Zeit saß der mit Eleonore von Portugal aus der alten portugiesischen Königsdynastie der Aviz verheiratete Friedrich III. in Graz. Er war aber nicht der „machtlose Kaiser“50, als den ihn manche Historiker sehen. Er schuf die Grundlagen, auf denen der beispiellose Aufstieg der Habsburger unter seinem Sohn Maxilimian I. und unter seinen Urenkeln Karl V. und Ferdinand I. beruhte. Ein Erfolg war es, dass es ihm 1490 gelang, Tirol gegen die Bestrebungen der bayerischen Wittelsbacher für Habsburg zu sichern. So konnte sein Sohn Maximilian I. erstmals seit der Teilung von 1379 über alle habsburgischen Besitzungen verfügen. Ein Erfolg war auch die Nachfolgeregelung im Reich, d. h. die 1486 vivente imperatore (zu Lebzeiten des Kaisers) entschiedene Königswahl Maximilians. Der größte Erfolg Friedrichs III. aber war die Herbeiführung der burgundischen Eheschließung und damit die Gewinnung des burgundischen Erbes. Der Kaiser verhandelte jahrelang mit Karl dem Kühnen von Burgund, der dem Traum eines auf das karolingerzeitliche Lotharingien gestützten eigenen Kaisertums nachhing. Friedrich III. versagte sich solchem Ansinnen und kränkte den stolzen Herzog. Bei der Belagerung von Neuss durch Karl den Kühnen zwang der Kaiser den Herzog an der Spitze eines Reichsheeres 1475 nicht nur zur Aufgabe der Belagerung, sondern auch zur Wiederaufnahme der Verhandlungen über ein Ehebündnis. Dazu kam es nicht mehr, bevor Karl der Kühne im Januar 1477 in der Schlacht von Nancy fiel. Danach betrieb der Kaiser selbst die Eheschließung seines Sohnes mit Maria von Burgund, die Ende April 1477 per procurationem vorgenommen wurde, bevor am 19. August 1477 die Trauung in der Hofkapelle zu Gent stattfand. Einen weiteren Erfolg, der aber bereits Maximilian zuzurechnen war, bildete der 1491 mit dem Frieden von Pressburg geschlossene Erbvertrag mit König Władisław von Böhmen und Ungarn. Der Vertrag legte die gegenseitige Erbfolge beim Erlöschen der einen oder der anderen Dynastie fest. Seit dem 14./15. Jahrhundert nannten sich die Habsburger Haus Österreich, womit der Beziehung zu dem neuen, bedeutenderen Territorialbesitz an der
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Donau und in den Ostalpen der Vorzug vor dem alten Stammbesitz am Oberrhein, in Schwaben und in der Schweiz gegeben und der Name des Landes zum Namen der Dynastie wurde. Anscheinend ist dieser Name schon um 1360 in der Kanzlei Kaiser Karls IV. als domus Austriae nachweisbar.51 Der neue Name des Herrscherhauses wurde im Laufe der Zeit auf die Länder des Hauses Österreich übertragen. Das begann um 1450 bei dem österreichischen Geschichtsschreiber Thomas Ebendorfer52, bei dem die Formel domus Austriae aus der dynastischen Bedeutung heraustrat und alle österreichischen Länder bezeichnete, nicht mehr nur das Herzogtum an der Donau. Der Name Haus Österreich erstreckte sich schließlich − vor allem in der spanischen Form Casa de Austria − über mehrere Erdteile und sogar nach Australien, dessen Name − in der Form Austrialia de Espiritu Santo − auf den spanischen Seefahrer Fernández de Quiroz zurückgeht. Australien − Austria alia − war für diesen Untertan des spanischen Königs Philipp III. aus der Casa de Austria, das andere Österreich.53 Von Friedrich III. gibt es die Formel A E I O U, deren Deutung umstritten ist. Zumeist wird sie als Abkürzung verstanden und aufgelöst als Austriae Est Imperare Orbi Universo (Es ist an Österreich, den Erdkreis zu beherrschen), als Austria Erit In Orbe Ultimo (Österreich wird bis in das fernste Land sein; Österreich wird in Ewigkeit sein) oder Alles Erdreich Ist Österreich Untertan. Wahrscheinlich drückt die Formel als Devise das Bewusstsein der Größe oder − wenn E als Erit und somit als Futur gelesen wird − der künftigen Möglichkeiten des Hauses Österreich aus. Maximilian I. nahm die Heiratspolitik seines Vaters auf. 1496 heiratete sein Sohn Philipp der Schöne die Tochter Ferdinands von Aragón und Isabellas von Kastilien, Johanna die Wahnsinnige, die seit 1500 durch den Tod anderer, vor ihr Erbfolgeberechtigter, darunter ihr 1497 gestorbener Bruder Juan, Erbin der Königreiche Kastilien und Aragón wurde. So konnte ihr 1500 geborener Sohn Karl V. (Carlos I.) nach dem Tod Ferdinands von Aragón 1516 − Isabella von Kastilien war 1504 gestorben − anstelle seiner regierungsunfähigen, erst 1555 gestorbenen Mutter, formal nur als deren Regent, die Herrschaft der vereinigten spanischen Königreiche übernehmen. Damit gelangte Spanien mit allen Nebenländern in der Alten und der Neuen Welt bis zum Tod des letzten spanischen Habsburgers, Karls II., 1700 an die Casa de Austria. Maximilian I. stand auch hinter dem Wiener Fürstentag von 1515. Auf der Grundlage des 1491 in Pressburg geschlossenen Erbvertrages gelang ihm hier die Vereinbarung der Doppelhochzeit der Tochter Anna König Władisławs von Böhmen und Ungarn mit seinem Enkel Ferdinand, dem späteren Kaiser Ferdinand I., und Marias, der jüngeren Schwester Karls V., die später als Witwe unter dem Namen Maria von Ungarn Generalstatthalterin der Niederlande war, mit Władisławs Sohn Ludwig II., der 1516 König von Ungarn wurde. Die Ehen wurden 1521 bzw. 1522 geschlossen. Niemand konnte 1515 wissen, dass der 1491 vorgesehene Erbfall elf Jahre später eintreten würde, nachdem Ludwig II. 1526 während der Schlacht von Mohács gegen die Osmanen ertrunken war. Aufgrund des Erbvertrags von 1491 wurde der mit Ludwigs
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Schwester verheiratete Ferdinand von Österreich 1526 zum König von Böhmen und zum König von Ungarn und 1527 zum König des mit Ungarn verbundenen Kroatien gewählt. Damit begann die Verbindung dieser Länder mit Österreich, die bis 1918 bestand. Ein unbekannter Autor wahrscheinlich der Barockzeit legte Verse von Ovid aus, bezog sie auf Österreich und schrieb: Bella gerant alii, tu, felix Austria nube − nam quae Mars aliis, dat tibi regna Venus (Kriege führen die anderen, du, glückliches Österreich, heirate − denn was Mars andern gibt, schenkt dir Venus, die Königreiche). Aber Burgund und Spanien, Böhmen und Ungarn fielen „nicht einem von der Göttin Venus verwöhnten Haus Österreich einfach ins Ehebett. [...]. All die erheirateten Länder und Kronen mußten mit höchstem diplomatischem Einsatz und stets auch mit militärischen Mitteln angeeignet und gesichert werden. Die Verteidigung des burgundischen Erbes nahm allein eineinhalb Jahrzehnte in Anspruch.“54
Das Ende der mongolisch-tatarischen Oberherrschaft in Russland Die Rus’ und der Mongolensturm Russland – die Rus’, wie der altrussische Name lautete – wurde wie das Byzantinische Reich Opfer der Expansion von Völkern, die aus Mittelasien kamen. Aber während Konstantinopel heute eine türkische Stadt ist, fiel die Tatarenherrschaft über Russland im späteren 15. Jahrhundert in sich zusammen. Auch zu Frankreich gibt es Parallelen, wo die partikularen Fürstentümer bis zum 16. Jahrhundert in die domaine royale einbezogen wurden. Dem entsprach in dem in zahlreiche Fürstentümer zerfallenen Russland die Sammlung des russischen Landes durch Moskau. Doch hatte in Frankreich das Königshaus immer Paris und die Île-de-France besessen, während Moskau unter den russischen Fürstentümern lange eines der bedeutungslosesten war. Das seit 988 christliche, kirchlich Konstantinopel unterstehende Kiever Reich war 1169 in Fürstentümer zerfallen. Die wichtigsten waren im Südwesten Galič (Halyč, Galizien) und im Osten VladimirSuzdal’, dessen Fürst (knjaz’) seit etwa 1200 den Großfürstentitel (velikij knjaz’) führte. Durch weitere Teilungen entstanden Udel-Fürstentümer (russ. udelit’, zuteilen) wie Smolensk, Černigov oder Murom-Rjazan’. 1300 verlegte der Metropolit von Kiev und ganz Russland, das seit 1039 in Kiev residierende kirchliche Oberhaupt, seinen Sitz nach Vladimir. Moskau war ein von Vladimir-Suzdal’ abgeteiltes Udel-Fürstentum. 1206 gründete Tschingis Chan ein expansives Weltreich, das von Mittelasien aus seit 1215 China eroberte und nach Korea vordrang, bevor es nach Westturkestan und Iran sowie nach Europa ausgriff. 1223 erlitten die russischen Fürsten in der Schlacht an der Kalka ihre erste Niederlage gegen die Mongolen. 1227 starb Tschingis Chan. Seine Erben setzten die Eroberungszüge fort, die sich unter Bātū gegen Europa richteten. 1237 wurde das Fürstentum Rjazan’ erobert, 1238 Moskau und Vladimir. Nach der Eroberung von Kiev wurde 1241 das polnische Krakau zerstört, ein Heer aus schlesischen, polnischen und Ordensrittern in der Schlacht von Liegnitz vernichtet und ein Heer des Ungarnkönigs besiegt. Ein Jahr später zog Bātū aus Ungarn ab, weil ein Herrscherwechsel ihn nach Qara Qorum, der mongolischen Hauptstadt, rief. Die russischen Fürstentümer wurden von den Mongolen nicht annektiert. Doch entstand mit der Goldenen Horde (Zolotaja Orda) ein mongolisch-tatarisches Staatswesen, das sich zwischen dem Aralsee, dem Kaukasus und dem Dnestr erstreckte. Den Mittelpunkt bildeten Alt- und Neu-Sarāi an der unteren Wolga. Von Sarāi aus übten die Mongolen oder Tataren ihre Herr-
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schaft über die russischen Fürstentümer aus, die sich vor allem im Bereich von Vladimir-Susdal’ und seiner Udel-Fürstentümer bemerkbar machte. In Sarāi nahm der Chan der Goldenen Horde die Huldigung der russischen Fürsten entgegen; in Sarāi wurde nach jedem Herrscherwechsel der Jarlyk ausgestellt, die Bestätigungsurkunde, mit der die Großfürsten ihre Würde erhielten und zu deren Empfang sie persönlich zu erscheinen und ihre Tributzahlungen abzuliefern hatten. Auch die Metropoliten bedurften eines Jarlyk des Chans, doch war die Kirche von der Tributpflicht befreit. Der Mongolensturm ließ in Russland zerstörte Städte und verwüstete Landstriche zurück. In politischer, wirtschaftlich-sozialer und kultureller Hinsicht kam es zur Trennung des nordöstlichen vom südwestlichen Russland, wo die Folgen weniger tiefgreifend waren. Das Großfürstentum Moskau Die Großfürsten von Vladimir residierten im späteren 13. Jahrhundert nicht mehr in Vladimir, sondern in Tver’. So entstand das Fürstentum Tver’, später der Rivale von Moskau, das 1301 das bis dahin zu Rjazan’ gehörende Kolomna an der Mündung der Moskva in die Oka gewann. Damit begann die Sammlung der Länder der Rus’ durch Moskau, die durch Eroberung, Kauf oder Erbschaft vor sich ging. 1303 erbte Daniil Aleksandrovič Perejaslavl’; 1304 eroberte Jurij Danilovič Možajsk, womit Moskau zu Beginn des 14. Jahrhunderts das Flussgebiet der Moskva beherrschte. 1304 starb der Großfürst von Vladimir, Andrej Aleksandrovič. Nun begann die Auseinandersetzung zwischen Moskau und Tver’ um das Erbe von Vladimir. Zunächst erreichte Andrejs Neffe, Michail Jaroslavič von Tver’, in Sarāi den Großfürsten-Jarlyk. Nach einem Wechsel im Chanat erhielt Jurij Danilovič von Moskau in Sarāi den Jarlyk, womit die Großfürstenwürde auf Moskau überging, bevor Ivan I. Danilovič Kalita die Großfürstenwürde 1328 endgültig für Moskau gewann, die von da an, von einer kurzen Unterbrechung nach dem Tod Ivans II. Ivanovič 1359 abgesehen, bei Moskau blieb. Das war eine wichtige Rangerhöhung, die dadurch nicht gemindert wurde, dass Tver’ und Rjazan’ später in Sarāi ebenfalls Großfürstentitel erhielten, weil Moskau das kirchliche Zentrum für alle russischen Fürstentümer wurde. Das begann, als der Metropolit Petr, der 1308 auf den 1305 gestorbenen Metropoliten Maksim folgte, auf die Moskauer Karte setzte. 1326 verlegte sein Nachfolger, der Grieche Theognost, seine Residenz nach Moskau, das von da an Sitz des Metropoliten blieb, was der Patriarch von Konstantinopel 1354 anerkannte. Novgorod und Pskov Im Nordwesten des ostslavischen Siedlungsgebietes lag Novgorod. Seit 1136 hatte die Stadt, die über den aus dem Ilmensee austretenden Volchov mit dem Ladogasee und über die Neva mit der Ostsee verbunden war, ihre politische Selb-
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ständigkeit mit einem für den militärischen Schutz gewählten Fürsten, mit der Volksversammlung (veče) und mit gewählten Amtsträgern aus der Bojarenoligarchie erlangt. Seit dem 12./13. Jahrhundert bestand eine Niederlassung deutscher Kaufleute, aus der das Hansekontor hervorging. Weiter westlich lag Pskov (Pleskau), das zunächst als Beistadt zu Novgorod gehörte, aber 1348 selbständig wurde und die Verfassung Novgorods annahm. Politisch lag Novgorod, das 1237/38 dem Mongolensturm entging, im Blickwinkel Schwedens und des Deutschen Ordens, dem sich 1237 der livländische Schwertbrüderorden unterstellte. 1240 schlug Großfürst Aleksandr Nevskij von Vladimir die Schweden. Anfang April 1242 folgte sein Sieg über den Deutschen Orden in der Schlacht auf dem Eis des Peipussees. Seitdem spielte der Deutsche Orden für Novgorod keine Rolle mehr. Das Großfürstentum Litauen Im 13. Jahrhundert vereinigte der litauische Fürst Mindaugas, der 1253 getauft wurde, die litauischen Stämme. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts schufen Gedimin und seine Söhne das litauische Großreich, das weite Teile des ostslavischen Siedlungsgebiets und russische Teilfürstentümer wie Smolensk und mit Kiev den alten Mittelpunkt der Kiever Rus’ umfasste. Großfürst Jagiełło, der 1386 die polnische Königstochter Hedwig (Jadwigá) heiratete und die Personalunion Litauens mit Polen begründete, war sein Enkel. Die russischen Fürstentümer lagen zwischen dem nach Osten und Südosten expansiven Litauen und der Goldenen Horde. Im 14. Jahrhundert ergab sich zeitweise ein Zusammengehen des Großfürstentums Moskau mit der Goldenen Horde, dem Moskau die Großfürstenwürde verdankte, und des mit Moskau rivalisierenden Tver’ mit Litauen, das selbst das Ziel einer Vereinigung der russischen Fürstentümer unter Tver’ verfolgte. Im Süden konnte Litauen seit 1362 bedeutende Teile des Fürstentums Galič − Wolhynien, Ostpodolien − erwerben. Im Osten scheiterte Litauen an der erfolgreichen Verteidigung Moskaus, das 1367 eine steinerne Stadtbefestigung erhalten hatte, und an dem Sieg Moskaus über das mit Litauen verbündete Tver’ von 1375. Doch blieb Tver’ noch für mehr als ein Jahrhundert als selbständiges Fürstentum bestehen. Die litauische Gefahr war für Moskau auch nach der Wende zum 15. Jahrhundert weiter gegeben − der Sieg Jagiełłos über den Deutschen Orden 1410 bei Tannenberg gab Litauen noch einmal die Möglichkeit zu expansiver Ostpolitik −, bevor die polnisch-litauische Personalunion den Blick der litauischen Großfürsten und polnischen Könige dem Westen zuwandte. Vom Kulikovo pole zum Ufer der Ugra In China brach 1368 die mongolische Herrschaft zusammen. Die Goldene Horde verlor dadurch ihren Rückhalt. Zwar gründete Timūr in Mittelasien ein
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neues mongolisches Reich mit dem Zentrum in Samarkand, doch bedeutete das keinen Machtzuwachs für die Goldene Horde, deren Gebiet Timūr 1391 und 1395 wie ein feindlicher Eroberer durchzog, als der er auch in Iran, im Kaukasus, in Indien und im osmanischen Anatolien auftrat. Nach seinem Tod 1405 wurde das neue mongolische Reich geteilt und zerfiel bis 1506. In der Goldenen Horde war jetzt der Temnik (Militärkommandant) Mamāi der starke Mann. 1378 kam es bei Grenzkämpfen zu einem Sieg des Großfürsten Dmitrij Ivanovič von Moskau über tatarische Truppen. Das veranlasste Mamāi zu einer Strafexpedition gegen Moskau, die er 1380 im Bündnis mit Jagiełło von Litauen unternahm. Um der Vereinigung der tatarischen und der litauischen Heeresmacht zuvorzukommen, zog Dmitrij Ivanovič zu Felde und errang 1380 auf dem Kulikovo pole (Schnepfenfeld) am oberen Don einen großen Sieg über die Tataren. „Die politische Fernwirkung dieses Sieges war gewaltig: Der Ruf der Unbesiegbarkeit war für die Tataren endgültig dahin“55, auch wenn der neue Chan der Goldenen Horde, Tochtamyš, 1382 Moskau erobern und Dmitrij Donskoj, wie Großfürst Dmitrij Ivanovič seit dem Sieg auf dem Kulikovo pole genannt wurde, zu einer erhöhten Tributpflicht zwingen konnte. Der Machtverlust der Goldenen Horde ging weiter, obwohl Chan Edigü 1408 noch einmal bis vor Moskau gelangte und 1416 Kiev eroberte. Dennoch konnten Großfürst Vasilij I. Dmitrievič, der 1389 seinem Vater Dmitrij Ivanovič Donskoj folgte, und dessen seit 1425 herrschender Sohn Vasilij II. Vasil’evič die Sammlung der Länder der Rus’ kaum fortsetzen. Zu stark war noch immer das litauische Großfürstentum, zu mächtig auch immer noch die tatarische Goldene Horde. Zum Zerfall der Goldenen Horde trug die Entstehung eines zweiten tatarischen Staatswesens bei, des seit 1438 gebildeten Chanats Kazan’ an der Wolga. Als dritter Tatarenstaat trat in den vierziger Jahren des 15. Jahrhunderts das von der Goldenen Horde abgespaltene Chanat der Krim hinzu, das seit 1475 Vasallenstaat des Osmanischen Reiches war. 1462 kam in Moskau der Sohn Vasilijs II., Ivan III. Vasil’evič, an die Macht. Ihm gelang es bis zu seinem Tod 1505, das gesamte ostslavische Siedlungsgebiet mit Ausnahme der zu Polen-Litauen gehörenden Gebiete (Galič) mit Moskau zu vereinigen. Das betraf vor allem die (Groß-) Fürstentümer Tver’ und Rjazan’ und die Udel-Fürstentümer Jaroslavl’ und Rostov, aber auch bis dahin von Litauen beherrschte Gebiete wie Smolensk. Tver’ wurde 1485 gewaltsam dem Moskauer Staat einverleibt. Rjazan’ kam bis 1503 auf dem Erbweg in mehreren Etappen zu Moskau, bevor es 1521, schon unter Vasilij III. Ivanovič, endgültig in das Großfürstentum Moskau integriert wurde. 1471 bereitete Ivan III. Vasil’evič Novgorod eine vernichtende Niederlage, bevor die Stadtrepublik 1478 in den Moskauer Staat einverleibt wurde. Pskov folgte 1510. Mit Novgorod und Pskov verlor Russland das Element städtischer Autonomie, wie es Europa vor allem mit den Stadtrepubliken Italiens und den deutschen Reichsstädten kannte.
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Die Vollendung der Sammlung des russischen Landes durch Moskau war nur möglich, weil die politischen Interessen des polnisch-litauischen Doppelreiches in dieser Zeit im Westen lagen und weil Moskau die Oberherrschaft der mongolisch-tatarischen Goldenen Horde abschütteln konnte. Das geschah endgültig 1480, zwar auf militärischem Wege, aber doch auf ganz undramatische Weise durch die weitgehend kampflose Begegnung der Truppen beider Seiten an der Ugra, einem linken Nebenfluss der Oka. 1494 schloss Ivan III., befreit von der Oberherrschaft der Goldenen Horde, einen Grenzvertrag mit Litauen, der ihm territoriale Gewinne brachte. Im gleichen Jahr nahm der Großfürst den Titel gosudar’ vseja Rusi (Herrscher von ganz Russland) an.
Der Sieg der Reconquista und die Vereinigung von Kastilien und Aragón Triebkräfte der Katholischen Reform in Spanien Wenn man die Triebkräfte der Katholischen Reform in Spanien verstehen will, muss man auf die Iberische Halbinsel vor dem 16. Jahrhundert blicken. Das Grunddatum ist die Eroberung durch die muslimischen Araber 711. Die arabische Eroberung erreichte das Pyrenäengebiet und den Norden von Aragón und Katalonien nicht. Hier und weiter westlich in den Bergen von Asturien bildete sich eine Widerstandsbewegung unter Führern aus altem westgotischem Adel. Ein solcher war Pelayo, von dem die Araber in der Schlacht von Covadonga 722 geschlagen und aus Asturien vertrieben worden sein sollen, was aber nur durch einen Mirakelbericht überliefert ist. Sicher ist, dass mit dem Widerstand Asturiens, der Basken und in den Bergen Aragóns im 8. Jahrhundert die Reconquista begann, die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel. Später verbanden sich in der Idee der Reconquista Neogoticismus und der Kreuzzugsgedanke. Die Kunde vom Jakobsgrab in Santiago de Compostela seit dem 9. Jahrhundert gab der Reconquista ihren katholischen Charakter. al-Andalus und Kastilien-León Ausgangspunkt der Reconquista gegen al-Andalus − so die arabische Bezeichnung der unter muslimischer Herrschaft stehenden Iberischen Halbinsel − war das in Asturien entstandene Reich Alfonsos I., el Católico, der Streifzüge bis auf die Höhe von Valladolid unternahm und bedeutende Teile Altkastiliens, darunter 755 León, eroberte. Alfonso II. residierte in Oviedo und errichtete südlich der Cordillera Cantabrica eine Verteidigungslinie mit zahlreichen Kastellen, worauf der Name Kastilien (Castilla) zurückgeht. Ordoño I. und Alfonso III. konnten die Grenzen gegenüber al-Andalus bis zum Río Duero und streckenweise noch weiter nach Süden vorschieben. Das ermöglichte Alfonso III. 875 die Verlegung der Residenz in das südlich der Cordillera Cantabrica gelegene León. Doch wurde Asturien nach seinem Tod 910 unter seinen Söhnen aufgeteilt. 929 errichtete Emir ’Abdarrahmān III. das Kalifat von Córdoba, womit die innere Schwäche von alAndalus überwunden wurde. Córdoba war seit dem 8. Jahrhundert Sitz eines Emirs; als Sitz des Kalifen wurde die Stadt am Guadalquivir eine der größten europäischen Städte und das wichtigste Kulturzentrum des Islam in Europa vor der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen. Die Zeit des Kalifats von
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Córdoba war die Blütezeit des muslimisch-arabischen Spanien. Unter dem Kalifen ’Abdarrahmān III. begannen arabische Gegenangriffe, die 939 zu schweren Niederlagen der Christen führten. Unter dem Kalifen Hišām II., der von 976 bis 1013 regierte, nahmen die Truppen al-Mansūrs bi-Ilāh (Muhammad ibn abi ’Āmir) in 52 Feldzügen den Kampf gegen die christlichen Reiche des Nordens auf. 984 eroberten sie León, 997 plünderten sie Santiago de Compostela. Nach dem Tod al-Mansūrs setzte der Niedergang ein, der 1031 zum Ende des Kalifats führte. An dessen Stelle traten muslimische Teilkönigreiche (Taifen-Reiche), die politisch weitgehend machtlos, aber Stätten höfischer Kultur waren. Nur der Verfall des Kalifats von Córdoba machte den Fortgang der Reconquista möglich. 1037 vereinigte Fernando I. León, Asturien und Kastilien. Kastilien-León wurde das wichtigste christliche Reich auf der Iberischen Halbinsel. Daneben bestanden die Grafschaft Barcelona und die Grafschaft Aragón, die unter dem seit 1134 regierenden Ramiro II. Königreich wurde. Unter Raimund Berengar IV. wurden Barcelona bzw. Katalonien 1137 mit Aragón vereinigt, dessen Hauptstadt seit der Eroberung der Stadt 1118 Zaragoza war. Zur Zeit des seit 1072 regierenden Alfonso VI. von Kastilien-León erreichte die Reconquista die TajoLinie. 1085 wurde Toledo erobert, das 1087 Hauptstadt des Königreichs Kastilien-León wurde − und Hauptstadt Kastiliens blieb, bis Philipp II. 1561 Madrid zur Hauptstadt erhob. In dieser Zeit nahm die Reconquista mit Ritterorden wie dem Orden Militar de Calatrava, dem Orden Militar de Santiago und dem Orden de Alcántara endgültig Kreuzzugscharakter an. Eine große Gestalt der Reconquista der Zeit Alfonsos VI. war der bis heute als Nationalheld verehrte Rodrigo Díaz el Campeador, zur literarischen Figur geworden unter seinem maurischen Beinamen Cid. Geboren als kastilischer Adelssohn, eroberte Rodrigo Díaz 1094 das muslimische Valencia. Die Gestalt des Cid wurde Gegenstand der spanischen Heldendichtung und Idealbild spanischen Rittertums und des Sieges über die muslimischen Araber. Alfonso VI. ließ sich nach der Kapitulation Toledos zum Kaiser der beiden Religionen, des Christentums und des Islam, ausrufen und nahm damit die schon früher von den Königen von León, „gewissermaßen als Antwort auf den von Córdoba propagierten Kalifentitel“56, und den Grafen von Kastilien beanspruchten Imperatortitel auf. Doch musste der König 1086, 1097 und 1108 Niederlagen gegen die Truppen der nordafrikanischen Berberdynastie der Almoraviden hinnehmen, die die muslimischen Taifen-Könige seit 1082 zur Hilfe gerufen hatten. Zwischen 1091 und 1095 eroberten Heerführer des Almoravidenherrschers Yūsuf Spanien von Lissabon bis Murcia zurück. Nur der Cid und nach dessen Tod 1099 seine kriegerische Witwe behaupteten Valencia bis 1102. Das Vordringen der Almoraviden und die inneren Auseinandersetzungen in Kastilien nach dem Tod Alfonsos VI. 1109 ließen die Reconquista vorerst zum Erliegen kommen.
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Erst der Niedergang der Macht der Almoraviden und die Konsolidierung des kastilischen Königtums unter Alfonso VII., der den Kaisertitel beibehielt, machte die Fortsetzung der Reconquista möglich. Seit 1133 unternahm er Beutezüge bis nach Córdoba, Sevilla, Cádiz, Jérez und Carmona. 1139 begann er gezielt Eroberungsfeldzüge. 1142 fielen Oreja und Coria in seine Hand, wodurch er das Tajotal endgültig gewann und die muslimischen Städte Córdoba, Sevilla, Granada und Almerías bedrohen konnte, von denen er Almerías 1147 zeitweise besetzte. Nach seinem Tod 1157 folgten ihm seine Söhne Sancho III. el Deseado in Kastilien und Toledo und Fernando II. in Galicien, León, Asturien und der Extremadura, bevor sein Sohn Alfonso VIII. von Kastilien weitere Eroberungen machen und 1212 gemeinsam mit Pedro II. von Aragón und unter Beteiligung portugiesischer Truppen den großen Sieg von Las Navas de Tolosa erringen konnte. Mit dem Ausgang dieser Schlacht in Andalusien − Innozenz III. hatte dem Feldzug Kreuzzugscharakter verliehen − verschob sich „das Kräfteverhältnis zwischen Muslimen und Christen auf der Iberischen Halbinsel endgültig zugunsten der Christen“57. Nach dem Tod Alfonsos VIII. 1214 ging die Krone von Kastilien 1217 auf Fernando III., den Heiligen, aus der Linie León über, der 1230 Kastilien und León endgültig vereinigen und die Reconquista für Kastilien zu einem vorläufigen Abschluss bringen konnte. 1236 eroberte er Córdoba, 1243 Murcia, 1246 Jaén und 1248 nach langer Belagerung Sevilla tief im Süden Spaniens. Aragón und Portugal Aragón verfolgte eine eigene, wenn auch oft − wie bei der Schlacht von Las Navas de Tolosa − mit Kastilien gemeinsame Reconquista. Zu den Gemeinsamkeiten gehörten die Verträge von Tudején 1151 und Cazorla 1177, mit denen die künftigen Eroberungsgebiete abgegrenzt wurden. Zwischen 1229 und 1235 eroberte Jacobo I. Mallorca, Menorca und Ibiza, 1238 Valencia. 1282 erwarb Pedro III. Sizilien. 1297 wurde Jacobo II. von Bonifaz VIII. mit Sardinien belehnt, wo er seinen Herrschaftsanspruchs nach Kämpfen 1323/24 durchsetzen konnte. Eine eigene Reconquista hatte auch Portugal. Der Vertrag von Sabugal mit Kastilien grenzte 1231 die Eroberungsgebiete ab. Die Entstehung Portugals war eine Folge der Reconquista. Mitte des 11. Jahrhunderts eroberte Fernando I. von León den muslimischen Norden Portugals. Sein Sohn Alfonso VI. belehnte den burgundischen Grafen Heinrich (Henrique), seinen Schwiegersohn, 1096 mit den Grafschaften Portugal und Coimbra, dem Gebiet zwischen Minho und Tejo (Tajo). Henriques Sohn Afonso I. nahm 1139 die Königswürde an. Alfonso VII. von Kastilien erkannte 1143 die Unabhängigkeit Portugals an, das Afonso I. Papst Lucius II. 1144 als Lehen auftrug. 1179 bestätigte Papst Alexander III. die portugiesische Königswürde. Afonso I. von Portugal konnte Lissabon, unterstützt von englischen Kreuzrittern, 1147 von der muslimisch-arabischen Herrschaft befreien. Ihren Abschluss fand die portugiesische Reconquista ein Jahr-
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hundert später, als unter Sancho II. 1232 der Alentejo und 1239 mit Hilfe des Ritterordens von Santiago Ayamonte an der Mündung des Rio Guadiana und die Algarve erobert wurden. Nach 1248 gab es nur noch Grenzkorrekturen gegenüber Kastilien, vor allem die Einigung von 1253 und die Übereinkunft von Badajoz von 1267 zwischen Afonso III. von Portugal und Alfonso X. von Kastilien, womit Portugal auf die Gebiete östlich des Guadiana und Kastilien auf die Algarve verzichteten. Zu nennen ist außerdem der Vertrag von Alcanices von 1297, den Isabel die Heilige von Portugal zwischen ihrem Gemahl, Dinis I., und Fernando IV. von Kastilien vermittelte und der im Wesentlichen die heutige Grenze zwischen Spanien und Portugal festlegte. Unter Afonso IV. kam es zum Konflikt mit Kastilien, den der Sultan von Marokko zum Angriff nutzte, der aber 1340 bei Salado zurückgeschlagen werden konnte. Mit dem Tod Fernãos I. endete 1383 das portugiesische Haus Burgund. Um die Vereinigung Portugals mit Kastilien zu verhindern, proklamierten die Cortes von Portugal – cortes ist im Portugiesischen und im Spanischen das Wort für Reichsstände oder Reichtstage –, die es seit 1212 als Cortes von Coimbra gab, den illegitimen Sohn Pedros I. und Großmeister des Ritterordens von Avis, João I., 1383 zum König von Portugal. Mit ihm begann die portugiesische Königsdynastie der Avis. Die Reconquista führte in Portugal zu dem Gegensatz zwischen dem früh zurückeroberten Norden, der durch bäuerlichen Kleinbesitz geprägt war, und dem später zurückeroberten Süden, wo durch Landvergabe an Ritter- und andere Orden, darunter der 1317 gegründete Christusorden (Ordem de Cavalaria de Nosso Senhor Jesu Christo), ausgedehnte Latifundien entstanden, wobei die Grenze zwischen Norden und Süden nicht am Tejo verlief, sondern weiter nördlich am Mondego. Das muslimische Granada, das katholische Spanien und der 2. Januar 1492 Nach der Eroberung der Algarve 1239 und dem Fall von Sevilla 1248 gab es bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts Eroberungen auf Kosten der Muslime. 1262 fielen Cádiz, 1266 Murcia, 1276 Cartagena, 1344 Algericas und 1462 Gibraltar an Kastilien, während Portugal 1415 Ceuta an der marokkanischen Küste gegenüber von Gibraltar eroberte und Kastilien 1497 Melilla an der marokkanischen Mittelmeerküste erwarb. Von diesen Eroberungen abgesehen gab es auf der Iberischen Halbinsel nach der Mitte des 13. Jahrhunderts vom alten al-Andalus nur noch das muslimische Königreich Granada, das neben Kastilien-León, Aragón und Portugal aber keine große Rolle mehr spielte und seit 1246 unter der Lehnshoheit Kastiliens stand. Das von der muslimisch-arabischen Herrschaft befreite Spanien des 13., 14. und 15. Jahrhunderts war Schauplatz hervorragender Universitätsgründungen und der Entstehung theologischer Schulen von europaweiter Bedeutung. Im Gefolge des siegreichen Kreuzzugs der Reconquista gegen die ungläubigen Muslime,
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die auf spanischem Boden und besonders in Córdoba bedeutende intellektuelle Zentren besessen hatten, kam − als geistige und theologische Reconquista − die spanische Spätscholastik zum Tragen, die ihren Höhepunkt mit der Escuela de Salamanca des 16. Jahrhunderts um Theologen wie den Dominikaner Francisco de Vitoria hatte. Während in Portugal Dinis I. 1290 die Universität Lissabon errichtete, die 1537 nach Coimbra verlegt wurde, wurde die Universität von Salamanca schon 1218 gegründet. 1346 folgten ihr die Universität von Valladolid und 1499 die von dem späteren Kardinal Francisco Ximenes (Jiménez) de Cisneros, seit 1495 Erzbischof von Toledo, als Reformuniversität für den Klerus Spaniens konzipierte und 1508 eröffnete Universidad Alcalá de Henares. Hinzu kamen die Ordensstudienhäuser der Dominikaner, Franziskaner, Augustiner-Eremiten und Karmeliten in Toledo, Valencia und andernorts, vor allem die Dominikanerschule von San Esteban in Salamanca. Die Schule von Salamanca brachte im 15. Jahrhundert Gelehrte wie Juan de Segovia, Pedro Martínez de Osma oder den Dominikaner Diego de Deza hervor, im 16. Jahrhundert neben Vitoria u. a. den Dominikaner Bartolomé de Las Casas. Fernando III. von Kastilien, der heiliggesprochene Sieger über die Muslime von 1236 und 1248, war der Urgroßvater Fernandos IV. Diesen trennten vier Generationen kastilischer Herrscher von Juan II. von Kastilien, dem 1454 gestorbenen Vater Isabellas, die nach dem Tod ihres Bruders Enrique IV. 1474 Königin von Kastilien wurde. Seit 1469 war sie mit Ferdinand von Aragón verheiratet, der bereits seit 1468 König von Sizilien war und nach dem Tod seines Vaters Juan II. 1479 auch König von Aragón wurde. Durch diese Eheschließung entstand die Personalunion von Kastilien und Aragón, die nach dem Tod Ferdinands 1516 zur Zeit Karls V. zur Realunion verdichtet und zur Grundlage des spanischen Nationalstaates und der spanischen Großmacht im Europa und in der Welt des 16. Jahrhunderts wurde. Am 2. Januar 1492 fiel nach zehnjährigem Krieg Granada − Innozenz VIII. hatte den christlichen Kriegern Kreuzzugsablässe (cruzadas) gewährt −, womit das letzte muslimische Herrschaftszentrum auf der Iberischen Halbinsel verschwand. 1496 verlieh Alexander VI., der Spanier Rodrigo de Borja, Isabella und Ferdinand den Titel Katholische Könige − Isabel la Católica y Fernando el Católico, los Reyes Católicos.
Entdeckungsreisen und europäische Expansion Warum die Portugiesen? Warum nicht die Chinesen? Die Reconquista siegte mit der Eroberung von Granada 1492. Die Expansion Portugals nach Afrika und die Kastiliens nach Mittel- und Südamerika wurde als Fortsetzung der Reconquista verstanden. Neben wirtschaftlichen Interessen galt für die Portugiesen, dass sie, „indem sie Marokko eroberten, einfach fortfuhren, die Ungläubigen zurückzudrängen und Gebiete zurückzuerobern, die vorher der Christenheit gehört hatten“58. Ähnlich war es mit den Spaniern in Amerika. „Die conquista wurde Kampf gegen das Heidentum, wie die reconquista Kampf gegen den Islam gewesen war.“59 Mit den Entdeckungsreisen begann, was man heute Globalisierung nennt, deren erste Phase bis zum 20. Jahrhundert als die der europäischen Expansion erscheint. Es gab Entdeckungsreisen von Europäern außerhalb Europas vor dem Zeitalter der Entdeckungen. Leif Erikssons Fahrt von Grönland nach Nordamerika 1000/01 oder Marco Polos Reise nach China im 13. Jahrhundert sind die berühmtesten Beispiele. Es gab Expansionen vor der europäischen Expansion, die Europa oder zumindest seine mediterrane Gegenküste betrafen. Das gilt für den Arabersturm des 7. Jahrhunderts. Es gab auch Entdeckungsfahrten, die ihren Ausgang außerhalb Europas nahmen und Europa hätten entdecken können. Dabei ist vor allem an die Entdeckungsfahrten der Chinesen der Ming-Dynastie zu denken, die sich zeitgleich mit den Anfängen der portugiesischen Entdeckungsfahrten abspielten. Durch zeitgenössische Berichte und Inschriften weiß man von sieben großen Flottenunternehmungen, von denen die ersten drei zwischen 1405 und 1411 bis Calicut an der Malabarküste im Westen Indiens führten. Das vierte Unternehmen reichte bis Hormuz am Eingang des Persischen Golfes und das fünfte bis Aden und damit fast bis ins Rote Meer und nach Ostafrika, während die siebte Reise, 1431 bis 1433, in Calicut endete. Besonders interessant ist die sechste Reise. 1421 stachen die Schiffe des Kaisers Yung-lo (Chu Ti, Ch’eng-tsu) und des mächtigen Eunuchen Cheng Ho (Zhenghe) in See, gewaltige Dschunken, an denen gemessen portugiesische Karavellen oder niederdeutsche Hansekoggen sich wie kleine Bötchen ausnahmen. Sie kamen mindestens bis nach Ostafrika. Es gibt aber auch − für den Historiker nicht ganz einwandfreie − Theorien, wonach einige Dschunken 1421 die Südspitze Afrikas von Ost nach West umsegelten und die Kapverdischen Inseln erreichten. Von dort sollen sie an die brasilianische Küste und an dieser entlang nach Süden, teilweise aber auch nach Norden in die Karabik und nach Nordamerika gelangt sein, während Eu-
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ropa unberührt blieb. Seit den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts wurden die chinesischen Flottenexpeditionen aufgegeben. Schließlich hätten die Entdeckungsfahrten der Portugiesen und Spanier auch ein Jahrhundert früher beginnen können. Warum nahmen die Entdeckungsfahrten der Europäer ihren Ausgang in Portugal? Neben dem Erbe der Reconquista hatte Portugal eine alte Seefahrertradition, besonders im Fischfang, der vor allem von der Algarve ausging. Statthalter der Algarve war der Infant Henrique, ein Sohn Joãos I. Henrique war seit 1420 Großmeister des Christusordens und personifizierte so die Reconquistatradition. Mit Henrique o navegador, Heinrich dem Seefahrer, verbinden sich die Anfänge der portugiesischen Entdeckungsfahrten, bei denen er vor allem den ökonomischen Gewinn suchte, ohne selbst zur See zu fahren. Die portugiesischen Entdeckungsfahrten seit 1419 1419 und 1420 stachen Karavellen von der Algarve aus in See und erreichten Madeira, womit die portugiesische Herrschaft über Madeira und Porto Santo begann. Die Besetzung erfolgte, weil Kastilien Schiffe nach Porto Santo geschickt hatte. Auf den Kanarischen Inseln, die Clemens VI. 1344 dem kastilischen Infanten Luis de la Cerda als Lehen zugesprochen hatte, kam Kastilien Portugal zuvor, nachdem Jean de Béthencourt und Gadifer de la Salle 1402 in Lanzarote gelandet waren und 1403 Enrique III. von Kastilien den Lehnseid geleistet hatten. Diese Weltgegend war Seefahrern Portugals und Kastiliens, Mallorcas und Genuas ebenso wie die Westküste Afrikas bis zum Cabo Bojador längst bekannt. 1427 erreichte Diogo de Silves die Azoren. 1431 einigten sich Portugal und Kastilien im Vertrag von Medina del Campo über die Abgrenzung ihrer Interessensphären. 1434 entsandte der Infant Henrique einen anderen Seemann der Algarve, Gil Eanes, der den Cabo Bojador umsegelte, bevor er 1435 den Wendekreis des Krebses überschritt. 1441 fuhr Nuno Tristão bis an das Cabo Branco Ras Nouadhibou im heutigen Mauretanien, während Dinis Dias 1445 im Auftrag der Krone Cabo Verde erreichte und in den fünfziger und sechziger Jahren die Kapverdischen Inseln für Portugal erschlossen wurden. Der afrikanischen Westküste folgend gelangten Diogo Gomes und im Dienst Henriques stehende italienische Seeleute nach Guinea und Sierra Leone sowie nach Monrovia. 1479 schlossen Portugal und Kastilien den Vertrag von Algáçovas, mit dem Portugal die kastilischen Rechte an den Kanaren anerkannte, während Kastilien Portugal die westafrikanische Küste und die vorgelagerten Inseln zugestand. 1487 suchte Bartolomeu Dias im Auftrag der Krone den Seeweg nach Indien. Von Stürmen weit abgetrieben, umschiffte er die Südspitze Afrikas, bis ihn eine Meuterei seiner Mannschaft zur Umkehr zwang. Auf der Rückreise entdeckte er 1488 das Kap, dem João II. den Namen Cabo da boa esperanza (Kap der Guten Hoffnung) gab. 1497 folgte ihm Vasco da Gama, ein im Alentejo geborener Por-
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tugiese, den Manuel I. mit der Suche des Seewegs nach Indien beauftragt hatte. Er umsegelte Afrika, erkundete die afrikanische Ostküste und erreichte am 22. Mai 1498 Calicut. Der Seeweg nach Indien war gefunden. 1499 nach Lissabon zurückgekehrt, erhob ihn Manuel I. zum Grafen und zum almirante do mar da India. Später wurde Vasco da Gama, der die Grundlagen für das portugiesische Kolonialreich in Asien legte, Vizekönig von Indien. Der portugiesische Nationaldichter Luis de Camões, der selbst von 1553 bis 1556 in Goa − seit 1559 Sitz des Vizekönigs und bis 1961 portugiesisch − lebte, hat Vasco da Gamas Taten in seinen Lusiaden verherrlicht. 1492: Der folgenreiche Irrtum und die Neue Welt Als Vasco da Gama 1498 Indien erreichte, hatte Christoph Kolumbus − der Genuese Cristoforo Colombo − auf der Suche nach dem westlichen Seeweg nach Indien schon sechs Jahre zuvor einige Inseln der Karibik, die er für Teile Japans hielt, und damit Amerika entdeckt, dessen karibische Inselwelt wegen dieses folgenreichen Irrtums bis heute auch Westindien genannt wird. Kolumbus, der zuerst den portugiesischen Hof für seinen Plan zu gewinnen suchte und sich erst später nach Kastilien wandte, hatte Vorgänger, die vor ihm daran gedacht hatten, den Weg nach Indien in westlicher Richtung zu suchen. Das gilt vor allem für den Florentiner Paolo Pozzo di Toscanelli, der ein solches Projekt 1474 an Afonso V. herantrug, aber weder bei ihm noch bei seinem Nachfolger João II. Erfolg hatte. 1484 verließ Kolumbus Lissabon. Auch in Kastilien fand er zunächst kein Gehör. Das änderte sich erst 1491, kurz vor dem Fall Granadas. Die erste Reise des Kolumbus begann am 3. August 1492. Mit drei Schiffen stach er von Palos an der Mündung des Río Tinto in See, erreichte zunächst die Kanaren, wo er vier Wochen blieb, und begann dort am 6. September die Seereise nach Westen. Am 12. Oktober 1492 entdeckte er die Bahama-Insel Guanahani, die er San Salvador nannte und die später den Namen Watling-Island erhielt. Am 27. Oktober erreichte er Kuba, von ihm Juana genannt, am 6. Dezember die Hauptinsel der Großen Antillen, heute Haiti und die Dominikanische Republik, der er den Namen Espãnola (Hispaniola) gab. Hier gründete er eine Niederlassung, bevor er nach Spanien zurückkehrte und am 15. März 1493, einige Indios sowie Gold und Papageien mitführend, in Sevilla eintraf. Die zweite Reise, zu der er 1493 aufbrach, fand mit 17 Schiffen und rund 1.500 Mann statt und führte zur Entdeckung der Kleinen Antillen, Jamaicas und Puerto Ricos. Kolumbus kehrte 1496 nach Europa zurück. Auf seinen weiteren Reisen zwischen 1498 und 1504 entdeckte er − bis zu seinem Tod 1506 überzeugt, Indien auf der Westroute erreicht zu haben − die Nordküste Südamerikas im Bereich des Orinocodeltas sowie das Festland Mittelamerikas von Honduras bis Panama. Während Kolumbien den Namen des Kolumbus trägt, verewigt der gesamte amerikanische Doppelkontinent mit seinem Namen den eines anderen Italie-
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ners, Amerigo Vespucci, der 1499 im Dienst Kastiliens nach Westen fuhr und Teile der karibischen und der atlantischen Küste Südamerikas, vor allem Venezuela und die Mündung des Amazonas, entdeckte. 1501 und 1503 unternahm er, jetzt im Dienst Portugals, weitere Reisen, die an die brasilianische Küste und bis hinunter an den Rio de la Plata führten. 1500 war schon Pedro Alvares de Cabral an der Küste Brasiliens in der Nähe des späteren Bahia (Salvador) an Land gegangen, das er für Portugal in Besitz nahm. Brasilien wurde von den Portugiesen anfangs nur − unter Nutzung der südatlantischen Meeresströmung − als Stützpunkt auf der Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung nach Indien verwendet sowie zur Gewinnung des roten Brasilholzes, das Brasilien seinen Namen gab. Erst nach 1531 erfolgte, um Spaniern und Franzosen zuvorzukommen, die Festsetzung Portugals in Brasilien. Das portugiesische Seaborne Empire, deutsche Gelehrte und Kaufleute Der Schwerpunkt der Interessen Portugals lag zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Südostasien. 1508 entdeckten portugiesische Seeleute Malakka, das Portugal 1511 als künftigen Ort der Festung A Famosa zur Sicherung der Hauptroute nach China und des Gewürzhandels mit den 1512 entdeckten Molukken in Besitz nahm. 1517 erreichten die Portugiesen Südchina, wo sie seit 1522, endgültig seit 1557 und bis 1999 Macao besaßen, und schließlich 1526 Neuguinea. Sieben Jahre früher, 1519, hatte der Portugiese Fernão de Magalhães unter der Flagge Kastiliens mit fünf Karavellen eine Weltumseglung in westlicher Richtung begonnen, bei der er im Kampf auf den Philippinen getötet wurde. Magalhães erkundete die brasilianische und argentinische Küste von Pernambuco nach Süden und entdeckte die nach ihm benannte Magellan-Straße zwischen Patagonien und Feuerland, die er zur Passage in den Pazifischen Ozean nutzte, den der Spanier Vasco de Balboa schon 1513 über den Isthmus von Panama erreicht hatte und den Magalhães nun bis zu den Philippinen überfuhr. Nur ein Schiff unter dem Kommando von Juan Sebastián Elcano konnte die Reise über den Indischen Ozean und nach Umfahrung des Kaps der Guten Hoffnung über den Atlantischen Ozean fortsetzen und traf am 6. September 1522 mit 18 Überlebenden in Spanien ein. Mit dieser dreijährigen Reise um die Welt, über die der Mitreisende Antonio Pigafetta einen Bericht verfasste,60 war der empirische Beweis für die schon im zweiten Jahrhundert nach Christus von Klaudios Ptolemaeos behauptete Kugelgestalt der Erde erbracht. In Deutschland blieben die Entdeckungsfahrten der iberischen Mächte nicht unbemerkt. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts kamen deutsche Gelehrte, Abenteurer und Söldner nach Lissabon, wohin die Hanse seit dem 14. Jahrhundert Verbindungen unterhielt. Darunter war der Nürnberger Martin Behaim, der aber wohl nur am ersten Abschnitt der neuerdings vorausgesetzten dritten Reise Diogo Cãos beteiligt war.61 Zwischen 1490 und 1493 entwarf Behaim den im
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Germanischen Nationalmuseum verwahrten Erdapfel, den ältesten vollständig erhaltenen Erdglobus, den Ruprecht Kolberger nach seinen Angaben anfertigte. 1493 richtete der Humanist Hieronymus Münzer im Auftrag Maximilians I., der ja der Sohn der portugiesischen Prinzessin Eleonore war, einen Brief an João II., um ihn für ein gemeinsames Überseeunternehmen zu gewinnen. Darüber kam es 1494 in Köln zu einem Vertragsabschluss. Doch wurde aus der Sache nichts. Der Erfolg der Indienfahrt Vasco da Gamas ließ die oberdeutschen Handelshäuser der Fugger, Welser und Höchstetter aus Augsburg und der Imhof und der Hirschvogel aus Nürnberg in Lissabon Niederlassungen einrichten, denen Manuel I. Privilegien einräumte, während die Krone von Portugal über ihre an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert von Brügge nach Antwerpen verlegten Feitoria de Flandres Gewürze und Zucker und vor allem indischen Pfeffer vertrieb. An den portugiesischen Indienfahrten Anfang des 16. Jahrhunderts nahmen Deutsche wie Balthasar Springer und Hans Mayr teil, die darüber Berichte verfassten. An der Indienfahrt Francisco de Almeidas von 1505/06 waren deutsche und italienische Handelsunternehmen als Investoren beteiligt. Auch der Nürnberger Kaufmann Ulrich Imhof fuhr mit. Der als Buchdrucker in Portugal tätige, aus Mähren stammende Valentim Fernandes sorgte für den Informationsfluss über den Fortgang der Entdeckungen nach Deutschland, wo neben Springers 1509 erschienener Merfahrt und Werken wie den ins Deutsche übersetzten italienischen Reisebeschreibungen Paesi nuovamente retrovati Francanzano da Montalboddos von 1507 und der Cosmographia Introductio von 1507 Flugblätter und Newe Zeytungen auch breitere Bevölkerungsschichten über das Geschehen unterrichteten. Tordesillas − Zaragoza Hatte es während der Reconquista wiederholt vertragliche Absprachen über die Abgrenzung der Eroberungsgebiete gegeben − die Verträge von Tudején und Cazorla zwischen Aragón und Kastilien und den Vertrag von Sabugal zwischen Portugal und Kastilien −, so traf man solche Regelungen bald auch außerhalb Europas. Von dem Vertrag von Medina del Campo zwischen Portugal und Kastilien von 1431 war schon die Rede, ebenso von dem Vertrag von Alcáçovas von 1479, den Sixtus IV. 1481 bestätigte. Kirche und Papsttum spielten bei der europäischen Expansion eine bedeutende Rolle. Die Erschließung der Küstengebiete weiter Teile Mittel- und Südamerikas führte zu dem Anspruch Kastiliens auf Beherrschung dieses Teiles der Welt. Zwei Jahre nach der ersten Atlantiküberfahrt des Kolumbus teilten Kastilien und Portugal die westliche Erdhälfte entlang einer 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln in Nord-Süd-Richtung durch den Atlantischen Ozean und durch Brasilien gezogenen Linie. Das geschah nach einem Schiedsspruch Alexanders VI. im Kloster Santa Clara zu Tordesillas in Altkastilien. Alle Gebiete jenseits dieser Demarkationslinie, von Eu-
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ropa aus gesehen, sollten Kastilien, die diesseits Portugal gehören, das aufgrund des Vertrags von Tordesillas von 1494 Brasilien und Afrika für sich beanspruchen und den Seeweg über den Südatlantik in den Indischen Ozean nach Indien und Südostasien beherrschen konnte. 1529 schlossen Spanien und Portugal den Vertrag von Zaragoza und teilten damit die östliche Erdhälfte entlang einer östlich der Philippinen durch den Pazifischen Ozean verlaufenden Nord-Süd-Linie. Dabei hing die Mitwirkung des Papstes an der Aufteilung der Welt mit dem Gedanken seiner weltumspannenden Vollmacht im Sinne der potestas suprema et plena zusammen. So hatte Nikolaus V. schon 1454 alle damals erworbenen und noch zu erwerbenden Gebiete dem König von Portugal geschenkt, der sie als päpstliches Lehen empfing. In erster Linie ging es bei diesen Verträgen und besonders beim Vertrag von Tordesillas um die Abgrenzung von Missionsgebieten, indem Kastilien und Portugal Missionsmonopole für bestimmte Teile der außereuropäischen Welt übertragen wurden. Als Gegenleistung für die Schenkung übernahmen Kastilien und Portugal die Verpflichtung, in den ihnen zugeteilten Weltgegenden den christlichen Glauben auszubreiten. 1508 verlieh Julius II. Kastilien das Recht, in Amerika Bistümer zu errichten und Bischöfe zu ernennen. Spanien leitete aus der übernommenen Missionsverpflichtung das Recht zur Eroberung der entdeckten Gebiete und ihres Hinterlandes ab. 1519 erfolgte die Besitzergreifung Mexikos durch Hernando Cortez für den König von Kastilien und Aragón, Carlos I., der in demselben Jahr in Frankfurt am Main als Karl V. zum deutschen König gewählt wurde. Im gleichen Jahr begann die mit genozidartigen Vorgängen verbundene Zerstörung der indianischen Kulturen in Kolumbien, Peru und Mexiko durch die spanischen Konquistadoren und damit die Eroberung Mittel- und Südamerikas durch Spanien.
Renaissance und Humanismus Das Renaissancebild Jacob Burckhardts Jacob Burckhardt überschrieb den vierten Abschnitt seines Buches Die Kultur der Renaissance in Italien von 1860, das bis heute das populäre Renaissancebild prägt, mit Die Entdeckung der Welt und des Menschen. Er spricht davon, „frei von zahllosen Schranken, die anderwärts den Fortschritt hemmten, individuell hoch entwickelt und durch das Altertum geschult“ habe sich „der italienische Geist auf die Entdeckung der äußeren Welt“ gerichtet; „frühe“ finde man „einzelne Italiener auch schon im Atlantischen Meere als Teilnehmer von Entdeckungen“. Kolumbus sei ja „nur der größte einer ganzen Reihe von Italienern“62. Geht es dabei um die Entdeckungsfahrten, so gehört für ihn zur Entdeckung der Welt auch die „Entdeckung der landschaftlichen Schönheit“63. Hier ist von Petrarca und seiner Besteigung des Mont Ventoux bei Carpentras in der Provence 1336 die Rede. Entdeckt wird für Burckhardt in der Renaissance aber auch der Mensch selbst, in seiner äußeren Schönheit, in seiner Individualität und in seinen ihn über sich selbst hinaushebenden Möglichkeiten. Burckhardt lässt hier die Anthropozentrik der Renaissance deutlich werden, die den Menschen (o` ¥nqrwpoj) und nicht Gott in den Mittelpunkt des Weltverständnisses rückte. Dahinter steht seine Sicht der „Erschütterung des Glaubens überhaupt“64 in der Renaissance. Die Einschätzung des Verhältnisses von Renaissance und Religion unterscheidet das Verständnis der Renaissance bedeutender Teile der heutigen Renaissanceforschung vom Renaissancebild Burckhardts, während die „Wiedererweckung des Altertums“65 kaum strittig ist. Protorenaissancen und Renaissancebegriff Die Hochschätzung der Antike teilte die Renaissance mit den von manchen Historikern Protorenaissance genannten Bewegungen des Mittelalters. Burckhardt notierte, „diejenige Bildung, die Karl der Große vertrat“, sei „wesentlich eine Renaissance gegenüber der Barbarei des 7. und 8. Jahrhunderts“ gewesen, während „die ganze Klostergelehrsamkeit allmählich eine große Masse von Stoff aus römischen Autoren in sich aufgenommen“ habe.66 Man kennt die iro-keltische Renaissance, die karolingische Renaissance mit ihrer an der Antike orientierten Bildungsreform, die ottonische Renaissance und die Renaissance des 12. Jahrhunderts. Doch sind das an den Schreibtischen von Historikern oder Kunsthistorikern erdachte Rückübertragungen des Renaissancebegriffs, während die Renaissance des 15. und 16. Jahr-
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hunderts selbst den Begriff Renaissance (Wiedergeburt, ital. Rinascimento) prägte. 1550 ist das italienische Rinascità in den Lebensbeschreibungen italienischer Künstler, Vite de’ più eccellenti architetti, pittori ed scultori italiani, des Giorgio Vasari, 1553 das französische Renaissance bei Pierre Belon belegt.67 Der zeitgenössische Gedanke der Wiedergeburt der Antike stand im Zusammenhang mit dem Epochenbewusstsein, in einer neuen Zeit zu leben, die das dunkle Mittelalter überwand und die alte Zeit erneuerte. Dieses Epochenbewußtsein war den Protorenaissancen fremd. So konnte der Kunsthistoriker Erwin Panofsky schreiben: „Im Gegensatz zu den verschiedenen mittelalterlichen Renaissancen bedeutete diese Renaissance einen Wandel nicht dem Grad, sondern der Art nach.“68 Für Paul Oskar Kristeller war Renaissance ein Epochenbegriff für den Zeitraum zwischen 1300 und 1600 und der Name eines Zeitalters, in das er Reformation und Katholische Reform einbeziehen konnte. Der Name einer Bewegung war für ihn Humanismus. Hingegen fasste Eugenio Garin Renaissance als Bewegung der Aneignung der Antike auf. Aneignung der Antike war aber gerade das, was die Humanisten anstrebten in ihrem Glauben, „dass man unbedingt die Alten studieren und nachahmen müsse, um gut zu schreiben und zu reden“69. Es fällt deshalb schwer, im Humanismus eine Unterabteilung der Renaissance zu sehen. Es war die Antikerezeption des Humanismus, die der Renaissance den Stoff lieferte, was Kristeller auch für die Kunst der Renaissance gelten lässt, so dass man sagen kann: Ohne Humanismus keine Renaissance. Deshalb müssen beide, Renaissance und Humanismus − der Begriff wurde 1808 von Friedrich Immanuel Niethammer für den Latein- und Griechischunterricht eingeführt − auf einer Ebene betrachtet werden. studia humanitatis und Humanismus Zeitgenössisch waren im 15. Jahrhundert der Ausdruck Humanista als Benennung der Gelehrten oder Lehrer der Humaniora und die Bezeichnung studia humanitatis − ein auf Cicero zurückgehender Begriff. Mit den studia humanitatis gingen dem Humanismus in den artes liberales, d. h. im artes-Studium der Universitäten, mittelalterliche Vorformen voraus. In den studia humanitatis verbanden sich Grammatik und Rhetorik mit Poesie, Historie und Moralphilosophie. Die Rhetorik diente als ars dictaminis dem Unterricht im Verfassen von Briefen, Urkunden und öffentlichen Reden zur Ausbildung künftiger Kanzler und Sekretäre von Päpsten und Bischöfen, Fürsten und Städten. Hinzu kam die lateinische Grammatik. Das Lateinische war im Mittelalter keine tote Sprache. Durch das Lateinische standen die Gebildeten in einem Traditionszusammenhang mit der römischen Antike. Doch war das Lateinische als Gebrauchslatein vielfachen Veränderungen gegenüber dem Latein Ciceros unterworfen. Im 13. Jahrhundert nahmen den Bemühungen der Lehrer der Rhetorik und der Grammatik um ein gutes Latein zu. Das gilt für den Lehrer Dantes, Brunetto Latini und erst recht für die von manchen schon als Frühhumanisten bezeichneten Lovato Lovati, Al-
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bertino Mussato oder Giovanni del Virgilio in Padua, Verona oder Bologna, bevor der Humanismus mit Petrarca und danach mit Coluccio Salutati, Leonardo Bruni und Lorenzo Valla in Florenz seinen ersten Höhepunkt erreichte. Für die Frühhumanisten vor Petrarca bleibt aber fraglich, ob ihr Interesse an der antiken Literatur schon Humanismus war. August Buck gibt die Antwort: „Erst als das Bewußtsein des historischen Abstandes zur Antike erwachte, begann der eigentliche Humanismus und mit ihm die Renaissance. Das war bei Petrarca der Fall“70 − in den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts. Das Studium des Griechischen Kristeller nennt auch das Studium des Griechischen, das im Mittelalter im lateinischen Europa wenig bekannt war. Immerhin machte das Konzil von Vienne 1311/12 Griechischunterricht zur Pflicht. In Konstantinopel waren Griechischstudien vor 1453 selbstverständlich. Als die italienischen Humanisten sich den Griechischstudien zuwandten, machten sie das als Schüler byzantinischer Gelehrter. Petrarca ließ sich von Barlaam von Kalabrien Griechischunterricht erteilen; Boccaccio nahm den Griechischlehrer Leonzo Pilato in sein Haus auf, der von der Stadt Florenz mit Griechischunterricht beauftragt und dafür von 1360 bis 1362 bezahlt wurde. 1396 kam Manuel Chrysoloras als Griechischlehrer nach Florenz, der auch in Pavia und Venedig unterrichtete. Seine 1484 gedruckten Erotemata (™rèthmata, Fragen) waren die erste griechische Grammatik der Renaissance. Mit ihm begann nicht nur mehr als ein halbes Jahrhundert vor dem Fall von Konstantinopel der Exodus byzantinischer Gelehrter nach Italien, der sich mit dem Konzil von Ferrara/Florenz 1438/39 verstärkte und 1453 weiter zunahm, sondern auch der breite Strom der griechischen Studien. Seit etwa 1410 gab es Griechischlehrer in Florenz und Padua, später auch in anderen Städten. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde Griechisch an den Universitäten Italiens und im 16. Jahrhundert auch Mittel-, West- und Nordwesteuropas üblich. Bald waren es nicht mehr nur byzantinische Gelehrte wie Johannes Argyropulos in Florenz, Demetrios Chalcondylas in Padua, Florenz und Pavia oder Theodor Gaza in Ferrara, die Griechisch unterrichteten, sondern auch italienische Humanisten, so Francesco Filelfo in Bologna, Florenz und Mailand, der in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts in Konstantinopel Griechisch gelernt hatte und mehr als 40 Handschriften mit Werken griechischer Autoren nach Italien mitbrachte. Griechische Handschriften gelangten in großer Zahl nach Italien, aber auch nach Paris und später nach Oxford oder Leiden. Lorenzo de’ Medici schickte mit Johannes Lascaris einen Handschriftenacquisiteur in den Osten. Ihm richtete Leo X. in Rom eine griechische Druckerei ein, bevor Franz I. ihn 1518 nach Paris rief. Johannes Bessarion vermachte seine Handschriftensammlung der Markusbibliothek in Venedig. Griechisch und die Literatur der griechischen Antike, diese auch in lateinischen Übersetzungen, wurden unter den
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Gebildeten populär. Zugleich fanden das nach dem Muster Ciceros purifizierte Latein und Autoren der römischen Antike neue Verbreitung − mit der Folge, dass Latein zur alten Sprache und damit zur toten Sprache wurde. Vollendung des Menschen durch Bildung Die studia humanitatis, die sich noch im 15. Jahrhundert auf das Hebräische − die klassische Antike als Bezugsbasis um die christliche und jüdische erweiternd − ausdehnten, waren nicht nur Philologie. Bruni schrieb an Niccolò Strozzi in Florenz, die Studien der Humanisten sollten zur Vervollkommnung des Menschen dienen.71 So wollte auch Boccaccio „aus dem natürlichen Menschen durch Bildung“ einen besseren Menschen hervorgehen lassen72 − ein Gedanke Ciceros. Dahinter stand das optimistische Menschenbild, wie es auch Giovanni Pico della Mirandola vertrat. Dieser Bildungsoptimismus gehört zu der ganz weltlichen Seite des Humanismus und war weit entfernt von jedem Sünder- oder Sündenbewusstsein, vom Gedanken des auf dem Menschen lastenden peccatum originale und von dem Glauben an seine Erlösungsbedürftigkeit. Insofern war der Humanismus eine ganz säkulare Erscheinung. Der Gedanke der perfectio (Vollendung) und der exornatio (Verherrlichung) des Menschen durch Bildung im Strozzibrief verbindet den Humanismus mit der Renaissance − wenn Renaissance nicht nur als Epochenbegriff verstanden wird −, mit ihrer Anthropozentrik und ihren pädagogischen Bemühungen und mit dem Kult des großen Individuums. Die Pädagogik als praktische Umsetzung des Bildungsoptimismus war nicht nur Fürsten- oder Prinzenerziehung wie bei Erasmus von Rotterdam in seiner Institutio principis christiani von 1516 oder Höflings- und Aristokratenerziehung wie bei Baldassare Castiglione in seinem 1528 gedruckten Cortegiano; es war auch Pädagogik für breitere Schichten. Die Feier des großen Individuums tritt in Lebensbeschreibungen wie den Künstlerviten Vasaris hervor, mit denen der Lobpreis der Uomi illustri die Heiligenviten verdrängte. Die Kunst der Renaissance Die Kunst der Renaissance zeigt in der Architektur die Übernahme antiker Bauformen und Stilelemente, in der Plastik die Anlehnung an die Antike und den Kult der großen Persönlichkeit und in der Malerei das individuelle Porträt, die Darstellung weiblicher Schönheit und männlicher Kraft, die Verbildlichung von Eros und Kratos, die neue Sicht der Schönheit der Natur und die Fülle dessen, was griechische Mythologie und antiker Götterhimmel an Stoffen lieferten. In der Kunstgeschichte Italiens setzte die Renaissance ein, als Petrarca schon seit fast einem halben Jahrhundert gestorben war, nämlich um 1420 in Florenz. Auch das zeigt den Vorlauf des Humanismus vor der Renaissance als Erscheinung der Bildenden Kunst, mehr noch die Tatsache, dass in der Frührenaissance
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die Antike noch nicht im Blick der Künstler stand und in der Malerei antike Stoffe erst seit etwa 1460 aufgenommen wurden. Während Giotto di Bondone, der Schöpfer der Fresken der Arena-Kapelle in Padua, noch als Maler der Gotik gilt, wird Masaccio als Maler der Frührenaissance betrachtet. Die Richtigkeit dieses Urteils bestätigen seine 1425 geschaffenen Fresken in der Brancacci-Kapelle von Santa Maria del Carmine in Florenz im Vergleich mit den Fresken Masolinos da Panicale, eines noch der Gotik zuzurechnenden Künstlers, am gleichen Ort von 1424. Masaccios Fresken zeichnen sich aus durch „kraftvolle, lebensnahe Figuren, deren Körper realistisch durchgeformt sind, während Masolinos Protagonisten keine emotionalen Regungen zeigen“73. Dabei waren die Stoffe, die Masaccio darstellte, noch religiös, so das nach 1425 entstandene Trinitätsfresko in Santa Maria Novella in Florenz. Statt pagane Stoffe bildlich umzusetzen, waren die Maler der Frührenaissance noch mit denselben Themata beschäftigt wie ihre Vorgänger im 13. oder 14. Jahrhundert. Das gilt für Fra Angelico, Benozzo Gozzoli, Fra Filippo Lippi und andere. Wichtiger war die Entdeckung der Zentralperspektive zwischen 1410 und 1420, wofür Filippo Brunelleschi zu nennen ist. Er war der Schöpfer der Kuppel des Domes von Florenz aus den Jahren 1420 bis 1436. In der Plastik schuf Donato di Niccolò di Betto Bardi genannt Donatello nicht nur zwischen 1444 und 1453 das der Heroisierung des großen Individuums verpflichtete Reitermonument des Gattamelata auf der Piazza del Santo in Padua, sondern mit dem bronzenen David aus den 1440er Jahren eines der bedeutendsten Bildwerke der Frührenaissance. Aber auch die Maler fanden nach 1430 zu einem neuen Porträtstil und zu einer neuen Darstellung der Natur. Das wird in Giovanni di Paolos Madonna der Demut aus der Zeit um 1442 greifbar, bevor Piero della Francesca gut 30 Jahre später die Doppelporträts der Battista Sforza und des Federigo da Montefeltro vor einen wohl unter flämischem Einfluss stehenden Landschaftshintergrund setzte und Sandro Botticelli um 1482 in La Primavera Venus in die Rosenfülle eines Gartens stellte. Mit seiner Geburt der Venus schuf Botticelli um 1485 ein Gemälde, das sich thematisch völlig von der religiösen Malerei löste und stattdessen im Rückgriff auf antike Stoffe allegorisch-mythologischen Themata verpflichtet war. In der Hochrenaissance verlagerten sich die künstlerischen Kräfte nach Rom, wo der Neubau von Sankt Peter Architekten, Maler und Bildhauer anzog, nachdem Julius II. 1506 Donato d’Angelo genannt Bramante die Aufgabe übertragen hatte, für ihn ein repräsentatives Grabmal zu errichten und dazu anstelle von Alt-Sankt Peter eine neue Kirche zu bauen. Als bei Bramantes Tod 1514 nur die vier Pfeiler, die die Kuppel tragen sollten, vollendet waren, übertrug Leo X. den Auftrag an Raffael Santi, der Bramantes Planung umwarf. Nach Raffaels Tod kehrte Baldassare Peruzzi zu Bramantes Plänen zurück. 1547 übernahm Michelangelo Buonarotti die Bauleitung, bei dessen Tod 1564 der Tambour der Kuppel fertiggestellt war. 1590 war Neu-Sankt Peter als kuppelbekrönter Zentralbau fertig, bevor Paul V. Carlo Maderna mit dem Bau eines den Zentralbau nach
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Osten verlängernden Langhauses beauftragte. 1626 nahm Urban VIII. die Weihe vor. Die Plastik der Hochrenaissance wurde von den Werken Michelangelos − seine Kolossalfigur des David von 1501/04 in Florenz, sein Moses von 1513/16 in San Pietro in Vincoli in Rom − beherrscht. Die Malerei fand ihre größten Meister in Leonardo da Vinci − seine frühe Verkündigung, wohl 1473/75, in den Uffizien, seine Madonna in der Felsengrotte von 1483/85 in Paris, sein Abendmahl von 1495/98 in Santa Maria delle Grazie in Mailand, seine Mona Lisa von 1503/05 im Louvre, seine Anna Selbdritt aus der Zeit um 1510 an demselben Ort −, in Michelangelo − seine Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle von 1508 bis 1512, sein Jüngstes Gericht an der Stirnwand der Sixtina von 1534/41 − und in Raffael − seine Schule von Athen von 1510/11 in der Stanza della Segnatura des Vatikans, seine Sixtinische Madonna von 1513/14 in Dresden. Doch dürfen darüber die großen Maler Oberitaliens und insbesondere Venedigs nicht vergessen werden, vor allem Tizian − seine Himmelfahrt Mariens von 1516/18 in Santa Maria dei Frari in Venedig, seine Venus von Urbino von 1536 in den Uffizien, sein Gemälde Kaiser Karl V. nach der Schlacht von Mühlberg von 1548 im Prado. 1520 starb Raffael. Der Sacco di Roma, die wochenlange Plünderung Roms durch meuternde spanische und deutsche Landsknechte 1527, gilt als das Ende der römischen Renaissancekultur und wurde von den Zeitgenossen als göttliches Strafgericht an dem verweltlichten Papsttum wahrgenommen. Hingegen erstreckte sich der Humanismus bis ins 17. Jahrhundert. Renaissance-Philosophie Nach Kristeller war der Platonismus, wie ihn Marsilio Ficino und sein Schüler Pico della Mirandola in Florenz vertraten, nicht Humanismus. Es gab eine Kontinuität platonischen Denkens, die aber mehr in der Tradition des im 3. Jahrhundert n. Chr. von Ammonios Sakkas und Plotin begründeten Neuplatonismus stand, als dass sie auf Platon selbst zurückging, von dem man bis ins 12. Jahrhundert nur den Timaios kannte. Im 12. Jahrhundert übersetzten Henricus Aristippus Platons Menon und seinen Phaidon und im 13. Wilhelm von Moerbeke den Parmenides ins Lateinische. Die Vermittung des Platonismus erfolgte im Mittelalter auch im Augustinismus der Franziskanerschule, der in der Renaissance wiederkehrte, und im Kontext der Mystik. Auffällig ist, dass der Beginn des Renaissance-Platonismus mit dem Exodus der byzantinischen Gelehrten nach Italien zusammenhing. 1428 brachte Giovanni Aurispa den vollständigen griechischen Text der Werke Platons aus Konstantinopel mit nach Venedig. Auf dieser Grundlage entstanden lateinische Platon-Übersetzungen, deren wichtigste von Marsilio Ficino stammte und 1483/84 in Florenz erschien. Auch Manuel Chrysoloras und Johannes Bessarion waren Platoniker, ebenso der byzantinische Philosoph Georgios Gemistos Plethon, der zum Konzil von Ferrara-Florenz 1438/39 kam. Zumindest äußerlich stand der Platonismus der Renaissance in enger Berührung mit dem Humanismus. Der Flo-
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rentiner Platonismus unterschied die der natürlichen Erkenntnisfähigkeit zugänglichen Bereiche von der nur durch Glaube, Hoffnung und Liebe zu erfassenden Sphäre Gottes. Ficino lehnte die aristotelische Naturphilosophie ab, weil sie den Blick vom Göttlichen auf das Materielle lenke, während Pico den Gedanken vertrat, dass Gott der Vernunft nicht zugänglich sei. Der Platonismus, wie er auch bei Nikolaus Cusanus und später bei Paracelsus begegnet, war antimaterialistisch und öffnete Zugänge zum Pantheismus, zur Kabbala und zum Okkultismus, aber auch zum christlichen Glauben und zu rationalistischen Denkrichtungen, wie später bei Spinoza. Einzelne Gedanken des Platonismus konnten in der aristotelischen Richtung der Renaissance-Philosophie Aufnahme finden, so bei Pietro Pomponazzi, der die Unsterblichkeit der Seele verwarf. Humanistische Historiographie und historische Kritik Anders als beim Florentiner Platonismus ist bei der Geschichtsschreibung der Renaissance nicht zweifelhaft, dass sie Humanismus war. Zu groß waren die Unterschiede zur Annalistik, Chronistik und Hagiographie des Mittelalters, zu deutlich der Vorbildcharakter der antiken Historiographie, zu normativ das ad fontes-(zu den Quellen)-Prinzip. Der erste große Vertreter der humanistischen Geschichtsschreibung war Leonardo Bruni, der bei Manuel Chrysoloras studiert hatte und in Florenz das Amt des Staatskanzlers bekleidete. Er kannte römische Historiker wie Livius, Sallust und Tacitus, aber auch griechische Geschichtsschreiber wie Thukydides und Polybios. Sein wichtigstes Werk war seine lateinische Geschichte von Florenz, deren erstes Buch er 1416 abschloss. Die erste gedruckte Ausgabe erschien 1610 in Straßburg, nachdem 1476 in Florenz eine italienische Übersetzung, Storie fiorentine, herausgekommen war. Bruni war der erste nachantike Historiker, der grundsätzlich Kritik an der Überlieferung übte und Legenden ausschloss. Auch die heilsgeschichtliche Perspektive des Eingreifens Gottes in den Gang der Geschichte kannte Bruni nicht mehr. Diesen Zügen von Modernität standen die annalistische Ordnung des Stoffes nach dem Vorbild des Thukydides und die Orientierung Brunis an den Regeln der antiken Rhetorik entgegen. Ein bedeutender Geschichtsschreiber war auch Niccolò Machiavelli mit seiner Istorie Fiorentine von 1532, die er seit 1520 als Auftragsarbeit verfasste. Wie bei Bruni, so findet sich auch bei ihm die kritische Distanz zur Überlieferung. Doch stutzte er den historischen Stoff im Sinne seiner politischen Ansichten zurück und schrieb Geschichte als Parteimann, nicht im Bemühen um eine unparteiisch-distanzierte Darstellung. Die Bedeutung seines Werkes liegt darin, dass er die annalistische Disposition aufgab, was einem Bruch mit den Grundprinzipien der humanistischen Geschichtsschreibung gleichkam. Stärker war dieser Bruch bei Francesco Guicciardini, dessen in italienischer Sprache verfasste Geschichte von Florenz den Zeitgenossen unbekannt blieb und erst 1859 veröffentlicht wurde.
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Das kritische Potential historischer Forschung in Verbindung mit humanistischer Textkritik bewies Lorenzo Valla mit seiner 1440 entstandenen Schrift De falso credita et emendita Constantini donatione. Es ging um die Konstantinische Schenkung, jene bald nach 752 fabrizierte Urkunde, nach der Kaiser Konstantin Papst Silvester I. die kaiserlichen Insignien und den Lateranpalast sowie die Herrschaft über Rom, Italien und das Abendland übergeben hatte. Im Mittelalter hatten Arnold von Brescia, 1152, und Anhänger der Armutsbewegung die Konstantinische Schenkung wegen ihres Widerspruches zum Armutsideal des Evangeliums als Fälschung verworfen und darin bisweilen eine Hervorbringung des Antichrist gesehen, bevor Nikolaus Cusanus in seiner Reformschrift De concordantia catholica von 1433 die formale Unechtheit der Urkunde nachwies. Valla gelang es, die Konstantinische Schenkung endgültig als Fälschung zu entlarven. Sein Werk wurde 1506 lateinisch publiziert und erschien 1524 in deutscher Übersetzung von Ulrich von Hutten. Luther erwähnte die Donatio Constantini im Rahmen seiner Papstkritik in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von 1520.74 Die urbane Kultur und Gesellschaft Italiens Was Italien für den Humanismus und die Renaissance vorbereitete − die Freiheit von hemmenden Schranken, die Entwicklung des Individuellen, die Schulung durch das in seinen Relikten präsente Altertum − hat Burckhardt deutlich gesehen. Heute sprechen Historiker von Urbanität, von der sozialen Synthese aus Adel und Bürgertum und einer „urbanen Kultur ohne Inferioritätsgefühl“75. In dieser urbanen Welt lagen die sozialen Wurzeln des Humanismus, dessen Vertreter zumeist Angehörige wohlhabender Familien oder Inhaber besoldeter öffentlicher Ämter wie Notare, Kanzler städtischer Behörden oder Lehrer höherer Schulen waren. Dahinter stand das Ende des geistlichen Bildungsmonopols durch Gründung öffentlicher Schulen und Universitäten, was in Italien früher als andernorts eintrat. Weniger mit der sozialen Basis des italienischen Humanismus als mit der Vorstellung einer antifeudalen Politik der Verteidigung der Florentiner Freiheit hängt die These Hans Barons vom civic humanism oder Bürgerhumanismus zusammen. Die Humanisten mit Bruni an der Spitze hätten die Bürger von Florenz zur Verteidigung der republikanischen Freiheiten aufgerufen, worin Baron das Wesenselement des Humanismus sah. Heute wird diese These kaum noch geteilt. Manche sehen in Brunis Reden für die Republik von Cicero inspirierte Rhetorik, während andere das antifeudale Element verneinen und auf die Medici-Herrschaft seit 1434 verweisen. Humanismus und Renaissance außerhalb Italiens Seit dem Ende des 14. und im 15. Jahrhundert fanden sich nördlich der Alpen Gelehrtenkreise mit humanistischen Zügen. Prag war im 14. Jahrhundert ein
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frühes Zentrum humanistischer Studien, ebenso Wien in der Zeit des Matthias Corvinus. Wichtig war Frankreich. Verbreitung fand der Humanismus durch die Konzilien von Konstanz und Basel, durch Studenten aus Deutschland, Frankreich und anderen Ländern an italienischen Universitäten, durch Geschäftsverbindungen von Kaufleuten, Kontakte von Klerikern, durch Einzelne wie Piccolomini in Wien, John Colet in Oxford oder Faber Stapulensis in Frankreich. In London gründete Thomas Morus die Schule von St. Paul, der mit seiner Utopia von 1516 das wichtigste Werk des englischen Humanismus schrieb. In Frankreich gab es humanistische Gelehrte wie den Juristen Guillaume Budé, der außer juristischen Werken und seinem Commentarii linguae graecae von 1529 in demselben Jahr seine De transitu hellenismi ad christianismum vorlegte und Franz I. zur Gründung des Collège de France in Paris bewegte, oder François Rabelais, bekannt durch seine satirische Gesellschaftskritik in Gargantua et Pantagruel von 1532/34. In Deutschland wirkten Humanisten wie Rudolf Agricola, Beatus Rhenanus, Konrad Celtis, Jakob Wimpfeling, Conrad Peutinger, Willibald Pirckheimer, Ulrich von Hutten oder Johannes Reuchlin. Reuchlin lernte Hebräisch, stellte 1506 eine hebräische Grammatik zusammen und befasste sich mit der jüdischen Kabbala. Von 1515 bis 1517 verbreiteten Crotus Rubianus und Hutten ihre früher oft für bare Münze genommenen satirischen Epistolae Obscurorum Virorum (Dunkelmännerbriefe) gegen die Re-Theologisierungstendenzen der Montanerburse der Kölner Universität. Humanismus gab es auch in den Niederlanden, in Spanien, wo Francisco Ximénes de Cisneros an der Alcala ein Dreisprachenkolleg für Latein, Griechisch und Hebräisch einrichtete und mit der Complutenser Polyglotte eine Bibelausgabe veranlasste, in der der hebräische, griechische und lateinische Bibeltext nebeneinander standen, und in Polen, Mähren, Ungarn und Siebenbürgen. Selbst in Russland blieb der Humanismus nicht ohne Einfluss. Mit der Ausbreitung des Humanismus außerhalb Italiens hörte die klassische Antike endgültig auf, alleinige Bezugsbasis zu sein. Nicht nur in Italien förderte der Humanismus die nationale Geschichtsschreibung und eine volkssprachliche italienische Literatur, sondern auch in Frankreich. In Deutschland gab Celtis 1500 die Germania des Tacitus heraus. Celtis nahm auch eine Germania illustrata nach dem Vorbild von Flavio Biondos Italia illustrata in Angriff. Zwar kam nur die Norimberga zum Abschluss, doch trug er damit zur Erforschung des deutschen Altertums bei. Johannes Aventinus begründete mit den Annales ducum Boiariae seit 1519 die neuere bayerische Geschichtsschreibung. Lateinisch geschrieben war die erste deutsche Geschichte, Epitome rerum Germanicarum usque ad nostra tempora Wimpfelings von 1505. Die Nationalisierung begegnet auch als antirömische und antipäpstliche Politik oder politische Programmatik, so im französischen Gallikanismus oder in Deutschland in den Gravamina der deutschen Nation, die seit dem Mainzer Libell von 1451 die Reichstage beschäftigten und bis zum Reichstag von Worms 1521 auf 100 Beschwerdepunkte gegen Rom
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anwuchsen. Bei Luther, der die Gravamina seit dem Reichstag von 1518 kannte, klingen sie in der Programmschrift An den christlichen Adel deutscher Nation von 1520 an. Renaissance und Religion Waren Humanismus und Renaissance deshalb unchristlich? Kristeller antwortet auf diese Frage so: „Viele Historiker des vergangenen [19.] Jahrhunderts neigten dazu, die italienische Renaissance und den italienischen Humanismus mit einer Art Irreligiosiät in Zusammenhang zu bringen [...] Freilich waren die heidnischen Götter und Heroen ein beliebtes Thema der Renaissance-Literatur, [...] aber es gab, wenn überhaupt, wenige Denker, die sich ernsthaft mit dem Gedanken trugen, die antiken heidnischen Kulte neu zu beleben. [...]. [Und es] gab es in der Renaissance wahrscheinlich wenige Atheisten und kaum Pantheisten. [...] Den eigentlichen Kern der Tradition vom Heidentum der Renaissance bildet ein ganz anderer Aspekt: es ist das ständig und unwiderstehlich zunehmende nicht-religiöse geistige Interesse, das sich weniger dem Inhalt religiöser Lehren widersetzte, als vielmehr mit ihnen um die Gunst und Aufmerksamkeit des einzelnen und der Öffentlichkeit wetteiferte. [...] Da jedoch die religiösen Überzeugungen des Christentums entweder beibehalten oder einem Wandel unterzogen, aber niemals wirklich in Frage gestellt wurden, scheint es zutreffender zu sein, die Renaissance als eine im Grunde christliche Epoche zu bezeichnen.“76
Kristeller sieht den Humanismus weder als religiöse noch als antireligiöse, sondern als literarische Bewegung. Er trennt die Polemik der Humanisten gegen die scholastische Methode von deren Rückkehr u. a. auch zur christlichen Antike. Er stellt die biblische Philologie heraus, die in der Ausgabe des griechischen Novum Testamentum von Erasmus von Rotterdam von 1516 gipfelte, deren zweite Ausgabe von 1519 Luthers deutscher Übersetzung des Neuen Testaments von 1522 zugrunde lag und neben der die Complutenser Polyglotte zu nennen ist. Kristeller verweist auch auf Vallas Anmerkungen zum Neuen Testament, auf humanistische Kirchenvätereditionen und auf den Einfluss des Augustinismus der Renaissance auf die Devotio moderna und auf Luther oder Calvin. Nicht umsonst habe Petrarca beim Aufstieg auf den Mont Ventoux die Confessiones des hl. Augustinus mitgeführt. Die Kunst der Renaissance in Italien gibt Kristeller recht. Botticellis Geburt der Venus steht mit Raffaels Sixtinischer Madonna in demselben Wetteifer um Gunst und Aufmerksamkeit, von dem er spricht. Michelangelos Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Kapelle ist eines der größten Kunstwerke der Hochrenaissance und ohne Zweifel ein religiöses Gemälde. Raffaels Schule von Athen im Vatikan ist Letzteres nicht − auch wenn Platon hier mit dem Finger nach oben weist. Man kann in der Schule von Athen ein künstlerisches Dokument für den Einbruch des Synkretismus in den christlichen Glaubens sehen. Man kann Raffa-
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els Schule von Athen aber auch christlich als Hinweis auf den Limbus Patrum verstehen, jenen Ort, an dem die alttestamentlichen Gerechten und rechtschaffene Heiden wie Platon auf den Eintritt in den Himmel warten. Was Kristeller erörtert, und was durch die Vielzahl von Klerikern und Ordensleuten unter den Humanisten bestätigt wird, wird seit Johannes Lindeboom77 als Biblischer Humanismus oder Christlicher Humanismus diskutiert. Die christlichen Humanisten interessierten sich für die Bibel und die altchristliche Literatur und wandten auf das Studium der Texte der christlichen Antike dieselben Methoden an wie auf das der paganen Literatur des Altertums. Das galt im 15. Jahrhundert für Ambrogio Traversari, der die humanistischen Studien für die Erforschung der Kirchenväter und Konzilien fruchtbar machte, für Valla, für den die Alte Kirche Teil der antiken Kultur war, an die anzuknüpfen ebenso lohnte wie an Cicero oder Vergil, aber auch schon für Petrarca, der schrieb: „Wenn einer, der Cicero bewundert, als ein Ciceronianer betrachtet wird, dann bin ich einer. Wenn wir über Religion nachdenken, dann bin ich kein Ciceronianer oder Platonist, sondern ein Christ.“78 Seit Beginn des 16. Jahrhunderts fand der christliche Humanismus im nordalpinen Europa in Gelehrten wie Reuchlin oder Faber Stapulensis bedeutende Vertreter. Aus dem christlichen Humanismus gingen Reformatoren wie Philipp Melanchthon, Martin Bucer oder Ulrich Zwingli ebenso hervor wie humanistisch geprägte katholische Reformer wie Ximénes de Cisneros und katholische Bibelhumanisten wie Gasparo Contarini, Jacopo Sadoleto oder Reginald Pole. Dem Ideal des einwandfreien Bibeltextes entsprach das Ideal einer von Missständen gereinigten Kirche, das kein nur reformatorisches Ideal war, sondern auch ein reformkatholisches. Die bedeutendste Gestalt des christlichen Humanismus war Erasmus von Rotterdam, der die bonae litterae, das Studium der klassischen Antike, mit den sacrae litterae, dem Studium der Theologie, verband.
Kirche und Staat, national- und territorialkirchliche Bestrebungen Ecclesia Gallicana 1294 bestieg Benedetto Gaëtani als Bonifaz VIII. den Papstthron. 1302 dekretierte er in der Bulle Unam Sanctam für jeden Menschen die Heilsnotwendigkeit, dem Papst unterworfen zu sein − „subesse Romano Pontifici omni humanae creaturae [...] omnino esse de necessitate salutis“79 −, und deklarierte die absolute Herrschaft des Papstes über alle Könige und Völker und den Vorrang der geistlichen Gewalt vor der weltlichen. Sein Gegner war der König von Frankreich, Philipp IV., einer der frühesten Verfechter der absoluten Gewalt der Krone gegenüber der Kirche. Dahinter stand das Aufkommen des Nationalstaates, der zuerst in Frankreich entstand und anfangs vor allem gegen das Papsttum gerichtet war, das universalistische Gegenüber des nationalen Prinzips. Wichtig war, dass der hohe französische Klerus bei den Auseinandersetzungen mit dem Papsttum seit dem 14. Jahrhundert auf der Seite des Königtums stand, wobei es bis zur Revolution 1789 blieb. 1309 verlegte Clemens V. die Papstresidenz von Rom nach Avignon. Dadurch gerieten die Päpste in Abhängigkeit vom französischen Königtum. In dieser Zeit begann der Gallikanismus, der bis zur Revolution die Kirche Frankreichs prägte. Gallikanismus war katholisches Nationalkirchentum und bedeutete, dass dem Papst keine weltliche Gewalt im Sinne der Ansprüche Bonfiaz’ VIII. zustehe, und dass allgemeine Konzilien dem Papst übergeordnet seien. Der Gallikanismus, der in den Auseinandersetzungen zwischen Bonifaz VIII. und Philipp IV. seinen Anfang nahm, wurde auch theoretisch verfochten, so 1329 auf der Synode von Paris von dem königlichen Rat Pierre de Cugnière und 1394 in einer Denkschrift der Sorbonne, in der zum ersten Mal von der libertas gallicana die Rede war, vor allem aber von Marsilius von Padua, der in seinem 1324 in Paris vollendeten Defensor pacis dem päpstlichen Herrschaftsanspruch widersprach. In seinen Augen war auch die Bestallung der Priester Sache des weltlichen Herrschers. Wie für Wilhelm von Ockham, so war auch für Marsilius die potestas von Papst und Klerus spirituell und nur auf theologische Lehre, Verwaltung der Sakramente und cura animarum, Seelsorge, bezogen. Auf der Synode von Bourges nahm der französische Klerus 1438 die Dekrete der Konzilien von Konstanz und Basel an, vor allem den Gedanken der Überordnung allgemeiner Konzilien über den Papst, aber auch bezüglich der Verleihung von Benefizien, der Wahl von Bischöfen, der päpstlichen Expektanzen und der
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päpstlichen Jurisdiktion in Frankreich. König Karl VII. sanktionierte diese Beschlüsse als Pragmatische Sanktion von Bourges, die bis 1516 als Grundgesetz der gallikanischen Kirche in Kraft blieben. 1516 schloss Franz I. mit Leo X. das Konkordat von Bologna. Die französische Kirche kehrte damit formal unter den Primat des Papstes zurück, doch musste der Papst dem König das volle Nominationsrecht für alle erledigten Bischofssitze und Abteien Frankreichs und somit die Verfügung über die kirchlichen Ämter überlassen. Das Parlement von Paris und die Sorbonne hielten aber an der durch das Konkordat aufgehobenen Pragmatischen Sanktion von Bourges fest, wodurch die gallikanischen Prinzipien von 1438 lebendig blieben. 1594 folgten die 83 Artikel der Libertés de l’Église gallicane. Im Gallikanismus verband sich das Interesse des Königtums an der Unterordnung der Kirche unter Krone und Staat mit dem Interesse des französischen Episkopats an größerer Selbständigkeit gegenüber Rom. Seit dem Spätmittelalter war in der ecclesia gallicana der Einfluss des Königs größer als der des Papstes. Faktisch hatte Franz I. bereits annähernd das erreicht, was Heinrich VIII. in England in Fortführung ähnlicher nationalkirchlicher Tendenzen des Spätmittelalters mit der Trennung von Rom 1533 erlangte. Vorreformatorisches landesherrliches Kirchenregiment In Deutschland konnte von nationalkirchlichen Bestrebungen keine Rede sein,80 weil sich hier keine Nationalstaatsbildung vollzog, sondern Territorialstaatsbildung. Entsprechend finden wir hier im 15. Jahrhundert landes- oder territorialkirchliche Bestrebungen, die als vorreformatorisches landesherrliches Kirchenregiment bezeichnet werden − ein Begriff, der vom reformatorischen landesherrlichen Kirchenregiment aus rückübertragen ist und die landeskirchlichen Bestrebungen des 15. Jahrhunderts als bloße Vorform erscheinen lässt, was nicht ohne Weiteres zutrifft, auch wenn sie zu den Voraussetzungen für den Erfolg der Reformation gehörten. In Deutschland führte die Verbindung der Päpste mit den Territorialfürsten im 15. Jahrhundert vor dem Hintergrund des Konziliarismus dazu, dass die Fürsten die Verwaltung des Kirchengutes kontrollieren und Anordnungen über Gottesdienste treffen konnten. Besonders ausgeprägt war das in Brandenburg, Sachsen und Kleve, über dessen Herzog der zeitgenössische Satz Dux Cliviae est papa in terris suis überliefert ist,81 aber auch in Bayern, Wolfenbüttel, Hessen und in der Pfalz. Doch konnte Herzog Adolf I. von Kleve seine Absicht nicht durchsetzen, als er sich 1444/45 den Gegensatz zwischen Eugen IV. und dem Konzil von Basel zunutze zu machen suchte, um die Diözesangewalt des Kölner Erzbischofs auf sein Land auszuschalten und ein von ihm abhängiges Landesbistum mit dem Sitz in Xanten zu gründen. Auch die Bemühungen des Landgrafen von Hessen um ein die Mainzer Diözesanrechte beseitigendes Landesbistum Kassel scheiterten. Immerhin erreichte Kaiser Friedrich III. 1469 von Paul II. die Gründung der beiden Hofbistümer Wien und Wiener Neustadt und ihre Tren-
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nung von der Diözese des Bischofs von Passau. Schon 1447 hatte Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg von Nikolaus V. das Nominationsrecht für die Bistümer Brandenburg, Havelberg und Lebus erhalten, was ein Schritt auf dem Weg zu deren späterer Landsässigkeit und danach zu ihrer Säkularisation wurde. Auf die Zeit der Reformkonzilien ging auch das Wiener Konkordat von 1448 zurück, das im Reich − anders als in den Territorien − eine Kirchenhoheit des Kaisers nach Art des französischen Königs verhinderte. In der Tradition des Wormser Konkordates von 1122 garantierte es das freie Bischofswahlrecht der Domkapitel. Das Wiener Konkordat bildete die Grundlage der deutschen Reichskirche bis zu ihrem Ende 1803. In Spanien ermöglichte das spanische Staatskirchentum des Regalismus dem König seit 1523, ohne Mitwirkung des Papstes Bischöfe zu ernennen. Für die Entscheidung kirchenrechtlicher oder theologischer Streitfragen war der Staatsrat letztinstanzlich zuständig. Päpstliche Bullen und Breven konnten ohne königliches Placet nicht publiziert werden.
Päpste, Schisma und Reformkonzilien Das 14. und 15. Jahrhundert als Vorraum von Reformation und Konfessionellem Zeitalter Neben national- und territorialkirchlichen Bestrebungen sahen die zwei Jahrhunderte vor der Reformation die Diskreditierung des Papsttums durch das Große abendländische Schisma seit 1378, die Reformkonzilien von Konstanz und Basel, den Gegensatz von Konziliarismus und Papalismus und eine Vielzahl religiöser Bewegungen. Dazu gehörten die Waldenser ebenso wie Wiclifiten und Hussiten. Hinzu kamen die Mystik der Dominikaner und anderer, aber auch die Devotio moderna, die Observanzbewegungen der Bettelorden und die Anfänge der Katholischen Reform. Diese lagen zeitlich vor der Reformation und waren keineswegs nur Antwort auf Luthers Kirchenkritik. Schließlich gab es die Frömmigkeit des 15. Jahrhunderts mit ihrer Übersteigerung, Materialisierung und Kommerzialisierung. Damit waren das 14. und vor allem das 15. Jahrhundert der Vorraum von Reformation und Konfessionellem Zeitalter. Die Babylonische Gefangenschaft der Päpste in Avignon 1305 wurde mit Clemens V. ein Franzose Papst, in dessen Zeit das Papsttum in Abhängigkeit vom französischen Königtum geriet. Clemens V. verlegte 1309 die Papstresidenz von Rom nach Avignon. 1311/12 veranstaltete er das Konzil von Vienne, das ganz unter dem Einfluss Philipps IV. stand. In seine Zeit fiel die Aufhebung des Templerordens, dessen Besitzungen sich der König aneignen wollte, wozu der Papst ihm verhalf. Mit Clemens V. begann der Luxus des päpstlichen Hofes, verbunden mit Ämterschacher, Korruption und Nepotismus. Dante ließ ihn im 19. Gesang des Inferno in der Divina Commedia gemeinsam mit Bonifaz VIII. zur Hölle fahren. Auch die Nachfolger Clemens’ V., die alle in Avignon residierten − Johannes XXII., Benedikt XII., Clemens VI., Innozenz VI., Urban V. und Gregor XI. − waren Franzosen. Dabei waren sie nicht alle zweifelhafte Gestalten, etwa Benedikt XII., ein jedem Nepotismus feindlicher Bäckerssohn und Zisterziensermönch. Aber die Diskreditierung des Papsttums wurde dadurch nicht geringer. Dante hatte schon beim Tod Clemens’ V. die Wahl eines Italieners gefordert, um die Rückkehr der Päpste nach Rom zu erreichen und der Abhängigkeit von Frankreich ein Ende zu machen. In Italien gärte es, besonders in Rom, wo der Volkstribun Cola di Rienzo, der Rom zum Mittelpunkt eines einigen Italien machen wollte, 1347 die Herrschaft erlangte. Rienzo wurde gestürzt, aber Clemens
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VI. blieb in Avignon. Sein Nachfolger Innozenz VI. schickte den spanischen Kardinal Aegidius Álvarez Albornoz, der 1353 mit Waffengewalt die päpstliche Herrschaft in Mittelitalien wiederherstellte. Erst Urban V. kehrte 1367, fünf Jahre nach dem Beginn seines Pontifikats, nach Rom zurück, gedrängt von der 1391 heiliggesprochenen Birgitta von Schweden, der Gründerin des Birgittenordens, aber auch von Petrarca − von ihm stammt der Ausdruck von der Avignonesischen oder Babylonischen Gefangenschaft der Päpste in Avignon, der auf 2 Reg 24f. und 2 Chr 36 anspielte und 1520 von Luther in seiner Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium82 aufgenommen wurde − und von Kaiser Karl IV. Aber Urban V. ging 1370 wieder nach Avignon. Es dauerte noch zehn Jahre, bis Gregor XI. die Papstresidenz 1377 von Avignon nach Rom verlegte. Er wurde dazu durch seine politischen Interessen nach einem Aufstand in Florenz und durch die Appelle Katharinas von Siena veranlasst. Die 1461 heiliggesprochene Katharina war Tertiarin des Dominikanerordens, legte sich mit den Mächtigen ihrer Zeit an, sagte dem Papst, den sie in Avignon aufsuchte, in Briefen bittere Wahrheiten und forderte kirchliche Reformen. Gregor XI. kehrte nach Rom zurück, folgte den Ratschlägen Katharinas von Siena aber nicht. Mit der Rückkehr des Papstes nach Rom endete der Niedergang des Papsttums nicht. Nach dem Tod Gregors XI. wählten die Kardinäle 1378 Bartolomeo Prignano, der als Urban VI. den Papstthron bestieg. Urban VI. suchte der Verweltlichung des Papsttums und den verbreiteten Missständen entgegenzutreten. Doch machte er das auf eine so herrische Art, dass er viele Kardinäle gegen sich aufbrachte. Er hörte nicht auf die Warnungen Katharinas von Siena. 13 französisch orientierte Kardinäle wählten 1378 den Kardinal-Erzbischof Robert von Genf zum Gegenpapst, der den Namen Clemens VII. annahm – Historiker setzen die Zahl hinter seinem Namen wie bei anderen Gegenpäpsten in Klammern. Robert von Genf war eine üble Figur. 1377 hatte er in Cesena in der Romagna ein Blutbad angerichtet. Das Große abendländische Schisma Mit der Doppelwahl von 1378 begann das Große abendländische Schisma. Urban VI. blieb in Rom. Clemens (VII.) ging nach Avignon. Frankreich stand hinter Avignon, der Kaiser hinter Rom. Auch Katharina von Siena trat für Urban VI. ein. Der Obödienz von Rom gehörten Deutschland, Mittel- und Norditalien, Ost- und Nordeuropa, Flandern und England an, der Obödienz von Avignon Frankreich, Sardinien, Sizilien, Neapel, Schottland und einige deutsche Territorien. Unter Bonifaz IX. traten Neapel, Portugal und die habsburgischen Länder unter die Obödienz von Rom. Der Niedergang des Papsttums führte zu verstärkten Reformforderungen, wie sie schon Katharina von Siena, Dante und andere erhoben hatten, zum Ruf nach einer reformatio ecclesiae in capite et in membris (Reform der
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Kirche an Haupt und Gliedern), wie es 1410 in einer Flugschrift des Dietrich von Niem hieß. Der Begriff reformatio wurde populär. Zunächst galt es, dem Schisma ein Ende zu machen. 1406 starb der römische Papst Innozenz VII. Vor der Wahl Gregors XII. wurde 1406 verabredet, dass Gregor XII. nach seiner Wahl zurücktreten würde, wenn sich auch der Papst in Avignon dazu entschlösse. Das war Benedikt (XIII.), der sich dazu bereit erklärte. Gregor XII. erfüllte sein Versprechen aber nicht. Daraufhin trennten sich sieben Kardinäle von ihm und eröffneten 1409 das Konzil von Pisa. 17 Kardinäle des anderen Papstes schlugen sich auf ihre Seite. Gemeinsam erklärten sie beide Päpste für abgesetzt. Einstimmig zum neuen Papst gewählt wurde 1409 in Pisa der Erzbischof von Mailand als Papst Alexander (V.). Doch dachte keiner der beiden anderen Päpste an Rücktritt, so dass es jetzt drei Päpste gab: in Pisa, in Rom und in Avignon. Alexander (V.) starb 1410. Die Kardinäle der Obödienz von Pisa wählten einen ehemaligen neapolitanischen Seeräuber, Baldassare Cossa, der es zum Geistlichen gebracht hatte: Johannes (XXIII.). Dieser wandte sich, um seine Stellung zu festigen, an den deutschen König Sigmund. Im Einverständnis mit Sigmund berief Johannes (XXIII.) ein Konzil nach Konstanz, wohin er sich auch selbst begab und wo er das Konzil 1414 eröffnete. Er war jedoch politisch isoliert und wurde 1415 vom Konzil abgesetzt. Bald nach seiner Absetzung erklärte Gregor XII. 1415 seinen Rücktritt, um das Schisma zu beenden. Zuvor hatte er das Konzil offiziell konstituiert, das 1417 auch Benedikt (XIII.) absetzte. 1417 wurde in Konstanz Oddone Colonna zum Papst gewählt, der sich Martin V. nannte. Damit endete das Schisma. Martin V. war ein bedeutender Papst, auch wenn unter ihm der Nepotismus blühte. 1420 zog er in Rom ein und stellte die Autorität des Papsttums wieder her. Wenige Tage vor seinem Tod entschloss er sich zur Einberufung des Konzils nach Basel. Die Konzilien von Konstanz und Basel Die Diskreditierung des Papsttums hatte der konziliaristischen Idee Verbreitung verschafft. Dahinter standen Theorien von Gelehrten wie Marsilius von Padua. Der Konziliarismus besagte, dass ein allgemeines Konzil dem Papst übergeordnet sei und als höchste Instanz der Kirche zu gelten habe. Hingegen sah der Papalismus im Papst die höchste Autorität der Kirche. Das Konzil von Konstanz, dessen größter Erfolg die Überwindung des Schismas war, verabschiedete 1415 das Dekret Haec sancta synodus83 und brachte darin zum Ausdruck, dass es von Christus selbst unmittelbare Gewalt erhalten habe und über dem Papst stehe. Haec sancta synodus war kein grundsätzlicher Verfassungsartikel, sondern bezog sich auf den konkreten Fall, in dem drei Päpste gegeneinander standen. Mit dem Dekret Frequens84 wurde 1417 festgesetzt, dass das allgemeine Konzil eine ständige Einrichtung sein und dazu in bestimmten Abständen ein Konzil einberufen werden sollte. Das Konzil hatte sich drei Aufgaben gestellt: causa unionis (Beseitigung des
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Schismas), causa fidei (Beseitigung der Ketzerei) und causa reformationis (Verbesserung der kirchlichen Zustände). Bei der causa unionis war das Konzil erfolgreich. Bei der causa fidei verurteilte das Konzil die Lehren von John Wiclif und Jan Hus. Hus’ Ablehnung des sakramental-hierarchischen Charakters der Kirche, die gut 100 Jahre später bei Luther wiederkehrte, wurde nicht theologisch beantwortet, sondern brutal erledigt, indem Hus 1415 als Ketzer verbrannt wurde. Die causa reformationis blieb unerledigt. Martin V. hielt sich an Frequens und berief nach Konstanz das Konzil von Pavia-Siena von 1423/24 und danach 1431 das nächste Konzil. Er starb, bevor das Konzil 1431 in Basel eröffnet wurde. Der neue Papst, Eugen IV., billigte nicht, dass die Hussiten unter Zusicherung von freiem Geleit zur Darlegung ihrer Lehren nach Basel eingeladen wurden, während König Sigmund das Konzil zu nutzen suchte, um einen Ausgleich mit den Hussiten − 1433 in den Prager Kompaktaten85 − zu finden. Eugen IV. erklärte das Konzil für aufgehoben und berief ein neues Konzil nach Bologna. Das war der Auslöser für die Radikalisierung des Konziliarismus. Das Konzil von Basel löste sich nicht auf, sondern stellte sich unter den Schutz Sigmunds. Während das Konzil von Konstanz einem gemäßigten Konziliarismus gehuldigt hatte, ging es in Basel von jetzt an um entschiedenen Konziliarismus. Das Konzil erneuerte Haec sancta synodus, gab diesem aber jetzt grundsätzliche Bedeutung. Das Konzil könne, weil es seine Macht direkt von Christus erhalten habe, gegen seinen Willen von niemandem aufgelöst oder verlegt werden. Nikolaus Cusanus verteidigte die Haltung des Konzils in De concordantia catholica. Das Konzil verlangte von Eugen IV., binnen 60 Tagen seine Auflösungsbulle zurückzuziehen, und drohte ihm mit der Absetzung. Eugen IV. kapitulierte und bestätigte 1433 − nachdem er in demselben Jahr König Sigmund in Rom zum Kaiser gekrönt hatte − die Nichtigkeit der Auflösung des Konzils.86 Das war ein Sieg des Konzils über den Papst. Das Konzil hielt an der Überzeugung fest, dass es selbst und nicht der Papst die höchste Autorität der Kirche darstelle. Eugen IV. betrieb Pläne für ein Unionskonzil mit der Ostkirche. Das Konzil von Basel machte ihm auch dieses Thema streitig. Das Konzil stellte 1437 eine Liste der gegen den Papst erhobenen Vorwürfe zusammen und forderte ihn auf, in Basel zu erscheinen. Eugen IV. antwortete mit der Verlegung des Konzils von Basel nach Ferrara. Ein Teil der Konzilsteilnehmer blieb als antipäpstliche Restversammlung in Basel. Die Griechen folgten der päpstlichen Einladung nach Ferrara-Florenz. 1439 verkündete das Basler Rumpfkonzil den Vorrang des Konzils vor dem Papst als katholische Glaubenslehre und erklärte Eugen IV. für abgesetzt.87 Der Papst reagierte mit der Verdammung des Konzils von Basel.88 Das Konzil wählte Herzog Amadeus VIII. von Savoyen als Felix V. zum Papst. Das wäre ein neues Schisma gewesen, wenn Eugen IV. nicht 1447 gestorben wäre. Die Kardinäle wählten Nikolaus V., einen ebenso frommen wie gelehrten Humanisten und Friedenspolitiker. 1449 akzeptierte das Konzil von Basel diese Wahl, nachdem
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Felix V. abgedankt hatte. Auf Druck des seit 1440 regierenden deutschen Königs und späteren Kaisers Friedrich III. zwang der Stadtrat von Basel 1448 die verbliebenen Konzilsteilnehmer zum Verlassen der Stadt, die noch bis 1449 in Lausanne tagten. Für die Kirchenreform hat das Konzil von Basel wenig geleistet. Luther verweigerte 1518 nach dem Verhör durch Kardinal Cajetan den Widerruf seiner Lehre und appellierte „a [...] Papa non bene informato [...] ad [...] patrem [...] melius informandum“89 (von dem schlecht unterrichteten an den besser zu unterrichtenden Papst) und rief die Entscheidung eines Konzils an − er appellierte „ad [...] sacrosanctum Concilium [...] sanctam ecclesiam catholicam repraesentans, sit in causis fidem concernentibus supra Papam“90 (an das hochheilige Konzil, das die heilige katholische Kirche darstellt und in Streitsachen um den Glauben über dem Papst ist). Das war nichts anderes als der Konziliarismus von Basel. Noch deutlicher ist das, wenn Luther 1518 unter Berufung auf Nicolaus de Tudeschis gen. Panormitanus, jenen Kanonisten, der als Vertreter Alfonsos I. von Sizilien am Konzil von Basel teilgenommen hatte, dem Papst die höchste Autorität in der Kirche bestritt und ihn allgemeinen Konzilien unterstellte: „In materia fidei non modo generale Concilium esse super Papam, sed etiam quemlibet fidelem, si melioribus nitatur auctoritate et ratione quam Papa“91 (Nicht nur in Sachen des Glaubens ist das allgemeine Konzil über dem Papst, sondern auch über allem, was zum Glauben gehört, weil es sich auf eine bessere Vollmacht und einen besseren Grund stützen kann als der Papst). Die Berufung auf Panormitanus, der mit seinem Tractatus de consilio Basiliensi die Superiorität des Konzils über den Papst verteidigte, stellt den Luther des Oktobers 1518 hinein in den Konziliarismus des Konzils von Basel.
Reich, Reichsreform und frühmoderner Staat Das Heilige Römische Reich deutscher Nation Die Länder des Hauses Österreich im Bereich des heutigen Österreich und von Slowenien, Nordostoberitalien, Südwestdeutschland sowie des Elsass gehörten ebenso zum Reich wie die Schweiz und wie Böhmen mit Mähren und Schlesien. Dasselbe galt für Holstein und für Pommern, für die Niederlande, für Savoyen und für Besançon und zumindest nominell auch noch für oberitalienische Fürstentümer wie das Herzogtum Mailand. Seit 1486 lautete der Reichstitel Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, was die Konzentration des engeren Reiches auf das Reichsgebiet ohne Reichsitalien zum Ausdruck brachte. An der Spitze des Reiches stand der auf Lebenszeit gewählte deutsche König, der seit der Kaiserkrönung Ottos I. 962 in der Regel vom Papst zum Kaiser gekrönt wurde. Deshalb war der Kaiser imperator Romanorum (römischer Kaiser), und deshalb galt das Reich als Sacrum Imperium Romanum (Heiliges Römisches Reich), womit sich die Renovatio imperii- oder Translatio imperii-Idee verband, nach der das antike römische Reich im Heiligen Römischen Reich fortlebte. Doch erfuhr die Kaiserwürde Formverwandlungen. Die wichtigste war der Verzicht auf die Kaiserkrönung durch den Papst, die 1558 endgültig wurde. Das hatte eine Vorgeschichte, die bis zur Doppelwahl Ludwigs des Bayern und Friedrichs des Schönen von 1314, bis zu dem Königswahlgesetz Ludwigs des Bayern von 133892 und bis zur Goldenen Bulle Karls IV. von 135693 zurückreichte. 1452 wurde Friedrich III. als letzter deutscher König in Rom von einem Papst zum Kaiser gekrönt. Maximilian I. verzichtete wegen der Kriegslage in Italien auf die Kaiserkrönung und nahm 1508 den Titel Erwählter römischer Kaiser an. Diesen Titel führte auch sein 1520 in Aachen zum deutschen König gekrönter Enkel Karl V., der 1530 in Bologna als letzter deutscher König von einem Papst die Kaiserkrönung empfing. Was 1508 eine Verlegenheitslösung gewesen war, das wurde seit 1558, seit der Kaisererhebung Ferdinands I., Programm, dass „das Kolleg der deutschen Kurfürsten und sonst niemand bestimmte, wer zu welchen Bedingungen Reichsoberhaupt wurde“94. Das konnte nach dem Augsburger Religionsfrieden und unter den Bedingungen der Bikonfessionalität des Reiches mit lutherischen Kurfürsten nicht anders sein. 1559 stellte Reichsvizekanzler Georg Sigismund Seld in einem Rechtsgutachten fest, dass es keinerlei Mitwirkungsrecht des Papstes an der Kaisererhebung gebe. Erwählter römischer Kaiser blieb bis 1806 der Titel des Kaisers. Das Reich war eine Wahlmonarchie. Königswähler waren seit 1356 die sieben Kurfürsten von Mainz, Trier, Köln, Böhmen, Pfalz, Sachsen und Brandenburg.
