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German Pages 224 [219] Year 2012
Alter und Altern Wirklichkeiten und Deutungen
Peter Graf Kielmansegg Heinz Häfner (Herausgeber)
Alter und Altern Wirklichkeiten und Deutungen
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Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg Heidelberger Akademie der Wissenschaften Karlstrasse 4 69117 Heidelberg [email protected] Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Heinz Häfner Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5 68159 Mannheim [email protected]
ISBN 978-3-642-24831-3 e-ISBN 978-3-642-24832-0 DOI 10.1007/978-3-642-24832-0 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.de)
Vorwort Alter und Altern – Wirklichkeiten und Deutungen (Dritter Band aus der Reihe „Alter und Altern“) Hermann H. Hahn
Das dritte und letzte Symposium der von der Robert Bosch Stiftung mitfinanzierten Veranstaltungsreihe „Alter und Altern“ hatte einen vorwiegend sozial- und kulturwissenschaftlichen Fokus und brachte Vortragende und Zuhörer aus dem Inland und dem deutschsprachigen Ausland, Akademienangehörige und Gäste, Seniorwissenschaftler und Repräsentanten der nächsten Wissenschaftlergeneration zusammen. In einer Zeit, in der an vielen Orten, unter vielerlei Vorzeichen über den Themenkomplex Alter vorgetragen und diskutiert wird, war es das Anliegen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, die Diskussion um das Alter aus der sozial- und gesundheitspolitischen Ecke herauszuführen. Und das ist dank der guten Vorarbeit durch den Programmausschuss und der enthusiastischen Mitwirkung der Vortragenden und Zuhörer bestens gelungen. Gegenwärtig ist die Hinwendung zum Thema „Alter“ vielleicht nicht verwunderlich. Von besonderer Bedeutung war allerdings für die Akademie, dass in einer nahezu gleichzeitig ausgeschriebenen Serie von Forschungsprojekten für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Thema „Alter“ mit Vorrang genannt wurde. Die Befassung mit „Wirklichkeiten und Deutungen von Alter und Altern“ ist also nicht auf diejenigen beschränkt, die sich heute dem sogenannten dritten Lebensabschnitt nähern oder sich darin befinden. Da der Kontakt zwischen den verschiedenen Generationen von Wissenschaftlern für die Heidelberger Akademie in mancherlei Hinsicht von großer Bedeutung ist, lag es nahe, dieses Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu analysieren: das erste Symposium ist nahezu als Standortbestimmung anzusehen, indem ein Gespräch zwischen den Fächern in der für eine Akademie typischen Art die Frage „Was ist Alter?“ zu klären versuchte. Das zweite Symposium, ein Festsymposium gemeinsam mit der Universität Stuttgart aus Anlass der hundertsten Wiederkehr des Gründungsdatums der Akademie, widmete sich medizinischen, technischen und umweltbestimmenden Gesichtspunkten. Diese nun dritte und abschließende Veranstaltung erkundet mit Hilfe von Text- und Bildwissenschaften, wie antike Hochkulturen etwa im alten China oder auch dem alten Orient über die klassische Antike bis hin
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zur Renaissance den alten Menschen betrachteten, ihn verehrten, aber gelegentlich auch karikierend darstellten. Die religionswissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Aspekte und die davon nicht zu trennenden politologischen und juristischen Erkenntnisse führten zu einem höchst lebendigen Austausch zwischen Vortragenden und Zuhörern, zwischen Geisteswissenschaftlern und Sozialwissenschaftlern und, wie schon eingangs angemerkt, zwischen Junior- und Seniorwissenschaftlern. Erstaunlich war, wie – trotz des ungemein großen Bogens der Vortragsthemen im Hinblick auf regionale Schwerpunkte und die beschriebenen Zeitalter – eine einsehbare Konturierung einer Lebensphase, der des gelebten Alters, entstand. Es bleibt dem Akademiepräsidenten, allen Beteiligten den Dank der Akademie auszusprechen. Dies gilt gleichermaßen für alle Mitglieder des von Peter Graf Kielmansegg geleiteten Programmkomitees wie für die Vortragenden, die sich der Herausforderung einer solchen, trotz vielfacher Diskussionen, noch in keiner Weise erschlossenen oder gar erschöpften Thematik stellten, und auch den Organisatoren, die wiederum eine die Öffentlichkeit ansprechende Vortragsveranstaltung präsentierten. Nicht zuletzt sei auch der Robert Bosch Stiftung, die die gesamte Reihe der Symposien finanzierte und mit Rat und Tat begleitete, und dem Initiator Heinz Häfner von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herzlich gedankt. Eine ganz besondere Note erhielt dieses letzte Symposium durch die als Abendveranstaltung im Heidelberger Rathaus durchgeführte Autorenlesung Ulla Hahns. Mit den von der Dichterin vorgetragenen Passagen aus frühen und ganz neuen Werken machte sie für die große Zahl der Zuhörenden mit ihrem Thema „Erinnern statt Sehnen“ deutlich, dass das Alter, aus welchem Blickwinkel man immer es betrachtet, höchst lebenswert ist. September 2011
Hermann H. Hahn (Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften)
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Vorwort : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : Hermann H. Hahn
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Einleitung : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : Peter Graf Kielmansegg und Heinz Häfner
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Teil I Bilder des Alters in fernen Kulturen Ehrfurcht vor dem Alter? Einige Anmerkungen zum Altern in China : : : : 7 Hans van Ess 1 Geht das heutige China mit Alten respektvoller um als andere Länder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Das Alter in den kanonischen Schriften des Konfuzianismus . . . . . . . 9 3 Zur Tugend der chinesischen Kindespietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 4 Schluss und Zusammenfassung: Auswirkungen traditioneller Vorgaben auf das heutige China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Das Alter ehren: Vorstellungen vom Alter und Sorge um die Alten im Alten Orient : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : 23 Stefan M. Maul Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Teil II Bilder des Alters in der europäischen Geschichte Bilder alter Menschen in der antiken Kunst : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : Paul Zanker 1 Altersspott und Hochachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zwiespältiger Spott über Körperverfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Intellektuelle Energie und Körperverfall: die alten Philosophen
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Alte Gesichter als Ausweis von Leistung und Verdienst . . . . . . . . . . . 46 Alter als Ausdruck philosophischer Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . 52
Alternde Künstler als Liebhaber – Inspiration, (Pro-)Kreativität und Verfall: Anthonis van Dyck, Tizian und die Tradition der Renaissance : : : Ulrich Pfisterer 1 Lebenskraft und künstlerische Leistungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Biologie der Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom weisen zum gelebten Alter. Variationen eines Topos : : : : : : : : : : : : : : : Dorothee Elm, Thorsten Fitzon und Kathrin Liess 1 Alter und Weisheit in der Weisheitsliteratur des Alten Testaments . . . 1.1 Jesus Sirach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Weisheit Salomons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Neues und altes Wissen in der Passio Perpetuae et Felicitatis . . . . . . 3 Ludwig Tieck Der Alte vom Berge (1828) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55 58 63 67 68 73 75 76 77 79 80 85 89
Teil III Festvortrag (Dichterlesung) Einführung zum Beitrag von Ulla Hahn : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : 93 Helmuth Kiesel Erinnern statt Sehnen : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : 97 Ulla Hahn Teil IV Die gesellschaftlichen Aspekte von Alter und Altern Soziale Ungleichheit im Alter : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : 115 Yvonne Schütze Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Generationenbeziehungen und Generationenkonflikte : : : : : : : : : : : : : : : : : 125 Martin Kohli 1 Die Generationenfrage heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2 Die neuen Generationen-Spaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3 Politische Mobilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4 Generationenintegration: Vermittlungsinstitutionen in Politik und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
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Teil V Die rechtliche und politische Bewältigung von Alter und des demographischen Wandels Vom Greis zum Rentner – zur rechtlichen Konturierung einer Lebensphase seit dem 19. Jahrhundert : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : 147 Stefan Ruppert 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2 Rentenversicherung und Hofübergaberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3 Betreuungs- und Heimrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4 Rechtsprechung zu Altersgrenzen und Recht gegen Altersdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die Demokratie wird älter – Politische Konsequenzen des demographischen Wandels : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : 163 Manfred G. Schmidt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2 Demographischer Wandel und Machtverteilung zwischen Jung und Alt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2.1 Indikatoren latenter Macht der Senioren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2.2 Staatstätigkeit für Senioren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2.3 Grenzen der Seniorenmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3 Ein intensivierter Konflikt zwischen Jung und Alt? Befunde der Umfrageforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.1 Konflikte zwischen Jung und Alt in Deutschland . . . . . . . . . . . 173 3.2 Ein „Loser’s Consent“-Problem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4 Politische Konsequenzen der Alterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4.1 Teilentwarnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4.2 Grenzen politischer Anpassung an den demographischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.3 Erträge für die Demokratietheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Teil VI Psychologische Konsequenzen von Fremd- und Selbstbild im Alter Fremd- und Selbstbild im Alter. Innen- und Außensicht und einige der Konsequenzen : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : 187 Ursula M. Staudinger 1 Die vermeintliche Aussagekraft des kalendarischen Alters . . . . . . . . . 188 2 Das biologische Alter in historischer Perspektive: Ein Widerspruch? 189 3 Das soziale Alter: Für den Menschen unumgänglich . . . . . . . . . . . . . . 190 4 Psychologisches Alter: Man ist so alt, wie man sich fühlt? . . . . . . . . . 191 5 Altersbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6 Einige der Konsequenzen von Altersbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
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7 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Teil VII Drittes Alter und religiöse Sicht auf das Lebensende „Fünftes Alter“ und „Schöner Sterben“: Europäische Religionsgeschichte am Ende des 20. Jahrhunderts : : : : : : : : 203 Christoph Auffarth 1 Generationen des 20. Jahrhunderts: Alt Werden in biographischen Kontinuitäten und politischen Umbrüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2 Der geschönte Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 3 Zustimmung: Das Sterben als erfüllender Teil des Lebens. Kübler Ross’ „Interviews mit Sterbenden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4 Nahtod-Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 5 Nahtoderfahrungen als „universal“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 6 Die unsichtbare Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Dr. Christoph Auffarth Universität Bremen, Sportturm C6180, Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik, Postfach 330 440, 28334 Bremen [email protected] Dr. Dorothee Elm Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Seminar für Klass. Philologie, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg [email protected] Dr. Thorsten Fitzon Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar – Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg [email protected] Dr. Dr. h.c. Ulla Hahn Heilwigstraße 5, 20249 Hamburg [email protected] Prof. Dr. Helmuth Kiesel Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstraße 207–209, 69117 Heidelberg [email protected] Prof. Dr. Martin Kohli European University Institute, Dept. Of Social and Political Sciences, Via dei Roccettini 9, 50014 San Domenico di Fiesole, Italien [email protected] Dr. Kathrin Liess Universität Tübingen, Evang.-theol. Fakultät, Liebermeisterstr. 12, 72076 Tübingen [email protected]
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Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan M. Maul Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients – Assyriologie, Hauptstraße 126, 69117 Heidelberg [email protected] Prof. Dr. Ulrich Pfisterer Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, Zentnerstraße 31, 80798 München [email protected] Dr. Stefan Ruppert, MdB Max Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt/Main [email protected] Prof. Dr. Manfred Schmidt Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Institut für Politische Wissenschaften, Bergheimer Straße 58, 69115 Heidelberg [email protected] Prof. (i.R.) Dr. Yvonne Schütze Breisacherstr. 18, 14195 Berlin [email protected] Prof. Dr. Ursula M. Staudinger Vice President Jacobs University Bremen, Jacobs University Bremen gGmbH, Campusring 1, 28759 Bremen [email protected] Prof. Dr. Hans van Ess Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Sinologie, Kaulbachstr. 51a, 80539 München [email protected] Prof. Dr. Paul Zanker Orffstraße 23, 80634 München [email protected]
Teil I
Bilder des Alters in fernen Kulturen
Ehrfurcht vor dem Alter? Einige Anmerkungen zum Altern in China Hans van Ess
1 Geht das heutige China mit Alten respektvoller um als andere Länder? China ist eine Gesellschaft, die das Alter mehr ehrt als andere, so lautet eine weit verbreitete Annahme. Die Vertreter dieser Auffassung meinen, dass diese Tatsache kulturell verwurzelt sei und sich deshalb auch nicht geändert habe, als die Kommunistische Partei in der Volksrepublik China an die Macht kam. Ein Beleg dafür soll das sein, was wir jahrzehntelang an der chinesischen Führung beobachten konnten. Zwar hatte es während der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 einen regelrechten Jugendkult gegeben, doch war der Mastermind dahinter Mao Zedong, der beim Ausbruch dieser Bewegung, die weltweit Nachahmer fand, bereits 72 Jahre alt war. Wenn auch vielleicht an seinem Lebensende nicht ganz klar war, ob er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, so konnte man doch nicht bestreiten, dass er es geschafft hatte, die Macht zu halten, bis er im Alter von für die chinesischen Verhältnisse damals greisen 82 Jahren starb. Im gleichen Jahr starb auch der Premierminister Chinas, Zhou Enlai, der es immerhin auf 77 Jahre brachte und den ebenfalls bis zu seinem Tod niemand hatte aus dem Amt vertreiben können, das er seit 1949 innegehabt hatte. Als dann der mit 55 Jahren jugendlich wirkende Hua Guofeng nach nur zwei Jahren Ende 1978 von dem schon 74-jährigen Deng Xiaoping aus dem Amt gedrängt wurde, der das Land zwar ohne die wichtigsten Ämter einzunehmen, aber als graue Eminenz doch bis kurz vor seinem Tod 1997 anführen konnte, da schien die Sache für viele Beobachter eindeutig zu sein: China war ein gerontokratischer Staat. So etwas gab es auf der Welt nicht noch einmal – das musste konfuzianische Gründe haben. Was allerdings häufig geflissentlich übersehen wurde, das war, dass auch in den vermeintlich vom Jugendwahn beseelten USA in den 80er Jahren ein 70 Jahre alter Mann auf den Präsidentenstuhl gekommen war, und dass ihm ein 65-jähriger nachfolgte, der einige Jahre später in Tokyo einen Schwächeanfall erlitt. Auch vergaß man bei diesen Einschätzungen, dass Mao Zedong, Zhou Enlai und Deng Xiaoping
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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einmal jünger gewesen waren, und dass sie auch in jungen Jahren bereits Macht ausgeübt hatten. Ihre Autorität rührte nicht von ihrem Alter, sondern vielmehr von der Stellung, die sie sich als Revolutionshelden erworben hatten. Zu einer Erklärung dessen, wie ein Land funktioniert, taugt ein Blick auf seine politischen Führer wahrscheinlich nur bedingt: Der Trieb zum Machterhalt ist sicherlich eine bessere Erklärung des Phänomens greiser Führer als die Ehrfurcht einer ganzen Gesellschaft vor dem Alter an sich. Will man sehen, wie eine Gesellschaft mit dem Alter umgeht, dann muss man sich andere Bereiche anschauen, zum Beispiel das Verrentungsalter oder die soziale und finanzielle Absicherung alter Menschen. An den Universitäten kann man auf den ersten Blick tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass China das Alter stärker ehrt, als dies zum Beispiel in Europa der Fall ist. Studenten behandeln ihre Professoren im Allgemeinen mit hohem Respekt. Das zeigt sich schon im Vokabular, bei dem nicht nur die Anrede des Professors eine Überhöhung des Angesprochenen ist, sondern umgekehrt auch die Selbstbezeichnung des jungen Studenten dazu dient, klarzustellen, dass er schon aufgrund seiner Jugend nicht so viel wissen kann, wie der Professor, auch wenn das im Verhältnis zu einem Ausländer, der sich mit chinesischer Kultur beschäftigt, überhaupt nicht eindeutig so ist: Studenten unterzeichnen ihre Briefe gerne mit der Bezeichnung „derjenige, der später gelernt hat“ (hou xue). Allerdings ist auch festzustellen, dass dieser Brauch wahrscheinlich in der Volksrepublik China erst seit neuerer Zeit wieder zum Tragen kommt. Auf Taiwan hatte er sich gehalten, doch in Festlandschina war er noch in den achtziger und neunziger Jahren nur selten anzutreffen. Professoren gehen in China ihrer Arbeit mit vollem Gehalt bis zum Alter von 70 Jahren nach. Damit unterscheiden sie sich allerdings vom Normalbürger oder der Normalbürgerin sehr – beim Staat gehen die Männer nämlich sonst mit 60 Jahren in Rente und die Frauen sogar schon mit 55. Der frühe Eintritt ins Rentenalter ist durchaus nicht allseits beliebt, denn der Rückzug aus dem Arbeitsleben ist mit allerhand Schwierigkeiten verbunden, häufig mit der Suche nach einer neuen Beschäftigung, die ein auskömmliches Dasein ermöglicht. China zeichnet sich also im Augenblick durch gegenläufige Entwicklungen aus: Einerseits gibt es einen staatlich geförderten, aber auch in weiten Teilen der Bevölkerung akzeptierten Reflex der großen alten Tradition, im Rahmen dessen auch die Ehrfurcht vor dem Alter propagiert wird. Andererseits aber bringt die Moderne, die mit voller Wucht in China angekommen ist, Zwänge mit sich, die eine entsprechende finanzielle Unterfütterung dieses hehren Anspruches erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Dabei scheint es sogar so, dass die Rückkehr der Tradition sehr stark mit der Ankunft der Moderne und den wirtschaftlichen Erfolgen des Landes zu tun hat, denn letztere haben dazu geführt, dass China sich ein neues Selbstbewusstsein leisten kann. Das hat dazu geführt, dass es mittlerweile ganz offen den Konfuzianismus als autochthonen Weg in die Zukunft propagiert. Zu Anfang und über den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts hatte man ihn noch verworfen, weil er China auf dem Weg in die Moderne hemmte. Die Tradition wurde als Grund für die wirtschaftliche und politische Schwäche begriffen. Erst seit die wirtschaftliche Schwäche überwunden zu sein scheint, wird dieser Konnex aufgelöst.
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Als zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das chinesische Kaiserreich stürzte, da griffen die chinesischen Intellektuellen vor allem die hierarchischen Strukturen an, für die man den Konfuzianismus verantwortlich machte. Die alles überragende Hierarchie aber besteht eben in der Ehrfurcht vor dem Alter. Heute werden Hierarchien in China wieder als positives Erbe der eigenen Zivilisation reklamiert, wobei über bestimmte Aspekte, zum Beispiel die Unterordnung der Frau unter den Mann wenig offen geredet wird. In der westlichen Sekundärliteratur ist das anders: Publikationen zur Stellung der Frau in China sind Legion. Zum Thema „Alter“ allerdings, das für die alte chinesische Gesellschaft sicherlich viel wichtiger gewesen ist, findet sich in der Sekundärliteratur erstaunlicherweise kaum etwas. Es scheint für den Fachmann einfach zu offensichtlich zu sein.
2 Das Alter in den kanonischen Schriften des Konfuzianismus Eine Spurensuche in den alten Schriften des Konfuzius führt zunächst zu den so genannten Fünf Beziehungen, die auf den konfuzianischen Denker Mengzi und damit auf die Zeit um etwa 300 v. Chr. zurückgehen. Er schreibt in seinem Abschnitt 3A4, dass die Weisen des Altertums die Menschen in den menschlichen Beziehungen unterwiesen hätten: In den Beziehungen zwischen Vater und Sohn gelte die verwandtschaftliche Zuneigung, in denen zwischen Fürst und Untertan die Gerechtigkeit, in denen zwischen Mann und Frau die Unterscheidung der Sphären, in denen zwischen Freunden die Glaubwürdigkeit und in denen zwischen Alt und Jung schließlich die hierarchische Abfolge, wobei auch die auf den ersten Blick gleichberechtigt aussehende Beziehung zwischen Freunden in Wahrheit nach dem Prinzip von Alt und Jung aufgebaut ist.1 Für das Thema „Alter“ in China ist vor allem die Tatsache von Bedeutung, dass die hierarchische Abfolge von Alt und Jung schon in diesem zentralen konfuzianischen Text steht. Was dabei das Wort für alt wirklich heißt, ist nicht klar – vermutlich bedeutet „Alt und Jung“ zunächst eigentlich nur „erwachsen“ und „minderjährig“. Doch für die chinesische Tradition fügte sich der Passus aus dem Mengzi in eine Reihe von anderen klassischen Stellen, welche das Alter thematisieren. Im modernen Chinesischen gibt es für das Wort „alt“, wenn es auf den Menschen bezogen ist, nur ein Wort: Dieses lautet „lao“. Einer der ersten Sätze des kanonischen Buches der Riten – es wurde im zweiten Jahrhundert v. Chr. zusammengestellt, enthält aber viel sicherlich älteres Material – beschreibt die einzelnen Lebensalter des Menschen und ordnet ihnen bestimmte Aufgaben zu. Hier gibt es ein viel größeres Instrumentarium zur Differenzierung: Zehn Jahre nach seiner Geburt heißt der Mensch „jung“ [oder: minderjährig]. Er lernt. Mit zwanzig nennt man ihn „schwach“. Er erhält die Kappe [der Mannbarkeit]. Mit dreißig nennt man ihn mannhaft. Er ist verheiratet. Mit vierzig nennt man ihn stark. Er nimmt ein Amt an. Mit fünfzig ist er grauhaarig. Er unterzieht sich den Regierungsaufgaben eines 1
Siehe dazu Legge, James (1862), und zahlreiche unveränderte Nachdrucke, S. 251f.
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Abb. 1 Quelle: Dorée, Henri (1919) S. 512, Fig. 180
Beamten. Mit sechzig heißt er würdig.2 Er gibt Anweisungen und lässt [andere] tun. Mit siebzig heißt er alt und übergibt [die Kompetenzen] anderen. Mit achtzig und neunzig heißt er greisenhaft.3
Der aus dem späten zweiten Jahrhundert stammende Kommentar erklärt, das Zeichen für „greisenhaft“ bedeute „senil und vergesslich“. Für Kinder bis zum Alter von sieben Jahren und für die achtzig- oder neunzigjährigen Greise gilt nach Aussa2 Die Übersetzung ist nur behelfsmäßig – es gibt im Deutschen kein Instrumentarium, um die einzelnen Begriffe korrekt und vollständig wiederzugeben. 3 Liji zhengyi (1980) S. 1232A–B, Kap. „Kleine Riten“ (Qu Li). Vgl. die Übersetzung von James Legge, Li Chi Book of Rites, Oxford 1885 und New York 1967, S. 65f.
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ge desselben Textes aus dem Buch der Riten das Gleiche: Sie sind bemitleidenswert und sind deshalb noch nicht bzw. nicht mehr strafmündig.4 Auch der Hundertjährige wird hier noch erwähnt, jedoch nur als einer, der „eine ganze Periode absolviert hat“, was ansonsten nicht weiter erörtert wird. Interessant ist an diesem Text, dass er das Alter durchaus nicht nur mit Würde assoziiert, sondern dass die Probleme des Alterns klar benannt sind: Mit achtzig ist man nicht mehr verantwortlich für die Fehler, die man begeht. Die alten Texte sprechen häufig von den Bürden des Alters, und fast scheint es so, als sei der zeremonielle Respekt, den die Jüngeren den Alten schulden, ein Ausgleich dafür: „Wer als Kind seinen Vater verloren hat, heißt Waise, wer im Alter keine Kinder hat, der heißt einsam, wer im Alter keine Frau [mehr] hat, der heißt verwitwet, wer im Alter keinen Mann mehr hat, heißt Witwe. Diese Vier sind die Ärmsten unter dem Volk des Himmels, die niemanden haben, an den sie sich wenden können. Sie alle erhalten regelmäßige Speisung [durch den Staat].“5 Im Alter von siebzig Jahren, so heißt es direkt nach dem Passus über die einzelnen Lebensalter, sollte ein Mann von seinen Ämtern zurücktreten, und wenn der Rücktritt nicht angenommen wird, dann wird ihm der Fürst auf jeden Fall Bank und Stock gewähren. Geht er auf eine Dienstreise, dann darf seine Frau mit, und reist er in die Ferne, dann auf jeden Fall in einem bequemen Wagen. Er selbst bezeichnet sich als alter Mann.6 Die Selbstbezeichnung ist übrigens nicht Ausdruck von Stolz, dass man es so weit gebracht hat, sondern dürfte eher als Bescheidenheit gemeint sein. Das sieht man an einer Parallelstelle, in der gesagt wird, dass sich die Ehefrau eines Fürsten, wenn sie vor den Himmelssohn tritt, als „alte Frau“ bezeichnet – ganz egal, wie alt sie wirklich ist. Zumindest bei Frauen also gilt der Verweis auf das Altsein, ganz wie heutzutage, nicht als Kompliment.7 Allerhand Zeremonien gab es offenbar, die der Herrscher für seine Alten durchzuführen hatte. Der Fürst lernte, wie er die Alten des Landes zu ehren hatte, dem Buch der Riten zufolge, in seiner Schule.8 Wenn er sich in die Schule begab, dann ließ er die Trommel schlagen, um die Menschen darauf aufmerksam zu machen und anschließend allerhand Opfer an die verstorbenen Lehrer und die früheren Weisen zu bringen. Die nächste Amtshandlung aber war eine öffentliche Speisung der Ältesten am Ort.9 Damit setzte der Herrscher ein Vorbild, das im ganzen Land nachgeahmt werden sollte. Die Alten stehen also den Lehrern nahe – ein Alter ist ein potentieller Lehrer. Die Zeremonie des „Nährens der Alten“ wird in den Riten immer wieder erwähnt und scheint demgemäß ein besonders zentraler Brauch gewesen zu sein. Dabei gibt 4
Ebd. Liji zhengyi (1980) Kap. „Königsregeln“ (wang zhi), S. 1347A, Legge, J.; op. cit., S. 243f. 6 Ebd., S. 1232B, Legge, J.; op. cit., S. 66. 7 Ebd., S. 1267A, Legge, J.; op. cit., S. 113. 8 Ebd., Kapitel „Als König Wen Kronprinz war. . . “ (Wen wang shizi) S. 1405B, Legge, J.; op. cit., S. 347. 9 Ebd. S. 1410A, Legge, J.; op. cit., S. 359f. 5
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es detaillierte Auskünfte darüber, wie der Herrscher mit den einzelnen Graden des Alters umgehen musste: Ein Fünfzigjähriger war auch schon alt, konnte aber noch nicht auf besonders ausgefeilte zeremonielle Unterstützung rechnen. Mit sechzig wurde er immerhin in die Hauptstadt eingelassen, mit siebzig dann in die zentrale Schuleinrichtung. Achtzigjährige mussten sich nicht mehr allzu sehr vor dem Herrscher beugen, und von Neunzigjährigen erwartete man nicht mehr, dass sie den Weg zum Herrscher selbst auf sich nahmen. Ihre Geschenke wurden ihnen von anderen gebracht.10 Einem Text mit dem Titel „Monatsregeln“ zufolge, der ebenfalls im Buch der Riten enthalten ist, fand die Zeremonie des Himmelssohnes zur Nährung der Alten im Mittherbstmonat, also nach unserer Rechnung etwa im Oktober statt, vermutlich weil das Wetter schlechter wurde und die Alten mehr Zuwendung benötigten. Bei der entsprechenden Zeremonie wurden Bank und Stab an sie überreicht, außerdem ein Reisschleim und Getränke. Alkohol hatte dabei zu sein, denn der wurde als gut gegen Krankheiten angesehen.11 Regelmäßige Distriktsfeierlichkeiten soll es gegeben haben, bei denen die Fünfzigjährigen stehen und aufwarten mussten, während die Sechzigjährigen saßen. Dann wurde Essen serviert, und die Sechzigjährigen bekamen drei Gerichte, die Siebzigjährigen vier, die Achtzigjährigen fünf und die Neunzigjährigen sechs.12 Sicherlich wurde nicht damit gerechnet, dass man die Speisen alle aufaß – aber es ist interessant zu sehen, dass es weniger darum ging, wer viel Essen brauchte, als darum klarzustellen, dass man das Alter respektierte. Eines guten Herrschers Regierung zeichnete sich dadurch aus, dass die Siebzigjährigen auf jeden Fall Fleisch zu essen bekamen. Wie viel von diesen Regeln wirklich Realität war, lässt sich schwer beurteilen. In den historischen Quellen der Han-Zeit, also der Zeit zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr., begegnen uns allerdings viele der Institutionen wieder, die im Buch der Riten erwähnt sind. So spricht dieses an mehreren Stellen von den Dreifach Alten und Fünffach Veränderten, die offenbar zwei alte Männer waren, die auf Dorfebene die Funktion einer Art Ältestenrat ausübten. Auf staatlicher Ebene soll ihnen der Himmelssohn höchstpersönlich Fleisch vom Opfertier abgeschnitten und zugeteilt haben. Die Zeremonie fand übrigens in der königlichen Akademie statt, einer Einrichtung, die uns aus der Zeit der Zhou sonst nicht bekannt ist und die darauf schließen lässt, dass wir es hier mit Han-zeitlichen Regelungen zu tun haben. Unter den Han nämlich wurde eine solche Akademie in der Reichshauptstadt eingerichtet – wieder bringt uns die Suche nach dem Alter im chinesischen Altertum mit den Lehrern zusammen.13
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Ebd. S. 1467, Kapitel „Regeln für den inneren Bereich“ (Nei ze), Legge, J.; op. cit., S. 464f. Ebd. S. 1373C, Legge, J.; op. cit., S. 287f. 12 Ebd. S. 1683C, Kap. „Zeremonien für das Alkoholtrinken in der Gemeinde“ (Xiang yin jiu yi), Legge, J.; op. cit. Bd. 2, S. 439f. Vgl. auch das Kapitel „Die Bogenschießzeremonie“ (She yi), ebd. S. 1689C, Legge, J.; op. cit., Bd. 2 S. 453. 13 Geschichte der Späteren Han, Hou Han shu (1965) Abhandlung 4, S. 3109. 11
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So sehen wir, dass unter den Han die Ehrfurcht vor dem Alter erhebliche Ausmaße angenommen hatte. Mehrere Anekdoten stützen diese Einsicht. Der Gründer der Han-Dynastie beispielsweise soll sich mit dem Gedanken getragen haben, seinen Thronfolger, den Sohn seiner Hauptfrau, gegen den Sohn einer Nebenfrau auszutauschen. Ein Berater brachte ihn von dem Ansinnen ab. Er versprach ihm, vier im ganzen Land bekannte weißhaarige Männer an seinen Hof zu bringen, die sich der Dynastie bisher versagt hatten. Deren Prestige, das unmittelbar mit ihrem Alter zusammenhing, war offenbar so groß, dass der Herrscher sich durch die Aussicht auf diesen Fang im Tausch dazu überreden ließ, den Thronfolger in seiner Stellung zu belassen.14 Neben wohlfeilen Opfern und rituellen Speisungen gab es für die Alten bzw. deren Familien im traditionellen China aber auch ganz handfeste staatliche Vergünstigungen: Erreichte ein Mann das Alter von achtzig Jahren, dann war einer seiner Söhne von allen Verpflichtungen gegenüber dem Staat freigestellt, und wenn er neunzig wurde sogar die ganze Familie.15 Mit fünfzig musste man keine Frondienste mehr leisten, mit sechzig keinen Waffendienst bzw. die als Äquivalent geltende Steuer, mit siebzig keine Gäste mehr bewirten und mit achtzig nicht mehr die mit dem Trauerzeremoniell für ein verstorbenes Mitglied der Herrscherfamilie verbundenen Unannehmlichkeiten auf sich nehmen.16 Ehrfurcht vor dem Alter hatte aber nicht nur mit dem Staat zu tun, sondern war natürlich auch eine ganz private Angelegenheit. Auch dazu sagt uns das Buch der Riten viel. Zum Beispiel ist dort mehrfach die Rede davon, dass man vor den Eltern nicht darüber reden solle, dass man selbst alt sei. Im Kapitel Fangji heißt es: In Anwesenheit der Eltern bezeichne man sich selbst nicht als alt. Man darf über die Kindespietät sprechen, nicht aber über die Güte, [die die Eltern dem Kind schulden]. In den Frauengemächern darf [der Sohn] seinen Spaß haben, soll aber nicht seufzen, [damit sie es nicht hören]. Durch diese Regeln zeigte der Edle dem Volk Grenzen auf, und dennoch war es immer noch schwach in den Pflichten der Kindespietät aber groß im Einfordern der elterlichen Güte.17
Der Text zeigt deutlich, dass zeremonielle Vorschriften, die das Ziel haben, das Alter zu ehren, vor der Realität häufig nicht standhalten und dass dies auch schon den alten Chinesen bekannt war. Doch ist hier ein weiteres Charakteristikum genannt, das in China untrennbar zum Thema „Alter“ gehört, nämlich die Tugend der Kindespietät. Die verschiedenen Begriffe für Alter im klassischen Chinesischen werden fast alle von demselben Zeichen lao abgeleitet. Auch die Kindespietät gehört zu diesem Komplex dazu, und das entsprechende Zeichen , das xiao gesprochen wird, gehört auch graphisch in dieselbe Kategorie.
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Geschichte der Han, Han shu, Peking 1962, 40.2033f. Liji zhengyi (1980) Kap. „Königsregeln“ (Wang zhi), S. 1346C, Legge, J.; op. cit., Bd. 1, S. 241. 16 Ebd. S. 1467, Kapitel „Regeln für den inneren Bereich“ (Nei ze), Legge, J.; op. cit., S. 464. 17 Ebd. S. 1620B, Legge, J.; op. cit., Bd. 2, S. 291. 15
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3 Zur Tugend der chinesischen Kindespietät Die Kindespietät ist eine zentrale Tugend, vielleicht sogar die zentrale, die die chinesische Kultur ausgemacht hat. Ursprünglich offenbar eine Tugend der korrekten Verehrung der verstorbenen Vorfahren durch einen Sohn, begann sie vor allem in der Han-Zeit auf die lebenden Eltern ausgedehnt zu werden. Dies dürfte auch die Zeit sein, in der der Klassiker der Kindespietät, das Xiaojing, entstand, das zwar traditionell einem Konfuziusschüler zugeschrieben wird, jedoch in der frühen Zeit vollkommen unbekannt ist. Der Text ist recht kurz, und er gibt für das Thema „Alter“ in China nicht viel her, da er sich zwar mit den Prinzipien befasst, wie ein Sohn seinen Eltern gegenüber seine Ehrfurcht erweist, aber nicht darüber spricht, wie sich der Sohn zu verhalten habe, wenn die Eltern alt sind. Es geht nur darum, wie er korrekt Trauer zu tragen hat, wenn sie tot sind. Wichtig ist aber, dass der Klassiker der Kindespietät Vorbild für zahlreiche andere Texte gewesen ist, in denen die Kindespietät weiter ausgemalt wird. Arthur Smith hat in seinem 1894 erschienen Buch „Chinese Characteristics“, das sich im Westen wie in China großer Beliebtheit erfreut hat, der Kindespietät einen ganzen Abschnitt gewidmet.18 Es ist nicht das erste Kapitel des Buches – dieses ist nämlich dem „Gesichtsverlust“ gewidmet, und es folgen eine ganze Reihe anderer „Charakteristika“ der Chinesen: ihre Sparsamkeit, der Fleiß, die Höflichkeit, die Zeitvergessenheit, die Ungenauigkeit, die indirekte Art und Weise sich auszudrücken, auch die Geringschätzung für den Ausländer und die gänzliche Abwesenheit von Verständnis für das Allgemeinwohl, um nur einige zu nennen. Smith hielt die Kindesliebe aber doch für einen ganz zentralen Aspekt, wenn er auch gleich zu Beginn des Kapitels sagt, dass es durchaus europäische Zeitgenossen gab, die der Auffassung waren, dass die Tugend der Kindesliebe ein reines Lippenbekenntnis sei und mit der Realität nichts zu tun habe. Ein englischer Missionar zum Beispiel habe nach dreißigjähriger Tätigkeit in China gesagt, dass zwar die Ahnenverehrung als eine Form der Kindesliebe verstanden werde, aber dass von den Söhnen aller bekannten Völker die chinesischen die unkindlichsten und ihren Eltern gegenüber ungehorsamsten seien und nichts anderes wollten, als ihren eigenen Weg gehen. Der berühmte James Legge, Übersetzer so gut wie aller chinesischer kanonischer Schriften, widersprach zwar, doch ist es interessant zu sehen, dass die chinesische Form von Respekt gegenüber der älteren Generation bei einem Europäer des viktorianischen Zeitalters Befremden auslöste, weil er von Kindern viel mehr Gehorsam gewohnt war, als er in China sehen konnte. Smith selbst fährt dann fort, dass es eine völlig unbestreitbare und durch vielerlei Erfahrung belegte Tatsache sei, dass chinesische Kinder keine anständige Disziplin hätten, dass man ihnen nicht beibringe, ihren Eltern zu gehorchen und dass sie im Normalfall nicht die geringste Idee von direktem Gehorsam hätten, so wie sich der Europäer das vorstellt. Man gehe dort vielmehr davon aus, dass sich die Sache im Alter von alleine einrenke und dass
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Smith, Arthur (1894) Kap. 19: S. 171–185.
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man dann – wenn die Eltern viel älter sind – schon grundsätzlich das richtige tun werde.19 Alles, was das Ansehen der Eltern schmälern könnte, wenn der Sohn erwachsen ist – und das ist die Gefahr bei eigentlich jedem Akt, jeder Handlung, die er in der Öffentlichkeit zu verrichten hat – ist dann ein Verstoß gegen die Pflicht zur kindlichen Pietät. Wenn er drei Jahre lang den Weg seines Vaters nicht verlässt, dann kann ein Sohn als pietätvoll angesehen werden, sagt Konfuzius.20 Verstanden wurde dies so, dass er während der drei Jahre, die ein Sohn nach dem Tod jedes seiner beiden Elternteile Trauer zu tragen hat, nichts tut, was den Anschein erwecken würde, er wolle etwas anders machen als sein Vater. Es gibt in den kanonischen Schriften durchaus Stellen, die nahe legen, dass ein Sohn sich seinen Eltern widersetzen muss, wenn sie etwas offensichtlich falsch machen. Doch wenn sie nicht auf ihn hören, dann muss er Züchtigung von ihnen mit Respekt ertragen. Mengzi, ein Autor, dessen Text allgemein auf die Wende vom vierten zum dritten Jahrhundert v. Chr. datiert wird, der jedoch zahlreiche Sätze enthält, die deutlich späteren Datums sein dürften, äußert sich mehrfach zur Kindespietät. Der berühmteste Satz, der auf ihn zurückgeht, lautet, dass es drei Dinge gebe, die pietätlos seien, das schlimmste darunter aber sei, keine Nachkommen zu haben.21 Das fußt darauf, dass ohne Nachkommen natürlich kein Ahnendienst möglich ist und die Eltern, wenn sie tot sind, ohne Opfer bleiben. Die übrigen zwei Dinge, die einen Mangel an Pietät darstellen, nennt Mengzi übrigens an dieser Stelle nicht. An anderer Stelle spricht er allerdings davon, dass es der Volksweisheit zufolge fünf Dinge gebe, die einen Mangel an Pietät darstellen. Vier davon – Faulheit, Spiel- und Alkoholsucht, seinen eigenen Vergnügungen nachgehen und dadurch die Eltern gefährden sowie Rowdytum – sind ebenfalls für uns nicht von großer Bedeutung. Doch von Interesse ist das dritte dieser Vergehen: „Seine Besitztümer und sein Geld lieben, sich eigensüchtig seiner Frau und seinen Kindern hingeben, das ist die dritte Form von mangelnder Kindesliebe.“22 Was das bedeuten konnte, finden wir in einer Sammlung von Bildern, die berühmte Vorbilder der Kindespietät in der chinesischen Kaiserzeit darstellen. Dies sind die „24 Paragonen der Kindespietät“ (er shi si xiao), eine mongolenzeitliche – also aus dem 14. Jahrhundert stammende – Zusammenstellung von teilweise sehr alten Geschichten, die dann mit Bildern unterlegt wurden, und in ganz Ostasien, nicht nur in China, im 18. und 19. Jahrhundert höchst populär war. Die meisten dieser Geschichten handeln von kleinen Kindern im Alter von sechs bis acht Jahren, was bedeutet, dass auch ihre Eltern nicht wirklich alt gewesen sein können. Da ist zum Beispiel der frühreife Sechsjährige, der einem berühmten Militärkommandeur seine Aufwartung machte und bei der Gelegenheit zwei Orangen stahl. Leider rollten sie ihm aus den Ärmeln. Sofort kniete er vor seinem Gastgeber nieder und sagte: „Meine Mutter liebt Orangen und ich wollte sie ihr mitbringen“. Anstelle dass man 19 20 21 22
Smith, Arthur (1894) S. 173. Gespräche des Konfuzius (Lun yu) 1.11 und 4.20, Legge, James (1862) Bd. 1, 142, 171. Mengzi 4A26, Legge, James (1862) Bd. 2, S. 313. Mengzi 4B30, Legge, James (1862) S. 336f.
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ihm eine Tracht Prügel gab, wurde er berühmt bis auf den heutigen Tag für diesen Beweis von Kindespietät.23 Noch absurder klingt die folgende Geschichte: Ein Sohn, der früh seine Mutter verloren hatte, war mit einer bösen Stiefmutter geschlagen, die ihn ständig vor seinem Vater schlecht machte, worauf er der Liebe seines Vaters verlustig ging. Die Stiefmutter aber liebte Karpfen und hätte gern einen gegessen. Leider war gerade Winter und der nahe gelegene See zugefroren. Da zog sich der Knabe aus und legte sich auf das Eis, um nach Fischen zu suchen. Das Eis brach auf, aber es passierte nicht, was man bei uns erwartet hätte, dass nämlich der Knabe jämmerlich ertrinken oder erfrieren musste – nein, zwei Karpfen waren von dieser Form kindlicher Liebe so angerührt, dass sie durch das Loch nach oben sprangen, sodass der Knabe sie ergreifen und seiner Mutter darbieten konnte. Das sind unterhaltsame Geschichten. Für das Thema „Alter“ in China jedoch ist eine weitere von größerer Bedeutung, denn sie erklärt den eben bereits zitierten dritten Verstoß des Mengzi gegen das Gebot kindlicher Pietät: „Seine Besitztümer und sein Geld lieben, sich eigensüchtig seiner Frau und seinen Kindern hingeben, das ist die dritte Form von mangelnder Kindesliebe.“ Hier geht es um einen vorbildlichen Mann, der sich nicht eigensüchtig an seine Kinder klammerte. Weil er arm war, sparte sich seine Mutter ständig das eigene Essen vom Munde ab, um es seinem dreijährigen Sohn, ihrem Enkel, zu geben. Da sagte der Mann zu seiner Frau: „Wir sind so arm, daß wir meine Mutter nicht ernähren können. Unser Kind nimmt Mutter auch noch Teile ihres Essens weg. Wir sollten das Kind begraben!“ Darauf hob er eine drei Fuß tiefe Grube aus – und fand darin eine Kiste voller Gold. Auf dem Deckel stand geschrieben: „Die Steuereintreiber dürfen das nicht nehmen und kein Mensch es dir streitig machen!“ Der Himmel hatte also ein Einsehen gehabt und das Kindsopfer konnte unterbleiben – aber ähnlich wie bei Abraham und Isaac nur deshalb, weil der Mann so deutlich bewiesen hatte, dass sein eigenes Kind deutlich weniger wert war als, nicht etwa der HERR, sondern die Großmutter. Man kann ja ein Kind ohne weiteres wieder zeugen, aber die eigene Mutter hat man nur einmal. Arthur Smith, der diese Geschichte zitiert,24 schreibt auch, dass man im neunzehnten Jahrhundert in China glaubte, dass Krankheiten, die sich Eltern zuzogen, am besten kuriert werden konnten, indem sie ein Stück Fleisch vom Körper ihrer eigenen Kinder aßen – allerdings durften die Eltern nicht wissen, was sie da zu sich nahmen, denn sonst hätten sie die Gabe natürlich abgelehnt. Nachrichten dieser Art stünden ständig in der „Peking Gazette“, und er, Smith selbst, habe einen jungen Mann persönlich kennen gelernt, der sich ein Stück Fleisch aus seinem Bein herausschnitt, um seine Mutter zu heilen. Er habe die Narbe herumgezeigt wie ein alter Soldat, der stolz ist auf die in den Schlachten seines Lebens empfangenen Wunden. Eine letzte Geschichte aus den 24 Paragonen der Kindespietät führt uns zu einem Thema zurück, das wir schon oben kennen gelernt haben: Lao Laizi, von dem manche meinen, es sei der Name des Laozi, des Autors des Daode jing, der wichtigsten Schrift des Daoismus, ist auch bekannt als einer der wichtigsten Vertreter der kon23 24
S. zu dieser und den folgenden Geschichten die Darstellung bei Dorée, Henri (1919) S. 469–500. Smith, Arthur (1894) S. 177f.
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Abb. 2 (Quelle: Dorée, Henri (1919) Fig. Kuou Kiu veut enterrer vivant son petit enfant)
fuzianischen Tugend der Kindespietät. Er kümmerte sich nach Kräften darum, dass seine Eltern nur die besten Speisen zu essen bekamen, und, ganz wie es das Buch der Riten befahl, nahm er das Wort „Alter“ ihnen gegenüber nicht in den Mund, als er selbst bereits siebzig Jahre alt war, um sie nicht daran zu erinnern, dass sie schon um die neunzig waren. Häufig habe er sich seine bunt gemusterten Kindeskleider angezogen und Kinderspiele vor den Eltern gespielt. Und oft habe er, wenn er für sie Wasser holte, so getan als stolpere er und falle zu Boden, um dann wie ein kleines Kind vor den Eltern heulen zu können. Dadurch erfreute er sie sehr, denn sie dachten, alles wäre noch genau so wie damals vor 60 Jahren. Was wir hier sehen, das ist der oben schon angesprochene Aspekt: Bei allem Respekt, den die Jugend im alten China dem Alter schuldete, bei aller Ehrfurcht, die selbst der Kaiser alten Beratern oder seinen ebenfalls durch Seniorität per se
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Abb. 3 (Quelle: Dorée, Henri (1919) Fig 158: Lao Lai-tse fait le pantin pour amuser ses parents)
würdigen Lehrern zu erweisen hatte, ist doch immer klar, dass das Altern nicht als ein angenehmer Prozess angesehen wird, sondern dass man versucht, es vergessen zu machen. Ein wichtiger Grund dafür dürfte sein, dass China ein Land ist, dessen Religionen verhältnismäßig wenig Raum für Transzendenz lassen. Im Konfuzianismus ist diese nur sehr mittelbar, durch den Ahnenkult gegeben, im Buddhismus ist das Leben ohnehin Leiden. Nur der Daoismus mit seinen Lebensverlängerungstechniken und dem Ideal des „Nährens des Lebens“, das das Ziel hat, den Tod so weit wie möglich hinauszuzögern oder gar Unsterblichkeit zu erlangen, kann dem Altern wirklich etwas abgewinnen – aber auch nur, indem er seine Konsequenzen durch allerhand Übungen überwinden möchte. Nicht umsonst findet sich in den zahlreichen Geschichten von beispielhaften Daoisten immer wieder der Hinweis darauf, dass sie
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Abb. 4 L’exode de l’enfançon (Quelle: Dorée, Henri (1938) Recherches IIIème partie, tome XVIII, Shanghai, S. 184 und 188)
es geschafft hätten, eine Haut zu behalten, die aussah wie die eines neugeborenen Säuglings, ein Ideal, das man in sublimierter Form übrigens auch bei Konfuzianern sehen kann. Eine ganz zentrale Form daoistischer Praxis zielt darauf ab, durch Meditation und Übungen, zum Teil auch durch die bekannten Form von körperlicher Betätigung ein transzendentes Kind zu erzeugen, das am Ende dem Kopf des alten Daoisten entsteigt.25
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Ich habe mich zum Thema „Nährung des Lebens“ kürzlich geäußert in van Ess, Der Daoismus, München: C. H. Beck, 2011, S. 33, 46 und 66. Siehe auch die Abbildungen auf den Seiten 73f.
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Heutige Formen, bei denen an dieses Ideal die meisten Menschen nicht mehr denken, sind unter dem Namen Taiji quan (Schattenboxen) oder Qigong bekannt, Atemübungen zur Kontrolle des den Körper durchflutenden Qi, vielleicht am besten als „Äther“ zu übersetzen.
4 Schluss und Zusammenfassung: Auswirkungen traditioneller Vorgaben auf das heutige China Damit sind wir auch bereits wieder am Anfang angelangt: Was prägt von den alten Vorstellungen vom Alter die heutige chinesische Gesellschaft noch? Man kann ja in China vielerorts noch immer des Morgens alte Menschen (und auch jüngere) in Parks sehen, wie sie sich mit Schattenboxen beschäftigen. Doch ist der Drang nach Gesundheitsübungen natürlich nur ein kleiner Teilbereich dessen, was in diesem Aufsatz ausgeführt wurde. Die Nährung der Alten durch den Staat gibt es nicht mehr. Ganz im Gegenteil hat die Einführung der Einkindfamilie zu Beginn der 80er Jahre mittlerweile dazu geführt, dass sich auch China in absehbarer Zeit einem aus entwickelten Gesellschaften wie Deutschland oder Japan wohlbekannten Phänomen stellen muss: Der Überalterung der Gesellschaft. Die Bevölkerung Chinas ist im Schnitt zehn Jahre jünger als die deutsche. Eine kleine Anzahl junger Menschen wird eine große Masse älterer ernähren müssen. Unter diesen Bedingungen fällt es allgemein schwer, sich einen Kult des Alters zu leisten. Erste Anzeichen dafür, dass dies heute schon nicht mehr der Fall ist, sehen wir in China bereits. Die Managementratgeberliteratur, die für China großen Absatz hat, gefällt sich darin, darauf hinzuweisen, dass konfuzianische Gesinnung auch das gegenwärtige China präge. Der Respekt für die weißen Haare ist dabei ein ganz gewichtiges Argument. Und in der Tat erscheint es nicht leicht, in China ernst genommen zu werden, wenn man zu jung mit zu großer Verantwortung beladen wird. Doch andererseits gibt es kein Land der Welt, in dem mehr schwarzes Haarfärbemittel verkauft wird als in China, weil niemand gerne seine grauen Haare zeigt, bis es nicht ganz unvermeidlich ist, dass auffällt, dass man nicht mehr der Jüngste ist. Junge Studenten, die nach Deutschland kommen, scheinen in der Tat auf den ersten Blick ihren Eltern stärker verpflichtet zu sein als deutsche. Das Scheitern im Studium, eine schlechte Note, werden als Katastrophe empfunden, weil die Eltern große Belastungen auf sich genommen haben, um ihrem Kind die bestmögliche Ausbildung zukommen zu lassen. Der familiäre Druck, der auf chinesischen Studenten lastet, ist um ein Vielfaches höher als derjenige, dem ihre deutschen Kommilitonen ausgesetzt sind. Tatsächlich liegt dies wohl nicht nur an der ökonomischen Seite, sondern daran, dass Jugendlichen in China schon früh ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber den Älteren eingeimpft wird. Nachdem dies mehrere Jahrzehnte völlig obsolet war, geschieht das in den letzten Jahren wieder immer stärker über die alten Manuale, mit denen auch schon in der Kaiserzeit konfuzianische Tugenden eingebläut wurden. Sogar in buddhistischen Tempeln kann man heute Bilder der 24 Paragonen der Kindespietät finden.
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Dieser Aufsatz begann mit der Frage, ob in China alte Menschen einen höheren Respekt genießen als im Westen, weil konfuzianische Vorstellungen das Land prägen. Diese Auffassung ist weit verbreitet und sie scheint in verschiedenen Details Bestätigung zu finden. Doch gibt es auch eine Reihe gegenläufiger Tendenzen, die zeigen, dass die Realitäten der Moderne auch vor China nicht halt machen. Traditionelle Vorstellungen werden indessen von staatlicher Seite im Augenblick massiv unterstützt, möglicherweise um ein ideelles Gegengewicht gegen diese Realitäten zu schaffen. Im Zentrum des Abschnittes „Das Alter in den kanonischen Schriften des Konfuzianismus“ standen die Belegstellen aus den kanonischen Schriften des Konfuzianismus, mithilfe derer der chinesischen Elite traditionell der Respekt vor dem Alter beigebracht und seine Notwendigkeit begründet wurde. Dabei zeigte sich, dass die Auffassung, dass Weisheit eine der Komponenten des Alterns ist und dass Alte deshalb Jüngeren Lehrer sein sollten, diesen Stellen durchaus entnommen werden kann, dass dies aber durchaus nicht alles ist, was die kanonischen Schriften zu diesem Thema zu sagen zu haben: Auch die Nachteile, die das Altern mit sich bringt, sind dort bereits genau verstanden. Auch die Geschichten, die sich um die 24 Paragonen der Kindespietät ranken, zeigen, dass man in China das Altern nicht nur als einen positiven Vorgang verstand, sondern dass zahlreiche Mechanismen darauf abzielten, ihn vergessen zu machen. Die Zustände im heutigen China spiegeln diese Zwiespältigkeit der chinesischen Tradition sicherlich wider: Die Anforderungen der sozialen Realitäten einer alternden Gesellschaft und die aus alten Vorstellungen stammenden Wünsche passen nicht immer zusammen.
Literaturverzeichnis Dorée, Henri (1919) Recherche sur les superstitions en Chine, Bd. XIV „La Doctrine du Confucéisme“, Shanghai Geschichte der Han, Han shu, Peking 1962 Geschichte der Späteren Han, Hou Han shu, Peking 1965 Legge, James (1862) The Chinese Classics, Bd. 1 + 2, London, und zahlreiche unveränderte Nachdrucke Legge, James (1885) Li Chi Book of Rites, Oxford Legge, James (1967) Li Chi Book of Rites, New York Liji zhengyi (1980) In Shisan jing zhushu, Peking Smith, Arthur (1894) Chinese Characteristics, New etc.
Das Alter ehren: Vorstellungen vom Alter und Sorge um die Alten im Alten Orient Stefan M. Maul
Adad-guppi1, eine Priesterin des Mondgottes von Harran, weiß in einer Inschrift aus dem 6. Jh. v. Chr. zu berichten, dass sie im Jahre 610 v. Chr. als Vierzigjährige die Zerstörung der letzten Feste des Assyrerreiches, der im Norden Syriens gelegenen assyrischen Stadt Harran, miterlebte. Über Jahrzehnte hinweg bis in ihr 95. Lebensjahr habe sie Sin, den Mondgott, angefleht, seinen Zorn zu besänftigen und endlich zuzulassen, dass sein Tempel in Harran wiedererrichtet würde. Schließlich, so Adad-guppi, habe der Gott sie erhört, indem er ihren leiblichen Sohn Nabonid (Regierungszeit 556–539 v. Chr.) zum babylonischen König erhob und diesen den Tempel in all seiner Pracht wiederaufbauen ließ: „Aus Liebe zu mir, die ich seine Gottheit verehrte“, heißt es in der Inschrift, „(. . . ) erhöhte Sin, der König der Götter, mein Haupt und verlieh mir einen guten Namen im Lande. Lange Tage, Jahre voll Herzensfreude gab er mir dazu. Von der Zeit des Assurbanipal, des Königs von Assyrien, bis zum 9. Jahr des Nabonid, des Königs von Babylon, meines leiblichen Sohns, hielt mich Sin, der König der Götter, 104 gütige Jahre lang am Leben in der Ehrfurcht, die er mir ins Herz legte. Der Blick meiner Augen war hell, außergewöhnlich gut mein Gehör, Hände und Füße waren gesund, erlesen meine Worte. Essen und Trinken schmeckte mir, meine Gesundheit war gut und froh mein Herz. Meine KindesKindes-Kindes-Kinder – gesund bis in die 4. Generation – erlebte ich, während ich mich an (meinem) gesegneten Lebensalter sättigte.“2
Für den Historiker gibt es keinen ersichtlichen Grund, Zweifel daran zu hegen, dass die Mutter des letzten babylonischen Königs tatsächlich in körperlicher und geistiger Gesundheit ihren 100. Geburtstag noch um Jahre überlebte.3 Denn auch vor zwei, drei und mehr Jahrtausenden verfügte der Mensch – nicht anders als wir – über seine grundlegende biologische Beschaffenheit, welche es ihm erlaubt, unter besonders glücklichen Bedingungen das elfte oder gar das zwölfte 1
Zu der Person Adad-guppi sowie der Deutung und der korrekten Lesung ihres Namens siehe Schaudig, H. (2001) 14. 2 Adad-guppi-Inschrift, Kolumne II:22–34 (zitiert nach Hecker, K. (1988) 482–483; siehe auch Schaudig, H. (2001) 500–513). 3 Tatsächlich gibt es Anlaß zu der Vermutung, dass Adad-guppi lediglich 102 Jahre alt wurde (Schaudig, H. (2001) 14 mit Anm. 42).
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Lebensjahrzehnt zu erreichen. Das Wissen anderer, weit vor uns liegender Zeitalter um die Möglichkeit des Menschen, tatsächlich mehr als hundert Jahre alt zu werden, findet etwa in der Genesis, dem ersten Buch der hebräischen Bibel, seinen Ausdruck (Gn 6:1–4). Dort heißt es nämlich, Gott habe nach der Sintflut den zuvor sehr viel längeren Lebenshorizont des Menschen auf maximal 120 Jahre begrenzt. Zwar sorgte im Alten Orient, von dem hier die Rede sein soll4 – ebenso wie in vielen anderen vormodernen Gesellschaften – eine enorm hohe Kindersterblichkeit für eine durchschnittliche Lebenserwartung, die drastisch unter der heutigen lag (Böck, B., 2000, 30–31; Dandamaev, M.A., 1980). Gleichwohl gab es die Alten. Und entgegen den weitverbreiteten Vorstellungen von Verhältnissen in den frühen Perioden der menschlichen Zivilisation rechneten auch die antiken Kulturen mit einer beachtlich hohen Lebenserwartung, zumindest für jene, die das Erwachsenenalter bereits erreicht hatten. So gibt etwa der Psalmist in Psalm 90:10 folgende Einschätzung5: „Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer, rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin.“ Auch der griechische Historiker Herodot gelangte im 5. vorchristlichen Jahrhundert zu einem ähnlichen Schluss. „Auf siebzig Jahre setze ich die Dauer des Menschenlebens“, lässt er Solon in einem Dialog mit Kroisos sagen.6 Einer babylonischen Lehre zufolge galt ebenfalls ein Alter von zumindest 60–70 Jahren als das, was ein Mensch gerechterweise erwarten darf. In einem als Gelehrtengeheimnis bezeichneten Text aus dem 7. Jh. v. Chr. heißt es nämlich: „(Das Alter von) vierzig (Jahren ist des Menschen) Blüte. Fünfzig (Jahre wären) kurze Tage. Sechzig (Jahre sind) das Mannesalter, siebzig (Jahre) lange Tage, achtzig (Jahre) sind die (Lebensjahre) der Weisen, neunzig (Jahre) sind ein gesegnetes Alter.“7
Freilich sorgten die vergleichsweise begrenzten Möglichkeiten der Heilkunde, akut lebensbedrohliche Krankheitszustände erfolgreich zu bekämpfen, dafür, dass die Anzahl alter Leute und namentlich der gebrechlichen deutlich geringer war, als das heute der Fall ist.8 So sind in der sehr umfangreichen Literatur der Keilschriftkulturen zwar bisweilen die Leiden des Alters beschrieben (Heeßel, N.P., 2000, 72 mit Anm. 19). Unter den kaum überschaubaren heilkundlichen Traktaten, die der Alte Orient in mehr als zwei Jahrtausenden hervorgebracht hat, finden sich jedoch bezeichnenderweise zahlreiche Anweisungen zur Heilung von Säuglingen, Kleinkindern und Frauen. Aber wir kennen nicht einen einzigen Text therapeutischen oder pharmakologischen Inhalts, der explizit den Leiden des Alters gewidmet wäre. Wer im höheren Alter schwer krank wurde, dürfte in der Regel rasch gestorben sein. In der schriftlichen Überlieferung fehlen uns Klagen über den Tod eines reiferen oder alten Menschen. Allein das Sterben zur Unzeit, d. h. der Tod derjenigen, die 4
An dieser Stelle sei auf die grundlegende Publikation verwiesen, von der der vorliegende Aufsatz maßgeblich profitiert hat: Stol, Vleeming 1998. Siehe außerdem Greenfield, J.C. (1982). 5 Siehe auch Malamat, A. (1982). 6 Herodot, 1, 32 (zitiert nach Feix, J. (1963) 31). 7 Gurney, O.R. (1964) Text Nr. 400:45–47. 8 Einen Überblick über die altorientalische Heilkunde gibt Geller, M.J. (2010).
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noch im jugendlichen Alter dahinschieden und weder einen Ehegatten noch Kinder gehabt hatten, galt als beklagenswert. Auf den gleichwohl vorhandenen Wunsch, in Gesundheit ein hohes Alter zu erreichen, treffen wir immer wieder, namentlich in Briefen. Ein schönes Beispiel sei hier vorgestellt. Es stammt aus einem Brief, den ein gelehrter Heiler im 7. Jh. v. Chr. an den König Assyriens richtete: „Mögen (. . . ) (alle) großen Götter des Himmels und der Erde, die Götter, die in Assyrien und die Götter, die in Babylonien wohnen, die Götter der Gesamtheit aller Länder, den König, meinen Herrn, in ganz besonderer Weise segnen. Dem König, meinem Herrn, mögen sie lange Tage, zahlreiche Jahre, Frohsinn und eine gute Konstitution, Gesundheit und Lebenskraft geben. So wie Sonne und Mond am Himmel fest verankert sind, so möge die Herrschaft des Königs, meines Herrn, und die seiner Nachkommschaft in allen Ländern fest verankert sein. Das Gedeihen Assyriens, das Gedeihen Babyloniens und das Gedeihen aller Länder mögen sie (die Götter) den König, meinen Herrn, erblicken lassen. Sie mögen dem König, meinem Herrn, Frohsinn und eine gute Konstitution, das Aufleuchten seines Gemütes, Altwerden bis in ferne Tage und eine sehr lange Amtszeit schenken.“9
In einem anderen Brief ist von den noch kleinen Kindern des Königs die Rede. Sie, so schreibt der Berater des Königs, mögen ruhig in dessen „heilvollen Schatten spielen.“ Und er fügt hinzu: „Der König, mein Herr, möge sie gedeihen sehen. Und auch noch deren Enkelkinder mögen in gleicher Weise in der Gegenwart des König, meines Herrn spielen.“10 In einem Bericht, den er an den assyrischen König sandte, wünschte ein Astrologe sogar der König möge das Alter des sagenhaften ersten vorsintflutlichen Königs Alulim erreichen,11 von dem es hieß, er sei 36000 Jahre alt geworden.12 Ähnlich wie in der biblischen Kultur lehrten nämlich auch Babylonier und Assyrer, dass Tod, Alter und Gebrechlichkeit keineswegs von Anbeginn an in der Welt gewesen seien. Im Anfang nämlich hat es alten mesopotamischen Schöpfungsmythen zufolge Tod durch Altersschwäche gar nicht gegeben. So erreichten die Menschen die eben genannten, unvorstellbar langen Lebenszeiten. Sie vermehrten und vermehrten sich und wurden mit den Jahrzehntausenden so zahlreich, dass ihr geschäftiges Treiben, ihr Geschrei nicht nur die Götter in ihrer Ruhe störte, sondern auch die Fähigkeit des Menschen übertönte, Gottes Stimme zu hören. So beschlossen die Götter eine große Flut zu schicken, auf dass die Menschheit vernichtet werde.13 Allein der Weisheitsgott verriet den Plan Uta-napischti, dem babylonischen Noah, der mit seiner Familie als einziger der alles vernichtenden Flut mit Hilfe einer nach genauen Vorgaben angefertigten Arche entkam, in der – auf weisheitsgöttlichen Rat – auch die Tiere das urzeitliche Weltengericht überlebt hatten. In der neuen, auf Uta-napischti und die Seinen zurückgehenden Welt sollte Vergleichba9
Parpola, S. (1993) 160, Text Nr. 197:7ff. Parpola, S. (1993) 166, Text Nr. 207:r.3ff. 11 Parpola, S. (1993) 120, Text Nr. 158:4. 12 Zu König Alulim, der auch Alulu genannt wurde und 36000 Jahre (einer anderen Tradition zufolge 28800 Jahre) lang regiert haben soll, sind alle uns bekannten Informationen und die einschlägigen weiterführenden Literaturverweise zusammengestellt in Frahm, E. (2009) 141. 13 Zu den Sintflutgeschichten des Alten Orients siehe Maul, S.M. (2007) und Maul, S.M. (2008) 37–40 und 140ff. 10
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res nicht mehr passieren. Teil des Bundes, den die Götter nun mit den Menschen schlossen, war, dass diese von nun an eine ins menschliche Maß begrenzte Lebenszeit haben würden. Altersgebrechlichkeit und Tod galten so als Unterpfand dafür, dass es eine Sintflut nie mehr geben würde. Mit der Bedürftigkeit alter Menschen sahen sich auch vor Jahrtausenden die Gesellschaften des Alten Orients konfrontiert. Wenn die Alten nicht mehr oder nur noch bedingt erwerbsfähig waren, galt es – nicht anders als heute – ihnen Einkommen, Ernährung, Kleidung und Unterkunft zu sichern; ihnen ein Feld sozialer Ansprache zu erhalten und im Krankheitsfall Pflege zukommen zu lassen und nicht zuletzt auch sicherzustellen, dass der Besitz einer alten kranken oder dementen Person sachgerecht verwaltet würde. Einer weiteren Sorge kam im alten Zweistromland ein weit größerer Stellenwert zu, als dies in den modernen westlichen Industriegesellschaften der Gegenwart der Fall ist: Es mußte sichergestellt werden, dass eine Person ordnungsgemäß bestattet und deren als unsterblich gedachte jenseitige Existenz auch weiterhin durch bestimmte Riten erhalten wurde.14 In unserer Gegenwartsgesellschaft sind diese Aufgaben mehr und mehr dem Staat zugefallen. Im Alten Zweistromland oblag hingegen die Sorge um die Alten ausschließlich der Familie. Familiengründung war daher – zumindest für die frei Geborenen – eine soziale und ökonomische Notwendigkeit (Wilcke, 1984). Dies läßt sich auf die einfache Formel bringen: Wer Frau und Kind hat, dessen Altersversorgung ist gesichert. Prosopographische Studien (Roth, M., 1987; van Driel, G., 1998, 167–168) haben gezeigt, dass in Babylonien und Assyrien über die Jahrhunderte hinweg – zumindest in wohlhabenden Familien – ein Mann üblicherweise mit Mitte bis Ende Zwanzig ein etwa 10–15 Jahre jüngeres Mädchen heiratete, welches nicht nur zumindest einen Sohn gebar, sondern – aufgrund des Altersunterschiedes – im Alter wohl auch für die Pflege ihres Mannes sorgen konnte. Gleichzeitig standen der Frau Kapitalrücklagen zur Verfügung, die beim Vorversterben des Ehemannes nicht zu dessen Nachlass gehörten, sondern im Besitz der Frau blieben.15 Die Sorge um die alte Mutter oblag dann dem Sohn. Söhne zu haben, war daher schlicht eine Lebensnotwendigkeit. Dem medizinischen Problem der Kindersterblichkeit kam in der Heilkunde deshalb besonders große Aufmerksamkeit zu (Stol, M., 2000). Die fundamentale Existenzbedrohung, die in dem damals allzu häufigen Tod der kleinen Kinder lag, findet einen beredten Ausdruck in der Löwenfratze der blutgierigen Dämonin Lamaschtu (Farber, W., 1980–1983), in der die Kindersterblichkeit für die Mesopotamier eine darstellbare Gestalt gewann. Eine Gilgamesch-Erzählung des dritten vorchristlichen Jahrtausends (George, A.R., 2003, 727–777) führt vor Augen, welch enorme Wertschätzung man dem Reichtum an Söhnen entgegenbrachte. In der folgenden Szene befragt Gilgamesch den der Unterwelt entstiegenen Geist seines toten Freundes Enkidu: 14
Zu Bestattungssitten und Totenpflege siehe Mofidi Nasrabadi, B. (1999) und Tsukimoto, A. (1985). 15 Vgl. hierzu die exemplarische Untersuchung Roth, M. (1991/93).
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„Sahst du den, der einen einzigen Sohn hatte?“ „Ich habe ihn gesehen. Der Kuckuck klebt an seinem Haus, und bitterlich weint er darüber.“ „Sahst du den, der zwei Söhne hatte?“ „Ich habe ihn gesehen. Auf zwei Ziegeln sitzt er und ißt das Brot.“ „Sahst du den, der drei Söhne hatte?“ „Ich habe ihn gesehen. Aus einem Schlauch, befestigt am Sattel, trinkt er das Wasser!“ „Sahst du den, der vier Söhne hatte?“ „Ich habe ihn gesehen. Wie einer, der über angespannte Esel verfügt, ist froh sein Herz!“ „Sahst du den, der fünf Söhne hatte?“ „Ich habe ihn gesehen. Seine Hand ist geschickt wie die eines guten Schreibers. Den Palast betritt er mit Leichtigkeit.“ „Sahst du den, der sechs Söhne hatte?“ „Ich habe ihn gesehen. Wie ein Landmann ist er frohen Herzens.“ „Sahst du den, der sieben Söhne hatte?“ „Ich habe ihn gesehen. Wie ein junger Bruder der Götter sitzt er auf einem Thron und lauscht der Musik!“ „Sahst du den, der keinen Erben hat?“ „Ich habe ihn gesehen. Wie auf einem gebrannten Ziegel nagt er am Brot!“16
Noch im Jenseits ist nämlich der hier ausgebreiteten Vorstellung zufolge die alte Generation auf die Sorge der Jüngeren angewiesen. Die wechselseitige enge Verbundenheit der Elterngeneration mit der der Kinder war in den Gesellschaften des Alten Zweistromlandes lebenswichtig. Das Ehren der Eltern und des Alters war daher nicht nur ein immer wieder formuliertes moralisches Postulat. Auch im Alltag verlangte die streng eingehaltene Sitte, dass der Sohn dem Vater in Beruf und Besitz nachfolgte, Harmonie zwischen den Generationen. Denn selbst, wenn der Sohn die Geschäfte des Vaters führte, lag – solange der Valter lebte – Verantwortung und Entscheidungsbefugnis allein bei dem Alten. Dass man dennoch sicherstellte, dass die Generationen immer wieder zu einem für alle Beteiligten zufriedenstellenden Ergebnis gelangten, zeigen Herrschaftsformen, wie sie im Gilgamesch-Epos geschildert sein. Der selbstherrliche König kann dort nämlich keine Entscheidung von Gewicht fällen, ohne zuvor den Rat der Ältesten und den der jungen Krieger befragt zu haben, die zu einem Ausgleich gelangen müssen.17 Auch wenn wir aus dem Alten Orient keinerlei gesetzliche Regelungen zur Altenversorgung kennen, zeugt doch folgendes „Gesetz“ aus dem im 18. Jh. v. Chr. niedergeschriebenen Rechtsbuch des Hammurapi davon, dass man auch im frühen Babylonien eine moralische Pflicht darin sah, Kranke und Hilflose in ihrer Familie adäquat zu versorgen. In dem hier zitierten Paragraph des Kodex Hammurapi geht es um eine Ehefrau, die sich eine schlimme, ansteckende und unheilbare, la’bum genannte Krankheit zugezogen hatte: „Wenn ein Mann eine Ehefrau nimmt und die la’bum-Krankheit sie befällt – wenn er dann plant, eine andere zu heiraten, so darf er das tun; seine (erste) Ehefrau, welche die la’bumKrankheit befallen hat, darf er (jedoch) nicht verstoßen; im Haushalt, den er aufgebaut hat, soll sie wohnen bleiben und, solange sie lebt, soll er sie unterhalten.“18 16 Gilgamesch-Epos, Tafel XII:102–116 (George, A.R. (2003) 732–735) und „Bilgames und die Unterwelt“, Z. 255–a 2 (George, A.R. (2003) 760–764). Die hier vorgelegte Übersetzung stammt vom Verfasser. 17 Siehe z. B. Maul, S.M. (2008) 26. 18 Kodex Hammurapi § 148 (Übersetzung nach Borger, R. (1982) 60).
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Kindern dürften man ihren alten und nicht mehr erwerbsfähigen Eltern gegenüber die gleiche Verantwortung abverlangt haben, die laut Kodex Hammurapi ein Ehemann für seine schwerkranke Gattin wahrzunehmen hatte. In dem Prolog eines Rechtsbuches aus dem 20. Jh. v. Chr. rühmt sich Lipit-Ischtar, der König der südmesopotamischen Stadt Isin, er habe in seiner Regierungszeit dafür gesorgt, dass „der Vater seine Kinder unterstützte (und) die Kinder ihren Vater unterstützen“ (Lutzmann, H., 1982, 25:17–20). Man mag daraus schließen, dass die Wirklichkeit von Altenpflege und Verantwortlichkeit der Generationen für einander doch nicht immer den oben herausgearbeiteten moralischen Anforderungen entsprach. Eine Urkunde aus dem späten 6. vorchristlichen Jahrhundert gibt uns Einblick in die diesbezüglichen Nöte einer babylonischen Familie. Folgendermaßen ist ihr Wortlaut: A. sagte zu seiner Tochter B.: „Als ich krank war, hat mich mein Bruder C. verlassen, und mein Sohn D. ist mir davongelaufen. Nimm mich bei dir auf und sorge für mich und gib mir Zuwendung an Nahrung, Öl und Kleidung, solange ich lebe. Und ich werde dir meine Pfründe. . . überschreiben.“ B. ging auf das Angebot ihres Vaters A. ein und nahm A. auf in ihrem Haus und gab ihm Zuwendung an Nahrung, Öl und Kleidung. A. überschrieb aus freiem Willen seine Pfründe . . . mit gesiegelter Urkunde seiner Tochter B. auf ewig. Solange A. lebt, soll B. ihrem Vater A. Zuwendung an Nahrung, Öl und Kleidung geben. Solange A. lebt, soll er über das Einkommen aus seiner Pfründe verfügen können. Aber A. darf seine Pfründe weder verkaufen, noch verschenken noch verpfänden, noch davon etwas abziehen. Von dem Augenblick an, da A. tot ist, soll sie seiner Tochter B. überschrieben sein.19
In dem hier vorgestellten Fall war die Familiensituation offenbar so problematisch, dass die Lösung des sich abzeichnenden Problems, nämlich die Altersversorgung des alleingelassenen Vaters, einer vertraglichen Regelung bedurfte, die – um deren Durchsetzung sicher zu gewährleisten – Autoritäten bemühen mußte, welche außerhalb des Familienverbandes stehen. Und dies, obgleich doch der Vater A. mit der Pfründe über ein regelmäßiges Einkommen verfügte, das körperliche Arbeit nicht notwendig machte. Der Bruder als nächster Verwandter aus der eigenen Generation war der Erwartung, sich um den erkrankten Mann zu kümmern, nicht nachgekommen, der Sohn davongelaufen. Unserem babylonischen Vater blieb nur noch die Tochter. Doch was veranlaßte ihn, seine in die Hände der Tochter gegebene Altersversorgung auch vertraglich abzusichern? Mit dieser Frage ist auch die Frage verbunden, ob es im Alten Orient eine Art Unterhaltspflicht der Kinder gegeben hat, und wenn ja, wie diese geregelt war. Schon anhand der oben besprochenen Urkunde ist deutlich zu erkennen, dass das Problem der Altersversorgung eng mit erbrechtlichen Regelungen verbunden war. Dies ist natürlich und auch naheliegend. Denn nur so kann Geben und Nehmen zwischen den Generationen in Einklang gebracht werden. Schauen wir also kurz auf die Grundregeln babylonischen Erbrechtes.20 Dort war es so, dass nur Söhne – und zwar ausschließlich die aus einer rechtmäßigen Ehe – erbberechtigt waren. Aus dem Erbrecht aber erwuchs den Söhnen eine Versorgungspflicht gegenüber den alten El19
Ungnad, A. (1908) Text Nr. 21. Vgl. die Bearbeitung: San Nicolò, M. (1932) 44–46. Die hier vorgestellte Übersetzung richtet sich nach Westbrook, R. (1998) 11. 20 Als Einführung seien empfohlen: Neumann, H. (2003) und Westbrook, R. (2003).
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tern. Dieser Regelfall, der einen Vertragsschluß zwischen Vater und Sohn bezüglich der Altersversorgung unnötig werden läßt, galt in der oben behandelten Situation aber nicht, da der Sohn zwar vorhanden, aber davongelaufen war. Zum Zweck der Absicherung des nicht regulären Erbrechtes der Tochter galt es also, eine rechtskräftige und einklagbare Regelung zu finden. Die zahlreichen uns erhalten gebliebenen keilschriftlichen Urkunden aus drei Jahrtausenden, in denen dokumentiert ist, dass man mit Rechtsmitteln Altersversorgung zu regeln versuchte, erweisen sich dementsprechend als Regelungen, die vonnöten waren, da der Normalfall der Altersversorgung nicht verwirklicht werden konnte – sei es, weil ein Ehepaar ohne Sohn geblieben war; sei es, weil die Söhne verstorben, vermißt, verschleppt oder davongelaufen waren, oder sei es, weil die Söhne nicht willig oder fähig waren, ihre Eltern im Alter zu versorgen. Drei Grundstrategien lassen sich ausmachen, den Mangel an Söhnen durch den Einsatz von Besitz auszugleichen. Die erste und wohl auch wichtigste ist die schon seit dem dritten vorchristlichen Jahrtausend belegte Adoption, also die rechtlich abgesicherte Begründung eines Vater-Sohn-Verhältnisses ohne Rücksicht auf die biologische Abstammung.21 Recht häufig ist der Fall, dass ein kinderlos gebliebenes Ehepaar bereits in jüngeren Jahren einen Jungen an Sohnes Statt annahm, dem es eine Ausbildung zukommen ließ, und so dafür sorgte, dass rechtzeitig ein adäquater Erbe mit allen seinen Rechten und Pflichten heranwuchs. Wir kennen daneben – und dies nicht selten – aber auch Adoptionen, die zu einem späteren Zeitpunkt eigens zur Absicherung des Alters durchgeführt wurden. In diesen, in drei Jahrtausenden belegten Fällen, wird vor Zeugen und Gericht einer erwachsenen Person zugesichert, das Erbe des Adoptierenden so wie ein leiblicher Sohn anzutreten zu können, unter der Maßgabe, dass der Adoptierte die Altenpflege des Adoptierenden übernimmt. Ausführlichere Adoptionsurkunden dieser Art regeln neben der Pflicht zur Grundversorgung des Alten mit Getreide, Öl und Kleidung auch Einzelheiten wie z. B. den Anspruch des zu Versorgenden auf Fleisch an hohen Feiertagen.22 Nicht wenige Dokumente beziehen in die Pflichten des Versorgenden auch die Forderung ein, dem zu Betreuenden mit dem gebotenen Respekt ( ) zu begegnen und ihn in jeder Hinsicht zu ehren (kubbutu).23 Das hier verwendete Wort ist identisch mit dem hebräischen Verb, das für das „Ehren“ von Vater und Mutter in dem vierten der zehn Gebote steht.24 Mit den Begriffen und kubbutu sind „Hochachtung“ und „liebevolle Zuwendung“ umschrieben. Manche keilschriftlichen Verträge fügen zu den oben genannten Bestimmungen noch hinzu, dass Respekt und Zuwendung so zu erbringen seien, dass der Betreute dabei „frohen Herzens“ (Stol 1998, 62) sei. Die zweite Strategie, auf die wir in den altorientalischen vertraglichen Regelungen zur Altersvorsorge immer wieder stoßen, greift anders als die erste nicht dau21
Zur Adoption im Alten Orient siehe David, M. (1927); Neumann, H. (2003); Westbrook, R. (1993 und 2003). 22 Siehe Westbrook, R. (1998) 10. 23 Siehe Westbrook, R. (1998) 10; Stol, M. (1998) 62f. und Veenhof, K.R. (1998) 127ff. 24 Zu diesem Verb „ehren“ siehe Albertz, R. (1978).
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erhaft in eine Familienstruktur ein. Sie besteht nämlich darin, dass ein Sklave sich vor Zeugen verpflichtet, seinen Besitzer zu pflegen, während dieser seinem Diener im Gegenzug verbindlich zusagt, dass dessen Freilassung im Augenblick seines eigenen Todes erfolgt.25 Die Aussicht, vielleicht schon in wenigen Jahren gänzlich über die eigene Person verfügen zu können, wird namentlich den jüngeren Unfreien attraktiv erschienen sein.26 Wohlhabende alte Leute konnten sich auf diese Weise – so wie etwa die aus reicher Familie stammende babylonische Nonne Innabatum im 19. Jh. v. Chr. – ein ganzes Pflegeteam zusammenstellen. Die alte, in einem Kloster lebende Dame hatte sich nämlich – wie wir aus entsprechenden Urkunden wissen – zur Pflege und Unterhaltung gleich drei Mädchen aus dem Besitz ihrer Familie verpflichtet, welche nach dem Hinscheiden der Nonne mit weit besseren Lebensbedingungen als bei ihren ursprünglichen Besitzern rechnen durften (Stol, M., 1998, 111–112). Die dritte Strategie zur Absicherung des Alters, ohne hierfür auf eigene Söhne zurückgreifen zu müssen, bestand schließlich darin, Altenpflege durch Schuldtilgung einzukaufen. Eine Urkunde aus dem syrischen Emar, die im letzten Drittel des zweiten vorchristlichen Jahrtausends geschrieben wurde, führt uns einen solchen Fall vor Augen: „A. sagte folgendermaßen: ‚B. stand bei mir mit 41 Schekel Silber in der (dienstantichretischen) Schuld. Jetzt habe ich 20 Schekel von diesem Betrag gestrichen und ihm (außerdem) C. zur Frau gegeben.‘ Solange A. und seine Frau D. leben, soll B. sie ehren. Wenn er sie ehrt, kann er, wenn sie verstorben sind, seine Frau und seine Kinder nehmen und gehen, wohin er will. Er wird die (noch ausstehenden) 21 Schekel unseren Kindern zurückzahlen.“27
In diesem Fall sind die Kinder des alten Ehepaares von der Last der Altenpflege aus welchen Gründen auch immer befreit. Nach dem Tode der Alten, so sieht es die Regelung vor, soll B. seine Restschuld bezahlen, oder aber den Kindern der Verblichenen weiterdienen. Darüber hinaus werden beide Parteien im Fall des vorzeitigen Abbruchs der Vereinbarung mit Vertragsstrafen belegt. Der Gläubiger soll seines Geldes verlustig gehen, der Schuldner, der seiner Pflegeverpflichtung nicht nachkommen sollte, soll hingegen die ursprüngliche Gesamtschuld zuzüglich eines Zinsbetrages von 50 % an den Gläubiger zahlen. Auf diese Weise sind beide Vertragspartner fest an ihr Abkommen gebunden. Die Möglichkeit, auf die eine oder die andere Weise, die eigene Altersversorgung mit Kapitalbesitz abzusichern, wenn eigene Kinder bzw. Söhne nicht vorhanden waren, stand freilich nur jenen offen, die entsprechendes Vermögen ihr eigen nannten. In allen Epochen der altorientalischen Geschichte dürfte diese reichere Gesellschaftsschicht nur eine kleine Minderheit gewesen sein. Die vielen anderen Menschen, die weder über nennenswerten Besitz noch über eigene Söhne verfügten, welche ihr Leben im Alter absichern konnten, blieben hingegen sich selbst und 25
Vgl. die in Stol, M. (1998) 83 Anm. 95 hierzu zusammengestellte Literatur. Zum Phänomen des Personenbesitzes im Alten Orient siehe Neumann, H. (2003) und Westbrook, R. (2003). 27 Arnaud, D. (1986) 24–26, Text Nr. 16:1–9, siehe dazu auch Westbrook, R. (2004) 104. Die hier gegebene Übersetzung richtet sich nach Westbrook, R. (1998) S. 18. 26
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dem Wohlwollen Dritter überlassen. Mangels Kapitals erübrigte es sich, ihre Altersversorgung vertraglich zu regeln. So ist ihr Schicksal meist nicht aktenkundig geworden und uns in der Regel verborgen geblieben. Dennoch haben sich Dokumente erhalten, die uns auch Einblick in das Leben jener altgewordenen einfachen Leute geben können. Hierzu zählen Personalverzeichnisse, die in staatlichen Webereien geführt und im 21. vorchristlichen Jahrhundert, in der Zeit des Reiches der III. Dynastie von Ur, niedergeschrieben wurden. In diesen Listen sind die Arbeitskräfte, zumeist Frauen, namentlich aufgeführt. Manche der Namen, es sind etwa 6 % des gesamten Personalbestandes, sind mit dem Zusatz šu-gi, ‚Greis‘, versehen. Diesen alten Arbeiterinnen wurden Monatsrationen von 20 l Gerste zugewiesen, ein Betrag, der sonst Kindern zusteht, und wohl nur gerade das Lebensminimum garantiert (Wilcke, C., 1998, 26ff.). In anderen Personallisten dieser Zeit sind auch alte Männer erwähnt. Diese ebenso mit sehr schmalen Rationen bedachten Alten verdingten sich als Fischer, Vogelfänger und Hilfsarbeiter (Wilcke, C., 1998, 36ff.). Wenn sie, wie nicht selten, auch dort im Familienverband arbeiteten, konnten ihre Kinder zu ihrer Versorgung beitragen. Standen keine Kinder zur Verfügung, galt es mit dem Wenigen auszukommen, das die jeweilige Institution gewährte.
Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass es auch vor Jahrtausenden in den untergegangenen Kulturen des Alten Vorderen Orients Alte gab, die sogar das 11. Lebensjahrzehnt erreichten. Zwar bildete sich ein eigener gerontologischer Zweig der ansonsten recht hoch entwickelten altorientalischen Heilkunde nicht aus, da schwere Krankheiten in hohem Lebensalter angesichts der letztlich begrenzten Möglichkeiten der Medizin wohl in der Regel rasch zum Tod führten. Wir können aber beobachten, dass die Gesellschaften des Alten Orients Normen entwickelten, die die Familie und namentlich die Söhne einer alten Person der strengen moralischen Verpflichtung unterwarfen, Alten, die nicht mehr oder nur bedingt erwerbsfähig waren, Einkommen und Ernährung, Kleidung, Unterkunft, soziale Ansprache und im Krankheitsfall auch Pflege zukommen zu lassen. Für den Fall, dass ein männlicher Erbe fehlte, der die Aufgabe der Versorgung der Alten übernehmen konnte, kennen wir aus allen Epochen der altorientalischen Geschichte, vom dritten vorchristlichen Jahrtausend bis zum Ende der Keilschriftkultur um die Zeitenwende, Keilschrifttexte, in denen Altersvorsorge vertraglich geregelt wurde. Die wichtigste Strategie war hierbei die Adoption einer Person, die den Adoptierenden pflegte und dafür nach dessen Ableben sein Erbe antrat. Daneben hatten Vermögende, die alleinstehend waren, die Möglichkeit die eigene Altersversorgung durch Kapitalbesitz zu sichern, sei es dadurch, dass man Sklaven die Freiheit garantierte, wenn sie die Alterspflege übernahmen, sei es dadurch, dass man Altenpflege durch Schuldentilgung einkaufte. Nur die besitz- und kinderlosen Alten waren auf die Barmherzigkeit anderer angewiesen. Manche Urkunden lassen erkennen, dass man mittellosen Alten
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in staatlichen und von Tempeln geführten Betrieben gegen Handlangerdienste ein mageres Altersbrot gewährte.
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Einleitung Alter und Altern – Wirklichkeiten und Deutungen Peter Graf Kielmansegg und Heinz Häfner
Das Thema „demographischer Wandel“ ist inzwischen auf der Agenda der Öffentlichkeit wie der Politik angekommen. Wir wissen, dass die Gesellschaft, in der wir leben, rasch altert; dass, anders formuliert, der Anteil der alten und sehr alten Menschen an der Bevölkerung stetig wächst und jener der jungen Menschen schrumpft. Wir wissen auch, dass dieser Wandel eine der großen Herausforderungen ist, vor denen wir stehen. Man mag also fragen: Wozu wird ein Band wie dieser noch gebraucht? Hat eine wissenschaftliche Konferenz wie jene, die dem Band zugrunde liegt, noch eine Aufgabe zu erfüllen? Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften hat daran keinen Zweifel. Sie hat, beginnend im Jahr 1998, in enger Zusammenarbeit mit der und großzügig unterstützt durch die Robert Bosch Stiftung eine Folge von vier Konferenzen veranstaltet. Die erste, unter dem Titel „Gesundheit unser höchstes Gut“, im Jahr 1998 steckte mit Beiträgen zu Geschichte und Gegenwart der Gesundheitsversorgung und mit einer Bestandsaufnahme von subjektiven Bedürfnissen und objektivem Bedarf einer alternden Bevölkerung an Gesundheits- und Sozialleistungen den Rahmen ab. Die ungelösten Fragen, die diese Tagung sichtbar machte, wurden zur Grundlage der Planung einer Reihe von drei weiteren mit der Robert Bosch Stiftung realisierten Konferenzen, nunmehr fokussiert auf das Thema „Alter und Altern“. Jede dieser Konferenzen, jetzt auch die vierte und vorläufig letzte, ist in einer Publikation1 einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, weil wir der Überzeugung
1 Häfner H (Hrsg.) (1999). Gesundheit – unser höchstes Gut? Schriften der Mathematischnaturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Nr. 4. SpringerVerlag, Berlin Heidelberg. Staudinger U, Häfner H (Hrsg.) (2008). Was ist Alter(n)? Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage. Schriften der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Nr. 18. Springer-Verlag. Berlin Heidelberg. Häfner H, Beyreuther K, Schlicht W (Hrsg.) (2010). Altern gestalten. Medizin – Technik – Umwelt. Schriften der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Nr. 21. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg.
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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sind, dass wir ohne fortlaufende intellektuelle Anstrengung nicht lernen werden, mit den Folgen des demographischen Wandels vernünftig zu leben. Es genügt nicht, heißt das, das Thema irgendwie wahrzunehmen – so weit haben wir es in den letzten zehn, fünfzehn Jahren immerhin gebracht. Wir müssen die gewaltige Aufgabe, vor die uns der Wandel stellt, auch annehmen. Ob davon schon die Rede sein kann, ist sehr die Frage. Was die Politik angeht, so tut sie vorsichtig die ersten Schritte, versucht sie freilich so zu tun, etwa bei der dringend gebotenen Verlängerung der Lebensarbeitszeit, dass niemand etwas spürt. Und bemüht sich auf der anderen Seite, mit materiellen Anreizen junge Menschen zu ermutigen, sich für Kinder zu entscheiden. Aber was immer die Politik zu bewirken versucht und zu bewirken vermag, aufhalten kann sie den demographischen Wandel nicht mehr. Dass wir lernen müssen, „mit den Folgen des demographischen Wandels vernünftig zu leben“, dabei wird es also bleiben. Was heißt das? Zuerst: Wir müssen die Vorstellungskraft entwickeln, die wir brauchen, um zu erfassen, was dieser fundamentale Wandel, der sich in allen Bereichen des Lebens auswirken wird, tatsächlich bedeutet. Vergleichsweise wenige Kinder – vergleichsweise viele alte, insbesondere sehr alte Menschen, das sagt sich leicht dahin. Wirklich deutlich wird die Dramatik des Prozesses erst, wenn wir uns klar machen, dass wir es, was die Relation von Jung und Alt angeht, mit Verhältnissen zu tun bekommen werden, die es in der ganzen Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben hat. Das gilt nicht nur für Deutschland und die Länder, die heute schon eine ähnliche Altersstruktur aufweisen, Italien und Japan etwa. Es gilt für alle entwickelten Gesellschaften; und wird, dies ist die ziemlich einmütige Vorhersage der Demographen, schließlich weltweit gelten. Wie Gesellschaften sich entwickeln müssen, welche Institutionen, Regeln, Verhaltensmuster, Mentalitäten, normativen Orientierungen gebraucht werden, damit wir mit diesen völlig neuartigen Gegebenheiten leben können, einigermaßen gut leben können, das ist die Frage. Es herauszufinden, rechtzeitig herauszufinden, ist eine große Aufgabe für unsere vorausschauende Phantasie und für unsere Kreativität. Und mit dem Herausfinden ist es ja nicht getan. Den betroffenen Gesellschaften ist eine Anpassungsleistung abverlangt, von der wir nicht, wie das in solchen Situationen so oft geschieht, einfach erwarten können, dass die Politik sie uns abnimmt, schon gar nicht, wenn wir ihr als Wähler die nötige Unterstützung dafür verweigern. Diese Anpassungsleistung erfordert weit mehr als politisches Handeln. Und hier kommen auch die Akademien der Wissenschaften ins Spiel. Die Stichworte Phantasie und Kreativität verweisen natürlich keineswegs nur auf die Wissenschaft. Aber wenn es darum geht, die mentalen ebenso wie die praktischen Voraussetzungen zu schaffen, die diese Anpassungsleistung erst möglich machen, ist jedenfalls auch die Wissenschaft gefordert. Unter den Institutionen der Wissenschaft sind die Akademien – inzwischen muss man sagen nur noch die Akademien – Orte, an denen die Disziplinen nahe beieinander wohnen; Orte, etwas handfester formuliert, an denen, jedenfalls sofern sie sich in der Leibniz’schen Tradition als Universalakademien verstehen, der Idee nach und weitgehend auch in der Praxis, das ganze Spektrum der wissenschaftlichen Disziplinen präsent ist, institutionalisiert als Gemeinschaft im Gespräch.
Einleitung
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Die Akademie der Wissenschaften, heißt das, ist ein Ort, der auch für die Erörterung unseres Themas besondere Möglichkeiten bietet – dann nämlich, wenn das Ziel ist, alle oder doch viele Fächer anzuregen, sich an einem Gespräch über das Alter zu beteiligen; einem Gespräch, das sich als Beitrag zu einem Prozess der intellektuellen Vorbereitung auf eine Zukunft versteht, in der das Alter eine viel zentralere, beherrschendere Lebenswirklichkeit sein wird als je zuvor. Genau das hatte die Heidelberger Akademie im Sinn, als sie nach der ersten thematisch weitergreifenden Konferenz die Symposiumsreihe zur Altersthematik initiierte. Auch hier sollten möglichst viele Fächer zu Wort kommen. Natürlich ist es wohlbegründet, dass die Gesundheitswissenschaften einerseits und die Wirtschaftswissenschaften, zumal mit der Disziplin Sozialpolitik, andererseits in der öffentlichen Erörterung der Zukunftsprobleme, die der demographische Wandel mit sich bringt, die Wortführer sind. Aber diese Wortführerschaft birgt doch auch die Gefahr einer Verengung der Debatte. Die Phantasie und die Kreativität, die wir brauchen, um uns auf zukünftige Wirklichkeiten einzustellen, bedürfen der Anregung von allen Seiten. Wir werden es mit einer – im weitesten Sinne des Wortes – neuen kulturellen Konstellation zu tun haben. Unter den Lebens-, den Sozial- und den Kulturwissenschaften gibt es kaum ein Fach, das nicht anregend auf das Nachdenken über diese neue kulturelle Konstellation einwirken könnte. Es war dieser Gedanke, an dem die drei Akademie-Symposien zum Thema „Alter und Altern“ sich orientiert haben. Das erste stellte die Frage: „Was ist Alter?“. Es sollte darauf aufmerksam machen, dass Alter nicht nur ein biologisches Phänomen ist, eindeutig bestimmbar, sondern auch ein kulturelles Konstrukt. Was nichts anderes heißt als: In vielen, natürlich keineswegs in allen Hinsichten beantwortet die Kultur, nicht die Natur die Frage „Was ist Alter?“. Nicht weniger als dreizehn Fächer haben sich damals zu unserer Frage geäußert, von der Molekularbiologie bis zur Literaturwissenschaft. Das zweite Symposium, drei Jahre später, im Geburtstagsjahr der Akademie 2009, stand unter der Überschrift „Altern gestalten“. Und war vornehmlich einschlägigen medizinischen und technikwissenschaftlichen Thematiken vorbehalten – für die letzteren hatte die Heidelberger Akademie der Wissenschaften in der Universität Stuttgart einen besonders kompetenten Partner gefunden. Die Veranstaltung fand dieser Kooperation wegen auch in Stuttgart statt. Im dritten Symposium hatten die Geistes- und die Sozialwissenschaften das Wort. Die Veranstalter haben dabei sehr bewusst den Versuch gemacht, aus dem Gehege der üblichen Fragestellungen auszubrechen. Der Blick auf fremde, ferne Kulturen (Beiträge van Ess und Maul) war uns ebenso wichtig wie die Begegnung mit den alten Menschen in der bildenden Kunst (Beiträge Pfisterer und Zanker). Der psychologische Beitrag (Staudinger) schlägt die Brücke zu den Naturwissenschaften, der religionswissenschaftliche (Auffarth) die Brücke zum Tod. Den kompaktesten Block bilden die Gesellschafts- und Rechtswissenschaften, die mit großer Nüchternheit Aspekte der gegenwärtigen und der zukünftigen gesellschaftlichen Realität des Alters ins Visier nehmen. Aber auch in diesem Block bleibt es bei der Vielfalt der Fächer, der Perspektiven also. Zwei Soziologen (Kohli und Schütze), ein Politikwissenschaftler (Schmidt) und ein Jurist (Ruppert) nehmen das Wort. Die Heidel-
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berger Akademie hat Grund, allen Referenten für ihre Mitwirkung zu danken. Sie gaben dem Symposium sein Gewicht. Einer besonderen Erläuterung bedarf der Beitrag einer jungen Freiburger Gruppe „Vom weisen zum gelebten Alter“. Die Akademie hielt es für nahe liegend, eine einschlägige, nämlich zur Altersthematik arbeitende Forschergruppe aus ihrem Programm für junge Wissenschaftler in das Symposium einzubeziehen; einem Programm, das die Zusammenarbeit von Nachwuchswissenschaftlern aus verschiedenen Fächern – im gegebenen Fall Theologie und Germanistik – in mehrjährigen Projekten fördert. Natürlich stellen sich die in diesem Beitrag behandelten Fragen als sehr speziell dar. Aber im Gesamtzusammenhang des Bandes tragen auch sie dazu bei, vor Augen zu führen, wie unglaublich vielgesichtig sich das Thema Alter den Geisteswissenschaften darstellt. Der eine oder andere Leser mag am Ende einwenden, diese Kollektion von Texten übertreibe es mit der Vielfalt und Buntheit. Dem wäre entgegenzuhalten: Die erste und wichtigste Aufgabe des Symposiums war genau diese – eine Vorstellung vom Reichtum der Frage- und Themenstellungen zu vermitteln, die die Geisteswissenschaften mitbringen, wenn sie sich dem Alter zuwenden. Der Band, der die Tagung dokumentiert, kann diese Aufgabe nur übernehmen. Die Herausgeber hoffen, dass „Vielfalt und Buntheit“, mögen sie den Leser auch fordern, sich als anregend erweisen. Dass die Heidelberger Akademie in das eigentlich wissenschaftliche Symposium die Literatur in einer Abendveranstaltung einbezog, hat natürlich mit dem Thema zu tun. Es liegt auf der Hand, dass die Literatur mindestens so viel über das Alter zu sagen hat, wie die Wissenschaft im Spektrum ihrer geisteswissenschaftlichen Fächer. Ulla Hahn hat in ihrer Lesung „Erinnern statt Sehnen“ einen eindrucksvollen, sehr persönlichen Weg gefunden, ihr dichterisches Schaffen vor dem Hintergrund ihres persönlichen Lebensweges auf die Thematik des Symposiums zu beziehen. Die Akademie dankt ihr dafür, dass sie ihre Einladung angenommen und ihren Beitrag zur Veröffentlichung in diesem Band zur Verfügung gestellt hat. Wir danken Frau Angelika Heimann für die verlässliche und engagierte Unterstützung der Herausgeberarbeit und der Robert Bosch Stiftung nicht nur für ihre Förderung und die Mitwirkung an der Tagung sondern auch für die großzügige Unterstützung der Veröffentlichung der Ergebnisse in diesem Band. Peter Graf Kielmansegg
Heinz Häfner
Teil II
Bilder des Alters in der europäischen Geschichte
Bilder alter Menschen in der antiken Kunst Paul Zanker
Die griechische Kunst der archaischen und klassischen Zeit hat den jugendlich kraftvollen Körper wie keine andere Bildkunst verherrlicht. Die Kouroi zeigen nicht anders als die Athletenstatuen des 5. und 4. Jahrhunderts vollkommene Körper. Der Mann soll schön und dank des ständigen Trainings im Sport stark im Kampf sein. Diese Ideologie der kalokagathia („der schöne Mann ist auch ein guter Mann“) erlaubte keine repräsentativen Statuen, die den Geehrten in der Hinfälligkeit des Alters zeigten. Denn die Alten waren kraftlos und deshalb unbrauchbar im Krieg, und auch im Haus galten sie oft als lästig, vor allem wegen ihrer Besserwisserei und ihrem ständigen Lamentieren. Ein spöttisch zugespitztes Bild zeigt das drastisch am Beispiel des uralten Geras (Sohn des Erebos, der Dunkelheit) den Herakles mit der Keule erschlägt (Abb. 1)1 . Es ist ein spindeldürres Männlein mit langem schlaffem Penis der sich mit seinem Stock nur mühsam aufrecht halten kann, der aber noch, während die Keule schon auf ihn niedersaust mit seiner Rechten lamentiert. Auf der anderen Seite begegnen wir aber schon bei Homer dem Ehrfurcht gebietenden Greis, etwa in Gestalt des alten Nestor. Auch der beklagt zwar immer wieder seine Altersschwäche, trotzdem ist er mit nach Troja gezogen und wird dort dank seiner Erfahrung und Weisheit von allen geachtet. Ein anderes Beispiel ist Priamos, der alte König. Er herrscht trotz seines hohen Alters von allen geachtet. Traurig steht er auf dem Bild einer Amphora neben seinem Sohn Hektor, der sich voll gerüstet von seiner Frau verabschiedet, um in seinen letzten Kampf zu ziehen, ein würdiger Greis mit weißem Haar, dem die Tränen kommen, weil er den tödlichen Ausgang des Kampfes gegen Achill ahnt2 . Auf einem Skyphos des Brygosmalers in Wien sehen wir ihn dann als Bittflehenden vor Achill, wo er den geschändeten Leich-
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Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC) s.v. Geras IV 1 (1988), 181; IV 2, 101, 4,2 2 Vatikan, Mus. Greg. Etrusco 16570: LIMC IV,1, 485; IV,2, 284, 19
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Abb. 1
Abb. 2
nam Hektors mit vielen Geschenken erbitten muss, um ihn begraben zu können (Abb. 2)3 .
1 Altersspott und Hochachtung Dieses Nebeneinander von permanentem Altersspott und gleichzeitiger Hochachtung und Verehrung würdiger und weiser Greise beherrscht die Mythen- und Le3 Wien, Kunsth. Museum 3710: CVA (Corpus Vasorum Antiquorum) Wien 1, Taf. 35-36; LIMC I,1, 150, Nr. 659; I,2, 124; A. Furtwängler-K. Reichhold, Griechische Vasenmalerei I-III, 1904, Taf. 84
Bilder alter Menschen in der antiken Kunst
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Abb. 3
bensbilder der griechischen Kunst bis in die hellenistische Zeit hinein, natürlich mit vielen Varianten und unterschiedlichen sozialen Konnotationen je nach Art und Funktion der Bilder. Wir wollen mit den würdigen Greisen beginnen. Als geradezu hoheitsvolle Gestalt finden wir Homer in einem um 460 v. Chr. entstandenen Bildnis (Abb. 3)4 . Leider kennen wir es nur in Kopien aus der Kaiserzeit, und auch nur den Kopf davon. Wir wissen nicht, ob die Statue saß oder auf altersschwachen Füssen stand. Das Alter ist hier zurückhaltend, ja geradezu ehrfurchtsvoll gekennzeichnet: im abgemagerten und eingefallenen Gesicht, in den schön geschwungenen Stirnfalten und in der Frisur, die durch die vorgekämmten und vorgebundenen Strähnen die Kahlheit verbergen soll.
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B. Vierneisel-Schlörb, Glyptothek München. Katalog der Skulpturen des 5. und 4. Jahrh. v. Chr. (1979) 38. – P. Zanker, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst (1995) C.H. Beck, München, 22, Abb. 9.
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Abb. 4
Nicht lange danach mag das sehr viel hinfälligere Altersbildnis einer vermutlich mythischen Greisin entstanden sein, deren Körper, auch dies eine römische Kopie, Ernst Berger vor einer Generation mit einem eindrucksvollen Altersbildnis verbunden hat. (Abb. 4)5 Vielleicht war die treue Amme des Odysseus Eurykleia dargestellt, wie sie uns ganz ähnlich ein sog. Campanarelief überliefert.6 Auf den attischen Grabreliefs des 4. Jahrhunderts findet man neben den mit alterslos schönen Gesichtern dargestellten Bürgern auch zahlreiche Greise, bei denen das Alter trotz aller Zurückhaltung doch als ein Zustand der Schwäche gekennzeichnet ist. Man sieht es an ihrer Haltung, dass sie auf den Stock als Stütze angewiesen sind. Das sonst den Frauen vorbehaltene Sitzen zeigt bei den sehr alten Männern 5
Basel, Antikenmuseum und Sammlung Ludwig (BS 202). E. Berger, Antike Kunst 11, 1968, 67ff., Taf. 33. Vgl. S. Pfisterer-Haas, Darstellungen alter Frauen in der griechischen Kunst (1989) – Abb. nach „Alter in der Antike“. Die Blüte des Alters aber ist Weisheit, Katalog d. Ausstellung Landesmuseum Bonn 2009, Abb. 1 6 Hannover, Kästnermuseum 1333. – „Alter in der Antike“ a.O. 71, Abb. 26
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einerseits Schwäche, oft aber auch Ehre an. Gelegentlich findet man auch in den Gesichtern Andeutungen von Anstrengung und im langen Haar, wenn auch selten, sogar von Ungepflegtheit. Keine Frage auch bei diesen als attische Bürger geehrten Greisen werden die Züge des Verfalls gezeigt7 . Dass man in den Schriften des Platon und Aristoteles immer wieder auf dank ihrer Altersweisheit verehrungswürdige Greise trifft, verändert nichts an diesem zwiespältigen Bild der Grabreliefs: Das Alter ist für die Greise eine Last, die sie, so die Aufforderung der Grabreliefs, mit Würde ertragen sollen. In der nicht repräsentativen Kunst gibt es zur gleichen Zeit viele Bilder, auf denen Alte zum Teil gnadenlos verspottet werden. Allerdings handelt es sich dabei – sieht man von den Theaterdarstellungen ab – nicht um Bürger! Mit den Ammen und Pädagogen ging man noch verhältnismäßig glimpflich um. Der abgemagerte und vom Alter gebeugte und als Sklave nur mit dem kurzen Mäntelchen bekleidete Pädagoge auf einer attischen Halsamphore (um 460 v. Chr.) trägt seinem stolz daher schreitenden Schützling die Leier für den Musikunterricht nach.8 Und die ebenfalls
Abb. 5
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Vgl. B. Schmalz, Bilder des alten Bürgers auf griechischen Grabreliefs, in: „Alter in der Antike“ a.O. 81ff. mit Literaturangaben 8 Baranello, Museo Civico. H. Schulze, Ammen und Pädagogen, Sklavinnen und Sklaven als Erzieher in der antiken Kunst und Gesellschaft (1998) Taf. 4,2. – “Alter in der Antike“ a.O. 78, Abb. 33
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altersgebeugte Amme lullt ihren Säugling mit Schaukeln und Singen in den Schlaf.9 Sind das noch vergleichsweise freundliche Bilder, so ging es in der Komödie kräftiger zur Sache. Auf einem Kelchkrater des Asteas aus Paestum sehen wir direkt auf die von Säulen getragene Bühne (Abb. 5)10 . Zwei Männer (Gymnilios und Kosilos) sind dabei, einen schweren Kasten mit Schätzen aus dem Haus des alten Geizkragens Charinos zu tragen. Der hat sich in seiner Verzweiflung auf den Kasten geworfen, um seine Habe zu retten, wird aber gerade von den beiden Dieben gnadenlos heruntergezogen. Daneben steht der verzweifelt lamentierende alte Sklave. Der alte Charinos hält einen Stock in der Hand, den er zum Gehen braucht. Auch sein dicker Bauch wird als Lacheffekt eingesetzt. Bei den alten Frauen zielt der Spott besonders auf ihren einst schönen Körper, worin eine Anspielung auf ihre vergangenen Tage als Hetaire liegt. Besonders gnadenlos wird zum Beispiel der Körper einer alten Flötenspielerin verspottet, die einst bessere Tage gesehen hat, aber noch immer ihr durchsichtiges Gewand trägt, das ihren jetzt aus den Fugen geratenen Körper mit dem vorquellenden Bauch und den hängenden Brüsten detailreich darbietet.11
2 Zwiespältiger Spott über Körperverfall Spielte sich diese Verspottung der Alten im 4. Jahrhundert noch im Theater und in der Kleinkunst ab, so gewinnt sie im frühen Hellenismus in der großformatigen Skulptur eine ganz andere Dimension und gleichzeitig eine völlig neue Doppeldeutigkeit. Die lebensgroße „Trunkene Alte“ sitzt mit einer übergroßen Hydria voller Wein vor uns auf dem Boden und blickt glücklich betrunken und ziellos nach oben (Abb. 6)12 . Ihr schönes Gewand zeigt, dass auch sie als gut bezahlte Hetaire einmal bessere Tage gesehen hat. Jetzt ist sie durch ständiges Trinken zum Skelett abgemagert, aber das hindert sie nicht, das Dionysosfest, für das sie sich schön gemacht hat, in vollen Zügen zu genießen. Zum einen gehört dieses großartige Werk aus dem späteren 3. Jh. v. Chr. noch zu den „Lustigmachern“, mit denen sich die Bürger vergnügten. Zum andern aber zeigt gerade der scharfe Realismus, mit dem der körperliche Verfall hier gnadenlos beschrieben wird, dass wir es jenseits von Spott und sozialer Diskriminierung der Dargestellten mit einem neuen Blick auf die conditio humana zu tun haben. Nicht nur die Deklassierten außerhalb der Gesellschaft hatten im Alter ja mit einem problematischen Körper zu tun und nicht nur der ehemaligen Prostituierten verhalf der Alkohol zu ein paar glücklichen Stunden des Vergessens. Ähnliche Beobachtungen ließen sich an anderen neuartigen Skulpturen derselben Zeit machen, zum Beispiel an der Statue eines alten, ausgemergelten Fischers, bei 9
Beispiel in Wien, Kunsthistorisches Museum V 1266. Schulze a.O. A T47, Taf. 21, 4. – „Alter in der Antike“ a.O. 75, Abb. 30 10 Berlin; Staatliche Museen, Antikensammlung. Furtwängler-Reichhold a.O., Taf. 150, 2 11 Berlin Staatliche Museen, Antikensammlung TC 6824. P. Zanker, Die trunkene Alte. Das Lachen der Verhöhnten (1989) 31, Abb. 18. – H. Brandt, Wird auch silbern mein Haar, München (2002) 69 12 P. Zanker, Die Trunkene Alte a.O. – C. Kunze, Zum Greifen nah (2002) 99ff.
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Abb. 6
dem unklar ist, ob er in der jetzt ergänzten Rechten seine Angel hielt oder, was mir wahrscheinlicher scheint, zum Kaufen aufforderte.13 Jedenfalls haben auch bei ihm das Alter und sein elendes Hunger-Leben den Körper ruiniert und gebeugt. Solche Statuen forderten indes keineswegs zum Mitleid auf, wie der moderne Betrachter vielleicht vermuten möchte, und noch viel weniger ist das bei den Statuetten von Kranken und Verkrüppelten der Fall, die sogar als Tischaufsätze dienten. Bei denen hatte der Spott über die Lächerlichen und Missratenen auch apotropäischen Charakter.14 Denn der Realismus, mit dem solche Körper wiedergegeben sind, konfrontierte den Betrachter in einer tieferen Bewusstseinsschicht mit seiner eigenen Abhängigkeit von seinem alten und oft genug vermutlich auch kranken Körper.
2.1 Intellektuelle Energie und Körperverfall: die alten Philosophen Etwa zur gleichen Zeit, in der man sich am Anblick schärfster Alterscharakterisierung derer vergnügte, die nicht zur bürgerlichen Gesellschaft gehörten, sind im frühen Hellenismus zum ersten Mal sogar im öffentlichen Raum aufgestellte Ehrenstatuen entstanden, deren hinfälliger Körper in einem scharfen Realismus gezeigt 13
H. Laubscher, Fischer und Landleute. Studien zur hellenistischen Genreplastik (1982) Tafel 1. L. Giuliani, Die seligen Krüppel. Zur Deutung von Missgestalteten in der hellenistischen Kleinkunst, in: Archäologischer Anzeiger 1987, 701–721 14
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Abb. 7
wurden, der bis dahin bei Ehrenstatuen völlig undenkbar gewesen wäre. Es sind vor allem die Bildnis-Statuen berühmter Philosophen unterschiedlicher Richtung, an deren altersschwachen, ja kranken Körpern gleichsam didaktisch ein wesentliches Element ihrer Lehre vorgeführt wurde. Bei diesem Realismus ging es nun aber darum, die so Dargestellten zu rühmen, weil sie Altersschwäche und Todesfurcht durch einen kraftvollen, bis ins hohe Alter aktiven Verstand und Willen in Schach zu halten verstanden und ihren Schülern damit ein Vorbild gaben, das es nachzuahmen galt. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet der detailreich gezeigte Greisenkörper des Stoikers Chrysippos (Abb. 7)15 . In dem gebeugt vor uns sitzenden Mann wohnt – so suggeriert es die Statue – ein unbeugsamer Geist, voller Energie, ja intellektueller Angriffslust. Wir sehen einen alten Mann, dessen körperliche Schwäche in seinem gekauerten Sitzen meisterhaft zum Ausdruck kommt. Obwohl er fröstelnd seinen dicken Mantel eng um sich gezogen hat, können wir einen Blick auf seinen abgemagerten und ausgemergelten Körper werfen. Diesem ungeschönten Bild körperlichen Verfalls entgegengesetzt ist die intellektuelle Energie des Mannes. Sein Kopf stößt geradezu aggressiv gegen seinen Kontrahenten vor, sein Gesicht zeigt Konzentration, Kampfgeist, ja Überlegenheit. 15
R. von den Hoff, Philosophenporträts des Früh- und Hochhellenismus (1994) 96ff. – P. Zanker, Die Maske des Sokrates, a.O. 98–102, Abb. 54b
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Abb. 8
Eine ähnliche Gegenüberstellung körperlicher Schwäche und geistiger Energie kann man auch an anderen hellenistischen Statuen von großen Denkern aber auch an Bildnissen von Dichtern beobachten. Ich muss mich auch hier auf ein besonders eindrucksvolles Beispiel beschränken. Das in zahlreichen Kopien überlieferte Bildnis eines leidenschaftlichen alten Mannes stammt wie die Statue des Chrysipp aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., stellt jedoch keinen Zeitgenossen, sondern eine Gestalt der Vergangenheit dar, vielleicht den Bauerndichter Hesiod aus dem 7. Jh., einer, der, wie er selbst sagte, „ein karges Dasein“ führte, „das niemals angenehm wurde“ (Abb. 8)16 . Dargestellt ist jedenfalls ein Mann, der sich überhaupt nicht um Konventionen kümmert und seinen Körper in keiner Weise pflegt. Die ungekämmten Haare hängen wirr durcheinander, der 16
G.M.A. Richter, The Portraits of the Greeks I (1965) 58ff. – von den Hoff, Philosophenporträts a.O. 106 – P. Zanker, Die Maske des Sokrates, a.O. 147, Abb. 80; Inst. Neg. 85516
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unregelmäßig wachsende und ungepflegte Bart ist grob geschnitten, seine trockene Haut scheint von Sonne und Wind gegerbt zu sein. Auch in diesem Mann brennen jedoch ein leidenschaftliches Feuer und ein unbeugsamer Wille. Leider kennen wir den Körper der Statue nicht und können nur vermuten, wen dieses großartige Bildnis darstellen könnte. Jedenfalls ist es dem Künstler gelungen, etwas vom unbeugsamen Charakter und von der Leidenschaft des Mannes zum Ausdruck zu bringen. In beiden Fällen wird zum einen der physische Zustand eines alten Körpers ohne jeden Versuch der Milderung oder Überhöhung scharf beobachtet und registriert. Zum anderen aber wird diese Hinfälligkeit des Körpers durch eine geradezu pathetisch formulierte geistige Energie und Leidenschaft gebändigt und überwunden. Es sind dramatische Bilder, die man durchaus auch als Appelle zum richtigen Umgang mit den Mühen des Alterns verstehen kann.
3 Alte Gesichter als Ausweis von Leistung und Verdienst Zum Schluss wollen wir noch einen Blick auf die späthellenistisch-republikanischen und kaiserzeitlichen Bildnisse alter Männer werfen. Kann man die Altersbildnisse der Philosophen noch als Ausdruck ihrer Lehre verstehen, so bildet sich im Laufe des 2. und 1. Jahrhunderts v. Chr. in der griechischen und römischen Welt eine immer stärker auf die tatsächliche individuelle Gestalt ausgerichtete Bildniskunst aus, deren Ziel es war, den Einzelnen mit seinem individuellen Gesicht zu ehren. Der Körper tritt dagegen völlig zurück, wird, anders als zum Beispiel im 19. Jahrhundert, nur noch in formelhaften Typen in griechischen Mantel oder der römischen Toga dargestellt. Es gibt keine dicken oder besonders kleinen Mantel-, Toga- oder Panzerstatuen. Unter den hellenistischen Herrscherbildnissen findet man noch keine wirklichen Altersporträts17 . Wo Alter angedeutet ist, wird es durch den Ausdruck der Willenskraft völlig in den Hintergrund gedrängt, wie man zum Beispiel an einem Bildnis von Ptolemaios I. in Kopenhagen sehen kann18 . Waren diese Herrscherbildnisse mit Götter- oder Heroenkörper verbunden, so konnte eine solche Darstellung auch mit Andeutung von Alterszügen noch den Ausdruck übermenschlicher Kraft entfalten. Ein bekanntes römisches Politiker-Porträt wahrscheinlich des späteren 2. Jahrhunderts v. Chr., das in mehreren Kopien überliefert ist, zeigt dieselben hellenistischen Pathosformeln, besticht aber vor allem durch die neuartige Verbindung von geballter Energie und ausgeprägter Charakterisierung des Greisenalters (Abb. 9)19 . Wie bei den Philosophen entspringt die Energie auch hier einem unbändigen Willen, der sich über das Alter völlig hinwegsetzt. Alter und geballte Tatkraft schließen sich in der Botschaft dieses Bildnisses nicht aus, im Gegenteil, sie verbinden sich 17
R.R.R. Smith, Hellenistic Royal Portraits (1988). – Richter, Portraits a.O. Richter, Portraits a.O. Abb. 1773–1774; Smith, Hellenistic Portraits a.O. Taf. 34, 4–6 19 Paris, Louvre Ma 919: K. de Kersauson, Cat. des Portraits romains I (1986) 3, 14f, – W.R. Megow, Republikanische Bildnistypen (2005) 18
Bilder alter Menschen in der antiken Kunst
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Abb. 9
miteinander. Es handelt sich bei diesem ungeschönten Realismus wohl weniger um ein typisch römisches Charakteristikum als um eine realistische Darstellungsweise in hellenistischem Stil, wie sie ohne die griechische Tradition der kalokagathia durchaus verständlich wäre. Ein Hinweis darauf könnte man in den Münzporträts von Fürsten vom Rand der hellenistischen Welt aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. sehen, wie zum Beispiel an denen von Ariobarzanes aus Kapadokien, Lysias dem Tetrarchen in Nordsyrien oder Tarkondimotos von Kilikien20 . Die meisten spätrepublikanisch römischen Altersbildnisse politisch führender Männer versuchen in ähnlicher Weise die detailliert gebildeten realischen Züge mit einem pathetisch energischen Ausdruck zu kombinieren. Ich zeige ihnen als Beispiele den so genannten Feldherrn aus Tivoli aus der Zeit des Diktators Sulla (80–70
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Smith a.O. Taf. 79, 1–3
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Abb. 10
v. Chr.)21 und das Bildnis des Triumvirn Crassus, des reichsten Mannes seiner Zeit, der in der Schlacht gegen die Parther bei Carrhae uns Leben kam (Abb. 11)22 . Er hat ein altes, für unsere Augen eher unsympathisches Gesicht voller Entschlossenheit und Durchsetzungskraft. Im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. findet man aber auch in den griechischen Städten des Ostens, in Athen und auf Delos besonders eindrucksvolle Bildnisse alter Männer23 . Der Unterschied zwischen den griechischen und römischen Bildnissen liegt vor allem darin, dass die griechische Formensprache oft trotz aller Deutlichkeit der individuellen Physiognomie noch immer traditionelle Elemente idealer Formen selbst mit den alten Gesichtern zu verbinden sucht, während die römischen Bildnisse die realistischen Formen ohne eine solche Rückbindung vortragen können. Ich zeige Ihnen das an zwei Beispielen24 . Das eine ist ein stilles Greisenbildnis aus Delos, das trotz des hohen Alters des Dargestellten schöne Züge zeigt (Abb. 10). Jedenfalls gilt das beim Vergleich mit einem römischen Alten mit einem von Energie strotzenden Gesicht. Man gewinnt den Eindruck, dass den Bildhauer bei solchen Bildnissen geradezu daran lag, seinen Kunden mit möglichst vielen Falten darzustellen und diese zugleich als Ausdruck von Anstrengung und Willenskraft zu formulieren. Denselben Kontrast zwischen griechischer und römischer Alterscharakterisierung findet 21 Museo Nazionale Romano. Le Sculture (ed. A. Giuliano) I, 1, 267 Nr. 164 (E. Talamo). – gute Aufnahme bei G. Lahusen, Römische Bildnisse (2010) 64ff. 22 Paris, Louvre Ma 1220: de Kersauson a.O. 106, Nr. 47 – Megow a.O. Abb. 34–35 23 Gute Materialsammlung bei A. Stewart, Attika. Studies in Athenian Sculpture of the Hellenistic Age (1979) 24 Stewart a.O. Abb. 19a und 22a
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Abb. 11
man – wenn auch nicht so plakativ ausgebildet – an Bildnissen hoher Qualität wie ein Vergleich zwischen dem Porträt des Philosophen Poseidonios25 und dem Triumvir Crassus (Abb. 11), den wir gerade kennen gelernt haben, zeigen kann. Bei Bürgern ohne Amt und Status wird auf ein solches Pathos meist verzichtet. Besonders aussagekräftig sind hier die sogenannten Kastengrabreliefs der späten Republik und frühen Kaiserzeit. Auf einem solchen Relief aus Kopenhagen sind verschiedene Mitglieder einer Familie dargestellt (Abb. 12)26. Wir sehen ein altes und ein jüngeres Paar und in ihrer Mitte einen jungen Soldaten, der nackt, aber bewaffnet dargestellt ist. Diese ebenfalls griechische Bildform der so genannten heroischen Nacktheit ist eine Ehrenformel, sie bedeutet nicht unbedingt, dass der junge Mann gefallen ist. Das Bildnis seines alten Vaters gibt uns ein gutes Beispiel für 25
Poseidonios, Neapel Museo Nazionale 6142: Richter, Portraits a.O. III 282, Abb. 2020 V. Kockel, Porträtreliefs stadtrömischer Grabbauten (1993), dort das Relief in Kopenhagen L 9 af. 95b, 96. – Zu den Kastengrabreliefs vgl. P. Zanker, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 90, 1975, 267–315
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Abb. 12
diesen völlig unemotionalen, gleichsam nur konstatierenden Realismus, dem man so oft an den Gräbern begegnen konnte. Die meisten Grabreliefs der Freigelassenen (liberti) sind unpathetische Zeugnisse, bei denen Alter zu einem Ausdruck von Lebensleistung wird. Das gilt in besonderer Weise für die Greisenporträts, für die die Bildhauer nicht selten Gipsmasken der Toten benutzt haben, wie im Falle eines Reliefs in Kopenhagen. Das Bild des leistungsbewussten Alten bleibt in der Kaiserzeit bei den Mächtigen eine konstante Größe. Besonders deutlich sieht man das am Bildnis des Vespasian (Abb. 13)27 . Es setzt sich bewusst von dem des Nero ab, indem es einerseits das Alter in aller Schärfe charakterisiert, gleichzeitig aber die Strenge und Energie des Herrschers betont und damit zu einem manifesten Gegenbild zum Sänger und Lebensgenießer Nero wird. Vergleichbare Formen des Altenlobes finden wir in der Kaiserzeit immer wieder. Es sind vor allem die politisch Aktiven, die Machertypen, die sich voller Energie bis ins hohe Alter darstellen lassen. Das gilt in der Kaiserzeit nicht nur in Rom, sondern im ganzen römischen Reich. Ein gutes Beispiel dafür bietet die Statue eines energiegeladenen Greises aus dem 2. Jh. n. Chr., der in Aphrodisias in Kleinasien ein Priesteramt versehen hat (Abb. 14)28. Bei Frauen dauert die Jugendlichkeit indes im Bildnis in der Regel länger, gleichwohl gibt es eine beträchtliche Zahl von weiblichen Altersporträts aus allen Perioden der Kaiserzeit. Ich zeige Ihnen als Beispiel das würdevolle Bildnis einer älteren Dame aus trajanischer Zeit, das es nach Karlsruhe in das Badische Landesmuseum verschlagen hat29 . Die in vieler Hinsicht so faszinierende realistische Bildniskunst hatte zumindest zunächst das Ziel, den Einzelnen für sein erfolgreiches Leben und Bürgersein zu rühmen. Das Alter wird unter diesen Umständen zu der Zeit, in der sich die Leis27 Beste Replik in Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek: F. Johansen, Cat. Roman Portraits II (1995) 28f. 28 R.R.R. Smith u. a., Aphrodisias II, Roman Portrait Statuary from Aphrodisias (2006) 179, Taf. 46f. 29 „Alter in der Antike“ a.O. Abbildung Seite 64
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Abb. 13
Abb. 14
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tungen erwiesen und angesammelt haben. Die Bildnisse sollten die Qualitäten und Erfolge der Dargestellten rühmen. Das alte Gesicht mit seinen Falten und Runzeln wird in einer entsprechenden Werteordnung gleichsam zum Beleg für Anstrengung und Leistung.
4 Alter als Ausdruck philosophischer Lebensführung Ein anderes Verständnis von Alter, weniger als Leistungskraft wie bei Vespasian und beim Priester aus Aphrodisias, sondern als Reflexion und geistige Haltung, finden wir im späteren 2. Jahrhundert n. Chr. Es sind die älteren Männer, die sich als Lebenshilfe zur Philosophie im weitesten Sinn des Wortes bekennen und dies auch in ihrem Habitus und Bildnis als positiven Wert zum Ausdruck zu bringen versuchten. Wenn man mehrere dieser zahlreichen Bildnisse in Intellektuellen-Manier nebeneinander legt, kann man sehen, dass es sich bei dieser Form der Selbstdarstellung bei allem Ernst der Einzelnen um eine Art von Mode handelte, bei der die positive Einstellung zum Altwerden zwar eine Rolle spielte, freilich ohne alle Anzeichen der Hinfälligkeit30 . Lassen Sie mich den knappen Überblick mit dem Bildnis eines späten Philosophen beschließen, der im frühen 5. Jahrhundert n. Chr. wahrscheinlich die neuplato-
Abb. 15 30
P. Zanker, Die Maske des Sokrates, a.O. 214–215, Abb. 121–122
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nische Philosophenschule in einem reichen Privathaus von Aphrodisias leitete. Sein Tondobildnis schmückte zusammen mit seinem Schüler und dessen Vater (?), sowie einer Reihe von inschriftlich benannten Dichtern und Philosophen der Vergangenheit einen Apsidensaal (Abb. 15).31 Da neben Aristoteles Alexander und neben Sokrates Alkibiades dargestellt waren, darf man mit R. R. R. Smith vermuten, dass große Philosophen der Vergangenheit zusammen mit ihren berühmtesten Schülern dargestellt waren. Dem späten Philosophen geht es um eine Philosophie der Versenkung und der Schau, seine Augen sind nach oben gewandt, sein Denken ist rezeptiv, er sucht nach Erleuchtung von oben, um das Gesehene und Erfahrene dann seinen Schülern zu vermitteln. Wir haben zwar einen älteren Mann vor uns, aber das Alter spielt bei seinem philosophisch-religiösen Erleben offenbar keine Rolle mehr.
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R.R.R. Smith, Late Roman Philosopher Portraits from Aphrodisias, in: Journal of Roman Studies 80, 1990, 127ff. Taf. XII–XIII. – P. Zanker, Die Maske des Sokrates, a.O. 292, Abb. 168
Alternde Künstler als Liebhaber – Inspiration, (Pro-)Kreativität und Verfall: Anthonis van Dyck, Tizian und die Tradition der Renaissance Ulrich Pfisterer
Die ‚Alten Meister‘ scheinen den jungen Anthonis van Dyck auch zum Nachdenken über das Altern der Meister angeregt zu haben.1 Auf den rund 200 Seiten des Skizzenbuches seiner Italienreise (1621–1627) versammelte van Dyck nicht wie üblich zuvorderst Werke der Antike, sondern eine sehr persönliche Zusammenstellung von Kompositionselementen aus Gemälden der von ihm verehrten Maler Tizian, Raffael, Veronese und anderer, darunter auch Zeitgenossen wie Guercino oder Dirk van Baburen. Gegen Ende, auf fol. 109r–110v, finden sich dann drei Künstlerbildnisse von Tizian, Raffael und Sofonisba Anguissola.2 Eine ausführliche Beischrift erläutert allein zum letzten, mit knappen Strichen skizzierten Porträt dieser Reihe, der aus Cremona stammenden Sofonisba, dass van Dyck sie am 12. Juli 1624 als 96Jährige in Palermo angetroffen habe, beinahe erblindet, aber weiterhin von regem Geist und großem Interesse an der Malerei (Abb. 1). Im aufgeschlagenen Skizzenbuch ihr gegenüber – auf der vorangehenden Seite – war Raffaels Bildnis eines unbekannten jungen Mannes festgehalten, das van Dyck und seine Zeitgenossen offenbar für ein Selbstbildnis Raffaels hielten.3 Blättert man noch eine Seite zurück, sieht man sich schließlich einem alten Mann im Profil gegenüber, der zu einer jungen Frau aufblickt und ihr an den Bauch zu fassen scheint (die unterschiedliche Qualität der Zeichnungen im Skizzenbuch resultiert daraus, dass einige nachträglich von anderer Hand mit Feder nachgezogen wurden). Van Dyck notierte neben diese Szene: „mors Titiani“. Außer dieser Inschrift belegt auch die Tatsache, dass van Dyck nicht nur das ‚Bildnis Raffaels‘, sondern auch diese Zweiergruppe in seine ab 1645 im Druck publizierte Iconographie berühmter Männer aufnahm, dass van Dyck hier ebenfalls ein (Selbst-)Bildnis Tizians vor sich zu 1
Zum Umgang mit ‚alt‘ und ‚neu‘ im frühen 17. Jahrhundert vgl. nur Loh, 2007 und die Beiträge in Pfisterer & Wimböck, 2011. 2 Van Dyck, 1940, 70–73 (fol. 109r–110r); dazu Jaffé, 2001. Van Dyck zeichnete dabei nicht immer nach dem Original, sondern benutzte häufig Repliken oder Druckgraphiken als Vorlage. 3 Vgl. van Dycks Identifizierung in der Iconographie, dazu Mauquoy-Hendrickx, 1991. – Zur Fortuna des Raffael-Porträt s. Wałek, 1991.
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Abb. 1
haben glaubte (auf der Radierung ist nun zudem ein Totenschädel beigegeben). Wenig spätere Versionen dieser Darstellung ergänzen einen italienischen oder lateinischen Text, der die Identifizierung als ‚Tizian mit seiner schwangeren Geliebten‘ dann explizit macht (Abb. 2).4 Tatsächlich dürfte die Gesamtkomposition der Graphik (möglicherweise über heute verlorene Zwischenstufen vermittelt) auf ein Gemälde des Giovanni Cariani aus den Jahren um 1515/16 zurück gehen, das nicht Tizian, sondern einen unbekannten Greis mit Geldbeutel und eine junge Frau mit Kugel zeigt – ikonographisch eine Mischung aus dem zu dieser Zeit in Italien immer noch neuen Thema des ungleichen Paares und einer Schicksals-Allegorie. Allerdings weist der Greisen-Kopf Carianis auch (zufällig) eine erstaunliche Parallele zu einem jüngst aufgetauchten,
4
„Ecco il Belveder! ô che felice sorte! / Che la fruttifera frutta in ventre porte / Ma ch’ella porte, ô me: vita et morte piano / Demonstra l’arte del magno Titiano.“ – „Ecce virgo quae grata suo est, nec pulchrior ulla: / Pignora coniugii ventre pudica gerit. / Sed tamen an vivens, an mortua, picta tabella / Haec magni Titiani, arte notanda refert.“ – Ein englischer Nachstich von Richard Gaywood ist dann betitelt: „Titian and His Mistress“; dagegen zielt eine deutsche Variante von Georg Walch wohl aus den 1640er/50er Jahren mit einem Vers aus Ovid, Amores 1, 9, 4 und einem gereimten deutschen ,Dialog‘ zwischen dem Greis und der jungen Frau nur mehr auf das Thema der ungleichen Liebe ab und nennt Tizian allein als inventor der Bildidee. – Vgl. dazu Wethey, 1971, 181f. (X-102); Chiari, 1982, 92f. (Kat. 75); Mauquoy-Hendrickx, 1991, Bd. 1, 116f.; und am umfassendsten Depauw & Luijten, 1999, 240–248 (Kat. 32); Guderzo, M. In: Puppi, 2007, 361f. (Kat. 9).
Alternde Künstler als Liebhaber – Inspiration, (Pro-)Kreativität und Verfall
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Abb. 2
gezeichneten Bildnis des alten Tizian aus den frühen 1560er Jahren auf, das möglicherweise sogar von dessen eigener Hand stammt.5 Wie kommt es zu dieser ungewöhnlichen Zusammenstellung dreier Künstlerbildnisse im letzten Teil des van Dyck’schen Skizzenbuches, wo ansonsten vor allem Kopfstudien und erotische Themen im weitesten Sinne versammelt sind? Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, dass van Dycks Zeichnungen geradezu lehrbuchartig zentrale Ideen der Frühen Neuzeit über das Altern von Künstlern und Künstlerinnen und deren angeblich dadurch beeinflusste künstlerische Schöpferkraft vorführen. Dabei wurden die Vorstellungen zu Inspiration, Kreativität und künstlerischer Produktion während verschiedener Altersstufen stets in Parallele zu den unterschiedlichen Formen des Liebesverlangens und dem Vermögen zu biologischer Prokreativität gesehen. Van Dycks Zeichnung von ‚Tizian mit seiner Geliebten‘ und das eigentliche Vorbild Carianis spannen dabei den entscheidenden Zeithorizont auf, in dem sich diese Vorstellungen entwickelten – nämlich von den Jahren um 1500 bis ins frühe 17. Jahrhundert. Es geht in meinem Beitrag also nicht primär um die Darstellung alter Menschen und menschlicher Lebensstufen, nicht um ‚Altersstile‘ und ‚Alterswerke‘ von Künstlern und nicht um Lebensalter-Zyklen der personifizierten Künste – alles insbesondere während der letzten Jahre schon einigermaßen gut un5
Das Gemälde Carianis befindet sich heute in St. Petersburg, Eremitage; vgl. Pallucchini & Rossi, 1983, 122 (Kat. 40); Fusenig, 1997, 76–80; Depauw & Luijten, 1999, 246; Artemieva, I. In: Puppi, 2007, 362 (Kat. 10). – Zu dem gezeichneten Tizian-Bildnis, das engere Bezüge zu van Dycks Darstellung hat als das späte Selbstbildnis Tizians im Prado s. Rosand, 2009.
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tersuchte Themen.6 Vielmehr interessieren Bilder und Texte, in denen unterschiedliche Modelle zum Verständnis und zum Verhältnis von Lebenskraft, Liebeskraft und Schöpferkraft alternder Künstler und Künstlerinnen entwickelt werden.