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Von 1420 bis 1708 ruhte die böhmische Kurstimme. 1623 wurde die pfälzische Kurwürde auf Bayern übertragen, 1648 für die Pfalz eine achte und 1692 für Braunschweig-Lüneburg (Hannover) eine neunte Kurwürde geschaffen. Seit 1489 bildeten die Kurfürsten auf dem Reichstag die erste Kurie, den Kurfürstenrat. Im 15. und 16. Jahrhundert gab es Versuche zu einer umfassenden Reichsreform. Lange blieben die Reichsreform- und die Kirchenreformbestrebungen verbunden. 1434 legte König Sigmund den Entwurf für eine Neuordnung der Reichsjustiz vor. 1442 folgte Friedrich III. mit seiner Reformatio Friderici, einem Reichslandfrieden. Während der Kaiser seine Macht ausbauen wollte, strebten die größeren Reichfürsten die Errichtung einer über dem Kaiser stehenden ständischen Reichsgewalt an. Ansatzweise wurde das mit dem Nürnberger Reichsregiment zwischen 1500 und 1502 und von 1521 und 1530 verwirklicht. Der Reichstag von Worms von 1495 führte zur Abschaffung des Fehderechts durch den Ewigen Landfrieden, zur Gründung des Reichskammergerichts und in der Folge des Reichshofrates, der beiden hohen Reichsgerichte, die endgültig 1527 eingerichtet wurden, und zum Gemeinen Pfennig als allgemeiner Reichssteuer. 1512 − endgültig 1521 − folgte die Gliederung des Reiches in zehn Reichskreise. Böhmen, Mähren und Schlesien blieben ebenso außerhalb der Kreisorganisation wie die Schweiz, deren Lösung vom Reich am Ende des 15. Jahrhunderts einsetzte. Bei der Wahl Karls V. 1519 wurde erstmals eine Wahlkapitulation aufgestellt, durch die der Kaiser an Zusagen gebunden wurde. Landeshoheit, Territorien, frühmoderner Staat In Deutschland entstand der moderne Staat als Territorialstaat. Der Ausbildung seiner Frühform ging die Entstehung der Landeshoheit weltlicher und geistlicher Fürsten voraus. Diese erfolgte aus der mittelalterlichen Landesherrschaft. Landesherrschaft war im Mittelalter aus der Kumulation von Herrschaftsrechten – neben der Hochgerichtsbarkeit u. a. niedere Gerichtsbarkeit, Allodialherrschaften edelfreier Familien, Grundherrschaft oder Forsthoheit und Wildbann – entstanden. Entscheidend war, dass der jeweilige Herr keine andere Gewalt landrechtlicher Art über sich hatte oder sich ihrer entledigen konnte. Das war seit dem Rückzug des Königtums auf eine nur noch lehnsrechtliche Herrschaft im 12./13. Jahrhundert häufig gegeben. Eine Weichenstellung für die deutsche Entwicklung des frühmodernen Staates − von dem die deutsche Forschung seit Gerhard Oestreich spricht95 − auf partikularer Ebene war die im 12. Jahrhundert erfolgte Ersetzung der alten Stammesherzogtümer durch Gebietsherzogtümer wie Österreich 1156, Steier 1180 oder Braunschweig-Lüneburg 1235. Hinzu kam die Entwicklung des Lehnswesens. Das Lehnswesen beruhte auf der Stellung des Königs als Lehnsherr, der Güter verlieh, während die Lehnsleute dafür zu militärischen Diensten und zu Gefolgschaft verpflichtet waren. In Deutsch-
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land kam es zur Verdinglichung des Lehnswesens und zu wachsender Erblichkeit der Lehnsgüter, während das Königtum in Frankreich die personenrechtlichen Elemente des Lehnswesens auf Kosten der sachenrechtlichen entwickeln und so durch die Vasallität der Lehnsleute, also mit Hilfe des Lehnswesens, seine Herrschaft ausbauen konnte. In Deutschland förderte die Verschiebung von der personalen zur dinglichen Seite, vom Lehnsmann zum Lehnsgut, die Territorialisierung des Lehnswesens, wodurch die Landesherrschaft der Angehörigen des Reichsfürstenstandes (Reichsstände) und der anderen Reichsadeligen (Reichsunmittelbare) gestärkt wurde. Diese Fürsten und Grafen waren, obgleich Lehnsleute des Königs, als Inhaber von Landesherrschaft Landesherren und zugleich Lehnsherren über eigene Lehnsleute. Auf dieser Ebene ließ die Verdinglichung der Lehnsverhältnisse die Lehnsgüter bald nicht mehr als vom Lehnsherrn, sondern von seiner Landesherrschaft abhängig erscheinen; die Territorialisierung des Lehnswesens dehnte das Lehnsgut von dem Haus, dem Sitz des Lehnsmanns, aus auf den zugehörigen Bezirk, der in die Sphäre der Landesherrschaft des Lehnsherrn geriet und dadurch später oft in sein Territorium integriert werden konnte. Die ältere Forschung hat den Fürstenprivilegien der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts − der Confoederatio cum principibus ecclesiasticis von 1220 und dem Statutum in favorem principum von 1231 − große Bedeutung beigemessen. Doch wurde durch sie nur eine längst eingetretene Entwicklung sanktioniert, bevor das Interregnum, 1254 bis 1273, den Landesherren Gelegenheit zum Ausbau ihrer Herrschaftsstellung gab. Heirat und Erbfall, Kauf und Tausch, Erbverbrüderung (Erbverträge für den Fall des Aussterbens dynastischer Familien) und Einziehung erledigter Lehen durch die Landesherren führten zur Abrundung der Territorien. Aber auch nach dem 13. Jahrhundert waren die Territorien noch von fremden Herrschaftsgebieten durchsetzt. Doch begann mit der Abschließung der Herrschaft nach unten die Entwicklung von der Landesherrschaft zur Landeshoheit. In größeren Territorien setzte seit dem 14. Jahrhundert der Aufbau des Behördenwesens ein. Der Typus des modernen, auf Universitäten juristisch ausgebildeten Beamten stand am Anfang des Übergangs von einer sich privatrechtlich begreifenden Herrschaft zu einer öffentlich-rechtlichen Auffassung der Landeshoheit, deren volle Durchsetzung aber bis zum aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts auf sich warten ließ. Als Beamte, deren Stellung durch Besoldung und Absetzbarkeit definiert war, sind die seit dem späten 14. und 15. Jahrhundert vorkommenden Amtsträger zumeist bürgerlicher Herkunft anzusprechen. In Bayern trat der erste bürgerliche und juristisch gebildete Kanzler 1483 auf. Während im 15. Jahrhundert für Beamte neben der Fähigkeit des Lesens, Schreibens und Rechnens meist nur Kenntnisse des lokalen Rechts erforderlich waren, setzte sich mit der Rezeption des römischen Privat- und Prozessrechts zwischen der Mitte des 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts die Forderung
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nach einem juristischen Universitätsstudium der höheren Beamtenschaft durch. Wegen der Abstinenz des Adels gegenüber dem Universitätsstudium verstärkte sich dadurch das bürgerliche Element, was zugleich ein wesentliches Moment des Staatsbildungsprozesses wurde. Das Vordringen der juristisch gebildeten bürgerlichen Beamtenschaft stand im Zusammenhang mit der Gründung von Landesuniversitäten, deren wichtigste Aufgabe die Ausbildung der Beamten für den Dienst des Landesherrn war. Während es im Reich im 14. Jahrhundert nur die Universitäten in Prag (1348), Wien (1365), Heidelberg (1386), Köln (1388) und Erfurt (1392) gab und deutsche Studenten noch immer italienische und französische Hochschulen aufsuchten, wurden seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts – nach einigen Gründungen der ersten Jahrhunderthälfte – Landesuniversitäten eingerichtet, so für Bayern 1472 in Ingolstadt, für Württemberg und für Kurmainz 1477 in Tübingen und in Mainz, für Sachsen 1502 in Wittenberg und für Brandenburg 1506 in Frankfurt an der Oder. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden Ausbildungsvorschriften erlassen, unter denen die Ordnung des Reichskammergerichts von 1555 hervorragte, die für die bürgerlichen Räte eine fünfjährige Studiendauer verlangte. Daraus entstanden Prüfungen, die von Bewerbern um Beamtenstellen in Württemberg seit 1573 und in Bayern seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts gefordert wurden. Wichtig war die Lokalverwaltung der Ämter, Gerichte, Pflegen, Vogtämter oder Viztumämter, die der Einziehung der für den Landesherrn bestimmten Abgaben und der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung dienten. Mittelpunkt der Ämter, an deren Spitze Amtmänner standen, waren Burgen. Die Grafschaft Flandern war schon im 12. Jahrhundert in Kastellaneien gegliedert. Im 13. Jahrhundert wurde dieses Vorbild in Brabant und in Holland und danach im niederrheinisch-westfälischen Raum aufgenommen. Mitte des 14. Jahrhunderts bestand die Amtsverfassung in fast allen größeren Territorien. Die wichtigsten Zentralbehörden waren der Hofrat, der vor der oft erst im 18. Jahrhundert erfolgten Trennung von Rechtsprechung und Verwaltung Justiz- und Verwaltungsorgan war, und die Hofkammer für die Verwaltung der landesherrlichen Einkünfte. Die Anfänge des Hofrats lagen teilweise schon im 13. Jahrhundert, doch wurden daraus erst gegen Ende des 15. und im 16. Jahrhundert fest organisierte Zentralbehörden. Vorbild wurde der von Maximilian I. 1497/98 eingerichtete und für Angelegenheiten des Reiches und der österreichischen Länder zuständige Reichshofrat in Wien, der 1527 seine Arbeit endgültig aufnahm, bis er 1559 auf die Funktion eines obersten Reichsgerichts beschränkt wurde. 1559 entstand in Wien die Reichshofkanzlei, die mit der 1498 eingerichteten österreichischen Hofkanzlei verbunden wurde, bis diese 1620 aus der Reichshofkanzlei ausschied. Bereits 1489 wurde in Bayern ein Kollegium der Räte des Herzogs eingerichtet, die seit 1601 Hofräte hießen. 1499 erhielt Kursachsen eine solche Zentralbehörde. In Kurmainz wurde der Hofrat 1522 kollegial organisiert, in Jülich-Berg 1534, in Braunschweig 1535, im Hochstift Münster 1574 und im Erzstift Köln 1597.
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Ein Beispiel für die Entstehung von Landständen bietet das Herzogtum Bayern, das seit 1255 in Oberbayern und Niederbayern geteilt war. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gab es noch keine Spuren von Ständeversammlungen. Das änderte sich mit der Verschlechterung der finanziellen Lage der Herzöge seit etwa 1290 und dem Vilshofener Vertrag von 1293, mit dem sich der Adel vom herzoglichen Hof absonderte. Der Adel widersetzte sich Steuerforderungen, worauf es 1302 zu einer Einung des oberbayerischen Adels kam, dem vom Herzog zugestanden wurde, dass gegen seinen Willen keine Steuern erhoben werden sollten. In Niederbayern führten Steuerforderungen zur Ottonischen Handfeste von 1311, einem Vertrag mit noch größeren Zugeständnissen. Danach fanden in Bayern im 14. Jahrhundert 58 Ständeversammlungen statt. Noch zahlreicher waren sie im 15. Jahrhundert. Die Herzöge konnten wegen ihrer Geldnot nicht ohne die Stände regieren und waren zu Verhandlungen mit ihnen gezwungen. Immerhin konnten sie sich die Einberufung der Ständeversammlungen vorbehalten, die dadurch in das Gefüge des bayerischen Territorialstaates eingefügte Landtage wurden. Nachdem die Teilherzogtümer 1504 wieder vereinigt worden waren, trat 1505 ein Landtag für ganz Bayern zusammen, der bis 1508 jährlich einberufen wurde. Danach fanden in Bayern bis 1579 35 Landtage statt. Doch setzte im 16. Jahrhundert auch schon der Rückgang der Bedeutung des Landtags ein. 1577 konnte Herzog Albrecht V. den Landtag zur Einräumung einer zwölfjährigen Steuerperiode bewegen, womit der Landtag sein Steuerbewilligungsrecht faktisch einem Ausschuss, der Landschaftsverordnung, überließ. Zwischen 1579 und 1612 wurden nur noch fünf Landtage einberufen. Danach kam der Landtag in Bayern für 57 Jahre zum Erliegen und trat nur im Jahre 1669 noch einmal zusammen. Im 16. Jahrhundert bestanden in Deutschland in fast allen Territorien Landstände und Landtage. In den weltlichen Territorien setzten sich die Landtage zumeist aus Adel, Klöstern und Städten und in den geistlichen aus Domkapitel, Adel und Städten zusammen.
Religiöse Bewegungen, Frömmigkeit und Observanz Unio mystica und cognitio experimentalis de Deo Die Kirche vor der Reformation war nicht nur Niedergang, Schisma und Streit um Konzils- oder Papstprimat. Die ganz andere Seite war die Mystik von Mönchen und Nonnen mit ihrer tiefen Frömmigkeit, Christusliebe, Gottesergriffenheit und dem mystischen Stehen vor dem Angesicht Gottes. Mystik gibt es in vielen Weltreligionen von den altindischen Upanishaden bis zu den muslimischen Sūfis. Auch Grundgedanken wie die Unio mystica mit Gott mit der Vorstellung einer heiligen Vermählung, des matrimonium spirituale, und die Zeit- und Raumlosigkeit mystischer Erfahrungen sind universal und nicht auf das Christentum beschränkt. Dasselbe gilt für die Lichtmetapher, für den Dualismus von Licht und Finsternis und für die Aufgabe eigenen Wollens durch Unterordnung unter den Willen Gottes oder der Gottheit, für die Zwischenstufe der Leere im eigenen Selbst, in die das Göttliche eingeht, und für die Aufgabe eigenen Wissens, um im Nichtwissen das Göttliche im Sinne eines höheren Wissens zu erfahren. Christliche Mystik ist cognitio experimentalis de Deo oder Erkenntnis Gottes durch Erfahrung des in der Heiligen Schrift offenbarten und in Jesus Christus inkarnierten trinitarischen Gottes und zugleich Suche nach dem in der Bibel, in den Sakramenten, in der Heilsgeschichte oder im Leben des Einzelnen verborgenen Sinn. Beides kann intellektuell oder affektiv gerichtet sein. Auch Visionen und Auditionen, die Wahrnehmung von Marien-Erscheinungen oder Stigmatisationen gehören zur christlichen Mystik. Stigmatisation ist das sichtbare oder unsichtbare, aber für den Stigmatisierten schmerzhaft spürbare Auftreten der Wundmale Christi am eigenen Körper, wie es zuerst zu 1224 für den hl. Franz von Assisi berichtet wird und wegen des Christus-Bezugs in außerchristlicher Mystik nicht denkbar ist. Die Stigmatisation − für Gläubige göttliches Charisma, für Skeptiker Autosuggestion oder Betrug −, für die aus dem 14. Jahrhundert Katharina von Siena, aus dem 15. Katharina von Genua und aus dem 16. Maria Magdalena von Pazzi zu nennen sind, war Teil der Passionsmystik. Als Vater der mystischen Theologie unter dem Einfluss des Neuplatonismus gilt Dionysius Areopagita bzw. der unter diesem Namen als Pseudonym schreibende spätantike Autor. Die in dem im 15. Jahrhundert von Lorenzo Valla hinsichtlich seiner Authentizität in Zweifel gezogenen Corpus Dionysiacum vereinigten Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita, darunter De mystica theologica und De ecclesiastica hierarchia, überliefern eine Mystik des Aufstiegs des Einzelnen zur Vereinigung mit Gott über die hierarchischen Stufen der Reinigung und Er-
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leuchtung. Für die Mystik des lateinischen Mittelalters und des 16. Jahrhunderts, die große literarische Werke vom Sonnengesang des Franz von Assisi bis zum Geistlichen Gesang des spanischen Karmeliten Johannes vom Kreuz hervorbrachte, wurde der um 845 ins Frankenreich gekommene Iro-Schotte Johannes Scotus Eriugena wichtig, der die Schriften des Corpus Dionysiacum aus dem Griechischen ins Lateinische übertrug. Die große Zeit der Mystik begann im 12. Jahrhundert, um seit etwa 1500 und besonders im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt zu erreichen. Noch kaum beeinflusst vom Corpus Dionysiacum war im 12. Jahrhundert Bernhard von Clairvaux, von dem eine eigene, später mit der areopagitischen verbundene Richtung der Mystik ausging, für die die Liebe enscheidend wurde und im Sinne des bernhardinischen amor ipse intellectus est (Die Liebe selbst ist das Verständnis) zur Gotteserkenntnis führte. Für die bernhardinische Mystik wurde das Hohelied Salomos (Canticum Canticorum) zu einer wichtigen Quelle, über das Bernhard 86 Predigten verfasste. Von ihm ging der breite Strom der Jesusminne und Brautmystik aus, die Jesus als den himmlischen Bräutigam und den einzelnen, sich der mystischen Erfahrung öffnenden Menschen als Braut sah und in der Franziskanischen Mystik wie auch in der Frauenmystik und bei Thomas von Kempen bedeutende Wirkungen hatte und im 17. Jahrhundert im Luthertum − bei Johann Arndt in dessen Vier Büchern vom wahren Christentum und noch mehr in dessen Paradies-Gärtlein oder bei Johann Jakob Fabricius − lebendig war. Hingegen nahm Hugo von St. Viktor, Zeitgenosse Bernhards und Leiter der Klosterschule der AugustinerChorherren in Paris, in seiner Expositio in Hierarchiam coelestem sancti Dionysii die areopagitische Lehre von den hierarchischen Stufen zur Vereinigung mit Gott auf, während Thomas von St. Viktor ein Jahrhundert später durch Kommentare zu den areopagitischen Schriften zu deren Verbreitung beitrug und mit seiner Abhandlung De septem gradibus contemplationis die Hierarchienlehre auf sieben Stufen der Versenkung ausdehnte. Im 14. Jahrhundert setzte in Köln, beginnend mit Meister Eckhart, die dominikanische Mystik ein. Eckhart war aber kein praktizierender, sondern theoretisierender Mystiker. Neben seinen erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckten lateinischen Schriften hat er deutsche Predigten und deutschsprachige Traktate hinterlassen, in denen seine mystische Theologie enthalten ist. 1329 verurteilte Johannes XXII. in Avignon in der Bulle In agro dominico 28 Lehrsätze Meister Eckharts, der nicht die areopagitische Hierarchienlehre vertrat, sondern − theologisch angreifbar − von der Gottesgeburt in der Seele des Menschen sprach und eine neuplatonisch beeinflusste radikale negative Theologie der scharfen Trennung zwischen Mensch und Gott lehrte, der Unsagbarkeit Gottes und des EntwederOder, dass der Mensch entweder purum Nihil (reines Nichts) oder identisch mit dem göttlichen Sein im Sinne eines Abbildes des göttlichen Seins sein könne. Obwohl die Verurteilung durch Johannes XXII. einer direkten Rezeption der Eckhart’schen Mystik im Wege stand, wurde sein Denken durch seine Schüler
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Tauler und Seuse weitergetragen, wenn auch weniger radikal, vor allem im Hinblick auf den Begriff der Gottesgeburt. Johannes Tauler, dessen Mystik nur aus den Mitschriften seiner Predigten durch Straßburger Dominikanerinnen zu erschließen ist, kehrte zur Hierarchienlehre zurück, gab ihr aber eine etwas andere Fassung mit dem Gedanken des Rückzugs Gottes im Zuge der Erklimmung der hierarchischen Stufen als einer Form der Prüfung, Reinigung und Vertiefung des Gottesverlangens des Menschen. Neben seiner Wirkung auf Thomas von Kempen gibt es zwei interessante Beziehungen Taulers zu Späteren: zu Martin Luther und zu Johannes vom Kreuz. Der junge Luther gab 1516 die von ihm positiv beurteilte Theologia deutsch heraus,96 einen anonymen Traktat aus dem späten 14. Jahrhundert,97 der unter dem Einfluss Meister Eckharts und Taulers steht und mit deren Schriften überliefert ist. Der Luther von 1516 interessierte sich auch für die deutschen Predigten Taulers, auf den er sich später berief, während die Theologia deutsch im deutschen reformatorischen Christentum „zu einem Spitzenwerk der mystischen Erbauungsliteratur geworden [ist], und das ist die erste Wirkung, die von ihm [Luther] ausging. Seine Wittenberger Freunde und Anhänger wie Karlstadt und Thomas Müntzer haben sie gelesen und sich zu eigen gemacht. Später fand sie das besondere Interesse der von Luther abweichenden Spiritualisten. Über Johann Arndt wurde sie der Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts und des Pietismus vermittelt.“98 Taulers Gedanke des Rückzugs Gottes gelangte bei Johannes vom Kreuz in der dunklen Nacht der Seele zur radikalsten Ausprägung. So tritt schon hier die Gabelung zwischen Luther und der Reformation und der Teresianischen Reform der Karmeliten im Spanien des späteren 16. Jahrhunderts hervor, zu der Johannes vom Kreuz gehörte. Heinrich Seuse wirkte mit seinen Schriften zur mystischen Theologie stärker nach als Tauler und Eckhart. Das gilt vor allem für die Vergegenwärtigung und den Nachvollzug der Passio Christi, die bei ihm mit farbigster Bildhaftigkeit einhergehen, und für seine praktischen Anweisungen zur mystischen Betrachtung, zur Ars moriendi (Sterbekunst) und zum Gebet. So wurde sein Büchlein der ewigen Weisheit zur am meisten verbreiteten Erbauungsschrift, bis zu ihrer Verdrängung durch De imitatione Christi des Thomas von Kempen. Dieser war mehr als ein Jahrhundert jünger als Meister Eckhart. Wahrscheinlich hat er die ihm zugeschriebene Schrift De imitatione Christi nicht verfasst, sondern nur zusammengestellt. Die Schrift, deren Titel in deutschen Übersetzungen als Nachfolge Christi erscheint, wurde in mehr als 90 Sprachen übertragen und ist neben der Bibel eines der bekanntesten christlichen Bücher überhaupt. Bis ins 20. Jahrhundert erschienen Neuausgaben dieses auch im Protestantismus viel gelesenen Werkes. Der Inhalt der Imitatio Christi ist geprägt von bernhardinischer Mystik und einer vom Wortschatz der Bibel durchtränkten Sprache. Es geht um Nachahmung des Lebens Jesu in Demut, Friedfertigkeit, Einfalt, Liebe, Leid, Leidensbereitschaft und Kreuzesnachfolge als Weg zum göttlichen Heil. Das ist eine andere Mystik
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als im Corpus Dionysiacum oder bei Meister Eckhart, was mit dem didaktischen Charakter der Schrift und mit den Aufgaben ihres Redakteurs als Novizenmeister zusammenhängt, auch wenn De imitatione Christi sich über die Klostermauern hinaus als Anweisung zum christlichen Leben auch an die Laien wandte. Von gar nicht zu überschätzender Bedeutung war die Frauenmystik, die Kontemplation frommer Frauen in Klöstern oder Beginenhäusern, deren größte Erscheinung mit der hl. Karmelitin Teresa von Ávila im Spanien des späteren 16. Jahrhunderts begegnet. Oft waren es aber keine Nonnen, sondern Tertiarinnen der Bettelorden, aber auch Reklusinnen. Zu nennen sind aus dem 12. Jahrhundert Hildegard von Bingen, aus dem 13. Mechthild von Magdeburg oder Mechthild von Hackeborn, aus dem 14. Katharina von Siena, aus dem 15. Katharina von Bologna, Juliane von Norwich oder Katharina von Genua, aus dem 16. Katharina von Rakonisio oder Katharina von Ricci und viele andere, deren Reihe sich im 17. Jahrhundert, vor allem mit der französischen Mystik, fortsetzt. Neben der Ausrichtung der Frauenmystik, die in manchen Zügen von der Mystik von Männern abweicht, ist auffällig, in welchem Ausmaß fromme Frauen zugleich Mystikerinnen und harte Kritikerinnen männlichen Fehlverhaltens waren und vor allem das oft unchristliche Leben hoher und niederer Kleriker anprangerten. Das gilt für Hildegard von Bingen, für Katharina von Siena und für andere. Religiöse Bewegungen Das 15. Jahrhundert war auch eine Zeit religiöser Bewegungen, in denen man Vorläufer der Reformation sehen kann. Das gilt für die schon im 12. Jahrhundert aufgetretenen Waldenser, deren Name auf Petrus Valdes zurückgeht, und für die armen Lombarden, die im frühen 13. Jahrhundert aus den Waldensern hervorgingen. Die Waldenser waren Teil der religiösen Armutsbewegung. Vom III. Laterankonzil 1179 und von Lucius III. in seinem Edikt Ad abolendam von 1184 verurteilt, verbreiteten sich die Waldenser in Frankreich, Italien, im Norden Spaniens, in der Schweiz und Österreich und über Böhmen bis nach Ungarn und Polen. Sie suchten ein asketisches Leben zu verwirklichen, orientierten sich an den evangelischen Räten Jesu (Mt 19,12.21; 20,26–28) und praktizierten zeitweise die Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams. Innozenz III. erkannte sie als Katholische Arme an, bevor ihnen seit Honorius III. in den Dominikanern und Franziskanern streng papsttreue Konkurrenten erwuchsen. Seit der Einrichtung der den Dominikanern übertragenen Inquisition 1231 wurden die Waldenser als Ketzer verfolgt. Zwischen 1376 und 1393 und wieder 1487/88 in einem von Innozenz VIII. ausgerufenen Kreuzzug gab es in den Cottischen Alpen blutige Verfolgungen, aber auch in Deutschland, in Böhmen und in der Schweiz. Die letzte Waldenserverfolgung fand in Deutschland 1479 und 1480 statt und führte zur Flucht der Waldenser aus Brandenburg nach Böhmen, wo sie sich mit den Böhmischen Brüdern verbanden. Nach der Wende zum 16. Jahrhundert waren die
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Waldenser in der Provence, der Dauphiné und in den Cottischen Alpen, auch auf piemontesischer Seite, und in Kalabrien verbreitet. In der Dauphiné, im Wallis und in Italien bildeten sie den Wurzelboden des Protestantismus − in der Dauphiné und im Wallis unter dem Einfluss von Farel, wodurch sie sich später dem Reformiertentum anschlossen. Der italienische Protestantismus ist bis heute durch waldensische Tradition geprägt und in der Chiesa Valdese organisiert. Vorläufer der Reformation waren die Waldenser mit dem von ihnen betonten Schriftprinzip der alleinigen Autorität der Bibel und der Ablehnung der Marien-, Heiligen- und Reliquenverehrung, des Fegefeuers, des Ablasses und der Fürbitte für Verstorbene, in radikalen Gruppierungen in Deutschland auch mit der Verwerfung von Papst und Klerikerstand. Die reformatorische Rechtfertigungslehre blieb ihnen fremd. Das gilt auch für John Wiclif und die Wiclifiten in England. Wiclif, Theologe in Oxford und seit seiner Isolierung an der Universität 1381 Pfarrer, vertrat das Armutsideal, rief zur vita evangelica auf, kritisierte den weltlichen Besitz der Kirche, forderte − in seinen Schriften De dominio divino und De civile dominio − die Säkularisation des Kirchengutes durch das Königtum, erklärte den König anstelle des Papstes zum vicarius Dei, dem er die Verpflichtung zur Verteidigung der lex evangelica beilegte, brach nach Beginn des Schismas 1378 vollends mit dem Papsttum und erhob gegen die Päpste, wie später Luther, den Antichrist-Vorwurf. 1377 erließ Gregor XI. fünf Bullen gegen Wiclif, in denen 18 Sätze aus De civile dominio verworfen wurden, bevor das Konzil von Konstanz 45 Artikel aus seinen Schriften verurteilte. Aber schon lange vorher hatten böhmische Studenten Wiclifs Gedanken von Oxford nach Prag mitgebracht. Vorläufer der Reformation war Wiclif wegen seines strengen Schriftprinzips, das ihn weltliche und kirchliche Gesetze nur anerkennen ließ, wenn sie mit der Bibel als lex Dei übereinstimmten, mit seiner Förderung der volkssprachlichen Bibelübersetzung − der auf der Vulgata beruhenden Lollard Bible Nicholas’ von Hereford und John Purveys von 1380/84 −, mit seinen Einwänden gegen den Ablass, seiner Ablehnung der Heiligen- und Reliquienverehrung, des Zölibats und des Mönchtums, seiner Kritik an der Eucharistielehre in seiner Schrift De eucharistia, seiner Hochschätzung der Predigt als Verkündigung, der er sakramentalen Charakter zuerkennen konnte, und mit seiner Haltung gegenüber dem Papsttum. Obgleich Wiclif eine christuszentrierte Soteriologie (Heilslehre) vertrat, hatte er die reformatorische Rechtfertigungslehre noch nicht, wohl aber Ansätze der Prädestinationslehre. Von Wiclif beeinflusst war Jan Hus. Als er 1398 in Prag mit dem Theologiestudium begann, hatte dort der Wiclifstreit eingesetzt. Seit 1400 waren in Prag die theologischen Traktate Wiclifs Gegenstand akademischer Disputationen, bis diese 1403 verboten wurden. 1408 ließ Gregor XII. den Prager Wiclifiten die Verbreitung der Lehren des Engländers untersagen, bevor der Pisaner Gegenpapst Alexander (V). 1409/10 den Prager Erzbischof zu verschärftem Vorgehen aufforderte, woraufhin die Prager Synode 1410 die Ablieferung der wiclifitischen
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Schriften anordnete. Hus, 1409/10 Rektor der Universität, widersprach diesem Befehl mit seinem Traktat De libris hereticorum legendis von 1410, doch ließ der Erzbischof etwa 200 Bücher verbrennen, was öffentliche Tumulte auslöste. Dadurch wurde man in Rom auf Hus aufmerksam, der von Kardinal Colonna, dem späteren Papst Martin V., zum Verhör zitiert wurde. Hus folgte nicht und wurde wegen Nichterscheinens in Rom exkommuniziert. Die feierliche Verkündigung seiner Exkommunikation im Oktober 1412 in Prag beantwortete er mit einem feierlichen Appell an Christus. Im Mai 1412 hatte er in einer Disputation und in verschiedenen Schriften den von Johannes (XXIII.) gewährten Kreuzzugsablass und die Praxis des Ablasses scharf angegriffen. An seinen wechselnden südböhmischen Zufluchtsorten, an die sich Hus 1412 zurückzog, verfasste er seine Hauptschriften: seine čechische Auslegung des Apostolikums, des Dekalogs und des Vaterunser, Výklad velký, den čechischen Traktat über den Ämterkauf, O svatokupectví, sein Buch De ecclesia von 1413, in dem er − Wiclif teilweise wörtlich übernehmend − die wiclifitische Ekklesiologie mit ihrem Verständnis der Kirche als Gemeinschaft der Prädestinierten vertrat, und das lateinische, aber rasch ins Čechische übertragene Werk De sex erroribus über die sechs Verirrungen. Vorläufer Luthers, der sich wiederholt auf Hus bezog, war er mit seiner Ablasskritik, mit den Ansätzen des Schriftprinzips in seinem Traktat De sanguine Christi glorificatio von 1405, mit seiner den Unterschied von Klerus und Laien aufhebenden Ekklesiologie und mit seiner Papst- und Hierarchiekritik in De ecclesia, die ihn in Christus das einzige Haupt der Kirche sehen ließ. Aber Hus hatte Luthers Rechtfertigungslehre noch nicht, sondern Wiclifs Prädestinationsgedanken. Es gab aber auch schon vor Luther Theologen, die die Iustificatio des Sünders vor Gott in einer seiner Auffassung nahekommenden Weise vertraten. Solche Stimmen finden sich in der Mystik vor allem bei Bernhard von Clairvaux, der wie 400 Jahre später Luther das iustificari sola fide vertreten konnte. Zwar ist richtig, dass die Frömmigkeit der beiden Jahrhunderte vor der Reformation das fromme und gute Handeln des Menschen als Weg zum göttlichen Heil betonte. Richtig ist auch, dass Luther zu seiner Lehre von der Rechtfertigung durch seine Auslegung des Römerbriefes und in Anlehnung an Augustinus fand. Für den hl. Augustinus war der Mensch völlig (absolut) auf Gottes Gnade angewiesen, weil er unter dem peccatum originale, der Erbsünde, stand. Diesen Sündenbegriff teilte Luther. Es gab solche Stimmen vor Luther aber auch in der Scholastik. Der Theologe der Scholastik, der Luthers Rechtfertigungslehre am nächsten kam, war der 1308 in Köln gestorbene Franziskaner Joannes Duns Scotus. Gedanken Bonaventuras aufnehmend, gelangte er zu seiner Akzeptationslehre. Diese war Teil seiner Gotteslehre, die als negative Theologie Gott in seiner dem Menschen gänzlich unerreichbaren Majestät als den ganz Anderen betonte. Gott ist absolut vollkommen. Er steht dem Menschen in absoluter Freiheit gegenüber, die eine Ergänzung seiner Vollkommenheit von außen, vom Menschen her, undenkbar sein
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lässt: „Nihil creatum formaliter est a deo acceptandum“99 (Nichts Geschaffenes kann von Gott angenommen werden). Mit Eigenleistungen des Menschen kann Gott also zu nichts veranlasst werden, auch nicht zur Rechtfertigung des Sünders. Doch kannte Luther Duns Scotus nur durch den gemäßigten Nominalismus Gabriel Biels. Es gab auch religiös bewegte Einzelne, die vor der Reformation Gedanken verbreiteten, die in der Reformation wiederkehrten. Ein solcher war Girolamo Savonarola, der 1491 Prior des Klosters San Marco in Florenz wurde und die Reformkongregation von San Marco gründete. Es ging dem Apokalyptiker und Visionär aber nicht nur um Reform in Orden und Kloster, sondern um Reform des sittlichen Lebens und damit um das, was man im reformatorischen Bereich später reformatio vitae nannte, also um ein evangeliumsgemäßes Leben, so in seiner Schrift De simplicitate christianae vitae von 1496. Seine Kritik galt dem Verfall der Sitten am päpstlichen Hof. Alexander VI. suchte ihn mundtot zu machen und legte ihm 1495 ein Predigtverbot auf, dessen Befolgung Savonarola unter Berufung auf sein Gewissen verwarf. 1497 wurde er exkommuniziert und 1498 hingerichtet. Luther berief sich wegen Savonarolas Papstkritik und wegen dessen im Sinne seiner Rechtfertigungslehre deutbaren Auslegung von Psalm 30 und Psalm 50 auf ihn. Frömmigkeit und Frömmigkeitsformen Die Religiosität der Jahrzehnte vor der Reformation tritt in der großen Heilssehnsucht der Menschen hervor. Kennzeichen der Frömmigkeit waren Veräußerlichung und Peripherisierung und der Zug zur Rechenhaftigkeit, der schon seit dem 14. Jahrhundert zu einer Art Buchführung des Jenseits und zu Formen einer quantitativ-kalkulatorischen Heilssicherung führte. Dazu kam das Massenphänomen der Angst, und zwar nicht nur Angst vor Krieg und wirtschaftlicher Not oder Angst vor den muslimischen Türken, deren Vordringen seit 1453 als Zeichen eines göttlichen Strafgerichtes aufgefasst wurde. Hinzu kam die Angst vor dem Jüngsten Gericht, dem Fegefeuer, der Hölle und der ewigen Verdammnis. Die Bildende Kunst gibt die Höllenangst wieder. Das gilt etwa für die phantastischen religiösen Bildwerke des niederländischen Malers Hieronymus Bosch, aber auch für Albrecht Dürer mit seinen Holzschnitten der Apokalypse von 1498 und für die Totentänze, bei denen die Gegenwart des Todes durch Tänze Lebender mit Toten dargestellt wurde. Kriege und politische Ereignisse, Himmelsbewegungen, Wetterunregelmäßigkeiten, Stürme und Hagelschläge, ungewöhnliche Naturerscheinungen, das Auftreten von Missgeburten bei Mensch und Tier und anderes wurde als Zeichen der Zeit gewertet, dass das Ende der Welt nahe sei und Gott seine Zornesrute über den Menschen schwinge. Erscheinungen des alltäglichen Lebens fanden eine apokalyptisch-eschatologische Deutung. Dabei gibt es Anzeichen dafür, dass die Intensi-
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tät der Frömmigkeit in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts besonders groß und größer als im 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts war. So nahmen die Messstiftungen in manchen Gegenden zwischen 1450 und 1490 kontinuierlich zu und blieben danach bis 1517 auf dem höchsten Stand. Das Stiftungswesen ist ein Indikator für Umfang und Ausprägung der Frömmigkeit, obwohl dabei auch das Repräsentationsbedürfnis reicher Familien mitspielte. Der Stifter übertrug Immobilien oder Geldbeträge an ein Kloster oder eine Pfarrkirche, um von den Erträgen oder den Zinsen das Lesen von Messen zu bezahlen. Durch diese Messen erhoffte der Stifter für sich oder für seine Familie, auch für Verstorbene, eine Abkürzung der Sündenstrafen im Fegefeuer. Dabei machte sich die Erscheinung der Massenhaftigkeit breit, wenn Reiche in nur einem Jahr 1000 und mehr Seelenmessen für sich abhalten ließen. Neben dem Stiftungswesen begegnet die Verbreitung der Bibel, von der − trotz kirchlicher Vorbehalte gegen die Bibellektüre durch Laien seit den Synoden von Toulouse 1229 und Tarragona 1234 − schon vor Luthers Übersetzung des Neuen Testaments von 1521 14 hochdeutsche und vier niederdeutsche Übersetzungen auf den Buchmarkt kamen. Die älteste, veröffentlicht von Johann Mentelin, erschien 1466 in Straßburg, war aber etwa 100 Jahre älter.100 Auch in anderen Ländern gab es volkssprachliche Bibelübersetzungen, von denen die Lollard Bible aus dem Umkreis Wiclifs schon genannt wurde. In den Niederlanden übersetzte Johan Schutken um 1390 das Neue Testament nach der Vulgata. Die 1477 gedruckte niederländische Delfter Bibel enthielt nur das Alte Testament ohne die Psalmen. Weit verbreitet war die um 1480 in Köln gedruckte niederdeutsche Bibel. Hinzu kam der Zulauf zu den Predigten der Bettelmönche und der Erfolg umherreisender Volksprediger wie des Franziskaners Johannes von Capestrano oder des Straßburger Dompredigers Johann Geiler von Kaysersberg. Verbunden mit dem Predigtwesen war die schon vor dem Buchdruck verbreitete Predigtliteratur. Durch Stiftungen wurden in vielen Städten Prädikaturen, Stellen für öffentliche Prediger, geschaffen. Besondere Bedeutung erlangte die Sakramentsfrömmigkeit, vor allem die Hostienverehrung. Das hing mit der Verbreitung der im 13. Jahrhundert in Köln bezeugten Fronleichnamsprozession zusammen. Bemerkenswerte Züge nahm die Schmerzensmannfrömmigkeit an, die Verehrung der Fünf Wunden und des Blutes Christi. Charakteristisch waren auch die Marien- und die Rosenkranzfrömmigkeit, für die besondere Rosenkranzbruderschaften entstanden. Der Rosenkranz hatte sich seit dem 12. Jahrhundert aus der Marienverehrung entwickelt, bevor die Rosenkranzfrömmigkeit um 1475 ihren Höhepunkt erfuhr. Nach einer Verfügung des Erzbischofs von Mainz und Magdeburg, Albrecht von Brandenburg, von 1514 konnte man für jeden gebeteten Rosenkranz 7.700 Tage Ablass von seinen Sündenstrafen erhalten. Derselbe Erzbischof war stolz darauf, es persönlich auf 39.245.120 Jahre Ablass gebracht zu haben. Große Bedeutung kam dem Wallfahrtswesen zu. Bis zur muslimischen Eroberung Palästinas,
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1516/17, spielten die Pilgerfahrten zu den heiligen Städten Jerusalems, Bethlehems und anderer Orte eine Rolle. Außerdem gab es die Fernwallfahrten zu den Apostel- und Märtyrergräbern in Rom und zu Orten wie Santiago de Compostella, die von Wallfahrern aus ganz Europa aufgesucht wurde. Daneben wurden Wallfahrten an Marienwallfahrtsorte und andere Wallfahrtsstätten im eigenen Land unternommen, so die Heiltumsfahrten nach Aachen oder die Wallfahrten zur Schönen Madonna nach Regensburg. An diesen Wallfahrtsorten wurden am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts in einem Jahr über 100.000 Gläubige gezählt und riesige Geldsummen an Opferspenden gesammelt. Fast überall gab es die wallfahrtsähnliche Begehung von Gnadenorten oder Gnadenbildern helfender Heiliger in Feldkapellen oder Pfarrkirchen. Das Wallfahrtswesen hing mit der Heiligenverehrung zusammen, die in diesen Jahrzehnten einen Höhepunkt erreichte. Seit dem 15. Jahrhundert setzte sich der Brauch durch, den Kindern Heiligennamen zu geben. Verbunden mit der Heiligenverehrung war der Reliquienkult, der zur Anhäufung großer Mengen kleinster Knochensplitter oder Bekleidungsreste nicht nur in Kirchen und Klöstern, sondern auch in Fürstenschlössern und Privathäusern führte. Es gab den Reliquienhandel, wobei die Frage nach der Echtheit der Sache und der Zeit wesensfremd war. Es kamen aber auch Betrügereien und Missbrauch der Frömmigkeit vor, wenn aus Profitgier Fälschungen vorgenommen oder Muttergotteswunder vorgetäuscht wurden. Es sind Fälle aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts bekannt, in denen der Betrug entdeckt und der Betrüger verurteilt und wie ein Ketzer verbrannt wurde. Es gab auch lange vor der Reformation Zweifel, Kritik und Polemik gegenüber manchen Erscheinungen des Wunder- und des Reliquienkults. Das gilt etwa für das Wilsnacker Blutwunder, das seit 1384 Pilger nach Wilsnack in Brandenburg lockte. Nicht nur Hus trat gegen die Pilgerfahrten nach Wilsnack ein, sondern seit 1426 auch der Rostocker Professor, Magdeburger Domherr und seit 1442 für die Klosterreform in der Kirchenprovinz Magdeburg zuständige Basler Konzilstheologe Heinrich Toke. In einer Rede vor Nikolaus Cusanus stritt er 1451 gegen die Verehrung des Blutwunders von Wilsnack, woraufhin sich das Magdeburger Provinzialkapitel unter dem Vorsitz des Cusanus gegen Wilsnack aussprach. Doch entschied Nikolaus V. 1453 zugunsten der Heiligblutverehrung von Wilnsnack, bevor Luther in seiner Adelsschrift von 1520 dafür eintrat,101 den Wallfahrtsort dem Erdboden gleichzumachen. Auffällig ist die Entfernung der Frömmigkeit vom theologischen Kern an die Ränder, was Joseph Lortz als „Peripherierung“102 der Frömmigkeit bezeichnet hat. Das wird greifbar, wenn der Christuskult durch den Blut- und Wundenkult ersetzt wurde. Bemerkenswert ist die Mechanisierung der Frömmigkeit in den Rosenkranzgebeten und die Kommerzialisierung der Frömmigkeit in der Vorstellung von der Käuflichkeit des Heils. Diese Frömmigkeit lebte besonders in der Devotio Moderna, in den weiblichen Zweigen der Bettelorden und unter den Tertiaren der Franziskaner, Dominika-
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ner und Karmeliten, ferner in den vor allem in Italien verbreiteten Laienbruderschaften. Diese dienten der Vertiefung der Frömmigkeit und karitativen Aufgaben. Zu nennen sind die Oratorien oder Hieronymus-Bruderschaften, so 1443 die Hieronymus-Bruderschaft in Florenz, 1495 die St.-Nikolaus-Bruderschaft in Bologna, 1518 die Bruderschaft der göttlichen Liebe in Neapel oder das vor 1515 entstandene Oratorium der göttlichen Liebe in Rom. Unabhängig davon bestanden im 15. Jahrhundert, z. B. in Venedig, Laiengemeinschaften zum gemeinsamen Studium der Bibel. Die Diskrepanz zwischen der gesteigerten Religiosität und der Heilssehnsucht der Gläubigen und der bürokratisierten, verweltlichten und ökonomisierten Kirche gaben der Kirchenkritik und dem Antiklerikalismus Nahrung. Hier lag der Wurzelboden für neue Ordensreformen und Observanzbewegungen, aber auch der Wurzelboden für Luthers Reformation. Bettelorden und Observanzbewegung In den Orden waren die alten Ideale der Ordensgründer vielfach in Vergessenheit geraten. „Bei der Diagnose der Mißstände stachen die Regeluntreue, der Zerfall des klösterlichen Gemeinschaftslebens, nachlassende Zucht, geistliche Trägheit hervor und wurden als Anzeichen für einen zerrütteten Zustand des Ordenslebens bewertet.“103 Bei den Benediktinern setzte die Reform von Kastl schon am Ende des 14. Jahrhunderts ein, worauf in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Reform von Melk und in der zweiten die Bursfelder Reform folgte. Aber auch bei den Bettelorden der Franziskaner, Dominikaner, Karmeliten und AugustinerEremiten war das Jahrhundert vor der Reformation eine Zeit der Ordensreformen. Dem Orden der minderen Brüder (Ordo fratrum minorum) oder den Franziskanern lag seit 1209 die Lebensregel der vita apostolica zugrunde, die ihre endgültige Fassung in der Regula bullata von 1223 erfahren hatte. Hinzu kam das Testament des hl. Franziskus, das dem Orden Armut als Lebensideal vorschrieb. Der Übergang vom Wanderpredigerleben zu festen Niederlassungen war aber mit dem Erwerb von Besitz verbunden, während das Testament im Sinne von Besitzverzicht der Gemeinschaft wie des Einzelnen verstanden wurde. Daraus entstanden Gegensätze zwischen den Konventualen, die die paupertas hintanstellten, und den Spiritualen, die die Regel des hl. Franziskus streng nach seinem Testament auslegten. Johannes XXII. verwarf die Lehre der absoluten Armut und exkommunizierte 1317 die Spiritualen, die nach Süditalien flohen und als Eremitengemeinschaften fortbestanden. Aus diesen Fraticelli ging die Observanzbewegung (lat. observare, [die Ordensregel] beachten) hervor, womit sich der Orden 1334 spaltete. Der Streit zog sich hin und konnte mit der Bulle Ut sacra ordinis Eugens IV. von 1446 nicht beendet werden, mit der der Papst die Autonomie der Observanz bestätigte. Das führte 1517 zur Entstehung zweier Ordenszweige, der Franziskaner-Konventualen (Minoriten) und der Franziskaner-Observaten (Franziskaner),
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neben denen die radikalen Gemeinschaften außerhalb der Observanz fortbestanden. Aus ihnen gingen 1528 die Kapuziner hervor. Immer ging es um die Frage, wie das Armutsgebot zu erfüllen sei, was keine Randfrage war, weil die drei evangelischen Räte, auf denen Mönchtum, Ordenswesen und Gelübde beruhten, neben Keuschheit und Gehorsam die Armut nannten (Mt 19,21). Die Dominikaner oder der Predigerorden (Ordo fratrum praedicatorum), 1215 als Gründung des hl. Dominikus in Toulouse entstanden, nahm die Augustinerregel an und übernahm 1219 den Auftrag zur Predigt in Bettelarmut. 1220 wurde festgesetzt, dass nicht nur der einzelne Dominikaner, sondern auch die Konvente in Bettelarmut leben sollten. Als Benedikt XII. 1337 den Dominikanern Gemeinschaftsbesitz zugestehen wollte, hielt das Generalkapitel an der kollektiven Armut fest. Die Pestverluste der Predigerkonvente seit 1348 und die Spaltung der Dominikaner durch das Schisma von 1378 führten den Orden in eine Krise. 1389 versuchte der Ordensmeister Raimund von Capua, Beichtvater Katharinas von Siena, in der römischen Obödienz des Ordens eine innere Erneuerung unter strenger Beachtung der Regel und der Konstitutionen des hl. Dominikus zu erreichen, der sich aber viele versagten. So standen sich auch hier seit 1389 reformunwillige Konventualen und reformwillige Observanten gegenüber. In Deutschland oblag die Rückführung der Konvente zu den alten Idealen Konrad von Preußen im Dominikanerkloster von Colmar im Elsass. 1431 reformierte Johannes Nider das Predigerkloster in Basel, anfangs Tagungsort des Konzils, und 1434 das Dominikanerkloster in Wien. Nach Colmar, Bamberg, Würzburg, Bern, Chur u. a. schloß sich 1464 das Kölner Dominikanerkloster der Observanz an, die sich fast gleichzeitig, ausgehend vom Dominikanerkloster San Domenico in Venedig, auch in Italien ausbreitete. 1475 übernahmen die Observanten die Provinz Teutonia. Savonarolas Wirken als Prior von San Marco in Florenz und die streng observante Reformkongregation von San Marco, die er 1493 gründete und der sich Santa Catarina in Pisa und San Domenico in Fiesole anschlossen, aber auch der 1501 vollzogene Anschluss des Pariser Dominikanerkonvents an die Observanz und die 1514 erfolgte Bildung einer observanten Congregatio Galliae zeigen, dass die Observanzbewegung bei den Dominikanern bis an die Schwelle der Reformation Luthers reichte. Die Karmeliten (Ordo fratrum Beatae Mariae Virginis de Monte Carmelo) entstanden zu Beginn des 13. Jahrhunderts aus Eremitengemeinschaften in Palästina. Zwischen 1206 und 1214 erhielten sie von Albert von Vercelli, dem lateinischen Patriarchen von Jerusalem, ihre Lebensordnung, die formula vitae, die Honorius III. 1226 und Gregor IX. 1229 bestätigten, bevor das Vordringen der Muslime sie seit 1230 zum Rückzug aus Palästina zwang. Auch die Religiosität der Karmeliten war von der Forderung der vita apostolica bestimmt; auch sie wurden durch Pest und Schisma in den Niedergang des christlichen Lebens hineingezogen und gerieten im 14. Jahrhundert durch Verfall der Ordensdisziplin und Verflachung des religiösen Lebens in den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit. 1432
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baten sie gar den Papst um Milderung (mitigatio) ihrer Regel. Eugen IV. gab ihrem Begehren mit der Bulle Romani Pontificis statt. Fast zu derselben Zeit kamen aber Reformkräfte auf, darunter die vom Karmel in Mantua ausgehende observante Kongregation von Mantua, die der Regelmilderung von 1432 vehement widersprach, auch wenn sie sie 1462 annahm. Eine zentrale Rolle spielte für die Kongregation von Mantua, der sich die Konvente von Ferrara, Lucca und Brescia anschlossen und dem 1466 das Studium generale der Karmeliten in Bologna unterstellt wurde, der 1451 zum Generalprior gewählte Johannes Soreth. Auch in Deutschland war es Soreth, der seit 1453 die Karmelitenklöster der Ordensprovinzen Nieder- und Oberdeutschland reformierte, was aber nur bei einem Teil der Klöster erfolgreich war. In seinem Regelkommentar Expositio paraenetica in regulam Carmelitanam legte er das Prinzip der Rückkehr zur Spiritualität der Anfänge des Ordens dar. 1456 wurde sein Reformdekret vom Generalkapitel in Paris angenommen und im folgenden Jahr von Calixtus III. bestätigt. Damit teilte sich der Orden in Observante und Konventuale. Soreths Reformerfolge waren am größten in der niederdeutschen Provinz, doch schlossen sich in Oberdeutschland die Karmelitenklöster in Augsburg, Bamberg, Nürnberg, Ravensburg und Würzburg der Observanz an. In der Provinz Francia erreichte er das bei den Klöstern in Gent, Lüttich, Rouen und Valenciennes. Die Reform des Kölner Klosters mit seinem Studium generale folgte kurz nach seinem Tod 1471, während die Ordensprovinzen in Spanien, Portugal, Sachsen, England, Irland und Schottland, die er nicht visitieren konnte, ohne Reform blieben. Auffällig ist, dass die Observanzbewegung in Italien, Deutschland und Frankreich kurz nach seinem Lebensende ins Stocken geriet. Doch hörte sie deshalb nicht auf. Mit der Reform des Karmels von Albi in Südfrankreich durch den Bischof Louis d’Amboise von Albi 1499 und der Entstehung der observanten Kongregation von Albi 1502 reichte die karmelitische Observanzbewegung in das 16. Jahrhundert hinein und mit der Reform des 1524 als Generalprior an die Spitze des Ordens getretenen Nikolaus Audet über die Reformation Luthers hinaus. Audet, der die Grundsätze der Observanz in seiner programmatischen Schrift Isagogicon umriss, reformierte karmelitische Konvente in Italien und in den französischen Ordensprovinzen Aquitanien, Gascogne, Narbonne, Toulouse und Touraine, aber auch in Palästina, in Portugal und 1531 in der niederdeutschen Provinz. Der Orden der Augustiner-Eremiten (Ordo fratrum eremitarum S. Augustini) ging zwischen 1244 und 1255 aus italienischen Eremitenkongregationen hervor und breitete sich bis Ende des 13. Jahrhunderts auch nördlich der Alpen aus. Die Observanzbewegung begann 1387 im Kloster San Salvatore in Lecceto bei Siena. Von Lecceto aus verbreitete sie sich zunächst in Italien, wo San Giovanni a Carbonara in Neapel 1421 zu einem zweiten Zentrum der Erneuerung wurde. Nach Spanien gelangte die Observanz der Augustiner-Eremiten im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. In Deutschland fand die Erneuerungsbewegung nach dem
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Konzil von Konstanz zunächst in Bayern Eingang. Unter Andreas Proles, der 1461 zum Generalvikar der observanten Kongregation von Sachsen und Thüringen gewählt wurde, und seinem Nachfolger Johann von Staupitz, breitete sich die Reformtätigkeit über die Konvente der Provinz aus. Eines der 30 Klöster, die sich in Sachsen-Thüringen der Observanz angeschlossen hatten, war der Konvent der Augustiner-Eremiten in Erfurt. Das war das Kloster, in das 1505 Martin Luther als Novize eintrat. In Staupitz, der − seit 1503 Generalvikar der observanten Kongregation − in seinen theologischen Schriften die augustinische Betonung der erwählenden Gnade Gottes hervorhob, so dass man darin Luthers Rechtfertigungslehre antizipiert sehen kann, begegnete dem jungen Luther ein Ordensreformer als Lehrer und vertrauter väterlicher Freund. „Die Verbindungslinien zwischen der spätmittelalterlichen Kloster- und Ordensreform, speziell der Bettelorden, und der Reformation Luthers werden in den letzten Jahren in der Reformationsgeschichtsschreibung stärker herausgestellt als die Differenzen. ‚Ich bin der Meinung, dass man Luthers Reformation in gewisser Hinsicht als Höhepunkt und Vollendung der monastischen Reformen des Mittelalters betrachten kann.‘104 Mit dieser Feststellung betont Ulrich Köpf die Prägekraft der Klosterreform des 15. Jahrhunderts, die Luther in dem Erfurter Konvent selbst von innen kennengelernt hat, auf die frühe Reformation. Das monastische Erbe wirkte − wie Bernd Moeller gezeigt hat − auf verschiedenen Wegen in der Reformation weiter. [...]105 Inge Mager hat diese Sicht durch ihre These ergänzt, dass das Leben der Familie Luther in hohem Maße von Kontinuitäten zum Klosterleben geprägt war,106 und zwar entscheidend durch Katharina von Bora.“107
In einer gewichtigen These stellt die hier zitierte Autorin Luther und die karmelitische Ordensreformerin im Spanien des späteren 16. Jahrhunderts, die hl. Teresa von Ávila, in Beziehung: „Der Augustiner-Eremit Martin Luther ist in seinen Anfängen Teil einer Observanzbewegung und Reform der Augustiner-Eremiten (Staupitz usw.). Die Reformation ist eine aus dem Ruder gelaufene Ordensreform und letztlich eine an Radikalität nicht zu überbietende Observanzbewegung im Sinne einer Aufgabe der evangelischen Räte (Werkgerechtigkeit) und damit einer Aufgabe des anscheinend nicht reformierbaren Religiosentums (Allgemeines Priestertum und Luthers Schrift De votis monasticis). Zugleich erlebt der Bettelorden der Karmeliten im 16. Jahrhundert mit der Teresianischen Reform eine zu Luther gegenläufige Ordensreform im Sinne einer Neuorientierung, die im ersten Jahrhundert der Neuzeit im mittelalterlichen Geist erfolgt. Seit dem 16. Jahrhundert laufen ein an den evangelischen Räten orientiertes katholisches Religiosentum und ein an der lutherischen Rechtfertigungslehre orientiertes protestantisches Christentum parallel und bezeichnen zwei Eckpunkte christlichen Lebens.“108
III. Der Kulminationspunkt von zwei Jahrhunderten voller Reformstreben
Katholische Reform Katholische Reform − Gegenreformation − katholische Konfessionalisierung Unter Historikern ist es teilweise üblich geworden, nicht nur den Begriff Gegenreformation aufzugeben, sondern auch den Begriff Katholische Reform. Wolfgang Reinhard verwirft beide Bezeichnungen zumindest als Epochenbegriffe; er möchte nur noch von katholischer Konfessionalisierung sprechen. Auch in diesem Buch finden Katholische Reform und Gegenreformation keine Verwendung als Epochenbezeichnung. Stattdessen ist vom Konfessionellen Zeitalter die Rede. Dennoch wird hier an den Begriffen Katholische Reform und Gegenreformation − und zugleich an katholischer Konfessionalisierung − festgehalten. Die Bezeichnung Katholische Reform geht auf Hubert Jedin zurück, der den Begriff Gegenreformation dadurch ergänzt und 1946 den Doppelbegriff katholische Reformation und Gegenreformation eingeführt hat. Damit nahm er die 1880 von Wilhelm Maurenbrecher verwendete Bezeichnung katholische Reformation auf. Maurenbrecher verstand darunter die hauptsächlich von Italien und Spanien ausgehende Erneuerung innerhalb der Kirche. Hingegen war Gegenreformation für Jedin der katholische Gegenangriff gegen den Protestantismus in der Zeit nach dem Konzil von Trient, also nach 1563: „Die katholische Reform ist die Selbstbesinnung der Kirche auf das katholische Lebensideal durch innere Erneuerung, die Gegenreformation ist die Selbstbehauptung der Kirche im Kampf gegen den Protestantismus. [...] In der katholischen Reform werden die Kräfte aufgespeichert, die sich in der Gegenreformation entladen.“1 Katholische Reform ist bei Jedin älter als Gegenreformation und geht dieser zeitlich voraus. In diesem Buch werden vier Begriffe gebraucht, von denen keiner dasselbe bezeichnet: 1. Katholische Konfessionsbildung − die faktische Entstehung einer katholischen Konfession mit der Professio fidei Tridentinae von 1564 als Bekenntnisschrift und somit die faktische Ausformung der katholischen Kirche zur Konfessionskirche neben anderen Konfessionskirchen − faktisch, weil ekklesiologisch die katholische Kirche die Kirche − nach heutigem Verständnis die Substitution der Kirche Christi − und keine Konfession war oder ist. 2. Katholische Konfessionalisierung − der umfassende sozialgeschichtliche Veränderungsprozess im katholischen Bereich, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts und vor allem seit dem Abschluss des Konzils von Trient, und zwar parallel zu lutherischer Konfessionalisierung und reformierter Konfessionalisierung.
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3. Gegenreformation − die praktische und konkrete, oft von weltlichen Fürsten initiierte oder getragene Politik der Rekatholisierung und als solche eingelagert in den Prozess der katholischen Konfessionalisierung und zeitlich mit ihm zusammenfallend. 4. Katholische Reform − ein Bündel zahlreicher Reformbewegungen und in Summe und Wirkung ein umfassender Veränderungsprozess innerhalb der katholischen Kirche, aber nicht sozialgeschichtlich, sondern in erster Linie theologisch und spirituell, aber auch organisatorisch-institutionell. Es bleibt die Frage, wann die Katholische Reform begann? Eine Antwort gibt Konrad Repgen: Die „Anfänge der katholischen Reform [lagen] im frühen 15. Jahrhundert“.2 Katholische Reform wäre damit zumindest in zeitlicher Hinsicht ein viel umfassenderer Prozess als katholische Konfessionalisierung. Die Katholische Reform hätte dann auch lange vor der Reformation Luthers begonnen und wäre sicher nicht als Reaktion auf die Reformation zu verstehen. So stützt Repgens Sicht das Verständnis des frühen Luther als katholischen Reformer und die Deutung der Reformation als „eine aus dem Ruder gelaufene Ordensreform“3. Italien: Kardinäle, Bischöfe, Spirituali Die Katholische Reform begann mit den Reformbewegungen, die sich in Italien und Spanien seit dem 15. Jahrhundert ohne Unterbrechung durch die Reformation − aber von ihr beeinflusst − fortsetzten und dabei, besonders in Spanien − ähnlich wie die Reformation in Deutschland oder in der Schweiz −, bei den politisch Mächtigen Unterstützung fand. Der Niedergang des Papsttums im Schisma von 1378 führte − bei Katharina von Siena, Dante und anderen − zu Reformforderungen und zum Ruf nach einer reformatio ecclesiae in capite et in membris, während das 15. Jahrhundert zum Jahrhundert der Reformkonzilien wurde. Nach dem Scheitern des Konzils von Basel übernahm das Papsttum die Kirchenreform. Das begann mit Nikolaus V., dem Humanisten Tommaso Parentucelli auf dem Papstthron, dem aber Erfolg bei seinen Reformbemühungen versagt blieb − wegen der politischen Umstände mit der wachsenden Türkengefahr nach dem Fall von Konstantinopel 1453 und den Gegensätzen der europäischen Mächte, wegen des Mordanschlags von 1453 und wegen Alters und Krankheit. Der übernächste Papst, Pius II., Enea Silvio Piccolomini, hätte das Zeug zu einem großen Papst der Katholischen Reform gehabt, doch kam seine große Reformbulle vor seinem Tod nicht mehr zum Abschluss. Nach Pius II. setzte wieder ein Niedergang des Papsttums ein. Mit Sixtus IV. begann 1471 die Epoche des Nepotismus, was mit Vetternwirtschaft nur unzulänglich zu übersetzen ist. Innozenz VIII. war nicht nur ungebildet, sondern erlangte sein Amt auch durch Simonie (Ämterkauf). Er veranstaltete für seinen Sohn Franceschetto im Vatikanischen Palast eine prunkvolle Hochzeitsfeier mit Maddalena de’ Medici und ebenso für seine
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Enkelin Battistina, die Luigi d’Aragona de Napoli heiratete. Giovanni de’ Medici machte er mit 14 Jahren zum Kardinal. Dieser Giovanni war der spätere Papst Leo X. Von Innozenz VIII. war keine Kirchenreform zu erwarten, ebensowenig von seinem Nachfolger Alexander VI. Dieser Papst aus der spanischen Familie Borja, Musterbeispiel des verweltlichten Renaissancepapsttums, nutzte sein Pontifikat zum Vorteil und zur Steigerung von Macht und Reichtum seiner Familie, besonders seines Sohnes Cesare Borja. Dieser löste die Romagna vom Kirchenstaat und machte sie mit Einverständnis seines Vaters zu seinem Erbfürstentum. Aber das Renaissancepapsttum, die Päpste, die Kardinalnepoten und die Höflinge und Schmarotzer in den Palästen von Rom waren nicht alles. Es gab daneben zahlreiche, oft hochgebildete Reformer. Ein solcher war der als Sohn eines Moselschiffers in Kues an der Mosel geborene Kardinal, zeitweilige Bischof von Brixen und spätere Generalvikar des Kirchenstaates Nikolaus Cusanus, der am Konzil von Basel teilnahm und 1437 nach Konstantinopel reiste, um die Union der lateinischen und der griechischen Kirche zu erreichen. Während er in De concordantia catholica von 1433 − ähnlich auch in De maioritate auctoritatis sacrorum conciliorum supra auctoritatem papae und in De auctoritate praesidendi in concilio generali, beide aus der Zeit zu Beginn des Basler Konzils − konziliaristische Standpunkte vertreten hatte, wechselte er später unter dem Eindruck der Unionsbestrebungen Eugens IV. auf die papalistische Seite. Nach dem Konzil von Basel war er einer der wichtigsten Vertreter der Reformpartei an der päpstlichen Kurie, wie er zuvor in Brixen um Reformen auf Diözesanebene bemüht war. 1459 machte er mit seiner Reformatio generalis umfassende Reformvorschläge und war der Verfasser der nicht zum Abschluss gekommenen großen Reformbulle Pius’ II. Als Kardinallegat wirkte er seit 1451 auf Visitationsreisen im Reich einschließlich der Niederlande für Reformen in Diözesen und Orden. Als einer der bedeutendsten Philosophen und Theologen des 15. Jahrhunderts trat er für verinnerlichte Religiosität ein und verfasste 1453 mit De visione Dei auch ein Werk der mystischen Theologie. Ein anderer Reformer war der Augustiner-Eremit und Humanist Aegidius von Viterbo, der als Reformator des Augustiner-Eremiten-Ordens, als Legat Leos X., als Kardinal und als Bischof von Viterbo Reformaktivitäten zu entfalten suchte. Im Mai 1512 hielt er in San Giovanni in Laterano in Rom die Eröffnungsrede des V. Laterankonzils und stellte dabei die Kirchenreform als Hauptaufgabe des Konzils heraus. Ein dritter war der Dominikaner und Kardinal Thomas de Vio Cajetan − jener Cajetan, der Luther 1518 in Augsburg als päpstlicher Legat zu verhören hatte −, der auf dem V. Laterankonzil im papalistischen Sinne die Autorität des Papstes verteidigte (De comparatione auctoritatis papae et concilii, 1512) und auch später in der Auseinandersetzung mit Luther den Papstprimat vertrat (De divina institutione pontificatus, 1521). Cajetan wirkte vor allem als Theologe. Mit seinem am 8. Dezember 1517, nur fünf Wochen nach Luthers Ablassthesen
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vom 31. Oktober 1517 abgeschlossenen Traktat De indulgentia, der der Bulle Cum postquam von 1519 zugrunde lag, suchte er die im Mittelalter ungeordnet gebliebene Ablasstheologie zu klären. Schon seit 1513 − lange vor dem reformatorischen sola scriptura − begann er mit der Kommentierung des Alten und Neuen Testaments, was unter dem Eindruck von Luthers Theologie an Bedeutung gewann. Sein Kommentar zur Summa Theologiae des hl. Thomas aus dem 13. Jahrhundert, den er zwischen 1507 und 1522 verfasste, trug dazu bei, dass die Summa als wichtigste Grundlage des theologischen Studiums in der katholischen Kirche an die Stelle der Sentenzen des Petrus Lombardus aus dem 12. Jahrhundert trat. Cajetan war mit Erfolg bemüht, „die katholische Lehre so darzulegen, dass er den Grundanliegen der Reformation gerecht wurde − und das nicht obwohl, sondern weil er der große Thomist war, der spätmittelalterliche Theologoumena hinter sich ließ“4. Die vorreformatorischen Reformbestrebungen, in denen die Anfänge der Katholischen Reform in Italien sichtbar werden, hingen mit den Observanzbewegungen der Bettelorden und mit den sich ihnen als Tertiaren oder Dritte Orden anschließenden Laien zusammen. Venedig war ein Zentrum der frühen Katholischen Reform. Aus dem seit 1505 bestehenden Kreis in der Lagunenstadt ging die radikale Reformschrift an Leo X., Libellus ad Leonem X, hervor. In Venedig wirkten der spätere Kamaldulenser und Gründer der Reformkongregation vom Monte Corona Tommaso (Paolo) Giustiniani, der Verfasser des Libellus, und Gasparo Contarini. Dem späteren Kardinal Contarini ging in der Osterbeichte von 1511 die Erkenntnis auf, dass keine menschliche Bußleistung dem Menschen vor Gott Gerechtigkeit verschaffen könne, sondern nur das Sühneleiden Christi, das als Gnade Gottes nur im Glauben empfangen werden könne. Das war im Ansatz die Rechtfertigungslehre, zu der Contarinis Geburtsjahrgangsgenosse Luther erst sehr viel später fand. Als Legat Pauls III. nahm Contarini 1541 am Regensburger Religionsgespräch teil und versuchte, in der Rechtfertigungslehre einen Kompromiss zu erreichen, der Luther entgegenkam, doch wurde seine Position von Luther wie von Rom abgelehnt. Contarini gehörte in Venedig zu den humanistisch beeinflussten Theologen, den Spirituali, deren Ansichten sich mit denen der Reformation berührten und manches von dem vorwegnahmen, was später von Luther vertreten wurde. Zu den Spirituali zählte auch der Abt des Benediktinerklosters San Giorgio Maggiore in Venedig, Gregorio Cortese, der später an der Vorbereitung des Konzils von Trient beteiligt war. Im römischen Kardinalskollegium und unter italienischen Bischöfen gab es weitere reformbereite Kräfte wie die Kardinäle Oliviero Carafa, den 1511 gestorbenen Erzbischof von Neapel und späteren Kurienkardinal, der unter Alexander VI. in einer Reformkommission wirkte, oder Gian Matteo Giberti, der 1527 Bischof von Verona wurde. Unter Clemens VII. war er an der Kurie tätig. In Rom lernte er das Oratorium der göttlichen Liebe und den 1524 aus dem Oratorium hervorgegangenen Theatinerorden kennen. 1527 verließ er Rom und ging nach Ve-
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rona, um sich um sein Bistum zu kümmern. Bis dahin war es üblich, dass italienische Bischöfe − zumal solche, die, wie Giberti, vor ihrer Ernennung zum Bischof an der Kurie Karriere gemacht hatten − in Rom lebten und ihr Bistum als Pfründe und die Einkünfte aus ihrem Bistum zur Steigerung ihres Wohlstands nutzten. Giberti hingegen ging in sein Bistum, visitierte den Diözesanklerus, richtete in Verona ein Priesterseminar ein, reformierte die Klöster der Diözese und sorgte für soziale Einrichtungen. Er nahm damit das Bischofsideal des Konzils von Trient vorweg. Giberti stand in Verbindung mit der Bewegung des Evangelismo italiano und war von dessen theologischen Auffassungen beeinflusst. Der Evangelismo italiano, zu dem auch die Spirituali um Contarini und den späteren katholischen Erzbischof von Canterbury Reginald Pole gehörten, der seit 1532 in Italien lebte und 1536 Kardinal wurde, war eine katholische Reformbewegung vor und nach dem Tridentinum. Durch die Erhebung Contarinis zum Kardinal 1535 und den Eintritt anderer in kuriale Ämter konnte der Evangelismo vor Trient an der Kurie Einfluss erlangen und zu dem Weg zum Konzil von Trient beitragen. War die Bewegung auch heterogen, so spielte die Rechtfertigung allein aus dem Glauben ohne Anteil der Werke für den Evangelismo doch eine so große Rolle, dass er nach der Einrichtung der römischen Inquisition 1542 unter Protestantismusverdacht geriet. Ungeachtet von Bischöfen wie Giberti in Verona, neben dem Giampietro Carafa − der spätere Paul IV. − seit 1505 in Chieti oder Geromino Trevisani seit 1507 in Cremona zu nennen sind, und der Bewegung des Evangelismo italiano waren die Reformer in der stark verweltlichten hohen Geistlichkeit Roms und Italiens im späten 15. und im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts noch eine kleine Minderheit. So gewann die Katholische Reform in Rom erst während des Pontifikats Alessandro Farneses Bedeutung, der 1534 als Paul III. den Papstthron bestieg. Paul III. war selbst noch ein Papst der Renaissance, hatte vier Kinder, versorgte drei Enkel mit hohen kirchlichen Ämtern und verdankte seinen Platz im Kardinalskollegium Alexander VI., der sich mit seiner Erhebung zum Kardinal für die Liebesdienste erkenntlich zeigte, die Alessandros Schwester Giulia Farnese ihm jahrelang als Mätresse geleistet hatte. So war Paul III. noch kein Papst der Katholischen Reform. Dennoch wirkte er durch die Einberufung des Konzils von Trient als Wegbereiter der inneren Reform der Kirche. Der Durchbruch der katholischen Reform vollzog sich am Sitz des Papsttums nach den beiden ersten Tagungsperioden des Konzils unter den drei Päpsten Julius III., Marcellus II. und Paul IV. und somit zwischen 1549 und 1559. Der nur wenige Tage im April 1555 regierende Marcellus II. gilt als der erste Papst der Katholische Reform, während sein Nachfolger Paul IV. mit der strengen Handhabung der Indizierung der verbotenen Bücher und der Verschärfung der Inquisition wichtige Instrumente der Gegenreformation schuf oder effektiver einsetzte.
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Spanien: Katholische Reform im Dienst der Einheit des Königreichs Was so in Italien als Werk kleiner Gemeinschaften von Laien und Klerikern erscheint, das gewann in Spanien noch vor der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert die Gestalt einer großen Erneuerungsbewegung, womit Spanien zum wichtigsten Land der Katholischen Reform − und zum Antipoden des Deutschland der Reformation − wurde. Getragen und gefördert wurde die Katholische Reform in Spanien von den alten Mönchsorden und den Bettelorden, von manchen Bischöfen und von Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón. Dahinter standen als Triebkräfte das Kreuzzugsbewusstsein der siegreichen Reconquista und das Staatskirchentum der Kronen von Aragón und Kastilien. Die beiden Reyes Católicos stellten die Erneuerung der Kirche in den Dienst der Einheit ihrer Reiche. 1478 wurde auf dem Nationalkonzil von Sevilla die Reform der spanischen Kirche beschlossen, die von den Königen gemeinsam mit den Bischöfen vorangetrieben und gegen Einflussnahme von außen, auch gegen das Papsttum, abgesichert werden sollte. Dazu gehörte die Einschränkung der Privilegien der exemten Orden und die strenge Einhaltung der Residenzpflicht der Bischöfe und des Klerus. Die Vernachlässigung der Residenzpflicht war − neben Nepotismus, Korruption und Ämterkäuflichkeit, Kommerzialisierung des Bußsakramentes im Ablasshandel und verweltlichtem Luxusleben von großen Teilen des hohen Klerus − einer der wichtigsten Missstände der Kirche. Das gab es überall im lateinischen Europa, wo die teilweise gut dotierten Pfarrer oft außerhalb des Pfarrsprengels lebten und dort die Einkünfte aus ihrer Pfarrei verzehrten, in der sie sich von schlecht besoldeten Kaplänen vertreten ließen. So nahm das Nationalkonzil von Sevilla 1478 wichtige Reformdekrete des Konzils von Trient vorweg. Einer der hervorragendsten Vertreter der Katholischen Reform war der aus dem Franziskaner-Observantentum hervorgegangene Bettelmönch und seit 1495 Erzbischof von Toledo Francisco Ximénes de Cisneros, der nicht nur Beichtvater der Königin Isabella war, sondern auch − während der Jahre 1506 bis 1508 und 1516 bis 1517 − Regent von Kastilien sowie seit 1507 Kardinal und Generalinquisitor. Ein anderer war der Erzbischof von Granada Hernando (Fernando) Talavera y Mendoza, auch er Beichtvater des Königspaares. Diese beiden Bischöfe führten in ihren Diözesen Reformen durch, mit denen sie die tridentinischen Reformen ebenfalls vorwegnahmen. Dazu gehörte neben Diözesansynoden, wie sie im Erzbistum Toledo seit 1497 stattfanden, Visitationen des Klerus und Richtlinien für die Seelsorge, mit denen Ximénes de Cisneros die Erzdiözese Toledo zu einer Art Musterbistum machte, die Abfassung einer Breve doctrina genannten Zusammenfassung der Glaubenslehren für den Volksunterricht und die Gründung von Einrichtungen für die Priesterausbildung und somit für die Hebung des Bildungsstandes des Seelsorgeklerus. Es war schon die Rede davon, dass Ximénes de Cisneros entscheidenden Anteil an der Gründung der 1508 eröffneten Universidad Alcalá de Henares hatte. Die Alcalá wurde ein Zentrum des
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biblischen oder christlichen Humanismus und zugleich des Thomismus. Hier wurde − maßgeblich gefördert von Ximénes de Cisneros − eine Neuedition des Alten und Neuen Testaments, die Biblia Sacra Polyglotta, besser bekannt als Complutensische Polyglotte, erarbeitet. Die ersten fünf der sechs Foliobände enthielten das Alte Testament im hebräischen Text und im griechischen Text der Septuaginta sowie das Neue Testament im griechischen Text, beides ergänzt um den lateinischen Text der Vulgata. Als Ordensreformer − seit 1496 war Ximénes de Cisneros Visitator der spanischen Franziskaner, seit 1499 Visitator und Reformator aller Bettelorden in Spanien − „beseitigte er Mißstände, die in Mitteleuropa zum Anlaß für die Reformation wurden“5. Bedeutung erlangte auch Francisco de Vitoria, der nach einer Lehrtätigkeit im Dominikanerkonvent von Saint-Jacques in Paris, seit 1523 im Dominikanerkonvent San Gregorio in Valladolid und seit 1526 als Theologieprofessor an der Universität von Valladolid lehrte, die scholastische Theologie erneuerte und zum Mitbegründer der noch für das ganze 17. Jahrhundert und darüber hinaus wichtigen spanischen Spätscholastik wurde. Er ersetzte das Sentenzenwerk des Petrus Lombardus als theologisches Lehrbuch durch die Summa Theologiae des hl. Thomas und trug so mehr noch, weil er Hochschullehrer war, als Kardinal Cajetan zur thomistischen Reform des Theologiestudiums bei. Die Theologie der Escuela de Salamanca, als deren Haupt Vitoria oft bezeichnet wird, gewann bedeutenden Einfluss auf das Konzil von Trient. Lange vor dessen Zusammentritt vertrat Vitoria in Relectiones von 1532 bis 1534 Vorstellungen über Kirchen- und Papstgewalt und ein weitreichendes Programm zur Kirchenreform, das ihn mit diesen Schriften unter dem seit 1581 regierenden Sixtus V. auf den römischen Index der verbotenen Bücher brachte. Mit De iure belli von 1539 wurde Vitoria, lange vor dem Niederländer Hugo Grotius, ein Begründer des Völkerrechts. Auf dem Boden der Katholischen Reform stand seine Kritik an der spanischen Kolonialpolitik in Mittel- und Südamerika in seinen Relectiones de Indis von 1539, wie sie vor allem ein anderer spanischer Dominikaner, Bartolomé de Las Casas, übte. An der Universität von Alcalá de Henares drangen auch die Gedanken des Erasmus von Rotterdam ein, die auch unter den Bischöfen, vor allem bei dem Kardinal-Bischof Iñigo López de Mendoza y Zúñiga von Burgos, Anhänger fanden. In Spanien, dem wichtigsten Land der Katholischen Reform, verbanden sich Gesellschaft und Königtum unter dem Katholizismus wie nirgendwo sonst in Europa. Im Grunde ging es darum, ganz Spanien als katholisches Spanien zu integrieren.
Martin Luther und die Wittenberger Reformation Radikaler Umbruch oder Wandel in langfristigen Kontinuitäten? Wenn der frühe Luther als katholischer Reformer verstanden und die Reformation als „eine aus dem Ruder gelaufene Ordensreform“ (Edeltraud Klueting) gedeutet und als „Kulminationspunkt von zwei Jahrhunderten voller Reformstreben“ (Wolfgang Reinhard) bezeichnet werden kann, dann war in der Reformation noch viel Mittelalterliches enthalten. Das Verhältnis von Reformation und Mittelalter und die Frage nach Mittelalterlichem in der Reformation wird heute auch von evangelischen Kirchenhistorikern und besonders von Berndt Hamm gestellt, der in der Reformation einen „Verdichtungsvorgang“ gegenüber dem Mittelalter sieht, wobei er von „normativer Zentrierung“ spricht. Die Reformation erscheint ihm sowohl als „Umbruch“ wie auch als „in langfristige Kontinuitäten des Wandels integriert“, die „das Zeitalter der Reformation zusammen mit dem Spätmittelalter als Wegstrecke eines größeren kultur-, institutions-, mentalitäts- und religionsgeschichtlichen Zeitalters“6 deutlich werden lassen. Hamm stellt differenzierte Beobachtungen an und unterscheidet vier Bereiche. Ein radikaler Umbruch war die Reformation demnach als Entsakralisierungsprozess, der mit dem alten „Verständnis von Heiligkeit“ − von der Stellung des Papstes bis zum Ordenswesen und zur Jungfräulichkeit − brach. Das habe sich zwar „in gewissen Wandlungsprozessen des Spätmittelalters“ angekündigt, stelle aber eine „grundlegende Richtungsänderung“ dar.7 Das trifft sich mit der These, wonach die aus der Observanzbewegung kommende Reformation „eine an Radikalität nicht zu überbietende Observanzbewegung im Sinne einer Aufgabe der evangelischen Räte“8 war. Die zweite Beobachtung lässt die Reformation nur als „Verstärkung“ oder „Beschleunigung“ spätmittelalterlicher Entwicklungen erscheinen, wobei Hamm u. a. an das landesherrliche Kirchenregiment denkt.9 Während hier der Faktor der Kontinuität von Mittelalterlichem groß ist, ist er bei der dritten Beobachtung noch größer, weil dabei „kontinuierliche Veränderung ohne gravierende Verstärkung oder Beschleunigung“ feststellbar ist, etwa bei der im Spätmittelalter lebendigen Vorstellung „von der teuflischen Fundamentalbedrohung des wahren Glaubens, die dann in den Schriften Luthers und in den konfessionellen Konflikten des 16. Jahrhunderts eine weitere Ausgestaltung erfahren wird.“10 Den größten „qualitativen Sprung“ zeigt die vierte Beobachtung: Luthers Rechtfertigungslehre. Hamm räumt ein, dass es „bei einigen Theologen zwischen 1450 und 1520 die starke Tendenz [gibt], die Gnadenzuweisung der göttlichen
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Barmherzigkeit, vor allem durch die Passion Christi, in einer Weise zu maximalisieren, dass die vom Menschen geforderte Eigenbeteiligung auf ein Minimum herabgeschraubt werden kann. [...] Der qualitative Sprung der Reformation liegt dann im Schritt vom Minimum zum Nichts.“11 Ob dieses Urteil richtig ist und ob nicht auch hier von Verstärkung − oder gar nur von Veränderung ohne gravierende Verstärkung − die Rede sein müsste, hängt zumindest von der Einschätzung Gasparo Contarinis und seiner Erkenntnis der Rechtfertigung vor Gott ohne menschliche Bußleistung von 1511 ab, auf die Hamm nicht eingeht. Zweifellos radikal anders als bei Contarini war die Resonanz und die Wirkung der Rechtfertigungslehre Luthers. Wahrscheinlich lag hier das eigentlich Neue der Reformation. Nicht Luthers Rechtfertigungslehre war das epochale Ereignis, sondern ihr Widerhall. Es gibt aber auch nach wie vor evangelische Kirchenhistoriker, die den „tief greifenden Umbruch“ der Reformation herausstellen und von deren „epochalem Charakter“ sprechen,12 ohne die von Hamm gemachten Differenzierungen vorzunehmen. Das gilt für Gottfried Seebaß, der fünf Gründe nennt: die alleinige Berufung auf die Schrift und die Abwertung der Tradition − „nicht in einem formal-äußerlichen Sinn, sondern so, dass die Mitte der Heiligen Schrift, nämlich Person, Wort und Geschick Jesu von Nazareth in den Mittelpunkt“13 rückte −, die Verkündigung der Rechtfertigung des Sünders vor Gott und die Beseitigung der „spätmittelalterlich-religiösen Leistungsgesellschaft“14; die Aufhebung des Unterschieds von Klerus und Laien im Allgemeinen Priestertum aller Getauften, die Ersetzung von Mönchtum und Askese als „Maßstab des eigentlich Christlichen“15 durch den Dienst am Nächsten im weltlichen Beruf und die durch die Reformation und die nachfolgende Ausbildung der Konfessionen bedingte Gestaltung des Christlichen als persönliches Bekenntnis. Dabei sieht auch Seebaß Kontinuitäten zwischen Mittelalter und Reformation, wenn er zu der These kommt, man könne versucht sein, „die bei Katholiken wie Protestanten verbreitete Vorstellung, die heutige römisch-katholische Kirche befinde sich in ungebrochener Kontinuität zum Mittelalter, die evangelische aber nicht, geradezu umzukehren. Denn das Spätmittelalter findet in vielen Punkten seine ihm entsprechende Fortsetzung tatsächlich eher in der vielgestaltigen Welt des Protestantismus als in dem erst in der Abwehr der Reformation entstandenen und deswegen gegen die Reformation ausgebildeten tridentinischrömischen Zentralismus.“16 Es kann hier nicht um die Frage gehen, wie diese These zu der Feststellung des epochalen Charakters der Reformation passt, oder darum, wer recht hat. Es gibt Argumente für beide Sichtweisen, deren Gewichtung immer perspektivegeleitet bleiben wird − solange es überhaupt noch Perspektiven gibt. Halten wir uns an die Antwort, die der katholische Kirchenhistoriker Joseph Lortz schon 1939 gab: „Die gewaltige Änderung, welche die Reformation im Gesamtbestand des europäischen Daseins − kirchlich, religiös, wissenschaftlich, politisch und auch wirtschaftlich − bedeutet, ist zu
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einer Hälfte das Ergebnis einer seit rund 1300 angelegten Verschiebung und Zersetzung. Der andere Teil heißt Luther.“17 Voraussetzungen und Ursachen der Reformation In den zwei Jahrhunderten vor der Reformation seit etwa 1300 entstanden die Voraussetzungen der Reformation, die größtenteils schon erörtert wurden: die Religiosität der Menschen besonders der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit ihrer großen Heilssehnsucht, aber auch Mechanisierung und Kommerzialisierung der Frömmigkeit, die Mystik und die Devotio Moderna, die Observanzbewegungen der Dominikaner, Franziskaner, Karmeliten und Augustiner-Eremiten, die verbreitete Kirchenkritik mit der Kritik am Papsttum und an der Geistlichkeit, der aus solcher Kritik genährte Antiklerikalismus, der beginnende Nationalismus, wie er im Gallikanismus hervortrat, die beginnende territoriale Staatsbildung, die hinter dem vorreformatorischen landesherrlichen Kirchenregiment sichtbar wird, und nicht zuletzt die Lehren des John Wiclif und des Jan Hus. Schon Wiclif sprach, wie später Luther, vom Allgemeinen Priestertum, verwarf Hierarchie und Weihepriestertum und forderte die Beseitigung des Ablasses, der Heiligen- und Reliquienverehrung, des Kirchenbesitzes und die Beschränkung der Sakramente auf Taufe und Eucharistie. Hus übernahm wichtige Punkte aus Wiclifs Theologie, wobei ihn − wie später Luther − das Ablassproblem in den Konflikt mit der Kirche führte. Neben diesen Voraussetzungen gab es andere, nicht weniger wichtige. Dazu gehörte die wachsende Verbreitung der Schreib- und Lesefähigkeit, das Ende des klerikalen Bildungsmonopols, der Aufschwung des akademischen Bildungswesens und die Gründung zahlreicher neuer Universitäten sowie die Entwicklung der Theologie und Philosophie der Scholastik. Die via antiqua war zu Beginn des 16. Jahrhunderts nicht mehr die einzige Richtung der Scholastik. Von der Pariser Universität drang die via moderna vor, mit Gabriel Biel in Tübingen als Hauptvertreter in Deutschland. Sein gemäßigter Nominalismus gewann Einfluss auf Luther. Entscheidende Bedeutung kam dem Buchdruck mit beweglichen Lettern seit Gutenbergs 42-zeiligem lateinischen Bibeldruck von 1455 zu. Bis 1500 entstanden nach vorsichtigen Schätzungen rund 27.000 Buchdrucke mit Auflagen von 300 bis 500 und in einigen Fällen bis zu 1000 und mehr Exemplaren. Auch die Technik verbreitete sich rasch. Um 1500 gab es wahrscheinlich bereits etwa 260 Druckorte, wobei allein auf Venedig 151 Druckereien entfielen. Zentren des Buchdrucks in Deutschland waren Straßburg, Köln, Basel, Augsburg, Nürnberg und Leipzig. Mit dem Buchdruck standen Medien zur Verfügung, mit denen die Lehren Luthers und der Reformation in einem Maße verbreitet werden konnten und verbreitet wurden, wie das ohne diese Technik unmöglich gewesen wären, so dass manche von Medienrevolution sprechen.18
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Eine Voraussetzung für den Erfolg Luthers und der Reformation − wahrscheinlich die wichtigste neben Buchdruck und Landesfürstentum − bildete der Humanismus, von dem im Zusammenhang mit der Renaissance ausführlich die Rede war. Der Biblische Humanismus schuf mit der griechischen Ausgabe des Neuen Testaments des Erasmus in der Fassung von 1519 und mit Reuchlins Rudimenta linguae Hebraicae von 1506 die Voraussetzungen für Luthers deutsche Übersetzung des griechischen Neuen und des hebräischen Alten Testaments. Aber der Zusammenhang von Humanismus und Reformation geht weiter. Bernd Moeller hat das so formuliert: „Ohne Humanismus keine Reformation.“19 Er hat die These aufgestellt, dass „Luthers Sache ohne die Zustimmung der Humanisten nicht zum Sieg gekommen“20 wäre. Tatsächlich waren viele Reformatoren − Philipp Melanchthon, Zwingli, Martin Bucer, Johannes Brenz, Calvin − anfangs selbst Humanisten oder humanistisch gebildet. Nur Luther macht eine Ausnahme. Dennoch hielten die Humanisten Luther für einen der Ihren. In ihren Augen war seine Kirchenkritik deckungsgleich mit ihren eigenen Reformvorstellungen. Deshalb unterstützten sie Luther. Sie waren die Ersten, die in entscheidendem Maße zur Verbreitung seiner Schriften und seiner Lehren beitrugen. Später erwies sich dieses informelle Bündnis jedoch als Irrtum, so dass sich die Wege Luthers und der Humanisten ab 1525 trennten. Das Menschenbild der Humanisten und das Menschenbild Luthers waren nicht in Übereinstimmung zu bringen. Die Humanisten, auch die biblischen Humanisten, waren an dem Ideal einer durch Bildung glücklichen und harmonischen Persönlichkeit orientiert, die durch Bildung zu einem wahren und vollständigen Menschen wird, der nicht vom Geschick abhängig ist, sondern sich selbst zu entfalten weiß. Luther hatte ein anderes Menschenbild, das ganz in der Stellung des Menschen zu Gott aufging und den Menschen als vollständig abhängig von Gott ansah. Früh- oder Spätdatierung des reformatorischen Durchbruchs Martin Luther wurde 1483 in Eisleben geboren. Von 1488 bis 1497 besuchte er die Stadtschule in Mansfeld und danach für ein Jahr die Domschule in Magdeburg und ging anschließend noch bis 1501 an seinem Geburtsort in die Schule. In Magdeburg unterrichteten Angehörige der Brüder vom gemeinsamen Leben, so dass der junge Luther mit seinen Magdeburger Lehrern der Devotio Moderna begegnete. 1501 begann er − in dem damals für den Studienbeginn normalen Alter von 14 Jahren − mit dem Studium an der Artistenfakultät der Universität Erfurt. Dem artes-Studium in Erfurt verdankte Luther seine Kenntnis der lateinischen Grammatik und der Philosophie des Aristoteles − Voraussetzung seiner späteren Kritik an der aristotelischen Philosophie und an Thomas von Aquin. An der Erfurter Artistenfakultät herrschte der Nominalismus der via moderna in der gemäßigten Form, wie sie von Gabriel Biel vertreten wurde. Daneben lernte Luther
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schon früh auch andere Richtungen des philosophisch-theologischen Denkens kennen, vor allem Augustinus und die Mystik. 1505 beendete er das artes-Studium mit dem Magistergrad und trat in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein. 1507 erhielt er die Priesterweihe und begann in Erfurt mit dem Theologiestudium. 1508 versetzte ihn der Generalvikar seines Ordens, Johann von Staupitz, in das Augustiner-Eremiten-Kloster in Wittenberg, wo er an der Theologischen Fakultät der Universität sein Theologiestudium fortsetzen und zugleich an der Artistenfakultät als Magister philosophische Vorlesungen halten sollte. 1509 erwarb er in Wittenberg mit dem Baccalaureat den niedrigsten akademischen Grad der Theologie. Er kehrte nach Erfurt zurück, wohin ihn sein Orden wieder versetzt hatte, um dort Vorlesungen in der Theologischen Fakultät zu halten. Er las im Wintersemester 1509/1510 über die Sentenzen des Petrus Lombardus. Seine Randbemerkungen zu Petrus Lombardus21 und zu einigen Augustinus-Schriften aus dem Winter 1509/151022 sind die ältesten bekannten Schriften Luthers. 1510 und 1511 reiste er im Auftrag seines Ordens nach Rom, wobei es um die Regelung von Ordensangelegenheiten ging. Nach der Rückkehr wurde er im Oktober 1512 in Wittenberg zum Doktor der Theologie promoviert. Mit dem Erwerb des Doktorgrades übernahm er die Professur der Bibelwissenschaft in der Theologischen Fakultät der Universität Wittenberg. Damit trat der Mönch Martin Luther, 29 Jahre alt, in das Amt eines Universitätsprofessors der Theologie ein, das er bis zu seinem Tod 1546 behielt. Dieses Amt als Professor blieb auch später das Zentrum seines Wirkens. Die Professur war das einzige Amt, aus dem Luther seine Legitimation bezog. Nach seiner Auffassung bestand seine Aufgabe als Universitätsprofessor der Theologie in der Auslegung der Bibel. Sein Wirken als Reformator war in seinem Selbstverständnis nie etwas anderes als Auslegung der Bibel in Wahrnehmung seines Professorenamtes. Hier zeigt sich die zentrale Bedeutung der Institution Universität für die Reformation in Deutschland, wodurch sie sich von der Reformation in der Schweiz unterschied. Zwar ist auch von einer seit Oktober 1512 gehaltenen Genesis-Vorlesung die Rede, doch begann Luther „nach allem, was wir wissen“23 seine Lehrtätigkeit als Theologieprofessor im August 1513 mit einer Vorlesung über die Psalmen, die er bis 1515 hielt. 1515 und 1516 las er über den Römerbrief, 1516 und 1517 über den Galaterbrief und 1517 und 1518 über den Hebräerbrief. Von der Psalmenvorlesung und von der Römerbriefvorlesung sind Luthers Originalmanuskripte, die um 1900 entdeckt wurden, vorhanden. Die Vorlesung über den Hebräerbrief fiel bereits in die Zeit, in der am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablass publik machte. Im Gedenken an diesen Tag begeht die evangelische Kirche bis heute den 31. Oktober als Reformationstag. Kinder lernen in der Schule das Jahr „1517“ als Jahr der Reformation. Es ist jedoch ganz umstritten, wann der reformatorische Durchbruch bei Luther zeitlich anzusetzen ist − mit anderen Worten: bis wann Luther katholisch und ab wann er nicht mehr katholisch war. Traditi-
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onell vertreten die meisten evangelischen Kirchenhistoriker, Lutherforscher und Theologen die Frühdatierung. Danach hat Luther bereits vor dem Ablassstreit im Kern eine neue Theologie gelehrt, die mehr oder weniger zwangsläufig zum Konflikt mit der alten Kirche führen musste. In dieser Sicht hörte der Mönch und Theologieprofessor Luther sehr früh auf, katholisch zu sein. So sah der evangelische Theologe Gerhard Ebeling schon in den Randbemerkungen Luthers zu Petrus Lombardus von 1509/10 früheste Anzeichen von Luthers reformatorischer Theologie.24 Katholische Kirchenhistoriker und Allgemeinhistoriker neigen eher der Spätdatierung zu, wonach der Luther von 1517 noch katholisch war. Die Vertreter der Frühdatierung betonen jedoch heute, dass der reformatorische Durchbruch bei Luther kein einmaliges Ereignis gewesen sei, sondern ein allmählicher Prozess, der wahrscheinlich 1513 − mit der Psalmenvorlesung − eingesetzt habe und Luther noch auf Jahre hin katholisch bleiben ließ, ihn aber im Laufe der Zeit in einen immer schärferen Gegensatz zur scholastischen Theologie brachte, bis sich mit dem Ablassstreit und vor allem mit dem Ketzerprozess und dem sich seit 1518 verschärfenden Konflikt mit Rom der Bruch mit der alten Kirche vollzogen habe. Auffällig ist, dass der Lutherbiograph Martin Brecht als evangelischer Theologe die Spätdatierung vertritt: der Luther der Ablassthesen von 1517 − so Brecht − sei „noch nicht evangelisch“25 gewesen. Für Brecht hat erst die Hebräerbriefvorlesung „die Voraussetzung für die reformatorische Entdeckung geschaffen“26, die − „frühestens im Frühjahr und spätestens im Herbst 1518“27 − erfolgt sei, und zwar bei Luthers Arbeit an einer Neufassung der Psalmenvorlesung. Man kann den endgültigen Bruch Luthers mit der alten Kirche aber noch später ansetzen: bei der Leipziger Disputation 1519. Die Entscheidung für die Frühdatierung oder die Spätdatierung hat Konsequenzen für das Verständnis Luthers und der Reformation und die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis Luthers und der Reformation zum Mittelalter. Die Spätdatierung knüpft nicht an einzelne frühe Spuren späterer Standpunkte in frühen Äußerungen Luthers an, was mit der Gefahr des Rückblicks vom Ergebnis her verbunden ist, sondern nimmt den Konflikt mit der Kirche als entscheidendes Kriterium und impliziert, dass sich das Kernstück der reformatorischen Theologie erst unter den Kampfbedingungen der Auseinandersetzung mit Rom entfaltet habe. In dieser Sicht war Luther noch lange katholisch. Die Stufen des Bruchs Martin Luthers mit der römischen Kirche Es gibt einen katholischen Luther − den Priester, Augustiner-Eremiten-Mönch und katholischen Theologieprofessor. Neben dem katholischen Luther gibt es den Luther, der den Papst − erstmals 1520 − als Antichrist bezeichnete, den Ketzer, über den am 3. Januar 1521 der päpstliche Bann und am 8. Mai desselben Jahres die Reichsacht ausgesprochen wurde. Für evangelische Christen − und heute auch für
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viele katholische − ist dieser Ketzer, der zeitlebens exkommuniziert blieb, der Reformator. Luther beschritt in den weniger als neun Jahren zwischen der Doktorpromotion von 1512 und der Bannbulle von 1521 den Weg vom spätmittelalterlichen katholischen Theologen über den katholischen Reformer zum evangelischen Reformator. Dabei spielte der Ablassstreit eine wichtige Rolle als Katalysator. Luther kritisierte den Ablass vereinzelt schon in den frühen Vorlesungen. Danach warnte er in zwei Predigten vor den Gefahren des Ablasses, von denen eine wahrscheinlich am 31. Oktober 1516, genau ein Jahr vor den Ablassthesen, gehalten wurde.28 Den 95 Thesen gegen den Ablass vom 31. Oktober 1517 gingen die viel radikaleren 97 Thesen gegen die scholastische Theologie voraus,29 die Luther einer Disputation zugrunde legte, die am 4. September 1517 stattfand. Doch war die Resonanz auf diese Thesen gering. Dagegen erlangten die 95 lateinischen Ablassthesen30 einen ganz außerordentlichen Widerhall überall in Deutschland, der aber noch durch den Erfolg der ersten deutschsprachigen Schrift Luthers übertroffen wurde, die er 1518 unter dem Titel Sermon von Ablass und Gnade31 veröffentlichte. Die Wirkung, die diese Schriften auslösten, stellte alles in den Schatten, was bis dahin seit der Erfindung des Buchdrucks publizistisch geschehen war. 1518 publizierte Luther die lateinischen Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute,32 die von vielen als seine erste reformatorische Schrift bezeichnet wird.33 Darin legte er im Anschluss an seine 95 Thesen das Ablassproblem und seine theologischen Auffassungen dar. Den Ablass − lateinisch indulgentia − gibt es, zuletzt geregelt in der Apostolischen Konstitution Indulgentiarum doctrina Pauls VI. von 1967 und durch den Codex Iuris Canonici von 1983, als Nachlass zeitlicher Strafe vor Gott für Sünden, deren Schuld schon gedeckt ist, auch noch in der katholischen Kirche der Gegenwart, wobei die temporale Limitierung nach Tagen, Monaten oder Jahren heute nicht mehr stattfindet, während Ablässe für Verstorbene nach heutiger Lehre durch Fürbitte (Gebet) zu erlangen sind. Auch in der Kirche des Mittelalters diente der Ablass zur vollständigen oder teilweisen Ablösung zeitlicher Sündenstrafen. Man unterscheidet drei Arten der Sündenstrafen: 1. ewige Sündenstrafen, die dauernd von der Anschauung Gottes ausschließen, was mit ewigem Leiden des Sünders in der Hölle gleichgesetzt wird, 2. zeitliche Sündenstrafen im jenseitigen Leben und 3. kirchliche Bußauflagen im diesseitigen Leben. Damit verbindet sich die für das Ablasswesen wichtige − im Wesentlichen auf Tertullian und somit auf das 2. bzw. 3. Jahrhundert zurückgehende − Lehre vom Fegefeuer, lateinisch purgatorium, wie man es auch aus Dantes Divina Commedia kennt. Das Feg(e)feuer existierte nach altkirchlicher, später von den Reformatoren verworfener, in der katholischen Kirche aber vom II. Vaticanum bestätigter Auffassung mit der Lehre von der Einheit der Kirche in ihren Gliedern, die als Lebende auf Erden dem Herrn entgegenpilgern oder als Verstorbene gereinigt werden oder als Heilige bereits verherrlicht sind und Gott schauen als unräumlich gedachter Ort, an dem die Verstorbenen ihre zeitlichen, also zeitlich begrenz-
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ten Sündenstrafen abbüßen. Der Ablass bezog sich nicht auf die ewigen Sündenstrafen, sondern auf die in der diesseitigen Welt verhängten kirchlichen Bußstrafen und auf die im Fegefeuer abzubüßenden zeitlichen Sündenstrafen. Wichtig war dabei die im hohen Mittelalter entwickelte Lehre vom Schatz der Kirche, der aus den überschüssigen Verdiensten Christi und der Heiligen bestand. Aus diesem Schatz sollen die Ablässe für die Sünder gedeckt werden. Die Ablässe kamen im 11. Jahrhundert zuerst in Frankreich auf und betrafen anfangs nur die kirchlichen Bußauflagen, später aber auch die zeitlichen Fegefeuerstrafen der zum Zeitpunkt des Ablasserwerbs noch Lebenden. Im Laufe der Zeit wurden sie auf die zeitlichen Fegefeuerstrafen der Verstorbenen ausgedehnt. Man konnte also auch verstorbenen Angehörigen, die sich nach der Lehre der Kirche im Fegefeuer befanden und Arme Seelen genannt wurden, durch den Erwerb von Ablässen die zeitlichen Sündenstrafen verkürzen. Dabei war die Gewährung des Ablasses an gute Werke, wie etwa Almosen oder Wallfahrten, gebunden, aber auch an die Reue (contritio) des Sünders. Jedenfalls galt das bei Ablässen für Lebende. Trotz der Entwicklung der Ablasslehre durch Albertus Magnus, Bonaventura und Thomas von Aquin gab es um 1500 noch keine amtlich festgelegte kirchliche Lehre vom Ablass. Das änderte sich erst mit dem Ablassdekret des Konzils von Trient, dem Decretum de indulgentiis von 1563.34 Das Fehlen einer verbindlichen lehramtlichen Ablasslehre trug dazu bei, dass das Bußsakrament durch die verbreitete Furcht vor den Qualen des Fegefeuers, durch das Heilsverlangen der Gläubigen und nicht zuletzt durch den Finanzbedarf der römischen Kurie kommerzialisiert und zum Ablasshandel materialisiert wurde. Der Ablasshandel war eine durch die Vorstellung von der Käuflichkeit des Heils bewirkte Verformung des Ablasswesens. Luther begegnete den Auswüchsen des Ablasshandels 1517 in seiner unmittelbaren Umgebung um Wittenberg. Das hing mit Albrecht von Brandenburg zusammen, dem Fürstensohn, der 1513 Erzbischof von Magdeburg und zugleich Bischof von Halberstadt und 1514 zusätzlich noch Erzbischof von Mainz geworden war − und selbst als ein um sein Seelenheil besorgter Ablasssammler hervortrat. Die Wahlkämpfe um seine Bistümer hatten ihm gewaltige Schulden eingetragen. Außerdem hatte Leo X. die dem Kirchenrecht widersprechende Vereinigung zweier Erzbistümer in einer Hand nur gegen hohe Gebühren genehmigt, die Jakob Fugger in Augsburg dem jungen Erzbischof vorstrecken musste. Um seine Schulden abzutragen, stieg Albrecht in das Ablassgeschäft ein. Viele Territorialfürsten widersetzten sich dieser finanziellen Ausplünderung ihrer Untertanen durch den Erzbischof von Mainz. So sperrte auch Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen sein Land für die Ablasshändler Albrechts von Brandenburg. Im sächsischen Wittenberg fand deshalb kein Ablasshandel statt, wohl aber in dem nicht weit von Wittenberg entfernten Jüterbog, das zur Markgrafschaft Brandenburg gehörte. Viele Wittenberger Bürger liefen dorthin. Der erfolgreichste Ablasshändler im Dienst Albrechts von Brandenburg war der Domini-
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kaner Johann Tetzel, der durch marktschreierischen Methoden Luthers Bedenken gegen den Ablass erregte. Diese Bedenken verstärkten sich, als Luther im Oktober 1517 die Introductio summaria des Mainzer Erzbischofs für die Ablasshändler in die Hände fiel. Dadurch sah sich Luther veranlasst, andere Gelehrte zu einer Disputation über das Ablasswesen einzuladen und dazu Thesen zu verfassen, wie das zur Klärung theologischer und anderer wissenschaftlicher Streitfragen an den Universitäten jener Zeit üblich war. Es ging um eine vom Ablasshandel Albrechts von Brandenburg und vom Auftreten Tetzels provozierte akademische Diskussion unter Theologen über die lehramtlich noch nicht festgelegte Lehre vom Ablass. Luther verfasste für diese Disputation 95 Thesen unter dem Titel Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum. Er lehnte den Ablass nicht rundweg ab, wollte ihn aber auf den Erlass der kirchlichen Bußstrafen Lebender beschränken. Vor allem griff er die Lehre vom Schatz der Kirche an. These 62 lautet: „Verus thesaurus ecclesie est sacrosanctum euangelium glorie et gratie Dei“35 (Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der Ehre und Gnade Gottes). Die Disputation sollte am Allerheiligentag 1517, am 1. November, stattfinden, kam aber nicht zustande. Stattdessen verbreiteten sich die Thesen durch Abschriften, Nachdrucke und Übersetzungen ganz schnell und erreichten breiteste Kreise der Bevölkerung. Diese Resonanz bildete den Hintergrund für den publizistischen Streit über die Thesen, bei dem der Anlass, nämlich das Ablassproblem, zunehmend von anderen Fragen wie den Problemen der kirchlichen Autorität, des Papsttums oder der Sakramentenlehre verdrängt wurde. Bald wurden auch Stimmen laut, dass dieser Mönch aus Wittenberg die ein Jahrhundert zurückliegende Ketzerei des Jan Hus erneuere. Interessant ist, dass seine Gegner in dieser Zeit weniger seine Kritik am Ablasshandel sahen, sondern seine Kritik an der päpstlichen Gewalt. Tatsächlich erkannte er in seinen Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute 1518 die Autorität des Papstes an, doch ließ er sie nur noch mit Röm 13 gelten, der Bibelstelle, wonach die Obrigkeit von Gott gewollt ist. Das Papsttum wurde hier also von Luther den weltlichen Obrigkeiten gleichgestellt. Doch war das noch kein Bruch, so dass der Luther der Resolutiones disputationum noch als katholisch gelten kann. Der Ketzerprozess Im April 1518 brachte Luther bei einer öffentlichen Disputation, die aus Anlass einer Kapitelsversammlung seines Ordens in Heidelberg stattfand, seine Theologie auf die bis dahin schärfste Formulierung. Die Heidelberger Disputation zog Humanisten wie Martin Bucer und Johannes Brenz − der eine später der Reformator Straßburgs, der andere der Reformator Württembergs − auf Luthers Seite und trug entscheidend zu seiner Resonanz unter den Humanisten bei, die in dieser Phase zu den wichtigsten Propagandisten seiner Lehren wurden. Im Sommer 1518 wurde in Rom der Ketzerprozess aufgenommen, nachdem Albrecht von Brandenburg, Hauptnutznießer des Ablasshandels und finanziell
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Hauptopfer des von Luther ausgelösten Ablassstreites, die Kurie schon im Dezember 1517 auf Luthers Ablassthesen aufmerksam gemacht und den Verdacht der Ketzerei gegen ihn geweckt hatte. Im Frühjahr 1518 hatte der Dominikanerorden, dem Tetzel angehörte, in Rom formell Anklage gegen Luther erhoben. Am 7. Juli 1518 erhielt Luther die Vorladung zum Ketzerprozess nach Rom, wo er innerhalb von 60 Tagen erscheinen sollte. Doch rief Luther den Schutz seines Landesfürsten, des Kurfürsten Friedrich des Weisen von Sachsen, an. Dieser war als eifriger Ablasssammler und Reliqienverehrer alles andere als ein Anhänger Luthers. Aber der Kurfürst stellte sich den Ansprüchen der römischen Prozessführung gegen einen Professor seiner Landesuniversität Wittenberg entgegen, die einem römischen Hineinregieren in die kirchlichen Angelegenheiten Sachsens gleichkam. Hier spielten das vorreformatorische landesherrliche Kirchenregiment und der in Sachsen erreichte Stand im Entstehungsprozess des frühmodernen Staates eine Rolle. Zugleich begann damit das spätere Bündnis von Luthertum und Landesfürstentum. Die Unterstützung des Kurfürsten für Luther führte zur Verlegung seines Verhörs von Rom nach Deutschland, wozu sich der aus politischen Gründen auf den Kurfürsten von Sachsen angewiesene Leo X. bereit fand. Aus traditionellkatholischer Sicht geurteilt, versäumte Leo X. damit aus politischen Rücksichten die Chance, die lutherische Ketzerei noch rechtzeitig unterdrücken zu können. Protestantisch geurteilt bedeutet dasselbe, dass der Papst durch seine politischen Verstrickungen entscheidend zum Siegeszug der Reformation während der folgenden Jahre beitrug. Nach dem Tod Maximilians I. am 12. Januar 1519 verstärkten sich die politischen Rücksichtnahmen des Papstes auf den Kurfürsten während der Monate der unentschiedenen Königswahl. So wurde in Rom der Ketzerprozess ausgesetzt, um erst nach der im Juni 1519 erfolgten Wahl Karls V. − im Februar 1520 − wieder aufgenommen zu werden. Statt in Rom fand Luthers Verhör im Oktober 1518 am Rande des Reichstags in Augsburg durch den Kardinal und Dominikaner Thomas (Jacobus) Cajetan statt, den Legaten des Papstes, der selbst an einer kritischen Klärung der Ablasstheologie arbeitete und Luthers späterem sola scriptura-Prinzip gar nicht fern stand. Luther verweigerte den von ihm verlangten Widerruf und rief die Entscheidung eines Konzils an. In einem früheren Kapitel wurde gezeigt, dass er sich damit noch im Rahmen des Konziliarismus des Konzils von Basel bewegte. Aber wie weit reichte Luthers Papstkritik im Herbst 1518? Kann man sagen, dass das Augsburger Verhör den „wohl entscheidenden Wendepunkt in Luthers Auffassung vom Papsttum“36 brachte? Das ist eine These Bernd Moellers, der schreibt: „Der enorme Autoritätsanspruch des Papstes stand für Luther seither auf tönernen Füßen [...]. Die verwegene Folgerung wurde denkbar, der Papst sei der Antichrist.“37 Ausgesprochen hat Luther dieses Urteil 1518 aber noch nicht. Moellers These ist nur eine Hypothese − eine Vermutung −, die von Luthers gleichzeitigem Appell „von dem schlecht unterrichteten an den besser zu unterrichtenden
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Papst“38 widerlegt wird. Deshalb war auch der Luther des Verhörs von Augsburg 1518 noch immer katholisch. Die nächste − und wahrscheinlich entscheidende − Stufe auf dem Weg zum Bruch Luthers mit der römischen Kirche war die Leipziger Disputation mit dem Ingolstädter Theologieprofessor Johann Eck im Juli 1519. Von Eck in die Enge getrieben, erklärte Luther nicht nur den Papst, sondern auch allgemeine Konzilien für irrtumsfähig. Er dachte dabei an das Konzil von Konstanz und an dessen Verurteilung des Jan Hus.39 Der Schlüsselsatz von 1519 lautet: „Ein Concilium mag irren [...] und hat etlich Mal geirret, wie die Historien beweisen und das jetzige letzte Römisch [das V. Laterankonzil, 1512–17] anzeigt wider das Costnitzer [Konstanzer] und Baseler. Also irret in den Artikeln das Costnitzer auch. Oder bewähre du, dass es nit geirret habe. Sonderlich, so man mehr einem Laien sollt glauben, der [die Heilige] Schrift hat, dann dem Papst und Concilio ohne [Heilige] Schrift.“ 40
Das war etwas qualitativ Neues gegenüber der Papstkritik und dem Konziliarismus des 15. Jahrhunderts. Die Autoritätsfrage − Papst oder Konzil − beantwortete Luther seitdem mit dem sola scriptura-Prinzip: Autorität hat allein die Bibel oder die Heilige Schrift. Das war nicht mehr katholisch. Deshalb lag die entscheidende Zäsur bei der Leipziger Disputation von 1519. Sehr wichtig wurde das Jahr 1520, in dem Luther die Streitfragen erstmals in einer deutschsprachigen Schrift behandelte, in der gegen den Leipziger Franziskaner Augustin von Alfeld gerichteten Schrift Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig.41 In dieser Schrift setzte Luther den Papst zum ersten Mal öffentlich mit dem Antichrist gleich − er sagte „Endchrist“42 − und vollzog damit eine Scheidung von nicht mehr zu überbietender Schärfe. Der Antichrist − Endchrist oder Widerchrist − ist eine Gestalt der Apokalyptik, deren Auftreten vor der Wiederkunft Christi erwartet wird. Neutestamentliche Bezugsstellen sind 1 Joh 2,18; 2,22 und 4,3; 2 Joh 7 und Apk 13,11–17. Dabei sah man im Antichrist den Gegner und Widersacher Christi und die Personalisierung der gegen Gott arbeitenden Kräfte, die durch geschickte Verführung mittels einer christlichen Maskierung die Menschen von Christus weg und auf ihre Seite bringen. Luthers Antichrist-Polemik war weder neu noch originell. Schon im Mittelalter waren das politisch mächtige Papsttum oder einzelne Päpste von manchen Predigern aus dem Franziskanerorden, aber auch von Wiclif und Hus mit dem Antichrist gleichgesetzt worden. Wegen der Resonanz, die Luther dank des neuen Mediums des Buchdrucks, wegen der Unterstützung durch die Humanisten und wegen der Protektion durch Fürsten fand, kam seiner Identifikation des Papstes mit dem Antichrist aber besondere Bedeutung zu. Im Laufe des Jahres 1520 veröffentlichte Luther seine drei großen reformatorischen Programmschriften An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung43, Von der Freiheit eines Christenmenschen44 und De captivitate Babylonica ecclesiae.45 In der Adelsschrift kleidete er seine Kritik am Papsttum in das Bild
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von den drei Mauern, mit denen sich das Papsttum gegen jeden Reformversuch abschirme. Diese drei Mauern waren die Lehre von der Überordnung der geistlichen Gewalt über die weltliche, der Anspruch, dass nur der Papst die Vollmacht zur Auslegung der Bibel besitze, und die Überordnung des Papstes über das Konzil. Luther entkräftete diese drei Mauern durch seine Lehre vom Allgemeinen Priestertum aller Getauften, womit sich − anders in der Lehre vom gemeinsamen Priestertum in der katholischen Kirche seit dem II. Vaticanum − der Unterschied von Klerus und Laien auflöste, und mit seiner Aufforderung an die weltlichen Obrigkeiten zur Durchführung der Kirchenreform, der sich Papst und Klerus versagten. Hier begegnet erneut das sich anbahnende Bündnis von Reformation und weltlicher Obrigkeit. In der lateinischen Schrift über die Babylonische Gefangenschaft der Kirche ging es ihm um die Sakramentslehre. Luther trat für die Gewährung des Laienkelchs ein, kritisierte die Transsubstantiationslehre der Wandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi und verwarf den Opfercharakter der Messe, womit er auch der Messopferfrömmigkeit seiner Zeit entgegentrat. Der Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen entfaltete unter dem Obersatz „Eyn Christenmensch ist eyn freyer Herr über alle Ding und niemandt unterthan. Eyn Christenmensch ist eyn dienstpar Knecht aller Ding und yederman unterthan.“46 die Lehre von Gesetz und Evangelium und die Rechtfertigungslehre. Luthers Adelsschrift, die im Juli 1520 erschien, war seine letzte Schrift vor dem großen Bruch, vor der Verurteilung als Ketzer und vor der Exkommunikation aus der bestehenden Kirche. Bernd Moeller hat mehrfach darauf hingewiesen und auch die Bedeutung der Adelsschrift als Schlüsseltext der Reformation betont.47 Nachdem der Prozess gegen Luther in Rom im Februar 1520 wieder aufgenommen worden war, erging am 15. Juni 1520 die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine Leos X. Darin wurden 41 Sätze aus Luthers Schriften als ketzerisch verurteilt. Luther ließ die ihm für den Widerruf eingeräumte Frist von 60 Tagen verstreichen und schuf am 10. Dezember 1520 mit der öffentlichen Verbrennung der Bannandrohungsbulle ein Fanal, das dem endgültigen Bruch mit der römischen Kirche gleichkam und den päpstlichen Bann durch die Bulle Decet Romanum Pontificem vom 3. Januar 1521 und damit seine Exkommunikation nach sich zog. Am 8. Mai 1521 sprach Karl V. mit dem von dem päpstlichen Legaten Hieronymus Aleander entworfenen Wormser Edikt die Reichsacht gegen Luther aus. Luther war damit auch vonseiten des Heiligen Römischen Reiches als Ketzer verurteilt. Die Lektüre oder die Weitergabe seiner Schriften wurde verboten, obwohl diese Schriften damals schon in mehr als einer halben Million Exemplaren verbreitet waren. Wer sie trotz des Verbots las, kaufte, behielt oder verteilte, der sollte ebenfalls der Reichsacht unterliegen, also aus der Rechtsgemeinschaft ausgestoßen, für vogelfrei, ehrlos und rechtlos erklärt werden und Haus und Vermögen verlieren. Erst im Februar 1522 erschien Luthers 1521 verfasste Schrift De votis monasticis iudicium48, in der er den lebenslänglich verpflichtenden Charakter der Mönchsgelübde verwarf und − in Anknüpfung an die Adelsschrift von 1520 − nicht mehr die
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besondere Verpflichtung des Mönchs, sondern die alltägliche Arbeit im weltlichen Beruf als Erfüllung des göttlichen Willens verstand. Mit dieser Schrift erreichte Luthers Auseinandersetzung mit der römischen Kirche ihren vorläufigen Höhepunkt und gewissermaßen ihren Abschluss, bevor er Anfang Oktober 1524 das Ordensgewand eines Augustiner-Eremiten-Mönchs ablegte und − bis dahin zölibatär lebend − im Juni 1525 die ehemalige Zisterziensernonne Katharina von Bora heiratete. Das Kernstück von Luthers reformatorischer Theologie Fragt man danach, worin das Kernstück der reformatorischen Theologie Luthers bestand, so gilt es zu bedenken, dass dieses noch nicht beim Luther von 1517, wohl aber bei dem von 1520 zu finden ist. Das Kernstück der reformatorischen Theologie Luthers, mit dem er sich scharf von der Lehre der alten Kirche und auch von späteren Nebenströmungen der Reformation wie den Täufern und in Einzelaspekten auch von den anderen Reformatoren neben ihm unterschied, lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. sola scriptura (allein die Schrift) − Das ist das Schriftprinzip, mit dem Luther nach der Verwerfung der Autorität von Papst und Konzilien ausschließlich in der Bibel die Autorität für Kirche und Glauben sah. Das bedeutete einen schroffen Gegensatz zur katholischen Lehre, die zwar an der Autorität der Bibel festhielt, aber daneben als zweite Autorität die von Luther verworfene Tradition und das Lehramt der Kirche kannte und auch heute noch kennt. 2. sola gratia (allein durch Gnade) − Hier geht es um die Rechtfertigungslehre. Der postlapsarische Mensch, der Mensch nach dem Sündenfall, verging sich nach dem Verständnis Luthers ständig und aus seiner Natur heraus durch Sünde an Gott, ohne davon ablassen zu können. Daher bedurfte er der Vergebung Gottes, die aus eigener Kraft zu erlangen er ganz unfähig war. Das göttliche Heil konnte dem Menschen nur durch die Wirksamkeit der Gnade Gottes und ohne eigenes Zutun geschenkt werden. 3. sola fide (allein durch Glauben) − Die Gnade Gottes war für Luther nicht durch eigene Leistungen des Menschen, etwa durch besondere Anstrengungen für ein sittenreines Leben, durch den Kauf von Ablässen, durch Almosen, durch die Stiftung von Seelenmessen oder durch den Eintritt in ein Kloster, wie Luther ihn selbst vollzogen hatte, erreichbar. Die Gnade Gottes, die Rechtfertigung des sündigen Menschen vor Gott, war nur durch den Glauben zu erlangen, aber nicht durch einen Glauben, den der Mensch sich nach freier Entscheidung aneignet, sondern durch Glauben als Ergebung in das göttliche Urteil im Vertrauen darauf, dass dieses Urteil gerecht sein werde, weil Christus den Menschen mit Gott versöhnt habe. Diese Gedankenführung war der Kern von Luthers reformatorischer Theologie.