1 Lebenskraft und künstlerische Leistungskraft Drei ganz unterschiedlichen Vorstellungen, zu welcher Altersstufe die künstlerische Leistungskraft am höchsten sei, hatten sich bis ins frühe 17. Jahrhundert ausgebildet, wobei die Überlegungen zu den Künstlern häufig (und im Zeitalter des ut pictura poesis nicht überraschend) an denen zu Literaten und Dichtern orientiert waren. Das Lob der Jugend und ,Frühbegabung‘ (und damit implizit den Spott über den Verfall des Alters) sang vielleicht am eindrucksvollsten der bereits mit Anfang Dreißig verstorbene Girolamo Fontanella im Vorwort zum zweiten Buch seiner Ode (Bologna, 1633; 2. erw. Aufl. Neapel, 1638): Die Musen würden die Gesellschaft alter Männer verabscheuen, vielmehr wie verliebte Mädchen die Kurzweil mit Jünglingen genießen. Dem schnellen Lauf der Daphne könnten die Greise gar nicht mehr folgen; auch trage dann der alte Baum kaum noch Früchte. Wer jedenfalls eine große Menge ‚Gedankenblitze‘ vorzuweisen habe, dem müsse auch die Lebensenergie kraftvoll durch die Adern rinnen. Dagegen erstarre der göttliche furor poeticus mit dem Alter.7 Das ‚dichterische Feuer‘ und die damit einhergehenden Tugenden – so schon Cristoforo Giarda in seinen Icones Symbolicae (1628) – verlangten daher auch ewige Jugend für die Personifikation der Poesie: „Adspectus, crinis, os, vestis, caeteraque oblectationis instrumenta sunt animi plane adolescentis signa. Non enim musae senem amant, neque barbatis vatibus Apollo imberbis delectatur. Aetas senilis huic impar exercitationi, quae ardentiores spiritus desiderat, quae ingenium servens, sagax, acutum, ebulliens, plenum acrimoniae, poenae furens requirit.“8 Ein Stammbuch-Blatt des Malers Johann Heintz von 1631 spitzt genau diesen Gedan6
Vgl. nur die wichtigsten Veröffentlichungen dazu (je mit weiterer Literatur): Soussloff, 1987; Raupp, 1993a; Courtright, 1996; Campbell, 1998; Sohm, 2007. – Ein neuerer populärer Überblick von Dormandy, 2000; aus medizinischer Sicht etwa Rösler, Nesselhauf, Pfisterer et al., 2010. 7 Fontanella, 1994, 109–111; das Vorwort zum ‚zweiten Buch‘ beginnt mit einem Verweis auf den Maler Apelles, der sich hinter seinen Gemälden versteckte, um die Kritik daran zu hören. Dann geht Fontanella auf den Vorwurf ein, seine Oden zu früh und schnell publiziert zu haben: „[. . . ] Le Muse, che sono figliuole della Memoria, abboriscono d’accompagnarsi coi vecchi, che sono padri della smemoraggine. [. . . ] Le Vergini di Parnaso, come inamorate donzelle, più volentieri gradiscono la vaghezza de’ giovani, che la severità degli attempati. Il vecchio, ch’è tardo nel moto e malagevole nel apsso, non può giungere frettoloso quella Dafne, che fuggendo dagli occhi d’Apollo e trasformandosi in allo, fu simbolo della gloria fuggitiva. Non è carrico di molte frutta quell’albero, ch’è carrico di molti anni. I furori poetici perdono la forza della divinità in un animo agghiacciato di senettù. Nella vecchiezza dell’inverno tengono silenzo gli uccelli; e nella primavera della gioventù cantano più soavamente i poeti. [. . . ] Mostra copia di spiriti ne’ concetti, chi raccoglie copia di spiriti nelle vene. E più purgato torna il suono delle sue rime, chi più purificati conserva gli organi del cervello. [. . . ] .“ – Zur Entstehung des Konzepts künstlerischer Frühbegabung s. Pfisterer, 2003. 8 Giarda, 1628, 93. – Zu diesen Fragen auch Clement, 1960, 38f., der allerdings die Passage Giardas als Plädoyer für ein ,mittleres Alter‘ missversteht.
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Abb. 3
ken auf das Thema Liebe zu (Abb. 3).9 Der sich in der Haltung eines ‚Hiob im Elend, von seiner Frau verspottet‘ präsentierende Maler jammert in holprigem Italienisch: „Die Malerei will von mir fliehen / deshalb sage ich immer: Oh weh!“ Die im Gegensatz dazu jugendlich-erotische Nacktheit der Malerei-Personifikation deutet zwar einerseits auf ihr ehemaliges Liebesverhältnis zum Maler, andererseits auf die aktuell unerfüllten Bedürfnisse dieser Beziehung – wozu Karel van Mander 1604 kommentiert: „Die Malkunst gleicht einer schönen Frau, die sehr eifersüchtig über ihre Liebhaber und Anhänger wacht; denn wer sie nicht ernsthaft liebt und sucht, der erlangt sie nicht, und wer sie nicht ausübt und unterhält, den verläßt sie wieder.“10 Die Fragilität von Männlichkeit – Altersgebrechen, Impotenz und ähnliches – rückt mit dem 16. Jahrhundert insgesamt verstärkt in den Fokus.11 Nachdem sich in den Jahrzehnten um 1500 die Vorstellung von den personifizierten Künsten und den Musen mit denen von Geliebten (und Modellen) der Künstler und Literaten (wieder) zu überlagern begonnen hatte, wurden nicht nur Liebesvermögen und künstlerisches Vermögen noch enger parallelisiert. Auch das Scheitern im einen Bereich konnte zum Signal des Scheiterns im anderen werden (wenn man nicht der ebenfalls zu dieser Zeit ausgebauten neuplatonischen Theorie der Sublimierung anhing). Jacopo de’ Barbaris Tafel mit dem Doppelbildnis eines alternden Dichters und einer trauri9
„La pitture uol fugir da me / e Causa Che io dico semper oime“. – Dazu und zur anderen Inschrift s. Raupp, 1993b. 10 Van Mander 1604, fol. 143v; zitiert nach Raupp, 1993b. 11 S. etwa Breitenberg, 1996; Long, 2002; Laam, 2006.
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gen Muse von 1502 scheint jedenfalls einer der frühesten, parodierenden Bildbelege für dieses Problem, das zur gleichen Zeit Konrad Celtis in seinen 1502 publizierten Amores thematisierte.12 Fontanellas abschließende Anspielungen auf den sich lichtenden Bart des Alters und die weißen Federn der Schwäne lassen besonders klar erkennen, gegen welches Argument und wen sich sein Vorwort richtet: gegen die Vertreter der Vorstellung, ein Schwan singe vor seinem Tod am schönsten – will sagen: das dichterische Können nehme mit dem Alter immer mehr zu. Auch diese Meinung vereinte im 16. und frühen 17. Jahrhundert eine große, vielleicht sogar die größte Schar von Anhängern hinter sich – wie etwa die populären Nachschlagewerke des Giovanni Pierio Valeriano (Hieroyglyphica, 1556) und dann Cesare Ripa (Iconologia, 1593/1603) zum Stichwort ‚Poesia‘ belegen: „Il Cigno in vecchiezza continuamente va meglio articolando la voce, per estenuarsi la gola, & così i Poeti continuamente vanno migliorando nell’arte loro con gli anni, come si racconta di Edipo Coloneo, & di altri.“13 In diesem Sinne sind auch die positiv gemeinten Darstellungen älterer Dichter in Begleitung jugendlicher Musen seit dem frühen 16. Jahrhundert zu verstehen.14 Speziell auf Tizian wendet Pietro Aretino diese Vorstellung an, wenn er 1542 dem zu diesem Zeitpunkt möglicherweise erst knapp über 50jährigen Freund angesichts von dessen Porträt der kleinen Clarissa Strozzi attestiert: „Sicher ist, dass Euer Pinsel seine Wunder in der Reife des Alters bewahrt hat.“15 Noch expliziter reklamiert 1597 der Trevisaner Dichter und Maler Giulio Cornelio Graziani in seinem Epos Orlando santo für sich: „Die anderen Maler verlieren mit dem Alter / ihre Kunst, ich dagegen werde immer besser.“16 Die Idee von einem mit zunehmendem Alter immer weiter entwickelten künstlerischen Können fügte sich nicht nur hervorragend in die Imitatio- und Idea-Lehren der Zeit17 , sie ließ sich zudem verbinden mit dem antiken Sprichwort vom ‚kontinuierlichen Lernens bis ins Alter‘. Diese Redewendung angeblich des Solon überliefert Platon und – ohne Herkunftsangabe – Seneca im 76. Brief an Lucilius: „Tam diu discendum est, quam diu nescias; si proverbio credimus, quam diu vivas.“ In Italien wird diese Passage 1538 in einem Kupferstich des Agostino Veneziano unter der 12
Ausführlich dargelegt bei Pfisterer, 2012. Pierio Valeriano, 1567, fol. 164r; Ripa, 1645, 493. 14 Vgl. die Beispiele bei Groos, 1998, etwa 302–304 zu einem Gemälde Carianis. 15 Aretino, 1957–1960, Bd. 1, 217 (Brief Nr. CXLV): „Certo che il pennel vostro ha riserbati i suoi miracoli ne la maturità de la vecchiezza.“ 16 Graziani, 1597, III, 33 – interessant auch die weitere Begründung als göttliches Geschenk: „Gli altri pittor ne la vecchiaia loro / mancon ne l’arte, et io fo meglio assai. / De importantia venendo alcun lavoro / trovo quel che non seppi trovar mai; / questo gran dono dal superno coro / credo che venga, e da i divini rai / acciò ch’io possa guadagnarmi il pane, / in questa lunga età, sera e dimane.“ 17 Vgl. etwa aus den frühen 1530er Jahren Giulio Camillo Delminios L’idea dell’eloquenza (zitiert nach Bolzoni, 1984, 115): „Ma noi, che non abbiamo avuto né da giovanetti né da attempati documento certo e chiaro per il qual abbiamo possuto concepir questa idea, ci convien d’anno in anno perfino a la vecchiezza andarla concependo per gradi e rappresentarla or in un modo, or in un altro, perciocché non l’abbiamo ricevuta ad un tempo tutta.“ 13
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Abb. 4
Überschrift „ANCHORA INPARO“ illustriert, am unteren Rand ist Senecas Formulierung verkürzt zitiert und außerdem erläutert, dass ein Greis ‚zum zweiten Mal Kind‘ sei („BIS PVERI SENES“): Zu sehen ist ein alter, gebeugter Mann, der sich mühsam mittels eines als Gehhilfe genutzten Wagens fortbewegt (eine freie Variante entsteht dann 1558 in Frankreich, wobei noch verdeutlichend ein kleines Kind bei seinen ersten Gehversuchen ergänzt wird).18 Die zunächst sehr positive Mahnung des dauernden Lernens konnte im 16. Jahrhundert dabei wiederum zugleich spöttisch als ‚Kindisch-Sein‘ im Alter umgedeutet werden: Ausgerechnet von Sofonisba Anguissola stammt die Darstellung einer alten Frau, die bei ihren mühsamen Versuchen, Lesen zu lernen, von einem jungen Mädchen ausgelacht wird.19 Als Wahlspruch Michelangelos und dann in der Darstellung eines Maler-Ateliers aus den späten 1630er Jahren – auf einem cartellino zitiert – ist das „ANCORA 18
Dazu Blake Smith, 1967, und Freedman, 1995, 111f., wo noch ein thematisch vergleichbares Emblem in Achille Bocchis Symbolicarum Quaestionum . . . Libri V, Bologna 1574, symb. LXVII benannt ist. – Eine weiterer Nachstich nach Agostino Veneziano etwa in Freiburg, Augustinermuseum, Graph. Sammlung, in: Biegel, 1993, 33 und 295 (Kat. XI.22) (mit falscher Datierung ins späte 15. Jahrhundert). 19 Zu Anguissolas Zeichnung und einem Stich danach von Jacob Bos s. Gregori et al., 1994, 270– 273 (Kat. 37f.). Ein zweites Beispiel für diese Ikonographie aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, nun allerdings mit einem Knaben, der einen Greis unterrichtet und dabei einen Stock schwingt, von Pietro Paolini in englischem Privatbesitz, in: Tongiorgi Tomasi & Tosi, 2009, 37 (falsch als „Lezione di Astronomia“ gedeutet).
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IMPARO“ aber jedenfalls positiv auf die Bildkünste zu beziehen (Abb. 4). Das Gemälde des Giovanni Dò in Neapel (möglicherweise auch als Selbstbildnis des Malers in der Rolle eines neuen Solon zu deuten) charakterisiert die Malkunst als lebenslange Herausforderung, die sich dem greisen Maler an der Leinwand immer noch genauso wie dem Knaben links bei seinen ersten Zeichenversuchen von Gesichtsteilen stellt.20 Die dritte Position schließlich beruft sich auf die ausgleichende Mitte. Vollendete Schaffenskraft sei weder mit unreifer Jugend noch zu hohem Alter vereinbar, verlange vielmehr die mittlere Lebensphase. Diese Position vertritt im Text etwa Raffaelo Borghini in seinem Riposo, 1584.21 Im Bild stellt eine neunteilige Folge der Lebensalter, die Nicolaes de Bruyn wohl im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts angeblich nach Entwürfen des Marten de Vos gestochen hat, den Höhepunkt der Kunst im 40. Lebensjahr dar (Abb. 5): Zu sehen ist Michelangelo bei der Arbeit an einer
Abb. 5 20
Zu dem Gemälde liegt noch keine umfassende Deutung vor, vgl. bislang De Vito, 1996–1997, 31 und Farbtf. XIII; Spinosa, N. In: Seipel, 2001, 149 (Kat. I.31); Donati, 2008, 65; Schütze, 2010. 21 Borghini, 1967, 196.
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Kleopatra-Statue, wobei ein ihn begleitender Löwe in der Tradition der Tiersymbolik in Verbindung mit den Lebensstufen des Menschen22 die höchste Schaffenskraft Michelangelos signalisiert. Daneben führt eine Frau das aus niederländischer Sicht weibliche Pendant zu dieser anspruchsvollen Kunst und mühevollen Arbeit aus: das Spitzenklöppeln. Ein Jüngling übt sich im Hintergrund im Abzeichnen einer Personifikation der ‚Stärke‘, die erneut das 40. Lebensjahr als Akme des menschlichen Lebens kennzeichnet. Und die Inschrift betont nun unter anderem, dass die Musen den 40-Jährigen zugetan sind!23
2 Die Biologie der Kreativität Kommen wir vor diesem Hintergrund zu van Dycks drei Künstlerbildnissen zurück und rufen uns in Erinnerung: Dass Tizian und Raffael als zwei der Heroen van Dycks dargestellt sind, bedarf keiner weiteren Erklärung, wohl aber die Auswahl gerade dieser beiden apokryphen Porträts, die vermeintlich den einen als greisen Liebhaber, den anderen als schönen Jüngling zeigen. Sofonisba dürfte dagegen zunächst als eine Art ‚Kuriosität‘ aufgenommen sein – so wie sie ihre Karriere seinerzeit als Wunder-Kind begonnen hatte, so erscheint sie nun als Wunder-Greisin, als letzte, uralte Augenzeugin aus der Zeit der großen Meister der Renaissance. Im Gegenüber mit Raffael ergeben sich aber noch weitere Assoziationen: Raffael ist der Frühverstorbene, der in kürzester Zeit alles erreicht und den die Natur aus Neid darüber, dass seine Gestalten schöner aussehen als die ihren, vorzeitig (eigentlich: mit 36 Jahren) ins Grab ruft – so erklärt jedenfalls seine weithin bekannte Grabinschrift (zu erwähnen ist auch die zweite Überlieferung, wonach Raffael an Erschöpfung beim Liebesakt starb).24 Vermutlich benutzt van Dyck das Modell Raffaels auch für ein Selbstbildnis aus diesen Jahren – allerdings konnte ein wenig späteres Bildnis van Dycks bereits zu Beginn der 1630er Jahre auch in Verbindung zu Tizians Altersporträt gesetzt werden.25 Sofonisba dagegen verbraucht ihre Lebenskraft während ihres langen Malerinnen-Daseins vollkommen. Van Dyck – oder zumindest seine italienischen Zeitgenossen – dürften dabei auch geschlechtsspezifische Unterschiede assoziiert haben: 22
Wanders, 1983. Hollstein, 1951, 23 (Kat. 201–209); die Personifikation der Stärke rekurriert auf eine Statuette des Conrat Meit, vgl. Burk, J.L. In: Eikelmann, 2006, 84–87. 24 Vgl. nur Lomazzo, 1973, Bd. 1, 250 zu Raffael: „in cosí poco tempo fece quello che alcun’altro, nel corso di molti e molti anni, non aveva fatto giamai, come che fosse però universale in tutte le altre parti, sí che di anni trentasei finí la vita, giunto a sí alto segno, che a piú sublime non poteva poggiare.“ – Zur Analyse vorläufig Verrier, 2003. 25 Vgl. etwa Barnes, S.J. In: Wheelock, 1990, 167–169 (Kat. 33): hier nicht erkannt, dass das Raffael-Porträt als Selbstbildnis angesehen wurde. – In einer Folge von radierten Studienblättern des Michiel Snyders, die nur aus den allerersten 1630er Jahren datieren kann, erscheint van Dycks um 1630 entstandenes Bildnis, das dann auch für die Iconographie verwendet wurde, neben dem Tizian-Kopf aus ‚Tizian und seine Geliebte‘ und einer Platon-Büste; vgl. Depauw & Luijten, 1999, 295. 23
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Vasari hatte just am Beispiel Sofonisbas den für ihn verwunderlichen Umstand, dass eine Frau so gut malen könne, damit erläutert, dass sie ja auch Kinder zu gebären im Stande sei, ihre quasi biologisch gegebene Fähigkeit zur ‚Abbildung‘ und Reproduktion daher weit weniger Bewunderung verdiene als die ihrer Kollegen, die sich diese Fähigkeit auf rein geistiger Ebene anzueignen hätten.26 Da Sofonisba trotz mehrerer Ehen keine biologischen Kinder zur Welt brachte, scheint bei ihr die Alternative besonders deutlich: Ihre Werke sind ihre Kinder. Ohne die Tradition der Vorstellung von den Werk-Kindern seit Platon hier eingehender verfolgen zu können, sei nur darauf verwiesen, dass schon um 1500 Frauen ihre körperliche ‚Sterilität‘ mit ihren Geistes-Produkten zu rechtfertigen versuchten.27 Vor allem aber wurde auch zwischen der ‚alternden Praxis‘ und der ,ewig jungen Theorie‘ unterschieden. Giovan Paolo Lomazzo erklärte in seiner Idea del tempio della pittura (1590), dass die allein mit der Praxis vertrauten Maler mit dem Altern und Verfall ihrer Körperkräfte auch ihr Vermögen zu Malen verlieren würden, wogegen die auch theoretisch versierten Maler die „Schönheit ihres Geistes und die Schärfte ihrer Urteilskraft“ behielten und damit auch ihre Schaffenskraft.28 Fulvio Mariotelli entwarf für Ripas berühmte Iconologia (seit der Ausgabe 1618) Personifikationen von ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘, die diese Vorstellung durch den anschaulichen Alters-Kontrast von Frauen weiter ausbauten: Den Höhenflug der Theoriebildung, die vom Allgemeinen und den ewigen Gesetzen ausgeht, versinnbildlicht eine junge Frau mit Zirkel an der Stirn und nach oben gerichtetem Blick. Dagegen erscheint die Prattica als Greisin, die mit ihrem Zirkel nicht nur am Boden und also ausgehend von Einzelfällen arbeitet, sondern diesen auch als eine Art Stock benutzt.29 In Pietro Testas in den 1630er Jahren konzipiertem Liceo della Pittura ist die Praxis dann radikal als blinde Alte dargestellt.30 Mariotellis (bzw. ‚Ripas‘) und Testas Personifikationen sind zwar qua grammatischem Geschlecht beide weiblich. Auf konkrete Personen übertragen, musste insbesondere zu Zeiten van Dycks aber der jugendliche Raffael als der Theorie-Künstler der Renaissance schlechthin gelten durch seinen sprichwörtlichen Hinweis auf die „certa idea“, nach der er seine Gestalten bilde.31 Die weitgehend erblindende Sofonisba dagegen wäre als ‚Praktikerin‘ deutlich abqualifiziert, so lobend van Dycks Stichworte zu ihr auf den ersten Blick auch scheinen mögen. Bezieht man in diese Überlegungen nun das Bildnis Tizians mit seiner Geliebten ein, werden auch hier die zugrunde liegenden Vorstellungen einer ‚Biologie der 26
Mit unterschiedlichen Deutungen Jacobs, 1994 und nochmals Jacobs, 1997; anders dagegen Christadler, 2000. – Zu Gender-Aspekten des Alterns allgemein etwa Filipczaj, 1997, 22f. und Bake, 2005. 27 Ein Beispiel bei Ahmed, 2008. 28 Lomazzo, 1973, Bd. 1, 252: „non però possano mai perdere la bellezza dello spirito e la sottigliezza del giudicio che serve all’arte et alla prattica sottile regolata dalla teoria.“ – Dazu und zum Folgenden ausführlich Campbell, 1998, 34–71. 29 Ripa, 1645, 496 und 622f.; vgl. Cropper, 1971; Garrard, 1986, 356–359; Schuster Cordone, 2009, 158–161. 30 Dazu Cropper, 1971, und Campbell, 1998. 31 Vgl. nur Winner, 1992, und Perini, 2000.
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Kreativität‘ ganz offensichtlich. Zunächst ist zu betonen, dass in Wirklichkeit auch der greise Tizian mit nachlassender Seh-, Körper- und Schaffenskraft zu kämpfen hatte, wie einige ‚inoffizielle‘ Zeugnisse überliefern.32 Dagegen setzte Tizian aber als einer der ersten neuzeitlichen Künstler eine intensive Selbststilisierung seines Alters und ‚Alterswerks‘.33 Und die frühen gedruckten Biographien Tizians folgen dem allesamt, indem sie von seiner ungebrochenen Schaffenskraft bis ins hohe Alter berichten. Für Informationen zu Tizian – die insbesondere auch die enigmatische Randnotiz „mors Titiani“ erklären helfen könnten – hätten van Dyck theoretisch zur Verfügung gestanden die italienisch verfasste Vita Giorgio Vasaris (1550 bzw. eher die zweite Ausg. 1568), Ludovico Dolces L’Aretino (1557), Raffaelo Borghinis Il Riposo (1584), die niederländische Lebensbeschreibung des Karel van Mander (1604, zweite Aufl. 1618), ein ganz aktuell 1622 anonym publiziertes Breve Compendio della vita del famoso Titiano und die bislang in der Forschung kaum beachtete Weltchronik des Pieter van Opmeer und Laurens Beyerlinck von 1611.34 Allein diese letzte konzentriert ihren kurzen Eintrag zu Tizian vor allem auf die Themen Alter und Tod (bzw. Überwindung des Todes durch die Kunst), so dass die Vermutung nahe liegt, van Dycks Informationen über Tizian seien möglicherweise gerade durch diese Publikation mitbestimmt gewesen.35 Dagegen wissen die frühen gedruckten Viten Tizians nichts davon, dass sich der alternden Maler als besonders aktiver Liebhaber betätigt hätte – und von der ihm tatsächlich um sein 58. Lebensjahr geborenen, illegitimen Tochter dürfte man zu Zeiten van Dycks ebenfalls nichts mehr gewusst haben.36 Gleiches gilt für den Bericht des Ferrareser Botschafters bereits vom Ende des Jahres 1521, wonach sich der zu diesem Zeitpunkt freilich in seinen besten Mannesjahren stehende Tizian mit seinen Modellen teils exzessiv verausgabte: „Ich habe Tizian gesehen, der überhaupt kein Fieber hat. Er sieht gut aus, wenn auch etwas erschöpft; ich vermute, dass die 32 Am deutlichsten äußert sich der Kunsthändler Niccolò Stoppio in einem Brief vom Februar 1568, vgl. Hope, 1980, 151 (vgl. auch 161); die nachlassenden Fähigkeiten Tizians sind dann auch mehrfach Thema in den Korrespondenzen des habsburgischen Hofes, s. Mancini, 1998, etwa 405f. (Nr. 285f.) und 411 (Nr. 291). 33 Vgl. Fletcher, 2003, und vor allem Sohm, 2007. 34 Vgl. vorläufig – etwa ohne Verweis auf Opmeer/Beryerlinck – die Zusammenstellung bei Hope, 1993; Van Mander, 1604, fol. 177v berichtet in den Norden: „[. . . ] want sulcke leste zijn wercken verminderden zijn vermaertheyt oft gerucht. Hy was t’zijnen 86. Jaer noch ghevonden met den pinneelen in de handt / en sitten werckende.“; 1622 heißt es etwa über Tizians Lebensende in einem Halbsatz bei Tizianello, 2009, 58: „ridotto agli ultimi anni della sua vecchiezza, imitando il buon Socrate, soleva dire che, se l’occhio lo servisse, allora gli avrebbe dato l’animo di cominciare qualche opera degna; [. . . ].“ – Zur Rezeption Tizians auch Loh, 2007, etwa 101f.; für den englischen Horizont van Dycks, s. Reinhardt, 1999. 35 Opmeerus & Beyerlinck, 1611, Bd. 2, 40: „Quid vero naturae ars sociata valeat, stupendis in omne aevum operibus docuit TITIANVS VCCELLO DE CADOR Reipub. Venetae Pictor illustris, ut Laudis Apelleae metuit sua sidera fulgor / Sospite quo vinci, quo moriente mori. Aetatem, quod rarum in Pictoribus, ad XCVI. annum modesto cultu, & paterno contentus salino, cibi etiam potusque parsimonia extraxit; ita ut non prius esse desineret, quam cum naturae debilitatus humor quotidiana dispendia reparare non valeret. Mortuus est anno M.D.LXXVI.“ – Das Gedicht übernommen aus dem Leonardo-Stich in Reusner, 1589, R.2 [276]. 36 Zur späten Tochter Brunetti, 1935.
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Mädchen, die er öfters in verschiedenen Posen malt, bei ihm Wünsche wecken, die er dann mehr befriedigt, als es seine begrenzten Kräfte erlauben.“37 Es scheint vielmehr die dichte, bis ins Spätwerk nicht abreißende Reihe von Darstellungen erotisch-(halb)nackter Frauen, aus denen auf die ,Wirklichkeit‘ des Künstlers rückgeschlossen wurde. Es sind genau diese Themen, die auch van Dyck in seinem Skizzenbuch besonders interessierten. Und es ist diese Verbindung von Künstler, Liebe und weiblicher Schönheit, die Tizian selbst etwa in der GemäldeSerie der Orgelspieler mit Venus und möglicherweise in einem heute nur durch Kopien überlieferten Selbstbildnis mit Venus-Statuette intensiv und selbstreflexiv für sich und seine Kunst thematisiert hat.38 Es geht bei diesen Bildern wie dann bei Van Dycks Tizian-Porträt also nicht um wirkliche oder vermeintliche Geliebte des Malers – und deshalb schien seinem Erfinder das Bildnis Tizians mit junger Geliebten auch nicht in Gefahr, mit den vielen negativ konnotierten, spottenden und mahnenden Darstellungen ungleicher Paaren verwechselt zu werden (was dann allerdings doch spätestens bei einem deutschen Nachstich von Georg Walch der Fall war). Vielmehr sollte das Sinnbild des alten Liebhabers Tizian, der mit seiner jungen Geliebten Kinder zeugt, auf Tizians kreative Potenz selbst im Alter verweisen, auf seine Liebe zu Malerei und Werken und auf die ungebrochene Bilderflut aus seiner Produktion. Die Selbststilisierung Tizians als Liebeskünstler, wie sie das vermeintliche Selbstbildnis mit Geliebter aufgreift, scheint auch in den Schriftquellen ab der zweiten Hälfe des 16. Jahrhunderts eine sehr intensive Rezeption erfahren zu haben, am deutlichsten vielleicht bei Antonio Persio 1576, der Tizians Konzentration und Versenkung in den Schaffensprozess explizit als eine Art Liebesakt beschreibt, aus dem das ‚Werk-Kind‘ hervorgeht: „[il] gran Titiano padre del colorire, il quale secondo ho udito di sua bocca, et di quegli che sono ritrovati presenti a’ suoi lavori, quando volea disegnare o colorir alcuna figura, tenendo avanti una donna o un huomo naturale, cotal oggetto così movea la vista corporale di lui, et il suo spirito così penetrava nell’oggetto di chi ritirava, che facendo vista di non sentire altra cosa, che quella, veniva a parere a’ circostanti d’esser andato in ispirito, dalla quale astrattione si cagionava che egli nell’opra sua riuscisse poco men che un’altra natura, tanto bene esprimendo la carnatura et fattezze d’essa. Così dunque avenir si estimerà della donna et dell’huomo che s’amano infra di loro [. . . ].“39 Bei Sperone Speroni finden sich bereits etwas früher ähnliche, wenngleich noch nicht ganz so 37
Hope, 1980, 57f.; die Übersetzung in Anlehnung an Borggrefe, 2006. Ob es sich wirklich um die Kopie eines Selbstbildnisses handelt oder nicht doch eher um ein Tizian-Pasticcio des Pietro Della Vecchia aus der Mitte des 17. Jahrhunderts kann hier nicht diskutiert werden, auch nur als Pasticcio würde das Bild die hier vertretene Deutung unterstützen, s. zuletzt Dal Pozzolo, E.M. In: Puppi 2007, 360f. (Kat. 8) und Artemieva, 2008; zur OrgelspielerSerie und dem größeren Kontext etwa Pardo, 1993, und Suthor, 2004. 39 Persio, 1999, 69f. Auf diese Stelle verweisen etwa bereits Hope, 1980, 169f. und Emison, 2004, 163. – Möglicherweise handelt es sich bei diesem Gedanke um eine Variante der Idea-Lehre und des Maler-Beispiels von Zeuxis und den Jungfrauen, vgl. etwa wenig zuvor Partenio, 1565, II, 66: „Quemadmodum enim in pingendo, sculpendove ita in eloquentia ideam quondam animo proponemus, ad cuius exemplar quicquid fingamus, aut dicimus, conferamus. Quod praeclare Zeusis in 38
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explizite Vorstellungen von der Liebe Tizians zu seinen Gemälden.40 Näher an van Dyck wird dann etwa Giulio Cesare Gigli in seiner 1615 gedruckten La Pittura trionfante das Gefolge der Maler hinter dem Triumphwagen der Malerei, angeführt von den Venezianern, darunter Tizian, als Versammlung ihrer Liebhaber beschreiben und intensiv die Metaphorik der Kunst-Liebe aufrufen.41 Van Dycks Wahl eines Bildnisses Tizians am Rande des Todes mit der schwangeren Geliebten – und unter Missachtung aller anderen (authentischen) Tizian-Bildnisse – lässt sich allein in diesem Deutungshorizont verstehen.
3 Zusammenfassung und Ausblick In Anthonis van Dycks Skizzenbuch seiner italienischen Reise (1621–1627) findet sich gegen Ende eine bemerkenswerte Zusammenstellung von drei Künstlerbildnissen des Tizian, Raffael und der Sofonisba Anguissola. Die hier so demonstrativ vor Augen geführten Kontraste – zwischen Künstlern und Künstlerinnen, zwischen jung (Raffael) und sehr alt Verstorbenen (Tizian, Sofonisba) –, insbesondere aber auch die ganz exzeptionelle, apokryphe (möglicherweise erst von van Dyck dazu gemachte) Darstellung des greisen Tizian mit seiner (schwangeren) Geliebten lassen sich nur verstehen, wenn man die ‚biologischen‘ Produktionsmodelle der Frühen Neuzeit rekonstruiert und in ihrem Erklärungswert für die Zeitgenossen ernst nimmt: Sexuelle Prokreativität und künstlerische Kreativität wurden seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert wieder zunehmend in Parallele gesetzt und lieferten gegenseitige Erklärungsmodelle. Dabei spielten Alterungsprozesse auf ganz unterschiedlichen Ebenen eine zentrale Rolle. Diskutiert wurden unterschiedliche Vorstellungen und Modelle der Frühbegabung, des geistig-künstlerischen Höhepunktes zu einem mittleren Lebensalter und der Vollendung als Greis. Diskutiert wurde auch das Verhältnis von körperlichem Verfall und unzerstörbarer ‚geistiger Jugend‘, von demonstrativem Überfluss und Einsatz der Liebeskräfte durch Künstler und Literaten oder aber von deren angeblich notwendiger Sublimierung. Vor diesem Hintergrund erscheint Tizian in der Inszenierung van Dycks – zwar nicht authentisch, aber wohl sehr im Sinne Tizians – als unerschöpflich potenter und produktiver KünstlerLiebhaber, wogegen der ‚verbrauchte‘ weibliche Körper der Sofonisba Anguissola schon lange nichts mehr ‚gebären‘ kann. Die hier untersuchte Tradition des 16. und frühen 17. Jahrhunderts erweist sich so als zentral für eine ganze Reihe späterer, teils bis heute wirksamer Leitvorstellungen über Kreativität, herausragendes (männliches) Künstlertum und Alter. Dies gilt im Übrigen auch für die beiden anderen, bislang nicht erwähnten Heroen der italienischen Hochrenaissance, Leonardo und Michelangelo. Nachdem das sua illa Venere tenuisse visus est, qui cum omnia esse in imitatione statueret, maluit quod in aliis essent absolutius quam sua ipsius contemplari.“ 40 Speroni, 1740, hier Bd. 1, 31 und 288. – S. auch Suthor, 2004, 21–27. 41 Gigli, 1996.
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Leben Leonardos praktisch keine Nachricht über Frauen zu bieten hatte, zeigte wenigstens ein Gemälde aus der Leonardo-Nachfolge eine nackte Mona Lisa, die das Medaillonbildnis ihres Geliebten (möglicherweise erst im 18. Jahrhundert in dieser Form übermalt) an die Brust hält: eben das Porträt des greisen Leonardo.42 Der alte Michelangelo dagegen präsentierte sein künstlerisches Arbeiten, das überraschend im hohen Alter wieder der Skulptur galt, als eine Art Liebesbeweis gegenüber Gott, als Demut und selbstaufopfernde Arbeit.43 Wie unterschiedlich diese kreativen Liebes-Konzepte auch alle waren: Ganz unvorstellbar für die Konzeption der Frühen Neuzeit wäre gewesen, dass diese Ausnahme-Künstler mit ihren theoretischen und also zeitlos ‚schönen Geistern‘ im Alter überhaupt nicht mehr hätten produzieren können.
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Das Bildnis basiert auf dem erstmals 1589 publizierten Holzschnitt in der hier bereits Anm. 34 zitierten Icones-Ausgabe von Reusner; vgl. Pedretti, 1996, 127f. 43 Dazu nur Lavin, 1977/78, und Nagel, 2000.
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Vom weisen zum gelebten Alter. Variationen eines Topos Dorothee Elm, Thorsten Fitzon und Kathrin Liess
Weisheit ist nicht unbedingt an die Reife und Vollendung des Menschen im Alter gebunden. So wird seit je her zwischen reifungsbedingt erworbener und göttlich inspirierter Weisheit unterschieden: Während die erste nur im fortgeschrittenen Lebensalter zur Geltung kommen kann, vermag sich eine metaphysisch begründete und angeborene Weisheit auch schon im Kind zu zeigen. Der zwölfjährige Jesus bei den Schriftgelehrten im Tempel bietet hierfür eines der eindrücklichsten Sinnbilder. Altersweisheit bildet jedoch in beiden Fällen die regulative Idee, vor deren Folie Verhalten und Handeln auch beim jungen Menschen erst als gelehrt und weise bewertet werden kann. Diese strukturell dominante Korrelation von hohem Alter und Weisheit äußert sich sprachlich selbst dort noch, wo sie logisch verneint wird: So heißt es in einem antiken Fragment des Menander zwar: „Nicht weiße Haare machen klug, sondern einige besitzen von Natur aus die Art eines Greises“, allerdings hält die ex negativo Charakterisierung des jungen Weisen als nicht-grau-
Abb. 1 Adolph Menzel: Der zwölfjährige Jesus im Tempel (1851)
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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bzw. nicht-weißhaarig ein traditionelles Attribut der Altersweisheit präsent. Im paradoxen Topos vom puer senex wurde schließlich der Habitus eines weisen Greises abstrakt auf den Knaben übertragen, so dass ein pointiertes Gedankenbild entstand, das sich seit der Spätantike in der europäischen Tradition etablierte und die Innovation der Jugend mit der Weisheit des Alters verband. Dieser Topos hat bis heute nicht an Wirkmacht eingebüßt, wie Robert P. Harrison in seinem Essay Das Kind ist der Vater des Mannes von 2005 zeigt. Harrison beschreibt darin die Altersweisheit als notwendiges Korrektiv zur Neotonie, also als Kompensation für die Tendenz der abendländischen Kultur, die Phase jugendlicher Erneuerung, der auch die Intelligenz zugeordnet wird, immer weiter ins fortgeschrittene Alter hinaus zu verschieben. Jedoch erst in der Balance mit der Altersweisheit sei die Innovation der Jugend zukunftsfähig: Intelligenz und Weisheit sind unauflöslich miteinander verbunden, das eine gibt es nicht ohne das andere. Intelligenz experimentiert, erfindet, entdeckt, berechnet und verändert die Welt. Weisheit ist etwas anderes. Aus der Erkenntnis, daß der Mensch sterblich ist, schuf sie die Götter, die Gräber der Toten, die Gesetze und Schriften der Völker, die Erinnerung der Dichter und die Archäologie der Gelehrten. Von diesen beiden Arten der Sapientia des
Abb. 2 William Blake: Aged Ignorance (1793)
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Homo sapiens ist die eine ‚älter‘ als die andere, nicht weil sie früher entstanden wäre, sondern weil sie das Vergangene in der Erinnerung aufbewahrt.1
Nach dieser Auffassung ist Altersweisheit vor allem eine sozialfigurative Zuschreibung, sie balanciert innerhalb bestimmter Gemeinschaften Erneuerungstendenzen aus. Jugend und Alter erscheinen vor diesem Hintergrund lediglich als sinnfällige Verkörperung von zwei Prinzipien. Anders als der Generationenkonflikt verweist Altersweisheit weniger auf eine Agonalität zwischen Jungen und Alten, sondern vielmehr auf die notwendige wechselseitige Bezogenheit von Vergangenheit und Zukunft. Wohin die Ignoranz dieser wechselseitigen Abhängigkeit führt, illustriert ebenso anschaulich wie ironisch eine Tuschezeichnung von William Blake. Im Folgenden sollen an Texten aus dem Alten Testament, der spätantiken Märtyrerliteratur und der Konversationsnovellistik des frühen 19. Jahrhunderts skizziert werden, wie Weisheit einerseits topisch mit dem hohen Alter korreliert ist, sich Altersweisheit andererseits aber nur im Lebenszusammenhang behaupten kann und in Gemeinschaften stets neu ausgehandelt wird. Dieser Prozess kann unter bestimmten Bedingungen dazu führen, dass Weisheit als Attribut gerade in Umbruchphasen von den Älteren auf die Jüngeren übertragen werden kann.2
1 Alter und Weisheit in der Weisheitsliteratur des Alten Testaments Das hohe Alter wird im Alten Testament ambivalent beurteilt: Körperliche Hinfälligkeit, Gottverlassenheit und gesellschaftliche Isolation, aber ebenso auch Lebenskraft, Fülle und Fruchtbarkeit können diese Lebensphase prägen.3 Zu den positiven Charakteristika zählt die Altersweisheit, deren äußerlich sichtbares Kennzeichen das graue Haar des alten Menschen ist. So heißt es in den Proverbien: Eine prächtige Krone ist graues Haar, auf dem Weg der Gerechtigkeit wird sie gefunden. (Prov 16,31)4
Wer sich sein Leben lang an Gerechtigkeit und Weisheit orientiert, wird ein hohes und ehrenvolles Alter erreichen. Mit einem Bild aus der alttestamentlichen Kö1
Harrison R P (2005) Das Kind ist der Vater des Mannes. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 199, S 45. 2 Dieser Beitrag ist im Rahmen des WIN-Projektes „Religiöse und poetische Konstruktion von Lebensaltern“ entstanden. Die einleitenden Bemerkungen stammen von Th. Fitzon, Teil I. von K. Liess, Teil II. von D. Elm und Teil III. von Th. Fitzon. 3 Einen neueren Überblick über die Altersthematik im Alten Testament bietet Frevel Chr (2009) „Du wirst jemanden haben, der dein Herz erfreut und dich im Alter versorgt“ (Rut 4,15). Alter und Altersversorgung im Alten/Ersten Testament. In: Kampling R u. Middelbeck-Varwick A (Hrsg) Alter – Blicke auf das Bevorstehende (Apeliotes. Studien zur Kulturgeschichte und Theologie 4). Peter Lang, Frankfurt a. M. u. a. 2009, S 11–43. 4 Zu Prov 16,31 s. Meinhold A (1991) Die Sprüche. Teil 2: Sprüche Kapitel 16–31 (ZBK.AT 16/2). Theologischer Verlag Zürich, Zürich, S 278–280. Vgl. auch Prov 20,29.
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nigstradition („prächtige Krone“) wird in diesem Spruch aus der älteren, vorexilischen Spruchweisheit beschrieben, was den alten Menschen gleichsam königlich auszeichnet: Seine grauen Haare sind Zeichen seiner Weisheit und Würde. Wie wird dieser Zusammenhang von Alter und Weisheit in der jüngeren alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur aus der nachexilischen Zeit (nach 587 v. Chr.) gesehen? Lässt sich ein Wandel im Verständnis der Altersweisheit beobachten? Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen.
1.1 Jesus Sirach Das Buch Jesus Sirach aus dem 2. Jh. v. Chr. setzt ebenfalls einen Zusammenhang von Grauhaarigkeit, Alter und Weisheit voraus: 3 4 5 6
Wenn du in der Jugend nicht gesammelt hast, wie kannst du dann in deinem Alter finden? Wie gut steht den Weiß-/Grauhaarigen Urteilskraft an und den Ältesten, Rat zu wissen. Wie gut steht den Greisen Weisheit an und den geehrten Männern Überlegung und Rat. Die Krone der Greise ist reiche Erfahrung, und ihr Ruhm ist die Furcht des Herrn. (Sir 25,3–6)5
Worin die Altersweisheit letztendlich gründet, wird abschließend in V.6 mit dem – aus den Proverbien bekannten – Motiv der Krone beschrieben: in der reichen Lebenserfahrung, aber vor allem in der Gottesfürchtigkeit des alten Menschen. Damit mündet der Text in einen zentralen Begriff weisheitlichen Denkens, der die theologische Ausrichtung der jüngeren Weisheit aufzeigt. „Gottesfurcht“ meint nicht Angst, sondern Vertrauen auf Gott als den, der alles durchwaltet und den menschlichen Lebensweg gelingen lässt.6 Gottesfurcht ermöglicht „Orientierung und rechtes Verhalten angesichts einer komplexen Lebenswirklichkeit“7; sie liegt der Weisheit des alten Menschen zugrunde, denn „Voraussetzung und Ziel jeder Erkenntnis des Menschen ist das Wissen um und die Bindung an JHWH“8 . Sir 25,3 betont jedoch, dass man sich von Jugend an darum bemühen muss, Weisheit zu erwerben. Nur wer seinen Lebensweg verantwortlich gestaltet, in Gottesfurcht lebt und sich an weisheitlicher Lehre orientiert, kann den ehrenvollen Status eines alten Weisen erlangen. In Sir 6,18 wird deshalb der junge Mensch ermahnt: 5
Zur Übersetzung s. Sauer G (2000) Jesus Sirach (ATD. Apokryphen 1). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 188. Zu Sir 25,3–6 s. auch Reiterer F V (1996) Gelungene Freundschaft als tragende Säule der Gesellschaft. Exegetische Untersuchung von Sir 25,1–11. In: Ders. Freundschaft bei Ben Sira. Beiträge des Symposiums zu Ben Sira (BZAW 244). De Gruyter, Berlin u. New York, S 133–169, hier S 155–162. 6 Vgl. Zenger E (2004) Eigenart und Bedeutung der Weisheit Israels. In: Ders. Einleitung in das Alte Testament. 5. Aufl Kohlhammer, Stuttgart, S 329–334, hier S 330. 7 Fuhs H F (1991) Art. Furcht. In: Neues Bibel-Lexikon 1:713–716, hier S 715. 8 Fuhs (1991), S 715.
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Mein Kind, von deiner Jugend an nimm Zucht an, und bis ins Alter wirst du Weisheit erlangen.9
Ebenso in Sir 6,34: In die Schar der Alten reihe dich ein, und ihrer Weisheit schließe dich an.10
Jesus Sirach kennt aber auch die andere Seite des Alters, die mangelnde Einsicht und die Torheit. In Sir 25,2 ist von einem „ehebrecherischen Greis die Rede, dem es an Verstand mangelt“, in 42,8 von einem grauhaarigen Greis, der „in sittlichen Fragen Auskünfte in falscher Art erteilt“11 und deshalb einem Toren gleich zurechtzuweisen ist. Während diese kritische Sicht bei Jesus Sirach noch ein Einzelfall bleibt, ist sie in verstärktem Maße Thema im Buch Hiob.
1.2 Hiob Im Hiobbuch, dessen Entstehung in die Zeit vom 5.–2. Jh. v. Chr. fällt, ringen Hiob und seine Freunde um eine Erklärung für Hiobs Leiden. Als klassische Vertreter des Tun-Ergehen-Zusammenhangs deuten die drei Freunde Hiobs, Elifas, Bildad und Zofar, dessen Leiden als Hinweis auf seine Schuld und sein Vergehen und folgen damit dem Grundprinzip weisheitlichen Denkens, nach dem das Verhalten eines Menschen sein Ergehen bestimmt. Um ihrer Position Autorität zu verleihen, berufen sie sich gegenüber Hiob auf die Weisheit der „Graugewordenen“ und „Hochbetagten“: 9 10
Was weißt du (sc. Hiob), was wir nicht wissen, verstehst du, was nicht bei uns bekannt? Graugewordene und Hochbetagte sind bei uns, reicher an (Lebens-)Tagen als dein Vater. (Hi 15,9f)
Hiob könne nicht – so der Einwand der Freunde – aus dem gleichen reichhaltigen Erfahrungsschatz schöpfen wie sie, denn sie selbst können auf die Weisheit ihrer alten und ergrauten Angehörigen zurückgreifen, die Hiobs Vater an Alter und damit auch an Weisheit und Lebenserfahrung übertreffen. Auf die Reden der drei Freunde Hiobs folgen im Hiobbuch die sog. Elihu-Reden (Hi 32–37), in denen sich Elihu als vierter Gesprächspartner Hiobs kritisch mit den vorangehenden Reden der drei Freunde auseinandersetzt. Der jüngere12 Elihu folgt zunächst der klassischen Sicht, wie sie auch die älteren Freunde vertreten, indem er das Privileg der Altersweisheit gegenüber der Jugend voraussetzt: 9
Zur Übersetzung s. Sauer (2000), S 83. Zur Auslegung des Textes s. Marböck J (2010) Jesus Sirach 1–23 (HThKAT). Herder, Freiburg u. a., S 119ff. 10 Zur Übersetzung s. Sauer (2000), S 84. Vgl. auch Sir 8,8f. Neben die Aufforderung, das ganze Leben lang Weisheit zu erlernen und zu erwerben, tritt jedoch auch der Gedanke, dass Weisheit eine göttliche Gabe ist (Sir 6,37, vgl. Hi 32,8). S. dazu Marböck (2010), S 121f. 11 Sauer (2000), S 289. 12 Vgl. Hi 32,4.
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Und Elihu, der Sohn des Barachels, des Busiters, bezog Stellung und sagte: Ich bin gering an Lebensalter, ihr aber seid Hochbetagte; deshalb war ich zu zurückhaltend und ehrfürchtig, euch von meinem Wissen in Kenntnis zu setzen. Ich meinte, das Alter habe zu reden, die vielen Jahre vermittelten (weisheitlichen) Rat. (Hi 32,6–7)13
Aus Ehrfurcht vor dem Alter hat Elihu bisher geschwiegen, denn den Älteren steht es aufgrund ihrer großen Lebenserfahrung zu, zuerst das Wort zu ergreifen.14 Nachdem jedoch die älteren Freunde mit ihrer Weisheit in den Augen Elihus gescheitert sind – denn ihre bisherigen Reden boten keine hinreichende Erklärung für Hiobs Leiden15 –, relativiert Elihu die Altersweisheit: 8 9 10
Gewiß aber (ist es) Geist, der in den Menschen (ist), und Atem von Schaddaj, der sie einsichtig macht. Große [sc. „Große an Jahren = Hochbetagte] sind nicht (schon) weise noch wissen Älteste, was Recht ist. Deswegen sage ich jetzt: Man höre mir zu! Auch ich will von meinem Wissen Kenntnis geben. (Hi 32,8–10)16
Nicht allein ein hohes Lebensalter und eine lange Lebenserfahrung sind die Voraussetzungen für eine weise Rede der Älteren, sondern der Geist Gottes ist „die entscheidende Grundlegung für alle (offenbarungsmäßige) weisheitliche Einsicht“17 . (Alters-)Weisheit ist eine Gabe Gottes, die nicht nur und nicht eo ipso den Alten zuteil wird; vielmehr kann auch ein junger Mensch Weisheit besitzen und deshalb wie Elihu das Wort ergreifen. Zwei unterschiedliche Auffassungen über die Vermittlung von Weisheit liegen diesem Text zugrunde: Der Erfahrungsweisheit der Alten wird eine „Offenbarungsweisheit“ gegenübergestellt. „Das hebt die Erfahrung der Altersweisheit nicht auf, schränkt sie aber (etwa als exklusiven Grundsatz) im Interesse des Schöpfergottes als eigentlichem Geber der Weisheit ein.“18 In ähnlicher Weise betont Hiob selbst, dass Gott allein über Weisheit und Erkenntnis verfügt. Wie Elihu zweifelt auch er an dem Privileg der Altersweisheit: 12 13
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13
Ist bei Hochbetagten Weisheit, und ist langes Leben Einsicht? Bei ihm [sc. Gott] (allein) ist Weisheit und Stärke, und bei ihm ist Rat und Einsicht. ... Er entzieht die Sprache den Bewährten, und den Verstand nimmt er den Alten. (Hi 12,12f,20)
Zur Übersetzung s. Strauß H (2000) Hiob. 2. Teilband: Kapitel 19,1–42,17 (BK XVI/2), Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn, S 241. 14 Vgl. Sir 32,9. 15 Vgl. Hi 32,3–5. 16 Zur Übersetzung s. Strauß (2000), S 242. 17 Strauß (2000), S 278 18 Strauß (2000), S 278.
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Die rhetorischen Fragen in V.12 implizieren, dass ein hohes Alter und ein langes Leben nicht zwangsläufig auf Altersweisheit und Einsicht deuten, denn allein bei Gott ist Weisheit begründet (V.13). Sie ist unverfügbar, da Gott sie den Alten auch entziehen kann (V.20).19 So bleibt die Rede der Freunde Hiobs – und damit auch ihre Erklärung des Leidens Hiobs – trotz ihres Hinweises auf die Autorität und Weisheit der Alten (vgl. Hi 15,10) nicht unantastbar.
1.3 Weisheit Salomons Ein weiterer Text, der den Zusammenhang von hohem Alter und Weisheit kritisch beleuchtet, ist Weish 4,7–20 (1. Jh. v. Chr.), der sich mit dem vorzeitigen Tod des Gerechten auseinandersetzt. Auch nach diesem Text ist – wie im Hiobbuch – der Tun-Ergehen-Zusammenhang zerbrochen. Nach der traditionellen Weisheitstheologie wird derjenige in Ehren alt, der in seinem Leben nach Weisheit und Gerechtigkeit strebt. In Weish 4 gilt dieser Grundsatz jedoch nicht mehr, denn der Gerechte stirbt bereits in jungen Jahren „vor der Zeit“ (Weish 4,7). Der klassische Alterstopos eines „ehrenhaften Alters“ wird deshalb in Weish 4,8 neu bestimmt: denn ein ehrenhaftes Alter ist nicht das, was lang ist in bezug auf die Zeit, noch wird es gemessen nach der Zahl der Jahre.20
Alter wird nicht mehr zeitlich im Sinne einer langen Lebensspanne definiert, und Alterswürde wird nicht mehr an der Zahl der Lebensjahre bemessen. Nicht die zeitliche Dauer, die Quantität, sondern die Qualität ist entscheidend für die Bewertung des Lebens, so dass auch ein jung Verstorbener bereits ein „ehrenvolles Alter“ erreichen kann. V.9 führt den Gedanken aus V.8 fort und greift dabei den Topos der Grauhaarigkeit auf: Ist doch menschliche Klugheit (gleichbedeutend mit) grauem Haar und ein Leben ohne Flecken (identisch mit) Greisenalter.21
Graues Haar ist nach den Proverbien – wie oben beschrieben – Zeichen der Würde und Weisheit des alten Menschen. Angesichts des vorzeitigen Todes des Gerechten 19 Vgl. Meinhold A (2002) Bewertung und Beginn des Greisenalters. In: Ders. Zur weisheitlichen Sicht des Menschen. Gesammelte Aufsätze (ABG 6). Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, S 99– 116, hier S 108. 20 Übersetzung: Georgi D (1980) Weisheit Salomos (JSHRZ III/4). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 414. Zu Weish 4,7–20 s. auch Schmitt A (1987) Der frühe Tod des Gerechten nach SapSal 4,7–20. In: Haag E u. Hossfeld F-L (Hrsg) Freude an der Weisung des Herrn. Beiträge zur Theologie der Psalmen (Festschrift H. Groß). 2. Aufl Katholisches Bibelwerk, Stuttgart, S 325– 347; Engel H (1998) Das Buch der Weisheit (NSK.AT 16). Katholisches Bibelwerk, Stuttgart, S 92–101; Hübner H (1999) Weisheit Salomons (ATD. Apokryphen 4). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 60–66. 21 Übersetzung: Georgi (1980), S 414.
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transformiert V.9 diese traditionellen Alterstopoi: Grauhaarigkeit und Lebensklugheit des alten Menschen werden auf den jungen Gerechten bezogen. Graues Haar deutet nicht mehr auf ein langes, ehrenvolles Leben, sondern bereits der junge Mensch kann „alt“ genannt werden, wenn er ein „unbeflecktes Leben“ geführt hat. Sein „graues Haar“ ist seine Klugheit, und die Würde seines „Greisenalters“ besteht in seinem untadeligen Leben. Vergegenwärtigt man sich abschließend noch einmal den Ausgangspunkt der Argumentation von Weish 4, den vorzeitigen Tod des Gerechten, so wird deutlich, welche Rolle das Zerbrechen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs bei der Neubewertung der Altersweisheit spielt. An der Auseinandersetzung mit dem Leiden des Gerechten (Hiob) und mit dem frühzeitigen Tod des Gerechten (Weish 4) zerbricht mit dem Tun-Ergehen-Zusammenhang auch die topische Zusammengehörigkeit von hohem Alter, Grauhaarigkeit und Weisheit, wie sie noch die Proverbien und auch das Sirachbuch voraussetzen. Denn zum einen versagt die Weisheit der Alten bei dem Versuch, Hiobs Leiden zu erklären (Hi 32,5ff.), und zum anderen können Lebensklugheit und Alterswürde ebenso einem jungen Menschen zugesprochen werden (Weish 4).
2 Neues und altes Wissen in der Passio Perpetuae et Felicitatis Im Jahre 203 n. Chr., wahrscheinlich am 7. März, wurden im römischen Nordafrika, in Karthago, fünf junge Christen hingerichtet – adulescentes, die sich auf die Taufe vorbereiteten. Zu ihnen gehörte – so heißt es – die „aus vornehmen Haus stammende, klassisch gebildete und standesgemäß verheiratete Vibia Perpetua.“ Sie hatte Vater, Mutter, zwei Brüder und „einen Sohn, einen Säugling an der Brust. Perpetua selbst war zweiundzwanzig Jahre alt.“22 Die Textstelle, die uns die junge Märtyrerin, Tochter und Mutter so vorstellt, entstammt der Passio Perpetuae et Felicitatis.23 Die zu Beginn des 3. Jahrhunderts 22
Pass. Perp. 2,1–3: Apprehensi sunt adolescentes catechumeni: Revocatus et Felicitas, conserva eius, Saturninus et Secundulus; inter hos et Vibia Perpetua, honeste nata, liberaliter instituta, matronaliter nupta. habens patrem et matrem et fratres duos, alterum aeque catechumenum, et filium infantem ad ubera. erat autem ipsa circiter annorum viginit duo. „Verhaftet wurden junge Katechumenen: Revocatus und Felicitas, seine Gefährtin, Saturninus und Secundulus, und zusammen mit ihnen auch Vibia Perpetua, aus vornehmen Hause, klassisch gebildet und standesgemäß verheiratet. Sie hatte noch Vater und Mutter und zwei Brüder, der eine gleichfalls Katechumene, und einen Sohn, einen Säugling an der Brust, den sie noch stillte. Sie selbst war zweiundzwanzig Jahre alt.“ Textausgabe hier und im Folgenden: Amat J (1996) Passion de Perpétue et de Félicité, suivi des Actes (Sources chrétiennes 417). Éd. du Cerf, Paris; Übersetzung hier und im Folgenden: Habermehl P (2004) Perpetua und der Ägypter oder Bilder des Bösen im frühen afrikanischen Christentum. Ein Versuch zur Passio sanctarum Perpetuae et Felicitatis. 2. Aufl. De Gruyter, Berlin u. New York. 23 Für eine ausführliche Bibliographie zur Passio Perpetuae et Felicitatis bis zum Jahre 2004 vgl. Habermehl (2004). Vgl. auch Bremmer J u. Formisano M (Hrsg) (im Erscheinen) Perpetua’s Passions. Pluridisciplinary Approaches to the Passio Perpetuae et Felicitatis, 3rd Century AD. Oxford University Press, Oxford.
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in Nordafrika entstandene Schrift präsentiert sich als eine Mischung verschiedener Textsorten. Der narrative Rahmen eines Herausgebers (Pass. Perp. 1–2; 14–21), der oft fälschlicherweise mit Tertullian identifiziert wurde, legt sich um die IchErzählungen der Märtyrer Perpetua und Saturus.24 Diese haben die Form von tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, die über Verhör und Haft Auskunft geben und zahlreiche Visionen schildern. Gattungstheoretisch enthält die Passio somit Elemente der Märtyrerliteratur, Autobiographie und Apokalyptik. Ein wesentlicher Teil der Schrift ist die Ich-Erzählung der jungen Christin Perpetua (Pass. Perp. 3–10). Ihr jugendliches Alter und ihre familiären Umstände werden – wie oben zitiert – vom Editor zu Beginn der Schrift hervorgehoben.25 Von den dort genannten Familienmitgliedern kommt – neben dem Sohn im Säuglingsalter – nur dem Vater Vibius eine zentrale Rolle im Verlauf der Erzählung zu. Der alte Vater, der kein Christ ist (Pass. Perp. 5,6), will die junge Tochter vom Martyrium abhalten. Die Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter, zwischen Alter und Jugend, vermeintlicher Altersweisheit und göttlich inspiriertem „jugendlichen“ Wissen, wird vom Herausgeber der Schrift in einer theologischen Einführung in einen weiteren Zusammenhang gestellt, der (ebenfalls) das Neue dem Alten kontrastiv gegenüberstellt (Pass. Perp. 1). Er legt größten Wert auf die visionäre Kraft der jugendlichen Märtyrer. Ihre neuen Traumgesichte sollen auf der gleichen Ebene rezipiert werden wie ältere Glaubenszeugnisse, also auch biblische Offenbarungen. Der Editor wendet sich gegen die Verehrung alles Alten, die jüngsten und allerjüngsten Zeugnisse des Glaubens (nova, novitiora, novissimora documenta, Pass. Perp. 1,1; 1,3) seien für bedeutsamer anzusehen als ältere.26 „Es soll nicht irgendeine Ermattung oder Verzagtheit des Glaubens wähnen, allein bei den Alten sei die göttliche Gnade eingekehrt, sei es in der Märtyrer, sei es in der Offenbarung Gnadengeschenk, da doch Gott allezeit wirkt“.27 Dies wird mit einem biblischen Zitat 24
Zur Diskussion der Autorschaft des Herausgeberberichtes vgl. statt vieler Amat (1996) S 67–70. Zur sozialen Stellung ihrer Familie und zur Erziehung, die Perpetua vermutlich genoss, vgl. u. a. Schöllgen G (1985) Ecclesia sordida? Zur Frage der sozialen Schichtung frühchristlicher Gemeinden am Beispiel Karthagos zur Zeit Tertullians (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 2). Aschendorff, Münster, S 197–202; McKechnie P (1994) St. Perpetua and Roman education in A.D. 200. L’Antiquité Classique 63:279–291; Bremmer J (2002) Perpetua and her diary. Authenticity, family and visions. In: Ameling W (Hrsg) Märtyrer und Märtyrerakten. Steiner, Stuttgart, S 77–120, hier S 86–95. 26 Worin genau die vetera exempla bestehen, von denen der Herausgebertext sich absetzt, wird diskutiert von Moriarty R (1997) The Claims of the Past. Attitudes to Antiquity in the Introduction to Passio Perpetuae. Studia Patristica 31: 307–313. Sie vermutet, es handele sich neben biblischen Texten auch um ältere Märtyrerberichte; zudem setze man sich von einem in der Zeit der Zweiten Sophistik prävalenten kulturellen Archaismus und seiner Verehrung der mores maiorum ab. Zur heftigen Polemik in der Einleitung des Herausgebers gegen das Vorurteil, der Vergangenheit sei eine größere auctoritas zuzumessen als der Gegenwart, und zu ihrer antiinstitutionalistischen Tendenz vgl. Sardella T (1990) Strutture temporali e modelli di cultura: Rapporti tra antitradizionalismo storico e modello martiriale nella Passio Perpetuae et Felicitatis. Augustinianum 30: 259–278. 27 Pass. Perp. 1,5: ut ne qua aut inbecillitas aut desperatio fidei apud veteres tantus aestimet gratiam divinitatis conversatam, sive in martyrum sive in revelationum dignatione, cum semper Deus operetur quae repromisit. 25
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gestützt: et iuvenes visiones videbunt – „auch die Jungen werden Visionen sehen“ (Pass. Perp. 1,4; Act. 2,17; Joel 2,28).28 Der Bericht Perpetuas beginnt mit der ersten von insgesamt vier Begegnungen von Vater und Tochter, deren Schilderung sich mit derjenigen von Perpetuas visionären Träumen abwechselt.29 Im Laufe dieser Episoden vollzieht sich eine zunehmende Distanzierung der Tochter von ihrem Vater, die zunächst noch auf ihn zugeht und mit ihm spricht, zuletzt jedoch nur noch beobachtend und stumm sein unglückliches Alter betrauert – ego dolebam pro infelici senecta eius (Pass. Perp. 9,3). Das erste Zusammentreffen inszeniert bereits einen Rollenwechsel zwischen Vater und Tochter.30 Der Vater wird von der Tochter wortmächtig und souverän im Stile eines philosophischen Gesprächs, in dem sie die Führung übernimmt, belehrt: „Sie könne nichts anderes sein als das, was sie sei, Christin.“31 Der Vater wird – wie ein ungelehriges Kind, dem die Argumente ausgehen – handgreiflich, versucht ihre Augen auszukratzen.32 Er zieht sich geschlagen zurück.33 Perpetua ist „die Dominie28
Die These, dass es sich bei der Passio Perpetuae et Felicitatis um ein montanistisches Dokument handele, ist entgegen der communis opinio zuletzt in monographischer Form von Butler, 2006, vertreten worden (Butler R D (2006) The new prophecy and „new visions“. The evidence of montanism in The Passion of Perpetua and Felicitas (Patristic Monograph Series 18). Catholic University of America Press, Washington). Im Montanismus – einer von Montanus um die Mitte des zweiten Jahrhunderts in Kleinasien ins Leben gerufenen Bewegung, der sich zu Beginn des dritten Jahrhunderts auch Tertullian in Karthago anschloss – spielten Prophetinnen eine bedeutende Rolle, die in ekstatischer Rede das nahe Weltende verkündeten. 29 Begegnungen von Vater und Tochter: Pass. Perp. 3; 5; 6; 9. 30 Die Passio ist häufig mit Fragestellungen gelesen worden, die aus dem Bereich der Genderstudies stammen, und z. B. die Übernahme nicht normenkonformer, männlicher Geschlechterrollen durch Perpetua herausarbeiten (u. a. Lefkowitz M R (1981) The motivations for St. Perpetua’s martyrdom. In: Dies. Heroines and hysterics. Duckworth, London; Shaw B D (1993) The Passion of Perpetua. Past and Present 139:3–45; Irwin E (1999) Gender, status and identity in a North African martyrdom. In: Covolo E u. a. (Hrsg) Gli Imperatori Severi. Storia, archeologia, religione. LAS, Rom, S 251–260; Perkins J (1994) The passion of Perpetua. A narrative of empowerment. Latomus 53:837–847; dies. (1995) The suffering self. Pain and narrative representation in the early Christian era. Routledge, London, S 104–123 [hier steht allerdings nicht allein die Frage nach den Geschlechterrollen im Mittelpunkt, sondern das leidende Subjekt, dem im christlichen Diskurs Macht zugeschrieben werde]). Das Lebensalter der geschilderten Figuren ist bislang noch nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt bzw. zum Ausgangspunkt einer Untersuchung gemacht worden. 31 Pass. Perp. 3,2: aliud me dicere non possum nisi quod sum, Christiana. McKechnie spricht dem kurzen Definitionsdialog einen platonischen Charakter zu: „the definition dialogue recalls in general terms the question in Plato’s dialogues of the relation between things and their names“. McKechnie (1994), S 283. 32 Pass. Perp. 3,3: tunc pater motus hoc verbo mittit se in me ut oculos mihi erueret. „Da stürzt sich Vater, von diesem Wort aufgebracht, auf mich, um mir die Augen auszukratzen.“ 33 Pass. Perp. 3,3: et profectus est victus cum argumentis diaboli. „und er zog sich zurück, geschlagen samt seinen Teufelsgründen.“ Zur Identifizierung des Vaters mit dem Teufel in den Predigten des Augustinus zur Passio Perpetuae vgl. Elm von der Osten D (2008) Perpetua Felicitas: Die Predigten des Augustinus zur Passio Perpetuae et Felicitatis (s. 280–282). In: Fuhrer Th (Hrsg) Die christlich-philosophischen Diskurse der Spätantike: Texte, Personen, Institutionen. Akten der Tagung vom 22.-25. Februar 2006 am Zentrum für Antike und Moderne der Albert-LudwigsUniversität Freiburg (Philosophie der Antike 28), Steiner, Stuttgart, 275–298.
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rende, Wortmächtige, in ihren Emotionen gefasste; ihr Vater der allein Reagierende, mit seinen Ansinnen scheiternde, endlich seiner ohnmächtigen Wut erliegende“, wie es Peter Habermehl formuliert.34 Sie ist weise, er unreif. Die zweite, am ausführlichsten geschilderte Begegnung zeigt deutlich, wie „unausweichlich und unversöhnlich zwei Wertwelten“ aufeinandertreffen.35 Vibius appelliert mit einem uralten, bereits homerischen Topos an ihr Mitleid, indem er auf seine weißen Haare verweist.36 Er appelliert an ihre pietas dem pater familias gegenüber, ihre Verantwortung als Mutter, und stellt ihr die drohende soziale Stigmatisierung ihrer Familie vor Augen (Pass. Perp. 5,2–4).37 In einer Unterwerfungsgeste (supplicatio) nennt er sie, ihr zu Füßen, zuletzt domina (Pass. Perp. 5,5).38 Sie entgegnet, sie stünde nicht in seiner Macht, potestas, sondern der Gottes (Pass. Perp. 5,6). Der alte Vater figuriert als Träger überkommenen auch praktischen Wissens, das unter den Bedingungen antiker sozial-ethischer Normen gültig ist. Er verkörpert eine Altersweisheit, die jedoch im Angesicht der christlichen Subversion gültiger gesellschaftlicher Normen keine auctoritas besitzt und scheitert. Während der Anhörung der Christen vor dem Prokurator unterstreicht dieser die Bedeutung des väterlichen Wissens und mahnt zum Respekt vor dem Alter – vergeblich.39 Perpetua, die aufgrund ihrer Visionen Trägerin göttlich inspirierten Wissens ist, werden in der Passio – gewissermaßen als Kompensation für die scheiternde Altersweisheit des eigenen Vaters – auch religiös positiv konnotierte alte Figuren zur Seite gestellt, denen Weisheit und Güte zugeschrieben wird.40 In ihrem ersten prophetischen Traum wird ihr ein Bild ihres jenseitigen Glücks offenbart, das von einem gütigen weißhaarigen Greis in Hirtengestalt dominiert wird: „Und ich sah die riesige Weite des Gartens und in der Mitte einen alten Mann mit weißen Haaren sitzen, in Hirtentracht, groß, Schafe melkend, und viele tausend weiß Gekleidete standen umher. Und er erhob das Haupt, schaute mich an und sagte zu mir: ‚Gut bist du angekommen, mein Kind.‘ “.41 In einer weiteren Vision wartet im Jenseits 34
Habermehl (2004), S 65. Habermehl (2004), S 72. 36 Pass. Perp. 5,2: Miserere, filia, canis meis. „Erbarme dich, Tochter, meines weißen Haares“. 37 Perpetua ist zudem das Lieblingskind des Vaters, Pass. Perp. 5,2. Vgl. zur väterlichen Liebe zur Tochter in der römischen Oberschicht Hallett J P (1984) Fathers and Daughters in Roman Society. Women and the elite family. Princeton University Press, Princeton. 38 Perkins (1995), S 107 spricht von einer „radically reversed hierarchy“. 39 Pass. Perp. 6,3: Parce, inquit, canis patris tui, parce infantiae pueri. fac sacrum pro salute imperatorum. „Schone das weiße Haar deines Vaters! Schone das zarte Alter deines Knaben! Bring das Opfer für das Heil der Kaiser dar.“ 40 Als unbewusste Suche nach einem Vaterersatz deutet den Traum u. a. Dronke P (1984) Women writers of the Middle Ages. A critical study of texts from Perpetua (C203) to Marguerite Porete (C1310). Cambridge UP, London, S 5f.; für eine in der Tradition ihres Lehrers C. G. Jung stehende psychologische Deutung der Visionen Perpetuas siehe von Franz M L (1982) Passio Perpetuae. Das Schicksal einer Frau zwischen zwei Gottesbildern. Daimon Verlag, Zürich. 41 Pass. Perp. 4,8f.: et vidi spatium immensum horti et in medio sedentem hominem canum in habitu pastoris, grandem, oves mulgentem. Et circumstantes candidati milia multa. et levavit caput et aspexit me et dixit mihi: Bene venisti, tegnon. 35
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ein weißhaariger Mann mit jugendlichem Gesicht, eine Christusfigur, der mit dieser topischen Beschreibung Weisheit zugesprochen wird: „Und wir sahen an eben diesem Ort einen Mann thronen, der einem Greis glich, mit schneeweißem Haar und jugendlichem Antlitz“.42 Dieser ist von vielen weiteren alten Männern (seniores) umringt (Pass. Perp. 12,4). Der von ihrem biologischen Alter her jugendlichen, aber in ihrem Verhalten gereift und weise dargestellten Perpetua werden so auch äußerlich greise Figuren zur Seite gestellt, die sie in ihrem Vorhaben unterstützen. Die Erneuerungstendenzen, die sie verkörpert, werden figurativ mit Bewahrendem ausbalanciert. Der performative Rahmen der Passio Perpetuae ist die liturgische Lesung in christlichen Gemeinden aus Anlass des Märtyrergedenkens; der Herausgebertext weist bereits darauf hin (Pass. Perp. 1,5).43 Die kontrastive Gegenüberstellung von altem und neuem Wissen, von Alter und Jugend in der Passio verfolgt in diesem Kontext zwei Ziele: Sie fordert zum einen zur Loslösung aus traditionellen Familien- und Gesellschaftszusammenhängen und Abkehr von konventionellem paganen Wissen auf, das durch die im Angesicht der reifen Tochter scheiternde Altersweisheit des antagonistischen Vaters figuriert wird.44 Gleichzeitig werden gütige, milde Greise gezeigt – die neuen jenseitigen Vaterfiguren, kompensatorische christliche Figurationen der Altersweisheit, die der weisen Jugend zur Seite gestellt werden. Wie die theologische Einleitung des Herausgebers zeigt, geht es nicht nur um einen Konflikt zwischen christlicher persona und anderen sozialen Rollen, sondern auch um die innerchristliche Anerkennung neuen, prophetischen Wissens. Zeitgenössische Visionen sollen auf eine Ebene mit den tradierten „alten“ Offenbarungen gestellt werden. Sie werden mit intertextuellen Verweisen an biblische Texte angebunden und ihre auctoritas wird so unterstrichen. Auf diese Art und Weise wird in der Passio Perpetuae et Felicitatis, die in einer Umbruchphase entstand, in doppelter Hinsicht jugendliches visionäres Wissen mit Altersweisheit verbunden.
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(Pass. Perp. 12,3): et vidimus in eodem loco sedentem quasi hominem canum, niveos habentem capillos et vultu iuvenili. Vgl. zur Figur des jungen Weisen, puer senex, im frühchristlichen Kontext Gnilka C (1972) Aetas spiritalis. Die Überwindung der natürlichen Altersstufen als Ideal frühchristlichen Lebens. Hanstein, Bonn. 43 Vgl. zum liturgischen Charakter der Passio Perpetuae u. a. Habermehl (2004) S 258f; Waldner K (2004) „Was wir also gehört und berührt haben, verkünden wir auch euch. . . “. Zur narrativen Technik der Körperdarstellung im ‚Martyrium Polycarpi‘ und der ‚Passio sanctarum Perpetuae et Felicitatis‘. In: Feichtinger B u. Seng H (Hrsg) Die Christen und der Körper. Aspekte der Körperlichkeit in der christlichen Literatur der Spätantike (Beiträge zur Altertumskunde 184). Saur, München, S 29–74, hier S 62f. 44 Den Konflikt zwischen christlicher persona und anderen sozialen, insb. familiären Rollen beschreiben für die Passio u. a. Shaw (1996); Irwin (1999), Bremmer (2002) S 86–95.
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3 Ludwig Tieck Der Alte vom Berge (1828) Wenn unter ‚Weisheit‘ die innerhalb einer Gemeinschaft akzeptierte Fähigkeit eines Menschen verstanden wird, über außergewöhnlich tiefe Einsichten in die Zusammenhänge der Welt und des menschlichen Lebens zu verfügen, so steht sie – unabhängig davon, ob die gewonnenen Einsichten wahr oder falsch sind – immer dann zur Disposition, wenn sich die Weisheit gegen das Überleben der Gemeinschaft selbst wendet. Da Weisheit die Akzeptanz der Gemeinschaft voraussetzt und durch diese begrenzt wird, verkörpert der ‚weise Alte‘ eine Form immanenter Transgression gesellschaftlicher Wirklichkeit. Das heißt, die Weisheit des Alters überschreitet zwar das Alltagswissen und die gültigen Verhaltensnormen der Gemeinschaft, bleibt letztlich aber immer auf sie bezogen. Am Beispiel von Ludwig Tiecks Novelle Der Alte vom Berge wird abschließend skizziert, wie in diesem Sinn zu Beginn des 19. Jahrhunderts Altersweisheit als höchst ambivalentes Konzept literarisch gestaltet wurde: So bot sie sich zwar als stabilisierendes Korrektiv zur gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierung an, erschien zugleich aber auch in ihrer Rückwärtsgewandtheit latent zukunfts- und lebensfeindlich. Der Alte vom Berg stammt aus der produktiven Dresdner Periode des ‚Großschriftstellers‘ Ludwig Tieck. Tieck, dessen frühromantischer Roman Franz Sternbalds Wanderungen (1797/98) zusammen mit den Verwirrkomödien Der gestiefelte Kater und Verkehrte Welt poetische Muster für die Epik und Dramatik geworden waren, widmete sich in Dresden zwischen 1819 und 1841 fast ausschließlich der Novellistik.45 Die Bewertung des umfangreichen novellistischen Werks ist indes ambivalent, da sich manche seiner Konversationsnovellen,46 ähnlich wie die Welt45
Vgl. Gebhard A (1997) Leben und Gesamtwerk des ‚Königs der Romantik‘ Marburg, 254–257. Gebhard reduziert den Text allerdings ganz auf die ökonomischen Probleme, wenn er den Alten vom Berge den so genannten ‚Bürgernovellen‘ zuordnet. 46 Der dramatische Modus, der in der Novelle überwiegt, mag Eduard von Bauernfeld auch dazu veranlasst haben, den Stoff mit leichten Änderungen als Einakter 1873 für die Bühne zu bearbeiten. Vgl. Bauernfeld E (1873) Der Alte vom Berge. L. Schellenberg’sche Hof-Buchdruckerei, Wiesbaden. Zur Ambivalenz der ‚Konversationsnovelle‘ in der Romantik und insbesondere zu Tiecks Beitrag zur Form vgl. Müller J (1976) Tiecks Novelle ‚Der Alte vom Berge‘. Ein Beitrag zum Problem der Gattung. In: Segebrecht W (Hrsg) Ludwig Tieck. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S 303–321, und im Zusammenhang mit dem Märchen Oesterle I (1995) Arabeske Umschrift, poetische Polemik und Mythos der Kunst. Spätromantisches Erzählen. In: Neumann G u. Bormann A v (Hrsg) Romantisches Erzählen (Stiftung für Romantikforschung 1). Königshausen und Neumann, Würzburg, S 167–194. Als Überwindung des romantischen Bergbaumotivs betrachtet die Novelle Gold H (1990) Erkenntnisse unter Tage. Bergbaumotive in der Literatur der Romantik (Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur). Westdeutscher Verlag, Opladen, S 153ff. Gold knüpft damit an frühere Arbeiten an, welche die späte Novelle als Auseinandersetzung mit der literarischen Romantik untersuchen. So etwa Gneuss Ch (1971) Der späte Tieck als Zeitkritiker. In: Literatur in der Gesellschaft (Bd. 4). Düsseldorf 1971, S 47–49, und auf das Verhältnis zum Wunderbaren bezogen Wesollek P (1984) Ludwig Tieck oder der Weltumsegler seines Innern. Anmerkungen zur Thematik des Wunderbaren in Tiecks Erzählwerk. Steiner, Wiesbaden, S 166ff.
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anschauungsromane des 20. Jahrhunderts, darin erschöpfen, Figuren vor einem dürren Handlungsgerüst auf philosophische und ästhetische Positionen zu reduzieren. In den besseren Novellen sind diese Positionen durch die Erfahrungswelt der Figuren motiviert und ihr Handeln daran orientiert. So auch in der 1828 veröffentlichten Novelle Der Alte vom Berge, die zwar ein philosophisches Problem erörtert, dieses aber, wie ich darlegen möchte, in ein Spannungsverhältnis von drei Generationen stellt: den Alten, zu denen die Titelfigur, der alte Balthasar, sein Verwalter Eliesar und eine Reihe weiterer alter Bergleute gehören, die mittlere Generation, zu welcher Eduard, der Vertraute Balthasars sowie die frühere Geliebte Balthasars, Elisabeth, gerechnet werden kann und schließlich die Generation der Jungen, die von Balthasars Adoptivtochter Röschen, die sich als dessen leibliche Tochter entpuppt, und dem jungen Wilhelm, Sohn der Elisabeth, repräsentiert wird. Tiecks Novelle ist ein Beispiel dafür, dass das hohe Alter in der Literatur in der Regel als soziale Figuration dargestellt wird, deren Bedeutung sich erst im Generationenkontext erschließt. Im Zentrum des Generationentextes steht Balthasar, der Alte vom Berge, zu dem sich alle anderen verhalten. Dem hohen Alter kommt daher nicht nur die vergleichsweise marginale Funktion zu, ein Abbild der Gesellschaft zu vervollständigen, wie es oftmals die Aufgabe alter Nebenfiguren im Bildungsroman ist, sondern Tiecks Text handelt von der Bedeutung, mehr noch von der kritischen Deutungshoheit des hohen Alters innerhalb einer Gemeinschaft. Balthasar, der ein Bergwerk betreibt, durchlitt in jungen Jahren eine unglückliche Liebe und vermied seit her jede emotionale Bindung. Durch einen Losgewinn gelangte er unverhofft zu sehr viel Geld, das er zwar in den Bergbau investiert, statt es aber zu mehren, verwendet er den Ertrag zum Wohle der Armen in seiner Umgebung. Die beiden Handlungsstränge aus der Vorgeschichte verknüpfen Liebe und Geld auf das engste. Nicht jedoch in der Umkehrung der sprichwörtlichen Dialektik vom Pech im Spiel und dem Glück in der Liebe, vielmehr sind Liebe und Geld in den Augen Balthasars die zwei Seiten des gleichen Prinzips, das als Vorstellung den Willen zum Leben verschleierte. Seine kritischen Einsichten in die Mechanismen des Kapitalismus47 gründen ebenso auf einer Weltanschauung, die auffallend an Schopenhauers pessimistische Philosophie erinnert, wie seine Auslassungen zur Liebe und zum Glück, die zusammengenommen als eine bemerkenswert frühe Rezeption des Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung und daraus vor allem der Metaphysik der Geschlechtsliebe gelesen werden können.48 So wie immer „neue Gewinne und Capitalien“ Balthasar aus seinem Lotteriegewinn zuströmten und ihn 47
In der Forschung wurde die Novelle wegen der geldkritischen Äußerungen Balthasars meist ausschließlich als kapitalismuskritische Antwort auf die Frühindustrialisierung mit ihrer Gefährdung gewachsener Sozialverbände gedeutet. So etwa auch bei Müller J (1976) S 319, daran anknüpfend vgl. auch Pöschel B (1994). Im Mittelpunkt der wunderbarsten Ereignisse. Versuche über die literarische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Moderne im erzählerischen Spätwerk Ludwig Tiecks. Aisthesis, Bielefeld, S 159–165, und Schwarz M (2002). Die bürgerliche Familie im Spätwerk Ludwig Tiecks. ,Familie‘ als Medium der Zeitkritik. Königshausen und Neumann, Würzburg, S 213–215. 48 Es darf angenommen werden, dass Tieck mit der Philosophie des sehr viel jüngeren Schopenhauer vertraut war, lernten sich beide doch 1824/25 in Dresden kurz nach Fertigstellung des
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„zwangen, neue Entreprisen zu machen, und wie das immer so fort, und ins Große gegangen ist“49 , so erzwingt auch die Liebe nur den Fortgang des Leidens, welches das Leben ausmacht. In einem der drei langen Gespräche, in denen Balthasar sich Eduard anvertraut, resümiert er: Alles lebt, bewegt sich, um zu sterben und zu verwesen; alles fühlt nur, um Schmerzen zu finden. Die innere Qual treibt uns zur sogenannten Freude, und alles, was Frühling, Hoffnung, Liebe und Lust den Menschen vorlügt, ist nur der umgekehrte Stachel der Pein. Leben ist Schmerz, Hoffnung, Wehmuth, Nachdenken und Besinnen Verzweiflung. (AvB 172)
Balthasar hat aus seiner Umgebung daher Musik und Tanz verbannt. Jede Form der Lebensfreude und emotionalen Bindung, vor allem aber das Liebeswerben seines Vertrauten Eduard um die Adoptivtochter Röschen versucht er zu vereiteln, da es nur Ausdruck des Trugs ist, mit dem der ,Wille zum Leben‘ die Liebe eingekleidet habe. Als Eduard, „der sich schon dem reiferen Mannesalter näherte“ (AvB 148), eines Tages allen Mut zusammen nimmt und bei Balthasar um die Hand der Adoptivtochter anhält, verweigert sich der Alte, ganz im Sinn Schopenhauers, mit dem Argument, dass die Liebe lediglich Illusion, nichts als ein „äffisches Spielwerk der Phantasie“ (AvB 212) sei und einzig im Dienst des Geschlechtstriebs stehe: Sie lieben? Ist es nicht so? Ich muß dies unglückliche, unheilbringende Wort wieder hören? Ich muß auch an Ihnen, dem verständigen Menschen, diesen Wahnsinn, diese dunkle, trübselige Erbärmlichkeit erleben? Und alles, alles, was man achten, für vernünftig halten möchte, geht in diesem Strudel unter, der mit Gräuel, Tollheit, wildem Gefühl, thierischer Begier und Abgeschmacktheit zusammenfluthet! Diese Heirath aber, Eduard, kann niemals, niemals werden! (AvB 207)
Stattdessen will er Röschen mit dem alten, körperlich missgestalteten und kranken Eliesar vermählen, den er hasst und der ihm in seiner Phantasie „ekelhaft“ ist (AvB 209). Nur so glaubt er den Wahn der Liebe, dem er einst selbst erlegen ist, durchbrechen zu können: Und der Grundstamm dieser Liebe, was ist er? Aberwitz, Thierheit, die sich mit den scheinbar zarten Gefühlen verschwistert, die mit Blüthen prangt, in diese Blumen hineinwächst, um auch sie zu zerblättern, das, was sie himmlisch nannte, in den Koth zu treten, das, und (noch schlimmer, als das unschuldige Thier, das von der Natur gegen seinen Willen gestachelt wird) alles zu verletzen, was ihr erst für heilig galt. [. . . ] Aus diesem Brande erwachsen dann fort und fort jene Unheils-Funken, die wieder Kinder werden, wieder zu Elend, wenn nicht zur Bosheit in ihrem Bewußtsein erwachen. Und so immer immerdar in eine unabsehbare Ewigkeit hinein! (AvB 210–211)
Balthasar lebt die „Verneinung des Willens zum Leben“ vor, wie sie Schopenhauer im vierten Buch seines Hauptwerks beschreibt: Er übt nicht nur caritas, indem er das Leiden der anderen auf sich nimmt, sie ist vielmehr Teil der Askese, mit der Hauptwerks kennen. Diskussionen zwischen Tieck und Schopenhauer während ausgedehnter gemeinsamer Spaziergänge sind belegt. Vgl. Gebhard A (1997) S 329. 49 Tieck L (1853) Schriften. Bd. 24: Gesammelte Novellen. Berlin, S 175 [Reprint 1966]. Textstellen aus der Novelle Der Alte vom Berge werden im Folgenden nach dieser Ausgabe im Text mit der Sigle AvB und der Seitenangabe in Klammern zitiert.
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er sich das Glück seiner Tochter versagt, um wie es Schopenhauer erklärt, „sein eigenes Loos mit dem der Menschheit überhaupt [zu identificieren]: dieses nun aber ist ein hartes Loos, das des Mühens, Leidens und Sterbens“.50 Erst diese Haltung lässt den Alten vom Berge als weise erscheinen, sie begründet seine Wohltätigkeit ebenso wie seine Kapitalismuskritik. Es ist bezeichnend, dass ‚Weisheit‘ auf der Figurenebene nur von jenen beansprucht wird, denen sie von der Gemeinschaft abgesprochen wird.51 Dagegen wird Balthasar nicht explizit als weise bezeichnet, die Antonomasie „der Alte vom Berge“ spielt jedoch auf den legendären Assassinenführer Raschid ad-Din Sinan an, der seinen Kämpfern einen Blick in das Paradies ermöglichte, um sie für den Märtyrertod zu gewinnen. Es ist die Einsicht, in eine Sphäre außerhalb des Lebenszusammenhangs, welche den schiitischen Sektenführer mit Balthasar verbindet. Wie dieser verfügt Balthasar über eine andere Wahrheit, der das Leben untergeordnet wird. Gegenüber Eduard gesteht Balthasar ein: Als wenn ich nicht [. . . ] gefühlt, geweint und gelacht hätte, wie die übrigen Menschen. Der Unterschied ist nur, dass ich mir die Wahrheit früh gestanden habe, und dass ich die Verächtlichkeit meiner selbst, aller Menschen, der Welt und des Daseins einsah und fühlte.“ (AvB 209)
Demgegenüber erwidert Eduard im Gespräch mit Balthasar, dass der Mensch nicht mehr wissen könne, als ihm sein Dasein in der Welt zu erkennen ermögliche: [. . . ] was bleibt uns übrig, als mit einem gewissen Leichtsinn, der vielleicht auch zu den edelsten Kräften unserer Natur gehört, mit Heiterkeit, Scherz und Demuth dem Dasein und der Liebe jener unendlichen, unerschöpflichen Liebe zu vertrauen, jener höchsten Weisheit, die alle Gestalten annimmt, und auch das, was uns thöricht scheint, auf ihren Webstuhl einschlagen kann? (AvB 209)
Altersweisheit steht hier gegen Lebensweisheit. Tieck entscheidet jedoch nicht, welcher Weisheit auch Wahrheit zukommt. Die Novelle endet mit einem Komödienschluss: der Alte vom Berge stirbt, wie auch alle anderen alten Figuren, die Identität Röschens als leibliche Tochter wird aufgeklärt, das Erbe zwischen ihr und Wilhelm geteilt. „Eduard blieb der Führer der wichtigsten Geschäfte, und eine frohe, glückliche Familie bewohnte und belebte das alte Haus, das den finsteren Charakter verlor, und oft Musik, Gesang und Tanz zur Freude aller Bewohner des Städtchens laut ertönen ließ“ (AvB 262). Im Lichte der drei Gespräche, die Eduard mit Balthasar geführt hat, erscheint das glückliche Ende allerdings ambivalent: Es kann sowohl für die Überwindung des Pessimismus stehen als auch den Triumph des Willens zum Leben anzeigen. Beide Deutungen zeigen jedoch die Grenzen der Altersweisheit auf, die nur so lange akzeptiert wird und Wirkung entfalten kann, wie sie den Fortschritt des Lebens ausbalanciert, nicht jedoch verneint. Das weise Alter gründet so zwar auf einer exzentrischen Position, akzeptiert wird es jedoch nur, wenn es in der Mitte des Lebens steht und innerhalb einer Gemeinschaft als gelebtes Alter wahrgenommen wird. 50 Schopenhauer A (1988) Die Welt als Wille und Vorstellung. Hrsg von Lutker Lüdtkehaus. Bd. 2, Haffmann, Zürich, S 705. 51 So preist etwa Eliesar seine „Weisheit“, mit welcher er der Erde das Gold abringt und der mit ihm verbündete fremde Betrüger gibt sich als weise aus. Vgl. AvB S 201 und 218.
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Teil III
Festvortrag (Dichterlesung)
Einführung zum Beitrag von Ulla Hahn Helmuth Kiesel
Etwas über dreißig Jahre ist es her, dass der Name Ulla Hahn wie ein funkelnder Stern am trübe gewordenen poetischen Himmel aufstieg. Es war die Zeit der sogenannten Alltagslyrik, die unser alltägliches Leben zum Gegenstand hatte und in einer oft bewundernswert sensiblen, deskriptiv genauen Sprache beschrieb, dafür die Form der freien Verse mit prosa-nahem Duktus bevorzugte und solchermaßen meist etwas unpoetisch blieb, defizitär, wenn man an die mit zauberhaften Reimen und Metren arbeitenden Versifizierungskünste eines Goethe, eines Bürger, eines Brentano, eines Heine, eines Rilke, eines Benn, ja noch eines Rühmkorf denkt. Diesen Zustand der Poesie-Verachtung durch die Poeten selbst hat Ulla Hahn durch Gedichte beendet, in denen sie die alten Mittel der Poesie im eigentlichen Sinn – Metrum, betonten Rhythmus, austarierte Klanglichkeit, sogar den Reim – auf eine moderne, frische, manchmal geradezu freche Weise einsetzte. Man halte sich nur das Gedicht Ars poetica vor Augen, das im ersten, 1981 erschienenen Gedichtband Herz über Kopf enthalten ist und das mit seinem Titel an die poetologische Basis der abendländischen Dichtkunst, an Horazens Ars poetica, erinnert: Ars poetica Danke ich brauch keine neuen Formen ich stehe auf festen Versesfüßen und alten Normen Reimen zu Hauf zu Papier und zu euren Ohren bring ich was klingen soll klingt mir das Lied aus den Poren rinnen die Zeilen voll und über und drüber und drunter und drauf und dran und wohlan und das hat mit ihrem Singen die Loreley getan.
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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H. Kiesel
Zurecht hat mein Marburger Kollege Thomas Anz gesagt, dieses Gedicht stelle eine „postmoderne Poetik“ dar, weil es die traditionellen Techniken der lyrischen Poesie teils herausstelle, teils verleugne – man betrachte nur die Positionierung der Reimwörter in den ersten beiden Strophen (Formen/Normen, auf/Hauf) – und jedenfalls spielerisch, ironisch und souverän nutze. Brentano und Heine an die mit dem Verweis auf die Loreley erinnert wird, beide: Brentano, der Meister der hochartistischen Lyrik, und Heine, der Meister der lässigen Verskunst, hätten gewiss ihre helle Freude an dieser neckischen neuen Ars poetica gehabt. Es folgte fast ein Dutzend Gedichtbände von bleibender Virtuosität und immer größer werdender thematischer Breite und Vielfalt: Liebe, Wünsche, Natur, Gartenkunst, aber auch Zeitgeschichte, Probleme des modernen Lebens. Wenn man diese Gedichtbände durchgeht, sieht man, neben vielem Subjektivem, neben dem individuellen Reichtum an Lebens- und Welterfahrung auch viel ZeitgenössischAllgemeines: Reflexionen auf die Zeiterfahrungen unserer Generation in den letzten Jahrzehnten. Ulla Hahns Gedicht- Werk ist ein lyrischer Kommentar, zwar nicht zu einzelnen Erscheinungen oder Ereignissen des politischen und gesellschaftlichen Lebens, wohl aber zu den wechselnden Bewusstseins- und Empfindungslagen, vielleicht sollte ich besser sagen: eine Summe. Hinzu kamen zwei Romane: Zunächst Ein Mann im Haus (1991), eine feministische Rachephantasie für die erotische Misshandlung einer Freundin –: ein Roman, der nach Inhalt und Erzählkunst eine Sensation hätte werden müssen, aber Kritik und Publikum waren zu feige, sich den Ansprüchen diese Werks zu stellen. Dann Unscharfe Bilder (2003), die Konfrontation eines betagten ehemaligen Gymnasiallehrers mit den Bildern der Ausstellung über die Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht im Osten, Verbrechen, an denen er selbst beteiligt war. Dazwischen aber, 2001, der erste von zwei voluminösen autobiographischen Romanen (Das verborgene Wort, 2002, und Aufbruch, 2009), in denen Ulla Hahn unter dem Namen Hilde Palm ihren Lebensweg aus einem engen, bildungsfernen proletarischen Milieu in die Sphäre der Bildung, der Kunst, der Literatur, schließlich zum eigenen Dichten beschreibt: unerhört genau, detailreich, und zugleich typologisierend so verdichtet, dass man diese beiden Bände wie eine erzählerische, epische Sozialgeschichte der Bundesrepublik lesen kann. Wobei mit ‚episch‘ im Sinne der Hegelschen Vorlesungen über die Ästhetik gemeint ist, dass es sich um ein Werk handelt, das die „Totalität“ einer Zeit – in Hegels Worten: „einerseits das religiöse Bewußtsein von allen Tiefen des Menschengeistes, andererseits das konkrete Dasein, das politische und häusliche Leben, bis zu den Weisen, Bedürfnissen und Befriedigungsmitteln der äußerlichen Existenz hinunter“ – im „engen Verwachsensein mit Individuen“ zur Anschauung bringt. Das Thema Alter ist in diesem Werk natürlich vielfach zu finden: in einzelnen Gedichten, in wichtigen Figuren des autobiographischen Werks. Es grundiert wohl auch eine ganze Schaffensperiode: Dem Gedichtband So offen die Welt (2004) sind jene berühmten Sätze vorangestellt, mit denen Hofmannsthals Marschallin im Rosenkavalier das unmerkliche Vergehen der Zeit und das plötzliche Gewahrwerden des Alterns beschreibt:
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Die Zeit ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel, da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder.
Das Thema Altern und Alter ist also vielfach vorhanden in Ulla Hahns Werk, aber nicht vordringlich, schon gar nicht aufdringlich, nicht als Modethema. Es war deswegen ein überraschender, fast möchte ich sagen: mutiger Entschluss der Tagungsleitung, für diese literarische Komponente der Tagung Ulla Hahn einzuladen. Wir aber freuen uns darüber und sind gespannt auf das, was wir nun gleich zu hören bekommen.
Erinnern statt Sehnen Ulla Hahn
Dieser Titel meines Vortrags ist eine Zeile aus einem Gedicht in Epikurs Garten. Der Band ist 1995 erschienen und für mich von besonderer Bedeutung. Weil ich ihn Heidelberg verdanke. Anfang der neunziger Jahre hatte ich – wohl zum ersten Mal in meinem Leben – das Gefühl angekommen zu sein, ein zu Hause zu haben. Im übertragenen und wörtlichen Sinne einen ‚Mann im Haus‘. Der eine oder die andere mag sich erinnern: ich hatte zu meinem Roman „Ein Mann im Haus“ hier in Heidelberg eine Veranstaltung, gemeinsam mit Marcel Reich-Ranicki und Professor Kiesel. Tatsächlich ein Haus und tatsächlich einen Garten. Einen Garten, der mich – auch das wieder im übertragenen wie im wörtlichen Sinne – gefangen nahm. Ich schrieb nicht mehr. Ich lebte mein Erlesenes und Erschriebenes. So siedelte ich mit Vorliebe solche Pflanzen an, von denen ich gelesen hatte. Etwa die Reseden der Frau Slomka aus Joseph Roths „Radetzkymarsch“, die Immortellen aus dem Strauß Lenes in Theodor Fontanes „Irrungen Wirrungen“, den Diptam Goethes, den Ysop Epikurs, den Phlox von Gottfried Benn. In dieser Versunkenheit erreichte mich ein Anruf von Professor Kiesel aus Heidelberg. Die Einladung zur Poetik Dozentur. Auch dieser Anruf ist wieder wörtlich wie metaphorisch zu verstehen. Ein Anruf, ein Aufruf: Raus aus dem Garten zurück an den Schreibtisch Oder. Garten und Schreibtisch im Wechsel. Das Ergebnis war: Epikurs Garten. Wobei ich – nebenbei gesagt – eine verblüffende Erfahrung machte: Nachdem ich meinen Garten mit seinen Pflanzen, ihrer Geschichte, der typischen Gärtnerarbeit etc. zur Sprache gebracht hatte d. h. zu Wörtern gemacht hatte, hatte ich den Garten regelrecht abgeschrieben. Sich etwas von der Seele schreiben. Im Bösen –aber auch im Guten. Also: Vorsicht vor glücklichen Gedichten, wenn etwas Dauer haben soll im Leben und nicht in der Kunst! In Epikurs Garten also findet sich das Gedicht mit der Zeile: Erinnern statt Sehnen.
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Es heißt: Älterwerden Zögern mitten im Satz Nachfragen wenn man glaubt es verstanden zu haben Es nicht mehr eilig haben mit dem Wissenwollen Einen Stein ein Glas eine Hand länger festhalten als nötig Den Ärmel des Gegenüber beim Reden berühren zu spüren man ist noch da Ein Buch einen Blick eine Haut verlieren und nicht mehr finden wollen Erinnern statt Sehnen Den Gedanken: Das alles ist nach mir noch da trainieren wie einen Muskel Gefühl als wäre jemand im Zimmer
Erinnern statt Sehnen. Eine Zeile, die ich vor mehr als 15 Jahren geschrieben habe. Epikurs Garten war mein fünfter Gedichtband (Rechnet man die Liebesgedichte, eine Sammlung von alten und neuen Gedichten nicht mit dazu) Mein erster Gedichtband Herz über Kopf war 1981 erschienen. Ich war damals Mitte dreißig, für den sogenannten Literaturbetrieb, in dem man heute wohl am besten als Minderjährige startet, schon eine alte Tante. Ich arbeitete seinerzeit bei Radio Bremen und erinnere mich, dass unser Abteilungsleiter mich kopfschüttelnd fragte, woher ich denn die Erfahrung nehme für so ein Gedicht. Dafür sei ich ‚Noch‘ viel zu jung. Noch Noch zwei Arme zwei Brüste im Mund noch fast alle Zähne die grauen Haare reiß ich noch einzeln vom Kopf noch zähl ich den Monat nach Tagen meine Blicke können noch töten noch geht ein Lindenduft mir in den Sinn jedes Hochziehn der Mundwinkel noch immer teuer bezahlt.
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Ich verstand ihn nicht. Dieser melancholische Ton entsprach damals meiner Gemütslage. Dem war doch nichts mehr hinzuzufügen. Wirklich nicht? Die Einladung zum heutigen Vortrag erfolgte wiederum zu einem denkwürdigen Zeitpunkt. Im letzten Jahr bekamen meine ersten Gedichte Herz über Kopf, nun in der 17. Auflage, einen neuen Einband. Das Buch erschien mir überraschend frisch, beinah unvertraut. Ich las die vor mehr als 30 Jahren geschriebenen Gedichte, die ich lange nicht mehr angeschaut hatte, nun mit dreißig Jahren älteren Augen, las meine frühen Gedichte wie die einer jüngeren Schwester, einer Person, die ich einmal gewesen war – und doch noch bin. Ich begriff, was ich wie jeder Mensch natürlich auch schon vorher gewusst hatte: Ich bin meine Vergangenheit. Ich bin meine Geschichte. Aber was ich weiß, habe ich noch lange nicht begriffen. Mir noch lange nicht angeeignet, zu Eigen gemacht. Genau das geschah beim neuerlichen Lesen meiner ersten Gedichte. Diese Gedichte, von meinem jüngeren Selbst geschrieben, waren mir fremd und vertraut zugleich. Das war ja Ich, die da aus ihren „großen Schmerzen“ all die „kleinen Lieder“ (Heinrich Heine) gemacht hatte! Verblüfft, wehmütig, ein bisschen neidisch, las ich diese Gedichte. Begegnete einem Lebensgefühl der „Morgenröthe“, das für mich vergangen war, jedoch in den Gedichten wahr und gegenwärtig bleibt, aufgehoben in poetischer Zeitlosigkeit, in Trost und Triumph der Form über die Vergänglichkeit. Das sterbliche Herz schlägt im Wortherzen weiter. Dabei hat der Leser teil an der Überwindung des Biografischen; er darf das Gedicht als Ergebnis ästhetischer Transformation erleben – und genießen. Doch auch ein Gefühl der Erleichterung, der Entlastung stellte sich ein. Wie hatte mein biografisches Ich gekämpft und gelitten, bis es im Lyrischen Ich, der geformten Sprache aufgehen konnte. Ich war davon gekommen. Aber: Wohin? Die ersten „Wi(e)derworte“ – das ist der Titel des neuen Gedichtbandes – schrieb ich spontan, wie auf Zuruf. Damit stieg die Lust, mit meinen jungen Ich ins poetische Gespräch zu kommen. Ich las meine Gedichtbände der achtziger Jahre noch einmal, verglich sie mit neueren und neuen Gedichten. Unübersehbar, wie ich Themen und Motiven die Treue hielt, mein poetisches Schreiben eine ununterbrochene Selbsterforschung darstellt. Was fraglos die Reflektion dieses Selbst über seine Mitmenschen und seine Umwelt einschließt. Die Themen – Liebe, Natur Vergänglichkeit, die ewigen Themen der Dichtung – blieben die gleichen – aber die Verfasserin hatte sich doch geändert! Und somit auch die Behandlung dieser Themen. Was keine Wertung bedeutet. Wort und Ant-Wort bestehen jeweils für sich und bilden zugleich einen Spannungsbogen. Unterschiedliche Perspektiven treffen aufeinander, reiben, ergänzen sich, drängen in unterschiedliche Formen. Hören Sie noch einmal das „Noch“ aus Herz über Kopf, wohl mein erstes Gedicht, das sich mit dem Thema des Älterwerdens beschäftigt. Noch Noch zwei Arme zwei Brüste im Mund noch fast alle Zähne die grauen Haare
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reiß ich noch einzeln vom Kopf noch zähl ich den Monat nach Tagen meine Blicke können noch töten noch geht ein Lindenduft mir in den Sinn jedes Hochziehn der Mundwinkel noch immer teuer bezahlt.
Und so antwortet heute die ältere Schwester in dem Band Wi(e)derworte, dem ich zwei Mottos vorangestellt habe. Das erste ist von den Beatles: Will you still need me / will you still feed me / when I’m sixty four? Das zweite von Novalis: Es ist um mich schon Abend geworden, während ich noch in die Morgenröthe hineinsah. Zu dem Noch von 1980 hier also die Antwort. Widerruf Noch zwei Arme zwei Brüste im Mund noch fast alle Zähne die grauen Haare – oje Schwamm drüber und extra starke Deckkraft Multicolor. Aus gezählt hat es sich längst verklärt mir die Abendsonne den Blick in die Linden aber durchgrünen durchduften mir die Sinne noch immer nicht ein Hochziehn der Mundwinkel jemals zu teuer bezahlt.
Kommen wir zurück auf das Motto, das ich meinem Vortrag gegeben habe: Erinnern statt Sehnen. Gibt es nicht auch dazu ein Wi(e)derwort? Ich denke, alle meine Texte, die ich für Sie ausgewählt habe, diese Haltung beredt widerlegen. Nicht gerade um das Verhältnis von Erinnern und Sehnen umzukehren, aber doch um einen altersangemessenen Kompromiss zu finden, ein Bündnis zwischen den beiden Polen mit Hilfe des Zauberworts „und“. Erinnern u n d Sehnen: Darauf ist mein Schreiben, sind meine Texte aus, nicht nur die, welche ich für Sie ausgewählte habe. In meiner Poetik-Vorlesung formulierte ich 1994 – ich war damals Ende vierzig – „Ich möchte mit achtzig noch Liebesgedichte schreiben können, aber um Himmelswillen nicht solche wie mit vierzig.“ Nun, heute stehe ich etwa zwischen der Vierzig- und der Achtzigjährigen und Liebesgedichte schreibe ich immer noch. Eines meiner ersten Liebesgedichte war „Anständiges Sonett“ Anständiges Sonett Schreib doch mal ein anständiges Sonett St. H.
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Komm beiß dich fest ich halte nichts vom Nippen. Dreimal am Anfang küss mich wo’s gut tut. Miss mich von Mund zu Mund. Mal angesichts der Augen mir Ringe um und lass mich springen unter der Hand in deine. Zeig mir wie’s drunter geht und drüber. Ich schreie ich bin stumm. Bleib bei mir. Warte. Ich komm wieder zu mir zu dir dann auch „ganz wie ein Kehrreim schöner alter Lieder“. Verreib die Sonnenkringel auf dem Bauch mir ein und allemal. Die Lider halt mir offen. Die Lippen auch.
Und was wird daraus nach über dreißig Jahren? Ein ständiges Sonett Du hast dich festgebissen Mann und wie ich dir so du auch mir hast dus gegeben (seliger als nehmen?) und gibst es noch und ich nehm dich beim Wort und sonstwo – Wo? – Das bleibt allein nur unter mir und meinem Liebsten und auch drüber geht es so an und ständig und jahr (r)aus und (r)ein hältst du mich hopp und ich halt nichts vom Nippen vom Wippen hin und gegen viel so wie von allen Seiten genießen wirs und dann danach die stolzen Müdigkeiten
Wenn Sie jetzt beim Zuhören den Eindruck haben, als hätte die jüngere der älteren Schwester den einen oder anderen Rippenstoß versetzt und die beiden hätten sich ganz ungeniert eins gekichert: der Eindruck stimmt. Auch beim Schreiben ist es mir so ergangen. Es hat oft einfach Spaß gemacht, es der „Kleinen“ mal zu zeigen. Für dieses übermütige Gespräch unter vier Augen noch ein Beispiel. Zunächst das Gedicht aus Herz über Kopf Bildlich gesprochen Wär ich ein Baum ich wüchse dir in die hohle Hand und wärst du das Meer ich baute
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dir weiße Burgen aus Sand. Wärst du eine Blume ich grübe dich mit allen Wurzeln aus wär ich ein Feuer ich legte in sanfte Asche dein Haus. Wär ich eine Nixe ich saugte dich auf den Grund hinab und wärst du ein Stern ich knallte dich vom Himmel ab.
Ich habe während ich an meinen Antworten arbeitete Liebesgedichte von John Donne, des großen Zeitgenossen Shakespeares herausgegeben. Ein wirklich frecher Kerl mit einer Metaphorik, nicht selten erst ab achtzehn zuträglich. Ihm habe ich die folgende Antwort gewidmet Wörtlich genommen für John Donne Ein und Alles Ich herze dich ich lunge dich ich haute haare pore dich Du baust auf mich du dachst mich spitz pallastest mich oasest mich Du meersternst mich du landest mich Ich berg dich tal dich gipfel dich Du freudest mich Ich freude dich Du sehnsuchst mich Ich sternschnupp dich Du brüstest hüftest schamhaarst mich Ich zunge zaum ich kehlkopf dich Ich hauch brauch fauch du füllhornst mich Wir atmen amseln amen.
Doch natürlich fallen die Wi(e)derworte nicht immer so heiter und lässig aus.
Erinnern statt Sehnen Wenn Dann (aus Herz über Kopf, 35) Wenn wir uns wieder in den Haaren liegen und du mich nochmal Sterne sehen lässt dann geb ich dir von Mal zu Mal den Rest wenn wir uns wieder in den Haaren liegen. Wenn du mich nochmal Sterne sehen lässt bis du wo dir der Kopf steht nicht mehr weißt bring ich dich wieder in das rechte Gleis wenn du mich nochmal Sterne sehen lässt. Wenn du wo dir der Kopf steht nicht mehr weißt du aus der Haut fährst und hinein in meine dann halt mich kurz doch lang an deines Leibes Leine wenn du wo dir der Kopf steht nicht mehr weißt.
*** Liebe Wenn ein Mann seine Frau nicht mehr lieben kann mit der erigierten Autorität vergangener Jahre muss er seinen Kopf beugen und ihre Brüste saugen mit der Zärtlichkeit und Präzision eines Petrarca Und wenn die Frau ihre Brüste verloren hat an den Chirurgen und sein silbernes Messer muss sie ihr Bein um den Rücken des Mannes wuchten wie ein Rodeo Reiter Es ist der Teil der Reise wo die Treppe schmal wird und du dich seitwärts drehen musst um durchzukommen Über der Erde die Wolken rollen und ändern sich die Bäume halten die Luft an für einen nächsten Versuch Wind streicht durch das dürre Gras und macht ein Geräusch wie beim Dreschen Der Mann schiebt sich unter das Laken die Frau lässt ihn Beide widerstehen von Scham gestoppt zu werden Unter einem gemeinsamen Laken Mann und Frau die alles tun einander zu überzeugen
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Ich glaube, meine Damen und Herren, ich hätte ein solches Gedicht nicht schreiben können ohne mir Mut von John Donne zu holen und – mich zuvor der Prosa zugewandt zu haben. Wie das? Sieht man von dem Roman Ein Mann im Haus ab, eigentlich eine Moritat in Prosa, so hat sich mir seit dem Verborgenen Wort der Blick auf die Wirklichkeit geweitet. Mitte der neunziger Jahre starb eine Freundin von mir, noch keine 35, an Krebs. Es war ein Schock. Und ein Anruf wie ein Befehl: Und du? Was hast du mit deinem Leben gemacht? So begann ich Das verborgene Wort: Aus einem sicheren zeitlichen und räumlichen Abstand zu meiner Vergangenheit, zur kleinen Schwester. Ich beschwor Vergangenheit herauf, schrieb sie auf und schrieb sie gleichzeitig ab. Auch die Arbeit des Erinnerns geschieht nicht ohne Sehnsucht. Oft möchte man sich die „gute alte Zeit“ wieder heraufbeschwören, verklären. Meine Sehnsucht hatte eine andere Richtung: sie wollte Klarheit, Verstehen. Was etwas anderes meint, als Abrechnung. Obwohl mein alter Ego Hilla Palm im Mittelpunkt steht, geraten andere Personen, gerät Welt ins Spiel. Vertieft wird dieser Zugriff auf die Wirklichkeit, wird ein Zuwachs an Welthaltigkeit deutlich in dem Roman Unscharfe Bilder und in dem Erzählband Liebesarten. Beide Bücher sind entstanden aus dem Bedürfnis, die relativ beschränkte Weltsicht eines Kindes, so im Verborgenen Wort zu verlassen, zu weiten. Im Verborgenen Wort wird ausschließlich aus der Perspektive eines Kindes und einer Jugendlichen erzählt; das Alter spielt für Hilla noch keine Rolle. Die Erwachsenen, auch Großvater und Großmutter, sind eine Spezies für sich, etwas Naturgegebenes. Für den darauffolgenden Roman Unscharfe Bilder, habe ich bewusst ein Milieu gewählt, das dem des Verborgenen Worts entgegengesetzt ist: Eine erwachsene Tochter, Studienrätin, zwingt ihren alten Vater zur Auseinandersetzung mit seiner Rolle als Soldat an der Ostfront. Erinnerung und Verdrängung – Verdrängung als das Gegenteil von Sehnsucht nach Klarheit und Verstehen – steht in diesem Roman, in einem Seniorenheim angesiedelt, im Zentrum. Ich möchte den Beginn des Romans lesen: Seine Möbel hatte er, soweit sie Platz fanden, mitnehmen können, selbst einen großen Teil der Bibliothek, den Rest wusste er bei der Tochter gut untergebracht. Ehemalige Schüler, wenn sie ihn aus Anhänglichkeit besuchten, ließ er freigiebig aus den Regalen wählen, und unterstrich dann gelegentlich einen Satz, der sie ein Leben lang begleiten sollte. Die breiten Borde bogen sich noch immer, und die Stützen einer Leiter hatten das rötlich braune Parkett schon verschrammt. Oben standen die kostbaren Bände, auch in lateinischer und griechischer Sprache, alte Drucke, die Hans Musbach mit einem Vergrößerungsglas zu lesen pflegte. Seine Festung. Er fand sich gut zurecht in dem großzügigen Haus am Hafen. Seine Pension reichte für ein Appartement auf der richtigen Seite, dort, wo man die Sonne im Elbstrom untergehen sah, dort, wo der Blick auf die Wellen ging, als versichere ihr gleichmäßiger Schlag, dass alles noch lange – immer und immer – so weitergehen könne. Die weniger Betuchten des Seniorenheims, Residenz, wie man das hier nannte, schauten auf Fischhallen und heruntergekommene Häuser. Nie hätte er sich vor dem Umzug vorstellen können, einmal Stunden zu verträumen, einfach dazusitzen, ohne ein Buch, eine Fachzeitschrift oder den Brief eines Kollegen, den es zu studieren und sorgfältig zu beantworten galt.
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Musbach rückte den Stuhl näher ans Fenster. Der Glanz des gleitenden Wassers änderte sich mit dem Himmel, eben noch wolkenverhangen, dann wieder von ein paar Windstößen leergefegt, blau. Dennoch: Regen lag in der Luft. Sturmwolken zogen von Westen auf. Dann wurde es noch einmal hell, die Wolken zum Horizont getrieben, weit weg über die Werft am anderen Ufer. Herrenlos. Er mochte die Schnelligkeit dieser Wandlungen am Himmel lieber noch als die Bewegungen der Schiffe. Bei Sonne Segelboote, weiß die meisten, manche blau-weiß gestreift, eines mit rotbraunen Segeln. Piratenbraun. Motorboote, Fähren ins Alte Land und nach Krautsand, Containerschiffe und Tanker auf dem Weg in den Hafen, ins offene Meer, unter den Flaggen aller Herren Länder. Schwarz, rost und mennigerot, von dieser rauhen, zweckmäßigen Schönheit, so anders und doch so ähnlich den alten, erhabenen Schriften. Das Telefon läutete. Eine freundliche Stimme fragte nach den Wünschen fürs Mittagessen. Fleisch, Fisch, vegetarisch. Sie mußte die Frage wiederholen, ehe Musbach sich für Fisch entschied. Er sah weiter aufs Wasser, den Himmel; ein strahlend weißer Passagierdampfer trieb langsam stromabwärts inmitten lichter Schaumkronen, winzige Menschen an Deck winkten in Richtung der Uferhänge, zeigten sich Häuser und Türme; der Himmel darüber nun voller unbehaglicher schwarzer Wolken. Trotz der Jahre, die Hans Musbach hier schon so wohl umsorgt verbracht hatte, fand er noch immer wenig Gefallen an diesen gemeinsamen Mahlzeiten. Es fiel ihm schwer, Gespräche zu begleiten, die oft von der Gegenwart nur mehr aufnehmen wollten, was aus ferner Vergangenheit betrachtet wichtig zu sein schien. Wie ein langsam vertrocknender Teich, dem der einst quellende Bach versiegt war, erschien ihm seine Gesellschaft; durchaus noch wache Leute, aber meist, als säßen die Augen nun im Hinterkopf und nicht mehr vorn, unter einer nachdenklichen Stirn. Fast vierzig Jahre lang waren seine Gesprächspartner junge Menschen gewesen, oft keine einfachen Schüler und auch nicht immer so neugierig, wie er es sich gewünscht hätte. Aber jung, Gegenwartsmenschen, Zukunftsmenschen. Zuerst hätten es seine Kinder sein können, später seine Enkel, doch zu alt hatte er sich mit ihnen nie gefühlt, auch wenn er im Stillen manche Aufmüpfigkeiten und lässigen Tabubrüche missbilligt hatte. Das Leben begann ja mit jedem Schuljahr wieder von vorne, und das hatte ihn glücklich gemacht. Jetzt war Katja, seine Tochter, festes Glied zwischen Gestern und Heute in ihren täglichen, gemeinsamen Stunden. Pädagogin wie er. Musbach wusste nur zu gut, was er brauchte und was ihm fehlte. Es war nicht der Verlust seiner gewohnten Häuslichkeit, die er erst verlassen hatte, als er spürte, dass Katja zuviel Zeit und besorgtes Nachdenken für sein tägliches Leben aufwenden musste. Er vergaß auch nicht, dass er mit diesem Platz an der Elbe, umgeben von liebgewonnenen Gegenständen, so etwas wie das große Los gezogen hatte. Was ihm fehlte, das Gespräch mit jungen Leuten, war nun mal die unausweichliche Folge des Alters. Er musste noch immer lernen, damit gelassener und geduldiger umzugehen. Was hier im Hause jung war, das arbeitete entweder in der Bedienung, in der Küche oder im Zimmerdienst; bei der Massage oder in der ärztlichen Versorgung. Da gab es kaum Zeit, aber sicher auch wenig Interesse für Gespräche mit den Bewohnern; über Höflichkeiten kam man selten hinaus. Er musste das begreifen, „abhaken“, wie es hieß. „Cool“ sein. Wer es kann.
Auch in späteren Prosaarbeiten habe ich das Thema Altern als Motiv oder Thema immer wieder aufgegriffen. So in Liebesarten. Vor allem in der Erzählung Eine Woche nach Silvester. Eine Frau, die ihre mittleren Jahre hinter sich hat, verreist nach dem Tod ihres Mannes zum ersten Mal allein. Silvester in Venedig. Jetzt sitzt sie beim Abendessen im Restaurant des Hotels- allein – und beobachtet ein Paar mit deutlichem Altersunterschied. Ich schmeckte jedem Schluck meines roten Nobile hinterher, zog nach jedem Bissen die Gabel genüsslich durch die Lippen, machte mich in meinem Stuhl so
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breit wie es mein knapp geschnittenes Kostüm erlaubte, nestelte den Rockknopf in der Taille auf und bestellte Creme Caramel. Zu beobachten, wie Menschen ihrer Jugend nachjagen, dem, was sie für das Glück halten, und dabei so kläglich und vorhersehbar scheitern, erfüllt mich jedesmal mit schadenfrohem Triumph. Ich kannte etliche Frauen meines Alters, die beim Anblick dieses ungleichen Paares trotz dessen offenkundiger Verstimmung zorniger Neid gepackt hätte. In Grund und Boden versänken sie, pflegten sie zu versichern, müßten sie sich ausziehen vor einem jüngeren Mann. Alten Knackern, wie sie sich ausdrückten, mache das hingegen nichts aus. Und den jungen Frauen, stichelte ich dann gern, anscheinend auch nicht. Geld! Trumpften meine Altersgenossinnen daraufhin auf, neueste Hirnforschungen hätten ja auch ergeben, dass Sex und Geld dieselben Botenstoffe im Gehirn in Gang setzten und ob ich schonmal gehört hätte, dass sich eine Dreißigjährige mit einem siebzigjährigen Müllmann zusammengetan hätte. Wieso Müllmann? gab ich mich einfältig, und sie fauchten abschließend: Ach du, mit deinem Rudolf! Aber auch nach Rudolfs Tod war es mir keinen Augenblick in den Sinn gekommen, mich wieder einzureihen in den hechelnden Haufen verblühender Frauen auf der Suche nach einem zweiten Frühling. Männer, da musste ich den Freundinnen allerdings rechtgeben, gestanden sich ganz selbstverständlich dritte und vierte Frühlinge zu. In der Lebensgeschichte der Hilla Palm spielt, wie gesagt, im Verborgenen Wort das Alter noch keine Rolle. Erst im Aufbruch, die Protagonistin ist jetzt um die zwanzig, wird die Großmutter als „alt“ empfunden, das Alter thematisiert. Eine wichtige Rolle spielt der Auschwitz Prozess. Hilla lernt politisches Denken. Lernt, dass man ein Volk, eine Nation nur kennt, wenn man auch um seine Vergangenheit weiß und sich mit ihr auseinandersetzt. Und dass dies auch für die Menschen gilt. Ein zentrales Thema in Aufbruch ist daher auch die Annäherung Hillas an Eltern und Großmutter. Sie kommt ihnen näher, je mehr sie von deren vergangenem Leben erfährt. Das gilt besonders für den Vater, der ihr in einem langen Gespräch, eigentlich fast ein Geständnis, von seiner Kindheit erzählt. Es gilt aber auch für die Großmutter. In einem Gespräch in der Familie über die Nazizeit erfährt Hilla, dass die Großmutter in den letzten Kriegstagen einen polnischen Zwangsarbeiter versteckt hat. Nun sieht sie die alte Frau in einem anderen Licht. „Zwei andere waren bei dä Schwestern im Krankenhaus“, knurrte die Großmuter und ließ die Herdringe ineinander klappern. Kehrte uns den Rücken zu, als hätte sie noch immer etwas zu verbergen. Diesen schmalen von Alter und Arbeit gekrümmten Rücken in der schwarzen selbstgestrickten Jacke, die sie sommers wie winters trug, mal über einem schwarzen Baumwollkleid, mal einem schwarzen Wollkleid, beide von oben bis unten zum Knöpfen, nachdem sie einmal ihr neues Sonntagskleid, als der Kopf beim Anziehen partout nicht durchs Halsloch rutschen wollte, vom Kragen bis zum Saum aufgeschlitzt hatte, diesen verschlossenen Strickjackenrücken kehrte uns die Großmutter zu, während die Mutter weiter sprach. Ich konnte den Blick vom Rücken der Großmutter kaum lösen. Mit jedem Satz rebellischer erschien mir dieser Perlmusterstrickrücken, Anna Rüppli mit dem Rücken zu uns, mit dem Rücken zur Welt, so, wie sie damals der Welt den Rücken gekehrt, ihren zähen rechtschaffenen Rücken, und sich dem Jungen im Graben an der Chaussee zugewandt hatte. „Äwer dann hatten mir den da oben, lag ja noch genug Stroh un dann hab ich ihn ja auch versorscht“. Die Großmutter löste ihre Hände von der Herdstange und drehte sich um.
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Ihr rundes Gesicht glänzte vor Hitze, rot glühten die Bäckchen, die grauen Augen blitzten. Wie eine Legende erzählte das Gesicht der Großmutter, was sie sich im Leben Stückchen für Stückchen aufgebaut hatte. Acht Kinder geboren, davon fünf überlebt. Ein Haus gebaut und Bäume gepflanzt. Die Hungrigen gespeist und die Kranken besucht; Die Trauernden getröstet; die Nackten bekleidet. Die Durstigen getränkt. Die Gefangenen befreit. Das Gesicht der Großmutter erzählte von Liebe und Respekt. Sie hatte sich ihre Schätze im Himmel auf Erden redlich erworben. ... „Oma“, sagte ich und griff nach ihrer Hand, die krumm und klein neben der Tasse auf dem Wachstuch lag. Einen Augenblick lang war mir, als zuckte sie zurück. Wann hatte zuletzt jemand ihre Hände berührt? Hatte ich, nach der Zeit, als sie mir die Hände zum Gebet gefaltet hatte, jemals die Hände der Großmutter berührt? Die Hand der Großmutter war schwielig, rissig, aber warm und lebendig, voller Gefühle von all dem Vielen, das sie ein Leben lang gehandhabt hatten. Windeln und Kartoffelschalen, Weihwasser und Gebetbuch, unzählige Kochtöpfe, Nachttöpfe, Briketts, zentnerweise Äpfel und Birnen, den Rücken des Großvaters, mehr sicher nicht, in der Umarmung. Die Hände der Großmutter waren wie alte Wörter, die außer Gebrauch geraten. Wörter wie Sommerfrische, Gesinde, Heuschober, honett. Meine Hand schien sich mit dem Leben der Großmutter zu füllen, ich hielt ein Stück ihres Lebens in meiner Hand, hielt stand. Die Großmutter senkte den Blick vom Kreuz zu mir herab, die ich nun meinerseits die Augen zum Gekreuzigten erhob, dem gequälten Körper auf kunstvollem Schnitzwerk, als käme mir von dort die Erklärung für diese andere Großmutter. Nicht nur im Vater, auch in der Großmutter steckte ein alter ego, wie Willemer (der Lateinlehrer) sagen würde, ein anderes Ich. Wie viele Seiten hat ein Ding? hatten wir als Kinder den Großvater gefragt. So viele wie wir Blicke für sie haben, war seine Antwort gewesen. Und bei Menschen war das nicht anders. Im Guten und im Bösen.
Lommer jonn! Lass uns gehen! so beginnen die beiden Romane um Hilla Palm. Vorwärtsgehen, Vorwärtsschauen. Für den zweiten Band, jetzt Aufbruch hatte ich eine Weile den Titel: Rückkehr stromauf favorisiert. Ein Titel, wie ich dann einsah, eher für einen Gedichtband. Rückkehr stromauf: das meint den Weg zu den Quellen. Ein Weg, den zu gehen die Sehnsucht eingibt. Die Sehnsucht nach einer Antwort auf die Fragen: Wo komme ich her? Wie war der Weg, auf dem ich dorthin gelangt bin, wo ich jetzt stehe? Was habe ich gewonnen, was verloren. Es ist nicht immer ein leichter, oft ein schmerzhaft beschwerlicher Weg. Die Sehnsucht nach Verstehenwollen gibt die Kraft für die Arbeit der Erinnerung, für das Wörtchen „und“: Erinnern und Sehnen. Hören Sie dazu noch zwei Gedichte. Zunächst: Der Vater, ein Gedicht aus Herz über Kopf. Der Vater Heute hab ich um meinen Vater geweint der ist seit acht Jahren tot geweint hab ich zum ersten Mal ist meinem Herzen die Spitze gebrochen bin ich nicht in Mozart Sonaten gekrochen aus Angst aus Angst vorm schwarzen Mann hat einen roten Mantel an und einen Teller durch den Hals der Kopf der hängt ihm hinten.
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Und das Gedicht Geboren, das ich ohne die Arbeit am Verborgenen Wort und Aufbruch sicher nicht hätte schreiben können. Geboren In dieser Nacht erhob sich der Vater aus seinem ewigen Bett trat er in meinen Traum Holte das blaue Stöckchen hinter der Uhr hervor holte das kleine Mädchen aus mir heraus und legte es übers Knie Ich – nun älter als damals er – nahm ihm den Stock weg nahm ihn in meine Arme wiegte den alten toten Mann zurück in den Schlaf als wäre er mein ganz kleines Kind.
Woher komme ich? Spätestens wenn sich dazu die Frage gesellt: Wohin gehe ich? kann sich auch die erste Frage nicht mit einer biografischen Antwort genügen. Es gibt eine Sehnsucht, die auf Erden keine Erfüllung finden kann. Auf die alte Frage: Warum schreiben Sie? Habe ich vor ungefähr dreißig Jahren geantwortet: „Um die Sehnsucht wachzuhalten nach dem, was nicht ist; nach dem, was wir nicht sind und nicht haben.“ Dazu möchte ich Ihnen nun abschließend noch ein Gedichtpaar vorstellen. Mein Vater ist eines meines ersten Gedichte. ich habe es Anfang der siebziger Jahre geschrieben, aber erst mehr als zwanzig Jahre später in dem Band Liebesgedichte veröffentlicht. Mein Vater Wer ist das? fragen meine Freunde und deuten auf das Foto des Mannes über meinem Schreibtisch zwischen Salvador Allende und Angela Davis. Ich sage: Mein Vater. Tot. Dann fragt niemand weiter. Wer ist das? frage ich den Mann, der nicht einmal für das Passfoto lächelt, der an mir vorbeischaut wie beim Grüßen an Menschen
Erinnern statt Sehnen die er nicht mochte. Bauernkind, eines von zwölf, und mit elf von der Schule; hatte ausgelernt, mit geducktem Kopf nach oben zu sehen. Ist krumm geworden als Arbeiter an der Maschine und als Soldat verführt gegen die Roten. Nachher noch einmal: geglaubt, nicht begriffen. Aber weitergemacht. Als Arbeiter an der Maschine als Vater in der Familie und sonntags in die Kirche wegen der Frau und der Leute im Dorf. Den hab ich gehasst. Abends, wenn er aus der Fabrik nach Hause kam, schrie ich ihm entgegen Vokabeln, Latein, Englisch. Am Tisch bei Professors, als mir der Tee aus zitternden Händen auf die Knie tropfte, hab ich Witze gestammelt über Tatzen, die nach Maschinenöl stinken. Hab das Glauben verlernt mit Mühe. Hab begreifen gelernt und begriffen: Den will ich lieben bis in den Tod All derer, die schuld sind an seinem Leben und meinem Hass. Manchmal da lag schon die Decke auf seinen Knien im Rollstuhl, nahm er meine Hand, hat sie abgemessen mit Fingern und Blicken und mich gefragt, wie ich sie damit machen will,
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die neue Welt. Mit dir, hab ich gesagt und meine Faust geballt in der seinen. Da machten wir die Zeit zu der unseren, als ich ein Sechstel der Erde ihm rot auf den Tisch hinzählte und er es stückweis und bedächtig für bare Münze und für sich nahm. Wer ist das? fragen meine Freunde und ich sag: Einer von uns. Nur der Fotograf hat vergessen, dass er mich anschaut und lacht.
Das folgende Gedicht, das Wieder-Wort, führt Erinnern und Sehnen zusammen. Erinnern an einen Kinderglauben und die Sehnsucht nach end-gültiger Geborgenheit. Mein Gott Ist was? frag ich die Freunde wenn sie ihn sehen über meinem Schreibtisch (neben Schiller und John Donne) den Mann den jeder man kennt den ernsten Mann am Kreuz den noch keiner lächeln sah Wie sie da gucken die Freunde (ein bisschen verlegen) und die Schultern zucken (etwas mitleidig) Ist was? frag ich Dann fragt niemand weiter Einzelkind (was den Vater angeht) reichlich Halbgeschwister Machte sich aber nicht viel aus Familie ( kleine Verhältnisse Adoptivvater Zimmermann aufm Dorf) Kehrte ihr bald den Rücken (säte nicht erntete nicht und sein himmlischer Vater ernährte ihn doch) schlug sich
Erinnern statt Sehnen als Wunderheiler durch mit einem großen Herzen für die kleinen Leute und einer forschen Lippe gegen die da oben (Ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen) Aufsässig furchtlos eigensinnig praktischer Arbeit abhold Den hab ich geliebt wenn ich die Mutter mundtot machte mit Lukas 11, 38ff nicht die hauswirtschaftende Martha vielmehr Maria zuhörend von Jesu gefesselt habe „das Bessere“ erwählt und mich mit göttlichem Segen wieder in meine Bücher vergrub Hab das frommschlaue Lieben verlernt bei den Weiden am Rhein unter menschlichen Lippen- und anderen Zärtlichkeiten So viele Vaterunser der Reue und Buße Vergebene Liebesmüh Mein Kinderheld fuhr in den Himmel auf Ich blieb unten Da bin ich noch Manchmal aber lese ich wieder in seinen alten Briefen (die von den vier Kurieren überbrachten) oder besuch ihn bei sich zu Haus Bei Brot und Wein Musik und Kerzenschein Dann frag ich ihn Wofür das alles? Dein Leben Leiden Sterben Für dich sagt er und lächelt befreit von seinem Kreuz nimmt mich in seine Arme flüstert mir ins Ohr: Irgendwann stell ich dich meinem Vater vor. Lass dir Zeit. Ich kann warten. Und deine Freunde? Bring sie doch mal mit.
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Auch Fatima und Ali. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Und mit fünf Broten und zwei Fischen krieg ich alle satt.
Ich kann warten, sagt der Mann am Kreuz in meinem Gedicht. Möge er sich für jeden von uns noch eine gute Weile in Geduld üben. Bis dahin aber heißt es: Erinnern u n d Sehnen. Und vor allem: Lommer jonn!