Ulrich Zwingli und die Zürcher Reformation Reformatoren neben Luther Luther war eine außerordentliche Gestalt und der wichtigste Reformator. Aber Luther war nicht der einzige. Es gab in Deutschland Reformatoren neben Luther − Philipp Melanchthon in Wittenberg, Martin Bucer in Straßburg und in bestimmten Regionen wirksame Reformatoren wie den Pommern Johannes Bugenhagen oder den Schwaben Johannes Brenz −, die alle mehr oder weniger von Luther abhängig waren. Es gab auch die radikalen Reformatoren, vor allem Andreas Bodenstein gen. Karlstadt und Thomas Müntzer, die als Anhänger Luthers begannen und später zu Gegnern wurden. Manche nennen Deutschland das Land der Reformation. Richtig daran ist, dass die überragende Bedeutung Luthers unter den Reformatoren seinem Wirkungsort Wittenberg an der Elbe und damit Deutschland besondere Bedeutung in der Reformationsgeschichte gibt. Wittenberg war aber nicht das einzige Zentrum der Reformation. Das andere Zentrum war Zürich mit dem Reformator Ulrich (Huldrych) Zwingli. Und neben Zwingli gab es in der deutschen Schweiz andere Reformatoren, vor allem Zwinglis Schüler und Nachfolger Heinrich Bullinger in Zürich, Berchtold Haller in Bern und Johannes Oekolampadius in Basel. Unabhängig von Zwingli gab es im französischsprachigen Genf den Reformator Guillaume Farel. Die Bedeutung der Verfassungsstrukturen der Schweiz für die Reformation Nun kann man fragen, ob die Reichsstadt Zürich um 1500 oder 1520 nicht in Deutschland lag − eine Frage, die bei der für die Reformationsgeschichte ebenfalls wichtigen Reichsstadt Straßburg eindeutig so zu beantworten wäre, dass das heute französische Straßburg damals eine deutsche Stadt war, was auch kein französischer Historiker bestreitet. Aber während Straßburg erst 1681 von Frankreich annektiert wurde, befand sich das Gebiet, das man heute als die Schweiz kennt und das mit dem Ewigen Bund der Orte um den Vierwaldstätter See von 1291, mit der Schlacht von Morgarten von 1315, mit der bis 1353 erfolgten Erweiterung des Ewigen Bundes um Luzern, Glarus, Zug, Zürich und Bern und mit der Schlacht von Sempach von 1386 schon in einem früheren Kapitel Beachtung gefunden hat, seit dem späten 15. Jahrhundert in einem Ablösungsprozess vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und damit von Deutschland. Die Reformation in der Schweiz, die von Zürich ausging, verstärkte diesen Prozess der Trennung der Schweiz von Deutschland. Dasselbe gilt für die
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katholische Gegenbewegung, die in einem beträchtlichen Teil der Schweiz den Katholizismus bewahrte, weil Rekatholisierung und katholische Konfessionalisierung in der Schweiz aus Mailand und somit von Süden kam. Wenn auch von einer „oberdeutschen, vor allem städtischen Reformation“49 gesprochen wird und Zürich für die Zeit um 1520 immerhin noch halbwegs Oberdeutschland zugerechnet werden kann, so weist die Schweiz mit ihren von den innerdeutschen Verhältnissen stark abweichenden Verfassungs- und Sozialstrukturen als Schauplatz der Reformation doch ganz eigene Verhältnisse auf. Die Eidgenossenschaft der Acht alten Orte von 1353 hatte nicht nur den Territorialisierungsbestrebungen der Habsburger erfolgreich widerstanden, sondern sich auch in den Burgunderkriegen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts behauptet und mit ihren Truppen 1477 in der Schlacht von Nancy entscheidend zum Untergang der burgundischen Macht beigetragen. 1495 verweigerten die Eidgenossen den Beschlüssen des Reichstags von Worms, vor allem der mit dem Gemeinen Pfennig erfolgten Einführung einer allgemeinen Reichssteuer, die Anerkennung und trennten sich danach im Schwabenkrieg von 1499 faktisch vom Reich. Durch die schon 1481 erfolgte Aufnahme von Solothurn und durch den Beitritt von Basel und Schaffhausen 1501, Freiburg im Üchtland (Fribourg) 1506 und Appenzell 1513 wurde aus der Eidgenossenschaft der Acht alten Orte der Bund der Dreizehn alten Orte, was zu Beginn von Zwinglis Wirken in Zürich erst wenige Jahre zurücklag. Die Dreizehn alten Orte wurden auch als Selbstherrliche Orte bezeichnet. Daneben gab es im Gebiet der heutigen Schweiz Untertanengebiete wie die Landgrafschaft Thurgau oder das Rheintal, die einem der Selbstherrlichen Orte unterstanden oder von mehreren Orten gemeinsam regiert wurden (Gemeine Herrschaften). Hinzu kamen die Zugewandten Orte, die lediglich in einem Vertragsverhältnis mit einem der Selbstherrlichen Orte standen, ohne der Eidgenossenschaft der Dreizehn alten Orte anzugehören. Das galt für St. Gallen, Graubünden oder das Wallis. Auch die Stadt Genf, die nominell unter der Herrschaft des Bischofs von Genf stand, dem bischöflichen Stadtherrn gegenüber aber ein hohes Maß an Selbständigkeit erlangt hatte, ging 1526 zum Schutz gegen den Herzog von Savoyen ein Vertragsverhältnis mit den beiden Orten Freiburg im Üchtland und Bern ein. Damit wurde nicht nur der spätere Anschluss Genfs an die Eidgenossenschaft eingeleitet. Vielmehr wurden damit auch die Weichen für die konfessionelle Verbindung von Zürich, Bern und Genf gestellt. Auch hier waren Politik und Religion eng verwoben. Die Verfassungsstrukturen der Schweiz, aber auch das Nichtvorhandensein eines politisch bedeutsamen landsässigen Adels im größten Teil dieses Raumes und das Fehlen des Landesfürstentums bestimmten – neben anderen Momenten – den Gang der Reformation. Bei dem Verhältnis von Selbstherrlichen Orten, Untertanengebieten und Zugewandten Orten konnte die Reformation nur von einem der 13 Selbstherrlichen Orte ausgehen. Die politisch und wirtschaftlich
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tonangebenden Orte waren Zürich und Bern. Doch nicht das patrizisch regierte Bern, sondern die von den Zünften beherrschte, kirchlich zur Diözese des Bischofs von Konstanz gehörende Stadt Zürich wurde der Ausgangspunkt der Reformation in der Schweiz. Die Eigenständigkeit der Zürcher Reformation Es ist eine alte Streitfrage der Zwingli-Forschung, ob die Zürcher Reformation von der Wittenberger Reformation abhängig war, ob also Zwingli selbständig zum Reformator wurde oder von Luther beeinflusst. Die von der älteren Zwingliforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus vertretene These besagt, dass Zwingli zunächst Humanist und Anhänger des Erasmus von Rotterdam war, bis er von 1519 an mit den Schriften Luthers in Berührung kam, wodurch ihm Luthers Lehre vermittelt wurde, so dass er von Erasmus abrückte. Nach dieser These übernahm Zwingli die Reformation von Luther. Diese These geht auf Luther selbst zurück. Ihr steht die andere These entgegen, nach der Zwingli schon vor Luther reformatorisch predigte und bereits 1516 Reformator war, was Zwingli später selbst behauptete. Diese These herrschte vor allem in der alten schweizerischen und niederländischen reformierten Kirchengeschichtsschreibung vor dem 20. Jahrhundert vor. Seit dem Buch von Arthur Rich über die Anfänge der Theologie Zwinglis von 194950 vertritt die Forschung überwiegend die Ansicht, dass Zwingli nicht durch Luther zur Reformation fand, auch wenn er Luther als Vorbild verpflichtet war. Demnach las Zwingli zwar seit 1518 Luthers Schriften und bestellte und verteilte seit 1520 zahlreiche Publikationen des Wittenberger Reformators. Doch las er sie durch eine humanistische Brille, wobei es ihm nicht um die theologischen Probleme des Ablasshandels ging, sondern um seinen finanziellen Ausbeutungscharakter. Auch galt sein Interesse mehr äußeren Erscheinungen wie der Heiligenverehrung, der Papstgewalt, dem Zehntrecht oder der Priesterehe und nicht, wie bei Luther, der Rechtfertigung des Sünders vor Gott. Mit dem Abstand vom humanistischen Bildungsprogramm, den Zwingli nach seiner Pesterkrankung von 1519 im Laufe des Jahres 1520 und danach bis 1522 gewann, hörte nach Rich infolgedessen seine Lutherlektüre auf, um erst 1522 wieder einzusetzen. Doch sei Zwingli – so Rich und die sich seinen Ergebnissen anschließende Forschung – in der Zwischenzeit auf eigenen Wegen, nämlich durch die Lektüre der Bibel und der Schriften des hl. Augustinus und somit unabhängig von Luther, zum Reformator geworden. Aber auch nach der Übernahme von Richs Position – Spätdatierung der reformatorischen Wende Zwinglis bei Betonung seiner Unabhängigkeit von Luther – durch große Teile der Forschung51 bleibt die Frage des eigenständigen theologischen Ansatzes des Zürcher Reformators weiterhin ein Gegenstand der Diskussion, wobei es auch immer wieder Stimmen gibt, die Zwingli geradezu als Schüler Luthers bezeichnen,52 während aber auch immer wieder Argumente
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für die Frühdatierung von Zwinglis reformatorischer Wende auf 1516 beigebracht werden. Damit wird seine Unabhängigkeit von Luther weiter gestützt.53 Unterschiede zwischen der Wittenberger und der Zürcher Reformation traten schon in den verschiedenartigen biographischen Voraussetzungen und Bedingungen der beiden Hauptreformatoren hervor. Der theologisch hochgebildete Mönch und Theologieprofessor Luther war durch seinen theologisch-philosophischen Bildungsgang von der Spätscholastik der via moderna beeinflusst und vom spätscholastischen Nominalismus berührt; der theologisch kaum ausgebildete Weltpriester Zwingli wurde in seiner Jugend von der Scholastik in der Gestalt der via antiqua beeinflusst und stand unter dem Eindruck des Erasmus von Rotterdam, der seit 1514 als Haupt des oberrheinischen Humanistenkreises zumeist in Basel lebte. Luther war als Professor mit der Institution der Universität verbunden, stand damit zugleich in den Diensten des sächsischen Landesfürstentums und bezog sein Selbstverständnis und seine Legitimation aus seinem Professorenamt. Zwingli war ein universitätsferner Intellektueller. Als Weltpriester stand er in einem Gemeinwesen wie der Gewerbe- und Handelsstadt Zürich dem ökonomischen Leben näher als Luther. Das alles spiegelt sich wider in der andersartigen Zielrichtung der Kirchenkritik bei Luther und bei Zwingli. In der Schweiz bildeten der Humanismus und die aus dem Humanismus kommenden Forderungen nach kirchlichen Reformen – und nicht die Universität und die Frage der theologischen Wahrheit – die geistigen Voraussetzungen der Reformation, deren Eigenart durch die politischen und gesellschaftlichen Strukturen mitbedingt wurde. Dagegen spielte das Problem der Rechtfertigung des Sünders vor Gott bei Zwingli nicht die zentrale Rolle, die ihm bei Luther zukam. Auch Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und seine Lehre von der Aufhebung des Gesetzes durch das Evangelium blieb Zwingli fremd. Während bei Luther das Ablassproblem zum Auslöser des Streites mit der Kirche wurde, geschah das bei Zwingli mit der Frage der Verbindlichkeit der kirchlichen Fastengebote, also mit dem äußeren Regelwerk für das Verhalten der Gläubigen. Dem Ablassstreit bei Luther entsprach bei Zwingli der Fastenstreit, also der Streit über die Verbindlichkeit der kirchlichen Fastengebote. Insgesamt auffällig ist der stärker rationale Zug, den die Zürcher Reformation annahm. Greifbar wird das besonders in Zwinglis Abendmahlsauffassung. Zwingli verstand mit seiner tropischen (bildlichen) Auslegung der Einsetzungsworte aus Mt 26,26; Mk 14,22; Lk 22,19 das zuerst von Paulus in 1 Kor 11,24 überlieferte est in hoc est corpus meum (das ist mein Leib) als significat und begriff daher die Einsetzungsworte als „das bezeichnet meinen Leib“. Seit der 18. seiner 67 Schlussreden54 und in ihrer Auslegung und Begründung55 von 1523 gab er die Transsubstantiationslehre auf und schloss 1525 in seiner Responsio ad Bugenhagii56 und endgültig in der Ersten Berner Predigt vom 19. Januar 152857 die Gegenwart von Fleisch und Blut Christi im Abendmahl aus. Er folgte damit dem Niederländer Cornelisz Hoen, der sich mit diesem Verständnis seinerseits auf die Schrift De
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sacramento eucharistica des 1489 gestorbenen Wessel Gansfort berief.58 Berndt Hamm spricht hier von einem „Innovationsgefälle innerhalb der Reformation“ und davon, dass Zwingli im Hinblick auf die von ihm im Gegensatz zu Luther geleugnete Realpräsenz Christi im Brot und Wein der Eucharistie bzw. des Abendmahls „sehr viel innovationsbereiter“59 war. Neben diesen Unterschieden dürfen die Gemeinsamkeiten nicht vergessen werden. Das gilt vor allem für die beiden Reformatoren gemeinsame exklusive Autorität der Bibel und für die damit verbundene Ablehnung des katholischen Traditionsprinzips, also für das sola scriptura, und für das Allgemeine Priestertum und die damit verbundene Ablehnung des katholischen Weihepriestertums und der hierarchischen Ordnung der Kirche. Der Gang der Reformation in Zürich Der 1484 – ein Jahr später als Luther – in der Ostschweiz geborene Zwingli war in Bern Schüler des Humanisten Heinrich Wölfflin, bevor er seit 1498 an der Artistenfakultät der Wiener Universität studierte. 1502 kam er nach Basel, wo er 1506 den Magistergrad erwarb und mit dem Basler Humanistenkreis in Beziehung trat, besonders mit Wolfgang Capito und dem Hebraisten Konrad Pellikan. Auf das Magisterexamen folgte in Basel ein nur wenige Wochen dauerndes Theologiestudium bei dem Theologen Thomas Wyttenbach, der die philosophische Richtung der via antiqua vertrat. Doch bewegte sich Wyttenbach, der seit 1523 als Reformator seiner Heimatstadt Biel in der Schweiz hervortrat, immer mehr auf den Humanismus zu und förderte in der Weise der Humanisten das biblische Quellenstudium. 1506 wurde Zwingli Pfarrer in der Ostschweiz, zunächst in Glarus, wo er bis 1516 blieb, um dann für zwei Jahre als Pfarrer in das für sein bedeutendes Benediktinerkloster bekannte Einsiedeln zu gehen. Während der Jahre in Glarus zog er zweimal als Feldprediger mit den Schweizer Söldnern über die Alpen nach Italien. Diese Söldnerzüge standen im Zusammenhang mit der Schweizer Tradition des Reislaufens. Darunter versteht man das Schweizer Landsknechtswesen in den Diensten fremder Mächte, das für einige Orte eine entscheidende Einnahmequelle darstellte, aber die Schweiz in die Kämpfe um Italien und in andere Großmachtkonflikte verwickeln konnte. Zwingli befürwortete das Landsknechtswesen und nahm auch politisch Stellung, und zwar zuerst mit der politischen Tierfabel Vom Ochsen von 1510, mit der er die Schweizer ermahnte, sich nicht durch Frankreich oder den Kaiser von ihrer politischen Verbindung mit dem Papst abbringen zu lassen. Zwingli stand in dieser Zeit politisch auf der Seite des Papstes, der ihm seit 1515 eine Pension zahlte, auf die Zwingli erst 1520 verzichtete. Seit 1514 war Zwingli Anhänger des Erasmus von Rotterdam, mit dem er 1515 in Basel in Beziehungen getreten war. Der Humanismus des Erasmus beeinflusste auch seine politischen Vorstellungen, womit er vom Befürworter des Landsknechtswesens zum Gegner des Reislaufens wurde.
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Seit 1518 war Zwingli in Zürich, wo ihn die Chorherren des Großmünsterstifts zum Leutpriester gewählt hatten, also zum Pfarrer für das Kirchenvolk, die Leute. Äußerlich erfolgte der Durchbruch der Reformation in Zürich mit dem Fastenstreit von 1522. Im Hause des Zürcher Buchdruckers Christoph Froschauer fand in der Fastenzeit vor Ostern 1522 ein Wurstessen statt, mit dem einige der Freunde Zwinglis demonstrativ das Fastengebot brachen. Das fand Nachahmung, womit es zu weiteren Fastenbrüchen kam. Zwingli verteidigte die Wurstesser und nahm zwei Wochen nach dem Wurstessen in einer bald darauf gedruckten Predigt Stellung zum Fastenproblem. Er verwarf die kirchlichen Fastengebote − vor allem das Verbot des Fleischgenusses in der Osterfastenzeit − und erklärte in seiner ersten reformatorische Schrift, Vom Erkiesen und Freiheit der Speisen60 − erkiesen bedeutet wählen −, dass ein Christ essen dürfe, was er wolle. Zwinglis Fastenschrift von 1522 erinnert an Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen von 1520. Doch zeigt sich auch hier ein Unterschied. Während Luther die Freiheit des Christen von der Sorge um sein Seelenheil und von der Angst vor den Höllenstrafen meinte, ging es Zwingli um die Freiheit des Christen von menschlichen Geboten und Ordnungen, zu denen er die kirchlichen Fastengebote zählte. Der Stadtrat von Zürich stellte sich hinter Zwinglis Ansicht über die Fastengebote und beanspruchte damit als politische Obrigkeit die Zuständigkeit zur Klärung solcher kirchlicher Fragen, was ihm von der Zürcher Geistlichkeit zugestanden wurde. Auch gegenüber dem Bischof von Konstanz hielt der Rat an seinem Anspruch fest und forderte den Bischof auf, ihm die Vereinbarkeit der Fastengebote mit der Bibel zu beweisen. Zwingli lebte seit Anfang 1522 mit einer Frau zusammen, bevor er im Frühjahr 1524, also noch vor Luther, öffentlich heiratete. Im Sommer 1522 verlangten er und zehn seiner Anhänger in der an den Konstanzer Bischof Hugo von Landenberg gerichtete Supplicatio61, die Aufhebung der Zölibatspflicht und die Zulassung der Priesterehe. Der tatsächliche Adressat der Supplicatio war jedoch der Rat von Zürich. Der Konflikt spitzte sich zu, nachdem der Bischof von Konstanz die Anwendung des Wormser Edikts von 1521 gegen Zwingli verlangt hatte, während Zwingli die Unterstützung der Zürcher Handwerker fand und der Rat von Zürich den Forderungen des Bischofs den Beschluss entgegenstellte, dass in Zürich nichts anderes als das reine Wort Gottes gepredigt werden sollte. Zwingli legte sein Amt als Leutpriester des Großmünsterstifts nieder und empfing es als ein vom Stadtrat eingerichtetes Predigtamt zurück. Damit trat das Kirchenregiment des Stadtrats hervor, der den Bischof von Konstanz um die Einberufung eines Diözesankonzils zur Klärung der kirchlichen Fragen ersuchte. Als der Bischof darauf nicht einging, veranlasste Zwingli den Rat, anstelle des Bischofs ein Religionsgespräch zu veranstalten. Das war die erste Zürcher Disputation, die unter Beteiligung der Priester von Stadt und Land Zürich und des Konstanzer Generalvikars Johann Faber (Fabri) als Vertreter des Bischofs am 29. Januar 1523 vor etwa
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600 Zuhörern stattfand. Die erste Zürcher Disputation endete mit der Anerkennung von Zwinglis Predigt durch den Rat und mit dem Sieg des Reformators in Zürich. In dieser Disputation legte Zwingli mit den 67 Schlussreden eine Reihe von Thesen oder Artikeln vor, die die erste Zusammenfassung seiner reformatorischen Theologie enthielten. Darauf folgte mit der schon genannten Schrift Auslegung und Begründung der Schlussreden sein umfangreichstes theologisches Werk. 1525 veröffentlichte Zwingli seinen lateinischen Commentarius de vera et falsa religione62, in dem er die wichtigsten Punkte der christlichen Glaubenslehre mit scharfer Polemik gegen die katholischen Auffassungen behandelte. Eine kürzere Zusammenfassung seiner Theologie folgte in der 1530 auf dem Augsburger Reichstag vorgelegten Ratio fidei63. Nachdem Zwingli mit der ersten Zürcher Disputation die Ratsmehrheit auf seine Seite gebracht hatte, folgte der Aufbau eines reformatorischen Kirchenwesens und die Einrichtung einer Zürcher Landeskirche, was sich in mehreren Schritten bis 1525 vollzog und die endgültige Lösung der Beziehungen zwischen Zürich und seinem Diözesanbischof in Konstanz im Sommer 1524 einschloss. Bei der zweiten Zürcher Disputation im Oktober 1523 trat Zwingli gegen die katholische Auffassung von der Messe als Wiederholung des Opfers Christi ein, wenn er bei dieser Gelegenheit auch noch nicht die Realpräsenz im Sinne seiner späteren Abendmahlslehre angriff. Doch verlangte er die Beseitigung aller der religiösen Verehrung dienenden Bildwerke. So kam es nach der zweiten Zürcher Disputation durch Mehrheitsbeschluss in Zürich zur Abschaffung der Heiligenverehrung und zu radikalen Veränderungen der Gottesdienste, aus denen sogar der Gemeindegesang und das Orgelspiel verdrängt wurden. Zwingli sah in der Kirchenmusik eine auf die Sinne wirkende und deshalb dem Geist und der Andacht abträgliche Erscheinung. Dasselbe Argument wurde auch gegen Bilder in den Kirchen angeführt, die zudem als Gegenstände eines unchristlichen Götzendienstes galten und 1524 aus den Zürcher Kirchen entfernt wurden. Gleichzeitig wurden in Zürich auch die Klöster aufgehoben. Ein Ehegericht trat an die Stelle des bischöflichen Offizialats, ein Antistes, wie der Titel eines Oberpfarrers lautete, ersetzte den Bischof. Im Frühjahr 1525 wurde schließlich auch die zwinglianische Form des Abendmahls als Gedächtnismahl eingeführt, wie es seiner Abendmahlslehre entsprach. Das Zürcher Ehegericht „ist durch sein Vorbild einer der wichtigsten Beiträge des Zürcherischen an die Entwicklung des gesamten Protestantismus geworden. Von Straßburg übernahm Calvin die Ordnung nach Genf und entwickelte sie zu jenem consistoire, welcher der Gemeindeform des gesamten Calvinismus ihre Durchschlagskraft verleihen sollte.“64 Das Ehegericht setzte sich aus Pfarrern und Mitgliedern des Rates zusammen und wurde seit 1526 zu einem allgemeinen Sittengericht ausgebaut, das die Kirchenzucht exekutierte und durch Kundschafter die Lebensführung aller Einwohner Zürichs beaufsichtigte. Dazu gehörte die strenge Kontrolle des Gottesdienstbesuchs, der 1529 für alle Einwohner der Stadt obligatorisch wurde.
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Rückschläge und Ausbreitung der Zürcher Reformation Noch während dieser Phase des Aufbaus eines reformatorischen Kirchenwesens in Zürich formierten sich die Gegner der Zürcher Reformation. Das waren einerseits die radikalen Parteigänger Zwinglis, denen die Zürcher Reformation nicht weit genug ging und die deshalb von Anhängern zu Gegnern Zwinglis wurden. Von ihnen wird in einem späteren Kapitel als Täufern die Rede sein. Wichtiger war der katholische Widerstand, der von den fünf Orten Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug und Luzern ausging, die aus wirtschaftlichen Gründen auf das Reislaufen angewiesen waren und in den religiösen Auseinandersetzungen in und um Zürich eine Gefährdung des Landsknechtswesens sahen. Zum Schutz des katholischen Glaubens schlossen sie sich 1524 unter Beteiligung von Freiburg im Üchtland zusammen. Nachdem der 1525 unternommene Versuch gescheitert war, Zürich kirchlich auf die Linie der übrigen Eidgenossenschaft zurückzuführen, veranstalteten die katholischen Orte 1526 in Baden bei Zürich gemeinsam mit dem Konstanzer Generalvikar Faber, einem bedeutenden katholischen Kontroverstheologen, eine Disputation, bei der außer ihm auch noch Johann Eck aus Ingolstadt, der theologische Hauptgegner Luthers seit 1519, die katholische Seite vertrat. Auf Geheiß des Rates von Zürich blieb Zwingli der Badener Disputation fern und wurde dort von Johannes Oekolampadius aus Basel und Berchtold Haller aus Bern vertreten. Auf der Badener Disputation wurde im Namen von neun Orten im Stile des Wormser Edikts der Bann über Zwingli ausgesprochen. Das bedeutete einen Sieg der katholischen Seite. Doch schrieb nun die Stadt Bern eine Disputation aus, die unter Mitwirkung Zwinglis im Januar 1528 in Bern stattfand. Während die Bischöfe und die katholischen Orte diesmal nicht teilnahmen, erschienen in Bern Vertreter der oberdeutschen Reichsstädte Straßburg, Augsburg, Memmingen, Lindau, Isny, Ulm und Konstanz. Ergebnis der Berner Disputation war das Berner Reformationsmandat, mit dem Bern die Reformation Zwinglis annahm. Damit begann die Ausbreitung der Zürcher Reformation auf andere Teile der Eidgenossenschaft. So wurde die Reformation auf der Grundlage des Berner Reformationsmandats 1529 in Basel, St. Gallen und Schaffhausen durchgeführt. Auch in der Ostschweiz, im Aargau und im Westen in Solothurn, Biel und Neuenburg sowie im Jura drang die Reformation vor.
Humanistische Präreformation in Frankreich Frankreich am Anfang des 16. Jahrhunderts Politisch besaß das Königtum in Frankreich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts − unter Ludwig XII., seinem seit 1515 regierenden Sohn Franz I. und auch noch zur Zeit des 1559 gestorbenen Heinrich II. − eine bedeutende Machtstellung. Kulturell bildeten diese Jahrzehnte den Höhepunkt der Renaissance in Frankreich, mit der sich der italienische Kultureinfluss nicht nur in der Baukunst – Schlösser des Loiretals wie Amboise, Blois oder Chambord, aber auch mit dem 1528 begonnenen Fontainebleau und der heute nur noch in Resten unter jüngeren Bauteilen erhaltene Neubau des Pariser Louvre – und in anderen Bereichen der Bildenden Kunst bemerkbar machte, sondern auch in der Kleidermode, beim weltlichen Fest oder in der Anlage von Gärten. Dabei kam es im Zeichen von Renaissance und Humanismus in Frankreich zur Ausbildung einer betont national ausgerichteten Kultur. Das gilt für die literarischen Arbeiten von Pierre de Ronsard und anderer Dichter der Gruppe der Pléiade mit ihrer an antiken Vorbildern orientierten Ästhetik, auch wenn Ronsards französisches Nationalepos Franciade unvollendet blieb. In einem früheren Kapitel schon erwähnt wurde François Rabelais. Michel de Montaigne gehörte bereits der Zeit der Bürgerkriege der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an. Die Kirche stand im Zeichen des Gallikanismus und des 1516 geschlossenen Konkordats von Bologna und war damit eine dogmatisch zwar katholische, vom Papsttum aber weitgehend unabhängige Nationalkirche. Um die Kirche organisatorisch dem Königtum unterzuordnen, bedurfte es in Frankreich somit keiner Reformation im Stil Luthers und ihrer Unterstützung durch den König. Faber Stapulensis, Guillaume Briçonnet und die école de Meaux Wie bei Zwingli in Zürich, so wurde auch in Frankreich die Aufnahme reformatorischer Ideen im Humanismus vorbereitet. Die humanistische Präreformation, die sich als gemäßigter Reformkatholizismus beschreiben lässt, hatte ihr geistiges Haupt in dem Theologen und Universalgelehrten Jacques Lefèvre d’Etaples, der sich mit latinisierter Namensform Faber Stapulensis nannte. Faber Stapulensis hatte sich im späten 15. Jahrhundert mehrere Jahre lang in Italien aufgehalten, wo er in Florenz mit Marsilio Ficino, Giovanni Pico della Mirandola und Girolamo Savonarola in Beziehung getreten war. Später trieb er in Frankreich Bibelstudien, veröffentlichte 1509 eine Ausgabe des Psalters (Psalterium Quincup-
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lex), der für Luther Bedeutung gewann, und 1512 einen Kommentar zu den paulinischen Briefen des Neuen Testaments. Diese Arbeiten standen im Zusammenhang mit der Beschäftigung französischer Humanisten mit der Bibel, womit der Reformation in Frankreich vorgearbeitet wurde. 1523 gab Faber Stapulensis eine französische Übersetzung des Neuen Testaments heraus, auf die 1530 eine französische Ausgabe der gesamten Bibel folgte. Mochte Faber als Bibelübersetzer wie eine Art französischer Luther erscheinen, so stand er dem deutschen Reformator auch in seinen theologischen Auffassungen recht nahe, etwa im Hinblick auf die Rechtfertigungslehre. Dennoch war er mehr ein französischer Erasmus von Rotterdam, weil er stets vor einem Bruch mit der Kirche zurückschreckte. Trotzdem musste er bei den beginnenden Protestantenverfolgungen in den dreißiger Jahren fliehen. Er ging, wie viele französische Protestanten, ins deutsche Straßburg, konnte aber nach Frankreich zurückkehren, wo er 1536 in Nérac im heutigen Département Lot-et-Garonne am Hof der Königin von Navarra starb. Der organisatorische Führer der humanistischen Reformkatholiken war Guillaume Briçonnet, der 1516 Bischof von Meaux an der Marne wurde. Unterstützt und gefördert von der Schwester des Königs, der selbst dem christlichen Humanismus zugetanen, später mit dem König von Navarra verheirateten Dichterin Marguerite d’Angoulême, der Großmutter Heinrichs IV., fand Faber Stapulensis Aufnahme bei Bischof Briçonnet in Meaux, wo beide gemeinsam mit anderen Humanisten die Gruppe von Meaux bildeten. 1518 begann Briçonnet mit einer umfassenden Reform des Kirchenwesens seiner Diözese, für die Faber 1523 Generalvikar wurde. Zur école de Meaux gehörte auch Guillaume Farel, der spätere Reformator Genfs. Im Fabrismus der école de Meaux bereitete sich die reformatorische Bewegung Frankreichs vor, ohne dass der Fabrismus selbst schon reformatorisch war. Doch wurde die „Grenzlinie zwischen reformistischem Humanismus und evangelischer Reformation“65 zu Beginn der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts überschritten, wobei der Anstoß aus Deutschland kam. Seit 1520 verbreitete sich die Lehre Luthers auch in Frankreich, u. a. in Paris, Lyon, dem päpstlichen Avignon und einigen anderen Städten. Schon im April 1521 wurden die Schriften Luthers von der Pariser Sorbonne verworfen, bevor das Pariser Parlement ihre Verteilung verbot, was ihrem Bekanntwerden im Bürgertum und unter Handwerkern nur weiteren Auftrieb gab. Auch die Gruppe von Meaux stand der Lehre Luthers nahe. Als sich aber 1523 die katholische Gegenbewegung formierte und die Pariser Universität schärfer Stellung gegen Luther bezog, spaltete sich die Gruppe von Meaux. Bischof Briçonnet verwarf Luthers Schriften, während Farel Meaux verließ und nach Straßburg ging, wohin ihm Faber 1526 folgte. Gleichzeitig verbreitete sich Luthers Lehre und fand trotz der Gegenwehr von Sorbonne und Pariser Parlement Eingang in fast alle Provinzen Frankreichs. Die Haltung des Königs schwankte zwischen Gegnerschaft und Duldung, zumal Franz I. nach der Gründung des Schmalkaldischen Bundes 1531 aus außenpolitischen Gründen den Kontakt zu den lutherischen Fürsten
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Deutschlands suchte. Seine Schwester Marguerite d’Angoulême zog Faber und die Reste der Gruppe von Meaux seit 1530 an ihren Hof in Nérac. So führte die Unterstützung durch die Schwester des Königs in Verbindung mit den außenpolitischen Rücksichten des Königs dazu, dass sich die Verfolgung der Protestanten vorerst in Grenzen hielt. Bis 1534 wurden nur zwölf von ihnen als Ketzer verbrannt. Es ist strittig, ob „die bibliens von der Art Lefèvres trotz allem nur als Vorläufer der Reformation anzusehen oder ob sie schon als reformatorisch zu betrachten sind“66. Man sieht an dem französischen Weg vom Reformkatholizismus zur Reformation einmal mehr, dass die katholische Reform älter war als die protestantische Reformation und dass diese aus jener hervorging.
Der Reformer zwischen allen Stühlen: Erasmus von Rotterdam Widersprüchliche Einschätzungen Noch mehr als Faber Stapulensis erweist sich Erasmus von Rotterdam als ein aus dem breiten und vielgestaltigen Strom der katholischen Reformer kommender Denker, der vor Luther Kirchenkritik übte und Reformkonzepte formulierte und bei dem Kritik, Reformbestrebungen und Tun − hier ist vor allem an seine Ausgabe des Neuen Testaments zu denken − bibelhumanistische Formen annahmen. Hinzu kam, dass die Weiterverfolgung seiner Ideale durch das Auftreten Luthers „durchkreuzt“67 wurde − sei es, dass es ihm zu radikal und in der Ausdrucksweise zu vulgär war, sei es, dass er Sorge tragen musste, mit dem Ketzer Luther gleichgesetzt und gar als dessen Inspirator beargwöhnt zu werden, sei es, dass er den von Luther eingeschlagenen Weg für ungeeignet hielt, um seine Reformziele zu erreichen. Das macht die Einschätzung des Erasmus so schwierig, so dass verständlich wird, wenn Joseph Lortz ihm − nicht ohne sein „gewaltiges Werk“ zu würdigen − „Relieflosigkeit“, Unentschiedenheit und „Doppeldeutigkeit“ vorwirft.68 Von zeitgenössischen Theologen wie seinen Kollegen Jean Briard und Jacques Masson (Jacobus Latomus) von der Universität Löwen, aber auch von Professoren der Kölner Universität und dem Syndikus der Pariser Sorbonne, Natalis Beda, von dem Engländer Edward Lee, von dem Spanier Diego López Zúñiga (Jacobus Stunica), einem Professor der Alcalá und Mitarbeiter der Complutenser Polyglotte, der auch Faber Stapulensis kritisierte und gegen dessen Angriffe Kardinal López de Mendoza von Burgos Erasmus in Schutz nahm, und von vielen anderen wurde Erasmus des Relativismus, des Subjektivismus und des Skeptizismus gescholten und teilweise der Ketzerei bezichtigt. Die Vorwürfe lauteten auf Leugnung der Trinität, der Erbsünde, der göttlichen Stiftung von Buß- und Taufsakrament und der Sakramentalität der Ehe infolge tendenziöser Auslegung von Eph 5,32, zugleich aber auch auf Bevorzugung der Ehe vor dem Zölibat − in seinem 1518 gedruckten Ecomium matrimonii von 1498.69 Andere Punkte kamen hinzu. Im Mittelpunkt der Ablehnung standen − etwa bei Zúñiga oder bei Johann Eck − seine Ausgabe des Neuen Testaments und seine exegetischen Schriften. Mit einer Reihe seiner Arbeiten wurde Erasmus indiziert und vom Konzil von Trient wegen seiner Erbsündenlehre anathematisiert. Auf der anderen Seite wurde er − 1523 von Ulrich von Hutten − als schwach, feige und gewissenlos hingestellt, weil er sich nicht offen auf Luthers Seite schlug. Luther, der ihm so
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vieles verdankte, nannte ihn 1534 in einem Brief an Nikolaus von Amsdorf diabolus incarnatus70 (fleischgewordenen Satan). Herman Arend Enno van Gelder sah ihn 1961 als Träger einer größeren Reformation als derjenigen Luthers, die die Autonomie des Menschen als Ziel verfolgt und ihre Vollendung in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts gefunden habe.71 Christine Christ-von Wedel bezeichnete ihn 2003 als „Anwalt eines neuzeitlichen Christentums“72. Während diese Äußerungen aus unserer Zeit ex post-Deutungen sind, die mehr über ihre Autoren und deren Lebenswelt aussagen als über Erasmus von Rotterdam, entspricht keines der zeitgenössischen Urteile dem tatsächlichen Befund von Leben und Werk des Erasmus. Mit Recht merkt Cornelis Augustijn an, man könne „Erasmus nur dann gerecht werden, wenn man ihn vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit sieht, die er kannte und in der er verwurzelt war, und sich gleichzeitig bewußt ist, dass er sich davon ausdrücklich distanzierte und auf die alte Kirche und Theologie als Quellen der Wiederbelebung zurückgriff“73. Tut man das, dann erweist sich Erasmus als ein Reformer, der, gut humanistisch, auf die vor der media tempestas liegende Zeit rekurrierte und als Humanist die philologischen Arbeitsweisen, die die Humanisten für das Studium antiker Texte entwickelt hatten, auf den Bibeltext und auf die Schriften der Kirchenväter − wie vor ihm Lorenzo Valla in Italien und neben ihm Faber Stapulensis in Frankreich − anwandte, der auf den griechischen Bibeltext zurückgriff und der gegenüber der exegetischen Autorität des Mittelalters, Nikolaus von Lyra, neue Methoden der Bibelexegese entwickelte − wenn auch auf Kosten der Sakralität der Heiligen Schrift, was seine zeitgenössischen Kritiker bestätigen mochte. Christ-von Wedel hat gezeigt, wie sehr er dabei von Lorenzo Valla abhängig war. Das Studium von Bibeltext und Kirchenväterschriften war ihm aber nicht nur philologischer Selbstzweck; sein Reformanliegen richtete sich gegen „die Veräußerlichung der Kirche und ihrer Gnadenmittel“74, wie er allem äußeren Ritualwesen kein Gewicht beimaß. Seine Theologie war christozentrisch und das Gegenteil von dem, was in der Frömmigkeit des 15. Jahrhunderts als Veräußerlichung, Mechanisierung und − in der Formulierung von Lortz − „Peripherierung“ auffällt. Er leugnete mitnichten die Trinität, bekämpfte nicht − wie Luther − die Scholastik und lehnte sie nicht grundsätzlich ab, sondern hielt sie für überlebt. Er hatte kein Verständnis für Frömmigkeitsübungen, die durch Eigenanstrengungen Schritt für Schritt zu einem Aufstieg zu Gott anleiten wollten, und stand somit der religiösen Leistungsgesellschaft spätmittelalterlicher Frömmigkeit fremd gegenüber. Er karikierte schon in De contemptu mundi75 das Klosterleben als eine Form des Genusslebens, was als Kritik an den Zuständen in vielen Klöstern zu verstehen ist, und verspottete geistliche und weltliche Autoritäten. Das alles wurzelte in der Katholischen Reform des 15. Jahrhunderts und lässt sich in ihren verschiedenen Strömungen wiederfinden, vor allem in der stark humanistischen Strömung. Das blieb auch Katholische Reform, wenn auch Ka-
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tholische Reform mit den Mitteln des Humanismus und deshalb katholischer Bibelhumanismus, weil Erasmus Luthers Bruch mit dem Papsttum und die Radikalität seiner Kirchenkritik nicht mitmachte. Stattdessen unterstellte er sich 1524, in seiner Schrift über die Willensfreiheit, der „auctoritas divinarum scripturarum“ und den „decreta ecclesiae“76, also der unverletzlichen Autorität der Heiligen Schrift und den Dekreten der Kirche. Das war eine deutliche Absage des Bibelhumanisten an das sola scriptura Luthers und der Reformation, indem Erasmus hier neben der Bibel auch das Lehramt der Kirche anerkannte, was die Tradition einbezog. Diese Absage an das sola scriptura wurde noch verschärft durch die Worte, die Erasmus folgen ließ: „Und ich ziehe diese Geisteshaltung für meine Person derjenigen vor, mit der ich einige ausgestattet sehe, so dass sie, leidenschaftlich einer Meinung ergeben, nichts dulden, was von dieser abweicht, sondern, was immer sie in der Heiligen Schrift lesen, zur Bestätigung ihrer vorgefaßten Meinung ummodeln.“77
Dabei gibt es wesentliche Züge bei Erasmus, die weder katholisch noch reformatorisch waren und mit denen er nicht nur der mittelalterlichen Bibelexegese des vierfachen − literalen, allegorischen, tropologischen und anagogischen − Schriftsinns und reformkatholischen exegetischen Ansätzen, etwa bei Cajetan, widersprach, sondern auch der Exegese Luthers, der nur den buchstäblichen (literalen) Sinn gelten ließ und der Bibel seine Rechtfertigungslehre als innere Norm unterlegte und von dieser Norm her, nämlich dem, „was Christum treibet“, einen Kanon im Kanon festlegen konnte. Erasmus behandelte die Bibel hingegen nicht nur mit den Methoden philologischer Textkritik, sondern legte seiner Exegese auch ein rein historisches Verständnis zugrunde: „Die Evangelisten haben für ihre Zeit geschrieben und auf das Denken ihrer Zeit Rücksicht nehmen müssen.“78 Hier war Erasmus ganz Humanist und Schüler des Lorenzo Valla. Wenn der 1536 gestorbene Erasmus aber mit seinen Auffassungen den dogmatischen Festlegungen des 1545 eröffneten und 1563 beendeten Konzils von Trient nicht entsprach, so ändert das nichts an seiner Katholizität, die eine vorkonziliar-reformkatholisch-humanistische Katholizität war, auch wenn sie ihren Grund teilweise nur in der Abgrenzung gegenüber Luthers Radikalität haben mochte. Leben und Werk des Desiderius Erasmus Man weiß nicht, wann − 1466 oder 1469 − Desiderius Erasmus geboren wurde, der nach seiner Geburtsstadt den Beinamen Roterodamus führte. Sicher ist nur, dass er 1492 die Priesterweihe empfing, nachdem er Schulen der Devotio moderna im holländischen Gouda, in Deventer in Overijsel, wo der Humanist Alexander Hegius sein Lehrer war, und im brabantischen ’s-Hertogenbosch besucht hatte und 1487 in das Kloster der Augustiner-Chorherren in Steyn bei Gouda eingetre-
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ten war, deren Ordenshabit er noch bis 1507 trug. 1493 wurde er Sekretär des Bischofs von Cambrai, womit er das Kloster verließ. 1495 trat er in Paris in das Collège Montaigu ein und studierte an der Sorbonne, als Ordensgeistlicher vom artes-Studium befreit, bis 1499 Theologie. Paris, in dessen Mauern er seine Beherrschung des Lateinischen gewann, brachte ihn in Berührung mit den Pariser Humanisten, vor allem mit Robert Gaguin und dem Italiener Fausto Andrelini. 1499 reiste er für sieben Monate nach England, wo er mit John Colet Verbindung aufnahm. Um 1500 lernte er Griechisch. Zwischen 1500 und 1516 lebte er abwechselnd in Paris, in den Niederlanden, in England und in Italien, wo er 1506 in Turin den Doktorgrad der Theologie erwarb, und zuletzt, von 1514 bis 1516, in Basel. Von 1517 bis 1521 war er in Löwen, wo 1517 − in diesem Jahr wurde er von den Klostergelübden entbunden − nach seinen Anregungen das Collegium Trilingue zur Vermittlung der drei Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch gegründet wurde. 1521 − in diesem Jahr setzten in den Niederlanden mit der Verhaftung der Antwerpener Augustiner-Eremiten-Mönche die ersten Verfolgungen von Lutheranhängern ein − ging er nach Basel, wo sein Drucker und Verleger Johannes Frobenius seinen Firmensitz hatte. 1529 verließ er wegen der Einführung der Reformation und des Bildersturms in Basel auch die Stadt am Rheinknie und wich ins katholische Freiburg im Breisgau aus. Erst 1535 kehrte er nach Basel zurück, wo er 1536 starb. Erasmus nahm Luther in den ersten Jahren nach dessen Auftreten in Schutz. Ein Wandel trat ein, als er in seiner Löwener Zeit selbst Angriffen ausgesetzt war, die ihn mit Luther gleichsetzten − das war der Hintergrund von Huttens Feigheitsvorwurf. „Um sein eigenes Lebenswerk nicht zu gefährden, hielt Erasmus allmählich mehr und mehr Abstand von Luther, ohne jedoch direkt gegen ihn Stellung zu nehmen. [...] Dessen Schrift De captivitate babylonica (1520) machte für Erasmus den Bruch unheilbar“79, also − so jedenfalls Augustijn − schon lange vor dem Streit über die Willensfreiheit, der 1525 mit Luthers Gegenschrift De servo arbitrio80, auf seine Abhandlung De libero arbitrio diatrib»81 von 1524 ausbrach und endgültig zur Trennung führte. Erasmus übte scharfe Kritik an Kirche und Theologie, polemisierte gegen übermäßige Zeremonien und gegen den Reichtum und Luxus der hohen Geistlichkeit. Sein Ideal war eine christuszentrierte religion du pur esprit und die Kirche der vorkonstantinischen Zeit, d. h. die Kirche der Christus- und Kreuzesnachfolge, nicht die wieder unter das Gesetz geratene Kirche seit Kaiser Konstantin. Mit dieser Haltung verbanden sich die humanistischen Studien, deren philologisches Instrumentarium er für Bibelexegese und Theologie nutzbar machte, wobei ihn das ad fontes der Humanisten zu den Quellen des christlichen Glaubens, dem Neuen Testament und den Kirchenvätern, führte. In seiner frühen, wohl größtenteils schon vor 1490 entstandenen, aber erst 1521 veröffentlichten Schrift De contemptu mundi ging es um Weltverachtung und monastisches Leben, dem er mit Kritik in der Form der Karikatur begegnete,
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DER KULMINATIONSPUNKT
VON ZWEI
JAHRHUNDERTEN
VOLLER
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während er in den 1518 ohne sein Wissen von Beatus Rhenanus − als Familiarium colloquiorum formulae − herausgegeben Colloquia82 Kritik an Orden und Geistlichkeit vorbrachte. In seinem Enrichidion militis christiani 83 von 1501/03, dessen Titel auf Deutsch zumeist mit Handbüchlein eines christlichen Streiters wiedergegeben wird, gab er Anleitungen zum christlichen Leben, in deren Mitte die Forderung der Nachfolge Christi steht. Während er mit der 1516 in Basel gedruckten Institutio principis christiani84 einen bedeutenden Fürstenspiegel vorlegte, waren das Ergebnis seiner humanistischen sacrae litterae (statt der weltlichen bonae litterae) einerseits seine großen Kirchenvätereditionen − Erasmus besorgte u. a. eine Hieronymus-Edition in neun Bänden, die 1516 erschien und auf die bis 1529 u. a. Cyprian-, Hilarius-, Chrysostomos-, Ambrosius- und Augustinus-Editionen folgten −, andererseits seine Ausgabe des Neuen Testaments85. Dieses Werk gilt als seine größte Leistung. Auf der Grundlage von drei griechischen Handschriften des Neuen Testaments aus dem 12. Jahrhundert erstellte er eine griechische Textausgabe mit lateinischer Übersetzung in enger Anlehnung an die Vulgata. Hinzugefügt wurden Vorreden − Paracelsis (Aufruf zur Lektüre), Methodus (Anweisung zur Lektüre) und Apologia (Verteidigung der Edition) − des Erasmus.86 Das Leo X. gewidmete Werk erschien 1516 in Basel. 1519 folgte die verbesserte zweite Auflage. Weitere Auflagen erschienen 1522, 1527 und 1535. Erasmus ging mit diesem Werk der Complutenser Polyglotte voraus, die erst 1522 herauskam. Beide Unternehmen wurzelten in demselben Geist einer bibelhumanistischen katholischen Reform. Erasmus war aber nicht nur Bibeleditor, sondern auch Exeget. 1501 hatte er mit der Arbeit an einem Kommentar zum Römerbrief begonnen, doch kam das Werk nicht zum Abschluss. Stattdessen veröffentlichte Erasmus mit den Paraphrasen87, von denen 1517 zuerst die Paraphrase zum Römerbrief erschien, populäre Auslegungen zu allen Büchern des Neuen Testaments mit Ausnahme der Apokalypse. Luthers De servo arbitrio beantwortete er 1526/27 mit seinem Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri88. Von 1513 oder 1514 stammte die − lange vor Luthers Papstkritik entstandene − Schmähschrift auf den 1513 gestorbenen Julius II., der Dialogus, Iulius exclusus e coelis89 (Julius vor der verschlossenen Himmelstür), die wohl 1517 und wieder 1518 ohne Zustimmung des Erasmus und ohne Verfasserangabe gedruckt wurde. Erasmus suchte die Schrift zu unterdrücken und seine Autorschaft zu leugnen, um nicht mit Luther gleichgesetzt zu werden. Auch hinter dieser Schrift steht Kritik an der Geistlichkeit und das Motiv einer umfassenden Reform der Kirche. Erasmus griff, historisch ungerecht, Julius II. persönlich an, nicht das Papstamt als Institution, und verfiel nicht in Luthers Antichrist-Vorwurf. Vermengt mit konziliaristischen Vorstellungen und verbunden mit der Forderung nach Absetzbarkeit des Papstes durch ein allgemeines Konzil verbreitete Erasmus in dieser Schrift mit den Mitteln der Satire und in der Form eines fiktiven Dialog zwischen dem hl. Petrus und seinem von Erasmus als unwürdig dargestellten Nach-
DER REFORMER
ZWISCHEN ALLEN
STÜHLEN: ERASMUS
VON
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folger Julius II., der Einlass in den Himmel begehrt, ein Idealbild eines Papstes, der − von weltlicher Macht und Reichtum weit entfernt − mit Armut, Gebet, Fasten, Nachtwachen, Verkündigung und Bereitschaft zum Martyrium in der Nachfolge Christi steht. Dieses Papstbild hätte Katharina von Siena Freude gemacht, die in Clemens (VII.) alias Robert von Genf den diabolus incarnatus sah und in ihrem 1377/78 diktierten Dialogo90 ihren Kampf gegen unwürdige Hirten führte. Von Luthers Papstkritik war die Polemik des Erasmus gegen Julius II. hingegen weit entfernt.
IV. Konfessionelles Zeitalter
Mächte und Staatensystem in der Zeit Karls V. Universalreich und europäisches Staatensystem Die Anfänge des europäischen Staatensystems reichten vor das 16. Jahrhundert zurück, wenn auch weniger weit als die kirchlichen und religiösen Fragen, die in der Reformation ihren Kulminationspunkt erreichten, oder der innere Staatsbildungsprozess, der in diesem Buch für Frankreich und die deutschen Territorialstaaten verfolgt wurde. Die Verbindung von Staatsbildungsprozess, Reformation und Konfessionalisierung bestand darin, dass der um 1500 erreichte Grad des Staatsbildungsprozesses zu den Faktoren gehörte, die die Reformation ermöglichten, während die Konfessionalisierung den lange vor der Reformation begonnenen Staatsbildungsprozess beschleunigte. Aber auch die Beziehungen der Herrscher und Mächte untereinander und die Kriege, vor allem die Kriege zwischen Frankreich und dem Kaiser seit 1494, hatten erhebliche Bedeutung für den Erfolg der Reformation in Deutschland, während die Spaltung des lateinischen Christentums, besonders in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, das Staatensystem konfessionell strukturierte. Unter einem Staatensystem – der Begriff wurde 1809 von Arnold Hermann Ludwig Heeren geprägt – ist das Nebeneinander mehrerer relativ gleichgestellter, wenn auch unterschiedlich mächtiger Staaten zu verstehen, die durch Zusammengehörigkeit in einem gemeinsamen Raum, etwa Europa, und durch gemeinsame Interessen miteinander verbunden sind und untereinander in Beziehung stehen. Ein solches Staatensystem hatte sich, beschränkt auf Italien, seit dem Frieden von Loni von 1454 mit der Pentarchie (griech. pe/nte fünf) der fünf Mächte Mailand, Venedig, Florenz, dem päpstlichen Kirchenstaat und Neapel ausgebildet. Nach der Teilung des habsburgischen Universalreiches und der Abdankung Karls V. 1556 sowie der endgültigen Aufspaltung des Hauses Habsburg in eine spanische und eine deutsche Linie formte sich ein solches Staatensystem im gesamten Westen Europas aus, um seit dem Frieden von Cateau-Cambrésis von 1559 für ein Jahrhundert unter der Vorherrschaft Spaniens zu stehen. Zu den Formen der Außenpolitik im Staatensystem gehörte die Diplomatie und das ständige Gesandtschaftswesen, wie es sich zuerst im Italien des 15. Jahrhunderts entfaltete und im 16. nach dem Vorbild der venezianischen Gesandten und der päpstlichen Nuntien auch im übrigen Europa Verbreitung fand, um im 17. und 18. Jahrhundert große Bedeutung zu erlangen. Zu den Leitideen der Politik im Staatensystem gehörte der schon im 15. Jahrhundert in Italien aufgekommene Gedanke des Gleichgewichts der Macht (ital. bilancia, frz. l’équilibre européen,
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engl. balance of power), der im 16. und 17. Jahrhundert – als Gegenentwurf gegen die als bedrohlich empfundene Universalmonarchie – sowie im 18. Jahrhundert zum Modell und Leitbegriff der Außenpolitik in Europa wurde. Den Beginn eines europäischen Staatensystems setzt man oft mit dem Eingreifen Karls VIII. von Frankreich in Italien 1494 an. Doch stand Europa bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts im Zeichen des habsburgischen Universalreichs. Dadurch erscheint das Staatensystem der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als noch nicht voll ausgebildet, sondern als eine Frühform, aus der erst ein System relativ gleichgestellter Staaten hervorgehen musste, zumal auch das habsburgische Universalreich keinen die einzelnen Bestandteile überwölbenden Staatscharakter besaß. Hervorgegangen war das habsburgische Universalreich aus den früher behandelten habsburgischen Eheschließungen von 1477 und 1496 und der Verbindung der österreichischen und der burgundischen Länder mit den iberischen Königreichen Kastilien und Aragón. Auf dem Reichstag von Worms von 1521 kam ein erster Teilungsplan zwischen Karl V. und seinem Bruder Ferdinand zustande, der 1522 durch den Vertrag von Brüssel ersetzt wurde. Dieser Vertrag beließ Karl das burgundische Erbe und die spanischen Königreiche, während Ferdinand I. alle habsburgischen Territorien vom Elsass bis an die ungarische Grenze und die Ansprüche auf Böhmen und Ungarn mit ihren Nebenländern erhielt. An Ferdinand fiel auch Württemberg, das 1520 nach der Vertreibung Herzog Ulrichs an Karl V. abgetreten worden war und bis 1534 habsburgisch blieb. Die Teilung von 1522 ging der endgültigen, 1556 faktisch wirksam gewordenen Trennung ebenso wie der weitgehenden Lösung der Niederlande aus dem Reichsverband durch den Burgundischen Vertrag von 1548 voraus. Doch blieb das Gesamthaus vorerst als politischer Faktor präsent. Sein Gewicht wurde 1526/27 noch durch das Ausgreifen Ferdinands nach Böhmen, Mähren, Schlesien, Ungarn und Kroatien gesteigert. Doch zeigte sich gerade mit dem böhmischen und ungarischen Wahlkönigtum Ferdinands seit 1526 die Schwerpunktverlagerung der politischen Potenz Karls V. nach Westen und derjenigen Ferdinands nach Osten. Daraus ergab sich eine west-östliche Spannung, die schließlich durch Teilung des Universalreiches gelöst wurde. Diese west-östliche Spannung wurde noch verstärkt durch den Ausbau des niederländischen Territorialbesitzes Karls V., der 1521 das Bistum Tournai erwarb und die französische Lehnsherrschaft über Flandern beseitigte und 1524 Westfriesland hinzufügte. 1528 folgte die Säkularisation und Annexion des Hochstifts Utrecht und 1536 die Unterwerfung von Groningen und Drenthe. Am Ende stand die Eingliederung des Herzogtums Geldern 1543, bevor der Kaiser 1548 mit der Grafschaft Lingen auch noch einen Außenposten östlich der Ems gewann. Während die Übernahme Lingens eine Folge des Schmalkaldischen Krieges war, war die Annexion Gelderns ein Ergebnis des Geldrischen Erbfolgekrieges. 1538 war der Herzog von Geldern, Karl von Egmont, kinderlos gestorben, nachdem er zehn Jahre zuvor im Vertrag von Gorinchem von 1528 den Heim-
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fall Gelderns als burgundisches Lehen an Karl V. zugesagt hatte. Doch hatte er kurz vor seinem Tod Geldern an Herzog Wilhelm den Reichen, den Landesherrn der angrenzenden Herzogtümer Kleve, Jülich und Berg, übertragen, der sich so die Gegnerschaft Karls V. zuzog und im Geldrischen Erbfolgekrieg unterlag. Im Vertrag von Venlo von 1543 musste sich Wilhelm dem Kaiser unterwerfen und auf Geldern verzichten. Zu den zentrifugalen Kräften zwischen den Herrschaftsschwerpunkten Karls und Ferdinands trugen auch die Sicherung des spanischen Regiments in Neapel, Sizilien und Sardinien bei, wo nach 1529 spanische Vizekönige eingesetzt wurden, aber auch die Eroberungen Spaniens in Amerika, wo 1535 bzw. 1543 die Vizekönigreiche Neuspanien (Mexiko) und Peru gegründet wurden. Während Karl V. 1530 die Kaiserkrönung empfing, wurde Ferdinand 1531 in Deutschland zum König gewählt und damit zur Nachfolge seines Bruders in der Kaiserwürde bestimmt. Diese empfing er 1558 nach dem Rücktritt Karls V., während der Sohn Karls V., Philipp II., die Nachfolge in Spanien und in den niederländisch-burgundischen Territorien sowie in den italienischen und überseeischen Nebenländern antrat. Der 1500 in Gent geborene und 1558 nahe dem Kloster San Geronimo de Yuste in Spanien gestorbene Karl V. war nach Erziehung und Bildung in der burgundischen Welt beheimatet und besaß persönlich kaum Beziehungen zu Deutschland und den österreichischen Ländern. Geprägt von der ritterlich-höfischen Tradition Burgunds, war er von einer starken religiös-kirchlichen Haltung durchdrungen, die mit der Devotio Moderna zusammenhing. Dabei konnte an der katholischen Haltung des Kaisers kein Zweifel bestehen. Er sah sich in der Tradition des Kaisertums als Vogt und Beschützer der Kirche. Kennzeichnend für Karl V. war auch die Kaiseridee, die sich mit dem Gedanken der Monarchia universalis oder des Dominium Mundi verband und ihn im Kaisertum die höchste Herrscherwürde der Christenheit und die höchste von Gott auf Erden eingesetzte Würde sehen ließ. Diese Vorstellungen wurden ihm von seinem Großkanzler, dem Piemontesen Mercurino de Gattinara, vermittelt. Gattinara entwarf Weltreichpläne, die gegen Frankreich gerichtet waren und in der Aufrichtung der Herrschaft des Kaisers über ganz Italien und über Südfrankreich bestanden, womit eine Landbrücke zwischen Spanien, Italien und Deutschland hergestellt und Frankreich als politisch ins Gewicht fallender Faktor ausgeschaltet werden sollte. Alfred Kohler hat gezeigt, dass Gattinara damit „eine höchst traditionelle, auf Italien und Europa fixierte Konzeption von Kaiserherrschaft bzw. Monarchia universalis vertrat, die wenig für neue Entwicklungen, wie sie etwa durch Amerika ins Spiel gebracht wurden, offen war“1, und die „quer zum Trend der Entwicklung des frühneuzeitlichen Fürstenstaates lag und wohl deshalb gescheitert ist“2. Der machtpolitische Gegensatz zwischen Habsburg und Frankreich war für die Habsburger ein Teil des burgundischen Erbes. Mit der antifranzösischen Komponente der burgundischen Politik hatten sie auch das gegen Frankreich
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gerichtete Bündnissystem und die Verbindung zu anderen Gegnern Frankreichs wie England, Savoyen und Spanien geerbt, was sich mit dem Eintritt Karls V. in das Erbe Isabellas und Ferdinands in Spanien vollends zu einem viel Konfliktstoff enthaltenden Gegenüber beider Mächte ausweitete. Mit Spanien übernahm das Haus Habsburg auch die spanischen Interessen in Italien und die spanischfranzösische Rivalität um Mailand, während Frankreich sich in der Umklammerung durch das habsburgische Universalreich sah. Der Hegemonialkampf um Italien Während im niederländisch-burgundischen Bereich die habsburgisch-französischen Auseinandersetzungen bald nach 1477 kriegerisch ausgetragen worden waren, entbrannte 1494 der Hegemonialkampf um Italien, der mit Unterbrechungen bis ins 18. Jahrhundert anhielt. 1494 unternahm Karl VIII. seinen Feldzug zur Eroberung von Neapel, worauf in den Jahren 1497 bis 1507 neue Kämpfe um Mailand und Neapel folgten. Vorübergehend waren auch Bündnisse zwischen Habsburg und Frankreich möglich, so die Liga von Cambrai von 1508, die gegen Venedig gerichtet war. Seit 1515 setzte Franz I. von Frankreich die Politik um Mailand fort. Es ergab sich faktisch eine Teilung Italiens in den französisch bestimmten Norden und den mit Spanien verbundenen Süden, bis Karl V. seit 1521 auch die Herrschaft in Oberitalien beanspruchte. Die Folge waren vier Kriege gegen Frankreich. Von 1521 bis 1526 führte Karl V. seinen ersten Krieg gegen Franz I. um die Vorherrschaft in Italien, der 1526 mit dem Frieden von Madrid endete, nachdem die Schlacht von Pavia 1525 die Kämpfe um Mailand für Karl entschieden und die Gefangennahme des französischen Königs gebracht hatte. Nachdem dieser nach seiner Freilassung den Friedensschluss verwarf, begann 1526 der zweite Krieg, der 1529 mit dem − von der Tante Karls V., Margarete, der Generalstatthalterin der Niederlande, und der KöniginMutter Louise von Frankreich geschlossenen − Damenfrieden von Cambrai endete, in dem der König von Frankreich, wie schon im Frieden von Madrid, auf alle Ansprüche in Italien verzichten musste. Im Verlauf dieses zweiten Krieges ereignete sich 1527 der Sacco di Roma. 1528 musste die spanische Mittelmeerflotte in der Seeschlacht von Amalfi im Golf von Salerno eine vernichtende Niederlage durch französische und genuesische Kriegsschiffe hinnehmen. Die Wende zugunsten des Kaisers brachte der Übertritt des genuesischen Flottenkommandanten Andrea Doria auf die Seite Karls V. Von 1536 bis 1538 folgte der dritte Krieg, der 1538 im Frieden von Nizza die bestehenden Machtverhältnisse bestätigte, bevor 1542 der vierte Krieg begann. Dieser wurde vorwiegend außerhalb Italiens ausgetragen, wobei der Geldrische Erbfolgekrieg als Nebenkriegsschauplatz erscheint. Am Ende stand 1544 der Friede von Crépy, der die Herrschaft Karls V. in ganz Italien bestätigte. Parallel zu diesen Kriegen gegen den seit 1535 mit den Osma-
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nen verbündeten König von Frankreich unternahm der Kaiser 1535 als Entlastungsaktion einen Feldzug nach Nordafrika, bei dem Tunis erobert wurde, und 1541 einen Angriff gegen Algier. Nach der Abdankung Karls V. kam es zum Krieg Philipps II. mit Heinrich II. von Frankreich, bei dem Spanien erfolgreich war, so dass der Friede von Cateau-Cambrésis 1559 die Vielstaatlichkeit Italiens unter spanischer Vorherrschaft, die Verdrängung Frankreichs aus der italienischen Politik und die Dominanz Spaniens im europäischen Staatensystem befestigte. Die östliche Hälfte des Kontinents Während der Kriege um Italien musste sich Ferdinand I. mit der osmanischen Expansion in Südosteuropa auseinandersetzen, die 1529 zur Belagerung Wiens und 1541 zur Dreiteilung Ungarns und zur Annektion des Paschalik Ofen durch das Osmanische Reich führte. Seit dieser Zeit erreichte die osmanische Expansion die Grenzen Polens, das seit 1386 mit dem Großfürstentum Litauen verbunden war und mit Litauen in der Lubliner Union von 1569 eine Realunion einging. Östlich von Polen-Litauen kam 1521 unter Vasilij III. Ivanovič mit der Eingliederung des Großfürstentums Rjazan’ in das Großfürstentum Moskau die Sammlung des russischen Landes zum Abschluss. Im Ostseeraum ging Dänemark 1523 als führende Macht aus dem Zerfall der Kalmarer Union hervor. Über Dänemark und Schweden und über die Kämpfe im Ostseeraum wird ebenso wie über Russland in späteren Kapiteln berichtet werden.
Das reformatorische Europa Die Fürsten, das Reich und die lutherische Konfessionsbildung Peter Blickle nennt die ersten Jahre der Reformation, in denen Luther den Bruch mit dem Papsttum vollzog und seine reformatorische Theologie formulierte und in denen viele Menschen von seiner Freiheit eines Christenmenschen angezogen wurden, die „Sturmjahre“3 der Reformation. „Um 1525 [...] setzt die landesfürstliche, die obrigkeitliche, die staatliche Reformation ein − kurzum die Fürstenreformation.“4 Es ist es richtig, wenn Heinz Schilling betont, dass die Reformation als Volksbewegung 1525 nicht endete und in vielen Städten erst danach ihren Höhepunkt erreichte,5 doch zeigt sich um 1525 die Tendenz, dass Fürsten und Stadträte die reformatorische Bewegung für ihre politischen oder wirtschaftlichen Interessen nutzten und von oben weiterführten und verstaatlichten. Bald, spätestens 1529, trat die Reformation auch „in das Stadium der Bekenntnisbildung ein“6. Der konfessionelle Grundzug des Zeitalters hing mit dieser Vermengung von Politik und Religion zusammen. Die religiösen Fragen wurden politisiert, während die Politik unter religiöse Vorzeichen trat und sich der von der Reformation ausgelösten religiösen Gegensätze bediente. Die für Deutschland charakteristische Ausbildung der frühmodernen Staatlichkeit auf partikularer Ebene und der dabei um 1520 erreichte Stand schufen besondere Bedingungen. Mit einer Option für die Reformation konnten die Fürsten politische Vorteile gewinnen und durch die mit dieser Option verbundenen verstärkten Zugriffsmöglichkeiten auf die Kirche und das Kirchengut ihres Territoriums ihre Herrschaft ausbauen und damit den Staatsbildungsprozess voranbringen. Nachdem antiklerikale Volksbewegungen durch Aufnahme des reformatorischen Appells dazu beigetragen hatten, dass die reformatorischen Gedanken überhaupt über Klostermauern und Universitätshörsäle hinausdrangen, waren es Fürsten oder Stadträte, die die Reformation obrigkeitlich einführten oder einen von unten begonnenen Reformationsprozess zu ihrer Sache machten und zum Abschluss führten und der Reformation dadurch zu dauerndem Erfolg verhalfen. Dafür hat sich – zuerst in der ostdeutsch-marxistischen und in der angelsächsischen Forschung – die Bezeichnung Fürstenreformation eingebürgert. Das Gegenstück bildet die Gemeindereformation. Mit dieser Bezeichnung werden die reformatorischen Bewegungen belegt, die von unten, ohne oder gegen Landesherren oder Stadtobrigkeiten, zur Etablierung eines reformatorischen Kirchenwesens führten oder dazu beitrugen. Das wurde früher im Sinne von
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Stadtreformation verstanden, nachdem sich gezeigt hatte, dass die reformatorische Bewegung, soweit sie als ein mit dem Humanismus und der Verbreitung des Buchdrucks verbundener Vorgang greifbar wird, eine Erscheinung der Stadt war. So konnte der britische Historiker Arthur Geoffrey Dickens sagen: „The German Reformation was an urban event.“7 Mit der Bedeutung der Stadt für die Reformation trat die sozialgeschichtliche Seite der Reformation hervor. Doch blieb damit die von der literarischen Produktion kaum erreichte Landbevölkerung außerhalb des Horizontes der reformationsgeschichtlichen Forschung. Neuere Forschungsansätze, vor allem bei Blickle, heben die bäuerliche Reformation und das bäuerliche Reformationsverständnis und darüber hinaus die Bedeutung der Gemeinde hervor. Unter Gemeindereformation wird heute die von breiten Bevölkerungsschichten getragene, von der Lehre Luthers oder Zwinglis angestoßene reformatorische Bewegung von Bürgern und Bauern in Stadt und Land verstanden. Doch handelt es sich bei der Gemeindereformation wie der Fürstenreformation um Idealtypen, also um relativ abstrakte Denkfiguren. In der geschichtlichen Wirklichkeit konnten die Übergänge zwischen Gemeinde- und Fürstenreformation fließend sein. Der Vorgang der Konfessionsbildung beschränkte sich auf die Formulierung, Fixierung und Durchsetzung von Glaubensbekenntnissen, wobei die Durchsetzung in den institutionellen Bereich hineinragte. Konfessionalisierung war die Ausformung der politisch-sozialen Entsprechungen der Glaubensbekenntnisse in Gestalt von Luthertum, Calvinismus und Katholizismus als gesellschaftlicher Großgruppen, an deren Rändern es Sondergruppen gab. Der Konfessionalisierungsprozess erfasste alles Öffentliche und alles Private und drang tief ein in Politik, Gesellschaft und Kultur. Konfession wurde ein politisches, soziales und kulturelles Phänomen. Konfessionsbildung war Abgrenzung in den Bereichen der theologischen Lehre, der Organisation und der Lebensgestaltung der Gläubigen. Bei der Lebensgestaltung öffnete sich die soziale Seite der Konfessionsbildung zur Konfessionalisierung. Die Ursachen für die Abgrenzung der auseinanderstrebenden Glaubensformen und für ihre allmähliche Verfestigung zu Konfessionen waren durch den Zwang der Lage gegeben, nachdem die unterschiedlichen Auffassungen zwischen Luther und Zwingli im Hinblick auf die Sakramentslehre nicht ausgeglichen werden konnten und alle reformatorischen Richtungen im Streit mit der römischen Kirche lagen und sich gleichzeitig gegen Nebenströmungen der Reformation wie die Täufer abgrenzen mussten. Dabei galten in jeder der großen Glaubensgruppen die anderen als häretische Abweichung von der wahren Kirche, als deren Verkörperung sich jede Konfession verstand. So entstand die Intoleranz der Konfessionen und ihrer Repräsentanten und die Feindseligkeit der konfessionellen Auseinandersetzungen. Die Fürsten und andere weltliche Obrigkeiten unterstützten jeweils ihre Konfession gegen die konkurrierenden Glaubensformen. Zugleich wurden Kirche und Konfession politischen Interessen nutzbar
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gemacht. Durch konfessionelle Vereinheitlichung des Territoriums konnte der Aufbau der frühmodernen Staatlichkeit vorangetrieben werden. Die konfessionelle Homogenisierung der Territorien trug in Verbindung mit der behördlichen Reglementierung des religiös-sittlichen Lebens der Untertanen auch in kleineren Territorien zur Entstehung einer „territorialen Gesellschaft“8 und zur Ausbildung territorienbezogener Identitäten bei. Die Konfessionsunterschiede zwischen katholischen, lutherischen und reformierten Territorien wurden am Ende der Konfessionalisierungsvorgänge zunehmend als staatlich-territoriale Unterschiede erfahren, während die interkonfessionellen Heiratsschranken in konfessionell gemischten Reichsteilen, wo die Gemengelage kleiner Territorien eine ebensolche Gemengelage der Konfessionen hervorrief, die territoriale Gesellschaft auch sozial-genealogisch − wenn auch nicht völlig und ohne zahlreiche Ausnahmen − verfestigten. Träger der Konfessionsbildung und Konfessionalisierung waren einerseits Theologen wie Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin, Bullinger, Bucer und andere auf reformatorischer und die Konzilsväter von Trient, aber auch Jesuiten, Kapuziner und andere auf katholischer Seite, andererseits die Inhaber der obrigkeitlichen Gewalt, also Landesherren und Stadträte und ihre Beamtenschaft. Dabei war der Anteil der Theologen an der Konfessionsbildung größer als der der politischen Kräfte, deren Entscheidungen und deren Handeln vor allem zur Konfessionalisierung beitrug. Eine wichtige Rolle spielte der Adel als Inhaber von Patronatsrechten über zahlreiche Pfarrstellen, weil der Kirchenpatron das Recht zur Präsentation und damit faktisch zur Einsetzung der Pfarrer besaß. Das wichtigste Medium und der Katalysator der Konfessionsbildung waren die Bekenntnisschriften, theologisch-dogmatische Lehrschriften, in denen die Glaubenslehre und die wichtigsten Unterscheidungspunkte verbindlich formuliert waren. Hier ging die lutherische Seite voran mit der Confessio Augustana oder dem Augsburgischen Bekenntnis von 1530,9 während die abschließende dogmatische Bestimmung des lutherischen Bekenntnisses erst 1577 erfolgte. Auf reformiert-calvinistischer Seite entsprachen dem verschiedene Katechismen und Bekenntnisschriften, so Calvins Genfer Katechismus von 1542,10 die Confessio Gallicana von 1559,11 die Confessio Scotica von 1560,12 die Confessio Belgica von 1561,13 die Confessio helvetica posterior von 156614 und vor allem der Heidelberger Katechismus von 1563,15 der seit der Dordrechter Synode von 1618/19 eine allgemein anerkannte Bekenntnisschrift der reformierten Kirchen bildet.16 Die katholische Kirche erhielt mit den Dekreten des Konzils von Trient, mit der Professio fidei Tridentinae von 156417 und mit dem auf dieser Grundlage 1566 erstellten Catechismus Romanus18 verbindliche Fixierungen ihrer Lehre, mit denen sie sich konfessionell von den reformatorischen Lehren abgrenzte und − entgegen ihrer Ekklesiologie − faktisch auch zu einer Bekenntnis- oder Konfessionskirche wurde. Diese Bekenntnisschriften bildeten die „geistige Grundlage der konfessionellen
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Glaubensgemeinschaften“19. Dazu gehörte, dass die Bekenntnisschriften von den Pfarrern, aber auch von Beamten und von angehenden Doktoren bei der Promotion unterschrieben oder beschworen werden mussten. Zu den Instrumenten der Konfessionalisierung gehörten obrigkeitliche Visitationen, wie sie im katholischen Bereich das Konzil von Trient den Bischöfen als Pflicht auferlegte, und – im reformatorischen oder protestantischen Bereich – landesherrlich verfügte Kirchenordnungen. Die causa Lutheri Das Wormser Edikt von 1521 entsprach dem mittelalterlichen Ketzerrecht, das auch dem päpstlichen Bann zugrunde lag. Nach dem Ketzerrecht musste jeder, der sich häretisch von der Lehre der Kirche absonderte, aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden. Im Falle Luthers konnte Karl V. das Ketzerrecht aber nicht anwenden, weil ihm einige Fürsten den Gehorsam verweigerten. Hier begann die Verbindung von Reformation und Landesfürstentum. Außerdem machte ihm sein von 1521 bis 1526 geführter erster Krieg gegen Frankreich um die Vorherrschaft in Italien die Unterdrückung der reformatorischen Bewegung unmöglich. Statt vom Kaiser zurückgedrängt zu werden, breitete sich Luthers Lehre in den Wochen und Monaten und in den ersten Jahren nach dem Wormser Edikt bis nach Kärnten, bis in die Niederlande, das Herzogtum Preußen und Livland und bis nach Dänemark und Schweden aus. Getragen wurde das von Luthers Wittenberger Schülern und Freunden, seinen alten Mitbrüdern aus dem Augustiner-Eremiten-Orden, von städtischen Prädikanten und theologisch interessierten Laien, von gelehrten Humanisten und Gymnasiallehrern, wobei die Bewegung auch in dieser Zeit schon von einigen Fürsten unterstützt wurde. Parallel dazu vollzog sich in Zürich die Reformation Zwinglis. Das durch den Buchdruck entstandene neue publizistische Medium der Flugschriften ermöglichte die rasche Verbreitung der reformatorischen Gedanken, die in der städtischen und ländlichen Bevölkerung einen aufnahmebereiten Boden fanden. Doch wurden dabei die theologischen Lehren Luthers vielfach umgeformt oder, dem jeweiligen politisch-sozialen Interesse entsprechend, nur selektiv wahrgenommen. Das galt bereits für die Wittenberger Unruhen von 1521/22 um Karlstadt. Der niedere Adel wurde besonders von Luthers Adelsschrift angesprochen, in der Luther den Adel zur Übernahme von Aufgaben für Kirche und Reich aufforderte. Im Aufstand der Reichsritter um Franz von Sickingen und Ulrich von Hutten von 1522/23 verbanden sich die Interessen des niederen Adels mit den Zielen der Reformation. Die Handwerker in den Städten, die ökonomisch mit zunftfreien Klosterhandwerkern konkurrierten, nahmen die antiklerikalen Elemente der Reformationspropaganda auf, während die Bauern von Luther vor allem das Wort von der Freiheit eines Christenmenschen vernahmen und damit ihrer Abhängigkeit im Rahmen der Grundherrschaft widersprachen.
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Luther verbrachte die Zeit nach dem Wormser Reichstag anfangs auf der Wartburg bei Eisenach, wo er 1521 in wenigen Wochen das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche übertrug, was die Grundlage seiner 1534 abgeschlossenen deutschen Bibelübersetzung wurde.20 Danach ging er wieder nach Wittenberg, wo er die Wittenberger Unruhen durch seine Invokavitpredigten21 zu dämpfen suchte. Die folgenden Jahre standen im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem seit den Wittenberger Unruhen hervortretenden radikalen Flügel der Reformation um Karlstadt und Thomas Müntzer, von dem er 1525 mit seiner Schrift Wider die himmlischen Propheten22 eine scharfe Trennung vollzog. Mit Luthers Abgrenzung gegenüber den Radikalen, die von Anhängern zu Gegnern wurden, begannen sich die innerprotestantischen konfessionellen Abgrenzungen anzukündigen. Erste Ansätze der lutherischen Konfessionsbildung reichten damit bis in die Zeit vor 1525 zurück. Der Bauernkrieg von 1525 Luthers Wort Von der Freiheit eines Christenmenschen wurde von den Bauern im Rahmen ihrer lebensweltlichen Erfahrungen − und damit anders, als Luther es gemeint hatte − verstanden. Der Bauernkrieg wurde, sieht man ab von sozialistischen Autoren des 19. Jahrhunderts, von den Historikern, etwa Leopold von Ranke in seiner Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation, lange als Werk fanatisierter Bauern gedeutet, die von „falschen Propheten“ in den Aufstand getrieben wurden. Erst Günther Franz, dessen Buch Der deutsche Bauernkrieg zuerst 1933 erschien, nahm die Bauern als handelnde Subjekte wahr. Doch trat bei ihm die Reformation ganz zurück. Der Bauernkrieg erschien bei Franz als Höhepunkt einer Welle bäuerlicher Erhebungen seit dem 13. Jahrhundert. Als Ursache stellte er die Kollision der bäuerlichen Gemeindegenossenschaft mit dem Herrschaftsanspruch der Fürsten heraus, die mit der administrativen Organisation ihrer Territorien im Zuge des Staatsbildungsprozesses bis auf die örtliche Ebene durchgriffen. Wichtig für das Verständnis der Zusammenhänge ist die Selbstlegitimation der Bauern, die sich entweder auf das alte Recht oder auf das göttliche Recht beriefen. Die Berufung auf das alte Recht hing mit der für das Mittelalter charakteristischen Vorstellung zusammen, dass das Alte gut und jede Neuerung schlecht und somit das alte Recht das bessere Recht sei. Der Staatsbildungsprozess mit seinen Folgen und höhere Leistungsforderungen der Grundherren gegenüber den Bauern erschienen als Neuerung gegenüber dem alten Recht. Wehrten sie sich dagegen, so waren das Kämpfe um das alte Recht. Entscheidend waren die Fälle, in denen sich aufständische Bauern nur noch auf das göttliche Recht beriefen. Mit dem Kampf um das göttliche Recht wollten die Bauern nicht mehr nur eine verletzte Rechtsordnung wiederherstellen. Sie wollten die Ausrichtung der Gesellschaft an den von Gott gesetzten Normen, die sie mit der Bibel identifizierten. Jede menschliche Herrschaft war nach dieser Auffassung nur berechtigt, wenn sie mit der Bibel in Einklang stand.
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Andernfalls verlor sie ihre Berechtigung und musste dem Kampf um das göttliche Recht weichen. Die meisten Vorläufer des Bauernkriegs, darunter der Arme Konrad, ein Aufstand von Bauern des württembergischen Remstals gegen Steuererhöhungen von 1514, rechnete Franz zu den Kämpfen um das alte Recht. Kämpfe um das göttliche Recht sah er in den Aufständen des Bundschuhs, vor allem seit dem Aufstand von 1502 im Hochstift Speyer. Von den Bundschuhaufständen, die sich bis 1517 fortsetzten, sei der Appell an das göttliche Recht in den Bauernkrieg eingegangen, der bei ihm als Fortsetzung der Bundschuhaufstände erscheint. Den Appell an das göttliche Recht führte Franz nicht auf die Reformation Luthers oder Zwinglis zurück, sondern auf Wiclif und die Hussiten. Der Bauernkrieg war eine Summierung von Einzelaktionen, die im Juni 1524 mit der Empörung der Bauern in der Landgrafschaft Stühlingen am Südostrand des Schwarzwaldes begannen. Im Juli 1524 folgte der Ittingersturm, bei dem Bauern im Thurgau die Kartause Ittingen plünderten. Von Stühlingen griff die Bewegung nach Oberschwaben aus, wo die Gotteshausleute, Bauern des Reichsstifts Kempten, im Februar 1525 eine Christliche Vereinigung bildeten. Damit wurde das Allgäu Aufstandsgebiet. Die aufständischen Bauern zwischen Buchloe und Füssen, Wangen und Memmingen bildeten den Allgäuer Haufen. Andere Aufstandsgebiete waren seit Januar oder Februar 1525 die Gegend nördlich des Bodensees und beiderseits des Oberlaufs der Donau, wo seit Weihnachten 1524 Aufstandsbewegungen des Baltringer Haufens bemerkbar waren. Die aufständischen Bauern vom Bodensee wurden Seehaufen genannt. Die Forderungen der drei Bauernhaufen gingen auf einer Bauernversammlung in Memmingen in die Zwölf Artikel von Anfang März 1525 ein.23 Diese basierten auf örtlichen Bauernbeschwerden, besonders aus Dörfern des Baltringer Haufens. Redaktionell zusammengestellt wurden sie von dem Kürschnergesellen Sebastian Lotzer und dem Prädikanten Christoph Schappeler. Die Zwölf Artikel wurden in Augsburg gedruckt und zwischen März und Mai 1525 in 25 Nachdrucken in fast ganz Deutschland verbreitet. Spätestens mit der Veröffentlichung dieser wichtigsten Bauernkriegsschrift vonseiten der Bauern trat der Appell an das göttliche Recht hervor. Zugleich radikalisierte sich die Aufstandsbewegung, nachdem Georg Truchseß von Waldburg mit den Truppen des Schwäbischen Bundes gegen die drei Bauernhaufen vorrückte. Am 4. April wurde der Baltringer Haufen bei Leipheim östlich von Ulm geschlagen. Mit dem Seehaufen schloss Truchseß den Weingartener Vertrag, mit dem die Bauern überlistet wurden, die im Glauben an die Prüfung ihrer Beschwerden durch ein Schiedsgericht auseinanderliefen. Der Bauernkrieg hatte sich zu dieser Zeit schon über weite Teile Oberdeutschlands mit Ausnahme des Herzogtums Bayern, über das Elsass, die Pfalz, die Schweiz, Tirol, Salzburg, die österreichischen Ostalpenländer und Thüringen ausgeweitet. Auch Städte wie Würzburg und Rothenburg ob der Tauber schlossen sich dem Aufstand an, aber auch einzelne Adelige, was, wie im Falle des Rit-
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ters Götz von Berlichingen, nicht immer freiwillig geschah. Schwerpunkte bildeten Franken, Tirol und Thüringen. In Franken und im Odenwald standen die Bauern unter der Führung des Ritters Florian Geyer und zweier Intellektueller, Wendel Hipler und Friedrich Weigandt. Auf diese ging der Beratungsplan für die Heilbronner Bauernversammlung mit Vorstellungen einer politischen Neugestaltung des Reiches auf bäuerlicher Grundlage zurück. Auffällig ist das Fehlen utopischer und religiös-enthusiastischer Ideen in den Konzeptionen Hiplers und Weigandts. Eher utopischen Charakter besaßen die politischen Vorstellungen Michael Gaismairs, des Bauernführers von Tirol. Chiliastische Züge trug das Engagement Thomas Müntzers in Thüringen, der in der Konfrontation der Bauern mit den weltlichen Gewalten das apokalyptische Weltgericht und in den Bauernheeren die Streitscharen des wiederkehrenden Christus sah. Abgesehen von Tirol und Salzburg, wo die Aufstandsbewegung bis Spätherbst 1525 und teilweise bis Frühjahr 1526 andauerte, war der Bauernkrieg nur eine Sache weniger Wochen. Truchseß schlug die württembergischen und die fränkischen Bauern im April, Mai und Juni 1525. Die thüringischen Bauern unter Thomas Müntzer wurden am 15. Mai von Philipp von Hessen bei Frankenhausen in Thüringen vernichtend geschlagen. Die elsässischen und die pfälzischen Bauern unterlagen im Mai bzw. Juni 1525. Insgesamt wird die Zahl der in den Kämpfen gefallenen Bauern auf 70.000 bis 75.000 geschätzt.24 Die Forschung seit 1975 hat gezeigt, dass die Reformation den Impuls für den Appell an das göttliche Recht lieferte. Gerade weil dieser schon bei Wiclif und in den Bundschuhaufständen vorkam − auch das ein Beleg für die Kontinuität zwischen Mittelalter und 16. Jahrhundert −, bedeutete die Aufnahme dieser Forderung durch die Bauern eine Verstärkung der programmatischen Wirkung dieses Prinzips. Das gilt vor allem für die Zwölf Artikel, mit denen die Berufung auf das göttliche Recht weite Verbreitung und erhebliche Sprengkraft gewann. Doch geht diese Berufung auf Bibel und göttliches Recht kaum auf Luther zurück. Hier ist eher an Zwingli − und an Teile der radikalen Reformation zu denken. Von besonderer Radikalität war der mit antiklerikalistischen Grundströmungen verbundene Angriff der Bauern auf die Institutionen der alten Kirche. Hier glaubten die Bauern ihre Legitimation unmittelbar von der Reformation beziehen zu können. So wurden überall im Aufstandsgebiet Klöster geplündert und zerstört und Nonnen und Mönche beschimpft und verspottet, denen man vorwarf, den Gemeinen Mann in die Irre geführt und wirtschaftlich ausgebeutet zu haben. Die Bauern wollten den Klerus als wirtschaftlich, sozial und rechtlich privilegierten Stand beseitigen. In den Zwölf Artikeln wurde − gleich im ersten Artikel − die Forderung der Wahl der Pfarrer durch die Bauerngemeinde erhoben. Luther, der den Bauernkrieg aus dem thüringischen Aufstandsgebiet kannte, stand den Bauern anfangs mit Sympathie gegenüber. Viele ihrer Forderungen hielt er für berechtigt. In der Adelschrift von 1520 hatte er jede Arbeit, auch die des
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Bauern, als Gebet und Gottesdienst bezeichnet25 und zugleich seine Kritik an den frühkapitalistischen Wirtschaftsformen mit der Aussage verbunden, dass die Arbeit des Bauern im Gegensatz zur Tätigkeit des Kaufmanns die dem Evangelium gemäßere Arbeit sei.26 Dennoch nahm er nach dem Beginn des Aufstandes und vor allem seit der Veröffentlichung der Zwölf Artikel mit wachsender Schärfe Stellung gegen die Bauern. In seiner ersten Bauernkriegsschrift, mit der er in der zweiten Aprilhälfte 1525 auf die Zwölf Artikel einging, seiner Ermahnung zum Frieden auf die Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben27, kritisierte Luther auch die Fürsten und Herren, denen er wegen der Unterdrückung der Bauern die Schuld an dem Aufstand zuwies, während er für die Forderungen der Bauern teilweise Verständnis zeigte. Doch galt die Hauptkritik bereits den Bauern, denen er vorwarf, sich selbst ihr Recht nehmen und in eigener Sache Richter sein zu wollen und mit der Berufung auf das göttliche Recht den Namen Gottes zu missbrauchen. Anfang Mai 1525 entstand dann Luthers Kampfschrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern28, die von größter Wirkung war und weiteste Verbreitung fand. Luther hatte keinerlei Verständnis mehr für die Bauern. Er stellte sich ganz auf die Seite der Fürsten und rief sie zur Niederschlagung des Aufstandes auf. Luthers Haltung muss aus seinem apokalyptischen Bewusstsein heraus verstanden werden.29 Dieses Endzeitbewusstsein teilte er mit dem im Bauernkrieg auf der anderen Seite stehenden Müntzer. Luther lebte in der Erwartung des kurz bevorstehenden Weltendes und des drohenden Jüngsten Gerichts. Dieses Bewusstsein stand hinter seiner Ermahnung zum Frieden. Hier konfrontierte Luther Bauern und Fürsten mit der Aussicht auf das göttliche Zornesgericht, wobei er den Zorn Gottes aber vor allem gegen die Fürsten und Herren gerichtet sah. In der zweiten Bauernkriegsschrift war die Apokalyptik gesteigert. Doch erschienen die Bauern jetzt als Werkzeuge des Teufels, der sich ihrer in einem letzten Ringen mit Gott bediente, während die Fürsten als Werkzeuge Gottes zum Kampf gegen den Teufel aufgerufen wurden. Zugleich hing Luthers Haltung mit der Berufung der Bauern auf das göttliche Recht zusammen. Für Luther war der Appell an das göttliche Recht eine unerlaubte Vermischung des geistlichen und des weltlichen Bereichs und eine unerlaubte Verwendung des Evangeliums für politische Zwecke. Dahinter stand die Spaltung des Freiheitsbegriffs in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen von 1520. Luther proklamierte für den „inwendigen geistlichen Menschen“ die Freiheit, womit die Freiheit von den guten Werken und von alttestamentlichen sowie kirchlichen Geboten gemeint war, deren Befolgung er mit seinem sola fide-Prinzip die Heilsnotwendigkeit absprach. Hingegen betonte er für den äußerlichen Menschen die Bindung an Gesetze und Gebote, und zwar aus Gründen eines geordneten Zusammenlebens. Diesen Gegensatz von Freiheit und Bindung, den er am Anfang der Freiheitsschrift zum Ausdruck gebracht hatte,30 versuchten die Bauern in seinen Augen mit der Berufung auf das göttliche Recht aufzuhe-
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ben. Für Luther bedeutete das einen Rückfall in die Weltordnung der alten Kirche. Diese Trennung des geistlichen und des weltlichen Bereichs wurde auch maßgeblich für Luthers Auffassung von der Obrigkeit, die schon in den Programmschriften von 1520 angelegt war, bevor er sie in seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei31, von 1523 vortrug. Hier entwickelte Luther Gedanken, die als Zwei-Reiche-Lehre bezeichnet werden und auf den hl. Augustinus und seine Unterscheidung von civitas Dei und civitas terrena, und darüber hinaus auf das Neue Testament − Joh 18,36 − zurückgehen. Eigentlich müsste es Zwei-Regimenten-Lehre heißen. Er unterscheidet das geistliche Regiment und das weltliche Regiment, die beide unter Gottes Herrschaft stehen, aber doch voneinander getrennt sind. Wenn alle Menschen gläubige Christen wären, so wäre das weltliche Regiment überflüssig. Die Lehre von den Zwei Reichen oder Zwei Regimenten wurde entscheidend für das Verhältnis von Staat und Kirche im Luthertum. Die Bewertung des Ausgangs des Bauernkriegs und des Jahres 1525 für den Gang der Reformationsgeschichte ist kontrovers. Brachte die Niederlage der Bauern, wie Blickle in dem Zitat zu Beginn dieses Kapitels oder wie Rainer Wohlfeil und Bernd Moeller meinen, das Ende der reformatorischen Bewegungen und den Beginn der obrigkeitsgelenkten Reformation?32 Oder war, wie Schilling betont,33 die Reformation als Volksbewegung mit dem Bauernkrieg keineswegs beendet? Oder trifft beides zu? Richtig gesehen hat das Ernst Walter Zeeden: kein Aufhören der „volkstümlichen und spontanen religiösen Kräfte“ mit dem Jahr 1525, aber eine deutliche Abschwächung.34 Vom ersten Speyerer Reichstag zum Fürstenkrieg Auch nach 1525 kam es vonseiten des Kaisers nicht zur Anwendung des Wormser Edikts gegen Luther und seine Anhänger. Karl V. war noch immer in die Kämpfe mit Frankreich um die Vorherrschaft in Italien verstrickt, während für seinen Bruder Ferdinand die Sicherung der Nachfolge in Ungarn und Böhmen im Mittelpunkt stand. Außerdem waren die Luther unterstützenden Fürsten inzwischen eine politisch nicht mehr zu vernachlässigende Größe. Dabei handelte es sich vor allem um Kurfürst Johann den Beständigen von Sachsen, den Bruder und Nachfolger des 1525 gestorbenen Friedrich des Weisen, und um den Landgrafen Philipp von Hessen. Diese beiden schlossen 1526 in Gotha ein Bündnis zur Verteidigung gegen Angriffe aus Glaubensgründen, bevor der erste Reichstag von Speyer eröffnet wurde, der das Wormser Edikt außer Kraft setzte. Jeder Reichsstand sollte sich bis zu einem bald zu erwartenden Konzil in Religionssachen gegenüber seinen Untertanen so verhalten, wie er glaube, es vor Gott und dem Kaiser verantworten zu können. Dieser Reichstagsbeschluss von 1526 wurde zum Ausgangspunkt – und vonseiten des Reiches faktisch zum Freibrief – für Fürstenreformation und landesherrliches Kirchenregiment. Drei Jahre später, auf dem zweiten Reichstag von Speyer
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1529, versuchte Ferdinand von Österreich, der im Reich als Statthalter seines kaiserlichen Bruders amtierte, das Wormser Edikt wieder in Kraft zu setzen. Dazu hob er die Zugeständnisse des Reichstagsabschieds von 1526 auf. Ein Ausschuss des Reichstags, in dem die reformatorischen Fürsten in der Minderheit waren, stimmte zu. Doch erklärten die reformatorisch Gesinnten, dass es in Glaubensfragen keine Mehrheitsentscheidungen geben könne. Der Reichstagsabschied kam trotzdem zustande. Dagegen protestierten, wenn auch erfolglos, Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach, der Kanzler des Herzogs Ernst von Braunschweig-Lüneburg und die Vertreter einiger Reichsstädte, darunter Straßburg, Nürnberg, Ulm und Konstanz, was den Evangelischen den Namen Protestanten eintrug. Ein Jahr danach, auf dem Augsburger Reichstag von 1530, vertiefte sich die Kluft zwischen den Anhängern der alten Kirche und den Parteigängern der Reformation weiter. Ohne Mitwirkung des noch immer gebannten und geächteten Luther legten in Augsburg reformatorische Fürsten und Reichsstädte die von Melanchthon verfasste Confessio Augustana vor. 1521 hatte Melanchthon mit seinen Loci communes die erste systematische Darstellung der reformatorischen Theologie veröffentlicht,35 deren Neufassung 1535 und deren endgültige Fassung 1544 folgten. Der Grundtenor der Confessio Augustana bestand in der Betonung der Gemeinsamkeiten mit der alten Kirche, auch wenn entscheidende reformatorische Standpunkte in theologischen Fragen wie Rechtfertigung, Predigtamt und Kirchenbegriff zum Ausdruck kamen. Andere kontroverse Punkte wie Ablass, Fegefeuer, Papsttum und Priestertum blieben unerwähnt. Das entsprach den auf Ausgleich gerichteten Intentionen Melanchthons und dem Zweck der Confessio Augustana, die als Schriftstück für praktische Aufgaben im Rahmen der Reichstagsverhandlungen gedacht war. Der Confessio Augustana entgegengestellt wurde von katholischer Seite die Confutatio, eine theologische Lehrschrift, die die katholischen Standpunkte enthielt.36 Zur Bekenntnisschrift der lutherischen Konfessionskirche wurde die Confessio Augustana erst im Nachhinein. Dennoch nimmt sie einen zentralen Platz in der lutherischen Konfessionsbildung ein, für die zuvor schon Luthers Bruch mit den radikalen Reformatoren und der Abendmahlsstreit mit Zwingli als Momente konfessioneller Abgrenzung Bedeutung erlangt hatten. Der Abendmahlsstreit hatte sich zu dieser Zeit auch bereits als unüberbrückbar erwiesen, weil das von Philipp von Hessen 1529 veranstaltete Marburger Religionsgespräch37 zwischen Luther und Zwingli an der Abendmahlsfrage gescheitert war. Das zeigte sich auch in den 1529 von Luther verfassten Schwabacher Artikeln38, in denen er in 17 Punkten seine Lehre mit Betonung der Unterschiede gegenüber den Auffassungen Zwinglis darlegte. Diese Schwabacher Artikel waren als Verhandlungsgrundlage für Gespräche mit den evangelischen oberdeutschen Reichsstädten gedacht, fanden aber nicht deren Zustimmung. So machte auch der Augsburger Reichstag von 1530 die Zersplitterung des reformatorischen Lagers deutlich, indem Straß-
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burg, Konstanz, Lindau und Memmingen in Augsburg mit der Confessio Tetrapolitana39 und Zwingli mit der Ratio fidei40 eigene Bekenntnisschriften vorlegten. In Abwesenheit der evangelischen Fürsten wies der Kaiser Melanchthons zwischenzeitig ausgearbeitete Apologie41 der Confessio Augustana zurück, indem er als Reichsoberhaupt erklärte, dass durch diese neue Schrift die Confutatio nicht widerlegt werde. Zugleich wurde der Widerstand gegen das wiederbelebte Wormser Edikt zum Landfriedensbruch erklärt und unter Strafe gestellt. Das war der Hintergrund, vor dem sich 1531 der Schmalkaldische Bund als Verteidigungsbündnis evangelischer Reichsstände gegen die Religionspolitik des Kaisers bildete, der unter der Führung von Hessen und Kursachsen stand. Die Existenz dieses Protestantenbundes zwang den Kaiser angesichts des erneuten Vordringens der Osmanen zum Nachgeben. So kam es zum Nürnberger Anstand von 1532, mit dem den evangelischen Reichsständen vorläufig, d. h. bis zu einem Konzil, der Sache nach freie Religionsausübung zugestanden und die Ketzerprozesse am Reichskammergericht ausgesetzt wurden. Dafür leisteten die protestantischen Fürsten Hilfe gegen die Osmanen. Somit wurde mit dem Nürnberger Anstand die Lehre Luthers, statt als Ketzerei verfolgt zu werden, erstmals im Reich auf rechtlicher Grundlage geduldet, was 1539 mit dem Frankfurter Anstand eine Bestätigung fand. Zuvor hatte Luther in den Schmalkaldischen Artikeln42 von 1537 eine Zusammenfassung seiner Theologie gegeben, die später den lutherischen Bekenntnisschriften zugerechnet wurde.43 Auf dem Regensburger Reichstag von 1541 kam es zu einem neuen katholischprotestantischen Verständigungsversuch durch Religionsgespräche, bei denen bezüglich der Lehre von den Sakramenten und der Lehre von der Kirche keine Einigung erzielt werden konnte. Das Ergebnis der Unterredungen, das Regensburger Buch, wurde von der katholischen und der evangelischen Seite zurückgewiesen. Doch wurde 1541 der Nürnberger Anstand angesichts der von der osmanischen Expansion ausgehenden militärischen Gefahren noch einmal verlängert. Diese auf Duldung der Evangelischen ausgehende Politik schlug erst um, nachdem die Kriege Karls V. mit Frankreich durch den Frieden von Crépy 1544 beendet waren. Vorausgegangen war der Vertrag von Venlo von 1543, in dem Herzog Wilhelm der Reiche von Jülich-Kleve-Berg zusagen musste, mit seinen Territorien bei der alten Kirche zu bleiben, keine religiösen Neuerungen einzuführen und bereits eingeführte rückgängig zu machen. In den niederrheinischen Herzogtümern Jülich, Kleve und Berg und in der Grafschaft Mark hatten reformatorische Strömungen von unten ohne Mitwirkung des Landesherrn Einfluss erlangt. Wilhelms Vater, Johann III., hielt an der alten Kirche fest, war aber von Reform-, Harmonisierungs- und Ausgleichsvorstellungen im Sinne des Niederrheinischen Humanismus seiner Räte, darunter Konrad Heresbach, eingenommen. Auf diese Räte ging auch die in diesem Geist abgefasste Kirchenordnung Johanns III. von 1532 zurück.44 Der Herzog gehörte
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der reichsständischen Mittelpartei zwischen den protestantischen und den katholischen Fürsten an, die zwischen dem Kaiser und dem Schmalkaldischen Bund zu vermitteln suchte. Sein Sohn Wilhelm übernahm diese Politik, doch machten sich bei ihm auch lutherische Neigungen bemerkbar, die der Herzog nach 1543 beibehielt, ohne sich von der katholischen Kirche zu trennen. So entwickelten sich die Länder Jülich, Kleve, Berg und Mark konfessionell anders als andere Teile des Reiches, ohne landesherrliches Kirchenregiment, ohne durchgreifende Handhabung des ius reformandi und ohne konfessionelle Uniformierung. Katholiken, Lutheraner, später auch Reformierte und streckenweise täuferische Gruppen lebten hier, wenn auch mit unterschiedlicher regionaler Verteilung, nebeneinander. Doch unterlag die Haltung des erst 1592 gestorbenen Herzogs Schwankungen, die durch politische Interessen bedingt waren. So verfolgte er zeitweise eine katholische Konfessionspolitik und erließ 1565 ein Ketzeredikt gegen die Täufer. Auch zwei andere, konfessionspolitisch bedeutsame Vorgänge spielten sich im niederrheinisch-westfälischen Raum ab. 1542 richtete der Kölner Erzbischof und Paderborner Bistumsadministrator Hermann von Wied im rheinischen Erzstift Köln und im kölnischen Herzogtum Westfalen ein evangelisches Kirchenwesen ein, während sein 1545 im Hochstift Paderborn unternommener Reformationsversuch am Widerstand von Domkapitel und Landständen scheiterte. Anfangs ein Gegner der Reformation, war Hermann auch persönlich Protestant geworden. Seinem Beispiel folgte 1543 der Bischof von Münster, Minden und Osnabrück, Franz von Waldeck, der im Hochstift Osnabrück und im Niederstift Münster ein evangelisches Kirchenwesen etablierte. Im Oberstift Münster, dem Kerngebiet des Fürstbistums, gelang ihm das wegen der Haltung des Domkapitels nicht. Franz von Waldeck strebte die Säkularisation seiner Hochstifte und ihre Umwandlung in ein weltliches Erbfürstentum an. Ein Vorbild bot der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, der im Ordensland Preußen die Reformation eingeführt und dieses geistliche Fürstentum 1525 säkularisiert und in ein weltliches Herzogtum umgewandelt hatte. Über den Reformationsversuch Hermanns von Wied und über die Pläne des Franz von Waldeck entschied der Schmalkaldische Krieg, der nach dem Scheitern eines Religionsgespräches auf dem Regensburger Reichstag von 1546 begann und der erste Religionskrieg im Reich war. Karl V. führte diesen Krieg als Strafexpedition gegen die evangelischen Fürsten im Sinne von Reichsacht und Ketzerrecht. Der Krieg endete 1547 nach der Schlacht von Mühlberg an der Elbe mit einer vernichtenden Niederlage des Schmalkaldischen Bundes und mit der Gefangennahme der beiden politischen Führer der Evangelischen, Landgraf Philipp von Hessen und Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen. Hermann von Wied wurde abgesetzt und starb als Protestant. Franz von Waldeck wandte sich wieder der katholischen Seite zu und behielt seine drei Bistümer.
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Die Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg machte für den Kaiser den Weg frei für das Augsburger Interim von 1548. Den Evangelischen wurden lediglich die Beibehaltung des Laienkelchs und die bereits bestehenden Priesterehen konzediert, jedoch nur vorläufig und bis zur endgültigen Entscheidung durch das 1545 eröffnete Konzil von Trient. Nach den Bestimmungen des Interims sollte das Kirchenwesen in den Territorien der evangelischen Reichsstände gestaltet und in die alte Kirche zurückgeführt werden. Tatsächlich beeinträchtigte das Interim das evangelische Kirchenwesen in manchen Gegenden vor allem Oberdeutschlands. Für die katholischen Reichsstände galt das Interim nicht und somit auch nicht das Zugeständnis von Laienkelch und Priesterehe. Für sie galt die Formula reformationis. In Sachsen kam anstelle des Augsburger Interims unter Mitwirkung Melanchthons das Leipziger Interim zustande, das der reformatorischen Lehre näher stand. Schien mit dem Augsburger Interim die Niederlage des Protestantismus im Reich besiegelt zu sein, so führte das neuerliche Vordringen der Osmanen erneut zu einem Umschwung. Dazu trug der 1552 geschlossene Vertrag von Chambord evangelischer Reichsfürsten mit Heinrich II. von Frankreich bei, der den Fürstenkrieg politisch vorbereitete. Der Fürstenkrieg war eine Erhebung evangelischer Fürsten gegen den Kaiser, der zur Flucht von Innsbruck nach Villach gezwungen wurde. Um die Unterstützung Heinrichs II. gegen den Kaiser zu erhalten, gestanden die evangelischen Fürsten dem französischen König die Rolle eines Reichsvikars in den drei zum Reich gehörenden Bischofsstädten Metz, Toul und Verdun und die Besetzung dieser Städte zu, wodurch die Hochstifte Metz, Toul und Verdun dem Reich entfremdet wurden. Ihre endgültige Abtretung an Frankreich folgte 1648 mit dem Westfälischen Frieden. Der Vertrag von Chambord und der Fürstenkrieg ließen in Verbindung mit den Bewegungen der Osmanen die Lage entstehen, in der sich der als Landesherr der österreichischen Länder von der osmanischen Expansion unmittelbar betroffene Ferdinand I. mit evangelischen Fürsten 1552 auf den Passauer Vertrag einigte. Der wichtigste Punkt war die Beilegung der Religionsstreitigkeiten durch einen Religionsfrieden. Dieser sollte innerhalb eines halben Jahres auf einem Reichstag geschlossen werden. Zwar ließ der Augsburger Religionsfrieden noch drei Jahre auf sich warten, doch ebnete der Passauer Vertrag den Weg dorthin. Abschluss der Konfessionsbildung im Luthertum Der Augsburger Religionsfrieden besaß für die politische Abgrenzung des protestantischen und des katholischen Lagers in Deutschland sehr große, für den Fortgang und Abschluss der lutherischen Konfessionsbildung aber keine Bedeutung. Erst recht gilt das für den Katholizismus und die katholische Kirche und für das in Deutschland erst nach 1555 verbreitete Reformiertentum. So ging die Formierung des Luthertums als Konfession auch nach dem Augsburger Religionsfrieden weiter. Das gilt für die innere Lehrentwicklung und somit für die Theologiegeschichte
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des Luthertums, weniger für den äußeren kirchengeschichtlichen Hergang. Es gilt aber auch für die politisch-soziale Seite, die lutherische Konfessionalisierung. In den Jahren nach dem Augsburger Reichstag von 1530 wurden innerhalb des protestantischen Lagers die Auseinandersetzungen um die Abendmahlsfrage fortgesetzt. Innerhalb des Schmalkaldischen Bundes kam es zur Anerkennung der Confessio Tetrapolitana, doch behielt die Confessio Augustana den Vorrang. Dadurch wurde der Übergang der südwestdeutschen Reichsstädte zum Luthertum vorbereitet, wozu die Wittenberger Konkordie von 1536 beitrug. Diese war Ergebnis der Annäherung zwischen Luther und dem Straßburger Reformator Martin Bucer, gewann aber später keine große Bedeutung. 1540 gab Melanchthon der Confessio Augustana eine Neufassung. Seitdem gab es die Confessio Augustana invariata von 1530 und die Confessio Augustana variata von 1540,45 die sich vor allem im Abendmahlsartikel unterschieden. Die Confessio Augustana variata wurde später für die Anhänger Melanchthons, die Philippisten, zur Brücke zum oberdeutschschweizerischen Reformiertentum und damit zum Calvinismus. Während die persönlichen Beziehungen zwischen Luther und Melanchthon offenen Streit verhindert hatten, blühte der Philippismus der Anhänger Melanchthons nach dem Tod Luthers 1546 in Wittenberg auf. Den Philippisten gegenüber standen die Gnesiolutheraner um Matthias Flacius Illyricus, von denen die Philippisten als Kryptocalvinisten unter Häresieverdacht gestellt wurden. Flacius stammte aus Istrien, worauf sein Beiname Illyricus hindeutet. Humanistische Studien hatten ihn über Melanchthon zu Luther geführt, bevor er Professor für Hebräisch in Wittenberg wurde. Er gilt als der bedeutendste Verteidiger der lutherischen Lehre und spielte für die lutherische Konfessionsbildung eine wichtige Rolle. Flacius war der Begründer der evangelischen Kirchengeschichtsschreibung in Deutschland, und zwar mit dem auf seine Anregung hin entstandenen Gemeinschaftswerk der Magdeburger Centurien, die von 1559 bis 1573 in 13 Bänden erschienen. Ihr katholisches Gegenstück bildeten die Annales ecclesiastici des Caesar Baronius aus den Jahren 1588 bis 1607. Die gnesiolutherisch-philippistischen Streitigkeiten prägten in der Theologie des deutschen Luthertums die Jahrzehnte nach Luthers Tod. Man unterscheidet für die Jahre von 1548 bis 1560 den adiaphoristischen Streit zwischen Flacius und Melanchthon, den osiandrischen Streit zwischen Joachim Mörlin und Andreas Osiander, den majoristischen Streit zwischen Nikolaus von Amsdorf und Georg Major und den synergistischen Streit zwischen Johannes Pfeffinger, Victorin Strigel und Matthias Flacius. Diese innerlutherischen Theologenstreitigkeiten erreichten einen Höhepunkt mit dem 1557 von Ferdinand I. initiierten Kolloquium von Worms. Hier sollte noch einmal der Versuch eines Ausgleichs zwischen Katholiken und Protestanten versucht werden. Stattdessen kam es in Worms zum offenen Ausbruch des Streites zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten. Neben diesen gnesiolutherisch-philippistischen Auseinandersetzungen um die richtige
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Theologie gab es seit 1552 eine Neuauflage des Abendmahlsstreites, der von dem Ultralutheraner Joachim Westphal ausging und den Gegensatz zum schweizerischen Reformiertentum vertiefte. Die Überwindung dieser theologischen Streitigkeiten und die Herstellung der konfessionellen Homogenität des Luthertums war Ergebnis der Politik der Fürsten und besonders Kursachsens, Württembergs und Braunschweig-Wolfenbüttels. Auf deren Betreiben arbeiteten Theologen wie Jacob Andreae, Martin Chemnitz und Nicolaus Selnecker zum Ausgleich der innerlutherischen Lehrgegensätze und zugleich zur Abwehr des Reformiertentums eine theologische Konkordienformel aus, die Formula Concordiae46 von 1577. Diese sollte eine verbindliche Auslegung der Confessio Augustana und eine Klärung dessen herbeiführen, was als mit dem Augsburgischen Bekenntnis vereinbar zu gelten hatte, wobei von der Confessio Augustana invariata von 1530 ausgegangen wurde. Nach neuen, jetzt vorwiegend politischen Streitigkeiten um die Unterschrift unter die Formula Concordia, wurde diese 1580 mit den altchristlichen Glaubensbekenntnissen − dem Apostolicum, dem Nicaenum und dem Athanasianum −, mit Luthers Kleinem47 und Großem Katechismus48, seinen Schmalkaldischen Artikeln, der Confessio Augustana invariata, der Apologie Melanchthons zur Confessio Augustana und mit dem Traktat De potestate et primatu papae49 Melanchthons über die Stellung des Papstes zum Konkordienbuch zusammengefasst. 86 Fürsten und Städte oder deren Vertreter und rund 8.500 Pfarrer unterzeichneten das Konkordienbuch, während einige andere evangelische Fürsten die Unterschrift verweigerten. Diese gingen zum Teil bald ins reformierte Lager über. Das Konkordienbuch wurde zur Grundlage der lutherischen Orthodoxie und innerprotestantisch zur trennenden Lehrnorm gegenüber den Reformierten. Erst mit dem Konkordienbuch gab es dogmatischtheologisch das Luthertum endgültig als Konfession, auch wenn die Ausbildung des lutherischen sozio-kulturellen Milieus weiterging. Der Augsburger Religionsfrieden und das landesherrliche Kirchenregiment Der Augsburger Religionsfrieden hatte für die Konfessionsbildung nur insofern Bedeutung, als die Konfessionen sich unter der pax politica von Augsburg theologisch entfalten und ihren Absolutheitsanspruch aufrechterhalten konnten, „wenn auch nur jeweils in ihrem eigenen, durch den Religionsfrieden abgezirkelten territorialen Schutzbereich“50. Das kam den Augsburgischen Confessions-Verwandten, wie die Lutheraner wegen der Confessio Augustana von 1530 genannt wurden, zugute, weil in der 1555 errichteten Friedensordnung das Ketzerrecht des Wormser Edikts keinen Platz mehr hatte. Ohnehin war die lutherische Seite in höherem Maße Gewinner des Friedensschlusses als die katholische. Auch der Ausschluss der Täufer und zunächst auch der Reformierten aus dem Religionsfrieden begünstigte die lutherische Konfessionsbildung mehr als die katholische, deren Ort in der Konzilsaula von Trient und in italienischen und spanischen
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Klöstern, Universitäten und Bischofskurien zu suchen ist. Ganz anders zu bewerten ist die Bedeutung des Religionsfriedens für die politische Abgrenzung des lutherischen wie des katholischen Lagers innerhalb seines Geltungsbereichs und für deren soziale und kulturelle Auswirkungen, ihre Instrumentarien und Strategien im Reich und somit für die Konfessionalisierung in Deutschland. Deshalb sind Fragezeichen hinter die These zu setzen, wonach der Augsburger Religionsfrieden eine erst vom Westfälischen Frieden provozierte Konfessionalisierung eher verhindert habe.51 Das eine Ergebnis des Friedensschlusses war die „politische Koexistenzordnung“ zwischen den beiden großen Konfessionen im Reich, die mit einer „teilweisen Säkularisierung des Friedens- und Freiheits-, Einheits- und Gleichheitsbegriffs im Reich“ verbunden war, so dass „die Einheit des Reiches [...] hinfort weltlicher und politischer Natur“ war und „nur durch die religiöse Spaltung und Vielfalt erhalten werden“ konnte.52 Hingegen löste der Religionsfrieden die theologischen Gegensätze nicht − aber das sollte er auch gar nicht. Nur indem er die Frage der religiösen Wahrheit „in der Schwebe“53 hielt − nur dadurch −, konnte ein politisch-säkularer Frieden zwischen den Konfessionen errichtet werden. Das andere Ergebnis bestand darin, dass der Religionsfrieden die Voraussetzung für die obrigkeitliche territoriale Kirchenverfassung schuf, die für den deutschen Protestantismus charakteristisch wurde. Der Augsburger Religionsfrieden formte die konfessionelle Landkarte Deutschlands, die sich mit dem Westfälischen Frieden im 17. Jahrhundert endgültig verfestigte. Nach mehreren gescheiterten Religionsgesprächen − Hagenau 1540, Worms 1540/41, Regensburg 1541 −, nach dem Schmalkaldischen Krieg und dem Fürstenkrieg wurde der Religionsfrieden möglich, nachdem Moritz von Sachsen ein Jahr nach dem Passauer Vertrag von 1552 gestorben war und Karl V. sich aus den Angelegenheiten des Reiches zurückzuziehen begonnen hatte. Moritz von Sachsen hatte 1542 den Schmalkaldischen Bund verlassen. 1546 trat er gegen Zusicherung der Schutzherrschaft über das Erzstift Magdeburg und das Hochstift Halberstadt auf die Seite des Kaisers und kämpfte im Schmalkaldischen Krieg gegen die protestantischen Fürsten, wobei sein Hauptgegner Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen war. Das Fürstenhaus der Wettiner hatte sein Herrschaftsgebiet in der Leipziger Teilung von 1485 geteilt, wodurch die beiden Linien der Ernestiner und der Albertiner entstanden waren. Die Ernestiner − Luthers Landesherren Friedrich der Weise, Johann der Beständige und Johann Friedrich − besaßen die sächsische Kurwürde und die Kurlande um Wittenberg, Teile der Markgrafschaft Meißen und Teile Thüringens, die Albertiner das Gebiet um Dresden, Meißen und Leipzig, jedoch nicht die Kurwürde. So nannte Moritz sich Herzog von Sachsen. Zum Lohn für seine Parteinahme für den Kaiser erhielt er die sächsische Kurwürde, die Johann Friedrich aberkannt wurde, und einen Teil des ernestischen Territorialbesitzes, vor allem die Kurlande mit Wittenberg. Ein Jahr später wechselte er die Seite und stellte sich gegen den Kaiser, verweigerte die
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Annahme des Augsburger Interims (stattdessen das Leipziger Interim) und sicherte den Protestantismus in Sachsen, bevor er 1552 an die Spitze der Fürstenerhebung gegen den Kaiser trat. Karl V., der nach dem Schmalkaldischen Krieg als Reichsoberhaupt auf dem Gipfel seiner Macht gestanden hatte, sah seine Reichspolitik durch den Fürstenkrieg und den Passauer Vertrag seines Bruders Ferdinand mit den evangelischen Fürsten gescheitert. Nach der vergeblichen Belagerung von Metz zur Rückeroberung dieser von Heinrich II. von Frankreich aufgrund des Vertrags von Chambord besetzten Stadt im Westen des Reiches überließ er die Entscheidungen in Deutschland Ferdinand und leitete seinen Rücktritt ein. 1554 übergab er Neapel und Mailand an seinen Sohn Philipp, dem er 1555 die Niederlande und 1556 Spanien überließ, bevor er im September 1556 das Kaisertum Ferdinand zur Verfügung stellte. Der Religionsfrieden war ein Glied in der Kette von Motiven, die ihn zum Rücktritt veranlassten. Der Religionsfrieden kam auf dem Augsburger Reichstag von 1555 als Übereinkunft zwischen König Ferdinand I. und den Reichsständen zustande. Der Text des Friedensvertrages ist Teil des Reichstagsabschieds vom 25. September 155554 und heißt deshalb Augsburger Religionsfrieden. Der wichtigste Punkt war die Ausdehnung des Landfriedens auf den religiösen Bereich, also des Ewigen Landfriedens von 1495. Es durfte um religiöse Fragen im Reich kein Krieg mehr wie der Schmalkaldische Krieg geführt werden. Doch galt das nur für die katholischen und die auf dem Boden der Confessio Augustana stehenden Reichsstände. Die Täufer blieben von der Friedensgarantie ausgeschlossen und standen weiter unter Ketzerrecht. Dasselbe galt für die Reformierten, die aber 1555 im Reich außerhalb der Eidgenossenschaft noch keine große Rolle spielten. Nach Modifikationen durch den Augsburger Reichstag von 1566 wurden sie erst 1648 in den Religionsfrieden einbezogen. Die Juden genossen einen Sonderstatus und waren vom Augsburger Religionsfrieden nicht betroffen. Den Reichsständen Augsburgischer Konfession − Fürsten, Reichsgrafen und Reichsstädte − wurde wie den katholischen ihr Kirchenwesen garantiert. Das war nicht nur eine Garantie bestehender Verhältnisse. Der Religionsfrieden gab den weltlichen Reichsständen auch für die Zukunft das Recht, von der alten Kirche zur Augsburgischen Konfession oder von der Augsburgischen Konfession zur Kirche des Papsttums überzutreten und den Bekenntnisstand in ihrem Territorium sowie die Glaubens- und Gottesdienstform ihrer Untertanen zu bestimmen, die sich einem solchen Wechsel der Konfession ihres Landesherrn anschließen mussten. Man nannte das später das ius reformandi, wofür der Greifswalder Jurist Joachim Stephani − wohl nicht vor 160455 − die Formel cuius regio eius religio (wes Land, des Glaube) prägte. Verstärkt wurde das Reformationsrecht, indem der Religionsfrieden die Geistliche Jurisdiktion der Bischöfe über die Augsburgischen Confessions-Verwandten in den Territorien lutherischer Fürsten und in evangelischen Reichsstädten sus-
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pendierte, auch wenn es später in Einzelfragen, etwa bei der Ehegerichtsbarkeit, Streitigkeiten gab. Die Bischöfe verloren die Zuständigkeit für Bekenntnis, Kultus und Kirchenordnung der Protestanten, soweit diese unter einem lutherischen Landesherrn lebten. Damit war das Ketzerrecht gegenüber den Lutheranern reichsrechtlich außer Kraft gesetzt. An die Stelle der Geistlichen Jurisdiktion der Bischöfe trat für die Augsburgischen Confessions-Verwandten die Religionshoheit der Landesherren oder Stadträte. Während die evangelischen Reichsstände Religionsfreiheit für die Untertanen verlangten, widersetzten sich die katholischen dieser Lösung, von der erwartet wurde, dass sie einem weiteren Vordringen des Protestantismus förderlich gewesen wäre. Sie gestanden nur den weltlichen Landesherren – nicht den Untertanen – die freie Entscheidung zwischen dem katholischen Glauben und der Augsburgischen Konfession zu. Damit erhielten die Fürsten ein religionspolitisches Instrument, das sie zur inneren Konsolidierung ihrer Territorien und zum Ausbau des landesherrlichen Kirchenregiments nutzten. Eingeschränkt wurde das ius reformandi der Fürsten durch das ius emigrandi der Untertanen. Das ius emigrandi war das Recht zur Übersiedlung in ein Territorium der eigenen Konfession, mit Familie sowie – jedenfalls formal – unter Eigentumsschutz und, bei Leibeigenen, Ablösung der Leibeigenschaft. Das ius emigrandi war von Toleranz oder gar Religionsfreiheit noch weit entfernt. Wenn Axel Gotthard auch zu folgen ist, der hier „weniger das Recht der Untertanen auf Auswanderung“ sieht, sondern die Möglichkeit der Fürsten, „ihnen diese nahezulegen“56, andersgläubige Untertanen also zu vertreiben, so war das ius emigrandi aber doch etwas Neues gegenüber dem mittelalterlichen Ketzerrecht. Die Reichsritterschaft, deren Mitglieder nicht zu den Reichsständen zählten, wurde den Reichsständen insofern gleichgestellt, als auch den Reichsrittern die freie Bekenntniswahl zwischen der alten Religion und der Augsburgischen Konfession − um die Terminologie des Religionsfriedens zu verwenden − zugestanden wurde. In den konfessionell gemischten Reichsstädten wurde die Parität beider Konfessionen auf der Grundlage des status quo garantiert. Dadurch wurde den Stadträten in solchen Städten das ius reformandi verwehrt. Das ius reformandi galt nicht für die geistlichen Reichsstände, also für Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte oder Äbtissinnen. Nach dem Reservatum Ecclesiasticum (Geistlicher Vorbehalt) blieben die geistlichen Territorien und das reichsunmittelbare Kirchengut der katholischen Reichskirche vorbehalten. Ein geistlicher Reichsfürst, der – wie Hermann von Wied in Köln oder Franz von Waldeck in Osnabrück, Münster und Minden – zur Augsburgischen Konfession übertrat, sollte seine geistliche Pfründe und seine landesherrliche Stellung verlieren. Bei der Wahl seines Nachfolgers musste das Domkapitel einen katholischen Kandidaten wählen. Das Reservatum Ecclesiasticum sollte die Säkularisation von geistlichen Territorien und somit eine Politik verhindern, wie sie Franz von Waldeck versucht hatte. Das Reservatum Ecclesiasticum wurde von den Evangelischen nicht
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anerkannt. Zum Ausgleich räumte König Ferdinand ihnen in der Declaratio Ferdinandea57 die Freiheit der evangelischen Religionsausübung für den Adel und die Städte in den geistlichen Territorien ein, soweit sie bereits der Confessio Augustana anhingen. Im Gegensatz zum Reservatum Ecclesiasticum wurde die Declaratio Ferdinandea aber nicht in den Text des Religionsfriedens aufgenommen. Ihre Gültigkeit blieb daher umstritten. Die Declaratio Ferdinandea, das Reservatum Ecclesiasticum und der Status der Reformierten bildeten die wichtigsten Streitpunkte um den Augsburger Religionsfrieden. Mit dem Augsburger Religionsfrieden wurde der gegenseitige Häresievorwurf politisch überwunden, ohne theologisch ausgetragen zu werden. Das Ziel war die Bewahrung der äußeren Einheit des Reiches, was sich in der Praxis mit der Festschreibung der Bikonfessionalität des Reiches verband. Das war ein kaum zu überschätzender Säkularisierungsvorgang, mit dem die Dialektik von Konfessionalisierung und Säkularisierung hervortritt. Das säkularisierende Moment zeigt sich auch daran, dass der Religionsfrieden ohne Mitwirkung des Papstes zustande kam. Wegen der Weigerung Karls V. erlangte der Religionsfrieden keine Geltung im Burgundischen Reichskreis, vor allem in den Niederlanden, die nach dem Burgundischen Vertrag von 1548 formal noch immer zum Reich gehörten, aber dem Kaiser als Landesherrn unterstanden. Dagegen galt er in den österreichischen Ländern, in denen Ferdinand Landesherr war. Die pax politica und die katholische Reichskirche Beide Seiten zogen Nutzen aus dem Religionsfrieden, die lutherische aber weit mehr als die katholische. Dem Gewinn der Lutheraner standen Verluste der Katholiken gegenüber. Die reichsrechtliche Garantie der lutherischen Häresie bedeutete für die katholische Seite den Verlust ihres Absolutheitsanspruchs. Das Kanonische Recht wurde verletzt. Der Reichstag besaß nach dem Kirchenrecht nicht die geringste Kompetenz für die im Religionsfrieden getroffenen Regelungen. Die Katholiken mussten in Augsburg auf das nicht reichsunmittelbare Kirchengut verzichten, das die lutherischen Fürsten bis „zu[r] Zeit des Passauischen Vertrags oder seithero“58 eingezogen hatten. Auch das Reservatum Ecclesiasticum, das die katholische Seite begünstigte, widersprach dem Kanonischen Recht, weil ein zur Augsburgischen Konfession übertretender Bischof seine persönliche Ehre behalten, also kirchlichen Strafen nicht unterliegen sollte. Die Suspension der Geistlichen Jurisdiktion − wenn auch nur bezüglich der Evangelischen − gefährdete die Diözesanordnung. Nur einer der Erzbischöfe und Bischöfe des Reiches stimmte dem Religionsfrieden nicht zu, der Bischof von Augsburg, Kardinal Otto Truchseß von Waldburg. Sein Kanzler Dr. Konrad Braun legte förmlichen Protest ein. In seinem Buch Über die Häretiker hatte Braun 1549 die Ansicht vertreten, dass Verträge, die Häretikern Frieden versprechen, von vornherein ungültig seien. Das war die Nichtigkeitsthese. Bei den Verhandlungen von 1555 war er etwas verbindlicher:
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der Frieden könne nur bis zur Entscheidung durch ein allgemeines Konzil Geltung haben.59 Das war das Interims-Argument. Braun polemisierte gegen die reichsrechtliche Anerkennung der Augsburgischen Konfession, die geplante Regelung hinsichtlich des Kirchengutes und die Suspension der Geistlichen Jurisdiktion. Mit der Nichtigkeitsthese arbeitete auch die Denkschrift des Kardinals Giovanni Morone,60 der im Frühjahr 1555 als päpstlicher Legat am Verhandlungsort in Augsburg weilte. Was Laien als Kirchenrecht festsetzten, sei ungültig.61 Morone stellte die Kollision des Religionsfriedens mit dem Kirchenrecht heraus. Ein Protest des Papstes blieb aus, und das nicht nur deshalb, weil 1555 ein Jahr mit zwei Konklaven war, in dem auf Julius III. der drei Wochen nach der Wahl gestorbene Marcellus II. und auf diesen Paul IV. folgte. „Kanonistisch betrachtet hob der Religionsfriede eine ganze Welt aus den Angeln“62, aber in Rom scheint man die Tragweite, trotz Morones Gutachten, nicht gesehen zu haben. So kam das päpstliche Schweigen einer Tolerierung gleich. Immerhin stand am Ende von Morones Denkschrift der Satz: „Nisi summus pontifex pro bono pacis et sub spe maioris lucri vellet tolerare in aliquibus“63 (Wenn der Papst für einen guten Frieden in der Hoffnung auf größeren Gewinn nicht manches toleriert). Das entsprach dem scholastischen Satz, wonach das geringere Übel hinnehmbar ist, wenn dadurch größeres Übel verhindert wird. Erst 1650 erfolgte mit dem Breve Zelo Domus Dei Innozenz’ X. gegen den Westfälischen Frieden eine formelle Verurteilung aus Rom. Die Nichtigkeitsthese wurde von den katholischen Reichsständen zurückgewiesen. Der Religionsfrieden räumte der katholischen Seite auch Vorteile ein. Auch sie profitierte von der Stabilisierung der politischen Ordnung im Reich, das wegen der faktisch längst eingetretenen Bikonfessionalität vor der Alternative Krieg oder Frieden stand. Die status quo-Garantie des Besitzes am Kirchengut und das ius emigrandi kamen auch Katholiken zugute. Die Geistliche Jurisdiktion der Bischöfe bezüglich der Evangelischen wurde nach dem Wortlaut des Friedens nicht vollständig beseitigt. Das Reservatum Ecclesiasticum diente als Bestandsschutz der katholischen Reichskirche, auch wenn der Verbleib des Erzbistums Köln bei der katholischen Kirche nach dem Übertritt des Erzbischofs Gebhard Truchseß von Waldburg von 1582 nur durch den Ausgang des Kölnischen Krieges entschieden wurde. Die in Augsburg versammelten weltlichen und geistlichen Fürsten und Fürstenberater hatten die Erfahrung des Schmalkadischen Krieges und zuletzt noch des Markgrafenkrieges, der 1552 ganz Franken verwüstete, gemacht. Auch die geistlichen Fürsten teilten die Friedenssehnsucht, die dem Gedanken zugrunde lag, „den Religions- auf dem Landfrieden aufzubauen und also die Wahrheitsfrage auszuklammern“64 und um des Friedens willen Verluste in Kauf zu nehmen. So ließ der Erzbischof von Trier, Johann von Isenburg, wissen, er „were zu allem frieden geneigt und obwol dise furgelauffenen dinge solche sachen weren,
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die S[eine] Ch[urfürstliche] G[naden] ganz schwer zu verantworten, so wolten doch S[eine] Ch[urfürstliche] G[naden] des reichs nutz, wolfart und gemeinen friden bedenken“65 und zustimmen. Besonders galt das für den Kurfürsten und Erzbischof von Mainz, Sebastian von Heusenstamm. Erfüllt von Zweifeln wegen der Erreichbarkeit einer Religionsvereinigung war er schon im April 1554 zu einem „bedingungslosen Religionsfrieden“66 bereit. In der Instruktion vom 11. März 1555 für seinen Vertreter am Reichstag, an dem der am 18. März gestorbene Kirchenfürst nicht mehr teilnahm, gab er neben seinem Willen zum Frieden seiner Bereitschaft zum Verzicht auf die Restitution des Kirchengutes und auf die faktisch ohnehin verlorene Geistliche Jurisdiktion Ausdruck. Damit hatte er wesentlichen Anteil an der grundsätzlichen Entscheidung zum politischen Frieden, die mit dem Vertragsentwurf der Kurfürsten vom 21. März fiel und die Grundlage der endgültigen Fassung des Religionsfriedens vom 25. September 1555 bildete. Kirchenregiment und Kirchenzucht Mit dem ius reformandi der Landesherren verzichtete das Reich auf die Religionshoheit und übertrug sie auf die Fürsten und die Obrigkeiten der Reichsstädte. Zugleich ermöglichte der Augsburger Religionsfrieden mit der Teilsuspendierung der Geistlichen Jurisdiktion der Bischöfe den organisatorischen Aufbau zahlreicher, von der katholischen Kirche getrennter Territorialkirchen, bei denen die räumlichen Grenzen der Kirche mit den Grenzen des Territoriums zusammenfielen. Durch diese Bestimmung des Religionsfriedens wurde das von den Landesherren bereits ausgeübte Kirchenregiment reichsrechtlich sanktioniert. Durch den faktischen Ausfall der geistlichen Gewalt der Bischöfe vor 1555 und durch die Suspendierung dieser Gewalt bezüglich des evangelischen Kirchenwesens seit 1555 vermochten die evangelischen Fürsten die Konfessionskirche ihres Territoriums zu einer staatlichen Einrichtung zu machen und in ihren Behördenaufbau einzufügen. Dabei konnten evangelische Fürsten auch bischöfliche Aufgaben übernehmen, deren Handhabung sie zumeist auf geistliche Behörden übertrugen. Die evangelischen Fürsten verfügten über das in ihrem Territorium liegende Kirchen- und Klostergut. In Sachsen, Hessen und anderen evangelischen Territorien wurden viele Klöster aufgehoben und ihr Besitz umgewidmet oder eingezogen. Man kann diese Klosteraufhebungen nicht generell als Säkularisation im Sinne der Enteignung von geistlichem Gut durch weltliche Gewalten und seiner Nutzung für weltliche Zwecke bezeichnen, obwohl ein großer Teil des Kirchengutes für die Finanzierung der Hofhaltung, für die Landesverwaltung oder für Zwecke wie Brücken- und Wegebau sowie zur Entschuldung eingezogen wurde. In diesen Fällen ist zweifellos von Säkularisation zu sprechen. Doch nahm die Verwendung von (katholischem) Kirchengut für (evangelische) kirchliche Zwecke wie die Besoldung evangelischer Pfarrer verhältnismäßig großen Raum ein. Charakteristisch war, dass das Klostergut häufig als fürstliches bzw.
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staatliches Sondervermögen − teilweise bis heute − erhalten blieb und nicht, wie zumeist bei der Säkularisation von 1803, dem allgemeinen Staatsfiskus zugeschlagen wurde. Teilweise anders lagen die Dinge bei der Nutzung von eingezogenem Klostergut für das Schulwesen und für Universitätsdotierung wie im Falle der 1527 gegründeten Universität Marburg, vor allem aber bei der Verwendung für Aufgaben der Armenpflege. Obgleich die Fürsten und ihre theologischen und juristischen Berater auch in diesem Fall entschuldigend von der Verwendung des Klostergutes ad pias causas (für fromme Zwecke) sprachen, hatte die Reformation mit dem veränderten Stellenwert der guten Werke doch gerade die Säkularisierung der Armenpflege oder Sozialfürsorge eingeleitet. Die Nutzung von Klostergut für Zwecke dieser Art war daher – trotz anderslautender Begründung – ein Vorgang der Vermögenssäkularisation. Mit der Einrichtung der großenteils noch heute bestehenden Landhospitäler für Arme, Blinde und Kranke in aufgehobenen Klöstern Hessens begann seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts die Geschichte der vom Staat getragenen anstaltlichen Sozialfürsorge in Deutschland. Neben der Verfügung über das Kirchengut ging die geistliche Gerichtsbarkeit in den evangelischen Territorien auf die Fürsten über. Das ließ nicht nur landesherrliche Kirchenbehörden entstehen, sondern auch ein evangelisches Kirchenrecht, das auf den Landesherrn als Gesetzgeber zurückging und an die Stelle des Kanonischen Rechts trat. Die Theorie von der Sukzession der evangelischen Fürsten in die suspendierten Rechte der Bischöfe führte zur Lehre und Praxis des fürstlichen Summepiskopats. Dieser erst im 19. Jahrhundert verbreitete Begriff bezeichnet die über die landesherrliche Kirchenhoheit hinausgehende und diese einschließende Kirchengewalt, mit der den evangelischen Landesherren neben der allgemeinen Aufsicht über die Kirche auch die Stellung als summus episcopus (oberster Bischof) zuwuchs. Wenn die (evangelische) Kirche damit unter die Suprematie der weltlichen Obrigkeit bzw. des Staates trat, war das nicht Sakralisierung des Fürsten, sondern ein Stück Säkularisierung der Kirche. Das kirchliche Gesetzgebungs- und Administrationsrecht der Fürsten fand in der Theorie nur eine Grenze im ius divinum (göttliches Recht) der Kirche und in ihren Bekenntnisschriften, obwohl die Grenzen des landesherrlichen Kirchenregiments in der Praxis oft enger gezogen waren. Zu den Gegenständen des landesherrlichen Kirchenregiments gehörten die Kontrolle über die Rechtgläubigkeit und die Gottesdienstformen, die Aufsicht über das Kirchenvermögen und die Pfarrerbesoldung, die Kirchengebäude und die Armenpflege, soweit diese noch dem kirchlichen Bereich zugeordnet war, sowie die Kirchenzucht. Dieser Punkt konnte das gesamte Leben der Menschen erfassen. Dazu gehörten behördliche Maßnahmen gegen Völlerei und Zecherei, Glücksspiel und Müßiggang, Prostitution, Ehebruch und vorehelichen Geschlechtsverkehr, Gotteslästerung und Ungehorsam der Kinder gegen die Eltern,
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aber auch die Verpflichtung zum Besuch von Predigt und Gottesdienst. Diese Dinge wurden nicht nur in Kirchenordnungen geregelt, die es nur auf evangelischer Seite gab, sondern auch in Polizeiordnungen, mit denen die Obrigkeiten gegen Konkubinat, Kuppelei und Unsittlichkeit, Fluchen und Schlägereien, Wirtshausbesuche während der Gottesdienstzeiten und unstandesgemäßen, die sozialen Standesgrenzen verwischenden Aufwand bei Kindtaufen, Hochzeitsfeiern und Begräbnissen sowie gegen Luxus in der Kleidung ebenso vorgingen wie gegen Wucher und Betrug im Wirtschaftsleben. Gerhard Oestreich, von dem dieser Begriff stammt, sah in der Sozialdisziplinierung67 eine Erscheinung des Absolutismus, doch begann dieser soziale Disziplinierungsprozess schon mit der Kirchenzucht des Konfessionellen Zeitalters. Kirchenzucht und obrigkeitlich-kirchliche Sittlichkeitsaufsicht standen im Dienst der konfessionellen Vereinheitlichung, Abgrenzung und Bestandssicherung. Sie schufen in einer Zeit, in der die weltlichen Obrigkeiten noch nicht die Mittel zur Durchdringung des Territoriums bis zu jedem einzelnen Untertanen besaßen, Instrumentarien für den allgemeinen, in den Staatsbildungsprozess eingelagerten und diesen verstärkenden Disziplinierungsprozess. Besonders deutlich ist das bei der kirchlichen Registerführung, die lange vor der Einführung staatlicher Standesregister ein staatliches Personenstands- und Einwohnermeldewesen ersetzte. Die Taufregister, die mit ihren Eintragungen über die Taufen der Säuglinge Geburtsregistern gleichkamen, waren zwar schon im 14. Jahrhundert in Italien und Südfrankreich aufgekommen; als älteste Kirchenbücher aus Deutschland gelten die von St. Theodor in Kleinbasel, das seit 1490 überliefert ist, und das von Buch in der Mark Brandenburg seit 1498. Im Zeichen der konfessionellen Abgrenzung wurde die Registerführung zur Regel und über die Taufregistrierung hinaus um die Eintragung der Eheschließungen und der Sterbefälle bzw. Begräbnisse erweitert. Die Tauf- und Trauregister dienten dem Nachweis der Kinder- oder Säuglingstaufe und der kirchlichen Eheschließung, was wegen der die Kindertaufe verweigernden Täufer und der zwischen den Konfessionen dogmatisch unterschiedlichen Eheauffassungen ein hohes Maß an sozialer Kontrolle ermöglichte, die vor der Reformation verbreitete Illegitimität gesellschaftlich tabuisierte und somit einen wirksamen gesellschaftlichen Ordnungsfaktor bildete. Hinzu kamen als Mittel der konfessionellen Disziplinierung für die Katholiken die Kommunikantenregister, Listen über die Teilnahme an der Eucharistiefeier und insbesondere der Osterkommunion, und im protestantischen Bereich die Konfirmation mit der damit verbundenen Katechismusunterweisung. Die Konfirmation ging auf Bucer im Straßburg von 1534 und auf die Ziegenhainer Zuchtordnung und die Kasseler Kirchenordnung 1538/39 in Hessen zurück. Bei den evangelischen Fürsten trat als Gegenstand des landesherrlichen Kirchenregiments die Prüfung und Berufung der Pfarrer hinzu. Außerdem unterwarfen die evangelischen Obrigkeiten oft auch Fragen des Bekenntnisstandes ihres Territo-
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riums und somit auch theologische Probleme und Glaubensfragen ihrer Ordnungskompetenz. Dagegen war das Kirchenregiment der katholischen Fürsten schwächer ausgebildet, weil es eine Grenze an den Diözesanrechten der Bischöfe fand. Überdies blieb das Kirchenwesen der katholischen Territorien Bestandteil der überstaatlichen römischen Kirche mit ihrer hierarchischen Ordnung und dem Papsttum an der Spitze. Die evangelischen Territorialkirchen waren hingegen, trotz grenzüberschreitender Geltung der Bekenntnisschriften, an die Grenzen des Territoriums gebunden. Sie waren Landeskirchen. Die Reformation hatte das Kirchenregiment der weltlichen Landesherren vorgefunden − und dadurch Förderung erfahren. Doch war das lutherische Landeskirchentum etwas anderes als nur eine durch den Fortfall der Gewalt der Bischöfe ermöglichte Fortführung seiner vorreformatorischen Grundlagen. Dabei stand das landesherrliche Kirchenregiment im Widerspruch zu den ursprünglichen Auffassungen Luthers, die vom Gemeindeideal getragen waren. Erst die Auseinandersetzung mit Müntzer und der Bauernkrieg ließen Luther zu stärker obrigkeitlichen Konzeptionen kommen. Doch war die Übernahme bischöflicher Rechte durch die weltlichen Fürsten für Luther immer nur eine Notlösung. Man spricht von den evangelischen Fürsten als Notbischöfen − ein Ausdruck, den Luther in Briefen vom 19.68 und 25. März 153969 und außerdem in einer Tischrede vom 3. Mai 153970 benutzte, der sonst bei ihm aber nicht belegt ist. Erst bei Melanchthon wurde daraus eine feste Einrichtung, obwohl auch er im landesherrlichen Kirchenregiment eine Gefahr sah.71 Von ihm stammen die Begriffe der custodia utriusque tabulae (Sorge für beide Tafeln des Dekalogs, der Zehn Gebote) und der Verpflichtung des Fürsten dazu als praecipuum membrum ecclesiae (vornehmstes Glied der Kirche). Der Aufbau des Kirchenregiments der evangelischen Fürsten setzte mit dem Speyerer Reichstagsbeschluss von 1526 ein. Den Anfang machte Kurfürst Johann der Beständige von Sachsen mit der 1526 begonnenen kursächsischen Kirchen- und Schulvisitation. Eine kurfürstliche Visitationskommission, die aus einem adeligen Rat, einem bürgerlichen Juristen und zwei Theologen bestand, reiste durch das Land und überprüfte mit den örtlichen Amtmännern durch Befragung der Pfarrer und anderer Personen die kirchlichen Verhältnisse. Untauglich erscheinende Pfarrer wurden entlassen, Änderungen der Gemeindeseelsorge vorgenommen und das kirchliche Vermögen inventarisiert. Superintendenten wurden eingesetzt, die als geistliche Aufsichtsbehörde dem weltlichen Landesherrn unterstanden und Lebensführung und theologische Lehre der Pfarrer zu überwachen hatten. Diese sächsischen Visitationen, für die es mittelalterliche Vorläufer gab, wurden zum Vorbild für die Aufsicht der weltlichen Obrigkeit über die Kirche in anderen Territorien. Das gilt auch für Hessen, obgleich Landgraf Philipp mit der Homberger Synode von 1526 und der dort den Landständen vorgelegten Reformatio ecclesiarum Hassiae eine mehr auf die Autonomie der Gemeinden abzielende Lösung zu verwirklichen suchte, bevor er unter Luthers Ein-
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fluss dem kursächsischen Beispiel obrigkeitlicher Regelung folgte. Zu dieser obrigkeitlichen Durchdringung der Kirche gehört die Sorge für die Ausbildung der Pfarrer. Damit hingen neue Universitätsgründungen zusammen, wenn dabei auch die Juristen- und Beamtenausbildung zumeist im Vordergrund stand. Den Anfang machte Philipp von Hessen 1527 mit der Universität Marburg, bei der der juristischen Fakultät besonderes Gewicht zukam; die Standortwahl war vom Sitz des hessischen Hofgerichts in Marburg abhängig. Doch spielte auch die Pfarrerausbildung eine Rolle. Auf Marburg folgten 1544 Königsberg im Herzogtum Preußen, 1558 Jena, 1576 Helmstedt, 1607 Gießen und 1621 Rinteln an der Weser. Die wichtigsten Instrumente des landesherrlichen Kirchenregiments waren Kirchenordnungen und Kirchenbehörden. Die Kirchenordnungen dienten der Regelung der im Rahmen des Kirchenregiments von den Fürsten übernommenen Aufgaben. Sie traten an die Stelle des Kanonischen Rechts, von dem sie manches übernahmen, und ersetzten es im protestantischen Bereich durch landesherrliche oder städtische Rechtsgebote, wobei die Verfasser der Kirchenordnungen oft führende Theologen waren. Solche Kirchenordnungen, die wie die Visitationen Vorläufer im 15. Jahrhundert hatten, wurden von den evangelischen Landesherren und Stadträten seit 1526 erlassen. In diesem Jahr entstanden Kirchenordnungen im Herzogtum Preußen, in Hessen und in der Reichsstadt Schwäbisch Hall. Wichtig wurde die Braunschweiger Kirchenordnung72 Johannes Bugenhagens von 1528, die den von ihm ausgearbeiteten Kirchenordnungen zugrunde lag, die in Hamburg (1529), Lübeck (1531), Pommern (1534), Dänemark (1537), Holstein (1542), im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel (1543) und in Hildesheim (1544) erlassen wurden. Vorbildfunktion für die Kirchenordnungen in Mecklenburg (1540) und Brandenburg (1553) und anderen Territorien wie Württemberg oder Waldeck gewann die Brandenburg-Nürnberger Kirchenordnung73 von 1533. Die meisten Kirchenordnungen stammen jedoch erst aus den Jahren zwischen 1550 und 1600. Geregelt wurden in den Kirchenordnungen alle denkbaren Fragen des Gottesdienstes und des kirchlichen Rechts, des Schulwesens und der Verwaltung der Kirche, aber auch die Besoldung, die Ausbildung und Einsetzung der Pfarrer. Die theologische Grundlage der Kirchenordnungen bestand in den Bekenntnisschriften, mit denen sie teilweise, besonders im Falle der reformierten Kirchenordnungen, eng verbunden waren. So war der Heidelberger Katechismus74 von 1563 Teil der im gleichen Jahr ausgearbeiteten kurpfälzischen Kirchenordnung.75 Die enge formale und rechtstechnische Verbindung der Kirchenordnungen mit den übrigen landesherrlichen Rechtsgeboten ist ein Anzeichen für den Grad der Verstaatlichung der Kirche. Neben die Kirchenordnungen traten Verwaltungseinrichtungen. Am Anfang standen die noch nicht als Behörde organisierten Visitationskommissionen, wie sie bereits aus dem Spätmittelalter bekannt waren. Eine feste behördliche Struk-
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tur erhielt die obrigkeitliche Kirchenverwaltung mit den Konsistorien der lutherischen und den Kirchenräten der reformierten Territorien. Diese Behörden entsprachen den landesfürstlichen Zentralbehörden und traten als Sonderbehörden neben Hofrat und Hofkammer. Zumeist waren die Konsistorien paritätisch mit Juristen und Theologen unter dem Vorsitz eines Juristen besetzt. Den Konsistorien unterstanden die leitenden Geistlichen der lutherischen Territorien, die Generalsuperintendenten. Auf der Ebene der Pfarrei lag die Leitungsfunktion beim Pfarrer und bei dem – zumeist adeligen – Kirchenpatron. Eine Mitwirkung der Gemeindemitglieder durch Presbyter gab es nur in wenigen reformierten Territorien und dort auch nur in beschränktem Umfang. Das wichtigste Vorbild für den Aufbau der lutherischen Kirchenbehörden und der Verwaltung der evangelischen Kirche wurde mit der Großen Kirchenordnung des Herzogtums Württemberg von 155976 geschaffen. Diesem Vorbild folgten die meisten anderen lutherischen Territorien einschließlich Sachsens. Das Muster für die obrigkeitliche Gestaltung des reformierten Kirchenwesens der reformierten Territorien bot der Heidelberger kurpfälzische Kirchenrat, dem die kurpfälzische Kirchenratsordnung von 156477 zugrunde lag. Das landesherrliche Kirchenregiment der katholischen Fürsten fand, trotz seiner Begrenzung durch das Kanonische Recht und die Diözesanrechte der – als Reichsfürsten und Landesherren ihrer Hochstifte von den weltlichen Fürsten unabhängigen – Bischöfe, seinen Ausdruck in ähnlichen behördlichen Institutionen, wie sie in den evangelischen Territorien entstanden. Voran ging das Herzogtum Bayern, in dessen Hauptstadt München 1570 der Geistliche Rat als landesherrliche Kirchenbehörde eingerichtet wurde. Der bayerische Geistliche Rat wurde 1577 im katholischen Teil Badens und danach von anderen katholischen Fürsten und auch in manchen geistlichen Territorien nachgeahmt. Beispiele dafür sind der 1601 in Köln errichtete Kölner Kirchenrat oder der 1602 in Münster gegründete Geistliche Rat. Auch die geistlichen Ratsbehörden der katholischen Fürsten waren mit Juristen und Theologen besetzt und für die Angelegenheiten des landesherrlichen Kirchenregiments zuständig, soweit diese nicht den Bischöfen vorbehalten blieben; im Falle der geistlichen Fürstentümer waren die Funktionen von Landesherr und Bischof in einer Person vereinigt. Episkopalismus und Territorialismus Die theoretische Begründung des lutherischen landesherrlichen Kirchenregiments ging von zwei Gedanken aus. Zum einen galt die Hoheit der Fürsten in Kirchensachen als unmittelbar von Gott verliehen und als Bestandteil der Landeshoheit. Zum anderen konstruierte man die Verpflichtung des Fürsten für die Sorge um den Glauben der Untertanen und für ihre bekenntnismäßig richtige Glaubensunterweisung, weil sich dafür der Fürst vor Gottes Richterstuhl verantworten müsse. Das wird auch als cura religionis bezeichnet, die nach den Auffassungen des 16. Jahrhunderts aber nur die potestas ecclesiastica externa (äußere Kirchengewalt) umfasste. Davon geschieden
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wurde die potestas ecclesiastica interna (innere Kirchengewalt), die den Geistlichen vorbehalten bleiben sollte, wobei die cura religionis die Pflicht des Fürsten zum Eintreten für die reine Lehre einschloss, aber nicht die Befugnis zur Entscheidung, was die reine Lehre sei. Im 17. Jahrhundert wurde die Trennung zwischen äußerer und innerer Kirchengewalt noch schärfer vorgenommen, wobei für die potestas ecclesiastica externa zunächst der Begriff ius in sacra und später der Begriff ius circa sacra Verwendung fand. Die potestas ecclesiastica externa der evangelischen Landesfürsten wurde in der evangelischen Kirchenrechtstheorie des 16. Jahrhunderts mit der Suspendierung der Geistlichen Jurisdiktion der Bischöfe über die evangelischen Territorien und somit mit dem Augsburger Religionsfrieden begründet. Man nennt diese Lehre daher Episkopalismus − nicht zu verwechseln mit dem katholischen reichskirchlichen oder nationalkirchlichen Episkopalismus. Die Theorie des Epikopalismus wurde vor allem von Joachim Stephani vertreten. Im 17. Jahrhundert löste sich die Begründung des evangelischen landesherrlichen Kirchenregiments vom Episkopalismus und ging über zum Territorialismus. Ein Hauptvertreter dieser Lehre war der Jurist Theodor Reinkingk, der die rechtlichen Grundlagen des landesherrlichen Kirchenregiments der evangelischen Fürsten nur noch teilweise im Augsburger Religionsfrieden sah und daneben die Landeshoheit, die mittelalterliche advocatia ecclesiae und das byzantinische Staatskirchenrecht anführte. Im Eintritt der evangelischen Fürsten in die suspendierten Rechte der Bischöfe sah er die Wiederherstellung des ihnen aufgrund ihrer Landeshoheit ursprünglich zustehenden Kirchenregiments, doch hielt auch Reinkingk an der Unterscheidung von äußerer Kirchengewalt und der dem Fürsten entzogenen inneren Kirchengewalt fest. Grenzen der landesherrlichen Kirchenhoheit In der Verfassungswirklichkeit von Reich, Territorien und Kirche waren dem landesherrlichen Kirchenregiment oft engere Grenzen als in der Theorie der Juristen gezogen. Das gilt nicht nur für die Begrenzung des Kirchenregiments der katholischen Fürsten durch das Kanonische Recht und die Diözesanrechte der Bischofe oder für die faktische Suspendierung des ius reformandi der Stadträte konfessionell gemischter Reichsstädte durch den Augsburger Religionsfrieden. Hinzu kamen Fälle wie die der Herzogtümer Jülich, Kleve und Berg und der Grafschaft Mark, in denen das landesherrliche Kirchenregiment keine über gelegentliche Versuche seiner Wahrnehmung hinausgehende Rolle spielte. Außerdem konnten, trotz aller Verfolgungsmaßnahmen, die Täufer und andere außerhalb der Konfessionskirchen stehenden Glaubensgruppen niemals ganz ausgerottet werden. Als Einschränkung des landesherrlichen Kirchenregiments und Hindernis für die konfessionell-katholische Uniformierung erscheint bei den geistlichen Territorien die zwar umstrittene und umkämpfte, aber doch konfessionspolitisch hier und da erinnerte und bisweilen wirksame Declaratio Ferdinandea von 1555, die dem landsässigen Adel und den
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Städten der geistlichen Fürstentümer die Freiheit der evangelischen Religionsausübung beließ. Mit dem Adel waren aber oft auch dessen bäuerliche Hintersassen evangelisch. Eine wichtige Einschränkung des landesherrlichen Kirchenregiments konnte sich durch äußere machtpolitische Einwirkungen ergeben, etwa in Nordwestdeutschland durch spanische Truppen in protestantischen oder durch niederländische in katholischen Gegenden. Im Raum standen auch, nicht nur im katholischen Bereich, konfessionsspezifische theologische, wenn auch in der Realität wenig bedeutsame Beschränkungen des landesherrlichen Kirchenregiments. So spielten im Reformiertentum die Vorstellungen Calvins eine Rolle, die dazu führten, dass zumindest der Gedanke einer Mitwirkung der Gemeindeglieder an den kirchlichen Angelegenheiten durch Presbyter und durch deren Teilnahme an Synoden verbreitet war, auch wenn das Kirchenregiment der Landesherren in den reformierten Territorien dadurch nicht infrage gestellt wurde. Die wichtigste Einschränkung des landesherrlichen Kirchenregiments ergab sich vielfach durch die Landstände. In der Grafschaft Ostfriesland standen die reformierten Landstände unter Führung der Stadt Emden dem lutherischen Grafenhaus der Cirksena gegenüber. In der Grafschaft Lippe entstand mit der 1600 erlassenen Konsistorialordnung eine straff organisierte Obrigkeitskirche mit einem Konsistorium als landesherrlicher Kirchenbehörde. Doch gelang es dem reformierten Grafen Simon VI. nicht, die am Luthertum festhaltende lippische Landstadt Lemgo seiner reformierten Landeskirche einzufügen. In den seit 1609/14 brandenburgischen Territorien am Niederrhein und in Westfalen, Kleve und Mark, verteidigten die Landstände im 17. Jahrhundert den Status der reformierten und der lutherischen Kirche als lediglich unter staatlicher Aufsicht stehende, aber sich durch Synoden selbst verwaltende Territorialkirchen. Besonders deutlich ist das in den österreichischen Ländern, die im 16. Jahrhundert von der Reformation in lutherischer und in reformierter Gestalt erfasst wurden. In Ober- und Niederösterreich, der Steiermark, Kärnten und Krain erfuhr der Protestantismus entscheidende Unterstützung durch die ganz überwiegend evangelischen adeligen Landstände. Die konfessionellen Auseinandersetzungen mit den katholischen Habsburgern stellten hier, wie in Ostfriesland, zugleich einen politischen Ständekampf dar. Dabei waren die habsburgischen Landesherren wiederholt zu bedeutenden Zugeständnissen an die protestantischen Landstände gezwungen, so Erzherzog Karl von Innerösterreich 1578 auf dem Generallandtag zu Bruck an der Mur in der Steiermark mit der Brucker Religionsspazifikation. Das Täufertum Die wichtigste Nebenströmung der lutherischen, der reformierten und der katholischen Konfessionsbildung war das Täufertum, das eine täuferische Konfession als gesellschaftliche Großgruppe weder ausbilden konnte noch wollte. Das
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Täufertum gelangte nicht über eine Untergrundexistenz hinaus und wurde scharf unterdrückt, aber nie ausgelöscht. Das Täufertum entstand auf dem Boden der Reformation. Die Täufer boten eine andere Theologie, eine andere Frömmigkeit und vor allem einen anderen Kirchenbegriff als Lutheraner und Reformierte oder die katholische Kirche und widersprachen den Arrangements der Reformatoren mit den weltlichen Obrigkeiten. Anfänge des Täufertums in Zürich Das Täufertum entstand in Zürich unter Anhängern Zwinglis, die sich in Bibelkreisen zusammenfanden und über Zwinglis Haltung gegenüber dem Rat von Zürich nach der ersten Zürcher Disputation vom Januar 1523 enttäuscht waren. Von ihnen ging seit 1525 die Täuferbewegung aus. Dabei stand die Taufe anfangs noch nicht im Mittelpunkt. Zu den Erträgen der Forschungen von Andrea Strübind gehört der zeitliche Primat des Streites um den Kirchenbegriff vor der Taufkontroverse, den Zwinglis Aussagen im Zürcher Täuferprozess von 1525 über die Täufer Simon Stumpf, Konrad Grebel und Felix Manz bestätigen. Diese planten schon im Herbst 1523 „die Bildung einer neuen Kirche, die nur aus wahrhaft Gläubigen bestehen sollte und sich damit von den vermeintlichen Christen absonderte“, und hatten ihn zur Errichtung einer solchen Kirche aufgefordert.78 Diese neue Kirche zielte aber „nicht nur auf eine gesellschaftliche Minderheit [...]. Vielmehr hegten die Initiatoren die Hoffnung, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung als christusgläubig erweisen werde.“79 Es ging den radikalen Anhängern Zwinglis, die über dessen Ablehnung solcher Wege zu Gegnern wurden, also zunächst nicht um Separation, „sondern um die Konstitution von sichtbarer, wahrer Kirche Jesu Christi, die eine Gemeinde der Gläubigen zu sein hatte“80. In die Vorgeschichte der Trennung zwischen Zwingli und den Zwinglianern, die zu Täufern wurden, gehört der kurz nach der ersten Zürcher Disputation entstandene Streit um den Zehnten. Das war eine kirchliche Abgabe, wie sie auch die Zürcher Landgemeinden an das Stiftskapitel des Großmünsters zu Zürich leisten mussten. 1523 verlangten die Landgemeinden vom Zürcher Rat die Abschaffung des Zehnten, weil dessen Erhebung nicht durch die Bibel begründet sei. Der Rat bestand auf der Zehntpflicht und wurde darin von Zwingli unterstützt, der in einer Predigt die Zuständigkeit der weltlichen Obrigkeit in äußeren Angelegenheiten der Kirche verteidigte. Nach der zweiten Zürcher Disputation vom Oktober 1523 überließ Zwingli die Umsetzung des Disputationsergebnisses − Abschaffung der Messe und der Bilderverehrung − dem Rat. Das war der Hintergrund für die Forderung der Radikalen nach einer neuen Kirche der Gläubigen. Im Landgebiet Zürichs kam es nun zur Verweigerung der Kindertaufe. Nach einer Disputation über die Tauffrage vor dem Zürcher Rat im Januar 1525 bestätigte der Rat die Taufpflicht in den ersten acht Tagen nach der Geburt. In einer Bibelstunde der Radikalen in Zürich fiel als Antwort darauf am 25. Januar 1525 die Entscheidung zur ersten Erwachsenentaufe, die Grebel Ende Januar 1525 an
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dem Zollikoner Pfarrer Jörg Blaurock vollzog, der danach selbst weitere Erwachsenentaufen vornahm. Damit entstand die erste Täufergemeinde. Die Verfolgung der Täufer begann ein Jahr später mit dem ersten Täufermandat des Zürcher Rates, der 1526 die Todesstrafe auf die Erwachsenentaufe festsetzte und diese 1527 an Felix Manz durch Ertränken in der Limmat vollzog. Nachdem sich Zwingli den Forderungen der Radikalen versagt und die Hoffnung, die Mehrheit der Bevölkerung werde sich auf die Seite einer Gläubigenkirche stellen, sich als utopisch erwiesen hatte, führte der Weg in die Absonderung zu einem neuen Selbstverständnis der Täufer, die sich als kleiner Kreis Auserwählter zu sehen begannen. Dazu gehörte die Abgrenzung der Täufer von der Welt. Man unterschied dualistisch ein Reich des Lichts unter der Herrschaft Christi, dem die Täufer sich selbst zurechneten, und ein Reich der Finsternis unter der Herrschaft des Teufels, das man mit der Welt, mit Staat und Politik und mit den entstehenden Konfessionskirchen identifizierte. Dieses Selbstverständnis stand hinter der Brüderlichen Vereinigung, die die Schweizer Täufer 1527 in Schleitheim bei Schaffhausen schlossen. In den von dem ehemaligen Benediktinerprior Michael Sattler verfassten Schleitheimer Artikeln finden sich wichtige Grundsätze des Täufertums: Erwachsenentaufe der Glaubenden, Eidesverweigerung, Ablehnung des Wehrdienstes und der Annahme von Beamtenstellen, Verständnis der christlichen Gemeinde als Gemeinschaft der Glaubenden, freie Wahl der Prediger, Abendmahl als Ausdruck der christlichen Gemeinschaft und Absonderung von der Welt. Mit den Schleitheimer Artikeln wurde der Bruch mit der Zürcher Reformation vollzogen und eine Freikirche als radikale Alternative zur obrigkeitlich verfassten Volkskirche begründet. Diese radikale Alternative kam im 16. Jahrhundert einer radikalen Infragestellung der bestehenden Gesellschaft gleich, was die brutale Verfolgung erklärt, der die Täufer ausgesetzt waren. Im Reich beruhte die Verfolgung der Täufer auf dem Wiedertäufermandat von 1529,81 das auf dem zweiten Speyerer Reichstag von evangelischen und katholischen Reichsständen beschlossen wurde. Folgt man der älteren Forschung und auch noch Hans-Jürgen Goertz, so trat diese freikirchliche Konzeption in Schleitheim hervor, nachdem das Täufertum mit der Niederlage der Bauern im Bauernkrieg als sozialrevolutionäre Bewegung gescheitert war. Folgt man Strübind, so war der Schritt von der neuen Kirche der Gläubigen als Volkskirche in die Absonderung als Minderheitskirche wegen des Widerspruchs von Gläubigenkirche und Volkskirche in der Theologie der Täufer von vornherein angelegt. Die Schleitheimer Artikel bezeichneten demnach nicht den Neubeginn eines Weges in das Freikirchentum, sondern setzten den Weg in die Absonderung fort, der „das Täufertum sukzessiv von der sie umgebenden gesellschaftlichen Ordnung isolierte“82. Ausbreitung des Täufertums Die sozialgeschichtliche Täuferforschung nahm die Polygenesis der Täuferbewegung an. Strübind vertritt die monogenetische Entstehung des Täufertums in Zürich. Beide Positionen sind hypothetisch, doch
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hat die monogenetische Deutung größere Wahrscheinlichkeit für sich. Man weiß nichts über andere Entstehungsorte. Tatsache ist aber, dass es nach den Zürcher Anfängen mehrere Ausprägungen des Täufertums gab. Dazu gehörte die Richtung des Hans Hut, der 1526 in Augsburg die Taufe empfing und in Mittel- und Oberdeutschland und besonders in Österreich Anhänger fand, aber im Gegensatz zu den Schweizer Täufern keine Täufergemeinden gründete. Das hing damit zusammen, dass die Erwachsenentaufe bei ihm nicht Absonderung von der Welt bedeutete, sondern Vorbereitung für die apokalyptische Scheidung der Auserwählten von den Verworfenen. 1527 leitete Hut die Märtyrersynode in Augsburg, bevor er in demselben Jahr im Gefängnis umkam. Sozialgeschichtlich interessant war das mährische Täufertum, das mit Balthasar Hubmaier zunächst nach Nikolsburg und später nach Austerlitz gelangte. Anders als Hut, mit dem er 1527 in Nikolsburg ein Streitgespräch führte, trat Hubmaier nicht für Wehrlosigkeit ein. Er verfasste Schriften, darunter Vom christlichen Tauf der Gläubigen, worin er die Erwachsenentaufe rechtfertigte. Seit 1533 fand das mährische Täufertum einen Führer in Jakob Huter. Die nach ihm als Hutterer bezeichneten Täufer organisierten ihre Lebensweise nach dem Prinzip der Gütergemeinschaft in Bruderhöfen. Im 17. Jahrhundert gingen Teile von ihnen in die Ukraine, von wo aus sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten gelangten. Eine Variante des Hut’schen Täufertums war der Kreis um Pilgram Marpeck, der in Straßburg, in der Schweiz, in Mähren und in Augsburg auftrat, aber keine Täufergemeinden bildete. Marpeck war in der Ablehnung der Obrigkeit und in der Absonderung von der Welt weniger radikal als die Schleitheimer oder die Hutterer. Das niederdeutsche und niederländische Täufertum ging von dem Kürschner Melchior Hoffmann aus, der als Prediger durch Livland, Schweden, Schleswig und Holstein zog und die Lehre Luthers verbreitete, bis er in Straßburg mit den Täufern in Berührung kam. In Straßburg verkündete er die baldige Wiederkunft Christi, die durch die Säuberung der Welt von den Gottlosen ermöglicht und durch die Aufrichtung eines Friedensreiches vorbereitet werden müsse. Das war der chiliastische Gedanke des Tausendjährigen Reiches. Nach seiner Verhaftung konnte er 1530 nach Emden fliehen. Von Emden aus fand er Widerhall in den Niederlanden, wo das melchioritische Täufertum zu einer umfangreichen Bewegung wurde. 1533 wurde er in Straßburg erneut verhaftet und für den Rest seines Lebens eingekerkert. Die Täuferherrschaft in Münster 1534/35 Das melchioritische Täufertum führte zur Täuferherrschaft von 1534/35 in Münster. Seit Anfang 1533 war Münster eine evangelische Stadt; nur der Dom, die Kollegiatstifte und die Klöster blieben katholisch. Doch geriet das reformatorische Kirchenwesen in eine Krise durch die Wassenberger Prädikanten, die in Münster Aufnahme gefunden hatten und sich in ihren Vorstellungen den Täufern näherten. Die lutherische Ratspartei
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und die sich radikalisierenden Gruppen um den von Zwingli beeinflussten und jetzt unter den Eindruck der Wassenberger geratenden Reformator Bernd Rothmann standen einander gegenüber. Nachdem Rothmann sich zum Täufertum bekannt hatte, wurde Münster Ziel von Flüchtlingsströmen friesischer und niederländischer Täufer, unter ihnen der Bäcker Jan Matthys aus Haarlem und der Schneider Jan van Leiden, der bei dem Tuchhändler Bernd Knipperdolling Wohnung fand. Die Täufer fanden in Münster zahlreiche Anhänger. Im Februar 1534 vermochten sie bei einer Ratswahl die Herrschaft an sich zu bringen. Danach konnten Jan Matthys und Jan van Leiden im Bunde mit Rothmann und Knipperdolling in Münster ihre Herrschaft aufrichten und die Stadt als das neue Jerusalem der Endzeiterwartung ausrufen. Von außen von den Truppen des Bischofs Franz von Waldeck und anderer katholischer und evangelischer Reichsfürsten belagert, wurde in Münster die Ratsverfassung durch die Ordnung der Zwölf Ältesten unter dem Propheten Jan Matthys ersetzt. Nachdem dieser im Kampf mit den Belagerern umgekommen war, gelang es Jan van Leiden, sich als König an dessen Stelle zu setzen und sein Regiment als endzeitliches Reich vor der Wiederkunft Christi auszugeben. Mit blutigen Exzessen und Exekutionen und unter Einsatz der Manipulation von religiösen Massenpsychosen wurde eine Terrorherrschaft aufgerichtet.83 Deren Zweck bestand in der Vertreibung der nicht Bekehrungswilligen, im Zwang zur Bekehrung zum Täufertum für die Bleibenden und in der Stabilisierung der Täuferherrschaft in der Situation wachsenden Drucks durch die Belagerungsarmee und zunehmenden Hungers und Mangels infolge der Abschnürung von der Lebensmittelzufuhr. Die Täuferherrschaft in Münster wird heute nicht mehr als sozialrevolutionärer Aufstand der Armen erklärt, weil sich herausgestellt hat, dass alle Bevölkerungsschichten daran beteiligt waren. Unter den Führern waren die Vertreter der bürgerlichen Oberschicht Münsters stärker vertreten als Angehörige des Kleinbürgertums oder der Unterschicht. Die tonangebende Schicht der bürgerlichen Honoratioren verlor in der Täuferzeit ihre kommunale Spitzenstellung nicht, sondern konnte sie durch Zusammengehen mit den fremden Täuferführern ausbauen. Die Täuferherrschaft in Münster muss als vorwiegend religiös motiviertes Phänomen der schwärmerischen Religiosität gedeutet werden. Das mennonitische Täufertum Vor der Zeit der Täuferherrschaft in Münster gab es drei Ausprägungen des Täufertums: das Schweizer Täufertum der Schleitheimer Artikel mit seiner Absonderung von Kirche und Gesellschaft, das chiliastisch-spiritualistische Hut’sche Täufertum und das apokalyptisch-chiliastische melchioritische Täufertum. Nach der Niederschlagung der Täuferherrschaft im Sommer 1535, der Hinrichtung der Täuferführer und der Steigerung Täuferverfolgung erhielt das Täufertum in Menno Simons einen neuen Führer. Dieser frühere katholische Priester aus Westfriesland trat 1536 zum Täufertum über. Auf ihn gehen die Mennoniten zurück, eine bis heute weltweit verbreitete täuferi-
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sche Glaubensgemeinschaft und neben den zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Kreis um John Smyth und Thomas Helwys entstandenen Baptisten die wichtigste christliche Religionsgruppe täuferischen Charakters. Im 16. Jahrhundert verbreiteten sich die Mennoniten zuerst in Ostfriesland, Schleswig und Holstein und in den nördlichen Niederlanden und griffen von dort aus auf Norddeutschland bis zum Herzogtum Preußen aus, aber auch in die Pfalz und nach Hessen. Ein wichtiges Zentrum des Mennonitentums wurde das niederrheinische Krefeld, wo sich seit etwa 1583 sowie im Laufe des 17. Jahrhunderts mennonitische Flüchtlinge ansiedelten, die den Grundsatz der Absonderung von der Welt allmählich weniger streng handhabten und Krefeld zu einem Zentrum der Seidenmanufaktur machten. Spätzwinglianismus, Jean Calvin und der Calvinismus Die reformatorischen Städte der Schweiz sowie Konstanz und Mühlhausen im Elsass gingen seit 1527 Christliche Burgrechte genannte Bündnisse ein. Die katholischen Orte schlossen 1529 die Christliche Vereinigung mit Ferdinand von Österreich. Nachdem die Reformation in einem Teil der Untertanengebiete Eingang gefunden hatte, verlangte Zürich, dass die Gemeinden der Untertanengebiete selbst über ihre Zugehörigkeit zum alten oder neuen Glauben entscheiden sollten, während sich die katholischen Orte dieser Lösung widersetzten. Nach der Bildung der Christlichen Vereinigung schlug Zwingli einen Angriffskrieg gegen Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug und Luzern vor. So kam es 1529 zum ersten Kappeler Krieg, an dessen Ende der erste Kappeler Landfrieden stand, mit dem die katholischen Orte das Bündnis mit Ferdinand aufgeben und den Gemeinden der Untertanengebiete die Entscheidung über die Annahme der Reformation zugestehen mussten. Nun ging Zwingli daran, mit Philipp von Hessen, sowie mit Venedig und Frankreich ein antihabsburgisches Bündnis aufzubauen, mit dessen Hilfe er die Kräfte gewinnen wollte, um die katholischen Orte politisch ausmanövrieren und der Reformation öffnen zu können. Von Zürich über Bern und Genf Im Jahr 1531 drängte Zwingli wieder zum Krieg, den er theologisch begründete. Die fünf katholischen Orte hätten die Reformation behindert und sich dadurch an Gott vergangen. Es entspreche dem Willen Gottes, sie zu bestrafen. Der Angriff ging im zweiten Kappeler Krieg jedoch von den inzwischen besser gerüsteten katholischen Orten aus, die die Zürcher Vorhut in der Schlacht von Kappel schlugen. Zwingli, der als Feldprediger an dem Feldzug teilnahm, verlor sein Leben. Der Krieg endete nach einer weiteren Niederlage der Zürcher 1531 mit dem zweiten Kappeler Landfrieden, in dem die Autonomie der Selbstherrlichen Orte in Glaubenssachen festgesetzt wurde. In den Untertanengebieten erhielten die Gemeinden das Recht zum Wechsel von der Reformation zurück zur alten Kirche, durften aber auch bei der Reformation
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bleiben, während für sie der Übertritt zur Reformation praktisch unmöglich wurde. Das war ein Vorteil für die Katholiken. Die Christlichen Burgrechte wurden aufgehoben. So wurde 1531 dem weiteren Vordringen der Reformation in der deutschen Schweiz politisch ein Riegel vorgeschoben. Nach Zwinglis Tod trat Heinrich Bullinger an seine Stelle, der als Hauptträger des Spätzwinglianismus bis 1575 im Mittelpunkt der reformierten Kirche Zürichs stand. Nach 1531 ging die Reformation in der französischen Westschweiz von Bern aus und erfasste das savoyische Waadtland, Neuenburg und 1535 Genf. Hier predigte der aus der Dauphiné stammende Guillaume Farel seit 1532 reformatorisch. Darauf folgte Lausanne, wo Bern 1536 eine Disputation veranstaltete und die Abschaffung der Eucharistiefeier durchsetzte. Politisch sicherte Bern die Genfer Reformation durch den Ewigen Vertrag, ein 1536 geschlossenes Bündnis, während die reformatorische Schweiz sich 1536 nach der Nichtbeteiligung an der Wittenberger Konkordie mit der Confessio Helvetica (prior)84 eine erste gemeinsame Bekenntnisgrundlage schuf. Auf dieses erste Helvetische Bekenntnis folgte 1549 mit dem von Bullinger und Calvin unterzeichneten Consensus Tigurinus85 eine Einigung in der Abendmahlsfrage. Dadurch festigte sich die Verbindung der Zürcher und der Genfer Konfessionsbildung, bevor 1566 Bullingers Confessio Helvetica posterior86 von beiden Seiten als verbindlich anerkannt wurde. Jean Calvin in Genf Der 1509 in Noyon in der Picardie geborene Jean Calvin war nach humanistischen und juristischen Studien in Orléans, Bourges und Paris 1533/34 zu reformatorischen Standpunkten gelangt. Nach Aufenthalten in Angoulême und Nérac, wo er Faber Stapulensis aufsuchte, kam er 1535 als Flüchtling nach Basel. Hier schloss er die erste Fassung seiner Institutio Christianae Religionis ab, die 1536 erschien.87 In Basel ergaben sich Kontakte mit Bullinger und Farel, die von 1536 bis 1538 zu einem Aufenthalt in Genf führten, bevor er 1538 als Prediger der französischen Flüchtlingsgemeinde nach Straßburg zurückkehrte. 1539 erschien eine zweite Auflage der Institutio, während Calvin auch an den Religionsgesprächen in Hagenau (1540), Worms (1540/41) und Regensburg (1541) teilnahm und 1541 mit Melanchthon zusammentraf. 1541 kehrte er nach Genf zurück und arbeitete dort die Ordonnances ecclésiastiques (Genfer Kirchenordnung) aus, hinter der seine Auffassung stand, dass die Kirche von obrigkeitlicher Bevormundung frei sein müsse. Doch scheiterte er am Genfer Rat, weil er die Kirchenzucht der weltlichen Obrigkeit entziehen und der Kirche vorbehalten wollte. Im November 1541 legte Calvin eine zweite Fassung der Ordonnances ecclésiastiques vor,88 die dem Rat in wesentlichen Punkten Einfluss gab. Dabei spielte die Vier-Ämter-Verfassung eine Rolle, die Calvin nach dem Straßburger Vorbild Bucers für die Genfer Kirche einführte. Die vier Ämter waren die der Pastoren, Doktoren, Presbyter und Diakone. Den Pastoren oblagen Predigt und Sakramentsverwaltung, den Doktoren die theologische Bildung der Gemeinde. Aus Presbytern und Pastoren setzte sich das consistoire zusammen, das das gesamte
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Gemeindeleben einschließlich der Ehesachen und der Glaubensgesinnung der Menschen überwachte. Die Pastoren bildeten die Vénérable compagnie des pasteurs. Die Diakone waren für Verwaltung des Kirchenvermögens und Armen- und Krankenpflege zuständig. Der Rat ernannte die Pastoren und Doktoren, während Presbyter nur Mitglieder des Rates werden konnten. Außerdem entschied bei schweren Verbrechen nicht das Konsistorium, sondern der Rat. Nachdem Calvin 1542 mit dem Catéchisme de l’Église de Genève89 (Genfer Katechismus) eine Bekenntnisschrift verfasst hatte, wurde in den folgenden Jahren, in denen 1543 eine Neuausgabe der Institutio erschien, die Kirchenordnung in Genf mit großer Strenge durchgesetzt. Hinzu traten Auseinandersetzungen Calvins mit theologischen Kritikern, so mit dem Humanisten Sebastian Castellio um Fragen der Trinität, der Prädestination und der Duldung von Ketzern. 1551 ließ Calvin den französischen Arzt Hieronymus Bolsec verhaften und aus Genf verbannen, weil dieser seine Prädestinationslehre angegriffen hatte. Schlimmer erging es dem spanischen Arzt Michael Servet, dem Entdecker des Blutkreislaufes. Als Antitrinitarier, d. h. als Kritiker der Trinitätslehre, wurde Servet auch von der Inquisition verfolgt; auf der Durchreise nach Italien wurde er in Genf erkannt und verhaftet, von Calvin angeklagt, vom Genfer Stadtrat zum Tode verurteilt und 1553 hingerichtet. Calvin begründete seine Haltung gegen Servet mit der Sorge um dessen Seelenheil, während Castellio mit seiner unter dem Pseudonym Martinus Bellius verfassten Schrift De haereticis, an sint persequendi von 1554 Stellung bezog und für Duldung des Antitrinitariers eintrat. Eucharistie- und Obrigkeitslehren Auch nach dem Consensus Tigurinus von 1549 gab es die unterschiedlichen Abendmahlsauffassungen Zwinglis und Calvins. Die Unterschiede gegenüber der lutherischen und der katholischen Sakramentstheologie bestanden ohnehin fort. Die katholische Lehre von der Eucharistie wurde 1551 in Trient fixiert90 und unterschied sich nicht grundsätzlich von den Lehren, die sich im Laufe des Mittelalters herausgebildet hatten. Kernstücke waren die Lehre von der Realpräsenz, die – auf dem IV. Laterankonzil 1215 zum Dogma erhobene – Lehre von der Transsubstantiation und der Doppelcharakter der Eucharistie als Sakrament und als Opfer im Sinne einer Wiederholung bzw. Vergegenwärtigung des Opfertodes Christi. Realpräsenz bedeutet, dass der Leib und das Blut Christi in der Gestalt des Brotes (Hostien, Oblaten) und des Weines real gegenwärtig sind. Die reale Gegenwärtigkeit wird durch Konsekration (Wandlung) durch den Priester erreicht, die als Wesensverwandlung der Substanzen von Brot und Wein – daher Transsubstantiation – erscheint, obgleich die Akzidentien, die äußeren Erscheinungsformen des Brotes und des Weines, sich nicht ändern. Luther teilte mit der katholischen Lehre die Realpräsenz, lehnte aber den Opfercharakter ab und kannte keine Transsubstantiation. Doch ist das Abendmahl auch bei ihm ein Sakrament. Realpräsenz bedeutet bei Luther, dass Christus im unverwandelten Brot und Wein real gegenwärtig ist und dem Gläubigen
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beim Genuss des Abendmahls durch seinen Leib und sein Blut zur Gewissheit wird. Gegen diese Auffassung wandte sich Zwingli, der im Brot nur das Brot und im Wein nur den Wein sah und das Abendmahl als Gedächtnismahl zur Erinnerung an Jesus Christus betrachtete. Eine vierte Variante bot Calvin mit seiner Lehre von der Spiritualpräsenz. Calvin lehrte die reale Gegenwart Christi im Abendmahl, die aber nur durch den Geist bewirkt werde. Das Abendmahl sei ein wirksames Zeichen und biete das, was es abbildlich darstelle, ohne selbst wirksam zu sein. Ähnliche Differenzierungen zeigen die Obrigkeitslehren und die Vorstellungen über das Verhältnis von Kirche und weltlicher Obrigkeit, wobei hier nur auf Zwingli und Calvin einzugehen ist. In seinen 67 Schlussreden91 von 1523 vertrat Zwingli die Auffassung, dass die Kilchhöri, die Einzelgemeinden, Repräsentanten der Kirche sein sollten. Dennoch rechtfertigte er 1523 in der Predigt Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit92 die Zuständigkeit der weltlichen Obrigkeit in äußeren Angelegenheiten der Kirche. In der Praxis überließ er auch die Entscheidung in inneren Fragen dem Zürcher Stadtrat. Zwingli wollte die Selbständigkeit der Kirche nicht aufgeben, so dass der Rat bei ihm Verfügungen in kirchlichen Dingen nicht aus eigener Kompetenz traf, sondern im Namen der christlichen Gemeinde und an deren Stelle. Doch entstand daraus das Zürcher Staatskirchentum. Zwingli nahm die weltliche Obrigkeit nur als christliche Obrigkeit wahr, wobei die Lehre von der Heiligung des weltlichen Zusammenlebens und somit von Staat und Gesellschaft den Ausdruck Theokratie bis zu einem gewissen Grade rechtfertigen kann. Charakteristisch für ihn war aber auch, schon 1523 im 42. Artikel seiner Schlussreden, seine politische Widerstandslehre. Danach durfte auch ein erblicher Monarch im Falle von Unfähigkeit von der Volksmehrheit abgesetzt werden. Anders war der Ansatz bei Calvin, obwohl auch er, dem Postulat der Heiligung des menschlichen Zusammenlebens entsprechend, alle Bereiche der Gesellschaft zu verchristlichen suchte. Wie Luther, so unterschied auch Calvin zwei Regimente, nämlich „Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung“93. Beide waren „zwei völlig verschiedene Dinge“. Doch war die bürgerliche Ordnung, also die weltliche Obrigkeit, von Gott verordnet, hatte einen „Auftrag von Gott“, war mit „göttlicher Autorität ausgestattet“ und übte die „Statthalterschaft“ Gottes aus. Obrigkeit war auch für Calvin immer nur als christliche Obrigkeit denkbar. Trotz dieser theokratischen Bestimmung der weltlichen Obrigkeit sollte die Kirche in allen ihren Organen von obrigkeitlicher Bevormundung frei sein, da beide Regimente völlig geschieden waren. Die Amtsträger der Kirche sollten „auf Grund der einhelligen Meinung und Billigung des Volkes“ unter der Leitung der Pastoren ausgewählt werden,94 also frei von Eingriffen der weltlichen Obrigkeit. Der bürgerlichen Ordnung gestand Calvin nicht zu, „über Religion und Verehrung Gottes nach ihrem eigenen Ermessen Gesetze zu erlassen“. Pflicht der weltlichen Obrigkeit war es für ihn, „die äußere Verehrung Gottes zu fördern und zu
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schützen, die gesunde Lehre der Frömmigkeit und den guten Stand der Kirche zu verteidigen“. Doch stand die weltliche Obrigkeit dabei gegenüber der Kirche in einer dienenden Funktion. Tatsächlich sahen die Dinge in der Praxis in Genf ganz anders aus. Doch war nach Calvin der weltlichen Obrigkeit auch dann Gehorsam zu leisten, wenn sie ungerecht war. Forderte sie aber Ungehorsam gegen Gott, so gab es nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung und somit zum Widerstand“95. 1559 − Epochenjahr des Calvinismus Das Reformiertentum war Ergebnis der Reformation in der Schweiz und des Zusammenfließens der Zürcher und der Genfer Konfessionsbildung, was aber zunächst kaum über die Schweiz, das angrenzende oberdeutsch-elsässische Gebiet und verschiedene Orte in Frankreich hinausreichte. Das änderte sich mit dem Wirken Calvins und der Ausstrahlung Genfs, das nach der Rückkehr Calvins in die Rhônestadt 1541 innerhalb weniger Jahre zum international wichtigsten Zentrum des Protestantismus wurde. Dazu trugen entscheidend Fremde bei, die als Studenten oder Religionsflüchtlinge nach Genf kamen wie der 1548 dorthin geflohene Franzose Théodore de Bèze (Theodor Beza), der Schotte John Knox oder der Niederländer Philipp Marnix van Sint-Aldegonde. Diese und viele andere wurden in Genf Schüler Calvins und trugen seine Lehren in ihre Länder, wenn sie nicht, wie Beza, von Genf aus für den Protestantismus in ihrer Heimat tätig waren. So wurde Genf zum katalytischen Ort des internationalen Calvinismus. 1559 war ein Epochenjahr des Calvinismus. In diesem Jahr wurde in Genf die Akademie unter Beza gegründet, während Calvins Institutio in ihrer letzten und endgültigen Fassung erschien. In Frankreich fand 1559 die erste reformierte Nationalsynode statt, auf der die Confessio Gallicana verabschiedet wurde. 1559 kehrte Knox aus Genf nach Edinburgh zurück. In Polen lassen sich die Dinge nicht so genau auf das Jahr 1559 datieren. Doch fällt die Wirksamkeit Johannes à Lascos (Jan Laski) in seiner Heimat in die Jahre zwischen seiner Rückkehr aus Emden 1556 und seinem Tod 1560. In Deutschland begann 1559 die Regierungszeit des Kurfürsten Friedrich III. von der Pfalz, mit dessen Übertritt zum Reformiertentum die Kurpfalz um Heidelberg seit 1560 das erste Territorium des Reiches mit einem reformierten Kirchenwesen wurde. Das Jahr 1559 besaß auch für die politische Geschichte Zäsurcharakter. Der 1559 geschlossene Frieden von Cateau-Cambrésis beendete die Hegemonialkämpfe Frankreichs und Habsburg-Spaniens um Italien und bestätigte die Vorherrschaft Spaniens, besiegelte aber auch das mit der Abdankung Karls V. eingetretene Ende der habsburgischen Universalmonarchie. In Frankreich geriet die Monarchie 1559 mit dem Tod Heinrichs II. in eine dynastische Krise, die sich mit den konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen den Katholiken und Protestanten und mit Kämpfen des Hochadels verband und in die Bürgerkriege führte.
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Straßburg, Genf und die reformierten Hohen Schulen Die Gründung der Akademie in Genf war das Werk Calvins. Doch gab es dafür ein Vorbild in Gestalt der Hohen Schule zu Straßburg, die mit der Straßburger Reformation entstanden war. Calvin hatte während seiner Straßburger Zeit an dieser Hochschule gelehrt, der der Humanist Johannes Sturm von 1538 bis 1581 als Rektor vorstand. Als Nachfolger Bucers suchte Sturm eine vermittelnde Position zwischen den Konfessionen zu finden. Dennoch wurde die Straßburger Akademie zur Keimzelle der reformierten Hohen Schulen. Die erste Hochschulgründung nach dem Vorbild Straßburgs war die Genfer Akademie, die unter Beza großen Zulauf und bedeutenden Einfluss auf die Bildung der reformierten Theologen und Prediger West- und Osteuropas erlangte. Bei Calvins Tod zählte sie rund 1500 Schüler und Studenten. Auf die Genfer Akademie folgten reformierte Akademien in Deutschland, Frankreich und Schottland. Teilweise handelte es sich um Reorganisationen bestehender Universitäten wie im Falle von Heidelberg oder St. Andrews in Schottland, teilweise um Neugründungen, mit denen der Hochschultyp der reformierten Hohen Schule Verbreitung fand. Am Anfang standen in Deutschland das als Ausweichinstitution für die Heidelberger Universität nach der lutherischen Restauration in der Kurpfalz 1578 von dem reformierten Pfalzgrafen Johann Casimir in Neustadt an der Weinstraße gegründete Casimirianum, das 1585 geschlossen wurde, und das 1582 im anhaltinischen Zerbst eingerichtete Gymnasium Illustre. Wichtiger wurde die 1584 gegründete Hohe Schule zu Herborn in der Grafschaft Nassau-Dillenburg, auf die 1591 die Hohe Schule zu Burgsteinfurt in der westfälischen Grafschaft Steinfurt folgte. Bremen erhielt eine reformierte Hohe Schule, deren Aufbau 1610 abgeschlossen wurde, bevor mit der Hohen Landesschule in Hanau eine weitere reformierte Hochschule entstand. Aus Frankreich sind die 1601 in Sedan und 1604 in Saumur gegründeten Hugenottenakademien zu nennen. Bei den reformierten Hohen Schulen waren Gymnasium und Hochschule organisatorisch verbunden. Die Hochschulen besaßen formal keinen Universitätsrang und konnten nicht den Doktorgrad vergeben. Das hing mit dem Fehlen päpstlicher und – in Deutschland – kaiserlicher Universitätsprivilegien zusammen, die Voraussetzung für eine reguläre Universitätsgründung und für das Recht zur Verleihung akademischer Grade waren. Wegen der Ausschließung der Reformierten vom Augsburger Religionsfrieden war mit kaiserlichen Privilegien für die Gründung von Universitäten durch reformierte Landesherren nicht zu rechnen. Wie die Universitäten, so besaßen sie neben theologischen und artistischen zumeist auch juristische und medizinische Lehrstühle. Sie waren in ein acht- oder neunklassiges Gymnasium, die schola privata, und in die schola publica geteilt, die den Unterricht der artes-Fakultät und die Vorlesungen der drei höheren Fakultäten umfasste. In Straßburg unternahm Sturm 1566 einen Reformversuch, mit dem eine stärkere Abgrenzung des universitären Teils der Akademie von ihrem schulischen Unterbau erreicht werden sollte. Doch kam das erst an den reformierten Hohen
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Schulen in Deutschland zustande. Die Genfer Akademie galt lange als Muster, nach dem das reformierte Hochschulwesen Frankreichs, Schottlands und Deutschlands organisiert wurde. Doch ging die Herborner Hochschule direkt auf das Straßburger Vorbild – bzw. auf die in Straßburg nicht verwirklichten Reformpläne Sturms – zurück und war nach dem Universitätsmodell ausgestaltet, während Genf dem Typ eines Gymnasiums mit akademischem Oberbau entsprach. Herborn wurde zum Modell für die anderen reformierten Hohen Schulen in Deutschland.96 Eine reformierte Prägung besaßen im 17. Jahrhundert auch die brandenburgische Universität Frankfurt an der Oder und die Universität Marburg. Die Universität Duisburg war der einzige Fall, bei dem in Deutschland die Gründung einer mit allen Privilegien ausgestatteten Universität möglich war, die von Anfang an reformierten Charakter trug. Hier konnte der Kurfürst von Brandenburg bei der Universitätsgründung 1655 auf ein schon im 15. Jahrhundert dem Herzog von Kleve erteiltes, aber nicht zur Universitätsgründung genutztes Gründungsprivileg zurückgreifen. Neben diesen Hochschulen suchten Studenten aus reformierten deutschen Territorien die Universität Basel und in starkem Maße niederländische Hochschulen auf, vor allem die 1575 gegründete Universität Leiden. Praedestinatio duplex und calvinische Theologie Calvins lateinische Institutio Religionis Christianae, 1541 nach der Erstfassung von 1536 ins Französische übertragen, wurde nach der letzten Fassung von 1559 bereits ein Jahr danach ins Französische und 1572 ins Deutsche übersetzt. Dieses Werk, dessen Titel in deutschen Ausgaben als Unterricht in der christlichen Religion erscheint, war die bedeutendste Zusammenfassung der christlichen Glaubenslehre von reformatorischer Seite im 16. Jahrhundert. Eine zentrale Stellung nahm in der Theologie Calvins die Prädestinationslehre ein, die für die Reformation allgemein ein theologisches Problem von großer Bedeutung bildete. Prädestination ist die vom persönlichen Tun des Menschen unabhängige und von ihm nicht beeinflussbare, vor seiner Geburt, ja vor der Erschaffung der Welt von Gott selbst getroffene Vorherbestimmung jedes einzelnen Menschen entweder zur ewigen Seligkeit oder zur ewigen Verdammnis. Man spricht deshalb von Praedestinatio duplex (doppelte Prädestination), wie Calvin sie mit Nachdruck vertrat: „Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. […] Dieser Ratschluß ist, das behaupten wir, hinsichtlich der Erwählten auf Gottes unverdientes Erbarmen begründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit. Den Menschen aber, die er der Verdammnis überantwortet, denen schließt er nach seinem zwar gerechten und unwiderruflichen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben zu!“97
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Die Prädestinationslehre war keine Erfindung der Reformation. Augustinus vertrat sie zu Anfang des 5. Jahrhunderts im Pelagianischen Streit gegen Pelagius, der die Prädestination ablehnte und die Willensfreiheit des Menschen hervorhob. Das war im Grunde schon derselbe Streit, wie er elf Jahrhunderte später zwischen Erasmus von Rotterdam und Luther geführt wurde, der die Willensfreiheit verneinte. Doch hatte sich Augustins Lehre im Mittelalter nicht durchsetzen können, bevor sie in der Reformation Bedeutung erlangte. Bei Luther stand die Prädestinationslehre im Hintergrund seiner Rechtfertigungslehre. Da Luther den Glauben nicht von der freien Entscheidung des Menschen abhängig machte, sondern an den Ratschluss Gottes band, war damit die völlige Entwertung des freien Willens im Sinne von Augustins Prädestinationslehre verbunden, was im Streit mit Erasmus in Luthers Schrift De servo arbitrio von 152598 zum Ausdruck kam. Melanchthon vertrat auch hier eine mittlere Linie. Nach seiner Auffassung war zwar die ewige Seligkeit unabhängig von den Bemühungen und Anstrengungen des Menschen. Doch sah er eine Wahlmöglichkeit des einzelnen Menschen in der Annahme oder Ablehnung des göttlichen Angebotes der ewigen Seligkeit. Aufgegeben wurde die Lehre von der doppelten Prädestination im Luthertum erst mit der Konkordienformel von 1577. Die Konkordienformel verwarf die Praedestinatio duplex und erklärte die Verdammung der Gottlosen nicht mit deren Vorherbestimmung zur Verdammnis, sondern mit ihrer aktiven Ablehnung des Wortes Gottes. Dagegen kannte Zwingli die Prädestination und interessierte sich für die Zeichen, an denen der Einzelne seine Vorherbestimmung zur ewigen Seligkeit oder zur ewigen Verdammnis erkennen sollte. Doch schwächte er diese Erkennbarkeit ab, indem nach seiner Lehre der Glaube nur ein aus der Vorherbestimmung zur ewigen Seligkeit folgendes, aber kein notwendiges Zeichen dieser Vorherbestimmung war, obgleich ihm der Glaube als untrügliches Zeichen der Vorherbestimmung zur ewigen Seligkeit erschien. Aber Zwingli wies darauf hin, dass es auch Vorherbestimmung zur ewigen Seligkeit ohne daraus folgenden Glauben geben könne. Das war ein wichtiges Argument für das Festhalten an der Kindertaufe und gegen die von den Täufern propagierte Glaubens- oder Erwachsenentaufe. In das Zentrum der Theologie rückte die Prädestinationslehre bei Calvin. Calvin betrachtete gute Werke als gottgewollte Frucht der Vorherbestimmung des Einzelnen zur ewigen Seligkeit und somit als Zeichen dafür. Doch gab es hier eine dialektische Beziehung, weil die guten Werke für ihn als menschliches Handeln zugleich Anlass zum Zweifel an der Vorherbestimmung zur ewigen Seligkeit gaben. Für Calvin stand fest, dass die Vorherbestimmung der einen für die ewige Seligkeit die Vorherbestimmung der anderen für die ewige Verdammnis bedeutete. Doch fehlten nach Calvin dem Menschen die Maßstäbe zum Begreifen der Gerechtigkeit Gottes. Seit Beza wurde die Prädestinationslehre zu einem der wichtigsten Unterscheidungspunkte im Streit der Konfessionen.
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Es gab auch Richtungen des Reformiertentums, in denen die Prädestinationslehre nicht ausgeprägt war, wie auch Gegner der strengen Lehre von der doppelten Prädestination auftraten. Das gilt vor allem für die reformierte Kirche der Niederlande, von der sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Remonstranten abspalteten, die freiere Auffassungen vertraten. Die Remonstranten werden nach dem Leidener Professor Jacobus Arminius auch Arminianer genannt. Arminius lehrte, dass Gott zwar von Anfang an beschlossen habe, nur den Gläubigen die ewige Seligkeit zu geben, und dass der Mensch den Glauben nicht durch eigene Bemühung, sondern nur durch Gottes Gnade erlangen könne. Doch konnte sich der Mensch nach Arminius auf diese Gnade vorbereiten, aber auch vom Glauben abfallen. Viele Gelehrte und Intellektuelle wie Hugo Grotius waren Remonstranten. Ihnen gegenüber standen die Contreremonstranten, benannt nach der Schrift Kontraremonstranz des Leidener Professors Franciscus Gomarus. Der Streit um die Prädestination beschäftigte 1619 die Synode von Dordrecht in Holland, an der neben niederländischen Vertretern auch Abgesandte aus England, Deutschland und der Schweiz teilnahmen. Die Dordrechter Synode verdammte die Lehre der Remonstranten und fasste die Prädestinationslehre zusammen. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts und vollends in der Aufklärung des 18. verlor sich die Prädestinationslehre aus dem Zentrum der reformierten Theologie. Der Calvinismus und die Bürgerkriege in Frankreich In Frankreich setzte 1534 die scharfe Verfolgung der Protestanten ein. Am Anfang stand die Plakat-Affäre, die durch ein Pamphlet gegen die hl. Messe ausgelöst wurde, das bis in das königliche Schloss von Amboise gelangt war. Franz I. trat an die Spitze der Gegner der Protestanten und wohnte der Verbrennung Verurteilter in Paris bei. Doch wurde die Hinrichtungswelle mit Rücksicht auf die Beziehungen zu den lutherischen Fürsten des Reiches 1535 durch das Edikt von Coucy eingestellt. Nach wenigen Jahren gingen die Verfolgungen weiter. 1540 wurde den Parlements die Zuständigkeit für die Ketzerprozesse gegen die Protestanten übertragen. 1543 stellte die Sorbonne als Entscheidungshilfe für Richter in Ketzerprozessen in den 29 Artikeln die Kernpunkte der Glaubenslehre und daneben eine Liste über 65 als häretisch verdächtigte Bücher zusammen. Nach dem Frieden von Crépy zwischen Franz I. und dem Kaiser entfielen 1544 die Gründe für die Rücksichtnahme auf die lutherischen Fürsten. Es kam zu Verhaftungen, Folterungen und Massenverbrennungen. Dazu gehörten die Maßnahmen von 1544 in der Provence zur Ausrottung der Waldenser, die sich der Reformation angeschlossen hatten und nun der Verfolgung zum Opfer fielen, wobei 1000 bis 2000 Menschen getötet, verstümmelt oder als Ruderknechte auf die Galeeren verschleppt wurden. Trotz der Unterdrückung breitete sich der Protestantismus in Frankreich zwischen der Plakat-Affäre und dem Tod Franz’ I. 1547 aus, blieb aber eine Bewegung von unten ohne politische Führergestalten und kam nie aus
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der Minderheitenrolle heraus. Nur theologisch hatten die Protestanten Häupter in den beiden Franzosen Farel und Calvin, die von Genf aus durch Schriften, Briefe, Schüler und Abgesandte nach Frankreich hineinwirkten. Frankreich war das Land, auf das Genf die stärkste Ausstrahlung gewann. Durch Calvins Institutio Religionis Christianae trat in Frankreich der Einfluss Luthers zurück, während der französische Protestantismus eine calvinistische Prägung erhielt und eine Erscheinungsform des Calvinismus wurde. Nach dem Tod Franz’ I. wurden die Protestantenverfolgungen zwischen 1547 und 1559 gesteigert. 1547 errichtete Heinrich II. in Paris die Chambre ardente als Sondergericht für Ketzerprozesse. 1551 wurden im Edikt von Châteaubriant die Ketzerverfolgungen in allen Einzelheiten geregelt, bevor das Edikt von Compiègne 1557 für das Bekenntnis zur reformatorischen Lehre die Todesstrafe festsetzte. Nach dem Frieden von Cateau-Cambrésis von 1559 ging der König sogar gegen Mitglieder des Pariser Parlement vor, was zum Feuertod des protestantischen Parlamentsrats Anne Du Bourg führte. Protestanten aus allen Schichten mit Ausnahme des Hochadels kamen auf die Scheiterhaufen. Dennoch breitete sich der Protestantismus weiter aus und erreichte neben Handwerkern und Kaufleuten auch Teile der Landbevölkerung und seit etwa 1550 großbürgerliche Schichten und Adelige. 1558 traten einflussreiche Angehörige des Hochadels zum Protestantismus über, so Antoine de Bourbon, der König von Navarra und Sohn der Marguerite d’Angoulême, sein Bruder Louis de Condé und die Brüder François d’Andelot und Gaspard de Coligny. Damit gewann der französische Protestantismus politische und militärische Führer. Die Anfänge der Église réformée de France Trotz der Unterdrückungsmaßnahmen entstanden unter Heinrich II. protestantische Gemeinden, églises dressées, zuerst 1541 und somit noch unter Franz I. nach dem Vorbild der Straßburger Flüchtlingsgemeinde in Meaux, dann 1555 in Paris. In den fünfziger Jahren bildete sich ein Netz von Gemeinden in ganz Frankreich. Noch vor dem Tod des am 10. Juli 1559 gestorbenen Königs fand vom 25. bis 29. Mai 1559 in Paris die geheime erste Nationalsynode der französischen Protestanten statt. Die Synode verabschiedete die 40 Artikel umfassende Confession du Foy und schuf damit eine Bekenntnisschrift für ganz Frankreich, die 1571 auf der Synode von La Rochelle mit einigen Textänderungen angenommen wurde und seitdem Confessio Gallicana – nach dem Ort der Synode auch Confession de La Rochelle – genannt wird.99 Als Kirchenordnung kam 1559 die Discipline ecclésiastique hinzu.100 So formierte sich in Frankreich der Calvinismus als Konfession und brachte eine organisierte protestantische Minderheitskirche hervor. Für diese Kirche wurde seit den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts die Bezeichnung réformée gebräuchlich, die auf die Katholiken zurückging, die polemisch von der religion prétendue réformée (angeblich reformierte Religion) sprachen. Daraus wurde die Selbstbezeichnung der französischen Protestanten, etwa 1580 bei Beza in seiner Histoire ecclésiatique des
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églises réformées au royaume de France. So entstand die Bezeichnung Église réformée de France (Reformierte Kirche von Frankreich). Das wirkte sich auf den Sprachgebrauch in Deutschland aus, wo man calvinistische oder philippistisch-calvinistische Kirchenbildungen bis heute reformierte oder evangelisch-reformierte Kirchen nennt. Neben reformiert kam in den 1560er Jahren die Bezeichnung Hugenotten auf, die wahrscheinlich sprachlich auf Eyguenots (Eidgenossen) zurückging und nach 1685 Selbstbezeichnung der nach der Aufhebung des Edikts von Nantes aus Frankreich exulierten Calvinisten wurde, die auch Réfugiés (Flüchtlinge) genannt wurden. Die Politisierung des französischen Calvinismus Seit 1559 waren die Protestanten in Frankreich eine konfessionelle Minderheit, die wegen der Vertreter des Hochadels und Verwandter des Königshauses an ihrer Spitze einen politischen Faktor darstellten. Das Jahr 1560 brachte nach dem Tode Heinrichs II. in der kurzen Regierungszeit seines Sohnes Franz II. die Politisierung des französischen Protestantismus um die Häupter des Hauses Bourbon, Antoine de Navarre und Louis de Condé, denen das lothringische Haus Guise gegenüberstand. Die Guise waren streng katholisch und versuchten, eigene politische Ziele zu erreichen. Die Häupter dieser Dynastie waren der Erzbischof von Reims, Kardinal Charles de Lorraine, sein Bruder François de Guise und der Herzog von Aumale, Claude de Guise, ein Bruder der beiden anderen. Die Guise konnten in Spanien, Deutschland und den katholischen Teilen der Schweiz Truppen werben, während die Hugenotten aus der Pfalz und aus reformierten Teilen der Schweiz Soldaten erhielten. Doch kam es jetzt noch nicht zum Bürgerkrieg, obwohl die Verschwörung von Amboise, die blutig zuungunsten der Hugenotten ausging, den Bürgerkrieg vorwegzunehmen schien. Stattdessen führte der Tod Franz’ II. 1560 zur Thronbesteigung seines erst zehn Jahre alten Bruders Karl IX., für den seine Mutter Katharina von Medici die Regentschaft übernahm. Beraten von ihrem Kanzler Michel de L’Hôpital verfolgte sie unter Hinnahme der konfessionellen Koexistenz eine Politik der Mäßigung, für die sie 1560/61 die Generalstände gewann. 1561 kam es zum Religionsgespräch von Poissy, das für die reformierte Seite von Beza und für die katholische von dem Jesuitengeneral Diego Laínez geführt wurde, aber nicht den von der Regentin erhofften Ausgleich brachte, sondern eine Verhärtung der konfessionellen Fronten. Die Regentin stützte sich gegen die Guise auf die Prinzen von Condé, die Brüder Coligny und ihren hugenottischen Anhang. In dem von L’Hôpital ausgearbeiteten Januaredikt von Saint-Germain von 1562 erhielten die Protestanten das Recht zur Abhaltung von Gottesdiensten außerhalb der Städte. Eine Zusatzinstruktion gestattete Hausgottesdienste innerhalb der Städte. Außerdem wurde die Abhaltung von Synoden und Konsistorien legalisiert. Diesen Zugeständnissen stellte sich der katholische Hochadel um das Haus Guise entgegen, der einen Machtzuwachs des protestantischen Adels um die Häuser Bour-
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bon und Coligny fürchtete. Am 1. März 1562 kam es zum Massaker von Vassy in der Champagne, bei dem Bewaffnete des Herzogs von Guise die zum Gottesdienst versammelten Protestanten überfielen und etwa 60 von ihnen erschlugen. Das war der Auftakt zu den Bürgerkriegen, die als Kampf einer katholischen und einer protestantischen Hochadelsgruppe erschienen. Die konfessionellen Bürgerkriege Bei der Beurteilung der Bürgerkriege schwankt die Forschung zwischen der Betonung ihres Charakters als Religions- oder Konfessionskriege und der Hervorhebung der politischen Aspekte. Protestantische Kirchenhistoriker sprechen davon, dass es den Hugenotten in diesen Kriegen, mit Ausnahme des letzten seit 1585, trotz des politisch-militärischen Aussehens des Konflikts vor allem um die Religion gegangen sei.101 Aber auch französische Allgemeinhistoriker bezeichnen die Bürgerkriege als guerres de religion102 (Religionskriege). Hingegen weist Ilja Mieck diese Etikettierung zurück.103 Richtig ist, dass die konfessionellen Gegensätze mit der dynastischen Krise des Königshauses der Valois nach dem Tod Heinrichs II. und wegen des drohenden Erlöschens der Dynastie zusammentrafen. Außerdem kam Karl IX. 1560 als Kind zur Königswürde und stand unter der Regentschaft seiner Mutter Katharina von Medici, die ihren Versuchen zur Rettung der Krone nicht das nötige Gewicht geben konnte. Die dynastische Krise suchte der Hochadel für die Ausweitung seiner Stellung auf Kosten des Königtums zu nutzen. Dabei trat er gespalten in zwei rivalisierende Adelsgruppen auf, wobei das konfessionelle Moment zum Unterscheidungsmerkmal und Integrationsfaktor wurde, indem sich das Haus Guise an die Spitze der katholischen Partei stellte, während die Bourbonen die Führung der protestantischen Partei übernahmen. Auch auswärtige Mächte griffen ein, wobei Spanien hinter den Katholiken und England und einige der reformierten Fürsten oder Grafen Deutschlands hinter den Protestanten standen. Das Königshaus lavierte zwischen den Fronten, verlor aber immer mehr an Einfluss. Im Hintergrund stand die krisenhafte Konjunkturentwicklung. Die mit Preisanstieg für Getreide, Geldentwertung, sinkender Kaufkraft des Geldes und mit der Öffnung der Preis-Lohn-Schere verbundenen sozialen Krisenerscheinungen führten, so 1579 in der Dauphiné, zu Unruhen und Aufständen neben den Bürgerkriegen. Die Bürgerkriege bildeten kein ununterbrochenes Kontinuum. Auf Kampfhandlungen folgten Friedensschlüsse und längere Zeiten der Waffenruhe. Die Kämpfe erfassten nie ganz Frankreich. So blieben Paris und der größte Teil des Landes, abgesehen von den Jahren 1588 bis 1594, stets unter der Kontrolle des Königtums. Eine wirkliche Bedrohung der Monarchie trat erst in den späten achtziger Jahren ein, als das Haus Guise und die katholische Partei sich offen gegen Heinrich III. stellten. Schlachten spielten keine große Rolle, sondern Massenermordungen, die von Katholiken an Protestanten und von Protestanten an Katholiken verübt wurden. Daneben fällt die Taktik des politischen Mordes auf,
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dem Führergestalten zum Opfer fielen. Auf katholischer Seite wurden 1563 François de Guise und 1588 dessen Söhne Henri und Louis de Guise ermordet, auf protestantischer 1569 Louis de Condé und 1572 Gaspard de Coligny. Auch Heinrich III. erlag 1589 einem politischen Mord. Acht Bürgerkriege lassen sich unterscheiden. Der erste Bürgerkrieg wurde 1562 und 1563 von Condé und Coligny als Führern der Hugenotten und François de Guise als Haupt der Katholiken geführt. Dabei kam es zur Überlassung von Le Havre an die Engländer durch die Hugenotten, zum Kriegstod Antoines de Navarre und zur Ermordung des Herzogs François de Guise. Am Ende stand der Frieden von Amboise von 1563, durch den die Vergünstigungen für die Hugenotten aus dem Januaredikt von Saint-Germain von 1562 eingeschränkt wurden. Der zweite Bürgerkrieg begann 1567 und endete 1568 mit dem Frieden von Longjumeau. In diesem Krieg versuchten die Hugenotten unter dem Prinzen Condé, Hof und König in ihre Gewalt zu bringen. Der Hof begab sich in den Schutz katholischer Schweizer Söldner, während die Hugenotten in Saint-Denis bei Paris geschlagen wurden. Im dritten Bürgerkrieg ab 1568 versuchte Katharina von Medici, die Hugenottenführer in ihre Hand zu bekommen. Das gelang nicht, doch wurden die Hugenotten mehrfach geschlagen, ihr Führer Condé ermordet. Nach einem Sieg der Hugenotten kam 1570 der Frieden von Saint-Germain zustande, in dem die Hugenotten das Zugeständnis erhielten, in ganz Frankreich mit Ausnahme der Stadt Paris Gottesdienste abzuhalten. Außerdem wurden ihnen mehrere Festungen, darunter La Rochelle an der Atlantikküste, als Sicherheitsplätze eingeräumt. Mit der Bartholomäusnacht erreichten die Massenermordungen 1572 ihren Höhepunkt. Dabei ging es eigentlich um außenpolitische Pläne des Hugenottenführers Coligny, die auf eine Koalition gegen Spanien hinausliefen, aber von Katharina von Medici abgelehnt wurden. Die Bartholomäusnacht hing mit der Hochzeit des protestantischen Königs Henri de Navarre, des Sohnes Antoines de Navarre (Bourbon), zusammen, der 1572 eine Schwester des Königs heiratete. Zur Hochzeitsfeier in Paris erschienen viele Hugenotten. Da kam es zu einer begrenzten Aktion gegen die Hugenottenführer, aus der am St. Bartholomäustag, dem 24. August 1572, eine Massenermordung von Protestanten hervorging, die von Paris aus auch andere Städte erfasste. An der unteren Grenze liegen Schätzungen, nach denen es in Paris etwa 2.000 und in den Provinzen 4.000 bis 6.000 Mordopfer gab.104 Die Pariser Bluthochzeit leitete über zum vierten Bürgerkrieg, der 1573 mit dem Frieden von La Rochelle beigelegt wurde. In diesem Frieden erhielten die Hugenotten das Recht der freien Religionsausübung für die drei Städte La Rochelle, Nîmes und Montauban. Während nach der Bartholomäusnacht viele Hugenotten ins Ausland geflohen waren, kam nach diesem für sie nachteiligen Frieden 1573 eine politisch-militärische Organisation zustande, mit Assemblées politiques in den Provinzen und einem Zentralrat mit dem zum Protestantismus zurückgekehrten Henri de Navarre an der Spitze. Dieser
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war 1572, um sich vor den Massakern zu retten, zum Katholizismus übergetreten. Die Hugenotten organisierten sich unter seiner Führung politisch und militärisch als calvinistischer Staat im Staate. Es folgte der fünfte Bürgerkrieg der Jahre 1574 bis 1576, der mit dem Paix de Monsieur genannten Frieden von Beaulieu von 1576 endete. Die Protestanten erhielten die Freiheit des Gottesdienstes in ganz Frankreich mit Ausnahme der Stadt Paris und des königlichen Hofes. Doch bildete sich nun 1576 die Ligue de défense de la Sainte Église Catholique (Heilige Liga) unter Führung des Herzogs von Guise. Es folgte 1576 bis 1577 der sechste und 1579 bis 1580 der siebte Bürgerkrieg. Durch den Tod des letzten Bruders Heinrichs III., des 1584 gestorbenen Herzogs von Anjou, wurde der Bourbone Henri de Navarre nach geltendem Erbrecht zum legitimen Thronfolger. Als Sohn Antoines de Bourbon war er ein Enkel der Schwester Franz’ I., Marguerite d’Angoulême. Die Heilige Liga suchte die Thronfolge des Führers des französischen Calvinismus unter allen Umständen zu verhindern. Dazu setzte der mit Spanien verbündete Henri de Guise Heinrich III. unter Druck, womit sich die Guise und die katholische Bürgerkriegspartei direkt gegen das Königtum wandten. So begann 1587 als achter Bürgerkrieg der Krieg der drei Heinriche, Henri de Navarre, Henri de Guise und Heinrich III. Von diesen dreien wurde der Träger der Krone machtpolitisch immer bedeutungsloser. Nach dem Tag der Barrikaden, dem 2. Mai 1588, einer von Henri de Guise angestifteten und ausgenutzten Revolte, floh er aus Paris. Henri de Guise trat als Generalstatthalter des Königreichs auf. Doch gelang es Heinrich III. Ende 1588, Henri und Louis de Guise ermorden zu lassen. Der König suchte den Schutz des Bourbonen Henri de Navarre gegen den letzten Guise, der noch immer Paris besetzt hielt. Im Sommer 1589 wurde Heinrich III. dann selbst von dem Dominikaner Jacques Clément ermordet. Damit endete das Königtum der Valois und ging auf das Haus Bourbon und den Calvinisten Henri de Navarre über, der als Heinrich IV., Henri Quatre, König von Frankreich und Navarra wurde. Doch ging der Bürgerkrieg weiter, der sich auf den Kampf um die Stadt Paris konzentrierte, die ihre Tore erst 1594 dem neuen König öffnete. 1593 war Heinrich IV. in Saint-Denis zum Katholizismus übergetreten und in Chartres gekrönt worden. Die Parti des Politiques Während der Bürgerkriege fanden sich Adelige und bürgerliche Intellektuelle zusammen, die nach Wegen zur Beendigung des Bürgerkriegs suchten. Sie wurden seit 1573 pejorativ Parti des Politiques (Partei der Politiker) genannt, weil sie die politisch-säkularen Interessen Frankreichs höher als die religiöse Wahrheit stellten, was als verwerflicher Machiavellismus galt. Wie beim Augsburger Religionsfrieden, der als politisch-säkularer Frieden die fortbestehenden religiösen Streitigkeiten überdeckte, so zeigt sich auch hier die Dialektik von Konfessionalisierung und Säkularisierung. „Erst dadurch, dass sich die Politik über die Forderungen der streitenden Religionsparteien stellte, sich von ihnen
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emanzipierte, ließ sich überhaupt eine befriedete politische Ordnung, Ruhe und Sicherheit für die Völker und die Einzelnen wiederherstellen.“105 Neben Michel de L’Hôspital war Jean Bodin der wichtigste Vertreter der Partei der Politiker. In seinen Six livres de la République von 1576 proklamierte er den Begriff der Souveränität als Inbegriff der Unabhängigkeit der staatlichen Gewalt von jeder inneren und äußeren Bindung, auch von der an eine bestimmte Konfession: „La souveraineté est la puissance absolue & perpetuelle d’une République“106 (Souveränität ist die unumschränkte und zeitlich unbefristete Macht/Gewalt eines Staates), wobei Republik das res publica Ciceros war und Staat – oder Königreich – bedeutete, nicht die Staatsform der Republik. Mit dem Souveränitätsbegriff zeigte Bodin den Weg zur Überwindung der Bürgerkriege durch Etablierung der über den konfessionellen Gegensätzen stehenden staatlichen Gewalt, die mit ihrem Gewaltmonopol den politisch-säkularen Frieden erzwingt und den theologischen Aspekten des Streites ihre politische Wirksamkeit nimmt. Vom Edikt von Nantes zum Edikt von Fontainebleau Am Ende der Bürgerkriege stand das Edikt von Nantes Heinrichs IV. von 1598. Dieses Edikt stand in der Tradition der verschiedenen Friedensedikte der Bürgerkriegszeit. Dennoch bedeutete das Edikt von Nantes, dass in einem so wichtigen Land wie Frankreich die Glaubensfreiheit in bestimmten Grenzen rechtlich gesichert und die Freiheit der Gottesdienste mit gewissen Einschränkungen eingeräumt wurde. Der wichtigste Artikel107 war Art. VI, in dem den Protestanten erlaubt wurde, überall in Frankreich „zu wohnen und zu leben, ohne dass sie belangt, geplagt, bedrängt oder in Hinsicht der Religion zu irgendeiner Handlung gegen ihr Gewissen genötigt, noch aus Anlass derselben in den Häusern und Orten, in denen sie nach ihrer Wahl wohnen, aufgesucht werden dürfen.“ Garantiert war damit die Niederlassungsfreiheit, der Minderheitenschutz, die Gewissensfreiheit und die Unverletzlichkeit der Person und der Wohnung vor Nachstellungen aus religiösen Gründen. Die öffentliche Ausübung des reformierten Gottesdienstes wurde überall dort gestattet, wo es ihn 1596 und 1597 gegeben hatte (Art. IX.). Darüber hinaus wurden reformierte Gottesdienste an allen Orten erlaubt, an denen sie durch frühere Edikte genehmigt worden waren, also in den Vorstädten je eines Ortes in jeder Bailliage oder Sénéchausée (Art. X). Artikel XI. erlaubte die Abhaltung reformierter Gottesdienste an je einem weiteren Ort in jeder Ballei oder jedem Seneschallat, nur nicht an Bischofssitzen. Adeligen, die in ihrem Bereich im Besitz der hohen Gerichtsbarkeit waren, wurde die Abhaltung reformierter Gottesdienste an ihrem Hauptwohnsitz eingeräumt (Art. VII). Andere Adelige durften reformierte Gottesdienste nur innerhalb ihrer Familie abhalten, wozu aber bis zu 30 weitere Personen eingeladen werden konnten (Art. VIII). Verboten blieb der reformierte Gottesdienst am königlichen Hof, in der Stadt Paris und in einem Umkreis von fünf Wegstunden um Paris. Doch galten die Garantien aus Artikel VI auch in Paris (Art. XIV).