Teil IV
Die gesellschaftlichen Aspekte von Alter und Altern
Soziale Ungleichheit im Alter Yvonne Schütze
Soziale Ungleichheit, definiert als ungleiche Verteilung knapper und begehrter materieller und immaterieller Güter, ist ein klassisches Thema der Soziologie seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert. Folgen wir Kohli et al. (2005), so lassen sich seit der Nachkriegszeit in der alten Bundesrepublik drei Phasen der Ungleichheitsforschung benennen. Bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts ging es primär um die Frage, ob die aus der Position im Erwerbsleben resultierende vertikale Ungleichheit eher mit Begriffen wie Klasse oder Schicht zu fassen sei. Gegen Ende der 70er Jahre „entdeckte“ man neue, sogenannte horizontale Dimensionen sozialer Ungleichheit, wie z. B. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Region und mit einiger Verzögerung auch Alter. Dabei handelte es sich natürlich nicht um wirklich neue Phänomene, aber den Ungleichheitsforschern war bewusst geworden, dass Unterschiede in Lebensbedingungen und Handlungschancen, also den Lebenslagen der Gesellschaftsmitglieder, nicht allein durch Klassen – oder Schichtzugehörigkeit bestimmt sind. In dieser Konstruktion werden die vertikalen Dimensionen der Ungleichheit zwar ergänzt aber nicht für wirkungslos erklärt. Ab etwa Mitte der 80er Jahre geht im Gegensatz dazu die Individualisierungsthese davon aus, dass sich auf der Basis eines relativ hohen materiellen Lebensstandards traditionelle Klassen und Schichten zugunsten individualisierter und pluralisierter Lebensformen aufgelöst hätten (Beck 1983). Soziale Ungleichheit bleibt zwar bestehen, wird aber gleichsam individualisiert. Spätestens seit der „Wende“ und einer Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit und steigenden Zahlen von Sozialhilfeempfängern lässt sich allerdings eine vierte noch andauernde Phase beobachten, in der der vertikalen Dimension sozialer Ungleichheit wieder vermehrte Aufmerksamkeit gezollt wird. Mit Alter und Altern beschäftigt sich die Soziologie erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, als nicht mehr zu übersehen war, dass immer mehr Menschen ein immer höheres Alter erreichten. Dabei lag der Schwerpunkt des Interesses auf bereits sich abzeichnenden oder antizipierten sozialen Problemen, die mit einer veränderten Altersstruktur einhergehen oder einhergehen können. Beispielhaft: Systeme
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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der sozialen Sicherung, Armut, Wohn- und Lebensformen, Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Erst seit den 80er Jahren richtete sich der Blick der noch jungen Disziplin der Alterssoziologie auf Alter und Altersgliederung als Elemente der Sozialstruktur. Dabei wurde und wird auf dem Hintergrund der allgemeinen Diskussion über Wandel und Kontinuität sozialer Ungleichheit u. a. die Frage gestellt, in welcher Weise die Lebenslagen älterer Menschen, die nicht mehr in den Arbeitsprozess eingebunden sind, von sozialer Ungleichheit betroffen sind. In der Forschungsliteratur werden hierzu folgende vier Hypothesen aufgeführt. 1. Die These der sozio-ökonomischen Differenzierung (Mayer/Wagner 2010) oder auch Kontinuitätsthese genannt (Kohli et al. 2005) geht von der Annahme aus, dass sich die durch die Arbeitsorganisation konstituierte soziale Ungleichheit im Alter fortsetzt. Demnach wären Unterschiede in den Lebenslagen alter Menschen nicht durch das Alter, sondern durch vorhergehende Erwerbsphasen bestimmt. Die weitergehende Annahme besagt, dass nicht nur die äußeren Lebensbedingungen durch die jeweilige Schichtzugehörigkeit geprägt werden, sondern dass die Positionierung im System gesellschaftlicher Ungleichheit gleichermaßen auch eine bestimmte innere Haltung zur Welt, einen bestimmten Habitus, wie Bourdieu sagt, hervorbringt (Bourdieu 1984). Ob und in welcher Weise zum Beispiel jemand am öffentlichen Geschehen teilnimmt oder seine sozialen Beziehungen gestaltet, wäre also weniger vom Alter als von der Schichtzugehörigkeit abhängig. 2. Die zweite These, die als Kumulations- oder Differenzierungsthese (Mayer/ Wagner 2010, Kohli et al. 2005, Motel-Klingebiel et al. 2010) bezeichnet wird, behauptet, dass sich die Schichteffekte im hohen Alter noch verstärken, da sich vorhergehende und gegenwärtige Begünstigungen oder Benachteiligungen gleichsam akkumulieren. Hierzu wird zum Beispiel vermutet, dass der Aktionsradius kranker, alter Menschen aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen merklich eingeschränkt wird, während die Auswirkungen eines schlechten Gesundheitszustands bei guter ökonomischer Lage teilweise kompensiert werden können. So kann man sich bestimmte Güter und Dienstleistungen kaufen, die nicht durch das Sozialsystem abgedeckt werden. 3. Die Angleichungs- oder Destrukturierungsthese (Kohli et al. 2005, Motel/Klingebiel et al. 2010) dagegen argumentiert: erstens, die mit dem Alter zunehmenden gesundheitlichen Einschränkungen gewinnen gegenüber den Privilegierungen und Benachteiligungen, die aus der Schichtzugehörigkeit resultieren, die Oberhand. Zweitens, wird die in der Arbeitswelt verankerte soziale Ungleichheit durch die Entberuflichung und die institutionellen Regelungen des Ruhestands eingeebnet. Mit anderen Worten, die Nivellierung von Schichtdifferenzen eröffnet, ganz im Sinne der Individualisierungsthese, einen Spielraum für mehr individuelle Vielfalt. Die mittlerweile übliche Differenzierung zwischen jungen und alten Alten bzw. zwischen drittem und viertem Alter ist als ein Versuch anzusehen, der Heterogenität des Alters Rechnung zu tragen. Wann das dritte Alter beginnt, wird nicht
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einheitlich definiert, wohin gegen der Eintritt in das vierte Alter bei 85 Jahren angesetzt wird (Smith/Delius 2010). 4. Die These der Altersbedingtheit (Kohli et al. 2005, Mayer/ Wagner 2010) schließlich geht ebenfalls – allerdings mit einem anderen Argument – davon aus, dass der Einfluss von Schichtzugehörigkeit im Alter zurückgeht. Hier sind es die biologisch bedingten Einbußen an Leistungs- und Funktionsfähigkeit, die zu einer Verschlechterung der Lebenslagen im Alter führen sollen. Da in der Bundesrepublik die finanzielle Lage im Alter bisher weitgehend durch das vorhergehende Erwerbseinkommen bestimmt wird, kann altersbedingte sozioökonomische Benachteiligung allerdings nur dann auftreten, wenn die gesetzlichen Regelungen zu einer Absenkung des Renteneinkommens zugunsten jüngerer Altersgruppen führen. Dass dies in der Zukunft der Fall sein könnte, halte ich nicht für unwahrscheinlich. Unabhängig von finanziellen Bedingungen sei aber – so die These – das höhere Alter mit einem Verlust an Status und sozialem Ansehen verbunden. Mit anderen Worten: alt zu sein wird hier per se als Benachteiligung gedeutet. Im Folgenden werde ich nun auf der Basis von empirischen Befunden aus der Berliner Altersstudie (2010) und dem Deutschen Alterssurvey (2010) der Frage nachgehen, welche der vier Hypothesen am meisten Plausibilität für sich in Anspruch nehmen kann. Zunächst zur Anlage dieser Untersuchungen, die sich im Design zwar beträchtlich unterscheiden, sich aber bezüglich sozialer Ungleichheit im Alter beide an den genannten Hypothesen orientieren. Die Berliner Altersstudie (BASE) ist eine interdisziplinär ausgerichtete Untersuchung, die eine nach Alter und Geschlecht stratifizierte, repräsentative Stichprobe von 516 Westberlinern im Alter zwischen 70 und 103 Jahren umfasst, womit der Differenzierung in junge Alte und alte Alte Rechnung getragen wird. Die Datenerhebung fand zwischen Mai 1990 und Juni 1993 statt. Bei der zunächst „Alterssurvey“, später „Deutscher Alterssurvey“ (DEAS) benannten Untersuchung, handelt es sich um eine bundesweit repräsentative, langfristig angelegte Studie, in der Menschen im Alter zwischen 40 und 85 Jahren befragt wurden. Somit wird hier das vierte Alter nicht berücksichtigt. Bisher wurden drei Erhebungswellen durchgeführt: 1996, 2002 und 2008. Da mit dem Wechsel der Projektleitung nach der ersten Erhebung sich auch die Anlage der Untersuchung verändert hat, werde ich „Alterssurvey“ und „Deutscher Alterssurvey“ getrennt behandeln. Die erste Publikation, auf die ich mich beziehe, berichtet unter dem Titel „Die zweite Lebenshälfte“ Ergebnisse aus der Erhebung von 1996 (Kohli et al. 2005), die zweite geht unter dem Titel „Altern im Wandel“ auf den Zeitraum von 1996 bis 2008 ein (Motel-Klingebiel et al. 2010). Von den zur Bestimmung von Lebenslagen in den Untersuchungen verwendeten Indikatoren, greife ich drei heraus. Das sind: materielle Lage, gesellschaftliche Partizipation und Gesundheitszustand. Betrachten wir zunächst die Ergebnisse zur materiellen Lage im Alter aus der Berliner Altersstudie.
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Wie nicht anders zu erwarten, sprechen die Befunde eindeutig für eine Dominanz der Kontinuitätsthese. Bei Mayer/Wagner heißt es hierzu: „Die Position im System sozialer Ungleichheit am Ende des Erwerbslebens prägt die Lebensbedingungen und Lebenschancen im höheren Alter. So ist die materielle Lage im Alter deutlich und dauerhaft mit der sozialen Schicht verknüpft“ (Mayer/Wagner 2010, S. 296). Dies gilt sowohl für die jungen Alten (70–84 Jahre) wie die alten Alten (85–103 Jahre), zwischen denen keine wesentlichen Einkommensunterschiede bestehen. Allerdings verfügen die Jüngeren häufiger über Vermögen (Sparguthaben u. ä.) und über mehr Wohnraum als die Älteren, was auf einen Kohorteneffekt hindeutet. Es wird aber auch ein Ergebnis erwähnt, das für die Kumulationsthese spricht: Während eine Unterbringung im Alten - oder Pflegeheim in den drei unteren Schichten etwa gleich häufig erfolgt, bleibt diese Lebensform den beiden oberen Schichten weitgehend erspart, da sie sich auf informelle und professionelle Hilfe stützen können. Bemerkenswert ist auch, dass 25 % der Menschen, die nach der letzten beruflichen Stellung und Bildungsstand der gehobenen oder oberen Mittelschicht angehören, nur ein geringes Einkommen haben. Eine Situation, von der in erster Linie Selbständige betroffen sind, die sich nicht ausreichend versichert haben (Mayer/Wagner 2010). Auch Kohli. et al, die den gleichen 5 stufigen Schichtindex wie Mayer/Wagner verwenden, befinden: „Die materielle Lebenslage in der zweiten Lebenshälfte hängt vorrangig von der beruflichen Position im Erwerbsleben ab; die „horizontalen“ Ungleichheiten fallen demgegenüber kaum ins Gewicht“ (Kohli et al. 2005, S. 326). Im „Deutschen Alterssurvey“, der statt der Schichtzugehörigkeit das Bildungsniveau zugrunde legt, zeigt sich die gleiche Tendenz: Das Einkommen der Personen mit dem niedrigsten Bildungsstand beträgt wenig mehr als die Hälfte des Einkommens der Personen mit dem höchsten Bildungsniveau (Motel-Klingebiel et al. 2010). Nicht überraschend wird in allen Untersuchungen von einer im Vergleich zu den Männern schlechteren Einkommenslage der Frauen berichtet (Mayer/Wagner 2010, Kohli et al. 2005, Motel-Klingebiel et al. 2010). Und ebenfalls nicht überraschend ist der Befund, dass über alle Altersgruppen hinweg die Einkommensposition in Westdeutschland besser als in Ostdeutschland ist. Wie stellt sich nun in der Berliner Altersstudie die Befundlage hinsichtlich gesellschaftlicher Partizipation, erhoben als soziale Aktivitäten, Mediennutzung, politisches Interesse, Wahlbeteiligung und Kirchenbesuch dar? Auch hier scheint auf den ersten Blick die Kontinuitätsthese zu triumphieren. So beträgt zum Beispiel der Anteil sozio-kulturell abstinenter Personen in der Unterschicht 28 %, während dies in der oberen Mittelschicht nur für 4 % gilt. Gleichwohl zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die mit steigendem Alter insgesamt nachlassende gesellschaftliche Partizipation eher körperlichen und geistigen Funktionseinschränkungen geschuldet ist als Unterschieden in der Schichtzugehörigkeit. Dieser Befund ließe sich auch im Sinne der Angleichungsthese deuten, wobei freilich das Bildungsniveau auch eine gewisse, wenn auch weniger bedeutende Rolle spielt. Gesellschaftliche Partizipation wird von Alterssurvey und Deutschem Alterssurvey mit jeweils anderen Indikatoren erhoben als in der Berliner Altersstudie. Beispielhaft sei hier nur die ehrenamtliche Tätigkeit betrachtet.
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Die Ergebnisse gehen in eine ähnliche Richtung wie in der Berliner Altersstudie. Verglichen mit anderen Altersgruppen verringern sich im höheren Alter die ehrenamtlichen Tätigkeiten. Dies hängt einerseits mit einem schlechten Gesundheitszustand zusammen, andererseits mag aber auch ein gewisses Disengagement eine Rolle spielen, was für die Angleichungsthese spricht. Gleichzeitig aber stimmen Alterssurvey und Deutscher Alterssurvey überein, dass alte Menschen, die einer höheren Schicht angehören (Kohli et al. 2005) oder ein höheres Bildungsniveau aufweisen(Naumann/Gordo 2010), häufiger ein Ehrenamt ausüben. Ein Ergebnis, das eher auf die Kontinuitätsthese verweist. Ein besonders wichtiger Bereich für die Frage nach sozialer Ungleichheit im Alter ist die Gesundheit. Die Untersuchungen, von denen hier die Rede ist, bedienen sich jeweils unterschiedlicher Messinstrumente. Gleichwohl verwenden alle die auch zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit konstruierten Skalen ADL (Activities of Daily Living) und IADL (Instrumental Activities of Daily Living), die in Form von Fragebögen den Studienteilnehmern vorgelegt werden. In der Berliner Altersstudie zeigt sich zwar, dass Angehörige der oberen Mittelschicht weniger hilfsbedürftig sind als Angehörige niedrigerer Schichten, gleichwohl ist insgesamt die Erklärungskraft der sozio-ökonomischen Lage gering. Als mögliche Gründe vermuten Mayer/Wagner (2010), erstens, dass die höhere Sterbewahrscheinlichkeit in den sozial schwächeren Schichten dazu führt, dass es die relativ Gesünderen sind, die überhaupt ein hohes Alter erreichen. Eine nicht unplausible Annahme, wenn man bedenkt, wie sich zum Beispiel aus Ergebnissen des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) ergibt, dass die Differenz in der mittleren Lebenserwartung für Menschen der höchsten und der niedrigsten Einkommensgruppe bei Männern 10,8 und bei Frauen 8,4 Jahre beträgt (Lampert et al. 2007). Zweitens, sichert möglicherweise eine umfassende Krankenversicherung eine so gute medizinische Versorgung, dass darüber hinaus die finanzielle Lage keine große Rolle mehr spielt. Drittens schließlich könnten körperliche und geistige Beeinträchtigungen im hohen Alter auch durch genetische Faktoren ausgelöst werden. Zu erwähnen wäre noch der Befund zur Demenz, die allerdings nur in der Berliner Altersstudie mit ihren alten Alten Gegenstand der Forschung ist. Hierzu heißt es, dass Demenz signifikant häufiger in den drei unteren Schichten als in den beiden oberen diagnostiziert wird (Helmchen et al. 2010). Während also die Berliner Altersstudie den Einfluss der Schichtzugehörigkeit auf die Gesundheit im Alter eher gering veranschlagt, konstatiert der Alterssurvey schichtspezifische Unterschiede zwischen allen drei Altersgruppen. Aber die Abstände zwischen den sozialen Schichten fallen bei der Gruppe der 70–85 Jährigen am größten aus. Dabei ist es wiederum die Oberschicht, die im Sinne der Kumulationsthese wesentlich bevorteilt ist (Kohli et al. 2005). Der Deutsche Alterssurvey, der ja, wie bereits erwähnt, nur das Bildungsniveau als Indikator für Schichtzugehörigkeit verwendet, befindet ebenfalls, dass die alten Menschen mit dem höchsten Bildungsstand die geringsten Einschränkungen körperlicher Funktionstüchtigkeit aufweisen, gefolgt von denen mit mittlerem und niedrigem Bildungsniveau (Wurm et al. 2010).
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Allerdings wird aus dem Deutschen Alterssurvey auch ersichtlich, dass über alle Altersgrenzen hinweg Menschen mit höherer Bildung häufiger sportlich aktiv sind als die weniger Gebildeten. Zwar verringern sich im höheren Alter die sportlichen Aktivitäten insgesamt, gleichwohl zeigt sich, dass die 70–85 Jährigen mit hoher Bildung sich zu 53 % körperlich ertüchtigen, während dies für Menschen mit niedrigerer Bildung nur für 19 % gilt (Wurm et al. 2010). Nun sagen uns diese Daten freilich nicht, ob die mit Hilfe der ADL- und IADL-Skalen gemessene körperliche Funktionstüchtigkeit sich auf die sportliche Betätigung auswirkt, oder ob umgekehrt sportliche Aktivitäten sich als protektiv gegen den Verlust von Funktionsfähigkeit erweisen. Die einschlägige Literatur zu dieser Frage votiert jedoch eindeutig für die Bedeutsamkeit körperlicher Aktivitäten für den Erhalt physischer und auch psychischer Funktionstüchtigkeit (Wurm et al. 2010, Schlicht 2010). Da höhere Bildung also nicht nur mit einem höheren Aktivitätsniveau für die eigene Gesundheit, sondern auch – wie bereits ausgeführt – mit einem höheren Maß an gesellschaftlicher Partizipation einhergeht, ist vielleicht die Annahme nicht unplausibel, dass Bildung jenseits von Einkommen und Berufsstatus gleichsam einen Eigenwert darstellt, der sich auch im dritten und vierten Alter bewährt. Das heißt Bildung und ökonomische Lage werden möglicherweise im höheren Alter auf unterschiedliche Weise wirksam. Während Bildung mit Wissen z. B. über Gesundheitsverhalten oder das Weltgeschehen assoziiert ist, bietet eine gute materielle Ausstattung die Möglichkeit, bestimmte Güter aus dem Gesundheits- oder Kulturbereich zu kaufen (Schöllgen et al. 2010). Die These der Altersbedingtheit behauptet auch – wie bereits erwähnt – dass Alter mit dem Verlust an sozialem Ansehen einhergeht. Dieses Thema, das in den Bereich der horizontalen Ungleichheit fällt, wird allerdings unter dem Stichwort Altersdiskriminierung nur im Deutschen Alterssurvey behandelt. Als Altersdiskriminierung wird nicht jede als negativ erlebte Verhaltensweise in der Interaktion zwischen Menschen verschiedener Altersgruppen bezeichnet. „Altersdiskriminierung besteht insbesondere dann, wenn die Beurteilung einer Person nur von der Zuordnung zu der sozialen Kategorie der „Alten“ abhängig gemacht wird und individuelle Fähigkeiten und Charakteristika der betreffenden Person ignoriert oder gar diskreditiert werden“ (Huxhold/Wurm 2010, S. 235). Altersdiskriminierung wird erhoben als Frage, ob und in welchen Lebensbereichen, bei der Arbeit oder Arbeitssuche, in der medizinischen Versorgung, bei Behördengängen oder im Alltag, die Befragten sich aufgrund ihres Alters ungerecht behandelt fühlen. Die Ergebnisse sind einigermaßen überraschend und sprechen nicht für die These, dass Alter per se mit einem Verlust an sozialem Ansehen einhergeht. Denn nicht – wie man vermuten könnte – sind es die 70–85 Jährigen, die sich häufiger diskriminiert fühlen, sondern unabhängig von Alter, Geschlecht und Bildung geben etwa 11 % der Befragten an, während der letzten zwölf Monate eine Altersdiskriminierung erlebt zu haben. Dabei ist es in erster Linie die Arbeitswelt, in der sich Menschen aufgrund ihres Alters zurückgesetzt fühlen (Huxhold/Wurm 2010). Was sagt uns nun dieser Vergleich zwischen den verschiedenen Untersuchungen über soziale Ungleichheit im Alter? Und wie könnte es mit der sozialen Ungleichheit im Alter weiter gehen?
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Erstens, die materielle Lage im Alter ist gegenwärtig im wesentlichen Folge der dem Alter vorausgehenden Erwerbsphase. Der Deutsche Alterssurvey beschreibt die Einkommenssituation in der zweiten Lebenshälfte zwar nicht als problematisch, gleichwohl wird aber auch konstatiert, dass zwischen 1996 und 2008 die Schere zwischen arm und reich auseinander gegangen ist. Wie sich neben der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung die Änderungen in der Renten- Gesundheits- und Pflegepolitik auswirken werden, ist nicht vorhersehbar. Doch mit Sicherheit werden jüngere Generationen mehr Eigeninitiative zur Sicherung ihres Lebensstandards im Ruhestand entwickeln müssen als die gegenwärtige Altengeneration. Dies könnte zu einer Entkoppelung des Zusammenhangs von Erwerbs- und Nacherwerbseinkommen führen. Ob eine solche Entkoppelung eher mit einer Nivellierung oder einer Verstärkung sozialer Ungleichheit einherginge, wage ich nicht zu prognostizieren. Die Befragten des Deutschen Alterssurvey jedenfalls ahnen nichts Gutes. In der subjektiven Bewertung der zukünftigen Entwicklung sind die Befürchtungen einer Verschlechterung des Lebensstandards im Zeitverlauf über alle Altersgruppen deutlich gestiegen (Motel-Klingebiel et al. 2010). Zweitens, nicht so eindeutig ist die Befundlage hinsichtlich gesellschaftlicher Partizipation. Nach den Ergebnissen der Berliner Altersstudie ist die sinkende gesellschaftliche Partizipation eher den Einschränkungen des höheren Alters als der Schichtzugehörigkeit geschuldet. Dagegen berichten Alterssurvey und Deutscher Alterssurvey, die ja das vierte Alter nicht einschließen, von starken Unterschieden zugunsten der Mitglieder der oberen Schichten. Dies könnte bedeuten, dass im vierten Alter die physische und psychische Verfasstheit eine größere Rolle für das Interesse am Weltgeschehen spielt als die Position im System sozialer Ungleichheit. Drittens, in eine ähnliche Richtung weisen auch die Ergebnisse zum Gesundheitszustand. Einerseits wird zwar einvernehmlich festgestellt, dass die gesundheitlichen Einschränkungen mit dem Alter ansteigen, andererseits aber sind Schichtund Bildungsdifferenzen nur im Alterssurvey nicht aber in der Berliner Alterstudie deutlich ausgeprägt. Der höhere Morbiditätsanstieg im dritten Alter könnte sich, wie aus dem Deutschen Alterssurvey hervorgeht, in der Zukunft allerdings abschwächen. Denn über den Zeitraum zwischen 1996 und 2008 wird über alle Altersgruppen – mit Ausnahme der 40 - 45 Jährigen – ein deutlicher Rückgang in der Anzahl von Krankheiten festgestellt. Da sich die größten Gesundheitsgewinne bei den 58–69 Jährigen zeigen, kann man vermuten, dass bei den jüngeren Jahrgängen, aufgrund eines besseren Gesundheitsverhaltens, gesundheitliche Einschränkungen vermehrt erst im vierten Alter auftreten werden. Dies wiederum könnte sich auch positiv auf die gesellschaftliche Partizipation auswirken. Zusammenfassend kann man also festhalten: Solange man nur das dritte Alter betrachtet, spricht alles für die Kontinuitätsthese. Soziale Ungleichheit hinsichtlich der materiellen Lage, der gesellschaftlichen Partizipation und des Gesundheitszustandes bleibt im Wesentlichen bestehen und wird in einigen Bereichen sogar im Sinne der Kumulationsthese verstärkt. Was das bisher von der Forschung noch ver-
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nachlässigte vierte Alter betrifft, wäre zu prüfen, ob nicht am Ende des Lebens soziale Ungleichheit ihren Stachel verliert und biologische Bedingungen die Oberhand gewinnen. Im Tode sind wir dann alle gleich.
Zusammenfassung Auf der Basis von Ergebnissen aus der Berliner Altersstudie, des Alterssurvey und des Deutschen Alterssurvey werden vier Hypothesen (Kontinuitätsthese, Kumulationsthese, Angleichungsthese und These der Altersbedingtheit) zu sozialer Ungleichheit im Alter diskutiert. Aus den Befunden zu materieller Lage, gesellschaftlicher Partizipation und Gesundheitszustand wird deutlich, dass soziale Ungleichheit im Alter in erster Linie eine Folge vorausgehender Lebensphasen ist. Allerdings gibt es auch Hinweise dafür, dass im sehr hohen Alter biologisch bedingte Funktionseinschränkungen gegenüber Schichteffekten dominieren könnten.
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Generationenbeziehungen und Generationenkonflikte Martin Kohli
1 Die Generationenfrage heute Die Beziehungen zwischen den Generationen bilden eine Spannungslinie, an der sich entscheidet, wie die alternde Gesellschaft mit ihrem Konfliktpotential umgeht. Die Konflikte können sich auf die wirtschaftliche Existenzsicherung und Ressourcenverteilung beziehen, aber auch auf politische Macht und kulturelle Deutungshoheit. Ist im Zuge der demographischen Entwicklung eine Verschärfung dieser Konflikte unvermeidbar, oder gibt es Möglichkeiten zu ihrer integrativen Bewältigung? Im folgenden werde ich dieses Problem in vier Schritten diskutieren. Zunächst geht es um seine begrifflichen und theoretischen Grundlagen (Abschn. 1). Danach beschreibe ich einige der wichtigsten Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den heute lebenden Generationen und Altersgruppen (Abschn. 2) und frage, wie weit sich daraus Spaltungen und entsprechende politische Konflikte entwickelt haben (Abschn. 3). Der vierte Abschnitt ist den bestehenden gesellschaftlichen Integrationsmechanismen gewidmet: den politischen Organisationen, die zwischen den Generationen vermitteln, und den Generationenbeziehungen in der Familie. Im letzten Schritt (Abschn. 5) fasse ich die Argumentation kurz zusammen und stelle einige Überlegungen zur Zukunft des Generationenkonflikts an. Am Ende des 19. Jahrhunderts lautete die soziale Frage, wie die neu entstehende Industriearbeiterschaft gesellschaftlich zu integrieren, mit andern Worten, wie der Klassenkonflikt zu befrieden war. Dies gelang dadurch, dass den Industriearbeitern ein stabiler, materiell einigermaßen gesicherter Lebenslauf in Aussicht gestellt wurde, einschließlich eines Ruhestandes als erwartbarer Lebensphase, finanziert über einen öffentlichen „Generationenvertrag“ (Kohli, 1989). Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde dies auf weitere Teile der Bevölkerung ausgeweitet, so dass in den 1960er Jahren die meisten entwickelten Gesellschaften einen umfassenden Wohlfahrtsstaat aufgebaut hatten, der das „fordistische“ Muster der Arbeitsbeziehungen In diesem Beitrag stütze ich mich in einigen Ausführungen auf frühere Arbeiten (Kohli 2008, 2009, 2010). Ich danke Daria Popova für ihre Hilfe bei der Bereitstellung der Daten in Abschn. 2.
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und des Lebenslaufs unterfütterte (Mayer, 2001). Am Beginn des 21. Jahrhunderts, so scheint es, hat sich der Klassenkonflikt erledigt, und an seine Stelle ist der Generationenkonflikt getreten (Bengtson, 1993; Kaufmann, 2005). Der Generationenvertrag ist die umstrittenste Dimension zeitgenössischer Wohlfahrtsstaaten. Er bildet den Kern der Probleme, die durch das Altern der Gesellschaft aufgeworfen werden: die Alten zu sichern und in die Jungen zu investieren und dabei das Gleichgewicht zwischen finanzieller Nachhaltigkeit und den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und Fairness zu wahren. Seine Prominenz heute ist sowohl der Entwicklung der sozialen Sicherung selber geschuldet, in deren Folge die Älteren zu den wichtigsten Klienten des Wohlfahrtsstaates geworden sind, als auch der demographischen Herausforderung durch sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung. Steht die heutige Gesellschaft also tatsächlich im Zeichen des Konflikts zwischen den Generationen (oder zwischen Alt und Jung)? Das zu behaupten wäre voreilig. Die historische Perspektive muss in zwei Punkten präzisiert werden. Erstens sind Konflikte oder Konkurrenz zwischen Alt und Jung nichts Neues. Sie sind ein häufiges Thema in historischen und anthropologischen Darstellungen vormoderner Gesellschaften und bildeten seit jeher eine Spannungsdimension, in manchen ‚einfachen‘ Gesellschaften ohne ausgeprägte Sozialschichtung sogar die zentrale. Manche Klagen der Älteren über die Jugend lassen sich durch alle historischen Epochen zurückverfolgen. Aber in den zeitgenössischen Gesellschaften haben sich die Form und die Arena dieser Konflikte verändert, und dadurch hat ihr Spannungsgehalt zugenommen. Die Moderne setzt einen stärkeren Akzent auf gesellschaftliche Dynamik und die Ablösung älterer durch jüngere Generationen. Ein Beispiel dafür sind die Jugendbewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie zelebrierten und mobilisierten die Jugend als Träger des politischen und kulturellen Wandels und sogar als höhere Existenzform im Kampf gegen die Welt der Erwachsenen. Inzwischen hat der Wohlfahrtsstaat eine ökonomische Konfliktfront eröffnet, die heute die politische und kulturelle zu überbieten scheint. Zweitens bleibt die Frage offen, ob die Bruchlinie zwischen den Generationen nicht doch eine solche zwischen den Klassen verbirgt, also zwischen Reich und Arm oder – wie in den traditionellen Klassentheorien formuliert – zwischen Kapital und Arbeit. Im höheren Alter nehmen solche Klassengegensätze eine besondere Färbung an (vgl. den Beitrag von Yvonne Schütze zu diesem Band). Zu diesen ‚alten‘ sozialen Ungleichheiten treten ‚neue‘, wie die zwischen Frauen und Männern oder zwischen Einheimischen und Migranten. Wenn stattdessen jetzt der Generationenkonflikt in den Vordergrund gerückt wird, kann dies – ob mit Absicht oder nicht – von der Hauptkonfliktlinie ablenken. Ein Ideologieverdacht ist insbesondere dann berechtigt, wenn die Beschwörung des Generationenkonflikts zur Kritik am Wohlfahrtsstaat im ganzen genutzt wird. Vorab ist hier eine begriffliche Klärung erforderlich, nämlich zwischen den Begriffen ‚Altersgruppe‘ und ‚Generation‘. Altersgruppen als solche sind – wie noch zu zeigen ist – wenig konfliktträchtig. Das Problem liegt in der Differenzierung nach Generationen, das heißt nach dauerhaft unterschiedlichen Lebenschancen. Altersgruppen sind nicht naturgegeben, sondern das Ergebnis einer gesellschaftlichen Konstruktion, die in die moderne Institutionalisierung des Lebenslaufs mün-
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det. Vom ‚Alter‘ und den ‚Alten‘ zu reden, setzt eine entsprechende Abgrenzung voraus. Solche Abgrenzungen sind in modernen Gesellschaften breit verankert, schon deshalb, weil Alter eine zentrale Grundlage öffentlicher Rechte und Pflichten ist. Die sozialpolitisch wichtigste Abgrenzung ist die Altersgrenze des Übergangs in den Ruhestand. Würde man diese Grenze verschieben, würden sich die Größenverhältnisse der Altersgruppen und damit die Verteilung zwischen ihnen verändern. Allerdings ist dies mit Schwierigkeiten verbunden, denn die Altersgrenze ist – obwohl gesellschaftlich konstruiert – keineswegs frei verfügbar. Sie hängt mit grundlegenden Struktureigenschaften von Wohlfahrtsstaat und Arbeitsmarkt zusammen (zum Beispiel der Entlohnung nach Seniorität) und wird durch tief verankerte biographische Orientierungen stabilisiert. In allen modernen Wohlfahrtsstaaten sind die Älteren die hauptsächlichen Empfänger der öffentlichen Einkommenstransfer-Programme – in erster Linie in Form von Altersrenten, in zweiter Linie in Form der Kranken- und neuerdings der Pflegeversicherung, deren Ausgaben ebenfalls im höheren Alter ansteigen. Dies wird durch die Lebenslaufprofile der materiellen Leistungen an den und vom Staat klar belegt (vgl. Lee & Mason, 2011). Die Erwachsenen im Erwerbsalter sind (über ihre Beiträge und Steuern) überwiegend Netto-Zahler, während die Kinder und Jugendlichen ebenfalls Empfänger öffentlicher Leistungen – etwa in Form von Bildungsund Betreuungsangeboten und Zuwendungen (zum Beispiel Kindergeld) an ihre Eltern – sind, aber überwiegend (noch) von letzteren finanziert werden. Eine solche ungleiche Zuwendung öffentlicher Leistungen an die verschiedenen Altersgruppen ist im Hinblick auf Legitimität und Verteilungsgerechtigkeit relativ unproblematisch, denn jedes Individuum kommt sukzessive in den Genuss der unterschiedlichen Zuwendungen. Im Unterschied zu Geschlecht oder Ethnizität ist Alter keine stabile Eigenschaft einer Person. Altersgruppen haben keine feste Mitgliedschaft, sondern diese verändert sich ständig – jedes Individuum wechselt gemäß dem institutionalisierten Kalender des Lebenslaufs von einer Altersgruppe zur nächsten. Eine ungleiche Behandlung der Altersgruppen ist deshalb moralisch akzeptabel (Daniels, 1988) und kann durch unterschiedliche Bedürfnisse oder vernünftige Politikziele begründet werden (z. B. Esping-Andersen & Sarasa, 2002; Preston, 1984). Das einzige Problem liegt darin, dass nicht alle Menschen gleich lang leben. Diese unterschiedliche Lebensdauer ist sozial geschichtet und stellt deshalb eine massive soziale Ungleichheit im Hinblick auf den Generationenvertrag dar, die durch die demographische Alterung noch verstärkt wird. Umverteilung zwischen den Generationen ist dagegen prinzipiell problematisch. Das Konzept der Generation kann mit Bezug auf Gesellschaft oder mit Bezug auf Familie definiert werden – zwei Ebenen, die gewöhnlich getrennt behandelt werden, jedoch einen gemeinsamen Bezugsrahmen benötigen. Auf der Ebene der Familie bedeutet Generation eine bestimmte Position in der Abfolge von Eltern und Kindern. Auf der Ebene der Gesellschaft bedeutet Generation eine Menge von Personen, die im gleichen Zeitraum geboren sind (im Sprachgebrauch der Demographie: eine Geburtskohorte). Sie bewegen sich gemeinsam durch den Lebenslauf und erfahren die einzelnen historischen Ereignisse im gleichen Alter. Gesellschaftliche Generationen sind also Einheiten mit fester Mitgliedschaft. Man kann im Hinblick
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auf Einstellungen und Verhalten aus seiner Generation „austreten“, nicht jedoch im Hinblick auf öffentliche Rechte und Pflichten. Die Teilung von Lasten und Vergünstigungen zwischen den Generationen ist gerecht und fair, soweit jede Generation erwarten kann, im Durchgang durch den Lebenslauf gleich behandelt zu werden wie die vorangegangenen und folgenden. Die Älteren im Rahmen eines Umlageverfahrens durch Beiträge der Erwerbstätigen zu finanzieren, ist so lange unproblematisch, als letztere erwarten können, ihren Ruhestand in gleicher Weise durch die folgende Generation alimentiert zu bekommen. Leider ist dies jedoch selten der Fall; Unterschiede zwischen den Generationen sind eher die Regel als die Ausnahme. Sie werden sowohl durch historische Umbrüche als auch durch den fortlaufenden demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel erzeugt. Diese Unterschiede werden im öffentlichen Bewusstsein durch systematische Spaltungsdiskurse profiliert, etwa unter den Stichworten „Gerontokratie“ oder „Generationengerechtigkeit“. Auf der andern Seite lassen sich Mechanismen der gesellschaftlichen Integration erkennen, insbesondere politische Vermittlungsinstitutionen wie Parteien oder Gewerkschaften sowie die Beziehungen und der Austausch zwischen den Generationen in der Familie. Es gibt auch systematische Integrationsdiskurse, etwa die programmatische Forderung nach einer „Gesellschaft für alle Lebensalter“ oder das von der EU ausgerufene „Jahr der Generationen“.
2 Die neuen Generationen-Spaltungen Spaltungen (cleavages) zwischen den Generationen können aus mehreren Quellen entstehen: aus historischen Umbrüchen, aber auch aus dem weniger sichtbar ablaufenden strukturellen Wandel in Wirtschaft und Bevölkerung, dem kulturellen Wandel etwa im Sinne von Individualisierung oder technischen Innovationen sowie den institutionalisierten Lebenslaufmustern selbst, die zu nach Alter abgestuften Erfahrungen, Pflichten und Chancen führen. Historische Umbrüche oder „Wasserscheiden“ wie Kriege, große wirtschaftliche Krisen oder politische Systemwechsel verändern in kurzer Zeit die Lebensbedingungen tiefgreifend und wirken deshalb auf die Generationen unterschiedlich ein. Ihr Auftreten variiert stark zwischen den Ländern. Die Schweiz ist ein Beispiel für ein Land, das im 20. Jahrhundert von solchen Umbrüchen relativ wenig betroffen worden ist, und auch die USA – aus der die meiste Forschungsliteratur über Generationenbeziehungen stammt – weisen eine höhere historische Kontinuität auf als große Teile Europas. Deutschland dagegen ist stark von Diskontinuität geprägt. Die ältesten noch lebenden Deutschen im Ostteil des Landes haben nicht weniger als vier abrupte Wechsel des politischen Regimes erlebt: vom Kaiserreich über 14 Jahre Weimar, 12 Jahre Nationalsozialismus und 40 Jahre DDR bis zur Bundesrepublik. Dazu kommen die beiden großen Kriege, Flucht oder Vertreibung und wirtschaftliche Krisen mit zwei massiven Geldentwertungen.
Generationenbeziehungen und Generationenkonflikte
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Mit Karl Mannheim (1928) können wir fragen, welche Lebensphasen besonders „impressiv“, also der historischen Prägung unterworfen sind, und zwar sowohl im Hinblick auf Werte und Weltanschauungen als auch im Hinblick auf die nachfolgende gesellschaftliche Positionierung. Für Mannheim war es hauptsächlich die Jugendphase, in der die Heranwachsenden zum Bewusstsein ihrer selbst und der Welt, in der sie leben, erwachen. Heute werden eher frühere impressive Lebensphasen unterstellt, und auch die lange Zeit vorherrschende Vorstellung, im Erwachsenenleben sei keine historische Prägung mehr möglich, ist durch die Forschung relativiert worden. In einer bahnbrechenden Studie hat Glen Elder (1974) die langfristigen Folgen der großen Wirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre in den USA auf zwei Geburtskohorten untersucht, die diese Zeit in unterschiedlichem Alter durchlebten. Er konnte zeigen, dass die Folgen für diejenigen, die in ihrer frühen Kindheit waren, stärker negativ zu Buche schlugen als für diejenigen in der frühen Adoleszenz. Das Gewicht der Krise wurde durch die Familie vermittelt, insbesondere durch die väterliche Arbeitslosigkeit und deren Auswirkung auf Familiendynamik und wirtschaftliche Unsicherheit. Es gab jedoch auch erhebliche Resilienz, das heißt die Möglichkeit, die Verwundung durch die Krise durch günstige spätere Lebensbedingungen wieder wettzumachen. Ein einfacher Weg, um die Prägung durch historische Wasserscheiden zu erfassen, liegt darin, die Erwachsenen direkt danach zu fragen. Eine entsprechende Frage haben wir in der ersten Welle (1996) des Alters-Survey gestellt, einer großen repräsentativen Studie der deutschen Bevölkerung zwischen 40 und 85 Jahren. Die Frage lautete: „Es hat in unserem Land und in der Welt in diesem Jahrhundert eine Fülle von Ereignissen und Veränderungen gegeben. Bitte geben Sie ein oder zwei solcher Ereignisse oder Veränderungen an, die für Ihr Leben besonders prägend waren“. Die offenen Antworten wurden kodiert und zu Gruppen zusammengefasst (Scherger & Kohli, 2005). Die Ergebnisse im Hinblick auf drei solcher Ereigniskategorien – Zweiter Weltkrieg, „1968“, Wende – werden in Abb. 1 ausgewiesen1 , und zwar aufgeteilt nach drei Altersgruppen – 40–54, 55–69 und 70–85 Jahren – sowie West- und Ostdeutschland. Schon bei dieser sehr basalen Form der historischen Verankerung ergeben sich prägnante Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die älteste Gruppe im Westen nennt zu fast 100 % den Zweiten Weltkrieg. Das kann natürlich vieles heißen. Die Antworten auf die anschließende Frage „Was war daran für Sie prägend?“ zeigen, dass es typischerweise nicht um den Krieg als solchen geht, sondern um sein Ende, seine Folgen, und zwar ganz überwiegend die negativen, die Leiden und Brüche der Lebensführung: Tod, Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung. Auch in Ostdeutschland ist diese historische Verankerung unter den Älteren durchschlagend, und sie ist auch bei der mittleren Altersgruppe noch stark ausgeprägt – im Westen etwas mehr als im Osten –, während sie für die Jüngeren zu erheblichen Teilen schon verblasst ist. 1
Eine weitere interessante Erlebniskategorie bildete der (damals zehn Jahre zurück liegende) atomare GAU von Tschernobyl. Ähnlich wie „1968“ schlug auch er sich nur in Westdeutschland nieder, nämlich mit 6 %, während in Ostdeutschland nur 0,3 % eine entsprechende Prägung nannten.
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Westdeutschland
130
40-54 Jahre
55-69 Jahre
70-85 Jahre
Ostdeutschland
2. Weltkrieg
1968
Wende
40-54 Jahre
55-69 Jahre
70-85 Jahre
0
20
40
60
80
100
Prozent
Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf Freie Universität Berlin
FALL
Abb. 1 Historische Wasserscheiden nach Kohorten in Ost- und Westdeutschland Quelle: Deutscher Alters-Survey 1996, eigene Berechnungen (Scherger & Kohli 2005)
(Dass einige den Zweiten Weltkrieg nennen, obwohl sie erst danach geboren sind, ist keine „falsche“ Antwort, denn auch für sie können seine Folgen – etwa im Sinne von Verlust des Vaters oder Vertreibung oder auch nur der wach gehaltenen familialen Erinnerung daran – prägend gewesen sein). Als einziges Ereignis, das mit dem Zweiten Weltkrieg konkurrenzieren kann, tritt in unseren Befunden die Wende hervor, mit allerdings ausgesprochen unterschiedlicher Prägungskraft, sowohl in der Alters- wie in der West-/Ost-Dimension. In Ostdeutschland geben die Jüngeren annähernd vollständig an, von der Wende geprägt worden zu sein; unter den Ältesten sind es noch knapp die Hälfte. Auch im Westen nimmt die Prägung durch die Wende mit dem Alter stark ab, ist dabei jedoch insgesamt erheblich geringer: Bei den Jüngeren erfasst sie immerhin noch mehr als die Hälfte, in der mittleren Altersgruppe noch ungefähr ein Fünftel, während es von den Ältesten nur noch rund 5 % sind. Das zeigt, wie sehr Deutschland Mitte der 1990er Jahre auch in dieser historischen Verankerung noch eine gespaltene Gesellschaft war. Als Beispiel für makrostrukturellen Wandel sei hier die massive Verschiebung in der sektoralen Zusammensetzung der Wirtschaft im Laufe des letzten Jahrhunderts – von der Dominanz der Landwirtschaft zu derjenigen der Industrie und danach der Dienstleistungen – erwähnt. Am schnellsten vollzog sich diese Verschiebung an der europäischen Peripherie: in den Mittelmeerländern, in Irland und in Skandinavien.
Generationenbeziehungen und Generationenkonflikte
131
In Finnland etwa schrumpfte der Anteil des primären Sektors (hauptsächlich Landund Forstwirtschaft) von 71 % im Jahre 1920 auf 46 % 1950 und 8 % 1990. Nach einer Überschlagsrechnung bedeutet dies, dass etwa zwei Drittel der gegenwärtigen finnischen Ruheständler in eine Bauernfamilie geboren wurden – eine Erfahrung, die man offensichtlich nicht leicht vergisst und die ein Grund dafür sein mag, dass landwirtschaftliche Interessen in der Politik auch vieler anderer europäischer Länder nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, die weit über das aktuelle Gewicht des landwirtschaftlichen Sektors hinaus geht. Kulturelle Verschiebungen wie etwa in Richtung stärkerer Individualisierung (vgl. Ehrhardt & Kohli, 2011) und Verschiebungen in den institutionellen Kontexten des Lebenslaufs sind ebenfalls zu berücksichtigen. Bei den letzteren kommt es vor allem auf die Institutionen des Arbeitsmarktes und des Wohlfahrtsstaats an. Was den Arbeitsmarkt betrifft, wird oft behauptet, dass wir es heute mit einem generationellen Wandel von stabilen zu prekären Karrieren zu tun haben, der nur die jüngeren Generationen erfasse, während die älteren noch ihren Besitzstand wahren könnten. Die empirischen Befunde zeigen, dass es dabei eine hohe Variation zwischen den nationalen Gesellschaften gibt (Blossfeld et al., 2005). Was den Wohlfahrtsstaat betrifft, stammt die radikalste These von David Thomson (1989), der die Entwicklung des neuseeländischen Wohlfahrtsstaates als Verschwörung einer bestimmten Generation gegen alle anderen gedeutet hat. Er versuchte zu zeigen, dass diese Generation, als sie jung war, zuerst die Systeme der Familien- und Wohnbauförderung schuf, sich dann dem Arbeitsmarkt zuwandte und schließlich, als sie älter wurde, das Rentensystem ausbaute. Das hat nach Thomson zu einer derartigen finanziellen Überlastung des Wohlfahrtsstaates geführt, dass er für alle jüngeren Kohorten wieder sukzessive abgebaut werden musste. Das ist eine herausfordernde These, die in andern Ländern bisher keine Bestätigung gefunden hat, aber das Potential des Wohlfahrtsstaates zur Schaffung von Ungleichheit zwischen den Generationen herausstreicht. Im Zuge des Rückbaus der westlichen Wohlfahrtsstaaten gibt es auch anderswo ein zunehmendes Risiko dafür. Schließlich ist an die Demographie selber zu denken. Richard Easterlin (1980) hat ein weitreichendes Modell ökonomischer Spaltungen zwischen den Generationen formuliert, das auf der demographischen Diskontinuität von großen und kleinen Geburtskohorten (also der Abfolge von baby boom und baby bust) basiert. Große Geburtskohorten sind mit stärkerer Konkurrenz in Schule und Arbeitsmarkt konfrontiert und bleiben deshalb lebenslang relativ benachteiligt. Als Folge daraus haben sie auch weniger Kinder. Für diese kleinen Geburtskohorten gilt das Gegenteil, so dass sie wieder mehr Kinder produzieren. Auch dieses Modell hat sich empirisch bisher nicht verallgemeinern lassen, es zeigt jedoch, wie demographische Prozesse Ungleichheit zwischen den Generationen schaffen und stabilisieren können. Wie schneiden die Generationen im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Lebenslage ab? Sie ist, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, das Ergebnis der Ressourcenverteilung durch Markt und Staat. Dies schafft ein interessantes Problem der Kausalzuschreibung. Es geht jedenfalls nicht an, den wirtschaftlichen Status von Kindern und Rentnern als einfaches Nullsummenspiel zu betrachten. Während der-
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Tabelle 1 Das relative Einkommen und seine Veränderung nach Altersgruppen, OECD-Länder, ca. 1985–2005
Australia
2005 change, 2005–1994 France 2004 change, 2005–1984 Germany 2005 change, 2005–1984 Hungary 2005 change, 2005–1991 Italy 2005 change, 2005–1984 Japan 2003 change, 2003–1985 Sweden 2005 change, 2005–1983 Switzerland 2004 change, 2004–1998 UK 2005 change, 2005–1985 USA 2005 change, 2005–1984
0–17
18–25
26–40
41–50
51–65
66–75
> 75
90.5 5.9 91.2 3:3 87.7 4:0 95.3 4:4 90.1 0:1 92.3 0:2 95.8 1:8 85.2 1.2 85.3 4:3 88.5 6.9
115.9 4:4 95.1 6:5 90.9 8:1 109.2 0.1 99.6 7:2 105.4 2:1 90.0 11:9 105.0 0.2 105.3 8:5 90.1 8:6
109.4 1:3 95.6 10:3 98.8 5:6 102.8 1:6 106.2 0:1 101.0 4.6 97.6 4:8 109.2 8.6 108.8 3.6 97.9 6:2
111.6 11:8 106.8 5:1 112.8 0.9 103.8 12:4 106.0 0.2 111.4 3.6 108.6 5:2 109.0 0.9 118.1 5:4 113.4 4:1
102.1 12.2 117.5 14.5 114.2 4.8 106.9 9.3 110.4 2.7 113.1 2.1 123.1 8.4 110.0 9:6 112.6 7.4 122.3 1.7
71.9 4.4 97.6 11.3 96.3 14.1 86.8 8.1 88.4 6.1 88.5 2:9 91.6 4.1 82.0 12:4 76.7 2.7 95.7 3:4
66.4 0.6 91.2 9.2 85.5 4.6 78.8 2.0 76.0 1:9 84.2 8:3 69.8 2.5 76.9 2:6 68.2 4:0 75.8 8:7
jenige der Rentner unmittelbar von der Ausgestaltung der staatlichen Alterssicherung abhängt, wird derjenige der Kinder stärker vom Einkommen ihrer Eltern und damit vom Arbeitsmarkt bestimmt. Soweit es zwischen den beiden einen trade-off gibt, beruht dieser auf dem spezifischen institutionellen Arrangement der verschiedenen Wohlfahrtsregimes. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Länder mit höheren staatlichen Leistungen für die Älteren auch ihre Kinder besser behandeln (Börsch-Supan 2007). Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die Einkommenslage der verschiedenen Altersgruppen in einigen ausgewählten OECD-Ländern im Jahre 2005 (oder kurz davor) und ihre Veränderung seit der Mitte der 1980er Jahre. Die Grundlage dafür sind Äquivalenzeinkommen, das heißt Haushaltseinkommen, die unter Berücksichtigung der Zusammensetzung der Haushalte auf die darin lebenden Personen umgerechnet werden. Die Ergebnisse zeigen, dass es den Kindern und Jugendlichen bis 17 Jahre schlechter als der Bevölkerung im Erwerbs-Alter geht und den Älteren über 65 in den meisten Ländern noch schlechter. Unter den letzteren sind die „alten Alten“ (über 75) besonders benachteiligt. Eine Differenzierung zwischen Alters- und Kohorteneffekten würde Längsschnittdaten voraussetzen. Die vorliegenden Daten zu Veränderungen über zwei Jahrzehnte geben eine erste Annäherung daran. Sie machen zum Beispiel deutlich, dass die jungen Erwachsenen von 18–25 Jahren in dieser Zeit in den meisten Ländern an Boden verloren haben. Es ist allerdings nicht klar, wieviel davon der Ausweitung der tertiären Bildung und dem entsprechend späteren Einstieg ins Berufsleben geschuldet
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ist und wieviel den geänderten Bedingungen des Arbeitsmarktes selber. Was letzteren betrifft, sind unterschiedliche Kohortenprozesse am Werk, die gegensätzliche Folgen haben können. Ein solcher Prozess ist der mittlere Qualifikationsanstieg bei den jüngeren Kohorten, ein anderer die schon erwähnte zunehmende Prekarität der Berufslaufbahn oder zumindest des Einstiegs in sie, vor allem in den Ländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit. Ein ähnliches Kohortenargument trifft auf die „jungen Alten“ (von 66 bis 75 Jahren) zu, deren relative Einkommensposition sich in einigen Ländern verbessert, in andern verschlechtert hat. Ihre Renten könnten von höheren Arbeitseinkommen über den Lebenslauf profitiert haben, aber auch schon unter dem beginnenden allgemeinen Rentenrückschnitt leiden. In einer genaueren Betrachtung (hier nicht gezeigt) wird deutlich, dass die relativen Einkommen der Älteren von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre zugenommen, danach (seit Einsetzen der Renten„reformen“ mit den entsprechenden Leistungsminderungen) jedoch wieder abgenommen haben. In diesem Zeitraum haben die Kinder in der Tat in einigen – nicht in allen – Ländern etwas Terrain eingebüßt. Ihre Lage ist überall schlechter als die der Bevölkerung im Erwerbsalter (in die auch die Haushalte eingehen, in denen keine oder nur wenige Kinder leben). Die Einkommenslage der Älteren hat sich in den meisten Ländern verbessert, liegt aber ebenfalls unter derjenigen der Erwerbsbevölkerung. Am stärksten ausgeprägt ist dies in Großbritannien mit seinem liberal-‚residualen‘ Wohlfahrtsstaat, während Kanada und die USA – die beiden andern Vertreter dieses Wohlfahrtsstaatmodells – hier besser abschneiden. Überdies ist die Lage der ‚älteren Alten‘ (über 75) deutlich schlechter als die der ‚jungen Alten‘ (66 bis 75). Darin dürfte sich auch der mit dem Alter zunehmende Frauenanteil ausdrücken. In Deutschland ist der Abstand zwischen diesen beiden Altersgruppen über die zehn Jahre sogar noch gewachsen. Die Darstellung der mittleren Einkommenslagen verschweigt allerdings die Verteilung innerhalb der Altersgruppen bzw. Kohorten, also die Wirksamkeit anderer Ungleichheitsdimensionen. Ein Teil davon kommt im Blick auf die Armutsquoten – hier gemessen als Anteil derjenigen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 50 % des Medians der jeweiligen Altersgruppe – zum Ausdruck. Die Armutsquote der Gesamtbevölkerung variiert zwischen 5 % in Schweden und 17 % in den USA. In den meisten Ländern sind sowohl Kinder und Jugendliche als auch Ältere häufiger arm als die Bevölkerung im Erwerbsalter, wobei die Älteren – besonders die über 75jährigen – meist (außer in Deutschland, Ungarn und Italien) noch schlechter dastehen als die Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren. In den USA leben 21 % der unter 18jährigen und 27 % der über 75jährigen in relativer Armut, während die entsprechenden Anteile in Schweden 4 bzw. 10 % betragen. Dies erweist deutlich die Wirkung des Wohlfahrtsstaates, dem es über weite Strecken gelungen ist, die Konsumchancen über den ganzen Lebenslauf auszugleichen und damit die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Altersgruppen und Generationen klein zu halten. Es gibt massive Unterschiede in den Armutsquoten zwischen den Ländern und Wohlfahrtsregimes, vor allem zwischen den Regimes an den entgegengesetzten Enden des Spektrums, nämlich dem „liberalen“ (angelsäch-
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Tabelle 2 Relative Armutsquoten und ihre Veränderung nach Altersgruppen, OECD-Länder, ca. 1985–2005 0–17 18–25 26–40 41–50 51–65 66–75 Australia
2004 change, 2004–1995 France 2004 change, 2004–1984 Germany 2005 change, 2005–1985 Hungary 2005 change, 2005–1991 Italy 2004 change, 2004–1984 Japan 2004 change, 2004–1985 Sweden 2004 change, 2004–1983 Switzerland 2004–05 change 2004–2000 UK 2005 change, 2005–1985 USA 2005 change, 2005–1984
11.8 1:2 7.6 0.3 16.3 8.9 8.7 3.0 15.5 4.0 13.7 2.8 4.0 1.2 9.4 1.2 10.1 2.5 20.6 4:5
8.0 1.5 9.9 0:2 18.5 9.0 8.2 3.9 12.3 2.7 16.1 5.6 14.7 5.8 8.2 0.9 7.9 2.2 21.2 3.3
7.9 1:2 6.7 0.7 10.8 5.0 5.2 1.2 9.8 1.9 10.7 1.3 5.6 3.2 6.1 0:1 7.0 1.5 14.8 0.9
7.9 1.1 5.5 0:8 7.4 4.4 11.2 7.7 9.9 2.0 10.9 1.4 3.9 1.2 5.4 1.4 5.7 3.3 11.9 0.2
16.2 3.2 5.0 5:1 8.0 3.4 6.4 0.4 9.0 1:5 13.2 0:1 2.3 0:2 7.4 0.6 8.0 2.2 12.8 0:5
> 75
Total
26.1 28.3 12.4 7.2 1:8 1.1 7.2 10.6 7.1 2:3 0.0 1:2 6.5 11.1 11.0 0.1 0:1 4.7 4.2 5.5 7.1 8:1 12:9 0.8 11.2 15.2 11.4 4:3 2:4 1.1 19.4 25.4 14.9 3:4 1.9 2.9 3.4 9.8 5.3 1.0 0.2 2.0 16.6 19.3 8.7 4.5 4.0 1.2 8.5 12.6 8.3 0.3 1.3 2.0 20.0 27.4 17.1 1.9 0:5 0:8
sischen) und dem „sozialdemokratischen“ (skandinavischen). Das „konservative“ Wohlfahrtsregime der kontinentaleuropäischen westlichen Länder und das „familialistische“ Regime der Mittelmeer-Länder liegen dazwischen. Was die Veränderung seit Mitte der 1980er Jahre betrifft, so haben die Armutsquoten der Kinder und Jugendlichen in den meisten Ländern (Ausnahmen sind Australien und die USA) zugenommen, während das Bild für die Älteren weniger eindeutig ist. In einer längeren Perspektive seit 1970 (hier nicht gezeigt) ist die relative Armut unter den Kindern gleich geblieben oder hat zugenommen. Unter den Älteren nahm sie zunächst ab, aber dieser Trend hörte Mitte der 199er Jahre auf; man kann auch darin schon einen Effekt des beginnenden Rentenrückbaus sehen (Liebig et al., 2004). Die Gleichheit der materiellen Lebensbedingungen steht heute sowohl von der Seite der primären Einkommensverteilung im Arbeitsmarkt als auch von der Seite der Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat unter Druck. In der gegenwärtigen Lage deuten viele Zeichen darauf hin, dass sich die Ungleichheit in Zukunft verschärfen wird. Diese empirischen Befunde legen einige politische Folgerungen nahe. Unter Gleichheitsgesichtspunkten ist es erforderlich, Kinder (und ihre Eltern) zu unterstützen, um ihre Einkommen und Armutsquoten an diejenigen der Erwerbsbevölkerung heranzuführen. Auf der andern Seite gibt es keinen Grund, den Älteren die sozialstaatlichen Leistungen zu entziehen oder zu kürzen, denn sie stehen mit ihrem relativen Einkommen noch schlechter da als die Kinder. Wir können uns entscheiden, im Hinblick auf die demographische Reproduktion der Gesellschaft und das
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Humankapital der künftigen Generationen mehr in die Kinder zu investieren, aber wenn dies zu Lasten der Älteren ginge, würde es die Grundsätze der Generationengerechtigkeit verletzen.
3 Politische Mobilisierung Welche Risiken (oder welche Chancen) bestehen, dass diese Generationenspaltung in den wirtschaftlichen Lebenslagen zu einer politischen Mobilisierung entlang der Generationslinien führt? Zur Zeit sind sie eher gering. Zum einen ist die Spaltung – wie eben gezeigt – (noch) bescheiden, und zum andern müsste eine solche Mobilisierung einige Hürden überwinden. Die erste davon ist die prinzipielle Uneindeutigkeit in der Abgrenzung von gesellschaftlichen Generationen; es gibt gewöhnlich kein klares Kriterium dafür, wann eine Generation beginnt und wann sie endet, und deshalb trägt jede konkrete Definition ein hohes Maß von Willkür in sich. Diese Uneindeutigkeit erschwert die Wahrnehmung eines gemeinsamen historischen Schicksals. Die zweite Hürde liegt in der eingangs erläuterten internen Differenzierung jeder Generation im Hinblick auf Spaltungsdimensionen wie Klasse, Geschlecht, Ethnizität oder Religion. Trotz dieser Hürden sind allerdings viele historische Revolutionen von Jugendbewegungen angestoßen und vorangetrieben worden. Das war der Fall für die Französische Revolution von 1789 ebenso wie für die bolschewistische Revolution von 1917, für die faschistische Revolution in Italien ebenso wie für die nationalsozialistische in Deutschland. Ein großer Teil der Führungskader der NSDAP war 1933 anfangs oder Mitte Dreißig (und als das Tausendjährige Reich zwölf Jahre später sein Ende fand, Mitte Vierzig). In Italien feierte die faschistische Hymne die Jugend als „Frühling der Schönheit“ („Giovinezza, giovinezza, primavera di bellezza. . . “) und nahm sie als Vorhut des kulturellen und politischen Umbruchs – im Kriegszustand mit der Welt der Erwachsenen – in Anspruch (Wohl, 1979). Das Problem der internen Differenzierung wurde durch Generationseliten, die sich als Trägergruppen der übrigen sozialen Schichten darzustellen verstanden, erfolgreich gelöst. Es gibt vier Dimensionen politischen Verhaltens, die man im Hinblick auf Indikatoren für eine generationelle Mobilisierung überprüfen kann (vgl. auch den Beitrag von Manfred Schmidt zu diesem Band). Die erste liegt in der Wahrnehmung von Alters- bzw. Generationenspaltungen durch die Bevölkerung, insbesondere im Hinblick auf die wohlfahrtsstaatliche Umverteilung (z. B. Busemeyer et al., 2009; Hicks, 2001; Svallfors, 2008). Es gibt inzwischen einige vergleichende Surveys, die sich dazu nutzen lassen. Darin werden die Befragten etwa nach ihren Präferenzen für eine Ausweitung oder Einschränkung der öffentlichen Ausgaben für bestimmte Politikbereiche wie Renten oder Bildung gefragt. Die Ergebnisse zeigen eine übereinstimmende Befürwortung höherer öffentlicher Ausgaben für diese beiden Bereiche quer durch alle Altersgruppen. Es gibt gewisse Altersunterschiede dergestalt, dass bei den Renten die Älteren eine etwas stärkere Unterstützung aufweisen als die Jüngeren, während es bei Bildung umgekehrt ist. Aber dieser Alters- bzw. Ko-
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horteneffekt ist bescheiden. Ähnliches trifft für die Präferenzen hinsichtlich spezifischer politischer Maßnahmen zu. So wird z. B. eine Erhöhung der Altersgrenze für den Rentenbeginn von einer großen Mehrheit abgelehnt – wiederum quer durch alle Altersgruppen (Kohli, 2003). Der zweite Indikator ist das Wahlverhalten (z. B. Campbell & Binstock, 2011; Goerres, 2010). Auch hier sind die bisher beobachteten Alterseffekte gering. Vieles spricht eher für Kohorteneffekte. Für die USA haben Campbell & Binstock (2011:268) festgestellt, dass in den letzten 10 Präsidentschaftswahlen alle Altersgruppen außer der jüngsten (den 18–29jährigen) ihre Stimmen in jeweils annähernd gleichen Anteilen auf die Kandidaten verteilten. Dagegen gab es starke Periodeneffekte, entweder zugunsten der Demokraten oder der Republikaner. Diese resultierten in entsprechenden Kohorteneffekten, da die Erstwähler besonders stark auf die jeweiligen Periodeneffekte reagierten und als Kohorte dazu tendierten, diese erste Wahlentscheidung über ihren ganzen weiteren Lebenslauf hinweg beizubehalten. In den europäischen Mehrparteiensystemen haben sich an verschiedenen Stellen „graue“ Parteien gebildet, die sich die spezifische Interessenvertretung der Rentner auf die Fahnen geschrieben und damit auch einzelne Wahlerfolge erzielt haben; aber wie den andern Ein-Thema-Parteien ist es ihnen meist nicht gelungen, sich dauerhaft zu etablieren. Der dritte Indikator bezieht sich auf die Stimmabgabe in Referenden über bestimmte Politikmaßnahmen, wie sie etwa in der Schweiz (Bonoli & Häusermann, 2009) oder in einigen Staaten der USA üblich sind. Er lässt spezifischere Schlüsse auf die Präferenzen der Bevölkerung zu als das Wahlverhalten. Die wenigen bisher vorliegenden Befunde dazu zeigen erneut gewisse Altersunterschiede im Sinne der Vertretung eigener Interessen (z. B. höhere Unterstützung von Maßnahmen der Rentenpolitik durch die Älteren, von Maßnahmen der Bildungs- oder Familienpolitik durch die Jüngeren). Die Unterschiede sind jedoch auch hier relativ gering. Als viertes schließlich sind die Unterschiede in der politischen Beteiligung zu nennen (Campbell & Binstock, 2011; Goerres, 2010). Das zunehmende Gewicht der Älteren in Wahlen und Referenden ist nicht nur in ihrem steigenden Anteil an der Wahlbevölkerung begründet, sondern auch in ihrer höheren Wahlbeteiligung im Vergleich zu den jungen Erwachsenen. Ähnliches gilt für die Mitgliedschaft in politischen Parteien. Aber Parteimitgliedschaft lässt sich nicht mit politischer Macht gleichsetzen. In Deutschland gibt es ein „Paradox der Repräsentation“ (Kohli et al., 1999): Die Älteren haben eine wesentlich geringere Vertretung in Parlament und Regierung als ihrem Bevölkerungsanteil oder gar ihrem Mitgliedsanteil in den Parteien entspricht. „Nicht-traditionale“ Partizipation – etwa in Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen – ist unter den Älteren bisher deutlich weniger stark als unter den Jüngeren, aber man kann annehmen, dass sich diese Formen der politischen Aktivität im Alter im Zuge des Alterns der „1968er“ Generation verstärken werden.
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4 Generationenintegration: Vermittlungsinstitutionen in Politik und Familie Dass die Spannungslinien zwischen den Generationen, was die Lebenslagen und vor allem die wohlfahrtsstaatliche Umverteilung betrifft, bisher nicht zu stärkerer Mobilisierung geführt hat, ist erklärungsbedürftig – umso mehr als es an Mobilisierungsversuchen und entsprechenden Spaltungsdiskursen nicht gefehlt hat. Die wichtigste Erklärung dürfte darin zu suchen sein, dass es wirksame Institutionen und Prozesse der Generationenintegration gibt, sowohl im politischen wie im familialen Generationenverhältnis. Im politischen Bereich geht es um die vorherrschenden Muster der Interessenformation. Die großen Volksparteien und die Gewerkschaften sind nicht nach Alter differenziert, sondern versammeln der Tendenz nach alle Altersgruppen und Generationen unter ihrem Dach. Durch den organisierten Austausch bzw. die Konkurrenz zwischen ihnen tragen sie dazu bei, Generationsinteressen intern zu stabilisieren. Das gilt besonders im deutschen korporatistischen System, lässt sich jedoch in ähnlicher Form auch in andern Ländern beobachten (Kohli et al., 1999). Paradox scheint die Lage vor allem für die Gewerkschaften zu sein (vgl. Wolf et al., 1994). Als Arbeitnehmerorganisationen hätten sie – so könnte man annehmen – primär die Interessen der Erwerbstätigen zu vertreten. Sie müssten für hohe Löhne sowie für die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen und damit für möglichst niedrige Lohnnebenkosten eintreten. Aber so einfach ist die Sache nicht. Zum einen verstehen sich die Gewerkschaften schon immer als Interessenvertretung auch der ehemals Erwerbstätigen. Zum anderen gewinnen die Älteren auch in den Gewerkschaften zunehmend an Gewicht und bringen ihre Interessen ein. Unbeabsichtigt und weitgehend unbemerkt sind die Gewerkschaften zu einem der größten Seniorenverbände in Deutschland geworden. Das geht allerdings nicht ohne Konflikte ab. Es müssen neue Organisationsformen gefunden werden, in der die potentiellen Interessengegensätze zwischen Erwerbstätigen und Rentnern vermittelt und stillgestellt werden. Damit wird die Ruhestandsbevölkerung in eigenständigen Formen organisiert, aber zugleich partiell an die Erwerbsphase zurückgebunden. Die politische Partizipation und Mobilisierung der Älteren erfolgt also in einer Weise, in der bezogen auf die Erwerbsphase sowohl Kontinuität wie Diskontinuität realisiert sind. Das trifft auch für das Führungspersonal zu. Mit dem Übergang in den Ruhestand scheiden die Funktionsträger (überwiegend) aus ihren Positionen aus, gewinnen jedoch mit den Seniorengruppen eine neue Plattform, von der aus sie ihre Partizipationsansprüche in die Gesamtorganisation tragen können. Weniger paradox, aber in der Grundstruktur analog stellt sich das Problem für die großen Parteien dar, und auch ihre Lösungsversuche sind ähnlich: Die Parteien versuchen Seniorenorganisationen zu schaffen, die man böswillig als Spielwiesen für die Älteren bezeichnen könnte. Sie tragen dazu bei, die älteren Mitglieder weiterhin an die Partei zu binden, und ermöglichen dem Führungspersonal eine gewisse Kontinuität der politischen Funktion nach dem Ende der aktiven Politikphase. Es
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ist typisch, dass auch das Führungspersonal der Politik mit wenigen Ausnahmen ungefähr zum Zeitpunkt der Rentengrenze in den politischen Ruhestand geht, wie man etwa an der Zusammensetzung des Bundestages ablesen kann (Kohli et al., 1999). Die Repräsentanz der Älteren im Bundestag ist wie erwähnt gering und hat seit den 1960er Jahren – in einer Periode, in der das demographische Gewicht der älteren Bevölkerung massiv zugenommen hat – sogar noch abgenommen. Auch in den Spitzenpositionen der Politik gibt es also einen Trend zum frühen Ruhestand. Es scheint eine Art ungeschriebenes Gesetz geworden zu sein, dass Abgeordnete, die das Rentenalter erreicht haben, sich nicht mehr zur Wiederwahl stellen. Als mögliche Gründe dafür kommen sowohl sowohl Druck von außen als auch eigene Präferenzen in Frage. Die Parteiführungen können Druck ausüben, um die Parlamentssitze für jüngere Mandatsträger frei zu räumen. Auf der andern Seite kann die Belastung des politischen Geschäfts so hoch und die Altersversorgung der Abgeordneten so gut sein, dass diese freiwillig das Feld räumen. Umso wichtiger sind im Hinblick auf alters- und generationenübergreifende Politik die Seniorenorganisationen innerhalb der Parteien. Gäbe es sie nicht, so könnte man erwarten, dass sich die Altersgruppen und Generationen eigene Organisationen schaffen würden, um auf dieser Grundlage ihre Interessen gegeneinander in Stellung zu bringen. Soweit es sie gibt, werden die Interessenkonflikte intern geregelt und nicht auf dem externen politischen Markt als Kampf von nach Alter und Generation differenzierten Organisationen gegeneinander ausgetragen. Wenn allerdings die Konkurrenz zwischen den Generationen sich realgesellschaftlich verschärfen sollte, dürfte dieses interne System der Konfliktartikulation zunehmend unter Druck geraten. Im Bereich der Familie ergibt sich eine ganz andere Generationenfolge, in der das Abgrenzungsproblem fehlt, die Aggregierung zu gesellschaftlich relevanten Gruppen allerdings umso schwerer fällt. Familien sind die prototypische Institution der Alters- und Generationenintegration. Ein Beispiel dafür gibt Peter Uhlenbergs (2009) Analyse der Daten des General Social Survey in den USA, in dem die Befragten aufgefordert wurden, bis zu 5 andere Erwachsene zu nennen, mit denen sie während der letzten sechs Monate wichtige persönliche Probleme diskutiert hatten. Das Ergebnis war eindeutig: Die genannten Diskussionspartner waren entweder Gleichaltrige oder Familienangehörige. Niemand unter 30 nannte jemanden über 70 außerhalb der Familie als engen Diskussionspartner und umgekehrt. Es wurde also kein Mitglied einer entfernten Altersgruppe bzw. Generation genannt, es sei denn ein Familienmitglied. Die Bedeutung der Familie wird durch die Befunde über die räumliche und emotionale Nähe zwischen den Familiengenerationen und über ihre gegenseitige materielle Unterstützung untermauert (Kohli, 2009). Die Forschung zur Unterstützung zwischen den Generationen in der Familie hat die Aufgabe, die verschiedenen Typen von Unterstützung zwischen Eltern und Kindern in beiden Richtungen zu beschreiben und zu erklären und ihre Folgen für die Lebenslage der beiden Generationen darzustellen. In Deutschland stützt sich diese Forschung hauptsächlich auf den schon erwähnten Deutschen Alters-Survey (Kohli & Künemund, 2005), in Europa auf den Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) (Al-
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bertini et al., 2007; Kohli, 2009). Aus traditioneller Sicht erscheinen die Älteren hauptsächlich als Unterstützungsbedürftige (und damit als soziales Problem). In der neueren Forschung ist es gelungen, die Älteren auch als Unterstützungsleistende (und damit als soziale Ressource) wahrzunehmen; diese Unterstützungsrichtung ist stärker ausgeprägt, so dass es zu einem Netto-Unterstützungsfluss von den Eltern zu den Kindern kommt (also in gegenläufiger Richtung zum öffentlichen Transfer durch das Rentensystem). Materielle Transfers von den Eltern zu ihren erwachsenen Kindern kommen weit häufiger vor und sind zudem in der Regel intensiver als diejenigen von Kindern zu ihren Eltern. Auch im Hinblick auf soziale Unterstützung wird dieses Bild von den Daten bestätigt, sowohl was die Häufigkeit wie was die zeitliche Intensität betrifft. Das Bild variiert teilweise mit dem Alter. Es wird häufig angenommen, dass Kinder Geld und soziale Hilfe von ihren Eltern erhalten, wenn diese noch jung sind, und sich dann revanchieren, sobald ihre Eltern alt und gebrechlich werden. Dies ist nur eingeschränkt der Fall, wie aus der Unterstützungsbilanz hervorgeht, in der Geld- und Zeittransfers addiert werden (Abb. 2). Dabei wird für die Zeittransfers ein Stundenlohnsatz von 7,50 Euro zugrunde gelegt (entsprechend dem Lohnsatz, der in der deutschen Diskussion der letzten Jahre häufig als mögliche Höhe eines
8.000 €
6.000 €
4.000 €
2.000 €
0€
-2.000 €
-4.000 € SE 50-59
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IL
80+
Abb. 2 Bilanz der Zeit- und Geldtransfers zwischen Eltern und Kindern. Von den Eltern gegebene Euro minus von ihnen erhaltene Euro, Lohnsatz A C 7;50=h. Quelle: SHARE Wave 1, 2004, Release 2.0.1 (Vogel 2008)
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gesetzlichen Mindestlohns genannt wurde). Es zeigt sich, dass die Altersgruppen bis 79 Jahre in allen Ländern eine positive Bilanz aufweisen, während die Bilanz für die Altersgruppe über 80 negativ wird (mit Ausnahme von Dänemark, wo selbst die über 80-Jährigen Netto-Geber bleiben). Die SHARE-Ergebnisse widersprechen damit der Annahme einer Umkehr der Unterstützungsrichtung bei den jüngeren Alten. Erst die über 80jährigen sind in den meisten Ländern Netto-Empfänger, wobei (hier nicht gezeigt) sich dies nur auf die soziale Unterstützung bezieht, während die Bilanz der finanziellen Transfers auch bei der ältesten Gruppe positiv bleibt. Werden die Ergebnisse dieser Analysen zusammengefasst und mit denjenigen früherer Studien ergänzt, ergibt sich folgendes stilisiertes Bild: • Erwachsene Kinder und ihre älteren Eltern leben nahe beieinander (obwohl meistens nicht im gleichen Haushalt), sie fühlen sich emotional verbunden, haben häufigen Kontakt und unterstützen sich gegenseitig auf unterschiedliche Weise. • Monetäre Transfers und soziale Unterstützung sind (noch) weit verbreitet und substantiell, und sie fließen überwiegend nach unten, von den Eltern zu den Kindern. • Der Transfer finanzieller Ressourcen inter vivos wird ergänzt durch Erbschaften. Inter vivos-Transfers gehen hauptsächlich an bedürftige Kinder (‚Altruismus‘ im ökonomischen Sprachgebrauch), wohingegen Erbschaften und größere Geschenke relativ gleichmäßig unter allen Kindern verteilt werden. • Die Unterschiede zwischen den Ländern sind beträchtlich und tendieren zur Cluster-Bildung entlang der bekannten Wohlfahrtsstaatsregime. Solche familiale Unterstützung im Generationenverhältnis ist für die Beteiligten nicht nur erfreulich; weil es dabei um die Balance zwischen moralischer Verpflichtung und Autonomie geht, ist sie immer ambivalent (Lüscher, 2000) und in manchen Fällen konfliktbeladen (Szydlik, 2002). Aber insgesamt überwiegen doch die positiven Aspekte der Nähe und Hilfe. Sie sind ein Kitt zwischen den Generationen und tragen zu deren Integration über die potentiellen gesellschaftlichen Spannungslinien hinweg bei.