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Wichtig war die Öffnung aller Schulen und Universitäten für die Protestanten, denen auch der Zugang zu öffentlichen Ämtern ermöglicht wurde. Das bedeutete die politische und soziale Gleichstellung mit den Katholiken (Art. XXII, XXIII, XXVII). Außerdem wurde den Protestanten in Paragraph 34 der geheimen Zusatzartikel vom 2. Mai 1598 gestattet, „alle Handlungen und Verrichtungen vor[zu]nehmen, die sowohl zur Ausübung der genannten Religion als zur Ordnung der Kirchenzucht gehören, als Abhaltung von Konsistorien, Kolloquien, Provinzial- und Nationalsynoden mit Erlaubnis Seiner Majestät“. Der König verzichtete damit auf die Ausübung des Kirchenregiments im Stil der protestantischen Fürsten Deutschlands, womit die Église réformée de France eine unabhängigere Stellung erhielt als die reformierten Kirchen der deutschen Territorien. Politisch besonders wichtig wurde das in den geheimen Zusatzartikeln vom 30. April 1598 ausgesprochene Zugeständnis, nach dem die Hugenotten auf acht Jahre befestigte Sicherheitsplätze behalten sollten. Das Edikt von Nantes brachte auch den Katholiken Vorteile, indem die katholische Kirche in den protestantischen Gebieten Frankreichs wieder in ihre Rechte eingesetzt wurde. Dazu gehörte die Wiedereinführung katholischer Gottesdienste und die Restitution entfremdeten katholischen Kirchengutes. Unter Heinrich IV. gewann das Königtum durch die Rekonstruktionspolitik seines leitenden Ministers, des Herzogs von Sully, Maximilien de Béthune, neue Stärke. Dazu gehörte die Neuordnung der Finanzverwaltung durch Sparmaßnahmen und die Einführung regelmäßiger Rechenschaftsberichte der Beamten, die zunehmende Zentralisierung des Staates – auch durch die 1607 zum Abschluss gekommene Ausweitung der Krondomäne – und der Ausbau des Systems der Ämterkäuflichkeit. Damit wurden die Einnahmen des Königtums gesteigert, während das vermögende, aber für das Königtum politisch ungefährliche Bürgertum in die hohen Beamtenstellen eintrat und langsam in einen neuen Amtsadel überging; für den nach der Abflachung der Getreidepreissteigerungen verarmten Grundadel waren die Preise für den Kauf von Ämtern nur schwer aufzubringen. So konnte der Adel, der dem Königtum oppositionell gegenüberstand, zurückgedrängt werden. Nach der Ermordung Heinrichs IV. 1610 und der Entmachtung Sullys brachen die Parteikämpfe und die Gegensätze zwischen Katholiken und Calvinisten erneut aus, womit wieder eine Schwächung des Königtums eintrat. Das wurde erst anders, als 1624 unter Ludwig XIII. Kardinal Richelieu als Staatssekretär die Leitung der Regierungsgeschäfte übernahm. Seine Politik hatte einen ihrer Schwerpunkte beim Kampf gegen die Hugenotten, die aufgrund ihrer Rechte aus dem Edikt von Nantes einen Staat im Staate aufrechterhalten konnten und auch eine eigene Militärorganisation und eigene Festungen, die Sicherheitsplätze, besaßen. Ein wichtiges Datum der Ministerzeit Richelieus war die Kapitulation der Hugenottenfestung La Rochelle 1628, nach deren Verlust die Calvinisten nur noch eine Religionsgruppe waren, aber nicht mehr ein eigenständiger politischer Faktor. Stattdessen wurden die Hugenotten loyale
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Untertanen des Königs, an deren Akademien keine politischen Widerstandslehren vertreten wurden, sondern eine streng absolutistische Staatslehre. Ihre Stellung im Staat Ludwigs XIV. änderte sich erst grundlegend mit der Revokation des Edikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau von 1685. Dadurch wurde der Exodus der Hugenotten aus Frankreich ausgelöst und der Protestantismus weitgehend ausgelöscht. Es blieben äußerlich katholisch gewordene Reformierte zurück, von denen ein Teil als église du desert (Wüsten- oder Untergrundkirche) ihre reformierte Glaubensform bewahrte. Die anderen gingen in die Niederlande, die Schweiz und verschiedene deutsche Territorien wie Hessen-Kassel, Bayreuth und vor allem Brandenburg. Die Niederlande, der niederländische Aufstand und der Calvinismus Der Name Niederlande bezog sich im 16. Jahrhundert auf 17 Provinzen. Das waren im Westen und Süden Flandern, Artois, Hainaut (Hennegau), Lille, Tournai, Namur, Luxemburg, Limburg, Brabant und Mecheln und nördlich der großen Flüsse Holland, Zeeland, Utrecht, Overijssel, Geldern, Friesland und Groningen. Erst Karl V. brachte davon zwischen 1521 und 1543 Tournai, Friesland, Utrecht, Groningen und Drenthe, das keine eigene Provinz bildete, und zuletzt Geldern in seinen Besitz. Wirtschaftlich bildeten Flandern und Brabant mit Brügge und Antwerpen eines der am höchsten entwickelten Gebiete im damaligen Europa. Dagegen war Holland mit Amsterdam von seiner späteren wirtschaftlichen Bedeutung noch weit entfernt. Die Niederlande, Habsburg und das Reich Die alten – burgundischen – Teile der Niederlande waren durch die Ehe Maximilians I. mit Maria von Burgund 1477 an Habsburg gefallen und 1506 an Karl V. gelangt. Von 1507 bis 1530 war seine Großtante Margarete von Österreich Generalstatthalterin der Niederlande. 1512 wurden die Niederlande als Burgundischer Reichskreis zusammengefasst, bevor sie durch den Burgundischen Vertrag von 1548 vom Reich abgesondert, aber nicht formal abgetrennt wurden. Das verstärkte sich, als Karl V. die Niederlande 1555 seinem Sohn Philipp II. überließ. Mit der Pragmatischen Sanktion war 1549 ein einheitliches Erbfolgerecht für die gesamten Niederlande festgesetzt worden. Dieser Tendenz zu einem niederländischen Gesamtstaat diente unter Karl V. der Ausbau der Brüsseler Zentralverwaltung mit dem Generalstatthalter zur Vertretung des Herrschers, dem aus Angehörigen des Hochadels zusammengesetzten Conseil d’État (Staatsrat), dem Conseil privé (Geheimer Rat) und dem Conseil des finances (Finanzrat). In den Provinzen wurde der Herrscher von Statthaltern vertreten. Die Kriege mit Frankreich führten zu einer Finanzkrise und 1557 in den Staatsbankrott. Kirchlich unterstanden die Niederlande den Erzbischöfen von Köln und Reims als Metropolitanbischöfen. Die Suffraganbistümer Utrecht und Lüttich gehörten zu Köln, Tournai, Cambrai, Arras und Thérouanne (Saint-
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Omer) zu Reims. 1559 führte Philipp II. eine Diözesanneuordnung durch, mit der der Einfluss von Köln und Reims ausgeschaltet und Instrumente zur Bekämpfung des Protestantismus geschaffen werden sollten. Seit 1559 gab es das Erzbistum Utrecht mit den Suffraganbistümern Middelburg, Haarlem, Leeuwarden, Groningen und Deventer, das Erzbistum Mecheln mit Antwerpen, Gent, Brügge, Ypern, s’Hertogenbosch und Roermond und das Erzbistum Cambrai mit Arras, Tournai, Saint-Omer und Namur, während Lüttich unter Köln und die luxemburgischen Teile der Erzdiözese Trier bei Trier blieben. Die Reformation und Verbreitung des Calvinismus In den Niederlanden trug der Biblische Humanismus, der teilweise von der Devotio Moderna des 15. Jahrhunderts inspiriert war, zur Vorbereitung der Reformation bei. Luthers Schriften wurden zuerst in Antwerpen im Kloster der Augustiner-Eremiten bekannt. Ende 1521 gab es Verhaftungen und die Flucht Antwerpener Augustinermönche, bis die Regierung das Kloster 1522 schloss und die noch vorhandenen Mönche in Haft nahm, von denen einige 1523 in Brüssel verbrannt wurden. Damit begannen die Ketzerverfolgungen. Obwohl auch in Utrecht, Den Haag und Amsterdam Anhänger Luthers auftraten, wurde der Verlauf der Reformation in den Niederlanden nur am Rande von Luther beeinflusst. Es gab auch Sakramentierer. Hierher gehörte der Jurist Cornelisz Hoen, der mit seiner symbolischen Abendmahlsauffassung Vorläufer Zwinglis und seiner Abendmahlslehre war. Wichtiger wurden die Täufer, die seit 1530 von Emden aus in die Niederlande eindrangen und dort wesentlich zum Durchbruch der Reformation beitrugen. Während Flandern und Brabant von den Täufern zunächst kaum berührt wurden, erfasste das Täufertum den Norden und Nordosten und die Provinz Holland, wo 1531 in Amsterdam die ersten Täufer hingerichtet wurden. Nach dem Ende der Täuferherrschaft in Münster verbreiteten sich in den Niederlanden die Mennoniten. Die Protestantenverfolgungen lösten Flüchtlingswellen aus. Wesel am Niederrhein war schon 1544/45 Ziel wallonischer Flüchtlinge. Ein anderer wichtiger Asylort war London. Nach der Thronbesteigung Mary Tudors 1553 in England kamen auch nach England geflohene Niederländer nach Deutschland. Auch in den 1560er und 1570er Jahren hielt der Strom an. Große niederländische Flüchtlingsgemeinden gab es in Wesel, Emden und Frankfurt am Main, im pfälzischen Frankenthal, in Köln und in kleineren Orten am Niederrhein. Die niederländischen Flüchtlingsgemeinden in England und Deutschland wurden Einfallstore des Calvinismus in die Niederlande, der aber hauptsächlich in die frankophonen südlichen Niederlande um Tournai, Valenciennes und Lille und in die Gewerberegionen Westflanderns eindrang, von wo aus er Brügge, Gent, Oudenaarde und Antwerpen erreichte. 1544 kam Pierre Brully aus Straßburg nach Tournai und predigte, bis er 1545 als Ketzer verbrannt wurde. 1561 verfasste Guy de Brès aus Mons, der in Genf und in der Londoner Flüchtlingsgemeinde den Calvinismus kennengelernt hatte, nach dem Vorbild der Confessio Gallicana von 1559 eine Con-
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fession du Foy, die 1562 ins Niederländische übersetzt wurde und zur Verbreitung des Calvinismus über die Sprachgrenze in den Norden beitrug. Seit 1561 wurde sie als Confessio Belgica Bekenntnisgrundlage der niederländischen Calvinisten.108 Daneben trat der 1563 von dem Flamen Petrus Dathenus, dem Prediger der Frankfurter Flüchtlingsgemeinde, ins Niederländische übersetzte Heidelberger Katechismus. Doch blieb der Calvinismus vorerst auf die südlichen Niederlande beschränkt und erreichte vor 1566 kaum die Provinzen nördlich von Rhein, Maas und Schelde, während im Süden die Arbeiterschaft der Gewerberegionen und die Kaufmanns- und Unternehmerschicht die soziale Basis des Reformiertentums bildeten. Partikularismus, Zentralismus und Widerstand Unter Philipp II. verschärften sich nach 1555 nicht nur die Ketzerverfolgungen, sondern auch die Versuche zur Zentralisierung des niederländischen Gesamtstaates, was zum Konflikt mit Adel und Städten der Provinzen führte. Dabei verband sich wie im Frankreich der Bürgerkriege das politische mit dem konfessionellen Moment, doch waren die Voraussetzungen nicht dieselben. Das Königtum Philipps II. war keine seit Jahrhunderten angestammte nationale Monarchie, sondern eine fremde Herrschaft, die Philipp seit 1559 von seiner Schwester Margarete von Parma als Generalstatthalterin ausüben ließ. Obgleich die außereheliche Tochter Karls V. in Oudenaarde geboren war und eine Niederländerin zur Mutter hatte, erschien ihr Regiment als Fremdherrschaft. In den Niederlanden war der Partikularismus ein politischer Faktor, für den in Frankreich eine Parallele fehlte. Außerdem gab es immer wieder Empörungen gegen die zentralistische Politik der Regierung. Das herausragendste Beispiel war in der Zeit Karls V. der Genter Aufstand von 1537, nachdem Gent sich geweigert hatte, an der Steueraufbringung zur Finanzierung des dritten der Kriege Karls V. mit Frankreich mitzuwirken. In der Kontinuität dieser Aufstände stand der Niederländische Aufstand gegen Spanien. Der niederländische Aufstand Wann der niederländische Aufstand begann − 1566, 1568 oder 1572 − ist eine Interpretationsfrage. 1568 fängt im niederländischen Geschichtsbewusstsein der Tachtigjarige Oorlog gegen Spanien an, der 1648 endet. Der Achtzigjährige Krieg stellte aber kein ununterbrochenes Kriegsgeschehen dar. Von Heinz Schilling stammt ein Fünf-Phasen-Modell109, dessen erste Phase 1555 einsetzt. Mit dem Übergang der Herrschaft von Karl V. auf Philipp II. begann 1555 die Inkubationszeit des Aufstands. Philipp II. setzte die Zentralisierungspolitik verstärkt fort, sah sich aber der Opposition des Hochadels und seit Anfang der sechziger Jahre auch der des niederen Adels ausgesetzt. Der Adel wandte sich besonders gegen Antoine Perrenot de Granvella, der 1550 seinem Vater im Amt des Staatssekretärs Karls V. gefolgt war. 1560 wurde er der erste Erzbischof von Mecheln. Als Berater der Generalstatthalterin trat er für Ketzerverfolgung und Beseitigung der Rechte der Provinzen ein. 1562 schloss sich der
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Hochadel gegen Granvella zusammen, worauf Margarete von Parma einlenkte und Granvella 1564 die Niederlande verließ. Die Opposition des Adels galt auch der Neuordnung der Diözesen, der Verschärfung der Inquisition und den Ketzerverfolgungen. Der Hochadel stand unter Führung Wilhelms von Oranien, des Statthalters von Holland, Zeeland und Utrecht seit 1560. Wilhelm von Nassau-Dillenburg war Erbe des Fürstentums Orange in der Provence und nannte sich deshalb Wilhelm von Oranien, verfügte auch über Besitzungen in den Niederlanden und gehörte dem Brüsseler Staatsrat an. Konfessionell nahm er eine vermittelnde Haltung ein, die er beibehielt, als er zum Luthertum und 1573 zum Calvinismus übertrat. Die Abberufung Granvellas bedeutete für den Hochadel einen Sieg. Seit Beginn der sechziger Jahre kam es in den Gewerbegebieten um Tournai und Valenciennes zu lokalen Aufständen, an denen, geführt von calvinistischen Predigern oder Presbytern, besonders Textilarbeiter beteiligt waren. 1565 sandte der Hochadel den Grafen Lamoral Egmont mit Vorschlägen für eine adelsfreundliche Staatsreform und Bitten um Einstellung der Ketzerverfolgung an den König. Philipp II. verlangte jedoch in den Segovia-Briefen vom Herbst 1565 die Verfolgung der Ketzer. Der niedere Adel schloss sich 1565 zu einer Einung, dem Compromis, zusammen, dem auch Ludwig von Nassau, ein Bruder Wilhelms von Oranien, und katholische Adelige beitraten. Im April 1566 überreichte dieser Adelsbund der Generalstatthalterin eine Bittschrift, in der die Abschaffung der Inquisition, die Einberufung der Generalstände zur Regelung der Religionsfrage und eine Gesandtschaft an den König nach Spanien gefordert wurden. Eine Reaktion des Königs auf die Bittschrift des Adels, dem eine spöttische Bemerkung den Namen Geusen (Bettler) einbrachte, erfolgte nicht. Die Generalstatthalterin gab eine hinhaltende Antwort, die bei den Protestanten Hoffnungen weckte, so dass Flüchtlinge aus den ausländischen Flüchtlingsgemeinden zurückkehrten. Seit Mai 1566 fanden im Süden auf freiem Feld reformierte Gottesdienste statt. Diese Heckenpredigten lösten Unruhen aus. Ludwig von Nassau erneuerte Ende Juli 1566 die Forderungen der Geusenpetition, wobei auch das Verlangen nach Religionsfreiheit bis zur Entscheidung der religiösen Fragen durch die Generalstände erhoben wurde. Der König lehnte die Einberufung der Generalstände und Religionsfreiheit ab. Margarete von Parma versuchte vergeblich, die Heckenpredigten zu unterbinden. Die Folge war − als zweite Phase des Aufstands − der große Bildersturm zwischen dem 10. August und dem 6. September 1566, der in den Textilgewerbegebieten Westflanderns begann und sich nach Tournai und Valenciennes, Antwerpen, Gent, Mecheln und Oudenaarde fortsetzte und auch Holland und Zeeland erreichte. In Antwerpen und Gent nahm der Ikonoklasmus gewaltsame Formen an. Bewaffnete Trupps, oft unter Führung reformierter Prediger oder Presbyter, rissen Bilder, Kirchenschmuck und liturgische Gegenstände aus den Kirchen. Fast alle Bevölkerungsschichten waren beteiligt, mit Ausnahme von Hochadel
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und Bauern. Eine führende Rolle spielte der niedere Adel, während im Norden Vertreter der bürgerlichen Oberschichten als Führer des Bildersturms den Ton angaben. Wirtschaftliche und soziale Aspekte im Zusammenhang mit konjunkturellen Veränderungen im Textilgewerbe spielten hinein, doch ging es vor allem um die Besetzung katholischer Kirchengebäude zur Beendigung der Heckenpredigten unter freiem Himmel. Dazu wurden die Kirchengebäude von Bildern − Kruzifixe, bildliche und plastische Christus-, Marien- und Heiligendarstellungen −, liturgischem Gerät − Monstranzen, Kelche, Patenen, Ciborien −, Tabernakeln und Reliquien gereinigt. Diese Gegenstände von oft großem materiellen und künstlerischem Wert, die für den gläubigen Katholiken zur Aufbewahrung des Allerheiligsten, des Leibes und Blutes Christi, dienten, sowie materielle Überreste heiliger Märtyrer und Glaubenszeugen wurden massenweise zerschlagen, zertrampelt, verbrannt oder anderweitig vernichtet, was auch mit konsekrierten Hostien geschah, oder − etwa liturgische Gewänder − zweckentfremdet. Der Bildersturm war praktischer Nachvollzug theologischer Schlussfolgerungen aus den Schriften Zwinglis oder Calvins und zugleich eine Bewegung gegen die Stellung der katholischen Kirche, den König und seine Regierung, die als Stütze der Kirche auftraten. Die Generalstatthalterin gab nach und gestattete reformierte Predigten dort, wo es sie bereits gab. Der von der Gewaltsamkeit des Bildersturms aufgeschreckte Hochadel unterstützte die Regierung. Wilhelm von Oranien ließ in Antwerpen Bilderstürmer hinrichten und ermöglichte die Wiedereinführung der katholischen Messe, sorgte aber auch für die Errichtung reformierter Kirchen. Philipp II. versagte den Zugeständnissen seiner Generalstatthalterin die Anerkennung und schickte Fernando Alvarez de Toledo, Herzog von Alba, mit Truppen in die Niederlande, wo dieser im August 1567 eintraf, bevor Margarete von Parma das Land verließ. Alle Zugeständnisse an die Protestanten wurden rückgängig gemacht, ein Rat der Unruhen errichtet, Ketzerverfolgungen und Strafmaßnahmen gegen Bilderstürmer verschärft. 1568 gab es zahlreiche Hinrichtungen, denen auch bekannte Adelige wie Graf Egmont, Statthalter von Flandern und Artois, oder Philipp von Hoorn, Graf von Montmorency-Nivelle und Statthalter von Geldern, zum Opfer fielen. Obwohl die Rolle Albas durch Goethes Trauerspiel Egmont (1787) und durch Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande (1788) stark negativ verfärbt ist, so steigerten die Maßnahmen Albas doch die Erbitterung über die spanische Herrschaft. Der Hochadel, der 1566 noch vor der Radikalität der Bilderstürmer zurückgeschreckt war, trat nun − in der dritten Phase − an die Spitze des Aufstandes. Wilhelm von Oranien hatte nach der Absendung Albas in die Niederlande sein Amt als Statthalter von Holland, Zeeland und Utrecht niedergelegt und sich nach Dillenburg begeben und dort mit dem Aufbau einer Interventionsarmee begonnen. Von See her griffen die Wassergeusen Küstenorte in den Niederlanden an. In den Flüchtlingsgemeinden in Deutschland und England, die seit dem Bildersturm stark zugenommen
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hatten, wuchs die Radikalisierung des Calvinismus, der seit 1566 ein politischer Faktor war. 1572 rückte Wilhelm von Oranien von Dillenburg aus in die Niederlande ein und kämpfte, von Holland und Zeeland wieder als Statthalter angenommen, mit seinen Truppen gegen die Armee des Herzogs von Alba. Die Wassergeusen, die die Mündungsarme von Rhein, Maas und Schelde beherrschten, eroberten Anfang April 1572 die auf der Insel Voorne im Rhein-Maas-Delta liegende Stadt Den Briel (Brielle). Das war der Auftakt für den Krieg gegen die spanische Besatzungsarmee und der Beginn der vierten Phase des Aufstandes. Rasch wurden die Städte auf den Inseln des Deltas genommen, während Ludwig von Nassau von Frankreich aus Mons besetzte. Alba stellte seine Truppen der Intervention im Süden entgegen und entblößte dadurch Holland von der spanischen Armee, so dass die Aufständischen sich in Holland ausbreiten konnten. Zwar konnten die Spanier 1573 Haarlem erobern, doch machten die Geusen sich durch künstliche Überflutungen unangreifbar. Die spanischen Truppen begannen wegen ausbleibender Soldzahlungen zu meutern. Im Sommer 1572 wurde in Dordrecht von den Vertretern Hollands und Zeelands der Kampf gegen Spanien unter Wilhelm von Oranien beschlossen. In dem von nun an immer hartnäckiger ausgefochtenen Aufstand sahen die Calvinisten einen Glaubenskampf, während andere den Aufstand als politischen Kampf gegen Alba und das spanische Königtum führten. Der Höhepunkt wurde in der fünften Phase seit 1576 erreicht, in der der Aufstand alle Provinzen mit Ausnahme von Luxemburg erfasste. 1576 führte der Tod von Albas Nachfolger Luis de Requeséns y Zúñiga in Verbindung mit Truppenmeutereien zu einem Machtvakuum, das die Stände von Brabant nutzten, um gegen den Willen des Königs die Generalstände nach Brüssel einzuberufen. Aus dieser Ständeversammlung ging 1576 die Genter Pazifikation hervor, ein Friedensschluss zwischen den aufständischen Provinzen Holland und Zeeland und den übrigen Provinzen. Doch zerbrach diese – die religiösen Gegensätze überdeckende – Übereinkunft, nachdem Ende 1576 Don Juan d’Austria, außerehelicher Sohn Karls V., als Generalstatthalter nach Brüssel kam und die Unterdrückung des Protestantismus nun auch in Holland und Zeeland betrieb. Die Generalstände gingen im Ewigen Edikt von 1577 darauf ein und erhandelten sich dafür die Entfernung der spanischen Truppen aus den Niederlanden. Holland und Zeeland zogen daraufhin aus den Generalständen aus. Doch brachte die Politik Don Juans und die Besetzung von Namur die Provinzen mit Ausnahme von Luxemburg und Namur wieder an die Seite Hollands und Zeelands, bis das Bündnis der Genter Pazifikation, in dem sich Protestanten und Katholiken gegen Spanien zusammengefunden hatten, nach der Niederlage von Gembloux 1578 endgültig zerbrach. In Gent kam es zu einem neuen Bildersturm und zu antikatholischem Terror. 1579 vereinigten sich Arras und Artois in der Union von Arras, während Holland und Zeeland und die noch immer überwiegend katholischen nordöstlichen Provinzen, aber auch Gent, die Union von Utrecht schlossen.
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Die Union von Arras ging 1579 einen Sonderfrieden mit Philipp II. ein. Die Kämpfe um Gent gingen noch sechs Jahre lang weiter. 1581 erklärte die Union von Utrecht in der Acte van Afzwering ihre Trennung vom spanischen König, wodurch ein republikanisches Staatswesen entstand − mit einem monarchischen Rest in Gestalt der Statthalter der Provinzen, darunter Moritz von Oranien als Statthalter von Holland und Zeeland seit 1585. 1585 wurde Antwerpen von einem spanischen Heer unter Alexander Farnese eingenommen. Damit fand die mit der Union von Arras eingeleitete Unterwerfung der südlichen Provinzen unter Spanien ihren Abschluss, womit Gent und die flandrisch-brabantischen Gebiete aus der Utrechter Union ausschieden. Interpretationsprobleme Im niederländischen Aufstand standen sich anfangs nicht aufständische Calvinisten und treu an der Seite des Königs von Spanien stehende Katholiken gegenüber, sondern eine spanische Partei, die dem Katholizismus des Konzils von Trient verbunden war, eine Mittelpartei, die in burgundischer Tradition am niederländischen Gesamtstaat festhalten und zugleich die Eigenständigkeit der 17 Provinzen bewahren wollte und bis zum Bildersturm von 1566 große Teile des Hochadels vereinigte, und die radikale Widerstandspartei, die seit 1566 im Zeichen eines kämpferischen calvinistischen Konfessionalismus stand.110 Unter den Trägerschichten des Aufstands kam dem hohen und niederen Adel und dem Großbürgertum der Städte entscheidende Bedeutung zu, teilweise auch den städtischen Mittelschichten, während die Unterschichten in Stadt und Land keine größere Rolle spielten, obwohl sie auf lokaler Ebene, etwa beim Bildersturm, die Dreckarbeit verrichteten. Doch entschied sich keine soziale Gruppe ganz für oder gegen den Aufstand. Was im niederländischen Aufstand völlig fehlte, waren eschatologisch-chiliastische Momente. In der Summe handelte es sich um die Konfliktaustragung innerhalb der aus hohem Adel, niederem Adel und Großbürgertum zusammengesetzten politischen Elite des Landes, wobei ökonomische Faktoren nur von zweitrangiger Bedeutung waren. Stattdessen wurde der soziale Status und die politische Stellung eines Teils der Führungselite durch die Zentralisierungsmaßnahmen bedroht, was sich durch die Hispanisierungstendenzen nach dem Herrscherwechsel von 1555 verschärfte. Durch die Steuerforderungen und mehr noch durch die Kirchenpolitik Philipps II. wurde das Bedrohungsgefühl der Führungselite gesteigert. Das begann mit der Diözesanneuordnung von 1559 und setzte sich fort, als Philipp II. sich eindeutig in den Dienst der katholischen Konfessionalisierung stellte. Das führte zum politischen Zusammengehen eines maßgeblichen Teils dieser mittleren Partei mit dem Calvinismus. Calvinismus und konfessionelle Vielfalt In der Republik der Vereinigten Niederlande waren die Reformierten die zahlenmäßig stärkste, aber eine in sich gespaltene Konfession. Das Staatswesen besaß eine reformierte Prägung, obwohl etwa
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ein Drittel der Bevölkerung katholisch war. Daneben gab es Lutheraner, Täufer und Juden. 1579 hatte die Union von Utrecht Glaubensfreiheit postuliert. Ein Zeichen für die Dominanz der Reformierten war aber die Unterstützung der Prädestinationslehre der orthodox-reformierten Contreremonstranten durch Moritz von Oranien zur Zeit der Synode von Dordrecht 1619. Die Grote Vergadering (Große Versammlung) der Staten Generaal in Den Haag von 1651 machte die reformierte Kirche zwar nicht zur Staatskirche, aber zur privilegierten Kirche; Katholiken, Lutheraner und andere Dissenters waren vom Wahlrecht und von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Die Niederlande des 17. Jahrhunderts waren keineswegs generell das Land der religiösen Toleranz und der Offenheit − das galt allenfalls für die Metropole Amsterdam. Auch wenn die Republik in den Augen von Ausländern tolerant wirkte und deshalb im 17. Jahrhundert Ziel von Religionsflüchtlingen war, unter denen aber französische Reformierte im Vordergrund standen, so war das kirchliche Leben der Nicht-Reformierten doch Beschränkungen mit der Schuilkerk (verborgene Kirche) als Form des Gemeindelebens unterworfen. Die Niederlande nach 1585 Nach 1585 gingen die Kämpfe als Krieg zwischen der niederländischen Republik und Spanien weiter. 1609 kam für zwölf Jahre ein Waffenstillstand zustande, mit dem Philipp III. von Spanien die Unabhängigkeit der Republik anerkannte. Nach dem Wiederaufflammen der Kämpfe in Verbindung mit dem Dreißigjährigen Krieg folgte die endgültige Anerkennung der niederländischen Republik – und deren endgültige Lösung vom Reich – mit dem spanisch-niederländischen Frieden von Münster vom 30. Januar 1648. Im 17. Jahrhundert wurde die Republik trotz ihres kleinen Staatsgebietes politisch eine Großmacht und mit Amsterdam als Zentrum des internationalen Kapitalverkehrs wirtschaftlich Mittelpunkt des Welthandels. Seit der Gründung der Verenigde Oostindische Compagnie (VOC) 1602 und der niederländischen Westindischen Compagnie (WIC) 1621 trat sie als führende Seehandelsmacht und Ausgangspunkt bedeutender Kolonialunternehmungen hervor, deren Schwerpunkt im indonesischen Archipel sowie auf Ceylon (heute Sri Lanka), an der Südwestund Südostküste Indiens und an der Südspitze Afrikas sowie in der Karibik und zeitweise auch in Brasilien lag. Im niederländischen Mutterland war das 17. Jahrhundert Het Golden Eeuw (Goldenes Jahrhundert), wie es sich noch heute mit den bürgerlichen Barockbauten an den Grachten von Amsterdam und mit einem Bauwerk wie dem Rathaus von Amsterdam, dem heutigen königlichen Palast, repräsentiert, aber auch mit der niederländischen Malerei dieser Zeit in Werken von Rembrandt, Frans Hals, Jan Vermeer, Jan van Goyen, Salomon van Ruisdael, Jacob van Ruisdael und anderen − einer mit Ausnahme von Rembrandts Werk jeder religiösen Bildthematik entkleideten Landschafts-, Tier-, Architektur-, Porträt-, Marine-, Genre- oder Stilllebenmalerei, die den Gegenentwurf zur barocken Bildkunst der katholi-
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schen Länder darstellte. Für diese steht in den spanischen Niederlanden vor allem der große flämische Maler Peter Paul Rubens, der auch ein Maler bedeutender religiöser Bildwerke war, darunter Darstellungen der Kreuzaufrichtung und der Kreuzabnahme und Bilder der hl. Teresa von Ávila, der die spanische Karmelitenmystik in große Gemälde umsetzten. Zum Goldenen Jahrhundert gehörten auch eine für damalige Verhältnisse vorbildliche Sozialfürsorge durch Waisenhäuser u. Ä., technische Leistungen wie Kanal- und Brückenbauten oder der Schiffbau und die Entfaltung der Wissenschaften, darunter die Anatomie, aber auch die Jurisprudenz, die Philologie oder die Altertumskunde, für die die 1575 gegründete Universität Leiden die wichtigste Pflegestätte in den Niederlanden wurde. Reformiertentum in Deutschland So gab es in Deutschland schon früh reformatorische Kreise, die theologisch weder Luther oder radikalen Reformatoren wie Müntzer folgten noch Täufer waren. Das waren Vertreter der Abendmahlslehre Zwinglis, die die Realpräsenz in der Eucharistie verneinten und von ihren Gegnern mit den Täufern gleichgesetzt wurden. Mit einer polemischen Fremdbezeichnung wurden sie Sakramentierer genannt. Ein solcher war Hinrich Never in Wismar, der 1528 antiwittenbergisch über die Einsetzungsworte Jesu schrieb. 1535 wurde er wegen täuferischer Lehren angeklagt. Doch blieben sie isoliert. Die Confessio Tetrapolitana von 1530111 und Bucers Annäherung an Luther machten 1536 die Annahme der Wittenberger Konkordie und damit für die oberdeutschen Reichsstädte den Anschluss an das Luthertum möglich. So wurde der Protestantismus in Deutschland immer mehr von Wittenberg und nicht von Zürich geprägt. Philippismus und Spätzwinglianismus Theologisch nahm das Reformiertentum in Deutschland in einer Symbiose des Philippismus der Schüler Melanchthons mit dem Spätzwinglianismus Bullingers unter Beimischung calvinischer Bestandteile Gestalt an, während der genuine Genfer Calvinismus nur am Rande rezipiert wurde. Das zeigt sich bei Christoph Pezel, der als Schüler Melanchthons und Haupt des Wittenberger Kryptocalvinismus begann, bis er in dem von ihm verfassten Consensus Bremensis von 1595112 Calvins Praedestinatio duplex aufnahm. Gab es bei Pezel somit einen „Weg vom Philippismus zum Calvinismus“113, so zeigt sich die charakteristische Verbindung melanchthonischer, bullingerscher und calvinischer Elemente im Heidelberger Katechismus von 1563. Entscheidend an dieser wahrscheinlich von Zacharias Ursinus verfassten Bekenntnisschrift ist das Fehlen der Prädestinationslehre, die sich jedoch in den 1598 postum veröffentlichten Explicationes catecheticarum des Ursinus findet, wodurch der Dordrechter Synode 1619 die Rezeption des Heidelberger Katechismus möglich wurde.114 Auch von der Kirchenverfassung her sind zwei Typen zu unterscheiden,
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obrigkeitsfreie reformierte Gemeinden und obrigkeitliche reformierte Landeskirchen. Obrigkeitliche reformierte Landeskirchen Obrigkeitliche reformierte Landeskirchen entstanden durch Fürstenkonversionen. Am Anfang stand Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz, der 1559 die Regierung in Heidelberg antrat. Die Kurpfalz war seit 1546 ein lutherisches Territorium. Friedrich III. war durch seine 1537 geschlossene Ehe mit Maria von Brandenburg-Kulmbach für Luthers Lehre gewonnen worden. 1560/61 trat er zum Reformiertentum über. Mit dem Heidelberger Katechismus wurde die Kurpfalz 1563 das erste reformierte Territorium im Reich. Hinzu kam 1563 die kurpfälzische Kirchenordnung115 des Caspar Olevianus, während die reformierte Territorialkirche der Kurpfalz erst durch die Kirchenratsordnung von 1564116 ihre äußere Gestalt erhielt. Nach dem Tod Friedrichs III. 1576 wurde unter Ludwig VI. das Luthertum restauriert, bevor Johann Casimir 1583 wieder das Reformiertentum einführte. Wegen des Ausschlusses der Reformierten vom Augsburger Religionsfrieden geriet Friedrich III. in die Gefahr, als Ketzer angeklagt zu werden. Doch brachte der Augsburger Reichstag von 1566 die de-facto-Anerkennung der kurpfälzischen Religionsveränderungen.117 Danach folgten andere Landesherren seinem Beispiel. Das begann 1566 in den niederrheinischen Herrschaften Bedburg und Moers des Grafen Hermann von Neuenahr. Dabei bestanden nicht nur theologisch und hinsichtlich der Abhängigkeit der Moerser Kirchenordnung von 1581 von der kurpfälzischen Kirchenordnung von 1563, sondern auch personell enge Beziehungen. Friedrich III. war in zweiter Ehe mit einer Neuenahrer Grafentochter verheiratet. Ein Ableger des kurpfälzisch-neuenahrischen Reformiertentums waren die Grafschaften Tecklenburg, Bentheim und Steinfurt des Grafen Arnold von Bentheim, die zwischen 1587 und 1597 vom Luthertum zum Reformiertentum übergeführt wurden. Auch Arnold war mit einer Neuenahrer Grafentochter, einer Schwester der Kurfürstin von der Pfalz, verheiratet und schon bei seiner Eheschließung 1573 zum Reformiertentum übergetreten. Nach dem Sieg der lutherischen Orthodoxie in Kursachsen trugen aus Sachsen vertriebene philippistische Theologen wie Pezel im Verein mit kurpfälzischen Reformierten, die 1576 Heidelberg hatten verlassen müssen, in einer Reihe von Grafschaften zur Annahme reformierter Gottesdienst- und Bekenntnisformen bei. Das geschah 1578 in Nassau-Dillenburg unter Graf Johann VI., einem Bruder Wilhelms von Oranien, und im gleichen Jahr in der Grafschaft Wittgenstein unter Ludwig d. Ä. Zu nennen sind auch Wolfgang Ernst von Isenburg-Büdingen und verschiedene Grafen von Solms, Wied und Sayn. Seit 1586 suchte Kurfürst Christian I. das Reformiertentum in Kursachsen einzuführen, was durch seinen Tod 1591 Episode blieb. 1595/97 etablierte Fürst Johann Georg I. in Anhalt das Reformiertentum. Nach der Wende zum 17. Jahrhundert folgte Simon VI. zur Lippe und mit ihm die Grafschaft Lippe, wenn auch ohne die am Luther-
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tum festhaltende Stadt Lemgo. 1605 wurden in Hessen-Kassel unter Landgraf Moritz dem Gelehrten die Verbesserungspunkte erlassen, bevor das damit begonnene Werk 1607 zum Abschluß kam.118 1613 nahm der lutherische Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg das reformierte Bekenntnis an. Doch blieb das Reformiertentum in Brandenburg eine Konfession des Herrscherhauses und eine Art Beamtenreligion.119 Eine Übertragung auf die am Luthertum festhaltenden Bewohner der brandenburgischen Territorien unterblieb, obwohl Kurfürst Friedrich Wilhelm in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts reformierte Gemeindebildungen förderte. Die durch diese Fürstenkonversionen entstandenen reformierten Landeskirchen bilden das Paradigma, an dem das Konfessionalisierungskonzept in seiner Verbindung mit frühmoderner Staatsbildung und Sozialdisziplinierung entwickelt wurde. Tatsächlich zeigt sich ein Zusammenhang. Das entscheidende Motiv war aber ein anderes: Neben der dogmatischen Abkapselung des Luthertums unter der Konkordienformel von 1577 trug die Rekatholisierung zur Entstehung reformierter Landeskirchen bei. Der Wechsel einzelner Territorien vom Luthertum zum Reformiertentum fiel zeitlich mit Schüben der Rekatholisierung in anderen, oft benachbarten Territorien zusammen. Das begann in der Kurpfalz, wo die Vorgänge in Parallele standen mit der 1563 aufgenommenen Rekatholisierungspolitik in Bayern unter Albrecht V. Ganz deutlich ist dieser Zusammenhang in Bentheim, Tecklenburg und Steinfurt. Hier übertrug der Graf die viel früher getroffene persönliche Entscheidung für das Reformiertentum in dem Augenblick auf seine Territorien, als im benachbarten Hochstift Münster mit der Ansiedlung der Jesuiten in der Stadt Münster die Rekatholisierungspolitik einsetzte. Das Luthertum bewahrte eine Fülle katholischer Formen − liturgische Gewänder, Gottesdienste, die als Messe bezeichnet wurden, Heiligen- und Marienfeste, den Exorzismus bei der Taufe, Hostien beim Abendmahl, Altarkerzen, Bilder und Kirchenschmuck, die Privatbeichte mit Absolution, Weihrauch und Ministranten, das Fronleichnamsfest, Prozessionen und Fastenzeiten. Das alles fehlte bei den Reformierten, während es diese äußeren Formen dem oft noch analphabetischen und auf äußere Kennzeichen angewiesenen Laien schwer machten, wahrzunehmen, ob er sich in einem katholischen oder in einem lutherischen Gottesdienst befand. Dieser Synkretismus in der äußeren Erscheinungsweise des lutherischen Kirchenwesens nährte die Furcht, dass den Katholiken dadurch Rekatholisierungserfolge gelingen könnten, die nicht im politischen Interesse der Fürsten lagen. Deshalb schritt man zur Emendation (lat. emendare, von Fehlern befreien) der Gottesdienste von allen katholischen Resten, zur Reinigung der Kirchen „von allen Bäpstlichen reliquien“ und von allem, „was in denselben Päpstlichen wercks wider Gottes wortt uberig wahr“120. Hinter der Einführung des Reformiertentums standen − wie Äußerungen Pezels von 1578 belegen121 − kirchenpolitisch-praktische Überlegungen zur Sicherung des protestantischen Kir-
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chenwesens durch Immunisierung der Bevölkerung gegen die Rekatholisierung. Deshalb war die Einführung des Reformiertentums in lutherischen Territorien des Reiches häufig negative Gegenreformation.122 Freie Gemeindebildungen Der andere Typus des Reformiertentums auf deutschem Boden hing mit den niederländischen Flüchtlingsgemeinden zusammen, die nicht ohne Einfluss auf ihre deutsche Umgebung blieben. Die vom Weseler Konvent 1568123 und der Emder Synode 1571124 geschaffenen Grundlagen der Kirchenverfassung der niederländischen reformierten Kirche im Exil und in der Heimat mit dreistufigem Synodalwesen und Presbyterbeteiligung als Träger des Kirchenregiments wurden von den deutschen reformierten Gemeinden der Länder Jülich, Kleve, Berg und Mark übernommen. Diese deutschen Gemeinden waren in Anlehnung an Flüchtlingsgemeinden oder unabhängig neben ihnen entstanden. Bei den niederländischen Flüchtlingsgemeinden wurzelt das Modell der presbyterial-synodalen Kirchenverfassung, das über diese deutschen reformierten Freikirchen und über die nach deren Vorbild organisierten lutherischen Gemeinden dieser Territorien im 19. und 20. Jahrhundert in die evangelischen Kirchen Deutschlands einging. Anglikanismus, Presbyterianismus, Puritanismus Bis ins frühe 18. Jahrhundert waren Schottland und England unabhängige Königreiche, die erst durch die Realunion von 1707 vereinigt wurden. Doch hatte Schottland schon im 15. Jahrhundert seine Selbstständigkeit eigentlich nur deshalb bewahren können, weil England durch den Hundertjährigen Krieg gebunden und danach durch die Rosenkriege geschwächt war. Im 16. Jahrhundert setzten sich die Auseinandersetzungen zwischen England und Schottland fort, was sich jetzt mit den konfessionellen Fragen verband. 1603 trat König James (Jakob) VI. von Schottland in England die Nachfolge Elisabeths I. an und wurde als James I. König von England. Mit ihm begann die Personalunion von England und Schottland, die Schottland rechtlich die Unabhängigkeit beließ. Dabei blieb es bis in die Zeit nach 1651, als Schottland nach der Hinrichtung Charles I. in das Commonwealth Oliver Cromwells integriert wurde. Mit der Restauration des Königtums 1660 wurde das Königreich Schottland im Rahmen der Personalunion mit England wiederhergestellt, woran sich bis 1707 nichts änderte. Englands Trennung von Rom In England ging die Trennung von Rom der Reformation voraus und war zunächst mehr Fortsetzung und Vollendung nationalkirchlicher Bestrebungen als dogmatische oder auch nur liturgische Reformbewegung. Diese nationalkirchlichen Bestrebungen unterstützte auch Thomas Wolsey, der, seit 1514 Erzbischof von York und seit 1515 Kardinal und Lordkanzler, ein Vertreter der Katholischen Reform in England war und nach dem Auf-
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kommen der Reformation in Deutschland gegen die neue Lehre predigte, als päpstlicher Legat aber für die Ausweitung der königlichen Kontrolle über die Kirche wirkte. Die katholische Kirche Englands trennte sich vom Papsttum und blieb katholisch. Dahinter standen persönliche Absichten des Königs. Der seit 1509 regierende Heinrich VIII. aus dem Hause Tudor war mit Katharina von Aragón verheiratet, einer Tochter Ferdinands von Aragón und Isabellas von Kastilien, wollte sich aber seit 1527 von ihr trennen. Gründe dafür waren das Ausbleiben der Geburt eines Sohnes und ein Liebesverhältnis mit Anne Boleyn. Eine Scheidung der Ehe widersprach der kirchlichen Lehre. Clemens VII. weigerte sich, die Tatsache, dass Katharina vor ihrer Ehe mit Heinrich mit dessen 1502 gestorbenem älteren Bruder Arthur Prince of Wales verheiratet gewesen war, als Ehehindernis anzuerkennen und mit dieser Begründung die Nichtigkeit der Ehe festzustellen. Er folgte der Auslegung Cajetans nicht, der in Rom mit der Scheidungssache befasst war und die Meinung vertrat, dass Polygamie weder vom Naturrecht noch von der Bibel verboten werde und daher ein Dispens möglich sei. Heinrich VIII. musste im Falle der Eheschließung mit Anne Boleyn mit der Exkommunikation rechnen. Weil eine Trennung der Ehe des Königs innerhalb der Kirche nicht möglich war, wählte der König eine Zweitehe außerhalb der Kirche und trennte sich von ihr. Die Trennung der Kirche Englands von Rom wurde durch das Londoner Parlament mit dem Act of Appeals von 1533 vollzogen, bevor sich der König mit dem Act of Suppremacy von 1534 zum Oberhaupt seiner Kirche machte. 1533 erklärte Thomas Cranmer, den Heinrich VIII. 1532 zum Erzbischof von Canterbury ernannt hatte, die Ehe des Königs für ungültig und machte den Weg frei für dessen Eheschließung mit Anne Boleyn. Cranmer war ein von Luther beeinflusster humanistischer Gelehrter, der in Deutschland gelebt und in Nürnberg eine Nichte des Reformators Andreas Osiander geheiratet hatte. 1521 hatte der König Luthers Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium verbrennen lassen und persönlich mit der kritischen Entgegnung Assertio septem Sacramentorum zu widerlegen gesucht, um dafür vom Papst den Titel eines defensor fidei (Verteidiger des Glaubens) zu erhalten, woraufhin Luther 1522 − auf Deutsch125 und auf Latein − Contra Henricum Regem Angliae126, geschrieben hatte. In einem Brief vom 3. September 1531 nahm Luther ablehnend zum Scheidungsbegehren des Königs Stellung.127 Auch Anne Boleyn wurde nur Mutter einer Tochter. Das führte zur Entfremdung des Königs von seiner zweiten Gemahlin, die 1536 hingerichtet wurde. Es folgten vier weitere Ehen, von denen die mit Catharine Howard mit einer Hinrichtung endete, während Jane Seymour eines natürlichen Todes starb. Die Ehe mit Anna von Kleve, der Tochter Herzog Johanns III. von Jülich-Kleve-Berg, ließ der König annulieren. Nur seine letzte Gemahlin, Catharine Parr, überlebte ihn. Seit 1533 war die Kirche Englands eine vom Papsttum getrennte, dogmatisch aber katholische Kirche unter dem König als Oberhaupt. Die Trennung von Rom und die von Thomas Cromwell gelenkte staatskirchliche Gesetzgebung
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trugen zur Verbreitung antiklerikalistischer Strömungen bei, die seit den dreißiger Jahren den Boden für die Aufnahme reformatorischer Gedanken vorbereiteten. Vom Kontinent her gewann zunächst die Lehre Luthers Einfluss, die in Cranmer einen Vertreter fand, während der 1540 hingerichtete Thomas Cromwell Einflüssen der kontinentalen radikalen Reformation in England entgegentrat. Doch machten sich auch andere reformatorische Strömungen des Festlands bemerkbar. Dazu trug Bucer bei, der nach Auseinandersetzungen mit dem Stadtrat von Straßburg um das Augsburger Interim 1549 nach England gegangen war und bis zu seinem Tod 1551 in Cambridge lebte. Zur Vereinheitlichung des Gottesdienstes der englischen Kirche stellte Cranmer 1549 das Book of Common Prayer zusammen, das die katholischen Gottesdienstformen in vereinfachter Form bewahrte, aber theologisch die Reformation aufnahm und die lutherische Rechtfertigungslehre rezipierte. 1552 kam eine zweite, stärker reformiert gefärbte Fassung zustande, in der sich der Einfluss von Petrus Martyr Vermigli, eines aus Italien stammenden Spätzwinglianers, den Cranmer 1547 nach Oxford berufen hatte, und von Bucer bemerkbar machte. Das stand im Zusammenhang mit dem Streit um die katholischen Messgewänder, in dem John Hooper, der Bischof von Gloucester, reformierte Standpunkte vertrat. In diesem Streit lagen die Anfänge des Puritanismus. Das Common Prayer Book von 1552 fasste die Glaubenslehre in 42 Artikeln zusammen. Daraus wurden in der elisabethanischen Fassung von 1559, die die katholischen Messgewänder wieder einführte, die 39 Articles of Religion, bis heute offizielle Lehrformulierung der Anglikanischen Kirche. Nach dem Tod Edwards VI. 1553 gelangte die seit 1554 mit Philipp II. von Spanien verheiratete Mary Tudor (Bloody Mary) oder Maria die Katholische, die Tochter Heinrichs VIII. aus seiner Ehe mit Katharina von Aragón, für fünf Jahre auf den Thron. Mit Hilfe von Stephen Gardiner, den Edward VI. 1551 wegen seiner Ablehnung der Reformation als Bischof von Winchester abgesetzt hatte und den Mary in seine Diözese zurückführte und 1553 zum Lordkanzler erhob, unternahm sie den Versuch einer Restauration des Katholizismus. Kardinal Reginald Pole kehrte als Legat Julius’ III. aus Rom in seine englische Heimat zurück und wurde 1555 anstelle des abgesetzten Cranmer Erzbischof von Canterbury. Die katholische Restauration hielt bis zu Mary Tudors Tod 1558 an und forderte zahlreiche Hinrichtungsopfer, darunter Cranmer, der, der Häresie angeklagt, 1556 trotz Widerrufs auf dem Scheiterhaufen starb. Das gleiche Schicksal erlitten Hooper, der 1552 von Edward VI. zu seinem Bistum Gloucester auch die Diözese Worcester erhalten hatte, aber 1555, weil er in zwinglianischer Weise die Realpräsenz Christi in der Eucharistie leugnete, hingerichtet wurde, der frühpuritanische Theologe Hugh Latimer oder der Bischof von London, Nicholas Ridley, der ebenfalls eine reformierte Abendmahlsauffassung vertrat. Unter Elisabeth I., der von 1558 bis 1603 als Königin von England herrschenden Tochter Heinrichs VIII. und Anne Boleyns, wurde die von Rom getrennte
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englische Staatskirche wiederhergestellt. Dazu dienten das Settlement und der Act of Uniformity von 1559, mit der die Anglikanische Kirche als episkopalistische Kirche mit dem König oder der Königin als Oberhaupt entstand. Katholisch war an der anglikanischen Kirche, dass sie an katholischen liturgischen Formen und an der apostolischen Sukzession der Bischöfe festhielt und in der Weihe von Matthew Parker zum Erzbischof von Canterbury 1559 die Kontinuität ihrer Bischöfe zum Episkopat des Mittelalters und der Alten Kirche sah. Von katholischer Seite wurden die anglikanischen Weihen jedoch schon im 16. Jahrhundert nicht anerkannt. Seit der Entscheidung Leos XIII. in seinem Schreiben Apostolicae curae et caritatis von 1896128 wurde die apostolische Sukzession der anglikanischen Bischöfe von Rom endgültig bestritten.129 Protestantisch war an der anglikanischen Kirche, dass sie mit den Lutheranern und den Reformierten nur die zwei Sakramente der Taufe und des Abendmahls − „There are two Sacraments ordained of Christ our Lord in the Gospel, that is to say, Baptism, and the Supper of the Lord“130 − sowie das sola scriptura-Prinzip − „Holy Scripture containeth all things necessary to salvation“131 − der Verwerfung der Tradition als zweiter Offenbarungsquelle neben der Heiligen Schrift kannte. Protestantisch war die Rechtfertigungslehre (Justification of Man), die Verwerfung der Good Works, des Fegefeuers (Purgatory) und der Anrufung der Heiligen (invocation of Saints) sowie des Freien Willens (Free-Will). Protestantisch war auch die Nichtanerkennung des Papstprimats. So stellte der Anglikanismus einen Kompromiss der via media dar, der im Act of Uniformity und im elisabethanischen Common Prayer Book von 1559 zum Ausdruck kam. Trotz dieses Kompromisscharakters der anglikanischen Staatskirche, an dem sich die Kritik der Puritaner entzündete, wurde das England der 1570 von Pius V. exkommunizierten Elisabeth I., vor allem durch den Krieg gegen Spanien seit 1585, militärisch und politisch zum Vorkämpfer des Protestantismus in Europa. Schottland und der Presbyterianismus In Schottland drang die Reformation nur sehr langsam ein. Das Königshaus der Stuart war und blieb katholisch. In der Zeit der Minderjährigkeit der seit 1548 in Frankreich erzogenen Königin Mary Stuart veränderten viele Kirchengemeinden ihre Gottesdienste und führten Formen der Selbstverwaltung durch Presbyter ein. Dabei kamen ihnen die politischen Gegensätze zwischen der an Frankreich orientierten Dynastie und dem sich an England anlehnenden Adel entgegen. Die wichtigste Gestalt der schottischen Reformation war John Knox, der 1554 bei der Thronbesteigung der Mary Stuart nach Genf flüchtete. 1559 kehrte er nach Schottland zurück, während Mary Stuart sich als Gemahlin Franz’ II. in Frankreich aufhielt. Die Rückkehr von Knox aus dem Genfer Exil verstärkte den Aufstand des Adels gegen die Regentschaft der Marie de Guise und beschleunigte die konfessionelle Entwicklung. 1560 erklärte eine Versammlung der Stände Schottlands die Autorität des Papstes für nichtig und nahm die Confessio Scotica132 als Bekenntnisschrift an.
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1561 kehrte Mary Stuart nach Edinburgh zurück. Damit begann in Schottland ein katholischer Restaurationsversuch, der die Ständekämpfe weiter verschärfte. 1568 unterlag die Königin dem Adel unter ihrem Halbbruder James Lord Stuart Earl of Moray. Sie floh nach England, wo sie als Gefangene Elisabeths I. nach langer Haft 1587 enthauptet wurde. Von katholischen Zeitgenossen als Märtyrerin verehrt, wurde Mary Stuart zu einer Figur der Weltliteratur, wovon in Deutschland vor allem Friedrich Schillers Trauerspiel Maria Stuart von 1800 bekannt ist. In Schottland war der Protestantismus – seit der Confessio Scotica von 1560, dem First Book of Discipline133 und dem Book of Common Order und unter dem Einfluss von Knox – in der Lehre reformiert, wird aber als presbyterianisch bezeichnet. Das bezieht sich auf die antihierarchische Kirchenverfassung mit dem einen Leitungsamt des gewählten Presbyters (griech. presbÚteroj Älterer). Doch wurden in der Church of Scotland zunächst noch keine Presbyterien eingerichtet. Auch blieb es bei der Existenz von Bischöfen, die 1612 vom schottischen Parlament erneut anerkannt wurden. Der Presbyterianismus kam erst unter Andreas Melville zustande, der 1574 aus Genf zurückkehrte und im Second Book of Discipline134 von 1578 die Presbyterialverfassung als göttliches Recht propagierte. Während des 17. Jahrhunderts suchten die Stuart-Könige, die seit 1603 in England Oberhaupt einer episkopalistischen Staatskirche waren, in Schottland den Episkopat beizubehalten. 1635 unternahm der von Charles I. als Erzbischof von Canterbury eingesetzte William Laud den Versuch, das anglikanische Common Prayer Book im Gottesdienst der Saint Giles’s Cathedral in Edinburgh einzuführen und so eine liturgische Angleichung einzuleiten. Das stieß in ganz Schottland auf Widerstand und führte im Februar 1638 in der Greyfriars’ Church in Edinburgh zum Abschluss des presbyterianischen National Covenant und auf der Glasgow Assembly von 1638 zur Abschaffung des Episkopats. 1643 trat die Westminster Assembly zusammen, die zunächst nur für die Church of England Reformen erreichen sollte und bis 1652 tagte. Noch 1643 traten Deputierte der Church of Scotland der Westminster Assembly bei, die 1646 die Westminster Confession of Faith135 als Bekenntschrift für England, Schottland und Irland verabschiedete. Nach 1660 hatte die Westminster Confession nur noch Bedeutung für Schottland. Nach der Restauration des Stuart-Königtums wurde 1660 in Schottland der Episkopat wiederhergestellt, bevor 1690 endgültig die presbyteriale Ordnung der Church of Scotland durchgesetzt wurde, die im Unionsgesetz von 1707 ihre Absicherung erfuhr. In England blieb der Presbyterianismus ein Fremdkörper. Puritanismus und Revolution in England Der Puritanismus war eine biblizistische und individualistisch auf Selbstanalyse der Seele und ihres Weges zum göttlichen Heil konzentrierte Frömmigkeitsbewegung, deren Ursprung in den Versuchen lag, die Trennung der englischen Kirche von Rom inhaltlich in Anlehnung an die festländische Reformation zu vollenden, wobei die reformierte stärker als
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die lutherische Beeinflussung war. Doch ging der Puritanismus nicht im Reformiertentum auf. Zu unterscheiden sind der antiepiskopalistische Frühpuritanismus des späteren 16. Jahrhunderts um Thomas Cartwright, der aktionistische, zeitweise mit dem Presbyterianismus verbundene Hochpuritanismus der Bürgerkriegsphase des 17. Jahrhunderts und der frömmlerische Spätpuritanismus. Nach 1625 wurde der Puritanismus zum Integrationsfaktor der politischen Opposition und zum gemeinsamen Nenner der in der Englischen Revolution seit 1640 gegen den König gerichteten Kräfte. Man kann deshalb von der Puritanischen Revolution sprechen. Die von Charles I. unterstützten antipuritanischen Bestrebungen Lauds in England seit 1635 trugen ebenso zum Erstarken des Puritanismus bei wie die durch die Kirchenpolitik Lauds in Schottland ausgelösten Vorgänge. Dazu gehörten die Kämpfe der Schotten mit den Truppen des Königs im First Bishops’ War von 1639 und im Second Bishops’ War von 1640, die Charles I. 1640 zur Einberufung des seit 1629 nicht mehr zusammengetretenen Londoner Parlamentes zwangen. Im Langen Parlament fand die puritanische Opposition gegen Lauds Kirchenpolitik politische Aktionsmöglichkeiten, bevor der – katholische – irische Aufstand von 1641 die Gegensätze weiter verschärfte. So standen der puritanische Protestantismus mit der Parlamentspartei der Rundköpfe gegen die Krone, der Katholizismus und die Vertreter der anglikanischen Bischofskirche hingegen mit dem König und den royalistischen Kavalieren gegen das House of Commons, als 1642 der erste Bürgerkrieg begann. Gegen den König und seine Anhänger formierte sich die puritanische Armee, in der sich Oliver Cromwell als Führer hervortrat. Mit dem Ziel der Errichtung einer presbyterianischen Kirchenverfassung unterstützten die Schotten die Parlamentspartei. Das Bündnis des schottischen Presbyterianismus und des englischen politischen Puritanismus zerbrach im zweiten englischen Bürgerkrieg von 1648, weil der König sich durch Zugeständnisse gegenüber der Presbyterialverfassung in den Schotten Verbündete geschaffen hatte, während die am organisierten Kirchenwesen festhaltenden gemäßigten presbyterianischen Puritaner aus dem Londoner Parlament vertrieben wurden. Nach ihrer Verdrängung bildete Cromwell aus den das freie Gemeindeideal vertretenden radikalen Puritanern, den Independenten oder Kongregationalisten, das Rumpfparlament, dessen Mitglieder König Charles I. 1649 hinrichten ließen und das die Einführung der Commonwealth genannten Republik beschloss. Die sozialen und wirtschaftlichen Momente, die für die Puritanische Revolution nur eine untergeordnete Rolle spielten, wurden überdeckt durch die kirchenpolitischen Gegensätze. Der puritanische Antiklerikalismus wurde zum Sammelbecken der politischen Opposition. Neben dem Puritanismus entfalteten sich im England des 17. Jahrhunderts verschiedene religiöse Strömungen, in denen teilweise die Tradition des Täufertums nachwirkte. Von John Smyth, Thomas Helwys und den Baptisten war schon die Rede. Die Quäker (engl. to quake zittern) − oder die Religious Society of
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Friends − kamen in der Bürgerkriegszeit der Mitte des 17. Jahrhunderts als radikalster Flügel der Puritaner auf. Ihr Gründer George Fox begann 1647 in den Midlands zu predigen. Seit 1652 gewann er größeren Zulauf, u. a. von Soldaten der puritanischen Armee und religiös Enttäuschten aus verschiedenen nonkonformistischen Gruppierungen. Die Zusammenkünfte fanden zunächst unter freiem Himmel, in Scheunen oder Privathäusern statt. Seit 1653 gab es monatliche Versammlungen in Durham in Nordengland. Die Quäker lehnten wie die Täufer jedes hierarchische Kirchentum ab, aber auch den Eid, den Kriegsdienst, alle äußeren Lustbarkeiten und die Sakramente. Fox verwarf, wie die Antitrinitarier, biblizistisch die Trinitätslehre. 1659 beantragte er im Parlament die Entfernung des Kreuzes aus der englischen Flagge − der St.-Georgs-Flagge mit dem Kreuz in Rot auf weißen Grund − und die Enteignung des kirchlichen Grundbesitzes zugunsten der Armen. Die Quäker begingen schweigende Gottesdienste, glaubten an das innere Licht aller Menschen und an die Gleichheit aller Menschen vor Gott. Mit William Penn gelangten die Quäker nach Nordamerika. Calvinismus und Kapitalismus Eine weithin bekannte These gilt dem Zusammenhang zwischen dem Calvinismus des Konfessionellen Zeitalters und dem Kapitalismus. Formuliert von Max Weber findet sie sich zuerst in seiner Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, einem umfangreichen Aufsatz von 1905.136 In vergröberter Gestalt besagt die These, dass der Calvinismus mit seiner Prädestinationslehre den Kapitalismus hervorbrachte. Weber hat seine These so nicht vertreten und keinen Kausalzusammenhang zwischen Calvinismus und Kapitalismus behauptet, also nicht die Ursache für die Entstehung des Kapitalismus im Calvinismus und in der Prädestinationslehre gesehen. Es ging ihm um den Nachweis von Zusammenhängen und Berührungen zwischen Glaubensinhalten und materiellem Leben in Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei gelangte er zu dem Ergebnis, dass es eine Verwandtschaft gebe zwischen der protestantischen Ethik – oder den religiös begründeten Regeln der Lebensführung im asketischen Protestantismus – und dem Geist (nicht: der Entstehung) des Kapitalismus. Er dachte an spezifische, für die kapitalistische Wirtschaftsform wichtige Verhaltensweisen wie Ehrlichkeit in Geldsachen, Kreditwürdigkeit, Pünktlichkeit, Fleiß usw. Unter asketischem Protestantismus verstand Weber den Calvinismus „in der Gestalt, welche er in den westeuropäischen Hauptgebieten seiner Herrschaft im Laufe insbesondere des 17. Jahrhunderts annahm“ − also z. B. nicht das deutsche Reformiertentum −, ferner den Pietismus, den Methodismus und die aus dem Täufertum hervorgegangenen religiösen Gruppierungen. Weber leugnete nicht das Vorhandensein kapitalistischer Wirtschaftsformen vor der Reformation und außerhalb des Protestantismus, etwa im Katholizismus − die Fugger waren und blieben katholisch −, ja auch außerhalb der europäischen Welt; doch bezog er seine Aussagen nur auf den „modernen […] westeuropäischamerikanischen Kapitalismus“. Hier habe der asketische Protestantismus spezifi-
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sche Verhaltensweisen entstehen lassen, die die davon betroffenen Menschen in besonderer Weise geeignet gemacht hätten, den Anforderungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu entsprechen. Dabei spielte für ihn besonders die innerweltliche Askese der Puritaner eine Rolle. Wenn es bei Weber auch nicht die Behauptung der Verursachung des Kapitalismus durch den Calvinismus und den übrigen asketischen Protestantismus gibt, so scheint bei ihm doch eine Kausalbeziehung auf zwischen der Prädestinationslehre und der durch sie hervorgerufenen asketischen Lebensund Berufsauffassung und der Verbreitung des Geistes des Kapitalismus. Er fragte: „Wie wurde diese Lehre ertragen in einer Zeit, welcher das Jenseits nicht nur wichtiger, sondern in vieler Hinsicht auch sicherer war als alle Interessen des diesseitigen Lebens. Die eine Frage mußte ja alsbald für jeden einzelnen Gläubigen entstehen und alle anderen Interessen in den Hintergrund drängen: Bin ich denn erwählt? Und wie kann ich dieser Erwählung sicher werden?“ Seine Antwort lautete: So „wurde, um jene Selbstgewißheit zu erlangen, als hervorragendstes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft“. Hinzu kam für ihn als äußere Wirkung der innerweltlichen Askese − „einer Lebensführung des Christen, die zur Mehrung von Gottes Ruhm dient“ − die „Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang“ und damit die Ansammlung von kapitalistisch einsetzbarem Investitionskapital − statt seiner Vergeudung im Luxuskonsum − und zugleich die durch die „Macht der religiösen Askese“ hervorgerufene Disziplinierung der Arbeiter. Weber arbeitete die allmähliche Säkularisierung einer calvinistisch-puritanischen Motivkette aus Prädestinationslehre, systematischer ethischer Lebensführung, Berufsgedanken und innerweltlicher Askese heraus, die zur Ermöglichung kapitalistischer Strukturen beigetragen habe. Die Kritik an Webers These blickt auf seine Quellen. Tatsächlich hat Weber seine These fast ganz anhand von Aussagen englischer und amerikanischer Moraltheologen puritanischer Provenienz aus dem 17. und 18. Jahrhundert – insbesondere des anglikanischen Pfarrers puritanischer Prägung Richard Baxter – entwickelt. Auch lässt sich feststellen, dass Webers These durch Quellen aus dem französischen Calvinismus nicht zu bestätigen ist. Hält man sich jedoch streng an die Fragestellung Webers – die Beeinflussung des den modernen Kapitalismus ermöglichenden Berufsethos durch den asketischen Protestantismus – und an die von ihm selbst gezogenen Grenzen, innerhalb derer er seine Aussagen machte, so erscheint die Kritik größtenteils als unbegründet. Calvinismus und Demokratie Älter ist die These von Georg Jellinek über den Zusammenhang von Calvinismus und Bürger- und Menschenrechtsidee.137 Dahinter steht die Frage nach dem Zusammenhang von Calvinismus und moderner Demokratie. Dafür sprechen die Widerstandslehren der calvinistischen Monarchomachen (Monarchenbekämpfer) − in Deutschland Johannes Althusius. Doch
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gab es auch katholische Monarchomachen wie den spanischen Jesuiten Juan de Mariana. Dafür spricht auch der presbyteriale Gedanke. Zwischen der presbyterialen Idee und der repräsentativen Demokratie der amerikanischen Bundesverfassung von 1787 sind solche Zusammenhänge offenkundig. Gegen eine Verbindung von Calvinismus und Demokratie muss jedoch der französische Calvinismus des 17. Jahrhunderts mit seiner vor 1685 streng absolutistischen Staatslehre ebenso angeführt werden wie die obrigkeitlichen reformierten Landeskirchen in Deutschland. Die skandinavischen und baltischen Länder In Dänemark und Schweden erwuchs die Reformation aus nationalkirchlichen Bestrebungen. Deutlich ist die personelle Kontinuität zwischen der vor der Reformation einsetzenden, mit dem Humanismus verbundenen Katholischen Reform und der Reformation. Am Anfang stand die politische Krise, die 1523 zum Zerfall der seit 1397 bestehenden Kalmarer Union der drei Königreiche Dänemark, Schweden und Norwegen führte. Die Kalmarer Union stand unter dänischer Führung. Der Aufschwung des Bergbaus in Schweden im 15. Jahrhundert verschob die Schwergewichte allmählich zugunsten Schwedens. Als Haupt der nationalschwedischen Opposition gegen Dänemark besiegte der schwedische Reichsverweser Sten Gustavsson Sture d. Ä. 1471 König Christian I. von Dänemark. Nach dem Einfall der Russen 1495 in Finnland wurde Sture abgesetzt. An seine Stelle trat König Hans I. von Dänemark, der 1501 von der nationalschwedischen Opposition vertrieben wurde. Sten Gustavsson Sture d. Ä. kehrte als Reichsverweser zurück, unterstützt von Svante Nilsson Sture, der ihm 1503 folgte und die antidänische Politik fortsetzte. Er war der Vater von Sten Svantesson Sture d. J., der als Reichsverweser seit 1512 den Kampf gegen die Unionsmonarchie aufnahm. Sein Gegner war Gustav Eriksson Trolle, der als Erzbischof von Uppsala die Unionsmonarchie stützte. Im Jahre 1517 ließ Sture den Erzbischof, der Christian II. von Dänemark zur Hilfe gerufen hatte, vom schwedischen Reichstag wegen Landesverrats verurteilen. Trolle wurde gefangen genommen und zur Abdankung gezwungen. Der Erzbischof von Lund sprach den Bann über Sture aus, während Leo X. Schweden 1517 mit dem Interdikt belegte, also mit dem Verbot der Abhaltung von Gottesdiensten. Christian II., seit 1513 König von Dänemark und seit 1515 mit Karls V. Schwester Elisabeth verheiratet, besiegte die Schweden und richtete 1520 mit dem Stockholmer Blutbad ein Strafgericht an, dem rund 100 Personen zum Opfer fielen, darunter Erik Johansson Vasa, der Vater Gustavs Eriksson Vasa. Christian II. wurde 1520 auch König von Schweden, kehrte aber nach Dänemark zurück und setzte in Schweden eine Regierung unter Erzbischof Trolle ein. Gustav Eriksson Vasa konnte aus dänischer Geiselhaft fliehen und kam 1521 nach Schweden, wo er an die Spitze des Volksaufstandes gegen den Erzbischof trat.
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1523 wurde er als Gustav I. zum König von Schweden gewählt. Das war das Ende der Kalmarer Union. Gustav I. begründete die schwedische Königsdynastie der Vasa. Nationalkirchentum und katholische Reform Christian II. war ein der Katholischen Reform und dem christlichen Humanismus nahestehender Herrscher, der eine katholische Nationalkirche anstrebte. Er förderte den Bibelhumanismus, gründete in Kopenhagen, dem Sitz der einzigen Universität des dänisch-norwegischen Doppelreiches, ein Institut für das Bibelstudium und berief den Humanisten und katholischen Reformer Paulus Helie (Poul Helgesen) als Professor, der das sola scriptura-Prinzip vertrat und Luthers Rechtfertigungslehre nahestand. Seine Schüler wurden reformatorische Prediger, während er als Verteidiger der alten Kirche starb. Sein Reformkatholizismus bildete „eine wesentliche Voraussetzung der Reformation“138 in Dänemark. Doch kam es nach dem Stockholmer Blutbad zum Bruch zwischen Christian II. und Helie, welcher sich dem Aufstand anschloss, der den König 1523 zur Flucht in die Niederlande zwang. Christian II., der sich während des Exils auch lutherischen Positionen zuwandte − am 8. März 1524 suchte er gemeinsam mit seiner Gemahlin Elisabeth Luther in Wittenberg auf −, unternahm 1532 den misslungenen Versuch, seine Königreiche zurückzugewinnen, und blieb bis zu seinem Tod in Haft. Sein Nachfolger Frederik I. distanzierte sich in seiner Handfeste von 1523 von der „lutherischen Ketzerei“ und versprach, die Bischofsstühle in Dänemark nur mit dänischen Adeligen zu besetzen. Auf dem Herrentag in Odense von 1526 mussten die Bischöfe Zugeständnisse bezüglich des Kirchengutes machen. Gemeinsam mit König und weltlichen Herren beschlossen sie, dass Bischofswahlen nicht mehr durch den Papst, sondern durch den Erzbischof von Lund − Südschweden, wo Lund liegt, gehörte zu Dänemark − bestätigt werden und die Annaten und Servitien statt an den Papst an den König abgeführt werden sollten. Da der Erzbischofssitz von Lund unbesetzt blieb, lag die Bischofsernennung beim König. Nachdem sich die reformatorische Bewegung seit 1526 in den Städten zu verbreiten begonnen hatte, ermöglichte der König 1527 die Gründung evangelischer Predigerschulen in Viborg und Malmö. Frederiks I. Tochter Dorothea war seit 1526 mit dem zur Reformation übergegangenen Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg-Ansbach, verheiratet. Gustav I. von Schweden teilte mit Christian II. und Frederik I. von Dänemark die nationalkirchlichen Bestrebungen, während von einer reformatorischen Bewegung in Schweden zunächst kaum und allenfalls unter den deutschen Bewohnern Stockholms gesprochen werden konnte. 1524 wählte das Domkapitel von Uppsala als Nachfolger Trolles Johannes Magnus (Jöns Månsson) zum Erzbischof. Als Clemens VII. ihm die Bestätigung verweigerte − der erst 1535 gestorbene Erzbischof Trolle lebte ja noch −, brach Gustav I. 1524 mit Rom. Olaus Petri, ursprünglich katholischer Reformer und Bibelhumanist, predigte in Stock-
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holm gegen den Heiligenkult. Nur ein Bischof, Hans Brask von Linköping, widersetzte sich. 1527 musste er Schweden verlassen. Im gleichen Jahr trat der schwedische Reichstag in Västerås zusammen, auf dem der König seine nationalkirchlichen Ziele durchsetzte. Er erhielt das Recht zur Einziehung des Kirchengutes. Die geistliche Jurisdiktion der Bischöfe wurde beschränkt. Bei einer Disputation, bei der Olaus Petri für die reformatorische Seite sprach, wurde festgestellt, dass dieser das reine Wort Gottes verkünde. Petri hatte bei Luther in Wittenberg studiert. Bei der Krönung Gustavs I. 1528 hielt er die Predigt, in der er das Recht des Königs auf Kontrolle der Kirche und der Bischöfe begründete. Luthertum in Dänemark und Schweden In Holstein, Schleswig und Jütland drang die reformatorische Bewegung seit 1522 ein. In Viborg verkündete Hans Tausen seit 1526 Luthers Lehre. Auf die Insel Sjælland, auf der Kopenhagen liegt, und in die Landschaft Skåne (Schonen) mit der Stadt Malmö gelangte die reformatorische Bewegung über die Handelsbeziehungen mit den Hansestädten. Die Kopenhagener Confessio Hafniensis von 1530 war wohl antikatholisch, aber noch nicht lutherisch. Nach dem Tod Frederiks I. 1533 kam es zur Grafenfehde, aus der 1534/36 Christian III. als König von Dänemark hervorging. 1536 entfernte er die Bischöfe aus ihrem Amt, setzte an ihrer Stelle evangelische Superintendenten ein, für die aber bald der Bischofstitel üblich wurde, und zog das Bischofsgut zugunsten der Krone ein. Der König berief Johannes Bugenhagen, der ihn 1537 krönte und sieben Superintendenten ordinierte, obwohl er selbst nie die Bischofsweihe erhalten hatte. Damit wurde die apostolische Sukzession für die Kirche des dänischen Reiches aufgegeben. 1537 wurde die von Bugenhagen auf der Grundlage seiner Braunschweiger Kirchenordnung von 1528 ausgearbeitete Kirchenordnung139 erlassen, womit Dänemark zur Reformation überging. Der König war Inhaber des Kirchenregiments. Die Superintendenten waren königliche Beamte. Die Domkapitel blieben als evangelische Kapitel bestehen. Die Bettelorden wurden verboten. Die bisherigen katholischen Pfarrer blieben im Amt und wurden, soweit sie nicht von sich aus zur Reformation übergegangen waren, protestantisch umgeschult. Das war das Werk des Kopenhagener Theologieprofessors und Superintendenten des Bistums Roskilde mit Sitz in Kopenhagen, Peder Palladius. 1557 legte er mit der Tabella de coena Domini140 eine orthodox-lutherische Abendmahlslehre vor. Christiern Pedersen sorgte für die dänische Übersetzung des Neuen Testaments von 1529 und war entscheidend an der dänischen Bibel Christians III. von 1550 beteiligt. Niels Palladius, der wie sein älterer Bruder Peder in Wittenberg studiert hatte, wurde Superintendent des Bistums Lund und trat als lutherischer geistlicher Schriftsteller hervor. In Schweden war Olaus Petri zunächst die wichtigste Theologengestalt der Reformation. 1524 hatte Gustav I. ihn zum Prediger an der Storkyrka in Stockholm berufen. Von 1531 bis 1533 war er königlicher Kanzler. Auf ihn ging im Wesentlichen die schwedische Übersetzung des Neuen Testaments von 1526 zu-
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rück. 1541 erschien mit der Gustav Vasas Bibel die gesamte Bibel in schwedischer Sprache, die ähnliche Bedeutung für Sprache und Literatur Schwedens gewann wie die Lutherbibel in Deutschland. 1529 stellte er die erste volkssprachliche reformatorische Gottesdienstagende, Een handbock påå Swensko, zusammen, auf die 1531 eine schwedische Messe (Then Swenska Messan) folgte. Diese behielt die katholische Form bei, soweit Petri sie für biblisch begründbar hielt, wies aber auch zwinglianische Einflüsse auf. 1540 fiel der Theologe, dem August Strindberg sein Drama Meister Olof von 1872 widmete, beim König in Ungnade. Seinen Bruder Laurentius Petri, ehemals Karmelit und dann Student bei Luther in Wittenberg, ernannte der König 1531 zum Erzbischof von Uppsala. Laurentius Petri wurde von dem Bischof von Västerås, Petrus Magni, der 1524 in Rom die Bischofsweihe empfangen hatte, zum Bischof geweiht. Deshalb beansprucht die lutherische Kirche Schwedens für ihre Bischöfe bis heute die apostolische Sukzession, obwohl die Bischofsweihe von 1531 wegen geheimer Vorbehalte ihres Spenders kanonisch ungültig war. Laurentius Petri wirkte bis zu seinem Tod 1573 an der Spitze der schwedischen Kirche. Der Konsolidierung der lutherischen Konfessionalisierung stand jedoch bis über den Tod Gustavs I. hinaus die mangelnde Festigkeit der lutherischen Konfessionsbildung entgegen. Hier schuf erst die Kirchenordnung Laurentius Petris von 1571141 Abhilfe, die bis 1686 in Geltung blieb und, vor allem in der Abendmahlslehre, katholische wie reformierte Auffassungen scharf abwies, in liturgischer Hinsicht aber katholischen Formen angenähert war. Sogar drei Marienfeste blieben beibehalten. Vor 1571 gab es philippistische oder reformierte und zwischen 1571 und 1593 katholische Einflüsse. 1539 ernannte Gustav I. den Melanchthonschüler Georg Norman zum königlichen Superintendenten mit Visitationsvollmacht über die Bischöfe. Seit etwa 1555 machten sich reformierte Strömungen bemerkbar, auch bei Gustavs I. Nachfolger seit 1560, Erik XIV. Dessen Nachfolger Johann III. öffnete Schweden 1573 dem katholischen Missionsversuch des polnischen Kardinals Stanislaus Hosius und seit 1580 dem Katechismus des Petrus Canisius in schwedischer Übersetzung. Er stand in Verbindung mit dem Jesuiten Antonio Possevino, der zwischen 1577 und 1580 zweimal in Schweden weilte, dessen Versuche zur Einrichtung einer Jesuitenmission in Stockholm aber erfolglos blieben. Bedeutung gewann die von Johann III. angeregte Liturgica suecanae ecclesiae catholicae et orthodoxae conformis von 1576, bekannt als Röda boken (Rotes Buch), womit der König die katholische Liturgie über die Kompromisse 1571 hinaus in Schweden zu restituieren suchte. Johann III. starb 1592. Seinem Sohn und Nachfolger in Schweden, dem polnischen König Zygmunt III. Vasa, war als Katholiken verwehrt, als custos ecclesiae an die Spitze der lutherischen Kirche zu treten. Deshalb berief sein Onkel, Karl von Södermanland, 1593 die Nationalsynode von Uppsala.142 Die Nationalsynode verwarf das Rote Buch, kehrte zur Kirchenordnung von 1571 und zur Liturgie von 1557 zurück und nahm die Confessio Augustana invariata von 1530 an. Erst jetzt
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war das Luthertum in Schweden konsolidiert, auch wenn von der Formula Concordia von 1577 keine Rede war. Daran änderte der Umstand nichts, dass Karl von Södermanland nach seiner Thronbesteigung als Karl IX. 1604 und bei seiner Krönung 1607 eine Bestätigung der Beschlüsse von 1593 vermied. Als Gustav II. Adolf 1611 König von Schweden wurde, nahm er in seiner Königsversicherung die Confessio Augustana invariata und die Beschlüsse von 1593 an, aber nicht die Formula Concordia, die somit in Schweden ebensowenig wie in Dänemark rezipiert wurde. Durch seinen Eintritt in den Dreißigjährigen Krieg wurde Gustav Adolf der Retter des deutschen Luthertums. Seine Tochter und Thronerbin Christine versagte sich Eheplänen, entsagte 1654 dem Thron zugunsten ihres Vetters Karl Gustav von Pfalz-Zweibrücken und verließ ihr Königreich. 1655 trat sie in Innsbruck zum katholischen Glauben über. In demselben Jahr kam sie nach Rom, wo Gian Lorenzo Bernini aus diesem Anlass die Porta del Popolo vollendete, durch die die katholisch gewordene Tochter Gustav Adolfs in einer Art Triumphzug die Stadt der Päpste betrat. Christine bewohnte seit 1656 den Palazzo Corsini im römischen Stadtteil Trastevere. Hier trug sie eine große Gemäldesammlung sowie Bücher, Handschriften und andere Kostbarkeiten zusammen; hier gründete sie eine Akademie und versammelte einen Kreis von Künstlern, Gelehrten und Repräsentanten katholischer Barockkultur um sich. Christine von Schweden starb 1689 und fand ihr Grab in den Grotten von San Pietro. Im rechten Seitenschiff der Peterskirche befindet sich, unweit von Michelangelos Pietà, seit 1701 ihr von Carlo Fontana geschaffener Kenotaph. Norwegen, Island, Finnland und die baltischen Länder In Norwegen gab es keine reformatorische Bewegung. Nur in Bergen trat 1526 der ehemalige Mönch Antonius als reformatorischer Prediger auf. 1524 wählte der norwegische Reichsrat Frederik I. von Dänemark in Norwegen zum König. Wie in Dänemark, so versprach Frederik I. auch in Norwegen, die Lehre Luthers nicht zu dulden. 1529 stellte er aber einen Schutzbrief für Herman Frese und Jens Viborg aus, die in Bergen reformatorisch predigten. Olav Engelbrektsson, der Erzbischof von Nidaros-Trondheim, der dem Reichsrat vorstand, trat nach dem Tod Frederiks I. für die Wahl des im Exil lebenden Christian II. zum König von Norwegen ein, weil dieser als katholisch galt. Als Christian III. König von Dänemark wurde, verließ Olav sein Erzbistum und floh in die Niederlande. Christian III. fügte seiner dänischen Handfeste von 1536 den Norwegenparagraphen an, mit dem Norwegen aufhörte, ein eigenes Königreich zu sein. Es galt hinfort als Provinz des dänischen Reiches. Mit einem Brief an den Statthalter in Bergenhus ordnete er 1537 die Reformation in Norwegen an. Die Bischöfe wurden abgesetzt, doch sollten die Pfarrer im Amt bleiben und die Kirche den größten Teil des Kirchenguts behalten. 1539 wurde die dänische Kirchenordnung von 1537 in Norwegen übernommen. Superintendenten traten an die Stelle der Bischöfe. Teilweise handelte
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es sich um die ehemaligen katholischen Bischöfe. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts musste die norwegische lutherische Kirche ohne liturgische Bücher in norwegischer Sprache auskommen und sich mit dänischen behelfen. Es gab auch keine norwegische Bibelübersetzung. Die Landbevölkerung Norwegens hielt lange an katholischen religiösen Formen fest. 1607 wurde in Norwegen eine revidierte Fassung der dänischen Kirchenordnung von 1537 eingeführt. Im Rahmen des königlichen Kirchenregiments wurde die norwegische Kirche von Kopenhagen aus geleitet. In Island lehnten die Bischöfe der beiden Diözesen Skálholt und Hólar, Ögmundur Pálsson und Jón Arason, die Reformation und die Annahme von Bugenhagens dänischer Kirchenordnung ab. Ihre Mitarbeiter Gissur Einarsson, Gisli Jónson, Oddur Gottskalksson, die teilweise in Deutschland studiert hatten, wandten sich der Lehre Luthers zu, die durch die Schifffahrtskontakte nach Hamburg früh in Island bekannt war. 1540 wurde im dänischen Roskilde die erste isländische Übersetzung des Neuen Testaments gedruckt. Nach der Erschlagung des gegen die Klöster vorgehenden königlichen Vogts legte Bischof Ögmundur von Skálholt 1541 sein Amt nieder. Sein Nachfolger Gissur Einarsson führte im Bistum Skálholt die Reformation unter Bewahrung des Kirchengutes durch. Nach seinem Tod übernahm der immer noch katholische Bischof Jón Arason von Hólar beide Bistümer. 1550 wurde er enthauptet. Nun wurde das Klostergut eingezogen und die dänische Kirchenordnung von 1537 durchgesetzt. Wichtig wurden die als Predigerseminare dienenden Domschulen von Skálholt und Hólar, der lutherische Bischof Gudbrandur Torláksson in Hólar, der von 1571 bis 1627 im Amt war, und die isländische Bibelübersetzung Oddur Gottskalkssons, Gissur Einsarssons und Gudbrandur Torlákssons, die 1584 vorlag. Das Bistum Kirkjubœr auf den Färöer-Inseln ging in der Reformation unter und machte der lutherischen Kirchenorganisation in Verbindung mit der dänischen Kirche Platz. Finnland mit dem Bistum Åbo oder Turku war Teil des schedischen Reiches und blieb es nach dem Ende der Kalmarer Union. Die Reformation verlief in Finnland aber unabhängig von den Vorgängen in Schweden, wobei die Beziehung zu Wittenberg und zu Luther in keinem skandinavischen Land so stark war wie in Finnland. In Turku verbreitete Petrus Särkilahti, der in Rostock studiert hatte, seit etwa 1523 die reformatorische Lehre. Martin Skytte, seit 1528 Bischof von Turku, war katholisch, sandte aber junge Männer zum Studium nach Deutschland. Darunter war Michael Agricola, der von 1536 bis 1539 in Wittenberg studierte und als Wittenberger Magister nach Turku zurückkehrte. Er wurde der Reformator Finnlands. 1548 legte er eine Übersetzung des Neuen Testaments und 1551/52 eine von Teilen des Alten Testaments vor. 1554 wurde er Bischof von Turku. Im gleichen Jahr wurde mit Viipuri (Wiborg) ein zweites − evangelisches − Bistum errichtet und mit Paavali Juusten als Bischof besetzt, der auch in Wittenberg studiert hatte und nach Agricolas Tod 1557 dessen Werk fort-
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setzte. Die Beschlüsse der Nationalsynode von Uppsala von 1593 befestigten auch in Finnland das Luthertum der Confessio Augustana invariata von 1530. Die baltischen Länder − heute Litauen, Lettland (Livland und Kurland) und Estland − zählen geographisch nicht zu Skandinavien. Doch wurden Estland 1561, Narva 1581 und Livland 1621/29 schwedisch. In Livland und Estland hatte sich die Reformation aber schon vor der schwedischen Zeit durchgesetzt, vor allem in den Städten Riga und Reval (Tallinn). In vorschwedischer Zeit wurde das gesamte Gebiet der heutigen Staaten Lettland und Estland als Livland bezeichnet und bildete eine Föderation aus Gebieten des Deutschen Ordens, des Erzbistums Riga und der Bistümer Kurland, Dorpat und Ösel. Diese Ordnung endete, als der Norden Livlands (Estland) 1561 an Schweden fiel, während der Osten des heutigen Lettland als Livland an Polen-Litauen gelangte, bis es 1621/29 zum größten Teil schwedisch wurde. Das heutige Litauen war Teil des polnischlitauischen Doppelreiches. 1522 fand in Riga eine Disputation mit Andreas Knopken als Vertreter der reformatorischen Lehre statt, der danach evangelischer Prediger an St. Petri wurde. 1524 wurde der Rigaer Dom geschlossen und 1527 für den evangelischen Gottesdienst wieder geöffnet. 1529 arbeiteten Knopken und Johann Briesmann im Auftrag des Rigaer Rates eine Kirchenordnung143 aus, die seit 1533 in Riga, Reval und Dorpat (Tartu) galt. In Reval begann die Reformation 1524 mit Predigten des ehemaligen Prämonstratensers Johann Lange aus Stade. 1533 wurde aufgrund einer Empfehlung Luthers144 Nikolaus Glossenius aus Wittenberg Superintendent in Reval. Zwischen März 1524 und März 1526 gab es Bilderstürme in den Städten Livlands. Endgültig zum Erfolg gelangte die Reformation durch den Zusammenbruch der alten politischen Ordnung im Livländischen Krieg zwischen Russland und Schweden während der Jahre 1558 bis 1582. Der letzte Ordensmeister des Deutschen Ordens in Livland, Gotthard von Kettler, errichtete 1561 in einem kleinen Teil des ehemaligen Ordenslandes das Herzogtum Kurland. 1570 bestätigte er die von seinem Superintendenten Alexander Einhorn ausgearbeitete Kirchenreformation und Kirchenordnung.145 1582 übernahm er das lutherische Konkordienbuch von 1580. Reformation und Toleranzversuche in Ostmitteleuropa Polen wies im 16. Jahrhundert starke protestantische Gruppierungen auf. Politisch war das Königreich Polen mit dem Großfürstentum Litauen verbunden. Mit der Lubliner Union von 1569 wurde die seit 1386 bestehende Personalunion in eine Realunion verwandelt. Während das polnische Wahlkönigtum ins Mittelalter zurückging, war die litauische Großfürstenwürde erblich. Durch die Union von Lublin wurde ein einheitliches Wahlkönigtum für das gesamte polnisch-litauische Doppelreich geschaffen. Bei der Königswahl von 1573 gelangte die Krone an den französischen Königssohn Henri de Valois, der nach dem Tod
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seines Bruders, Karls IX., nach Frankreich zurückkehrte und 1574 als Heinrich III. König von Frankreich wurde. Henri de Valois unterzeichnete in Polen die Articuli Henriciani und bestätigte damit die freie Königswahl. Bei der Königswahl von 1575 konnte sich der Fürst von Siebenbürgen, Stephan IV. Báthory, gegen Kaiser Maximilian II. durchsetzen. Nach Stephans Tod fiel das polnische Wahlkönigtum bis 1668 immer wieder an Angehörige der katholischen Linie der schwedischen Königsdynastie Vasa, was zwischen 1592 und 1599 unter Zygmunt III. zur Personalunion zwischen Polen-Litauen und Schweden führte. Polen gliederte sich in Großpolen im Westen, Kleinpolen am Oberlauf der Weichsel, Masowien, die südlich an das Herzogtum Preußen angrenzende Landschaft mit Warschau (Warszawa), und das Königliche Preußen am Unterlauf der Weichsel zwischen Pommern und dem 1525 aus dem Ordensstaat des Deutschen Ordens hervorgegangen Herzogtum Preußen. Durch die Lubliner Union kam der westliche Teil des bis dahin litauischen Wolhynien hinzu, der heute zur Ukraine gehört. Reformation und Religionsfreiheit in Polen Im Bereich des Königlichen Preußen, das seit dem späteren 18. Jahrhundert in Deutschland Westpreußen genannt wurde, lagen die Städte Elbing (Elbląg), Thorn (Toruń) und Danzig (Gdánsk). In Danzig wurde die lutherische Reformation bald nach 1525 wirksam. Später machten sich reformierte Einflüsse bemerkbar, die philippistisch mit dem Danziger Reliquien- oder Abendmahlsstreit seit 1561 und der 1562 vom Rat verabschiedeten Notel, einer auf die melanchthonische Abendmahlslehre abgestellten Konkordienformel, begannen. Danach spielten reformierte niederländische Religionsflüchtlinge und 1572 angeworbene schottische Söldner eine Rolle, die das Reformiertentum in die Petri-Gemeinde mitbrachten. Entscheidend wurde die Übernahme des Rektorates des Danziger Gymnasiums durch Jakob Fabricius 1580, der in Heidelberg und Basel studiert hatte. 1602 kam Bartholomäus Keckermann an das Gymnasium, das seit 1580 als reformierte Hohe Schule bezeichnet wurde und als Mittelpunkt reformierten akademischen Lebens Ausstrahlungskraft gewann. Die Petri-, die Elisabeth- und die Trinitatiskirche wurden reformierte Gemeindekirchen. Der Rat versprach sich vom Reformiertentum ein „Mehr an gesellschaftlicher Integration wie auch äußerer Abgrenzung“146. Nachdem diese Politik nach der Intervention der Krone gegen das reformierte Ratsregiment im nahen Marienburg 1603 als riskant erschien, gab der Rat die reformierte Orientierung auf. 1634 privilegierten Władysław IV. und 1651 Jan II. Kazimierz jedoch die Danziger Reformierten und protegierten die reformierte Minderheit als Instrument gegen die städtische Autonomie, weil die lutherische Konfessionspolitik des Rates „in einen immer deutlicheren Gegensatz zum Toleranzrecht des Unionsstaates geriet“147. Damit hing die Verbindung der Danziger Reformierten mit der Brüder-Unität zusammen, die zwischen 1626 und 1707 Prediger nach Danzig sandte, darunter Petrus Figulus, den Schwiegersohn des
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Johann Amos Comenius. Zeitweilig wurde auch der Anschluss der Danziger Reformierten an die polnische Brüder-Unität erwogen. In den verschiedenen Landesteilen Polens war die Entwicklung unterschiedlich. In Großpolen gab es, wie im Königlichen Preußen, enge Kontakte nach Deutschland und damit zum Luthertum. In Masowien hatte die Reformation kaum Einfluss. Hingegen wurde Kleinpolen für einige Jahrzehnte zum Zentrum des Reformiertentums im polnisch-litauischen Unionsstaat. Hier gab es rund 265 reformierte Gemeinden148 und fast 100 antitrinitarische Gemeinschaften, die auch in der Woiwodschaft Wolhynien verbreitet waren und ihr Zentrum im kleinpolnischen Raków hatten. In Großpolen spielte die seit 1548 aus Böhmen nach Polen emigrierte Brüder-Unität eine Rolle. Träger des Reformiertentums in Kleinpolen und auch in Großpolen waren der Hochadel der Magnaten und die mittlere Szlachta. So wurde das Reformiertentum in Polen zur Konfession einer politisch und sozial privilegierten Adelsgruppe, die sich des Reformiertentums in ihren auf den Parlamenten der Adelsrepublik ausgetragenen Ständekämpfen gegen den katholischen Klerus bediente. Aus einer großpolnischen Magnatenfamilie stammte Johannes à Lasco. Er hatte Polen 1537 verlassen, Melanchthon in Wittenberg aufgesucht und 1542 bei einem Besuch in Krakau mit dem Katholizismus gebrochen, bevor er 1543 nach Ostfriesland ging. Seine Bedeutung für das polnische Reformiertentum konzentriert sich auf die Zeit nach seiner Rückkehr Ende 1556 und liegt in seinem Bemühen um den Zusammenschluss von Lutheranern, Reformierten und Brüder-Unität in Polen. Er starb 1560 und erlebte die Generalsynode der Reformierten, Lutheraner und Böhmischen Brüder von 1570 in Sandomir und den Consensus Sandomirensis nicht mehr. Darin bestätigten sich die drei reformatorischen Konfessionen gegenseitig Rechtgläubigkeit, bevor der Sejm 1573 mit der Konföderation von Warschau für ganz Polen Religionsfreiheit unter Einbeziehung der Antitrinitarier verkündete. Doch begann parallel zum Ausbau des Toleranzrechts die von den Jesuiten getragene und vom katholischen Adel gestützte Rekatholisierung Polens. Nach der Niederlage der Adelseinung des Rokosz (Aufstand) gegen die Königspartei von 1607 setzte der Niedergang des Reformiertentums und überhaupt des Protestantismus in Kleinpolen ein. Böhmen und Schlesien In Böhmen, dem Land des Hussitentums, besaß Luther seit 1522 Einfluss auf die aus der hussitischen Bewegung hervorgegangenen Böhmischen Brüder. Hingegen wurden zwinglianische Abendmahlsauffassungen abgewehrt. Die 1532 abgefasste Rechenschaft des Glaubens wurde in der in Zwinglis Zürich gedruckten Fassung von den Brüdern nicht anerkannt; sie erschien stattdessen 1533 mit einer Vorrede Luthers149 in Wittenberg und in lateinischer Übersetzung als Confessio fidei 1538.150 Hier wurde der Ausgleich der Böhmischen Brüder mit der Wittenberger Reformation eingeleitet, wenn die endgültige Einigung zwischen Brüdern und Lutheranern auch erst mit der Confessio
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Bohemica von 1575151 erfolgte. Die antihabsburgische Ständeerhebung von 1547 führte zur Auswanderung vieler Brüder ins großpolnische Exil. Erst eine jüngere Generation von Brüderführern brachte die Annäherung der Brüder-Unität an das Reformiertentum. Wichtig wurde dafür Georg Strejc, der an der Abfassung der Confessio Bohemica beteiligt war. Das von Maximilian II. über die Confessio Bohemica ausgesprochene Druckverbot und andere antibrüderische Maßnahmen sowie der Eindruck der Pariser Bartholomäusnacht von 1572 förderten den Einfluss des Reformiertentums. Dazu trugen das Studium brüderischer Theologen und böhmischer Adeliger wie Karl von Zierotin an Hochschulen wie Straßburg, Basel, Genf oder Leiden und Kontakte zum Heidelberger Hof des späteren böhmischen Winterkönigs, Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, bei. So wurde ein calvinisiertes Brüdertum zur Integrationsideologie der böhmischen Ständeopposition, die nach dem Sieg Ferdinands II. in der Schlacht am Weißen Berge 1620 unterging. In Schlesien, seit 1526 mit Böhmen und Mähren unter habsburgischer Herrschaft, ging die reformatorische Bewegung von dem Humanistenkreis um den Breslauer Bischof Johannes Turzó aus. Diesem Kreis gehörte Johannes Heß an, der 1513 Notar des Bischofs war und 1517 in Wittenberg weilte, bevor er 1518 zum Studium nach Bologna ging. 1519 erwarb er, wohl in Ferrara, den Doktorgrad der Theologie, bevor im Winter 1519/20 in Wittenberg mit Luther und Melanchthon in Verbindung kam. 1520 zum Priester geweiht, vertrat er bald die Lehre Luthers. 1523 berief ihn der Rat von Breslau zum Prediger an der Stadtkirche St. Maria Magdalena. St. Elisabeth wurde mit Ambrosius Moibanus, Heilig Geist mit Petrus Fontius besetzt. Damit begann die Reformation in Breslau und in Schlesien, die sich radikalen Strömungen verschloss − der radikale Reformator Kaspar von Schwenckfeld stammte aus Ossig in Niederschlesien und wurde 1529 ausgewiesen − und die großen Klöster bestehen ließ. Auch die Herren der schlesischen Teilfürstentümer beriefen reformatorische Prediger, so 1522 in Liegnitz, 1523 in Brieg und Wohlau, 1537 in Münsterberg und 1539 in Oels. Die Reformation in Schlesien bewegte sich bis zu der in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts einsetzenden Rekatholisierung in lutherischen Bahnen. Zu reformierten Auffassungen bekannte sich seit dem Breslauer Abendmahlsstreit von 1559 nur eine kleine, elitäre Gruppe um den Mediziner Crato von Crafftheim. Aus Breslau stammte Zacharias Ursinus, der über Wittenberg und Zürich nach Heidelberg ging, wo er 1563 Hauptverfasser des Heidelberger Katechismus wurde. Lutheraner und Reformierte in Ungarn Ungarn, vom heute österreichischen Burgenland bis zum Burzenland um Kronstadt am Südostrand der Karpaten im heutigen Rumänien reichend, trat 1526 mit der Schlacht von Mohács und dem Tod Ludwigs II. von Ungarn und Böhmen in eine Zeit tief greifender Veränderungen ein. Das ungarische Königtum fiel 1526, wie das böhmische, an Ferdin-
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and I. Doch konnte er nur Westungarn, Oberungarn und Kroatien gewinnen, während der nationale Thronprätendent, Johann I. Zápolya, Ungarn östlich der Theiß behauptete. Die osmanische Annexion des Paschalik Ofen zwischen Donau und Theiß führte 1541 zu der schon erörterten Dreiteilung Ungarns. In Siebenbürgen traten seit dem Landtag von Thorenburg (Turda) von 1544 die seit dem ausgehenden Mittelalter bekannten drei Stände oder Nationen deutlicher in Erscheinung: der Adelsstand der sieben siebenbürgischen Komitate und der ostungarischen Gebiete, die Szekler und die Siebenbürger Sachsen, die natio Saxonica – diese aber nur, soweit sie auf Königsboden saßen, was für Kronstadt (Braşov) und Hermannstadt (Sibiu) galt, nicht aber für das im Gebiet der Adelskomitate gelegene Klausenburg (Cluj). Die Reformation drang in Ungarn schon vor 1526 ein, besonders beim deutschen Bürgertum der Städte Oberungarns. Nach Mohács ging die reformatorische Bewegung bei den Deutschen in Westungarn und in den Bergstädten Oberungarns weiter, wobei der Einfluss Luthers vorherrschend war. Aber erst nach 1541 setzte sich die Reformation in Ungarn durch. Jetzt traten Einflüsse aus Zürich, Straßburg und Genf hinzu, die auch durch das Landtagsgesetz gegen die Sakramentierer von 1548 nicht zu unterdrücken waren. Bedeutung gewann auch der 1555 in Wittenberg entstandene studentische Coetus Hungaricus, der über ungarische Studenten philippistische Gedanken nach Ungarn vermittelte. Das wichtigste Zentrum des ungarischen Reformiertentums wurde Debrecen, wo seit 1551 Márton Sánta Kálmáncsehi tätig war, der die Lehren Bullingers und Calvins vertrat. Kálmáncsehi und die Reformierten wurden von dem Magnaten Péter Petrovics unterstützt. Nach Unterdrückungsmaßnahmen seitens des kriegerischen katholischen Bischofs Matthias Zabardy von Großwardein (rumän. Oradea, ung. Nagyvárad) seit 1553 amtierte Kálmáncsehi von 1556 bis zu seinem Tod 1557 als reformierter Bischof von Debrecen – ungarische Reformierte haben, anders als schottische, den Episkopat. Ein anderes wichtiges reformiertes Zentrum war die Schule zu Tolna im türkisch besetzten Gebiet. Hier übernahm 1553 István Szegedi Kis die Leitung, neben Kálmáncsehi einer der wichtigsten Vertreter des ungarischen Reformiertentums. Schüler in Tolna war seit 1549 der spätere Senior des Coetus Hungaricus in Wittenberg, Péter Méliusz Juhász, der Reformator Ostungarns. Er war der Hauptverfasser der reformierten Confessio Catholica Debrecinensis – auch Erlauthaler Bekenntnis genannt – von 1562152 und vertrat eine mit der Abendmahlslehre Calvins verwandte, aber doch eigenwillige Abendmahlsauffassung. Méliusz übersetzte Calvins Genfer Katechismus ins Magyarische, war aber doch stärker von Bullinger beeinflusst. Die Synode von Debrecen nahm 1567 die Confessio Helvetica posterior und den Heidelberger Katechismus an.153 Wenn Mihály Bucsay die Bedeutung der Magnaten und des Adels für die Reformation in Ungarn und für das Reformiertentum seit den 1550er Jahren auch herunterspielt,154 so ist doch das Gegenteil richtig.155 Das zeigt die Rolle des 1557
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gestorbenen Péter Petrovics für die Reformierten in Ostungarn, auch wenn derselbe Petrovics auf seinen Banater Besitzungen das Luthertum förderte, während andere Adelige wie Gábor Perényi als Gegner des Reformiertentums hervortraten. Magnaten wie Stefan Bocskay und die späteren Habsburggegner Gabriel Béthlen, Emmerich Tököly und die Rákóczy-Dynastie waren reformiert. Am Ende des 16. Jahrhunderts waren die Deutschen in den Städten und auch viele Slowaken in Oberungarn Lutheraner, die Magyaren Reformierte. Im türkischen Gebiet kam den Reformierten das weitgehende Desinteresse der Türken an den innerchristlichen konfessionellen Differenzen entgegen. Im habsburgischen Machtbereich ermöglichten der Wiener Frieden von 1606 und die Religionsgesetze von 1608 Lutheranern und Reformierten freie Religionsausübung. Das Land der vier rezipierten Religionen Auch im eigentlichen Siebenbürgen fand die Reformation vor 1526 Eingang. Entscheidend wurde aber auch hier erst die Zeit nach der Dreiteilung Ungarns von 1541. 1543 veröffentlichte Johannes Honterus in Kronstadt seine Reformatio ecclesiae Coronensis. Er wurde der lutherische Reformator der Siebenbürger Sachsen. Nach seinem Tod wurde Paul Wiener Bischof der lutherischen Sachsen. So verfestigte sich das Luthertum bei den Siebenbürger Sachsen, während das Reformiertentum von Debrecen aus vordrang und in Klausenburg, d. h. unter den Siebenbürger Sachsen der Adelskomitate, Anhänger fand. Die Synode von Klausenburg von 1557 war die letzte gemeinsame Synode der evangelischen Siebenbürger Sachsen auf Königs- und auf Adelsboden, bevor nach Sprachnationen getrennte Superintendenturen entstanden. 1558 hatte der Landtag von Thorenburg die Sakramentierer noch verboten. Auf dem Landtag von Thorenburg von 1564 wurden die Reformierten offiziell zugelassen, die Antitrinitarier 1571. Seit 1595 sprach man von den vier rezipierten Religionen – Lutheraner, Reformierte, Antitrinitarier und Katholiken. Seit 1571 war Siebenbürgen ein Land mit gesetzlich garantierter Religionsfreiheit, wobei auch die Orthodoxen und kleinere Gruppen Duldung fanden. Das waren Polen mit der Konföderation von Warschau von 1573 und Frankreich mit dem Edikt von Nantes von 1598 zwar auch, doch blieb in Siebenbürgen die gegenreformatorische Rekatholisierung, der in Polen der Protestantismus weitgehend zum Opfer fiel, ebenso aus wie der Widerruf des Toleranzedikts wie im Frankreich von 1685. In Siebenbürgen waren die Konfessionen weder räumlich noch sozial deckungsgleich mit den drei Ständen und deren Gebieten. Die Szekler, unter denen die Reformation lange keinen Eingang fand, fallen ohnehin heraus; bei ihnen gab es später im Westen ihres Siedlungsgebietes alle vier rezipierten Religionen, während im Osten Katholiken dominierten. Im Adelsstand waren alle Konfessionen vertreten, wobei aber das Reformiertentum vorherrschte. Deckungsgleichheit von Konfession und Stand gab es nur bei der natio Saxonica, den lutherischen Siebenbürger Sachsen deutscher Sprache, weitgehend aber auch bei den reformierten Magyaren. Die Konfessionsgrenzen verliefen entlang der Sprachgren-
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zen. Deutlich wird das am Sprachwechsel vom Deutschen ins Magyarische bei Kaspar Helth (Heltai) und Franz Hertel (Dávid) und den Siebenbürger Sachsen in Klausenburg – auf Adelsboden –, für die der Übergang zum Reformiertentum – und später zum Antitrinitarianismus – den Übergang ins Magyarische nach sich zog. Von Krista Zach stammt der Satz, wonach Siebenbürgen ein „Antimodell“ der Konfessionalisierung genannt werden kann.156 Hier gab es keine „Staatskonfessionalisierung“157, hier gab es „Gruppenkonfessionalisierung“158 entlang der Sprachgrenzen, verbunden mit dem Sprachwechsel konfessionell anders Optierender.
Das katholische Europa und die Welt Das Konzil von Trient Mit der Einberufung des Konzils von Trient durch Paul III. 1542 wurden die deutschen Hoffnungen auf ein Konzil Wirklichkeit. Das Konzil von Basel hatte mit einer Niederlage des Konziliarismus geendet. Das V. Laterankonzil, das von 1512 bis 1517 in Rom tagte, aber fast nur von Italienern besucht wurde, verurteilte das konziliaristische Dogma des Basler Rumpfkonzils von 1439, während Luther 1518 in der Weise des Konziliarismus an ein allgemeines Konzil appellierte. Auch die Reichstage von 1523 und 1524 erhoben die Forderung nach einem Konzil. Spätere Reichstage drohten mit der Einberufung eines deutschen Nationalkonzils, falls der Papst untätig blieb. Karl V. und sein Bruder Ferdinand wollten das Konzil, weil sie sich davon die Wiederherstellung der kirchlichen Einheit versprachen. Frankreich wollte das Konzil nicht, weil Frankreich an einer starken protestantischen Partei im Reich zur Einschränkung der Macht des Kaisers interessiert war und deshalb das fürchtete, was Karl V. wollte: Wiederherstellung der kirchlichen Einheit. Clemens VII. wollte das Konzil auch nicht, weil auch er an der Stärkung des Kaisers nicht interessiert war. Es dauerte bis 1536, bis Paul III. im Einvernehmen mit Karl V. ein Konzil nach Mantua berief, das die Häresien − also den Protestantismus − verurteilen, die Reform der Kirche voranbringen und dem Frieden sowie der Abwehr gegen die Türken dienen sollte. Die protestantischen Fürsten Deutschlands wurden nach Mantua eingeladen, verweigerten sich aber ebenso wie Frankreich, worauf das Konzil nach Vicenza verlegt und 1539 aufgehoben wurde. 1541 schlug Karl V. Paul III. Trient als Tagungsort vor. Die Bischofsstadt Trient (Trento) im italienischsprachigen Welschtirol gehörte zum Heiligen Römischen Reich und konnte deshalb als deutsche Stadt gelten. Der Papst berief das Konzil für 1542 ein.159 Doch wurde es wegen des Krieges zwischen Karl V. und Franz I. suspendiert. Erst nach dem Frieden von Crépy von 1544 setzte der Papst den Eröffnungstermin auf den 15. März 1545 fest. Tatsächlich eröffnet wurde das Konzil aber erst am 13. Dezember 1545. Bei der Eröffnung im Dom von Trient waren nur wenige Stimmberechtigte anwesend. Genannt werden 34 Personen, darunter die Kardinallegaten des Papstes Giovanni Morone und Reginald Pole, der gastgebende Bischof Cristoforo di Madruzzo von Trient, vier Erzbischöfe, 21 Bischöfe und fünf Ordensgenerale. Aus Deutschland war als Teilnehmer im Bischofsrang nur ein Weihbischof aus Mainz, Michael Helding, anwesend. Die Sitzungen der Generalkongregation fanden seit dem 18. Dezember 1545 im Palazzo Giroldi (Pa-
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lazzo Prato) statt. Bei der Eröffnung der zweiten Tagungsperiode 1551 sank die Zahl der anwesenden Stimmberechtigten auf 15. Zeitweise stieg sie auf fast 70. Lediglich die dritte Tagungsperiode wurde 1562 in Gegenwart von 117 Stimmberechtigten eröffnet. Deutsche Bischöfe waren nur in der zweiten Tagungsperiode in größerer Zahl vertreten. An der zweiten Tagungsperiode nahmen auch Gesandte von Kurbrandenburg, Kursachsen, Württemberg und der Reichsstadt Straßburg teil. Das Konzil tagte nicht ununterbrochen, sondern in drei Perioden. Die erste begann 1545 und endete 1547 bzw. 1549. Im Frühjahr 1547 ging das Konzil nach Bologna, einer Stadt im Kirchenstaat, weil in Trient eine Epidemie drohte. Ein Teil der Konzilsteilnehmer blieb aber in Trient zurück, womit sich das Konzil faktisch spaltete, bis das Konzil in Bologna 1549 von Paul III. suspendiert wurde. Die zweite Tagungsperiode fand 1551/52 wieder in Trient statt, ebenso die dritte 1562/63. Die erste Tagungsperiode 1545 bis 1547/49 In der ersten Tagungsperiode des Konzils ging es um die dogmatische Abgrenzung gegenüber dem Protestantismus durch Festlegung des katholischen Standpunkts in Fragen der Theologie. Dieses Werk fand zu Beginn Eingang in das Decretum de symbole fidei (Dekret über das Glaubensbekenntnis) vom 4. Februar 1546, welches das auch von den Kirchen der Reformation angenommene altkirchliche Symbolum Nicaenum-Constantinopolitanum für die katholische Kirche festschrieb, und in die Dekrete über Schrift und Tradition (Decretum de libris sacris et de traditionibus recipiendis; Decretum de vulgata editione Bibliorum et de modo interpretandi Sanctam Scripturam) vom 8. April 1546. Darin wurde neben der Bibel die in der Kirche bewahrte und fortentwickelte Tradition als Glaubensquelle herausgestellt. Ließ die Reformation mit ihrem sola scriptura-Prinzip nur die Bibel als Glaubensquelle gelten, so trat in der katholischen Kirche die Tradition hinzu. Gemeint war mit der Tradition zunächst die Einheit der Offenbarung Gottes und des einen Evangeliums in der Heiligen Schrift und in der ungeschriebenen Überlieferung − gegenüber der reformatorischen Trennung zwischen Schrift und Tradition −, so dass im Horizont von Trient eigentlich nicht von zwei Glaubensquellen gesprochen werden kann. Das Konzil erklärte, dass die „puritas ipsa evangelii“ (Reinheit des Evangeliums) nicht nur „in libris scriptis“ (in Büchern der Heiligen Schrift) enthalten sei, sondern auch „sine scripto traditionibus“ (ohne Bibel in den Überlieferungen), „quasi per manus traditae ad nos usque pervenerunt“ (gleichsam von Hand zu Hand weitergegeben, bis auf uns gekommen), „vel oretenus a Christo, vel a Spiritu Sancto dictatas at continua successione in Ecclesia catholica conservatas“ (entweder wörtlich von Christus oder vom Heiligen Geist diktiert und in beständiger Folge in der katholischen Kirche bewahrt).160 Gemeint war mit dem Blick auf die Quellen der Tradition aber auch die kirchliche Lehrentwicklung seit der Apostelzeit in Synodal- oder Konzilsbeschlüssen,
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päpstlichen Bullen usw., aber auch in Zeugnissen der Kirchenväter und Theologen. So trat das katholische Traditionsprinzip dem reformatorischen Schriftprinzip entgegen. Während das Schriftprinzip nur gelten lassen wollte, was es in der Bibel ausgedrückt fand, besagte das Traditionsprinzip, dass die Offenbarung Gottes mit dem Tod der letzten Apostel − bzw. mit den jüngsten Schriften des Neuen Testamentes − zwar abgeschlossen sei und es danach keinen Offenbarungszuwachs durch neue göttliche Offenbarungen mehr gebe, wohl aber die andauernde, allmähliche Entfaltung von Wahrheitszusammenhängen aus der vorgegebenen Offenbarung, die vom Heiligen Geist bewirkt werde und sich der Theologie und insbesondere des kirchlichen Lehramtes bediene. Im Decretum de vulgata editione Bibliorum legte das Konzil als verbindlichen Bibeltext die lateinische Vulgata fest, also die vom hl. Hieronymus im 4. Jahrhundert bearbeitete lateinische Bibelübersetzung. Dagegen betrachteten die Reformatoren den hebräischen Urtext des Alten und den griechischen des Neuen Testaments als authentisch, wie er für das Alte Testament seit dem späten 15. Jahrhundert in mehreren Druckausgaben vorlag und für das Neue Testament mit dem von Erasmus von Rotterdam herausgegebenen griechischen Text. Auch das Konzil sah eine Revision des Vulgatatextes vor, ferner Studien in Hebräisch und Griechisch und Übersetzungen der Bibel in die Volkssprachen. Schon im 16. Jahrhundert und noch vor dem Konzil entstanden auch in Deutschland von katholischer Seite Bibelübersetzungen auf der Grundlage der Vulgata, darunter die 1534 − gleichzeitig mit der Bibelübersetzung Luthers − erschienene Übersetzung des Dominikaners Johannes Dietenberger. Diesen gingen die in einem früheren Kapitel erwähnten Bibelübersetzungen des 15. Jahrhunderts voraus, von denen die 1466 von Johann Mentelin gedruckte Bibelausgabe besonders zu erwähnen ist. Ähnliche Abgrenzungen wie bei dem Dekret über die Tradition und beim Festhalten an der Vulgata ergaben sich auch mit dem Decretum de peccato originali (Dekret über die Erb- oder Ursünde) vom 17. Juni 1546, dem Decretum de iustificatione (Dekret über die Rechtfertigung) vom 13. Januar 1547 und mit dem Decretum de sacramentis161 (Dekret über die Sakramente) vom 3. März 1547. Während Luther nur zwei Sakramente gelten ließ, Taufe und Abendmahl, wurde die katholische Lehre von der Siebenzahl der Sakramente festgelegt, nämlich Taufe, Firmung, Buße, Krankensalbung, Priesterweihe, Ehe und Eucharistie. Die Siebenzahl der Sakramente hatte sich in der Hochscholastik seit dem 12. Jahrhundert herausgebildet, vor allem bei Petrus Lombardus, so dass diese Entwicklung in Trient nur bestätigt und abgeschlossen wurde. Bis ins 12. Jahrhundert hatte es in der lateinischen Kirche ganz unterschiedliche Sakramentsauffassungen gegeben. Schließlich erließ das Konzil während seiner ersten Tagungsperiode das Dekret über die Residenzpflicht der Bischöfe und Pfarrer vom 3. März 1547,162 dem eine weniger weitgehende Fassung voranging. Das Konzil nahm damit die in
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Spanien vom Nationalkonzil von Sevilla 1478 dekretierte Residenzpflicht der Bischöfe und des Klerus auf, wie es auch ein Spanier war, Bischof Diego de Álava y Esquivel von Astorga, von dem im März 1546 der erste Anstoß zur Befassung des Konzils mit dem Residenzproblem ausging und der gemeinsam mit anderen spanischen Bischöfen in Trient entschieden für durchgreifende Kirchenreformen kämpfte. Somit wird beim Dekret über die Residenzpflicht eine besonders enge Verbindung zwischen der Katholischen Reform in Spanien und dem Konzil von Trient deutlich. Überhaupt waren es spanische und italienische Bischöfe und Theologen, die in Trient in der ersten Tagungsperiode des Konzils den Ton angaben. Das Residenzdekret suchte dem Missstand entgegenzutreten, dass viele Bischöfe außerhalb ihres Bistums und viele Pfarrer außerhalb ihrer Pfarrei lebten, sich kaum um ihre Pflichten kümmerten und nur die Einkünfte bezogen und sich dort, wo sie eigentlich hätten tätig sein sollen, von Vikaren oder Kaplänen vertreten ließen. Das Residenzdekret war in Trient schwer durchzusetzen, weil „sich die Bischöfe selbst vom Kopf bis zu den Füßen reformieren“163 mussten. Dabei war das Residenzdekret in der Fassung vom 3. März 1547 nur ein Kompromiss − und das nicht nur wegen der adeligen Fürstbischöfe des Reiches mit ihren Bistumskumulationen. Das Decretum de iustificatione Das Decretum de iustificatione klärte den katholischen Standpunkt bezüglich der Rechtfertigung des Sünders vor Gott, die für Luther und die lutherische Reformation von zentralster Bedeutung war. In Luthers reformatorischer Theologie bedeutete Rechtfertigung, dass die Vergebung der Sünden dem Menschen ohne eigenes Zutun von Gott sola gratia (aus Gnade) im Glauben geschenkt wird. Die Rechtfertigungslehre des Konzils von Trient unterscheidet sich von der Rechtfertigungslehre Luthers vor allem dadurch, dass der Mensch hier einen eigenen Anteil hatte. Das hängt damit zusammen, dass das Tridentinum den von Luther verworfenen freien Willen bejahte. Rechtfertigung beginnt nach dem Tridentinum mit der Annahme des Glaubens durch den Menschen, was als aktives Tun zu verstehen ist und auch unterlassen werden kann. Rechtfertigung wird sodann durch die Taufe vollzogen und durch das Bußsakrament erneuert. Dazu heißt es im Decretum de iustificatione in deutscher Übersetzung des lateinischen Originals: „Es [das Konzil] erklärt außerdem, dass diese Rechtfertigung bei Erwachsenen ihren Anfang von Gottes zuvorkommender Gnade durch Christus Jesus nehmen muß, das heißt, von seinem Ruf, durch den sie − ohne dass ihrerseits irgendwelche Verdienste vorlägen − gerufen werden, so dass sie, die durch ihre Sünden von Gott abgewandt waren, durch seine erweckende und helfende Gnade darauf vorbereitet werden, sich durch freie Zustimmung und Mitwirkung mit dieser Gnade zu ihrer eigenen Rechtfertigung zu bekehren; wenn also Gott durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes das Herz des Menschen berührt, tut der Mensch selbst, wenn er diese Einhauchung aufnimmt, weder über-
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haupt nichts – er könnte sie ja auch verschmähen –, noch kann er sich andererseits ohne die Gnade Gottes durch seinen freien Willen auf die Gerechtigkeit vor ihm zubewegen. [...] Vorbereitet aber werden sie [die Menschen] zu dieser Gerechtigkeit, indem sie, durch die göttliche Gnade erweckt und unterstützt, den Glauben aufgrund des Hörens annehmen und sich Gott aus freien Stücken zuwenden, glaubend, dass es wahr ist, was von Gott geoffenbart und verheißen ist [...]; ferner indem sie sich - wenn sie erkennen, dass sie Sünder sind [....], zur Hoffnung aufrichten im Vertrauen darauf, dass Gott ihnen um Christi willen gnädig sein werde, ihn als Quelle aller Gerechtigkeit zu lieben und sich deswegen mit einem gewissen Maß an Hass und Abscheu gegen die Sünde wenden, das heißt, durch jene Buße, die man vor der Taufe tun muß, schließlich indem sie sich vornehmen, ein neues Leben zu beginnen und die göttlichen Gebote zu beachten. [...] Dieser Zurüstung bzw. Vorbereitung folgt die Rechtfertigung selbst, die nicht nur Vergebung der Sünden ist, sondern auch Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen durch die willentliche Annahme der Gnade und der Gaben, aufgrund derer der Mensch aus einem Ungerechten ein Gerechter [...] wird.“164
Der entscheidende Unterschied zwischen der lutherischen und der tridentinischen Rechtsfertigungslehre liegt also im Eigenanteil des Menschen. Der Unterschied liegt nicht in den Guten Werken. Für die Confessio Augustana waren die Guten Werke Folge des Glaubens oder der Rechtfertigung.165 Es war protestantische Polemik des 16. und 17. und wieder des 19. Jahrhunderts, die den Katholiken unter Verwendung des Schlagworts Werkgerechtigkeit unterstellte, dass sie durch Gute Werke Rechtfertigung erlangen wollten. In den Auswüchsen des Ablasshandels, denen Luthers Kritik galt, mochte das so aussehen. Im tridentinischen Rechtfertigungsdekret ist das aber nicht so: „Daher erhält der Mensch in der Rechtfertigung selbst zusammen mit der Vergebung der Sünden durch Jesus Christus [...] zugleich alles dies eingegossen: Glaube, Hoffnung und Liebe. Denn wenn zum Glauben nicht Hoffnung und Liebe hinzutreten, eint er weder vollkommen mit Christus, noch macht er zu einem lebendigen Glied seines Leibes. Aus diesem Grunde wird völlig zurecht gesagt, dass Glaube ohne Werke tot und müßig sei.“166
Die zweite Tagungsperiode 1551/52 Die zweite Tagungsperiode des Konzils wurde 1551 nicht mehr von Paul III. einberufen, sondern von seinem Nachfolger Julius III. Auf die Dekrete der ersten Tagungsperiode folgten jetzt das Decretum de sanctissima Eucharistia (Dekret über die Allerheiligste Eucharistie) vom 11. Oktober 1551, in dem gegen Zwingli die Lehre von der Realpräsenz Christi in der Eucharistie und gegen Luther die Lehre von der Transsubstantiation vertreten wurde, außerdem die Doctrina de sacramento poenitentiae (Lehrschrift über das Sakrament der Buße) vom 25. November 1551 und unter demselben Datum die Doctrina de sacramento extremae unctionis167 (Lehrschrift über das Sakrament der Letzten Ölung). Im Dekret über die Eucharistie wurde festgesetzt, dass Christus
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− wie bei Luther − nicht nur im Augenblick des Empfangs der Hostie in dieser real gegenwärtig ist, sondern nach der Konsekration darin gegenwärtig bleibt. Dadurch wurde die schon dem Mittelalter bekannte Hostienverehrung, z. B. in der Monstranz, in der die konsekrierten Hostien aufbewahrt werden, und das Umhertragen konsekrierter Hostien, etwa in der Fronleichnamsprozession, im nachtridentinischen Katholizismus weiterhin gefördert. Die zweite Tagungsperiode des Konzils endete 1552 wegen des Fürstenkriegs in Deutschland und wegen des Kriegszugs der protestantischen Fürsten gegen das von Trient nicht allzu weit entfernte Innsbruck. Auf Julius III. folgte 1555 der wenige Tage nach seiner Wahl gestorbene Marcellus II. Dessen Nachfolger Paul IV. hatte kein Interesse an dem Konzil und suchte die Erneuerung der Kirche rein päpstlich und ohne Konzil zu erreichen. So blieb das Konzil seit 1552 für zehn Jahre unterbrochen. Erst der 1559 gewählte Pius IV., Giovanni Angelo de’ Medici, berief das Konzil 1560 wieder ein, doch dauerte es bis 1562, bis die dritte und letzte Tagungsperiode begann. Philipp II. von Spanien wollte die Fortsetzung des Konzils. Franz II. von Frankreich wollte einen Ausgleich mit den Protestanten seines Königreiches und trat deshalb für ein neues Konzil ein, nicht für die Fortsetzung des Konzils von Trient. Damit wären die Dekrete der ersten und zweiten Tagungsperiode, die päpstlich nicht veröffentlicht waren, und damit auch die theologische Abgrenzung gegen die Reformation nichtig gewesen. Alles hätte neu verhandelt werden müssen. Auch Kaiser Ferdinand I. befürwortete ein neues Konzil. Er fürchtete Beunruhigungen der protestantischen Reichsfürsten, nachdem der Augsburger Religionsfrieden von 1555 im Reich einen politischen Frieden und gegenseitige Duldung der katholischen und der lutherischen Fürsten gebracht hatte. Als der Kaiser ein neues Konzil nicht erreichen konnte und die Wiedereinberufung des Konzils zu einer dritten Tagungsperiode bevorstand, ließ er den Papst bitten, Laienkelch und Priesterehe zuzulassen. Auch die protestantischen Reichsfürsten wurden wieder, wie schon zur zweiten Tagungsperiode, nach Trient eingeladen. Die in Naumburg versammelten Fürsten lehnten die Teilnahme jedoch ab. Die dritte Tagungsperiode 1562/63 Als die dritte Tagungsperiode des Konzils am 18. Januar 1562 in Trient eröffnet wurde, stand die Versammlung auch jetzt wieder in entscheidendem Maße unter spanischem und noch stärker unter italienischem Einfluss und darüber hinaus unter dem des Kardinallegaten Giovanni Morone. Das Konzil erließ in der dritten Tagungsperiode die Doctrina de communione sub utraque specie et parvulorum (Lehrschrift über die Kommunion unter beiderlei Gestalt und Kinderkommunion) vom 16. Juli 1562, die Doctrina de sanctissimae Missae sacrificio (Lehrschrift über das Messopfer) vom 17. September 1562 mit dem Decretum super petitione calicis (Dekret über die Bitte um Gewährung des Laienkelchs) und das Decretum de purgatorio (Dekret über das Fegefeuer) vom 3. Dezember 1563.
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Im Dekret über den Laienkelch wurde die Frage der Kommunion unter beiderlei Gestalt, also neben dem Verzehr der Hostie, des Brotes, auch das Trinken des Messweins, für Laien und nicht zelebrierende Priester offengelassen, woraus dann der erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil aufgeweichte Brauch wurde, den Laien grundsätzlich nur die Hostie zu reichen. In den Kirchen der Reformation war der Abendmahlsempfang unter beiderlei Gestalt üblich, was für einfache Menschen im 16. und 17. Jahrhundert oft zum entscheidenden Unterscheidungsmerkmal zwischen den Konfessionen wurde. Im Decretum de indulgentiis (Dekret über die Ablässe) vom 4. Dezember 1563 wurde die Ablasslehre verbindlich formuliert, die im Mittelalter unbestimmt geblieben und 1517 Auslöser von Luthers Ablasskritik gewesen war. Hinzu kamen die Doctrina de sacramento ordinis (Lehrschrift über das Sakrament der Weihe) mit den Kanones über das Sakrament der Weihe vom 15. Juli 1563, wobei es um die Priesterweihe ging, außerdem die Doctrina de sacramento matrimonii (Lehrschrift über das Sakrament der Ehe) mit zugehörigen Kanones und dem Ehedekret Tametsi vom 11. November 1563 und schließlich das Decretum de invocatione, veneratione et reliquiis Sanctorum et sacris imaginibus168 (Dekret über die Anrufung, die Verehrung und die Reliquien der Heiligen und über die heiligen Bilder) vom 3. Dezember 1563. Das Ehedekret Tametsi schrieb die bis auf das II. Laterankonzil von 1139 zurückgehende169 Lehre von der Sakramentalität und die Unauflöslichkeit der Ehe vor. Für Luther war die Ehe, wie er 1538 äußerte, „res politica“170 (ein weltlich Ding). Deshalb konnte es in der evangelischen Kirche die Ehescheidung geben. Mit diesen Dekreten wurde in der dritten Tagungsperiode des Konzils die dogmatische Abgrenzung gegen die Reformation und die Festlegung des katholischen Standpunkts zum Abschluss gebracht. Das war der katholische theologische Standpunkt, der von da an bis ins 20. Jahrhundert im Wesentlichen unverändert blieb – sieht man ab von der Konstitution Dei Filius des Ersten Vatikanischen Konzils mit ihrer positiven Wertung der natürlichen Erkenntnis Gottes als des Schöpfers und der positiven, wenn auch unhistorischen Wertung der Vernunft. Im Zweiten Vatikanischen Konzil erfuhr der katholische theologische Standpunkt Modifikationen, teilweise auch erhebliche Modifikationen, wurde aber nicht grundsätzlich aufgegeben. Mit den dogmatischen Dekreten aller drei Tagungsperioden und dem Dekret über die Residenzpflicht der ersten Tagungsperiode, das in der dritten Tagungsperiode noch einmal kontrovers erörtert wurde, wurde die in Spanien und Italien seit dem 15. Jahrhundert geführte Reformdiskussion in konkrete Beschlüsse umgesetzt. So ging die Katholische Reform in die Dekrete des Konzils von Trient ein. Am Ende der dritten Tagungsperiode wurde noch das Decretum de seminariorum erectione et regimine171 (Seminardekret) fertiggestellt. Dabei ging es um die Errichtung von Priesterseminaren in jeder Diözese und nicht nur um Hebung, sondern überhaupt erst um Einführung einer geregelten theologischen und all-
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gemeinen Ausbildung der katholischen Geistlichen in einer Zeit, in der ein Universitätsstudium für sie noch keineswegs üblich war. Um den Bildungsstand zu heben, in Ländern wie Deutschland aber auch wegen der Konkurrenzsituation zu den evangelischen Pfarrern, sollten an den Bischofskirchen in den Diözesen Priesterseminare errichtet werden, in denen mindestens zwölf Jahre alte Zöglinge Unterricht in der lateinischen Grammatik, in den artes und in allen theologischen Fächern erhalten und so auf die Priesterweihe vorbereitet werden sollten. Schließlich formulierte das Konzil mit dem Seminardekret − und dem Residenzdekret − ein Bischofsideal. Der Bischof sollte nicht als Herrscher fungieren − wie die mächtigen Bischöfe in Deutschland, die zugleich Landesfürsten waren − und nicht weltliche Pracht entfalten wie viele der Bischöfe an der Kurie in Rom, sondern als oberster Hirte Seelsorger seiner Diözese sein. Dekret über die Heiligen- und Bilderverehrung Das Decretum de invocatione, veneratione et reliquiis Sanctorum et sacris imaginibus vom 3. Dezember 1563 wollte die Verehrung der Bilder und Reliquien regeln, die im reformierten Bereich Gegenstand des Spottes und des Ikonoklasmus waren. Während im lutherischen Bereich der Bilderschmuck der Kirchen oft unangetastet blieb, war die Anrufung Heiliger und die Verehrung der Reliquien auch dem lutherischen Protestantismus bald fremd. Luther selbst verteidigte in seinem Unterricht auf etliche Artikel von 1519172 noch die Anrufung der Heiligen und war sich auch noch sicher, dass Gott „noch heuttigis tagis sichtlich bey der lieben heyligen corper und greber“, also bei den Reliquien, „durch seyner heyligen namen wunder thut“173. Auch in Predigten von 1522174 und 1523 sprach er sich noch für die Verehrung der Heiligen aus,175 während er in den Schmalkaldischen Artikeln von 1537176 in den Reliquien der Heiligen nur noch „offentliche lugen und narrwerck“177 sah. Das Dekret über die Heiligen- und Bilderverehrung sagt in deutscher Übersetzung des lateinischen Textes über die Heiligen und deren Anrufung: „Die Heiligen, die zusammen mit Christus herrschen, bringen ihre Gebete für die Menschen Gott dar; es ist gut und nützlich, sie flehentlich anzurufen und zu ihren Gebeten, ihrem Beistand und ihrer Hilfe Zuflucht zu nehmen, um von Gott durch seinen Sohn Jesus Christus, unseren Herrn, der allein unser Erlöser und Erretter ist, Wohltaten zu erwirken.“178
Über die Heiligenbilder heißt es: „Ferner soll man die Bilder Christi, der jungfräulichen Gottesgebärerin und anderer Heiliger vor allem in den Kirchen haben und behalten und ihnen die schuldige Ehre und Verehrung erweisen, nicht weil man glaubte, in ihnen sei irgendeine Gottheit oder Kraft, deretwegen sie zu verehren seien, oder weil man von ihnen irgendetwas erbitten könnte, oder weil man Vertrauen in Bilder setzen könnte, wie es einst von Heiden getan
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wurde, die ihre Hoffnung auf Götzenbilder setzten, sondern weil die Ehre, die ihnen erwiesen wird, sich auf die Urbilder bezieht, die jene darstellen, so dass wir durch die Bilder, die wir küssen und vor denen wir das Haupt entblößen und niederfallen, Christus anbeten und die Heiligen, deren Bildnis sie tragen, verehren.“179
Die Kirche trat damit einem magischen Verständnis von Heiligenbildern und Reliquien entgegen, auch wenn solche Vorstellungen in der katholischen Volksfrömmigkeit des Barockzeitalters − und in der antikatholischen Polemik der Protestanten − wiederkehrten. Die posttridentinische Kirche als Konfessionskirche Nachdem in der Schlussversammlung des Konzils am 4. Dezember 1563 alle Konzilsdekrete durch sechs Kardinäle, drei Patriarchen, 25 Erzbischöfe, 169 Bischöfe, sieben Äbte und sieben Ordensgenerale gebilligt worden waren, wurden sie auf Beschluss des Konzils dem Papst zur Bestätigung vorgelegt. Diese Bestätigung durch Pius IV. erfolgte mit der Bulle Benedictus Deus vom 26. Januar 1564.180 Das war der Sieg des Papalismus über den Konziliarismus, weil so ein allgemeines Konzil seine Unterordnung unter die Oberhoheit des Papstes anerkannt hatte. Auf dem Konzil von Trient wirkten vorwiegend spanische und italienische Bischöfe und Ordenstheologen. Genannt wurden schon der Spanier Diego de Álava y Esquivel und der Italiener Giovanni Morone. In der zweiten Tagungsperiode kamen als Konzilspräsidenten Kardinal Marcello Crescenzio, Erzbischof Sebastiano Pighino von Siponto und Bischof Luigi Lippomani von Verona, der später Bischof von Bergamo wurde, und als hervorragende Theologen aus Deutschland der Kölner Domherr Johannes Gropper und der Kölner Karmelit, Universitätsprofessor und als designierter Kölner Weihbischof gestorbene Eberhard Billick hinzu. Päpstliche Legaten beim Konzil während der dritten Tagungsperiode waren der im März 1563 in Trient gestorbene Kardinal Ercole Gonzaga, der Pole Stanislaus Hosius und vor allem der neapolitanische Augustiner-Eremit und seit 1561 Kardinal Girolamo Seripando, der ebenfalls im März 1563 am Konzilsort starb. Eher als Reformgegner wirkte Kardinal Ludovico Simonetta, der in der dritten Tagungsperiode die Residenzpflicht der Bischöfe aufzuweichen suchte, während der Kardinal Charles de Guise, der im November 1562 an der Spitze von 13 französischen Bischöfen in Trient erschien, im Sinne des Gallikanismus gegen die Primatstellung des Papstes und für die Superioriät des Konzils über den Papst arbeitete und das Konzil dadurch im Januar 1563 in eine Krise stürzte. In Trient wurde die Lehre der katholischen Kirche fixiert und durch dogmatische Abgrenzung von den reformatorischen Lehren auch die römische Kirche verändert, indem auch diese Kirche − entgegen ihrer Ekklesiologie − faktisch zur Konfessionskirche wurde. Diese Faktizität hat Konrad Repgen deutlich herausgestellt − „Nur so, nur durch das ebenfalls Konfessionskirche-Werden − ver-
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mochte der Katholizismus sich in West-, Mittel- und Osteuropa zu stabilisieren“181 − und diese Analyse auch auf die katholischen Länder Südeuropas bezogen: „Die posttridentinische Kirche war demnach de facto eine Konfessionskirche, auch in Spanien oder Italien.“182 Dieses Konfessionskirche-Werden fand seinen Ausdruck in der 1564 von Pius IV. als Zusammenfassung der dogmatischen Aussagen des Konzils der katholischen Kirche und ihrer Bischöfe, Ordensoberen und Theologen vorgeschriebenen Professio fidei Tridentinae, die das katholische Gegenstück der verschiedenen protestantischen Bekenntnisschriften von der lutherischen Confessio Augustana von 1530 bis zum reformierten Heidelberger Katechismus von 1563 bildete. Die Professio fidei Tridentinae wurde aufgrund eines Beschlusses des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870 mit Erweiterungen von 1877 als Professio catholicae fidei dem Corpus Iuris Canonici von 1917 vorangestellt und galt bis 1967. Interpretationsprobleme Die Beurteilung der Bedeutung des Konzils von Trient ist uneinheitlich. Wolfgang Reinhard vergleicht es mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Jahre 1962 bis 1965.183 Aber Trient sei defensiv und pessimistisch angelegt gewesen, Vaticanum II hingegen offensiv und optimistisch. Um dennoch von Modernisierung sprechen zu können, unterscheidet er zwischen relativer und absoluter Modernisierung. Relative − von den Zeitgenossen intendierte − Modernisierung wie das aggiornamento Johannes XXIII. vermag er dem Konzil von Trient aber ebenso wie absolute, zur Entstehung der Moderne beitragende Modernisierung nur in begrenztem Maße zuzugestehen. Noch zurückhaltender ist Klaus Ganzer, der Konfessionalisierung als antimodern versteht und deshalb zu Trient schreiben kann: „Ein echter Disput mit dem religiösen Gegner wird nicht gesucht. Es geht um die theologische Abgrenzung.“184 Sein kritisches Urteil dazu lautet: „Das theologische Arbeiten des Konzils [war] zum Teil von einer konfessionalistischen Enge der Abgrenzung bestimmt. Wertvolle theologische und religiöse Impulse aus dem Umfeld des Humanismus, die in zahlreichen Kreisen der altkirchlichen Erneuerungsbewegung des 16. Jahrhunderts, vor allem im italienischen Raum, lebendig waren, wurden infolge dieser konfessionalistischen Enge weitgehend unterdrückt.“185
Es scheint fraglich, ob es angemessen ist, den Modernisierungsbegriff auf das Konzil von Trient anzuwenden und dieses trotz völlig anderer Voraussetzungen und Umstände mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu vergleichen. Ist man sich darüber im Klaren, so zeigt sich, dass die Bedeutung des Konzils von Trient nicht nur in der Fixierung und Abgrenzung der katholischen Glaubenslehre und in der faktischen Neuformierung der katholischen Kirche als Konfessionskirche lag. Das Konzil bewirkte auch eine innere Reform der alten Kirche, bei der zwar manche Forderungen der spätmittelalterlichen Reformbewegung unerledigt blieben, die aber doch zumindest die Voraussetzung für die Beseitigung vieler
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Missstände schuf. Als Ergebnis des Konzils von Trient war das Papsttum wesentlich gestärkt. Darüber hinaus führte das Konzil zu einer größeren Einheitlichkeit der katholischen Kirche, als sie die Kirche des Mittelalters gekannt hatte. Jetzt gab es in der Kirche des Papsttums mit der Vulgata einen verbindlichen Bibeltext, mit der Professio fidei Tridentinae ein einheitliches Glaubensbekenntnis und mit der römischen Liturgie bald nur noch eine einzige Gottesdienstform. Gleichzeitig verstummte der Konziliarismus. Deutlich ist aber auch, dass das Konzil von Trient nicht isoliert gesehen werden darf. Das Konzil schuf eine Norm, der oft und auf viele Jahrzehnte, etwa in der katholischen Reichskirche Deutschlands, eine ganz andere Wirklichkeit gegenüberstand. Zugleich gab es mächtige Strömungen einer spirituellen Erneuerung, die − unabhängig von Trient − aus den alten und neuen Orden kamen. Kontemplation und Apostolat: Alte und Neue Orden Das 16. Jahrhundert sah den Untergang zahlloser Klöster und ganzer Ordensprovinzen. Zugleich erwachte im 16. Jahrhundert neues Ordensleben. Zu den vielen Ordensgründungen gehörten die des Kapuzinerordens und des Jesuitenordens. Beide Orden entstanden nach Luthers Bruch mit dem Ordenswesen und nach der Reformation in Deutschland. Der Kapuzinerorden ging aber als dritter Zweig des Franziskanerordens aus einem im 13. Jahrhundert gegründeten Bettelorden hervor. Hingegen waren die Jesuiten eine echte Neugründung. Beide entstanden als Teil der Katholischen Reform, deren Kontinuität aus den mittelalterlichen Reformbestrebungen − hier den Observanzbewegungen im Bettelmönchtum − bis in die Zeit des Konzils von Trient und darüber hinaus sich somit auch am Kapuzinerorden ablesen lässt. Die Kapuziner Seit 1517 gab es zwei Orden franziskanischer Tradition. Zu der Spaltung des Ordens des hl. Franziskus kam es, als Leo X. mit der Bulle Ite vos die Vertreter der moderaten Reform, die Observanten, von den Konventualen trennte. So entstanden der Ordo Fratrum Minorum, dessen auch Minderbrüder genannte Mitglieder die Observanten waren, und der Ordo Fratrum Minorum Conventualium. Die Mitglieder dieses Ordens, die nicht reformierten Franziskaner, wurden auch Minoriten genannt. Noch immer gab es aber auch die aus den Fraticelli Süditaliens hervorgegangenen radikalen Reformer, die die buchstäbliche Observanz der alten Ordensregel und des Armutsideals verlangten. Diese radikale Observanz um Matteo da Bascio fand 1528 als Ordo Fratrum Minorum Capuccinorum die Anerkennung Clemens’ VII., bevor die Kapuziner 1619 endgültig den Status eines selbständigen Ordens erhielten. Die ersten Kapuziner lebten als Eremiten in der Mark Ancona und in Umbrien. Sie folgten dem Armutsideal, wollten sich nur von Almosen ernähren und nach der ursprünglichen Regel des hl. Franziskus und nach den Bestimmungen
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seines Testaments leben. Aber wie bei den Franziskanern im 13., so änderten sich auch bei den Kapuzinern im 16. Jahrhundert die Verhältnisse durch den Beitritt vieler neuer Mitglieder. Das führte 1536 zu neuen Konstitutionen, mit denen die Kapuziner zu einem Predigt- und Seelsorgeorden wurden. Auch jetzt gab es wieder Radikale, die sich dieser Entwicklung versagten. Als Predigt- und Seelsorgeorden gewannen die Kapuziner für die gegenreformatorische Rekatholisierung und die katholische Konfessionalisierung größte Bedeutung. Dabei ergab sich eine Art Arbeitsteilung mit den Jesuiten, indem die Jesuiten für die Mission bei den Gebildeten, beim Adel und in den Herrscherhäusern zuständig waren, die Kapuziner aber für die Mission beim einfachen Volk. 1574 hob Gregor XIII. die Beschränkung der Kapuziner auf Italien auf. Danach verbreiteten sie sich in der Innerschweiz, in Savoyen, Tirol, Piemont und im Wallis. 1581 kamen sie nach Altdorf in Uri, 1593 nach Innsbruck, 1596 nach Salzburg, 1599 nach Freiburg im Breisgau und 1600 nach München, Wien, Prag und Graz. 1619 hatte der Orden rund 15.000 Mitglieder. Hauptaufgabe der Kapuziner war die Predigt, vor allem in der Form der Wanderpredigt. Die Kapuziner veranstalteten Volksmissionen, bei denen sie mit Predigten und Frömmigkeitsformen, die der Alltagserfahrung der Bauern entsprachen, zur Rekatholisierung ganzer Landstriche oder zur Befestigung des Katholizismus gegenüber dem Protestantismus beitrugen. Sie pflegten Krippen- und Passionsandachten, die Anlage von Kreuzwegen und Kalvarienbergen (von lat. calvaria Schädel) und führten Passionsspiele auf, die zwar schon auf das Mittelalter zurückgingen, aber oft im 17. Jahrhundert unter Einfluss der Kapuziner einsetzten, so etwa die Passionsspiele in Oberammergau seit 1633/34. Auch Weihnachtskrippen und Krippenfiguren hängen mit den Missionsmethoden der Kapuziner zusammen, die das Volk aber auch durch ihr soziales Engagement beeindruckten. Das gilt für die von ihnen organisierte Ausgabe von billigem Brot an Bedürftige in „Christusläden“, vor allem aber für den Einsatz zahlreicher Kapuzinerpatres in Zeiten der Pestepidemien und bei der Pflege von Pestkranken, bei der sich viele Kapuziner selbst infizierten und an der Pest starben. Für viele Adelige waren die asketischen Ideale der Kapuziner attraktiv. Das führte zum Beitritt Adeliger zum Kapuzinerorden oder zu dem Wunsch auch hochadeliger Männer und Frauen, nach dem Tod in einer Kapuzinerkirche und womöglich bekleidet mit dem Kapuzinerhabit begraben zu werden. Bekannt ist die Kapuzinergruft als Grablege der Habsburger unter der 1618 von Kaiserin Anna, der Gemahlin des Kaisers Matthias, gestifteten Kapuzinerkirche am Neuen Markt in Wien, deren Grundstein Kaiser Ferdinand II. 1622 legte. Bedeutung gewannen die Kapuziner auch als Feldprediger in katholischen Armeen der Zeit. Das beste Beispiel ist der Kapuzinerpater Fidelis von Sigmaringen, der als Markus Roy geboren wurde und während der Bündner Wirren als Feldprediger österreichischer Heeresverbände durch Schwerthiebe und Keulenschläge reformierter Bauern in Seewis im Prättigau bei Chur zu Tode kam. Für die katho-
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lischen Soldaten wurde er zu einer Art „metaphysischer Lebensversicherung“186 und für den katholischen Adel zum Leitbild des Glaubenskriegers. Wie kaum ein zweiter Heiligenkult trug der Kult des hl. Fidelis zur Verhärtung der konfessionellen Trennlinien zwischen Katholiken und Protestanten in Graubünden, in der Ostschweiz und zwischen den vorderösterreichischen Gebieten und ihrer protestantischen Nachbarschaft in den Gegenden um den Bodensee bei. Neben Meinrad von Einsiedeln, Nikolaus von Flüe, Carlo Borromeo oder Franz von Sales wurde Fidelis eine konfessionelle Identifikationsfigur der katholischen Schweiz. Interessant ist aber auch die päpstliche Zurückhaltung gegen eine Kanonisierung des Fidelis. Rom wollte keine Instrumentalisierung zeitgenössischer Opfer von Gewalt, wie Fidelis es war, zur Verherrlichung weltlicher Potentaten wie der Habsburger. So kam es erst 1746 zur Heiligsprechung des Kapuzinerpaters Fidelis von Sigmaringen. Ignatius von Loyola und die Jesuiten Die wichtigste Ordensgründung des Konfessionellen Zeitalters waren die Jesuiten. Ihr Stifter, der 1491 geborene Spanier Iñigo López (Ignatius) de Loyola, entstammte einer baskischen Adelsfamilie, wurde Soldat und diente dem König von Spanien, Karl V., als Offizier. Bei den Kämpfen gegen die aufständischen Comuneros in Kastilien wurde er 1521 bei der Belagerung vom Pamplona schwer verwundet und militäruntauglich. Nun las er religiöse Literatur − wohl De imitatione Christi von Thomas von Kempen aus dem 15., das Leben Christi des Ludolf von Sachsen aus dem 14. und die Legenda Aurea, eine Sammlung von Heiligenviten, des Jacobus a Voragine aus dem 13. Jahrhundert. 1522 legte er seinen Degen, das Standeszeichen des adeligen Offiziers, vor dem Gnadenbild der Muttergottes des Benediktinerklosters Nuestra Señora de Montserrat in Katalonien nieder, bevor er in Manresa bei Barcelona, wo er 1522 seine Exercitia spiritualia187 (Geistlichen Exerzitien) niederschrieb, mystische Erfahrungen machte und 1523 eine Wallfahrt über Rom und Venedig nach Jerusalem unternahm. Seit 1524 besuchte er eine Lateinschule in Barcelona, seit 1526 studierte er an den Universitäten von Alcalá und Salamanca. 1527 geriet er mit der Inquisition in Konflikt und saß einige Wochen im Gefängnis, weil er ohne kirchliche Erlaubnis Predigten hielt. Seit 1528 studierte er an der Sorbonne Philosophie und dann bis 1534 Theologie. Am 15. August 1534, dem Tag Mariae Himmelfahrt, gelobte er in der heute nicht mehr bestehenden Marienkapelle − an ihrer Stelle, 9 Rue Antoinette, befindet sich jetzt eine 1877 errichtete Krypta − auf dem Montmartre bei Paris nahe der heutigen Basilique Sacré-Cœur gemeinsam mit den sechs Studienfreunden Petrus Faber, Francisco Javier (Xavier), Nicolás Bobadilla, Simón Rodrígues de Azevedo, Diego Laínez und Alfonso Salmerón Armut, Keuschheit, Arbeit zum Heil der Seelen und eine weitere Wallfahrt nach Jerusalem. Während die Überfahrt nach Palästina wegen der Kriegslage im östlichen Mittelmeer nicht zustande kam, empfing Ignatius 1537 in Venedig durch Bischof Vincenzo Negusanti von
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Arbe (Rab) in Dalmatien die Priesterweihe. „Als Ort seiner ersten Messe wählte Ignatius mit Bedacht Roms größtes Marienheiligtum, die Basilika Santa Maria Maggiore, und in ihr den Altar, bei dem (seit dem Frühmittelalter) die Reliquie der Krippe von Bethlehem aufbewahrt wurde.“188 Er und seine sechs Freunde beschlossen, ihre Gemeinschaft Compañia de Jesús zu nennen, lateinisch Societas Iesu, deutsch Gesellschaft Jesu. So kam es zu dem Namen Jesuiten. Seit November 1537 war Ignatius in Rom. Hier verfasste er 1539 einen ersten Entwurf der Ordensgründung, die Formula Instituti189, bevor Paul III. den neuen Orden 1540 mit der Bulle Regimini Militantis Ecclesiae bestätigte. 1541 wurde Ignatius zum ersten Ordensgeneral der Jesuiten gewählt. Der Jesuitenorden unterschied sich von anderen Orden durch besonders strenge Aufnahmekriterien, durch eine streng monarchische Verfassung mit einem auf Lebenszeit gewählten Ordensgeneral an der Spitze, durch den Verzicht auf Ordenstracht und Chorgebet und durch das Gelübde des unbedingten Gehorsams gegenüber dem Papst, das zu den sonst üblichen Gelübden der Armut und der Keuschheit hinzutrat. Von jedem Jesuiten wurden umfassende wissenschaftliche Studien verlangt. Große Bedeutung gewannen die Exerzitien, geistliche Übungen nach den Exercitia spiritualia des Ignatius, mit intellektueller, psychischer und mystischer Erfahrung. Bei den klassischen Exerzitien handelte es sich − in Anlehnung an das vierzigtägige Fasten Jesu in der Wüste (Mt 4,1-2) − um vierzigtägige Meditationsübungen unter Leitung eines Exerzitienmeisters. So wie die Kapuziner Krippen- und Passionsspiele förderten, so waren die Jesuiten die Erfinder der Exerzitien. Der Einrichtung der Exerzitien verdankten die Jesuiten in erheblichem Maße ihren Erfolg. In der ersten Zeit war der Jesuitenorden auf 60 Mitglieder beschränkt, bis diese Begrenzung 1544 aufgegeben wurde. Die Ausbreitung des Ordens hatte schon vorher eingesetzt. 1540 fassten die Jesuiten in Paris Fuß. 1542 kamen sie nach Regensburg. 1544 entstand die Jesuitenniederlassung in Köln. 1547 wurde in Spanien eine Jesuitenprovinz gegründet, die 1554 in die Provinzen Kastilien, Aragón und Andalusien geteilt wurde. In Deutschland richtete Ignatius 1556 die Niederdeutsche und die Oberdeutsche Provinz − mit Niederlassungen in Wien (1552), Prag (1556), Ingolstadt (1556), München (1559) und Innsbruck (1561/64) − ein, aus der 1563 die Österreichische Provinz abgeteilt wurde. 1564 folgte die Rheinische Provinz. Beim Tod des Ignatius 1556 hatte der Jesuitenorden rd. 1.000, 1565 bereits rd. 3.500 Mitglieder in 18 Ordensprovinzen. In Portugal errichteten die Jesuiten 1541 ihre erste Niederlassung in Lissabon und ein Jahr später in Coimbra ein Collegium. Rasch folgten in Italien die Kollegien von Messina (1548), Palermo (1549) und 1551 als wichtigste Hochschule des Jesuitenordens das Collegium Romanum in Rom, bevor Kollegien in zahlreichen anderen Städten Italiens entstanden. Das Collegium Romanum erhob Julius III. 1552 zur Universität. Gregor XIII. ließ für sie zwischen 1583 und 1585 von dem Jesuiten-Architekten Giuseppe Valeriani das riesige Gebäude an der Piazza
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del Collegio Romano errichten. Dagegen konnten die Jesuiten in Frankreich erst 1556 ein Kolleg in Billom und in den Niederlanden 1562 die beiden Kollegien in Brüssel und Tournai errichten. Der erste deutsche Jesuit war der in Nijmegen geborene Petrus Canisius, der 1543 dem Jesuitenorden beitrat. Als Professor an der Universität Ingolstadt leitete er die Gründung von Jesuitenkollegien in Wien (1552) und Ingolstadt (1556) ein, bevor auch in München (1559), Trier (1560) und Dillingen Jesuitenkollegien entstanden, denen bald weitere folgten. Die Jesuiten wirkten als Unterrichtsorden und beherrschten bald das höhere männliche Schul- und Hochschulwesen der katholischen Länder. Seit 1550 waren ihre Kollegien auch für Nichtjesuiten geöffnet. Auch in Deutschland übernahmen die Jesuiten die bedeutendsten Gymnasien. So wurde das Gymnasium Tricoronatum in Köln seit 1556 unter der Leitung des Jesuiten Johannes Rethius das erste große Jesuitengymnasium Deutschlands. Die katholischen Universitäten waren, von wenigen Ausnahmen wie der vom Benediktinerorden getragenen Universität Salzburg abgesehen, entweder reine Jesuitenuniversitäten − Bamberg, Dillingen, Graz oder Paderborn − oder Universitäten, bei denen die Lehrstühle der theologischen und der philosophischen Fakultät mit Jesuiten als Professoren besetzt waren − Köln, Mainz, Wien oder Würzburg. 1599 legte der Jesuitengeneral Claudio Aquaviva die Studienordnung für die Schulen und Hochschulen des Jesuitenordens fest, die Ratio studiorum atque institutio S. J. Ihre beherrschende Stellung im Bildungswesen trug zum Erfolg der Jesuiten − und zum Erfolg von Rekatholisierung und katholischer Konfessionalisierung − bei. Hinzu kamen die Rolle der Jesuiten als Beichtväter katholischer Herrscher- und Fürstenfamilien und ihre Bedeutung für die Mission in Hispanoamerika, Brasilien, Indien, China und Japan. Zur Bedeutung des Jesuitenordens trug schließlich seine gesellschaftliche Verflechtung bei. Dazu dienten die Jesuiten-Sodalitäten oder Marianischen Kongregationen, in denen Laien aus Adel oder Bürgertum organisiert waren. Die erste Marianische Kongregation entstand 1563 in Rom. Große Bedeutung besaß die Architektur der Jesuitenkirchen. Am Anfang stand Il Gesù in Rom, 1568 von Giacomo Barozzi Vignola begonnen, nach 1573 von Baumeistern des Ordens fortgeführt und nach Errichtung der Fassade Giacomo della Portas 1584 fertiggestellt, bevor im 17. Jahrhundert die 1683 vollendete hochbarocke Innenausstattung folgte. Mit S. Ignazio wurde seit 1626 von dem Jesuitenpater Orazio Grassi die zweite große Jesuitenkirche Roms als Kirche des Collegium Romanum errichtet, die 1685 mit der Fertigstellung der Gewölbefresken des Jesuitenfraters Andrea del Pozzo zum Abschluss kam. Schon 1583 begann der Bau der Jesuitenkirche St. Michael an der Neuhauser Straße in München durch Wolfgang Miller und ab 1593 durch Friedrich Sustri. Hinter dem Kirchenbau mit seinem monumentalen Tonnengewölbe stand der Wille des von den Jesuiten in Ingolstadt erzogenen Herzogs Wilhelms V. von Bayern, der mit der 1597 geweihten Kirche eine Triumphkirche der Gegenreformation errichten wollte. Auch in Wien gab es zwei Jesuitenkirchen. 1627 begann der Bau der Jesu-
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itenkirche, die zugleich Universitätskirche war und, durch einen unbekannten Baumeister errichtet, 1631 fertiggestellt und später von Andrea del Pozzo umgestaltet wurde. Die andere Wiener Jesuitenkirche war die zwischen 1607 und 1610 barockisierte und 1662 mit ihrer Barockfassade versehene, im späten 14. Jahrhundert errichtete gotische Kirche am Hof, die ursprünglich Karmelitenkirche gewesen war. In Paris legte Ludwig XIII. 1627 an der Rue St. Antoine den Grundstein für die große Kirche Saint-Louis (heute Saint-Paul-Saint-Louis) der Jesuiten neben ihrer seit 1580 bestehenden Pariser Niederlassung. Baumeister war der Jesuitenpater Etienne Martellange, bis 1629 der Jesuitenpater François Derrand die Bauleitung übernahm. 1641 konnte Kardinal Richelieu die erste Messe in Saint-Louis feiern. In Köln wurde die Jesuitenkirche St. Mariae Himmelfahrt in der Marzellenstraße seit 1618 von Christoph Wamser nach dem Vorbild der Jesuitenkirche in Molsheim im Elsass begonnen und von 1623 bis 1626 wahrscheinlich von dem Jesuitenfrater Valentin Boltz fertiggestellt. In Düsseldorf wurde die Jesuitenkirche auf Betreiben von Herzog Wolfgang Wilhelm von PfalzNeuburg zwischen 1622 und 1629 im Stil des römisch-süddeutschen Frühbarock errichtet. Die Jesuitenkirche in Luzern wurde erst ab 1666 erbaut und 1677 geweiht. Teresa von Ávila und die Karmeliten in Spanien Von den Karmeliten und von Ordensreformern wie Johannes Soreth und Nikolaus Audet war schon die Rede. 1531 konnte Audet über die Reform von mehr als 100 Karmelklöstern berichten. Aber weder Soreth noch Audet kamen auf ihren Visitationsreisen nach Spanien, so dass der Karmelitenorden in Spanien eine eigene Entwicklung nahm. Am Ende dieser spanischen Eigenentwicklung stand 1593 die Spaltung des Kamelitenordens in die alten Beschuhten Karmeliten und die neuen Unbeschuhten Karmeliten, die für die katholische Kirche im 17. Jahrhundert ähnliche Bedeutung gewannen wie Kapuziner und Jesuiten. Die Teresianische Reform der Karmeliten in Spanien, die in der alten Observanz wurzelte und insofern mittelalterliche Züge trug, hat ihren Namen nach der hl. Teresa von Ávila, die mit ihrem Ordensnamen Teresa de Jesús genannt wurde. 1622 wurde sie von Gregor XV. gemeinsam mit Ignatius von Loyola, Filippo Neri, Francisco Javier (Xavier) und dem Bauern Isidro, dem wundertätigen Stadtpatron von Madrid aus dem 12. Jahrhundert, heiliggesprochen. Die Karmelitinnenklöster in Kastilien und Andalusien waren nach der Bulle Cum nulla Nikolaus’ V. von 1452 entstanden, unterschieden sich von den Karmelitinnenklöstern im übrigen Europa aber dadurch, dass die Nonnen nicht in Klausur lebten. Als die 1515 unter dem Namen Teresa Sánchez de Ahumada y Cepeda geborene Teresa von Ávila − ihre Mutter Beatriz de Ahumada war altchristlicher Herkunft, ihr Vater Alonso Sánchez de Cepeda als 1485 im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern zum Katholizismus konvertierter Jude Marrane − 1535 in ihrer Heimatstadt Ávila in Altkastilien in das Kloster Maria de la Encarnación eintrat, war
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das eigentlich kein Kloster, sondern eine Wohngemeinschaft von etwa 150 Frauen zumeist adeliger Herkunft, die ein nur wenig religiöses Leben führten. Diese Verhältnisse, die so auch in anderen Karmelitinnenklöstern Spaniens herrschten, waren für Teresa der Anlass für ihre Reformbestrebungen, mit denen sie der régla primitiva aus der Anfangszeit des Karmelitenordens auch in den Karmelitinnenklöstern Spaniens Geltung verschaffen wollte. Ihrem Klostereintritt waren dreijährige innere Kämpfe vorangegangen. Als junge Ordensfrau erkrankte sie 1539. Nachdem sie sich während der drei Jahre der Genesungszeit geistlicher Lektüre, u. a. des Tercer Abecedario espiritual des Francisco de Osuna, gewidmet hatte und durch religiöse Krisen gegangen war, erfuhr sie 1554 vor einer mit den Wundmalen bedeckten Christusstatue ihr Bekehrungserlebnis. Die Jahre von 1554 bis 1560 waren die Zeit ihrer mystischen Gotteserfahrung, die Jahre ab 1560 die Zeit ihres praktischen Wirkens für Ordensreform und Klostergründungen. Sie berichtet darüber in ihrem ersten Buch, Libro de la Vida (Buch des Lebens) oder kurz Vida,190 einer religiösen Autobiographie von außerordentlicher Bedeutung. Diese Darstellung ihres Lebens und ihrer mystischen Erfahrungen reicht bis zu ihrer ersten Klostergründung. Erschüttert und gestärkt durch mystische Erfahrungen ging sie daran, als einzelne kleine Nonne einen ganzen Orden zu reformieren. Pius IV. erteilte ihr 1562 die Erlaubnis, ein Kloster nach den strengen Regeln der Frühzeit zu gründen. So gründete Teresa 1562 den Karmel S. José in Ávila, für den sie selbst die Konstitutionen mit einer Verschärfung der alten Regel verfasste: strenge Klausur, Schweigen und Askese. 1565 bestätigte Pius IV. die Gründung dieses Reformklosters, dem Teresa seit 1563 als Priorin vorstand. Die hl. Teresa traf auf große Widerstände und geriet mit der Inquisition in Schwierigkeiten. Dennoch richtete sie in Spanien weitere Karmelitinnenklöster ein, zunächst 1567 S. José in Medina del Campo und danach noch 15 Frauenklöster, 1568 in Malagón und Valladolid, 1569 in Toledo und Pastrana, 1570 in Salamanca, 1571 in Alba de Tormes, wo sie 1582 starb, 1574 in Segovia, 1575 in Beas und in Sevilla, 1576 in Caravaca, 1580 in Villanueva de la Jara und in Palencia, 1581 in Soria und 1582 in Granada und in Burgos, die alle durch strengste Askese, radikale Trennung von der Welt und absolute Armut ausgezeichnet waren. 1571 wurde sie Priorin in Maria de la Encarnación, bevor sie 1574 nach S. José in Ávila zurückkehrte. Unterstützung erfuhr die hl. Teresa von dem Ordensgeneral der Karmeliten, Juan Bautista Rubeo, der 1567 nach Ávila kam und ihr die Gründung weiterer Reformklöster erlaubte, und von dem Provinzial Jerónimo Gracián, den sie 1575 kennenlernte und der ihr Beichtvater und als apostolischer Visitator der Karmeliten in Spanien enger Mitarbeiter wurde. Noch wichtiger wurde ihre Begegnung mit dem 1726 heiliggesprochenen Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz), der 1563 in das Männerkloster der Karmeliten in Medina del Campo eingetreten war und den Teresa für ihre Reform gewann. Gemeinsam gründeten sie 1569 die karmelitischen Männerklöster in Durvelo nahe Ávila und in Pastrana. 1542 als
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Juan de Yepes y Alvarez geboren, entstammte Johannes einer verarmten Adelsfamilie. Er hatte an der Universität von Salamanca studiert und 1567 die Priesterweihe empfangen. Nachdem ihn missgünstige Ordensbrüder entführt hatten, saß er von Dezember 1577 unter schweren Haftbedingungen im Gefängnis der Inquisition zu Toledo, aus dem er im August 1578 fliehen konnte. Er starb 1591. Das äußere Zeichen der strengen Observanz der aus der Teresianischen Reform hervorgegangenen spanischen Karmeliten waren die Bastsandalen, die diese Karmeliten sommers wie winters trugen. Deshalb heißen sie Unbeschuhte Karmeliten, lateinisch Carmelitae Discalceati (von discalceatus barfuß). 1593 fand die Entwicklung ihren Abschluss, indem der Orden der Unbeschuhten Karmeliten, lateinisch Ordo Fratrum Discalceatorum Beatae Mariae Virginis de Monte Carmelo, neben den Stammorden der Beschuhten Karmeliten, lateinisch Ordo Fratrum Beatae Mariae Virginis de Monte Carmelo, trat. 1631 bestätigte Urban VIII. die strengen Konstitutionen der Unbeschuhten Karmeliten, die sich zu diesem Zeitpunkt längst weit über Spanien hinaus verbreitet hatten. Zu diesen strengen Konstitutionen gehörte neben Armut und Klausur das radikale Fastengebot, d. h. Verbot des Fleischgenusses entweder während des ganzen Jahres oder doch zumindest vom 14. September, dem Fest der Kreuzerhöhung, bis Ostern. Das Werk Teresas von Ávila und Johannes’ vom Kreuz lebte in doppelter Hinsicht fort − äußerlich durch viele Klostergründungen in der Alten und in der Neuen Welt. Seit 1613 gab es männliche Unbeschuhte Karmeliten in Köln, seit 1636 auch Unbeschuhte Karmelitinnen. 1613 entstand in Paris die erste Niederlassung der Unbeschuhten Karmeliten in Frankreich mit der Kirche Saint-Joseph des Carmes an der Rue de Vaugirard unweit von Saint-Sulpice, zu der die Regentin Maria von Medici den Grundstein legte. Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila wirkten aber auch als mystische Schriftsteller fort. Die hl. Teresa gilt als größte christliche Mystikerin. Im spanischen Katholizismus wird sie nicht nur, neben dem Apostel Jakobus, als Nationalheilige verehrt, sondern auch als doctora mistica. Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz als Mystiker Dabei war die fromme Frau in ihrer Zeit gerade wegen ihrer mystischen Schriften der Verfolgung ausgesetzt. Von altchristlicher Seite wurde sie bei der Inquisition denunziert. Man verdächtigte sie des Alumbrado − ein Vorwurf, der im Spanien des 16. Jahrhunderts diejenigen traf, die persönliche Frömmigkeit veräußerlichten Ritualen vorzogen und einer intensiven Bibellektüre anhingen; auch Ignatius von Loyola traf zeitweise der Vorwurf, ein Alumbrado zu sein. Man verdächtigte Teresa von Ávila aber auch, eine der spanischen luteranos, Lutheraner, zu sein. Ihre mystischen Gebetserfahrungen wurden von führenden Theologen als Suggestionen des Teufels betrachtet. So fehlte nicht viel, um sie auf den Scheiterhaufen zu bringen. Es war die Unterstützung durch mystisch interessierte Beichtväter und Theologen wie Juan
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de Ávila und Pedro de Alcántara und bald auch die Förderung durch König Philipp II., wodurch die hl. Teresa vor der Inquisition geschützt wurde. Ihr Libro de la vida, den sie 1561 begann und 1565 abschloss, diente der Verteidigung gegen die Inquisition. Teresa von Ávila entstammte einer Familie jüdischer Konvertiten. Die Cristianos nuevos stießen in Spanien auf den Argwohn derer, die die Ernsthaftigkeit ihres Übertritts zum Katholizismus bezweifelten. 1492 wurden sie in großer Zahl aus Spanien vertrieben. Teresas Familie gehörte zu denen, die als Katholiken in Spanien blieben. Das war der Hintergrund ihrer Mystik. Die Altchristen in Spanien und große Teile der kirchlichen Hierarchie lebten eine traditionelle, veräußerlichte und ritualisierte Religiosität. Demgegenüber trat Teresa für eine verinnerlichte Frömmigkeit ein, deren Mitte das geistige Gebet (oración mental) und die mystische Gotteserfahrung bildete. Das machte sie den Altchristen verdächtig. Hinzu kam ihre Gesellschaftskritik. Teresa von Ávila forderte Gleichheit der Seelen, keine Sonderstellung für altchristlichen Adel und hohen Klerus; sie forderte die Haltung der Demut und kritisierte die durch Hochmut, Standesdünkel und hochgespannte Ehrauffassungen geprägte Gesellschaft Spaniens; sie forderte Verachtung des Diesseits zugunsten des Jenseits und kritisierte Luxus, Wohlleben und Prunkentfaltung; und sie forderte Bildung − Bildung auch für Mädchen. Ihr Libro de la vida ist kein bloßer Lebensbericht, sondern ein Werk der mystischen Theologie, in dem die hl. Teresa vier Stufen des Gebetes unterscheidet, mit dem innerlichen Gebet als höchster Stufe. Dieses innerliche Gebet erklärt sie als „Freundschaftsverkehr [mit Gott], bei dem wir uns oftmals im geheimen mit dem unterreden, von dem wir wissen, dass er uns liebt“. Das innere Gebet ist der mystische Zustand der Vereinigung mit Gott: „Auf der vorigen Gebetsstufe war es den Sinnen noch gestattet, von den großen Wonnen, die sie dort empfanden, einige Andeutung zu geben; hier aber, wo die Seele eine unvergleichlich größere Wonne genießt, kann sie diese weit weniger kundgeben, weil weder dem Leib noch der Seele soviel Kraft bleibt, dass ihr eine Mitteilung möglich wäre. [...] Ja, ich sage: findet eine Vereinigung aller Vermögen statt, dann kann die Seele, solange diese Vereinigung dauert, unmöglich mit etwas äußerem sich beschäftigen, wenn sie auch wollte; kann sie es, so ist die Vereinigung noch keine vollständige.“
Dazu heißt es weiter: „Vereinigung überhaupt ist bekanntlich das Einswerden zweier Dinge, die vorher voneinander getrennt waren.“ Dann schreibt die Mystikerin: „Während also die Seele in besagter Weise Gott sucht, fühlt sie, wie sie in übergroßer, süßer Wonne fast ganz dahinschmachtet und in eine Art Ohnmacht versinkt. Der Atem stockt, und alle Körperkräfte schwinden, so dass sie nicht imstande ist, auch nur die Hände zu rühren, außer nur mit großer Pein. Die Augen schließen sich, ohne dass
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sie es will; und hält sie diese offen, so sieht sie fast nichts. Will sie lesen, so kann sie keinen Buchstaben recht aussprechen; und kaum kennt sie noch die Buchstaben, die sie vor sich hat. Sie sieht zwar, dass Buchstaben da sind; weil aber der Verstand nicht nachhilft, so kann sie auch nicht lesen, selbst wenn sie wollte. Sie hört, versteht aber das nicht, was sie hört. [...] Es schwindet ihr nämlich alle äußere Kraft, indes die Kräfte der Seele zunehmen, damit diese ihre innere Seligkeit um so besser genießen kann. [...] Anfangs geht dieses Gebet, wie es wenigstens bei mir der Fall war, in so kurzer Zeit vorüber, dass man bei dieser kurzen Dauer von den genannten äußeren Zeichen und dem Schwinden der Sinne nicht so viel wahrnimmt; aus den zurückgebliebenen Gnaden aber ist deutlich zu erkennen, wie glühend hier die Sonne der göttlichen Liebe gestrahlt hat, da die Seele so von ihr zerschmolzen ward. Indessen ist überhaupt zu bemerken, dass die Zeit, während der alle Vermögen der Seele zugleich aufgehoben sind, auch in ihrer längsten Dauer meines Erachtens nur sehr kurz ist. Hält es eine halbe Stunde an, so ist dies schon sehr viel.“191
Nach der Autobiographie verfasste Teresa von Ávila zwischen 1573 und 1582 ihren Libro de las Fundaciones192 (Buch der Klostergründungen), in dem sie über die Gründung des Klosters S. José in Ávila und über ihre anderen Klostergründungen berichtete. Ihr Hauptwerk war El castillo interior, o las moradas193 (Die innere Burg oder die Wohnungen) von 1577, das in den deutschsprachigen Ländern unter dem Titel Seelenburg bekannt ist. In diesem Werk, einem der bedeutendsten der mystischen Theologie, unterscheidet Teresa eine Zimmerflucht mit sieben Wohnungen. Die ersten drei Wohnungen gehören dem asketischen und dem aktiven Bereich an. In der vierten Wohnung ereignet sich der Übergang vom recogimiento interior (innere Sammlung) zum oración de quietud (Ruhegebet). Die fünfte Wohnung ist die der unio, die sechste die des desposorio (Verlöbnis) mit Jesus Christus bzw. mit Gott und die siebte schließlich die des matrimonio espiritual (geistliche Hochzeit): „Diese geheimnisvolle Vereinigung geht im innersten Seelengrunde vor sich, an dem Ort, wo Gott selber wohnen muß. [...] Was Gott hier der Seele in einem Augenblick mitteilt, ist ein so großes Geheimnis, eine so hohe Gnade und erfüllt sie mit so außerordentlicher Wonne, dass ich es mit nichts anderem vergleichen kann als mit der himmlischen Glorie, die der Herr ihr für jenen Augenblick offenbaren will. [...] Bei der mystischen Vermählung aber ist es, wie wenn Wasser vom Himmel in einen Fluß oder in einen Brunnen fällt, wo die beiden Wasser so eins werden, dass sie nicht mehr voneinander geschieden werden können; [...] oder es ist, wie wenn in ein Zimmer durch zwei Fenster ein helles Licht hineinfällt; obgleich beim Hineinfallen geschieden, wird es im Zimmer doch zu einem Licht.“194
Zu erwähnen sind auch Teresas zwischen 1562 und 1569 entstandener Camino de perfección195 (Weg der Vollkommenheit), die Relaciones196 (Geistliche Berichte) sowie die von ihr verfassten Constituciones für das Kloster S. José.197
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Die mystische Theologie des Johannes vom Kreuz findet sich vor allem in lyrischen Dichtungen, mit denen Juan de la Cruz einer der größten lyrischen Dichter spanischer Sprache ist. Die beiden älteren dieser Dichtungen entstanden im Gefängnis in Toledo: En una noche oscura198 (Die dunkle Nacht) und Cántico espiritual199 (Geistlicher Gesang). Hingegen schrieb er Llama de amor vivo200 (Lebendige Liebesflamme) erst 1584. Später verfasste er Kommentare zu seinen Dichtungen. Dazu gehört La Subida del monte Carmelo201 (Der Aufstieg zum Berge Karmel) aus den Jahren 1578 bis 1583. Das Thema in den drei großen Gedichten ist die Liebessehnsucht, die in seinen Kommentaren zu diesen Gedichten in die religiöse Thematik übersetzt wird. Die Subida del monte Carmelo thematisiert die via purgativa (Reinigung), der Kommentar zu En una noche oscura, Noche oscura de alma (Dunkle Nacht der Seele), die via illuminativa (Erleuchtung). Nacht ist nicht die Nacht der Sünde oder der Gottesferne − etwas Negatives −, sondern der Zustand des Eingehens der Seele in Gott − Nacht als Positivum. Im Cántico espiritual charakterisiert Johannes vom Kreuz die mystische Hochzeit als gänzliche Umgestaltung der Seele im Geliebten. Apostolische Frauenorden Die Ursulinen, gegründet von der hl. FranziskanerTertiarin Angela Merici, entstanden 1535 im oberitalienischen Brescia als Gemeinschaft zur Erziehung verwahrloster Straßenmädchen und jugendlicher Prostituierter unter dem Patronat der hl. Ursula. Die Ursulinen lebten in klösterlicher Gemeinschaft nach den evangelischen Räten, befolgten die einfachen Regeln und trugen Ordenshabit. 1566 holte Kardinal Carlo Borromeo die Ursulinen nach Mailand und übertrug ihnen den Religionsunterricht für Mädchen. 1582 bestätigte Gregor XIII. die Statuten der Ursulinen. Nach Deutschland kamen die Ursulinen von Lüttich aus. 1639 ließen sie sich in Köln nieder. Die Englischen Fräulein, nach ihrer Gründerin, der Engländerin Mary Ward auch Mary-Ward-Schwestern genannt, waren in katholischen Ländern der Schulorden für den Betrieb von Mädchenschulen schlechthin. Mary Ward war 1606 als Katholikin aus dem protestantischen England in die Spanischen Niederlande geflohen. Hier gründete sie 1611 eine Genossenschaft zur Erziehung und Ausbildung katholischer Mädchen aus England. Mary Ward bemühte sich in Rom um Anerkennung ihrer Gemeinschaft, die währenddessen bereits Niederlassungen außerhalb der Spanischen Niederlande − 1616 in Lüttich, 1620 in Köln, 1621 in Trier und 1622 in Rom − gründete. Wegen der Konzentration ihrer Gemeinschaft auf das Schul- und Bildungswesen und der dadurch gegebenen Parallele zu den Jesuiten nannte Mary Ward ihre Gemeinschaft Jesuitinnen. Gregor XV. verbot ihr die Verwendung dieses Namens. Die Jesuiten hatten ja keinen weiblichen Zweig. Auch später geriet Mary Ward, deren Gemeinschaft sich 1627 auch in München und in Wien niederließ, in Konflikt mit den kirchlichen Autoritäten in Rom. 1631 hob Urban VIII. die Gemeinschaft auf, weil sie keine Klausur hielt. Es war nur der Protektion des Kurfürsten Maximilian I. von Bayern zu verdan-
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ken, dass die Englischen Fräulein fortbestehen − und später beträchtliche Bedeutung erlangen − konnten. 1703 wurden sie endgültig päpstlich anerkannt. Die Vinzentinerinnen, benannt nach ihrem Mitgründer Vinzenz von Paul, entstanden 1633 in Frankreich aus Frauenvereinen zur Krankenpflege und wurden ein echter Krankenpflegeorden. Die andere Gründergestalt war Louise de Marillac, die bereits Mädchen in der Krankenpflege unterrichtete, bevor diese 1634 Gelübde ablegten und ihr Gemeinschaftsleben nach einer von Vinzenz von Paul ausgearbeiteten Regel organisierten. Die Vinzentinerinnen betreuten Hausarme und Pflegefälle und übernahmen auch Krankenhäuser − Aufgaben, die die Einhaltung der Klausur unmöglich machten. 1668 bestätigte Clemens IX. die Regel des Ordens der Vinzentinerinnen. Die Karmelitinnen repräsentierten das kontemplative Ordensleben; Ursulinen, Englische Fräulein und Vinzentinerinnen standen für das apostolische Ordensleben. Ihr Apostolat war entweder Schule bzw. Mädchenbildung oder Krankenpflege. Italien Das Konzil von Trient hatte mit den erst später einsetzenden Reformen der Kurialbehörden in Rom nichts zu tun. Die Durchführung der Trienter Konzilsbeschlüsse begann in den Diözesen Italiens 1564 unmittelbar nach der Bestätigung der Konzilsdekrete durch den Papst, indem Pius IV. die in Rom weilenden Bischöfe zur Einhaltung der Residenzpflicht in ihren Diözesen aufforderte. Bald begannen in Italien auch die ersten der vom Konzil vorgeschriebenen Diözesansynoden und Visitationen. Das Rom der Päpste Mit dem Sanctum Officium (Heiliges Offizium) in Rom war schon 1542 eine Inquisitionsbehörde entstanden, die ausdrücklich für die Verteidigung des Glaubens der alten Kirche jenseits der Alpen und also auch in Deutschland zuständig war und 1543 die Einfuhr protestantischer Bücher nach Italien verbot. 1559 wurde erstmals ein zentraler päpstlicher Index der verbotenen Bücher publiziert, der an die Stelle von Listen häretischer Bücher trat, die zuvor von einzelnen Universitäten wie der Pariser Sorbonne oder der Universität Löwen, aber auch von der spanischen Inquisition und vom päpstlichen Nuntius in Venedig, einem der Einfallstore des Protestantismus in Italien, zusammengestellt worden waren. Auf dem Index von 1559 standen nicht nur die Werke der Reformatoren, sondern neben anderen Druckerzeugnissen, darunter Bibelausgaben, auch sämtliche Schriften des Erasmus von Rotterdam. Für die Rekatholisierung in Deutschland noch wichtiger als das Heilige Offizium oder der Index war die Gründung des Pontificio Collegio Germanico-Hungarico − kurz: Collegium Germanicum − in Rom 1552. Das Collegium Germanicum war eine Ausbildungsstätte für Kleriker aus dem Reich, aus der einige Bischöfe hervorgingen, die in Deutschland zu Mitträgern der katholischen Konfessionalisierung wurden, so der Bam-
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berger und Würzburger Bischof Johann Gottfried von Aschhausen oder der Mainzer Erzbischof und Kurfürst Johann Schweikard von Kronberg. Germaniker war auch Nicolaus Elgard, der das zu Kurmainz gehörende thüringische Eichsfeld rekatholisierte und in derselben Weise in Franken tätig war. Von den rund 800 Zöglingen, die bis 1600 in das Collegium Germanicum eintraten, wurden sechs Diözesanbischof und acht Weihbischof in Deutschland. Pius IV. starb 1565. Nach langwierigem Konklave wurde 1566 auf Betreiben von Carlo Borromeo der Dominikanermönch Antonio Michele Ghislieri als Pius V. zum neuen Papst gewählt. Dieser war das genaue Gegenteil der Renaissancepäpste der Vergangenheit: „Aus einer ganz armen Familie hervorgegangen, hatte Pius V. sozusagen von der Pike auf gedient. Nicht durch Verwandtschaft, Fürstengunst oder gar durch Ränke, sondern nur durch seinen Eifer im Dienste der Kirche war der strenge Ordensmann zum Prior, Inquisitor, Bischof, Kardinal, endlich zum Papst emporgehoben worden. [...] Von der Verantwortlichkeit seiner Stellung war Pius V. so durchdrungen, dass er sie als ein Hindernis für sein ewiges Heil betrachtete. Man merkte es deutlich, wie sehr ihn, der am liebsten einfacher Ordensmann geblieben wäre, die neue Würde drückte. Nur in der Stille seines Klosters, sagte er seufzend, habe er vollkommene Gewissensruhe gehabt, schon als Bischof und Kardinal habe ihn seine Würde beunruhigt. [...] Dass Pius V. auch als Papst der strenge Mendikant bleiben wollte, der er zeitlebens gewesen, zeigte er schon dadurch, dass er sein rauhes Untergewand nicht ablegte und, soweit es anging, genauso lebte wie bisher. Er begab sich zeitig zur Ruhe, um sich am Morgen sehr früh zu erheben. Täglich las er die heilige Messe, worauf Gebet und Betrachtung folgten; täglich betete er auch den Rosenkranz. [...] Große Verehrung bewies Pius V. stets dem allerheiligsten Sakramente. Dies zeigte sich besonders am Fronleichnamsfeste. [...] Bei der Prozession hatten die früheren Päpste einen Tragsessel benützt und sich mit einer kostbaren Tiara geschmückt; er ging zu Fuß und trug unbedeckten Hauptes mit größter Ehrfurcht den eucharistischen Heiland.“202
Unter diesem Papst wurde die päpstliche Hofhaltung weitestgehend eingeschränkt. 1566 wurde der für die Pfarrer in der gesamten katholischen Kirche bestimmte Catechismus Romanus fertiggestellt. 1568 folgte das Breviarum Romanum und 1570 das Missale Romanum, das einheitliche Messbuch der katholischen Kirche, das als Grundlage der lateinischen Messe bis in die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in Gebrauch war. Treibende Kraft der Reformen unter Pius V. war Carlo Borromeo. Unter seinem Nachfolger, dem ebenfalls unter dem Einfluss von Carlo Borromeo stehenden Gregor XIII., Ugo Boncompagni, der von 1572 bis 1585 an der Spitze der Kirche stand, wurde das Nuntiaturwesen erweitert. Hinzu kam der Ausbau der römischen Kollegien, darunter das Collegium Germanicum und das Collegium Romanum der Jesuiten, womit Rom zum Zentrum der katholischen Theologie und Klerikerbildung wurde. Zu den Reformen Gregors XIII. gehörte
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die Kalenderreform durch die Bulle Inter gravissimas von 1582, mit der der nach Julius Caesar benannte, im Jahre 46 v. Chr. eingeführte Julianische Kalender durch den noch heute gültigen Gregorianischen Kalender ersetzt wurde. Durch einen Kalendersprung von zehn Tagen war der neue Kalender astronomisch-mathematisch exakter als der alte, dessen Ungenauigkeit bis 1582 bereits zu einem Rückstand von zehn Tagen geführt hatte. Während der Gregorianische Kalender in den katholischen Ländern eingeführt wurde, hielten die protestantischen bis ins 18. Jahrhundert, Großbritannien bis 1752, am Julianischen Kalender fest. So ergab die Konfessionalisierung Europas sogar eine unterschiedliche Zeitrechnung, die um zehn Tage differierte, wobei ein 1. Januar der Protestanten einem 11. Januar der Katholiken entsprach. Bei der geringen Flächengröße vieler deutscher Territorien wechselte nicht nur alle paar Meilen die Konfession, sondern auch das Datum. Noch viel komplizierter waren die Dinge im Verkehr mit Russland, wo die Zeitrechnung ab Christi Geburt ungebräuchlich war. Stattdessen rechnete man in Russland nach der Weltära der Griechen die Jahre seit einem angenommenen Anfang der Welt 5509 v. Chr., wobei der Jahreswechsel am 1. September war. Erst 1700 wurde in Russland die Jahreszählung seit Christi Geburt mit dem Julianischen Kalender eingeführt, bevor Russland 1918 zum Gregorianischen Kalender überging. Auch das muslimische Osmanische Reich hatte eine andere Zeitrechnung. Unter dem Nachfolger des 1585 gestorbenen Gregor XIII., dem FranziskanerKonventualen Felice Peretti, als Papst Sixtus V., folgte mit der Bulle Postquam verus von 1586 die Vergrößerung des Kardinalskollegiums und seine Festlegung auf 70 Mitglieder, wobei es bis zu Johannes XXIII. im 20. Jahrhundert blieb. Mit der Konstitution Immensa ordnete Sixtus V. 1588 eine Neuorganisation der römischen Kurie an, die im Wesentlichen bis ins 20. Jahrhundert beibehalten blieb. Dieser Papst ging gegen das Banditenwesen im Kirchenstaat vor, stellte zum Küstenschutz gegen Seeräuber eine Marine auf, förderte Handel und Gewerbe, vor allem die Woll- und Seidenproduktion, und begann mit der erst im 20. Jahrhundert abgeschlossenen Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe nahe Rom. Auf Sixtus V. folgte 1590 zunächst der zwölf Tage nach seiner Wahl gestorbene Urban VII. und dann Gregor XIV., der 1591 starb und in Innozenz IX. einen Nachfolger fand, der zwei Monate nach seiner Wahl zum Papst starb. Aus dem folgenden Konklave ging Ippolito Aldobrandini als Clemens VIII. hervor, ein persönlich frommer Mann, der aber in den Nepotismus zurückfiel. Er machte seine beiden Neffen Cinzio Passeri-Aldobrandini und Pietro Aldobrandini zu Kardinälen und päpstlichen Staatssekretären und erhob seinen weltlichen Nepoten Gian Francesco zum Fürsten, womit die Rolle der päpstlichen Fürstenhäuser der Barockzeit begann. Dennoch ragt das Pontifikat Clemens’ VIII. heraus wegen der Union von Brest von 1596 zwischen der katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche im östlichen Polen und im Großfürstentum Litauen,
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auch wenn der Anteil Clemens’ VIII. daran gering war. Er ließ die liturgischen Bücher − das Pontificale Romanum, das Missale Romanum und das Breviarum Romanum − neu herausgeben und sorgte für die Neuausgabe der Vulgata und des Index. Das Pontifikat Clemens’ VIII., in das die 1600 in Rom vollzogene Hinrichtung Giordano Brunos fiel, ragt auch wegen bedeutender Persönlichkeiten heraus, die in dieser Zeit in Rom wirkten und als theologische Berater des Papstes hervortraten. Einer von ihnen war der 1930 heiliggesprochene Jesuit Roberto Bellarmin, der seit 1576 am Collegium Romanum lehrte und dieser Hochschule von 1592 bis 1594 als Rektor vorstand. Nach dem Tod des Francisco de Toledo − 1593 der erste Kardinal aus dem Jesuitenorden − wurde er 1597 theologischer Berater des Papstes und 1599 Kardinal. Doch überwarf er sich 1602 mit Clemens VIII., nachdem er im Gnadenstreit der Position des spanischen Jesuiten Luis de Molina kritisch gegenüberstand. Bellarmin wurde durch Ernennung zum Bischof von Capua aus Rom entfernt und setzte in Capua das Tridentinum um. Unter Paul V. kehrte er unter Verzicht auf sein Bistum als enger Mitarbeiter des Papstes nach Rom zurück. Der innerkatholische Gnadenstreit entbrannte um die in der Kirche der Spätantike vom hl. Augustinus und im 16. Jahrhundert vor allem von Calvin vertretene Lehre der Prädestination, die im Gnadenstreit von dem spanischen Dominikaner Domingo Báñez aufgegriffen wurde, und die im Decretum de iustificatione des Konzils von Trient enthaltene Lehre der Willensfreiheit, die im Gnadenstreit von Molina und in dem von ihm begründeten Molinismus vertreten wurde. Bellarmin, der zwei Katechismen − die Dottrina cristiana breve von 1597 und die Dichiarazione più copiosa della dottrina cristiana von 1598 − und zahlreiche andere Schriften verfasste und vor allem das Lehramt der Kirche verteidigte, neigte in dieser Frage der Betonung der Priorität Gottes und damit einer prädestinatorischen Auffassung zu. Noch in die Zeit Clemens’ VIII. reichte das Wirken des 1595 gestorbenen Weltpriesters Filippo Neri hinein, Gründer der Confraternità di SS. Trinità zum Dienst an Kranken und armen Rompilgern von 1548 und führende Persönlichkeit des römischen Oratoriums, das einen dritten Weg der vita communis zwischen Laienstand und Religiosentum zu gehen suchte und mit Kinderpredigt, Kinderbeichte und außerliturgischen gottesdienstlichen Formen des Singens und Betens neue Formen der Seelsorge praktizierte. Von dem Volk von Rom bereits zu Lebzeiten als Apostel Roms verehrt, trug Neri durch seine Zusammenarbeit mit Musikern wie Giovanni Pierluigi da Palestrina zu der späteren Musikgattung des Oratoriums bei. Clemens VIII. suchte seinen Rat, besonders in politischer Hinsicht. Mit Neri verbunden war der Kirchenhistoriker Caesar Baronius, der 1593 als Nachfolger Neris Generaloberer des Oratoriums, 1596 Kardinal und 1597 Bibliothekar der römischen Kirche wurde und auch Beichtvater Clemens’ VIII. war. Aus seinen Vorträgen im Oratorium seit 1558 ging sein großes Werk Annales ecclesiastici hervor, das in mehreren Bänden zwischen 1588 und 1607 erschien. Die Anna-
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les ecclesiastici des Baronius nahmen einen bedeutenden Platz in der konfessionellen Kirchengeschichtsschreibung der Zeit ein und standen den früher erwähnten lutherischen Magdeburger Centurien des Flacius Illyricus gegenüber. Auf Clemens VIII. folgte 1605 Leo XI., der aber wenige Tage nach seiner Wahl starb. Sein Nachfolger wurde Camillo Borghese als Paul V., der bis zu seinem Tod 1621 den Stuhl Petri besetzte und unter dem zeitweise ein Krieg des Papstes mit der von den protestantischen Fürsten Deutschlands unterstützten Republik Venedig drohte, nachdem Paul V. Venedig wegen der staatskirchlichen Politik der Markusrepublik 1606 mit dem Interdikt belegt hatte. Das Interdikt gegen die stolze Lagunenstadt von 1606 war das letzte der Kirchengeschichte. In sein Pontifikat fiel 1615 der erste Galilei-Prozess. Pauls V. Nachfolger Gregor XV. war von 1621 bis 1623 im Amt. Unter ihm gelangte als Folge des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland die Bibliotheca Palatina aus Heidelberg nach Rom in die Bibliotheca Vaticana, wo sie sich heute noch befindet. Wie schon Gregor XV., so schreckten auch seine Nachfolger Urban VIII., Maffeo Barberini, seit 1623 und Innozenz X., Giambattista Pamfili, seit 1644 nicht vor dem Nepotismus zurück, wovon die großen römischen Adels- und Fürstenhäuser der Barberini und der Pamfili profitierten wie vor ihnen die Aldobrandini, Borghese oder Ludovisi. Die Paläste und Villen Roms und seiner Umgebung, nicht zuletzt die Villa Doria Pamfili, künden noch heute davon. Innozenz X. wurde überdies fast vollständig von einer Frau beherrscht, seiner Schwägerin Olimpia Maidalchini. In seine Zeit fiel der zweite Galilei-Prozess von 1633. 1653 verurteilte Innozenz X. mit der Bulle Cum occasione fünf Sätze aus dem Augustinus des Bischofs Cornelius Jansenius d. J., auf den der Jansenismus zurückging. Auf Innozenz X. folgte 1655 der bedeutende Papst Alexander VII., der als Fabio Chigi 13 Jahre lang Nuntius in Köln gewesen war und als Vertreter Innozenz’ X. am Westfälischen Friedenskongress teilgenommen hatte. Alexander VII. hielt den Nepotismus in Grenzen, ohne ihn aufzugeben. Unter ihm trug der päpstliche Hof streng geistlichen Charakter. Aus seinem Pontifikat stammen das Dekret der Congregatio de Propaganda Fide zugunsten der Jesuitenmission in China und die Konstitutionen gegen den Jansenismus von 1656 und 1665. Carlo Borromeo und Mailand Als Muster des tridentinischen Reformbischofs gilt der 1611 heiliggesprochene Kardinal-Erzbischof Carlo Borromeo von Mailand. Borromeo wurde 1538 geboren und hatte eine Medici zur Mutter. Der 1559 als Pius IV. zum Papst gewählte Giovanni Angelo de’ Medici war sein Onkel. Carlo Borromeo, seit 1559 Inhaber des Doktorgrades beider Rechte der Universität von Pavia, profitierte vom Nepotismus dieses letzten Medici-Papstes, der den erst 22 Jahre alten Neffen zum Kardinal und 1560 zum Administrator der verwaisten Erzdiözese Mailand erhob. Als Kardinalnepot nahm er an der Kurie eine Reihe wichtiger Ämter wahr und verfügte über ein bedeutendes Einkommen. Durch den Tod seines älteren Bruders Federico 1562 geriet er in eine religi-
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öse Krise. Von da an führte er ein Leben der Askese mit Fasten, Gebet und Kontemplation und dem Verzicht auf Wohlleben und Prachtentfaltung. Er erweiterte seine theologischen Kenntnisse und entschloss sich im Kontakt mit Theatinern und Jesuiten 1563 zum Empfang der Priesterweihe, auf die noch in demselben Jahr die Bischofsweihe folgte. Ende 1565 zog er als Erzbischof in Mailand ein, wo seit einem halben Jahrhundert kein Bischof mehr residiert hatte. Im Besitz uneingeschränkter Vollmachten zur Durchführung der tridentinischen Reformen, die ihm Pius IV. mit der Ernennung zum Legatus a latere verliehen hatte, ging er daran, im Erzbistum Mailand und in den Bistümern der Kirchenprovinz Mailand Reformen im Geist des Tridentinums durchzuführen. Bereits im August 1564 ließ er die erste tridentinische Diözesansynode der Erzdiözese Mailand veranstalten, auf die die erste Provinzialsynode aller Diözesen der Kirchenprovinz Mailand folgte. Zwischen 1568 und 1584, seinem Todesjahr, hielt er zehn weitere Diözesan- und fünf Provinzialsynoden ab. Die Synodalbeschlüsse wurden 1582 in den Acta Ecclesiae Mediolanensis veröffentlicht und dadurch anderen Diözesen, Kirchenprovinzen und der gesamten Kirche zugänglich gemacht. Hinzu kamen ausgedehnte Visitationen, bei denen Borromeo alle etwa 800 Pfarreien seines Erzbistums, teilweise mehrmals, persönlich visitierte, aber auch alle Klöster, deren Reform ihm ein Anliegen war. Durch Predigt und Katechese bemühte er sich um die religiöse Bildung des Volkes im Erzbistum Mailand. Er sorgte auch für die Priesterbildung und gründete das Collegium Borromeum in Pavia, ein Priesterseminar und das Collegium Helveticum in Mailand. Während er seine Kollegien und Seminare anfangs Jesuiten als Hochschullehrern überließ, schuf er sich bald durch die Stiftung des Ordens der Oblaten des hl. Ambrosius, des Stadtheiligen von Mailand, mit den Oblati einen Kreis von Priestern als Mitarbeiter für diözesane und andere Aufgaben einschließlich Lehre und Unterricht. Nicht alle waren mit den Maßnahmen des Erzbischofs einverstanden. Das gilt für die Kanoniker des Kapitels an der Scala in Mailand, die sich 1569 gegen die Visitation wehrten, woraufhin der Erzbischof sie exkommunizierte. Die Stiftsherren suchten sich durch ein Interdikt gegen den Erzbischof zu rächen, bis Pius V. dem Treiben 1570 zugunsten Borromeos ein Ende machte. Gefährlicher für Borromeo war das Attentat, das ein Reformgegner aus dem Orden der Humiliaten, der seit dem 12./13. Jahrhundert in der Lombardei und besonders in Mailand verbreitet war, im Oktober 1569 verübte, indem er im erzbischöflichen Palast zu Mailand mit einer Handfeuerwaffe auf den Erzbischof schoss, ohne ihn zu treffen. Dieser Mordanschlag führte 1571 zur Aufhebung des Ersten (männlichen) Ordens der Humiliten, während die Schwesternhäuser bis zu ihrem Untergang im 19. Jahrhundert bestehen blieben. Konflikte ergaben sich auch zwischen Erzbischof Borromeo und der staatlichen Macht. Seit dem Tod des letzten Herzogs von Mailand aus dem Hause Sforza 1535 gehörte die Lombardei mit Mailand zum habsburgischen Spanien. Der König von Spanien entsandte einen Statthalter nach Mailand. Borromeo
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widersetzte sich der Einführung der spanischen Inquisition in Mailand und den Auswirkungen des spanischen Staatskirchentums. Er schreckte nicht davor zurück, den Statthalter des Königs von Spanien, Luis de Requeséns, 1573 zu exkommunizieren. Borromeo war aber auch karitativ tätig und sorgte während der Pestepidemie von 1576/77 in Mailand unter persönlichem Einsatz für Pflege und geistlichen Beistand der Kranken. Das Attentat von 1569 und der Eindruck, den das Volk von Mailand durch das Verhalten des Erzbischofs während der Pest von ihm gewann, führte schon bald zu seiner Verehrung als heiligmäßiger Gestalt. Dennoch gab es unter Paul V. Schwierigkeiten bei seiner Heiligsprechung. Seine Bedeutung als vorbildlicher tridentinischer Bischof war unbestritten. Er war auch kein Vertreter episkopalistischer Bestrebungen. Doch stand seine Haltung, den Bischöfen neben dem Papst mehr Gewicht geben zu wollen dem nachtridentinischen römischen Zentralismus entgegen. Dasselbe galt für seine Förderung der Lokalliturgien, indem er, mit Genehmigung Gregors XIII. von 1575, in Mailand den alten lateinischen Ritus Ambrosianus wiederherstellte. Den Ausschlag gab das Votum des Kardinals Bellarmin, was 1611 zur Kanonisation des großen Erzbischofs von Mailand führte. Besondere Bedeutung gewann Carlo Borromeo auch für die katholischen Gebiete der Schweiz, von der Teile des Tessin − die Ambrosianischen Täler Riviera, Blenio und Leventina bis an den St. Gotthard bei Airolo − bis 1859 zum Erzbistum Mailand gehörten. 1570 unternahm er eine Visitationsreise in die Tessiner Alpentäler. Sehr wichtig für die katholische Schweiz wurde das Collegium Helveticum in Mailand mit 50 Freiplätzen für den Priesternachwuchs in der Schweiz. Hinzu kamen die ständige Nuntiatur in Luzern seit 1579, die Niederlassungen der Jesuiten seit 1574 und der Kapuziner seit 1581 sowie das Wirken von Canisius in Freiburg im Üchtland. Nicht nur die Zürcher Reformation hat den Ablösungsprozess der Schweiz von Deutschland im 16. Jahrhundert entscheidend verstärkt, sondern auch die katholische Konfessionalisierung, weil sie aus Mailand kam. Spanien und Portugal Die Katholische Reform in Spanien, die von dem Kreuzzugsbewusstsein der Reconquista gespeist wurde und sich in der Ordensreform und in der Mystik Teresas von Ávila und Johannes’ vom Kreuz vollendete, war von drei Hypotheken belastet. Die erste war das Staatskirchentum der Reyes Católicos, das 1523 in den Regalismus führte. Diese Hypothek teilte die Katholische Reform Spaniens mit der lutherischen Reformation Deutschlands, mit der die Kirche unter das landesherrliche Kirchenregiment deutscher Territorialfürsten geriet. Die zweite Hypothek hat die Namen Marranos und Moriscos. Die dritte Hypothek hängt mit der zweiten, mit der Verfolgung der Marranen und Morisken, zusammen. Dabei handelt es sich um die Inquisition.
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Marranen und Morisken Die auch als Conversos, Cristianos nuevos oder Cryptojudios − in Portugal als Cristiãos Novos oder Gente de Nacão − bezeichneten Marranen − das Wort kommt vom spanischen marrano (Schwein) − waren die zum Katholizismus übergetretenen Juden Spaniens und Portugals. Die erste Konversionswelle fand am Ende des 14. Jahrhunderts statt. Auslöser waren die Pogrome in Spanien von 1391, die ganze jüdische Gemeinden und wahrscheinlich etwa 200.000 von angenommenen 600.000 Juden zur Konversion zwangen, wenn sie ihr Leben retten wollten. Viele Tausende wurden getötet, während andere sich unter königlichen oder adeligen Schutz oder durch den Zusammenschluss zu Gemeinschaften retten konnten. Viele Conversos wurden nur äußerlich Christen, hielten Kontakt mit nicht konvertierten Juden und beachteten weiterhin jüdische religiöse Gebräuche wie das Sabbatgebot oder das Fasten an Jom Kippur (Versöhnungstag). Sie waren aber getauft, galten als Christen und mussten vor der Entdeckung solcher Praktiken auf der Hut sein. Andere waren auch im 15. Jahrhundert willentlich Christen und stiegen sogar in der kirchlichen Hierarchie auf. Das gilt für Alonso de Cartagena, der für Kastilien am Konzil von Basel teilnahm und 1435 Bischof von Burgos wurde, was sein Vater Pablo de Santa Maria zuvor gewesen war. Der Bischof Pablo de Santa Maria von Burgos war aber niemand anderes als der konvertierte Rabbiner Shelomo Halevi von Burgos. Alonso de Cartagena war einer der bedeutendsten Bischöfe Spaniens im 15. Jahrhundert. Jüdischer Herkunft war auch der spanische Dominikaner-Theologe Juan de Torquemada, der, auch er Vertreter der Krone Kastiliens beim Basler Konzil, 1439 Kardinal wurde, in seiner Oratio synodalis den Konziliarismus verwarf und beim Unionskonzil in Florenz an den Unionsverhandlungen mit den Griechen beteiligt war. Der Kardinal Torquemada starb 1468 in Rom, nachdem er für Ordensreformen bei den Dominikanern, den Kamaldulensern und − als Kommendatarabt von Subiaco − bei den Benediktinern eingetreten war. Von den innerlich dem Judentum treu gebliebenen Conversos wanderten manche zwischen 1391 und 1492 aus Spanien nach Palästina, in das Osmanische Reich oder nach Portugal aus. Andere kamen als Conversos neu hinzu, so nach der Disputation von Tortosa 1413/14. Nach den Unruhen von Toledo und CiudadReal von 1449, die sich gegen die Integration der Conversos in die christliche Gesellschaft und ihren Aufstieg in Ämter des Königreichs Kastilien wandten, gab es Hinrichtungen von Conversos, wogegen von kirchlicher Seite, vor allem von Bischöfen mit Konversionshintergrund, Protest erhoben wurde. Danach gab es weitere Konversionen. Von dem Vater Teresas von Ávila ist bekannt, dass er 1485 als Kind mit seinen jüdischen Eltern katholisch wurde. Als die Marranen oder Conversos 1492 aus Spanien ausgewiesen wurden, hatten kurz zuvor die Cortes von Kastilien Umsiedlungsaktionen beschlossen, mit denen die Judenviertel der Städte aufgelöst und ihre Bewohner verstreut angesiedelt werden sollten. Das Ziel war die Separierung der Conversos von den Juden − aus christlicher Sicht positiv gesprochen: eine bessere Integration der Conversos
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in die christliche Mehrheitsgesellschaft. In der Ausweisung von 1492, der 1483 schon die Vertreibung aus Andalusien voraufging, kann man „ein Eingeständnis des Scheiterns dieser Umsiedlung“203 sehen. Rassistische Gründe im Sinne des modernen Antisemitismus spielten bei der Ausweisung keine Rolle, sondern der Argwohn, den man im katholischen Spanien gegenüber dem Katholizismus der Neubekehrten hegte, dass dieser kein echter, sondern ein geheuchelter sei. Rund 200.000 Menschen waren von diesem Exodus betroffen. Die Marranen siedelten sich in den spaniolen Judengemeinden an den Küsten des Mittelmeers außerhalb Spaniens oder in Städten wie Amsterdam, London oder Hamburg an, aber auch an der französischen Atlantikküste in St. Jean de Luz, Bayonne, La Bastide, Biarritz, Peyrehorade bei Bordeaux, La Rochelle und Rouen, in Brüssel und in Antwerpen sowie im holsteinischen Glücksburg. Viele kehrten zum Judentum zurück. Die spanischen und portugiesischen Juden werden auch als Sephardim bezeichnet, im Gegensatz zu den seit dem frühen und hohen Mittelalter von jüdischen Autoren Ashkenasim genannten Juden Deutschlands und später Osteuropas. Die Vertreibung der Marranen hatte schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für Spanien, dessen Wirtschaftsleben im Laufe des 16. Jahrhunderts infolge der Ausrichtung der Wirtschaft auf die Edelmetallzufuhr aus Amerika und des Rückgangs der Bevölkerung stagnierte. In Portugal gab es im Mittelalter nur relativ wenige Juden; sie lebten vor allem in Lissabon. 1492 wandten sich viele der aus Kastilien und Aragón vertriebenen Conversos nach Portugal, dessen König João II. sie gegen beträchtliche Geldzahlungen für acht Monate ins Land kommen ließ. Es soll sich um 50.000 Personen gehandelt haben, von denen die meisten Portugal nach Ablauf der Achtmonatsfrist wieder verließen. Zwischen Dezember 1496 und Oktober 1497 gab es in Portugal unter Manuel I. grausame Judenvertreibungen, denen sich die Juden nur durch Konversion entziehen konnten. Jüdische Kinder sollten auf Befehl des Königs in christlichen Familien katholisch erzogen werden. Die Cristiãos Novos genossen bis 1534 den Schutz des Gesetzes, doch gab es 1506 in Lissabon ein Pogrom gegen Neuchristen aus dem Judentum, bei dem etwa 2.000 Cristiãos Novos getötet wurden. Seit etwa 1526 fanden sich viele portugiesische Juden bzw. Marranen als Emigranten in Antwerpen. Ab 1536 wurde in Portugal die Inquisition eingerichtet. Viele konvertierte Juden Portugals flohen jetzt nach Spanien. Nach 1580, in der Zeit der bis 1640 andauernden Iberischen Union Portugals und Spaniens, setzte sich der Exodus der Conversos fort. Gut 100 Jahre nach der Vertreibung der Marranen folgte 1609 die Ausweisung der Moriscos aus Spanien, deren Vertreibung schon Jahrzehnte früher, 1525, beschlossen worden war. Die Morisken von 1609 waren Nachkommen der zwangschristianisierten muslimischen Araber, die nach der siegreichen Reconquista und der 1492 vollendeten Vernichtung der muslimischen Herrschaft in Spanien geblieben waren. Die Siedlungsschwerpunkte der Moriscos lagen im alten Königreich Granada. Seit 1499 betrieb der spätere Kardinal Ximénes de Cisneros ge-
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meinsam mit dem Erzbischof von Granada, Fernando de Talavera y Mendoza, die Zwangsbekehrung der Muslime Granadas. Nach einem Aufstand der Muslime stellte ein königliches Dekret sie vor die Alternative: Taufe oder Verlassen Spaniens. Viele Muslime ließen sich taufen. Doch waren die Moriscos zumeist nur äußerlich katholisch und hielten an der arabischen Sprache und an muslimischen Gebräuchen fest. Ihre Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft des katholischen Spanien gelang noch weniger als die der Conversos aus dem Judentum. 1567 befahl Philipp II. den Moriscos von Granada, binnen dreier Jahre die spanische Sprache zu erlernen, und verbot die Verwendung des Arabischen auch in der Familie ebenso wie muslimische Gebräuche. Die Folge war der Aufstand der Moriscos von Granada von 1568. Die Zahl der Aufständischen wird auf 150.000 geschätzt, deren Bekämpfung kein leichtes Unternehmen war, weil die Armeen Spaniens in den Niederlanden gebunden waren. Erst nach zweijährigen Kämpfen wurde der Aufstand niedergeschlagen. Im Herbst 1570 befahl Philipp II. die Deportation der Moriscos Granadas und ihre Zerstreuung in anderen Teilen Spaniens. So sah Spanien im Winter 1570/71 lange Züge Deportierter. In Portugal galt die Vertreibung der Juden von 1497 auch den Muslimen, die aber in Portugal weitgehend in der christlichen Gesellschaft aufgegangen waren. Andere verließen das Land „friedlich und ohne nennenswerte Probleme“204. Man nimmt an, dass 1609 von einer Million Muslimen bzw. Moriscos in Spanien − davon rund 500.000 im Königreich Granada − rund 300.000 dem Land den Rücken kehrten. Auch im 16. Jahrhundert gab es Conversos, die in Spanien blieben und eine katholische Karriere machten. So war der 1970 heiliggesprochene Juan de Ávila, 1499 in Almodóvar in Neukastilien geboren, ein Neuchrist jüdischer Herkunft. Er studierte in Salamanca Rechtswissenschaft und an der Alcalá Theologie, wurde asketischer Schriftsteller, Wanderprediger und theologischer Berater andalusischer Adelsfamilien. In Andalusien organisierte er die katholische Volksmission und wird deshalb auch der Apostel von Andalusien genannt. Conversos fanden sich auch im spanischen Episkopat jener Zeit. Inquisition Die Inquisition (von lat. inquiro untersuchen) gab es seit dem Mittelalter zunächst als Disziplinargericht bei der Klerusreform und dann vor allem zur Bekämpfung von Ketzern (inquisitio haereticae pravitatis). Die Ketzer-Inquisition entstand vornehmlich in der Auseinandersetzung der Kirche mit den Katharern und den Waldensern. 1184 führten Lucius III. durch die Bulle Ad abolendam und 1199 Innozenz III. mit der Bulle Vergentis in senium die bischöfliche Inquisition ein. 1215 bestätigte das IV. Laterankonzil die Bestimmungen über den Inquisitionsprozess. Gregor IX. gründete mit der Bulle Excommunicamus von 1231 die päpstliche Inquisition zur Ketzerbekämpfung, die vor allem den Dominikanern und Franziskanern übertragen wurde. Innozenz IV. erlaubte 1252 die Anwendung der Folter im Inquisitionsprozess. Zum Prozessverfahren gehörten die
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Anklage schon aufgrund allgemeiner Verdachtsmomente (fama publica), die Aufforderung zur Denunziation bei gewahrter Anonymität der Denunzianten und die Folter zur Erzwingung von Geständnissen. Nicht alle Inquisitionsverfahren endeten mit der Todesstrafe. Oft wurden nur Kirchenstrafen auferlegt: Gebete, Almosen, Fasten oder Wallfahrten. Schwere Strafen waren Güterkonfiskation und Gefängnis. Die schwerste Strafe war die Todesstrafe durch Verbrennen nach feierlicher Verkündigung des Urteils (lat. actus fidei, span. auto da fe), wozu die Verurteilten der weltlichen Gewalt zum Feuertod übergeben wurden, weil die Kirche keine Blutgerichtsbarkeit ausüben durfte. Die Todesstrafe durch Verbrennen wurde in der Regel bei hartnäckigem Leugnen oder Rückfall ausgesprochen. Es gab auch Verbrennungen bereits Verstorbener, wozu die Leichen exhumiert und verbrannt wurden. In Deutschland bestand die Inquisition als bischöfliche Inquisition, doch spielte hier nach der Ermordung des Inquisitors Konrad von Marburg 1233, des Beichtvaters der hl. Elisabeth von Thüringen, die Inquisition, außer im Hexenprozess, keine große Rolle. Unter dem Eindruck der Reformation stimmte Hadrian VI. 1522 der Einrichtung einer Inquisitionsbehörde in den Niederlanden zu, bevor in Rom 1542 das Sanctum Officium als päpstliche Inquisitionsbehörde eingerichtet wurde. Umfangreiche Vollmachten erhielt die römische Inquisition durch die Bulle Immensa aeterni Sixtus’ V. von 1588. In Spanien bestand die von Rom unabhängige königliche Inquisition, seit Isabella von Kastilien 1478 bei Papst Sixtus IV. die Errichtung einer staatlichen Inquisitionsbehörde für Kastilien erwirkt hatte, wie sie in Vorformen schon seit 1232 in Aragón bestand. Die Inquisition mit einem Generalinquisitor an der Spitze sollte den Katholizismus als vereinigendes Band der spanischen Königreiche rein erhalten. Offiziell eingerichtet wurde die königliche Inquisition 1481 mit den beiden Dominikanern Diego de Murillo und Juan de San Martin als den ersten Inquisitoren. Innozenz VIII. und die Reyes Católicos gaben der Inquisición 1485 ihre endgültige Gestalt unter der Kontrolle der Krone, die durch den auch suprema genannten Consejo Supremo de la General-Inquisición in Toledo ausgeübt wurde, sowie durch Inquisitions-Gerichtshöfe, u. a. in Sevilla, Córdoba und Toledo. An der Spitze der suprema stand der von der Krone ernannte Generalinquisitor. Der erste Generalinquisitor war seit 1486 Tomás de Torquemada, ein Neffe des Kardinals Juan de Torquemada und wie dieser aus einer Familie jüdischer Conversos. Tomás de Torquemada, wie sein Onkel Dominikaner, wurde Beichtvater der Reyes Católicos und schuf mit seinen Instrucciones die verfahrensrechtlichen Grundlagen der Inquisition in Spanien. Er trug zu der Entscheidung zur Vertreibung der Marranen von 1492 bei. Die Inquisition entwickelte sich in Spanien zu einem zentralen Instrument gesellschaftlicher Kontrolle − darin mit dem consistoire im Genf Calvins vergleichbar, auch wenn die Dimensionen andere waren. Zwischen 1540 und 1700, der Hochzeit der Inquisition, gab es in Spanien annähernd 50.000 Inquisitionspro-
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zesse. Zwar sollen davon nur etwa drei Prozent mit einem Todesurteil geendet haben, doch waren auch das immerhin noch rund 1.500 Fälle, denen im Genf Calvins – einer Stadt, keinem Königreich – nur einige Hinrichtungen wie die des Antitrinitariers Michael Servet gegenüberstanden. Die räumliche Verteilung der Opferzahlen war unterschiedlich. So werden für die 2.000 Inquisitionsverfahren in Valencia 38 Prozent als Hinrichtungsfälle genannt. Der Zeitgenosse Andrés Bérnaldez schätzte für Sevilla zwischen 1480 und 1488 700 verbrannte und über 5.000 ohne Hinrichtung bestrafte Personen. In der ersten Zeit sollen bis zu 99 Prozent der Opfer Conversos gewesen sein.205 Es gab aber auch protestantische Opfer, nachdem protestantische Gemeindebildungen in Valladolid und Sevilla entdeckt worden waren, die 1558 von der Inquisition unter dem Generalinquisitor Fernando de Valdés liquidiert wurden. Es soll sich um etwa 325 Personen gehandelt haben, von denen viele verbrannt wurden. Der Protestantismus konnte danach in Spanien erst wieder gegen Ende des 19. Jahrhunderts Gemeinden bilden. Fernando de Valdés reformierte das Inquisitionsverfahren 1561 durch seine Instrucciones para el Tribunal de la Inquisición. 1536 richtete João III. auch in Portugal die Inquisition (Santo Oficio da Inquisição) ein, die aber noch erheblichen Beschränkungen unterlag, die Paul III. erst 1547 aufhob. Der erste portugiesische Generalinquisitor war seit 1536 im Amt. Die ersten Verbrennungen von Inquisitionsopfern gab es aber schon 1543 in Évora. Erst 1834 wurde die Inquisition in Spanien abgeschafft, 1774 und endgültig 1821 in Portugal. Die portugiesische Inquisition griff auch in die außereuropäischen Expansionsräume Portugals − vor allem 1560 nach Goa in Indien − aus, wobei in Brasilien Gefangene der Inquisition nicht dort vor Gericht gestellt, sondern nach Portugal gebracht wurden. Spanien richtete 1570 in Lima und 1571 in Mexiko Inquisitionsgerichte ein. Scholastische und mystische Theologen Für Theologie und Spiritualität im Spanien des 16. Jahrhunderts, dem siglo de oro, stehen nicht nur Ignatius von Loyola, Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz und auch nicht nur Juan de Ávila und Bischöfe wie der Kardinal Francisco Ximénes de Cisneros oder Dominikaner wie Domingo Báñez, Bartolomé de Las Casas oder Francisco de Vitoria, Karmeliten wie Jerómino Gracián oder Jesuiten wie Francisco Javier (Xavier), Diego Laínez, Luis de Molina oder Francisco de Toledo, die teilweise in Rom oder andernorts außerhalb Spaniens wirkten. In Deutschland, in Dillingen und in Ingolstadt, und später am Collegium Romanum in Rom lehrte der spanische thomistische Theologe und Jesuit Gregorio de Valencia aus Medina del Campo, der als Kontroverstheologe gegen die protestantische Theologie schrieb, den Molinismus seines Ordensbruders Molina verteidigte und 1603 in Neapel starb. Zur Thomistenschule gehörte außer Báñez in Spanien auch der 1580 gestorbene Dominikaner Bartolomé de Medina, der am Dominikanerstudium und an der Universität in Salamanca lehrte, Teile der Summa des hl. Thomas kommentierte und als Mo-
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raltheologe den Probabilismus begründete, die vor allem von jesuitischen Moraltheologen vertretene Lehre, wonach in Zweifelsfällen eine Handlung erlaubt ist, wenn gute Gründe dafür sprechen. Der Dominikaner Diego Álvarez aus Medina del Rioseco bei Valladolid ging im Verlauf des Gnadenstreites mit seinem Ordensbruder Tomás de Lemos nach Rom und trat mit seinem Werk De auxiliis divinae gratiae der Gnadenlehre seines Ordensbruders Báñez bei. Er starb 1635 als Erzbischof von Trani in Süditalien. Tomás de Lemos, der zum Gnadenstreit sein Werk Panoplia divinae gratiae beitrug und darin gegen Molina Stellung bezog, lehnte seine Erhebung zum Bischof ab und starb 1629 als Mönch im Konvent von Santa Maria sopra Minerva in Rom. Auch der 1616 gestorbene Dominikaner Pedro de Ledesma aus Salamanca stand mit seinem Tractatus de auxiliis divinae gratiae im Gnadenstreit auf der Seite von Báñez. Am Entwurf der Ratio Studiorum beteiligt war der Jesuit Diego Ledesma aus Cuéllar bei Segovia. Beherrschend war in der wissenschaftlichen Theologie der Spanier die Stellung der Jesuiten, von denen Francisco de Toledo, Molina und Gregorio de Valencia schon genannt wurden. Als „der wohl größte Theologe der Gesellschaft Jesu“206 gilt Francisco Suárez, geboren 1548 in Granada und gestorben 1617 in Lissabon. Suárez wurde 1580 Professor am Collegium Romanum in Rom und 1597 an der Universität von Coimbra in Portugal. Er schrieb einen großen Kommentar zur Summa des hl. Thomas, der ab 1606 erschien, und zahlreiche weitere theologische Schriften, vor allem das vierbändige Werk De virtute et statu religionis, das in den Jahren 1608 und 1609 erschien. Im Gnadenstreit nahm er durch seine Schüler und durch Schriften Einfluss. Er versuchte durch die Verbindung von Gnade und Freiheit zu vermitteln, in dem Sinne, dass die Vorherbestimmung des Einzelnen von dem göttlichen Vorauswissen seiner Verdienste unabhängig sei, aber durch die Gnade verwirklicht werde, die seinem von Gott vorausgesehenen Verhalten entspreche. Sein philosophisches Hauptwerk waren seine Disputationes metaphysicae von 1597. In seinem Tractatus de legibus ac Deo legislatore von 1612 legte er das wichtigste Werk des spätscholastischen Naturrechts vor, das auch außerhalb des Katholizismus, vor allem bei Hugo Grotius, rezipiert wurde. Neben Suárez standen die Jesuiten-Theologen Gabriel Vasquez, gestorben 1604 in der Villa Jesumontana des Jesuitenkollegs von Alcalá und nacheinander Professor am Collegium Romanum und an der Alcalá sowie Verfasser eines großen Thomas-Kommentars, und Diego Ruiz de Montoya, geboren 1562 in Sevilla und lange Professor in Córdoba und Sevilla, Verfasser von De Trinitate von 1625, De praedestinatione et reprobatione von 1628, De scientia et vita Dei von 1629, De voluntate Dei von 1630 und De providentia von 1631. Andere waren der Portugiese Pedro da Fonseca oder Juan Martínez de Ripalda. Doch die wissenschaftliche Theologie ist nicht alles. „Die mystische Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts hat zu einem guten Teil ähnlich wie die neu aufblühende scholastische Theologie ihre Heimat und ihre große Wirksamkeit in Spanien.“207 Von den Unbeschuhten Karmeliten sind nach Teresa von Ávila und Jo-
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hannes vom Kreuz der 1564 in Spanien geborene, später nach Italien gegangene und 1615 in Montecompatri bei Frascati gestorbene Joannes a Jesus Maria mit seiner Theologia mystica und seinen übrigen Arbeiten zur religiösen Pädagogik und Spiritualität und Tomás a Jesu zu nennen, der 1564 in Jaén in Spanien geboren wurde und 1627 in Rom starb. Er war Professor in Sevilla und an der Alcalá, gründete 1593 in Spanien den ersten karmelitischen Eremus und 1613 den ersten Konvent der Unbeschuhten Karmeliten in Köln und schrieb De contemplatione divina und De contemplatione acquisita. Andere Karmeliten-Mystiker Spaniens in dieser Zeit waren der aber erst 1634 geborene Antonius ab Annuntiatione, der Professor an der Alcalá und mehrfach Prior verschiedener Karmelklöster in Spanien war und das Werk Disceptatio de oratione et contemplatione schrieb. Erwähnung verdienen auch der 1674 gestorbene portugiesische Karmelit Antonius a Spiritu Sancto mit seinem Directorium mysticum und der aus Portugal stammende, aber 1674 in Madrid gestorbene Karmelit Josephus a Spiritu Sancto, der in Portugal und in Brasilien Karmelklöster gründete und neben seiner Enucleatio Mysticae Theologiae Sancti Dionysii die Cadena mística carmelitana mit einer Geschichte der Spiritualität seines Ordens verfasste. Auch die Franziskanermystik spielte in Spanien eine Rolle. Vor allem mit Francisco de Osunas Abecedario espiritual, von dessen Bedeutung für Teresa von Ávila bereits die Rede war. Dasselbe gilt für Pedro de Alcántara, der das Werk La oración y meditación schrieb. Die Benediktiner haben an der spanischen Mystik vor allem durch einen bedeutenden Abt des Klosters Nuestra Señora de Montserrat Anteil: García Jiménez de Cisneros, Abt von Montserrat seit 1499 und ein Vetter des Erzbischofs Ximénes de Cisneros von Toledo. Von 1500 stammt das Werk Ejercitatorio de la vida espiritual des 1510 gestorbenen Abtes, in dem das Vorbild für das Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola gesehen wird. Ein wichtiger spiritueller Schriftsteller war auch der Jesuit Jakob Álvarez de Paz aus Toledo, der nach Lehrtätigkeit an Ordenskollegien in Hispanoamerika 1620 in Potosí in Bolivien starb und drei wichtige Werke zur Spiritualität − De vita spirituali, De exterminatione mali und De inquisitione pacis sive studio orationis − verfasste. Er unterschied 15 Stufen der Kontemplation. Einfluss auf Teresa von Ávila übte der Jesuit und spirituelle Schrifteller Balthasar Álvarez aus, der Escritos espirituales schrieb. Weder wissenschaftlicher Theologe noch mystischer Schriftsteller war der 1495 in Portugal geborene, 1550 in Granada gestorbene und 1690 heiliggesprochene Juan de Dios (Johannes von Gott). Nach einem Leben, das ihn u. a. als Soldat in den Armeen Karls V. dienen ließ, erlebte er 1539 in Granada durch Juan de Ávila seine Bekehrung. 1540 wandte er sich der Armen- und Krankenpflege zu, gründete ein Hospital und arbeitete für Straßenkinder, Prostituierte und Arbeitslose. Aus seinem Wirken ging der Orden der Barmherzigen Brüder hervor.
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Frankreich: Le Catholicisme classique Die französischen Könige führten den Titel Majesté très-chrétienne (Allerchristlichste Majestät), den Paul II. 1469 Ludwig XI. zugestanden hatte. Dieser Titel war jedoch nicht dasselbe wie der Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón 1496 von Alexander VI. verliehene Titel Reyes Católicos. Wenn in dem roi très-chrétien der Anspruch lag, Verteidiger der Katholizität zu sein, so war das mehr Behauptung als Wirklichkeit, weil diese Stellung von den Habsburgern eingenommen wurde. Die französischen Könige waren seit dem Bündnisvertrag Franz’ I. mit Süleyman dem Prächtigen von 1535 immer wieder zum diplomatischen Zusammenspiel mit dem muslimischen Osmanischen Reich, dem Erzfeind der Christenheit, bereit. Im Dreißigjährigen Krieg verbündete sich Ludwig XIII. mit dem lutherischen Gustav II. Adolf von Schweden gegen den katholischen Kaiser. Der konfessionsgeschichtliche Sonderfall Frankreich war nicht das Land der Reformation wie Deutschland; es war aber auch nicht das Land der Reconquista und des Katholizismus wie Spanien. Frankreich hatte um 1600 eine reformatorische Bewegung und die Bürgerkriege hinter sich. Seit dem Mittelalter war es das Land des Gallikanismus. Schließlich hatte Frankreich eine starke protestantische Minderheit, die seit dem Edikt von Nantes von 1598 Toleranz genoss und hinter der die intellektuell eindrucksvolle Theologie des Franzosen Calvin stand, die sich großenteils der französischen Sprache bediente und der Neigung zur rationalité und zu einer verstandesbezogenen Religiosität entgegenkam. Peter Hersche spricht von der „konfessionellen Sonderstellung Frankreichs“208, die er u. a. darin sieht, dass Frankreich kaum barocke Frömmigkeitsformen wie Wallfahrten gekannt und dass der barocke Kirchenbau in Frankreich nie das Ausmaß wie in Italien, Spanien, Bayern oder Österreich erreicht habe. „Frankreich kennt den Barock im Vollsinn nicht“ und auch nicht den Barockkatholizismus. Entscheidende Gründe dafür sieht er in einer unterschwelligen Protestantisierung Frankreichs durch den Calvinismus, die als dauernde Herausforderung des französischen Katholizismus wirksam wurde: „Wollte die katholische Kirche der hugenottischen Herausforderung wirksam begegnen, so mußte sie sich selbst tiefgreifend reformieren. [...] Mit prunkvollen lateinischen Gottesdiensten, abgeschmackten Andachten und halbmagischen Riten, mit Heiligenkult, Prozessionen und Wallfahrten ließen sich überzeugte Hugenotten nicht gewinnen.“ Dazu gehört die Beobachtung, dass die Jesuiten in Frankreich, vor allem in der Klerikerbildung, nicht die große Rolle spielten wie in anderen katholischen Ländern. An die Stelle der Jesuiten − deren Rolle aber auch nicht unterschätzt werden darf − und italienischer Reformorden wie der Theatiner seien „französische Eigengewächse“ getreten: die Congregatio Patrum Doctrinae Christianae (Doktrina-
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rier), gegründet 1592 in Avignon, der Oratoire de Jésus, 1611 in Paris von dem späteren Kardinal Pierre de Bérulle, die Congrégation de la Mission (Lazaristen), 1625 in Paris von Vinzenz von Paul, die Societas Presbyterorum a S. Sulpitio, 1642 an Saint-Sulpice in Paris von Jean-Jacques Olier, oder die Congrégation de Jésus et Marie (Eudisten), 1643 von Jean Eudes in Caen in der Normandie gegründet. Das alles waren Gemeinschaften, die in der einen oder anderen Weise Priester und Laien vereinten, auf öffentliche Gelübde verzichteten und dem Ordenswesen alter Art kritisch gegenüberstanden. Im Jansenismus, den er seinem Wesen nach als „Antibarock“ versteht, sieht Hersche deshalb − obwohl dieser in den Frankreich allerdings direkt benachbarten Spanischen Niederlanden begann − „ein originär französisches Gewächs“209. Den unbarocken französischen Katholizismus begreift er in Anlehnung an René Taveneaux210 oder Victor-Lucien Tapié211 als „klassizistischen“ Katholizismus. Man könne den Jansenismus „trotz seines latenten oder virulenten Antiromanismus und Antikurialismus [...] nicht in einen Gegensatz zum Konzil von Trient stellen. Jansenismus und Barockkatholizismus waren vielmehr zwei einander entgegengesetzte Folgerungen aus Trient, jener war charakteristisch für den klassizistischen Katholizismus, dieser setzte sich außerhalb Frankreichs durch.“212 Hersches Schlussfolgerung lautet: „Wie im Protestantismus müssen auch im frühneuzeitlichen Katholizismus verschiedene Richtungen differenziert werden. Neben dem dominierenden barocken stellt der spezifisch französische Katholizismus eine leicht zum Protestantismus tendierende Sonderform dar.“213 Un Dieu, une foi, une loi, un roi Grundlage der katholische Kirche Frankreichs war bis zur Französischen Revolution das Konkordat von Bologna von 1516, das dem König das volle Nominationsrecht für alle Bischofssitze und Abteien des Königreichs gab. Hinzu kamen die 83 Artikel der Libertés de l’Église gallicane von 1594. Die katholische Kirche war Staatskirche. Der Klerus bildete den ersten Stand der États généraux, die im 16. Jahrhundert noch sechsmal − 1560/61 in Orléans, 1561 in Pontoise/Poissy, 1576/77 in Blois, 1588/89 in Blois und 1593 in Paris − und nach der Wende zum 17. Jahrhundert noch einmal von Oktober 1614 bis März 1615 in Paris und dann erst wieder 1789 in Versailles zusammentraten. Bei den États généraux von 1614/15 standen 140 Vertreter des Klerus 132 Adelsvertretern und 192 Vertretern des tiers état (Dritter Stand) gegenüber.214 Durch den Übertritt des ersten Königs aus dem Hause Bourbon, des Calvinisten Heinrich IV., zum Katholizismus 1593 wurde der Katholizismus in Frankreich als Staatsreligion bewahrt, der aber durch die Bürgerkriege große Einbußen erlitten hatte. Das Parlement von Paris verhinderte in der Tradition des Gallikanismus und getreu der Politik des Kardinals Charles de Guise 1562/63 in Trient die Publikation der tridentinischen Konzilsbeschlüsse, die aber von der Assemblée du Clergé (Klerusversammlung) in Paris 1615 für Fragen des Glaubens und der Seelsorge angenommen wurden. Die Zahl der Diözesen war in Frankreich viel größer
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als in Deutschland, wobei die Bischöfe zwar oft dem Adel angehörten, aber anders als die Fürstbischöfe des Reiches keine regierenden Landesfürsten waren. Kurz vor der Revolution gab es in Frankreich 135 Bistümer in 18 Kirchenprovinzen, deren Zahl um 1600 bei etwa 120 lag. An der Spitze stand traditionell das Erzbistum Lyon, während Paris erst 1622 Erzbistum wurde. 1552/1648 kamen die bis dahin zum Heiligen Römischen Reich gehörenden Bistümer Metz, Toul und Verdun hinzu. Mehrfach standen Kardinäle an der Spitze der französischen Regierung. Das begann mit Jean Armand Du Plessis, der nach dem Tod seines älteren Bruders den Namen eines duc (Herzog) de Richelieu annahm. Geboren 1585 wurde er 1608 Bischof von Luçon, nahm als solcher 1614/15 an der Generalständeversammlung teil und empfing 1622 die Kardinalswürde. Seit dem Rücktritt vom Bischofsamt 1623 in Paris ansässig, erwarb er für sich als Residenz das Hôtel de Rambouillet (heute Palais Royal), bevor er 1624 von Ludwig XIII. zum Principal Ministre, 1626 zum Grand Maître et Surintendant de la navigation et du commerce und 1629 zum Principal Ministre d‘état ernannt wurde. Seit 1631 Herr des neugegründeten Herzogtums Richelieu in Anjou-Poitou, blieb le Cardinal-Duc Richelieu bis zu seinem Tod die bestimmende Gestalt der französischen Politik. Dazu gehörte der Kampf gegen die im Edikt von Nantes verbrieften Rechte der Protestanten in Frankreich, den er in Fortführung der 1620 im Béarn begonnenen Militäraktionen bis zur Kapitulation der Hugenottenfestung La Rochelle 1628 führte. 1631 schloss Richelieu den Vertrag von Bärwalde mit dem lutherischen Schweden. 1635 griff Frankreich unter ihm als verantwortlichem Staatsmann an der Seite Schwedens in den Dreißigjährigen ein, der für Richelieu vor allem ein Krieg gegen Spanien war. Richelieu wurde früher von der republikanischen Historiographie Frankreichs ebenso wie von deutschen Historikern als Machiavellist beurteilt, der sich als Kardinal mit dem lutherischen König von Schweden verbündete und gleichzeitig die französischen Protestanten verfolgte. Heute sieht man bei Richelieu „nicht Laizisierung der Politik, sondern Bejahung des Staates im Angesicht der Religion“215. Auf Richelieu folgte mit dem Italiener Giulio Mazzarini (Raimondi), der sich in Frankreich Jules Mazarin nannte, ein weiterer Kardinal als Lenker der französischen Politik. 1634 bis 1636 Nuntius in Paris, wurde der ehemalige Student des Collegium Romanum 1641 als Kandidat der französischen Krone Kardinal. Nach dem Tod Richelieus 1642 trat er die Leitung des Conseil in Paris an. Mit der Witwe des 1643 gestorbenen Ludwig XIII., Anne d’Autriche, verband ihn ein enges Vertrauensverhältnis, das seine Stellung als Principal Ministre während der Minorennität Ludwigs XIV. und der Regentschaft Annes bis zu seinem Tod 1661 möglich machte. In die Zeit Mazarins als leitender Staatsmann Frankreichs fielen der Westfälische Frieden von 1648 und der Pyrenäenfrieden von 1659. Mazarin hielt an dem Edikt von Nantes fest.
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Das änderte sich 1661 mit dem Beginn der Selbstregierung Ludwigs XIV. 1662 kam es zum Streit zwischen dem König und Alexander VII. um die Quartierfreiheit in Rom. Darunter verstand man die Immunität der von den Gesandten auswärtiger Mächte in Rom bewohnten Paläste und ihrer Umgebung (Quartiere), die Innozenz XI. 1687 generell aufhob, bevor Ludwig XIV. nach 1689, schon unter Alexander VIII., für den Palast des französischen Gesandten und sein Quartier nachgab. 1682 erreichte der Gallikanismus seinen Höhepunkt, als Ludwig XIV. das Nominationsrecht aus dem Konkordat von Bologna auf alle Bistümer und Abteien Frankreichs ausdehnte − auch auf diejenigen, die 1516 noch außerhalb des französischen Staatsgebietes gelegen hatten − und das seit dem Mittelalter bestehende Regalienrecht, nach dem er in bestimmten Bistümern während der Sedisvakanz, d. h. nach dem Tod des alten und vor dem Amtsantritt des neuen Bischofs, frei werdende Pfründen vergeben konnte, uneingeschränkt in Anspruch nahm. Innozenz XI. verlangte die Rücknahme dieser Maßnahmen. Daraufhin bestätigte 1682 eine Klerusversammlung unter maßgeblicher Mitwirkung des 1681 vom König zum Bischof von Meaux ernannten Hofpredigers JacquesBénigne Bossuet das erweiterte Regalienrecht des Königs und verabschiedete die vier Artikel umfassende Declaratio cleri gallicani. Diese Gallikanischen Artikel besagten, dass der Papst nur eine geistliche, keine weltliche Gewalt habe und insbesondere keine Gewalt über Könige und Fürsten, dass der Papst einem Generalkonzil unterstehe, dass der Papst in Frankreich an das alte französische Gewohnheitsrecht der Gallikanischen Freiheiten gebunden sei, und dass Glaubensentscheidungen des Papstes zu ihrer Gültigkeit der Annahme durch die Gesamtkirche bedürften. In diesem Zusammenhang standen auch die Aufhebung des Edikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau von 1685 und die weitgehende Auslöschung des französischen Protestantismus durch Vertreibung der Hugenotten. Neben anderen Gründen, darunter der Konkurrenzneid katholischer Gewerbetreibender, lagen dieser antiprotestantischen Politik zwei Motive zugrunde: einmal der Wunsch des Königs, die Glaubenseinheit seines Königreiches nach der auf den Chant royal des Pierre Gringoire zurückgehenden Devise Un Dieu, une foi, une loi, un roi (ein Gott, ein Glaube, ein Gesetz, ein König) zu erreichen, zum anderen die Absicht Ludwigs XIV., durch Unterdrückung der Protestanten das Wohlwollen des Papstes zurückzugewinnen. Er erreichte das Gegenteil, weil Innozenz XI. den Terror gegen die Hugenotten ausdrücklich missbilligte. Der Jansenismus Der Jansenismus war eine in den Spanischen Niederlanden, dem heutigen Belgien, entstandene innerkatholische antijesuitische Bewegung, die mit der augustinischen Gnaden- oder Prädestinationslehre und der Kritik am Molinismus und insofern mit dem Gnadenstreit zusammenhing. Deshalb sind Versuche, ihn mit dem protestantischen Pietismus in Beziehung zu setzen, nur begrenzt und unter Einschränkungen richtig. Der Gründer und Namenspatron
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war der aus Holland stammende katholische Theologe, Priester und Professor der Universität Löwen Cornelius Jansenius d. J., der 1636 Bischof von Ypern wurde und mit seinem 1640 postum − er war 1638 gestorben − veröffentlichten Werk Augustinus zur Frage von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade und Macht eine dem Molinismus entgegenstehende Position bezog. Die zweite Gründergestalt war der aus einer Familie von Konvertiten aus dem Protestantismus kommende, 1612 in Paris geborene Priester und Theologe Antoine Arnauld, der in seinen Schriften − u. a. La morale pratique de jésuits aus den Jahren 1669 bis 1695 − die Moraltheologie der Jesuiten kritisierte. Er war der leibliche Bruder von Angélique Arnauld, die seit 1602 als Äbtissin dem Zisterzienserinnenkloster PortRoyal des Champs im Tal der Chevreuse südwestlich von Paris vorstand. Port-Royal wurde zum Zentrum des Jansenismus, der mit seinem strengen Rigorismus und sittlichen Ernst Teile der Bildungsschicht erfasste, so etwa den 1662 in Paris gestorbenen Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal. Das Kloster Port-Royal des Champs errichtete in Paris im damaligen Faubourg Saint-Jacques an der Stelle des heutigen Krankenhauses Maternité Port-Royal zwischen 1646 und 1653 als Filiale das Kloster Port-Royal de Paris. Von dort aus drang der Jansenismus in die Hauptstadt ein. Die Verurteilung des Jansenismus begann mit der Bulle Cum occasione Innozenz’ X. von 1653,216 die Alexander VII. mit der Bulle Ad sacram von 1656217 bestätigte, nachdem die Sorbonne 1656 Antoine Arnauld verurteilt hatte. Als Ludwig XIV. 1661 von den Jansenisten die Unterschrift unter eine Unterwerfungserklärung gegenüber den päpstlichen Entscheidungen von 1653 und 1656 verlangte und die Nonnen von Port-Royal aus dem Kloster zu vertreiben suchte,218 leisteten die Nonnen erbitterten Widerstand, den auch der Erzbischof von Paris nicht brechen konnte. Zugleich erhob sich ein Sturm der Entrüstung, in welchem auch Bischöfe − von Alet, Angers, Beauvais, Pamiers − und viele Klöster die Unterschrift verweigerten. 1664 vertrieb der Erzbischof von Paris zwölf am Jansenismus festhaltende Nonnen mit Gewalt aus Port-Royal de Paris. Vier Jahre später wurden Port-Royal de Paris und Port-Royal des Champs auf Anordnung des Königs getrennt. Port-Royal de Paris gab den Jansenismus auf, während Port-Royal des Champs bis 1710 daran festhielt. 1705 brach der Konflikt mit der Bulle Vineam Domini Sabaoth Clemens’ XI.219 erneut aus. 1710 ließ der König Port-Royal des Champs dem Erdboden gleichmachen. Spiritualität und Mystik Große Bedeutung für die französische spiritualité des Jahrhunderts zwischen dem Ende der Bürgerkriege und dem Beginn der Aufklärung besaß mit weiter Ausstrahlung über Frankreich hinaus der 1665 heiliggesprochene François de Sales (Franz von Sales). 1567 in Savoyen geboren, wurde Franz von Sales 1593 Priester und Propst des Domkapitels von Genf-Annecy. Auf Wunsch Clemens’ VIII. traf er mehrfach mit Théodore de Bèze (Beza), dem Nachfolger Calvins in Genf, zusammen. 1602 wurde er Bischof von Genf-An-
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necy. 1604 begegnete er in Dijon Jeanne-Françoise de Chantal. Daraus entstand eine Beziehung, aus der die Gründung des Ordens der Salesianerinnen oder Visitantinnen, auch Orden von der Heimsuchung Mariens oder Ordo de Visitatione Beatae Mariae Virginis genannt, hervorging. Franz von Sales schrieb eine Introduction à la vie dévote, deren erste Fassung 1608 erschien, und einen Traité de l’Amour de Dieu, den er 1616 veröffentlichte. Nach seinem Tod 1622 gab Jeanne-Françoise de Chantal aus seinem Nachlass 1629 die Vrais Entretiens spirituels heraus. Der Gedanke des Franz von Sales, wonach die wahre Frömmigkeit in jedem Stand und Beruf zu verwirklichen ist, läßt an Luthers Adelsschrift von 1520 denken − lägen nicht in anderer Hinsicht Welten zwischen Luther und Franz von Sales. Pierre de Bérulle, Jean-Jacques Olier und Jean Eudes wurden schon genannt. Erwähnung verdienen aber auch der 1641 in Paris gestorbene Charles de Condren mit seinem Werk L’idée du sacerdoce et du sacrifice, der 1669 in Paris gestorbene Pfarrer von Montmartre Louis Bail, Verfasser einer vierbändigen Théologie affective ou Saint Thomas en méditation aus den Jahren 1638 bis 1650, und der 1681 gestorbene Nicole de Hauteville mit seiner Théologie angélique. Der 1651 geborene Erzbischof von Cambrai, François de Salignac de la Mothe Fénelon, bekannt als Verfasser des Traité de l’éducation des filles von 1687 und des Erziehungsromans Les Aventures de Télémaque von 1699, gehört auch zu den Mystikern des katholischen Frankreich im 17. Jahrhundert. Die Verurteilung von 23 Sätzen seiner Explication des maximes des saints sur la vie intérieure von 1697 durch die Bulle Cum alias Innozenz’ XII. von 1699 brachte die mystische Strömung in Frankreich zum Erliegen, die sich erst nach dem Siècle de Voltaire und nach der Revolution, im 19. Jahrhundert, wieder zu Wort meldete. Das katholische Polen und das unierte Litauen In Polen liefen die Einigung der reformatorischen Kräfte im Consensus Sandomirensis von 1570, die Verbriefung der Religionsfreiheit durch die Konföderation von Warschau von 1573 und der Beginn der Rekatholisierung und katholischen Konfessionalisierung seit der Annahme der Beschlüsse des Konzils von Trient durch Zygmunt II. August 1565 zeitlich parallel. Entscheidend wurde, dass die katholische Kirche in Polen unter dem Einfluss der Reformation keine großen materiellen Verluste erlitten hatte und dass die breite Masse der Bevölkerung − Bauern, Teile des Bürgertums, Kleinadel − weitgehend katholisch geblieben waren. Das Reformiertentum erschien demgegenüber als Religion der großen Magnaten, das Luthertum teilweise auch als Glaubensform der deutschsprachigen Bürger der Städte Großpolens und des Königlichen Preußen, der Protestantismus mithin generell als Herrenreligion. Von den Orden hatten sich vor allem Dominikaner und Franziskaner gehalten.