5 Zusammenfassung und Ausblick Altersgruppen und Generationen bilden eine zentrale Dimension sozialer Ungleichheit. Dies wirft zwei Fragen auf, die ich in diesem Kapitel diskutiert habe: erstens, wie sich diese Ungleichheiten entwickelt haben und durch den gegenwärtigen sozialen Wandel beeinflusst werden; und zweitens, wie sie sich in gesellschaftliche Spannungslinien und Konflikte ummünzen. Ob und wie stark diese Konflikte offen ausgetragen werden, hängt von der politischen Mobilisierung der Akteure auf beiden Seiten der Bruchlinie ab. Die vorliegenden Befunde zeigen, dass es derzeit wenig offene Konflikte zwischen den Generationen gibt. Das liegt nicht zuletzt an den Vermittlungsinstitutionen in Politik und Familie.
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Wie wird sich die Spannungslinie zwischen den Generationen zukünftig entwickeln? Werden die Vermittlungsinstitutionen weiter wirksam bleiben oder stehen zunehmend Verteilungskonflikte (und auch Konflikte über politische und kulturelle Hegemonie) zwischen Alters- und Generationsgruppen an? Für Deutschland haben Sinn und Uebelmesser (2003) eine formale Analyse vorgelegt, in der sie diese Frage im Hinblick auf den Wohlfahrtsstaat und insbesondere die Alterssicherung nachdrücklich bejahen. Dazu projizieren sie den Median des Alters der Wähler und das ‚Indifferenzalter‘ – das Alter, in dem die Gewinne und Verluste aus einer Rentenreform sich die Waage halten – in die Zukunft. Ihre Annahme lautet, dass eine Reform nur so lange möglich sein wird, wie der Median-Wähler sie befürwortet. Sie finden, dass dies noch bis 2016 der Fall sein wird, dass also bis zu diesem Zeitpunkt eine Rentenreform noch demokratisch durchgesetzt werden kann, weil die Mehrheit der Wähler noch unter dem Indifferenzalter liegt. 2016 ist demnach Deutschlands letzte Chance – danach wird es zu einer Gerontokratie. Diese Annahme ist viel zu mechanistisch. Sie beruht darauf, dass die individuelle Wahlentscheidung ausschließlich von der eigenen Gewinn-Verlust-Rechnung abhängt und dass sich Wahlanteile vollständig in die entsprechende Politik umsetzen. Beides trifft offensichtlich nicht zu. Die Annahme vernachlässigt die politischen Vermittlungsinstitutionen und die Solidarität zwischen den Generationen innerhalb der Familie. Die Frage ist, ob diese beiden Faktoren stark genug bleiben werden, um das Konfliktpotenzial zwischen den Altersgruppen und Generationen in Schach zu halten – auch unter den Bedingungen eines (partiellen) Rückschnitts des wohlfahrtsstaatlichen Generationenvertrages. Die Frage stellt sich ähnlich mit Bezug auf die Klassenspaltung. In den meisten westlichen Gesellschaften ist die Ungleichheit zwischen den sozialen Schichten in den letzten Jahrzehnten wieder gestiegen. Das Altern der Bevölkerung dürfte diese Ungleichheit weiter vertiefen, denn zentrale Dimensionen des Lebens im Alter sind sozial geschichtet – von Morbidität und Mortalität über funktionale Leistungsfähigkeit und materieller Lage bis zu sozialer Partizipation und Integration. Die lebenslange Akkumulation von Gewinnen und Verlusten hat zur Folge, dass die Variation zwischen den Individuen mit dem Alter zunimmt, und ein beträchtlicher Teil dieser Variation ist nach Sozialstatus differenziert. Die Klassenspaltung ist im Alter wirksamer als in den Lebensphasen zuvor, vor allem dort, wo die Kompensation durch den Wohlfahrtsstaat gering bleibt. Zwar schwächen sich die institutionellen Grundlagen für eine Klassenmobilisierung in den industriellen Beziehungen und im Parteiensystem ab, aber die zunehmende soziale Schichtung im Alter könnte dazu führen, dass Klassen- und Generationenspaltung – statt sich gegenseitig zu neutralisieren – zusammen kommen und zu neuen Konfliktlinien führen.
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Teil V
Die rechtliche und politische Bewältigung von Alter und des demographischen Wandels
Vom Greis zum Rentner – zur rechtlichen Konturierung einer Lebensphase seit dem 19. Jahrhundert Stefan Ruppert
1 Einleitung Christoph Conrads Buchtitel „Vom Greis zum Rentner“ beschreibt den Perspektivenwechsel von einer eher biologischen Betrachtung alter Männer zum sozialrechtlich determinierten Status des Rentners.1 Der Sozialhistoriker Conrad kennzeichnet begrifflich treffend eine Veränderung im Status älterer Männer in den letzten etwa 150 Jahren. Auch wenn die etymologische Herkunft des Wortes Greis2 nicht völlig geklärt zu sein scheint, so lässt sich eines doch sagen. Die Bezeichnung eines alten Mannes stand ursprünglich in engem Zusammenhang mit einer körperlichen Eigenschaft: dem grauen Haar. Rollen, die der Greis oder die Greisin einnehmen kann, sind in der Literatur3 und Malerei4 vielfältig beschrieben worden: Der lüsterne Alte und die unwürdige Greisin bei der Darstellung altersungleicher Paare, der weise Staatsmann, der des Lebens müde Alte oder der strenge Großvater beziehungsweise die gütige Großmutter.5 Ein gemeinsamer institutioneller oder rechtlicher Status findet sich hier aber nicht.
1
Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1994. 2 Vgl. hierzu Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Auflage, Berlin 1995, S. 337. 3 Viele Betrachtungen zu „Alterstopoi“ finden sich in den Beiträgen zu diesem Band sowie in: Dorothee Elm/Thorsten Fitzon/Kathrin Liess/Sandra Linden (Hrsg.), Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin 2009. Zur Literatur vgl. vor allem die Beiträge von Thorsten Fitzon und Thomas Küpper. 4 Vgl. hierzu auch die Darstellungen in diesem Band etwa Ruth-E. Mohrmann, Alte Menschen – alte Dinge. Kodierungen des Alters in Bildern der Frühen Neuzeit, in: Elisabeth Vavra (Hrsg.), Alterskulturen des Mittelalters in der frühen Neuzeit, Wien 2008, S. 257–278. 5 Vgl. zu den literarischen Beschreibungen etwa Hannelore Schlaffer, Das Alter. Ein Traum von Jugend, Frankfurt am Main 2003; zur Geschichte des ungleichen Paares vgl. Eva Labouvie (Hrsg.), Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, München 1997.
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Der Rentner hingegen verdankt seine Bezeichnung dem mittelhochdeutschen Wort Rente, das ursprünglich für Zinsertrag stand.6 Nach heutigem Verständnis beschreibt das Wort eindeutig einen rechtlichen Status, der vom Erhalt einer monatlichen Lohnersatzzahlung bestimmt ist. Sie beruht im Rentensystem unserer Tage nicht mehr auf der Rendite eigener Zahlungen, sondern auf einem Umlagesystem. Seit 1980 ist sie verfassungsrechtlich als eigentumsähnliche Anwartschaft anerkannt.7 Durch den Schutz des Art. 14 GG ist sie dem politischen Zugriff weitgehend entzogen und ist im Idealfall darauf angelegt, ein arbeitsfreies Leben im Ruhestand zu ermöglichen. Der semantische Unterschied muss nicht überstrapaziert werden. Im Folgenden soll aber gezeigt werden, dass allgemein eine Verrechtlichung8 der Lebensphase Alter seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stattgefunden hat. Was wird hier unter der Verrechtlichung des Alters verstanden? Eine naive Vorstellung von der allgemeinen Zunahme von Normen, die bis dato rechtlich nicht besetztes Terrain, „weiße Flecken des Rechts“ gewissermaßen, besetzten, beschreibt die Entwicklung nicht adäquat. Schon immer erfasste eine Vielzahl von Normen gerade auch alte Menschen, ihr rechtlicher Status war bereits vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert geregelt. Wenn hier von Verrechtlichung die Rede ist, dann in zweierlei Sinn. Zum einen begriffen neue rechtliche Regelungen das Alter zunehmend als eigene, insbesondere von der Erwerbsbiographie abgetrennte Lebensphase. Dieses Alter wurde wie die bereits zuvor rechtlich konturierte Lebensphase Jugend9 zunehmend arbeitsfrei konzipiert. Unter Verrechtlichung wird vorliegend zum anderen die steigende Zahl von Normen verstanden, die an das kalendarische Alter oder die spezifische Lebenssituation älterer Menschen anknüpfen. Diese finden sich sowohl auf gesetzlicher Ebene in entsprechenden Spezialgesetzen als auch in der Adaption bestehenden Rechts auf die Lebenssituation älterer Menschen, wenn etwa die Bestrafung alter Menschen in Urteilen neu thematisiert wird.10 Seit langem wird das hohe Alter im Rahmen der Strafzumessung strafmildernd berücksichtigt. Bereits in der wohl ersten systematischen Darstellung des Rechts älterer Menschen von Theodosius Schoepffer „Gerontologia seu Tractatus de jure senum“ aus dem Jahr 1705 verweist der Autor auf die Vorrechte älterer Menschen und zählt dazu ausdrücklich
6 Vgl. hierzu Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Auflage, Berlin 1995, S. 680. 7 BVerfGE 53, S. 257ff. insbesondere S. 289ff. 8 Vgl. zum Begriff der Verrechtlichung Rüdiger Voigt, Recht als Instrument staatlicher Steuerung. Zur Verrechtlichungsdiskussion in westlichen Wohlfahrtsstaaten, Siegen 1984. Voigt relativiert hier und in weiteren seiner Beiträge zum Thema richtigerweise die Vorstellung, dass die Reichweite des Rechts stetig und in allen Bereichen zunimmt. 9 Vgl. hierzu etwa Stefan Ruppert, Neues „Jugendrecht“ und Fabrikschutzgesetzgebung im Vormärz. Zur Bedeutung von Normativität für die Entstehung der Lebensphase Jugend, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2008, S. 55–75; ferner die im nächsten Jahr erscheinende Habilitation des Autors „Recht macht jung“. 10 Im Rahmen der Strafzumessung nach § 46 Abs. 2 StGB kann ein hohes Alter im Einzelfall einen Strafmilderungsgrund darstellen, vgl. hierzu BGH StV 1990, S. 303.
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die mildere Bestrafung.11 Das Werk ist in jeder Hinsicht bemerkenswert, liefert es doch einen ausführlichen Überblick der Rechtsstellung älterer Menschen und ordnet diese nach der Systematik des römischen Rechts.12 Der strafrechtliche Aspekt muss jedoch im vorliegenden Rahmen ebenso unberücksichtigt bleiben wie die Debatte um die zunehmende Juridifizierung des Sterbens. An der zuvor beschriebenen Verrechtlichung war zwischen 1880 und etwa 1960 vorrangig das Rentenrecht beteiligt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts kamen dann immer weitere Rechtsgebiete, die an die spezifische Lebenssituation älterer Menschen anknüpften, hinzu. Dazu gehören das Betreuungs-, das Heimrecht, das Recht der Pflegeversicherung und das Recht gegen Altersdiskriminierung. Diese Rechtsgebiete werden deshalb etwas eingehender zu betrachten sein. Sucht man nach Spuren der Verrechtlichung des Alters, so lohnt ein erster Blick auf die juristischen Diskurse über den rechtlichen Status älterer Menschen. In den letzten Jahren erschienen einige Publikationen zum „Seniorenrecht“, die den Versuch darstellten, das Ergebnis dieser Verrechtlichung durch eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts zu ordnen.13 Es handelt sich um zumeist an der Praxis orientierte juristische Ratgeberliteratur. Thematisch ging es den Autoren um Hinweise zu Fragen der Patientenverfügung, der Errichtung des Testaments, aber auch um die Betonung der Rechte älterer Menschen.14 An juristischen Fakultäten fanden erste Seminare zum „Altenrecht“15 statt und es entstanden Rechtsanwaltskanzleien mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Seniorenrecht16. Sie spezialisieren sich auf „rechtliche Probleme, die sich typischerweise im fortgeschrittenen Alter stellen“ mit dem Ziel „eine möglichst selbstbestimmte Lebensplanung im Alter zu ermöglichen“17. Eine Initiative von Juristen der Max-Planck-Gesellschaft gibt gerade ein eher wissenschaftlich orientiertes Handbuch zum „Recht der Älteren“ heraus.18 Unter den Vorzeichen der aktuellen Debatten über demographischen Wandel und der Alterung der 11
Theodosius Schoepffer, Gerontologia seu Tractatus de jure senum, Quedlinburg 1705, S. 4. Der Autor beruft sich dabei auf eine längere und juristisch anerkannte Tradition. 12 Sehr lesenswert ist die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung des Werks durch Arnold Becker/Marc Laureys/Karl August Neuhausen/Georg Rudinger (Hrsg.), Theodosius Schoepffers „Gerontologia seu Tractatus de hure senum“. Kulturwissenschaftliche Studien zu einem vergessenen Traktat über das Altenrecht, Bonn 2011. 13 Ronald Richter/Wolfgang Conradis (Hrsg.), Seniorenrecht in der anwaltlichen Praxis, BadenBaden 2006. 14 Vgl. dazu den interessanten Sammelband von Gerhard Igl/Thomas Klie (Hrsg.), Das Recht der älteren Menschen, Baden-Baden 2007. 15 So etwa an der Universität Innsbruck vgl. hierzu die Darstellung im Internet unter http://www. uibk.ac.at/zivilrecht/mitarbeiter/ganner/altenrecht.html. 16 So etwa die Rechtsanwaltskanzlei Georg Zenker in Berlin vgl. hierzu http://www. kanzlei-seniorenrecht.de/; ebenso die Kanzlei Dr. Lang und Kollegen in München, vgl. hierzu http://www.anwaltskanzlei-muenchen.de/seniorenrecht/. 17 So nach eigener Aussage die Kanzlei „Menschen und Rechte“, vgl. hierzu http://www. menschenundrechte.de/rechtsgebiete,5,seniorenrecht.php 18 Getragen wird die Initiative von Prof. Dr. Ulrich Becker vom MPI für Sozialrecht in München und Prof. Dr. Markus Roth (Marburg) unter Beteiligung des Autors. Das Handbuch soll Anfang 2012 erscheinen.
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Gesellschaft entsteht der Wunsch nach einer Systematisierung des geltenden Rechts unter der Kategorie des Lebensalters. Den Rechtshistoriker verwundert das nicht. Er weiß um ähnliche Initiativen zur Etablierung eines „Jugendrechts“19 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einer Periode in der die Diskurse über Jugend eine ähnliche Konjunktur hatten wie die heutigen über das Alter. Auch wenn der Blick in die Geschichte lehrt, dass sich das Jugendrecht trotz eines etwa zwanzig Jahre lang erscheinenden „Jahrbuchs des Jugendrechts“20 nicht durchgesetzt hat, so lässt sich aus dieser Geschichte keine Prognose ableiten, ob es dem Recht der Älteren ähnlich ergehen wird. Seit fast zwanzig Jahren haben entsprechend nominierte Lehrstühle und Zeitschriften in den USA durchaus Erfolg.21 Ob ein neues Rechtsgebiet „Recht der Älteren“ tatsächlich auch in Deutschland entstehen wird, muss sich zeigen. Die Konjunktur des Themas deutet aber eine Entwicklung zu einer verstärkten wissenschaftlichen Thematisierung an. Wie es sich genau mit der Juridifizierung der Lebensphase Alter verhält und wann sie eigentlich einsetzt, soll nun etwas genauer betrachtet werden. Zu diesem Zweck werden kurze Schlaglichter auf die Rechtsgebiete geworfen, die zur rechtlichen Konturierung der Lebensphase Alter seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beigetragen haben. Ordnet man diese nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung historisch an, so zeigen sich durchgehende Motive des jeweiligen Gesetzgebers. Immer geht es um die Statusverbesserung im Alter. Allerdings wird dieser zunächst stark materiell geprägte Ansatz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eindeutig um ein weiteres Motiv ergänzt. Das neue Recht der Alten soll die grundrechtlich garantierte gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen ermöglichen. Insgesamt wird so ein allgemeiner Wandel der Altersdiskurse sichtbar.22 Bevor man sich der Verrechtlichung „des Alters“ zuwendet, bedarf es einer Konkretisierung. Welches Alter wird denn verrechtlicht?23 Knüpfen neue rechtliche Regelungen mittels Altersgrenzen an das kalendarische Alter an? Oder wird eine Lebenssituation, in der sich vorrangig alte Menschen befinden rechtlich neu geregelt? Dann knüpfte das Recht eher an einem sozialen und biologischen Alter an. Das neue „Recht der Älteren“ tut beides, wobei sich neuere Rechtssetzungen primär mit dem sozialen und biologischen Alter befassen, ohne dass dadurch die Verrechtlichung durch Altersgrenzen und damit des kalendarischen Alters merklich revidiert wird. 19 Der vorerst letzte Versuch dieses übergreifend darzustellen stammt von Thilo Ramm, Jugendrecht. Ein Lehrbuch, München 1990. 20 Das Jahrbuch wurde seit 1922 und bis 1943 zunächst von Karl Hagemann und später von Heinrich Webler herausgegeben. Nach dem 2. Weltkrieg erschien als Nachfolgepublikation noch das Archiv für Jugendrecht seit 1952, dieses wurde aber 1958 ebenfalls eingestellt. 21 Vgl. hierzu etwa Lawrence A. Frolik, The Developing Field of Elder Law: A historical Perspective, in: The Elder Law journal, Vol 1, Number 1, S. 1-18; ders., The Developing Field of Elder Law Redux: Ten Years After, in: The Elder Law Journal 2002, Vol 10, Number 1, S. 1–14. 22 Vgl. zur Geschichte dieser Altersdiskurse Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt am Main 2000. 23 Vgl. zu den unterschiedlichen Dimensionen des Alters und Alterns die diversen Beiträge in Ursula M. Staudinger/Heinz Häfner (Hrsg.), Was ist Alter(n)? Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage, Berlin 2008.
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Die Formel „Vom Greis zum Rentner“ verdeutlicht den kalendarischen Aspekt der Verrechtlichung. Hier wird die Abtrennung des Ruhestands von der Erwerbsbiographie und der damit einhergehende Wandel des Altersbildes thematisiert. Das ist ein wichtiger Aspekt der Entstehung des dreigeteilten institutionalisierten Lebenslaufs wie ihn Martin Kohli und Karl Ulrich Mayer beschrieben haben.24 Es wird sichtbar, dass das Recht der Sozialversicherung, genauer der Rentenversicherung, maßgeblich an dessen Entstehung beteiligt war. Dieses bis heute wichtigste „Recht der Älteren“ knüpft vorrangig an das kalendarische Alter an. Ihm und einem kurzen Seitenblick auf das Recht der Hofübergabeverträge in der Landwirtschaft sei deshalb das erste Schlaglicht gewidmet. Dringend muss aber ein zweiter Aspekt der Verrechtlichung der Lebensphase Alter in den Blick genommen werden. Nicht nur die Abgrenzung des Ruhestands von der Erwerbsbiographie ist für die Verrechtlichung des Alters als Lebensphase bedeutsam, sondern auch deren rechtliche Binnenstrukturierung. Diese orientiert sich anders als die Abtrennung des Ruhestands von der Erwerbsbiographie gerade nicht am kalendarischen Alter. Vielmehr knüpfen einige Rechtsgebiete an einer Mischung aus sozialem und biologischem Alter an, ohne dies aber explizit zu thematisieren. So regelt etwa das Betreuungsrecht ohne Rücksicht auf das Alter den rechtlichen Status Betreuter. Der juristische Diskurs über seine weitgehende Reform zeigt aber, dass als Adressaten dieses Rechts vom Gesetzgeber vorrangig an alte, ja sogar sehr alte Menschen gedacht wurde. Noch deutlicher wird dies im Heimgesetz, das die institutionalisierte und außerfamiliär stattfindende Unterbringung von Heimbewohnern regelt.25 Zu nennen wäre auch noch das Recht der Pflegeversicherung, das hier aber ausgespart bleiben muss. Wie noch zu zeigen sein wird differenziert der Gesetzgeber inzident zwischen einem jüngeren von Aktivität und Gesundheit bestimmten Alter und einem von Pflege- und Schutzbedürftigkeit geprägten hohen Alter. So finden sich die Topoi des „Dritten und Vierten Lebensalters“26 auch in juristischen Debatten. Die Verrechtlichung des Alters ist bei genauer Betrachtung also sowohl eine Verrechtlichung des kalendarischen wie auch des sozialen und biologischen Alters. Allerdings scheint die Anknüpfung an das kalendarische Alter zunehmend unter Druck zu geraten. Die allgemeinen Debatten über die Destandardisierung unseres dreigeteilten Lebenslaufs kommen im Recht an. Das relativ junge Recht gegen Altersdis24
Vgl. hierzu Martin Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1985, S. 1– 29; ders. Der institutionalisierte Lebenslauf: ein Blick zurück und nach vorn, in: Jutta Allmendinger (Hrsg.), Entstaatlichung und Soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002 Bd. 1, Opladen 2003, S. 525–545; Karl Ulrich Mayer, Urs Schoepflin, The state and the life course, in: Annual Review of Sociology 1989, 187–209; aus neuerer Zeit vgl. ders., New Trends in Life Course Research, in: Annual Review of Sociology Bd. 35 (2009), S. 493–514 m. w. N. 25 Vgl. zu der Geschichte beider Rechtsgebiete in Kürze Kathrin Brunozzi, Das Vierte Alter im Recht. Heimrecht und Betreuungsrecht in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2011. 26 Vgl. zu dieser Unterscheidung Peter Laslett, Das Dritte Alter. Historische Soziologie des Alters, Weinheim 1995. Das englische Buch erschien bereits 1989.
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kriminierung und die neuere Rechtsprechung zu Altersgrenzen im geltenden Recht könnten Anknüpfungen an das kalendarische Alter unter erheblichen Legitimationsdruck setzen und sie vielleicht mittel- bis langfristig weitgehend beseitigen. Nach einem dritten Schlaglicht auf diese Entwicklung wäre zu fragen, inwiefern diese Tendenz der zunehmenden Verrechtlichung des Alters zuwiderläuft oder ob diese sich lediglich in neuen Formen abspielen wird.
2 Rentenversicherung und Hofübergaberecht Die Geschichte der Entstehung der Rentenversicherung in Deutschland ist vielfach erzählt worden27 und hier soll diese Erzählung nicht um eine Zusammenfassung ergänzt werden. Nur einige skizzenhafte Rekapitulationen sollen die Bedeutung der Bismarckschen Rentenversicherung für die Verrechtlichung des Alters bis heute in Erinnerung rufen. Schon ausgeführt wurde, dass die Rentenversicherung durch die Verwendung von Altersgrenzen wie kein anderes „Recht der Älteren“ an das kalendarische Alter anknüpft. Die ursprüngliche Intention war allerdings etwas anders gelagert. Es ging in erster Linie um eine Versicherung gegen Invalidität und damit um einen per se altersunabhängigen Tatbestand. Den Zeitgenossen war bewusst, dass das sehr hoch gewählte Rentenalter von 70 Jahren nur eine Minderheit gerade der unteren sozialen Schichten erreichte.28 Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts verlor die Versicherung gegen die vorzeitige Arbeitsunfähigkeit mehr und mehr an Bedeutung. Sie trat schließlich spätestens mit den Rentenreformen der frühen Bundesrepublik eindeutig hinter der eigentlichen Altersrente zurück. Die Altersrente führte in der Lebenswirklichkeit zunächst keinesfalls zu einer scharfen Abgrenzung des Alters von der Erwerbsbiographie. Ihrer Konzeption nach sollte sie lediglich die Altersarmut dämpfen, die Notwendigkeit zusätzlicher Einkünfte sei es aus Erspartem, aus familiärer Solidarität oder vor allem aus der fortlaufenden Erwerbstätigkeit auf einem spezifischen Arbeitsmarkt für ältere Menschen beseitigte sie gerade nicht. Wichtig ist ferner zu betonen, dass alle Debatten sich vorrangig um den männlichen Lebenslauf rankten. Die bessere materielle Versorgung älterer Frauen wurde bewusst vom Gesetzgeber ausgeklammert, weil Frauen mit der Heirat die bis dato erworbenen Anwartschaften ausgezahlt wurden.29 Für die Verrechtlichung des Alters sollten im 20. Jahrhundert mithin drei Entwicklungen bedeutsam sein. Die Sen27 Vorbildlich dokumentiert ist sie in der von Peter Rassow begründeten, viele Bände umfassenden Quellensammlung von Karl Erich Born/Hansjoachim Henning/Florian Tennstedt, Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, Wiesbaden 1966–2009; eine Darstellung der Geschichte der Sozialversicherung findet sich etwa bei Joachim Rückert, Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland, in: Franz Ruland, Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, Neuwied 1990, S. 1–50 m. w. N. 28 Vgl. zu diesem Aspekt Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriß, Stuttgart 2003, S. 86. 29 Vgl. zu dem Kampf der Frauen um Berücksichtigung ihrer spezifischen Lebensläufe in der gesetzlichen Rentenversicherung Dorothea Noll, „. . . ohne Hoffnung im Alter auch nur einen Pfennig Rente zu erhalten. . . “ Die Geschichte der weiblichen Erwerbsbiographie in der gesetzlichen Ren-
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kung des Renteneintrittsalters, die materielle Aufwertung der eigentlichen Rentenzahlung und die verstärkte Einbeziehung von Frauen in das System der Rentenversicherung. Schon von Zeitgenossen wurde die Intention des Gesetzgebers vorrangig Invalide und wenige, sehr alte Menschen materiell besser zu stellen als richtiger, aber eben nicht weit genug gehender Ansatz kritisiert. Immer wieder gab es Debatten über die Senkung der Altersgrenze auf 65 Jahre und 1911 scheiterte ein entsprechender Versuch im Reichstag nur knapp.30 Vier Jahre später hatte die Regierung einen Bericht über die Auswirkungen einer Absenkung vorzulegen, der erhebliche Mehrkosten konstatierte.31 1916 wurde dann die Altersgrenze von Männern und Frauen von 70 auf 65 Jahre gesenkt.32 In der Weimarer Republik gewann die Sozial- und Rentenpolitik eine deutlich gestiegene Bedeutung, die sich auch gerade im Verfassungstext niederschlug. Real allerdings brachte sie durch die Inflation das Ende des Kapitaldeckungsverfahrens und einen verstärkten Diskurs über die materiellen Nöte der wachsenden Zahl älterer Menschen.33 Im Nationalsozialismus stellte man die Rentner 1941 besser, indem man sie in die Krankenversicherung einbezog.34 An dieser Stelle muss aber festgehalten werden, dass es sich bis in die Bundesrepublik hinein lediglich um einen Zuschuss zum Lebensunterhalt für alte Menschen handelte. Zwar wurden Restriktionen zur Übernahme von Beschäftigung im Alter eingeführt. Doch alleine aufgrund der Zahlungen der gesetzlichen Rentenversicherung war der arbeitsfreie Ruhestand nicht auskömmlich. Die Rentenphase wurde zum eigentlichen Ruhestand im engeren Sinne erst durch die Adenauersche Rentenreform des Jahres 1957.35 Der Zuschuss zum Lebensunterhalt wurde in eine Lohnersatzzahlung im eigentlichen Sinne tenversicherung. Lebensalter und Recht Bd. 4, Frankfurt am Main 2010; einen Überblick über die Debatte des ausgehenden 19. Jahrhunderts und einen Vergleich mit dem Ausland leistet Ulrike Haerendel, Die Frauenaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung. Geschichte, Funktion, Vergleich mit dem Ausland, in: Stefan Ruppert (Hrsg.), Lebensalter und Recht. Zur Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch rechtliche Regelungen seit 1750. Lebensalter und Recht Bd. 2, Frankfurt am Main 2010, S. 127–150. 30 Vgl. hierzu Klaus Rother, Die Reichsversicherungsordnung 1911. Das Ringen um die letzte große Arbeiterversicherungsgesetzgebung des Kaiserreichs unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Sozialdemokratie, Aachen 1994, S. 159–161. 31 Vgl. hierzu Klaus Rother, Die Reichsversicherungsordnung 1911. Das Ringen um die letzte große Arbeiterversicherungsgesetzgebung des Kaiserreichs unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Sozialdemokratie, Aachen 1994, S. 212f. 32 Vgl. hierzu Klaus Rother, Die Reichsversicherungsordnung 1911. Das Ringen um die letzte große Arbeiterversicherungsgesetzgebung des Kaiserreichs unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Sozialdemokratie, Aachen 1994, S. 212–217. 33 Walter Bogs, Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie, München 1981, S. 48–53. 34 Verordnung vom 4. November 1941, RGBl. I, S. 689. 35 Es handelt sich genau genommen um drei Gesetze: Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter vom 23. Februar 1957, BGBl I 1957, S. 45ff; Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten vom 23. Februar 1957, BGBl. I 1957, S. 88ff.; Gesetz zur Neuregelung der knappschaftlichen Rentenversicherung vom 21. Mai 1957, BGBl. I 1957, S. 533ff.; vgl. hierzu den Überblick bei Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Ein Grundriß, Stuttgart 2003, S. 275–279.
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umgewandelt. Bei allen Veränderungen in den zahllosen Rentenreformen, die den Kreis der Berechtigten ausweiteten und wieder reduzierten, bei aller Stärkung der privaten Vorsorge und des steigenden Steuerzuschusses ist das Prinzip bekanntlich bis heute beibehalten worden. Praktiker und Wissenschaftler plädieren nach wie vor, wenn überhaupt für minimalinvasive Eingriffe ins bestehende System.36 Die Allgemeingültigkeit der Altersgrenze von 65 oder 67 Jahren ist nicht nur ein Resultat der Einbeziehung weiblicher Lebensläufe in die Rentensysteme. Vielmehr funktionieren mittlerweile auch die Altersversorgungssysteme der Freien Berufe wie etwa der Architekten oder Rechtsanwälte weitgehend nach der gleichen Logik des gesetzlichen Rentensystems. Auch die Altersversorgung der Landwirte wurde im 20. Jahrhundert völlig neu geordnet.37 Die alten Hofübergabeverträge wurden weitgehend frei zwischen den Generationen ausgehandelt. Der jeweilige Übergabezeitpunkt konnte entsprechend je nach wirtschaftlicher Lage, Generationenfolge und persönlichen Beziehungen der Generationen untereinander weit auseinander liegen. Der massiven staatlichen Lenkung der Hofübergabe im Nationalsozialismus durch das Reichserbhofgesetz38 folgte mit dem „Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte“ vom 3. Juli 195739 ein Anreizsystem, das die Hofübergabe mit spätestens 65 Jahren mit der Zahlung eines Altersgeldes honorierte. Dieser Kurzüberblick soll zweierlei darlegen. Die Rentenversicherung mit ihrer Altersgrenze von 65 und zukünftig 67 Jahren setzte spätestens seit der Adenauerschen Rentenreform eine der wirkmächtigsten Zäsuren im modernen menschlichen Lebenslauf. Auch wenn bekanntlich das reale Renteneintrittsalter unterhalb der eigentlichen Rentengrenze lag und immer noch liegt, ist die Renteneintrittsgrenze bis heute die Orientierungsmarke beim Übergang von der eigentlichen Erwerbsbiographie in einen sozialversicherungsgestützten Ruhestand. Sie beeinflusst die persönliche Biographieplanung und lange Zeit galt der Satz: Alt ist, wer Rente bekommt. Zum Zweiten muss aber eine veränderte Wahrnehmung des Ruhestands in den letzten etwa fünfzig Jahren festgehalten werden.40 Dieser Perspektivenwechsel ist sicherlich einer Mischung aus gewachsener Lebenserwartung und besserer 36 Vgl. etwa die Vorschläge des Geschäftsführers des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger Franz Ruland anlässlich des 62. Deutschen Juristentages 1998 in Bremen, der für die Beibehaltung der Altersgrenze von 65 Jahren plädierte, Winfried Schmähl spricht sich in gleichem Zusammenhang für die Referenzaltersgrenze als der Altersgrenze bei deren Erreichen eine Altersrente ohne Abschläge erreicht wird aus, vgl. dazu Verhandlungen des 62. Deutschen Juristentages 1998, Bd. II/1, München 1998, S. 47ff. (Ruland), S. 79ff. (Schmähl). 37 Vgl. hierzu Birgit Fastenmayer, Hofübergabe als Altersversorgung. Generationenwechsel in der Landwirtschaft 1870–1957, Frankfurt am Main 2009. 38 RGBl. I 1933, 685ff.; vgl. dazu JürgenWeitzel, Sonderprivatrecht aus konkretem Ordnungsdenken: Reichserbhofrecht und allgemeines Privatrecht 1933–1945, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1992, S. 55–79. 39 BGBl. I 1957, S. 1063ff.; vgl. zur Entstehungsgeschichte Wilfried Feldenkirchen/Dieter P. Herrmann, Das Gesetz über eine Altershilfe für Landwirte (GAL), in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 1988, S. 78-97. 40 Vgl. zukünftig die Arbeit von Cornelius Torp, Alter, Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit seit 1945. Die Arbeit vergleicht die Entwicklung des sozialen Status von alten Menschen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland.
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Gesundheit älterer Menschen geschuldet. Der für viele Menschen zeitlich ausgedehnte Ruhestand wird nun seinerseits zu einer auch juristisch neu zu vermessenden Lebensphase. Diese Vermessung leisten unter anderen die nun darzustellenden Rechtsgebiete.
3 Betreuungs- und Heimrecht Während also die Rentenversicherung die Erwerbsbiographie vom Ruhestand trennt, sind andere Rechtsgebiete für die Binnenstrukturierung des Alters relevant. Anders als das Recht der Rentenversicherung operieren weder das Betreuungs- noch das Heimrecht, noch das Recht der Pflegeversicherung mit Altersgrenzen. Sie gelten jeweils auch für junge Menschen, die betreut werden oder ihr Leben in einem Pflegeheim verbringen. Die Diskurse bei der Gesetzgebung sind allerdings ganz eindeutig und im Laufe des 20. Jahrhunderts auch mit stark steigender Tendenz von dem Gedanken geprägt, dass der allergrößte Teil der Normadressaten alte Menschen sind. Man kann das noch präzisieren: Die Trennung des aktiven „Dritten Lebensalters“ vom „Vierten Alter“,41 das eben durch stark abnehmende Leistungsfähigkeit, teilweise Demenz und Pflegebedürftigkeit geprägt ist, wird von dieser Gesetzgebung untermauert.42 Der maßgebliche Wandel im zivilrechtlichen Betreuungs- und im öffentlichrechtlich geprägten Heimrecht vollzog sich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Zunächst wurde in der Gewerbeordnung 1967 eine erste Norm zur besseren Kontrolle der Betreiber von Pflege- und Altersheimen eingefügt.43 Zuvor gab es lediglich einige Verordnungen mit polizeirechtlichen Bestimmungen zu Hygiene, die ganz in der armenrechtlichen Tradition der Siechenhäuser stehen. Die neue Bestimmung des Gewerberechts ermächtigte die einzelnen Bundesländer nun zum Erlass sogenannter Heimverordnungen. Diese entwickelten sich unter den Vorzeichen aufsehenerregender Skandale,44 bei denen alte Menschen Geld durch die Insolvenzen windiger privater Altenheimbetreiber verloren. Bei den Vorarbeiten zum ersten Heimgesetz trat aber zunehmend an die Stelle des alten unmündigen und in seinen Bedürfnissen eingeschränkten Alten, dem ein Mindestmaß an Schutz durch Zimmermindestgrößen und Gewerbeaufsicht zu gewähren war, ein anderes Altenbild: Alte Menschen wurden stärker als Inhaber von Grundrechten, deren Würde, 41
Großen Einfluss auf diese Unterscheidung hatte vor allem Peter Laslett, Das Dritte Alter. Historische Soziologie des Alters, Weinheim 1995. Das englische Buch erschien bereits 1989. 42 Vgl. zu dieser vielfach idealtypisch vorgenommenen Unterscheidung Hans-Werner Wahl/Vera Heyl, Gerontologie. Einführung und Geschichte, Stuttgart 2004, S. 52. 43 § 38 GewO im Siebten Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung, in BGBl. I 1967, S. 933. 44 Der bekannteste war die sogenannte „Wetterstein-Pleite“ des Bauunternehmers Georg Hubmann im August 1973. Hier verloren viele alte Menschen, die Anwartschaften auf einen Altersheimplatz mit Einlagen erworben hatten, Geld. Vgl. hierzu Kathrin Linderer, Der Hochaltrige im Recht. Heimrecht in der Bundesrepublik von 1965 bis 1975, in: Stefan Ruppert (Hrsg.), Lebensalter und Recht. Zur Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch rechtliche Regelungen seit 1750. Lebensalter und Recht Bd. 2, Frankfurt am Main 2010, S. 235.
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Teilhabe und Interessen rechtlich sichergestellt werden mussten, wahrgenommen.45 Dieser Wandel vollzieht sich eindeutig unter den Vorzeichen der Grundrechtsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.46 Sie wurde durch die sozialliberale Koalition in entsprechende Gesetzgebung umgesetzt. Das 1975 in Kraft getretene Heimgesetz sah etwa die Einrichtung eines Heimbeirats vor, in dem die Interessen der Heimbewohner adäquat vertreten werden sollten.47 Vor allem erstreckte es aber die staatliche Aufsicht nunmehr auf alle Heime. In der Novelle des Heimgesetzes aus dem Jahr 1990 treten dann Ziele wie die Erhaltung von Selbstverantwortung und Selbständigkeit der Heimbewohner noch stärker in den Vordergrund. Das Zweite Heimänderungsgesetz 1997 bezog explizit auch die Einrichtungen für Kurzzeitpflege ein, die nun ebenfalls heimrechtliche Normen zu beachten hatten.48 Damit kam ein Prozess der Verrechtlichung jedweder außerhäuslichen Pflege alter Menschen zu einem Abschluss. In Zukunft könnten sich hier nach Ländern zu unterscheidende Rechtsentwicklungen ergeben, weil diese durch die Föderalismusreform seit 2006 in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen. Resümierend lässt sich sagen, dass man das Kompetenzmodell des Alters eindeutig gegenüber dem Defizitmodell stärken wollte. Im zivilrechtlichen Betreuungsrecht kamen die maßgeblichen Anstöße zu einer Stärkung der Rechtsstellung des Pflegebefohlenen in der alten „Gebrechlichkeitspflegschaft“ des BGB aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.49 Mehrere entsprechende Urteile des Bundesgerichtshofs schlossen sich an.50 Inhaltlich ging es um die Rechtsstellung des alten Menschen, der im Verfahren nun anzuhören war und dessen Pfleger oder Vormund ihrerseits verstärkt staatlicher Kontrolle unterliegen sollten. An die Stelle der klassischen Vormundschaft oder Gebrechlichkeitspflegschaft sollte die Betreuung treten. Das neue Betreuungsrecht des Jahres 1990 griff diese Anforderung auf und stärkte konsequent die Rechtsstellung des Betreuten etwa durch die Einführung fachärztlicher Gutachten. In den Debatten in Bundestag und Bundesrat wird deutlich, dass anders als noch bei Entstehung des BGB Leitbild der Gesetzgebung der gebrechliche alte Mensch war, den es aber in seinen Rechten zu stärken gelte, um eine mindestens teilweise Mündigkeit und Teilhabe sicherzustellen. Stets muss das Wohl des Betreuten gemäß § 1901 BGB im Vordergrund stehen. Mittlerweile liegt die Zahl der Betreuer, die dieses Amt als Be45
Vgl. hierzu und zum Folgenden Kathrin Linderer, Der Hochaltrige im Recht. Heimrecht in der Bundesrepublik von 1965 bis 1975, in: Stefan Ruppert (Hrsg.), Lebensalter und Recht. Zur Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch rechtliche Regelungen seit 1750. Lebensalter und Recht Bd. 2, Frankfurt am Main 2010, S. 219–239. 46 Die Funktion der Grundrechte gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten kommt etwa in der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht zum numerus clausus aus dem Jahr 1972 zum Ausdruck, BVerfGE 33, S. 303ff. 47 Vorgesehen in § 5 des Heimgesetzes, BGBl. I 1974, S. 1873. 48 BGBl I 1997, 158; zu der Gesetzesänderung Klaus Füßer, Regulierung und Deregulierung im Heimrecht: Das Zweite Gesetz zur Änderung des Heimgesetzes vom 3.2.1997, in: NJW 1997, 1957. 49 Beschluss des BVerfG vom 10.2.1960, in: NJW 1960, 811ff; BVerfGE 10, 320. 50 BGH Beschluss vom 22.3.1961, in: BGHZ 35, 1, 4.
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ruf betreiben, bei 35 %. Der lobenswerte Zweck des Gesetzes wird in der Praxis bekanntlich nicht immer realisiert, zumal die Zahl der Betreuten seit Jahren steigt.51 Breiter werden die Bedürfnisse insbesondere hochaltriger in den Ausbildungsverordnungen für Altenpfleger rezipiert. Versucht man diese im Wesentlichen zwischen 1960 und 1994 entstandenen Gesetze für die hier interessierende Fragestellung einzuordnen, so lässt sich Folgendes sagen: Sowohl die private wie auch die außerfamiliär institutionalisierte Pflege älterer Menschen tritt im aktiven Sozialstaat des Grundgesetzes verstärkt in den Fokus des Gesetzgebers. Ihm standen dabei insbesondere schutzbedürftige hochaltrige Menschen vor Augen. Für sie galt und gilt es den in Jugend, Erwerbsbiographie und aktivem Alter erreichten Grundrechtsstandard möglichst lange zu erhalten. Dies geschieht durch zahlreiche Maßnahmen von den erwähnten Heimbeiräten über eine bessere Rechtsstellung Betreuter bis zu sozialrechtlichen Hilfen älterer Menschen. Allerdings fehlt es nach wie vor an einer ausreichenden Einbeziehung von Erkenntnissen der Gerontologie, der Geriatrie und der Gerontopsychologie in die entsprechende Gesetzgebung ältere Menschen betreffend.52 Auf das dritte in diesem Zusammenhang bedeutsame Gesetz zur Pflegeversicherung kann nicht mehr eingegangen werden. Auch hier bildete der Wille zum Erhalt teilweiser Autonomie im Alter eine wichtige Motivation des Gesetzgebers. Mit der Pflegeversicherung wird letztlich erneut das Funktionsprinzip der umlagefinanzierten Rentenversicherung genutzt, um nochmals die materielle Situation älterer Menschen zu verbessern. Das Gesetz rezipiert neben den familienrechtlichen Bestimmungen des Betreuungsrechts den Umstand, dass die allermeisten alten Menschen nach wie vor zuhause oder im familiären Kontext gepflegt werden.53 Die verlängerte Lebensphase Alter ist im Recht eindeutig angekommen. Allerdings werden alte Menschen ihrer Lebenssituation gemäß vom Gesetzgeber adressiert, was sie keineswegs in der Lebenswirklichkeit vor Bevormundung und Diskriminierung schützt. Diesem Problem widmet sich das historisch jüngste Kapitel des „Rechts der Älteren“, das Recht gegen Altersdiskriminierung.
51
Vgl. zur rechtstatsächlichen Situation der Betreuung in Deutschland die Studie von Regine Köller/Dietrich Engels, Ausgabenmonitoring und Expertisen zum Betreuungsrecht, Berlin 2011. 52 Vgl. zu dieser Forderung auch Gisela Zenz, Hilfebedarf und Persönlichkeitsrechte im Alter. Anforderungen an das Familienrecht, in: KritV 2004, S. 281–289, insbesondere S. 285. 53 Vgl. dazu Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland: Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen, Berlin 2002, S. 195f.
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4 Rechtsprechung zu Altersgrenzen und Recht gegen Altersdiskriminierung Das Recht gegen die Altersdiskriminierung ist ein vergleichsweise junger Bereich des Antidiskriminierungsrechts.54 Es steht in der Tradition des rechtlichen Vorgehens gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, körperlicher Behinderungen oder religiöser Überzeugungen. Auffallend ist, dass die Initiativen zum Recht gegen Altersdiskriminierung vor allem aus dem US-amerikanischen, dem Völker- und Europarecht kamen.55 So ist das in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA entstandene Recht gegen Altersdiskriminierung Vorbild aller weiteren Gesetzgebung. Grundlegend war zunächst der 1963 erlassene „Equal Pay Act“ und dann vor allem Titel VII des „Civil Rights Act“ von 1964.56 Anders als ursprünglich intendiert wurde das Diskriminierungsmerkmal Alter nicht darin aufgenommen: Die Diskussionen über die tatsächliche Situation älterer Arbeitnehmer führte aber dazu, dass das Arbeitsministerium der USA eine empirische Untersuchung in Auftrag gab. Deren Ergebnisse ließen das Problem der Altersdiskriminierung in der Arbeitswelt überhaupt bewusst werden.57 Schon bald kam es deshalb zum „Age Discrimination in Employment Act“, der 1967 in Kraft trat.58 Die dort genannten Diskriminierungstatbestände umfassen Schlechterstellungen älterer Arbeitnehmer in Stellenanzeigen, bei der Einstellung, Entlassung, Bezahlung, Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses, Beförderung, den Lohnnebenleistungen oder der Zwangspensionierung. Dieser Katalog stellt bis heute eine Art Kernbereich der Altersdiskriminierungstatbestände in eigentlich allen folgenden Normierungen dar. Besondere Bedeutung kommt heute der Gesetzgebung gegen Altersdiskriminierung auf europäischer Ebene zu. Seit dem Vertrag von Amsterdam aus dem Jahr 1997, der am 1. Mai 1999 in Kraft trat, besitzt die Europäische Union Kompetenzen zur Bekämpfung der Altersdiskriminierung. Seither erweist sich die Union als Motor der weiteren Gesetzgebung, wobei nicht zu verkennen ist, dass es gerade in Deutschland immer wieder Zurückhaltung bei der Umsetzung europäischen Rechts gibt. Die Verabschiedung der Europäischen Richtlinie 2000/78/EG im November 2000 diente vor allem der Stärkung Älterer im Berufsleben.59 54 Vgl. zur Geschichte des Rechts gegen Altersdiskriminierung John Macnicol, Age Discrimination. An Historical and Contemporary Analysis, Cambridge 2006. 55 Vgl. zu völker- und europarechtlichen Dimension des Rechts gegen Altersdiskriminierung Stefan Ruppert/Kristina Lovriæ-Pernak, Artikel Age Discrimination, in: Max-Planck-Encyclopedia of Public International Law, herausgegeben von Rüdiger Wolfrum, im Erscheinen. 56 Equal Pay ACT, 29 U.S.C. § 209; Title VII des Civil Rights Act von 1964, 42 U.S.C. §§ 2000e ff. 57 The Older American Worker. Age Discrimination in Employment. Report of the Secretary of Labour to the Congress under Section 715 of the Civil Rights Act of 1964, Washington 1965. 58 Age Discrimination Employment Act of 1967 (ADEA), Pub L No 90–202, 81 Statutes at Large 602, 1967 §§ 621–34. 59 Vgl. dazu alleine aus jüngerer Zeit Daniela Groß, Die Rechtfertigung einer Altersdiskriminierung auf der Grundlage der Richtlinie 2000/78/EG, Baden-Baden 2010; Konrad von Hoff, Das
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In Deutschland wurde vor allem die Beweislastumkehr in Verdachtsfällen kontrovers diskutiert und diese Debatte führte zu einer verspäteten Umsetzung der Richtlinie durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) erst im Jahre 2006.60 Auf die umfassende Rechtsprechung, die seither versucht die Rechte älterer Arbeitnehmer zu stärken, kann nicht eingegangen werden. Bedeutsam ist im hier zu behandelnden Kontext, dass es dem Recht gegen Altersdiskriminierung nicht im eigentlichen Sinne um alte oder sehr alte Menschen im Ruhestand geht. Wichtiger als diese Stärkung Berufstätiger erscheint deshalb eine Schwächung durch eine Ausnahme in der Richtlinie, die über § 10 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) auch Eingang ins nationale Recht fand. Die sozialen Sicherungssysteme und ihre Altersgrenzen sind danach explizit vom Anwendungsbereich ausgenommen. So erlaubt der Gesetzestext ausdrücklich „die Festsetzung von Altersgrenzen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität einschließlich der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen im Rahmen dieser Systeme für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen von Beschäftigten und die Verwendung von Alterskriterien im Rahmen dieser Systeme für versicherungsmathematische Berechnungen.“ Diese Herausnahme gerade der wirkmächtigsten Altersgrenzen von 65 bzw. zukünftig 67 Jahren hat praktisch weitreichende Konsequenzen. Das Recht gegen Altersdiskriminierung ist zumindest in arbeitsrechtlicher Hinsicht für Rentnerinnen und Rentner ohne Konsequenz. Je nach der politischen Beurteilung der Rentenaltersgrenze mag dies positiv oder negativ empfunden werden. Jedenfalls stärkt diese Gesetzessystematik eher die Dreiteilung des bestehenden Lebenslaufmodells. Dieser Befund bestätigt sich auch bei einer Betrachtung der Rechtsprechung zu Altersgrenzen etwa seitens des Bundesverfassungsgerichts.61 Wie im Folgenden kurz zu zeigen sein wird, werden diese Altersgrenzen als politische Entscheidungen weitestgehend akzeptiert und die dahinter stehenden Generalisierungen des kalendarischen Alters kaum hinterfragt. Bis auf eine einzige eher unbedeutende Ausnahme, die noch dazu das frühe Erwachsenenalter betrifft,62 wurden alle Altersgrenzen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Das erstaunt, weil die Grundrechte eigentlich ein Recht der altersadäquaten rechtlichen Behandlung gewährleisten sollten. Nur auf den ersten Blick scheinen Altersgrenzen dies gerade zu verbürgen. Im 20. Jahrhundert wurden die über AltersVerbot der Altersdiskriminierung aus Sicht der Rechtsvergleichung und der ökonomischen Analyse des Rechts, Berlin 2009 jeweils m. w. N. 60 Vgl. dazu aus der Masse der entsprechenden Literatur etwa Tobias Polloczek, Altersdiskriminierung im Licht des Europarechts, Baden-Baden 2008 m. w. N. 61 Vgl. hierzu Stefan Ruppert, Die Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Altersgrenzen, in: Ursula Rust/Joachim Lange/Henning Pfannkuche (Hrsg.), Altersdiskriminierung und Beschäftigung, Loccum 2006, S. 17–29. 62 Die Mindestaltersgrenze von 25 Jahren für Namensänderungen nach dem Transsexuellengesetz (TSG) aus dem Jahr 1980 (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 TSG) wurde im Hinblick auf ihre diskriminierende Wirkung verfassungsrechtlich verworfen vgl. BVerfGE 60, 123ff.; 88, 87ff.; BVerfGE 88, 87ff.
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grenzen erfolgenden Generalisierungen zunehmend als problematisch empfunden. Das liegt zum einen daran, dass solche Generalisierungen naturgemäß den Einzelfall eben nicht gerecht beurteilen und zum anderen, dass sich die Leistungsfähigkeit etwa eines Fünfundsechzigjährigen in den letzten 200 Jahren massiv verändert hat, ohne dass die Altersgrenze dieser Entwicklung Rechnung getragen hätte. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat darin aber bislang kein Problem gesehen und die jeweils angegriffenen Altersgrenzen stets verteidigt.63 Besonders bekannt sind die Entscheidungen zur Zulässigkeit von Altersgrenzen für Bezirksschornsteinfeger64, Hebammen65, Prüfingenieure66, Vertragsärzte67, Piloten68 , Notare69 und Professoren70. Im Ergebnis zeigt sich eine Gemeinsamkeit aller Entscheidungen: Soweit das BVerfG mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Höchstaltersgrenzen in Beschäftigung und Beruf befasst war, wurde ein Verstoß sowohl gegen Art. 12 Abs. 1 GG als auch Art. 3 Abs. 1 GG verneint.71 Es erscheint bemerkenswert, dass medizinische Befunde etwa über die zunehmende Leistungsfähigkeit älterer Menschen keinerlei Eingang in die Rechtsprechung gefunden haben. Das ist zu beklagen, ist doch der Lebenslauf aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht dreisondern allenfalls zweigeteilt. Der mit einem Minus an Rechten aber auch Schutz rechtlich gestalteten Lebensphase Jugend steht eben keine entsprechende Lebensphase Alter gegenüber, in der diese Rechte wieder aberkannt werden können. Dieser Befund soll den Sinn und Zweck von Altersgrenzen im geltenden Recht nicht negieren. Sie dienen im Einzelfall der Generationengerechtigkeit, weil der Zugang zu Positionen für jüngere Menschen genauso planbar wird wie ältere Arbeitnehmer sich auf ihr Ausscheiden aus dem Berufsleben vorbereiten können. Vielfach wird der Ruhestand ersehnt und eine Beurteilung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft im Einzelfall stellt Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor große Herausforderungen. Gleichwohl erscheint eine starre Regelung des Ruhestandseintritts über alle Berufsfelder nicht mehr zeitgemäß. Zudem wird sie bei Bereitschaft gegen entsprechende Bezahlung weiter zu arbeiten auch aus verfassungsrechtlicher Sicht zunehmend unter Druck geraten. Wenn sich die Begründung nachlassender Leistungsfähigkeit empirisch nicht bestätigen lässt, werden die Rechtsprechung und natürlich vor allem der Gesetzgeber andere durchaus mögliche Begründungen für das Festhalten an Altersgrenzen liefern müssen. 63 Vgl. Stefan Ruppert, Die Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Altersgrenzen, in: Ursula Rust/Joachim Lange/Henning Pfannkuche (Hrsg.), Altersdiskriminierung und Beschäftigung (Loccumer Protokolle 04/06), Loccum 2006, S. 17–29. 64 BVerfGE 1, 264ff. 65 BVerfGE 9, 339ff. 66 BVerfGE 64, 72ff. 67 BVerfGE 103, 172ff.; siehe dazu Ulrich Becker, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Vertragsärzte am Beispiel der zulassungsbezogenen Altersgrenzen, NZS, 521, 1999, 521ff. 68 BVerfG, 1 BvR 2459/04 vom 25.11.2004. 69 BVerfGE, NJW 1993, 1575. 70 BVerfGE 67, 1ff. 71 Angelika Nussberger, Altersgrenzen als Problem des Verfassungsrechts, JZ, 57, 2002, S. 530.
Vom Greis zum Rentner – zur rechtlichen Konturierung einer Lebensphase
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5 Ausblick Es bliebe viel zu sagen zur altersspezifischen Adressierung alter Menschen durch Recht und Rechtsprechung. Das gesamte Feld des Verbraucherschutzes steht in der technisierten und durch Internet und Computer auch digitalisierten Welt vor der Aufgabe, alte Menschen, die damit nicht vertraut sind, vor Übervorteilungen zu schützen. Dabei geht es nicht nur um Schutz vor Betrug, sondern auch um mittelbare Benachteiligung. Es mag angebracht sein Onlineüberweisungen kostenfrei zu bearbeiten, während der klassische Papierweg Gebühren auslöst.72 Die Überweisungsgebühr knüpft noch nicht an das Alter an. Anders verhält es sich mit den altersspezifischen Kosten bei Leihwagen oder Versicherungen. Das alles kann gerechtfertigt werden. Was fehlt ist ein Bewusstsein dafür, wo überall altersspezifisches Recht mittelbar oder unmittelbar wirkt. Was fehlt ist eine juristische Vergewisserung darüber, wo die tradierten Altersdiskurse dem heutigen Alter nicht mehr gerecht werden. Wie es sich mit der Zukunft der Dreiteilung des Lebenslaufs verhält, mag aus juristischer Sicht offen bleiben. Eine baldige Destandardisierung des gängigen Lebenslaufmodells steht aber keineswegs unmittelbar bevor. Nach wie vor bleibt die 65 oder in Zukunft die 67 die wohl wirkmächtigste Altersgrenze im menschlichen Lebenslauf.73 In gewisser Weise ist sogar von einer weitergehenden Verrechtlichung aller Lebensphasen auszugehen.74 Gerade der Beginn oder sogar die Phase vor Beginn des Lebens wird ebenso verstärkt Gegenstand rechtlicher Regelungen sein wie das eigentliche Alter. Mittlerweile wird die Verrechtlichung des Sterbens immer wieder thematisiert. Altersgrenzen werden auch im Recht des 21. Jahrhunderts nicht so schnell verschwinden, sie geraten aber zu recht unter zunehmenden verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsdruck. Teilweise ist der Gesetzgeber aufgefordert zu neuen rechtlichen Regelungsformen, zu mehr Prüfungen des konkreten Einzelfalls zu finden. Altersspezifisches Recht, und das knüpft selten am kalendarischen Alter an, kann sogar zum Garant für eine bessere Teilhabe im Alter, für den Schutz von Grundrechten alter Menschen werden. Dazu aber bedarf es unter Gesetzgebern und Juristen besserer Kenntnisse über die Lebenssituation älterer Menschen, ihre Fähigkeiten, ihr spezifisches soziales und biologisches Alter.75
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Vgl. dazu auch Spiros Simitis, Alter und gesellschaftliche Teilhabe – für ein anderes Alterskonzept, in: KritV, 87, 2004, S. 233–243. 73 Neben den Rentenregelungen bedingt der 65. Geburtstag den regelmäßigen Eintritt des Beamten in den Ruhestand gem. § 41 Abs. 1 BBG und man kann das Amt des ehrenamtlichen Richters an Sozial- und Arbeitsgerichten ablehnen, §§ 18 Abs. 1 Nr. 1, 35 Abs. 1, 47 SGG und §§ 24 Abs. 1 Nr. 1, 37 Abs. 2, 43 Abs. 3 ArbGG. 74 Vgl. hierzu Stefan Ruppert (Hrsg.), Lebensalter und Recht. Zur Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch rechtliche Regelungen seit 1750, Frankfurt am Main 2010 mit entsprechenden Beiträgen zu allen Lebensphasen und vielen Rechtsgebieten. 75 Zu den verschiedenen Altersbegriffen vgl. den Beitrag von Ursula Staudinger in diesem Band.
Die Demokratie wird älter – Politische Konsequenzen des demographischen Wandels Manfred G. Schmidt
1 Einleitung Die Demokratie wird älter. Das gilt zweifach. Ihr Lebensalter ist mittlerweile beachtlich. Zudem ist sie insbesondere in Europa und Japan die Staatsverfassung von Gesellschaften mit einer alternden Bevölkerung. Von den politischen Konsequenzen dieser Alterung handelt dieses Kapitel. Es steuert Antworten zu folgenden Fragen bei: Vergrößert die Alterung der Bevölkerung wirklich die „latente Macht“ der Senioren (Kohli et al., 1999: 502ff.)? Sind die politischen Auffassungen und Interessen von Alt und Jung so unterschiedlich, dass ein antagonistischer Konflikt zwischen den Generationen an die Stelle eines „Generationenvertrags“ tritt? Steuern die älter werdenden Demokratien womöglich auf eine Gerontokratie der neuen Art zu, auf eine „Rentner-Demokratie“ (Herzog, 2008: 9) von Senioren, durch Senioren und für Senioren? Versagt die Demokratie angesichts des demographischen Wandels vor der Aufgabe einer zukunftsverantwortlichen Politik?1 Der vorliegende Beitrag beantwortet diese Fragen anhand der Bundesrepublik Deutschland. Dafür sprechen arbeitsökonomische und sachliche Gesichtspunkte: Deutschland ist aus drei Gründen potenziell anfällig für zunehmende Seniorenmacht (Streeck, 2007): Erstens ist die Alterung seiner Bevölkerung besonders weit vorangeschritten. Folglich existiert hierzulande eine große, politisch potenziell einflussreiche Seniorenschaft. Zweitens ist Deutschlands Staatsverfassung demokratisch und hat somit einen für Senioreninteressen offenen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess. Drittens ist Deutschland ein Sozialstaat, der für die Interessen der Älteren in großem Umfang genutzt werden kann – womöglich zu Lasten der jüngeren Generation.
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Zum Diskussionsstand BMFSFJ, 2010, Börsch-Supan et al., 2009; Goerres, 2009a, 2009b; Kaufmann, 2005; Kocka et al., 2009; Kocka-Staudinger, 2010; Schmidt, 2009; Staudinger-Häfner, 2008.
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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2 Demographischer Wandel und Machtverteilung zwischen Jung und Alt 2.1 Indikatoren latenter Macht der Senioren In allen wirtschaftlich wohlhabenden Demokratien wird die Bevölkerung im Durchschnitt älter.2 Besonders rasch altert sie in Japan, Italien und Deutschland. Alle Vorausberechnungen deuten auf weiter zunehmende Alterung hin. Der mittleren Variante der 11. koordinierten Vorausberechnung der Bevölkerungsstatistik in Deutschland zufolge steigt beispielsweise der Bevölkerungsanteil der mindestens 65-Jährigen von rund 20 % im Jahre 2006 auf 30 % im Jahre 2050. 1960 lag er noch bei 11 %. Der Anteil der unter 20-Jährigen hingegen wird nach dieser Schätzung von 20 % 2006 auf 15 % im Jahre 2050 sinken, und der Anteil der 20- bis 64-Jährigen von derzeit rund 60 auf etwa 50 % zurückgehen (Statistisches Bundesamt et al., 2008: 25). Die Alterung der Bevölkerung vergrößert die Zahl der Senioren und ihren Anteil an den Wahlberechtigten. Allein das lässt viele Beobachter ein größeres politisches Gewicht der Senioren erwarten. Zudem sind die meisten Älteren besonders eifrige Wähler. Ihre überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung vergrößert die wahlpolitische Bedeutung der Senioren noch weiter.3 Von der politischen Präsenz der Älteren zeugt außerdem ihre Beteiligung an einflussreichen Interessenverbänden (Schroeder et al., 2011). Dass Senioren die Mitgliedschaft der Wohlfahrtsverbände dominieren, versteht sich von selbst. Doch auch in den Gewerkschaften stellen sie mittlerweile einen tendenziell weiter wachsenden, kampfeslustigen Teil der Mitgliederschaft. Beispielsweise nahm der Anteil der Rentner an den Mitgliedern der DGB-Gewerkschaften von 15 % 1970 auf über 20 % im Jahre 2002 zu – mit weiter steigender Tendenz (Streeck, 2007: 294; Skarpelis, 2009: 331ff.). Gewiss variiert der Seniorenanteil je nach Gewerkschaft. Er übersteigt bei allen DGB-Gewerkschaften die 20 %-Marke, liegt in der IG Metall bei 22, in der IG Bau und in der IG BCE über 25 und bei der Gewerkschaft Transnet gar über 45 % (Schroeder et al., 2011: 426f.; Skarpelis, 2009: 332). Noch auffälliger ist der zahlenmäßige Bedeutungszuwachs der Senioren in den politischen Parteien. Fortgeschrittene Alterung der Mitglieder berichten insbesondere die großen Parteien (Niedermayer, 2009: 377, und 2010: 430f., 434; Skarpelis 2009: 332). So stieg der Anteil der mindestens 60-Jährigen an den Parteimitgliedern der CDU von 29 % 1990 auf 47 % im Jahre 2007. Im selben Zeitraum erhöhte sich der Anteil der Senioren in der CSU von 26 auf 45 % und in der SPD von 25 auf 2
Der Bevölkerungsanteil der mindestens 65-Jährigen beispielsweise liegt in den OECDMitgliedstaaten bei 15,2 % (Datenstand 2009). Er ist damit fast doppelt so hoch wie der Seniorenanteil von 1950 (8,0 %). Berechnungsgrundlage: OECD-Statistiken zur Alterung der Bevölkerung – unter anderem OECD 2010a und frühere Ausgaben. 3 So betrug der Anteil der über 60-Jährigen an den Wahlberechtigten bei der Bundestagswahl 2009 32,8 %. Der Anteil der Älteren an den Wählern aber lag bei 34,9 %. Berechnet aus Statistisches Bundesamt 2010: 104. Zur Wahlbeteiligung der Älteren nach Altersgruppen: Informationen des Bundeswahlleiters, Bundestagswahl 2009, Heft 4, Tabelle 1.6.