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Die Rekatholisierung Polens Die wichtigsten Träger der Rekatholisierung waren Kardinal Hosius und die beiden Könige Stephan IV. Báthory und Zygmunt III. Vasa (Wasa), die nacheinander von 1575 bis 1632 regierten und die katholische Kirche begünstigten; die wichtigsten Kräfte der Rekatholisierung in Polen waren die Jesuiten. Stanislaus Hosius (Stanisław Hozjusz) wurde 1504 als Sohn des deutschen Bürgers Ulrich Hose, der aus Pforzheim stammte, in Krakau geboren und starb 1579 in der Nähe von Rom. In seiner Jugend stark von Erasmus von Rotterdam beeinflusst, wurde er nach dem Studium in Krakau, Padua und Bologna 1543 Priester, 1549 Bischof von Kulm (Culm) und 1551 Bischof von Ermland. In dieser Zeit verfasste er im Auftrag der Synode von Piotrków von 1551 mit seiner Confessio catholica fidei christiana einen Katechismus, der 1553 in Krakau und 1584 in Köln gedruckt und im gesamten katholischen Europa bekannt wurde. 1560/61 war er Nuntius in Wien, bevor er, 1561 zum Kardinal erhoben, 1562/63 am Konzil von Trient teilnahm. In seiner Diözese sorgte er 1565 für die erste tridentinische Visitation und hielt die in Trient vorgeschriebene Diözesansynode ab. Er bekämpfte die Konföderation von Warschau und gründete 1578 das polnische Hospiz in Rom. Hosius holte 1564 die Jesuiten nach Polen, wo zehn Jahre später eine Jesuitenprovinz bestand. 1579 wurde in Wilna (Vilnius) eine Jesuitenuniversität gegründet. Um 1600 gab es im polnisch-litauischen Doppelreich mehr als 25 Jesuitenkollegien. Die Schulen und Hochschulen der Jesuiten trugen dazu bei, dass zahlreiche Söhne protestantischer Adelsfamilien zur katholischen Kirche zurückkehrten. Anziehungskraft übte auch die Spiritualität der Jesuiten aus. Ende der 1560er Jahre erschienen die Exercitia spiritualia des Ignatius in polnischer Übersetzung. Hinzu kam das Bildungsinteresse des höheren polnischen Adels: „Der Humanismus und die besonders engen Bande der polnischen Eliten mit Italien führten diese ganz natürlich zum Katholizismus, der traditionellen Religion, zurück.“220 Unter König Władysław IV., der 1632 auf Zygmunt III. folgte, fand 1645 das von ihm einberufene Thorner Religionsgespräch statt, das auch als Colloquium Charitativum bekannt ist. Dabei kamen im Rathaus von Thorn (Torún) 28 lutherische, 24 reformierte und 25 katholische Theologen zusammen, um eine Überwindung der Lehrgegensätze zu erreichen. Für die Böhmischen Brüder war Comenius anwesend. Anwesend war auch der irenisch gesinnte Helmstedter evangelische Theologieprofessor Georg Calixt, dessen Teilnahme aber von den lutherischen Vertretern Johann Hülsemann aus Wittenberg und Abraham Calov aus Danzig abgelehnt wurde, so dass er nur den Reformierten als Berater diente. „Der Versuch Calixts, mit Hilfe des consensus antiquitatis eine Brücke über die konfessionellen Unterschiede hinweg zu schlagen, erwies sich als inadäquat. So wurde das Thorner Religionsgespräch unbeabsichtigt zu einer Etappe der Rekatholisierung Polens.“221
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Die Union von Brest von 1596 Im polnisch-litauischen Doppelreich der Union von Lublin von 1569 gab es das Nebeneinander römisch-katholischer und orthodoxer Bischöfe, von denen die orthodoxen dem Ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel-Instanbul unterstanden. Im Gegensatz zu den katholischen Bischöfen − und zu den orthodoxen Magnaten − gehörten sie nicht dem Reichstag an. 1589 wurde der Moskauer Metropolit zum Patriarchen von Moskau und ganz Russland erhoben. Aus diesem „Titel konnte leicht ein Jurisdiktionsanspruch über die Orthodoxen in der Kiewer Metropolie abgeleitet werden, und die durch die Trennung [der Kiever von der Moskauer Metropolie] von 1458 erfolgte Lösung war damit gefährdet. Da eine Erhebung auch des Kiewer Metropoliten, der sich meist in Wilna aufhielt, zum Patriarchen nicht möglich erschien, sah der Reformen zugeneigte Teil der Bischöfe, an ihrer Spitze der vom Patriarchen als Exarch eingesetzte Bischof von Łuck, Kyrill Terlecki, zusammen mit einigen polnischen Staatsmännern wie [Jan] Zamoyski und dem einflußreichen Hofprediger Piotr Skarga den besten Weg in der Verwirklichung der Union von Florenz [von 1439].“222
1590 trafen sich die orthodoxen Bischöfe von Łuck, Lwów (Lvov, Lemberg), Chełm (Cholm) und Pińsk zu einer Synode in Brest (Brest-Litovsk) und teilten Zygmunt III. ihre Bereitschaft zur Union mit Rom mit, wenn ihnen auf dem Reichstag dieselben Rechte wie den katholischen Bischöfen eingeräumt würden. 1594 schloß sich Bischof Hypatius Pociej von Vladimir am Bug den Unionsbefürwortern an. Zu dieser Zeit formierte sich aber auch der Widerstand gegen eine Union, an dessen Spitze Fürst Konstantin Konstantinovič Ostrožskij (Ostrogski), der Woiwode von Kiev, stand. Dieser war das informelle Oberhaupt der Orthodoxen in Polen-Litauen. 1580 hatte er die orthodoxe theologische Akademie von Ostrog in der Ukraine gegründet, an der Altkirchenslavisch gelehrt und die altkirchenslavische Ostroger Bibel gedruckt wurde. Doch verständigten sich die orthodoxen Bischöfe der Metropolie Kiev in Polen-Litauen 1595 auf der Synode von Brest auf die Union mit Rom, sofern sie Sitz und Stimme auf dem Reichstag erhielten. Es gelang dem Fürsten Ostrožskij jedoch, Bischof Balaban von Lwów und Bischof Kopysteński von Przemyśl dazu zu bestimmen, ihre Unterschrift unter der Brester Vereinbarung wieder zurückzuziehen. Bischof Terlecki von Łuck und Bischof Pociej von Vladimir reisten mit Zustimmung Zygmunts III. dennoch nach Rom, wo Clemens VIII. am 23. Dezember 1595 mit der Bulle Magnus Dominus die Union verkündete. In Polen-Litauen dauerte der Widerstand gegen die Union jedoch an, obwohl sie 1596 von der Metropolitansynode und von König Zygmunt III. bestätigt wurde. Zum Widerstand gegen die Union von Brest schlossen ihre orthodoxen Gegner unter der Führung des Fürsten Ostrožskij 1599 mit den reformierten Adeligen Polens als antikatholisches protestantisch-orthodoxes Bündnis die Konförderation von Wilna. Bis zum Tod des Krongroßhetmans Jan Zamoyski 1605
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blieb es jedoch einigermaßen ruhig. Danach brach 1606 der mit bewaffnetem Widerstand und der Forderung nach Absetzung des katholischen Königs verbundene Aufstand des Zebrzydowski aus, der über den Tod des Fürsten Ostrožskij 1608 hinaus andauerte und 1609 mit der Abbitte der Anführer und der Amnestie für die Teilnehmer endete. „Nahezu vollständig war aber die politische Niederlage des Protestantismus, der nun gegenüber der triumphierenden katholischen Kirche in die Rolle der Bedeutungslosigkeit herabgedrückt und günstigenfalls geduldet wurde.“223 Hingegen organisierte sich die unierte Kirche unter dem 1613 gestorbenen Hyptius Pociej und seinem Nachfolger Josef Rutski als Metropoliten, jedoch ohne die beiden Bischöfe von Lwów und Przemyśl und ihren Anhang. Während die Union so im Norden des Großfürstentums Litauen Zustimmung fand, traf sie im Süden, in der Ukraine, auf Ablehnung. „Das Ergebnis der Union von 1595/96 war also die Spaltung der Ostkirche in zwei feindliche Fraktionen, die zur Kirchenspaltung wurde.“224 Erst 1681 schlossen sich auch die orthodoxen Bistümer Lwów und Przemyśl der Union an. In der Union mit Rom bewahrte die orthodoxe Kirche ihre slavische Kirchensprache, die Kommunion unter beiderlei Gestalt und die Priesterehe sowie weitgehende Selbständigkeit unter dem Großerzbischof von Lwów-Lemberg. Die Union hat die 1946 von der Sowjetunion erzwungene Rückführung in die russisch-orthodoxe Kirche überlebt. Deutschland nach dem Augsburger Religionsfrieden Der äußere Ablauf der Reichsgeschichte, wie er sich für die Zeit vom Augsburger Religionsfrieden bis in die Vorphase des Dreißigjährigen Krieges anhand der Abfolge der Kaiser darstellt, zerfällt in drei Abschnitte. Bis 1564 lag das Kaisertum in der Hand Ferdinands I. Als jüngerer Bruder Karls V. war dieser 1503 in Spanien geborene Herrscher seit dem Vertrag von Brüssel von 1522 Landesherr der österreichischen Länder im Reich. Seit 1526/27 auch König von Böhmen, Ungarn und Kroatien, war er 1531 in Deutschland zum König gewählt worden. Als Karl V. ihm nach seiner Niederlage im Fürstenkrieg von 1552 die Entscheidungen im Reich überließ, war es Ferdinand, der 1555 mit den Reichsständen den Augsburger Religionsfrieden schloss. Im Zuge seines Rücktritts überließ Karl V. 1556 Ferdinand das Kaisertum, doch dauerte es bis 1558, bis Ferdinand zum Erwählten römischen Kaiser proklamiert wurde. In die kurze Zeit Ferdinands I. als Kaiser fiel 1556/57 der Reichstag von Regensburg, auf dem noch einmal ein Versuch zum Ausgleich zwischen den Konfessionen beschlossen wurde. Dazu sollte das Kolloquium von Worms von 1557 dienen, das statt der Einigung von Katholiken und Protestanten die Verschärfung der Gegensätze zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten brachte.
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Das Reich unter Ferdinand I., Maximilian II. und Rudolf II. Auf Ferdinand I. folgte 1564 sein Sohn Maximilian II., der mit Maria, der Tochter Karls V., verheiratet war, aber protestantische Neigungen hegte und der Verkündigung der Dekrete des Konzils von Trient entgegenarbeitete. Erst auf dem Augsburger Reichstag von 1566 wurden die Konzilsdekrete von ihm als Kaiser und von den katholischen Reichsständen angenommen, während dieser Reichstag zugleich die faktische Anerkennung des vom Augsburger Religionsfrieden nicht geduldeten Reformiertentums in der Kurpfalz brachte. 1576 wurde der älteste Sohn Maximilians II., Rudolf II., Kaiser. Seine Herrschaft war gekennzeichnet vom Vordringen der Rekatholisierung, von der Teilung des habsburgischen Territorialbesitzes im Reich, von einem neuen Türkenkrieg, der zwischen 1593 und 1615 fast in jedem Jahr zu Einfällen führte, von einer von den Osmanen unterstützten, gegen Habsburg gerichteten Aufstandsbewegung in Siebenbürgen und Ungarn um Stefan Bocskay, den Führer des reformierten magyarischen Adels in Siebenbürgen, und von der politischen Rivalität der habsburgischen Brüder, vor allem Rudolfs und seines jüngeren Bruders Matthias. Der Streit um das Reservatum Ecclesiasticum In der Zeit Rudolfs II. wurde der Streit um das Reservatum Ecclesiasticum immer brisanter. Gegen diese den Interessen der evangelischen Reichsstände entgegenstehende Bestimmung des Augsburger Religionsfriedens formierte sich die Freistellungsbewegung. Einer ihrer Anhänger war der kaiserliche Feldoberst Lazarus von Schwendi, der 1570 mit seiner Schrift Diskurs und Bedenken über den Zustand des Heiligen Reiches einen Reichsreformplan vorlegte,225 mit dem er die Verhandlungen des Reichstags von Speyer von 1570 beherrschte. Schwendi trat für die Wahrung des Religionsfriedens und für gegenseitige Duldung der Religionsgruppen als politische Notwendigkeit ein. Sein Wirken gleicht in manchen Zügen dem der Parti des Politiques um Michel de L’Hôpital und Jean Bodin in Frankreich. Gebhard Truchseß von Waldburg und der Kölnische Krieg Nachdem die Freistellungsbewegung ebenso wie die Reichsreformbestrebungen auf dem Reichstag von Regensburg 1576 eine Niederlage erfahren hatte, verschärfte sich die konfessionelle Spannung im Reich. Außerdem bahnte sich im Erzstift Köln die Entladung der in dem Problem des Reservatum Ecclesiasticum liegenden politischen Sprengkraft an. Nach einer erfolglosen Kandidatur des Prinzen Ernst von Bayern, der seit 1577 dem Kölner Domkapitel angehörte, wurde 1577 als Nachfolger des zurückgetretenen Salentin von Isenburg der schwäbische Reichsgrafensohn Gebhard Truchseß von Waldburg zum Erzbischof von Köln gewählt. Gebhard war Domherr von Augsburg, Köln und Straßburg. Er hatte in Dillingen, Ingolstadt, Löwen, Perugia und Bologna unter der Leitung der Jesuiten studiert und konnte als streng katholisch gelten. Doch knüpfte er nach seiner Inthronisation als Kölner Erzbischof ein Liebesverhältnis mit der Stiftsdame Agnes von Mans-
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feld aus dem Stift Gerresheim bei Düsseldorf an, das ihn in die Zwangslage brachte, von den reichsgräflichen Brüdern des Fräuleins von Mansfeld zur Heirat genötigt zu werden. 1582 vollzog Gebhard seinen Übertritt ins evangelische Lager und stellte Landständen, Städten und Gemeinden des kölnischen Territoriums die Wahl der Konfession frei. Auch wenn es ihm dabei möglicherweise nicht um die Säkularisation des Erzstifts Köln und der kölnischen Nebenländer in Westfalen und um deren Umwandlung in ein weltliches Kurfürstentum ging, so war damit doch eine ähnliche Situation eingetreten wie 1542 im Erzstift Köln unter dem zum Protestantismus übergetretenen Erzbischof Hermann von Wied oder 1543 im Hochstift Osnabrück unter Bischof Franz von Waldeck. Beider Übertritt hatte aber unter anderen Umständen stattgefunden, zur Zeit der Machtstellung des Schmalkaldischen Bundes und noch nicht unter dem Augsburger Religionsfrieden und dem Reservatum Ecclesiasticum. Von den reformierten Fürsten und Grafen kaum unterstützt, wurde Gebhard 1583 nach Isolierung seiner Anhänger im Kölner Domkapitel vom Domkapitel des Bruchs der kölnischen Landesverfassung und der Verletzung der religiösen Ordnung des Erzstifts beschuldigt und von Gregor XIII. des erzbischöflichen Amtes für verlustig erklärt. Nachdem er sich diesem Spruch nicht fügte, kam es zum Kölnischen Krieg, in dem der exkommunizierte Erzbischof das kölnische Herzogtum Westfalen als Operationsbasis nutzte, wo er bei einem Teil der adeligen Landstände und der Städte Unterstützung fand, bis er von bayerischen Truppen vertrieben wurde. Gebhard Truchseß starb 1601 als verheirateter evangelischer Domdechant in Straßburg. Sein Nachfolger in Köln wurde 1583 der bei seiner zweiten Kandidatur erfolgreiche Ernst von Bayern. Er war bereits Bischof von Freising, Hildesheim und Lüttich und wurde 1585 auch noch Bischof von Münster, ohne die Bischofsweihe zu empfangen, eine Unterlassung, die er mit vielen Bischöfen der Zeit teilte. 1595 überließ er seine geistlichen und politischen Aufgaben seinem Neffen und Koadjutor Ferdinand von Bayern, der 1612 als Erzbischof von Köln und Bischof von Münster, Lüttich und Hildesheim seine Nachfolge antrat. Ernst zog sich 1595 mit seiner Konkubine Gertrud von Plettenberg nach Schloss Arnsberg zurück, wo er 1612 starb. Seine Wahl war aus politischen Gründen erfolgt, weil die bayerischen Wittelsbacher als die zuverlässigsten Vorkämpfer des Katholizismus gelten konnten. Evangelische Bistumsadministratoren Während der Kölnische Krieg in den Spanisch-Niederländischen Krieg seit 1585 überging, wurde mit der Niederlage des Gebhard Truchseß der Kampf um das Reservatum Ecclesiasticum zugunsten der katholischen Reichskirche und des Bestandes der geistlichen Fürstentümer entschieden. Doch war damit das Problem des Geistlichen Vorbehalts noch nicht erledigt, was sich vor allem mit dem Administrator von Magdeburg zeigte. Als Administrator wurden u. a. evangelische Fürstensöhne bezeichnet, die protestantisch
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gewordene geistliche Territorien regierten. Im Falle der Hochstifte östlich von Harz und Elbe führten solche Bistumsadministrationen 1571 zur Säkularisation des Bistums Havelberg und 1598 zur Säkularisation der Bistümer Brandenburg und Lebus an der Oder, deren Gebiete an das Kurfürstentum Brandenburg fielen. Dasselbe ergab sich mit den Administrationen der Bistümer Naumburg, Merseburg und Meißen durch das Kurfürstentum Sachsen in den Jahren 1564, 1565 und 1581. Nur das Erzstift Magdeburg blieb formal länger ein geistliches Territorium, nachdem Erzbischof Sigismund von Brandenburg zwischen 1552 und 1566 die Reformation in lutherischer Gestalt endgültig eingeführt hatte. Erst nach dem Tod des letzten Administrators 1680 wurde Magdeburg säkularisiert und aufgrund der Bestimmungen des Westfälischen Friedens dem Kurfürsten von Brandenburg übergeben. Diesen evangelischen Bistumsadministratoren wurde auf den Reichstagen der Zugang zu der von den geistlichen Reichsständen gebildeten geistlichen Bank des Fürstenrates verwehrt. Das bekam der Administrator von Magdeburg zu spüren, dem 1582 auf dem Reichstag von Augsburg ebenso wie auf den folgenden Reichstagen Sitz und Stimme verweigert wurde. 1588 hörte die Visitationskommission der Reichsstände zur Aufsicht über das Reichskammergericht auf zu bestehen, weil die katholischen Reichsstände den Administrator von Magdeburg, dem die Mitgliedschaft in dieser Kommission turnusmäßig zufallen musste, nicht als Kommissionsmitglied akzeptierten. Straßburger Kapitelsstreit Ein Nachspiel erfuhr der Kampf um das Reservatum Ecclesiasticum mit dem Straßburger Kapitelsstreit der Jahre 1583 bis 1604. Dabei handelte es sich um Auseinandersetzungen evangelischer und katholischer Domherren im Straßburger Domkapitel, dem auch Parteigänger Gebhards Truchseß aus dem Kölner Domkapitel und bis 1601 auch dieser selbst angehörten. Zeitweise besaßen die evangelischen Domherren die Mehrheit. 1592 wählte diese evangelische Mehrheit den Protestanten Johann Georg von Brandenburg zum Bischof von Straßburg, während die katholische Minderheit ihre Stimmen auf den Kardinal Charles de Lorraine vereinigte. Die Streitigkeiten endeten 1604 mit dem durch eine Geldentschädigung erreichten Verzicht Johann Georgs auf das Bistum. Auch in Osnabrück gab es zwischen 1574 und 1623 nacheinander drei evangelische Bischöfe, Heinrich von Sachsen-Lauenburg, Bernhard von Waldeck und Philipp Sigismund von Braunschweig. Gegenreformation und katholische Konfessionalisierung Aber auch die katholischen Bischöfe zögerten durchgreifende Rekatholisierungsmaßnahmen oft ebenso hinaus wie die Durchführung der tridentinischen Reformen, die sich in Deutschland in einzelnen Diözesen mehrere Jahrzehnte lang hinzog. Die vom Adel besetzten Domkapitel, die um ihre Privilegien fürchteten, und große Teile des Pfarrklerus, in dessen Reihen die vom Konzil verbotene Priesterehe stark verbreitet war, stellten sich der Durchführung der Reformen entgegen. Noch im 17. Jahr-
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hundert war bei Visitationen oft nicht einmal eine Aussage über die tatsächliche Konfessionszugehörigkeit der Pfarrer möglich. Vergleichsweise früh begannen Ansätze zur Verwirklichung der tridentinischen Reformdekrete in den Diözesen der Kirchenprovinz Salzburg, also in Salzburg, Passau, Regensburg, Freising und Brixen. Doch wurden auch hier die Reformdekrete erst 1576 veröffentlicht. Alle Priester wurden zur Ablegung der Professio fidei Tridentinae und zur Einhaltung des Zölibats verpflichtet. Doch vermochten diese Maßnahmen gegen den Widerstand der Domkapitel und des Pfarrklerus kaum durchzudringen. Daher setzten sich die tridentinischen Reformen auch in der Salzburger Kirchenprovinz erst nach der Wende zum 17. Jahrhundert und teilweise erst in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges durch. Immerhin wurde in Eichstätt, das zur Kirchenprovinz Mainz gehörte, schon 1564/65 mit der Gründung des ersten deutschen Priesterseminars dem Seminardekret Genüge getan. Das nächste Priesterseminar entstand 1589 in Bamberg. Doch kamen die tridentinischen Grundsätze in Bamberg ebenso wie in Konstanz erst nach 1609 zum Tragen. In Mainz dauerte es bis nach dem Dreißigjährigen Krieg, bis das tridentinische Reformwerk zum Abschluss kam. In keiner Diözese der Reichskirche wurde das Bischofsideal des Konzils von Trient verwirklicht, weil die reichsfürstliche Stellung der deutschen Bischöfe nirgendwo angetastet wurde. Das Beispiel der Hochstifte Münster und Paderborn In geistlichen Territorien verband sich die Durchführung der Trienter Reformbeschlüsse mehr als in weltlichen mit der Durchsetzung der Rekatholisierung und mit der katholischen Konfessionalisierung. Dabei kam den Jesuiten und den vom Jesuitenorden getragenen Bildungseinrichtungen besondere Bedeutung zu. Deutlich ist das in den westfälischen Bistümern Münster und Paderborn: „Die Gewinnung des Adels und das − mit den evangelischen Adelssöhnen auf katholischen, vorwiegend von Jesuiten geführten Schulen und Hochschulen wie dem Gymnasium Tricoronatum in Köln, dem Gymnasium Paulinum in Münster oder dem Gymnasium Theodorianum in Paderborn sowie der Universität Paderborn damit direkt zusammenhängende − Bildungswesen waren wahrscheinlich als Instrumente der Rekatholisierung noch wichtiger als alle Visitationen und Disziplinierungsmaßnahmen, auch wenn beim Adel oft die materiellen Interessen das eigentliche movens gewesen sein mögen. Beim einfachen Volk waren es Jesuitenmissionen und Kapuzinerpredigten, Prozessionen und Wallfahrten, Heiligen- und Reliquienkult und das gesamte Arsenal katholischer Barockfrömmigkeit bzw. Volksfrömmigkeit.“226
Das ist als Fazit aus Andreas Holzems Forschungen über die Sendgerichte im Hochstift Münster227 zu ziehen. Wirklich disziplinieren ließ sich nur − und auch das nur allmählich − die Pfarrerschaft, vor allem im Hinblick auf Residenz- und Zölibatspflicht. Ein Instrument zur Rekatholisierung waren Berufsverbote für Protestanten, weil materielle Interessen im Spiel waren.
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Deutlich sind in Münster und Paderborn auch die Phasen der Rekatholisierung, die mit den Namen von Bischöfen verbunden sind. Als erste Phase erscheint die Zeit Ernsts von Bayern in Münster seit 1585 mit der Ansiedlung der Jesuiten in Münster und der Umwandlung der alten Domschule in ein Jesuitengymnasium, das Gymnasium Paulinum, sowie mit ersten Maßnahmen der Disziplinierung von Klerus und Kirchenvolk und die Zeit Dietrichs von Fürstenberg in Paderborn seit 1585. Auch für ihn lauten die Stichworte Jesuiten, Bildungswesen und Disziplinierung. Daran schließen sich als zweite Phase an die Zeit Ferdinands von Bayern seit 1612 in Münster und seit 1618 auch in Paderborn mit der großen Visitation des Hochstifts Münster, der teilweise gewaltsamen Rekatholisierung des protestantischen Niederstifts und Berufsverboten für Protestanten und als dritte Phase die Zeit Christoph Bernhards von Galen in Münster seit 1650 mit der Diözesansynode von 1655, der großen Visitation im Oberstift 1654 bis 1662 und im Niederstift 1671, dem Status animarum und dem − schließlich weitgehend erfolgreichen − Kampf für die Durchsetzung des Zölibats der Priester. Der Status animarum war ein jährlich abzustattender Bericht der Pfarrer mit namentlichen Angaben über alle Einwohner der Pfarrei mit den Zahlen der Getauften, Getrauten und Gestorbenen und Zahl und Namen der Konvertiten und der Nichtkatholiken, der Osterkommunikanten und der Kommunionsverweigerer. Das wurde in Paderborn durch „Feinarbeit“228 unter Dietrich Adolf von der Recke seit 1650 und Ferdinand von Fürstenberg seit 1661 fortgesetzt. Bayerns ausschließliche Katholizität Die wichtigsten Träger der gegenreformatorischen Rekatholisierung und der katholischen Konfessionalisierung waren katholische weltliche Fürsten. Damit gewann die weltliche Obrigkeit − der Staat − für den Katholizismus in Deutschland ein Gewicht, das zwar nicht an die Rolle des Staates für den deutschen Protestantismus heranreichte, aber damit vergleichbar war, auch wenn, besonders bei Wittelsbachern und Habsburgern, mehr die Dynastie als das Abstraktum Obrigkeit in diese Verbindung mit der Kirche eintrat. Den Anfang machte Herzog Albrecht V. von Bayern. Dieser war zwar streng katholisch, aber doch zu einer Politik des Ausgleichs mit dem Protestantismus bereit, der unter den adeligen Landständen Bayerns viele Anhänger hatte. Der Herzog wollte durch Entgegenkommen der landständischen und protestantischen Bewegung die Spitze nehmen und sie durch Zugeständnisse zufriedenstellen und so von weiter gehenden Forderungen abbringen. Die adeligen Landstände Bayerns waren mit der Kelchbewegung verbunden, die das Abendmahl unter beiderlei Gestalt verlangte. Albrecht V. gab diesem Anspruch und dem Wunsch nach Legalisierung der Priesterehe nach und machte sich auf dem Konzil von Trient zum Fürsprecher dieser Forderungen. Diese kompromissbereite Haltung änderte sich mit der Ortenburger Adelsverschwörung, bei der es sich aber um keine wirkliche Verschwörung handelte. Als bayerische Adelige unter Führung des Grafen Joachim von Ortenburg auf dem
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Ingolstädter Landtag von 1563 die Zulassung der Confessio Augustana verlangten, vermutete die Umgebung des Herzogs dahinter eine Verschwörung, was zu Hochverratsprozessen führte. Zwar erwies sich bald die Haltlosigkeit der Anklage, so dass die angeblichen Verschwörer rehabilitiert wurden. Dennoch wurde Albrecht V. darüber zum strikten Protagonisten der Gegenreformation, die er von 1563 an in Bayern mit Hilfe der Jesuiten durchsetzte. Der Adel wurde zu Verpflichtungserklärungen gezwungen, mit denen er jeder öffentlichen evangelischen Religionausübung abschwören musste. Hinzu trat die strenge Orientierung an den Dekreten des Konzils von Trient, die seit 1568 für die Professoren der Universität Ingolstadt und 1569 für alle Lehrer, Geistlichen und Beamten verbindlich gemacht wurden. 1569 erging ein Zensurmandat gegen protestantische Schriften, auf das 1569/70 eine allgemeine Kirchenvisitation und 1570 die Errichtung des Geistlichen Rates als landesherrliche Kirchenbehörde folgten. 1571 wurde die Gewährung des Laienkelchs grundsätzlich verboten. Zugleich erfasste die Glaubenspropaganda der Jesuiten breite Bevölkerungsschichten, wodurch die „ausschließliche Katholizität in Bayern“229 wiederhergestellt und gesichert wurde. Österreich und Böhmen Ausgehend von Bayern griff die gegenreformatorische Rekatholisierung auch auf Österreich und besonders auf Innerösterreich aus, dessen Landesherr, Erzherzog Karl, mit Maria von Bayern, einer Tochter Albrechts V., verheiratet war. Auch die Jesuiten gelangten unter bayerischem Einfluss in die innerösterreichische Hauptstadt Graz und trugen von dort aus entscheidend zur Rekatholisierung der Steiermark bei. In Österreich war die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts – trotz der 1526/27 begründeten Verbindung Österreichs mit Böhmen, Ungarn und Kroatien – eine Zeit der Schwächung des habsburgischen Landesfürstentums durch Landesteilungen, mit denen die Politik Maximilians I., der 1490 alle habsburgischen Territorien im Reich in seiner Hand vereinigt hatte, rückgängig gemacht wurde. Aufgrund der Hausordnung Ferdinands I. von 1554 wurde nach seinem Tod 1564 eine Teilung der österreichischen Länder unter seine drei Söhne Maximilian II., Ferdinand und Karl vorgenommen. Damit teilte sich der deutsche Zweig des Hauses Habsburg in eine österreichische, eine tirolerische und eine steierische Linie, wobei Maximilian II. neben Böhmen und Ungarn, soweit dieses Land nicht von den Osmanen besetzt war, das Erzherzogtum Österreich unter und ob der Enns erhielt, also Niederund Oberösterreich mit Wien. Ferdinand bekam Tirol und die Vorlande, Karl Innerösterreich, d. h. Steiermark, Kärnten und Krain. Diese Teilung bestand bis 1595. Danach gab es bis 1665 eine Zweiteilung, und zwar zuerst in die österreichische und in die steierische Linie und nach 1619 in die österreichische und in die jüngere tirolerische Linie, wobei Böhmen und Ungarn stets mit der österreichischen verbunden waren. In großen Teilen Österreichs war der Protestantismus eingedrungen. Doch entstand in Österreich kein organisiertes evangelisches Kirchenwesen, weil die
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Habsburger – auch Maximilian II. – katholisch blieben. Es fehlte den verschiedenen reformatorischen Richtungen in Österreich an ausgeprägten Führungsmöglichkeiten, wenn man von Georg Erasmus von Tschernembl in Oberösterreich absieht. Der Höhepunkt des österreichischen Protestantismus lag in der Zeit Maximilians II., der persönlich protestantische Neigungen hatte, auch wenn er nie öffentlich den Bruch mit der katholischen Kirche vollzog. So waren es neben Böhmen und Ungarn vor allem Ober- und Niederösterreich, wo sich der Protestantismus verbreiteten konnte. In der Religionskonzession von 1568 gestattete Maximilian II. dem Adel im Erzherzogtum Österreich die Ausübung des evangelischen Gottesdienstes auf seinen eigenen Besitzungen. Der Kaiser selbst rief David Chytraeus aus Rostock nach Österreich und übertrug ihm die Ausarbeitung einer an die Confessio Augustana angepassten Gottesdienstordnung, die zur Grundlage der Religionsassekuration von 1571 für das evangelische Kirchenwesen auf den Gütern des ober- und niederösterreichischen Adels wurde. Eine Rolle spielte auch die Abhängigkeit des Kaisers von der Geldbewilligung durch die vom Adel dominierten Landstände in dem seit 1567 neu aufgeflammten Türkenkrieg. Auch in Innerösterreich verbreitete sich der Protestantismus und fand dort in den adeligen Landständen seinen politischen Rückhalt. 1572 mußte Erzherzog Karl in der Grazer Religionspazifikation dem Adel der Steiermark und seinen Angehörigen und Untertanen volle Gewissens- und Religionsfreiheit zugestehen. Während eines Aufenthaltes in der Steiermark arbeitete Chytraeus auch hier eine Kirchenordnung aus. Die evangelischen Landstände errichteten mit Landschaftsschulen in Graz, Klagenfurt, Judenburg in der Obersteiermark und Laibach (Ljubljana) in Krain ein alle Stufen umfassendes protestantisches Schulwesen. Vollends auf seinen Gipfelpunkt gelangte der Protestantismus in Innerösterreich mit dem Generallandtag von Bruck an der Mur im Jahre 1578. Hier musste Erzherzog Karl in der Brucker Religionspazifikation den Protestanten bedeutsame Zugeständnisse machen, die auf die Ausdehnung der 1572 für die Adeligen der Steiermark eingeräumte Religionsfreiheit auf Kärnten und Krain und auch auf die Bürger der Städte dieser Länder hinausliefen. Die Brucker Religionspazifikation war ein Erfolg der Evangelischen. Trotzdem setzte 1578 in Innerösterreich die Rekatholisierung ein. 1586 wurde das 1573 gegründete Jesuitenkolleg in Graz zur Universität ausgebaut, während der Besuch der protestantischen Grazer Landschaftsschule verboten wurde. 1587 entstand eine Reformationskommission, die die Rekatholisierung Innerösterreichs, teilweise unter Einsatz von Gewalt, durchführte, bevor nach dem Tod Erzherzogs Karls 1590 unter der Regentschaft zuerst des Erzherzogs Ernst und dann des Erzherzogs Matthias ein gewisser Ruhestand eintrat. Seit 1595 kam es in den innerösterreichischen Ländern unter Erzherzog Ferdinand, dem späteren Kaiser Ferdinand II., jedoch zu einer zweiten gegenreformatorischen Welle mit nachdrücklicher Rekatholisierung des Landes und konsequenter Verfolgung der Pro-
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testanten. In Ober- und Niederösterreich setzte nach dem Tod Maximilians II. 1576 unter seinem Sohn Erzherzog Ernst als Statthalter eine erste Rekatholisierungswelle ein. 1593 begann der entscheidende zweite Rekatholisierungsschub unter Erzherzog Matthias, dem späteren Kaiser. Der eigentliche Motor der gegenreformatorischen Rekatholisierung war jedoch der Passauer Generalvikar und katholische Administrator des Hofbistums Wiener Neustadt, Melchior Klesl (Khlesl), ein Wiener Bäckermeistersohn und Konvertit, der seit 1590 als Generalreformator eine teilweise gewaltsame Rekatholisierung betrieb. 1598 wurde Klesl Bischof von Wien und 1615 Kardinal. Gegen die Rekatholisierungsmaßnahmen erhob sich 1594 im oberösterreichischen Mühlviertel ein Bauernaufstand, der bis 1597 fast ganz Oberösterreich und Teile Niederösterreichs erfasste. Die Niederschlagung des Bauernaufstandes gab den „katholischen Autoritäten“ erst recht die Möglichkeit, „in den Stadtgemeinden, gegen den gedämpften Widerstand des eingeschüchterten Adels, die Gegenreformation durchzuführen“230. Klesl wurde selbst zeitweise ein Opfer der Gegenreformation. Weil er 1618 zur Nachgiebigkeit gegenüber dem böhmischen Aufstand riet, wurde er von dem künftigen Kaiser Ferdinand II. entmachtet und in der Wiener Hofburg, später auf Schloss Ambras bei Innsbruck und zuletzt auf dem St. Georgenberg in Tirol inhaftiert, aber 1622 durch päpstliche Vermittlung in die Engelsburg in Rom verbracht, bevor er 1623 freigelassen wurde und 1627 in sein Bistum Wien zurückkehren konnte. Erzherzog Matthias, der jüngere Bruder Rudolfs II., wurde 1606 durch die Wiener Hausverträge zum Haupt des deutschen Zweiges des Hauses Habsburg und stand damit familienrechtlich über dem Kaiser, mit dem er rivalisierte. Mit diesem Bruderzwist in Habsburg, wie Franz Grillparzer diese Vorgänge in seinem 1872 uraufgeführten gleichnamigen Theaterstück nannte, hingen entscheidende Entwicklungen zusammen, deren Schauplatz Böhmen war. 1609 räumte Rudolf II. den Ständen in Böhmen durch den Majestätsbrief Religionsfreiheit und ständische Privilegien ein. Das war ein Sieg der konfessionellen und ständischen Libertät, der auch den Böhmischen Brüdern zugute kam. Der Kaiser wollte durch den Majestätsbrief seine Stellung in Böhmen gegen Matthias politisch sichern, wurde aber 1611 von Matthias aus der Herrschaft in Böhmen verdrängt. Nach dem Tode Rudolfs II. 1612 verschärfte sich unter dem auch als Kaiser seine Nachfolge antretenden Matthias die Lage in Böhmen, wo Rekatholisierungsmaßnahmen zu Ständekämpfen führten. Ein Ereignis dieser Ständekämpfe, die zum Auslöser des Dreißigjährigen Krieges wurden, war der Prager Fenstersturz von 1618. 1619 folgte auf Matthias als Oberhaupt des Reiches, als König von Böhmen und als Landesherr Österreichs Ferdinand II. aus der steierischen Linie, der durch seine Politik in Innerösterreich seit 1593 ein ausgewiesener Verfechter der Rekatholisierung war. Gegen ihn erhoben sich die protestantischen Adeligen in Böhmen, die sich 1619 mit der Konföderationsakte eine ständische Verfassung
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gaben, Ferdinand II. als König von Böhmen für abgesetzt erklärten und den reformierten Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zu ihrem König wählten. Die Folge war die Schlacht am Weißen Berge bei Prag 1620 und die Niederlage der böhmischen Truppen gegen die kaiserliche Armee. Das führte zur Zerschlagung des böhmischen Protestantismus und zur Entmachtung des einheimischen böhmischen Adels. Dazu trug die Enteignung von etwa der Hälfte des adeligen Grundbesitzes in Böhmen bei. Diese Güter wurden an landfremde, u. a. deutsche und italienische Adelsfamilien verteilt, die dem Kaiser treu ergeben waren. Hinzu kam die teilweise gewaltsame Rückführung der Bevölkerung zum Katholizismus durch Vertreibung der nicht katholischen Prediger und durch Erklärung des Katholizismus zur einzigen erlaubten Religionsform 1624. 1621 erließ Ferdinand II. ein Testament, mit dem er das Wahlkönigreich Böhmen den österreichischen Erbländern fest einverleibte und dieses territoriale Gebilde als unteilbare Gesamtmonarchie mit Primogeniturerbfolge konstituierte. 1627 folgte die Verneuerte Landesordnung für Böhmen, mit der die alte Ständeverfassung beseitigt wurde, auch wenn Landtag und Steuerbewilligungsrecht bestehen blieben. In der nun im ganzen Herrschaftsbereich der deutschen Habsburger verstärkt einsetzenden Rekatholisierung wählte ein Teil der Protestanten die Flucht in andere Länder, vor allem in oberdeutsche evangelische Reichsstädte. Ein anderer Teil versuchte, bei äußerlich katholischem Verhalten im Geheimen den evangelischen Glauben auszuüben. Das war der Anfang des für Österreich und Böhmen im 17. und 18. Jahrhundert charakteristischen Geheimprotestantismus, der erst durch die Toleranzgesetzgebung Josephs II. von 1781 aus der Illegalität heraustreten konnte. 1629 erfasste die Rekatholisierung auch das zu Böhmen und damit zu Österreich gehörende Schlesien. Nach dem Westfälischen Frieden kam es in Schlesien 1653 zu einer neuen Rekatholisierungswelle, die nach dem Tod des letzten Piasten, des Herzogs Georg Wilhelm von Liegnitz-Brieg-Wohlau, 1675 auch auf die schlesischen Mediatfürstentümer übergriff. In ganz Schlesien blieben danach nur die Stadt Breslau und das 1647 an die Herzöge von Württemberg gefallene, östlich von Breslau gelegene Herzogtum Oels von der Rekatholisierung unberührt. Im Zweiten Nordischen Krieg erreichte Karl XII. von Schweden mit der Konvention von Altranstädt von 1707 für die Protestanten in Schlesien die Garantie von sechs Gnadenkirchen, die bei Freystadt, Hirschberg, Landeshut, Militsch, Sagan und Teschen entstanden. Tirol war bis 1665 durch die Landesteilungen des 16. Jahrhunderts von Österreich getrennt. In Tirol, im 16. Jahrhundert Verbreitungsgebiet der Täufer, gab es so gut wie keine Protestanten, so dass es keiner gegenreformatorischen Rekatholisierung bedurfte, auch wenn die Innsbrucker Regierung 1585 den Befehl zur Annahme des katholischen Glaubens oder zum Verlassen des Landes erließ. Die katholische Konfessionalisierung, was nicht dasselbe ist, wurde in Tirol mit aller Strenge vorgenommen. Der Empfang der Eucharistie zu Ostern, kirchlich
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verpflichtend, und die dem Eucharistieempfang voranzugehende Beichte wurden durch die Regierung für jeden zur Pflicht gemacht und durch Kontrolle der Beichtzettel überwacht. Seit 1562 bestand in Innsbruck ein Jesuitengymnasium. Nach der Wiedervereinigung Tirols mit Österreich gründete Kaiser Leopold I. 1677 die Universität Innsbruck, die zum einheitlich katholischen Charakter Tirols beitrug. Erneute Verschärfung der konfessionellen Gegensätze Nach dem Siege der katholischen Seite im Kampf um das Reservatum Ecclesiasticum verschärften sich um 1600 im Reich erneut die konfessionellen Gegensätze. Das zeigte sich mit dem Vierklösterstreit um die Aufhebung von vier Klöstern in der Grafschaft Oettingen, in der Markrafschaft Baden-Durlach, in der Reichsstadt Straßburg und im Gebiet des Reichsritters von Hirschhorn. Nach der Auffassung der Katholiken standen diese mit Vermögenskonfiskationen verbundenen Klosteraufhebungen im Widerspruch zum Augsburger Religionsfrieden, mit dem die vor 1555 erfolgten Kirchenguteinziehungen sanktioniert worden waren. Dagegen enthielt das ius reformandi des Religionsfriedens nach Ansicht der Protestanten auch ein Zugriffsrecht auf das Kirchengut für die Zeit nach 1555. Diese Frage und die Rechtsstreitigkeiten, die vor dem Reichskammergericht um diese Klosteraufhebungen ausgetragen wurden, führten zur Lahmlegung der Reichsjustiz. Einen anderen Streitpunkt lieferte die Donauwörther Sache. Innerhalb der Bürgerschaft von Donauwörth, einer der konfessionell gemischten Reichsstädte, für die der Augsburger Religionsfrieden die Parität der Konfessionen auf der Grundlage des status quo festgesetzt hatte, gab es Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Minderheit und der protestantischen Mehrheit. Rudolf II. beauftragte 1606 Herzog Maximilian von Bayern mit dem Schutz des katholischen Gottesdienstes in Donauwörth, doch wurden die Abgesandten des Herzogs von den Donauwörther Protestanten verjagt. Daraufhin wurde 1607 die Reichsacht über die Stadt verhängt. Mit der Vollstreckung der Reichsacht beauftragt, machte sich Maximilian diesen Auftrag zunutze und besetzte Donauwörth. Aus der Reichsstadt wurde eine bayerische Landstadt. Der Streit um Donauwörth beschäftigte den Regensburger Reichstag von 1608, auf dem die evangelischen Reichsstände eine Bestätigung des Augsburger Religionsfriedens verlangten. Die katholischen Reichsstände antworteten mit der Forderung nach Herausgabe der von evangelischen Administratoren besetzten und teilweise schon säkularisierten Hochstifte. Es kam zum Bruch, so dass sich der Reichstag ohne formellen Reichsabschied auflöste. Daraufhin bildete sich ein neues Protestantenbündnis, das 1608 unter dem Namen Union von Kurpfalz, Württemberg, Baden-Durlach, Ansbach und Bayreuth gegründet und dann um Hessen-Kassel, Brandenburg, Pfalz-Zweibrücken und 17 oberdeutsche Reichsstädte erweitert wurde. Mehrere katholische Reichsstände unter der Führung des Herzogs von Bayern gründeten 1609 als Gegenbündnis die Liga, der der Kaiser
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und der Erzbischof von Salzburg aber fernblieben. Diese beiden konfessionell bestimmten Bündnisse standen sich in den ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges gegenüber, bevor sich die Union 1621 auflöste. Das Ende der Liga folgte mit dem Frieden von Prag 1635. Katholische Barockfrömmigkeit Das Dekret über die Heiligen- und Bilderverehrung des Konzils von Trient von 1563231 trat einem magischen Verständnis von Heiligenbildern und Reliquien entgegen. Dennoch waren solche Vorstellungen der Volksfrömmigkeit des Barockzeitalters nicht fremd. Was war Volksfrömmigkeit und was Barockfrömmigkeit? Vor dem Hintergrund der Forschungen zur Frömmigkeitsgeschichte von Dieter Breuer, Wolfgang Brückner, Anna Coreth, Werner Freitag, Ludwig Hüttl, Gerhardt Kapner, Michael Pammer, Michel Vovelle und anderer kann man die katholische Frömmigkeit nach dem Konzil von Trient und bis weit ins 18. Jahrhundert als katholische Barockfrömmigkeit bezeichnen. Katholische Volksfrömmigkeit gab es hingegen schon vor dem Konzil von Trient. Brückner hat den Kontinuitätsbruch zwischen der Volksfrömmigkeit des späten Mittelalters und der des 17. Jahrhunderts deutlich zu machen gesucht.232 Die Volksfrömmigkeit nach diesem Bruch war eine Erscheinungsform der Barockfrömmigkeit. Hier soll der Volksbegriff weder volkskundlich noch sozialgeschichtlich gebraucht und deshalb nicht zwischen Elitenfrömmigkeit und Volksfrömmigkeit unterschieden werden, sondern theologisch-kirchenrechtlich, d. h. im Sinne des griechischen laikÒj. Volksfrömmigkeit wird so zur Laienfrömmigkeit. Volksfrömmigkeit in diesem Sinne konnte auch Frömmigkeit des Kaisers sein. Katholische Volksfrömmigkeit der Barockzeit war oft nicht-theologiegeleitete Frömmigkeit, konnte nicht-dogmenkonforme Frömmigkeit sein, die sich um das Bilderdekret von Trient nicht scherte. Brückner schneidet auch die Frage der Kontinuität oder Diskontinuität zum Mittelalter an. Von der Frömmigkeit des Mittelalters habe das 17. Jahrhundert nur ausgewählte Stücke übernommen und diese dann gesteigert, vor allem die Marienfrömmigkeit. Anderes sei nicht weitergeführt worden, so das Institut der Buß- oder Sühnewallfahrt als gerichtliche Strafauflage oder die Gestalt des vagierenden Jakobsbruders. Das 18. Jahrhundert bringe gegenüber dem 17. lediglich eine Verstärkung der Tendenzen und lasse „neue Frömmigkeitsstile Eigendynamik entfalten, die damit erst zur Kritik der Aufklärung führt“233. Erscheinungsformen der piété baroque Im Mittelpunkt katholischer Barockfrömmigkeit standen die Pietas Eucharistica, die eucharistische Frömmigkeit, und die Pietas Mariana, die Marienfrömmigkeit. Die Eucharistieverehrung fand ihre sichtbare Gestalt in der Monstranz, einem zumeist aus Gold gearbeiteten, aus Fuß, Schaft und Aufsatz mit einem verglasten Behältnis bestehenden vas
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sacrum (Plural: vasa sacra). Diese auch Ostensorium genannte Monstranz (lat. monstrare zeigen) diente – und dient auch heute noch – der Präsentation oder der Aussetzung des Allerheiligsten in Gestalt der in dem Glasbehältnis sichtbaren konsekrierten Hostie. Aufgekommen mit der Fronleichnamsprozession und zuerst im 14. Jahrhundert nachweisbar, gewann die Monstranz im Barock als strahlenförmige Sonnenmonstranz ihre bis heute bekannte Form, um im 17. und 18. Jahrhundert zentrale Bedeutung als Instrument der Anbetung Christi im heiligsten Sakrament zu gewinnen. Die Sonne als Eucharisticus Sol war seit der Alten Kirche Symbol Gottes und Christi im Gegensatz zum Mond als Symbol der Gottesmutter Maria, womit auch das Motiv der Mondsichelmadonna zusammenhängt. Zugleich war die Sonne − vor allem in Österreich − Gegensymbol gegen den muslimischen Halbmond. Der andere Ausdruck der eucharistischen Frömmigkeit war die Fronleichnamsprozession am ersten Donnerstag nach dem Abschluss der fünfzigtägigen Osterfeier, d. h. am Donnerstag nach Trinitatis, dem Sonntag nach Pfingsten. Der Tag des eucharistischen Leibes Christi, Corpus Domini, zuerst 1246 in Lüttich nachweisbar und 1264 von Urban IV. als Festtag für die ganze Kirche angeordnet, fand seinen Höhepunkt in der Fronleichnamsprozession, bei der konsekrierte Hostien, das Allerheiligste, über Straßen und Plätze getragen wurden. Ihre größte Bedeutung erlangte die Fronleichnamsprozession als Demonstration eucharistischer Frömmigkeit im 17. und 18. Jahrhundert, wie gleichzeitig auch die von der Eucharistie her gedachte Verehrung der Trinität in Gestalt von Dreifaltigkeitssäulen sichtbare Objekte hervorbrachte. Das berühmteste ist die Pestsäule auf dem Graben in Wien aus den Jahren 1682 bis 1693. Prozessionen und Wallfahrten waren nie Teil der kirchlichen Liturgie, nie verpflichtendes Element des Kirchenjahres und des christlichen Lebens wie die Sonntagspflicht oder die Pflicht zum Empfang der Eucharistie einmal im Jahr, also zur Osterkommunion. Sie waren sekundäre Erscheinungen der Pietas Eucharistica und − die Marienwallfahrten − der Pietas Mariana sowie − als Wallfahrt zu Gnadenorten der Heiligen − der Heiligenverehrung. Marienwallfahrten gab es schon im Mittelalter. Doch wurden sie nach der Reformation nicht nur neu belebt oder überhaupt erst eingeführt, vielmehr erreichten sie als Ausdruck marianischer Frömmigkeit im 17. und 18. Jahrhundert ihren weder vorher noch später je erreichten Höhepunkt. Hüttl nennt Zahlen, die für das 18. Jahrhundert, zumindest für dessen erste Hälfte, keinen Rückgang, sondern eine Zunahme zeigen: Mariazell in der Obersteiermark: 1689 61.000 Kommunikanten, 1692 104.000 Kommunikanten, 1725 188.000 Kommunikanten;234 Mariahilf ob Passau: 1627 25 Hochämter und 1.009 hl. Messen, 55 Prozessionen und 10.570 Kommunikanten, 1683 113 Hochämter und 10.260 heilige Messen, 77 Prozessionen und 58.690 Kommunikanten.235 Wie es Fronleichnamsbruderschaften gab, so gab es auch die marianischen Sodalitäten oder Kongregationen der Jesuiten, deren Mitglieder sich dem feierlichen Akt der Weihe an die Himmels-
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königin unterzogen. Die Gottesmutter Maria galt als Siegerin der Schlachten und als Patronin katholischer Heere, z. B. 1620 in der Schlacht am Weißen Berge bei Prag. Besonders hervorzuheben ist die Immaculata-Verehrung. Die Immaculata Conceptio (Unbefleckte Empfängnis Mariens) wurde zwar schon 1439 von einem Teil der Synodalen des Konzils von Basel als Lehrsatz formuliert, der aber keine Geltung erlangte. Doch schützte die Konstitution Cum praeexcelsa Sixtus IV. von 1477 diese Auffassung.236 In Trient schlug der spanische Kardinal Pedro Pacheco von Jaén 1546 im Zusammenhang mit dem Dekret über die Ur- oder Erbsünde, das Maria ausnahm, die Definition der Unbefleckten Empfängnis vor, doch kam es dazu nicht. Erst 1622 verbot ein Dekret Gregors XV. die Leugnung der Unbefleckten Empfängnis,237 bevor sich Papst Alexander VII. 1661 auf Bitten König Philipps IV. von Spanien mit dem Breve Sollicitudo omnium ecclesiarum positiv über die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis aussprach.238 Dogmatisiert wurde die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis erst 1854 durch die Bulle Ineffabilis Deus Pius IX. Die Pietas Mariana lief dieser dogmengeschichtlichen Entwicklung voraus, indem Maria als Immaculata Concepta größte Bedeutung für die marianische Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts gewann und als Urbild der Kirche und Fülle der Gnade verehrt wurde. Die Jesuiten waren die Propagandisten des Maria Immaculata-Kultes. Neben eucharistischer und marianischer Frömmigkeit ist die Heiligenverehrung und in ihrem Zusammenhang die Reliquienverehrung zu erwähnen. Auffällig ist dabei die von Land zu Land wechselnde Bevorzugung bestimmter Heiliger − z. B. in Österreich Johannes Baptista, die Apostel Petrus und Paulus, Augustinus, Antonius von Padua, Ignatius von Loyola, Franz Xaver (Francisco Javier/Xavier), Teresa von Ávila, Joseph der Nährvater, der hl. Markgraf Leopold III. von Babenberg und Johann von Nepomuk sowie Carlo Borromeo. Träger der Barockfrömmigkeit Träger der Barockfrömmigkeit waren die Kirche mit ihren Institutionen, besonders den Orden, katholische Herrscherdynastien − im deutschen Bereich die Habsburger und die Wittelsbacher − und der höhere Adel, aber auch niederer Adel und bürgerliche Oberschicht, Kleinbürgertum, Bauern und Unterschichten in Stadt und Land. Kapner unterscheidet für die Stiftung und Errichtung von Heiligenstatuen drei „Initiativen“, die „sich bei der Rückführung zum katholischen Glauben die Installierung einer Bilderwelt angelegen sein ließen“239: die Kirche mit dem Jesuitenorden als Promotor, die Herrscherdynastie und die von ihm „Guttäter“ genannten Stifter aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. Trient wirkte normierend durch das Bilder- und Reliquiendekret. Dazu gehörte die Bestimmung, „dass es niemandem erlaubt sei, an irgendeinem Platz irgendein ungewohntes Bild aufzustellen oder aufstellen zu lassen, ohne dass es vom Bischof gebilligt wurde“240. Die meisten religiösen Bildwerke außerhalb der Kirchenräume wurden nicht von der Kir-
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che veranlasst, sondern von Laien. Die Kirche − der Diözesanbischof − war nur Genehmigungsinstanz. Das Tridentinum ließ mit dem Bilder- und Reliquiendekret die Vorstellung hinter sich, wonach das Jenseitige durch magische Praktiken realisiert werden konnte. „In diesem Hinausrücken des Göttlichen in eine größere und damit zugleich dunkler werdende, ungewissere Distanz waren auch die tridentinischen Vorstellungen modern und hatten sozusagen ihren Parallelismus zu denen der [Protestanten]“,241 ohne das Transzendente zur bloßen Abstraktion verblassen zu lassen, wie später der Deismus. Diese Mittelstellung wurde zur entscheidenden künstlerischen Inspiration der Heiligendarstellung in Malerei und Plastik. Die Kunstform des Emblems mit seiner Verbindung von verschlüsselter optischer Darstellung mit einer textlichen Subscriptio, die eine Auflösung der Verschlüsselung ermöglichte oder andeutete, entsprach der tridentinischen Vorstellung, „die ja die Direktheit der Beziehung zwischen Jenseits und Diesseits, etwa in Gestalt magischer Beschwörungspraxis, ablehnte zugunsten einer unsicheren, undurchschaubaren, eben über die Vermittlung der Heiligen zustande kommenden Relation“242. Das habsburgische Kaiserhaus war in hervorragendem Maß Subjekt katholischer Barockfrömmigkeit, was Anna Coreth als Pietas Austriaca beschrieben hat.243 Die Katholizität des Kaiserhauses ließ barocke Frömmigkeit zum Wesenselement der Dynastie werden. Dabei standen auch hier Pietas Eucharistica und Pietas Mariana im Mittelpunkt. Frömmigkeit als Herrschertugend und die Verehrung der Himmelskönigin Maria wurden zur spirituellen Unterbauung habsburgischer Herrschaft, während die Trinität als Urbild des Monarchentums erschien. Zugleich stand das Haus Habsburg als die katholische Dynastie schlechthin in einzigartiger Beziehung zum Leib Christi. Kaiser und Hof kommunizierten im 17. Jahrhundert täglich in aller Öffentlichkeit, durchdrungen vom Glauben an das Gottesbrot als Kraftquelle kaiserlicher Herrschaft. Ferdinand II. und Leopold I. wurden von Abraham a Santa Clara als Vorbilder der Anbetung des Allerheiligsten hingestellt. Die Sakramentsprozession an Fronleichnam bildete das Herzstück der eucharistischen Frömmigkeit des Kaiserhauses, wobei der Herrscher inmitten der prunkvollen Fronleichnamsprozession in betont schlichter Weise und in einfacher Kleidung auftrat. 1647 weihte Ferdinand III. sich selbst, seine Kinder, Völker, Heere und Länder Gott, „dem höchsten Kaiser des Himmels und der Erde, durch den die Könige regieren, und der Jungfrau, Gottesgebärerin und unbefleckt Empfangenen, durch welche die Fürsten herrschen, als der besonderen Herrin und Patronin Österreichs“244. 1658 empfing Leopold I. im bayerischen Altötting Österreich als Lehen der Himmelskönigin Maria. Altötting galt in dieser Zeit nicht nur als bayerisches, sondern als zentrales kaiserliches und Reichs-Marienheiligtum. Große Bedeutung besaßen die Kaiserwallfahrten nach Mariazell, an denen die Bevölkerung in großer Zahl Anteil nahm, wie sie auch während der Türkenkriege der 1680er und 1690er Jahre mit großem
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Zulauf an den marianischen Manifestationen in Wien beteiligt war, bei denen der Kaiser 1693 ein öffentliches Gelöbnis zu „der Königin des Himmels und der Erde, der Magna Hungariae Domina“ ablegte und deren Spiritus Rector der Kapuziner P. Marco d’Aviano war. Barockfrömmigkeit als Antiprotestantismus An der echten Religiosität der meisten Habsburger des 17. Jahrhunderts kann es keinen Zweifel geben. Pietas Austriaca war aber nie ausschließlich persönliche Frömmigkeit, sondern immer auch politisches Kalkül oder zumindest politisch nützlich. Kaiserliche Pietas Eucharistica und habsburgische Pietas Mariana waren ein Kriterium, an dem sich politische Treue oder Rebellion erwiesen. Wer von den bis weit ins 17. Jahrhundert oftmals protestantischen adeligen Landständen Österreichs der Monstranz mit der konsekrierten Hostie und den Heiligenbildern keine Reverenz erwies, war nicht nur ein Andersgläubiger; er war ein Aufrührer, der gegen den Glauben des Kaisers opponierte. Ähnlich war es bei Adel und Bürgertum, die die Frömmigkeit des Kaisers teilten, übernahmen oder nachahmten. Auch hier gab es Motive, die im Religiösen beheimatet waren, aber auch den Wunsch, katholische Konformität unter Beweis zu stellen. Ein Motiv überbrückte alle anderen, und ohne dieses Motiv bleibt die katholische Barockfrömmigkeit zumindest deutschsprachiger Länder im 17. und 18. Jahrhundert unerklärbar. Dieses Motiv ist der Antiprotestantismus. Der Kult der Gottesmutter und Himmelskönigin Maria, besonders als Maria Immaculata, die Verehrung der Heiligen und der geweihten Hostie, das waren sichtbarste Ausdrücke von Katholizität gegenüber dem Protestantismus. Für den Glauben der einfachen Leute waren äußere Zeichen wichtiger als theologische Differenzierungen. Man sah, wer an der hl. Messe teilnahm und nur die Hostie erhielt oder das Abendmahl unter beiderlei Gestalt empfing. Man sah, wer die Fastengebote einhielt, an der Fronleichnamsprozession und an Marienwallfahrten teilnahm, und man bemerkte, wer seinen Kindern die Namen von Heiligen gab. Wer das tat, der war katholisch. So wurde Frömmigkeit Instrument katholischer Konfessionalisierung. Die handgreiflich-materielle Auffassung des Heiligen Was kam von der Pietas Eucharistica, der Pietas Mariana oder der Heiligen- und Reliquienverehrung bei dem auf äußere Zeichen angewiesen Kirchenvolk an? Das ist die Frage der Diffusion, wobei dieser Begriff meint, dass das, was gesagt wird, in den Ohren des Hörenden anderes bedeutet als in den Gedanken des Sprechenden − anders ausgedrückt: die Verehrung der Bilder konnte bei den Gläubigen anders ankommen, als sie in der Konzilsaula von Trient gemeint war. Hier ist − entgegen Brückner − ein Wandel feststellbar, den Kapner als „Rückschritt von der emblematischen zur symbolischen Auffassung“245 bezeichnet. Die emblematische Auffassung stimmt mit der Intention des Bilderdekrets überein: der Heilige (und erst recht das Heiligenbild)
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kann nicht selber Wunder wirkende Kraft sein. Die symbolische Auffassung sieht hingegen im Bild das Abgebildete, verlängert das Überirdische ins Irdische und zwingt das Überirdische durch magische Akte zur Anwesenheit. Es gibt Belege für diese symbolische Auffassung von der Spitze der Gesellschaft, u. a. aus der Umgebung Leopolds I. Es gibt sie aber vor allem und in Fülle aus der breiteren Bevölkerung. Es scheint, dass sie sich im 18. Jahrhundert sogar noch häufen, wofür Mirakelbücher eine Quelle bieten. So konnten Bildstöcke selbst zu Hilfsmitteln werden, statt zu Anleitungen, sich Hilfe zu erbitten. Werner Freitag zeigt für das Münsterland die Bedeutung der Wundertätigen Bildnisse, denen Gläubige eine eigenständige Persönlichkeit zuwiesen.246 Das wird deutlich an Namen für Bilder wie Maria Telgte, Maria Vinnenberg oder Gnadenmutter zu Vinnenberg und an Legenden wie denen, wonach Heiligenbilder bei Bränden in Dörfern unbehelligt blieben. Zwischen der Gottesmutter Maria und dem Marienbild sah man personale Identität. In der Gestalt des Bildes war der Heilige für die Menschen aktiv. Das Wundertätige Bild machte die unsichtbare Welt sinnlich erfahrbar. Der Bauer aus Ostbevern bei Münster, dem fünf Kühe fortgelaufen waren, erhoffte sich deren Rückkehr durch die Hilfe des Vinnenberger Marienbildes und gelobte, ein Opfer für „das liebe Frauenbild zum Vinnenberg“ bringen zu wollen. Als er sich am nächsten Tag auf den Weg dorthin machte, fand er kurz vor Kloster Vinnenberg seine Kühe wieder. Das Marienbild hatte schon geholfen. Für solche Wunder wurden Votivgaben dargebracht, die die Wahrhaftigkeit des Geschehens bezeugten. Theologisch war es ein Unding, Heilige andere Heilige um Fürbitte anflehen zu lassen. Aber was scherte das die Bauern von Roxel und Albachten bei Münster, die noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihre Kirchenpatrone Pantaleon und Ludgerus die Gottesmutter Maria − genauer: das Telgter Marienbild − um Fürbitte für ihre Gemeinden anflehen ließen? Das sind keine späten Entartungserscheinungen barocker Frömmigkeit und keine Indizien für Degeneration zu magischen Praktiken, wie man bei der Lektüre polemischer Aufklärungsliteratur meinen könnte. Das ist nicht-theologiegeleitete Volksfrömmigkeit, die sich wenig um das tridentinische Bilderdekret kümmert, sondern in einer Zeit kaum vorhandener rationaler Vorkehrungen gegen Not Religion handgreiflich-materiell auffasst und von der Berührung des Bildes eines Heiligen oder vom Küssen der Reliquie Heil und Hilfe erhofft. Zwar ist auch im tridentinischen Bilderdekret von „Bildern, die wir küssen“ die Rede,247 so dass das Küssen der Reliquien im Sinne des Tridentinums sein konnte. Doch war das Küssen der Bilder 1563 Ausdruck der vom Tridentinum gewollten Ehrerweisung gegenüber den Bildern, wie auch heute noch der Priester das Evangelienbuch küsst und dem „Wort unseres Herrn Jesus Christus“ damit Ehre erweist. In der Volksfrömmigkeit des Barockzeitalters konnte es hingegen Ausdruck der symbolischen statt der vom Tridentinum gewollten emblematischen Auffassung des Bildes oder der materiellen Überrestes eines Heiligen sein.
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Mission und Akkommodation Als Luther noch katholisch und ein junger Theologieprofessor in Wittenberg war, entstanden zwischen 1511 und 1517 die ersten Bistümer Amerikas − in San Juan de Puerto Rico (1511), in Santo Domingo (1511), in Concepción de la Vega (1511), in Santa María la Antigua del Darién bzw. Panamá-Stadt (1513) und in Baracoa bzw. Santiago de Cuba (1517). Während der katholischen Kirche große Teile Europas an die aus der Reformation hervorgegangen Kirchen verloren gingen, gewann sie außerhalb Europas ein Vielfaches hinzu. Das geschah im Zuge der europäischen Expansion und ist deshalb ein Thema der europäischen Kirchengeschichte jener Zeit. Katholizismus in Hispanoamerika und Brasilien Mit dem Vertrag von Tordesillas von 1494 hatte Alexander VI. Kastilien und Portugal Missionsgebiete in der Neuen Welt übertragen, bevor Julius II. Kastilien 1508 das Recht verlieh, in Amerika Bistümer einzurichten und Bischöfe zu ernennen. Die Mission wurde zunächst äußerst gewaltsam vorgetragen. Wo die Spanier erschienen, forderten sie die Indios − die gar nicht wussten, was ihnen geschah − unter Androhung schwerster Strafen auf, das Christentum und die Herrschaft des Königs von Spanien anzunehmen. Wer sich weigerte, verlor seine Freiheit und oft sein Leben. Die ersten Missionare − Franziskaner oder Dominikaner spanischer oder italienischer Herkunft −, die keinerlei Erfahrung mit Menschen fremder Kultur und nicht christlicher Religion hatten, teilten anfangs die Gewaltmethoden, doch wuchsen in den Orden Missionare heran, die sich für die Indios einsetzten und Zwangsbekehrungen ablehnten. Die Eroberer und die Missionare waren überrascht über die große Menschenzahl, die ihnen in Amerika gegenübertrat und die heute für beide Amerikas auf 40 bis 100 Millionen Menschen geschätzt wird.248 Den Bettelmönchen aus Europa stellte sich die Frage, wie Gott es habe zulassen können, so viele Menschen 1.500 Jahre lang vom Licht des Evangeliums und von der göttlichen Wahrheit fernzuhalten. Diese Überlegung trug zu einer heilsgeschichtlichen Deutung der Eroberung Amerikas bei, die sich bei Las Casas ebenso findet wie bei dem Franziskaner Gerónimo de Mendieta und anderen, die eine Parallele zogen zwischen Martin Luther und Hernando Cortez. Was der eine durch Glaubensabfall der Kirche entrissen habe, das habe ihr der andere hinzugewonnen. Unter dem Eindruck der Reformation in Deutschland und der Bedrohung der europäischen Christenheit durch die muslimischen Türken, aber auch der allmählich sichtbar werdenden Vernichtung der Völker und Kulturen Amerikas, entstand im Laufe des 16. Jahrhunderts eine Art auf Amerika bezogener Prophetie. Es könne sein, dass Gott die Vernichtung Spaniens als Strafe für seine Sünden an den Indios zulasse, wie er die Vernichtung von Byzanz durch die Türken zugelassen habe. Auch könne es sein, dass Gott die Übersiedlung der Kirche von Europa nach
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Amerika wolle, um sie dort, auf den Hochebenen von Mexiko, Guatemala oder Peru, neu erblühen zu lassen. Richtig an dieser heilsgeschichtlichen Deutung war, dass die Entstehung des hispano-amerikanischen Katholizismus im 16. Jahrhundert eine mindestens ebenso wichtige Zäsur und Wende der Kirchengeschichte war wie die Reformation in Deutschland. Gerónimo de Mendieta, der 1554 Spanien verließ und nach Mexiko ging, war mit seiner Historia eclesiástica indiana auch der erste Historiker der Kirche Amerikas. Im Laufe des 16. Jahrhunderts entstand durch die Mission der Franziskaner und Dominikaner eine hispano-amerikanische katholische Kirche, die aber mehr das Gehäuse des Katholizismus der Kreolen, also der in Amerika als Kinder europäischer Eltern geborenen Menschen, und der Mestizen, d. h. der europäisch-indianischen oder kreolisch-indianischen Mischlingsbevölkerung, als der rasch zurückgehenden autochthonen Indiobevölkerung war. Nachdem die ersten Bischöfe in Amerika aus Spanien entsandte Ordensgeistliche waren, traten bald neben spanischen auch kreolische Weltpriester hinzu. Das erste Konzil von Mexiko verbot aber 1555, Mestizen oder Indios die Priesterweihe zu spenden. Dieses Weiheverbot blieb während des ganzen 16. Jahrhunderts in Kraft und bewirkte bis ins 19. Jahrhundert den europäisch-kreolischen Charakter der Kirche Hispanoamerikas. Nach den ersten Bistümern wurde 1527 das Bistum México-Tenochtitlan gegründet. Alle Bistümer Hispanoamerikas unterstanden bis 1546 der Metropolitangewalt des Erzbischofs von Sevilla in Spanien. 1546 wurden Santo Domingo, México-Tenochtitlan und Lima zu Erzbistümern erhoben, zu denen 1564 das Erzbistum Santafé de Bogotá hinzutrat. Damit ging die kirchliche Verselbständigung Hispanoamerikas von Europa einher. 1538 entstand in Santo Domingo die erste Universität Amerikas, die vom Dominikanerorden geführt wurde. Nach der ersten Christianisierungswelle lernten die Missionare, sich auf die Indiobevölkerung einzustellen. Franziskaner erarbeiteten Wörterbücher der aztekischen Sprache und übersetzten das Neue Testament in die Sprachen der Indios. Auch ein Bischof wie Rodrigo de Bastidas, seit 1531 erster Bischof von Coro in Venezuela, engagierte sich als protector de indios (Indianerschützer) und prangerte Übergriffe spanischer Siedler gegen die Indios immer wieder bei der Krone in Spanien an. Die Jesuiten, die 1568 nach Lima kamen und 1592 in Peru bereits mit 242 Patres vertreten waren,249 lehnten Zwangsbekehrungen ebenso ab wie den Sklavenhandel. Der 1888 heiliggesprochene Jesuit Petrus Claver bemühte sich in Cartagena in Kolumbien, einem wichtigen Sklavenhandelsplatz, um Hilfen für die Sklaven. Gelehrte Jesuiten verfassten Grammatiken und Wörterbücher der Indiosprachen. Bereits erwähnt wurde der Dominikaner Francisco de Vitoria mit seinen Relectiones de Indis von 1539, in denen er Kritik an der spanischen Kolonialpolitik übte, aber auch der Dominikaner Bartolomé de Las Casas. Der 1474 in Sevilla geborene Las Casas lebte von 1502 bis 1514 zunächst auf Santo Domingo und
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später auf Kuba, bevor er sich von 1515 bis 1522 mit Planungen für das Kolonialsystem beschäftigte. Zehnmal überquerte er den Atlantik. In Amerika lernte er außer den Karibischen Inseln auch Nicaragua, Guatemala, Honduras und Mexiko kennen. 1522 trat er in den Orden des hl. Dominikus ein und widmete sich sieben Jahre lang dem theologischen und juristischen Studium. Dann trat er als radikaler Kritiker der spanischen Eroberung und Herrschaft in Amerika hervor und verurteilte scharf die Gewalt gegen die Indios. Kardinal Ximénes de Cisneros ernannte ihn zum Generalprokurator der Indios. Er erreichte mit seiner Kritik auch Karl V., der als König von Spanien die Indios 1542 zu freien Untertanen der spanischen Krone erklärte, und Paul IV. Doch erschienen seine wichtigsten Schriften erst nach 1550, darunter seine Brevísima relación de la destrucción de las Indias (Kurz gefasster Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder) von 1552. In juristischen Schriften, vor allem in Treinta proposiciones muy jurídicas von 1552 und im Tratto comprobatorio von 1553, erklärte Las Casas die spanische Eroberung Amerikas für illegitim und tyrannisch. Der Papst sei gar nicht berechtigt gewesen, über diese Länder zu verfügen. Der einzige Rechtstitel, der die Herrschaft Spaniens in Amerika legitimieren könne, sei die Verbreitung des Christentums. Doch müsse die Mission gewaltfrei geschehen. Die Herrschaft des Königs von Spanien in Amerika sei nur dann legitim, wenn sich ihr nicht nur die Azteken- und Inka-Könige, sondern auch die Völker selbst freiwillig unterwürfen. Der König von Spanien müsse die Rechte der Indio-Könige anerkennen. Deshalb trat Bartolomé de Las Casas für die Wiederherstellung eines von Spanien unabhängigen Peru unter dem in die Anden geflüchteten Nachkommen des letzten Inka-Königs ein. Las Casas ist bis heute umstritten. Manche halten seine Forderungen für utopisch. Auch wird kritisiert, dass er, der Indiofreund, den Einsatz afrikanischer Sklaven in Amerika befürwortete, obwohl er sich später gegen die Sklaverei der Afrikaner aussprach. Wieder andere werfen ihm vor, die Menschenopfer der Azteken und den Kannibalismus der Indios der Karibischen Inseln zu beschönigen. Wie immer man Las Casas beurteilt, es bleibt die Schonungslosigkeit festzuhalten, mit der dieser Dominikaner im 16. Jahrhundert Völkermord und Kulturzerstörung der spanischen Eroberer in Amerika anprangerte. Im portugiesischen Brasilien errichtete Julius III. auf Antrag Joãos III. von Portugal 1551 das Bistum Salvador da Bahia, das dem Erzbistum Lissabon unterstellt war und bis ins 18. Jahrhundert das einzige Bistum Brasiliens blieb. 1676 wurde Salvador da Bahia Erzbistum und kirchlich von Lissabon unabhängig. Philippinen und Indien Im spanischen Herrschaftsbereich lagen auch die Philippinen, die ihren Namen 1543 nach dem späteren König Philipp II. erhielten. Doch waren die Philippinen äußerst abgelegen. Wegen der Regelungen der Verträge von Tordesillas und Zaragoza waren sie für die Spanier vor der Iberischen Union von 1580 nicht auf dem Seeweg um Afrika herum und über den Indischen
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Ozean erreichbar, sondern nur von Mexiko aus in langer Seereise über den Pazifischen Ozean oder auf noch längerer Seereise über den Südatlantik und um Südamerika herum über den Südpazifik. Nachdem 1521 spanische AugustinerEremiten auf die Philippinen gekommen waren, landeten 1575 24 AugustinerEremiten-Mönche auf der Insel Luzón. 1577 folgten Franziskaner, 1581 Jesuiten. 1579 wurde Manila Bistum und 1595 Erzbistum mit Suffraganbistümern in Cebu, Nueva Segovia und Nueva Cáceres. Auf den Philippinen vermied man die Fehler, die in Amerika gemacht worden waren. Die Missionare traten von Anfang an als Beschützer der autochthonen Bevölkerung auf und gewannen so deren Vertrauen. 1585 gab es bereits rund 400.000 getaufte Christen, 1620 über zwei Millionen.250 1611 gründeten die Dominikaner in Manila das Kolleg des hl. Thomas, aus dem 1645 die Universidad Santo Tomás hervorging. Wichtig war, dass bald Angehörige der autochthonen Bevölkerung Theologie studierten und zu Priestern geweiht wurden. Das war das Gegenteil der Regelungen des Konzils von Mexiko von 1555. So entstand auf den Philippinen die einzige katholische Nation Ost- und Südostasiens. Wie Spanien, so übernahm auch Portugal mit dem Vertrag von Tordesillas das Recht und die Pflicht zur christlichen Mission in dem ihm zugewiesenen Weltteil, in dem Afrika, der indische Subkontinent und große Teile Ostasiens mit ihren alten Hochkulturen und mit den Hochreligionen des Islam, des Hinduismus, des Buddhismus und des Shintoismus lagen und die vom Konfuzianismus geprägt waren, einer in mehreren Religionen Ostasiens verbreiteten ethischen, sozialen und politischen Haltung. 1500 ließ sich Manuel I. von Alexander VI. in der Bulle Cum sicut maiestas das Recht erteilen, das Gebiet vom Kap der Guten Hoffnung bis nach Japan unter Einschluss Indiens einem Apostolischen Kommissar zu unterstellen, der seinen Sitz in Funchal auf Madeira haben sollte. 1514 errichtete Leo X. das Bistum Funchal − das räumlich größte katholische Bistum, das es jemals gab. 1533 wurde das Bistum Funchal in die Bistümer Santiago de Cabo Verde, São Tomé, São Salvador de Angra auf den Azoren und Goa in Indien unter dem Erzbistum Funchal aufgeteilt, doch dauerte es bis 1537 oder 1539, bis mit dem Franziskaner João Afonso de Albuquerque der erste Bischof nach Goa kam. Goa liegt an der Malabarküste, der Westküste Indiens, zwischen Bombay und Mangalore. Das immer noch riesige Bistum Goa war zuständig für das Gebiet vom Kap der Guten Hoffnung bis nach Japan. 1557 wurde Goa von Funchal getrennt und Erzbistum und Metropole für das portugiesische Süd- und Ostasien mit Suffraganbistümern in Cochin in Indien und Malakka südlich von Kuala Lumpur im heutigen Malaysia. 1600 und 1660 kamen in Indien noch die Bistümer Angamale und Mailapur hinzu. Die Mission in Indien ging von Goa aus und wurde zunächst von Dominikanern und Franziskanern getragen. Wegen Unkenntnis der Sprachen Südindiens waren deren Bemühungen kaum erfolgreich. Übertritte zum Christentum kamen oft nur wegen materieller Vorteile zustande. Die neu gewonnenen indischen
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Christen entstammten den untersten Kasten der indischen Kastengesellschaft. Die portugiesische Mission stieß in Indien auch auf vorhandene Christen, die Thomaschristen, die nach der Legende auf eine Missionsreise des Apostels Thomas − den ungläubigen Thomas des Johannesevangeliums [Joh 20,24–29] − nach Indien zurückgingen. Nach diesen Misserfolgen sandte Ignatius von Loyola den baskischen Adeligen und Jesuitenpater Francisco Javier (Xavier) − auch Francisco de Yasu y Xavier, in Deutschland bekannt als Franz Xaver − nach Indien. Der 1622 heiliggesprochene Franz Xaver kam 1541 nach Goa, von wo aus er sich zunächst den portugiesischen Siedlern und den bereits bestehenden christlichen Gemeinden an der Malabarküste widmete. Danach begann er mit der eigentlichen Mission, die ihn 1545 durch das gesamte portugiesische Süd- und Ostasien führte. 1552 starb er auf einer kleinen Insel vor der Küste Südchinas, nicht weit von dem seit 1557 portugiesischen Macao, ohne nach China gelangt zu sein. Wichtig für den Missionserfolg Franz Xavers war dessen Einsicht, dass christliche Mission unter hochkultivierten Völkern wie in Indien oder China nur möglich sei, wenn sich die Missionare den Menschen, unter denen sie sich bewegten, anpassten. Das begann mit dem Erlernen und der Verwendung der Landessprache und reichte über Kleidung, Verhalten im Alltag, Ernährungsweise und Gewohnheiten bis zu theologischen Fragen. Man nennt das Akkommodation (lat. accommodo anpassen). Darunter versteht man in der Theologie allgemein die Integration eigener, moderner oder abweichender Auffassungen in herkömmliche religiöse Sprache oder kirchliche Lehraussagen. Auch im europäischen Christentum gibt es solche Akkomodationen. In der katholischen Missionspraxis war Akkommodation darüber hinaus Anpassung der Inhalte der Verkündigung und damit der christlichen Glaubenslehre an die jeweilige Kultur. In Ostasien standen die Missionare z. B. vor dem Problem, den christlichen Auferstehungsglauben Menschen erklären zu müssen, die in der buddhistischen Vorstellung des Hervorwachsens eines neuen Wesens aus dem Karma eines Verstorbenen lebten. Franz Xaver bediente sich der Akkommodation in der Missionspraxis. Weiter ging der italienische Jesuit Roberto de Nobili, der 1604 nach Indien kam und dort durch Misserfolge erkannte, dass die Übertragung europäischer Formen und Einrichtungen in den alten Hochkulturen des Ostens das Christentum um jede nennenswerte Missionshoffnung bringen würde. Er passte sich der Lebensweise der Hindus an, studierte Tamil, Telugu und Sanskrit, kleidete sich wie ein frommer Hindu und erlaubte den von ihm Getauften, als Christen hinduistische Gewohnheiten beizubehalten, wenn diese nur irgendwie mit dem christlichen Glauben vereinbar waren. Nobili hatte damit besonders unter den Brahmanen, die bis dahin das Christentum abgelehnt hatten, Erfolg. Insgesamt verbreitete sich das Christentum in Indien aber nur sehr langsam. Der Katholizismus beschränkte sich im Wesentlichen auf die südindischen Küstengebiete.
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Chinamission der Jesuiten und Ritenstreit Die Akkommodation wurde besonders wichtig in der Chinamission. 1580 erhielt der italienische Jesuit Michele Ruggieri die Erlaubnis zur Einreise in das bis dahin hermetisch verschlossene China. Er reiste 1583 mit dem ebenfalls aus Italien stammenden Jesuiten Matteo Ricci nach Peking, wobei beide als buddhistische Mönche gekleidet waren. Sie verfolgten den Grundsatz, die Sitten und Gebräuche Chinas zu übernehmen, soweit sie nicht eindeutig der katholischen Religion und Moral widersprachen. Ricci, der in China den chinesischen Namen Li Madou annahm, wurde nicht nur der bedeutendste Chinamissionar des Jesuitenordens, sondern auch der wichtigste Vertreter der Akkommodation. Ricci verfügte über außergewöhnliche Sprachbegabung, so dass chinesische Gelehrte in Peking, wo er seit 1601 lebte, über das Ausmaß seiner Kenntnis des Chinesischen staunten. Er lernte die klassischen Texte des Konfuzianismus auswendig und bezog sie in seine Missionstätigkeit ein. Er trug nicht nur chinesische Kleidung, sondern bald das Gewand eines konfuzianischen Gelehrten und war überzeugt, dass das Christentum bei den politisch oder kulturell führenden Schichten Chinas ohne weitestgehende Anpassung an den Konfuzianismus keine Anerkennung finden werde. Ricci nutzte seine umfassende Kenntnis des Konfuzianismus, um den katholischen Glauben mit chinesischen Riten verbinden und verschmelzen zu können. So entwickelte er die Chinesischen Riten. Er integrierte den im Konfuzianismus ebenso wie im Buddhismus und im japanischen Shintoismus üblichen Ahnenkult als Chinesischen Ritus in den Katholizismus und erlaubte sogar Zeremonien zur Verehrung des Konfuzius. So wurde es möglich, dass es 1600 in ganz China rund 400, 1605 allein in der Hauptstadt Peking aber schon etwa 2.000 Christen gab;251 1636 soll deren Zahl in ganz China bei 38.200 gelegen haben,252 die von Jesuiten aus Portugal und Frankreich betreut wurden. Nachdem Ricci 1610 in Peking gestorben war − ab 1619 war der Kölner Jesuit Johann Adam Schall von Bell einer seiner Nachfolger −, hielten viele Jesuiten in der China-Mission an seinen Methoden fest und entwickelten Formen der kulturellen Anpassung des Katholizismus an den Konfuzianismus. 1621 erlaubte Paul V. die Zelebration der hl. Messe in chinesischer Sprache und Annäherungen an rituelle Formen des Konfuzianismus. Die Akkommodation führte jedoch seit 1632 in den Ritenstreit. Es ging darum, inwieweit sich die Missionare nicht christlichen Gebräuchen und Religionsformen anpassen durften. Im Mittelpunkt standen der von Ricci zugestandene Ahnenkult und die Verehrung des Konfuzius. Der Streit wurde zunächst intern unter den Jesuiten in China ausgetragen, nachdem Riccis Nachfolger als Oberer der Jesuitenmission in Peking, der Jesuit Niccolò Longobardi, als Vertreter der akkommodationskritischen Richtung die nach der päpstlichen Erlaubnis von 1621 eingeführten neuen chinesischen Messrituale zu verdrängen suchte. Seit 1632 kamen zusätzlich zu den Jesuiten auch Dominikaner, Franziskaner, Lazaristen und Weltpriester des Séminaire des Missions Étrangères in Paris als Missionare nach China, die in der Akkommodation eine Zersetzung des katholischen
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Glaubens sahen. Mehrere Päpste und zwei nach China gesandte päpstliche Legaten fällten Entscheidungen gegen die Jesuiten, bis Benedikt XIV. die Chinesischen Riten 1742 durch die Bulle Ex quo verbot. Erst 1939 wurde der seitdem von den Missionaren verlangte Riteneid abgeschafft. Denselben Ritenstreit gab es in Indien wegen der dort seit Franz Xaver und Nobili herrschenden Akkommodation. Auch in Indien entschied Benedikt XIV. − mit der Bulle Omnium sollicitudinum von 1744 − gegen die Jesuiten und die Akkomodation, was erst Pius XII. 1940 zurücknahm. Das große Martyrium in Japan Japan wurde von den Portugiesen entdeckt, als 1542/43 ein portugiesisches Schiff auf dem Weg von Macao nach Siam, heute Thailand, in einen Taifun geriet und im japanischen Archipel strandete. 1548/49 versuchten die Portugiesen, Handelsbeziehungen mit Japan aufzunehmen. Auch Franz Xaver wurde nur durch Zufall auf die Existenz Japans aufmerksam, als er in Malakka drei Japanern begegnete. Mit ihnen reiste er 1549 nach Japan, wo er in Kagoshima auf der südlichen Insel Kyushu, auf der Nagasaki liegt, landete. Japan befand sich in der Muromachi-Zeit, benannt nach dem Viertel Muromachi der damaligen Hauptstadt Kyoto, wo der Shogun residierte, eine Art Reichsfeldherr und politisch die wichtigste Gestalt neben dem machtlosen Kaiser (Tenno) in Heiankyo, einem anderen Teil von Kyoto. Aber auch die Macht des Shoguns war begrenzt, weil Japan in eine Vielzahl feudaler Herrschaftsgebiete zerfallen war, deren Fürsten Daimyô hießen. Franz Xaver geriet in Japan in die Situation der sich bekriegenden Daimyôs unter dem Shogunat und dem machtlosen Tenno. Diese Zeit endete, als die Feldherren Oda Nobunaga, Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa Ieyasu 1573 die Macht an sich rissen und das Shogunat abschafften, aber auch gegeneinander kämpften, bis Tokugawa Ieyasu die Macht erringen und sich 1603 vom Tenno zum neuen Shogun ernennen lassen konnte und seinen Sitz nach Edo, dem heutigen Tokyo, verlegte. Damit begann die Tokugawa-Zeit, die von 1603 bis 1867 andauerte. Franz Xaver bediente sich auch in Japan der Akkommodation und suchte und fand das Gespräch mit buddhistischen Mönchen, kehrte aber 1552 nach Goa zurück. Er hinterließ den Jesuiten Cosme de Torres, der bald in dem 1552 nach Japan gekommenen Jesuiten Balthasar Gago einen Mitbruder fand. 1555 entschieden beide in Kagoshima, japanische Entsprechungen für christliche Glaubensbegriffe zu vermeiden und stattdessen die lateinischen Begriffe in japanischen Schriftzeichen wiederzugeben. Das war eine Entscheidung gegen die Akkommodation. Wie bei der Christianisierung der Germanen im Europa des Frühmittelalters, so kam auch in Japan der Bekehrung von Fürsten und Adel besondere Bedeutung zu. 1563 konnten die Jesuiten den ersten japanischen Adeligen taufen: Omura Sumitada. Andere Adelige, Daimyôs und Samurai, folgten, was auch Übertritte einfacher Leute zum Christentum nach sich zog. 1570 soll es 20.000 bis 30.000
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Christen in Japan gegeben haben;253 1588 wurde das erste Bistum auf japanischem Boden gegründet − in Funay auf der Südinsel Kyushu, die eines der beiden Hauptverbreitungsgebiete der Christen in Japan bildete; das andere war die Gegend um Kyoto auf der Hauptinsel Honshu. Besonders wichtig wurde Nagasaki, das die Jesuiten 1568 als kleines Fischerdorf vorfanden und aus dem zwischen 1575 und 1580 eine bedeutende Hafenstadt wurde, die von portugiesischen Schiffen angelaufen wurde. Nagasaki wurde den Jesuiten zur Verwaltung übergeben und ein Zentrum des Katholizismus. Doch dauerte das nur wenige Jahre. 1587 griff Toyotomi Hideyoshi in die Machtverhältnisse auf Kyushu ein und machte der Verwaltung der Jesuiten in Nagasaki ein Ende. Damit begann der erste Akt der Vernichtung des japanischen Katholizismus, was gleichbedeutend war mit der Vernichtung des japanischen Christentums, weil noch kein Protestant oder Anglikaner für einen längeren Aufenthalt nach Japan gekommen war. Am 25. Juli 1587, dem Festtag des spanischen Nationalheiligen Jakobus, erließ Toyotomi Hideyoshi ein Edikt, mit dem der christliche Gottesdienst verboten und alle Missionare zum Verlassen Japans binnen 20 Tagen aufgefordert wurden. Das Edikt hatte noch keine konkreten Folgen. Am 8. Dezember 1596, dem damals von Portugiesen und Spaniern bereits begangenen Festtag der Unbefleckten Empfängnis Mariens, wurden Priester und Laien in Kyoto unmittelbar nach der hl. Messe verhaftet, nach Nagasaki verschleppt und dort am 5. Februar 1597 gekreuzigt. Getötet wurden sechs Franziskaner, drei Jesuiten und 17 Laien, zusammen 26 Personen. Das jüngste Opfer war erst zwölf Jahre alt. Unter den Gekreuzigten war Paul Miki, ein getaufter Japaner und der erste japanische Jesuit. Paul Miki wurde 1862 gemeinsam mit den anderen Opfern heiliggesprochen. Tokugawa Ieyasu, der Begründer der Tokugawa-Shogunendynastie, war den Christen weniger feindlich gesonnen als Toyotomi Hideyoshi. Dennoch erließ er zu Beginn seiner Herrschaft ein generelles Verbot der Taufe für den Adel Japans. 1602, als auch Dominikaner und Augustiner-Eremiten nach Japan kamen, drohte er mit einem völligen Verbot des Christentums. 1613 ließ sein Sohn, der Shogun Tokugawa Hidetada, in Edo 28 Christen enthaupten. In demselben Jahr entschloss sich Tokugawa Ieyasu, das Christentum in Japan zu vernichten. Den Christen wurde befohlen, sich in einem buddhistischen Tempel als Buddhisten registrieren zu lassen. 1622 folgte das große Martyrium von Nagasaki mit der Hinrichtung von 45 Christen, wobei die Priester verbrannt und die Laien, darunter Kinder, enthauptet wurden. 1623 trat der dritte Tokugawa-Shogun, Iemitsu, das Shogunat an. In Edo ließ er 50 Christen auf schwachem Feuer lebendig rösten und dadurch langsam töten. Der Höhepunkt der japanischen Christenverfolgung kam 1637/38 auf der fast nur von japanischen Christen bewohnten Halbinsel Shimabara der Insel Kyushu. Mehr als 30.000 starben hier eines gewaltsamen Todes.254 Die Gründe für die Christenverfolgung im Japan des 16. und 17. Jahrhunderts, mit denen das Christentum bis auf einen kleinen Rest von Geheimkatho-
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liken auf den japanischen Inseln ausgelöscht wurde und bis nach 1863 ausgelöscht blieb, sind bis heute nicht klar. Eine Erklärung lautet, die japanische Kultur sei so tolerant gewesen, dass sie den Absolutheitsanspruch des Christentums nicht habe dulden können. Die innere Geschichte Japans im 16. Jahrhundert spricht dagegen. Größere Wahrscheinlichkeit könnte die Erklärung haben, nach der die japanischen Eliten, soweit sie nicht Christen geworden waren, sich von den Europäern bedroht sahen und deshalb das Christentum als Inbegriff des Europäertums ausrotteten. Portugal stellte aber auch als Kolonialmacht keine Bedrohung für Japan dar, wie das portugiesische Vorgehen in China zeigt. Anders könnte es mit Spanien ausgesehen haben, mit dem Portugal von 1580 bis 1640 vereinigt war. Die Shogune in Japan waren nicht nur über die Ausdehnung des spanischen Weltreichs einigermaßen im Bilde, sondern auch über die grausamen Eroberungen Spaniens in Hispanoamerika. Die Informationsquelle scheinen niederländische oder englische Seeleute gewesen zu sein, mit denen Japaner vereinzelt in Kontakt kamen. 1613 reiste eine spanische Gesandtschaft von Japan aus über den Pazifik, Mexiko und den Atlantik an den Hof des Königs von Spanien in Madrid. Aber diese Erklärung der japanischen Christenverfolgung befriedigt nicht. Auch die Angst der Japaner vor religiöser Überfremdung scheidet aus. Seit mehr als 1000 Jahren gab es auf den japanischen Inseln Einwanderungen aus China und Korea, die fremde Religionen mitbrachten. Auch der Buddhismus war in Japan ursprünglich eine fremde Religion. Alle diese Religionen waren eingeschmolzen worden in den japanischen Religionssynkretismus um die Göttin Amaterusa, die Ahnfrau der Kaiser, und die anderen Götter des alten Japan. Der entscheidende Grund für die Christenverfolgung dürfte der gewesen sein, dass die ersten Shogune der Tokugawa-Dynastie keine religiöse Minderheit im Lande dulden zu können meinten, die die Shogun-Herrschaft nicht als höchste Autorität akzeptierte, sondern für die Gott diese höchste Autorität war. Das wäre derselbe Gegensatz gewesen wie der zwischen den Christen und den römischen Kaisern im antiken römischen Reich, bevor Kaiser Konstantin Christ wurde. So sah das 16. Jahrhundert nebeneinander die Grausamkeiten der spanischen Conquista in Hispanoamerika und die Grausamkeiten der japanischen Christenverfolgung in Nagasaki. Die Anfänge der protestantischen Mission Die Täter in Hispanoamerika und die Opfer in Japan waren katholisch. Wo waren die Protestanten? Es gab auf evangelischer Seite keinen Dominikaner-, keinen Franziskaner- und keinen Jesuitenorden. Die Gründung kolonialer Niederlassungen der Engländer, der Niederländer oder der Dänen setzte später ein als die der Portugiesen oder Spanier. Im anglikanischen England, in den reformierten Niederlanden und im lutherischen Dänemark bediente man sich der Organisationsform der Missionsgesellschaft. Diese Missionsgesellschaften wurzelten in England im Puritanismus.
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Die älteste Missionsgesellschaft Englands entstand 1649 mit der Society for the Propagation of the Gospel in New-England zur Unterstützung der von John Eliot betriebenen Indianermission in Nordamerika. Die älteste deutsche Missionsgesellschaft, die Dänisch-hallesche Missionsgesellschaft, wurde erst 1706 gegründet, die Basler Mission folge 1815.
Das orthodoxe Europa Orthodoxe Kirchen und Patriarchate des Ostens Nach einem im Westen Europas unter Katholiken und Protestenten häufig anzutreffenden Missverständnis gibt es eine orthodoxe Kirche, die auch als griechischorthodoxe Kirche bezeichnet wird. Tatsächlich gibt es mehrere Kirchen, die sich selbst orthodox (griech. Ñrqîj richtig und dÒxa Meinung) nennen. Mit Ephrem Eising255 lassen sich die Orthodoxen Kirchen der Zwei Konzilien, die die Beschlüsse des III. Ökumenischen Konzils von Ephesus von 431 nicht anerkannten, die Orthodoxen Kirchen der Drei Konzilien, die die Beschlüsse des IV. Ökumenischen Konzils von Chalkedon von 451 nicht akzeptierten, und die Orthodoxen Kirchen der Sieben Konzilien unterscheiden, die die Konzilsbeschlüsse bis zu denen des VII. Ökumenischen Konzils von Nicaea von 787 annahmen und gewöhnlich − im Singular − Orthodoxe Kirche oder Ostkirche genannt werden. Zur ersten Gruppe gehören die Ostsyrische oder Nestorianische Kirche mit dem Katholikos-Patriarchen und dem offiziellen Sitz in Teheran an der Spitze, zur zweiten u. a. die Syrische, die Koptische und die Äthiopische Orthodoxe Kirche und die Armenische Apostolische Kirche. Die dritte Gruppe, also die Orthodoxe Kirche im engeren Sinne oder die Ostkirche, ist die aus der byzantinischen Reichskirche hervorgegange Gemeinschaft von Kirchen unter dem Ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel-Istanbul als nominellem Oberhaupt. Dazu gehören u. a. die orthodoxen Kirchen Griechenlands, Russlands, Bulgariens, Serbiens und Rumäniens, aber auch Zyperns und Georgiens sowie anderer Länder. Hinzu kommen die unierten orthodoxen Kirchen, vor allem die aus der Union von Brest von 1596 hervorgegangene, mit Rom vereinigte Kirche. Charakteristisch ist im Bereich des Ökumenischen Patriarchats die Verwendung des frühbyzantinischen Griechischen als Liturgiesprache, dem in den orthodoxen Kirchen Russlands, der Ukraine, Bulgariens oder Serbiens das Kirchenslavische, im Bereich des Patriarchats Antiochia das Arabische und in der Kirche von Georgien ein älteres Georgisch gegenüberstehen. Charakteristisch sind die Bilderverehrung und die Bildertheologie, die Ikonostase (Bilderwand) im Kirchenraum, die Priesterehe, die Kirchenmusik als reine Vokalmusik ohne Orgel oder andere Instrumente und das sich asketisch oder prophetisch verstehende Mönchtum, das über große Klöster verfügt, aber keine Orden kennt und aus dessen Reihen die zölibatär lebenden Bischöfe hervorgehen, wobei es auch ostkirchliche Frauenklöster gibt. Charakteristisch für die Ostkirche ist auch der Patriarchentitel, seit Bischof Gennadius von Konstantinopel diesen Titel 458/59 erstmals gebrauchte. Auch
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die römisch-katholische Kirche kennt den Patriarchentitel, aber − abgesehen von den mit Rom unierten orthodoxen Kirchen − nur als Ehrentitel für bestimmte Erzbistümer. Hingegen ist die Patriarchalstruktur ein Wesenselement der Ostkirche. Seit der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts kannte man die fünf Patriarchen der Pentarchie. Das waren Rom, Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem. Davon bildeten Konstantinopel, Alexandria (Ägypten), Antiochia (Antakya an der türkischen Mittelmeerküste nahe der syrischen Grenze) und Jerusalem die Patriarchate des Ostens. Mit der Gründung nationaler Patriarchate in Bulgarien und Serbien, mit dem 1589 etablierten Patriarchat Moskau sowie mit den Patriarchatsgründungen des 19. und 20. Jahrhunderts kamen weitere Patriarchate hinzu. Die autokephale russisch-orthodoxe Kirche Die orthodoxen Kirchen bestanden − und bestehen − großenteils außerhalb Europas und gingen auch nicht, wie die katholische Kirche Hispanoamerikas, von Europa aus. In Europa ist die russisch-orthodoxe Kirche die einzige nicht unierte große orthodoxe Kirche, die niemals türkisch beherrscht war und zu keinem Zeitpunkt der muslimischen Religionsgesetzgebung des Osmanischen Reiches unterstand. 1448, noch vor dem Fall von Konstantinopel, hatte sich die russische Kirche als autokephale (griech. aÙtÒj selbst und » kefal» das Haupt) orthodoxe Kirche von Konstantinopel getrennt, indem die russischen Bischöfe einen der ihren, den Bischof Iona von Rjazan’, zum Metropoliten von Kiev und ganz Russland mit dem Sitz in Moskau wählten. Dahinter standen das Unionskonzil von Ferrara-Florenz und das Florentinum von 1439, dessen Scheitern nicht zuletzt an Russland und an Großfürst Vasilij II. Vasil’evič von Moskau lag. Nach dem Fall von Konstantinopel 1453 war man in Russland geneigt, das orthodoxe Russland als letztes rechtgläubiges Staatswesen und als letztes Bollwerk gegen Irrlehre und Häresie zu sehen. Die Lehre von Moskau als Drittem Rom wurde schon erwähnt. In die Zeit des Metropoliten Iona fiel aber auch die kirchliche Trennung der politisch zum Großfürstentum Litauen gehörenden Ukraine von Moskau, indem 1458 in Kiev mit dem Protodiakon Grigorij als erstem Metropoliten eine eigene Metropolie entstand. Ionas Nachfolger als Metropoliten von Kiev und ganz Russland − dieser Titel wurde von den Moskauer Metropoliten auch nach 1458 beibehalten − waren von 1461 bis 1464 der Metropolit Feodosij und von 1464 bis 1473 der Metropolit Filipp I. Unter dem Metropoliten Gerontij, der bis 1489 amtierte, errichtete der Bologneser Baumeister Aristotele (Rodolfo) di Fioravante zwischen 1467 und 1479 den Uspenskij Sobor (Mariae-Himmelfahrts-Kathedrale) des Kreml’, die Metropoliten und Patriarchen als Grablege und den Caren als Krönungsstätte diente. In dieser Zeit verbreiteten sich in Russland häretische Bewegungen, deren Lehren und deren Ursprünge bis heute kaum geklärt sind, so die radikal-antiklerika-
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len Strigol’niki, die vielleicht späte Ableger der seit dem hohen Mittelalter vor allem bei den Südslaven aufgetretenen Bogomilen waren, und nach ihnen die radikal-kirchenfeindlichen Judaisierenden oder russisch die Židovstvujuščie − die Bezeichnung stammt von ihrem Gegner Iosif, dem Abt des Klosters Volokolamsk −, die aber in ersten Kreisen der Moskauer Hofgesellschaft Anhänger fanden, darunter der D’jak (Staatssekretär) des Posol’skij Prikaz (Außenministerium). Selbst der Metropolit Zosima, im Amt von 1490 bis 1494, entpuppte sich als geheimer Anhänger der Judaisierenden. Auf Zosima folgte der Metropolit Simon und auf diesen 1511 der Metropolit Varlaam, der der Armutsbewegung der nestjažateli um den Klosterreformer Nil Sorskij nahestand. Diese Bewegung verlangte den Verzicht auf den ausgedehnten kirchlichen und vor allem klösterlichen Grundbesitz. Von 1521 bis 1539 waren Daniel und von 1539 bis 1542 Ioasaf Metropolit. Beide wurden aus politischen Gründen verbannt. In dieser Zeit machten sich in Russland auch Einflüsse der Reformation bemerkbar. Unter dem 1563 gestorbenen Metropoliten Makarij, der seit 1542 an der Spitze der russischen Kirche stand, fand 1551 die Hundert-Kapitel-Synode statt, die eine Kirchenreform bewirken sollte, aber wenig erreichte. Sein Nachfolger seit 1564, der Metropolit Afanasij, entzog sich der zunehmenden Terrorherrschaft der Opričnina Ivans IV. Groznyj, indem er 1566 auf sein Amt verzichtete und sich in ein Kloster zurückzog. Sein Nachfolger als Metropolit wurde der Abt des Soloveckij-Klosters auf einer Insel im Weißen Meer, Filipp. Sein Protest gegen die Gewaltmaßnahmen der Opričnina führte 1568 zu seiner Verbannung in ein Kloster in Tver’, wo der 1636 als Märtyrer heiliggesprochene Metropolit 1569 von dem Opričnik Maljuta Skuratov erdrosselt wurde. Von seinen Nachfolgern Antonij und Dionisij wurde der Metropolit Dionisij 1586 − nach dem Tod des 1584 gestorbenen Ivan IV. Groznyj und schon unter dem Caren Fedor Ivanovič − in die Verbannung geschickt. 1586 bestieg mit Erzbischof Iov von Rostov der letzte Metropolit und erste Patriarch von Moskau den Metropolitenstuhl. Das Moskauer Patriarchat 1589 wurde der Metropolit Iov zum Patriarchen von Moskau und ganz Russland, wie der Titel von nun an lautete, erhoben − ein Akt, dem Verhandlungen mit den Patriarchen des Ostens voraufgingen. 1586 kam Patriarch Ioachim V. von Antiochia nach Moskau, 1588 der Ökumenische Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel. Die Einrichtung des Patriarchats von Moskau war der kirchliche Nachvollzug der Lehre von Moskau als dem Dritten Rom und zugleich die ekklesiale Ergänzung des imperialen Carentitels (griech. Ka‹sar, lat. Caesar), den Ivan IV. Groznyj 1547 in einer Carenkrönung angenommen und den sein Vater Vasilij III. Ivanovič schon seit 1518 geführt hatte − der Kaisertitel (Imperator) Peters des Großen von 1721 war nichts anderes als die lateinische Übersetzung des Carentitels. „Zur Kaiserstadt, zur Kaiserwürde gehörte als entsprechende kirchliche Würde nicht nur ein
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einfacher Metropolit. An der Seite eines Kaisers mußte auch ein Patriarch stehen.“256 Der Zusammenhang zwischen der Errichtung des Patriarchats von Moskau von 1589 und der Union von Brest von 1596 in Polen-Litauen wurde schon erörtert. Nach dem Tod Iovs 1605 wurde Erzbischof Ignatij von Rjazan’, ein geborener Grieche, Patriarch von Moskau und ganz Russland. In demselben Jahr starb Boris Godunov, der seit 1598 als Nachfolger des letzten Rjurikiden-Caren in Moskau regierte. Damit begann die smuta (Zeit der Wirren), in der Polen und Schweden in Russland eingriffen und die Stadt Moskau von polnischen Truppen besetzt wurde. Auch die Kirche und die Patriarchen persönlich wurden in die Wirren hineingezogen. Patriarch Ignatij verbrachte fünf Jahre als Gefangener im ČudovKloster. Sein Nachfolger seit 1606, der Patriarch Jermogen, starb 1612 im Kerker. Danach trat eine zwölfjährige Vakanz im Patriarchenamt ein. 1619 stellte Filaret (Fedor Nikitič) Romanov, der Vater des seit 1613 herrschenden Caren Michail Fedorovič Romanov, als Patriarch von Moskau und ganz Russland das Patriarchenamt wieder her. Er sorgte für den Buchdruck, die Revision der liturgischen Bücher und die Einrichtung geistlicher Schulen und wirkte in starkem Maße politisch zur Stabilisierung der jungen Romanov-Herrschaft. Auch sein Nachfolger seit 1634, Ioasaf, war liturgisch interessiert und bemühte sich um den Druck liturgischer Bücher. Nachfolger seines Nachfolgers Iosif wurde 1652 der Patriarch Nikon (Nikita Minič), der zuvor Archimandrit des Moskauer Novospaskij-Klosters und Metropolit von Novgorod gewesen war. Nikon kam aus einem tiefreligiösen Kreis um den Beichtvater des seit 1645 herrschenden und selbst dieser Richtung zugetanen jungen Caren Aleksej Michailovič, Stepan Vonifat’ev, dem auch der Protopope Avvakum angehörte. In diesem Kreis suchte man nach Wegen zu liturgischen Reformen. So wollte man die der Andacht abträgliche Mnogoglasie, das Vieltönen, das durch Verkürzung der langen griechisch-orthodoxen Liturgie entstanden und schon 1551 von der Hundert-Kapitel-Synode verurteilt worden war, beseitigen. Nikon, auf Wunsch des Caren Patriarch geworden, vertrat den Gedanken des Primats der geistlichen gegenüber der weltlichen Gewalt und machte sich damit den Caren zum Gegner. 1658 kam der Bruch, in dessen Folge sich Nikon aus Moskau und von seinem Amt zurückziehen musste, bevor ihn das Moskauer Konzil von 1666 endgültig absetzte und in das Ferapont-Kloster verbannte, nachdem er sich seit 1660 der Absetzung widersetzt hatte. Von seinen Nachfolgern seit 1667 − Ioasaf II., Pitirim und Ioakim − vertrat der seit 1674 amtierende Patriarch Ioakim ähnliche Vorstellungen über den Primat des geistlichen Amtes wie Nikon, wenn auch in moderaterer Form. In der Zeit Ioakims entstand in Moskau 1687 die Slavisch-Griechisch-Lateinische Akademie als theologische Hochschule der russisch-orthodoxen Kirche. Schon Simeon von Polock, der an der Akademie von Kiev und am Jesuitenkolleg von Wilna studiert hatte und 1667 Lehrer der beiden ältesten Kinder des Caren Aleksej, Sofija und Fedor − die jüngeren waren Ivan V. und Peter I. −, wurde, hatte an eine geistliche Hochschule in Moskau nach dem Vorbild von Kiev gedacht. Sein
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Schüler Silvester Medvedev konnte diese Pläne mit Unterstützung der Regentin Sofija, die nach dem Tod ihres Bruders Fedor 1682 die Herrschaft übernommen hatte, voranbringen. Bald aber traten Gegner der lateinischen − westlichen − Bildung auf, unter deren Einfluss die Akademie 1687 eröffnet wurde, während Medvedev nach dem Sturz Sofijas sein Leben 1691 als Hinrichtungsopfer beendete. In diesem Gegensatz zwischen lateinischer Bildung und Altrussentum − und im Schisma des Raskol’ − lagen die Anfänge des später in Russland so wichtigen Gegensatzes zwischen Westlern und Slavophilen. Ioakims Nachfolger seit 1690, Patriarch Adrian, war für 217 Jahre der letzte Moskauer Patriarch. Nach seinem Tod 1700 hob Peter I., der Große, 1700 das Patriarchenamt auf und ersetzte es durch den Svjatejšij Sinod (Allerheiligster Synod) als staatliche Kirchenbehörde. Erst 1917 wurde das Moskauer Patriarchat wiederhergestellt. Die Raskol’niki Nikon suchte als Patriarch liturgische Reformen durchzusetzen, die über die von ihm einst geteilten Zielsetzungen des Vonifat’ev-Kreises hinausgingen, und Korrekturen an liturgischen Texten durchzusetzen, womit er unter griechischem Einfluss stand und in humanistischer Manier zu den griechischen Quellen der Liturgie zurückkehren wollte. Dazu gehörten Dinge wie die Verwendung von drei statt zwei Fingern bei der Bekreuzigung oder das Singen eines dreifachen statt eines zweifachen Halleluja. Doch stand dahinter auch die politische Wiedervereinigung der bis dahin zum Großfürstentum Litauen und damit zum polnisch-litauischen Doppelreich gehörenden Ukraine mit Russland. 1648 war durch den Aufstand des Kosakenhetmans Bogdan Chmielnicki (Bohdan Chmel’nyc’kyj) ein unabhängiger ukrainischer Kosaken- oder Hetmanstaat entstanden, der sich 1654 dem Schutz des Caren in Moskau unterstellte. Das ließ Nikon an liturgische Vereinheitlichungen der Orthodoxen in Russland und in der Ukraine bzw. der russischen, im Wesentlichen auf ältere Überlieferungen und auf die Hundert-Kapitel-Synode zurückgehenden, und der in der Ukraine gebräuchlichen griechischen Liturgie denken, worin er von dem inzwischen machtpolitisch denkenden Caren Aleksej unterstützt wurde. So stand der Car auch noch hinter Nikon, als dieser auf Synoden der Jahre 1653, 1654 und 1656 die Zustimmung zu seinen liturgischen Reformen erhielt und deren Gegner mit schweren Kirchenstrafen belegte. Diese Gegner widersetzten sich seiner Graekophilie, was auch Züge national-russischer Selbstbehauptung gegen vermeintliche Überfremdung trug − vermeintlich, weil die Nikon’sche Reform eigentlich Rückkehr zu den altrussischen Formen war. 1660, nach dem Bruch mit dem Caren, wurde Nikon von einer russischen Bischofssynode für abgesetzt erklärt. Zur Synode von 1666 reisten der Patriarch Paisios von Alexandria und der Patriarch Makarios von Antiochia nach Moskau. Sie bestätigten auf Betreiben des
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Caren im Dezember 1666 die Absetzung Nikons, der die Liturgiereform zur Glaubensfrage erhoben hatte. Dennoch wurde Nikons Werk, die liturgische Reform, von Car Aleksej und den beiden Vertretern der Patriarchen des Ostens auf der Moskauer Synode von 1667 bestätigt. Die beiden orientalischen Patriarchen sprachen das Anathema (Bannfluch) über die Anhänger des Altritualismus aus. Daraus entstand das Schisma der Altgläubigen oder Raskol‘niki (russ. raskolot’ spalten, entzweien) unter den Protopopen Avvakum. Das Ergebnis des Konfliktes um Nikons Verständnis des Verhältnisses von Kirche und Staat und seiner Liturgiereform war der volle und von den Patriarchen von Alexandria und Antiochia bestätigte Sieg des Staates über die Kirche und zugleich deren Spaltung in die Staatskirche des Caren und die Untergrundkirche des Raskol’, womit die Kirche in Russland schon in vorpetrinischer Zeit viel Glaubwürdigkeit und Vertrauen einbüßte. „Den Raskol’, die Spaltung, zu verhindern, war es [1666/67] zu spät. Man erzeugte nur dem Altgläubigentum Märtyrer in großer Zahl. Avvakum, der Priester und Märtyrer, der am 14. April 1682 in Pustozersk den Scheiterhaufen besteigen mußte, wurde zum Heiligen und Kirchenvater des Raskol’. Zu dieser Zeit hatte das Altgläubigentum aber bereits tiefe Wurzeln im russischen Volk geschlagen und an Symbolen heroischer Standhaftigkeit keinen Mangel. Neun Jahre (1667-1676) leisteten die Mönche des SoloveckijKlosters im Weißen Meer den Belagerungstruppen Widerstand, und erschütternd häufig waren die Fälle, da Altgläubige sich lieber selbst verbrannten, als mit dem Reich des Antichristen, der Nikonschen Staatskirche, ihren Frieden zu machen.“257
Was war alt und was war Glaube bei den Altgläubigen? Und gab es irgendeine Parallele zu den Kirchenreformbestrebungen des 15. Jahrhunderts im Westen oder zur Reformation Luthers? Eine mögliche Antwort gibt Dmitrij Tschižewskij: „Der gemeinsame Boden, auf dem die Reformanhänger wie die Verfechter des alten Glaubens (man spricht von Glauben, wo man eigentlich nur von Kirchenordnungen sprechen sollte) standen, war die rituelle Frömmigkeit [...]. Beide Parteien wurden in ihrem gegenseitigen Kampf von einem gewissen Pathos der Altertümlichkeit ergriffen. Man war aufrichtig bestrebt, das Altchristliche zu erneuern (so die Reformer) oder zu bewahren (so die Altgläubigen). [...] Vergessen wir nicht, dass das Bestreben, den altchristlichen Glauben und das christliche Leben wiederherzustellen, auch das Anliegen der Reformation, ja, auch der hussitischen Vorreformation war! Das Verhängnis der russischen Reform und des Widerstandes gegen sie lag nur darin, dass man, erstens, nicht die wahre Frömmigkeit, sondern ausschließlich Kirchenordnungen im Auge hatte und so keineswegs zum echten Urchristentum vordringen konnte [...], und zweitens, dass man [...] unmöglich das wirklich Alte ins Blickfeld der beiden Parteien hätte bringen können. [...] Die Reformer kämpften meist nur für die neue griechische Ordnung (bestenfalls für die spätbyzantinische Tradition), die Altgläubigen für die Moskauer Ideologie und die Beschlüsse der Moskauer Konzile des 16. Jahrhunderts.“258
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Das Schisma des Raskol’ besteht bis heute. Im kaiserlichen Russland bis zur Duldung durch das Toleranzmanifest Nikolaus’ II. von 1905 zeitweise schärfstens verfolgt und in der Zeit der Sowjetunion bis 1987 durch den Staatsatheismus schwer bedrängt, seit der Hinrichtung Avvakums und bis zum Übertritt des russisch-orthodoxen Erzbischofs von Saratov zum Altgläubigentum 1923 ohne Bischöfe und geweihte Priester, haben die Raskol’niki heute eine eigene bischöfliche Hierarchie.