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46 %. Auch der Seniorenanteil in der Partei Die Linke ist mit 47 % hoch. In der FDP ist er mit 31 % niedriger, und am geringsten ist er bei Bündnis 90/Grüne mit 12 %. Ein beachtlicher (und insgesamt wachsender) Seniorenanteil kennzeichnet zudem die Wählerschaft der meisten Parteien: Bei der Bundestagswahl 2009 beispielsweise waren jeweils rund 30 % der Wähler der Unionsparteien und der SPD mindestens 60 Jahre alt. Bei der FDP und der Partei Die Linke lagen die entsprechenden Anteilswerte mit 20 % und bei den Grünen mit 13 % deutlich niedriger (Forschungsgruppe Wahlen 2009a: 109).
2.2 Staatstätigkeit für Senioren Nicht nur die Mitgliedschaft in Parteien und Verbänden legt die Vermutung nahe, dass die Älteren über erhebliche politische Macht verfügen, die mit der Alterung der Bevölkerung womöglich weiter zunimmt. Auch von der Staatstätigkeit profitieren die Senioren von heute ungleich mehr als frühere Generationen. Ein Anzeiger ist die Höhe der öffentlichen Sozialausgaben für Alter und Hinterbliebene in Deutschland. Laut Sozialbudget entfallen auf sie 307 Milliarden Euro. Das entspricht 39,5 % des gesamten Sozialetats oder 11,9 % des Bruttoinlandsproduktes.4 Damit hat Deutschland eine der weltweit höchsten Sozialleistungsquoten für Ältere und Hinterbliebene.5 Entsprechend aufwendig ist die Finanzierung der Alterssicherung. Davon zeugt allein der Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung: Er stieg von 10 % des Bruttoarbeitsentgelts in der ersten Hälfte der 1950er Jahre auf knapp 20 % im Jahr 2010 (BMAS, 2010a: Tabelle 7.7).6 Ohne den Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung, der mittlerweile 28,0 % der Ausgaben der allgemeinen Rentenversicherung finanziert, wäre der Beitragssatz erheblich höher und läge schätzungsweise ebenfalls bei 28 %.7 Die Verteilung der Armutsrisiken signalisiert ebenfalls keine Benachteiligung der Senioren. Vor der Rentenreform von 1957 hatte in der Arbeiterschaft panische Angst vor dem Alter geherrscht (Hockerts, 1980: 311). Mit gutem Grund: Denn jenseits der Altersgrenze drohte die Verarmung. Mittlerweile haben die Sozial- und die Steuerpolitik das Armutsrisiko der gesamten älteren Bevölkerung in Deutschland drastisch verringert. Spürbar höhere Armutsrisiken drohen hingegen derzeit insbesondere Familien mit mehreren Kindern und Alleinerziehenden (Kohli, 2005: 522; OECD, 2011: 149). 4
Datenstand 2009. Berechnungsbasis: BMAS, 2010a: Tabellen 7.2 und 7.3. Und zwar an sechster Stelle hinter Italien, Frankreich, Österreich, Griechenland und Portugal (Berechnungsbasis: OECD 2011: 155, Datenstand 2007). Entsprechend hoch ist der Anteil der Alterssicherungsausgaben an allen Staatsausgaben (2007: 24,5 %, OECD 2011: 155). Hierbei wird Deutschland nur von Italien, Japan, Griechenland, Österreich und Portugal übertroffen (Berechnungsbasis: OECD 2011: 155). 6 Gemessen am Beitragssatz der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber (BMAS, 2010a: Tabelle 7.7). 7 BMAS, 2010b: S. 436. 5
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Auch andere Messlatten zeigen keine Benachteiligung der Älteren an. Man nehme die Ausgaben für Alter und Hinterbliebene einerseits und für Bildung andererseits als Maßstab für Alt-Jung-Differenzierungen in den Staatsausgaben.8 Die Zahlen zeigen einen klaren Vorsprung der Alterssicherung vor der Bildungsfinanzierung an. Der Abstand zwischen beiden Ausgabenblöcken wurde sogar insbesondere seit den End-1970er Jahren bis 2005 etwas größer – dem Trend nach zu urteilen. Auf Bevorzugung der Älteren deutet zudem die inverse Beziehung zwischen den öffentlichen Ausgaben für Alterssicherung und den Sozialausgaben für Kindererziehung im OECD-Länder-Vergleich hin: Je höher (niedriger) die Aufwendungen für das Alter, desto niedriger (höher) die Ausgaben für die Kindererziehung (Bonoli/Reber, 2010). Außerdem neigt die Politik mitunter dazu, bei finanzellen Sanierungsmaßnahmen die ältere Bevölkerung zu schonen. Sind nicht die Staatsfinanzen auf erhebliche Kreditaufnahme geeicht – mit der Folge einer beträchtlichen Lastenverlagerung auf die Schultern nachfolgender Generationen? Hatte sich die Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland nicht lange geziert, die Alterssicherung von Expansionsauf Reduktionsgesetzgebungen umzustellen, die angesichts der Alterung der Bevölkerung und des schwächeren Wirtschaftswachstums seit Mitte der 1970er Jahre erforderlich waren? Und hat nicht auch die Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition im Bund (2005–2009) erneut Anlass zu kritischen Nachfragen gegeben? Wollte diese Koalition nicht durch rentenpolitische Wohltaten die Wählerstimmen der Senioren sichern, beispielsweise durch das 3. SGB-IV-Änderungsgesetz, das kurz vor der Bundestagwahl 2009 die bis dahin gültige Rentenanpassungsformel an einer entscheidenden Stelle aushebelte und statt der vorgesehenen Kürzung für höhere Renten sorgte? Die bislang erwähnten Befunde belegen sicherlich nicht die These, dass eine Gerontokratie der neuen Art entstehe. Doch stützen die Befunde die Auffassung, dass die latente Macht der Senioren beachtlich und vermutlich größer geworden ist und dass die Interessen der Senioren in der staatlichen Politik in erheblichem Umfang berücksichtigt werden. Allerdings gibt es auch gegenläufige Tendenzen und robuste Hinweise auf Grenzen der Seniorenmacht.
2.3 Grenzen der Seniorenmacht 2.3.1 Entkoppelung vom Alterungsprozess der Gesellschaft: Parlament und Regierung Im Zuge des demographischen Wandels altert die Mitgliedschaft von Parteien und Verbänden. Doch die Alterung der Bevölkerung führt keineswegs in allen politischen Institutionen zu alternden Mitgliedern. Vor den Toren des Parlaments macht 8
BMAS, 2010A: Tabelle 7.2; OECD-Daten (OECD, 2010b, und ältere Ausgaben) sowie Schmidt, 2007.
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sie halt, ebenso vor den Toren der Exekutive. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten des Deutschen Bundestages beispielsweise ist nicht angestiegen, sondern – gemessen am Alter der Parlamentarier in der 17. Wahlperiode (2009–2013) im Vergleich zu den 1950er und 1960er Jahren – mittlerweile sogar jünger: Das Durchschnittsalter der Abgeordneten zu Beginn der jeweiligen Legislaturperiode stieg von zunächst 50 Lebensjahren in der ersten Wahlperiode (1949–1953) auf den Höchststand von 52 in der vierten Wahlperiode (1961–65) und sank bis zum neunten Bundestag (1980–1983) auf den Tiefststand von 47 Jahren. Seither pendelt sich das Durchschnittsalter der Abgeordneten bei 49 Jahren ein.9 Auch das Durchschnittsalter der Kabinettsmitglieder der Bundesregierungen spricht gegen die Gerontokratie-These: Es pendelt sich bei einem Wert knapp oberhalb von 50 Jahren ein. Etwas über 55 Jahren lag das Durchschnittsalter nur bei den ersten beiden Kabinetten Adenauer und beim zweiten Kabinett der rot-grünen Koalition Schröder.10 Zudem spricht das Alter von Deutschlands Bundeskanzlern gegen die Gerontokratie-These. Adenauer war beim Amtsantritt als Bundeskanzler 73 Jahre alt, sein Nachfolger Erhard 66 Jahre, Kiesinger war 62 Jahre als er zum Bundeskanzler gewählt wurde, Brandt 55, Schmidt ebenfalls 55, und Kohl, Schröder und Merkel gehörten bei ihrem Amtsantritt mit 52, 54 und 51 Jahren zu den jüngsten Regierungschefs (Kempf-Merz, 2001, 2008).
2.3.2 Entkoppelung von „Rentner-Demokratie“-Tendenzen Auch in den Organisationen, in denen die Älteren ein größeres Gewicht in der Mitgliedschaft erlangt haben, stehen die Weichen nicht auf „Rentner-Demokratie“. Von einer Herrschaft der Rentner in den Gewerkschaften könne keine Rede sein, folgert Wolfgang Streeck, ein Experte der Gewerkschaftsforschung, aus den vorliegenden Spezialstudien. Der Grund: Strategische Manöver der Gewerkschaftsleitungen sorgen dafür, dass die Älteren zur Unterstützung gewerkschaftlicher Tätigkeit willkommen geheißen werden, ohne ihnen dafür aber allzu viel Mitsprache zu gewähren (Streeck, 2007: 296f.).11 Noch schärfer grenzen sich die Führungsgruppen der politischen Parteien von den alternden Mitgliedschaften ab. Die politischen Parteien müssen sich regelmäßig dem Wählerurteil stellen – und sind auch zwischen den Wahlen durch Umfragen zu ihren Wiederwahlchancen einem erheblichen Konkurrenzdruck ausgesetzt. Beides lässt die Parteiführungen danach streben, eine möglichst große Zahl von Wählern bei den Älteren und den Jüngeren zu mobilisieren – und nicht darauf, die Interessen ihrer alternden Mitgliederschaft zu maximieren. Dieser Anreiz wird in dem 9 Berechnet nach Schindler, 1999, Bd. 1: 154, 2005: 143, Feldkamp, 2010, Kapitel 3.2., vgl. BMFSJ 2010: 456. 10 Für die Erhebung und Auswertung der Daten danke ich Falk Bartscherer. 11 Ähnlich Schroeder et al., 2011: 443, die den Rentnern und Pensionären in den Gewerkschaften dies bescheinigen: „Quantitativ starke Randgruppe (. . . ) mit schwachen Mitgliedschaftsrechten“.
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Maße stärker, in dem die Parteibindungen großer Wählergruppen schwächer werden. Auch das mindert die Durchschlagskraft der alternden Parteimitgliedschaften auf die Politik der Parteien (Streeck, 2007). Gewiss berücksichtigen die Wahlkampfstrategen der Parteien den wachsenden Anteil der Senioren an der Wählerschaft. Doch das tun sie aufgrund der Struktur des Wählerstimmenmarktes, nicht aufgrund der Alterung der Parteimitgliedschaft. Die Alterung der Parteimitgliedschaft verhindert demnach nicht die Entkoppelung der Politik der Parteiführungen von der Mitgliedschaft. Und die Alterung der Parteimitgliedschaft wertet auf längere Frist nicht die Senioren in den Parteien auf, sondern sorgt für abnehmende Wichtigkeit der innerparteilichen Willensbildung. Der an der Alterung der Parteimitgliedschaft demonstrierte Sachverhalt ist von großer Bedeutung für die politischen Folgen des demographischen Wandels. Der Wettbewerb um Wählerstimmen zwingt die Parteien – soweit sie nicht Ein-ZielBewegungen sind – zur Wählergruppen übergreifenden Werbung. Und um ihren Machtanteil möglichst groß zu machen, sind möglichst große Stimmen- und Mandatsanteile erforderlich. Diese erfordern die Mobilisierung von Wählerkoalitionen weit über den Kreis der älteren Wähler hinaus. Insoweit wirkt in der Demokratie ein Mechanismus, der, ähnlich der „hidden hand“ in Adam Smiths Lehre vom Wohlstand der Nationen, hinter dem Rücken der Mitwirkenden für ein dynamisches Gleichgewicht sorgt: Der demokratische Marktmechanismus erzeugt – trotz Alterung der Bevölkerung – ein relatives Gleichgewicht zwischen Alt und Jung und wirkt gegen eine Gerontokratie der neuen Art. Ein gleichwertiger Mechanismus ist im Parlament und in der Alterszusammensetzung der Ministerien am Werke. Bei der Mandatsverteilung und bei der Verteilung der Ministerposten haben nicht die älteren Jahrgänge in Deutschland gewonnen. Auch hier ist die relative Entkoppelung der Rekrutierung politischer Führungspersönlichkeiten von der Alterung der Bevölkerung greifbar. Ähnliches gilt in anderen westlichen Demokratien: Das Durchschnittsalter der Kabinettsmitglieder variiert von einem Minimum von 43,5 Jahren in Litauen bis zu einem Höchstwert von 60,2 Jahren in Japan. Deutschland liegt mit einem Schnitt von 55,4 Jahren im oberen Mittelfeld (Bale/van Biezen, 2008: 880f.; Datenstand Ende 2007). In anderen politischen Spitzenpositionen verhindern Stopp-Regeln ebenfalls gerontokratische Tendenzen: Die Amtsdauer von Richtern des Bundesverfassungsgerichtes beispielsweise ist durch Altersgrenzen – 68 Lebensjahre – und eine Höchstmandatsdauer von 12 Jahren geregelt.
2.3.3 Alterung der Bevölkerung und Alterssicherungspolitik: Koppelung und Entkoppelung Die Reaktion der Politik auf die Alterung der Bevölkerung ist als verspätet und halbherzig kritisiert worden (Birg, 2001: 199ff.; Kaufmann, 2005). Der Stachel der Kritik gilt auch der Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Manche meinen sogar, sie habe besonders spät und übermäßig zurückhaltend reagiert. Zugrunde liegt in der Regel die These, dass die Politik in der Demokratie allgemein und in der von
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Abb. 1 Seniorenquote und Alterssicherungsausgaben in der Bundesrepublik Deutschland (% BIP) 1950–2009 (Quelle: BMAS, 2010a: Tabelle 7.2; Zahlen für 1950: Alber, 1989: 83; für 1960: BMA, 1999: 32)
vielen Mitregenten und Vetospielern geprägten Bundesrepublik Deutschland im Besonderen dazu neige, am Status quo festzuhalten oder allenfalls mit TrippelschrittReformen an die Probleme des demographischen Wandels heranzugehen. Diese Kritik ist jedoch einseitig und insgesamt zu harsch. Erneut bieten die öffentlichen Ausgaben für Alter und Hinterbliebene ein lehrreiches Exempel. Gewiss sind Deutschlands Ausgaben für die Alterssicherung hoch. Das lehrt der deutschlandinterne Längsschnitt ebenso wie der internationale Vergleich. Allerdings hängen die überdurchschnittlich hohen Alterssicherungsausgaben in Deutschland eng mit der weit fortgeschrittenen Alterung seiner Bevölkerung zusammen: Je höher der Bevölkerungsanteil der Senioren, desto höher die Sozialleistungsquote für das Alter. Das ist der Trend in Deutschland (Abb. 1) und zugleich der Trend im internationalen Vergleich der OECD-Mitgliedstaaten (Abb. 2). Insoweit sind Deutschlands überdurchschnittlich hohe Sozialausgaben für Alter und Hinterbliebene überwiegend demographisch bestimmt – und nicht primär ein Ergebnis von übermäßig spendabler Sozialpolitik wie in Frankreich oder Italien. Zudem zeigen neuere Zahlen eine berichtenswerte Abweichung an: Der Anteil der Alterssicherungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland nimmt seit dem
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Abb. 2 Alterssicherungsausgaben und Seniorenquote in den OECD-Mitgliedstaaten, 1980 bis 2007. Anmerkungen: Datenbasis OECD, 2010c (stats.oecd.org/Index.aspx?datasetcode=SOCX_AGG, Stand 31.12.2010). Beobachtungsjahre sind gemäß der Quelle 1980, 1985, 1990, 1995, 2000, 2005, 2006 und 2007. Die postkommunistischen OECD-Mitglieder wurden ab 1990 erfasst. Beobachtungsfälle sind alle OECD-Staaten außer den Neumitgliedern Chile und Israel. Die Positionen Deutschlands sind mit „D“ und Jahreszahl markiert
Höchststand von 2003, dem Trend zufolge, wieder ab – in einer Periode, in der die Seniorenquote steigt!12 Der internationale Vergleich unterstützt diesen Befund: Bis zur Jahrtausendwende lag Deutschland – gemessen am Zusammenhang von Alterssicherungsausgaben und Seniorenquote in allen OECD-Mitgliedstaaten – oberhalb der Trendlinie. Mittlerweile aber liegt Deutschland auf oder unter dieser Linie. Die Alterssicherungsausgaben in Deutschland waren bis etwa 2000 demnach etwas höher als sie gemäß dem in den OECD-Ländern herrschenden Trend sein müssten, mittlerweile aber sind sie etwas niedriger – trotz überdurchschnittlich hoher Seniorenquote! Bedarfsgewichtete Sozialleistungsquoten weisen in die gleiche Richtung. Gemessen am Bevölkerungsanteil der Senioren blieben die Alterssicherungsausgaben in Deutschland in den 1980er Jahren und in den zwei folgenden Jahrzehnten weiter zurück als in etlichen anderen Staaten (Siegel, 2002: 146ff.) 12
Berechnet auf der Basis von BMAS, 2010a: Tabelle 7.2.
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Dass der Anteil der öffentlichen Ausgaben für Alter und Hinterbliebene in Deutschland mittlerweile tendenziell sinkt – trotz hoher und weiter steigender Seniorenquote – ist bemerkenswert. Die Hauptursache ist eine Serie von teils kleineren, bisweilen mittelgroßen, seltener großen Umbau- und Rückbaureformen in der Alterssicherung. Diese rückten allmählich an die Stelle der Ausbaureformen, die Deutschlands Rentenpolitik von 1957 bis Mitte der 1970er Jahre geprägt hatten. Eine Korrektur und später eine Wende in der Alterssicherungspolitik zeichneten sich seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ab – zunächst noch zaghaft, später deutlicher. Noch zaghaft war der Auftakt zu den Rückbau- und Umbaumaßnahmen unter der SPD/FDP-Regierung nach der Bundestagswahl 1976,13 beherzter in den ersten Jahren der CDU/CSU-FDP-Koalition nach dem Regierungswechsel von 1982 und mit Mut zu pfadabweichenden Reformen unter der rot-grünen Regierung Schröder (Egle, 2008; Nullmeier-Rüb, 1993; Schmidt, 2005a; Schmähl, 2005; Siegel, 2002; Trampusch, 2009). Insoweit überrascht es nicht, wenn Experten der Politik in Deutschland mittlerweile bescheinigen, sie sei „bei der Eindämmung der Alterssicherungskosten recht erfolgreich“ (Schulze/Jochem, 2007: 697, Übersetzung d. Verf.) – trotz zahlreicher institutioneller Schranken sowie einflussreicher Vetospieler und Vetopunkte. Verantwortlich für die Einschnitte in der Alterssicherung waren nicht nur wirtschaftsfreundliche Regierungen, wie die bürgerlich-liberale Koalition, die von 1982 bis 1998 die Geschäfte der Bundesregierung führte. Nach anfänglicher Gegenbewegung leitete auch die rot-grüne Regierung Schröder Umbau- und Rückbaumaßnahmen in der Sozialpolitik ein. Besonders richtungsweisend wurde der „Paradigmenwechsel“ (Schmähl, 2001), den Rot-Grün mit dem Übergang von der rentenniveauorientierten zur einnahmenorientierten Alterssicherung zustande brachte. Dieser Übergang stärkte den Bedarf einer zusätzlichen Absicherung im Alter, den insbesondere die Einführung der kapitalgedeckten und subventionierten „Riester-Rente“ decken sollte. Mit ihr wich die Rentenpolitik stärker als je zuvor vom Sozialversicherungspfad ab, der bis dahin die Alterssicherung in der Bundesrepublik Deutschland gekennzeichnet hatte. Die Einschnitte und Umbaumaßnahmen summierten sich zu spürbaren Kürzungen der Alterssicherung in der Gesetzlichen Rentenversicherung und – mit Zeitverzögerungen – in der Alterssicherung für die Beamten. Schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre waren die Leistungen der Alterssicherung pro Empfänger abgesenkt worden (Alber, 1989: 249f.; Alber, 2003: 32–34). Noch stärker zu Buche schlugen die Änderungen der Rentenformel von 1977, 1982 und 1983 sowie zwei zeitlich verzögerte Rentenanpassungen. Gemessen an der Standardrente eines Durchschnittsverdieners mit 40-jähriger Versicherungszeit beliefen sich die Kürzungen beim Vergleich von 1984 mit 1977 schon auf rund 15 % (Alber, 1989: 120). Weitere Reformen der Alterssicherung mit teilweise erheblichen Kürzungen kamen später hinzu (OECD, 2007: 59–61). Schulze und Jochem zufolge verminderte 13
Immerhin hat aber der Sozialbericht 1986 der Regierung Kohl der SPD-geführten Vorgängerregierung bescheinigt, diese habe von 1975 bis zum Regierungswechsel 1982 „mit insgesamt zwölf Gesetzen massive Kürzungen im Sozialbereich vorgenommen“ (BMA 1986: 7).
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beispielsweise die Rentenreform 1992 den Beitragssatz zur Alterssicherung nach einem Ablauf von zehn Jahren um 2,5 Prozentpunkte und nach weiteren 20 Jahren um 3,5 Prozentpunkte. Die Alterssicherungsreform 1999 hatte die Beitragssätze in den gleichen Zeiträumen um weitere zwei Prozentpunkte bzw. 2,6 Prozentpunkte reduziert. Und das Altersvermögensgesetz von 2001 wird voraussichtlich in beiden Berichtszeiträumen den Beitragssatz um jeweils einen Prozentpunkt absenken (Schulze/Jochem, 2007: 705, Anm. 26). Überdies wird die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, die von der zweiten Großen Koalition (2005–2009) beschlossen wurde, die Rentenfinanzen ebenfalls entlasten. Die Befunde der Umbau- und Rückbaumaßnahmen in Deutschland fügen sich, wie der internationale Vergleich zeigt, zu einem auffälligen Muster: Deutschland gehört mittlerweile zur Gruppe der Reformstaaten in der Rentenpolitik – gemessen an den Anpassungen der Alterssicherungssysteme an den demographischen Wandel und andere Herausforderungen, wie schwächere wirtschaftliche Entwicklung und internationaler Standortwettbewerb. Dieses Leistungsprofil teilt Deutschland mit einigen anderen Staaten, unter ihnen Länder mit aufwändigen Alterssicherungssystemen wie Schweden, und Staaten, in denen die Pensionssysteme frugaler dosiert sind. Die Gruppe der Reformstaaten unterscheidet sich von den Nicht-Reformern. Zu den Nicht-Reformern gehören Länder mit weit ausgebauten, zum Teil überdurchschnittlich generösen Pensionssystemen, wie Belgien, Griechenland, Portugal und Spanien.14 Reformen der Alterssicherungssysteme mit Umbau- und Rückbauwirkungen bei den Renten sind in der Regel unpopulär und wahlpolitisch hochriskant. Dass solche Reformen in Deutschland trotzdem zustande kamen, zeugt von einer beachtlichen Korrekturfähigkeit der Politik. Andererseits ist der Problemdruck, den die Alterung der Bevölkerung mit sich bringt, so stark, dass selbst die Sanierungsreformen, die in der Alterssicherung bislang auf den Weg gebracht wurden, zur Problemlösung nicht ausreichen. Insoweit bleibt der demographische Wandel auch weiterhin eine Daueraufgabe für das Regieren. Die Größe dieser Aufgabe hängt allerdings auch von der Gestalt und Dynamik der Beziehungen zwischen Jung und Alt ab. Davon handelt das folgende Kapitel.
3 Ein intensivierter Konflikt zwischen Jung und Alt? Befunde der Umfrageforschung Etliche Beobachter meinen, die Alterung der Bevölkerung schüre Konflikte zwischen Jung und Alt. Manche rechnen sogar mit einem antagonistischen Konflikt zwischen Jung und Alt. Andere wiederum meinen, der Generationenkonflikt sei vergleichsweise milde und werde wegen gegenseitiger Rücksichtnahme von Jung und Alt latent bleiben (Kohli/Neckel/Wolf, 1999; Kocka et al., 2009). 14 OECD, 2007: 74; OECD, 2009. Vgl. auch die Beiträge zu anderen westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten in Immergut/Anderson/Schulze, 2007. Auch sie stützen die These, dass die Alterssicherungsreformen in Deutschland besonders weit reichten.
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3.1 Konflikte zwischen Jung und Alt in Deutschland Die vorliegenden Daten über politische Einstellungen und Verhaltensweisen von Jung und Alt in Deutschland vermitteln ein vielschichtiges Bild.15 Einerseits zeigen die Befragungen keinen fundamentalen Verteilungskonflikt zwischen Jung und Alt an. Und überhaupt keine Belege gibt es für die These, dass sich die Generationen in einen unversöhnlichen Streit verhedderten. Anderseits decken die Umfragen erhebliche Spannungen zwischen Jung und Alt auf. Laut „Politbarometer“ der Forschungsgruppe Wahlen ist die Spannung zwischen Jung und Alt eine der wichtigsten Konfliktlinien in Deutschland. Jeder dritte Befragte wertet den Konflikt zwischen Jung und Alt in Deutschland als stark oder sehr stark (Forschungsgruppe Wahlen, 2009b). Damit liegt die Konfliktlinie zwischen Jung und Alt, ihrer Bedeutung nach zu urteilen, an fünfter Stelle hinter den Konflikten zwischen Arm und Reich, zwischen Deutschen und Ausländern, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und fast gleichauf mit dem Konflikt zwischen West- und Ostdeutschen. Von erheblichen Spannungen zeugen außerdem die unterschiedlichen Politikpräferenzen von Jung und Alt. Befragungen zu renten- und bildungspolitischen Themen beispielsweise decken erhebliche Unterschiede zwischen Jung und Alt auf, was auf beträchtliches Konfliktpotenzial schließen lässt. Die Frage im „Allbus“ von 2006 beispielsweise, wie gut der Staat den Lebensstandard älterer Bürger gesichert habe, beantworteten die Älteren staatskritischer als die Jüngeren16 und die Rentner kritischer als die Berufstätigen.17 Größere Unterschiede zwischen Jung und Alt zeigt zudem die Frage auf, wie höhere Ausgaben für Renten und Pensionen bewertet werden:18 Die Zustimmung zu höheren Renten und Pensionen wuchs mit zunehmendem Alter. Ähnlich groß waren die diesbezüglichen Unterschiede zwischen den Rentnern und den Berufstätigen. Auch bei Rentenkürzungen differierten die Vorlieben von Jung und Alt sowie von Berufstätigen und Altersrentnern: Kürzungen der Renten befürwortete ein überdurchschnittlich großer Teil der Jüngeren und der Erwerbstätigen, während die große Masse der Älteren, auch der Rentner, Kürzungen strikt ablehnte.19 Die Reihe ließe sich fortsetzen: Bei anderen öffentlichen Aufgaben streben die Präferenzen von Jung und Alt ebenfalls auseinander. Gleiches gilt für die Erwerbstätigen im Vergleich zu den Rentnern. Die jüngeren Wähler und die Erwerbstätigen befürworten beispielsweise höhere Bildungsausgaben, die älteren Wähler hingegen – unter ihnen die Rentner – halten sich diesbezüglich zurück.20 15 Datengrundlage dieses Unterkapitels sind Auswertungen neuerer Befragungen zum Verhältnis von Alt und Jung. 16 So ein Befund des A LLBUS 2006 (Variablen V654 und V28) (eigene Auswertung). 17 A LLBUS 2006, Variable V654 und eine vom Verfasser kreierte Rentner-Berufstätige-Variable. 18 A LLBUS 2006, Variablen V640, V28 und eine vom Verfasser kreierte Rentner-BerufstätigeVariable. 19 A LLBUS 2006, Variablen V646, V28 und eine vom Verfasser kreierte Rentner-BerufstätigeVariable. 20 A LLBUS 2006, Variablen V638, V28 und eine vom Verfasser kreierte Rentner-BerufstätigeVariable.
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Tabelle 1 Zweitstimmenanteil der Parteien des bürgerlichen Lagers unter den mindestens 60jährigen Wählern bei den Bundestagswahlen 1953 bis 1990 und 2002 bis 2009 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 2002 2005 2009 Stimmenanteil
57,5 60,0 60,9 60,1 55,8 56,7 57,2 57,2 58,5 59,6 60,7 51,8 52,1 54,6
Parteien des bürgerlichen Lagers sind die CDU, die CSU und die FDP. Quelle: Berechnet auf der Basis der repräsentativen Bevölkerungsstatistik in „Informationen des Bundeswahlleiters, Bundestagswahl 2009, Heft 4“, Tabelle 1.11.
Noch gewichtiger sind die Unterschiede im Wahlverhalten von Alt und Jung. Einerseits wählen Deutschlands Senioren kaum „graue“, auf Rentnerinteressen spezialisierte Parteien (Goerres, 2009a, 2009b). Gleiches gilt für die Rentner unter ihnen. Hiermit folgen Deutschlands Senioren einem Muster, das auch die übrigen Demokratien kennzeichnet. Die älteren Wähler in Deutschland votieren nicht für graue Parteien, sondern überwiegend für die großen Parteien.21 Noch auffälliger ist aber die nach parteipolitischen Lagern unterschiedliche Präferenz von Älteren und Jüngeren: Die Mehrheit der älteren Wähler in Deutschland votierte bei Bundestagswahlen bislang für das Lager der bürgerlichen Parteien. Bei allen Bundestagswahlen, bei denen die repräsentative Wahlstatistik erhoben wurde (1953 bis 1990 und 2002 bis zur jüngsten Bundestagswahl 2009), gewannen die Parteien des bürgerlichen Lagers – CDU, CSU und FDP – die Mehrheit der Zweitstimmen der mindestens 60-jährigen Wähler (Tabelle 1). Gleiches gilt für die Altersrentner unter ihnen (Forschungsgruppe Wahlen, 2009a), während die Mehrheit der jüngeren Wähler andere Koalitionen bevorzugt.
3.2 Ein „Loser’s Consent“-Problem? Das unterschiedliche Wahlverhalten von Jung und Alt sowie von Rentnern, Erwerbstätigen und Arbeitslosen wirft die brisante Frage auf, ob die Beziehung zwischen Jung und Alt mit einem „Loser’s consent“-Problem verknüpft ist, also mit dem Problem, des Verlierers Zustimmung zu seiner Niederlage zu gewinnen (Anderson et al., 2005). Offensichtlich ist aber das „Loser’s consent“-Problem in Deutschland latent geblieben. Denn die Senioren haben auch jene Bundestagswahlen akzeptiert, aus denen keine Regierung ihrer Wahl hervorging, sondern eine Große Koalition (wie 2005) oder eine kleine SPD-geführte Koalition (wie 1969, 1972, 1976, 1980, 1998 und 2002). Das ist nicht selbstverständlich und wirft eine weitere Frage auf: Was hat dieses „Loser’s consent“-Problem entschärft? Drei Wirkfaktoren sind besonders wichtig. 21
Bei der Bundestagswahl 2009 beispielsweise gaben 42 % der mindestens 60-jährigen Wähler ihre Zweitstimme der CDU/CSU, 28 % der SPD, 12 % der FDP, 10 % der Partei Die Linke, 6 % dem Bündnis 90/Die Grünen und 2 % unterstützten mit ihrer Zweitstimme sonstige Parteien (Forschungsgruppe Wahlen, 2009a: 108).
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Erstens: Der Streitwert von Wahlsieg und Wahlniederlage bei Deutschlands Senioren wird durch rentenpolitische Gemeinsamkeiten zwischen CDU/CSU und SPD gelindert. Beide Parteien sind Sozialstaatsparteien, beide befürworten im Grundsatz leistungsfähige kollektive Alterssicherungssysteme, und beide haben aus Machterwerbs- und Machterhaltsmotiven die ökonomischen Interessen der älteren Wählerschaft fest im Blick. Somit ist bei jeder Bundesregierung mindestens eine Sozialstaatspartei beteiligt, also eine Partei, von der insbesondere die ältere Bevölkerung im Grundsatz pflegliche Behandlung erwarten kann. Zweitens: Konfliktentschärfend wirkt die beträchtliche Solidarität zwischen Jung und Alt sowie zwischen Rentnern und Erwerbstätigen. Die intergenerationelle Solidarität zwischen Jung und Alt ist keine Einbahnstraße von den Senioren zu den Jüngeren, sondern schließt auch die Zahlungsbereitschaft der Jüngeren zugunsten der Älteren ein (Kohli, 2001, 2005). Die Solidarität zwischen den Generationen bringt eine Wohlfahrtsstaatskoalition von Jung und Alt sowie von Berufstätigen und Rentnern zustande. Trotz aller Interessen- und Einstellungsunterschiede erwarten wesentliche Teile von Jung und Alt, dass der Staat Verantwortung für die Lebenssicherung der Älteren übernimmt.22 Konfliktmindernd wirkt – drittens – die Heterogenität der Jüngeren und der Älteren. Junge und Alte bzw. Erwerbstätige und Rentner sind weder „Klassen an sich“ noch „Klassen für sich“, sondern inhomogene Gruppen, deren Mitglieder sich in sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht erheblich unterscheiden. Unterschiedlich sind zudem die Zugänge zu den Leistungen des Sozialstaats wie den Leistungen der Alterssicherungssysteme und die Teilhabe an ihnen. Überdies haben die sozialpolitischen Sanierungs- und Umbaureformen die Leistungen der Alterssicherung unterschiedlicher gemacht.23 Auch das wirkt gegen die Formierung von klassenhomogenen Interessenlagen.
4 Politische Konsequenzen der Alterung Es ist Zeit für eine Bilanz. Dreierlei verdient Hervorhebung. Erstens sind einige Entwarnungen angebracht, zweitens sind Grenzen der politischer Anpassung an den demographischen Wandel zu bedenken, und drittens sind Schlüsse aus den politischen Konsequenzen des Alterns für die Praxis und die Theorie der Demokratie zu ziehen.
4.1 Teilentwarnungen Die politischen Konsequenzen der Alterung in Deutschland wiegen in mancherlei Hinsicht weniger schwer als angesichts vieler Diskussionsbeiträge zu befürchten 22 23
ALLBUS 2006, Variable V646 und V28. Arza/Kohli, 2008, sowie Immergut et al., 2007.
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war. Von einer neuen Gerontokratie ist nichts in Sicht. Aber auch von Exklusion der älteren Bevölkerung kann nicht die Rede sein. Zudem haben sich die Beziehungen zwischen Jung und Alt nicht zu einem unversöhnlichen Konflikt der Generationen entwickelt. Gleiches gilt für das Verhältnis zwischen den Altersrentnern und den Erwerbstätigen. Selbst potenziell explosive Unterschiede, wie die Seniorenmehrheit für das Lager der bürgerlichen Parteien und die Mehrheit aller anderen Wähler für das nicht-bürgerliche Lager, wirken nicht eruptiv. Hinzu kommen beträchtliche Anpassungen der Alterssicherungssysteme an den demographischen Wandel. Die Politik hat mit einer Serie von Umbau- und Rückbaureformen und der Einführung einer kapitalbasierten Rente die potenziellen öffentlichen Finanzierungslasten der Alterssicherung spürbar verringert – obwohl dies wahlpolitisch hochriskant ist (Pierson, 2001; Levy, 2010). Zudem profitiert die Bundesrepublik Deutschland – wie alle wohlhabenden Demokratien – von der Kehrseite des demographischen Wandels: Sie bleibt von riskanten „JugendÜberhang“-Konstellationen verschont (Heinsohn, 2003): Deutschland hat – im Unterschied zu vielen islamisch geprägten Ländern – keine große Masse junger Wähler ohne Aufstiegschancen und Zukunftshoffnungen, die extrem politisierbar und gewaltbereit sind. Die Alterung der Bevölkerung wird – unter sonst gleichen Bedingungen – den Lebensstandard voraussichtlich beeinträchtigen. Doch die zukünftige Entwicklung ist nicht determiniert. Eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung würde dem sinkenden Lebensstandard entgegenwirken. „Keine andere Form der Anpassung an den demographischen Wandel ist so wirkmächtig wie die Erhöhung der Erwerbsquote“, heißt ein Leitsatz der ökonomisch-demographischen Forschung (Börsch-Supan, 2011a: 11). Insbesondere die Relation zwischen der Zahl der Erwerbstätigen und der Bevölkerung „ist zentral für die ökonomischen Auswirkungen des demographischen Wandels; sie ist aber auch eine der wichtigsten Schlüsselgrößen für Lösungsansätze, die aus dem Bedrohungspotential des demographischen Wandels eine Chance machen“ (Börsch-Supan, 2011b: 21; vgl. Börsch-Supan et al., 2009). Etliche Beobachter stufen Deutschlands Erwerbsquote als bestenfalls mittelmäßig hoch ein. Tatsächlich entwickelt sich die Erwerbsquote hierzulande jedoch dynamischer. Sie ist 2009 höher als zu Beginn der 1960er Jahre, und könnte noch weiter erhöht werden.24 Zudem zeigt der internationale Vergleich, dass Deutschlands Erwerbsquote (gemessen am Bevölkerungsanteil der Erwerbspersonen) steigt und mit 51 % im Jahre 2009 einen mittleren Platz im OECD-Länder-Vergleich hält (Berechnungsbasis: OECD, 2010f: 16ff.). Die Erwerbsbeteiligung der 15- bis 64Jährigen in Deutschland nahm in den letzten 15 Jahren sogar überdurchschnittlich zu und übersteigt mittlerweile die durchschnittliche Erwerbsquote der OECDMitgliedsstaaten.25 Auffällig ist überdies der – ebenfalls überdurchschnittliche – Anstieg der Erwerbsbeteiligung der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland (Berech24
Gemessen am Anteil der Erwerbspersonen an der Bevölkerung stieg die Erwerbsquote in der Bundesrepublik Deutschland von 47,7 % im Jahre 1960 auf 51,2 % im Jahre 2009 (BMAS, 2010a: Tabelle 2.3). 25 Berechnungsbasis: OECD, 2010e: 271 (Tabelle B). Gemessen an dieser Quelle liegt die Erwerbsquote (in Prozent der 15- bis 64-Jährigen) in Deutschland, die längere Zeit auf nur mä-
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nungsbasis: OECD, 2010e: 274–276). Bleiben diese Trends stabil, würden sie einen Teil der ökonomischen Lasten der Alterung kompensieren. Insoweit scheint für älter werdende Demokratien nach Art der Bundesrepublik Deutschland eine Teilentwarnung angezeigt zu sein. Etliche politische Konsequenzen der Alterung sind milder als befürchtet, prinzipiell gestaltbar und nicht notwendig zerstörerisch.
4.2 Grenzen politischer Anpassung an den demographischen Wandel Allerdings fehlt bei dieser Bilanz – und das ist die zweite Folgerung – ein weiterer Rechnungsposten: die Grenzen der politischen Anpassungen an die Alterung der Bevölkerung. Die Wucht des demographischen Wandels ist so groß, dass bei gleichbleibender Erwerbsbeteiligung und ohne weitere Reformen des Arbeitsmarktes und der Alterssicherung der Lebensstandard voraussichtlich schrumpft (Börsch-Supan, 2011b: 21ff.) und der Finanzierungsbedarf der Alterssicherung weiter wächst.26 Sollte dieser Bedarf durch zunehmende Staatsverschuldungsquoten gedeckt werden, was wahrscheinlich ist, kämen weitere Lasten der Finanzpolitik auf die zukünftigen Generationen zu. Grenzen der Politik werden auch bei der Aufgabe sichtbar, die Migration zukunftsverantwortlich zu steuern (Kaufmann, 2005: 117). Deutschland hat in diesem Politikfeld aufgrund seiner historisch bedingten Abneigung gegen Bevölkerungspolitik noch mehr Schwierigkeiten als klassische Einwanderungsländer wie Australien, Kanada und die USA. Der Preis für die geringe Intelligenz der Migrationspolitik ist allerdings hoch: Weder in quantitativer noch qualitativer Hinsicht erfüllt die Zuwanderungspolitik hierzulande die Erfordernisse einer schrumpfenden Gesellschaft mit hohem Humankapitalbedarf. ßig hohem Niveau rangierte, mittlerweile mit 76,4 % (2009) im OECD-Länder-Vergleich an 10. Stelle – gleichauf mit Großbritannien (76,6 %), nahe bei Schweden (78,9 %) und über der US-amerikanischen Erwerbsquote (74,6 %) (OECD 2010: 271). 26 Der mittleren Variante der 11. Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes zufolge steigt der Bevölkerungsanteil der Senioren bis 2050 auf rund 30 %. Den Projektionen der OECD (2011: 159) nach zu urteilen, wird der Anteil der öffentlichen Rentenausgaben aber – vor allem aufgrund der Reformen der Alterssicherungssysteme – nur von 10,2 (2010) auf 12,3 % des Bruttoinlandsproduktes (2050) steigen. Hinzu kommen bis 2050 wahrscheinlich die Verdoppelung des Bedarfs für die Pflegeversicherung sowie – auch alterungsbedingt – zunehmende Kosten des Gesundheitswesens. Vermutlich wird sich der wachsende Anteil der Ausgaben für Alterssicherung, Pflege und alterungsbedingte Gesundheitsdienstleistungen um das Jahr 2050 herum zu einem zusätzlichen Finanzbedarf von bis zu 10 % des Bruttoinlandsproduktes addieren – sofern alles Übrige gleich bleibt. Der deutschen Sozialbudgetstatistik zufolge läge die Sozialleistungsquote dann nicht mehr wie derzeit bei rund 30 %, sondern bei rund 40 %. Je nach Finanzierung der Sozialpolitik erfordert dieser Finanzbedarf entweder eine erhebliche Erhöhung der Sozialbeiträge oder erhebliche Steuererhöhungen oder einen drastischen Anstieg der Staatsverschuldung oder eine Kombination aus allen drei Maßnahmen.
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Schlussendlich hat die Politik in Deutschland bislang kein Mittel gefunden, die niedrige Geburtenrate, nach der hohen Lebenserwartung die zweitwichtigste Hauptquelle des demographischen Wandels, zu erhöhen.27 Somit bleibt die ungelöste „Nachwuchssicherung“ (Kaufmann, 2005: 173) die offene Flanke der politischen Reaktionen auf den demographischen Wandel (Esping-Andersen, 2009).
4.3 Erträge für die Demokratietheorie Inwieweit wirft die Analyse der politischen Konsequenzen des demographischen Wandels Erträge für die Demokratietheorie ab? Etliche Befunde des vorliegenden Beitrags stützen die Zweifel, die die Demokratietheorie gemeinhin der Zukunftsverantwortlichkeit der Demokratie entgegenbringt.28 Insbesondere die Steuerungsgrenzen der Politik, die im vorangehenden Abschnitt dieses Kapitels benannt wurden, lassen sich mit Lehrsätzen der modernen Demokratietheorie plausibel erklären. Zu ihnen gehört die These, dass die Demokratien zu zeitverzögerten Reaktionen auf Großprobleme wie die Alterung der Bevölkerung neigen, und dass sie in der Regel gegenwartsfixierte Lösungen vorziehen. Dafür sind vor allem fünf Strukturmerkmale verantwortlich:29 Erstens ist die Zeitstruktur der Demokratie typischerweise auf einen kurzen Zeittakt geeicht, der wesentlich von in regelmäßigem Turnus stattfindenden Wahlen und Amtsperioden von überschaubarer, meist vier- bis fünfjähriger Dauer geprägt ist. Zweitens neigt die Wählerschaft ebenfalls zu einem kurzfristigen Zeithorizont: Das Nahe ist ihr wichtiger als das Ferne und das eigene Los näher als das anderer. Drittens reproduzieren die gewählten Repräsentanten des Demos in ihrem Streben nach Machterwerb und Machterhalt die Kurzfristigkeit der Wählerschaft. Viertens wird auch die Politik der Interessengruppen größtenteils von kurzen, gegenwartsfixierten Zeittakten geprägt. Noch mehr gilt dies, der fünfte Grund, für die extrem kurz getakteten Massenmedien. 27
Zu den Möglichkeiten einer pronatalistischen Politik tendenziell skeptisch Bradshaw/Finch, 2010, und optimistischer Bujard, 2010, der auf der Basis einer international vergleichenden Makrodatenanalyse folgert, dass familienpolitische Anstrengungen der Fertilität zugute kämen. Eine Gegenthese haben Bradshaw/Finch, 2010: 473, mit Blick auf die Mikroebene entwickelt. Fertilitätsfördernd sei am ehesten die „Unabhängigkeit von Familienpolitik“ als Folge des Zusammenwirkens von „human capital, a sense of security, power in the market place“, also als Folge des Zusammenwirkens von hohem Qualifikationsstand, Sicherheit der Lebensführung und guter Marktposition. 28 Vgl. hierzu Blühdorn, 2011 (mit besonderer Betonung egozentristischer, gegenwartsfixierter Strukturen der „Konsumentendemokratie“), Kielmansegg, 2003: 584ff. (mit besonderem Nachdruck auf den institutionellen Determinanten eines kurzen Zeittaktes der Demokratie) und Zacher, 2001: 419, der im Unterschied zu Blühdorn (2011) die Chance sieht, dass die Rechtssprechung, also ein Teil der Expertokratie, „den Ungleichgewichten, die sich aus der Mehrheitsbindung und dem Zeittakt der Demokratie ergeben, entgegenwirken“ könne (Zacher, 2001: 430). 29 Vgl. hierzu Kielmansegg, 2003: 584ff. Allerdings ist das Leistungsprofil von Demokratien nicht homogen. Vielmehr variiert es in Abhängigkeit von institutionellen und akteursbezogenen Variablen, vgl. Schmidt, 2005e, und Schmidt, 2010, Kapitel 27.4.
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Andererseits hat der vorliegende Beitrag Befunde berichtet, welche die skeptische Sicht auf die Zukunftsverantwortlichkeit der Demokratie relativieren. Einem dieser Befunde zufolge verfügt die Demokratie über Korrekturmechanismen, die die Politik von der Alterung der Bevölkerung, auch von der Alterung der Parteiund der Verbändemitgliedschaften abkoppeln. So hat der Wettbewerb um Wählerstimmen die Parteien veranlasst, trotz zunehmender Alterung ihrer Mitgliedschaft nach Koalitionen zu streben, die Jung und Alt sowie Erwerbstätige und Rentner umfassen. Und andere Mechanismen, wie begrenzte Amtsperioden oder Altersgrenzen, entkoppeln politische Einrichtungen in erheblichem Maß von der Alterung der Bevölkerung. Gerontokratien neuer Art bleiben deshalb unwahrscheinlich. Quer zum Mainstream der Demokratietheorie steht der Befund, dass die Politik der Alterssicherung in Deutschland (und in einer Reihe anderer rentenpolitischer Reformstaaten) mittlerweile in größerem Umfang zu Sozialstaatsumbau und Sozialkürzungen gegriffen hat – trotz zunehmender Seniorenquote und trotz hoher wahlpolitischer Risiken! Immerhin liegen Arbeitshypothesen zur Erklärung dieses Sachverhaltes vor. Der Problemdruck, der von sanierungsbedürftigen Staatsfinanzen ausgeht, lässt auch die Sozialpolitik nicht ungeschoren. Dass zudem das politische Kalkül von Wahlkämpfern, die nach Machterwerb oder Machterhalt streben, auch Sozialstaatsumbau- und -rückbaumaßnahmen fördern kann, liegt für den auf der Hand, der weiß, dass Wahlen nur mit einem Programm für überdimensionierte Koalitionen gewonnen werden können. Diese Koalitionen müssen nach Lage der Umstände in den modernen Demokratien einen erheblichen Teil der Rentner und der Nichtrentner einschließen. Die Logik des demokratischen Parteienwettbewerbs und die Logik der Aggregation heterogener Interessen zu politischen Mehrheiten erfordern demnach weit reichende Kompromisse, auch Kompromisse zwischen Jung und Alt. Dazu zählen auch sozialpolitische Entscheidungen, die die relative Bevorzugung der Alterssicherung in erheblichem Umfang abschmelzen. Auch diese Vorgänge sprechen für die beträchtliche Anpassungs- und Korrekturleistungen der Demokratie. Das wird man der Demokratie zugutehalten dürfen und ihr insoweit deutlich mehr Gegenwarts- und Zukunftsverantwortlichkeit zubilligen können als man der Theorie zufolge erwarten könnte. Andererseits sind die Steuerungsgrenzen der Demokratie – wie im Falle der Nichtsteuerbarkeit oder geringen Steuerbarkeit der Fertilität – nicht zu übersehen: Sie verweisen sowohl auf Grenzen der Steuerungsfähigkeit der Politik als auch auf Grenzen der Steuerbarkeit der Gesellschaft. Man wird die Demokratie für solche Steuerungsgrenzen allerdings nicht allzu zu barsch kritisieren dürfen. Selbst autokratische Regimes haben vergeblich versucht, sinkende Geburtenraten zu stoppen oder gar nachhaltig zu erhöhen.30
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Die Deutsche Demokratische Republik ist ein Beispiel: Trotz massiver pronatalistischer Förderung seit 1972 und in besonderem Maße ab 1976 sank der Anteil der Lebendgeburten pro 1000 der Bevölkerung von Mitte der 1960er Jahre bis zum Ende der DDR (Helwig/Hille, 2008: 475, 481, 488ff.).
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5 Zusammenfassung Welche politischen Konsequenzen hat die Alterung der Bevölkerung in der Demokratie? Daten zur Bundesrepublik Deutschland zeigen einerseits eine zunehmende „latente politische Macht“ der Senioren an: Insbesondere wächst ihr Anteil an der Wählerschaft und der Mitgliedschaft einflussreicher Interessengruppen und Parteien. Überdies profitieren die Senioren in einem historisch beispiellosen Maß von staatlichen Leistungen insbesondere in der Alterssicherung. Andererseits ist die politische Macht der Senioren begrenzt. Von einer neuen Gerontokratie oder einer „Rentner-Demokratie“ kann nicht die Rede sein. Die Mechanismen des politischen Wettbewerbs in der Demokratie und die Entkoppelung der Elitenrekrutierung vom Alterungsprozess wirken gegen gerontokratische und „rentnerdemokratische“ Tendenzen. Hinzu kommen beträchtliche politische Anpassungsleistungen: Die Politik hat mit einer Serie von Umbau- und Rückbaumaßnahmen die potenziellen öffentlichen Finanzierungslasten der Alterssicherung spürbar verringert – obwohl dies wahlpolitisch hochriskant ist. Zugute kam der Politik dabei, dass sich die Beziehungen zwischen Jung und Alt – trotz divergierender parteipolitischer Präferenzen – nicht zu einem unversöhnlichen Konflikt der Generationen entwickelten. Insoweit sind die politischen Konsequenzen der Alterung in Deutschland weniger schwerwiegend als zu befürchten war. Allerdings verbleibt ein großer Handlungsbedarf. Ferner sind die Grenzen der politischen Anpassung an den demographischen Wandel unübersehbar. Bei gleichbleibender Erwerbsquote und ohne weitere Reformen des Arbeitsmarktes und der Alterssicherung werden die Finanzierungslasten der Alterung sehr stark wachsen. Zudem tut sich die Politik in Deutschland bei zwei weiteren Stellgrößen zur Anpassung an den demographischen Wandel schwer: Die Migrationspolitik entspricht weder quantitativ noch qualitativ den Anforderungen. Überdies hat die Politik bislang kein Mittel gegen die niedrigen Geburtenraten gefunden. Insoweit bleibt die ungelöste „Nachwuchssicherung“ (Kaufmann, 2005) eine offene Flanke der politischen Anpassungen an den demographischen Wandel.
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Die Demokratie wird älter – Politische Konsequenzen des demographischen Wandels
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Teil VI
Psychologische Konsequenzen von Fremdund Selbstbild im Alter
Fremd- und Selbstbild im Alter. Innen- und Außensicht und einige der Konsequenzen Ursula M. Staudinger
Die folgenden Ausführungen könnten auch unter dem Titel stehen: „Was ist mein Alter und wenn ja, wie viele?“1 Mit einem solch launigen Titel möchte ich die Uneindeutigkeit der Bedeutung des Wortes „Alter“ in den Vordergrund rücken und das obwohl wir glauben, dass die Antwort auf die Frage „Was ist mein Alter?“ eine klare und ganz einfache ist, nämlich diejenige, die sich aus der Differenz des jeweiligen Tagesdatums und dem eigenen Geburtsdatum ergibt. In der Altersforschung auch chronologisches oder kalendarisches Alter genannt. Gerne zieht man dieses kalendarische Alter als guten Grund und Erklärung für die eine oder andere altersassoziierte Erscheinung heran, ohne sich des Zirkelschlusses bewusst zu sein. Jedoch wie so häufig ist die naheliegenste Erklärung nicht die Richtige und schon gar nicht die Einzige. Der Begriff des Alters lässt sich also nicht auf die Bedeutung als kalendarisches Alter reduzieren. Die moderne Entwicklungspsychologie (Baltes, Lindenberger, Staudinger, 2006; Baltes, Reese, Lipsitt, 1980) hat gezeigt, dass das kalendarische Alter per se keine Erklärungskraft hat, sondern eine sogenannte Deckvariable ist, die als Platzhalter für mit dem kalendarischen Alter einhergehende Prozesse und Einflüsse steht. Wie ist das zu verstehen? Menschliche Entwicklung oder menschliches Altern, dies sind im Übrigen zwei Seiten einer Medaille, ist nicht etwa biologisch determiniert, so dass es sich automatisch aus der verrinnenden Zeit „ergibt“. Nein, menschliche Entwicklung oder menschliches Altern ist das Ergebnis kontinuierlicher Wechselwirkungen zwischen biologischen Einflüssen und sozial-kulturellen Einflüssen sowie den Entscheidungen, die der Einzelne trifft. Insofern ist das Alter(n) mehrdimensional. Zu einem umfassenden Verständnis vom Alter gehören: das biologische Alter, das soziale Alter und das psychologische Alter (z. B. Birren & Cunningham, 1985). Diese verschiedenen Alter(sdimensionen) können sich in ihrem Zahlenwert voneinander unterscheiden und vor allem weichen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nach oben oder unten vom kalendarischen Alter ab. Des Weiteren unterscheiden 1
Formuliert in loser Anlehnung an den Bestseller von Richard David Precht (2007): Wer bin ich— und wenn ja, wie viele?
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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sie sich auch darin, inwieweit objektive oder subjektive Kriterien ihrer Feststellung zugrunde liegen. Im Folgenden werde ich zunächst die verschiedenen Altersdimensionen und ihren historischem Wandel beschreiben. In einem zweiten Teil werde ich mich dann einer umfassenderen Konzeption vom Alter(n) zuwenden, dem sogenannten Altersbild und seinen Varianten. Das numerische (kalendarische, biologische, psychologische) Alter ist ein Teil solcher Konzeptionen, doch das Altersbild geht weit darüber hinaus. Es umfasst Einschätzungen über alterstypische Eigenschaften und Verhaltensweisen.
1 Die vermeintliche Aussagekraft des kalendarischen Alters Im Alltagsgebrauch erhofft man sich durch die Information über das kalendarische Alter eines Menschen Informationsgewinn über diese Person. Wie realistisch ist diese Hoffnung? Abbildung 1 verwendet zur Veranschaulichung des geringen Informationswertes des kalendarischen Alters den Bereich der geistigen Leistungsfähigkeiten und hieraus wiederum die Schnelligkeit der Informationsverarbeitung (vgl. z. B. Lindenberger & Kray, 2005). Die Überzeugung, dass das Alter durch eingeschränkte geistige Leistungsfähigkeit gekennzeichnet ist, gehört ja zu den zentralen Merkmalen des negativen Altersstereotyps (vgl. z. B. Filipp & Mayer, 1999; auf dieses kommen wir weiter unten noch zu sprechen). Es wird aber an dieser Abbildung deutlich, dass es bis zum Alter 85(!) Personen gibt, die auf oder über dem durchschnittlichen Leistungsniveau von 25jährigen (!) liegen.
3 Mechanik (z.B. Geschwindigkeit) 2 1 0 -1 -2 -3 30
50
70
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Alter
Abb. 1 Die Veränderung der Schnelligkeit der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit zeigt mit dem kalendarischen Alter eine große Variationsbreite (nach Baltes & Lindenberger, 1997)
Fremd- und Selbstbild im Alter. Innen- und Außensicht und einige der Konsequenzen
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Die Unterschiedlichkeit zwischen den Menschen ist im Erwachsenenalter enorm und nimmt mit zunehmendem kalendarischen Alter auch noch zu (vgl. Baltes, 1987). Mit anderen Worten: Das kalendarische Alter ist mit zunehmendem Alter immer weniger hilfreich, wenn es darum geht, Genaueres über die Leistungsfähigkeit oder auch die Einstellungen einer Person zu erfahren. Dennoch herrscht in vielen Lebensbereichen, so auch der Arbeitswelt, eine tiefe Überzeugung über den hohen Informationswert des kalendarischen Alters vor. Diese Hartnäckigkeit lässt sich nicht zuletzt wohl daraus erklären, dass das kalendarische Alter eine einfache und unaufwändig zu erhaltende Information ist; einfacher jedenfalls als die Messung der geistigen Leistungsfähigkeit.
2 Das biologische Alter in historischer Perspektive: Ein Widerspruch? Das biologische Alter ist viel schwieriger zu messen als das kalendarische. Es genügt nicht der Blick in den Personalausweis. Eine mögliche Annäherung an das biologische Alter und vor allem auch seine historische Entwicklung ist es, sich mit der Veränderung der durchschnittlichen Lebenserwartung über die historische Zeit zu beschäftigen. Tut man dies, stellt man fest, dass der Mensch es geschafft hat, seit 1840 die durchschnittliche Lebenserwartung um mehr als 30 Jahre zu erhöhen (z. B. Oeppen & Vaupel, 2002). Hinter dieser Lebensverlängerung steht eine beispiellose kulturelle Entwicklung und die Verbesserung des Lebensstandards, die sich zum einen niederschlägt in besserer Ernährung, Unfallvermeidung, veränderten Arbeitswelten, besserer Notfallmedizin und generell dem verbesserten medizinischen Wissen sowie der medizinischen Versorgung, aber auch verstärkter Investitionen in Prävention im Sinne des Public Health Gedankens. Um unterscheiden zu können, ob es sich bei diesem Zugewinn an Lebensjahren primär um ein medizinisch ermöglichtes Hinauszögern des Sterbens handelt oder tatsächlich eine Veränderung des Alternsverlaufs, ist es hilfreich, sich neben der durchschnittlichen Lebenserwartung auch die gesunde Lebenserwartung anzusehen. Hier zeigt sich, dass von den dazu gewonnenen Jahren ein überproportionaler Anteil Jahre sind, die aktiv verbracht werden können (z. B. Christensen et al., 2009). Es ist also nicht nur so, dass Menschen durch eine verbesserte Intensivmedizin länger am Leben erhalten werden, sondern sie sind auch länger als früher (funktional) gesund. Der Gesundheitszustand eines 70jährigen vor 20 Jahren entspricht dem durchschnittlichen Gesundheitszustand eines heute 80jährigen (Vaupel, 2010). Es wäre jetzt notwendig, systematische Kohortensequenzstudien zu den relevanten medizinischen Vitalparametern durchzuführen, um Aufschluss über deren historische Veränderung zu erlangen. Dies würde es dann erlauben, den verbesserten Gesundheitszustand dazu ins Verhältnis zu setzen. Es haben sich nicht nur die biologische Altersmarke der Mortalität, sondern auch andere biologische Altersmarken verschoben. So hat sich beispielsweise die Menarche in den letzten Jahrzehnten zunehmend nach vorne geschoben. Interessanter-
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weise gibt es bis zum heutigen Datum allerdings keine Hinweise darauf, dass sich die Altersmarke der Menopause komplementär dazu in der jüngeren Vergangenheit nach hinten verschoben hätte (z. B. van der Velde, 2001). Dies könnte, falls es sich empirisch bestätigt, ein Hinweis auf eine obere Grenze der biologischen Plastizität sein. Trotz der früheren Geschlechtsreife hat sich das durchschnittliche Alter beim ersten Kind sukzessive nach oben verschoben. Allein hieran wird die Wirkungsmacht von sozialen Institutionen, wie zum Beispiel den Bildungsinstitutionen oder auch den Geschlechterrollen, deutlich, die im nächsten Abschnitt behandelt werden. Ich möchte zurückkommen zur Abschnittsüberschrift: Es hat sich in der Tat gezeigt, dass auch die Biologie historischen Einflüssen unterworfen ist. Die Befunde aus der epigenetischen Forschung geben auch erste Hinweise auf die möglichen vermittelnden Mechanismen.
3 Das soziale Alter: Für den Menschen unumgänglich Der Mensch ist ein soziales Wesen. Ohne die menschliche Gemeinschaft könnte die Spezies Mensch nicht überleben. Die Abfolge der Lebensphasen, die mit unterschiedlichen Kompetenzmustern verbunden sind, hat im Gemeinwesen bei der Verteilung von Aufgaben und Rollen eine wichtige Funktion. Im Gemeinwesen werden im Sinne der Funktionalität Rechte und Pflichten mit den Lebensphasen verbunden, die für die Mitglieder der Gemeinschaft gelten. Hierzu zählt in Stammesgemeinschaften zum Beispiel der Übergang ins Erwachsensein. An diesen Vorgaben orientiert sich die individuelle Lebensplanung und auch die Bewertung des eigenen Lebens. Erst in den modernen Gesellschaften gewann das kalendarische Alter die uns heute so selbstverständlich erscheinende große Bedeutung (z. B. Settersten & Mayer, 1997). Kalendarische Marken betreffen beispielsweise die Einschulung, den Berufseintritt, die Erstheirat, das erste Kind oder auch die Verrentung. Auch wenn es durch die seit den 1990er Jahren in der Soziologie diskutierte Individualisierung des Lebenslaufs (Kohli, 1994; Mayer & Müller, 1994) in verschiedenen Lebensbereichen zu einer Aufweichung der Stärke der Allgemeinverbindlichkeit von Altersnormen2 gekommen ist, so ist die fast schon magische Bedeutung von kalendarischen Altersmarken für die Bewertung und Steuerung der Biographie ungebrochen (z. B. Heckhausen, 1989). Eine Einflussgröße, die diesen Veränderungen in der sozialen Strukturierung des Lebenslaufs zugrunde liegt, ist auch die Verlängerung des menschlichen Lebens. So kommt es zur Verlängerung von Lebensphasen oder schlicht zu mehr Zeit, um Rollenerwartungen individuell einzutakten und auszufüllen (Riley, 1986).
2 Altersnormen lassen sich als das statische Mittel in einer gegebenen Population bestimmen, können aber auch präskriptiv sein, insofern als sie bestimmtes Verhalten zu einem bestimmten Alter einfordern oder zumindest erwarten (z. B. Hagestad, 1990).
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4 Psychologisches Alter: Man ist so alt, wie man sich fühlt? Unter dieser dritten Bedeutungsdimension des Begriffes Alter versteht man schließlich die Kompetenzen, Einstellungen, Motivlagen usw., die einer Person zu einem bestimmten kalendarischen Alter zur Verfügung stehen. Aus Populationsuntersuchungen lässt sich jeweils der kalendarische Normwert ermitteln, den eine gegebene Person dann über- oder unterschreiten kann. Das subjektive, wahrgenommene oder gefühlte Alter ist u. a. eine subjektive Abbildung dieser Diskrepanz. Es wird mit Hilfe unterschiedlicher Fragen erhoben: ‚Wie alt fühlen Sie sich?‘, oder ‚Wie würden Sie Ihr Alter angeben, wenn Sie sich im Spiegel ansehen?‘. Seit es diese Forschung gibt, etwa seit den 1950er Jahren, ist der konsistente Befund über verschiedene Studien hinweg, dass Erwachsene ab dem Alter 25 beginnen das subjektive Alter niedriger einzuschätzen als ihr kalendarisches (z. B. Westerhof & Barrett, 2005). Diese negative Diskrepanz steigt dann bis etwa zum Alter 40 an und bleibt danach auf einem Niveau einer 20 % Unterschätzung stabil bis ins hohe Alter (für eine dänische Stichprobe: Rubin & Berntsen, 2006). Diese Abflachung der Altersunterschätzung ab etwa dem 40. Lebensjahr spricht gegen eine simple Verleugnung des Alters und vielmehr dafür, dass in Abhängigkeit vom kalendarischen Alter der Einschätzung des subjektiven Alters unterschiedliche Mechanismen zugrunde liegen. Sozio-demographische Eigenschaften, wie Geschlecht, Einkommen und Bildung klären dabei nur geringe Anteile in der Variabilität des subjektiven Alters auf. Vielmehr ist dieses Phänomen der Unterschätzung des eigenen Alters wohl zum einen in Verbindung zu bringen mit dem Prozess der Wahrnehmung des eigenen Alterns. Besonders die Abflachung der Unterschätzung ab etwa dem 40. Lebensjahr spricht für diese Verankerung in der Realität. Es stellt sich beispielsweise die bisher nicht beantwortete Frage: In welchen Abständen korrigieren wir unser Selbstbild im Hinblick auf das kalendarische Alter aufgrund wahrgenommener Veränderungen? Geschieht dies kontinuierlich oder eher in Sprüngen? Zum anderen muss man bei der Unterschätzung des kalendarischen Alters den sogenannten Selbsterhöhungseffekt (self-enhancement) in Rechnung stellen, nach dem man selbst immer besser (in diesem Fall jünger) dasteht als die Anderen. Ebenso spielt die gesellschaftlich hohe Bewertung der Jugend in modernen Industriegesellschaften eine wichtige Rolle dabei, inwieweit sich Menschen mit einem bestimmten kalendarischen Alter identifizieren wollen. Das Ergebnis eines Ländervergleichs zwischen den USA und Deutschland unterstützt solche Erklärungen. Es wurde gezeigt, dass die Unterschätzung des kalendarischen Alters in den USA ausgeprägter ist als in Deutschland (Westerhof & Barrett, 2005). Ebenso wurde diese stärkere Unterschätzung in den USA im Vergleich mit Japan und Finnland gefunden (Ota et al., 2000; Uotinen, 1998). Diese Länderunterschiede könnten zumindest teilweise in Zusammenhang gesehen werden mit dem Unterschied zwischen einem (neo)liberalen politischen System, das durch eine individuelle Wettbewerbsorientierung gekennzeichnet ist (wie in den USA) im Vergleich zu eher wohlfahrtsstaatlichen solidarischen Systemen, die kollektive Unterstützungssysteme unterhalten (wie in Japan, Finnland und Deutschland).
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Unterstützt wird diese Interpretation noch durch den Befund, dass der positive Zusammenhang zwischen subjektivem Alter und subjektiver Gesundheit einen Teil des Länderunterschieds erklären konnte. In den USA wird die Bedeutung der Gesundheit höher bewertet als in Deutschland (Shweder, 1998). Entsprechend schätzten die US-amerikanischen Teilnehmer ihre Gesundheit subjektiv auch höher ein. Objektiv ist es übrigens eher umgekehrt. Die durchschnittliche Lebenserwartung der USA liegt niedriger als die in Japan oder Deutschland. Auch die Tendenz zur Selbstüberhöhung, die den Selbstwert stärkt und damit im Wettbewerb mit anderen als Ressource zu sehen ist, ist in den USA stärker ausgeprägt und trägt zu einer höheren Differenz zwischen kalendarischem und subjektivem Alter bei (Markus & Kitayama, 1991). Das subjektive Alter steht aber auch in Zusammenhang mit der Wahrnehmung eigener körperlicher Veränderungen. Diese Erklärung erhält Unterstützung durch die historisch vergleichende Analyse der letzten drei Erhebungswellen (1996, 2002, 2008) des Deutschen Alterssurvey (DEAS). Das kohortensequentielle Erhebungsdesign des DEAS erlaubt es, die historischen von den altersbezogenen Veränderungen zu unterscheiden. Es zeigt sich, dass sich seit Mitte der 1990er Jahre die Wahrnehmung körperlicher Verluste mit dem Alter bei den über 55jährigen abgemildert haben (Wurm & Huxhold, 2009). Insofern kann man argumentieren, dass sich die Verbesserung des Gesundheitszustands nachwachsender Generationen darin widerspiegelt und/oder auch die Aufweichung eines einseitig negativen Altersstereotyps (siehe unten) darin deutlich wird. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Trend in Zukunft weiter fortsetzen wird.
5 Altersbilder Unter dem Begriff Altersbild versteht man all die Vorstellungen und Erwartungen zu Eigenschaften, körperlichen Zuständen und Möglichkeiten, die sich im Alter bieten oder mit ihm einhergehen. Das Altersbild bezieht sich im Allgemeinen auf die gesellschaftliche Sicht auf diese Lebensphase und wird dann auch häufig Altersstereotyp genannt. Es kann sich jedoch auch auf die Wahrnehmung des eigenen Alters beziehen und sollte dann der Klarheit wegen besser Altersselbstbild genannt werden. Schließlich kann man die Vorstellungen von Menschen darüber, wie sie glauben, dass andere das Alter sehen, erfassen. Dieses lässt sich als Metaaltersbild oder Metaaltersstereotyp bezeichnen (vgl. Bowen, 2010). Die Forschung zum Altersstereotyp hat gezeigt, dass trotz einer Reihe von positiven Assoziationen (v. a. im Bereich soziales Verhalten, Beständigkeit und Erfahrungswissen) nach wie vor negative Assoziationen (z. B. mangelnde Flexibilität, keine Lernfähigkeit, Demenz, Krankheit, Verlust der Autonomie) überwiegen (Gordon & Arvey, 2004; Nelson, 2002). Anhand von Abb. 2 kann man das eigene Altersstereotyp überprüfen, wenn man die roten Antworten zunächst abdeckt. Auch das Altersstereotyp ist nicht unabhängig von historischen Veränderungen. In einer Kohortensequenzstudie konnte gezeigt werden, dass zwischen 1991 und
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Abb. 2 Aussagen, die das Altern im Allgemeinen beschreiben sollen. In Rot ist die Bewertung des Realitätsgehalts dieser Aussagen aufgrund der Befunde der Berliner Altersstudie wiedergegeben (eigene Darstellung nach Baltes et al., 1998)
1999 das Altersstereotyp insgesamt positiver wurde, aber in besonderem Maße bei Personen über 70 Jahren (Rothermund & Brandtstädter, 2003). Das Altersselbstbild wird zum Beispiel im Bereich der körperlichen Veränderungen oder der Entwicklungsmöglichkeiten oder auch mit Hilfe von Eigenschaftslisten erfasst (cf. Filipp & Mayer, 1999). Diese drei Varianten des Altersbildes stehen in enger Beziehung zueinander. Abbildung 3 stellt ein Arbeitsmodell der wechselseitigen Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Formen des Altersbildes dar. Ein Beispiel für ein Metaaltersstereotyp ist das Altersklima in einem Unternehmen, wie also in einem Unternehmen die Eigenschaften der älteren Mitarbeiter wahrgenommen werden (vgl. Noack, Bowen, Staudinger, 2009). Das Metaalterstereotyp des älteren Mitarbeiters ist nicht unabhängig vom gängigen Altersstereotyp zu verstehen. Das Altersselbstbild ist, wie in einer Längsschnittstudie gezeigt werden konnte, stärker das Ergebnis der Verinnerlichung von existierenden Altersstereotypen, die Menschen während ihrer eigenen Entwicklung begleitet haben, als umgekehrt (Rothermund & Brandtstädter, 2003; Rothermund, 2005). Das Altersselbstbild und das Altersstereotyp zeigten jeweils unabhängige längsschnittliche Zusammenhänge mit depressiven Tendenzen. Außerdem hatte das Vorliegen eines negativen Altersstereotyps bei gleichzeitig negativem Altersselbstbild noch eine verstärkende Wirkung auf die depressiven Tendenzen. Umgekehrt pufferte ein eher positives Altersstereotyp die Wirkung eines negativen Altersselbstbilds ab (Rothermund, 2005).
Abb. 3 Ein schematisches Arbeitsmodell zu den wechselseitigen Zusammenhängen zwischen den drei verschiedenen Arten von Altersbildern (eigene Darstellung)
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6 Einige der Konsequenzen von Altersbildern Warum sollte man sich für Altersbilder interessieren? Altersstereotype und Altersselbstbilder formen Zukunftserwartungen und Zukunftskonzepte des Selbst (vgl. Ryff, 1991). Je mehr eine Person davon überzeugt ist, dass Altern ein zunehmender und unausweichlicher Prozess des körperlichen Abbaus ist, umso weniger wird diese Person daran glauben, dass sie ihr eigenes Altern positiv beeinflussen kann. Solche Überzeugungen haben nachgewiesenermaßen großen Einfluss auf das tatsächlich gezeigte Verhalten (Bandura, 1986). So haben etwa ältere Personen, die körperliche Symptome mit ihrem kalendarischen Alter erklärt haben, anstatt mit dem Vorliegen einer Krankheit, weniger effektives Gesundheitsverhalten an den Tag gelegt (z. B. Leventhal & Prohaska, 1986). Die sozial-kognitive Grundlagenforschung hat gezeigt, dass die Aktivierung von negativen Altersstereotypen dazu führt, dass Personen ihr Verhalten an das Stereotyp anpassen („Assimilationseffekt“), zumindest dann, wenn das Stereotyp für sie von Relevanz ist (z. B. Wentura & Rothermund, 2005; Wheeler & Petty, 2001). In einer Studie von Levy (1996) wurde beispielsweise gezeigt, dass die Konfrontation älterer Menschen mit dem Senilitätsstereotyp (durch Wörter wie Abbau, Alzheimer, Sterben etc.) zu einer Verschlechterung der Gedächtnisleistung, der Selbstwirksamkeit bzgl. des Gedächtnisses sowie der Einstellung gegenüber dem Altern führte (vgl. auch Hess, Auman, Colcombe, Rahhal, 2003). Der Assimilationseffekt wurde bei älteren Menschen außer in kognitiven und metakognitiven Maßen auch in ideomotorischen Reaktionen (Hausdorff, Levy, Wei, 1999), physiologischen Reaktionen (Hautleitfähigkeit, kardiovaskuläre Reaktion auf Stress, siehe Levy, Hausdorff, Hencke, Wei, 2000) und in Bezug auf den Lebenswillen (Levy, 2003) nachgewiesen. Diese Effekte bestehen trotz der oben diskutierten Tatsache, dass sich Menschen ab dem jungen Erwachsenenalter gemessen an ihrem kalendarischen Alter jünger erleben und das eigene Alter zunehmend positiver eingeschätzt wird als das Alter „der meisten Anderen“ oder „typischer Anderer“ (Heckhausen & Krueger, 1993; Montepare & Lachman, 1989; Westerhof & Barrett, 2005). Verinnerlichte negative Altersbilder haben auch direkte Auswirkungen auf Leistungsmasse und Gesundheit durch die Erzeugung von Stress und Angst, denen man sich hilflos ausgeliefert fühlt (threat hypothesis: Steele & Aronson, 1995; Wurm et al., 2007). Erlebter Stress wiederum ist mit einer Verschlechterung der Immunreaktion verbunden (Kiecolt-Glaser, McGuire, Glaser et al., 2002). So konnte gezeigt werden, dass ein positives Altersselbstbild mit einer um sieben Jahre erhöhten Lebenserwartung in Zusammenhang steht (vgl. Abb. 4). Dieser Befund hatte Bestand, nachdem man statistisch für objektive Gesundheit, sozio-öknomischen Status und subjektives Wohlbefinden –alles wichtige Prädiktoren von Mortalität—kontrolliert hatte (Levy, Slade, Kunkel, Kasl, 2002; siehe ebenso Maier & Smith, 1999; Levy & Myers, 2004). Altersselbstbilder, die Altern mit körperlichen Einbußen in Verbindung bringen, stehen in Zusammenhang mit einer erhöhten Anzahl an körperlichen Krankheiten sechs Jahre später (Wurm, Tesch-Roemer, Tomasik, 2007). Es konnte
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Abb. 4 Positiver Einfluss einer positiven Wahrnehmung des eigenen Alterns (high PSPA) auf das Überleben. Pfeile zeigen den Median des Überlebens der beiden (high/low PSPA) Probandengruppen (nach Levy et al., 2002)
in dieser Studie auch gezeigt werden, dass die Altersbilder die Gesundheit stärker beeinflussten als umgekehrt. Darüber hinaus gibt es erste Hinweise auf Auswirkungen von Altersbildern auf die Arbeitsproduktivität (Bowen, Noack, Staudinger, 2011). Über die oben erläuterte Selbststereotypisierung und die Auslösung von Angst, den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein, ist ein älterer Arbeitnehmer dann selbst davon überzeugt, dass er aufgrund seines Alters weniger leistungsfähig, vergesslicher und inflexibler wird oder ist, als dies tatsächlich der Fall sein müsste. So wurde in der Tat gefunden, dass ältere Arbeitnehmer ihre Kompetenzen und Fertigkeiten unterschätzen. Ihre Einschätzungen waren dem gesellschaftlichen Altersstereotyp viel ähnlicher als ihren tatsächlichen Fähigkeiten (Filipp & Mayer, 1999). In beiden Fällen, der Angst vor der Bestätigung des negativen Stereotyps und der Angst vor dem eigenen Altern und dem Tod an sich, kann aufgrund experimenteller Evidenz davon ausgegangen werden, dass Personen, die mit dem Stereotyp konfrontiert werden, von einem leistungsfördernden Promotionsfokus des Verhaltens, der auf Gewinn und Erreichen abzielt, in einen Vermeidensfokus, der auf die Vermeidung von Verlusten gerichtet ist, wechseln (Crowe & Higgins, 1997). Es hat sich auch gezeigt, dass ein positives Altersselbstbild mit einem Promotionsfokus in Zusammenhang steht (Bowen & Staudinger, 2011a). Der Regulationsfokus beeinflusst die Informationsverarbeitungsprozesse in der Art, dass der Einfluss eines negativen Stereotyps eine negative Ergebniserwartung in den Mittelpunkt rückt und die Verlustvermeidung optimiert. Hierbei ist die Person bemüht, zu verhindern, dass sie durch ihr Verhalten das negative Stereotyp bestätigt. Das führt zu sehr eingeschränkter Aufmerksamkeit, die sich auf die Fehlerminimierung anstatt auf die Ergebnismaximierung konzentriert. Dieses spiegelt sich dann in tatsächlich geringeren Leistungen wider (Hess et al., 2003; Seibt & Förster, 2004).
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Verschiedene Faktoren beeinflussen die Aktivierung von solchen Selbststereotypisierungsprozessen. Zum ersten ist hier das gesellschaftliche Altersbild zu nennen, welches uns allgegenwärtig in den Medien und in zwischenmenschlichen Interaktionen begegnet. Zwar wird im Allgemeinen oftmals erst der vollständig aus dem Arbeitsleben zurückgezogene Mensch als „älter“ bezeichnet (Braun, 1992), was in der Regel einem Alter von 60+ entspricht, so wirkt sich doch allein die weit verbreitete Anwendung des Wortes „alt“ auf Arbeitnehmer ab 45 Jahren, bei Frauen sogar früher, in gleicher Weise als negatives Priming aus. Eine zweite Einflussgröße, die besonders im Arbeitskontext eine Rolle spielen kann, ist das Altersklima des Unternehmens (z. B. Noack & Staudinger, 2011). Herrscht im Unternehmen ein negatives Altersklima vor, d. h. werden ältere Arbeitnehmer insgesamt weniger wertgeschätzt als dies für jüngere der Fall ist, so ist davon auszugehen, dass dies nicht spurlos an den Betroffenen vorübergeht. Zusammenhänge mit Arbeitszufriedenheit, Verbundenheit mit dem Unternehmen und, vermittelt über eine Aktivierung von Selbststereotypisierungsprozessen, auch mit Arbeitsleistung sind vorstellbar. Erste empirische Hinweise auf solche Zusammenhänge liegen inzwischen vor (Noack, Baltes, Staudinger, 2008) und wurden für den Einfluss konkreter Altersdiskriminierung schon mehrfach nachgewiesen (z. B. Orpen, 1995). Daher sollten Unternehmen sehr darauf achten, eine positive Perspektive auf das Altern ihrer Belegschaft zu wahren. Dies erscheint besonders sinnvoll angesichts positiver Effekte von Priming mit einem positiven Altersstereotyp auf die Gedächtnisleistung im Alter (Hess, Hinson, Statham, 2004; Levy, 1996). Es hat sich auch gezeigt, dass ein positives Altersklima die mit dem Alter üblicherweise beobachtete Abnahme des Promotionsfokus konterkarriert, so dass unabhängig vom Alter in Unternehmen mit positivem Altersklima bei den Mitarbeitern der Promotionsfokus erhalten bleibt (Bowen & Staudinger, 2011a). Ebenso berichten Mitarbeiter in Unternehmen mit einem positivem Altersklima von weniger Wechselabsichten als Mitarbeiter in Unternehmen mit einem eher negativen Altersklima (Bowen & Staudinger, 2011b). Dieser Befund gilt erstaunlicherweise unabhängig vom Alter der Mitarbeiter. Mit anderen Worten: Auch auf junge Mitarbeiter wirkt sich ein negatives Altersklima negativ aus, da sie sich vorstellen, wie dieses Unternehmen mit ihnen umgehen wird, sobald sie älter geworden sind. Positive Effekte eines positiven Altersbildes haben sich auch bei der systematischen Gestaltung altersheterogener Interaktionen gezeigt (Kessler & Staudinger, 2007). In einer Studie wurden ältere und adoleszente Personen, die sich vorher nicht kannten, in einer Gesprächssituation zusammengebracht, in der es darum ging, entweder ein schwieriges Lebensproblem oder ein modernes Technikproblem zu bearbeiten. Bei den altersgemischten Dyaden, die das schwierige Lebensproblem lösen sollten, zeigte sich nach einer Gesprächsdauer von 30 Minuten, dass die Älteren signifikant höhere kognitive Leistungen zeigten, als die Älteren in der Technikbedingung. Mit anderen Worten: Die kognitive Leistung Älterer kann durch die positive Verstärkung des Selbstwerts der älteren Person verbessert werden. Diese Effekte sind motivationaler Natur und daher nicht nachhaltig. Welche Effekte die chronische Unterstützung des Selbstwertgefühls hat, ist bisher empirisch nicht beantwortet.
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7 Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das kalendarische Alter eine leere Hülse ist, die schon ab dem frühen mittleren Erwachsenenalter nur noch wenig Informationsgehalt hat. Wichtiger ist es, das biologische, psychologische und soziale Alter einer Person zu kennen. Alle diese Dimensionen des Alters zeigen darüber hinaus auch historische Veränderungen, derer man sich klar sein sollte und die der kontinuierlichen empirischen Erfassung bedürfen. Die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung geht einher mit besserer Gesundheit bei gleichem kalendarischem Alter. Sie geht auch einher mit mehr potentiellen Freiheitsgraden in der Ausgestaltung des sozialen Alters, die aber immer noch zu wenig genutzt werden. Die empirisch belegten Wirkungen der Altersbilder im Kopf und in der öffentlichen Meinung genauso wie im Arbeitsumfeld verweisen auf die Wichtigkeit, sich über das eigene Altersselbstbild klar zu werden, da es bedeutsame Auswirkungen auf den eigenen Entwicklungsverlauf hat. Ebenso ist es wesentlich, sich klar zu werden, wie die Altersstereotype aussehen, die im eigenen Umfeld vorherrschen, denn auch sie haben bedeutsame Auswirkungen auf die eigene Leistungsfähigkeit. In einer Gesellschaft des längeren Lebens lohnt es sich also in mehrfacher Hinsicht, die Bilder des Alters anzureichern. In den Medien herrscht allerdings häufig immer noch ein einseitig negatives Altersstereotyp vor. Alter wird in den Printmedien, den Nachrichten- und Magazinsendungen fast ausschließlich als „Problemlage“ diskutiert. Im Gegensatz dazu wird in vielen Unterhaltungssendungen ein unrealistisch positives Altersbild gezeichnet, das soweit geht, dass „das Alter“ eigentlich ausgespart bleibt (Kessler, Rakozy, Staudinger, 2004). Eine Vielfalt von Altersbildern in der Öffentlichkeit würde jedem Einzelnen helfen, den eigenen Wünschen und Möglichkeiten entsprechenden Altersstil zu entwickeln. Hier liegt eine Verantwortung u. a. auch für die Medien in Deutschland, im Unterhaltungs- wie im Informationsbereich ein vielfältigeres, differenzierteres Bild des Alters zu etablieren.
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Teil VII
Drittes Alter und religiöse Sicht auf das Lebensende
„Fünftes Alter“ und „Schöner Sterben“: Europäische Religionsgeschichte am Ende des 20. Jahrhunderts Christoph Auffarth
Eine Generation, die das Grauen des Krieges erlebt hatte, den massenhaften gewaltsamen Tod, Tod, der keinen Sinn mehr machte als Heldentod oder im Bombenkrieg, erfuhr danach eine ungekannte Sicherheit: die medizinische Revolution, das Wirtschaftswunder, den Frieden. An die Stelle der ‚gestundeten Zeit‘ tritt für die Zeit nach dem Ende der Berufsarbeit die Perspektive des ‚dritten Lebensalters‘ oder im neuesten Alterssurvey sogar „die zweite Lebenshälfte“ genannt. Aber auch von der anderen Seite wurde in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Alter offen. Die Möglichkeiten der Reanimation eröffnen außerkörperliche Erfahrungen, die den Tod als Durchgang durch einen Tunnel in einen lichten, weiten Raum des Wohlbefindens erscheinen lassen. „Interviews mit Sterbenden“ und „Das Leben nach dem Tod“ machten aus subjektiven Erfahrungen Glauben. Grundlegende Pfeiler christlicher Religion tragen nicht mehr: Der Tod als Konfrontation mit den ewigen Werten, dem Sein-Sollen und Scheitern, das Gericht, die letzte Grenze und – vielleicht – die Gnade. An deren Stelle tritt das Glück, Aufgehobensein, die Vollendung, die den Wunsch nach Selbstverwirklichung krönen. Der Beitrag beschreibt in religionswissenschaftlicher Analyse den grundlegenden Wandel, Herausforderung der religiösen Tradition und Reaktionen.
1 Generationen des 20. Jahrhunderts: Alt Werden in biographischen Kontinuitäten und politischen Umbrüchen In den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich die Frage nach dem Alter und Altern neu gestellt. Der Generationenwechsel der Eliten stand an: die Jugend- oder Studenten-Revolution der Achtundsechziger. Die jetzt ins Pensionsalter kamen, waren in der Zeit des Nationalsozialismus sehr jung in die Führungspositionen aufgestiegen und hatten auch nach dessen selbstverschuldeter Katastrophe die führenden Eliten des demokratischen Neubeginns gebildet. Mit ihrem Abtritt wandelte sich
P. Graf Kielmansegg, H. Häfner (Hrsg.), Alter und Altern. DOI 10.1007/978-3-642-24832-0_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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das Verhältnis zum Staat von einem autoritätsgläubigen Vertrauen auf Dauerhaftigkeit zur Hoffnung auf Wandel. Politisierung und stärkere Partizipation der Bürger ist das langfristige Ergebnis. Doch kurz darauf zerbrachen die Erwartungen, die das Wirtschaftswunder geweckt hatte: der Ölschock 1973. Das bedeutete die Einsicht in die Endlichkeit, nicht nur der Ressourcen dieser einen Welt, sondern auch das Ende der Machbarkeit aller Allmachtsträume, wie die Atombombe und die Atomkraft, die angeblich „heller als Tausend Sonnen“ sei.1 Einsicht auch in die Endlichkeit auch des menschlichen Lebens. In diese Situation traf nun ein neues Bild vom Sterben und damit der Bewertung des Alters und des Alterns. Zwei Bücher (Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden, 1969, und Raymond Moody: Leben nach dem Tod, 1977) und die dadurch ausgelöste Diskussion veränderten die Religion des ausgehenden 20. Jahrhunderts mit der Erwartung des „Schöner Sterbens“. Eine der Institutionen, die für den Wandel stehen, ist das Hospiz; begründet hat die Idee als die Realisierung von ausgesprochen christlichen Werten Cicely Saunders (1918– 2005), die aus eigenen Mitteln 1967 das St. Christopher’s Hospice in Sydenham im Südosten Londons erbauen ließ. Mit einem gewissen Recht kann man von einer Tabuisierung des Todes in der Nachkriegszeit sprechen – geboren aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Dies gilt nicht nur für Deutschland, dort aber ganz besonders. Die Männer konnten nicht über die Todeserfahrungen und -ängste sprechen, die sie im Krieg erlebt hatten. Es war Hitlers Krieg, ein Verbrechen, auf das man nicht stolz sein durfte. Über die Toten des Bombenkriegs wurde schon während des Krieges geschwiegen, ja die Zerstörungen und die vielen Toten, die durch die Proklamation des ,Totalen Kriegs‘ auch zu Hause in der Nacht Verschütteten, Erschlagenen, Verbrannten, bekamen keine Denkmäler, waren sogar Opfer zugunsten des nationalsozialistischen Städtebaus.2 Forcierte Jugendlichkeit bestimmte die Gesellschaft des NS. Die ausgedünnte Generation derer, die den Zweiten Krieg überlebt hatten, wurde älter, Adenauer als Symbol, der mit 73 Jahren der erste Kanzler der Bonner Republik wurde und bis zum 88. Lebensjahr blieb. Nur langsam änderte sich die Einstellung zum Tod und zum Altern. Der gewaltsame Tod im Krieg, die allgegenwärtige Willkür und Rechtsverweigerung durch GeStaPo oder SS und durch einen willfährigen Volksgerichtshof mit den zahllosen Todesurteilen, der staatlich geplante und bürokratisch durchgeführte Mord an einem Teil des eigenen Volkes, der Armutstod, der allgegenwärtige Tod in jedem Alter verringerte die Chance auf einen ,Feierabend‘: in Frieden, Wohlstand, gesund alt zu werden. All das änderte sich im Wirtschaftswunder. Das Tabu, vom Tod zu reden, wich um 1970 einer lebhaften Diskussion in Öffentlichkeit und Wissenschaft, in der soziologische Untersuchungen über Tod und
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Nur Beispiels halber sei der Titel des Buches von Jungk, Robert (1913–1994) genannt: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher, Stuttgart 1956. Auf die Bühne gebracht in Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, 1962. 2 Durth; Gutschow, Träume in Trümmern, 1993. Gutschow, Stadtzerstörung und Gedenken, 2005, 267–293.
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Moderne,3 Plädoyers für selbstbestimmte Selbsttötung,4 historische Einordnung der Moderne als ,Zähmung des Todes‘ im Abendland5 und Ästhetisierung des Todes zusammentrafen. Wenn nun die Nah-Toderfahrungen und die von Kübler-Ross behauptete Endphase des Lebens als Akzeptanz, als ein ,Einstimmen‘ in den Tod beschrieben wurde, eben das Schöne Sterben, dann entbrannte die Kritik daran: dies seien doch Schönungen aus christlicher Tradition heraus. Aus dieser Ausgangssituation lässt sich dann sowohl die Veränderung der christlichen Tradition als auch eine für die Religiosität der Moderne in ihrem Übergang zur Postmoderne typische Erscheinung analysieren. Die Religion des „Schöner Sterbens“ blendet ja gerade den doppelten Ausgang der christlichen Eschatologie aus.6 Es gibt nur noch das Paradies, nicht mehr den Strafort; Schuld und Sünde, ein Gericht werden nicht mehr thematisiert. Die Spiritualisierung der Individualreligiosität hat ihre Auswirkungen auch auf die Selbstdarstellung christlicher Religion. Empowerment statt salvation, bis hin ins Alter. Der gleiche Prozess, Sünde, Hölle und Himmel nicht mehr zu thematisieren, und eine spiritualisierende Tendenz haben auch innerhalb der Kirchen schon länger eingesetzt. Die Rede von der Hölle etwa als Strafort wird im Protestantismus schon Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend aufgegeben; im katholischen Bereich ist sie auch im populären Denken nach dem Zweiten Weltkrieg massiv geschwunden.7 Dass dabei das Alter als dritte Phase des Lebens mit einem optimistischen Ausgang („schöner Sterben“) aufgehellt wurde, prägt das Lebensgefühl durch die Entdeckung der Jugendlichkeit bis ins Alter und die medizinische Revolution, die an die Stelle der ,gestundeten Zeit‘ tritt.8 Um dieses engere Thema herum lässt sich eine ganze Welt erschließen. Lässt sich auch ein grundlegender Wandel der Religion schildern, von kirchlich institutionalisierter Religion hin zur individualisierten Religiosität, die ein ganz anderes, schönes Jenseits vor Augen stellt?
2 Der geschönte Tod Der Deutsche Alterssurvey DEAS beruht auf drei „Wellen“ von Befragungen 1996, 2002 und 2008.9 Differenziert werden die unterschiedlichen Parameter in so3
Fuchs-Heinritz, Todesbilder, 1969. Améry, Das Alter, 1968; Hand an sich legen, 1976. Jean Améry wurde als Hans Chaim Mayer 1912 in Wien geboren. Im Widerstand gegen den NS wurde er schwer gefoltert und überlebte Jahre in KZs gerade eben. Er verarbeitete das Grauen in Jenseits von Schuld und Sühne, 1966. Er starb gewollt 1978. 5 Ariès, Studien, 1975/76, und Geschichte, 1978/1980, 13–42. 6 Fundamental aufgearbeitet von Janowski, Allerlösung, 2000. 7 Ebertz, Zivilisierung Gottes, 2004. 8 Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit. [Lyrikband] Stuttgart: Deutschen Verlags-Anstalt, 1953. 9 Befragt wurden 14.000 Menschen in 290 Gemeinden. Die Grafiken der Ergebnisse sind als CDRom der Printpublikation DEAS beigelegt, Eine Kurzfassung der Ergebnisse ist vom BMFSJ als Broschüre erhältlich. 4
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zialwissenschaftlich valider Erhebung,10 darunter die zwischen Ost („neue Bundesländer“) und West, sozialen Kriterien, Gender; erst in der dritten Welle kommen auch andere regionale Unterschiede oder Bildung hinzu. Untersucht wurden Materielle Sicherung,11 Gesundheit,12 Gesellschaftliche Partizipation (Ehrenamt, Bildung),13 Wohnumfeld,14 Lebensformen und Partnerschaft,15 Familiale Generationenbeziehungen,16 Soziale Integration,17 Altersdiskriminierung,18 Individuelle Altersbilder,19 Subjektives Wohlbefinden.20 Ein Fazit,21 benennt die genannten Komplexe als Ressourcen im Alter, die frühzeitig aktiv zu entwickeln sind. Die mittlerweile rund 18 Jahre umfassenden Befunde lassen auch einen Wandel erkennen in Richtung auf immer stärkere Diversifizierung; eine Schere geht auseinander und macht Entscheidungen für die Politik, was Altersvorsorge und Pflege angeht, notwendig. Die zentrale Frage gilt der „Lebensqualität“22 in der „zweiten Lebenshälfte“.23 Unterschieden werden folgende Altersgruppen • Altersgruppe 1: spätes Erwerbsalter, die 40–55-Jährigen, • Altersgruppe 2: Ruhestandsübergangsalter, die 55–69-Jährigen • Altersgruppe 3: Ruhestand oder „drittes Lebensalter“, wie die 70–85-Jährigen bezeichnet werden • Das ‚vierte Lebensalter‘ der Hochaltrigkeit wird im DEAS nicht untersucht. Der DEAS unterscheidet folgende drei Generationen und bezeichnet sie mit den Etiketten24 : • Die 1945er- und Aufbaugeneration (Geburtskohorten 1918–1930): Im NS sozialisiert, wuchsen sie unter den Bedingungen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs auf. Als junge Erwachsene in unterschiedlicher Weise geprägt vom Auf10
Beschrieben im Kapitel 2, S. 34–60. Kapitel 3, S. 61–89. 12 Kapitel 4, S. 90–117. 13 Kapitel 5, S. 118–141. 14 Kapitel 6, S. 142–162. 15 Kapitel 7, S. 163–187. 16 Kapitel 8, S. 188–214. 17 Kapitel 9, S. 215–233. 18 Kapitel 10, S. 234–245. 19 Kapitel 11, S. 246–262. 20 Kapitel 12, S. 263–283. 21 Kapitel 13, S. 284–302. 22 Verweis auf Ruut Veenhoven, The four qualities of life: Concerning concepts and measures of good life, Journal of Happiness Studies 1(2000); 1–39. 23 Der D EAS unterscheidet drei Altersgruppen, die 40–55-Jährigen (spätes Erwerbsalter), die 55– 69-Jährigen (Ruhestandsübergangsalter) und die 70–85-Jährigen Ruhestand, der oft als „drittes Lebensalter“ bezeichnet wird (D EAS 2010, 284). „Das ‚vierte Lebensalter‘ der Hochaltrigkeit wurde im vorliegenden Band nur am Rande betrachtet.“ (D EAS 2010, 285). 24 D EAS 2010, 28–30. 11
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bau zweier deutscher Gesellschaften. Gleichzeitig geformt durch das alte Gesellschaftssystem des nationalsozialistischen Deutschland und gleichzeitig Träger eines neuen bzw. wesentlich renovierten Gesellschaftssystems. • Die 1968er-Generation und die (DDR) integrierte Generation (Geburtskohorten späte 1930er bis Mitte 1940er Jahre): in der NS-Zeit bzw. im Zweiten Weltkrieg geboren, erlebten sie die Staatsgründungen als Kinder unter den Bedingungen des Wirtschaftswunders und des Aufbaus Ost. Erhebliche Entwicklungs- und Aufstiegschancen. Bildungsexpansion in den End-Sechziger und Siebziger Jahren. Im Osten der Zusammenbruch der DDR und Umbruch des Arbeitsmarktes, Bruch der Berufskarriere. • Die Babyboomer (Geburtskohorten Mitte der 1950er bis erste Hälfte 1960er Jahre): wirtschaftlich und politisch gefestigte Systeme in Ost und West. Erheblich gestiegene Bildungschancen. Gleichzeitig aber verminderten sich die Berufschancen durch (1) die hohe Konkurrenz in den geburtenstarken Jahrgängen, die Etablierung von Frauen im Arbeitsmarkt und (2) die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums (Ölkrise 1973). In der DDR waren die Partei-Eliten weitgehend geschlossen ohne Aufstiegschancen für die Jüngeren. Seit der ,Deutschen Vereinigung‘ sind die Erwerbskarrieren der Babyboomer unter einigermaßen günstigen Bedingungen verlaufen. Pluralisierung der Lebensformen und Lebensläufe, deren Auswirkung auf die Altersicherung einigermaßen offen ist. Die Bezeichnungen für die Generationen blenden die problematischen und negativen Erfahrungen und Lebensläufe aus, wenn man die erste Generation, die in der Weimarer Republik geboren wurde und den NS und den Krieg aktiv oder als Opfer bewusst erlebt, gestaltet, erlitten hat, etwa als Aufbau-Generation bezeichnet und den Zusammenbruch unterschlägt. Wissenschaftliche Analyse und geschöntes Ergebnis für die Rechtfertigung politischer Entscheidungen sind nicht sauber getrennt. Das Ergebnis ist auch der Methode geschuldet, wenn man ältere Menschen fragt, die autobiographisch einen Sinn in ihrem Leben suchen und den Schlussstrich in der ,Sicherheit des Schweigens‘ ziehen wollen.25 Die öffentliche Diskussion in den Geisteswissenschaften um das Erinnern und das Mahnmal ist im DEAS nicht wahrgenommen. Die ganz Alten, bei denen die Probleme sich multiplizieren, sind nicht untersucht.
3 Zustimmung: Das Sterben als erfüllender Teil des Lebens. Kübler Ross’ „Interviews mit Sterbenden“ In die beginnende Auflösung des Schweigens trafen die „Interviews mit Sterbenden“, die Elisabeth Kübler-Ross (* 8. Juli 1926 in Zürich; † 24. August 2004 in 25
Den Teil des Lebens zu beschweigen, den man aktiv handelnd oder passiv leidend – und irgendwie lässt sich das nicht trennen – erlebt hat, gehört zur Lebenswirklichkeit der Bonner Republik. Dirk van Laak hat das für die wissenschaftliche Affirmierung des NS in der Rezeption der Konzeptionen Carl Schmitts nach dem Zusammenbruch unter diesem Titel (1993 = 2 2003) beschrieben.
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Scottsdale, Arizona) 1968 veröffentlichte. Die in der Schweiz ausgebildete Ärztin siedelte als 32-Jährige in die USA über. Dort arbeitete sie als Psychiaterin in vielen Kliniken, besonders mit Sterbenden. Aus ihren Erfahrungen leitete sie eine Stufenfolge des Trauerprozesses ab und beschreibt sie in dem Bestseller On Death and Dying.26 • • • • •
Nicht wahr haben Wollen und Isolierung (denial) Zorn (anger) Verhandeln (bargaining) Depression (depresssion) Akzeptanz (acceptance)
Was das Buch für unseren Zusammenhang bedeutend macht, ist, dass die Sachverständige, die Medizinerin und Fachfrau zunehmend, herausgefordert durch die Kritik, ausgerechnet den schwächsten Punktes in ihren Beobachtungen verstärkte: Die letzte Phase, die Akzeptanz, wird jetzt „Das Ende des Lebens: von Hoffnung 26
Kübler-Ross, Elisabeth: On Death And Dying. London: Macmillan 1968 [so die eigene Angabe von EKR; im Katalog GBV findet sich 1969]. dt. Interviews mit Sterbenden. Stuttgart: Kreuz 1971. Nach der 18. Auflage 1973 (126 000 Ex.) wurde parallel eine gekürzte Taschenbuchausgabe verkauft Gütersloh 1973, ab 2000 bei Knaur. Es folgte Questions and Answers on Death and Dying. Dt. Was können wir noch tun? Antworten auf Fragen nach Sterben und Tod. Stuttgart: Kreuz 1974. Tb. 1980. Living with death and dying; dt. Verstehen, was Sterbende sagen wollen: Einführung in ihre symbolische Sprache, Stuttgart 1982; To live, until we say good-bye, Englewood Cliffs, NJ 1978; dt. Leben bis wir Abschied nehmen, Stuttgart: Kreuz 1979; Tb. Gütersloh 1986. On children and death 1983; dt. Kinder und Tod 1984. Außerdem die Autobiographie (wie Anm, 50.) Bücher zu Death and Dying folgten [in dieser und den folgenden vier Anmerkungen dokumentiere ich nur durch Verfasser und Jahr, welche Flut an Büchern sich an der Debatte um das Thema beteiligten: Offenbar hatte On Death and Dying ein Stauwehr geöffnet] von Backer, Barbara A 1982; Hinz, Evelyn J. 1982; Goldstein, Eleanor C 1982; Rhodes, Colbert 1983. Weir, Robert F. 1985, Anderson, Ray S. 1986. Rohr, Janelle (opposing views) 1987. Wilcox, Collin 1990. Corr, Charles A. 1994. Fulton, Gere B. 1995. Beauchamp, Tom L 1997. Bücher zu den rechtlichen und medizinischen Bedingungen und Konsequenzen: Wilcox, Sandra Galdieri, 1985. Chirban, John T., 1985. Cantor, Norman L, 1987 (Legal frontiers). Kearl, Michael C. (soziologisch); Canine, John D (Psychologie), 1996. Seymour, Jane E (Intensivmedizin), 2000. Snyder, Carrie (zu Patientenverfügung), 2001. Zum Kulturvergleich: Kalish, Richard A.: Death and dying. Views from many cultures. Farmingdale, NY: Baywood 1980. Stubbe, Formen der Trauer 1985. Mullin, Glenn H. (zu Tibetischem Buddhismus) 1986. Berger, Arthur, 1989. Crissman, James K. (Appalaches) 1994. Isaacs, Ronald H. (jüdisch) 1999. Kellehear, Allan (Australien) 2000. Bigger, Andreas (ed.): Release from life – release in life: Indian, 2010. Historische Studien und Vergleiche: Kenny, Christine (Nordwest-England 1500–2000), 1998. Du Bruck, Edelgard E., Death and dying in the Middle Ages, 1999. Jones, Constance, The complete book of death and dying, 1999. Karant-Nunn, Susan C (Early reformation), 2010. Seeman, Erik R (Amerika 1492 – 1800), 2010. Kirsty Owen: . . . Glouchestershire 1350–1700 A.D., 2010. Lexika und Handbücher: Encyclopedia of death and dying, ed. Howarth, Glennys. Routledge 2000. Macmillan encyclopedia of death and dying, ed. Kastenbaum, Robert, 2003. Sterben und Tod: Geschichte – Theorie – Ethik ; ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. von Wittwer, Héctor; Schäfer, Daniel, und Frewer, Andreas. Stuttgart: Metzler 2010. Zum Sterbeprozess allgemeiner, nicht nur bezogen auf eine längere finale Phase des Lebens: Nugent, Christopher, Mysticism, 1995. Bregman, Lucy, 2003.
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begleitete Zustimmung“.27 Zwar schränkt sie ein: „zumeist“ erreichten die Sterbenden diese letzte Phase, aber „Ich glaube, die meisten unserer Kranken würden die Phase der Zustimmung erreichen, wären da nicht . . . vor allem die Ärzte, die den Tod eines Patienten nicht hinnehmen können.“28 Die Thesen von Kübler-Ross betonen also bestimmte Erfahrungen der Psychiaterin und behaupten ihre Allgemeingültigkeit, der nur die Ignoranz der Kollegen entgegensteht. Sicher nicht ganz zu Unrecht: Lange galt für die Medizin als eine Naturwissenschaft, dass der aus-therapierte Mensch nicht mehr Gegenstand ärztlicher Bemühungen, allenfalls mitmenschlicher Sympathie sei.29 Doch diese Einstellung hat sich weitgehend geändert; Schmerztherapie und Palliative Care ist im Bewusstsein aller Ärzte angekommen.
Abb. 1 Der Christus Consolator / Der Segnende („tröstende“) Christus von B. Thorwaldsen (um 1820). Original in der Kathedrale von Kopenhagen; Kopie im Johns-Hopkins-Krankenhaus in Baltimore. 1894–96 von Theobald Stein angefertigt. Sockelinschrift aus Matthäus 11,28. Zeichnung nach Arthur E. Imhof: Im Bildersaal 1991, 28
27
Kübler-Ross, Elisabeth: Was können wir noch tun?, 1974, 37–42. Kübler-Ross, Elisabeth: Was können wir noch tun?, 1974, 41. 29 Zum naturwissenschaftlichen Selbstverständnis der Ärzte s. Kaiser: Religion in der Psychiatrie, 2007. 28
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Aber die Interviews von Kübler-Ross sind nicht analytisch in Typen aufgeteilt, irgendwie methodisch auf Alternativen hin befragt. Die zahllosen Gegenbeispiele, denen sie in den Sterbekliniken begegnet ist, werden nicht in das Bild einbezogen. Das Bild ist der schöne Tod, eine gewünschte Botschaft, es fehlt an beobachtender Analyse. So lassen sich folgende Beschränkungen und blinde Flecken in Kübler-Ross’ Phasenmodell erkennen: • Der Sterbende ist ein Individuum, ein wertvoller Mensch, der seine Krankenkasse eingezahlt hat, • Er stirbt von seiner Familie umsorgt. Das setzt also die amerikanische Familie aus der Mittelschicht voraus, die mit dem eigenen Wagen in die abseits des Zentrums liegenden Krankenhäuser fährt. Der Mann stirbt zuerst. • Die christliche Grundstimmung wird als gegeben erwartet. Eine Analyse müsste typologisch Atheisten und Marxisten einbeziehen. • Leiden spielt in der amerikanischen Religiosität keine so bedeutende Rolle wie in Europa mit seiner Barock-Passionsfrömmigkeit.30 Dagegen der Segnende Christus, der wie ein Schutzengel immer an der Seite der Gläubigen steht, nicht richtend, auch nicht mit-leidend (siehe Abb. 1)31 • Die Patienten sind Menschen, die eine längere Phase der Krankheit erleben, insbesondere Krebspatienten. • Die Stufenfolge ist zwar oft nicht genau so zu beobachten, aber sie gilt nach Kübler-Ross im Prinzip. So kann die letzte Stufe der Zustimmung vorausgesetzt werden, obwohl bei weitem nicht alle Patienten sie „erreichen“.
4 Nahtod-Erfahrungen Die Interviews von Kübler-Ross, dass das Sterben die zustimmende Vollendung des Lebens sei, erhielt seine Bestätigung durch eine zwar alte, aber als religiöse Illusion in Verruf geratene Behauptung, dass es ein Leben nach dem Tod gebe. Nun präsentierte sie Dr. Moody in seinem Buch Leben nach dem Tod nicht mehr als religiöse Illusion, sondern als naturwissenschaftlich belegtes Wissen. Die amerikanische Ausgabe erschien 1975, die deutsche Übersetzung 1977.32 Der amerikanische Philosoph und Psychiater hat Berichte gesammelt, wie der Umschlag der deutschen 30 Auffarth, Christoph; Döbler, Marvin; Cross. Modern Era. Encyclopedia of the Bible and its reception Vol. 4, 2011 im Druck. Bräunlein, Pasyon 2010. 31 Imhof, Arthur E. (1991) Im Bildersaal der Geschichte oder ein Historiker schaut Bilder an. München: Beck, 25–67. Thorwaldsens ‚Segenender Christus‘ steht am Eingang, der durch die Krankentransporte im Auto zum Hinterausgang geworden ist. 32 Raymond A. Moody, Life after Life. The investigation of a phenomenon. Survival of bodily death, Covington GA 1975; dt. (mit einen Vorwort von Elisabeth Kübler-Ross): Leben nach dem Tod. Die Erforschung einer unerklärlichen Erfahrung, Reinbek: Rowohlt 1977. Innerhalb eines Jahres waren 175 000 Exemplare verkauft Kautzky (wie Anm. []).
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Abb. 2 Der Spiegel. Titelblatt der Ausgabe 26/1977
Ausgabe sagt, „150 Menschen, die einmal in medizinischen Sinne gestorben waren und doch überlebt haben, berichten über ihr Leben nach dem Tod.“ Es handelt sich um Patienten, die folgendes erzählen von der Situation, als sie reanimiert wurden: Schmerzend laute Geräusche um sie herum, sie winden sich durch einen engen dunklen Tunnel; am Ende endlich wird es hell und frei, das Getöse hat aufgehört. Sie befinden sich außerhalb ihres Körpers und können von oben auf ihren Körper herab schauen. Sie hören den Arzt sagen: „Oh Gott, er ist tot. Schnell die Instrumente für die Reanimation!“ Nach erfolgreicher Reanimation kehrt das Ich – unwillig und unter Schmerzen – zurück in den Körper; für das Ärzte-Team ein Erfolg, über den der Patient wenig erfreut ist. – Es folgte ein zweiter Band, der nicht mehr die Tatsache der Erfahrung des Lebens nach dem Tod diskutiert, das ist eine bewiesene Tatsache, sondern nur noch: Was bedeutet das für mein Leben.33 Dem Einwand, es handelt sich um Erfahrungen, die durch den medizinischen Fortschritt der Reanimationstechnik erzeugt würden und daher ein Phänomen der westlichen Wohlstandswelt seien, begegnete Moody mit der Argumentation, sol33
RM:, Nachgedanken über das Leben nach dem Tod. Reinbek, Rowohlt 1977, 1978.
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che Bilder seien schon vormodern und außereuropäisch belegt: Seine Beweise sind Bibelstellen über die körperliche Auferstehung, u. a. 1 Kor 15, bei Platon neben Gorgias und Phaidon die Erzählung des Er im 10. Buch des Staates.34 Weiter das Tibetische Totenbuch und Swedenborg, die er selbst den Esoterika zurechnet. Sie liegen zeitlich und kulturell so weit auseinander, dass sie unmöglich von einander abgeschrieben haben könnten.35 Es handelt sich, so folgert er, um reale Erfahrungen. Am 20. Juni 1977 titelte der S PIEGEL (Heft 26/1977) Das schöne Sterben. Erlebnisse im Grenzbereich des Todes (siehe Abb. 2). Das Bild ist mit den Pastellfarben der Walldorf-Wachsmalkreiden gemalt; der Tunnel nicht ganz so eng, die grüne lichtdurchflutete Wiese liegt vor einem Paar, eine als Geist gewandet (nicht als Engel), die die andere Person begleitet bis zum Rande des Tunnels, aber umkehren wird. Die Diskussion einigte sich bald darauf, dass es nicht um Erfahrungen gehe jenseits des Todes, sondern um Nah-Tod-Erfahrungen (Near-Death-Experiences),
Abb. 3 Der Buchumschlag des Buches von Raymond Moody. Verwendet ist das Bild von William Turner: Der Morgen nach der Sintflut
34 Moody, Leben nach dem Tod, 1977, 117–134, mit einer „Bibliographie“ S. 186 f garniert, die nur auf deutsche Übersetzungen der angesprochenen Texte hinweist (mit ungefährer Seitenangabe, natürlich nicht in der wissenschaftlichen Zitierweise, also für den ,Mythos vom Er‘ Platon, Politeia 10, 614a-621b). Natürlich beruhen auch die Stellen aus der Bibel auf „eigenen Bibelstudien“, nicht auf der historisch-kritischen exegetischen Forschung. – Zur Kritik Bremmer, Rise, 2002, 89f. 35 Moody, Leben nach dem Tod, 1977, 132f.
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ohne damit auszuschließen, dass man auch hinter der Schwelle die ‚Nähe‘ des Todes beobachten könnte.36 Der Umschlag zur deutschen Ausgabe von Moodys Buch verwendet eine Farbund Lichtorgie in der sich das helle, ja grelle Licht durch das umgebende Schwarze mächtig durchsetzt: William Turners Gemälde, das er „Licht und Farbe: der Morgen nach der Sintflut“ nannte. Solche Bilder werden als visuelle Beweise gelesen, dass die modernen NTEs sich mit alten Berichten decken. Nur kann man Turners Bild eigentlich nicht präsentieren ohne sein Zwillingsbild. Der Morgen nach der Sintflut ist parallel gemalt zu dem anderen Gemälde „Schatten und Dunkelheit: der Abend vor der Sintflut“, auf dem die Finsternis das Licht erdrückt37 (siehe Abb. 4). Die visuellen Beweise sind also dekontextualisiert, sind auf die helle erfreuliche Seite reduziert. Dies lässt sich an einem weiteren Beispiel exemplifizieren: In den populären Darstellungen wird immer wieder als Beweis für eine Entkörperlichung und Tunnel-Licht-Erfahrung das Bild von Hieronymus Bosch präsentiert.
Abb. 4 William Turner: Der Abend vor der Sintflut. Tate Gallery, London. Abb. aus Hofmann, Werner; Wilson, Andrew (1976) William Turner und seine Zeit. [Ausstellung Hamburg] München, 186–206. Farbtafel xviii und xix; Katalog Nr. 156/157 (s/w)
36
Rudolf Kautzky, Das Jenseits zusammenflicken? Chef der Neurochirurgischen Abteilung an der Uniklinik in Hamburg-Eppendorf im S PIEGEL 22(1978), 219–221. 37 Hofmann/ Wilson, William Turner, 1976, 186–206.
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Abb. 5 Als Argument gegen die Kritik, das Bild vom Tunnel und Licht sei eine moderne Erfindung, wird gerne dieser Ausschnitt verwendet. Das grelle Licht vom Jenseits lässt den Himmel leer erscheinen. [Bildangaben s. folgendes Bild]
Gezeigt wird in der Regel nur dieser Ausschnitt. Oder, ganz ohne die Figuren, nur der Tunnel.38 (siehe Abb. 5). Das ist jedoch ein Ausschnitt. Ausgeschnitten aus einer Tafel, die deutlich macht, dass die nackte Seele von einem Schutzengel geleitet wird. Marijnsen39 denkt an ein Mittelstück mit dem Jüngsten Gericht, mit den Seligen und dem Himmel zur Rechten, dem Weg zur und dem Aufenthalt in der Hölle zur Linken; die vier Tafel-Flügel stellen also die Möglichkeiten und Phasen der Auferstehung dar: „Die Glückseligen und die Verdammten“ 1500–04.40 Den Lichttunnel auszuschneiden, ihn seiner Schrecken zu entledigen als sicheres Geleit in das Licht, das nur gleißend herüber leuchtet, aber nicht erkennen lässt, wie es im Himmel aussieht und wer darin wohnt. Den Himmel zeigte ja die Mitteltafel mit dem Richter auf dem Regenbogenthron. So, ohne Kontext wird der Lichttunnel zu einem Bild moderner Spiritualität (siehe Abb. 6). Den doppelten Ausgang hatten ältere Autoren noch im Blick. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen des massenhaften Todes junger, begeisterter Männer im Ersten Weltkrieg schrieb Paul Jaeger 1917 „Vor der Lorettohöhe lag im Frühjahr 1915 ein junger Offizier, der einzige Sohn seiner Eltern, mit Herzschuss, tot. ‚Mit einem Lächeln auf dem Gesicht‘ – schrieb der Kommandant seinen Eltern. Beim Sturmangriff gibt es nichts zu lächeln; auch nicht, wenn der Herzmuskel entzweigerissen wird. War es eine kurze ‚Euphorie‘ – oder das Hereinbrechen der unbeschreiblichen Freude. [. . . ] Das heißt: gibt es einen Himmel? Daß es eine Hölle gibt, haben ein38
www.psp-tao.de/interview2 Roger Marijnsen, Hieronymus Bosch. Das Vollständige Werk, Antwerpen: Mercator; Köln: Parkland, 1999, 300–309. 40 Ölgemälde, je 86,5 39,5 cm Palazzo Ducale/Dogenpalast, Venedig 39
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Abb. 6 Der Ausschnitt entfernt die religiösen Zuordnungen: Engel, Lebensquelle, Paradies. Der Himmel mit dem richtenden Christus vom Jüngsten Gericht war auf dem (nicht erhaltenen) Mittelstück dargestellt. Hieronymus Bosch: Die Glückseligen und die Verwandten. Ölgemälde, je 86,5 39,5 cm Palazzo Ducale/Dogenpalast, Venedig – Das vollständige Diptychon. Das Gegenstück ist die Darstellung von Vorhölle und Höllenqualen
stimmig alle die bezeugt, die aus der Hölle von Ypern, von Verdun, von der Somme und von Flandern kamen. Es gibt nichts Schöneres, als ihnen sagen zu dürfen, daß wir einen Himmel haben. Nicht als unendlichen Raum über uns, auch nicht bloß als einen unendlich schönen Traum und Gedanken, sondern als Wirklichkeit. . . . Aber wo?“ Die Antwort Jaegers auf die Frage nach der räumlichen Lage und Ausdehnung: „Das Himmelreich ist inwendig, in euch!“ (Lukas 17, 21) Die äußere Unendlichkeit bedeutet unfassbare Ferne, die innere Unendlichkeit unbegreifliche Nähe.“ Daher muss sie nicht Jenseits, sondern Innseits heißen.41 Aber auch hier: Die Ankedoten, die seltene Erfahrung des lächelnd da liegenden einzigen Sohnes steht gegen 41
Jaeger, Innseits, 1917, 106 und 107.
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die grässlichen Bilder, die die Frontkämpfer in sich tragen. Die Hölle von Verdun ist ihnen am Tag und im Traum gegenwärtig, aber nach der Hölle kommt das Innseits, verspricht der evangelische Pastor den schockierten Eltern. Wissenschaftliche Bearbeitungen hatten weder Kübler-Ross noch Moody zur Kenntnis genommen, obwohl die Forschung sich des Themas schon angenommen hatte, etwa Ernst Benz’ großes Buch Die Vision (1969)42 oder Forschungen zu Mystik,43 nicht einmal Carl Gustav Jungs Archetypenlehre.44 Das Buch Der Prozeß des Trauerns des Praktischen Theologen Yorick Spiegel (1973) stellte die sich gerade entwickelnde wissenschaftliche Literatur zur Verfügung, sein Literaturverzeichnis umfasst schon damals fast 250 Seiten.45 Aber das blieb die Ausnahme. Der Weg ging nicht in Richtung einer genaueren Erforschung, sondern zum Sammeln weiterer Zeugen, zum „Beweis einer religiösen Wirklichkeit“.46 Dabei wandelte sich das Tabu, über den Tod zu reden: So war bis dahin das bloße Erwähnen des Todes schon so etwas wie ein Tabubruch, wie Pornographie: Das Wort Tod in den Mund zu nehmen, war so unanständig wie eine pornographische Schilderung in großem Kreis.47 Danach aber ist das Reden über den schönen Tod geradezu geschwätzig geworden.48 Wie Pilze schossen Bücher, etwa der Bestseller Embraced by the Light 1994, Zeitschriften,49 Filme (wie Flatliners 1990)50 aus dem Boden. Ein Forschungsinstitut wurde gegründet, die International Association for Near-Death-Studies.51 Obwohl schätzungsweise 40 % der Berichte eine negative, schreckliche Erfahrung erzählen, wurden sie nicht in die Öffentlichkeit gegeben.52 Das Medienereignis steht unter dem Dogma „der Behauptung vom schönen Tod“53 und der universellen Realität des Lebens nach dem Tod in einem lichterfüllten Jenseits ohne die Beschwerden des Körpers. 42
Ernst Benz: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt. Stuttgart: Klett, 1969 [694 S. Die kühne Tübinger Ringvorlesung wurde zur gleichen Zeit gehalten und veröffentlicht: Hubert Cancik (Hrsg.): Rausch, Ekstase, Mystik. Düsseldorf: Patmos, 1978. 44 Obwohl EKR in Zürich Medizin studierte, kommt C. G. Jung nicht vor in ihrer Autobiographie Das Rad des Lebens (The Wheel of Life. New York: Scribner 1997; dt.) München: Knaur, 1997, 133f: „Psychiatrie war mir verhasst und stand auf der Liste meiner Spezialgebiete an letzter Stelle“; Psychiaterin wird sie erst nach der Umsiedlung in die USA 1958. – Der Erfolg der Psychoanalyse in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg gehört in das Umfeld. 45 Spiegel, Der Prozeß des Trauerns, 1973. 46 Knoblauch, 1999, 24. 47 Der Ausdruck ist von Geoffrey Gorer [1905–1985] mit Blick auf Großbritannien und die USA der Nachkriegszeit [50er und 60er Jahre] geprägt worden: “The pornography of death” 1955; die Ergebnisse einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Umfrage dann zehn Jahre später G.G., Death, Grief, and Mourning, 1965, 1967. 48 Ineffabile (darüber wagt niemand zu sprechen) noch bei Moody, 1977, 32; vgl. Knoblauch, Berichte, 1999, 225f. 49 Omega; Anabiosis; Journal of Near Death Studies. 50 1990, Regisseur Joel Schumacher. 51 Mit einer eigenen Zeitschrift und website. 52 Der Bericht eines amerikanischen Ingenieurs, der dann seinen Beruf aufgibt und Prediger in einer Baptistengemeinde wird. 53 Richtig beobachtet von Knoblauch, Berichte, 1999, 28. 43
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Die Nahtoderfahrung steht einem anderen Erzählmuster nahe: der KonversionsErzählung. Weniger die tatsächliche Erfahrung, vielmehr die aus den Medien vielfach bekannte Abfolge und die Übernahme eines Erzählmusters erfüllen die Erwartung. Und die Erzählung dient der Gegenüberstellung von Vorher-Bruch-Nachher. Was man vorher so vor sich hingelebt hat, das Leben, das dem „Haben“ nachjagte, ist dem Ziel des erfüllten „Seins“ gewichen, der Suche nach dem Sinn. Die alten Ziele haben sich als vergebliche Mühe erwiesen, wer eine NTE gemacht hat, widmet sein Leben jetzt sinnerfüllten Zielen.54 Und das muss man jedem erzählen.
5 Nahtoderfahrungen als „universal“ Seither ist die Thanatologie und darunter die Nahtod-Erfahrungen zu einem eigenen Spezialgebiet geworden. Multidisziplinäre Zugänge sind etabliert.55 Lassen sich die Erfahrungen neurophysiologisch erklären,56 gibt es verschiedene soziale und kulturell kodierte Typen, wie weit sind sie verbreitet, sowohl soziologisch gesehen57 als auch kultur- und epochenvergleichend?58 Oder haben wir es mit einem modernen Mythos zu tun, der sich mit den modernen Medien verbreitet?59 Die physiologischmedizinischen Erklärungsansätze gehen erst einmal von einer anthropologischen Konstante aus, also einer durch die menschliche Natur bedingten Erfahrung, die einen bestimmten Ablauf von Bildern hervorruft – wie die Physiologen meinen, was aber die kulturvergleichendenden Untersuchungen widerlegen.60 Knoblauch nennt drei Erklärungsmuster, die erkennen lassen, dass es sich dabei um einen modernen Mythos handele: • Die Argumentation, die Nah-Tod-Erfahrungen seien ein universales Phänomen, beruhe auf „naturwissenschaftlich gesicherten“ Erhebungen. Dem widersprechen die Ergebnisse der NTE-Forschung in sozialwissenschaftlich erhobenen Daten: Die in den USA erhobenen NTEs wurden als in hohem Maße übereinstimmend 54
Als „Ethik der Allverbundenheit“ nach dem Niedergang der religiösen Weltanschaung entwickelt von David Lorimer: Ethik, 1993, mit – unvermeidlich – einem Vorwort von Raymond Moody. Kübler-Ross (wie Anm. ) spricht vom „Kosmischem Bewusstsein“. 55 Knoblauch/Soeffner, 1999. 56 Susan Blackmore: Neurophysiologische Erklärungen der Nah-Todeserfahrung. In Knoblauch/Soeffner, 1999, 37–64. Schröter-Kunhardt, Michael: Nah-Todeserfahrungen aus psychiatrisch-neurophysiologischer Sicht. In: Knoblauch/Soeffner, 1999, 65–100. 57 Knoblauch, Hubert; Schmied, Ina; Schnettler, Bernd mit empirischen soziologischen Untersuchungen in: Knoblauch/Soeffner, 1999, 187–250. 58 Bremmer, Jan: Rise, 2002, 87–102. 59 Eine Sammlung solcher Mythen Brednich, Rolf Wilhelm (1990) Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute, München, 1990 [439 000 Ex. 2007]. Weitere vier Bände folgten. 60 Der „Lebensfilm“: Bremmer, Rise, 2002, erinnert an die Veränderung der Sehweise durch die technische Erfahrung der Eisenbahnreise.
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als „Standarderfahrung“ gesetzt. Schon im gleichzeitigen Deutschland aber sind sie vielfältiger61 und erst recht in anderen Kulturen. • Dann die einseitige Behauptung vom schönen Tod. Die zahllosen AlptraumVisionen mit völligem Dunkel, endlosen Labyrinthen, grinsenden Folterern, qualvollen Angstzuständen wurden teils gar nicht wahrgenommen, jedenfalls nicht veröffentlicht. • Die Naturwissenschaftlichkeit (Physiologie, Neurologie der NTEs) bezieht sich auf die Voraussetzung, dass sie im Todeskampf erfahren werden. Zentral sei bei dieser Erfahrung die Ausschüttung von Endorphinen nach einem langen Todeskampf. Bei den soziologischen Untersuchungen erwies sich aber, dass nur eine kleine Minderheit der NTEs bei Reanimationen oder in Todesnähe erfahren wurden.62 Die Verbreitung der Nah-Tod-Erfahrungen als lichte Krönung des irdischen Lebens hat das Alter und Altern zu einem positiven Teil des Lebens erhöht. Altern ist nicht mehr das Warten auf den Tod als Vernichtung und Erleidens des Todesurteils. Zu den materiellen, medizinischen und friedvollen Umständen kommt hinzu die innere Angstlosigkeit, die das schöne Sterben verspricht.
6 Die unsichtbare Religion Das „Schöne Sterben“ ist ein Musterbeispiel für die so genannte „Unsichtbare Religion“.63 Scheinbar hoch individualisiert, hoch eklektisch, trägt sie, bestärkt sie ein Lebensgefühl und leugnet, verdeckt, entmächtigt die Angst vor dem Tod, die Beschwerden des Alters, die Kälte des Abschieds. Thomas Luckmann, der Konstanzer Religionssoziologe, hat 1967 in einem Essay die neue Form von Religion beschrieben, die die ausdifferenzierte Industriegesellschaft hervorgebracht hat, und, man kann sagen, mit dem Internet ein kongeniales Medium gefunden hat: (1) Die ,unsichtbare Religion‘ steht im Unterschied zur sichtbaren Kirche und der von dieser vorgeschriebenen Religion, der Sinnpflege dieser Religion in dogmatischen Loci, theologischen Entwürfen, Katechismen des Auswendiglernens, Ritualen der Einprägung, Institutionen der Lehre und Kontrolle, machtvollen Besitztümern und Ämtern. (2) Sie lässt sich beschreiben als die neue Sozialform von Religion in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. 61
Eine der Untersuchungen von Knoblauch u. a. in: Knoblauch/Soeffner, 1999, 217–250 erkannten das für den Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland. 62 Knoblauch, Berichte, 1999, 27f. 63 Luckmann, Thomas (1967) The invisible religion. New York; dt. Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch. stw 947. Frankfurt 1991. Die amerikanische Ausgabe beruhte auf einem deutschen Essay Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963. Das Vorwort von Hubert Knoblauch ist sehr wichtig zur Weiterarbeit an dem Modell nach der amerikanischen ersten Veröffentlichung.
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(3) Die Religion wird als ,Religiosität‘ privatisiert. (4) Dennoch lässt sie sich nicht als Privatreligion völlig individualisieren, sondern die Individuen teilen sie mit vielen anderen. (5) Ein zentrale Funktion besteht darin, sich bestätigen zu lassen, dass die eigenen Erfahrungen, die man außerhalb der beruflichen, von Rationalität bestimmten Lebenswelt macht, viele andere auch erfahren haben. Um nur diese weiteren Entwicklungen der These von der unsichtbaren Religion zu nennen, hat Hubert Knoblauch zum einen das Phänomen der Nah-TodErfahrungen untersucht und in den Zusammenhang eines Vergleichs der Kulturen und Epochen gestellt64 sowie die Sichtbarkeit der – als Sozialform – unsichtbaren Religion als Populäre Religion als Weg in eine spirituelle Gesellschaft beschrieben.65 Wichtig ist weiterhin das Modell von José Casanova, der gezeigt hat, dass die Individualisierung ihrerseits auch wieder eine Sozialform von Religion ausbildet, die er public religion nennt.66 Die dritte Welle der Demokratisierung ist getragen von einer katholischen Laienbewegung, die sich von der staatsgläubigen Bischofkirche abgesetzt hat, so mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, den Revolutionen in Spanien und Portugal wie der Beseitigung des Kommunismus mit dem Vorreiter Polen. Unsichtbare Religion ist keine neue Religion (Neue Religiöse Bewegung),67 die systemisch und organisatorisch sich neu aufstellt und absetzt von anderen Religionen. Vielmehr kann die NTE genauso von Menschen mit unterschiedlichen religiöser Sozialisation und Praxis ebenso erzählt werden wie von Menschen, die Religion grundsätzlich ablehnen. Viele lehnen es sogar ab, die NTEs als religiöse Erfahrung einzustufen und das Erfahrene mit der religiösen Transzendenz gleichzusetzen. Plausibilität wird durch Naturwissenschaft in den Erklärungen gesucht, und wenn sich auf diese Weise alte religiöse Erfahrungen bestätigen, dann nicht mehr als religiöse. Eine durchgehende Spiritualisierung, die nicht mit einer bestimmten Religion und oft auch mit keiner Religion verbunden ist, lässt sich in dem Fall der Mythen vom Schöneren Sterben erkennen.68
7 Zusammenfassung 1. Altern im 20. Jahrhundert ist durch starke Schwankungen in der Generationenfolge charakterisiert: Einerseits sorgte die Einrichtung der Sozialversicherung dafür, dass das materielle Prekariat des Alters dauerhaft durch eine Grundsicherung abgelöst wurde. Die sehr unterschiedlichen Generationen, teils durch 64
Knoblauch, Berichte, 1999. Knoblauch, Populäre Religion, 2009. 66 Casanova, José (1994) Public religions in the modern world. Chicago: UP. Ders., Europas Angst vor der Religion. [Berlin]: Berlin UP, 2009. 67 Neue religiöse Bewegung, NRB, ist der metasprachliche Begriff für das, was polemisch Sekte genannt wird. 68 Religionswissenschaftlich beschrieben bei Bochinger, Christoph (1994) New Age. 65
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Kriege ausgedünnt oder durch hohe Fertilität überproportional umfangreich, erlaubten eine Zeit lang komfortable Proportionen im Generationenvertrag. Die Generation, die zwei Kriege erlebt hatte, war die materiell am besten ausgestattete. Der Rest dieser Generation, muss man genauer sagen, denn viele ihrer Schulkameraden hatten lange vor dem Alter das Leben verloren. 2. Nach der Ambivalenz einerseits der Erfahrung massenhaften Sterbens in jungen Jahren und gleichzeitig der Alterssicherung und damit Auflösung des Prekariats im Alter durch materielle Sicherung, durch medizinische Möglichkeiten, durch Ernährung etc. kam durch das Schöne Sterben eine Entängstigung des Todes und damit des Alters. Dass dies eine einseitige, geradezu religiöse Schönung des Alters war als zunächst planbare Zeit, sich nach der Pensionierung Träume erfüllen zu können, und dann einer Phase der hohen Alters als Vollendung des Lebens, hat das Lebensgefühl enorm verändert – unter Ausblendung vieler individueller und gesellschaftlicher Probleme auf der Rückseite der Medaille. 3. Methodisch habe ich nicht einen vielleicht vom Religionshistoriker erwarteten Vergleich gegeben, wie die Religionen mit dem Alter umgehen. Das könnte aber nur als unzulässige Setzung bestimmter Sondermeinungen als gültig für eine (als Einheit begriffene) Weltreligion geschehen.69 Meine Methode ist hier die Europäische Religionsgeschichte, nicht eine normative Ebene der christlichen Ethik, auch nicht die Christentumsgeschichte. Europäische Religionsgeschichte bedeutet, dass es immer Alternativen parallel gibt, die als Optionen gewählt werden können. Das Beispiel zeigte, wie anstelle von Autorität durch Offenbarung und Heilige Schrift jetzt Naturgesetze und Wissenschaft die primäre Autoritätsstruktur darstellen. Diese Autorisierung funktioniert transatlantischökumenisch, zunehmend aber auch in den Religionen, die in Globalisierungsprozessen in Kontakt und Differenz zu westlichen Argumenten treten. Dazu tritt sekundär die Rechtfertigung der Individualisierung bürgerlicher Idealbilder des Lebens. Eine bestimmte Auswahl aus den religiösen Traditionen bestärkt die unbeweisbaren subjektiv-individuellen „Erfahrungen“, wobei die theologische Sinnpflege nicht mehr greift.70 Das heißt, in einer ganz bestimmten historischen sozialen und lokalen Situation sind die Akteure und ihre Interessen zu beschreiben. Auch ohne spezifisch religiöse Interessen gestalten sie das Feld mit, in dem die Religionen in normativer und pragmatischer Konkurrenz in der Lebenswelt stehen.
Literaturverzeichnis Améry, Jean (1968) Über das Altern: Revolte und Resignation, Stuttgart: Klett 1968. 9. Auflage, 2010. Améry, Jean (1976) Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart: Klett. 69
Auffarth, Kulturen, 2009, 403–408. Das hat Burkhard Gladigow s.v. Seele MLR 3(2000), 275–277 gezeigt. Zander, Helmut, Seelenwanderung.
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„Fünftes Alter“ und „Schöner Sterben“: Religionsgeschichte am Ende des 20. Jh.
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