Staatensystem und europäische Politik 1559–1648/59 Das Ende des habsburgischen Universalreiches Der wichtigste Herrscherwechsel des 16. Jahrhunderts wurde vom Rücktritt Karls V. ausgelöst. Das war keine Familienangelegenheit, sondern die Spaltung des habsburgischen Universalreichs. Zwar war die Teilung des Hauses Habsburg und die Auflösung der Universalmonarchie schon von dem Teilungsvertrag von Brüssel von 1522 vorweggenommen und durch den Burgundischen Vertrag von 1548 verstärkt worden, doch hatte Karl V. 1551 den Versuch unternommen, die Nachfolge in der Kaiserwürde seinem Sohn Philipp II. zuzuwenden, und dazu einen Vertrag über die spanische Sukzession geschlossen. Mit diesen Plänen war es seit seiner Niederlage im Fürstenkrieg von 1552 vorbei. Aber auch nach dem Ende des Universalreichs blieb Spanien politisch der beherrschende Faktor Westeuropas. Doch stand Frankreich von jetzt an, wie bald auch England, gleichrangig neben Spanien, auch wenn das Übergewicht Spaniens in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch die Bürgerkriege in Frankreich befestigt wurde. Diese Mächtekonstellation zeigte sich mit dem Frieden von Cateau-Cambrésis, mit dem die Vorherrschaft Spaniens in Italien 1559 bestätigt, aber zugleich das Ende des habsburgischen Universalreiches besiegelt wurde. Die drei Konfliktzonen der europäischen Politik Die Jahrzehnte nach dem Frieden von Cateau-Cambrésis waren in der internationalen Politik durch das Nebeneinander dreier sich gegenseitig beeinflussender Hauptkonfliktzonen bestimmt. In der westeuropäischen Konfliktzone ging der über 1559 hinaus fortbestehende spanisch-französische Gegensatz zeitweilig in den spanischenglischen Antagonismus über. Die zweite Konfliktzone lässt sich in zwei weit auseinanderliegenden Räumen lokalisieren, nämlich in Ungarn und im Mittelmeer. Hier gab es die Konfrontation Österreichs und Spaniens mit dem Osmanischen Reich und mit den muslimischen Völkern Nordafrikas. Die dritte Konfliktzone bildeten die Ostsee und die baltischen Länder. Beteiligt waren am Kampf um das Dominium maris baltici Dänemark, Schweden, Polen-Litauen und Russland. Spanien – Frankreich – England Philipp II. war viermal verheiratet. Auf die erste Ehe mit Maria von Portugal folgte nach deren Tod 1545 die Verbindung mit Mary Tudor. Durch diese Ehe eröffnete sich die Aussicht auf ein spanisch-engli-
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sches Doppelreich. Wenn die Verbindung Spaniens mit England, die 1558 mit dem Tod Mary Tudors endete, auch Episode blieb, so bildeten die Königreiche und Länder Philipps II. auch ohne England ein Gebilde von gigantischer Ausdehnung. Mit Spanien verbunden waren die Niederlande, die Freigrafschaft Burgund, Neapel und Sizilien, Sardinien und das Herzogtum Mailand sowie in Hispanoamerika die Vizekönigreiche Neuspanien (Mexico) und Peru, die von dem in Madrid sitzenden Indienrat straff verwaltet wurden. Die große Ausdehnung des spanischen Länderbesitzes allein in Europa war aber nicht nur ein Faktor der Stärke, sondern zugleich ein Moment der Schwäche, weil Spanien dadurch in kostspielige Kriege verwickelt wurde, von denen die Kämpfe in den aufständischen Niederlanden und der anschließende niederländisch-spanische Krieg besonders kräftezehrend waren und die spanische Stellung vor allem gegen die arabisch-berberischen Völker des westlichen Nordafrika sowie gegen die osmanische Flotte im Mittelmeer schwächten. Philipp II. finanzierte seine Kriege in Europa aus den Silbervorkommen Amerikas. Doch geriet Spanien dadurch in immer größere Abhängigkeit vom rechtzeitigen Eintreffen der Silberflotten. Da aber auch die Edelmetallzufuhr aus den Silberminen Mexikos und Perus den Finanzbedarf kaum befriedigte und die von Karl V. hinterlassenen Schulden nicht decken konnte, sondern durch die Vermehrung des Geldumlaufs inflationäre Wirkungen auslöste, erfuhr Spanien unter Philipp II. wiederholt den Zusammenbruch der Staatsfinanzen. Der Gegensatz zwischen Spanien und Frankreich war durch den Frieden von Cateau-Cambrésis nicht beseitigt. So griff Spanien immer wieder in die französischen Bürgerkriege ein und leistete der katholischen Partei um das Haus Guise Truppenhilfe. Wichtiger war in dieser Zeit aber doch der Gegensatz Spaniens zu dem England Elisabeths I. Seit 1564 gab es zwischen beiden Mächten eine Art Handelskrieg. Auch das Abfangen spanischer Goldsendungen für die Besoldung der Truppen des Herzogs von Alba in den Niederlanden durch englische Schiffe und die Lagerung des Goldes im Londoner Tower trug nicht dazu bei, einen Ausgleich zwischen Spanien und England herbeizuführen. 1573 schien eine Annäherung zwischen Spanien und England bevorzustehen, was im Interesse Spaniens gelegen hätte, weil so die Unterstützung Englands für die aufständischen Niederlande hätte unterbunden werden können. Doch verstärkte sich der Gegensatz erneut mit der Vereinigung von Spanien und Portugal 1580. Nach dem Tod des letzten männlichen Vertreters des Königshauses der Aviz, des Kardinals Henrique, beanspruchte Philipp II. die Thronfolge in Portugal. Der König stützte sich auf das Erbrecht seiner Mutter Isabella von Portugal und auf seine erste Ehe mit Maria von Portugal. Innerhalb der Iberischen Union wurde Portugal eine gewisse Eigenständigkeit unter einem spanischen Vizekönig gelassen, doch änderte das nichts an der Vereinigung der gesamten Iberischen Halbinsel und der spanischen und portugiesischen Überseebesitzungen sowie der Flotten beider Königreiche in der Hand Philipps II. Erst durch einen erfolgreichen Aufstand erhielt
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Portugal 1640 seine Unabhängigkeit von dem inzwischen geschwächten Spanien zurück, wobei der Führer des Aufstandes, Johann von Bragança, die neue Königsdynastie der Bragança begründete. Nach dem Verlust der Selbstständigkeit Portugals nahm die Rivalität Englands und Spaniens weiter zu. Englische Kaperschiffe mit Kapitänen wie Francis Drake machten Beute auf Kosten Spaniens. Nach der Beschlagnahme englischer Getreideschiffe in verschiedenen spanischen Häfen begann 1585 der offene Krieg. Die Hinrichtung Mary Stuarts 1587 gab Philipp II. den Anlass zum Versuch einer militärischen Invasion in England, wozu im Mai 1588 die spanische Kriegsflotte, die Armada, mit etwa 130 Schiffen und rund 25.000 Mann Besatzung nach England auslief. Im Sommer 1588 wurde die Armada im Kanal von der englischen Flotte mehrfach angegriffen und wiederholt geschlagen. Die Armadaschlachten bildeten den Höhepunkt des spanisch-englischen Krieges und bewirkten einen großen Prestigeverlust für die spanische Großmacht. Wichtig war der Abbruch der Seeverbindung Spaniens zu den Niederlanden, wo Spanien gleichzeitig im Krieg mit der niederländischen Republik stand, während der Krieg mit England weiterging. Der Seesieg der Engländer brachte „die Rettung der Niederlande und darüber hinaus der protestantischen Welt“259. Nach der Intervention Philipps II. in Frankreich 1590 erklärte Heinrich IV. Spanien 1595 den Krieg und ging 1596 ein Bündnis mit Elisabeth I. ein. 1598 schied Frankreich mit dem Frieden von Vervins aus dem Krieg aus. Damit zeichnete sich die Gewichtsverlagerung zugunsten des nach dem Ende der Bürgerkriege erstarkenden Frankreich ab. Der Krieg Spaniens mit England und der niederländischen Republik ging weiter. Erst nach dem Tod Elisabeths I. kam 1604 der Friedensschluss zwischen Philipp III. von Spanien und James I. von England zustande. 1609 folgte der Waffenstillstand mit der niederländischen Republik. Ungarn, das Mittelmeer und die Osmanen Die Konfliktzone des europäischen Staatensystems in Ungarn und im Mittelmeer war Ergebnis der osmanischen Expansion. Fast ununterbrochen gab es kleine Kriegshandlungen und gelegentliche Vorstöße der Osmanen, unter denen die Bevölkerung im habsburgischen Teil Ungarns, in den grenznahen Gebieten Mährens sowie in Niederösterreich, Steiermark und Krain zu leiden hatte. 1562 musste sich Ferdinand I., wie schon 1547, zu einer jährlichen Tributzahlung bereitfinden. 1566 erhob sich der osmanische Vasallenfürst von Siebenbürgen, Johann II. Sigismund Zápolya, gegen die osmanische Oberherrschaft. Im Zusammenhang damit begann Sultan Süleyman 1566 den Krieg gegen Maximilian II., den sein Nachfolger Selim II. 1568 mit dem achtjährigen Waffenstillstand von Adrianopel beendete. Dieser brachte die Anerkennung der Grenzen der Länder der Habsburger, Siebenbürgens und des Osmanischen Reiches, erneuerte aber auch die Verpflichtung des Kaisers zu Tributzahlungen an die Osmanen. Obwohl es danach immer wieder Kämpfe gab, wurde der Waffenstillstand 1576, 1584 und 1592 verlängert, bis 1593 ein neuer Türken-
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krieg begann. Die Kriegszüge der Osmanen gegen Persien, die ihnen Kars, Eriwan, Georgien und Täbris einbrachten, ließen Ungarn aber zum Nebenkriegsschauplatz werden. So kam es 1606 zum Waffenstillstand von Zsitva-Torok zwischen Sultan Ahmed I. und Rudolf II. Die Tributpflicht des Kaisers wurde durch eine einmalige Geldzahlung in Höhe von 200.000 Gulden abgelöst. Der Waffenstillstand von Zsitva-Torok bedeutete, dass der Sultan den Kaiser als gleichberechtigten Vertragspartner anerkannte. 1616 und 1625 wurde der Vertrag von ZsitvaTorok erneuert. Trotz der Eroberung von Tunis durch die Spanier 1535 waren die kriegerischen Aktionen Karls V. gegen die Stellung der Osmanen an der nordafrikanischen Mittelmeerküste mit ihren muslimischen Völkern und den sich dort bildenden osmanischen Vasallenstaaten ohne Erfolg geblieben, zumal der Feldzug gegen Algier 1541 scheiterte. 1560 wurde eine von Philipp II. mit dem Papst, Florenz, Genua und dem Johanniterorden aufgestellte Flotte von den Osmanen nahezu vernichtet, die 1565 Malta belagerten. 1566 konnten sie der Republik Genua Chios vor der kleinasiatischen Küste abnehmen. Gegen die expansive Politik des Osmanischen Reiches bildete sich die Heilige Allianz aus Spanien, Venedig und dem Papst, die eine Flotte aufstellte. Unter dem Befehl von Don Juan d’Austria brachte diese Flotte den Osmanen im Herbst 1571 in der Seeschlacht von Lepanto im Golf von Korinth eine vernichtende Niederlage bei, die den Niedergang der osmanischen Seemacht einleitete. Doch änderte das nichts an der Eroberung Zyperns durch die Osmanen 1573. Vom venezianischen Kreta abgesehen, war das östliche Mittelmeer von nun an praktisch ganz unter der Herrschaft der Osmanen, die aber auch im westlichen Mittelmeer weiter vordrangen, obwohl die Spanier 1573 vorübergehend Tunis besetzten. Der Waffenstillstand, den Philipp II. 1580 schloss, war gleichbedeutend mit dem Verzicht auf eine Fortsetzung der Tradition der Reconquista außerhalb der Iberischen Halbinsel. Zwischen dem osmanisch beherrschten östlichen und dem spanisch bestimmten westlichen Mittelmeer lag die Apenninenhalbinsel mit den italienischen Staaten, von denen die beiden Inselkönigreiche Sizilien und Sardinien ebenso wie das Königreich Neapel und das Herzogtum Mailand Nebenländer der spanischen Krone waren. Die Toskana wurde von Spanien dominiert, das seit 1557 die toskanischen Küstenplätze am Ligurischen Meer, den Stato dei presidi, besetzt hielt. Ganz unter spanischer Vorherrschaft stand die Republik Genua, die sich nach dem Verlust ihres levantinischen Besitzes noch auf Korsika behaupten konnte. Eigenständige politische Größen waren neben dem Kirchenstaat nur noch das Herzogtum Savoyen mit dem Fürstentum Piemont und die Republik Venedig, die mit der Terra ferma große Teile Nordostoberitaliens beherrschte und in der Adria noch immer die führende Seemacht war. Dennoch befand sich Venedig mit dem Verlust seiner levantinischen Besitzungen fortwährend auf dem Rückzug vor dem Osmanischen Reich, von dem es wegen des Angewiesen-
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seins auf Getreidezufuhren aus dem Schwarzmeerraum auch wirtschaftlich abhängig war. Die Kämpfe um das Dominium Maris Baltici Dänemark war im 16. Jahrhundert die regionale Großmacht des Ostseeraumes, nachdem die Kalmarer Union 1523 zerfallen war. Erst im 17. Jahrhundert lief Schweden Dänemark den Rang ab. Beteiligt an dem Kampf um die Ostseeherrschaft war aber auch Polen, wobei sich die Konfliktlinien in Livland kreuzten. In Livland trat im 16. Jahrhundert als weiterer Mitbewerber um das Dominium maris baltici der Moskauer Staat bzw. Russland hervor. Nach der Eroberung der tatarischen Fürstentümer Kazan’ und Astrachan’ an der mittleren und unteren Wolga und am Kaspischen Meer zwischen 1552 und 1556 griff Car Ivan IV. Groznyj 1558 in Livland ein. Damit begann der Livländische Krieg. Gleichzeitig setzten dänische, schwedische und polnische Vorstöße in den baltischen Raum ein, die 1563 als Nordischer Siebenjähriger Krieg zwischen Dänemark und Schweden um die Beherrschung der baltischen Länder begonnen hatten, der 1570 mit dem Frieden von Stettin endete. Danach kam es zum Krieg zwischen Schweden und Russland. Der Livländische Krieg wurde 1582 durch den Frieden von Jam Zapolski zwischen Russland und Polen beigelegt, wobei Moskau auf Livland verzichten musste, um stattdessen mit der Eroberung Sibiriens zu beginnen. Der 1590 ausgebrochene schwedisch-russische Krieg endete 1595 mit der Bestätigung des schwedischen Besitzstandes in den baltischen Ländern. In Russland starb 1598 die Rjurikiden-Dynastie aus. Die Herrschaft ging auf Boris Godunov über, nach dessen Tod 1605 in Russland die smuta begann, die Polen und Schweden für ihre Interessen nutzten. Die Zeit der Wirren endete 1613 mit der Wahl Michail Fedorovič Romanovs zum Caren, der Krieg mit Schweden 1617 mit dem Frieden von Stolbovo. Schweden behielt Ingermanland und Ostkarelien, wodurch Russland bis in die Zeit Peters des Großen von der Ostsee abgedrängt wurde. Der Frieden von Stolbovo wurde auch wichtig für den Übergang der Vorherrschaft im Ostseeraum von Dänemark an Schweden, obwohl Dänemark an diesem Friedensschluss gar nicht beteiligt war, dessen König, Christian IV., nach dem Dominium maris septentrionalis, der Herrschaft über das Nordmeer, strebte. In dem von 1611 bis 1613 geführten Kalmarkrieg gegen Schweden konnte Dänemark seine Herrschaft in Nordnorwegen befestigen. Trotzdem wandte sich das Schwergewicht im Norden nun Schweden zu, was durch die Niederlage Dänemarks im Dreißigjährigen Krieg noch deutlicher wurde, aus dem Christian IV. mit dem Frieden von Lübeck von 1629 ausschied. Parallel zum Dreißigjährigen Krieg kam es 1643 noch einmal zum Krieg zwischen Schweden und Dänemark, der 1645 mit dem Frieden von Brömsebro beendet wurde. Dänemark verlor einen Teil seiner Besitzungen auf dem schwedischen Festland und die Inseln Gotland und Ösel, bevor es im Frieden von Roskilde 1658 auch den Rest aufgeben musste.
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Der Dreißigjährige Krieg Die durch den Gegensatz zwischen Spanien und Frankreich und zwischen Schweden und Dänemark bestimmten Konflikte kreuzten sich im deutschen Raum mit dem Dreißigjährigen Krieg. Am Anfang standen die böhmischen Ständekämpfe, die 1619 zur Absetzung Ferdinands II. als König von Böhmen und 1620 zur Schlacht am Weißen Berge führten. Dabei besaßen die Vorgänge in Böhmen schon zu dieser Zeit eine weit über Böhmen und Deutschland hinausreichende Dimension. 1617 war zwischen den deutschen und den spanischen Habsburgern der Oñate-Vertrag geschlossen worden. Philipp III. verzichtete in diesem Vertrag auf Ungarn und Böhmen, während der spätere Kaiser Ferdinand II. die Abtretung von Besitzungen im Elsass an Spanien und die Unterstützung der spanischen Interessen in Italien versprach und für den Fall des Aussterbens seiner eigenen männlichen Nachkommenschaft den Übergang von Böhmen und Ungarn an die spanischen Habsburger einräumte, um sich mit diesen Zusagen die Rückendeckung Spaniens in den böhmischen Ständekämpfen zu verschaffen. Der Kriegsverlauf Der Böhmisch-pfälzische Krieg weitete sich nach 1623 durch den Kriegseintritt Christians IV. von Dänemark und durch das Eingreifen von Truppen aus den Spanischen Niederlanden unter Johann Tserclaes Graf Tilly aus zum Dänisch-niedersächsischen Krieg. 1625 trat Albrecht von Wallenstein als Heerführer des Kaisers hinzu. Tilly und Wallenstein errangen bedeutende Siege. Schon im April 1626 schlug Wallenstein bei Dessau den Grafen von Mansfeld, der als Söldnerführer auf der Seite der protestantischen Union stand. Im August 1626 folgte der Sieg der Armee der katholischen Liga unter Tilly in der Schlacht von Lutter am Barenberge (bei Gandersheim in Niedersachsen) über Christian IV., der 1627 von Wallenstein auch aus Jütland vertrieben wurde. Diese Erfolge führten zur Unterwerfung Norddeutschlands durch Tilly und Wallenstein. Das Ergebnis des Krieges bedeutete für die deutschen Protestanten den Tiefpunkt ihrer politischen Stellung seit ihrer Niederlage im Schmalkaldischen Krieg 1547. Dagegen brachte der Kriegsverlauf Ferdinand II. auf den Gipfelpunkt der Machtstellung des Hauses Habsburg im Reich. So wurde 1629 das Restitutionsedikt möglich, während der König von Dänemark mit dem Frieden von Lübeck aus dem Krieg ausschied. Mit dem Auslaufen des zwölfjährigen Waffenstillstands von 1609 nahm Spanien den Krieg mit der niederländischen Republik wieder auf. Als dritter Schauplatz traten die italienischen Reichslehen Mantua und Montferrat hinzu. Mantua wurde 1630 von den Spaniern besetzt, doch ging der Mantuanische Erbfolgestreit ein Jahr später zugunsten des französischen Prätendenten Charles de Nevers und damit zum Vorteil Frankreichs aus. Mit dem Restitutionsedikt gelangte die gegenreformatorische Rekatholisierung in Deutschland auf ihren Höhepunkt. Ferdinand II. dekretierte die Rückgabe
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des gesamten Kirchengutes an die katholische Kirche, das seit dem Passauer Vertrag von 1552 von protestantischen Fürsten eingezogen worden war. Außerdem wurde die Declaratio Ferdinandea von 1555 für ungültig erklärt. Doch brachte das Restitutionsedikt zugleich den Wendepunkt der kaiserlichen Machtstellung. Auf dem Kurfürstentag von Regensburg kam es 1630 zum Zerwürfnis zwischen Maximilian von Bayern und dem Kaiser. Außerdem griff jetzt Schweden in den Krieg ein, wodurch der Dänisch-niedersächsische Krieg vom Schwedischen Krieg abgelöst und Schweden zum Retter des deutschen Protestantismus wurde. Der wechselhafte Kriegsverlauf führte 1635 zum Frieden von Prag, der den Kaiser in einer gestärkten Position beließ, aber doch den Protestanten wichtige konfessionspolitische Zugeständnisse brachte, so dass fast alle Reichsstände dem Friedensschluss beitraten. Zu diesen Zugeständnissen gehörte der Verzicht des Kaisers auf die Durchführung des Restitutionsedikts. Doch erfuhr der Krieg in demselben Jahr noch einmal eine Ausweitung durch den Kriegseintritt Frankreichs. Damit begann der Schwedisch-französische Krieg, der bis zum Westfälischen Frieden von 1648 andauerte, obwohl die Friedensverhandlungen in Osnabrück und Münster schon 1644 aufgenommen wurden. Interpretationsprobleme Bei der langen Dauer des Krieges, bei den wechselnden Kriegsschauplätzen, bei den verschiedenen Phasen des Kriegsgeschehens und bei den Kriegsgegnern, die 1648 andere waren als 1618, kann man fragen, ob es sich um einen Krieg handelte, oder um verschiedene Kriege. Und endete der Krieg nach dreißig Jahren? Zwischen Spanien und Frankreich ging der Krieg bis 1659 weiter. Wichtig für das Verständnis eines dreißigjährigen Kriegsgeschehens ist die Sicht der Zeitgenossen: „Der Terminus Dreißigjähriger Krieg ist Ausdruck des zeitgenössischen historisch-politischen Bewußtseins. Dieses hat den politischmilitärischen Konflikt, den wir bis heute Dreißigjährigen Krieg nennen, als eine Ganzheit, als eine zeitgeschichtliche Einheit verstanden. Dem hat es durch diese Kriegsterminologie-Bildung prägnanten Ausdruck verliehen.“260 Eine anderes Problem ist die Frage, ob es sich beim Dreißigjährigen Krieg um einen Religionskrieg handelte oder nicht. Darauf gibt es zwei klassische Antworten. Die eine sieht im Dreißigjährigen Krieg den Religions- oder Konfessionskrieg schlechthin, die andere lässt den Dreißigjährigen Krieg als Religionskrieg beginnen und als internationalen Staatenkrieg enden − mit dem Kriegseintritt Frankreichs 1635 als Zäsur. Eine neue Antwort gibt Johannes Burkhardt, der in der Religion nur den „Haupt-Nebenkonflikt“261 dieses Krieges sieht. Wenn die Religion aber nicht die Hauptsache war, was war es dann? „Die Antwort liegt auf der politischen Ebene, aber dort in den übergreifenden Strukturen und Prozessen. Der zentrale politische Vorgang der Frühen Neuzeit war die moderne Staatsbildung. [...] Der Dreißigjährige Krieg ist auf diesem Hintergrund zu sehen: er war nicht der einzige, aber der grundlegende Staatsbildungskrieg Europas.“262 Gemeint ist, dass der Dreißigjährige Krieg in einem europaweiten Prozess der Ausbildung
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der richtigen Größenordnung der Staatsbildung zwischen Universalreichen wie dem Reich Karls V., kleinen Territorien wie vielen deutschen Fürstentümern und Gebilden auf der Ebene, auf der die Staatsbildung unter europäischen Bedingungen erfolgte, stand, indem er von diesem Prozess sowohl verursacht wurde, wie er auch auf ihn einwirkte: „Die Universalmächte haben ihre Superioritätsansprüche erst in einem langen kriegerischen Lernprozess soweit ermäßigt, dass sie sich in das neue Konzept eines staatlichen Nebeneinander einfügten. Und die aufsteigenden ständisch-partikukaren Gewalten von unten mußten sich in Ausscheidungskämpfen, Einigungen und Sezessionen erst durchsetzen, was regelmäßig nur um den Preis eines Krieges zu haben war und häufig auch mißglückte. [...] Der Dreißigjährige Krieg aber ist geradezu eine Bündelung aller Konfliktmöglichkeiten des Staatsbildungsprozesses und läßt sich nur so triftig erklären.“263
Der Westfälische Frieden Der Westfälische Frieden bestand aus den beiden Friedensverträgen, die in Osnabrück zwischen dem seit 1637 an der Spitze des Reiches stehenden Kaiser Ferdinand III. und Schweden und in Münster zwischen dem Kaiser und Frankreich zustande kamen und am 24. Oktober 1648 in Münster unterzeichnet wurden. Dazu kam als dritter Friedensvertrag der spanisch-niederländische Frieden, der am 30. Januar 1648 in Münster abgeschlossen wurde und die endgültige Anerkennung der Unabhängigkeit der Republik der Vereinigten Niederlande durch Spanien beinhaltete. Auf der Ebene des europäischen Staatensystems bildete der Westfälische Frieden zusammen mit dem Pyrenäenfrieden von 1659 einen doppelten Sieg Frankreichs über den Kaiser und über Spanien, obwohl die Territorialgewinne Frankreichs aus diesen Friedensschlüssen nicht besonders groß waren und Frankreich nur einige kleinere, aber strategisch und als Ausgangspunkt künftiger Expansionspolitik wertvolle Gebiete erhielt. Mit dem Westfälischen Frieden und dem Pyrenäenfrieden wurde die Dominanz Spaniens endgültig durch die Vorherrschaft Frankreichs ersetzt. Ebenso trat mit dem Westfälischen Frieden − und dem Frieden von Roskilde von 1658 − Schweden als regionale Großmacht Nordeuropas endgültig an die Stelle Dänemarks. Dazu trugen auch die Territorialgewinne Schwedens in Norddeutschland bei. Für das Reich und die Reichsverfassung lag die Bedeutung des Westfälischen Friedens in der Schwächung des Kaisers als Reichsoberhaupt und in der Stärkung der Reichsstände, unter ihnen der Kaiser als Landesherr der österreichischen Länder. So wurde der Ausbau der Landeshoheit der Territorialfürsten mit dem Friedensvertrag von Osnabrück bestätigt, womit auch die Garantie des Bündnisrechtes der Landesherren mit auswärtigen Mächten verbunden war. Mit dem Westfälischen Frieden verlagerte sich das politische Schwergewicht endgül-
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tig – wenn auch nicht vollständig – vom Reich auf die größeren Territorien, darunter die österreichischen Länder. Hinzu kamen territoriale Veränderungen in Verbindung mit der Säkularisation geistlicher Territorien. Für Deutschland war der Westfälische Frieden, gegen den Innozenz X. 1650 mit dem Breve Zelo domus Dei Protest erhob, aber auch ein Religionsfrieden, mit dem die konfessionellen Gegensätze politisch entschärft – und damit säkularisiert – wurden.
V. Vom Konfessionellen Zeitalter zum Zeitalter der Aufklärung
Der Westfälische Frieden als Konfessionsfrieden Normaljahr statt ius reformandi Der Friedensvertrag von Osnabrück bestätigte den Passauer Vertrag von 1552 und den Augsburger Religionsfrieden von 1555, brachte aber auch Modifikationen, mit denen die Streitigkeiten um das Reservatum Ecclesiasticum und die Declaratio Ferdinandea ebenso beseitigt wurden wie das Problem der Ausschließung der Reformierten von der gegenseitigen Duldung der großen Konfessionen. Für die Reformierten galten alle Rechte und Vergünstigungen, die der Augsburger Religionsfrieden, der Westfälische Frieden oder andere Reichsgesetze den katholischen und den der Augsburgischen Konfession angehörenden, also den lutherischen Reichsständen einräumten.1 Als Stichtag für die Regelung der konfessionellen Verhältnisse wurde der 1. Januar 1624 festgesetzt, der auch für die Reichsritter, die Reichsstädte und die Reichsdörfer galt. Die Einwohner sollten in Zukunft der Konfession angehören, der ihre Vorfahren an dem betreffenden Ort am ersten Tag des Jahres 1624 angehört hatten.2 Diese Normaljahrsregelung galt auch für das reichsmittelbare Kirchengut, so dass die evangelischen Reichsstände eingezogenes mittelbares Kirchengut, das sie 1624 in Besitz gehabt hatten, behalten konnten.3 Das Normaljahr galt auch für das reichsunmittelbare Kirchengut und stellte somit eine Sanktionierung der Hochstiftssäkularisationen des 16. Jahrhunderts4 und zugleich eine Art Rechtsschutz vor künftigen Säkularisationen für geistliche Territorien dar, die am Stichtag 1624 in katholischer Hand gewesen waren. Die Normaljahrsregelung war ein Kompromiss, weil die Katholiken das für sie günstigere Normaljahr 1627 und die Protestanten das für sie vorteilhaftere Normaljahr 1618 gefordert hatten. Die Normaljahrsregelung galt nicht in den österreichischen Ländern und nicht in der Oberpfalz, deren Übergang an Bayern durch den Osnabrücker Friedensvertrag bestätigt wurde.5 Derselbe Schutz galt für evangelisch gewordene und von Administratoren verwaltete Bistümer, die – wenn sie 1624 evangelisch oder in evangelischen Händen gewesen waren – nicht rekatholisiert werden durften. Verbunden damit war die Präzisierung des Reservatum Ecclesiasticum. Der Osnabrücker Friedensvertrag setzte fest, dass katholische geistliche Fürsten, aber auch die in einem evangelischen geistlichen Territorium zum Bischof gewählten Protestanten, im Falle eines Konfessionswechsels statim (auf der Stelle) ihrer Rechte verlustig gehen und ihre landesherrliche Stellung verlieren sollten.6 Bedeutete das Sicherstellung der katholischen Reichskirche unter Hinnahme
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der Verluste an die Kirchen der Reformation, so gewann der Kaiser mit der Bestätigung seines ius primariarum precum7, des Rechts der Vergabe der ersten erledigten Pfründe, ebenfalls einen Vorteil. Das spätere Zusammengehen des überwiegenden Teils der Reichskirche mit dem Kaiser hatte hier eine seiner Grundlagen. Mit der Normaljahrsregelung wurde das ius reformandi der Landesherren entscheidend eingeschränkt bzw. aufgegeben, indem der Bekenntnisstand der Einwohner in den einzelnen Territorien nicht mehr von deren Gutdünken abhängig war. Ein Konfessionswechsel des Landesherrn hatte keine unmittelbare Folge mehr für Religion und Kirchenwesen der Untertanen. Für Bevölkerungsteile mit einer von der Normaljahrsregelung abweichenden Konfessionszugehörigkeit wurde ein erweitertes ius emigrandi eingeführt.8 Politisierung und Säkularisierung Die dritte konfessionspolitisch wichtige Regelung des Westfälischen Friedens betraf die Aussetzung von Mehrheitsentscheidungen in Religionssachen auf dem Reichstag und in anderen Entscheidungsgremien des Reiches.9 Durch diese Regelung, mit der gewissermaßen der Protest der Protestanten von 1529 aufgenommen wurde, sollten Benachteiligungen der konfessionellen Minderheit, die durch Majoritätsbeschlüsse in Religionssachen möglich gewesen wären, ausgeschlossen werden. Hier begegnet eine frühe Form des Minderheitenschutzes. In Religionsfragen sollten die Reichsstände nach Konfessionen getrennt ihre Beschlüsse fassen und diese dann gegenseitig in Übereinstimmung bringen. Man nannte das Itio in partes oder Itionsrecht. Aus diesen konfessionell getrennten Beratungs- und Abstimmungsgremien entwickelten sich das Corpus Evangelicorum und das Corpus Catholicorum. Das Corpus Evangelicorum trat 1653 zum ersten Mal zusammen. Es umfasste alle dem Reichstag angehörenden evangelischen Fürsten und Städte und stand unter dem Vorsitz Kursachsens, das den Vorsitz auch behielt, nachdem Kurfürst August der Starke (Friedrich August II.) von Sachsen 1697 zum Katholizismus übergetreten war. Das Corpus Catholicorum wurde vom Kurfürst-Erzbischof von Mainz geleitet, erlangte aber politisch nicht die Bedeutung des Corpus Evangelicorum, weil die konfessionellen Interessen der katholischen Reichsstände auf dem Reichstag vom Kaiser vertreten wurden. Im Zusammenhang mit der Itio in partes stand die Paritätsforderung für das Reichskammergericht und den Reichshofrat.10 Der Westfälische Frieden zeigt als Konfessionsfrieden, deutlicher noch als der Augsburger Religionsfrieden, die Dialektik von Säkularisierung und Konfessionalisierung. Konfessionalisierung war immer zugleich Säkularisierung und beschleunigte durch die Politisierung der konfessionellen Gegensätze den Prozess der Verweltlichung. Säkularisierung stand im Dienst der Konfessionen, indem sie durch die konfessionell neutrale weltliche Friedensordnung des Westfälischen Friedens das Nebeneinander der Konfessionen politisch ermöglichte und
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rechtlich sicherte. Der Westfälische Frieden besaß nicht nur als Reichsverfassungsgrundgesetz, sondern auch als Konfessionsfrieden Geltung bis zum Erlöschen des Alten Reiches 1806. Doch wurden die konfessionspolitischen Regelungen, die 1648 die Koexistenz der Konfessionen ermöglicht hatten, im 18. Jahrhundert nicht mehr verstanden. Die Normaljahrsregelung, das Auswanderungsrecht und die mit der Aufnahme der Reformierten in die Friedensregelung verbundene Ausschließung anderer Glaubensgruppen neben den allein zugelassenen Katholiken, Lutheranern und Reformierten wurden im 18. Jahrhundert als Widerspruch gegen Naturrecht, Vernunft und individuelles Glaubensanliegen aufgefasst. Das zeigt, dass das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Aufklärung, nicht mehr Konfessionelles Zeitalter war.
Politik unter konfessionellem Vorzeichen Deutschland, Frankreich, Savoyen und Österreich Die konfessionellen Momente traten jedoch mit dem Westfälischen Frieden noch nicht zurück. Vielerorts kam die Rekatholisierung erst in dieser Zeit zum Abschluss. So konnte im Hochstift Münster erst der 1650 auf den Bischofsstuhl gelangte Christoph Bernhard von Galen den evangelischen Adel für die alte Kirche zurückgewinnen. Aber auch die tridentinischen Reformen mit der Reform der Priesterausbildung als einem ihrer Kernstücke wurden vielfach – oft wegen der durch den Dreißigjährigen Krieg bedingten Rückschläge – erst nach 1648 verwirklicht. So wurden in Köln die tridentinischen Reformdekrete erst 1662, 99 Jahre nach dem Abschluss des Konzils, feierlich im Dom publiziert. In Eichstätt war das 1564 gegründete Priesterseminar 1634 von den Schweden zerstört worden, um erst 1710 wieder eröffnet zu werden. In Münster ging das 1613 eingerichtete Priesterseminar 1639 ein und wurde erst 1776 durch ein neues ersetzt. In Köln bestand das 1615 gegründete Priesterseminar nur bis 1645; 1658/60 wieder eröffnet, wurde es 15 Jahre später erneut geschlossen, um erst 1738 abermals in Funktion zu treten. Auch im Frankreich Ludwigs XIV., wo der Gallikanismus in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf seinen Höhepunkt gelangte, spielten konfessionelle Momente weiterhin eine große Rolle. Von der Verfolgung des Jansenismus und der Revokation des Edikts von Nantes war bereits die Rede. Zwangsemigrationen von Protestanten wie in Frankreich, protestantische Untergrundkirchen wie die église du désert der französischen Calvinisten nach 1685 und die Anwendung des ius emigrandi gegen protestantische Bevölkerungsminderheiten gab es bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. So hob 1685 Herzog Viktor Amadeus II. von Savoyen in seinem Land die Duldung der Waldenser auf. 1731 zwang der Salzburger Erzbischof Leopold Anton von Firmian die im Erzstift Salzburg lebenden Protestanten zur Auswanderung. Betroffen waren mehr als 10.000 Personen, die zunächst vorwiegend Reichsstädte wie Kaufbeuren, Kempten, Memmingen, Ulm und Augsburg aufsuchten und sich dann vor allem in Ostpreußen ansiedelten. In den österreichischen Ländern waren die Protestanten in der hier in der Zeit Ferdinands II. auf ihren Höhepunkt gelangten Gegenreformation in andere Länder geflohen, vor allem in Reichsstädte wie Regensburg oder in evangelische Territorien des Reiches, wenn sie nicht im Lande geblieben waren, um den evangelischen Glauben im Verborgenen weiter auszuüben. Damit begann der österreichi-
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sche Geheimprotestantismus. Darunter versteht man eine evangelische Laienkirche im Untergrund ohne kirchliche Organisation, deren Anhänger sich äußerlich katholisch verhielten, heimlich die streng verbotenen protestantischen Schriften lasen und ihre Gottesdienste in Privathäusern, in Scheunen, auf Waldlichtungen, in Berghöhlen oder an anderen verborgenen Orten abhielten. Um die katholische Tarnung zu wahren, mussten die Geheimprotestanten Taufe, Eheschließung und Begräbnis von katholischen Pfarrern vornehmen lassen und dafür die üblichen Stolgebühren entrichten. Auch unter Maria Theresia war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Haltung des Wiener Hofes und der Behörden gegenüber den Akatholiken noch immer durch generelle Intoleranz gekennzeichnet, die aus ökonomischen Erwägungen punktuell zugunsten der Privilegierung von Protestanten durchbrochen wurde. Das betraf ausländische Manufakturunternehmer und qualifizierte Facharbeiter, die mit dem Angebot freier Religionsausübung angeworben wurden, sich in den österreichischen Ländern niederzulassen. So entstanden in der theresianischen Zeit evangelische Fabriksgemeinden als legale Kirchengemeinden. Doch hatte die Polizei darüber zu wachen, dass nur Belegschaftsangehörige an den Gottesdiensten teilnahmen. Von solchen Fällen abgesehen, erreichten die Restriktionsmaßnahmen gegen den Geheimprotestantismus der Landbevölkerung nach 1740 einen Höhepunkt. Die Instrumentarien der stillen Gegenreformation bestanden in Zwangsbekehrung und Transmigration. Die Transmigration (Zwangsumsiedlung) der erwachsenen evangelischen Bevölkerung nach Siebenbürgen oder Ungarn forderte einen hohen Preis an Menschenleben. Besonders drückend waren diese Deportationen, weil die Familien auseinandergerissen wurden. Die minderjährigen Kinder der auch als Landler bekannten zwangsdeportierten Protestanten wurden zur katholischen Erziehung in Konversionshäuser eingewiesen, während die Führer der Geheimprotestanten zur Zwangsarbeit verwendet oder in Zuchthäuser gesteckt wurden. 1777 suchten drei Exjesuiten − Patres des 1773 aufgehobenen Jesuitenordens −, die Geheimprotestanten unter den mährischen Walachen dadurch zur Selbstentlarvung zu bringen, dass sie ein gefälschtes Toleranzpatent vorwiesen. Statt der erwarteten kleinen Anzahl meldeten sich mehrere Tausende. Als diese sich nicht als bekehrungswillig erwiesen, wurde ihre Transmigration nach Ungarn und ihre Einweisung zur Schanzarbeit, zum Kriegsdienst oder in Zuchthäuser vorbereitet. Doch fand das den Widerspruch des Sohnes Maria Theresias, Kaiser Josephs II. Die generelle Intoleranz gegenüber den Akatholiken bestand in Österreich bis zur Toleranzgesetzgebung Josephs II. von 1781.11 Auch unter dem josephinischen Toleranzsystem blieben zahlreiche Beschränkungen und Diskriminierungen bestehen, so bei der Behandlung der Kinder aus konfessionellen Mischehen, bei Übertritten zum Protestantismus, bei der Gründung evangelischer Kirchengemeinden und bei der architektonischen Gestaltung der lutherischen oder reformierten Bethäuser, die äußerlich nicht als Kirchengebäude er-
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kennbar sein durften. Diese Beschränkungen fielen erst mit dem österreichischen Protestantengesetz von 1861, nachdem die Protestanten aus dem tirolerischen Zillertal noch 1837 aus Glaubensgründen ins preußische Schlesien emigriert waren. Konfession und Politik in England und Irland Der Intoleranz gegenüber den Akatholiken in Österreich entsprach in England der vollständige Ausschluss der Katholiken vom öffentlichen Leben, aber auch die Privilegierung des Anglikanismus auf Kosten der anderen protestantischen Religionsgemeinschaften. Nach der Restauration des Stuartkönigtums 1660 wurden die anglikanische Bischofskirche wiederhergestellt und puritanische Einflüsse ausgeschaltet. Durch den Corporation Act von 1661 wurde der Zugang zu lokalen Ämtern an die Einnahme des Abendmahls nach anglikanischem Ritus gebunden, was auf die Reservierung von Politik und Parlament zugunsten der Anglikaner hinauslief. Durch den Act of Uniformity von 1662 verloren alle Geistlichen ihre Stellung, die die Benutzung des revidierten Book of Common Prayer verweigerten, wovon rund 2.000 Pfarrer betroffen waren. Der Conventicle Act von 1664 setzte Haftstrafen fest für die Fortsetzung nonkonformistischer Gottesdienste. Durch den Test Act von 1673 wurden sämtliche zivilen und militärischen Amtsträger zum Abendmahl nach anglikanischer Form und zur öffentlichen Ableistung eines kirchlichen Suprematseides verpflichtet, womit die kirchliche Uniformierung im anglikanischen Sinne das gesamte Behördensystem erfasste und Katholiken und protestantische Dissenters davon ausschloss, bevor mit dem verschärften Test Act von 1678 die letzten katholischen Lords das Oberhaus verließen. Diese anglikanische Uniformierung Englands wurde nach 1685 unter dem – im Gegensatz zu seinem Bruder Charles II. – katholischen Stuart-König James II. durch eine Rekatholisierungspolitik abgelöst, die in England die Furcht vor der Gegenreformation schürte und in die Glorious Revolution von 1688 führte. Diese brachte den mit der ältesten Tochter James II. verheirateten Wilhelm III. von Oranien – den Protagonisten des politischen Protestantismus in der Mächtepolitik der Zeit – auf den englischen Thron. Erst nach der Glorious Revolution wurde die Lage für die protestantischen Nonkonformisten – jedoch nicht für die Katholiken – durch den Toleration Act von 1689 verbessert. Sie durften jetzt an bestimmten Orten Gottesdienste halten und unterlagen keinen Strafen mehr wegen des Fehlens beim anglikanischen Gottesdienst. Von Gleichstellung mit den Anglikanern konnte jedoch noch keine Rede sein. Erst seit 1718 durften die nicht-anglikanischen Protestanten öffentliche Ämter einnehmen und seit 1727 auch in das bis dahin noch immer Anglikanern vorbehaltene Unterhaus gewählt werden. Die Außerkraftsetzung des Test Act von 1673 und die Emanzipation der nonkonformistischen Protestanten ließ jedoch bis 1828 auf sich warten. Ein Jahr
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später – also erst 1829 – wurden dann in England auch die Katholiken emanzipiert, womit katholische Lords ins Oberhaus und katholische Abgeordnete ins Unterhaus eintreten konnten. Die Katholikenemanzipation in England hing mit der 1800 geschlossenen Union Großbritanniens, also Englands und Schottlands, mit Irland zusammen. In Irland hatte Heinrich VIII. 1542 bei dem Versuch, das Land dem englischen Königreich anzuschließen, starken Widerstand gefunden, der auch seiner Religionspolitik galt. Nach dem irischen Aufstand von 1649 und seiner blutigen Unterdrückung durch eine puritanische Armee unter Cromwell gab es in Irland Landenteignungen der Katholiken, Deportationen des katholischen Klerus und seit 1607 durch Ansiedlung englischer und schottischer Siedler Bevölkerungsverschiebungen zuungunsten der Iren und Katholiken, vor allem in Ulster (Nordirland). Auch wenn die Lage der irischen Katholiken im 18. Jahrhundert besser als im 17. war, so blieb es dabei, dass der Klerus in Priesterseminaren in Frankreich, in Rom oder in den Österreichischen Niederlanden studieren musste. Erst mit der Katholikenemanzipation konnte 1830 Daniel O’Connell als Vertreter Irlands Abgeordneter im Londoner Parlament werden. Von großer Bedeutung war in England das Problem der Konfession auch im Zusammenhang mit dem Königshaus und der Thronfolge. In der Exclusion Crisis der Jahre 1679 bis 1681 ging es um den Versuch, den katholischen James of York, den späteren James II., trotz eindeutiger Thronfolgerechte, wegen seiner Konfessionszugehörigkeit von der Thronfolge auszuschließen. Katholizismus wurde mit Absolutismus gleichgesetzt, so dass der Kampf der Opposition gegen das Königtum schon deshalb eine konfessionelle Färbung erhielt. Als James of York dennoch 1685 den Thron bestieg und 1688 Vater eines Sohnes, James Edward, wurde, schien die katholische Thronfolge unabwendbar. Die damit verbundene Furcht vor der Gegenreformation wurde zum Auslöser für die Revolution von 1688. Deren Ausgang entschied über die protestantische Thronfolge, die durch den noch heute geltenden Act of Settlement von 1701 in der Weise geregelt wurde, dass jeder Kronträger der anglikanischen Kirche angehören oder zu ihr übertreten musste. Mit der protestantischen Thronfolge kam 1714 das lutherische − in Großbritannien anglikanische − Haus Braunschweig-Lüneburg (Hannover) auf den britischen Thron. Die in England und Schottland entthronte katholische Stuart-Dynastie blieb im 18. Jahrhundert ein Faktor der Politik. Der 1701 gestorbene James II. lebte seit 1688 mit dem Thronprätendenten James Edward − dieser starb 1766 − in Frankreich, wo er, von Ludwig XIV. als legitimer König von England anerkannt, mit seinem Hof in Saint-Germain-en-Laye bei Paris das Zentrum der englischen katholisch-jakobitischen Opposition bildete. Der Prätendent besaß Rückhalt und Anhänger in Schottland und in englischen Tory-Kreisen. 1715 landete er in Schottland und löste den Jakobitenaufstand aus, der niedergeschlagen wurde. Nach dem Tod Ludwigs XIV. verlor James Edward die Unterstützung Frank-
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reichs. Dafür trat er mit Spanien in Verbindung, lebte zeitweise im päpstlichen Avignon, in Urbino, in Spanien und in Rom und unternahm 1719 zwei weitere Landungen in Schottland, die ebenfalls in Niederlagen endeten. Das Ende des politischen Jakobitismus kam jedoch erst mit der Landung seines Sohnes Charles Edward Stuart (Bonny Prince Charly; The Young Pretender) in Schottland 1745 und mit der Niederlage der Jakobiten 1746 bei Culloden nahe Inverness in Schottland. Doch blieb der Gegensatz zwischen der anglikanisch-protestantischen Ausrichtung der britischen Politik mit dem Haus Hannover als Königsdynastie und den Whigs als bestimmendem Element auf der einen und den exilierten katholischen Stuarts und ihren Anhängern in Schottland und England auf der anderen Seite bis in diese Zeit konfessionell geprägt, wobei das Konfessionelle zuletzt immer weniger religiös bestimmt war, sondern als Integrationsfaktor diente. Konfessionelle Elemente in der Staatenpolitik Auch in der zwischenstaatlichen Politik und in den Kriegen der Zeit waren konfessionelle Elemente weit über das Ende des Konfessionellen Zeitalters hinaus wirksam. Das gilt besonders für die Zeit der Kriege Ludwigs XIV. – Devolutionskrieg 1667–68, Niederländischer Krieg 1672, Pfälzischer Krieg 1688–97, Spanischer Erbfolgekrieg 1701–13/14 –, obwohl dieser Eindruck durch konfessionsübergreifende Bündnissysteme, vor allem durch das Zusammengehen Englands und des Kaisers, verwischt zu werden scheint. In England wurde der Gegensatz zu Frankreich als protestantischer Selbstbehauptungskampf verstanden. So kam es in England seit den späteren siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts zu antifranzösischen und antikatholischen Hysterien und zu Ausschreitungen gegen Katholiken. Man diskutierte Gerüchte über große internationale Jesuitenkomplotte gegen England und machte sich in antikatholischen Aktionen Luft. 1688 fielen die Glorious Revolution, die Flucht James II. nach Frankreich, die Thronbesteigung des Protestanten Wilhelm III. in England und der Beginn des Pfälzischen Krieges Ludwigs XIV. zusammen, gegen den sich 1689 die Große Allianz Englands, der Vereinigten Niederlande und des Kaisers bildete, die für England – trotz der Beteiligung des katholischen Kaisers, dem sich 1690 noch die katholischen Mächte Spanien und Savoyen anschlossen – einen konfessionellprotestantischen Aspekt besaß. Ähnliche konfessionelle Aspekte zeigten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sich im Siebenjährigen Krieg der Jahre 1756 bis 1763 Preußen und England-Hannover auf der einen und Österreich und Frankreich − und das mit Österreich verbündete Russland − auf der anderen Seite gegenüberstanden. Das war eine konfessionell gefärbte Figuration, in der sich eine katholische und eine protestantische Mächtegruppe gegenüberzustehen schienen. Wenn der Siebenjährige Krieg auch ein militärisch ausgetragener politischer Konflikt und kein
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Religionskrieg war, so besaß er damit doch eine konfessionelle Komponente, die propagandistisch genutzt werden konnte, so dass man von „ideologischer Mobilmachung der Konfessionsparteien“12 in einem politisch motivierten Staatenkonflikt sprechen kann. Dabei war das Papsttum als politischer Faktor in den Mächterivalitäten seit der Mitte des 17. Jahrhunderts kaum noch präsent. Während Fabio Chigi, der spätere Papst Alexander VII., als päpstlicher Gesandter auf dem Westfälischen Friedenskongress noch eine wichtige Rolle gespielt hatte, auch wenn der Protest Innozenz’ X. gegen den Westfälischen Frieden folgenlos blieb, so fanden Vertreter des Papstes danach kaum noch Gehör. Dennoch führte der Siebenjährige Krieg zur Parteinahme der Kurie gegen Preußen und zur Identifikation der österreichischen Sache mit dem katholischen Religionsinteresse. Dabei war eine direkte Unterstützung durch den Papst ebenso wie ein zu starker konfessioneller Anstrich des Bündnisses mit Frankreich in Wien gar nicht erwünscht, und zwar wegen der Rücksichtnahme auf protestantische Mächte wie Schweden, die als Bündnispartner gegen Preußen gewonnen werden konnten. Hingegen wurde der konfessionelle Aspekt aus propagandistischen Gründen von protestantischpreußischer Seite betont. Mit dem Siebenjährigen Krieg wurde aber auch der Punkt erreicht, an dem das Papsttum „Abschied vom Religionskrieg“ (Johannes Burkhardt) nahm. Wichtig war dafür der Tod des Kölner Kurfürst-Erzbischofs Clemens August von Bayern 1761. Während die Kurie bis dahin eine offensive Konfessionspolitik verfolgt hatte, wurde sie nun zur diplomatischen Abwehr der Säkularisationsgefahren und damit zu einer defensiven Konfessionspolitik gezwungen. Die Säkularisationsgefahr, in der die nordwestdeutschen Hochstifte seit 1761 standen, zog die Säkularisierung des päpstlichen Religionsbegriffs nach sich, wie schon im 16. Jahrhundert die Konfessionalisierung mit ihren politischen Folgen die säkulare Friedensordnung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 erzwungen hatte.
Das magische Weltbild Magiefeindlichkeit, chiliastisches Denken und Magieanfälligkeit Der Prozess der Säkularisierung dauerte auch auf anderen Gebieten nach der Mitte des 17. Jahrhunderts an. Gemeint sind die Entsakralisierung und die Verweltlichung des Denkens oder, anders ausgedrückt, das Auseinandertreten von religiösem und weltlichem Bereich, die Trennung zwischen Kirche und Gesellschaft, die Scheidung von Theologie und alltäglicher Welt- und Lebensbewältigung – ein Prozess, der auch heute noch stattfindet, aber längst zugunsten der Weltlichkeit einer „postreligiösen Zeit“ (Thomas Nipperdey) entschieden zu sein scheint. Besonders deutlich wird die Fortdauer des Religiösen – nicht nur des Religiösen im dogmatisch-christlichen Sinne – nach dem Konfessionellen Zeitalter mit der Fortdauer des magischen Weltbildes. „Die Entzauberung der Welt: die Ausschaltung der Magie als Heilsmittel“13, wie Max Weber diesen Vorgang genannt hat, kam erst diesseits des Konfessionellen Zeitalters zu dem Ergebnis, das auch uns noch angeht. Mit vielen alltäglichen Erscheinungen ging die Imagination des Dämonischen einher. Christliches und Außerchristliches konnten sich vermengen, wobei viele Erscheinungsformen des magischen Weltbildes keineswegs christlich und auch keineswegs katholisch waren. Tatsächlich war manches davon, etwa der hinter den Hexenverfolgungen stehende Glaube an weibliche Unholde und Zauberinnen, vorchristlich-paganer oder synkretistischer Herkunft. Es ist auch richtig, die Christianisierung als erste und protestantische Reformation − und Katholische Reform, man denke nur an das Dekret über die Heiligen- und Bilderverehrung des Konzils von Trient − als zweite Phase im Prozess der Entzauberung der Welt vor der Aufklärung als dritter Phase zu verstehen. Zwar „huldigte der Protestantismus noch keinem ethischen Rationalismus, doch bereitete er einerseits mit seiner Magiefeindlichkeit den Boden für die Verbreitung der rationalen Erklärungsmuster der entstehenden modernen Wissenschaften, andererseits schuf er wichtige Voraussetzungen für die mentale Verankerung der Aufklärung.“14 In der katholischen Volksfrömmigkeit gab es in bestimmten Formen des Heiligenkultes und der Reliquienverehrung, im Umgang mit dem Weihwasser, mit den Gnadenorten und den dort von Wundern kündenden Mirakelbüchern, im Exorzismus und auch in der Eucharistie Momente, die von der theologisch ungebildeten, oft noch illiteraten Bevölkerung als magisches Wirken erfahren werden und magische Assoziationen wecken konnten, auch wenn das der von Trient
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herkommenden Theologie widersprach. Der Magiefeindlichkeit des Protestantismus entsprach somit im Katholizismus eine gewisse Magieanfälligkeit, die schon in Trient und erst recht von den Theologen der katholischen Aufklärung im späteren 18. Jahrhundert gesehen und bekämpft wurde. Im 17. Jahrhundert wurden diese Erscheinungen jedoch von manchen Orden zur Festigung der gegenreformatorischen Rekatholisierung eingesetzt. Sie konnten auch pastoral bisweilen von Wert sein. Sie spielten in der Barockfömmigkeit noch bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Rolle, um dann auf die Reformvorstellungen der katholischen Aufklärung zu stoßen. Der Protestantismus gab solchen Assoziationen an Magisches ungleich weniger Raum. Doch wirkte hier im 17. Jahrhundert in ähnlicher Weise der chiliastische Gedanke, dass Christus vor dem Ende der Welt ein Tausendjähriges Reich des Friedens errichten werde, nachdem der Teufel von einem Engel gefesselt werde, aber dann noch einmal freikomme, bevor er endgültig überwunden und die Welt in Auferstehung und Jüngstem Gericht ihr Ende finde. Diese im 16. Jahrhundert in den Kreisen der radikalen Reformation lebendigen Vorstellungen verbreiteten sich im 17. Jahrhundert von England und den Niederlanden aus im Pietismus oder in seinen Vorformen. Die Anhänger der chiliastischen Ideen stellten Berechnungen über den zu erwartenden Zeitpunkt des Eintreffens des Tausendjährigen Reiches an. Magie der Gebildeten und Magie des einfachen Volkes Das magische Weltbild besaß zwei Gestalten: es gab eine Magie der Mächtigen und der Gebildeten und Gelehrten und eine Magie des einfachen Volkes, der Analphabeten, Illiteraten und Ungebildeten. Zur Magie der Gebildeten gehörten vor allem die okkulten Wissenschaften wie Astrologie, Kabbala, Hermetik und Alchimie, deren heute kaum noch bekannte Buchproduktion gerade in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sehr umfangreich war und in Leopold I. einen interessierten Sammler und Leser fand. Hinter der Astrologie stand der Glaube an die Einflüsse der Sterne und an die Prognostizierbarkeit irdischer Vorgänge aus der Beobachtung der Gestirne. Die aus dem Judentum übernommene Kabbala, wie sie Christian Knorr von Rosenroth, den Leopold I. in den Adelsstand erhob, in seiner Cabbala denudata von 1677/86 betrieb, beruhte auf spekulativer Kosmologie, mit der die Eingeweihten die Welt erklären und die Zukunft vorhersehen können sollten. Die Hermetik, für die vor allem der Jesuit Athanasius Kircher zu nennen ist, trieb esoterische Studien um angebliche ägyptische Mysterien. Kircher, Professor in Würzburg, später in Rom, war in mancher Hinsicht ein auf die moderne Naturwissenschaft vorausweisender Gelehrter, der als erster Blutuntersuchungen mit dem Mikroskop vornahm. Für seine Hermetik steht vor allem sein 1652/54 veröffentlichter Oedipus Aegyptiacus, in dem man eine Art Hauptbuch des Okkultismus sehen kann. Kircher vertrat die Ansicht, dass die ägypti-
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schen Hieroglyphen okkulte Schlüssel zur christlichen Glaubenswahrheit seien, was er, ebenso wie seine Lehren über den universalen Streit zwischen schwarzer und weißer Magie, auf 2000 großformatigen Druckseiten darlegte. Die Alchimie, die auf weit verbreitetes Interesse stieß und in Leopold I. und in zahlreichen Angehörigen des Hochadels Förderer und Adepten besaß, glaubte an die Transmutation unedler in edle Metalle (Gold) und an den lapis philosophorum (Stein der Weisen), verband das Experiment mit der Spekulation und erfuhr in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts großen Aufschwung. Ein bedeutender Alchimist und Berater des Kaisers auch in alchimistischen Fragen war der Kameralist Johann Joachim Becher. Doch wurden alchimistische Experimente auch in Klöstern und von Geistlichen vorgenommen. Obgleich es auch im protestantischen Bereich Alchimisten gab, war die Alchimie im Wesentlichen eine Erscheinung der katholischen Welt, auch wenn es von kirchlicher Seite Kritik an alchimistischen Praktiken gab. Die Magie des einfachen Volkes lag im magischen Verständnis von Erscheinungsformen der katholischen Volksfrömmigkeit, aber auch in Resten paganer Kulte wie den verschiedenen Formen des apotropäischen (abwehrenden) Zaubers, mit dem böse Geister, Wiedergänger (Tote, die als unerlöste Seelen um Mitternacht auf Wegkreuzungen, Kirchhöfen oder an Orten ungesühnten Frevels umhergehen), der böse Blick oder Krankheiten der Menschen oder des Viehs abgewehrt werden sollten. Immer aber blieb die Magie der Ungebildeten religiös bestimmt, auch wenn sich das übernatürliche Geschehen am Ende als Betrug herausstellte wie im Falle des württembergischen Winzers Hans Keil, dem 1648 bei der Arbeit ein Engel erschien, der ihm eine Botschaft über die Sünden der Menschen um ihn her und über die dem ganzen Herzogtum Württemberg drohende Strafe Gottes verkündete und ihn beauftragte, diese zur Buße auffordernde Botschaft dem Herzog zu überbringen. Der Winzer Keil, der nach Haft und Folter den Betrug eingestand, war kein Analphabet, sondern ein eifriger Leser von Bibel, Gebets- und Erbauungsbüchern und Flugschriften. Daraus entnahm er die Versatzstücke für seine vorgetäuschte Vision, bei der es um Widerspruch gegen staatliche Steuerforderungen und um die Steuererhebungspraxis durch die örtlichen Beamten des Herzogs von Württemberg – die „Knechte Pharaos“, wie sie der Engel bei einer zweiten Begegnung mit Keil genannt hatte – ging. Täuschung war auch die Selbstbezichtigung der dreizehnjährigen Anna Catharina Weißenbühler aus dem schwäbischen Warmbronn, die 1683 von sich selbst behauptete, eine Hexe zu sein. Hexenverfolgungen Der Glaube an Hexen und die Hexenprozesse waren ein aus dem Mittelalter bekanntes, aber in besonderem Maße frühneuzeitliches Phänomen. Die Grundlage dieser Erscheinung, in der das magische Weltbild seinen Ausdruck fand, war der
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aus der Antike, aus dem alten Judentum und von den Germanen bekannte Zauberglauben, mit dem sich die Kirche seit der Spätantike auseinandersetzte, wobei sie überwiegend nicht den Zauberglauben bekämpfte – das wäre einer Antizipation der Aufklärung gleichgekommen –, sondern die Zauberei und die – tatsächlich oder angeblich – damit beschäftigten Menschen. So wurden Zauberer und Magier auf den Kirchenversammlungen der spätantiken Kirche mit Strafdekreten bedroht, bevor sich mittelalterliche Theologen wie der hl. Thomas von Aquin theoretisch mit der Zauberei, diese als real voraussetzend, auseinander setzten und zauberische Praktiken verwarfen. Eine Verschärfung des kirchlichen Kampfes gegen die Zauberei setzte mit den Albigenserkriegen im 13. Jahrhundert ein, mit der auch die Inquisition aufkam. 1326 stellte Johannes XXII. die Zauberer ausdrücklich den Ketzern gleich; 1484 folgte eine Hexenbulle Innozenz’ VIII., bevor der Dominikaner Heinrich Institoris 1487 seinen Malleus maleficarum (Hexenhammer) veröffentlichte, eine Art Anweisung für die Führung von Hexenprozessen, die bis 1669 immerhin 29 Auflagen erfuhr. Auch die Reformatoren, vor allem Luther, forderten den Kampf gegen Zauberei und Hexen. Nachdem das weltliche Strafgesetzbuch des Reiches, die 1532 vom Reichstag verabschiedete Carolina, Zauberei mit dem Feuertod bedrohte, fanden im 16. und 17. Jahrhundert ganze Wellen von Hexenprozessen statt, zu denen es in geringerer Zahl auch noch im 18. Jahrhundert kam. Dabei waren die Hexenverfolgungen keine spezifische Erscheinung einer bestimmten Konfession, aber doch ein in besonderem Maße mit dem Konfessionellen Zeitalter und mit dem nachfolgenden halben Jahrhundert verbundenes Moment. Es gab sie im lutherischen Lemgo ebenso wie im katholischen Herzogtum Westfalen, in Bayern und in Österreich, wobei ein beträchtlicher Teil – in der Steiermark bis zu einem Drittel – der Verurteilten und zumeist Verbrannten Männer waren. Die Hexenverfolgungen scheinen besonders zahlreich in konfessionell ungefestigten oder umkämpften oder erst seit kurzer Zeit konfessionell vereinheitlichten Gebieten vorgekommen zu sein, wo ihnen eine Funktion bei der religiösen Kontrolle zukam. Die Hexenverfolgungen sind daher – vor dem Hintergrund sozialer und ökonomischer Veränderungen und eingelagert in das magische Weltbild – als Sekundärphänomen der Konfessionalisierungsprozesse zu interpretieren. Dem Hexenglauben und den Hexenverfolgungen lagen verschiedene Vorstellungen zugrunde, die für die Menschen nach der Aufklärung nur noch schwer nachvollziehbar sind, für die Teilhaber des magischen Weltbildes aber Realität waren. Dazu gehörte die Vorstellung vom Pakt und von der Buhlschaft bestimmter Menschen − der Hexen − mit dem Teufel und vom Geschlechtsverkehr mit Dämonen und satanischen Gestalten. Hinzu trat die Vorstellung vom Flug der Hexen durch die Lüfte, oft auf einem Besen, und von der Versammlung der Hexen zum Hexensabbat, wo der Teufel angebetet wurde, aber auch die Vorstellung von der zeitweiligen Verwandlung der Hexen in Tiere. Die Hexen, bzw. die dafür gehaltenen Menschen, mussten somit als Anbeter des Teufels, die sich
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teuflischer Praktiken zu bedienen wussten, als Gotteslästerer höchsten Grades erscheinen. Wenn es aus der Sicht des 20. oder 21. Jahrhunderts auch kein vernunftgeleitetes Argument zur Verteidigung des Hexenwahns gibt, so ist doch festzustellen, dass dieser Wahn in seiner Zeit vernünftig war, galt es doch, die Reinheit des Volkes Gottes zu bewahren und die durch Zauberei und Unzucht mit bösen Geistern von Gott abgefallenen Personen zu töten – wie es die Bibel im Alten Testament in Ex 22,17 verlangte: „Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen.“ Nicht die Hexenprozesse und die Hexenverfolgungen waren ein Wahn, sondern der Glaube an die Realität des Zaubers und damit das magische Weltbild, das hinter den Hexenverfolgungen stand. Es fanden sich auch Verteidiger des Hexenglaubens, darunter Jean Bodin, der in anderer Hinsicht zu den Wegbereitern der Moderne gehörte. Früh traten aber auch Gegner des Hexenglaubens auf, so in der zweiten Hälfte des 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Ulrich Molitor, Johann Friedrich de Ponzinibus, Agrippa von Nettesheim oder Andreas Alciati und in der zweiten der klevische Arzt Johannes Weyer, der den Hexenglauben als Wahnvorstellung zu entlarven suchte, oder der Engländer Reginald Scot. Größere Bedeutung gewann der Jesuit Friedrich Spee von Langenfeld mit seiner Cautio criminalis von 1631, der aber am Hexenglauben grundsätzlich festhielt und nur die Prozessführung verurteilte, bevor der lutherische Jurist Benedikt Carpzov durch seine Arbeiten zum Strafrecht eine neue Welle von Hexenprozessen einleitete, die in Teilen des protestantischen Deutschland vor allem in den Jahren 1660 bis 1675 viele Opfer forderte. Endgültig überwunden wurden Magie und Hexerei, zumindest theoretisch und als Straftatbestände, erst durch den Niederländer Balthasar Bekker, der in seinem Werk De betooverde weereld von 1691/93 den Glauben an Kobolde, Teufel und Gespenster, Hexen und Zauberer verwarf, aber damit noch die Kritik des orthodoxen Calvinismus auf sich zog, und von dem deutschen Frühaufklärer Christian Thomasius mit seiner Schrift De crimine magiae von 1701. Dennoch fanden auch im 18. Jahrhundert noch immer einzelne Hexenprozesse statt. Doch war das nun das Jahrhundert der Aufklärung.
Die Anfänge des Atheismus Die Bestreitung der Existenz Gottes Die Renaissance wurde in diesem Buch mit Paul Oskar Kristeller als „eine im Grunde christliche Epoche“15 bezeichnet. Für das 16. Jahrhundert hat Lucien Febvre die Möglichkeit von Atheismus verneint.16 Winfried Schröder fragt: „Wie – und wann – kam es dazu, dass die einst für die Mehrzahl der Menschen fraglos gültige Annahme der Existenz Gottes mit Gründen bestritten wurde?“17 Unter Atheismus verstehen nicht alle dasselbe. Es gibt einen vagen Atheismusbegriff, der neben der Verneinung der Existenz Gottes verschiedenste Formen von Religionskritik und Heterodoxie als Atheismus gelten lässt. Daneben steht ein präziser Atheismusbegriff, der nur auf die theoretisch ausformulierte Artikulation des Gedankens der Nichtexistenz Gottes Anwendung findet. Diesen philosophischen Atheismus vertrat im 18. Jahrhundert der in Frankreich lebende deutsche Baron Paul-Henri Thiry d’Holbach in seinem Buch Le système de la nature von 1771. Aber Holbach war nicht der erste Vertreter des philosophischen Atheismus. Die Prägung des Atheismusbegriffes (griech. ¥qeoj gottlos) weist zwar auf die Antike zurück, wie der Gedanke der Nichtexistenz Gottes als Denkmöglichkeit im Alten Testament − in dem Dixit insipiens in corde suo non est Deus (Der Unverständige sprach in seinem Herzen: es gibt keinen Gott) von Ps 13,1 und Ps 52,1 der Vulgata bzw. Ps 14,1 und Ps 53,1 der Lutherbibel − aufscheint, um dort als Torheit zurückgewiesen zu werden, und wie auch Platon im 10. Buch der Nomoi die Ansicht, dass die Götter nicht existieren, verwirft und den Theismus begründet. Doch sei der Atheismus des Mittelalters nur ein Produkt der Legendenbildung und der der Renaissance, wie Schröder − Kristeller und Febvre bestätigend − anmerkt, nur ein Phantom. Noch im 16. und bis ins 17. Jahrhundert hinein habe die Bestreitung des Existenz Gottes nicht zu den tatsächlich vertretenen Ideen gehört. Über den angeblich in einem Manuskript des 1547 in Genf hingerichteten Jacques Gruet enthaltenen Satz „Dieu n’est rien“ (Gott gibt es nicht) sei man nur durch einen Brief Calvins unterrichtet. Die von Marin Mersenne 1623 überlieferte These des ihm zufolge 1588 in Krakau gedruckten Buches Simonis religio, Gott sei eine Erdichtung der Menschen, entlarvt Schröder mit Pierre Bayle als antiprotestantische Schmähschrift. Auch das „homo est creator Dei“ (Der Mensch ist der Schöpfer Gottes), angeblich von dem Polen Kazimierz Lyszczynski formuliert, begegnet Schröders quellenkritischen Einwänden, der aber einräumt, dass mancher im Geheimen so gedacht haben mag.
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Philosophischer Atheismus in der littérature clandestine des 17. Jahrhunderts Erst im späteren 17. Jahrhunderts scheinen erstmals solche Gedanken anderen mitgeteilt worden zu sein. Schröder macht deutlich, dass „ein philosophisch ausformulierter Atheismus erstmals im Milieu der littérature clandestine greifbar ist, in Texten, die in ihrer Zeit zum größten Teil handschriftlich, gelegentlich in illegalen Drucken kursierten“18. Als älteste Dokumente des offen artikulierten Atheismus nennt er die zu Beginn der 1670er Jahre erschienenen Flugschriften Matthias Knutzens, die aber noch von philosophisch dürftigem Gehalt seien, anders als Untergrundschriften wie der Theophrastus redivivus und das Symbolum sapientiae. Der Theophrastus, die anonyme Schrift wohl eines Franzosen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, kann als ältester erhaltener Text des philosophischen athéisme pur gelten; das Symbolum entstand wahrscheinlich zwischen 1681 und 1688. In diesen und ähnlichen Schriften der littérature clandestine des späteren 17. Jahrhunderts sieht Schröder die Anfänge eines theoretisch ausformulierten Atheismus. Er unterscheidet den agnostischen und den materialistischen Atheismus. Dieser, Vorläufer des Holbach’schen Materialismus, suchte dem Christentum und dem Theismus eine materialistische Welterklärung entgegenzusetzen. Er begegnet in dem Betrügertraktat Traité des trois imposteurs, der nach Schröder in der heute bekannten Fassung nicht vor 1677 entstanden sein kann, aber auch in der Concordia des Friedrich Wilhelm Stosch von 1692. Doch sei diese Spielart des Atheismus dem Theismus theoretisch unterlegen gewesen. Für Schröder ist deshalb der agnostische Atheismus die entscheidende Gestalt des frühen philosophischen Atheismus. Der Historiker möchte wissen, warum der philosophische Atheismus im späteren 17. Jahrhundert entstand. Schröder verwirft die Religions- und Bibelkritik, wie sie in dieser Zeit mit der Histoire critique du Vieux Testament des französischen Oratorianerpaters Richard Simon von 1678 aufkam, als Ursache des Atheismus, weil die Bibelkritik die Existenz Gottes unangetastet gelassen habe. Gegen die Herleitung des Atheismus aus der neuen Naturwissenschaft führt er die mangelnde Deckung der Wunderkritik der frühen Atheisten und der New Science und die Hilflosigkeit des Atheismus angesichts der Physikotheologie an. Eher denkbar scheint die Herleitung des philosophischen Atheismus aus der Religionspsychologie und aus der berühmten Betrugshypothese oder aus der Praktischen Philosophie, die lange vor Pierre Bayle die Trennung von Moral und Religion und damit eine Moral ohne Gott für möglich hielt. Die Hauptursache des philosophischen Atheismus sieht Schröder in der Kritik an den scholastischen Gottesbeweisen, wobei die frühen Atheisten die Weiterentwicklung der Gottesbeweise bei Leibniz oder Descartes weitgehend ignorierten. Doch bleibt am Ende Ratlosigkeit: „Warum die seit der Antike zur Verfügung stehenden Bausteine einer Kritik der philosophischen Theologie erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
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derts zu einer atheistischen Strategie gebündelt wurden, ist aus der Philosophieund Theologiegeschichte heraus nicht verständlich zu machen.“19 Es ist denkbar, dass das Nebeneinander konkurrierender Konfessionen und die Verbindung von Konfessionalisierung und Säkularisierung hinter dem Aufkommen des philosophischen Atheismus stand. Aber auch das ist nur eine Hypothese. Als Realität festzuhalten bleibt, dass es seit dem späteren 17. Jahrhundert die philosophisch argumentierende Leugnung der Existenz Gottes gibt.
Scientific Revolution und Physikotheologie Naturwissenschaft seit der Legitimierung der curiositas Der Name Hans Blumenbergs ist in diesem Buch schon gefallen, ebenso der Titel seines Werkes Die Legitimität der Neuzeit, in dem er von der „Rehabilitierung der theoretischen Neugierde am Anfang der Neuzeit“ spricht.20 Blumenberg nimmt den Begriff der curiositas (Neugierde) auf, wie ihn der hl. Augustinus in den Confessiones formulierte.21 Augustinus fügte die curiositas in den Lasterkatalog ein. Sie steht bei ihm neben der concupiscentia carnis (Fleischeslust), der concupiscentia oculorum (Augenlust) und der ambitio saeculi (Hoffahrt der Welt).22 Der Gegenentwurf zu Augustinus waren Aristoteles mit seiner im ersten Satz der Metaphysik zum Ausdruck gebrachten Hochschätzung des Wissens23 und der hl. Thomas von Aquin mit seiner Wertung: omnis scientia bona est (alles Wissen ist gut).24 Aber dominant war nicht die Bejahung der Wissbegierde, sondern ihre Einordnung unter die Laster. Blumenberg zeichnet den Prozess der „Legitimierung der theoretischen Neugierde“ nach und fasst zusammen: „Die theoretische Einstellung mag eine Konstante der europäischen Geschichte seit dem Erwachen des jonischen Naturinteresses sein; die Ausdrücklichkeit der Insistenz auf Willen und Recht zur theoretischen Neugierde konnte diese Einstellung aber erst annehmen, nachdem ihr Widerspruch [und] Einschränkung entgegengesetzt worden waren.“25 Die Legitimierung der wissenschaftlichen Neugierde wurde zuerst von Nikolaus Cusanus in De docta ignorantia von 1440 vollzogen. Mit seiner Unterscheidung von drei Größten, darunter als zweites Größtes das Universum, gelangte Cusanus zu kosmologischen Theorien, die Giordano Bruno aufnahm und die u. a. zur Annahme der Unbegrenztheit des Kosmos, zur Aufgabe des geozentrischen Weltbildes und zur Hypothese einer Pluralität von Welten führten. Die endgültige Trennung der wissenschaftlichen Neugierde von der Theologie erfolgte jedoch erst 1613, mit jenem Brief des Galileo Galilei, der zum Anlass für den ersten Galilei-Prozess von 1615 wurde − der zweite, entscheidende Prozess folgte 1633. In diesem Brief an den Benediktiner Benedetto Castelli stellte Galilei die Gleichwertigkeit von Theologie und Naturwissenschaft und die Überlegenheit der naturwissenschaftlichen Forschung gegenüber der theologischen Bibelauslegung fest und forderte, dass die Theologie die Aussagen der Bibel in Übereinstimmung mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen interpretieren müsse. Vor Galilei lagen die Entdeckungen von Nikolaus Kopernikus und Johannes Kepler. Kopernikus beschrieb 1543 die Erde als Teil eines sich um die Sonne bewegenden Planetensystems. Man spricht − seit Immanuel Kants Vorrede zur zweiten Auf-
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lage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 − vom Kopernikanischen System und von der Kopernikanischen Wende. Das kopernikanische System war unvollkommen, weil sich danach die Planeten in exakten Kreisbahnen bewegten. Hier sorgte Kepler mit seinem ersten Gesetz von 1604 für Abhilfe, indem er, Beobachtungen Tycho Brahes aufnehmend, nachwies, dass die Planeten auf Ellipsen laufen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Gegen Bruno betrachtete Kepler die Fixsterne nicht als sonnenähnlich. Kopernikus arbeitete noch nicht mit dem Experiment als Beweisgrundlage. Das änderte sich mit Galilei, der nur noch durch Beobachtung und Berechnung gewonnene Ergebnisse gelten ließ, Spekulationen verwarf und durch die Entwicklung des physikalischen Begriffs der Schwerkraft, durch seine Forschungen zu den Fallgesetzen, durch die Erfindung wichtiger Instrumente wie des Fernrohrs, durch die Entdeckung der Trabanten des Planeten Jupiter, der Phasen des Mars und der Venus, der Saturnringe und der Sonnenflecken usw. bedeutende Leistungen für Physik und Astronomie erbrachte. Nachdem Kepler die Himmelsbewegungen mathematisch exakt beschrieben hatte, trug Galilei entscheidend dazu bei, die Mechanik als mathematische Wissenschaft einzuführen. Zugleich begründete er das Prinzip des Experiments als Beweisgrundlage. Damit wurden alle Erscheinungen der materiellen Welt grundsätzlich messbar und zählbar. Zwar spielten das ganze 17. Jahrhundert hindurch Astrologie und Alchimie noch immer eine große Rolle. Doch verbreiteten sich die Prinzipien der modernen Naturwissenschaft − Experiment, mathematische Darstellung, Quantifizierbarkeit − bald auch außerhalb von Physik und Astronomie. Das gilt für die Medizin und für die Entdeckung des doppelten Blutkreislaufes durch William Harvey 1628. Hierher gehört auch die Anatomie und besonders das Wirken von Andreas Vesalius, womit der menschliche Körper der wissenschaftlichen Neugierde geöffnet und seine Erforschung zur Grundlage der wissenschaftlichen Heilkunde wurde. Rembrandts großes Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp von 1632 im Mauritshuis in Den Haag und seine Anatomie des Dr. Johan Deijman von 1656 im Historischen Museum von Amsterdam sind Ikonen dieser auf den menschlichen Körper gerichteten wissenschaftlichen Neugierde. Große Bedeutung besaßen die anatomischen Forschungen des Holländers Jan Swammerdam, die zur Entdeckung der roten Blutkörperchen und der Lymphgefäße führten. Dasselbe gilt für die Benutzung des Mikroskops und die Entdeckung der Bakterien durch einen anderen Holländer, Antoni van Leeuwenhoek. Fernrohr und Mikroskop wurden fast zu Kultobjekten. So erstreckte sich die wissenschaftliche Neugierde ebenso auf den Makrokosmos der Astrophysik und auf die Erforschung des Weltalls wie auf den Mikrokosmos und die Welt der Bakterien. 1662 entstand in London mit der Royal Society das wichtigste naturwissenschaftliche Forschungszentrum jener Zeit, dessen Mitgliedschaft zehn Jahre später Isaac Newton erwarb. Zu Newtons Leistungen gehörte die Zerlegung des Lichts in Spektralfarben, die Emissionstheorie des Lichts und die Entwicklung
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des Spiegelteleskops sowie die der Fluxationsrechnung als Teil der Differentialrechnung − hier gelang Leibniz der Durchbruch −, vor allem aber die Entdeckung des Trägheitsgesetzes und des Gravitationsgesetzes, aber auch ihres Zusammenhangs: Gäbe es nur die Trägheit und keine Schwerkraft, so würde der Planet Erde auf gerader Linie laufen und die Nähe der Sonne verlassen; gäbe es nur die Gravitation oder Schwerkraft, so wäre die Erde längst in die Sonne gefallen. Auf Newton geht die Annahme der Existenz eines absoluten Raumes, einer absoluten Zeit und einer absoluten Bewegung zurück. Nach Kepler und Galilei war es Newton, der die Mechanik auf die Himmelsbewegungen anwandte. Newtons Prinzipien wurden für zwei Jahrhunderte die Grundlage des physikalischen Weltbildes. Die Royal Society in London, die Universität Leiden in Holland und die 1666 gegründete Académie des Sciences in Paris wurden die wichtigsten Zentren der Scientific Revolution des 17. Jahrhunderts.26 Theologie unter der Herausforderung der neuen Naturwissenschaft Im späteren 17. und auch noch im 18. Jahrhundert war, vor allem im protestantischen Raum, eine Gattung theologischer Literatur verbreitet, die den Dialog mit den Naturwissenschaften führte und Erkenntnisse der Naturwissenschaft in theologische Aussagen integrierte und deren Autoren zugleich Naturwissenschaftler waren. Das war die Physikotheologie. Der Begriff wurde − nach dem Engländer und anglikanischen Bischof Samuel Parker, dem Verfasser der 1665 in Oxford gedruckten Tentamina Physico-Theologica, und dem Deutschen Johann Moller mit seinen Similitudines Physico-Theologicae von 1652 − von dem Engländer William Derham geprägt und findet sich im Titel seines Werkes Physico-Theology von 1713. Der Untertitel zeigt, worum es der Physikotheologie ging: A demonstration of Being and Attributes of God from his works of creation, also um den Beweis des Daseins und der Eigenschaften Gottes aus seinen Schöpfungswerken. Dieses Motiv gilt nicht nur für Derham, sondern auch für den Botaniker und Theologen John Ray mit seinem Werk The Wisdom of God manifested in the Works of Creation von 1691, den Botaniker Nehemiah Grew mit seinem physikotheologischen Werk von 1701, den Theologen John Hancock mit seinen Arguments to prove the Being of God von 1707 oder William Whiston mit seinen Astronomical principles of a religion, natural and revealed von 1717. In den Niederlanden war der wichtigste Physikotheologe Bernhard Nieuwentijt mit seinem 1732 ins Deutsche übersetzten physikotheologischen Werk von 1715, dessen deutsche Fassung den Titel trägt: Die Erkenntnis der Weisheit, Macht und Güte des göttlichen Wesens aus dem rechten Gebrauch der Betrachtungen aller irdischen Dinge dieser Welt, zur Überzeugung der Atheisten und Ungläubigen. Aus Deutschland ist vor allem Johann Albert Fabricius als Physikotheologe zu nennen. Die Sache Physikotheologie reichte zeitlich vor die Verbreitung des Begriffs zurück. Doch ergeben sich dabei Abgrenzungsprobleme gegenüber dem traditio-
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nellen Schöpfungslob wie auch gegenüber der Theologia naturalis, worunter man Verschiedenes verstehen kann, u. a. ein Erweisen der Existenz und der Eigenschaften Gottes aus Vernunftschlüssen, aber auch ein empirisches Feststellen der Existenz und der Eigenschaften Gottes in den Schöpfungswerken. Letzteres ist Physikotheologie. Man kann die Physikotheologie mit Wolfgang Philipp bis zu Raimund de Sabunde und seinem auch als Theologia Naturalis bezeichneten Liber creaturarum und darüber noch hinaus bis auf Raimundus Lullus zurückführen.27 Tatsächlich verbindet den katalanischen Gelehrten des 15. Jahrhunderts mit der Physikotheologie der Ansatz des Nicht-von-Mir-gemacht bezüglich der anderen Geschöpfe und die existentielle Aussage des Ich-von-Gott-gemacht. Auch der apologetische Ansatz gegen Infragestellungen des theistischen Prinzips scheint bei Sabunde gegeben zu sein. Das ist das entscheidende Kriterium, war doch „das Aufkommen der Physikotheologie [...] die innere Konsequenz der apologetischen Situation“28. und der Versuch, christlichen Glauben und naturwissenschaftliche Erkenntnis, Offenbarung und Vernunft, zu harmonisieren. Diese apologetische Situation war bei Luther noch nicht gegeben. Vier Jahre vor der Veröffentlichung von Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium, 1539, nahm Luther in einer Tischrede Stellung zu Gerüchten über den neuen Astrologen, der totam astrologiam auf den Kopf stellen wolle. Er, Luther, glaube der Heiligen Schrift und dem Buch Josua, wo Josua der Sonne und dem Mond befohlen habe, stillzustehen (Jos 10,12f.).29 Luther bedurfte der Physikotheologie noch nicht. Anders als Luther war Melanchthon naturwissenschaftlich interessiert. Seine Initia doctrinae physicae von 154930 zeugen von der Auseinandersetzung mit Kopernikus, dessen Werk er 1550 in einem Brief an Christoph Stathmion31 ausdrücklich empfahl. Aber Melanchthons Naturverständnis blieb so formuliert, „dass jeder Widerspruch, ja schon jede erkennbare Spannung [...] vermieden wird“32. Die klassische aristotelische Tradition der Astronomie war für Melanchthon eine Ergänzung des biblischen Schöpfungsberichts, wie er die Wissenschaften als Strahlen der Weisheit Gottes − radii suae sapientiae33 − begriff. Folgt man Ralph Keen, so lag Melanchthons Sicht „mehr im Mittelalter, da sein Ziel eine Hermeneutik der Frömmigkeit“34 war. So war auch für ihn die apologetische Situation noch nicht gegeben. Die Physikotheologen waren begeistert von der neuen Naturwissenschaft. Doch war diese Begeisterung eingebunden in die apologetische Situation, vor deren Hintergrund die Physikotheologie die Bestätigung der Existenz und der Güte Gottes in der Natur mit den Mitteln der Naturwissenschaft suchte. Mit diesem Programm ist die Physikotheologie gescheitert. Es erwies sich als „unmöglich, irgendwie eine kausalmechanische Naturbetrachtung für den Erweis der Providentia zu verwerten“35. Der kosmologische und der teleologische Gottesbeweis und damit der mittelalterliche Versuch, den Glauben an Gott rational durch Gottesbeweise zu stützen, wurde im Fortgang der Aufklärung fragwürdig. Das galt schon für Johann Albert Fabricius, der in seiner Hydrotheologie von 1734
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der von ihm bis dahin gepflegten Physikotheologie alten Stils eine Absage erteilte und ihr die Sicht entgegenstellte, dass nur dem Glaubenden die Offenbarung einsichtig sei. So war die Physikotheologie zwischen Galileis Brief an Castelli von 1613 und Kants Kritik der reinen Vernunft von 1781 der − untaugliche − Versuch, Schöpfungsglauben und naturwissenschaftliche Erkenntnis in Einklang zu bringen. Die Behandlung Gottes als naturwissenschaftliche Formel hielt zwar zunächst das religiöse Weltbild präsent. Auf längere Sicht führte das Programm, die Existenz Gottes aus den Naturphänomenen nachzuweisen, aber zum Dialogabbruch zwischen Theologie und Naturwissenschaft.
Irenik und Antikonfessionalismus Konfessionelle Reunionsversuche Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts sah auch Bestrebungen zur Überwindung der konfessionellen Gegensätze sowohl zwischen Katholiken und Protestanten als auch innerhalb des Protestantismus, also zwischen Lutheranern und Reformierten. Diese konfessionellen Reunionsversuche standen in Verbindung mit zwei an sich gegensätzlichen Erscheinungen, nämlich einerseits mit kirchlichem Autoritätsverlust und religiösem Indifferentismus, worin sich die Aufklärung des 18. Jahrhunderts anzukündigen begann, andererseits mit einer Vertiefung der Religiosität. Beides machte sich nach dem Dreißigjährigen Krieg bemerkbar. Beides führte zur Haltung der Irenik (griech. h` e„r»nh Frieden) und zum Antikonfessionalismus. Beides kam auch den Reunionsbestrebungen zugute. Hinzu traten politisch-materielle Interessen beteiligter Fürsten. Einen ersten Schwerpunkt gewannen die Reunionsbestrebungen in Mainz in dem Kreis um den Kurfürst-Erzbischof Johann Philipp von Schönborn, den Weihbischof Peter van Walenburch und den Minister Johann Christian von Boineburg. Hier kam schon 1660 mit dem Mainzer Unionsplan ein Projekt zur Wiedervereinigung der Konfessionen auf. Ähnliche Schwerpunkte bildeten im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts die welfischen Höfe in Hannover und Wolfenbüttel. Das hing mit der auf Wiedervereinigung der Konfessionen angelegten evangelischen Vermittlungstheologie des 1656 gestorbenen Georg Calixt zusammen, die dieser als Professor der Universität Helmstedt vertrat, und mit dem Wirken von Protestanten − und Calixt-Schülern − wie dem Abt des evangelischen Klosters Loccum, Gerard Walter Molanus. Eine wichtige Verbindung zwischen den Zentren in Mainz und in Niedersachsen stellte der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz her, der zwischen 1683 und 1702 in ausgedehnten Verhandlungen und umfangreichen Briefwechseln für religiöse Einheit warb, die für ihn die Grundlage einer auf das Christentum gegründeten europäischen Friedensordnung bildete. Hauptvertreter des Reunionsgedankens waren auf katholischer Seite Bossuet und der Kölner Franziskaner Christoph de Royas y Spinola. Dieser war ein 1626 in dem damals zu den Spanischen Niederlanden gehörenden Roermond geborener Spanier, der Bischof von Wiener Neustadt wurde. Zu nennen ist auch der zum Katholizismus konvertierte Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels, der dem Mainzer Kreis um Johann Philipp von Schönborn angehörte und wahrscheinlich der Verfasser des Mainzer Unionsplans von 1660 war. 1666 veröffentlichte Landgraf Ernst seine berühmteste Schrift, die den Titel
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Discreter Katholischer trug. Darin ging es ihm, wie in zahlreichen Denkschriften und Briefen und in dem 1651 auf seiner Burg Rheinfels am linken Rheinufer über St. Goar veranstalteten Religionsgespräch, neben der Wiedervereinigung der getrennten Konfessionen auch um die Reform von Kirche und Reich. So verlangte Ernst von Hessen-Rheinfels in dieser Schrift aus Kirchenreformgründen und zur Reunion der Konfessionen den Verzicht von Papst und Bischöfen auf ihre weltliche Herrschaft und eine einschneidende Beschränkung ihrer Einkünfte. Daneben dachte er, zur Stärkung der Stellung des Kaisers, an die Errichtung eines dem Kaiser zustehenden Kurfürstentums auf der Grundlage von zu säkularisierendem Kirchengut, dessen Sitz Würzburg sein sollte. Ernst forderte eine Reform des Kardinalskollegiums durch proportionale Vertretung der einzelnen Nationen in diesem Gremium zur Papstwahl und durch Einführung des dreißigsten Lebensjahres sowie des theologischen Doktorgrades als Mindestvoraussetzung für die Erhebung zum Kardinal, ferner durch Bindung der Kardinäle an die Residenzpflicht in Rom. Zum Papst sollte nur gewählt werden können, wer mindestens 40 und höchstens 70 Jahre als war. Der Landgraf bestritt die Unfehlbarkeit des Papstes und gestand nur eine Unfehlbarkeit der Kirche als Ganzer zu. Er wandte sich gegen die weltlichen Verstrickungen der Kirche und sah das Ideal der Kirche in der frühchristlichen Gemeinschaft in der Zeit vor der im 4. Jahrhundert unter Kaiser Konstantin eingetretenen Verbindung von Staat und Kirche. Die Kirche benötige weder geistliche Fürstentümer noch einen stiftsfähigen Adel, sondern Frömmigkeit und theologische Gelehrsamkeit sowie Bischöfe als gute Hirten ihrer Herde, die die Pontifikalhandlungen persönlich vornähmen und nicht Weihbischöfen übertrügen. So trat Ernst auch gegen Bistumskumulationen und für die Residenzpflicht der Bischöfe ein. Für die deutsche Reichskirche verlangte er im Interesse der Seelsorge und wegen der Zusammensetzung eines künftigen ökumenischen Konzils eine erhebliche Verkleinerung und Vermehrung der Bistümer auf mindestens 150 Diözesen. In einem neuen Reformvorschlag von 1690 dachte Ernst an die Säkularisation der drei Erzstifte Köln, Mainz und Trier und an die Aufteilung ihrer Territorien unter Hessen-Kassel, Kursachsen und Württemberg. Das war als Anreiz für den Übertritt dieser Fürstenhäuser zu einer erneuerten katholischen Kirche gedacht. Fürstenkonversionen Dieselbe Verknüpfung von Säkularisationsvorhaben mit Reunionsplänen und Konversionsabsichten trat auch in den Säkularisationsprojekten verschiedener Reichsfürsten hervor. Dabei waren die Übertritte regierender Fürsten oder jüngerer Fürstensöhne zur katholischen Kirche selten religiös motiviert, sondern allenfalls durch die Ausstrahlungskraft des päpstlichen Hofes in Rom und des katholischen Kaiserhofes in Wien beeinflusst. Zumeist standen handfeste politi-
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sche Interessen im Mittelpunkt, so bei Kurfürst August dem Starken von Sachsen, der sich durch seine Konversion 1697 die Wahl zum König von Polen sicherte. Ebenso konnte die Konversion im Dienst dynastischer Ambitionen stehen, wie das bei Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel deutlich ist, der so zu der Eheschließung seiner Enkelin Elisabeth Christine mit dem späteren Kaiser Karl VI. 1710 beitrug. Zumeist ging es um die Möglichkeiten, die ein Übertritt zur katholischen Kirche für den Aufstieg in der Reichskirche bot. So brachte die schon 1613 vollzogene Konversion des Hauses Pfalz-Neuburg den Nachkommen des Konvertiten Wolfgang Wilhelm sieben Erzbischofs- oder Bischofsstühle und rund 40 lukrative Domherrenstellen ein. Politische Nützlichkeitserwägungen scheinen, trotz seiner mystischen Neigungen und theologischen Interessen, sogar bei der 1655 erfolgten Konversion des Pfalzgrafen Christian August von Sulzbach zumindest eine Rolle gespielt zu haben, nämlich das Kalkül, „mit Hilfe seiner Konversion die volle Unabhängigkeit von [Pfalz-] Neuburg zu erreichen“36. Innerprotestantische Unionsbestrebungen Dem innerprotestantischen Ausgleich zwischen Lutheranern und Reformierten diente das Lehrgespräch der Theologieprofessoren der lutherischen Universität Rinteln und der reformierten Universität Marburg 1661 in Kassel. Dagegen richtete sich die Kritik der Wittenberger theologischen Fakultät mit dem Pamphlet Epicrisis de colloquio Casselana. Die in dieser Schrift enthaltene Polemik gegen die Reformierten brachte Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg auf den Plan, der darin „eine Untergrabung wichtiger Positionen des Westfälischen Friedens [...] und damit eine Gefährdung der Einheit der Protestanten“37 sah. So kam es 1662 zum Berliner Religionsgespräch zwischen Lutheranern und Reformierten. 1664 verbot der Kurfürst Reformierten und Lutheranern gegenseitiges „Schmähen und Lästerungs-Nahmen“38. Dem innerprotestantischen Ausgleich dienten auch die Unionsbestrebungen des 1660 als Enkel von Comenius geborenen Daniel Ernst Jablonski, die ihn − er hatte in Oxford studiert − auch eine lutherischreformiert-anglikanische Union in den Blick nehmen ließen. „Die Pläne scheiterten 1724, als der anglikanischen Kirche von den sächsischen Lutheranern eine Union unter Ausschluß der Reformierten angeboten wurde, sodaß der preußische König die Verhandlungen mit England abbrach.“39
Aufklärung Wurzeln, Ursachen und Grundzüge der Aufklärung Die Aufklärung setzte in Deutschland kaum später ein als in England oder Frankreich, nämlich um 1690, wies aber in ihrem Verlauf Verzögerungsmomente auf, wodurch sie hier erst nach dem Siebenjährigen Krieg zur treibenden Kraft wurde. Länger ließ die Verbreitung der Aufklärung im katholischen Deutschland auf sich warten. Während die Wurzeln der Aufklärung weit ins Mittelalter und damit vor Renaissance und Reformation – etwa zu der im 13. Jahrhundert entstandenen Philosophie des Averroismus – zurückreichten und im Menschenbild der Renaissance greifbar werden, lag die wichtigste Ursache der Aufklärung in der Scientific Revolution, mit der im 17. Jahrhundert die Mathematik zur Leitwissenschaft anstelle der Theologie wurde. Mit Galilei und den ihm folgenden Naturwissenschaftlern begann die Herrschaft der Zahl und des Messens quantitativer Größen in Raum und Zeit. Die Welt und alle Erscheinungen wurden von nun an grundsätzlich als messbar und zählbar betrachtet. Die Naturerkenntnis bediente sich der methodisch strengen Ableitung ihrer Sachverhalte aus vorausgesetzten Prinzipien. Diese Prinzipien oder naturwissenschaftlichen Gesetze traten an die Stelle, die zuvor Gott als Quelle für Existenz, Wesen und Ordnung der Dinge, aber auch der Teufel oder böse Geister als Urheber von Naturkatastrophen, Schicksalsschlägen und dergleichen eingenommen hatten. Das führte zu einem neuen philosophischen Selbstbewusstsein, mit dem die autonome Vernunft in Konkurrenz zu Gott treten zu können schien. Dieses Selbstbewusstsein verband den Cartesianismus und den französischen Mathematiker und Philosophen René Descartes, der an der Verbindung von Theologie und Naturwissenschaft festhielt, aber mit seiner Methode des grundsätzlichen Zweifels die rationalistisch-mechanische Denkweise begründete, mit dem empiristischen Anticartesianismus Newtons, der als bedeutendster Physiker seiner Zeit auch eine physikotheologische Seite hatte. Das naturwissenschaftliche Experiment erwies aber nicht nur die Gesetzlichkeit der Natur, sondern auch die Erkenntnisfähigkeit der menschlichen Vernunft. Die Vernunft schien den Zugang zu öffnen zu allen Fragen der Natur und des menschlichen Lebens. Durch die wissenschaftliche Revolution wurde die Vernunft ihrer selbst bewusst. So konnte im 18. Jahrhundert, in the Age of Reason, das jetzt auch in Literatur und Popularphilosophie propagierte und die Theologie umformende Vernunftprinzip der Aufklärung fast alle Lebensbereiche erfassen, wenn die Auswirkungen der Volksaufklärung oft auch erst im 19. Jahrhundert hervortraten.
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Andere Ursachen der Aufklärung neben der neuen Naturwissenschaft waren das im 17. Jahrhundert von Hugo Grotius, Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf − im katholischen Bereich von Francisco Suárez − erneuerte Naturrechtsdenken, die historische Bibelkritik Richard Simons, die Entstehung der geschichtlichen Kritik seit Pierre Bayle und die Säkularisierung des Geschichtsbildes mit der Verdrängung der Heilsgeschichte, die Konfrontation der Europäer mit fremden Hochkulturen im Zuge der kolonialen Expansion – und nicht zuletzt Konfessionsbildung und Konfessionalisierung seit dem 16. Jahrhundert und das dadurch entstandene Nebeneinander mehrerer christlicher Konfessionskirchen, die sich gegenseitig als häretisch verwarfen. Dadurch wurde die dogmatische Selbstgewissheit relativiert. Es gab also einen inneren Zusammenhang zwischen Konfessionalisierung und Aufklärung, wie es solche Zusammenhänge zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung gab. Wie die Konfessionalisierung zu den Entstehungsmomenten der Aufklärung gehörte, so trug die Aufklärung zum Abbau der konfessionellen Strukturen bei. Ein wichtiger Grundzug der Aufklärung bestand in der Kritik. Das war zunächst die Religionskritik, mit der die Bindung des Denkens an die Glaubenslehren der Konfessionskirchen gelockert oder gelöst wurde, bevor die Kritik über den religiösen Bereich hinausgriff und alle denkbaren Gestalten von der Literatur- und Kunstkritik bis zur politischen Kritik annahm. Mit der Religionskritik verband sich die Annahme einer natürlichen Religion jenseits der kirchlichen Glaubenslehre und gelöst von der Offenbarungsreligion, die im 18. Jahrhundert als Theismus oder Deismus hervortrat. In engem Zusammenhang mit der Religionskritik stand die Idee der Toleranz, insbesondere der religiösen Toleranz, die Pierre Bayle auch gegenüber den von ihm für sozialverträglich erklärten Atheisten gelten lassen wollte. Das alles waren – wie die Aufklärung insgesamt – entscheidende Vorgänge im Prozess der Säkularisierung, die ihren Ausdruck in der Anthropozentrik fanden, mit der der Mensch und seine irdische Glückseligkeit in den Mittelpunkt gerückt wurden, während Gott aus dem Mittelpunkt zurücktrat. Doch sahen auch die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, mit Ausnahme radikaler Materialisten wie des Barons Holbach, den Menschen noch immer im christlichen Sinne als imago Dei (Ebenbild Gottes) und nicht – wie spätere Zeiten – als bloßes Naturwesen. Geistiger Zusammenhang zwischen Aufklärung und Christentum Ein geistiger Zusammenhang zwischen Aufklärung und Christentum – auch dem konfessionell segmentierten Christentum – blieb trotz aller Religionskritik zumeist bestehen, wie ja auch viele Aufklärer Pfarrer oder Theologen waren oder in ihrer Jugend einen theologischen Bildungsgang durchlaufen hatten. Das gilt besonders für die Aufklärung in Deutschland, die seit ihren Anfängen durch die konfessionelle Spaltung des Landes einen besonderen Akzent erhielt
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und eine gewisse Konditionierung durch Kirche, Konfession und Theologie nie verlor. „Die deutsche Aufklärung war im ganzen keine areligiöse Bewegung, radikalere religionskritische Tendenzen wie in Frankreich waren ihr zwar nicht fremd, blieben aber am Rande. […] Überall lag ihr Ansatzpunkt zunächst in der Kritik an Kirche und Religion bzw. einigen ihrer Erscheinungsformen. Die deutsche Spezifik aber resultierte bis zum Ende der Aufklärungsbewegung aus der religiösen Spaltung und der sich aus ihr ergebenden intellektuellen Möglichkeit, den theologischen Ansatzpunkt zu modifizieren. Schon von Beginn ist in Deutschland die theologische Prägung der Aufklärung stärker.“40
So war das religionskritische und religionsfeindliche Moment, das auch in der deutschen Aufklärung nicht fehlte – besonders bei Hermann Samuel Reimarus –, hier weit weniger bedeutsam als in Frankreich. Darin lag die „religionsphilosophische Besonderheit der deutschen im Vergleich zur religionskritisch radikaleren Aufklärung“41. Man kann zwischen der Aufklärung „gegen Theologie und Kirche“ in Frankreich und der Aufklärung „mit ihr und durch“ Theologie und Kirche in Deutschland unterscheiden42 und für Deutschland Theologie und − evangelische − Kirche als Medien hervorheben, mit deren Hilfe sich die Aufklärung verbreitete. Das gilt für die Aufklärung im protestantischen Deutschland, kann aber modifiziert auch auf den katholischen Bereich übertragen werden. Im protestantischen Deutschland konnte die Aufklärung früher wirksam werden als im katholischen Deutschland, während der religionskritische Impuls der Aufklärung von der Vielgestalt des Protestantismus und von dem im Pietismus ausgebildeten – mit der Anthropozentik der Aufklärung verwandten – religiösen Individualismus aufgefangen und so seiner Radikalität entkleidet wurde. Dagegen konnte die aufklärerische Kritik an Kirche und Religion in katholischen Ländern wie Frankreich bis zu radikaler Ablehnung des Christentums führen, was in Deutschland nur bei einigen Außenseitern vorkam, aber nicht charakteristisch für die Gesamterscheinung der Aufklärung im protestantischen Deutschland war. In Deutschland behielt die Aufklärung aber auch im katholischen Bereich – auch hier von einigen erst spät aufgetretenen Außenseitern abgesehen – ihren milden Zug gegenüber Kirche und Religion. In der Katholischen Aufklärung trat Kirchenkritik oft nur in der Gestalt praktischer Reformvorschläge hervor. Weiter reichende oder gar radikale Tendenzen kamen kaum zum Tragen. Dabei wird „der Übergangscharakter der deutschen katholischen Aufklärung [...] durch Strömungen an ihrem Rand sichtbar, die Indizien für die auch hier gegebene Möglichkeit zur Ausbildung radikaler Tendenzen bieten. Es gab Übergänge von der systemimmanenten katholischen Aufklärung zur systemsprengenden Aufklärung im katholischen Deutschland, für die nicht nur der Bonner Professor Eulogius Schneider steht, der sich später unter den sog. deutschen Jakobinern fand. Doch kamen diese Tendenzen kaum zum
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Tragen, zumal die Entwicklung mit der Französischen Revolution und mit der Säkularisation von 1803, die zur Beseitigung der geistlichen Fürstentümer und zu einer tiefgreifenden Veränderung der Lage von katholischer Kirche und Katholizismus in Deutschland führte, darüber hinwegging.“43
Anhang
Zeittafel
1309 1311/12 1315 1317 1324 1329 1334 1336 1337 1344 1346 1347 1348 1348–49 1348–52 1353
1354
1356 1360–62 1365 1366 1367
Papst Clemens V. verlegt die Papstresidenz von Rom nach Avignon Konzil von Vienne unter französischem Einfluss Konzil von Vienne macht Griechischunterricht zur Pflicht Schlacht von Morgarten in der Schweiz Papst Johannes XXII. verwirft die Lehre der absoluten Armut und exkommuniziert die Spiritualen unter den Franziskanern Marsilius von Padua: Defensor pacis Pierre de Cugnière vertritt auf der Synode von Paris gallikanische Ideen Spaltung der Franziskaner in Observante und Konventualen Francesco Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux in der Provence Dominikaner halten an kollektiver Armut fest Papst Clemens VI. spricht die Kanarischen Inseln dem kastilischen Infanten Luis de la Cerda als Lehen zu Gründung der Universidad von Valladolid (nach der Universidad von Salamanca von 1218) Cola di Rienzo in Rom Gründung der Universität Prag Flagellanten- oder Geißlerzüge Schwarzer Tod, erste große Pestwelle in Europa Judenpogrome In der Schweiz Erweiterung des Ewigen Bundes von 1291 um Luzern, Glarus, Zug, Zürich und Bern zur Eidgenossenschaft der Acht alten Orte Eroberung von Gallipoli, die muslimischen Türken überschreiten die Meerengen zwischen Anatolien und der Balkanhalbinsel Patriarch von Konstantinopel erkennt die 1326 erfolgte Verlegung des Metropolitensitzes von Vladimir (dort seit 1300, ursprünglich, seit 1139, in Kiev) nach Moskau an Goldene Bulle, Sieben Kurfürsten Leonzo Pilato Griechischlehrer in Florenz Gründung der Universität Wien Adrianopel (Edirne) Hauptstadt des Osmanischen Reiches Papst Urban V. kehrt für drei Jahre aus Avignon nach Rom zurück
ZEITTAFEL
1369 1370 1373 1374 1376–93 1377 1378
1378–1417
1380
1380/04 1383 1383–1433 1384 seit 1384 1386
1387 1388 1389
um 1390 1391 1392 1393 1394 1394/1416 1396
Eheschließung Philipps des Kühnen von Burgund mit Margarete von Flandern Papst Urban V. geht wieder nach Avignon † Birgitta von Schweden (1303–73) † Francesco Petrarca (1304–74) Verfolgung der Waldenser als Ketzer Papst Gregor XI. verlegt Papstresidenz von Avignon nach Rom Papst Gregor XI. erlässt fünf Bullen gegen John Wiclif Wahl Urbans VI. zum Papst (in Rom) Wahl Roberts von Genf zum Gegenpapst (Clemens [VII.]) (in Avignon) Großes abendländisches Schisma, ein Papst in Rom (Obödienz von Rom) und ein Papst in Avignon (Obödienz von Avignon), seit 1409 drei Päpste (Rom – Avignon – Pisa) Schlacht auf dem Schnepfenfeld (Kulikovo pole), Sieg Moskaus über die Tataren † Katharina von Siena (1347–80) Lollard Bible Ende des Hauses Burgund in Portugal João I. Avis König von Portugal † John Wiclif (um 1320–84) Wilsnacker Blutwunder zieht Pilger an Personalunion von Polen und Litauen Schlacht von Sempach, Sieg der Eidgenossen gegen Habsburg Gründung der Universität Heidelberg Beginn der Observanzbewegung der Augustiner-Eremiten im Kloster San Salvatore in Lecceto bei Siena Gründung der Universität Köln 1. Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje), Serbien osmanisch Raimund von Capua unternimmt eine Ordensreform der Dominikaner, Gegenüber von reformunwilligen Konventualen und reformwilligen Observaten Johan Schutkens niederländische Übersetzung des Neuen Testaments Judenpogrome in Spanien Gründung der Universität Erfurt Osmanische Eroberung Bulgariens Denkschrift der Sorbonne: Libertas gallicana Walachei osmanisches Vasallenfürstentum Schlacht von Nikopolis Manuel Chrysoloras Griechischlehrer in Florenz
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ANHANG
1397 1400–03 1402 1405 1406 1408–10 1409
1410
1410–20 1412 1413 1414–18 1415
1416 1417
1417–31 1419 1420–36 1421 1423/24 1425 1425–62 1427 1428
Kalmarer Union der Königreiche Dänemark, Schweden (mit Finnland) und Norwegen In Prag Disputationen über Wiclifs Theologie Jean de Béthencourt und Gadifer de la Salle erreichen Lanzarote Jan Hus: De sanguine Christi glorificatio Wahl Papst Gregors XII. (Rom) Päpstliche Verbote der Verbreitung der Lehren Wiclifs in Prag Konzil von Pisa, Wahl Alexanders (V.) († 1410) (Papst der Obödienz von Pisa) – daneben die Päpste Gregor XII. (Rom) und Benedikt (XIII.) (Avignon) Wahl Papst Johannes (XXIII.) (Pisa) Dietrich von Niem: Reformatio ecclesiae in capite et in membris Jan Hus: De libris hereticorum legendis Entdeckung der Zentralperspektive in der Malerei (Filippo Brunelleschi) Ablasskritik des Jan Hus Exkommunikation des Jan Hus Jan Hus: De ecclesia Konzil von Konstanz Absetzung Papst Johannes (XXIII.) (Pisa) durch das Konzil von Konstanz Rücktritt Papst Gregors XII. (Rom) Konzilsdekret Haec sancta synodus † Jan Hus (um 1370–1415) (in Konstanz hingerichtet) Eroberung von Ceuta durch Portugal 1. Buch von Leonardo Brunis Geschichte von Florenz Absetzung Benedikts (XIII.) durch Konzil von Konstanz Wahl Papst Martins V. Konzilsdekret Frequens Pontifikat Martin V. Portugiesen erreichen Madeira Brunelleschis Kuppel des Domes von Florenz San Giovanni a Carbonara in Neapel als Zentrum der Observanz der Augustiner-Eremiten Konzil von Pavia-Siena Fresken des Masaccio in der Brancacci-Kapelle von Santa Maria del Carmine in Florenz Vasilij II.Vasil’evič Großfürst von Moskau Diogo de Silves erreicht die Azoren Giovanni Aurispa bringt den vollständigen griechischen Text der Werke Platons von Konstantinopel nach Venedig
ZEITTAFEL
1431
Portugal und Kastilien einigen sich im Vertrag von Medina del Campo über die Abgrenzung ihrer Interessensphären in Übersee 1431/34 Reform des Johannes Nider in den Dominikanerklöstern in Basel und Wien, der sich andere Konvente anschließen 1431–37 (48) Konzil von Basel 1431–47 Pontifikat Eugen IV. 1432 Papst Eugen IV. mildert mit der Bulle Romani Pontificis die Regel der Karmeliten Kongregation von Mantua der Karmeliten widerspricht der Regelmilderung 1433 Kaiserkrönung König Sigmunds Kapitulation Eugens IV. und vorläufiger Sieg des Konziliarismus Nikolaus Cusanus: De concordantia catholica Prager Kompaktaten 1434 König Sigmunds Entwurf zur Neuordnung der Reichsjustiz 1434–94 Herrschaft der Medici in Florenz (erneut 1512–27) 1435 Gil Eanes überschreitet den Wendekreis des Krebses 1437 Papst Eugen IV. verlegt das Konzil von Basel nach Ferrara Restversammlung (Rumpfkonzil) verbleibt in Basel 1438 Entstehung des Chanats Kazan’ an der Wolga Synode von Bourges, Pragmatische Sanktion von Bourges, Prinzipien des Gallikanismus 1438/39 Unionskonzil von Ferrara-Florenz 1439 Florentinum Ein Teil der Synodalen des Konzils von Basel formuliert einen Lehrsatz über die Immaculata Conceptio, der aber keine Geltung erlangt Rumpfkonzil von Basel erklärt Papst Eugen IV. für abgesetzt Rumpfkonzil von Basel verkündet Vorrang des Konzils vor dem Papst als katholische Glaubenslehre Papst Eugen IV. verdammt das Rumpfkonzil von Basel Felix (V.) Gegenpapst (Amadeus VIII. von Savoyen, Rücktritt 1449, † 1451) 1440 Lorenzo Vallas De falso credita et emendita Constantini donatione (1506 publiziert) Nikolaus Cusanus: De docta ignorantia 1441 Johann Hunyadi schlägt die Osmanen bei Semendria (Smederovo) Nuno Tristão gelangt bis Cabo Branco Ras Nouadhibou im heutigen Mauretanien 1442 Johann Hunyadi schlägt die Osmanen bei Hermannstadt (Sibiu) Reformatio Friderici
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ANHANG
um 1442 1443 1443/52
1455 1455/56
Giovanni di Paolos Madonna der Demut Hieronymus-Bruderschaft in Florenz Beschreibung der Kammerschleuse in De re aedificatoria Leon Battista Albertis Donatellos Reitermonument des Gattamelata Dinis Dias erreicht Cabo Verde Bulle Ut sacra ordinis Papst Eugens IV., Bestätigung der Autonomie der Observanz innerhalb des Franziskanerordens Pontifikat Nikolaus V. Papst Nikolaus V. räumt Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg das Nominationsrecht in den Bistümern Brandenburg, Havelberg und Lebus ein Wahl des Bischofs Iona von Rjazan’ zum Metropoliten von Moskau, Begründung der autokephalen russischen orthodoxen Kirche Rumpfkonzil von Basel nach Lausanne (bis 1449) 2. Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) Wiener Konkordat Unruhen in Toledo und Ciudad-Real gegen die Integration von Conversos jüdischer Herkunft in die christliche Gesellschaft Mainzer Libell (Gravamina der deutschen Nation) Johannes Soreth Generalprior der Karmeliten Rede Heinrich Tokes vor Nikolaus Cusanus gegen Verehrung des Wilsnacker Blutwunders Nikolaus Cusanus auf Visitationsreisen im Reich Kaiserkrönung Friedrichs III. in Rom Bulle Cum nulla Papst Nikolaus’ V. Fall von Konstantinopel Schlacht von Chastillon und Ende des Hundertjährigen Krieges zwischen En